Die Kriegsrechtfertigung in der attischen Rhetorik des 4. Jh. v. Chr.: Vom Korinthischen Krieg bis zur Schlacht bei Chaironeia (395¿338 v. Chr.) 9783631674017, 3631674015

Das Spektrum des Argumentierens über die Begründung und Rechtfertigung des Krieges in der attischen Rhetorik des 4. Jh.

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Polecaj historie

Die Kriegsrechtfertigung in der attischen Rhetorik des 4. Jh. v. Chr.: Vom Korinthischen Krieg bis zur Schlacht bei Chaironeia (395¿338 v. Chr.)
 9783631674017, 3631674015

Table of contents :
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Vorwort
Inhalt
I. Einleitung
II. Andokides
1. Athen und Sparta am Anfang des 4. Jh.
2. Andokides und seine erhaltenen Reden
3. Andokides’ Friedensrede
3.1 Friede, Krieg und Demokratie
3.2 Gerechter Friede
3.3 Widerlegung weiterer Argumente für den Krieg
3.3.1 Gerechte Kriegsgründe
3.3.2 Krieg aus materiellen und machtpolitischen Gründen
3.3.3 Die Erfolgsaussichten des Krieges
3.4 Der allgemeine Friede
4. Die Gründe für die friedliebende Haltung des Andokides
4.1 Die παραπρεσβείας γραφή im politischen Kontext
4.2 Die politischen und persönlichen Intentionen des Andokides
5. Fazit
III. Lysias
1. Lysias und seine zu untersuchenden Reden
2. Der Epitaphios
2.1 Der Krieg im Epitaphios
2.1.1 Krieg gegen Barbaren
2.1.1.1 Mythische Vergangenheit
2.1.1.2 Historische Vergangenheit
2.1.2 Krieg unter Hellenen
2.1.2.1 Mythische Vergangenheit
2.1.2.2 Historische Vergangenheit
2.1.2.3 Gegenwart
2.2 Fazit
3. Der Olympiakos
3.1 Kriege unter Hellenen und gegen Barbaren: Φιλία und τιμωρία
3.2 Fazit
IV. Isokrates
1. Isokrates und seine zu untersuchenden Reden
2. Der Panegyrikos
2.1 Die Kriegsrechtfertigung im Panegyrikos
2.1.1 Krieg gegen Persien zum συμφέρον der Hellenen
2.1.1.1 Krieg zur Beendigung der innergriechischen Kriege
2.1.1.2 Krieg zur Mehrung des Wohlstands der Hellenen
2.1.2 Krieg gegen das Perserreich im Hinblick auf das δίκαιον
2.1.2.1 Krieg für die Freiheit
a. Krieg für die Freiheit der Hellenen Kleinasiens
b. Krieg als Hilfeleistung
2.1.2.2 Rachekrieg und natürliche Feindschaft
a. Krieg als Racheaktion
b. Krieg gegen den natürlichen Feind und den Erbfeind
2.1.2.3 Krieg wegen des Königsfriedens
a. Die Verletzung des Königsfriedens
b. Die Benachteiligung der Hellenen
c. Der Königsfrieden als Diktat des Artaxerxes II
2.1.3 Krieg gegen das Perserreich im Hinblick auf das δυνατόν und πρέπον
2.1.4 Fazit
3. Der Plataikos
3.1 Athen, Sparta und Theben in den Jahren 379–371
3.2 Isokrates’ Plataikos
3.3 Die Kriegsrechtfertigung im Plataikos
3.3.1 Thebens Argumente gegen Plataia
3.3.1.1 Syntelie
3.3.1.2 Bestrafung der Plataier im Interesse des Seebundes
3.3.2 Isokrates’ Argumente gegen Theben: τὰ πάτρια und der Friede von 375
3.3.3 Athen gegen Theben und für Plataia
3.3.3.1 Logische Argumente: Eide und Verträge – Gleichgewichtspolitik – Gerechter Krieg
a. Αὐτονομία und ἐλευθερία
b. Die ῥοπή und der diplomatische Weg
c. Πόλεμος und δίκαιον
3.3.3.2 Emotionale Argumente
a. Τοῖς ἀδικουμένοις βοηθεῖν – ἱκεσία
b. Εὔνοια – εὐεργεσία – εὐσέβεια
c. Ἔχθρα der Thebaner
3.3.4 Fazit
4. Die Archidamosrede
4.1 Athen, Sparta und Theben von 371 bis 366
4.2 Isokrates’ Archidamos
4.3 Die Kriegsrechtfertigung im Archidamos
4.3.1 Anspruch Spartas auf Messenien
4.3.1.1 Historisch-mythologische Begründung
4.3.1.2 Die langjährige Besitzdauer Messeniens und das Urteil Athens und Persiens
4.3.1.3 Die Heloten
4.3.2 Das δίκαιον und das συμφέρον
4.3.3 Das δυνατόν, πρέπον und καλόν des Krieges
4.3.4 Politische Argumente zur Kriegsrechtfertigung
4.3.4.1 Krieg für materielle Vorteile
4.3.4.2 Kritik an dem Frieden
4.3.5 Fazit
5. Der Areopagitikos, die Friedens- und die Antidosisrede
5.1 Isokrates in den Jahren 357–355
5.2 Der Areopagitikos
5.3 Die Friedensrede
5.3.1 Gegen den Bundesgenossenkrieg: Argumente für den Frieden von 355
5.3.1.1 Materieller Nutzen
5.3.1.2 Ansehen Athens und gerechtes Handeln
5.3.2 Gegen die ungerechten Kriege während der Arché
5.3.3 Hegemonia, Prostasie und gerechte Kriegführung
5.4 Fazit
5.5 Die Antidosisrede
6. Isokrates’ Philippos
6.1 Die Kriegsrechtfertigung im Philippos
6.1.1 Der Krieg um Amphipolis
6.1.2 Der panhellenische Perserkrieg
6.1.2.1 Das συμφέρον des Krieges
a. Krieg zur Beendigung der innergriechischen Kriege
b. Krieg zur Mehrung des Wohlstands der Hellenen und Philipps
6.1.2.2 Das δίκαιον und πρέπον des Krieges
6.1.2.3 Das καλόν des Krieges und die δόξα Philipps
6.1.2.4 Das ῥᾴδιον und δυνατόν des Krieges
6.1.3 Fazit
7. Der Panathenaikos
7.1 Die Rechtfertigung der Kriege
7.1.1 Der Krieg gegen die Barbaren
7.1.2 Die Kriege unter Hellenen: Athen gegen Melos, Skione und Torone
7.1.2.1 Der Panegyrikos
7.1.2.2 Der Panathenaikos
7.1.3 Die ungerechten Kriege Spartas und Athens gerechte Kriege
7.1.4 Fazit
V. Demosthenes
1. Demosthenes und seine zu untersuchenden Reden
2. Die hellenischen Demegorien
2.1 Die Rede Über die Symmorien
2.1.2 Demosthenes gegen den Krieg
2.1.2.1 Nicht allein gegen den gemeinsamen Feind – balance of threat
2.1.2.2 Angriffs- vs. Verteidigungskrieg
2.1.2.3 Der gerechte Krieg
2.1.3 Δίκαιον und συμφέρον
2.1.4 Fazit
2.2 Die Rede Für die Megalopoliten
2.2.1 Krieg zur Bewahrung der balance of power
2.2.2 Die Gerechtigkeit des Krieges
2.2.2.1 Hilfe für Unrecht Leidende
2.2.2.2 Reaktion auf die expansive Politik Spartas
2.2.2.3 Beschützen alter Poleis vor der Vernichtung
2.2.2.4 Das zwischenstaatliche Recht und das Gerechte
2.2.3 Fazit
2.3 Die Rede Über die Freiheit der Rhodier
2.3.1 Befreiungskrieg
2.3.2 Krieg als Hilfeleistung
2.3.2.1 Hilfeleistung für Hellenen
2.3.2.2 Hilfeleistung für die Demokratie
2.3.3 Recht des Stärkeren
2.3.4 Fazit
2.4 Die hellenischen Demegorien: Ausblick
3. Die I. Philippische und die drei Olynthischen Reden
3.1 Athen und Philipp von 359 bis 351 und die I. Philippika
3.2 Der Kampf um Olynthos und die Olynthischen Reden
3.3 Die Kriegsrechtfertigung in den Jahren 351–348
3.3.1 Forderung nach Reaktion auf den bereits bestehenden Amphipoliskrieg
3.3.2 Krieg wegen Zurückeroberung verlorenen Landes
3.3.3 Krieg um die Vorherrschaft
3.3.4 Krieg als Hilfeleistung
3.3.5 Philipps Inferiorität
3.3.6 Philipp als Bedrohung und Hassfigur wegen seines Charakters
3.4 Fazit
4. Die Rede Über den Frieden
4.1 Der Philokratesfrieden
4.2 Demosthenes’ Friedensrede im Jahr 346
4.3 Friede für das συμφέρον der Polis
4.3.1 Das μὴ δυνατόν des Krieges
4.3.2 Πρόφασις κοινοῦ πολέμου
4.4 Der Krieg als Hilfeleistung und das Mächtegleichgewicht
4.5 Der Krieg und das δίκαιον
4.6 Fazit
5. Die Reden der Jahre 344–341 (II., III., IV. Philippika; Rede Über die Truggesandtschaft; Chersonesosrede)
5.1 Philipps Expansionsversuche von 346 bis 344 und die II. Philippika
5.2 Philipps Interventionen von 343–341 in Hellas und die demosthenischen Reden dieser Zeit
5.2.1 Die Ereignisse
5.2.1.1 Philipps Interventionen auf der Peloponnes und auf Euboia
5.2.1.2 Philipps Interventionen in Mittel- und Nordgriechenland
5.2.1.3 Die Veränderung des politischen Klimas in Athen und die Angelegenheiten auf der Chersones
5.2.1.4 Der Weg zur Kriegserklärung
5.2.2 Die demosthenischen Reden der Jahre 343–341
5.3 Das Problem der Kriegserklärung
5.4 Die formelle und sachliche Kriegsbegründung
5.4.1 Krieg wegen Bruchs des Friedensvertrags
5.4.1.1 Die παραβάσεις des Friedens in der II. Philippika
5.4.1.2 Die παραβάσεις der Territorialklausel
a. Philipps Feldzug in Thrakien ἐν εἰρήνῃ καὶ σπονδαῖς
b. Die Chersones und die Ansprüche Athens auf Kardia
5.4.2 Krieg wegen de facto Bruchs des Friedens
5.4.3 Krieg wegen des bestehenden ‚ungerechten‘ Friedens
5.4.4 Fazit
5.5 Die Kriegsbegründung hinsichtlich der Machtpolitik
5.5.1 Philipps Arché
5.5.2 Athens Prostasie
5.5.3 Fazit
5.6 Die Kriegsbegründung hinsichtlich der Staatsverfassung
5.6.1 Attische Demokratie vs. makedonische Monarchie
5.6.2 Kennzeichen der Tyrannis
5.6.2.1 Erteilung von Befehlen
5.6.2.2 Gegen die Freiheit und die Gesetze
5.6.2.3 Gegen die Demokratie
5.6.2.4 Gegen die Autonomie
5.6.3 Fazit
5.7 Die Kriegsrechtfertigung hinsichtlich des Panhellenismus und der Hilfeleistung
5.7.1 Panhellenismus als Kriegsrechtfertigung von 354 bis 346
5.7.2 Panhellenismus als Kriegsrechtfertigung von 344 bis 330
5.7.3 Fazit
VI. Zusammenfassung und Auswertung der einzelnen Konzeptionen
1. Konzeptionelle Klassifizierung der Kriegsrechtfertigung anhand historischer Exempla
1.1 Formal und sachlich abgesicherte Begründung einer Kriegsrechtfertigung
1.1.1 Die Ungerechtigkeit eines bestehenden Vertrags
1.1.2 Krieg wegen Vertragsbruchs
1.1.3 Krieg zur Zurückeroberung verlorenen Landes
1.1.4 Krieg für die Freiheit Athens
1.1.5 Krieg für die Freiheit der Hellenen
1.1.6 Krieg als Hilfeleistung für hellenische Poleis
1.2 Situativ bedingte, einseitige Begründung einer Kriegsrechtfertigung
1.2.1 Krieg gegen Barbaren: Rachekrieg, natürliche Feindschaft, gemeinsamer Feind
1.2.2 Der Rachekrieg gegen Hellenen
1.2.3 Krieg um die Vormachtstellung in Hellas
1.2.4 Krieg zum συμφέρον der Polis
1.2.5 Krieg zur Bewahrung des Mächtegleichgewichts
1.2.6 Das ῥᾴδιον und δυνατόν des Krieges
1.2.7 Das καλόν des Krieges
2. Schlussfazit: Die Kriegsrechtfertigung
Abkürzungsverzeichnis und Bibliographie
I. Abkürzungen
II. Quellen
III. Literatur
Quellenregister

Citation preview

P R I S M A T A Beiträge zur Altertumswissenschaft Thomas Bounas

DIE KRIEGSRECHTFERTIGUNG IN DER ATTISCHEN RHETORIK DES 4. JH. V. CHR. Vom Korinthischen Krieg bis zur Schlacht bei Chaironeia (395–338 v. Chr.) mit CD

XXI

Das Spektrum des Argumentierens über die Begründung und Rechtfertigung des Krieges in der attischen Rhetorik des 4. Jh. v. Chr. gestaltete sich breiter und komplexer als bisher angenommen. Der Autor analysiert einschlägige historische Reden und publizistische Ausarbeitungen, die unmittelbar Bezug auf Einstellungen und Mehrheitsmeinungen der damaligen Zeit genommen haben. Neben dem formalen Recht stehen auch ethische Aspekte sowie die Frage nach dem materiellen und machtpolitischen Nutzen im Mittelpunkt. Durch eine vergleichende Analyse von Texten des Andokides, Lysias, Isokrates und Demosthenes wird eine systematisierende Bilanz zur konzeptionellen Klassifizierung der Kriegsrechtfertigungen gezogen.

Thomas Bounas hat Germanistik an der Universität Athen und Europastudien (M.E.S.) an der RWTH-Aachen studiert. Er wurde an der RWTH-Aachen im Fachbereich Alte Geschichte promoviert. Er ist als Lehrer an griechischen Gymnasien tätig.

Die Kriegsrechtfertigung in der attischen Rhetorik des 4. Jh. v. Chr.

PRISMATA Beiträge zur Altertumswissenschaft Begründet von Ilona Opelt † Herausgegeben von Bruno Bleckmann, Raban von Haehling, Christoph Schubert, Markus Stein, Bernhard Zimmermann

Band 21

Thomas Bounas

Die Kriegsrechtfertigung in der attischen Rhetorik des 4. Jh. v. Chr. Vom Korinthischen Krieg bis zur Schlacht bei Chaironeia (395–338 v. Chr.)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: RWTH Aachen University, Diss., 2014

D 82 ISSN 0175-6265 ISBN 978-3-631-67401-7 (Print) E-ISBN 978-3-653-06731-6 (E-Book) DOI 10.3726/978-3-653-06731-6 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2016 Alle Rechte vorbehalten. PL Academic Research ist ein Imprint der Peter Lang GmbH. Peter Lang – Frankfurt am Main · Bern · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Diese Publikation wurde begutachtet. www.peterlang.com

Meinen Eltern

Vorwort Das vorliegende Buch ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die von der Philosophischen Fakultät der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen im Wintersemester 2013/2014 angenommen wurde. An erster Stelle gebührt mein Dank meinem akademischen Lehrer Prof. Dr. Raban von Haehling, der mir in allen Stationen der Arbeit seine wohlwollende Förderung und seine ununterbrochene Unterstützung, besonders auch in schwierigen Zeiten, zuteilwerden ließ. Es ist mir eine große Freude, auch folgenden Damen und Herren meinen herzlichsten Dank abzustatten: Herr Prof. Dr. Klaus Freitag hat die Aufgabe des Zweitgutachters übernommen und zeigte sich jederzeit hilfsbereit und offen für Diskussionen. Herr Prof. Dr. Wolfgang Orth hat das Drittgutachten angefertigt. Er war immer gesprächsbereit und schlug eine Reihe von wertvollen Verbesserungen vor. Herr Prof. Dr. Leo Noethlichs hat die Arbeit während der ganzen Zeit ihrer Entstehung mit Interesse und nützlichen Ratschlägen begleitet. Frau Dr. Dr. Brigitte von Haehling hat zur Gestaltung des Textes viel beigetragen und mich vor zahlreichen Fehlern bewahrt. Ihr bin ich über unsere wissenschaftliche Zusammenarbeit hinaus für ihre langjährige Unterstützung sehr dankbar. Herr Dr. Michael Kleu und Herr Dr. Karsten Ronnenberg haben mir stets großzügig ihre Hilfe zur Überwindung wissenschaftlicher und praktischer Schwierigkeiten geboten. Herr Prof. Dr. David Engels, Frau Carla Nicolaye, Herr Tom Olbertz und Herr apl. Prof. Dr. Klaus Scherberich waren immer für mich da, wenn ich Ihre Hilfe benötigte. Ohne die Unterstützung meines Bruders, Nikolaos Bounas, wäre die Vollendung dieser Arbeit kaum möglich gewesen. Zur Finanzierung meines Promotionsstudiums bin ich der RWTH-Aachen, die mir großzügig ein dreijähriges Graduiertenstipendium (RFwN-Graduiertenförderung) zur Verfügung stellte, zu tiefstem Dank verpflichtet. Der höchste Dank gebührt meinen Eltern, Angelos Bounas und Konstantina Bouna. Ihnen sei daher die Arbeit gewidmet. Arta-Griechenland, im Juni 2015

Thomas Bounas

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Inhalt I. Einleitung.............................................................................................................19 II. Andokides..........................................................................................................35 1. Athen und Sparta am Anfang des 4. Jh....................................................35 2. Andokides und seine erhaltenen Reden...................................................40 3. Andokides’ Friedensrede...............................................................................42 3.1 Friede, Krieg und Demokratie.............................................................43 3.2 Gerechter Friede.....................................................................................45 3.3 Widerlegung weiterer Argumente für den Krieg...........................48 3.3.1 Gerechte Kriegsgründe.............................................................48 3.3.2 Krieg aus materiellen und machtpolitischen Gründen.....51 3.3.3 Die Erfolgsaussichten des Krieges.........................................54 3.4 Der allgemeine Friede...........................................................................55 4. Die Gründe für die friedliebende Haltung des Andokides..................57 4.1 Die παραπρεσβείας γραφή im politischen Kontext......................57 4.2 Die politischen und persönlichen Intentionen des Andokides...................................................................61 5. Fazit..................................................................................................................63

III. Lysias.....................................................................................................................67 1. Lysias und seine zu untersuchenden Reden...........................................67 2. Der Epitaphios................................................................................................... 69 2.1 Der Krieg im Epitaphios.......................................................................... 70 2.1.1 Krieg gegen Barbaren...............................................................71 2.1.1.1 Mythische Vergangenheit.........................................71 2.1.1.2 Historische Vergangenheit......................................72 2.1.2 Krieg unter Hellenen................................................................74

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2.1.2.1 Mythische Vergangenheit........................................74 2.1.2.2 Historische Vergangenheit......................................78 2.1.2.3 Gegenwart...................................................................81 2.2 Fazit...........................................................................................................84 3. Der Olympiakos.............................................................................................86 3.1 Kriege unter Hellenen und gegen Barbaren: Φιλία und τιμωρία.................................................................................90 3.2 Fazit.............................................................................................................95

IV. Isokrates..............................................................................................................97 1. Isokrates und seine zu untersuchenden Reden......................................97 2. Der Panegyrikos..........................................................................................106 2.1 Die Kriegsrechtfertigung im Panegyrikos..................................... 109 2.1.1 Krieg gegen Persien zum συμφέρον der Hellenen.......... 110 2.1.1.1 Krieg zur Beendigung der innergriechischen Kriege...................................... 110 2.1.1.2 Krieg zur Mehrung des Wohlstands der Hellenen............................................................. 115 2.1.2 Krieg gegen das Perserreich im Hinblick auf das δίκαιον....................................................... 119 2.1.2.1 Krieg für die Freiheit.............................................. 120 a. Krieg für die Freiheit der Hellenen Kleinasiens..................................... 122 b. Krieg als Hilfeleistung.................................. 125 2.1.2.2 Rachekrieg und natürliche Feindschaft.............. 128 a. Krieg als Racheaktion................................... 129 b. Krieg gegen den natürlichen Feind und den Erbfeind................................ 136 2.1.2.3 Krieg wegen des Königsfriedens......................... 146 a. Die Verletzung des Königsfriedens............ 148 b. Die Benachteiligung der Hellenen............. 153

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c.

Der Königsfrieden als Diktat des Artaxerxes II............................................ 155 2.1.3 Krieg gegen das Perserreich im Hinblick auf das δυνατόν und πρέπον................................................ 158 2.1.4 Fazit............................................................................................ 164 3. Der Plataikos................................................................................................167 3.1 Athen, Sparta und Theben in den Jahren 379–371.......................167 3.2 Isokrates’ Plataikos............................................................................. 172 3.3 Die Kriegsrechtfertigung im Plataikos........................................... 174 3.3.1 Thebens Argumente gegen Plataia..................................... 174 3.3.1.1 Syntelie...................................................................... 175 3.3.1.2 Bestrafung der Plataier im Interesse des Seebundes....................................178 3.3.2 Isokrates’ Argumente gegen Theben: τὰ πάτρια und der Friede von 375............................................ 179 3.3.3 Athen gegen Theben und für Plataia................................. 181 3.3.3.1 Logische Argumente: Eide und Verträge – Gleichgewichtspolitik – Gerechter Krieg.......... 182 a. Αὐτονομία und ἐλευθερία........................... 182 b. Die ῥοπή und der diplomatische Weg.......183 c. Πόλεμος und δίκαιον.................................... 184 3.3.3.2 Emotionale Argumente......................................... 186 a. Τοῖς ἀδικουμένοις βοηθεῖν – ἱκεσία.......... 186 b. Εὔνοια – εὐεργεσία – εὐσέβεια.................. 188 c. Ἔχθρα der Thebaner..................................... 191 3.3.4 Fazit............................................................................................ 192 4. Die Archidamosrede...................................................................................193 4.1 Athen, Sparta und Theben von 371 bis 366................................... 193 4.2 Isokrates’ Archidamos........................................................................ 197 4.3 Die Kriegsrechtfertigung im Archidamos..................................... 200

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4.3.1 Anspruch Spartas auf Messenien........................................ 201 4.3.1.1 Historisch-mythologische Begründung............. 202 4.3.1.2 Die langjährige Besitzdauer Messeniens und das Urteil Athens und Persiens................... 209 4.3.1.3 Die Heloten.............................................................. 212 4.3.2 Das δίκαιον und das συμφέρον............................................ 215 4.3.3 Das δυνατόν, πρέπον und καλόν des Krieges.................. 217 4.3.4 Politische Argumente zur Kriegsrechtfertigung............. 225 4.3.4.1 Krieg für materielle Vorteile................................. 225 4.3.4.2 Kritik an dem Frieden............................................ 226 4.3.5 Fazit............................................................................................ 227 5. Der Areopagitikos, die Friedens- und die Antidosisrede...................229 5.1 Isokrates in den Jahren 357–355...................................................... 229 5.2 Der Areopagitikos............................................................................... 231 5.3 Die Friedensrede.................................................................................. 232 5.3.1 Gegen den Bundesgenossenkrieg: Argumente für den Frieden von 355........................................................ 233 5.3.1.1 Materieller Nutzen.................................................. 236 5.3.1.2 Ansehen Athens und gerechtes Handeln.......... 239 5.3.2 Gegen die ungerechten Kriege während der Arché........241 5.3.3 Hegemonie, Prostasie und gerechte Kriegführung......... 246 5.4 Fazit........................................................................................................ 248 5.5 Die Antidosisrede................................................................................ 249 6. Isokrates’ Philippos.....................................................................................253 6.1 Die Kriegsrechtfertigung im Philippos............................................256 6.1.1 Der Krieg um Amphipolis.................................................... 256 6.1.2 Der panhellenische Perserkrieg ............................................257 6.1.2.1 Das συμφέρον des Krieges.................................... 258 a. Krieg zur Beendigung der innergriechischen Kriege............................. 259

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b.

Krieg zur Mehrung des Wohlstands der Hellenen und Philipps........................... 263 6.1.2.2 Das δίκαιον und πρέπον des Krieges................. 264 6.1.2.3 Das καλόν des Krieges und die δόξα Philipps..................................................... 268 6.1.2.4 Das ῥᾴδιον und δυνατόν des Krieges..................269 6.1.3 Fazit............................................................................................ 275 7. Der Panathenaikos......................................................................................277 7.1 Die Rechtfertigung der Kriege......................................................... 278 7.1.1 Der Krieg gegen die Barbaren............................................. 279 7.1.2 Die Kriege unter Hellenen: Athen gegen Melos, Skione und Torone.................................................... 281 7.1.2.1 Der Panegyrikos...................................................... 283 7.1.2.2 Der Panathenaikos.................................................. 285 7.1.3 Die ungerechten Kriege Spartas und Athens gerechte Kriege......................................................... 288 7.1.4 Fazit............................................................................................ 294

V. Demosthenes.................................................................................................297 1. Demosthenes und seine zu untersuchenden Reden............................297 2. Die hellenischen Demegorien....................................................................300 2.1 Die Rede Über die Symmorien......................................................... 301 2.1.1 Demosthenes gegen den Krieg............................................ 306 2.1.1.1 Nicht allein gegen den gemeinsamen Feind – balance of threat....................................... 307 2.1.1.2 Angriffs- vs. Verteidigungskrieg...........................311 2.1.1.3 Der gerechte Krieg.................................................. 313 2.1.2 Δίκαιον und συμφέρον............................................................316 2.1.3 Fazit............................................................................................ 317 2.2 Die Rede Für die Megalopoliten...................................................... 318

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2.2.1 Krieg zur Bewahrung der balance of power......................321 2.2.2 Die Gerechtigkeit des Krieges............................................. 326 2.2.2.1 Hilfe für Unrecht Leidende................................... 326 2.2.2.2 Reaktion auf die expansive Politik Spartas....... 328 2.2.2.3 Beschützen alter Poleis vor der Vernichtung....................................................... 329 2.2.2.4 Das zwischenstaatliche Recht und das Gerechte..................................................... 330 2.2.3 Fazit............................................................................................ 331 2.3 Die Rede Für die Freiheit der Rhodier..............................................332 2.3.1 Befreiungskrieg....................................................................... 334 2.3.2 Krieg als Hilfeleistung........................................................... 336 2.3.2.1 Hilfeleistung für Hellenen.................................... 337 2.3.2.2 Hilfeleistung für die Demokratie..........................337 2.3.3 Recht des Stärkeren................................................................ 341 2.3.4 Fazit............................................................................................ 343 2.4 Die hellenischen Demegorien: Ausblick........................................ 345 3. Die I. Philippische und die drei Olynthischen Reden.........................346 3.1 Athen und Philipp von 359 bis 351 und die I. Philippika........... 346 3.2 Der Kampf um Olynthos und die Olynthischen Reden.............. 350 3.3 Die Kriegsrechtfertigung in den Jahren 351–348......................... 354 3.3.1 Forderung nach Reaktion auf den bereits bestehenden Amphipoliskrieg............................................. 355 3.3.2 Krieg wegen Zurückeroberung verlorenen Landes........ 358 3.3.3 Krieg um die Vorherrschaft.................................................. 366 3.3.4 Krieg als Hilfeleistung........................................................... 368 3.3.5 Philipps Inferiorität................................................................ 370 3.3.6 Philipp als Bedrohung und Hassfigur wegen seines Charakters...................................................... 374 3.4 Fazit........................................................................................................ 375 4. Die Rede Über den Frieden.......................................................................378

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4.1 Der Philokratesfrieden....................................................................... 378 4.2 Demosthenes’ Friedensrede im Jahr 346........................................ 380 4.3 Friede für das συμφέρον der Polis................................................... 383 4.3.1 Das μὴ δυνατόν des Krieges................................................. 383 4.3.2 Πρόφασις κοινοῦ πολέμου................................................... 386 4.4 Der Krieg als Hilfeleistung und das Mächtegleichgewicht....... 389 4.5 Der Krieg und das δίκαιον...................................................................391 4.6 Fazit........................................................................................................ 391 5. Die Reden der Jahre 344–341 (II., III., IV. Philippika; Rede Über die Truggesandtschaft; Chersonesosrede)...................................393 5.1 Philipps Expansionsversuche von 346 bis 344 und die II. Philippika............................................................ 393 5.2 Philipps Interventionen von 343–341 in Hellas und die demosthenischen Reden dieser Zeit................................ 395 5.2.1 Die Ereignisse.......................................................................... 395 5.2.1.1 Philipps Interventionen auf der Peloponnes und auf Euboia.................................. 395 5.2.1.2 Philipps Interventionen in Mittelund Nordgriechenland........................................... 396 5.2.1.3 Die Veränderung des politischen Klimas in Athen und die Angelegenheiten auf der Chersones................................................... 397 5.2.1.4 Der Weg zur Kriegserklärung.............................. 401 5.2.2 Die demosthenischen Reden der Jahre 343–341.............. 402 5.3 Das Problem der Kriegserklärung................................................... 405 5.4 Die formelle und sachliche Kriegsbegründung............................ 408 5.4.1 Krieg wegen Bruchs des Friedensvertrags........................ 409 5.4.1.1 Die παραβάσεις des Friedens in der II. Philippika................................................. 409 5.4.1.2 Die παραβάσεις der Territorialklausel.............. 413 a. Philipps Feldzug in Thrakien ἐν εἰρήνῃ καὶ σπονδαῖς..................................... 414

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b.

Die Chersones und die Ansprüche Athens auf Kardia.......................................... 417 5.4.2 Krieg wegen de facto Bruchs des Friedens....................... 421 5.4.3 Krieg wegen des bestehenden ‚ungerechten‘ Friedens.......................................................... 423 5.4.4 Fazit............................................................................................ 424 5.5 Die Kriegsbegründung hinsichtlich der Machtpolitik................ 427 5.5.1 Philipps Arché......................................................................... 427 5.5.2 Athens Prostasie..................................................................... 429 5.5.3 Fazit............................................................................................ 434 5.6 Die Kriegsbegründung hinsichtlich der Staatsverfassung......... 435 5.6.1 Attische Demokratie vs. makedonische Monarchie....... 435 5.6.2 Kennzeichen der Tyrannis.................................................... 438 5.6.2.1 Erteilung von Befehlen.......................................... 438 5.6.2.2 Gegen die Freiheit und die Gesetze.................... 438 5.6.2.3 Gegen die Demokratie........................................... 440 5.6.2.4 Gegen die Autonomie............................................ 441 5.6.3 Fazit............................................................................................ 448 5.7 Die Kriegsrechtfertigung hinsichtlich des Panhellenismus und der Hilfeleistung........................................... 449 5.7.1 Panhellenismus als Kriegsrechtfertigung von 354 bis 346........................................................................ 450 5.7.2 Panhellenismus als Kriegsrechtfertigung von 344 bis 330........................................................................ 451 5.7.3 Fazit............................................................................................ 459

VI. Zusammenfassung und Auswertung der einzelnen Konzeptionen...............................................................461 1. Konzeptionelle Klassifizierung der Kriegsrechtfertigung anhand historischer Exempla...................................................................461 1.1 Formal und sachlich abgesicherte Begründung einer Kriegsrechtfertigung................................................................ 462

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1.1.1 Die Ungerechtigkeit eines bestehenden Vertrags............ 462 1.1.2 Krieg wegen Vertragsbruchs................................................ 470 1.1.3 Krieg zur Zurückeroberung verlorenen Landes.............. 474 1.1.4 Krieg für die Freiheit Athens............................................... 478 1.1.5 Krieg für die Freiheit der Hellenen..................................... 480 1.1.6 Krieg als Hilfeleistung für hellenische Poleis.................. 484 1.2 Situativ bedingte, einseitige Begründung einer Kriegsrechtfertigung................................................................ 495 1.2.1 Krieg gegen Barbaren: Rachekrieg, natürliche Feindschaft, gemeinsamer Feind......................................... 495 1.2.2 Der Rachekrieg gegen Hellenen.......................................... 503 1.2.3 Krieg um die Vormachtstellung in Hellas......................... 506 1.2.4 Krieg zum συμφέρον der Polis............................................. 511 1.2.5 Krieg zur Bewahrung des Mächtegleichgewichts........... 520 1.2.6 Das ῥᾴδιον und δυνατόν des Krieges................................ 522 1.2.7 Das καλόν des Krieges.......................................................... 528 2. Schlussfazit: Die Kriegsrechtfertigung...................................................531

Abkürzungsverzeichnis und Bibliographie......................................535 I. Abkürzungen................................................................................................535 II. Quellen...........................................................................................................537 III. Literatur.........................................................................................................543

Quellenregister......................................................................................................577

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I. Einleitung Der griechische Begriff πόλεμος bezeichnet den Krieg mit einem auswärtigen Feind. Davon unterscheidet die griechische Staatsphilosophie den Terminus στάσις, der den Bürgerkrieg bzw. den Aufruhr im Innern einer Polis wiedergibt.1 Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Begründung des πόλεμος, also des zwischenstaatlichen Krieges, und seine Rechtfertigung in den überlieferten Schriften attischer Redner bzw. Rhetoren2 des 4. Jh.3 Der Peloponnesische Krieg des 5. Jh. (431–404), die Leiden, die er verursachte, und seine einschneidenden Folgen führten einen großen Teil der griechischen Welt in eine äußerst kritische Situation; trotzdem rückte nach seinem Ende in den hellenischen Poleis nicht der Friedensgedanke in den Vordergrund, sondern Debatten über diverse Kriegsmöglichkeiten bestimmten das Meinungsbild. Daraus ergab sich, dass die ständigen Kriege zwischen hellenischen Poleis das Bild des gesamten 4. Jh. prägten und zum Untergang der klassischen Polis-Welt führten. Nicht zu unterschätzen ist dabei das Auftreten einer unkalkulierbaren Macht aus dem griechischen Norden in den 350er Jahren, nämlich Makedoniens unter seinem König Philipp II., der schließlich im Jahr 338 die vereinigten Kontingente hellenischer Poleis endgültig besiegte. Der Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit wird somit auf das 4. Jh. bis zur Schlacht bei Chaironeia im Jahr 338 begrenzt. Gegen die vornehmlich in der älteren Forschung vertretene These, dass nicht der Friede (εἰρήνη), sondern der permanente Kriegszustand das zwischenstaatliche Verhältnis der griechischen Poleis kennzeichnet,4 wird nunmehr der Krieg in Hellas 1 Vgl. Noethlichs, RAC 22 (2007) s. v. Krieg 1–76, bes. 2f. Zum Unterschied zwischen πόλεμος und στάσις vgl. Plat. Phaid. 66c; speziell zu στάσις vgl. Plat. rep. 5, 470b; leg. 1, 629d sowie die eingehende Abhandlung von H.J. Gehrke, Stasis. Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den griechischen Staaten des 5. und 4. Jh. v. Chr. Den griechischen Begriffen πόλεμος und στάσις entsprechen lateinisch bellum und bellum civile bzw. tumultus (vgl. Noethlichs, RAC 22 [2007] s. v. Krieg 1–76, bes. 4; Baltrusch, Außenpolitik 23). 2 Auch wenn in einigen Fällen die Reden nicht von ihren Verfassern vorgetragen wurden, werden in dieser Arbeit Andokides, Lysias, Isokrates und Demosthenes ‚Redner‘ bzw. ‚Rhetoren‘ genannt, da alle in irgendeiner Weise die ῥητορικὴ τέχνη ausübten. Der Begriff Rhetor wird hier demzufolge auch über seine terminologischtechnische Bedeutung eines Bürgers, der am politischen Leben aktiv teilnahm, indem er regelmäßig vor der Ekklesia oder der Boulé auftrat (vgl. Hansen, GRBS 24 [1983] 33–55, bes. 39ff.; ders., The Athenian Democracy in the Age of Demosthenes 143ff.), hinaus verwendet. 3 Die chronologischen Angaben dieser Arbeit beziehen sich auf die Zeit vor Christi Geburt, solange sie nicht näher definiert werden. 4 Die These, dass man den Krieg als einen Normalzustand ansah, hat als erster der Altphilologe B. Keil (Εἰρήνη 7) vertreten. Ferner hat der Soziologe Max Weber 19

lediglich als ein Mittel der Rechtsexekution wahrgenommen.5 Es herrschte nicht automatisch Krieg, wenn der Friede nicht vertraglich festgelegt war, vielmehr war der Krieg „eine Unterbrechung dessen, was die Regel war, nämlich des Friedens“6; da Anfang und Ende des Krieges rituell markiert waren, gab es weder den unerklärten noch den unbeendeten Krieg.7 Doch besteht kein Zweifel daran, dass die Schwelle zwischen Krieg und Frieden nicht sehr hoch war und dass die zwischenstaatlichen Konflikte meist schnell zu Kriegen führten, sodass die drohende Kriegsgefahr und damit die existenzielle Bedrohung permanent in den griechischen Poleis präsent waren.8 Demzufolge war es nicht selten, dass die Entscheidung über Krieg und Frieden auf der Tagesordnung der Volksversammlungen stand. Nicht zuletzt in Athen wurden häufig Demegorien,9 also öffentliche beratende Reden, für oder wider einen Krieg in der ἐκκλησία vorgetragen.10 Neben den Demegorien griffen weitere politische Reden dieselbe Thematik auf, die ebenfalls zur beratenden Beredsamkeit (γένος συμβουλευτικόν)11 gehörten, doch unabhängig von den politischen Institutionen in der Form von Pamphleten publiziert wurden und sowohl die Mitbürger der Polis als auch weitere Kreise im hellenischen Raum erreichen konnten.12 (Wirtschaft und Gesellschaft 595) die antike Polis als eine Kriegerzunft bezeichnet. Zu ähnlichen Positionen vgl. Romilly, Guerre et paix entre cités, in: Vernant, Problèmes de la guerre en Grèce ancienne 207–220, bes. 207; Finley, Politics 67; Eckstein, Mediterranean Anarchy 42f. 5 Vgl. Meier, HZ 251 (1990) 555–605, bes. 588f. Anm. 103. 6 Meier, HZ 251 (1990) 555–605, bes. 562. 7 Burkert, Griechische Religion 400. 8 Dazu sowie zur These, dass der Krieg nicht der Normalzustand war, vgl. Gehrke, Jenseits von Athen und Sparta 52f.; Meier, HZ 251 (1990) 555–605, bes. 559. 561f. 588f. mit Anm. 103; Naef, Klio 79 (1997) 317–340, bes. 319f.; Baltrusch, Außenpolitik 24. Im frühen Hellas sind drei Typen zwischenstaatlichen Verhältnisses zu unterscheiden: a. überhaupt keine Beziehungen, b. Krieg und c. Freundschaft (vgl. Alonso, War, in: Raaflaub, War and Peace 206–238, bes. 209–214). 9 Jede öffentliche beratende Rede konnte mit dem Begriff δημηγορία wiedergegeben werden. Vgl. dazu Anaximen. rhet. Alex. 1421b 11–14. 10 Bereits in der zweiten Hälfte des 4. Jh. haben Aristoteles und Anaximenes von Lampsakos die Stellungnahme über Krieg oder Frieden den typischen Themenbereichen der beratenden bzw. politischen Reden zugeordnet. Vgl. Aristot. rhet. 1359b 19–24; Anaximen. rhet. Alex. 1423a 21–26. 11 Aristoteles unterscheidet drei rhetorische Gattungen, nämlich die beratende, gerichtliche und prunkende (γένος συμβουλευτικόν, δικανικόν, ἐπιδεικτικόν), während Anaximenes die πολιτικοὶ λόγοι in demegorische, prunkende und gerichtliche (γένος δημηγορικόν, ἐπιδεικτικόν und δικανικόν) teilt. Vgl. Aristot. rhet. 1358b 7f.; Anaximen. rhet. Alex. 1421b 7f. 12 Dazu gehören die beratenden Reden des Isokrates (vgl. Usener, Isokrates und sein Adressatenkreis, in: Orth, Isokrates 18–33, bes. 21). Auf der anderen Seite hatte Demosthenes seine politischen Reden selbst in der Ekklesia gehalten, doch einige von ihnen auch als Pamphlete publiziert (vgl. Adams, Pamphlete, in: Schindel, Demosthenes 139–157). 20

Andere Zielsetzung hatten freilich die Gerichtsreden (γένος δικανικόν), obwohl sie ebenfalls einen symbuleutischen bzw. demegorischen Charakter einnehmen konnten, da sie sich an ein zahlenmäßig großes Auditorium wandten;13 wenn es der Logograph14 für nötig hielt, wurde in einigen Fällen auf politische Hintergründe hingewiesen sowie Stellungnahme hinsichtlich politischer Angelegenheiten artikuliert. Eine Aufforderung zum Krieg oder Begründung eines Krieges konnte zusätzlich Teil einer Prunkrede sein. Zur epideiktischen Gattung (γένος ἐπιδεικτικόν) gehörten öffentliche Fest- (λόγοι πανηγυρικοί) und Grabreden (λόγοι ἐπιτάφιοι) sowie Lob(λόγοι ἐγκωμιαστικοί) und sonstige Musterreden, die vorrangig als Lehrmaterial für den Rhetorikunterricht dienten.15 Die Panegyriken konnten gegebenenfalls vor einem panhellenischen Publikum anlässlich eines gemeingriechischen religiösen Festes vorgetragen werden. Die Epitaphien wurden meist von ihrem Verfasser selbst auf die gefallenen Mitbürger einer Schlacht gegen einen auswärtigen Feind gehalten. Abgesehen von der Rhetorik sind die zeitgenössische Geschichtsschreibung, die Staatsphilosophie und die dramatische Dichtung wichtige literarische Quellen zur Untersuchung der Kriegsrechtfertigung im klassischen Hellas. Diese Bereiche weisen andere Merkmale als die beratenden und epideiktischen Reden auf. Die griechischen Historiker haben seit Thukydides den Versuch unternommen, zwischen Anlässen und Gründen von Kriegen zu differenzieren, objektiv Kriegsbegründungen darzustellen und diese exemplarisch auszuwerten.16 Die bei Thukydides und Xenophon überlieferten Demegorien zeichnen sich durch andere Merkmale als die wirklich gehaltenen politischen Reden des 4. Jh. aus und wenden sich eher an elitäre Bürgergruppen als an die breite Masse.17 Die Staatsphilosophie hingegen befasst sich mit Fragen der Kriegsrechtfertigung in theoretischer Ausrichtung, freilich ohne Rücksicht auf die öffentliche Meinung sowie die Realpolitik zu nehmen.18 Die dramatische Dichtung wertet dagegen die Kriegsbegründung zumeist als eine idealistische Verteidigung des sozialethisch Gerechten und des sakralen Gewohnheitsrechts. Die vorliegende Arbeit befasst sich lediglich mit der Publizistik, nicht nur damit der Umfang des Forschungsgegenstandes begrenzt wird, sondern gerade 13 Vgl. Anaximen. rhet. Alex. 1421b 12–15; Cooper, Forensic Oratory, in: Worthington, Greek Rhetoric 203–219, bes. 207. 14 Λογογράφος war der Verfasser von Gerichtsreden. Seine Tätigkeit entsprach in mancher Hinsicht der eines heutigen Rechtsanwalts. Allerdings mussten die Prozessparteien selbst vor Gericht antreten, sodass der Logograph unerkannt im Hintergrund blieb. Vgl. Jaeger, Paideia III, 114; Rhodes/Thür, DNP 7 (1999) s. v. Logographos 401. 15 Vgl. Carey, Epideictic Oratory, in: Worthington, A Companion to Greek Rhetoric 236–252. 16 Vgl. Momigliano, Some Observations on Causes of War in Ancient Historiography, in: ders., Studies in Historiography 112–126. 17 Vgl. Hunt, War 22. 18 Platon in seiner Politeia und Aristoteles in seinen Politika beschäftigen sich am Rande mit der Kriegsrechtfertigung, und zwar als Teilaspekt ihrer Staatstheorie. 21

weil in diesem Bereich einige Besonderheiten auftauchen, die einen historischen Ausblick auf die allgemeine Wahrnehmung der Kriegsbegründung in bestimmten zeitlichen Perioden erlauben. In den symbuleutischen und epideiktischen Reden wurde zwangsläufig mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung sowie auf die Realpolitik argumentiert, sodass die vorgetragenen Gesichtspunkte Ausdruck einer weitgehend etablierten Auffassung der politischen Praxis und des Zeitgeistes waren.19 Besonders die Begründung einer Kriegsrechtfertigung oder -aufforderung zielte strikt auf die Beeinflussung der Zuhörer und spiegelte somit die wahren Motive als Entscheidungshilfen wider. Gerade die Wechselbeziehung der Reden zwischen ihren Verfassern und ihren Adressaten gewährleistet zuverlässige Einschätzungen in Bezug auf das Denken und das politische Handeln. Es bestehen folglich aufschlussreiche Gründe, rhetorische Schriften unter dem Aspekt ihrer historischen Wirkung zu analysieren; die Ansicht B. Naefs, dass „das Spektrum des Argumentierens über Krieg und Frieden im 4. Jahrhundert größer war, als es Aristoteles, Polybios oder auch gewisse moderne Stimmen glauben machen wollen“20, wird durchaus bestätigt. Darüber hinaus ist die vorliegende Untersuchung aufgrund einer weitgehenden Ignorierung des Themas in der althistorischen Forschung zustande gekommen, da bislang keine monographische Abhandlung speziell über die Kriegsrechtfertigung in der griechischen Rhetorik des 4. Jh. vorliegt. Ausgenommen von dieser Tendenz gibt es zwei wichtige Publikationen, die sich mit Teilaspekten der Thematik beschäftigen: Einerseits die im Jahr 1985 publizierte Dissertation von S. Clavadetscher-Thürlemann ‚Πόλεμος δίκαιος und bellum iustum; Versuch einer Ideengeschichte’ und andererseits die im Jahr 2010 erschienene Monographie von P. Hunt, ‚War, Peace and Alliance in Demosthenes’ Athens‘. S. Clavadetscher-Thürlemann untersucht im ersten Teil ihrer Dissertation die Frage nach der Gerechtigkeit der Kriege im hellenischen Raum und versucht somit eine Vorgeschichte zur römischen bellum-iustum-Theorie greifbar zu machen. Aus diesem Grund befasst sie sich konkret mit dem Terminus der Gerechtigkeit im Zusammenhang mit dem Krieg, seiner Eröffnung und Durchführung, indem sie sämtliches griechisches Schrifttum vom Anfang des 5. Jh. bis zur hellenistischen Zeit in Betracht zieht. Es handelt sich um eine terminologisch-philosophische Abhandlung, in der die Frage nach dem Feind, den Gründen und dem Vorgehen während des Krieges gestellt wird.21 Es wird jedoch keine Rücksicht auf die speziellen Gattungen des griechischen Schrifttums, ihre Abfassungszeit und die Intention des jeweiligen Verfassers genommen, sodass beliebig Stellen aus der Historiographie, Philosophie, dramatischen Dichtung und Rhetorik einer sehr langen Periode hellenischer Geschichte zum Nachweis der Ergebnisse zusammengetragen werden, allerdings ohne sie in ihren historischen und sozialpolitischen Kontext einzuordnen. Dieses

19 Vgl. Hansen, Athenian Democracy 12f.; Piepenbrink, Diskurs 97f. 20 Naef, Klio 79 (1997) 317–340, bes. 328f. 21 Vgl. dazu Ziegler, Rez. zu S. Clavadetscher-Thürlemann: Πόλεμος δίκαιος und bellum iustum, Versuch einer Ideengeschichte, in: ZRG 104 (1987) 711–716. 22

Vorgehen praktiziert die Verfasserin auch in Bezug auf politische Reden, wobei sie nicht nur die genuin rhetorischen Schriften, sondern auch fiktive Reden anderer literarischer Gattungen erfasst. P. Hunt untersucht anhand von gehaltenen, attischen Reden das Problem, wie die Athener das außenpolitische Verhalten ihrer Polis sowie den Krieg und den Frieden im Zusammenhang mit den zwischenstaatlichen Beziehungen wahrnahmen. Die Kriegsrechtfertigung ist aber nur ein Teilaspekt seiner Untersuchung; diese bezieht sich sonst auf die ökonomisch bedingten Motivationen der Reden und die athenische ‚militaristische Kultur‘, also das Selbstverständnis der Athener als Großmacht. Ferner spricht P. Hunt über die metaphorische Beurteilung des außenpolitischen Verhaltens der Polis in den Reden entsprechend dem Verhalten einer Privatperson im Haushalt, den Amoralismus in der attischen Außenpolitik und den Versuch der Athener, ihr innerstaatliches Recht und ihre Rechtsauffassung analog auf die zwischenstaatlichen Beziehungen zu übertragen. Weiterhin bezieht er sich auf die grundsätzlichen Ansichten in Athen über Krieg und Frieden. Es ist gleichfalls kein Ziel seiner Untersuchung, die Kriegsrechtfertigung und -aufforderung der Argumentation aufgrund der Intention der jeweiligen Rede und in Anbetracht der Auffassungen des jeweiligen Redners zu erforschen und zu beurteilen; somit können zwar allgemeine Ansichten über Krieg und Frieden, aber keine Konzeptionen zur Kriegsbegründung in der Rhetorik aufgezeigt werden. Darüber hinaus ist die Untersuchung auf die Zeit zwischen 354 und 330 begrenzt. Mit Ausnahme der Friedensrede des Andokides aus dem Jahre 392/1 stammen die achtzehn übrigen untersuchten Reden aus diesen 24 Jahren. Es handelt sich um fünfzehn Reden des Demosthenes, davon dreizehn politische Demegorien sowie die Rede Über die Truggesandtschaft und die Kranzrede, zusätzlich die zwei gerichtlichen Gegenreden des Aischines, ferner die Halonnesosrede, die Hegesippos zugeschrieben wird, und die ins Corpus Demosthenicum aufgenommene, aber unechte Rede Über den Vertrag mit Alexander.22 Außerdem sind zahlreiche Publikationen erschienen, die sich mit Krieg und Frieden in Hellas befassen; allerdings wird selten und lediglich beiläufig Bezug auf die Kriegsrechtfertigung in der attischen Rhetorik genommen.23 Darüber hinaus sind 22 Vgl. dazu Harris, Rez. zu P. Hunt: War, in: CJ-Online, 2012.03.09, ; Christ, Rez. zu P. Hunt: War, Peace and Alliance in Demosthenes’ Athens, in: BMCR, 2010.10.57, ; Eckstein, Rez. zu P. Hunt: War, in: JHS 131 (2011) 212–215; Lape, Rez. zu P. Hunt: War, in: CR 61 (2011) 536f. 23 Beiträge über Krieg, Frieden, Waffenstillstand, internationales Recht, Friedensverträge, Imperialismus im klassischen Hellas und im Athen des 4. Jh. sind in folgenden Sammelbänden zu finden: P.D.A. Garnsey/C.R. Whittaker (Hg.), Imperialism in the Ancient World; G. Binder/B. Effe (Hg.), Krieg und Frieden im Altertum; H.v. Wees (Hg.), War and Violence in Ancient Greece; K. Raaflaub (Hg.), War and Peace in the Ancient World; P. de Souza/J. France (Hg.), War and Peace in Ancient and Medieval History. Für die Diskussionen und Verhandlungen über Krieg und Frieden in der 23

Veröffentlichungen instruktiv, die sich mit einzelnen Rednern und ihren Schriften auseinandersetzen; diese bieten häufig eine wesentliche Argumentationshilfe für die vorliegende Arbeit, besonders wenn in ihnen Stellen über die Kriegsbegründung kommentiert werden.24 Allerdings wird die Kriegsrechtfertigung einzelner Redner lediglich in wenigen Aufsätzen, also zwangsläufig in begrenztem Umfang und mit begrenzter Zielsetzung, als Zentralthema erforscht.25 Während im 5. und 4. Jh. fiktive Reden in der Form von Demegorien oder Grabreden sowohl in der Geschichtsschreibung als auch in philosophischen Schriften

Zeit nach dem Peloponnesischen Krieg bis zum Ende des Korinthischen Krieges ist die Monographie von P. Funke Homónoia und Arché relevant. Ebenfalls bietet die Arbeit von M. Jehne, Koine Eirene. Untersuchungen zu den Befriedungs- und Stabilisierungsbemühungen in der griechischen Poliswelt des 4. Jahrhunderts. v. Chr. eine Reihe von wertvollen Informationen in Bezug auf die Friedensschlüsse des 4. Jh. Bezüglich der zwischenstaatlichen Beziehungen im klassischen Hellas ist die Publikation von P. Low, Interstate Relations in Classical Greece: Morality and Power, maßgebend; es wird hierbei die Verbindung zwischen Recht und griechischer Gesellschaft in Bezug auf die internationalen Beziehungen herausgearbeitet und gezeigt, dass sich die Griechen nach denselben moralischen Normen in der Innen- und Außenpolitik orientierten. Die Interventionen in hellenischen Poleis und somit die Einschränkung ihrer Autonomie werden von P. Low als Hilfe für die Bedrängten wahrgenommen; folglich beurteilt sie den Krieg als Hilfeleistung aus der Sicht des Intervenierenden und stimmt dabei der einseitigen Argumentation der attischen Rhetoren zu. 24 Als Referenzwerke sind folgende zu erwähnen: Zu Andokides: A. Missiou, The Subversive Oratory of Andocides. Politics, Ideology and Decision-making in Democratic Athens; M. Edwards (Hg. und Übers.), Greek Orators IV: Andocides; zu Lysias: B. Kartes, Der Epitaphios des Lysias; S.C. Todd, A commentary on Lysias, Speeches 1–11; K. Brodersen (Hg.), Lysias, Reden. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Ingeborg Huber; zu Isokrates: G. Mathieu, Les idées politiques d’ Isocrate; E. Buchner, Der Panegyrikos des Isokrates. Eine historisch-philologische Untersuchung; K. Bringmann, Studien zu den politischen Ideen des Isokrates; G. Dobesch, Der panhellenische Gedanke im 4. Jh. v. Chr. und der „Philippos“ des Isokrates. Untersuchungen zum Korinthischen Bund I; F. Seck (Hg.), Isokrates; D. Grieser-Schmitz, Die Seebundpolitik Athens in der Publizistik des Isokrates; P. Roth, Der Panathenaikos des Isokrates; W. Orth (Hg.), Isokrates. Neue Ansätze zur Bewertung eines politischen Schriftstellers; zu Demosthenes: W. Jaeger, Demosthenes. Der Staatsmann und sein Werden; M. Opitz, Das Bild Philipps II. von Makedonien bei den attischen Rednern im ersten Jahrzehnt seiner Herrschaft; U. Schindel (Hg.), Demosthenes; J. Radicke, Die Rede des Demosthenes für die Freiheit der Rhodier (or. 15); I. Worthington (Hg.), Demosthenes: Statesman and Orator; I. Hajdú, Kommentar zur 4. Philippischen Rede des Demosthenes; Ch. Karvounis, Demosthenes, Studien zu den Demegorien orr. XIV, XVI, XV, IV, I, II, III.; G.A. Lehmann, Demosthenes von Athen. Ein Leben für die Freiheit; D.M. MacDowell, Demosthenes the Orator; W. Will, Demosthenes. 25 Auf diese Aufsätze wird im Hauptteil der Arbeit und in Bezug auf den jeweilig untersuchten Aspekt der Kriegsrechtfertigung verwiesen. 24

zu finden sind,26 sollen lediglich genuin rhetorische Texte Gegenstand dieser Arbeit sein, die von Rhetoren bzw. politischen Rednern verfasst und entweder durch öffentliche Vorträge oder als Flugschriften verbreitet wurden, um Einfluss auf kurz- oder langfristige politische Entscheidungen auszuüben.27 Wichtige historische Etappen der hier behandelten Periode sind zunächst der Korinthische Krieg (395–387/6), wodurch ein Bündnis zwischen Athen, Theben, Korinth und Argos der spartanischen Vorherrschaft in Hellas nach dem Peloponnesischen Krieg ein Ende machen wollte. Der Krieg wurde durch den Königsfrieden – auch Antalkidasfrieden genannt – im Jahr 387/6 beendet; dieser für den Ablauf der folgenden Ereignisse äußerst wichtige Friedensvertrag sah zwar einen ‚allgemeinen Frieden‘ (κοινὴ εἰρήνη) vor, kam allerdings auf Initiative des persischen Großkönigs Artaxerxes II. zustande bzw. wurde von ihm den Hellenen diktiert. Im Jahr 378/7 wurde der Zweite Attische Seebund gegründet, womit sich die Athener die Wiedererlangung ihrer Seeherrschaft erhofften. Nach der vernichtenden Niederlage Spartas und seiner Verbündeten durch Theben im Jahr 371 begann die Phase der thebanischen Hegemonie über Hellas; diese dauerte bis zur Niederlage der Boioter und ihrer Verbündeten durch Sparta, Athen und deren Bundesgenossen im Jahr 362 bei Mantineia. In den Jahren 357–355 führte Athen mit seinem Seebund Krieg gegen die abgefallenen Bundesgenossen Chios, Rhodos und Kos sowie das vermutlich bereits unabhängige Byzantion. Athen verlor den Krieg und musste die Unabhängigkeit der gegnerischen Poleis akzeptieren. Im Jahr 359 übernahm Philipp II. das makedonische Königtum und begann anschließend mit einer expansionsorientierten Politik. Als er 357 die sehr bedeutende und im athenischen Einflussbereich gelegene Stadt Amphipolis einnahm, erklärte ihm Athen den Krieg; damit begann eine zehnjährige Auseinandersetzung zwischen den zwei Mächten, die sich durch den Konflikt um die chalkidische Stadt Olynthos im Jahr 349/8 zuspitzte und schließlich mit dem Abschluss des sogenannten Friedens des Philokrates 346 zu ihrem Ende kam. Darüber hinaus führte zwischen 356 und 346 die pyläisch-delphische Amphiktionie28 Krieg gegen die Phoker. Philipp nutzte die Gelegenheit, in diesem sogenannten Dritten Heiligen Krieg der Seite der Amphiktionie beizutreten und somit seinen Einfluss 26 Man denke z. B. an die Demegorien im thukydideischen Werk, darunter den berühmten Epitaphios, den Thukydides dem Staatsmann Perikles in den Mund legt, oder an den platonischen Menexenos, also die fiktive und anachronistische Grabrede, die angeblich Aspasia, die Ehegattin des Perikles, auf die Gefallenen einer Schlacht des Korinthischen Krieges vorträgt. 27 Dass einige Reden für die Veröffentlichung in schriftlicher Form überarbeitet worden sind (vgl. Worthington, History and Oratorical Exploitation, in: ders. (Hg.), Persuasion. Greek Rhetoric in Action 109–129, bes. 114–118), ändert nichts in Bezug auf die Auswertung ihrer Argumentation, da sie meistens immer noch darauf abzielten, das politische Geschehen zu beeinflussen (dazu Piepenbrink, Diskurs 96f.). 28 Es handelt sich um einen bedeutenden Kultbund alter griechischer Stammesverbände, der in klassischer Zeit seinen Sitz in Delphi hatte. Vgl. Mannzmann, KlP 1 (1979) s. v. Ἀμφικτυονία 311ff. 25

in Mittelgriechenland zu verstärken. Im Jahr 346 erlang der Makedonenkönig de iure und de facto eine unumstrittene Hegemonialstellung innerhalb der Amphiktionie und hatte zusätzlich Makedonien zur stärksten Macht im hellenischen Raum geführt. Nach dem Philokratesfrieden setzte er seine expansive Politik fort, sodass spätestens ab 343 die Beziehungen mit Athen unter großen Spannungen standen, die im Konflikt über die thrakische Chersones von 343 bis 341 ihren Ausdruck fanden. Im Jahr 340/39 kam auf athenische Initiative der sogenannte Hellenische Bund, eine defensive Symmachie unter Führung Athens und Thebens gegen Philipp, zustande. Diese Allianz wurde 338 bei Chaironeia durch die Makedonen besiegt, sodass Philipp nunmehr die Vorherrschaft in ganz Hellas erlangte, was auf dem Korinthischen Kongress von hellenischen Staaten und dem Makedonenkönig im Jahr 338/7 auch de iure bestätigt wurde. Nachdem er nun seine Stellung in Hellas durchgesetzt hatte, plante er einen gemeinsamen Krieg gegen das Perserreich. Betrachtet man die Jahre von 395 bis 338 insgesamt, so handelte es sich um eine Zeit in Hellas, die von Hegemonialkriegen gekennzeichnet ist.29 In diesen konzentrierten sich Sparta, Athen, Theben und Philipp II. darauf, die Vormachtstellung zu erringen oder zu bewahren. Dabei spielte der Perserkönig zuweilen die Rolle des Schiedsrichters oder des Manipulators bei innergriechischen Konflikten. Es gibt demzufolge nachhaltige Gründe, weshalb die Zeit zwischen dem Korinthischen Krieg und der Schlacht bei Chaironeia zum Erforschen der Fragestellung dieser Arbeit gewählt wurde. Eine große Vielfalt von – in den Quellen hinreichend dokumentierten – Kriegen, Friedensverträgen und Bündnisschlüssen steht zur Verfügung, sodass Kriege unterschiedlicher Art im Schrifttum der Redner dieser Epoche diskutiert und begründet werden; es handelt sich dabei um Angriffs- und Verteidigungskriege von Hellenen gegen Hellenen, Hellenen gegen Barbaren sowie um Hegemonialkriege zwischen hellenischen Mächten bzw. um Kriege, die als Hilfe gegenüber Bundesgenossen oder Poleis dienten, denen Unrecht geschah. Die meisten überlieferten rhetorischen Schriften stammen aus dem Athen des 4. Jh.; somit können Vergleiche der Ansichten unterschiedlicher Redner in derselben Zeitspanne und in einigen Fällen sogar mit Bezug auf dieselben Ereignisse und historischen Hintergründe angestellt werden. Die Ansätze der Redner in Bezug auf die Kriegsbegründung sind zahlreich und von großer Bedeutung für das hier abzuhandelnde Thema. Demzufolge gibt es gute Voraussetzungen, dass die Frage nach einheitlichen Konzeptionen der Kriegsrechtfertigung in einer Periode, die zeitlich mehr als ein halbes Jahrhundert umfasst, gestellt werden kann. Die in Betracht gezogenen Reden enden im Jahr 338, da die Schlacht bei Chaironeia einen wichtigen Wendepunkt der Polisgeschichte markiert. Die Zeit danach, also die Zeit der makedonischen Vorherrschaft, weist ganz unterschiedliche Merkmale auf, die selbstverständlich auch die Inhalte der Reden beeinflusst haben. 29 Nach M.I. Finley (War and Empire, in: ders., Evidence and Models 67–87, bes. 79) waren alle wichtigen Kriege in der Antike, zumindest von dem Zeitpunkt an, als es in spätarchaischer Zeit große Kampfverbände gab, Kämpfe um die Hegemonie. 26

Die zielführende Leitfrage ist die Kriegsrechtfertigung und die Begründung der Aufforderung zum Krieg. Jedes einzelne Argument dazu wird systematisch analysiert. Auch wenn es sich in einigen Fällen um das Abraten vom Krieg bzw. um eine Stellungnahme für den Frieden handelt, lässt sich daraus für die Fragestellung Grundsätzliches entnehmen. Zum rhetorischen Vorgehen der beratenden Reden im Allgemeinen ist die zutreffende Kategorisierung der unterschiedlichen Gesichtspunkte, die Aristoteles später τέλη nannte,30 durch Anaximenes von Lampsakos hilfreich. Demnach sollte ein Rhetor zeigen, dass das, wofür er plädiert, δίκαιον, νόμιμον, συμφέρον, καλόν, ἡδύ, bzw. ῥᾴδιον sei.31 Jedes Argument sollte mindestens einer dieser Kategorien entsprechen. Δίκαιον ist das Gerechte, das den ungeschriebenen Gewohnheiten aller oder zumindest der meisten entspricht, das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Νόμιμον ist das, was sich nach den schriftlich festgelegten Gesetzen richtet. Συμφέρον ist das Nützliche sowohl in Bezug auf das Bewahren des vorhandenen Guten als auch auf die Hinzufügung von neuem sowie auf die Verhinderung eines zu erwartenden Übels. Καλόν ist das den Taten Ehre und Ruhm Bringende. Ἡδύ ist das Angenehme, das Freude bereitet. Ῥᾴδιον ist das leicht zu schaffende bzw. jenes, welches mit dem kleinsten Aufwand durchzuführen ist.32 Wenn allerdings keines dieser Ziele zu erreichen ist, sollte das Angeratene als δυνατόν (möglich) und ἀναγκαῖον (notwendig) – also als das unter göttlichem und menschlichem Zwang Geschehene – dargestellt werden.33 In dem Sinne konnte ein Krieg mit Bezug auf das formale Recht, das Gerechte im sozialethischen Sinne, den ethischen Aspekt, den zu gewinnenden materiellen und machtpolitischen Nutzen sowie mit Bezug auf die Durchführbarkeit und Erfolgsaussichten des Krieges begründet werden. Von der Kategorisierung des Anaximenes ausgehend, bildet die Untersuchung hauptsächlich der genannten Faktoren den Kern dieser Arbeit. Weitere Hinweise oder Berichte der Reden, die sich sowohl auf Krieg und Frieden als auch auf politische Aspekte beziehen, werden nur dann analysiert, wenn dies dem eigentlichen Gegenstand der Untersuchung dient. Die Abhandlung begrenzt sich somit auf eine selektive Interpretation der rhetorischen Zeugnisse unter den oben genannten Gesichtspunkten. Die Zielsetzung der Abhandlung umfasst freilich eine Reihe von weiteren Teilfragen: – Wie wurde der Krieg gegenüber dem Feind und wie gegenüber den Mitbürgern, Mitgriechen oder Bundesgenossen gerechtfertigt? Eine öffentliche Rede konnte sich zugleich an unterschiedliche Adressaten richten, auch wenn sie sich in der Anrede an ganz bestimmte Zuhörer wandte. 30 Vgl Aristot. rhet. 1358b 20. Hermogenes von Tarsos nannte sie τελικὰ κεφάλαια (vgl. Hermog. prog. 6, 12). Vgl. dazu Martin, Antike Rhetorik 169f. 31 Vgl. Anaximen. rhet. Alex. 1421b 23–33. 32 Vgl. Martin, Antike Rhetorik 169f. 33 Vgl. Anaximen. rhet. Alex. 1421b 26ff. 1422a 19–22; Dazu Martin, Antike Rhetorik 169f.; Anderson Jr., Glossary 17f. 27

– Waren der ethische Faktor oder die eigennützigen, machtpolitischen oder imperialistischen34 Motive die eigentliche Triebkraft der jeweiligen Argumentation? Es handelt sich in erster Linie um die zwei Pole des δίκαιον und des συμφέρον, worauf meist die ganze Argumentation der Rhetoren abzielt. – Welche Rolle spielten historische Hintergründe sowie innen- und außenpolitische Umstände? Davon war nämlich die Intention der Reden abhängig. Kein Krieg wurde ohne Rücksicht auf Faktoren wie die Vorgeschichte einer Auseinandersetzung, die Friedensverträge, die Bündnispolitik oder die militärische und wirtschaftliche Ausgangsposition der eigenen Polis gefordert. – Inwieweit hat die persönliche und politische Ausgangsposition des Redners seine Argumentation ideologisch und konzeptionell beeinflusst? Dabei soll die jeweils unterschiedliche Tätigkeit der Redner, die als Politiker, Logographen, Rhetoriklehrer sowie Vertreter eigener Überzeugungen oder politischer Gruppierungen auftraten, erörtert werden. Zusätzlich ist die Entwicklung des politischen Denkens eines jeden Redners in Bezug auf die Kriegsrechtfertigung zu berücksichtigen. – Ist im rhetorischen Vorgehen einer epideiktischen im Vergleich zu einer symbuleutischen Rede eine Gemeinsamkeit im Hinblick auf die Kriegsrechtfertigung zu erkennen, die über die festen Formeln, also die rhetorischen Topoi,35 hinausgeht? Hierbei ist besonders die Tatsache zu beachten, dass auch die epideiktischen Reden häufig bestimmte politische Ziele verfolgen, sodass ihre Intention und Argumentation nicht nur im Rahmen einer rhetorischen Stilübung betrachtet werden darf. – Abschließend ist der Frage nachzugehen, ob sich die Kriegsrechtfertigung und -aufforderung nach einheitlichen Konzeptionen richteten, sodass deren Klassifizierung und das sich ergebende Modell der Begründung einer Kriegsrechtfertigung in der attischen Rhetorik des 4. Jh. dargelegt wird. In Bezug auf die Fragestellung werden die Reden des Andokides, Lysias, Isokrates und Demosthenes systematisch kommentiert und analysiert. Beachtenswert ist, dass alle vier Redner im Vergleich sehr unterschiedlichen Tätigkeiten nachgingen 34 Es ist problematisch, inwieweit der moderne Begriff ‚Imperialismus‘ auf die Verhältnisse der Antike übertragen werden darf (zur Diskussion dazu vgl. die angegebene Literatur in: Petzold, Historia 42 [1993] 418–443, bes. 418 Anm. 1). Trotz der erforderlichen Vorbehalte bei seiner Verwendung kann er in vielen Fällen, z. B. im Hinblick auf die Verurteilung der attischen ἀρχή oder der Benutzung des Begriffs πλεονεξία durch attische Redner, den Sachverhalt noch am ehesten wiedergeben (vgl. Bickermann, Επιστολή Σπευσίππου, in: Iakow, Συκουτρής II, 59–167, bes. 85; Opitz, Das Bild Philipps 295 Anm. 6). 35 Ein τόπος oder κοινὸς τόπος ist ein rhetorischer Gemeinplatz. Aristoteles (rhet. 1358a 11–14) spricht über die Gemeinplätze aller rhetorischen Gattungen: λέγω γὰρ διαλεκτικούς τε καὶ ῥητορικοὺς συλλογισμοὺς εἶναι περὶ ὧν τοὺς τόπους λέγομεν· οὗτοι δ‘ εἰσὶν οἱ κοινοὶ περὶ δικαίων καὶ φυσικῶν καὶ περὶ πολιτικῶν καὶ περὶ πολλῶν διαφερόντων εἴδει, οἷον ὁ τοῦ μᾶλλον καὶ ἧττον τόπος. 28

und differenzierte politische Einstellungen aufwiesen. Zusammen vermitteln sie ein repräsentatives Bild der attischen Rhetorik, denn es handelt sich bei ihnen sowohl um Rhetoriklehrer, Logographen oder aktive Redner als auch um Politiker mit unterschiedlichen persönlichen sowie politischen Zielen und Prioritäten.36 Andokides war ein athenischer Aristokrat und aktiver Politiker. Seine Rede Über den Frieden mit Sparta trug er im Jahr 392/1, also während des Korinthischen Krieges, in der athenischen Volksversammlung vor. Er riet zum Abschluss eines Friedens von Athen mit Sparta, den er kurz zuvor als Mitglied der athenischen Gesandtschaft in Sparta verhandelt hatte. Interessant sind dabei seine Definition und Bewertung eines gerechten Friedens sowie seine Auffassung über politisch annehmbare Kriegsgründe. Zwei weitere überlieferte Reden von ihm, eine politische Demegorie und eine Prozessrede, beide im letzten Jahrzehnt des 5. Jh. gehalten, sind für diese Abhandlung irrelevant, denn Andokides versucht in ihnen angesichts von Anschuldigungen wegen Religionsfrevel lediglich sein persönliches Handeln zu verteidigen und nimmt keinen Bezug auf außenpolitische Fragestellungen. Lysias war kein athenischer Bürger, sondern ein aus Syrakus stammender Metöke, der in Athen hauptsächlich als Logograph wirkte. Trotzdem durfte er im Jahr 392 einen Epitaphios auf die athenischen Gefallenen einer Schlacht des Korinthischen Krieges verfassen. Darüber hinaus schrieb er eine panegyrische Festrede, den Olympiakos, die während des Olympiafestes vermutlich des Jahres 388, also ein Jahr vor Beendigung des Korinthischen Krieges, vorgetragen wurde; leider ist uns aber vom Olympiakos lediglich die Einleitung überliefert. Diese epideiktischen Reden bilden eine Ausnahme im sonst aus Gerichtsreden bestehenden Corpus Lysiacum und enthalten aufschlussreiche Gedanken des Rhetors in Bezug auf den Krieg. In diesem Zusammenhang untersuche ich speziell die unterschiedliche Bewertung und Begründung der Kriege unter Hellenen und der gegen Barbaren sowie die panhellenische Sichtweise des Rhetors bezüglich der Kriegsrechtfertigung. Isokrates war ein athenischer Logograph und Rhetoriklehrer, der selbst nie als aktiver Redner auftrat. Seine diesbezüglichen Reden, Sendschreiben und Briefe erstrecken sich über eine Zeitspanne von vier Jahrzehnten. Es handelt sich um den Panegyrikos (380), den Plataikos (373), den Brief an Dionysios I. von Syrakus (367), den Archidamos (366), den Areopagitikos (357), die Friedensrede (355), die Antidosisrede (353), den Philippos (346), zwei Briefe an Philipp II. von Makedonien (346 und 344) und den Panathenaikos (342–339). Die Gattung und Form dieser Schriften sind unterschiedlich. Gemeinsam weisen sie allerdings mehr oder weniger politische und beratende Elemente auf. Hauptpunkte nachstehender Untersuchung 36 In diese Richtung bewegt sich das Urteil von P. Treves (Die Olynthischen Reden, in: Schindel, Demosthenes 189–232, bes. 195) über Lysias, Isokrates und Demosthenes: „Und in der Tat ist das Athen des Lysias zu bescheiden, das des Isokrates dagegen zu vornehm; das erste ist zu realistisch gezeichnet, das zweite zu sehr idealisiert. (…). Lysias und Isokrates sind so Zeugen einiger Aspekte und Seiten der Krise, nicht der Krise selbst in ihrer Gesamtheit. Das Sein und Sollen eines ganzen Volkes zeigt Demosthenes.“ 29

sind die Begründung der isokrateischen Aufforderung zum panhellenischen Krieg gegen das Perserreich in verschiedenen zeitlichen Perioden, seine Bewertung des Königsfriedens im Jahr 387/6 und die damit verbundene Definition vom gerechten Friedensvertrag. Wichtig ist auch Isokrates’ Begründung für die Aufforderung zu Kriegen gegen Theben in den Reden der 370er und 360er Jahre, die zur Eindämmung der thebanischen Machtentfaltung dienen sollten. Gleichermaßen bedeutend ist die Umorientierung seines außenpolitischen Denkens in Zusammenhang mit der Kritik an expansiven und ungerechten Kriegen in den Reden der 350er Jahre und schließlich seine Bewertung vergangener Kriege Athens und Spartas in seiner letzten epideiktischen Rede, die kurz vor der Schlacht bei Chaironeia veröffentlicht wurde. Vom isokrateischen Corpus werden folglich nur jene Schriften behandelt, die darauf abzielen, politischen Einfluss auszuüben und Stellung in Bezug auf Begründung von Kriegen zu nehmen. Ausgenommen werden daher die Gerichtsreden aus der frühen Tätigkeit des Rhetors als Logograph. Ferner werden jene Reden nicht berücksichtigt, die Auftragsarbeiten waren und lediglich zum Lob einer Einzelpersönlichkeit geschrieben wurden,37 paränetische Schriften, die das Bildungsideal des Isokrates zum Ausdruck bringen sollten, und jene Briefe an Einzelpersönlichkeiten, deren Inhalt für das zu untersuchende Thema irrelevant ist. Demosthenes hatte sowohl eine logographische Tätigkeit als auch eine als aktiver Redner und Politiker. Ein großer Teil seines überaus umfangreichen Werkes ist überliefert. Unbedeutend für die Fragestellung der Arbeit sind neben seinen Gerichtsreden in privatrechtlichen Prozessen auch die meisten in politischen Prozessen. Untersucht werden dagegen seine ersten drei Demegorien zu außenpolitischen Fragen, also die Symmorienrede (354/3), die Rede Für die Megalopoliten (353/2) und die Rede Für die Freiheit der Rhodier (352 oder 351/0). Dadurch werden die Ansichten des Rhetors in Bezug auf die Gerechtigkeit eines athenischen Krieges gegen das Perserreich sowie die Begründung militärischer Hilfeleistung Athens für hellenische Poleis deutlich. Weiterhin werden die I. Philippische (351/0) und die drei Olynthischen Reden (349/8) in Betracht gezogen. Wichtig ist dabei die Art und Weise, wie Demosthenes den Antagonismus in Bezug auf die Vormachtstellung in Hellas zwischen Athen und dem Makedonenkönig Philipp II. wahrnimmt und folglich ein aktives militärisches Vorgehen gegen Makedonien und militärische Hilfeleistung für die chalkidische Polis Olynthos fordert und begründet. Ferner ist die Friedensrede (346) des Demosthenes insofern wichtig, dass der Redner darin zu diesem Zeitpunkt ausnahmsweise argumentativ für den Frieden mit dem Makedonenkönig eintritt. Ansichten über den gerechten Krieg sowie über den eventuellen Vertragsbruch durch den Feind als Vorwand zum Krieg sind in dieser Rede enthalten. In die zweite Hälfte der 340er Jahre gehören die politischen Reden II. Philippika (344), die Rede Über die Angelegenheiten auf der Chersonesos (341), die III. Philippika (341) und die IV. Philippika (340). Der Redner setzt sich in ihnen mit allen Mitteln für den Krieg gegen 37 Es wird trotzdem Bezug auf einige relevante Stellen des Euagoras, einer Lobrede an den gleichnamigen verstorbenen kyprischen König, genommen. 30

Philipp ein. Da seit 346 durch den Philokratesvertrag Friede zwischen Athen und Makedonien herrschte, befasst sich Demosthenes mit der Frage der Kriegsschuld, der Kriegserklärung sowie mit der Darstellung des Krieges als Verteidigungs- und Existenzkrieg, da ihm sowohl die athenische als auch die hellenische Freiheit als bedroht erscheinen. Die Begründung des Krieges enthält zusätzlich panhellenische Argumente für den Abschluss neuer Defensivbündnisse, damit Athens Vormachtstellung in Hellas gefördert werde. Außer den politischen Demegorien des Demosthenes wird auf weitere Reden des Autors Bezug genommen, wenn dies für die Untersuchung erforderlich ist. Zu erwähnen ist die Rede Über die Truggesandtschaft, also eine Anklagerede im Jahr 343 gegen den athenischen Redner und Politiker Aischines, der ein Vertreter der promakedonischen Politik war. Darüber hinaus werden einige Stellen der politischen Rede Über Halonnesos (343/2) ausgewertet; diese Schrift wurde vermutlich von einem – dem Demosthenes gleichgesinnten – Redner, namentlich Hegesippos, verfasst und gehalten, ist aber dennoch dem Corpus Demosthenicum zugeordnet. In den demosthenischen Reden nach 338 handelt es sich nicht mehr um die Begründung von Kriegen bzw. von Kriegsaufforderungen. Der uns erhaltene Epitaphios (338) auf die Gefallenen bei Chaironeia ist vermutlich lediglich eine Nachahmung der originalen, ursprünglichen Rede; hierin geht der Rhetor ohnehin kaum über die sonst üblichen rhetorischen Topoi der attischen Grabreden hinaus. Andererseits ist sein Meisterwerk die Verteidigungsrede gegen eine Anklage des Aischines gegen die öffentliche Kranzehrung des Demosthenes wegen seiner Verdienste um den Staat im Jahr 336 in Athen.38 Die sogenannte Kranzrede (330) ist eine sehr lebendige Verteidigung des Demosthenes für sein gesamtes Handeln seit seinem Eintritt in die politische Laufbahn. Bezüglich des Krieges mit Philipp stellt Demosthenes hierbei acht Jahre nach der Niederlage bei Chaironeia die Frage, was die Athener hätten tun sollen. In dieser Rechtfertigung des ohnehin längst verlorenen Krieges fügt der Redner keine Gedanken hinzu, die nicht bereits in den Reden vor 338, als es tatsächlich um den Einfluss auf die aktuellen politischen Entscheidungen der Ekklesia ging, emphatisch dargestellt wurden. Somit spielt diese ohnehin spektakuläre Gerichtsrede lediglich eine sekundäre Rolle in Bezug auf die Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung. Die Reden des Aischines stellen keinen Gegenstand dieser Arbeit dar. Von seinen drei überlieferten Schriften, die alle im Rahmen von prozessrechtlichen Auseinandersetzungen mit Demosthenes verfasst wurden, kämen zwei davon, nämlich die Verteidigungsrede Über die Truggesandtschaft (343) und die Anklagerede Gegen Ktesiphon (330), die durch die Kranzrede des Demosthenes zurückgewiesen wurde, in Frage. Beide sind mit bestimmter Zielsetzung gegen seinen politischen Gegner Demosthenes geschrieben, von denen nur die erste in die zu untersuchende Zeit, also vor 338, gehört. Darin versucht Aischines seine persönliche Rolle in Hinblick auf den Abschluss des Philokratesfriedens und die promakedonische Politik in Athen 38 Vgl. dazu Wankel, Ktesiphon I, 10ff. 31

zu verteidigen. Weder die Kriegsbegründung noch das Abraten vom Krieg gehören zur Zielsetzung oder zum eigentlichen Gegenstand der Gerichtsreden des Aischines. Der Hauptteil der Arbeit lässt sich anhand der zu behandelnden Autoren in vier Kapitel gliedern. Nach ihrem zeitlichen Auftreten wird zunächst Andokides, danach Lysias, daraufhin Isokrates und zuletzt Demosthenes abgehandelt. Jedes dieser vier Kapitel beinhaltet relevante Informationen zum Lebenslauf und der politischen und rhetorischen Tätigkeit des jeweiligen Redners. Zusätzlich vermitteln sie Informationen über das historische Umfeld der entsprechenden Rede sowie die Einschätzung der Intention ihres Verfassers. Ferner werden Analyse und Systematisierung der Argumente zum An- oder Abraten eines Krieges einbezogen. Die Einführung zum Andokides-Kapitel bezieht sich auf die Geschichte Athens unmittelbar nach dem Peloponnesischen Krieg und auf die Ursachen und den Ablauf des Korinthischen Krieges. Sie dient somit als Darlegung historischen Kontextes sowohl der Friedensrede des Andokides als auch des nächsten Kapitels über den Epitaphios und den Olympiakos des Lysias, die alle in der Zeit zwischen 392 und 388 verfasst wurden. Wegen der zeitlichen Nähe überschneiden sich die historischen Einführungen der Reden der 350er und 340er Jahre des Isokrates und Demosthenes in einigen Punkten. Über die Fakten des Bundesgenossenkrieges 357–355 wird detailliert als Hintergrund der demosthenischen Symmorienrede berichtet, da diese unmittelbar mit Bezug auf die außenpolitischen Umstände der Zeit gehalten wurde. Dieselbe Darlegung kann auch als Einführung zur Friedensrede des Isokrates dienen. Dasselbe gilt bezüglich des Kapitels über den Philokratesfrieden, das zwar das Umfeld der Friedensrede des Demosthenes beleuchtet, aber auch zum Verständnis des isokrateischen Philippos wichtig ist. Das dritte und vierte Kapitel, die die Reden des Isokrates und des Demosthenes untersuchen, sind umfangreicher als die zwei ersten, denn es wird darin eine viel größere Anzahl von überlieferten und themenrelevanten Schriften in Betracht gezogen. Im Isokrates-Kapitel wird die jeweilige Schrift einzeln untersucht, denn sie wurde mit einem gewissen Zeitabstand von der nächsten Rede publiziert, die folglich aus anderem Anlass verfasst war und teilweise oder gänzlich verschiedene Ziele verfolgte. Darüber hinaus sind die Schriften des Isokrates strukturell und inhaltlich ein explizites Ergebnis sorgfältiger Arbeit eines Rhetoriklehrers; unter diesem Aspekt soll die Argumentation jeder einzelnen Rede dargelegt werden. Im Gegensatz dazu sind Inhalt und Struktur der Argumentation des Demosthenes weniger von theoretischen Richtlinien abhängig. Seine politischen Reden sind eng mit der Real- und Tagespolitik verbunden; es war daher nicht selten, dass aufgrund der Tagesordnung der Volksversammlungen mit kleinem zeitlichem Abstand Reden über dasselbe oder ein ähnliches Thema gehalten wurden. Es werden demzufolge mehrere Reden des Demosthenes gemeinsam untersucht. Die I. Philippika und die drei Olynthischen Reden wurden in der Zeit von 351 bis 348, also unter gleichen Umständen und ähnlicher Zielsetzung, verfasst. Dasselbe gilt bezüglich vieler Aspekte für die politischen Reden der zweiten Hälfte der 340er Jahre, dementsprechend auch für die II., III. und IV. Philippika sowie für die Chersonesosrede. 32

In einem fünften Kapitel erfolgt die abschließende Zusammenfassung und Auswertung der einzelnen Ergebnisse. Die Kriegsrechtfertigung in der attischen Rhetorik der zu untersuchenden Zeit wird somit anhand historischer Exempla konzeptionell klassifiziert. Es handelt sich auf der einen Seite um die formal und sachlich abgesicherte und auf der anderen um die situativ bedingte, einseitige Begründung einer Kriegsrechtfertigung in den abgehandelten Schriften.

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II. Andokides 1. Athen und Sparta am Anfang des 4. Jh. Im Jahr 404/3 errang Sparta durch seinen Sieg im Peloponnesischen Krieg die absolute Vormachtstellung in der griechischen Staatenwelt. Die athenische Volksversammlung musste den harten Bedingungen des Kapitulationsvertrags zustimmen. Dazu gehörte der Eintritt in den Peloponnesischen Bund; Athen wurde somit von Sparta zur Heeresfolge bei Defensiv- und Offensivunternehmungen verpflichtet.1 Doch bereits einige Jahre später begann Athen eine Politik der Distanzierung von Sparta und suchte neue Allianzen. Politische Kräfte in Athen drängten auf eine enge Zusammenarbeit mit Persien, sodass im Jahr 397 eine athenische Gesandtschaft zum persischen Großkönig Artaxerxes II. geschickt wurde.2 Zusätzlich unterstützte die Stadt durch Entsendung von Schiffsmannschaften und Waffenlieferung den athenischen Feldherrn Konon3, der im Jahr 397 zum Nauarchen der neu aufzubauenden persischen Flotte ernannt worden war.4 Offenbar war der Großkönig zu diesem Zeitpunkt durchaus an einer Zusammenarbeit mit Athen und anderen griechischen Poleis interessiert. Motivation hierzu war nicht nur die neue hegemoniale Stellung Spartas, sondern auch dessen Entschluss, die Befreiung der kleinasiatischen Städte von der Perserherrschaft voranzutreiben. Im Rahmen dieser Politik unterstützen die Lakedaimonier auch Kyros, den jüngeren Bruder des Großkönigs, der den persischen Thron beanspruchte, und sandten nach dessen Tod (401) Truppen, seit 396 sogar ihren König Agesilaos – allerdings ohne Beteiligung Athens – zum Kampf

1 Die Friedensbedingungen waren Folgende: Athen musste alle auswärtigen Besitzungen abtreten, die langen Mauern und die Mauern von Peiraius niederlegen, seine Kriegsschiffe bis auf zwölf ausliefern, die Verbannten zurückrufen und sich Sparta gegenüber zur Heeresfolge verpflichten. Vgl. Xen. hell. 2, 2, 20ff.; And. 3, 11f.; Diod. 12, 107, 4; 14, 3, 6; Plut. Lys. 14; StV II² 211; Beloch, GG II.1,  428; Funke, Homónoia und Arché 63f. 2 Vgl. Hell. Oxyrh. 10, 1 (Chambers); Is. 11, 8; Androt. FGrHist 324 F 18 = Philoch. FGrHist 328 F 147. 3 Der athenische Stratege Konon floh nach der vernichtenden Niederlage der athenischen Flotte durch die Spartaner im Jahr 405 bei Aigospotamoi, die den Peloponnesischen Krieg beendete, nach Kypros zu König Euagoras (vgl. Xen. hell. 2, 1, 28f.; Diod. 13, 106, 6) und kam von dort aus nach 400 in Verbindung mit dem Satrapen Pharnabazos und dem Großkönig Artaxerxes II.; somit nutzte er den seit 400 bestehenden Krieg zwischen Sparta und Persien aus, sodass er den großen Feind Athens während des Peloponnesischen Krieges weiter bekämpfen konnte (vgl. Schmitz, DNP 6 [1999] s. v. Konon [1] 706f). 4 Vgl. Hell. Oxyrh. 10, 1 (Chambers). Zum Oberkommando Konons vgl. Isokr. 4, 142; Xen. hell. 4, 3, 11f.; Diod. 14, 83, 4ff. 35

gegen die Perser nach Kleinasien. Dieser konnte einige Erfolge erzielen,5 woraufhin Artaxerxes II. durch reichliche Bestechungsgelder die Ablehnung des spartanischen Herrschaftssystems durch die Griechen zu schüren versuchte. Ziel war somit die Schwächung der spartanischen Herrschaft. Theben, Korinth, Argos und Athen wurden daher im Auftrag des Satrapen Pharnabazos durch den Rhodier Timokrates finanziell unterstützt, um so einen Aufstand aller gegen Sparta zu ermöglichen.6 Im Frühjahr 396 beschloss die athenische Volksversammlung, dem spartanischen König Agesilaos die Heeresfolge für seinen Kriegszug nach Westkleinasien zu verweigern.7 Von größerer Bedeutung im Hinblick auf die Umorientierung der attischen Außenpolitik war der athenische Beschluss von 395 anlässlich des Konfliktes zwischen den Städten Lokris und Phokis. Hinter den Lokrern stand Theben, die erste Macht des Boiotischen Bundes, während die Phoker Rückhalt bei Sparta fanden. Die folgende Niederlage der Lakedaimonier in der Schlacht bei Haliartos, in der Lysandros, der spartanische Feldherr, kurz bevor König Pausanias mit dem Aufgebot des Peloponnesischen Bundes den Kampfplatz erreichte, tödlich verletzt wurde,8 war die erste erfolgreiche Auflehnung gegen den universellen Hegemonieanspruch Spartas.9 Nach Thebens Hilfegesuch10 schloss Athen mit dem Boiotischen Bund einen Defensivpakt auf ewige Zeiten.11 Dies bedeutete nicht nur die Auflösung des mit Sparta bestehenden Bündnisses, sondern auch den direkten Eintritt Athens in den Kriegszustand, der zwischen Sparta und Theben bereits bestand. Aus der thebanisch-athenischen Allianz entstand eine Symmachie, der sich dann weitere griechische Staaten, darunter Korinth, Argos und die Städte der Chalkidike, anschlossen;12 der gemeinsame Rat (συνέδριον) des Bündnisses wurde in Korinth etabliert. Da sich viele der folgenden Kriegshandlungen gerade in diesem Gebiet konzentrierten, berichtet Diodor, dass dieser Konflikt als ‚Korinthischer

5 Vgl. Xen. hell. 3, 1, 3; Diod. 14, 35. Zu den Gründen des spartanischen Entschlusses gegen den Großkönig vorzugehen vgl. Meyer, GdA V, 185 Anm. 1. 6 Vgl. Xen. hell. 3, 5, 2; Bengtson, GG 265. Xenophon behauptet, dass die Athener von dem Gold nichts genommen hätten, trotzdem aber zum Krieg und zur Wiederherstellung ihrer alten Herrschaft bereit waren. 7 Vgl. Paus. 3, 9, 2. Die Athener begründeten ihren Beschluss mit dem Argument, dass sie durch die Folgen der Pest und des Peloponnesischen Krieges geschwächt und zur Heeresfolge nicht fähig seien. Obwohl sich diese Argumentation angesichts des militärischen Vorgehens Athens im nächsten Jahr als fadenscheinig herausstellte, ist festzuhalten, dass Athen zum damaligen Zeitpunkt noch keine offene Konfrontation mit Sparta suchte. 8 Vgl. Xen. hell 3, 5, 18ff.; Diod. 14, 81, 1f.; Plut. Lys. 27ff. 9 Vgl. Dreher, Athen und Sparta 144ff. 10 Vgl. Xen. hell. 3, 5, 8–15. 11 IG II² 14; StV II² 223; Schweigert, Hesperia 8 (1939) 1–47, bes. 1ff. 12 Vgl. Diod. 14, 82, 1–4; StV II² 225. Es handelte sich um ein reines Militärbündnis, das die Interessen der einzelnen Mitgliedstaaten schützen sollte. Vgl. Funke, Homónoia und Arché 71ff. 36

Krieg‘ bezeichnet wurde und acht Jahre (395–387/6) gedauert habe.13 Im Gegensatz zum Landkrieg fiel die Entscheidung zur See bereits 394; vor dem kleinasiatischen Knidos vernichtete die persisch-phönikische Flotte unter dem Athener Konon und dem Satrapen Pharnabazos die von Agesilaos zurückgelassenen spartanischen Seestreitkräfte unter dem lakedaimonischen Nauarchen Peisandros.14 Die Folgen der spartanischen Niederlage wirkten unmittelbar: Die seit zehn Jahren dominierende spartanische Seeherrschaft existierte nicht mehr, die persische Flotte hingegen errang die Vormachtstellung in der Ägäis. Die spartanischen Positionen in der Ägäis waren damit verloren. Das griechische Kleinasien musste daraufhin die persische Oberhoheit über ihre Territorien anerkennen.15 In Athen dagegen wurde Konon als überragender Sieger gefeiert,16 und die langen Mauern wurden mit persischem Gold wieder aufgebaut.17 Dazu erhielt Athen die mit athenischen Kleruchen besiedelten Inseln Lemnos, Imbros und Skyros zurück18 und schloss Bündnisse u. a. mit Chios, Mytilene, Kos, Knidos und Eteokarpathos.19 Spartas strategische Lage gegenüber der korinthischen Allianz und Persien war keineswegs günstig. Obwohl sich die Kriegslage im Jahr 393 zugunsten Spartas verbesserte, waren keine entscheidenden Vorteile in Aussicht.20 Deshalb erwog man ab 392 einen Friedensschluss mit den Persern. Im Sommer entsandten die Spartaner Antalkidas zum Satrapen Tiribazos nach Sardeis, um über die Beendigung des spartanisch-persischen Krieges zu verhandeln.21 Die wichtigsten Bestandteile des spartanischen Angebots waren die offizielle Anerkennung der persischen Herrschaft 13 Diod. 14, 86, 6: τῶν δὲ κατὰ τὸν πόλεμον δεινῶν σχεδόν τι περὶ τὴν Κόρινθον γενομένων ὁ πόλεμος οὗτος ἐκλήθη Κορινθιακός, καὶ διέμεινεν ἔτη ὀκτώ. Vgl. auch Diod. 12, 1, 23. 30, 2. 30, 5; 14, 1, 73. Der Terminus Κορινθιακὸς πόλεμος war schon ein Jahrzehnt nach dem Königsfrieden etabliert: vgl. Isokr. 14, 27; Is. 10, 20. 14 Vgl. Xen. hell. 4, 3, 11f.; Diod. 14, 83, 5ff. 15 Vgl. Isokr. 9, 56; Diod. 14, 84, 4; Bengtson, GG 266; Welwei, Athen 267; Dreher, Athen und Sparta 147. 16 Vgl. IG II² 1425 Z. 283ff.; Demosth. 20, 69f. 17 Vgl. Xen. hell. 4, 8, 9f. 18 Vgl. And. 3, 12; Xen. hell. 4, 8, 15. 19 Vgl. Syll. I³ 129 Z. 29ff.; Diod. 14, 84, 3; Bengtson, GG 267. 20 Vgl. Funke, Homónoia und Arché 84–88; Jehne, Koine Eirene 32ff. Es ist in der Forschung umstritten, von welchem Staat die Friedensinitiative ausging, wobei es wahrscheinlicher ist, dass Sparta die treibende Kraft war (vgl. dazu Ryder, Koine Eirene 31f.; Funke, Homónoia und Arché 140f.; Jehne, Koine Eirene 33f. Anm. 16). Es gibt keine Belege für die Meinung, dass eine Friedenspartei in Athen zu den Friedensverhandlungen drängte (vgl. zu dieser Meinung: Walfried von Stern, Geschichte der spartanischen und thebanischen Hegemonie vom Königsfrieden bis zur Schlacht bei Mantineia 7f.; Nolte, Die historisch-politischen Voraussetzungen des Königsfriedens von 386 v. Chr. 57; Dieckhoff, Zwei Friedensreden, in: Anastassiou/Irmer, Kleinere Attische Redner 379–391, bes. 379; Hamilton, Sparta’s Bitter Victories 252ff.; Strauss, Athens 139–143). 21 Vgl. Xen. hell. 4, 8, 12. 37

über die Griechenstädte in Kleinasien von spartanischer Seite und gleichzeitig die Anerkennung der Autonomie der hellenischen Poleis in der Ägäis und im griechischen Mutterland durch die Perser.22 Obwohl es sich um ein bilaterales Arrangement zwischen Sparta und Persien handelte, wurden die Vorschläge nicht nur von den anwesenden Vertretern der Korinthischen Allianz, sondern auch vom Großkönig Artaxerxes abgelehnt, da er noch nicht bereit war, den Konflikt mit den Spartanern beizulegen.23 Im Herbst und Winter 392/1 fand eine weitere Friedenskonferenz in Sparta statt, auf der sich Gesandte der Krieg führenden Parteien des Korinthischen Krieges versammelten. Beteiligt waren Vertreter Athens, Argos’, Boiotiens und Korinths.24 Philochoros überliefert die Namen von vier25 bevollmächtigten athenischen Gesandten: 22 Vgl. Xen. hell. 4, 8, 14. 23 Vgl. Xen. hell. 15, 8, 15ff. Artaxerxes wies das Angebot trotz der Fürsprache des Tiribazos zurück. Bei der Entscheidung des Großkönigs spielte vermutlich die Reaktion der Gesandten der Korinthischen Allianz auf das Friedensangebot eine Rolle. Darüber hinaus vermutet Ed. Meyer (GdA V, 247), dass beim König „zur Zeit noch die Erbitterung über Spartas Treulosigkeit überwog“. 24 Für diese Datierung, also für das Archontenjahr des Philokles, sprechen in erster Linie ein Fragment des zeitgenössischen Geschichtsschreibers Philochoros – aus Didymos’ Kommentar zu Demosthenes – (vgl. Philoch. FGrHist 328 F 149a), ferner die Aussage des Andokides, dass seine Friedensrede nach vier Kriegsjahren (395–392) gehalten wird (vgl. And. 3, 20) und einige Anspielungen auf die Friedensverhandlungen in den Ekklesiazusen des Aristophanes (vgl. Aristoph. Eccl. 193–205), die vermutlich an den Lenaien oder Dionysien des Jahres 392/1 aufgeführt wurden (vgl. Funke, Homónoia und Arché 168–171). F. Stähelin hatte bereits 1905 die wichtigsten Argumente für die Datierung der Friedenskonferenz auf den Winter 392/1 sowie für die Annahme, dass es sich im Philochorosfragment bei Didymos nicht um den Königsfrieden von 387/6 handelt, zusammengetragen (vgl. Stähelin, Klio 5 [1905] 55–71, bes. 56–64). Zur Datierung der Friedenskonferenz in das Jahr 392/1 vgl. auch Jacoby, FGrHist IIIb Suppl. I, Komm. S. 515ff.; Funke, Homónoia und Arché 88 und Anm. 56; Pownall, Phoenix 49 (1995) 140–149, bes. 142–149. Nicht hinreichend überzeugend ist dagegen die Datierung der Konferenz auf das Jahr 393/2 durch W. Judeich (Philologus 81 [1926] 141–154). I.A.F. Bruce (Historia 15 [1966] 272–281) datiert dagegen die Gesandtschaft der vier Athener doch auf den Königsfrieden. Er kann aber einige wichtige Argumente von F. Stähelin nicht widerlegen, sodass seine These nur von wenigen Forschern übernommen wurde. Z. B. datiert D. Kienast (RE Suppl. XIII [1973] s. v. Presbeia 499–627 bes. 577. 601f.) die Gesandtschaft der vier angeführten Athener auf 386, während er als einzigen Gesandten der Friedenkonferenz von 392 Andokides nennt; seine Darstellung der Ereignisse begründet er allerdings nicht. 25 D.J. Mosley (Envoys and Diplomacy in Ancient Greece 30. 56f.) behauptet, dass die athenischen Gesandtschaften nach Sparta, die die Vollmacht, einen Frieden zu schließen, besaßen (πρέσβεις αὐτοκράτορες), also die von 445, 405 und 392/1, aus zehn Mitgliedern bestanden. D. Kienast (RE Suppl. XIII [1973] s. v. Presbeia 499–627 bes. 537) geht nicht von der athenischen Gesandtschaftstradition, sondern nur vom Philochorosfragment aus und spricht über vier Gesandte in Sparta im Jahr 392/1. 38

Epikrates von Kephisia, Kratinos von Sphettos, Eubulides von Eleusis und der bekannte Redner Andokides von Kydathenaion.26 Der umstrittenste Punkt der Verhandlungen war die Autonomie der griechischen Einzelstaaten, für die Sparta nach wie vor eintreten wollte. Mit persischer Zustimmung wurden bei den Friedensverhandlungen zumindest für Athen günstige Friedensbedingungen vorgeschlagen: Sofern sich Athen mit der spartanischen Forderung nach der Autonomie aller Griechenstaaten einverstanden erkläre, dürfte es seine Kleruchien, seine Befestigungen und die im Aufbau befindliche Flotte behalten.27 Theben sollte die boiotische Stadt Orchomenos freigeben, aber weiterhin dem Boiotischen Bund in der alten Form vorstehen dürfen.28 Sparta bestand bezüglich der Verhältnisse auf der Peloponnes allerdings auf der weiteren Dominanz Korinths gegenüber dem – mit Sparta traditionell verfeindeten – Argos, was zur Ablehnung des Vertrags durch die Argiver führte.29 Theben verhielt sich trotz eigener Bereitschaft zum Vertragsabschluss30 solidarisch gegenüber Athen und Argos, die den Vertrag ablehnten.31 Die athenischen Gesandten wurden als πρέσβεις αὐτοκράτορες nach Sparta gesandt und waren somit zum sofortigen Friedensschluss ermächtigt. Trotzdem nutzten sie die Vollmacht nicht, denn die von ihnen akzeptierten Verhandlungsergebnisse wichen von den ihnen vorgegebenen Leitlinien ab. Sie kehrten mit dem Gegenentwurf zurück, über den, wie mit den Spartanern vereinbart war, das Volk vierzig Tage lang Gelegenheit haben sollte, zu beraten.32 Auch lakedaimonische

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Da es eher unwahrscheinlich ist, dass nur vier der zehn Gesandten, die den Frieden von 392/1 verhandelt hatten, angeklagt und zum Tode verurteilt wurden, während von den anderen sechs überhaupt nichts überliefert ist, ist hier von der Annahme auszugehen, dass an der athenischen Gesandtschaft von 392/1 lediglich die vier von Philochoros genannten Bürger beteiligt waren. Vgl. Philoch. FGrHist 328 F 149. Epikrates war ein radikaldemokratischer Politiker, der 403 gegen die Oligarchie kämpfte. 397 setzte er sich mit Kephalos auch auf die Gefahr eines Krieges hin für eine Zusammenarbeit mit Persien und einen Bruch mit Sparta ein. Nach Konons Sieg bei Knidos 394 wurde er mit Phormisios als Gesandter Athens zum persischen König geschickt. Nach seiner Rückkehr wurde er wegen Bestechlichkeit angeklagt, aber freigesprochen. Nach 392/1 ist sein weiteres Wirken unbekannt (vgl. PA 4859; Jacoby, FGrHist IIIb Suppl. I, Komm. S. 519; Schmitz, DNP 3 [1997] s. v. Epikrates [1] 1121). Eubulides war der Archon des Jahres 394/3 (vgl. PA 5325). Über Kratinos sind außer dem Philochoros-Fragment keine weiteren Angaben überliefert (vgl. Jacoby, FGrHist IIIb Suppl. I, Komm. S. 519; PA 8757). Über die falsche Annahme des Beinamens Ἀναφλύστιος für Kratinos s. Jacoby, FGrHist IIIb Suppl. II, Komm. S. 417 Anm. 29. Vgl. And. 3, 12. 14. 23. 39. Es ging also für Athen um Bedingungen, unter denen einige Jahre später der Königsfrieden von 387/6 zustande kommen sollte. Vgl. And. 3, 13. 20. 25. 28. Vgl. And. 3, 26ff. 32. 41. Vgl. And. 3, 13. 20. 24f. 28. 32. Vgl. Jehne, Koine Eirene 34 Anm. 20. Vgl. And. 3, 33. 35; Philoch. FGrHist 328 F 149b. A. Missiou behauptet, dass die einzelnen Mitglieder der Gesandtschaft verschiedene politische Interessen vertraten 39

Gesandte waren mit nach Athen gekommen.33 Mit der Rede Über den Frieden mit Sparta verteidigte Andokides in der Ekklesia die Verhandlungsergebnisse und versuchte, allerdings ohne Erfolg,34 das Volk zur Annahme der neuen Bedingungen zu bewegen.35 Die überlieferte Rede wird in den nächsten Kapiteln untersucht, in denen die Auffassungen des Rhetors über Krieg und Frieden in ihren historischen Zusammenhängen näher beleuchtet und analysiert werden sollen.

2. Andokides und seine erhaltenen Reden Andokides, der Sohn des Leogoras, wurde um 44036 als Angehöriger einer alten Adelsfamilie geboren.37 Als junger Mann wurde er Mitglied einer Hetairia38, wodurch sich seine Verbindung oligarchischer Gesinnung mit religionsfeindlichem Denken

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(vgl. Missiou-Ladi, CQ 37 [1987] 336–345, bes. 342 Anm. 26). Zwar könnte so der Beschluss der Gesandten, den Vertrag im Namen des athenischen Demos nicht zu unterzeichnen, erklärt werden, es soll aber auf die überzeugende Feststellung von D.J. Mosley hingewiesen werden, dass die πρέσβεις αὐτοκράτορες im Regelfall keine großen Verhandlungsmöglichkeiten hatten; ihre Vollmacht wurde durch konkrete schriftliche Anweisungen der Volksversammlung vorgegeben (vgl. Mosley, Envoys and Diplomacy in Ancient Greece 30–38; auch Missiou-Ladi, CQ 37 [1987] 336–345, bes. 340). Es ist folglich anzunehmen, dass die schriftlichen Anweisungen an die Gesandtschaft, auf die Andokides verweist (vgl. And. 3, 35), mit den von den Spartanern vorgeschlagenen Friedensbedingungen nicht übereinstimmten. Dies soll der Grund gewesen sein, weshalb sie den Vertrag in Sparta nicht zu unterzeichnen vermochten (vgl. And. 3, 23. 35; Funke, Homónoia und Arché 143; Pownall, Phoenix 49 [1995] 140–149, bes. 146). Vgl. And. 3, 39. Zur Zurückweisung des Friedens durch die Athener vgl. Philoch. FGrHist 328 F 149a-b. U. Wilcken (Über Entstehung und Zweck des Königsfriedens, in: Abh. d. Preuß. Akad. d. Wiss., philos. -hist. Kl. 15 [1941] 2–20, bes. 5 mit Anm. 1) zufolge steht nicht fest, ob es sich um den offiziellen Bericht handelt, den Andokides als Gesandter nach seiner Rückkehr dem athenischen Volk erstattet hat, oder um eine Demegorie, die während der Diskussion unmittelbar nach der Berichterstattung in der Ekklesia vorgetragen wurde. Laut Pseudo-Lysias war Andokides zur Zeit seines Prozesses im Jahr 400/399 vierzig Jahre alt. Vgl. [Lys.] 6, 46. Andokides selbst berichtet, dass er im Jahr 415 jung war (vgl. And. 2, 7) und im Jahr 400/399 immer noch jung genug (vgl. And. 1, 148). Vgl. dazu Thalheim, RE I, 2 [1894] s. v. Andokides [1] 2124–2129, bes. 2124f. Zum Stammbaum des Andokides vgl. Edwards, Andocides 206. Zu Informationen über seine Herkunft und Familie vgl. Thomas, Oral Tradition and Written Record in Classical Athens 139–144; Missiou, Andokides 15–20. Hetairien waren exklusive Vereine, die aus adligen Vereinigungen der archaischen Zeit hervorgegangen waren. Im Athen des 5. und 4. Jh. waren es kleine Personengruppen meistens gleichaltriger, wohlhabender junger Männer. Ihr Hauptzweck lag im geselligen Beisammensein, aber sie konnten darüber hinaus auch ganz konkrete politische Ziele verfolgen und an innerstaatlichen Machtkämpfen teilnehmen.

äußerte.39 Die Verwicklung des Andokides in den politisch brisanten Hermokopidenfrevel40 des Jahres 415 brachte ihn ins Gefängnis, aus dem er sich nur durch Verrat an den Schuldigen oder Mitschuldigen retten konnte.41 An seinem Namen haftete seitdem ein Makel, denn er wurde dazu verurteilt, Athen zu verlassen. In seiner ältesten uns erhaltenen Rede von 407 Über seine Rückkehr unternahm er vor der Volksversammlung den vergeblichen Versuch, die Gunst des Volkes wiederzugewinnen. Dies gelang ihm erst nach der Amnestie von 403, die seine Rückkehr ermöglichte. Ende des Jahres 40042 wurde er wegen unbefugter Teilnahme an den eleusinischen Mysterien angeklagt. Andokides verteidigte sich selbst im Prozess, in dem er seine Rede Über die Mysterien hielt. Er wurde freigesprochen und gewann somit sein Ansehen in Athen zurück, wovon auch seine Teilnahme an der Friedenskonferenz in Sparta von 392/1 zeugt.43 Diese Gesandtschaft ist der Ausgangspunkt der Rede des Andokides Über den Frieden mit Sparta. Mit seinem Scheitern ging der sogenannte Korinthische Krieg weiter; Andokides selbst und seine Mitgesandten mussten aufgrund einer Anklage

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Vgl. Strauss, Athens 20; Welwei, Gymnasium 99 (1992) 481–500, bes. 497–500; Bleicken, Die athenische Demokratie 445f. Vgl. Lesky, Literatur 403. Plutarch verweist auf eine nicht überlieferte Schrift des Andokides Πρὸς τοὺς ἑταίρους, worin die damalige antidemokratische Gesinnung des Redners zum Ausdruck kommt (vgl. Plut. Them. 32, 3). Es handelt sich um die Beschädigung fast aller Hermen in Athen in einer Nacht kurz vor der Sizilienexpedition. Andokides bezeichnete den Vorfall als eine ‚Treueprobe‘, die die Solidarität der Hetairiemitglieder prüfen sollte (vgl. And. 1, 67). Die Athener sahen allerdings darin ein schlechtes Omen für die Sizilienexpedition sowie eine revolutionäre Verschwörung zur Beendigung der Volksherrschaft; die religiöse und politische Ordnung sei durch eine oligarchische Hetairia angegriffen (Thuk. 6, 27; And. 1, 36). Während der Untersuchung des Vorfalls wurden zusätzlich Anschuldigungen wegen Profanierung der Eleusinischen Mysterien gegen reiche Bürger erhoben. Beschuldigt wurden außer Andokides viele junge Männer der begüterten Oberschicht, darunter auch der einflussreiche Politiker und Stratege sowie Initiator der Sizilienexpedition Alkibiades. Diese waren anscheinend auch mit der Sophistikbewegung verbunden. Vgl. Thuk. 6, 27ff. 53. 60f.; And. or. 1; Stein-Hölkeskamp, DNP 5 (1998) s. v. Hermokopidenfrevel 447; Graf, Der Mysterienprozeß, in: Burckhardt/ Ungern-Sternberg, Große Prozesse im antiken Athen 114–127, bes. 120–123; Scholten, Die Sophistik: eine Bedrohung für die Religion und Politik der Polis? 51ff. 197. Thukydides spricht von einem Hauptschuldigen, der als Häftling seine Schuld gestand und die Mitschuldigen nannte. Es handelt sich vermutlich um Andokides, auch wenn der Historiker keine Namen nennt und sich nicht ohne Vorbehalt auf diese Geschichte bezieht. Vgl. Thuk. 6, 60, 2; Andokides selbst gibt einige Jahre später in seinen Reden Über seine Rückkehr und Über die Mysterien zu, dass er vier Personen preisgegeben habe, ohne aber seine Mitschuld einzugestehen (vgl. And. 2, 7f.; 1, 67f.); vgl. auch Furley, DNP 1 (1996) s. v. Andokides [1] 683ff., bes. 683. Zur Datierung vgl. Sealey, Historia 5 (1956) 178–203, bes. 182 mit Anm. 23; Edwards, Andocides 14. Vgl. Lesky, Literatur 403. 41

(γραφή) des jungen Kallistratos wegen Amtsmissbrauch (παραπρεσβεία) in die Verbannung flüchten, um der Todesstrafe zu entgehen.44 Bereits in der Antike wurde Andokides als zweiter in den Kanon der zehn maßgeblichen attischen Redner aufgenommen,45 obwohl seine erhaltenen Werke für einen berufsmäßigen Redner nicht typisch sind.46 Sein Ziel war stets die praktische politische Tätigkeit und nicht die Rhetorik, sonst hätte er in seinem Exil seinen Unterhalt als Sophist und nicht als Kaufmann verdient.47 Seinen Reden liegt – bei allen sittlichen und politischen Schwächen – ein authentischer Ton sprachlicher, rednerischer und weltanschaulicher Kultur eines Mannes aus der höheren attischen Gesellschaftsschicht des 4. Jh. zugrunde.48 Dies mag damit zusammenhängen, dass er weder gelernter Redner noch Philosoph war.

3. Andokides’ Friedensrede Die Echtheit der Rede Περὶ τῆς πρὸς Λακεδαιμονίους εἰρήνης wurde im Altertum von Dionysios von Halikarnassos und dem Gewährsmann des Lexikographen Harpokration bezweifelt.49 Heute gilt die Rede aber mit Recht als authentisch.50

44 Vgl. Philoch. FGrHist 328 F 149a; Demosth. 19, 277ff.; [Plut.] mor. 835A; Schol. Aristeid. III p. 277 (Dind.); Phot. Bibl. 261b; dazu Funke, Homónoia und Arché 143 Anm. 35; Pownall, Phoenix 49 (1995) 140–149, bes. 140f. 141 Anm. 3. 45 Die Auswahl der zehn ästhetisch besten und für den Unterricht in der Rhetorenschule geeignetsten Redner wird auf Kaikilios von Kale Akte (Περὶ τοῦ χαρακτήρος τῶν δέκα ῥητόρων) zurückgeführt, einen der Vorkämpfer der attizistischen Renaissance in augusteischer Zeit. Vgl. Schmid, Literatur I.3.1., 94. 46 Vgl. Furley, DNP 1 (1996) s. v. Andokides [1] 683ff., bes. 683f. Außer den drei erwähnten Reden wurde Andokides eine vierte, die mit dem Titel Gegen Alkibiades überliefert ist, zugeschrieben; diese gilt allerdings wegen Form und Inhalt als unecht. Es handelt sich um eine fingierte Rede eines unbekannten Verfassers vermutlich des späten 5. oder frühen 4. Jh. Ihr Thema ist ein Angriff auf den Staatsmann und Feldherrn Alkibiades, mit dem Ziel, ihn zu ostrakisieren (vgl. Eder/Heftner, Gegen Alkibiades, in: Siewert, Ostrakismos-Testimonien I, 277–301, bes. 277f. und die Literaturangaben in 277f. Anm. 4). Zur Unechtheit der Rede vgl. Schmid, Literatur I.3.1., 137f. 137 Anm. 9; Edwards, Andocides 208–211; MacDowell, in: Gagarin/MacDowell, Antiphon and Andocides 159ff. Für die Echtheit dieser Rede plädiert W.D. Furley (Hermes 117 [1989] 138–156); seine Begründung wirkt allerdings nicht überzeugend. 47 Vgl. And. 2, 11ff. 19ff. 48 Vgl. Schmid, Literatur I.3.1., 142. 49 Die Ansicht des Dionysios von Halikarnassos ist durch Philochoros, der ein Fragment des Kommentars von Didymos zu Demosthenes anführt, überliefert (Philoch. FGrHist 328 F 149b 9f.): ὁ δὲ Διονύσιος νόθον εἶναι λέγει τόν λόγον; Harpokr. s. v. Ἑλληνοταμίαι; Νεώρια καὶ νεώσοικοι; Πηγαί. 50 Vgl. Jebb, Orators I, 131; Blass, Beredsamkeit I, 326; Schmid, Literatur I.3.1., 137; Kennedy, AJP 79 (1958) 32–43, bes. 40; Lesky, Literatur 403; Edwards, Andocides 107f.; Missiou, Andokides 56 Anm. 1. E. M. Harris (Authenticity, in: Flensted-Jensen/ 42

Andokides ergriff das Wort, nachdem sich bereits mehrere Redner gegen den Friedensentwurf ausgesprochen hatten.51 Aus seiner Rede wird nicht nur eine spezifische Akzentuierung des Terminus εἰρήνη (Friede) deutlich,52 sondern auch, dass der Krieg als außenpolitisches Vorgehen zu bewerten ist. Obwohl sich Andokides in dieser Rede auf die athenische Gesandtschaft in Sparta bezieht, handelt es sich nicht so sehr um einen Rechenschaftsbericht, sondern vielmehr um eine beratende Rede mit stark narrativen, vergangenheitsbezogenen Elementen.53 Es geht also um einen typischen λόγος συμβουλευτικός im aristotelischen Sinne: Zum einen sollte die Erzählung von vergangenen Ereignissen die Zuhörer zu einer vernünftigeren Zukunftsplanung führen,54 zum anderen sollten sie überzeugt werden, dass ein bestimmtes Vorgehen gerecht, nützlich oder wichtig sei.55 Es ist zu bemerken, dass es sich um die älteste überlieferte genuin öffentliche Rede handelt, die sich mit Krieg und Frieden befasst.56

3.1 Friede, Krieg und Demokratie Obwohl von einer Fortführung des Krieges keine großen Gewinne für Athen zu erwarten waren, beharrten die Anführer einflussreicher politischer Gruppierungen57 auf ihrem traditionellen Programm, in keinen Frieden einzuwilligen, der nicht Athens einstige Macht wiederherstelle. Sie zogen die Menge auf ihre Seite, indem sie behaupteten, dass die Demokratie bedroht sei, wenn man sich mit Sparta verständige.58 Darüber informiert uns Andokides bereits im ersten Abschnitt seiner Rede.59 Der Rhetor widerlegt die Behauptung, dass die demokratische Verfassung gefährdet sei, indem er die drei früheren Friedenschlüsse Athens mit Sparta aus dem 5. Jh. und deren positive Folgen nachweist. Den ersten Vertrag habe ‚Miltiades, Sohn des Kimon,‘ geschlossen und damit einen Krieg beendet, an dem auch Euboia und

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Nielsen/Rubinstein, Polis and Politics 479–505) plädierte für die Unechtheit der Rede, konnte aber die Argumente der Befürworter der Echtheit, besonders die von E. M. Edwards, nicht überzeugend widerlegen. Seine These wurde in der bisherigen Forschung nicht übernommen (vgl. z. B. Rhodes, Making and Breaking Treaties in the Greek World, in: De Souza/France, War and Peace in Ancient and Medieval History 6–27, bes. 12f. mit Anm. 24; Hunt, War 274). Vgl. And. 3, 1. Vgl. Dieckhoff, Zwei Friedensreden, in: Anastassiou/Irmer, Kleinere Attische Redner 379–391, bes. 379. Vgl. Kennedy, AJP 79 (1958) 32–43, bes. 41f. Vgl. Aristot. rhet. 1417b 11–15. Vgl. Aristot. rhet. 1417b 34ff. Vgl. Missiou, Andokides 10. Zu den politischen Gruppierungen s. Kap. II. 4.1 (hier S. 57–61). Hiermit sind die einflussreichen Politiker Thrasybulos, Agyrrhios und ihre Anhänger gemeint. Vgl. Hell. Oxyrh. 9, 2f. (Chambers); Beloch, Perikles 123; Sealey, Historia 5 (1956) 178–203, bes. 179–185; Buck, Thrasybulus 111. 113. Vgl. And. 3, 1. 43

Megara beteiligt waren.60 Den zweiten hätte Andokides, der gleichnamige Großvater des Redners, im Jahr 446/5 ausgehandelt und damit den Aiginetischen Krieg beendet.61 Der dritte sei der Nikiasfriede, der im Jahr 421 den Peloponnesischen Krieg beenden sollte.62 Er gelangt zu der Feststellung, dass der Friede nie dem δῆμος geschadet habe und dass in Friedenszeiten die Polis Athen Gelegenheit gefunden habe, ihre wirtschaftliche, militärische und politische Macht auszudehnen.63 Die historischen Beispiele64 haben bei Andokides nicht nur eine deskriptive, sondern vielmehr eine zielorientierte Funktion. Sie sollen durch eine positive Beurteilung der vergangenen Friedensschlüsse, die den Hintergrund für die Rechtfertigung des gegenwärtig beabsichtigten Friedens bilden, eine Orientierung für das künftige Vorgehen bieten.65 Entscheidend wirkt dabei die Verbindung des Friedens mit der wirtschaftlichen Komponente der Demokratie, wobei allerdings auf die Prosperität der Polis, nicht der einzelnen Bürger, hingewiesen wird;66 diesen Teil der Argumentation 60 Wahrscheinlich handelt es sich hier nicht um Miltiades, sondern um Kimon, den Sohn des Miltiades und den fünfjährigen Waffenstillstand zwischen Athen und den Peloponnesiern (vgl. StV II² 143), der um 453 abgeschlossen wurde. In der Forschung bleibt es allerdings umstritten, ob es sich um eine falsche Namensangabe handelt; vgl. dazu die Literaturangaben in: Scheidel, T 24: Andokides 3.3–4 (392/1 v. Chr.): Die Rückkehr des „ostrakisierten” Miltiades (493 v. Chr.?), in: Siewert, OstrakismosTestimonien I, 342–349, bes. 342. 61 Vgl. StV II² 156. 62 Vgl. StV II² 188. Obwohl Athen und Sparta durch den Nikiasfrieden den Besitzstand vor dem Krieg anerkannten, war der Friede instabil, und der Krieg ging im Jahr 415 mit der athenischen Sizilienexpedition weiter und endete im Jahr 404. 63 Vgl. And. 3,2–9. Hier ist anzumerken, dass die Darstellung der vergangenen Friedenschlüsse gegen die Chronologie der Ereignisse verstößt, was in der Forschung seit langem durchschaut wurde (vgl. Jebb, Orators I, 130–134; Blass, Beredsamkeit I, 327; Pearson, CPh 36 [1941] 209–229, bes. 214f.; Nouhaud, L’utilisation de l’histoire par les orateurs attiques 230f.; Scheidel/Siewert, Tyche 3 [1988] 164–170, bes. 166–169; Thomas, Oral Tradition and Written Record in Classical Athens 119–123). S. Perlman notiert, dass Andokides mehr als alle anderen Redner wegen seiner fehlerhaften Erzählung historischer Ereignisse auffällt (vgl. Perlman, The Historical Example. Its Use and Importance as Political Propaganda in the Attic Orators, in: Stud. in Hist., Scripta Hierosolymitana 7 [1961] 150–166, bes. 163). Aber A. Missiou (Andokides 59f. mit 59 Anm. 6) erinnert daran, dass eine Fehlerfreiheit von historischen Informationen sogar in der Geschichtsschreibung dieser Zeit nicht erreicht wurde. Ähnliche Fehler kommen in den Reden der anderen Rhetoren häufig vor, was impliziert, dass die athenischen Zuhörer tolerant gegenüber fehlender Präzision waren. 64 Bereits Aristoteles und Anaximenes hatten erkannt, dass die paradigmatische Verwendung vergangener Ereignisse in der Rhetorik als Argumentationsbasis wichtig ist. Vgl. Aristot. rhet. 1357b 25–36; Anaximen. rhet. Alex. 1429a 21 – 1430a 13. 65 Vgl. Missiou, Andokides 61; Hunt, War 181. 66 Andokides schließt in den ἀγαθά der Friedenszeit die großen Geldmengen, durch die die staatliche Kasse vor allem mittels der Tributeinzahlungen der Bundesgenossen im Delisch-Attischen Seebund aufgebessert wurde, ein. Er betont zwar, dass die Gelder 44

zitierte der Rhetor Aischines nochmals fünf Jahrzehnte später in seiner Rede Über die Truggesandtschaft um nachzuweisen, dass der Friede die Demokratie nicht gefährdet.67 Die Furcht der Athener im Jahr 392/1 entstammte nicht der entfernten Vergangenheit, sondern dem Friedensschluss von 404, dem die Herrschaft der so genannten Dreißig Tyrannen folgte.68 Eine Garantie gegen einen Rückfall in die desolaten Verhältnisse des Jahres 404/3 boten die Regelungen des Vertrags für die meisten attischen Bürger nicht. Nur sah man diesmal die Verfassung nicht durch Angehörige der eigenen Bürgerschaft, sondern durch die übermächtige Stellung Spartas in Gefahr.69 Diese Furcht war nicht unbegründet, wenn man im Rückblick die Errichtung oligarchischer Verfassungen in Korinth und Theben nach 386 in Betracht zieht.70 Deswegen versucht Andokides, den anzustrebenden Frieden mit Sparta als einen echten und gleichzeitig gerechten Frieden zu definieren und dadurch den Unterschied zum Friedensschluss von 404 zu verdeutlichen.

3.2 Gerechter Friede Bereits in der Einleitung seiner Rede führt Andokides den Begriff des ‚gerechten Friedens‘ ein, der besser als Krieg sei: εἰρήνην ποιεῖσθαι δικαίαν ἄμεινόν ἐστιν ἢ πολεμεῖν.71 Diese These wird die Grundlage seiner Argumentation für den Frieden und die Verhandlungen mit Sparta. Es stellt sich hierbei die Frage, was ein gerechter Friede im andokideischen Sinne ist. Darauf gibt der Redner selbst Antwort, indem er den Unterschied zwischen εἰρήνη und σπονδαί erläutert:

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gesetzlich dem athenischen Volk gehörten, dennoch handelt es sich nicht um die direkte, persönliche Verbesserung der finanziellen Lage einzelner Bürger (vgl. And. 3, 7ff.). Allerdings darf der Hinweis auf die Prosperität des Friedens als eines der überzeugendsten Argumente des Andokides gegen den Krieg gelten. Vgl. Raubitschek, Andocides and Thucydides, in: Shrimpton/McCargar, Classical contributions 121ff., bes. 122; Missiou, Andokides 66f. Aischines setzte sich damals für den Frieden Athens mit dem Makedonenkönig Philipp II. ein. Vgl. And. 3, 3–9; Aischin. 2, 172–176; dazu Naef, Klio 79 (1997) 317–340, bes. 329; Edwards, Andocides 108 Anm. 88. Andokides weist direkt darauf hin. Vgl. And. 3, 10; dazu auch Lys. 25, 30. Zum direkten Verweis darauf vgl. Funke, Homónoia und Arché 144 mit Anm. 40; auch Seager, JHS 87 (1967) 95–115, bes. 112f. Vgl. Strauss, Athens 141 mit Anm. 76. Selbst die Tatsache, dass Andokides großen Wert auf die Widerlegung des Argumentes, die Demokratie sei gefährdet, legt, spricht dafür, dass es sich nicht nur um einen Vorwand handelte (vgl. Hochschulz, Kallistratos 38). And. 3, 1. 45

εἰρήνη γὰρ καὶ σπονδαὶ πολὺ διαφέρουσι σφῶν αὐτῶν· εἰρήνην μὲν γὰρ ἐξ ἴσου ποιοῦνται πρὸς ἀλλήλους ὁμολογήσαντες περὶ ὧν ἂν διαφέρωνται· σπονδὰς δέ, ὅταν κρατήσωσιν κατὰ τὸν πόλεμον, οἱ κρείττους τοῖς ἥττοσιν ἐξ ἐπιταγμάτων ποιοῦνται […].72

Als σπονδαί konnte hier der Friedensschluss bzw. -vertrag oder der Waffenstillstand durch Eid gemeint sein.73 Hier wird der Begriff aber eher im Sinne eines Vertrags verwendet, den der Sieger im Krieg mit dem Besiegten auf der Grundlage eines Diktats des Überlegenen, also unter Aufgabe der Gleichrangigkeit, schließt.74 Dies ist durch die Hinzufügung ἐξ ἐπιταγμάτων und durch die Gegenüberstellung des Terminus zu εἰρήνη, worunter der Redner den gleichberechtigten Interessenausgleich versteht, festzustellen. Andokides nutzt an dieser Stelle den ursprünglichen Bedeutungsinhalt der σπονδαί, also den Aspekt des einseitigen eidlichen Versprechens eines Stärkeren gegenüber einem Schwächeren nach dessen Bitten um Schutz und Sicherheit; zu seiner Zeit war der Begriff bereits auf Kriege übertragen, wobei die σπονδαί zunächst die Erlaubnis zur Totenbergung für den Besiegten garantierten. Somit wurde der Begriff σπονδαί von Andokides teilweise mit der Vorstellung der Unterlegenheit und Abhängigkeit des Besiegten vom Wohlwollen des Siegers verbunden.75 Εἰρήνη bedeutet in der Zeit vor dem Anfang des 4. Jh. nur den Friedenszustand, der in dem einzelnen Staat eintritt, wenn ein auswärtiger Krieg durch die συνθῆκαι (σπονδαί) καὶ ὅρκοι beendigt ist, oder wenn das Staatsleben vom inneren Krieg (στάσις) zurückgekehrt ist. Demnach ist εἰρήνη der Zustand des Friedens, dem die σπονδαί vorausgegangen sind. Aber nach dem Königsfrieden von 387/6 wird εἰρήνη zu einem völkerrechtlichen Terminus76, sodass mit ihm zukünftig nicht nur

72 And. 3, 11. Hier ist zu erwähnen, dass der Begriff εἰρήνη noch nicht zur Terminologie der attischen Rechtssprache gehört, da er in seiner Bedeutung als ein durch einen völkerrechtlichen Vertrag hergestelltes Friedensverhältnis zwischen zwei Staaten der offiziellen Urkundensprache bis zum Jahre 387/6 fremd ist. Ein völkerrechtlicher Friedensschluss heißt bis dahin σπονδαὶ καὶ ὅρκοι oder συνθῆκαι καὶ ὅρκοι. Dabei meint σπονδαί laut B. Keil (Εἰρήνη 3) einen „zunächst rein militärisch, unter religiösen Zeremonien abgeschlossenen Waffenstillstand zwischen den Heeren zweier feindlicher Staaten, συνθῆκαι den Inhalt der Stipulationen, die positiven Vertragsbestimmungen zwischen den Parteien (…)“. Nach den σπονδαί erfolgt ein zweiter Schwur (ὅρκος); erst durch die ὅρκοι wird daher in beiden Fällen eine staatsrechtliche Bindung herbeigeführt. Vgl. Keil, Εἰρήνη 3f. 73 Vgl. auch dazu Passow II.2 s. v. σπονδή 1507f.; LSJ s. v. σπονδή 1629. In der englischen Übersetzung der andokideischen Friedensrede von M. Edwards (Andocides 117) werden die σπονδαί als “truce”, Waffenstillstand, wiedergegeben. 74 Vgl. Dieckhoff, Zwei Friedensreden, in: Anastassiou/Irmer, Kleinere Attische Redner 379–391, bes. 380. 75 Vgl. Baltrusch, Symmachie und Spondai 100f. mit 101 Anm. 55. 76 Vgl. dazu den Bündnisvertrag zwischen Athen und Chios aus dem Jahr 384/3, Syll. I³ 142 Z. 5ff.: ‚τὴν εἰρήνην καὶ τὴν φιλίαν καὶ τὸς ὅρκος καὶ τὰς οὔσας συνθήκας ἃς ὤμοσεν βασιλεὺς καὶ Λακεδαιμόνιοι καὶ Ἀθηναῖοι καὶ οἱ ἄλλοι Ἕλληνες’. 46

der materielle Friedenszustand, sondern auch der rechtlich bindende, vertragsmäßig begründete Friede ausgedrückt wird.77 Allerdings ist im ersten Satz der Rede von Andokides mit εἰρήνη offensichtlich ein gerechter Friedensvertrag gemeint, eine εἰρήνη δικαία. Dennoch bezeichnet S. A. Naber die Unterscheidung zwischen σπονδαί und εἰρήνη als ridicula doctrina, da Andokides bereits im vierten Abschnitt seiner Rede diese beiden Begriffe als Synonyme verwendet:78 Καὶ τότε ἡμῖν εἰρήνη ἐγένετο πρὸς Λακεδαιμονίους ἔτη πεντήκοντα, καὶ ἐνεμείναμεν ἀμφότεροι ταύταις ταῖς σπονδαῖς ἔτη τριακαίδεκα.79

Demgegenüber soll hier allerdings notiert werden, dass der Begriff σπονδαί ohne die Ergänzung ἐξ ἐπιταγμάτων oder κατ› ἀνάγκην zur Zeit der Friedensrede nicht länger negativ gefärbt ist.80 Durch die angegebenen Definitionen der beiden Begriffe lässt sich dennoch auf Andokides’ Ansichten im Hinblick auf die Gerechtigkeit eines Friedens schließen: Für Andokides setzt εἰρήνη Gleichberechtigung und das gegenseitige Einvernehmen der Kriegsparteien voraus. Bei den σπονδαὶ ἐξ ἐπιταγμάτων werden die Bestimmungen des Friedens vom Sieger nach eigenem Gutdünken festgelegt. Ähnliches ist auch bei Isokrates und Aischines zu finden, wobei der semantische Unterschied der dabei verwendenden Termini viel deutlicher ist; Isokrates unterscheidet zwischen συνθῆκαι und προστάγματα81 und Aischines zwischen εἰρήνη und προστάγματα82. Die andokideische Definition des Friedens im Kontrast zu einem Friedensdiktat steht im Zusammenhang mit seiner Argumentation für den Friedensabschluss von 392/1. Um seine Gedanken noch einmal deutlich auszuführen, betont Andokides wiederholt all das, was der Vertrag von damals den Athenern auferlegte, z. B. Schleifung 77 Vgl. Keil, Εἰρήνη 5f. 15–18. Die neuere Forschung bestätigt die philologischen Ergebnisse der Untersuchung B. Keils, nicht aber alle historischen Schlüsse, die er daraus folgerte. Seine These, dass Krieg der Natur- oder Permanentzustand zwischen griechischen Poleis sei, der zuweilen durch den Frieden unterbrochen wurde, wird abgelehnt (vgl. Keil, Εἰρήνη 7ff.; Alonso, War, in: Raaflaub, War and Peace 206–238, bes. 209). 78 Vgl. And. 3, 4; auch 3, 29; Naber, Mnemosyne 33 (1905) 269–292, bes. 285f. 79 And. 3, 4. Auch in § 29 verwendet Andokides den Begriff σπονδαί in Bezug auf einen Friedenschluss Athens mit dem persischen Großkönig im Jahr 424/3. Es handelt sich anscheinend um einen Frieden, den Epilykos verhandelt hatte (vgl. dazu Edwards, Andocides 198, Komm. zu § 29). 80 Laut U. Albini (Andocide: De Pace 22f.) verwendet Andokides an dieser Stelle den Begriff nunmehr in seiner konventionellen Bedeutung, weil es für seine Argumentation nicht mehr erforderlich ist, zwischen εἰρήνη und σπονδαί zu unterscheiden. 81 Vgl. Isokr. 4, 176. In der Archidamosrede spricht Isokrates von συνθῆκαι ἐκ τῶν ἐπιταγμάτων; vgl. Isokr. 6, 51. 82 Vgl. Aischin. 2, 176. Laut Aischines war die Einsetzung der Dreißig Tyrannen in Athen am Ende des Peloponnesischen Krieges 404/3 kein Ergebnis des Friedens, sondern des spartanischen Diktats. 47

der Mauern, Auslieferung der Schiffe bis auf zwölf verbleibende, Verlust von Lemnos, Imbros, Skyros, Wiederaufnahme der Verbannten. Dies sollte in dem zu schließenden wahren Frieden nicht mehr gefordert werden.83 Der Redner verwendet also ein passendes Beispiel aus der Vergangenheit84, um die Ungerechtigkeit der σπονδαί (ἐξ ἐπιταγμάτων) im Gegensatz zur Gerechtigkeit der εἰρήνη zu zeigen. M. Dieckhoff (1969) sieht hier den Versuch des Rhetors, die bisherige Gegenüberstellung von Vertrag und Frieden durch Krieg und Frieden zu ersetzen.85 Schließlich gelangt der Rhetor zum Resümee: Τότε μὲν οὖν σπονδαὶ κατ' ἀνάγκην ἐξ ἐπιταγμάτων ἐγένοντο, νῦν δὲ περὶ εἰρήνης βουλεύεσθε.86

Wird aber der Krieg von Andokides wegen seines pazifistischen Idealismus abgelehnt oder ist bei ihm der Krieg bzw. der Friede eine Frage des Nutzens für die Polis zum gegenwärtigen Zeitpunkt? Dieser Frage wird in den nächsten Kapiteln unter dem Aspekt der Gründe und Voraussetzungen, die nach Andokides’ Meinung zum Krieg führten, nachgegangen.

3.3 Widerlegung weiterer Argumente für den Krieg Es mag merkwürdig scheinen, dass eine Rede, die als Plädoyer für den Frieden verfasst wurde, eine Aufzählung von potentiellen Kriegsgründen nennt. Da allerdings die dargestellten Gründe zur Zeit der Rede in Wirklichkeit nicht vorliegen, verstärken sie seine Argumentation für den Frieden. Sollten sie hingegen einmal existent werden, konnten sie als eine Verhandlungsbasis dienen. Diese rhetorische Vorgehensweise des Andokides zielt einzig darauf hin, von einer Weiterführung des Krieges gegen die Lakedaimonier im Jahr 392/1 abzuraten.

3.3.1 Gerechte Kriegsgründe In den Augen des Redners soll Athen grundsätzlich als eine in der hellenischen Welt überlegene Macht agieren, die aus berechtigten Ansprüchen Krieg führt.87 Er vertritt somit die Meinung, dass ein Krieg dann geboten ist, wenn jemandem ohne Rechtsgrund ein Unrecht geschieht, bzw. wenn jemand einem Unrecht Leidenden zu

83 Vgl. And. 3, 11. 84 Fast alle seine Argumente belegt Andokides durch die Verwendung von Beispielen vergangener Ereignisse. Dies macht er bewusst, da er selbst behauptet, dass das Vergangene die Beweise für das Künftige liefert. Vgl. And. 3,2: χρὴ γὰρ, ὦ ᾿Αθηναῖοι, τεκμηρίοις χρῆσθαι τοῖς πρότερον γενομένοις περὶ τῶν μελλόντων ἔσεσθαι. 85 Vgl. Dieckhoff, Zwei Friedensreden, in: Anastassiou/Irmer, Kleinere Attische Redner 379–391, bes. 380. 86 And. 3, 12. 87 Vgl. Schmitz, Prosperität 235. 48

Hilfe kommen muss, und rechtfertigt demzufolge die bisherige Beteiligung Athens am Korinthischen Krieg: Οἶμαι γὰρ ἂν πάντας ἀνθρώπους ὁμολογῆσαι διὰ τάδε δεῖν πολεμεῖν, ἢ ἀδικουμένους ἢ βοηθοῦντας ἠδικημένοις.88

Es handelt sich um eine typische Form des gerechten Krieges, der entweder als Selbstverteidigung im Sinne einer Reaktion auf erlittenes Unrecht oder als Hilfeleistung seine Begründung findet.89 Aber auch wenn diese zwei Voraussetzungen noch immer vorhanden sind, was zur Zeit des Erscheinens der Rede wohl gegeben war, sucht Andokides nicht nach Begründungen für den Krieg, sondern für die Beseitigung der Kriegsgründe durch politische Verhandlungen. Der Rhetor erscheint als nüchterner Politiker, der fest an den Nutzen des Friedens für den Staat glaubt und gerade deswegen für einen gerechten Friedensvertrag plädiert. Ferner veranschaulicht er pragmatisch seine Sichtweise für die konkrete außenpolitische Situation: Zum einen wird das Unrecht gegen Athen beseitigt, indem die Lakedaimonier der Polis ihre Rechte zurückgeben. Zum anderen fällt der weitere Kriegsgrund mit der Bereitschaft der Boioter zum Frieden aus.90 Beide Kriegsgründe sind also nicht mehr gegeben, was aus pragmatischer Sicht für beide Argumente einsichtig ist.91 Die zugleich bestehende Symmachie mit Argos und Korinth, die auf Fortführung des Krieges gegen Sparta drängten, lehnt Andokides angesichts des möglichen Friedenschlusses mit Sparta ab.92 Bezüglich seiner Argumentation für die Auflösung des Bündnisses mit Argos und Korinth steht ein rein machtpolitisches Kalkül im Mittelpunkt; Athen dürfe keine Bündnisse mit schwachen Staaten schließen und für deren Interessen Krieg führen, wenn es die Gelegenheit habe, sich mit starken Staaten zu verbünden, um so selbst den Frieden genießen zu können:

88 And. 3, 13. Hierbei wird durch ἀδικούμενος derjenige bezeichnet, dem durch kriegerisches Angreifen ohne Rechtsgrund Unrecht geschieht (Vgl. Wolf, Rechtsdenken III.2, 174 Anm. 1). 89 Laut S. Usher übernahm Andokides von den drei Aspekten der Demegorien des thukydideischen Werks, nämlich Zweckdienlichkeit, Gerechtigkeit und Machbarkeit, hauptsächlich den Aspekt der Zweckdienlichkeit; lediglich durch seine Definition des gerechten Krieges bezieht er sich auf die Gerechtigkeit. Vgl. Usher, Symbouleutic Oratory, in: Worthington, A Companion to Greek Rhetoric 221. 90 Vgl. And. 3, 13; zur Stellung der Boiotier für den Frieden vgl. auch §§ 20. 24. 28. Somit entfallen die Gründe zur Führung eines Krieges als Selbstverteidigung oder zur Hilfeleistung für Unrecht Leidende. In dieser Hinsicht bezeichnet B.S. Strauss (Athens 140) zu Recht Andokides und Epikrates als Pragmatiker. 91 Vgl. And. 3, 20ff. 25; Seager, JHS 87 (1967) 95–115, bes. 107; Urban, Königsfrieden 75. 92 Vgl. And. 3, 24–27. Andokides sieht eine Verpflichtung Athens nur Boiotien gegenüber, da die boiotisch-athenische Allianz den Anstoß zum Eintritt Athens in den Korinthischen Krieg gab; vgl. And. 3, 25; Seager, JHS 87 (1967) 95–115, bes. 107; Urban, Königsfrieden 75; dazu hier S. 36. 49

᾿Εγὼ μὲν οὖν ἐκεῖνο δέδοικα μάλιστα, ὦ ᾿Αθηναῖοι, τὸ εἰθισμένον κακόν, ὅτι τοὺς κρείττους φίλους ἀφιέντες ἀεὶ τοὺς ἥττους αἱρούμεθα, καὶ πόλεμον ποιούμεθα δι' ἑτέρους, ἐξὸν δι' ἡμᾶς αὐτοὺς εἰρήνην ἄγειν·93

Trotz der zunächst scheinbar festen Ansicht des Rhetors und damit der Athener bezüglich der Pflicht Athens zur Hilfeleistung gegenüber den Unrecht Leidenden94 bezeichnet er jetzt die traditionelle Verpflichtung seiner Polis, den Schwächeren zu helfen, als εἰθισμένον κακόν, da dies ständig ein Hindernis für den Frieden gewesen sei. Der Rhetor führt als Beispiele Ereignisse der athenischen Vergangenheit an, in denen die Hilfe für Schwächere der Polis geschadet hatte.95 Hier instrumentalisiert Andokides die Verwendung der Vergangenheit in einer anderen Art als in den attischen epideiktischen Reden, da er die Hinweise auf ältere Ereignisse nicht mehr zum Nachahmen, sondern zum Vermeiden ähnlichen Vorgehens benutzt.96 Seine Stellungnahme gegen die Hilfe für Schwächere erscheint allerdings als eine zynische Provokation gegen das traditionelle Selbstverständnis Athens als einer uneigennützigen Großmacht. Da der selbstlose Einsatz Athens für Unrecht Leidende ein Topos ist, der bereits auf das 5. Jh. zurückgeht und in der Sophistik, der tragischen Dichtung, Historiographie und Rhetorik des 5. und 4. Jh. allgemein verwendet wird,97 ist die These von A. Missiou, dass der oligarchisch gesinnte Andokides in § 28 Kritik an dem außenpolitischen Vorgehen des demokratischen Athens übte,98 zwar denkbar, aber nicht ohne Vorbehalt anzunehmen. Vielmehr ist festzustellen, dass der Rhetor auf das so häufig verwendete und mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch von den Friedensgegnern im Jahr 392/1 übernommene Argument des Krieges als Hilfeleistung zurückkommt. Er lehnt dies ausdrücklich ab, indem er das Ziel des Nutzens für Athen hervorhebt. Andokides merkt an, dass hinter der Verwendung eines scheinbar uneigennützigen Argumentes der Friedensgegner in der Tat ganz eigensüchtige Motive stehen; durch die Hilfe für Argos und Korinth sollte verhindert werden, dass der Isthmos von Korinth und damit der Zugang nach Attika von spartanischen Kräften kontrolliert wird. Der Redner widerlegt diese Ansicht, indem er gerade in der Unterstützung für die Argiver und der daraus folgenden

93 And. 3, 28. 94 Vgl. Low, Interstate Relations 184 mit Anm. 19. 95 Andokides erinnert an den für Athen vernichtenden Fehler von 415, wo es sich von dem schwachen Egesta in den Krieg gegen das mächtige Syrakus hineintreiben ließ, sowie an die Unterstützung des Aufstands des Amorges, Sohn des persischen Satrapen Pissuthnes, gegen den Großkönig Dareios II. nach 413 und den daraus folgenden Bruch des Friedens mit Persien (vgl. And. 3, 29f. Zur Historizität dieser Ereignisse vgl. Missiou, Andokides 109f. mit 110 Anm. 1 und 2). 96 Vgl. Grethlein, The Greeks and Their Past 135. 97 Zum erwähnten Topos vgl. die ausführliche Quellen- und Literaturangaben in: Tsitsiridis, Menexenos, Komm. zu 344e, 341f. 98 Vgl. Missiou, Andokides 113 mit Anm 11. 138f.; zustimmend Low, Interstate Relations 209f. 50

Fortsetzung des Krieges eine Einladung der Spartaner nach Attika sieht.99 Die rhetorische Verwendung des Topos ‚Hilfe für Unrecht Leidende‘ als Kriegsgrund ist somit für beide Seiten unter einem machtpolitischen Aspekt zu verstehen, worauf Andokides unverschleiert hinweist.100 Von dieser Feststellung ausgehend sind nun die weiteren genannten Kriegsgründe zu untersuchen. Die Leitfrage der §§ 14–16 lautet: τίνος ἔνεκα πολεμήσωμεν;101 In der Form der Hypophora werden alle möglichen Zwecke der weiteren Kriegführung aufgelistet, um darauf zu verweisen, dass diese teils schon erreicht, teils noch nicht erreichbar sind.102 An erster Stelle eines Kriegsgrundes erscheint die Freiheit der eigenen Polis: ἵνα ἡ πόλις ἡμῶν ἐλευθέρα ᾖ.103 Es handelt sich um einen plausiblen und beliebten Kriegsgrund in der griechischen Historiographie und Publizistik. Die Freiheit war zur Abfassungszeit der Rede – Andokides zufolge – in Attika vorhanden. Dies war wohl die Antwort auf das Gegenargument der Befürworter des Krieges, das auf die potentielle Gefährdung der Freiheit und vor allem der Autonomie der Polis hinwies, da die Erinnerung an die Intervention der Lakedaimonier in die athenische Innenpolitik noch nicht verblasst war.104 Da am Korinthischen Krieg die wichtigsten hellenischen Poleis beteiligt waren, verbindet Andokides zutreffend im weiteren Verlauf der Rede den zu erstrebenden allgemeinen Frieden mit der Freiheit nicht nur Athens, sondern auch von ganz Hellas.105

3.3.2 Krieg aus materiellen und machtpolitischen Gründen Andokides erweitert in der Friedensrede den Katalog gerechtfertigter Gründe für einen Krieg um das Recht auf Verteidigungsmaßnahmen und Aufrüstung der eigenen Polis. Konkret geht es um den Wiederaufbau der Stadtmauern und Aufrüstung mit Kriegsschiffen nach der Niederlage von 405 bei Aigospotamoi und den harten Bedingungen des Friedensvertrags.106 Ohne die Vorgeschichte vom Ausgang des Peloponnesischen Krieges wäre die Erwähnung eines solchen Kriegsgrunds hier nicht denkbar. Er ist aber insofern wichtig, weil er unmittelbar mit der Sicherheit, der Selbstbestimmung und vor allem mit der Macht Athens zu tun hat.107 Andokides

99 Vgl. And. 3, 26; Urban, Königsfrieden 75. 100 Schließlich soll der einzige Zweck außenpolitischen Handelns die Sicherung der Interessen der eigenen Polis sein. 101 And. 3, 13. 102 Vgl. Blass, Beredsamkeit I, 327. Zur Hypophora vgl. Anderson Jr., Glossary 124. 103 And. 3, 14. 104 Dies hängt in §§ 2–9 mit der Zurückweisung des Standpunktes, die Demokratie sei durch den Frieden gefährdet, zusammen. 105 Vgl. And. 3, 34; dazu Kap. II. 3.4 (hier S. 55–57). 106 Vgl. And. 3, 14. 107 Stadtmauer und Flotte waren ohnehin das symbolische Kennzeichen für die Macht und Prosperität Athens in der Zeit vor 404. Vgl. Missiou, Andokides 75f. 51

erwähnt ihn mit der Absicht, die positive Entwicklung der Polis nach der Aufhebung der erzwungenen Friedensbedingungen von 404 und der beeindruckenden Verbesserung der machtpolitischen Lage als eine Reminiszenz an die alte Macht der Polis hervorzuheben. Die Fortsetzung des Korinthischen Krieges wäre angesichts dieser Situation völlig unnötig. Den Frieden sieht der Redner allerdings als einen taktischen Zug, da dadurch die Voraussetzungen zum Erreichen der alten ἀρχή gegeben wären.108 Andokides hebt die bisherigen Erfolge Athens im Krieg hervor, die aufgrund der Stadtmauer und Flotte errungen wurden und andere Vorteile (ἀγαθά) mit sich brachten. Er ist aber nicht daran interessiert, auf direkte, d. h. individuelle Gewinne für die attischen Bürger zu verweisen. Mit dem Argument der Friedensgegner, dass Mauer und Flotte allein nicht für die Nahrung der Bürger sorgen würden, setzt er sich auseinander, indem er die Prosperität der Athener nur als Ergebnis ihrer Stärke verständlich macht.109 Seine Sichtweise ist hier anders als die eines Teiles der Bürger, die in der Fortsetzung des Krieges die Sicherung unmittelbarer persönlicher und materieller Vorteile sahen. Als Andokides die Frage ’Bestandsicherung oder Wiedergewinnung des athenischen Territoriums‘ als Kriegsgrund untersucht, ist seine Argumentation ähnlich. Zunächst weist er darauf hin, dass die als Folge der Niederlage im Peloponnesischen Krieg verlorenen und im Jahr 392 von Konon zurückgewonnenen Kleruchien von Lemnos, Skyros und Imbros jetzt durch Vertrag den Athenern garantiert würden.110 Doch in Bezug auf den Plan der Rückeroberung der – in wirtschaftlicher Hinsicht sehr bedeutenden – thrakischen Chersones, die seit 405 zeitweise unter spartanischer Herrschaft stand111 und den Athenern im Friedensvertragsentwurf von 392/1 nicht gewährt wurde, findet Andokides seine Argumente in der Realpolitik: Für die Rückgewinnung der Chersones standen Athen keine Bündnispartner zur Verfügung, vielmehr wären weder der Perserkönig noch die Bundesgenossen der Korinthischen Allianz bereit, für die athenischen Außenbesitzungen zu kämpfen oder einen solchen Krieg zu dulden; von daher wäre der Krieg aussichtslos und nicht zu empfehlen.112 Besonders in Bezug auf die Stellung des Perserkönigs soll das Argument wirksam gewesen sein, da in dieser Zeit sowohl die Friedensbefürworter als auch die Friedensgegner an einer Zusammenarbeit Athens mit dem Perserreich interessiert waren und keineswegs einen Konflikt mit dem Großkönig provozieren wollten.113 108 109 110 111

Dies geht aus §§ 15; 37f. deutlich hervor. Vgl. dazu Strauss, Athens 141. Vgl. And. 3, 36f.; dazu Schmitz, Prosperität 235. Vgl. And. 3, 12. 14. Zur Zeit der Friedensverhandlungen waren die Meerengen des Hellespont unter spartanischer Kontrolle, was – gegen Andokides’ Auffassung – eine Stütze der spartanischen Seeherrschaft war. Vgl. Xen. hell. 4, 8, 5f.; Urban, Königsfrieden 73f. 112 Vgl. And. 3, 15. 113 Vgl. Urban, Königsfrieden 71f. Der Konflikt mit dem Perserkönig hätte eher mit dem Antagonismus zwischen Athen und dem Perserreich um die Seeherrschaft in der Ägäis zu tun. Die These R. Seagers (CAH VI, 108), dass sich Andokides hierbei 52

Einen Krieg aufgrund eines territorialen Verlustes zu führen scheint also bei Andokides nicht immer selbstverständlich zu sein; man sollte die Tatsache berücksichtigen, dass es hier nicht um typisches attisches Territorium geht. Doch gehörten einige Kleruchien, wie die der Inseln Skyros, Lemnos und Imbros zu den ältesten athenischen Außenbesitzungen, sodass der Anspruch Athens darauf in der Regel nicht bezweifelt wurde.114 Den Besitz von Lemnos und Imbros musste Athen unter allen Umständen sichern, da dieser zur Beherrschung der Seestraße zum Hellespont unabdingbar war. Allerdings war auch die Chersones zur Beherrschung der Meerenge am Eingang des Marmarameers sehr wichtig, denn davon hing in erster Linie die Getreidezufuhr vom Schwarzmeergebiet nach Athen ab.115 Andokides setzt sich trotzdem für die Preisgabe der Chersones und anderer Außenbesitzungen ein, wobei er den Verzicht nicht nur auf öffentliches, sondern auch auf privates außerattisches Land, das attische Bürger für ihren legitimen Besitz hielten, meint.116 Ein Teil der athenischen Bürger, insbesondere die sozialökonomisch niedrigeren Schichten, also verarmte Männer, die um den endgültigen Verlust ihres Besitzes im Ausland fürchteten, forderte aus eigennützigen, wirtschaftlichen Interessen zweifelsohne die Beibehaltung der Herrschaft Athens über bestimmte Gebiete auf der thrakischen Chersones bzw. die Sicherung der Kleruchien.117 Die wichtige Frage der

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indirekt auf die Befreiung der Hellenen Kleinasiens durch die Athener bezieht, ist nicht haltbar. Der Rhetor spricht lediglich über die athenische Machtposition. Eine sonstige Zielsetzung der attischen Außenpolitik hätte er durch konkretere Hinweise und Argumente widerlegt, da sie einen wichtigen Teil der Argumentation der Friedensgegner gebildet hätten; vgl. dazu Kap. II. 4.2 (hier S. 61–62). Da speziell die drei Inseln größtenteils schon seit dem Ende des 6. Jh. von Athenern besiedelt waren, sind die Spartaner im Jahr 405 bereit gewesen, sie den Athenern durch einen Friedensvertrag zu überlassen (vgl. Aischin. 2,76); die athenischen Kleruchen waren im Jahr 404 nicht ausgesiedelt worden (vgl. Schmitz, Prosperität 244f.). Diese Kleruchien waren demzufolge ein anderer Fall, als andere attische Siedlungen, die ein Ergebnis der Expansionspolitik Athens besonders während der Zeit seiner Vorherrschaft im 5. Jh. waren; letzte wurden zum Teil als Ausdruck des attischen Machtmissbrauchs betrachtet, woraus es sich erklärt, weshalb die Athener bei der Gründung des Zweiten Attischen Seebundes auf die Anlegung von Kleruchien im Gebiet der Bundesstädte formell verzichteten (vgl. Busolt/Swoboda, Staatskunde II, 1272f.). Vgl. Bredow, DNP 2 (1997) s. v. Chersonesos [1] 1116f.; Welwei, Athen 268. Es wird zwischen ἀποικίαι und ἐγκτήματα unterschieden. Darüber hinaus spricht Andokides von Verzicht auf χρέα, also auswärtige Besitzansprüche an Geld. Vgl. And. 3, 15; dazu Zelnick-Abramovitz, Mnemosyne 57 (2004) 325–345, bes. 328. Vgl. Hell. Oxyrh. 9, 2f. (Chambers); Missiou, Andokides 83f.; Funke, Homónoia und Arché 147 Anm. 54. Treffend bemerkt B.S. Strauss (Athens 141) über die Bereitschaft der niedrigen Schichten zur Fortsetzung des Krieges: „ (…) some selfish motives also seem to have been at work. Andocides accuses his opponents of wanting to fight to regain the empire: on the evidence an justifiable charge. While empire would bring long-term benefits, some penetes may have had their 53

Ernährung der attischen Bevölkerung hing eng damit zusammen. Das Argument der Friedensgegner, die Mauer sorge nicht für τροφή,118 sollte als Bezug auf die Kontrolle über die Chersones verstanden werden. Gerade deswegen scheint die unpopuläre Argumentation des Andokides sehr mutig zu sein, da er nicht genau erklärt, wie Stadtmauer und Flotte – ohne die Kontrolle der Seewege zum Schwarzen Meer – die Prosperität Athens gewährleisten würden.119

3.3.3 Die Erfolgsaussichten des Krieges Schließlich gelangt der Rhetor zu einer bemerkenswerten Schlussfolgerung, die abgesehen von ihrem historischen Rahmen nahezu als Friedensmanifest gelten könnte: εἰ τοίνυν περὶ τούτου μὲν ἔδει πολεμεῖν, χρήματα δὲ ὑπῆρχεν ἡμῖν ἱκανά, τοῖς δὲ σώμασιν ἦμεν δυνατοί, οὐδὲ οὕτως ἔδει πολεμεῖν. Εἰ δὲ μήτε δι' ὅ τι μήτε ὅτοισι μήτε ἀφ' ὅτου πολεμήσωμεν ἔστι, πῶς οὐκ ἐκ παντὸς τρόπου τὴν εἰρήνην ποιητέον ἡμῖν.120

Der Redner begründet die Ansicht, dass die Athener keinen Krieg führen sollten, selbst wenn sie über ausreichend finanzielle Mittel und militärische Überlegenheit verfügten, durch eine Auflistung von vergangenen Kriegen mächtiger Poleis’ und deren verhängnisvollen Folgen im Vergleich zu ihrem vorherigen Friedenszustand.121 Dadurch schaltet Andokides ein in der Rhetorik häufig benutztes und wahrscheinlich auch von seinen Gegnern verwendetes Argument aus, wonach ein Krieg geführt werden solle, wenn dessen Erfolgsaussichten zugunsten der eigenen Polis gesichert seien.122 Realpolitisch hatten die Friedensgegner durchaus gute Gründe, sich von der pessimistischen Einschätzung der militärischen Lage durch Andokides zu distanzieren und auf eine siegreiche Fortsetzung des Krieges zu hoffen.123

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immediate needs in mind: the booty which Thrasybulos placed so much emphasis upon in his campaign of 390, or even the salary of an oarsman (And. 3, 25, Xen. hell. 4, 8, 28). While Conon’s largesses and the gradual recovery of agriculture probably eased the plight of Athens’ poor, their problems had not disappeared.“ And. 3, 36: τὰ γὰρ ἴδια τὰ σφέτερ’ αὐτῶν ἐκ τῆς ὑπερορίας οὐκ ἀπολαμβάνειν, ἀπὸ δὲ τῶν τειχῶν οὐκ εἶναι σφίσι τροφήν. Vgl. Missiou, Andokides 76ff. 82f. 85f. And. 3, 16. Vgl. And. 3, 17–20. Es handelt sich um das Argument des ῥᾴδιον und δυνατόν. Vgl. Anaximen. rhet. Alex. 1421b 23–27; 1422a 16ff. Welwei, Athen 270: „(…) (die Friedensgegner) stellten realpolitische Überlegungen zur Diskussion, denn sie wiesen auch darauf hin, daß Pharnabazos und der Großkönig entgegen den Hoffnungen des Tiribazos weiterhin gegen Sparta kämpfte, Korinth schon im Blick auf die aus athenischer Sicht unabdingbare Sicherung Attikas gegen spartanische Invasionen nicht sich selbst überlassen werden dürfe und der Boiotische Bund auch dann den Krieg gegen Sparta fortsetzen werde, wenn die Friedensverhandlungen scheitern sollten.“

Da die Friedensrede in einer Zeit verfasst wurde, in der den Athenern die Folgen ihres Machtmissbrauches während des Delisch-Attischen Seebundes bewusst wurden, ist es wahrscheinlich, dass die in § 16 angeführte Äußerung für sie ohne weitere Begründung verständlich war. Andokides vermeidet es aber, an dieser Stelle direkt an die imperialistische Vergangenheit Athens zu erinnern und dadurch mit einer für sein Ziel nutzlosen Selbstkritik die Diskussion vom eigentlichen Thema abzulenken. Er zieht es stattdessen vor, über die Verluste der Lakedaimonier und der Boiotier während des Korinthischen Krieges zu sprechen. Er verwirft nicht allgemein den Krieg aus pazifistischer Überzeugung, sondern wegen dessen politischen und sozialen Folgen in bestimmten Fällen; die machtpolitische Lage seiner Polis steht für ihn ohnehin im Vordergrund.124

3.4 Der allgemeine Friede Hier sollte der Aspekt berücksichtigt werden, dass Andokides einen gemeinsamen Frieden und eine gemeinsame Freiheit für alle Griechen als eigentliches Ziel festsetzt: Σκέψασθε δ', ὦ ᾿Αθηναῖοι, καὶ τόδε, ὅτι νυνὶ πᾶσι τοῖς ῞Ελλησι κοινὴν εἰρήνην καὶ ἐλευθερίαν πράττετε, καὶ μετέχειν ἅπασι πάντων ἐξουσίαν ποιεῖτε.125

An dieser Stelle ist der Begriff κοινὴ εἰρήνη zum ersten Mal literarisch belegt, obgleich er noch nicht als terminus technicus verwendet wird. Erst später – 362/1 oder 338/7 – wird der Ausdruck zum offiziellen Terminus für gemeinhellenische Friedensabmachungen.126 Als wesentliche Bestandteile der κοινὴ εἰρήνη, so wie sie sich im Vergleich mit konventionellen Friedenschlüssen herauskristallisierten, sind vier Punkte zu nennen: 1. die Autonomie der griechischen Staaten sind Kernpunkt der Verträge, 2. die Öffnung des Teilnehmerkreises gilt für alle Griechen, 3. die Akzeptanz des Friedens durch die Mehrheit der bedeutendsten griechischen 124 Die sozialen Folgen interessieren Andokides auch in einem überlieferten Fragment, in dem er im Hinblick auf den Peloponnesischen Krieg die zu vermeidenden Konsequenzen des Krieges auf die Bevölkerung hervorhebt. Vgl. And. Frg. 4 = Suda s. v. σκάνδιξ; dazu Missiou, Andokides 22f. 125 And. 3, 17. Auch And. 3, 34: εἰρήνης δὲ πέρι πρεσβεύοντας κοινῆς τοῖς ῞Ελλησιν […]. 126 Vgl. Hampl, Staatsverträge 10; vgl. dazu eine in Argos gefundene Inschrift von 362, wo die Antwort der Griechen an die persischen Satrapen abschriftlich erhalten und der Begriff zum ersten Mal inschriftlich belegt ist: StV II² 292 (= Syll. I³ 182; Tod II 145) Z. 5: [κ]οινὴν εἰρήνην. Diodor bezeichnet die Friedensschlüsse von 386, 375, 371 in Sparta, 366/5, 362, 346, 338/7 und 311 jeweils als κοινὴ εἰρήνη. Aber Xenophon erwähnt den Begriff in seinen Hellenika nicht, was darauf hindeutet, dass dieser als feststehender Ausdruck vor 362 noch nicht existiert hat. Jedenfalls verwendet der attische Redner Aischines den Terminus als technische Bezeichnung im Jahr 330 bezogen auf den Frieden von 337 (vgl. Aischin. 3, 254; Jehne, Koine Eirene 26f.) 55

Poleis muss gewährleistet sein und 4. die zeitliche Unbegrenztheit des Friedens muss festgelegt werden.127 Auch bei dem Friedensentwurf von 392/1 ist die Autonomie der griechischen Poleis zumindest ansatzweise ein Zentralpunkt. Der Teilnehmerkreis beschränkt sich aber nur auf die kriegführenden Parteien. Andokides spricht über eine κοινὴ εἰρήνη πᾶσι τοῖς ῞Ελλησι, weil die wichtigsten griechischen Poleis zunächst am Krieg teilnahmen und nun den Friedensvertrag mitgestalten sollten. Daraus ist zu schließen, dass ein alle Kriegsparteien betreffender, allgemeiner Friede in Griechenland hergestellt werden sollte. Von einer Öffnung des Teilnehmerkreises für andere Poleis oder von der Beteiligung nicht involvierter griechischer Staaten ist aber nicht die Rede. Andererseits ist es eindrucksvoll, dass Andokides die κοινὴ εἰρήνη explizit mit der ἐλευθερία verbindet, und das in einer Zeit, in der die Auffassung, dass nur der Krieg die Freiheit bringe, vorherrschend war.128 Es ist allerdings zu bemerken, dass ein echter Friede im Jahr 392/1 nur dann zustande kommen würde, wenn alle am Korinthischen Krieg beteiligten Parteien damit einverstanden wären. Im Fall, wo nur Athen und der Boiotische Bund einen Friedensvertrag mit Sparta unterzeichnet hätten, wäre eine baldige Teilnahme Athens am weitergehenden Krieg durchaus möglich. Andokides spricht daher von einer κοινὴ εἰρήνη und unterstreicht somit die Bedeutung des abzuschließenden Friedens. Die Beteiligung aller Kriegsparteien, die die wichtigsten Poleis des hellenischen Mutterlandes waren, ist für ihn nicht nur Garant für die Freiheit, sondern auch die unabdingbare Voraussetzung für einen echten oder beständigen Frieden in Hellas. Somit sichert die κοινὴ εἰρήνη den vom Rhetor erwünschten Friedenszustand, währenddessen Athen die Gelegenheit zum Wiederaufstieg hätte. Es ist festzuhalten, dass Andokides alle Argumente für den Krieg – sei es die Beseitigung von erlittenem Unrecht, die Freiheit, die Hilfeleistung, das Recht auf Verteidigungsmaßnahmen oder den Gewinn von verlorenem Territorium – zwar theoretisch als Kriegsgründe akzeptiert, aber de facto durch einen Friedensvertrag beseitigen will. Neu in Bezug auf seine Argumentation ist die Auffassung, dass ein gerechter Friede nutzvoller sei als ein siegreicher Krieg. Die sich aus einem solchen Frieden ergebenden wirtschaftlichen Vorteile erscheinen ihm im Vergleich mit einer durch Kriege errungenen Hegemonialstellung der Polis als wichtiger. Hier werden noch einmal der enge Zusammenhang und die Wechselbeziehung zwischen Politik und Ethik deutlich. Andokides distanziert sich nämlich von der im nachperikleischen Athen verbreiteten sophistischen These, der zufolge das Recht des Stärkeren als Begründung für die machtpolitische Durchsetzungskraft einer Polis gilt.129 In der Argumentation des Rhetors wird der Übergang Athens von der allmächtigen Hegemonialmacht zu einer gleichrangigen Polis reflektiert, die nun offen

127 Vgl. Ryder, Koine Eirene XVI; Jehne, Koine Eirene 28 mit Anm. 104. 128 Vgl. Dieckhoff, Zwei Friedensreden, in: Anastassiou/Irmer, Kleinere Attische Redner 379–391, bes. 384. 129 Vgl. Nestle, Mythos 335–342; vgl. auch dazu Thuk. 3, 82, 4ff. 56

für bescheideneres politisches Denken sein sollte. Von einem endgültigen Verzicht auf das Streben nach Wiedererlangen der ἀρχή kann allerdings nicht die Rede sein.

4. Die Gründe für die friedliebende Haltung des Andokides Die ausführliche Darstellung der Nachteile des Krieges im Vergleich zu den Vorteilen des Friedens spricht für die Annahme, dass Andokides im Allgemeinen eine friedliebende Haltung vertritt. Bevor der Rhetor allerdings zum typischen Pazifisten im modernen Sinne des Wortes erhoben wird, sollten einige weiterführende Aspekte berücksichtigt werden. Zum einen soll sein Verhalten anlässlich der Klage gegen die Gesandtschaft nach Sparta und zum anderen die politischen und persönlichen Intentionen seiner Rede näher beleuchtet werden.

4.1 Die παραπρεσβείας γραφή im politischen Kontext Auf der einen Seite wurde Andokides trotz seiner abenteuerlichen Vergangenheit in Athen in die Gesandtschaft nach Sparta aufgenommen. Dies hat er durch seine eigene politische Tätigkeit in Athen nach 400, aber wohl auch als Enkel seines gleichnamigen Großvaters, der 445 am Abschluss des dreißigjährigen Friedens mit Sparta beteiligt war, erreichen können.130 Auf der anderen Seite ist uns von Demosthenes ein Teil des Psephisma131 bewahrt, das die Begründung des Rechtsspruches enthält, demnach Andokides, Epikrates und ihre Mitgesandten zum Tode verurteilt wurden. Ihnen wurde vorgeworfen, sie hätten gegen die schriftlichen Anweisungen gehandelt, vor dem Rat nicht die Wahrheit gesprochen, falschen Bericht erstattet sowie die athenischen Bundesgenossen verleumdet; ferner wurden sie wegen Bestechlichkeit beschuldigt.132 Es handelt sich hier vom Ergebnis ausgehend um eine typische παραπρεσβείας γραφή.133 Wenn die Gesandten tatsächlich bestochen wurden und absichtlich vor dem Rat zugunsten spartanischer Interessen gelogen hätten,134 dann diente die ganze Rede des Andokides dazu, seine schweren Verstöße gegen das attische Recht vor 130 Vgl. Mosley, Envoys and Diplomacy in Ancient Greece 58. 131 Es handelt sich um ein Dekret, das die durch Abstimmung mit ‚Stimmsteinen‘ getroffene Entscheidung der Versammlung betraf. Vgl. Rhodes, DNP 10 (2001) s. v. Psephisma 509. 132 Demosth. 19, 278: ‚ἐπειδὴ παρὰ τὰ γράμματα […] ἐπρέσβευσαν ἐκεῖνοι.‘ […]; 279: ‚καὶ ἠλέγχθησάν τινες αὐτῶν ἐν τῇ βουλῇ οὐ τἀληθῆ ἀπαγγέλλοντες.‘ […] ‚οὐδ‘ ἐπιστέλλοντες‘ […] ‚τἀληθῆ.‘[…] ‚καὶ καταψευδόμενοι τῶν συμμάχων καὶ δῶρα λαμβάνοντες.‘ Vgl. dazu Lipsius, Das attische Recht I, 188f. mit Anm. 37. 133 Vgl. Berneker, RE XVIII, 4 (1949) s. v. παραπρεσβείας γραφή 1374f. 134 Diese These vertritt C. Bearzot und erklärt dadurch die pazifistische Argumentation des Andokides, ohne allerdings die innenpolitischen Hintergründe in Athen gründlich zu analysieren. Vgl. Bearzot, CISA 11 (1985) 86–107, bes. 90. 93f. 57

der Volksversammlung zu verschleiern.135 Sie wäre somit auf die Ebene einer sophistischen Darstellung von Thesen und Argumenten gerückt. Von daher wäre die Untersuchung seines rhetorischen Vorgehens gegen den Krieg und für den Frieden nur unter dem Aspekt der Wertung seiner rhetorischen Kompetenz sinnvoll. Deshalb macht es hier Sinn, zunächst die Stichhaltigkeit der angeblichen Verstöße der Gesandtschaft zu untersuchen. Obwohl im ersten Jahrzehnt des 4. Jh. keine stabilen Parteiungen mit bestimmten politischen Programmen in Athen agierten, wurden einzelne Redner häufig von kleineren Gruppen ähnlich argumentierender Mitbürger unterstützt.136 Es formten sich demnach Gruppierungen um führende Politiker, die zumindest für einen Zeitraum gemeinsame Ziele verfolgten und deren ‚Mitglieder‘ unausweichlich persönliche Beziehungen zueinander pflegten, die mitunter länger als die Verfolgung der gesetzten Ziele dauern konnten. Während des Korinthischen Krieges waren drei wichtige politische Gruppen – alle drei demokratischer Richtung – in Athen tätig. Die erste stand unter der Führung von Thrasybulos von Steiria,137 die zweite unter Kephalos von Kollytos und Epikrates aus Kephisia und die dritte unter Agyrrhios von Kollytos.138 Obwohl das primäre Ziel jeder dieser Gruppe war, die Voraussetzungen zu erlangen, die attische Herrschaft wiederherzustellen,139 gab es einige Unterschiede in Bezug auf die politische Ausrichtung, die zum jeweiligen Zeitpunkt variierten: Im Winter 396/5 war die Kephalos Gruppe bemüht, Athen in einen Krieg mit Sparta zu verwickeln, während die Thrasybulos-Gruppe eher zu einer Annäherung an Sparta tendierte. Aber im Jahr 392/1 schwenkte die Kephalos-Gruppe zur Unterstützung eines Friedens mit Sparta um, während die Agyrrhios-Gruppe stark auf der Fortsetzung des Krieges beharrte.140

135 Der Prozess hat vermutlich vor der Volksversammlung stattgefunden. Vgl. Hochschulz, Kallistratos 33 mit Anm. 108. 136 Vgl. Welwei, Athen 270. 137 Der Verfasser der Hellenika Oxyrhynchia nennt auch Aisimos und Anytos als Anführer dieser Gruppe. Vgl. Hell. Oxyrh. 9, 2 (Chambers). 138 Trotz der unzulänglichen Quellenlage kann angenommen werden, dass die genannten Politiker viele Anhänger und großen Einfluss auch während des Korinthischen Krieges in Athen hatten. Es wird hier die überzeugende Darstellung von R. Sealey übernommen (vgl. Sealey, Historia 5 [1956] 178–203, bes. 179–185; zustimmend dazu Perlman, CPh 63 [1968] 257–267). Dagegen argumentieren P. Funke und B. Hochschulz, die allerdings die Rolle des seit Anfang des 4. Jh. bestehenden Verhältnisses zwischen den führenden Politikern in Bezug auf die Gestaltung der Innen- und Außenpolitik unterschätzen (vgl. Funke, Homónoia und Arché 108–118 mit 115 Anm. 38; 146 Anm. 51; Hochschulz, Kallistratos 40f.). 139 Dass man in Athen zu dieser Zeit allgemein danach strebte, durch antispartanische Politik an die verlorene ἀρχή anzuknüpfen, wird auch von P. Funke (Homónoia und Arché 114. 118. 144) – trotz seiner Ablehnung des Drei-Gruppen-Schemas – unterstützt. 140 Vgl. Hell. Oxyrh. 9, 2f. (Chambers); Sealey, Historia 5 (1956) 178–203, bes. 179–185. 58

Interessant ist die Haltung von Andokides gegenüber diesen Gruppen. Als der Rhetor nach der Amnestie von 403 nach Athen zurückkehrte, entfaltete er ein aktives gesellschaftliches und politisches Leben. Wegen eines Disputs mit Kallias als Mitbewerber um die Gunst der Tochter des Epilykos141 und mit dem Politiker Agyrrhios wegen geschäftlicher Differenzen142 hatte er sich schon in den ersten drei Jahren nach seiner Rückkehr aus dem Exil zwei bedeutende Feinde geschaffen. Davon ausgehend ist sein Prozess im Jahr 400 wegen Religionsfrevels vorwiegend in einen politischen Zusammenhang zu stellen. Dies wird durch den Redner selbst bestätigt, indem er angibt, dass er in der Tat gerade wegen dieser zwei Dispute angeklagt wurde.143 Unterstützt wurde der Rhetor im Prozess von 400 von Anytos, einem Mitglied der Thrasybulos-Gruppe, deren Anhänger er damals anscheinend war, und zudem von Kephalos.144 Bemerkenswert ist die Feststellung von R. Sealey (1967), der zufolge die Thrasybulos- und die Kephalos-Gruppe seit dem Jahr 400 mit dem Ziel, die Agyrrhios-Gruppe ins Abseits zu drängen, zusammengearbeitet hätten. Tatsächlich hatte die Agyrrhios-Gruppe 395 viel an Einfluss verloren, obgleich die Rivalität zwischen Thrasybulos und Agyrrhios mindestens bis zum Jahre 388 weiterging.145 Zur Zeit der Gesandtschaft an Sparta (392/1) tritt nicht nur die Agyrrhios- sondern auch die Thrasybulos-Gruppe für die Weiterführung des Krieges ein.146 Andokides 141 Bezogen auf den Bericht des Andokides (vgl. And. 1, 117–123) fasst Swoboda (RE X 2 [1919] s. v. Kallias [3] 1618–1622, bes. 1620) den Disput mit Kallias, Sohn des Hipponikos, und den Zusammenhang mit der Anklage des Kephisios gegen Andokides wegen unbefugter Teilnahme an den eleusinischen Mysterien zusammen. 142 Andokides hatte Agyrrhios bei der Verpachtung des Zolls in Peiraieus überboten. Vgl. And. 1, 132–136; Zu den Hafenzöllen vgl. Andreades, Staatswirtschaft I, 315–325. 143 Vgl. And. 1, 117–123. 133ff.; Sealey, Historia 5 (1956) 178–203, bes. 182. Wegen seines Rufes nach dem Hermokopidenfall als Informant, Oligarch und Religionsfrevler hatte Andokides ohnehin genug Feinde in Athen, insbesondere in der Zeit unmittelbar nach der Herrschaft der Dreißig Tyrannen (trotz der Amnestie). Eine religiöse, aber auch politische Ursache soll auch 399 dem Sokrates-Prozess zu Grunde gelegen haben. Laut R. Sealey (Historia 5 [1956] 178–203, bes. 181) war Meletos, einer der Ankläger gegen Andokides, dieselbe Person wie Meletos, einer der Ankläger gegen Sokrates. Diese Identität wurde jedoch von U. Kahrstedt (RE XV [1931] s. v. Meletos 503) strikt abgelehnt. 144 Vgl. And. 1, 115. 150. Laut K. J. Beloch (Perikles 117) hat Kephalos nur aus der Sicht des überzeugten Demokraten, dem die Beachtung des Amnestievertrags sehr ernst war, den oligarchischen Andokides verteidigt, die Persönlichkeit des Angeklagten war ihm dazu kaum sympathisch. 145 Vgl. Sealey, Historia 5 (1956) 178–203, bes. 182. 184. 146 Als Haltung der Thrasybulos-Gruppe gegen den Frieden können die Verse 193–203 und 356 in Aristophanes’ Ekklesiazusen gedeutet werden. Diese sollen im Jahr 392/1 aufgeführt worden sein. Vgl. dazu Seager, JHS 87 (1967) 95–115, bes. 107f. mit Anm. 110. Zur Ablehnung des Jahres 391/0 als Aufführungsdatum sowie zur 59

war zu dieser Zeit offenbar kein Anhänger von Thrasybulos, wenn er es überhaupt je gewesen war.147 Aber die Entscheidung der Ekklesia für die Gesandtschaft hat die zu diesem Zeitpunkt für den Frieden eintretende Kephalos-Gruppe geprägt.148 So befinden sich Epikrates als Leiter der Gesandtschaft und Andokides, Eubulides und Kratinos als Mitgesandte auf der Seite der Kephalos-Gruppe. Die Rivalitäten zwischen der Kephalos- und der Agyrrhios-Gruppe entwickelten sich jetzt zur Feindschaft. Dies kam durch die Anklage gegen die Gesandtschaft zum Ausdruck, denn der Ankläger war Kallistratos von Aphidnai, ein damals noch junger Politiker, der auf die Unterstützung seines berühmten Onkels Agyrrhios bauen konnte und sich selbst durch den Prozess zu profilieren suchte.149 Von daher ist wohl zu vermuten, dass die παραπρεσβείας γραφή ein politisches Manöver der Agyrrhios-Gruppe war und demzufolge als Teil der komplexen politischen Auseinandersetzungen im Athen dieser Zeit zu verstehen ist. Das Ergebnis des Prozesses hatte also mehr mit dem wieder gewonnenen Einfluss der Agyrrhios-Gruppe als mit dem tatsächlichen Grund für die Klage zu tun.150 Die Untersuchung der Anklagepunkte führte zum Ergebnis, dass kein strafrechtliches Verschulden der Angeklagten vorlag. Die Tatsache, dass die Gesandten trotz ihrer Ermächtigung nicht sofort in Sparta den Frieden abschlossen, kann nicht als Verstoß gegen die schriftlichen Anweisungen der Ekklesia betrachtet werden; im Gegensatz hatten sie eher Rücksicht auf die vorgegebenen Leitlinien genommen und ein vorsichtiges politisches Vorgehen für richtig erachtet. Ferner existiert kein Anhaltspunkt, der den Vorwurf der Bestechlichkeit unterstützt hätte;151 hierbei soll es eine Rolle gespielt haben, dass Kephalos und einer der Mitgesandten des Andokides, nämlich Epikrates, schon früher – unbegründet – beschuldigt wurden, vom Perserkönig bestochen worden zu sein, und deswegen Stellung für den Korinthischen Krieg bezogen hätten.152 Abgesehen von den Anklagepunkten soll allerdings außer Zweifel stehen, dass das außenpolitische Ziel des Kallistratos und der Agyrrhios-Gruppe die Fortsetzung des Krieges war.153 Dieses wurde aber bereits vor der Anklage erreicht, da sich die athenische Volksversammlung nach der Berichterstattung der Gesandtschaft gegen den Frieden entschied.

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in der Forschung umstrittenen Datierung der Aufführung vgl. Funke, Homónoia und Arché 168–171. Vgl. Buck, Thrasybulus 111. 113. Vgl. Perlman, CPh 63 (1968) 257–267, bes. 264 und Anm. 52. Vgl. Strauss, Athens 142; Hochschulz, Kallistratos 39. Zur Verwandtschaft zwischen Kallistratos und Agyrrhios vgl. Davies, Families 277f. Zur politischen Natur der Anklage vgl. Dombrowski, Die politischen Prozesse in Athen 24; Hochschulz, Kallistratos 35. Vgl. Dombrowski, Die politischen Prozesse in Athen 24; Kulesza, Die Bestechung im politischen Leben Athens im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. 26; Hochschulz, Kallistratos 35. Vgl. Paus. 3, 9, 8; dagegen schon Xenophon (hell. 3, 5, 1); Beloch, Perikles 116. Vgl. Hochschulz, Kallistratos 39. 41f.

Infolgedessen ist die Friedensrede des Andokides nicht als Versuch zu werten, seinen angeblichen Amtsmissbrauch zu verschleiern, sondern sollte vorwiegend als eine politische Rede betrachtet werden, die die Ansichten des Rhetors und wahrscheinlich der Kephalos-Gruppe über das außenpolitische Vorgehen Athens wiedergibt. Sie wendet sich allerdings gegen die einflussreiche Agyrrhios-Gruppe, die die Förderung der Interessen Athens in der Fortsetzung des Krieges sah. Wegen der Gefahr einer Anklage, der sich Andokides schon früher bewusst gewesen sein muss, enthält die Rede bereits Elemente der persönlichen Verteidigung seiner Entscheidungen.154

4.2 Die politischen und persönlichen Intentionen des Andokides Als Mitglied einer Gesandtschaft, die den Bedingungen des Friedenschlusses zugestimmt hatte, ist die Verteidigung des eigenen diplomatischen Vorgehens für Andokides notwendig. Der Verlauf des Korinthischen Kriegs bis 392 deutete darauf hin, dass Athen nicht mehr als das Vorgeschlagene erhalten würde. Die Vermutung, dass Andokides die Situation nüchtern erkannte und andere Mittel zum Ausbau der Machtposition seiner Polis suchte, wirkt überzeugender als die These von einer naiven idealistischen Friedensvorstellung des Rhetors. Andokides nimmt in der Friedensrede zwar Stellung gegen den Krieg, wobei der Friede nicht als universales Ideal zu verstehen ist, er versucht sich aber zugleich als athenischer Patriot darzustellen. Unter diesem Aspekt sollte er auch in der Forschung beurteilt werden. Bereits ca. acht Jahre zuvor hat der Rhetor in seiner Demegorie Über seine Rückkehr und unter völlig unterschiedlichen Bedingungen versucht, seine Heimattreue zu belegen. Im Rahmen seiner Bestrebungen, das Volk zur Aufhebung der über ihn wegen Religionsfrevels verhängten Atimie zu bewegen, erinnert er an seine Verdienste für die Polis. Demnach habe er während seines ersten Exils der athenischen Flotte bei Samos Ruderstangen, Getreide und Erz zum Einkaufspreis überlassen und damit wesentlich zum Sieg in der Seeschlacht gegen Sparta, die wahrscheinlich bei Kyzikos im Jahr 410 ausgetragen wurde,155 beigetragen. Durch diese Schlacht hätten laut Andokides die Athener nicht nur ihre Stadt gerettet, sondern nachher die großen Vorteile (μεγάλα ἀγαθά) des Sieges genießen können.156 Diese Aussage bedeutet keinesfalls, dass er den Krieg positiv bewertet; er will einzig auf seine eigene, die Polis unterstützende Rolle anspielen. Athen befand sich, mit kurzen Unterbrechungen, seit mehr als zwei Jahrzehnten im Krieg gegen die Lakedaimonier und die erwähnte Seeschlacht war nur eine, wenn auch wichtige, Episode des Peloponnesischen 154 Andokides weist auf die Meinung einiger Athener hin, dass die Gesandtschaft aus Furcht (δέος) auf einen sofortigen Abschluss des Friedens in Sparta verzichtet habe (vgl. And. 3, 33). 155 Vgl. Missiou, Andokides 27; Edwards, Andocides 89. 191, Komm. zu And.1, 12. 156 Vgl. And. 2, 11f. Der Sieg bei Kyzikos hat tatsächlich die politische Situation von Grund auf verändert (vgl. Bengtson, GG 248; Welwei, Athen 228). 61

Krieges. In seiner Demegorie findet sich aber keine Spur von Kritik an diesem Krieg, stattdessen weist der Rhetor lediglich auf sein eigenes, patriotisches Vorgehen hin, indem er die Vorteile eines siegreichen Krieges hervorhebt. Wie in der Friedensrede rechtfertigt er seine persönlichen Entscheidungen bzw. Handlungen, und obschon seine Selbstverteidigung von unterschiedlichen Ausgangspositionen ausgeht, was seine teilweise widersprüchlichen Hinweise belegen, ist die Betonung seines Nutzens für Athen das Bindeglied. Betrachtet man seine Argumentation in der Friedensrede, so ist nicht auszuschließen, dass die bittere Niederlage von 404 bei Andokides zu einem Umdenken in Bezug auf Krieg und Frieden geführt hat. Zweifellos hat aber Andokides die Fortführung einer Politik im Auge, die den weiteren Ausbau der Vorherrschaft Athens verfolgte. Seine Hauptargumente weisen darauf hin, dass die Basis der imperialen Vorherrschaft der Polis, nämlich die langen Mauern, die Flotte und die nach 404 wieder errungenen Kleruchien unter athenischer Kontrolle bleiben mussten, und zwar als Ergebnis des Friedensvertrags.157 Somit verbindet er meisterhaft die neu zu erlangende Herrschaft Athens, also die ἀρχή, mit der εἰρήνη.158 In der Rede finden sich weder zielgerichtete Vorwürfe gegen das athenische Machtstreben noch für dessen Rechtfertigung,159 so wie diese im Panegyrikos des Isokrates greifbar ist. Andokides strebt eher nach einer realistischen Wiederherstellung der führenden Position Athens in Hellas.160 Es ist resümierend festzuhalten, dass Andokides zwar prinzipiell die gleichen machtpolitischen Ziele für Athen wie die Mehrheit in der Volksversammlung verfolgte, dass sich sein Weg zum Erreichen dieser Ziele aber wesentlich von dem der meisten Bürger unterschied.161 Seine vorgeschlagene κοινὴ εἰρήνη entsprach in den Augen der Athener nicht den außenpolitischen Ambitionen ihrer Polis, deren Anliegen, wie ja auch das Spartas, keineswegs altruistisch panhellenisch war, sondern auf die eigene Dominanz in Hellas abzielte.162 Seine pazifistische Terminologie verwendet Andokides vor allem um sein politisches Ziel zu erreichen;163 wie jeder Friede war jedoch auch der von Andokides vorgeschlagene mit dem in der Stadt vorherrschenden Imperialismusideal nicht in Einklang zu bringen.164

157 Vgl. And. 3, 23. 36ff. 40. 158 Vgl. Grethlein, The Greeks and Their Past 138. 159 In §§ 37–38 will Andokides eher zeigen, dass im Jahr 392/1 die Voraussetzung zur Herstellung einer mächtigen Polis wieder vorhanden waren, als Kritik an der ἀρχή des 5. Jh. üben. 160 Vgl. Perlman, CPh 63 (1968) 257–267, bes. 258 mit Anm. 6; Funke, Homónoia und Arché 144. S. auch dazu And. 3, 15. 161 Vgl. Funke, Homónoia und Arché 146f. 162 Vgl. Jehne, Koine Eirene 35. 163 Vgl. Missiou, Andokides 170. 164 Vgl. Seager, JHS 87 (1967) 95–115, bes. 107; dazu auch Hunt, War 239. 62

5. Fazit Grundlage der Stellungnahme des Andokides für den Frieden und seine Verteidigung der vom athenischen Demos noch nicht ratifizierten Verhandlungsergebnisse in Sparta ist die – seiner Ansicht nach – realistische und praktisch effektivste Förderung der machtpolitischen Interessen Athens. Da die Ausführungen der Gesandten auf den Widerstand einflussreicher Politiker und diverser Gruppierungen in Athen stießen, bemühte sich Andokides in seiner Friedensrede vorrangig darum, die Argumente der Befürworter einer Kriegsfortsetzung zu widerlegen. Dazu nutzt er in einigen Fällen von der Mehrheitsmeinung abweichende, d. h. unpopuläre Argumente, was wiederum mit seiner aristokratisch-oligarchischen Mentalität übereinstimmt. Er versucht sich als Patriot zu erweisen, verzichtet dabei aber darauf, die Volksmasse durch populistische Parolen auf seine Seite zu ziehen. Die Friedensbedingungen stellt er als gleichberechtigten Interessenausgleich der beteiligten Poleis dar und bezeichnet sie folglich als eine εἰρήνη δικαία, die von einem auferlegten Friedensdiktat (σπονδαὶ ἐξ ἐπιταγμάτων) strikt zu unterscheiden sei. In seinem wichtigsten Argument nimmt er Bezug auf den machtpolitischen Aspekt, da die Friedensbedingungen Athen unter bestimmten Voraussetzungen den Wiederaufstieg zur Großmacht gewährten. Die Furcht der attischen Bürger, durch den Frieden wäre die demokratische Verfassung der Polis aufgrund der übermächtigen Stellung Spartas gefährdet, sucht Andokides durch – weitgehend unpräzise – Hinweise auf vergangene Friedensschlüsse Athens mit Sparta zu beseitigen. Der Rhetor zeigt überzeugend, dass der Friede von 392/1 nicht mit dem von 404 vergleichbar sei. Bezüglich des zu schließenden Friedens versucht er diesen mit wirtschaftlichen und politischen Argumenten durchzusetzen, wobei er weder direkte materielle Vorteile der einzelnen Bürger noch einen schnellen Wiederaufstieg der Polis zur Hegemonialmacht propagiert. Mit einer generellen Schilderung der langfristig zu erreichenden Vorteile des Friedens konnte allerdings der größte Teil der Bürger nur wenig anfangen. Andokides verweist zudem auf eine für ihn typische Form des gerechten Krieges; hierzu zählen der Krieg für die Freiheit, der Verteidigungskrieg und der Krieg als Hilfeleistung gegenüber Unrecht Leidenden oder Schwächeren. Die Freiheit wird als bereits vorhanden und durch den erstrebten allgemeinen Frieden für Athen und ganz Hellas als gesichert dargestellt. Ferner hätten die Athener keinen Verteidigungskrieg zu führen, da ihnen nach den vorteilhaften Friedensbedingungen, die der Rhetor emphatisch beurteilt, kein Unrecht mehr geschehe. Ebenso entfällt die in Athen sehr populäre und in der Rhetorik als Topos etablierte Aufforderung zur Hilfe für Schwächere, denn der wichtigste, Unrecht erleidende Bundesgenosse, nämlich der Boiotische Bund, erkläre sich friedensbereit. Indem der Rhetor aber die Auflösung der bestehenden Symmachie mit Argos und Korinth, die eine Fortsetzung des Krieges anstrebten, fordert, stellt er provokativ den Nutzen Athens über die ‚schlechte Gewohnheit‘ der Polis, Schwächeren zu helfen. Dadurch lehnt er die in Athen seit langem vorherrschende, selbstgefällige Wahrnehmung der eigenen Polis als eine allen anderen moralisch überlegene Großmacht ab, deren Sendung es 63

ist, für schwächere Poleis, denen Unrecht geschieht, einzutreten. Gerade hier zeigt sich der Rhetor als ein Realpolitiker, der das außenpolitische Vorgehen in Hinblick auf die Interessen der Polis zu gestalten sucht, und dies mutig und unverschleiert in der Ekklesia zum Ausdruck bringt. Aber offensichtlich war die attische Volksversammlung nicht daran gewöhnt, Auffassungen wie die des Andokides, und diese gerade provokativ vorgetragen, zu berücksichtigen. Die Fortsetzung des Krieges zur Rückeroberung von verlorenem Territorium, d. h. der attischen Außenbesitzungen, wobei vor allem die thrakische Chersones gemeint ist, hängt mit der Gewährung materieller Vorteile für einzelne Bürger, die die Rückgabe ihrer Kleruchien verlangten, zusammen. Auch die wichtigen wirtschaftlichen Interessen der Polis, die eine Kontrolle über die Meerenge am Hellespont zur Sicherung der Getreidezufuhr vom Schwarzmeergebiet nach Athen verlangten, sind zu berücksichtigen. Gegen diese Forderung wendet sich Andokides mit zwei Argumenten: Erstens erkannten die Spartaner im Vertragsentwurf anders als 404 den Wiederaufbau der Stadtmauer und die Wiederherstellung der Flotte an; darüber hinaus wurde den Athenern die Rückgabe der größtenteils mit attischen Kleruchen besiedelten und für die Sicherung der Seewege zum Hellespont165 wichtigen Inseln Imbros und Lemnos – sowie Skyros – gewährt. Andokides bringt allerdings keine Argumente, die unmittelbar auf die Lösung des Ernährungsproblems der attischen Bevölkerung verweisen. Zweitens setzt er sich für den Verzicht auf die Chersones und die anderen Außenbesitzungen ein, weil ein erfolgreicher Krieg darum nicht zu führen sei. Auch an dieser Stelle wird deutlich, dass die Vorschläge des Andokides ein Ergebnis realpolitischen Denkens sind. Überzeugend wirkt seine Ansicht allerdings nicht; die Befürworter des Krieges hatten nämlich vor allem wegen der athenerfreundlichen Stellung des Perserkönigs im letzten Jahr des Krieges auch ausreichend realpolitische Gründe, um auf eine erfolgreiche Fortsetzung hoffen zu können. Durch die vorläufige Verwendung des Begriffs κοινὴ εἰρήνη erkennt Andokides, dass die Freiheit und der Wiederaufstieg Athens zur Hegemonialmacht auf Dauer von den zwischenstaatlichen Beziehungen und einem beständigen Frieden unter den wichtigsten hellenischen Poleis abhängig sind. Die κοινὴ εἰρήνη des Andokides bezieht sich nur auf die Hellenen, auch wenn die Perser nicht explizit ausgeschlossen werden. Trotzdem spricht er nicht ausdrücklich über eine ὁμόνοια unter den Griechen.166 Zwar erinnert Andokides in seiner Rede Über die Mysterien an die ὁμόνοια alter Zeiten, bezog diese aber nur auf Athen und dessen Aufschwung nach den Perserkriegen;167 dabei forderte er wiederholt ὁμόνοια unter den Athenern

165 Dies erwähnt Andokides allerdings nicht. 166 Dies hatten früher Gorgias und später Lysias und Isokrates getan. Vgl. Gorg. VS II 82B 8a = Plut. mor. 144B-C; Lys. 2, 43; Isokr. 4, 3. 78. 85. 104. 138. 173. 174; 6, 67; 15, 77; 5, 16. 40. 83. 141; 12, 13. 42. 109. 167. 225ff. 258. 167 Vgl. And. 1, 108. 64

der Gegenwart.168 In der Eintracht der Bürger seiner Polis suchte er das Mittel zur Überwindung der innenpolitischen Konflikte, so wie sie vor allem nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges in Athen deutlich wurden.169 Hinter seinem scheinbar pazifistischen Ideal steht die Sorge des Rhetors um den langfristigen Nutzen, den Schutz und die Förderung der Interessen Athens. Sein Einsatz für den allgemeinen Frieden zeichnet somit den einsichtigen Politiker aus, der nicht nur die Lage seiner Polis, sondern das Wohl der hellenischen Welt vor Augen hat, und sich nicht mit aufhetzenden Parolen über kurzfristige Gewinne begnügen will. Die Tatsache, dass Andokides seine Mitbürger trotz des dargelegten Nutzens eines Friedens für Athen, der sich in der allmählichen Wiedergewinnung der ἀρχή in der Friedenszeit beweisen sollte,170 nicht zum Friedensschluss bewegen konnte, ist angesichts der Popularität der Argumentation seiner Gegner nachvollziehbar.171 Ihnen zufolge galt die Fortsetzung des Korinthischen Krieges als das geeignetste, wenn nicht sogar als das einzige Mittel zur Vernichtung der spartanischen Macht und zur Wiederaufrichtung der attischen Hegemonie im ägäischen und kleinasiatischen Raum.172 Die Bedenken, dass die überlegenen Spartaner in die Innenpolitik Athens eingreifen und die attische Außenpolitik kontrollieren würden, konnte Andokides trotz seiner Berichte von älteren Friedensschlüssen Athens mit Sparta nicht ausräumen.173 Ferner war die realpolitische Einschätzung der Friedensgegner hinsichtlich der Erfolgsaussichten bei einer Fortsetzung des Krieges konträr zu der des Andokides. Eine sehr wichtige Rolle spielte dabei, dass sich Persien Athen wieder annäherte, nachdem der Großkönig den Sparta gewogenen Satrapen Tiribazos durch den athenfreundlichen Struthas ersetzt hatte und damit den Anstoß zu einer Änderung der Politik einleitete. Der Hauptgrund, weswegen Athen die Verständigung mit Sparta gesucht hatte, war also obsolet.174 Darüber hinaus nahmen die Friedensgegner an, dass sowohl Korinth als auch der Boiotische Bund sich im Falle einer Fortsetzung des Krieges wohl weiter auf die Seite Athens stellen würden.175

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Vgl. And. 1, 73. 76. 106. 108f. 140. Zum Begriff ὁμόνοια s. hier S. 108 Anm. 74. Vgl. Funke, Homónoia und Arché 144. Es ist nicht zu übersehen, dass unter den Friedensgegnern der populäre Thrasybulos sowie weitere führende Personen wie Agyrrhios und der junge Kallistratos waren (vgl. Buck, Thrasybulus 113). Vgl. Beloch, Perikles 123; Funke, Homónoia und Arché 145–148. Über das imperialistische Motiv und den athenischen Chauvinismus hinaus kann der für viele Athener verdächtige Versuch des Andokides zur Annäherung an Sparta eine Rolle gespielt haben (vgl. Usher, Symbouleutic Oratory, in: Worthington, A Companion to Greek Rhetoric 221f.) Vgl. Strauss, Athens 141; Urban, Königsfrieden 74. 76. Vgl. Xen. hell. 4, 8, 17; Beloch, Perikles 125f.; Urban, Königsfrieden 77; Pownall, Phoenix 49 (1995) 140–149, bes. 148. Vgl. Funke, Homónoia und Arché 144f.; Welwei, Athen 269f. 65

Außerdem ist nicht auszuschließen, dass soziale Spannungen in Athen zur Entscheidung gegen den Frieden beigetragen haben. Während die begüterten Oligarchen eine Verständigung mit Sparta suchten, sah die Mehrheit der Armen und Besitzlosen keine Alternative zum Krieg, da es ihr in erster Linie um ihre materiellen Vorteile ging.176 Interessant ist die auf ein Philochorosfragment zurückgreifende These, der zufolge der Friede wegen der Forderung, die kleinasiatischen Hellenen dem Perserkönig zu überantworten, abgelehnt wurde.177 Doch während Andokides detailliert die einzelnen Argumente der Friedensgegner zu widerlegen sucht, geht er auf die Preisgabe der Griechen Kleinasiens an keiner Stelle ein. Einerseits ist es nicht denkbar, dass der Rhetor ein so schwerwiegendes Argument seiner Gegner übersehen hat; seine Demegorie hätte dann in keinerlei Hinsicht überzeugen können. Andererseits ist es widersprüchlich, dass athenische Politiker wie Thrasybulos und Kallistratos in einem Zweifrontenkrieg Erfolgsaussichten sahen, falls sie die Fortsetzung des Korinthischen Krieges und zugleich die Konfrontation Athens mit dem Perserreich anstrebten.178 Wenn das Philochorosfragment allerdings zuverlässige Informationen enthält und sich tatsächlich auf die Ereignisse des Jahres 392/1 bezieht,179 dann ist die Auffassung korrekt, dass der Vorwurf der Auslieferung der kleinasiatischen Griechen an den Perserkönig erst in der Anklage des Kallistratos zur Untermauerung der Anklagepunkte gegen Andokides mit einbezogen wurde.180 Unabhängig davon ist die unhaltbare Klage gegen die friedensbereiten Mitglieder der Gesandtschaft wegen angeblichem Amtsmissbrauchs eher ein Ausdruck des Versuchs führender Politiker, besonders der den Krieg propagierenden Agyrrhios-Gruppe, ihre politischen Gegner auszuschalten.

176 Diese These verteidigt A. Missiou in vielen Punkten überzeugend. Zu einer Zusammenfassung der Argumente vgl. Missiou, Andokides 171f. Ferner vgl. Strauss, Athens 140f. 177 Vgl. Philoch. 328 F 149a. Für diese Annahme vgl. Seager, JHS 87 (1967) 95–115, bes. 108f.; Strauss, Athens 141; Schmitz, Prosperität 237; Buck, Thrasybulus 111. 178 Zur Stellungnahme gegen die Behauptung, dass die Rücksichtnahme auf die kleinasiatischen Griechen die athenische Entscheidung in der Ekklesia bestimmt hat, vgl. Urban, Königsfrieden 72f. mit Anm. 256, 259, 260. 77f. Zustimmend Welwei, Athen 415 Anm. 50. 179 Dies bleibt in der Forschung umstritten. Vgl. Urban, Königsfrieden 72 Anm. 256. 180 Davon war in der vorhergegangenen Diskussion über den Friedensschluss in der Ekklesia nichts zu hören. Vgl. Cawkwell, CQ 26 (1976) 270–277, bes. 271f. Anm. 13. 66

III. Lysias 1. Lysias und seine zu untersuchenden Reden Aus der Zeit des Korinthischen Krieges sind außer der andokideischen Friedensrede zwei epideiktische Reden unter dem Namen des berühmten zeitgenössischen Rhetors und Logographen Lysias überliefert: der Epitaphios auf die Gefallenen einer Schlacht im Korinthischen Krieg und die Festrede Olympiakos. Lysias (ca. Anfang der 450er Jahre – nach 380)1 wurde in Athen als Sohn des begüterten Metöken2 Kephalos aus Syrakus geboren. Nach dem Tod seines Vaters wanderte er nach Thurioi3 aus, wo er seine rhetorische Ausbildung wohl bei Teisias4 genoss. Als die mit Athen verbundenen Bürger nach der katastrophalen Niederlage der Athener in Sizilien5 einen schweren Stand hatten, kehrte er zurück und betätigte sich zunächst als Rhetoriklehrer und später als Logograph. Wegen seiner demokratischen Gesinnung wurde unter den Dreißig Tyrannen der größte Teil des Besitzes seiner Familie6 konfisziert und sein Bruder Polemarchos hingerichtet. Lysias entkam nach Megara und unterstützte von dort aus mit den wenigen Geretteten die demokratische Restitutionsbewegung großzügig. Als Belohnung dafür beantragte der demokratische Politiker Thrasybulos7 nach der Rückkehr der Demokraten in die Stadt für Lysias sowie für andere Metöken im September 403 das Bürgerrecht. Die ursprüngliche Entscheidung für die Verleihung des Bürgerrechts

1 Zum Geburtsdatum des Lysias in den frühen 450er Jahren vgl. Schindel, Untersuchungen zur Biographie des Redners Lysias, in: Anastassiou/Irmer, Kleinere Attische Redner 264–287, bes. 286f. Die literarische Tätigkeit des Lysias lässt sich bis in die Zeit um 380 verfolgen (vgl. Rede für Pherenikos, Frg. 78 [Thalheim]; Kartes, Epitaphios 28). 2 Die Metöken waren zugewanderte Fremde, die in einer griechischen Stadt lebten, ohne deren Bürgerrecht zu besitzen. Vgl. Cartledge, DNP 8 (2001) s. v. Metoikos 104ff. 3 Thurioi war eine griechische Stadt am Ionios Kolpos in Unteritalien. Diese wurde auf athenische Initiative im Jahr 444/3 in der Nähe des älteren Sybaris, und zwar als eine panhellenische Kolonie, gegründet; an der Gründung war eine gemischte Gruppe von Kolonisten aus verschiedenen Teilen Griechenlands beteiligt. Vgl. Diod. 12,10f.; Strab. 6, 1, 13; Vgl. Muggia, DNP 12/1 (2002) s. v. Thurioi 615f. 4 Teisias aus Syrakus war nach verbreiteter antiker Ansicht nach seinem Lehrer Korax im 5. Jh. der eigentliche Begründer der Rhetorik als einer lehr- und erlernbaren Techne. Vgl. Gärtner, KlP 5 (1979) s. v. Teisias [6] 559f. 5 Während der dritten Phase des Peloponnesischen Krieges (414–404). 6 Es handelt sich hier vor allem um die Waffenfabrik seines Vaters, also des reichen Metöken Kephalos. Vgl. Weißenberger, DNP 7 (2001) s. v. Lysias [1] 598–601, bes. 598f. 7 Thrasybulos war 404/3 als Anführer athenischer Exulanten maßgebend am Sturz der Oligarchen in Athen beteiligt. Vgl. Kinzl, KlP 5 (1979) s. v. Thrasybulos [3] 784f. 67

wurde infolge eines Paranomie-Einspruchs (παρανόμων γραφή)8 des athenischen Bürgers Archinos annulliert.9 Lysias blieb Metöke, aber als ἰσοτελής,10 was seine Gleichstellung mit den Vollbürgern in finanzieller, aber nicht in politischer Hinsicht bedeutete.11 Ohne diesen Status zu besitzen, blieb ihm eine aktive politische Tätigkeit verwehrt.12 Dies mag auch sein Werk beeinflusst haben, denn im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Rednern wurden von Lysias in der Regel keine symbuleutischen Reden mit der Absicht, unmittelbar Einfluss auf die politische Situation zu nehmen, publiziert oder vor der Ekklesia vorgetragen. Dennoch nutzte er durch seine Gerichtsreden die Gelegenheit, von der athenischen Innenpolitik zu berichten bzw. daran Kritik zu üben. 403 trat er in eigener Sache gegen den Hauptschuldigen am Tode seines Bruders, Eratosthenes, vor Gericht auf und rechnete mit den beteiligten Oligarchen ab.13 Obwohl er jene auch in seiner Rede Gegen Agoratos (Lys. or. 13) heftig kritisierte, sollte man nicht vergessen, dass er in seiner Tätigkeit als Logograph Reden im Auftrag von Anklägern oder Angeklagten schrieb.14 Demzufolge kann nicht behauptet werden, dass er Argumente und Ansichten, die aus seinen Prozessreden stammen, selbst akzeptierte und diese seine persönliche Meinung widerspiegelten. In seiner Rolle als Logograph zögerte der überzeugte Demokrat auch nicht, kompromittierte Oligarchen zu verteidigen.15 Folglich bieten die meisten

8 Es handelt sich um eine Klage wegen Missbrauchs an der Gesetzgebung, sei es ein Verstoß gegen Verfahrensvorschriften oder gegen ein bestehendes Gesetz. Vgl. Thür, DNP 9 (2001) s. v. Paranomon graphe 321. 9 Archinos klagte dagegen, dass man für den Antrag des Thrasybulos kein Gutachten des Rates eingeholt hatte. Vgl. Aristot. Ath. pol. 40,1f.; Aischin. 3,195; POxy 1800 Frg. 6f. 10 Vgl. [Plut.] mor. 836A; dazu Adak, Metöken 218f. 11 Die ἰσοτελεῖς wurden üblicherweise von Steuern und anderen Belastungen, denen Nicht-Bürger unterlagen, befreit. Vgl. Rhodes, DNP 5 (1998) s. v. Isoteleia 1144; Adak, Metöken 222–226. 12 Biographische Quellen des Lysias sind seine Reden, insbesondere die Rede Κατὰ Ἐρατοσθένους (Lys. or. 12) und die Fragmente einer Schrift Πρὸς Ἱπποθέρσην (POxy 1606) sowie die späteren Viten (Dion. Hal. Lys.; [Plut.] mor. 835C–836D; Phot. Bibl. 262; Suda s. v. Λυσίας). Vgl. ferner Blass, Beredsamkeit I, 339–353; Plöbst, RE XIII, 2 (1927) s. v. Lysias 2530–2543, bes. 2533f.; Schindel, Untersuchungen zur Biographie des Redners Lysias, in: Anastassiou/Irmer, Kleinere Attische Redner 264–287; Dover, Lysias 28–46; Loening, Hermes 109 (1981) 280–294; Kartes, Epitaphios 26–29; Todd, A Commentary on Lysias 5–17. 13 Vgl. Gärtner, KlP 3 (1979) s. v. Lysias 833–836, bes. 835. 14 Trotzdem besitzen wir Zeugnisse für Schriften, die Lysias nicht als Logograph, sondern als Redelehrer und Verfasser von Meisterstücken anfertigte. Vgl. Radermacher (Hg.), Artium scriptores 147; Lesky, Literatur 665f. 15 Vgl. Lys. or. 16 (Ὑπὲρ Μαντιθέου); or. 25 (Δήμου καταλύσεως ἀπολογία). M. Akad (Metöken als Wohltäter Athens 219) sieht darin den Ausdruck einer Erbitterung des Lysias, weil dieser trotz seiner für die Sache der athenischen Demokratie erbrachten Wohltaten nicht das Bürgerrecht besitzen durfte. 68

lysianischen Prozessreden, keine optimalen Voraussetzungen für eine realistische Einschätzung der eigenen politischen Auffassung des Autors. Allerdings zeigt der uns erhaltene Teil des lysianischen Werkes16 drei Ausnahmen. Diese sind die beiden epideiktischen Reden Epitaphios und Olympiakos sowie eine politische, symbuleutische Rede, die allerdings für vorliegende Fragestellung irrelevant ist.17 Da die zwei epideiktischen Reden in der Zeit des Korinthischen Krieges publiziert bzw. vorgetragen wurden, geht aus ihnen die Stellung des Rhetors gegenüber dem Krieg hervor. Daher werden sie im Folgenden genauer betrachtet.

2. Der Epitaphios Die Auseinandersetzung mit dem unter Lysias’ Namen erhaltenen Epitaphios beschäftigt sich mit zwei grundlegenden Problemen, nämlich dem der Echtheit und dem der Datierung. Die Echtheit des lysianischen Epitaphios ist ein Problem der neuzeitlichen Philologie.18 In der Antike wird die Rede einheitlich als lysianisch überliefert.19 Bedeutende Forscher, wie u. a. F. Blass (1887) und U. v. Wilamowitz-Möllendorff (1919), halten die Rede aufgrund stilistischer Bedenken für unecht.20 Dem widerspricht J. Klowski (1959) überzeugend, indem er feststellt, dass die Stilabweichungen durch das Genos bedingt sind. Dies beweist er hauptsächlich durch den Vergleich der Rede mit dem platonischen Menexenos und dem demosthenischen Epitaphios, ferner durch den Verweis auf die einheitliche Prägung des Inhalts dieser drei

16 Im Altertum wurden dem Lysias von Ps.-Plutarch 425 Reden zugeschrieben, wovon Dionysios von Halikarnassos und Kaikilios von Kale Akte 233 als echt anerkannten (vgl. [Plut.] mor. 836A; Dion. Hal. Lys. 17). Es sind in der modernen Forschung ca. 180 Titel zusammengestellt worden (vgl. Blass, Beredsamkeit I, 357–375; Todd, A Commentary on Lysias 17f. mit Anm. 67). Davon sind uns einunddreißig vollständig und drei fragmentarisch erhalten geblieben. Dazu kommen Fragmente von Briefen, deren Inhalt privater Natur ist und ein Logos Erotikos (or. 35) bei Platon (Phaidr. 231a–c), dessen Echtheit nicht belegbar ist. Vgl. Blass, Beredsamkeit I, 353–381; Todd, Lysias 8–11; ders., A Commentary on Lysias 17ff. 17 Bezüglich der beratenden Rede handelt es sich um Lys. or. 34 (Περὶ τοῦ μὴ καταλῦσαι τὴν πάτριον πολιτείαν Ἀθήνησι), die uns so wie Lys. or. 32 und or. 33 fragmentarisch von Dionysios überliefert ist (vgl. Dion. Hal. Lys. 33). Diese Rede wurde in der Situation von 403 gegen einen Antrag des Phormisios verfasst und nimmt entschieden Stellung für die Wiederherstellung der vollen und unbeschränkten Demokratie. 18 B. Kartes (Epitaphios 130–134) stellt die wichtigsten Punkte der Echtheitsdiskussion und die Argumente aller daran beteiligten Forscher seit 1772 dar. Zum Kern der Diskussion gehören einerseits das Verhältnis des Epitaphios zum Panegyrikos des Isokrates und andererseits die Frage, ob der Metöke Lysias die Rede hatte halten können. 19 Vgl. Klowski, Zur Echtheitsfrage des Lysianischen Epitaphios 3. 20 Vgl. Blass, Beredsamkeit I, 443f.; Wilamowitz-Möllendorff, Platon II, 127 Anm. 1. 69

Grabreden.21 Es ist in der Forschung umstritten, ob Lysias als μέτοικος bzw. als ἰσοτελής eine offizielle Rede dieser Art halten konnte. J. Klowski betont allerdings, dass die Echtheitsfrage streng gesehen als die Frage nach dem Verfasser und nicht nach dem Redner zu formulieren ist.22 Die neuesten ausführlichen Arbeiten von B. Kartes (2000) und S.C. Todd (2007) bezweifeln die Echtheit des Epitaphios nicht mehr.23 Es wird aber nicht ausgeschlossen, dass es sich bei der Rede um eine sophistische Schulübung handelte, die lediglich einen literarischen Charakter hatte und nie gehalten wurde. Inhaltlich handelt es sich um eine Grabrede auf die athenischen Gefallenen in einer Schlacht des Korinthischen Krieges (395–387/6), bei der die Athener an der Seite der Korinther gegen Sparta kämpften. Hier wird der Korinthische Krieg in so allgemeinen Formulierungen dargestellt, dass eine präzise Datierung der Rede fast ausgeschlossen ist. Trotzdem steht fest, dass die Rede wohl zwischen 394 und 391 verfasst wurde, wobei die Datierung von B. Kartes, der die Veröffentlichung des Werkes auf den Winter des Jahres 392/1 setzt, als wahrscheinlich erscheint.24 Die Rede entstand also in einer Zeit, in der der Korinthische Krieg in vollem Gange war.

2.1 Der Krieg im Epitaphios Der Autor des Epitaphios unternimmt einen Exkurs sowohl in die – für unsere Begriffe – mythische als auch in die historische Vergangenheit Athens.25 Da in der Grabrede vor allem Größe, Ruhm und glorreiche Vergangenheit der Stadt Athen gepriesen werden, sollte sie als Vorbild für die zeitgenössischen Athener fungieren.26 21 Vgl. Klowski, Zur Echtheitsfrage des Lysianischen Epitaphios 51–80. 22 Vgl. Klowski, Zur Echtheitsfrage des Lysianischen Epitaphios 20. 23 Vgl. Kartes, Epitaphios 126–144; Todd, A Commentary on Lysias 157–164. 24 Als terminus post quem nimmt B. Kartes (Epitaphios 130–134) die Zeit zwischen der Schlacht bei Knidos (§ 59) und dem Wiederaufbau der zerstörten Mauer in Athen zwischen den Jahren 394/3 und 391 (§ 63) an. Als terminus ante quem setzt er die Zeit, in der der Aufbau des Peiraieusringes und der Langen Mauern gänzlich oder nahezu vollendet war, also entweder das Jahr 391 oder bereits das Jahr 392. Ferner datiert er die Rede in die Zeit der Friedensverhandlungen in Sparta im Herbst/Winter des Jahres 392/1 als Reaktion des Lysias auf die Friedensklauseln. B. Kartes unterstützt damit die Datierung von J. Walz (Der lysianische Epitaphios 51ff.) in seiner Untersuchung über den lysianischen Epitaphios. S. auch hier S. 83 mit Anm. 101. 25 §§ 3–16 beziehen sich auf mythische und §§ 20–66 auf historische Ereignisse. Nach hellenischer Auffassung gab es keine klare Trennung zwischen mythischer und historischer Zeit; vgl. dazu Gotteland, Mythe et rhétorique 89–102. Zu Übereinstimmungen des lysianischen Epitaphios mit dem Panegyrikos des Isokrates vgl. Kartes, Epitaphios 145–166. 26 Vgl. Huber, in: Baier/Brodersen/Hose, Lysias Reden I, XX. Lysias zufolge sollen die Taten der Vorfahren und die Gefahren, denen sie sich stellten, eine unterrichtende Funktion für die Lebenden haben (vgl. Lys. 2,3). In einer Grabrede wird u. a. von vergangenen siegreichen Kriegen der Stadt berichtet. 70

In ihr lassen sich zwei Kriegskategorien unterscheiden: In der einen verteidigen die Athener ihr Vaterland und zugleich ganz Hellas gegen barbarische Invasoren; in der anderen wenden sie sich aus gerechtem Grund gegen andere griechische Poleis. Lysias selbst geht in der Rede nicht nach den genannten Kriegskategorien, sondern nach chronologischer Reihenfolge vor,27 sodass der Übergang von mythischer zur historischen Vergangenheit nicht als eine bewusste Trennung zwischen Mythos und Historie erscheinen kann.

2.1.1 Krieg gegen Barbaren 2.1.1.1 Mythische Vergangenheit Aus mythischer Zeit erwähnt der Autor zunächst den Angriffskrieg der Amazonen gegen Athen.28 Als Grund für diesen Krieg soll der von den Amazonen angestrebte Ruhm (δόξα) gelten, da Athen eine der mächtigsten Poleis dieser Zeit gewesen sein soll.29 Der Krieg der sich verteidigenden Athener gegen die Angreifer wird als Bestrafung für die Torheit der Amazonen (δοῦσαι δίκην τῆς ἀνοίας)30 gedeutet. Demzufolge handelt es sich um einen gerechten Sieg gegenüber einem ungerechten Angriff: ἐκεῖναι μὲν οὖν τῆς ἀλλοτρίας ἀδίκως ἐπιθυμήσασαι τὴν ἑαυτῶν δικαίως ἀπώλεσαν.31

Lysias führt hier ein Motiv an, das er in seinem Olympiakos wiederholt; demnach büßten die Eindringlinge als Bestrafung für ihre τῆς ἀλλοτρίας ἐπιθυμία sogar ihre eigene Heimat ein.32 Außer der Sucht nach Ruhm rückt der Rhetor das Gewinnstreben der Amazonen in den Vordergrund. Er verschweigt allerdings den – durch 27 Vgl. Grethlein, The Greeks and Their Past 109. 28 Vgl. Lys. 2,4ff. Die Amazonen werden durch Sagengeschichten als kriegerisches, nichtgriechisches Weibervolk überliefert. Umstritten ist ihre Herkunft. Die homerische Ilias berichtet über Kämpfe gegen Amazonen in Phrygien (vgl. Hom. Il. 2,184–190) und Lykien (vgl. Hom. Il. 6,186). Aischylos nennt Themiskyra am Fluss Thermodon als ihre Heimat (vgl. Aischyl. Prom. 721–725). Herodot bringt die Amazonen in Verbindung mit den Skythen (vgl. Hdt. 4,110–117) und erwähnt ebenfalls das Gebiet des Thermodon (vgl. Hdt. 9,27,18f.). Euripides lokalisiert ihre Heimat im Norden nahe der maiotischen See (vgl. Eur. Herc. 408ff.). Lysias bedient sich folglich älterer Überlieferungen, als er im Epitaphios das Gebiet des Thermodon nennt (vgl. Lys. 2,4). Die Amazonen galten zumindest im Athen des 4. Jh. als barbarisches Weibervolk, das einst von den Athenern im Krieg besiegt wurde. 29 Vgl. Lys. 2,5. 30 Lys. 2,6. 31 Lys. 2,6. 32 Vgl. Lys. 33,6; im Olympiakos werden wohl nicht die Amazonen als Barbaren bezeichnet, da sie in dieser Rede überhaupt nicht erwähnt werden. Stattdessen sollte diese Stelle eher in Zusammenhang mit den Persern verstanden werden, gegen die sich der Olympiakos wendet. In der Zeit nach den Perserkriegen haben die Perser zwar nicht ihre Heimat verloren, mussten aber einige Territorien in Kleinasien preisgeben. 71

Sagengeschichten überlieferten und ihm wohl bekannten – Grund des Angriffs der Amazonen gegen Athen, nämlich den Raub der Amazonenkönigin Antiope33 durch den athenischen König Theseus.34 Lysias’ Intention ist es, Athen als eine Macht, die stets für das Gerechte kämpft, darzustellen; ein Bezug auf das Rachemotiv als Ausschlag für den Angriff der Amazonen gegen Athen passt nicht in seine Zielsetzung und wird folglich vermieden. Der Krieg gegen die Amazonen sollte als moralisch und rechtlich begründet erscheinen.35

2.1.1.2 Historische Vergangenheit Wenn nun in §§ 20–47 an die Stelle der Amazonen die Perser treten,36 sind Lysias zufolge ihre Kriegsgründe Machtgier und Habsucht, weniger ihre Sehnsucht nach Ruhm. Die Perser fielen nur ὑπὲρ χρημάτων in ein fremdes Land ein,37 da der Großkönig in den Krieg zog, weil er mit seinem bisherigen Landbesitz nicht zufrieden gewesen sei. Das Expansionsbestreben des Perserkönigs wird übertrieben dargestellt, indem als sein Ziel nicht – wie bei den Amazonen – die Eroberung einer einzigen Stadt, sondern die Unterwerfung ganz Europas erwähnt wird.38 Die Frage, weshalb gerade Athen als der eigentliche Feind figuriert, wird durch das Argument der besonderen Stellung der Polis in der griechischen Welt beantwortet. Ein Sieg über die angeblich mächtigste griechische Polis würde zugleich einen Sieg über ganz Hellas bedeuten.39 Hierbei ist die Intention der Rede zu 33 Als Amazonenköniginnen sind auch Hippolyte, Melanippe und Glauke überliefert. Vgl. Toepffer, RE I,2 (1894) s. v. Amazones 1754–1771, bes. 1759; Herter, RE Suppl. XIII (1973) s. v. Theseus 1045–1238, bes. 1149ff. 34 Dies ist einer der drei Sagenkomplexe, die sich in nachhomerischer Zeit herausgebildet haben (vgl. Toepffer, RE I,2 [1894] s. v. Amazones 1754–1771, bes. 1758–1761). Allerdings wurde dieser Krieg in Athen als Teil der glorreichen Vergangenheit der Polis gesehen, sodass der Angriff der Amazonen auf Attika keineswegs als gerechter Vergeltungskrieg wahrgenommen wurde, was durch die Verwendung der Sage als Lob Athens von den attischen Rednern evident wird (vgl. Lys. 2,4ff.; Isokr. 4,68ff.; 6,42; 7,75; 12,193; [Demosth.] 60,8 vgl. auch Hdt. 9,27,4; Plat. Mx. 239b). Isokrates spricht nicht vom Raub der Königin, sondern berichtet, dass diese sich in Theseus verliebt und ihm freiwillig nach Athen gefolgt sei (vgl. Isokr. 12,193). Jahrhunderte später verwies Plutarch auf den Raub der Königin Antiope als Erklärung (πρόφασις) der Amazonen für den Krieg gegen Athen (vgl. Plut. Thes. 27,1). 35 Vgl. Kartes, Epitaphios 39ff. 36 Hierzu ist zu bemerken, dass die Amazonenabwehr im 5. und 4. Jh. in Athen allgemein „als mythischer Prototyp der Perserabwehr und panhellenischer Verdienst der Athener“ galt; Herter, RE Suppl. XIII (1973) s. v. Theseus 1045–1238, bes. 1155. 37 Vgl. Lys. 2,25. 38 Lys. 2,21: ὁ γὰρ τῆς ᾿Ασίας βασιλεὺς οὐκ ἀγαπῶν τοῖς ὑπάρχουσιν ἀγαθοῖς, ἀλλ‘ ἐλπίζων καὶ τὴν Εὐρώπην δουλώσεσθαι, ἔστειλε πεντήκοντα μυριάδας στρατιάν. 39 Vgl. Lys. 2,21f. Die Darstellung des Lysias ist jedenfalls tendenziös, da Athen erst nach den Perserkriegen eine führende Stellung in der griechischen Welt erlangte; vorher war allein Sparta die führende Macht Griechenlands und Hegemon des 72

berücksichtigen: Das Ziel ist nicht eine objektive Analyse der historischen bzw. mythischen Kriege Athens, sondern liegt im Lobeshymnos auf ihren Ruhm.40 Von daher ist der Autor überhaupt nicht bemüht, die Vorgeschichte der Perserkriege in einer Form, die Herodot entsprechen würde, zu beleuchten. Der Ionische Aufstand und die Unterstützung Eretrias und Athens zugunsten der Ionier Kleinasiens im Jahr 499 sind für den Verfasser nicht nennenswert,41 denn der Angriff der Perser gegen Athen soll keineswegs als Rachefeldzug gegen die Athener wegen ihrer vorherigen perserfeindlichen Einstellung erscheinen, obwohl der damalige Perserkönig Dareios I. dadurch seine Kriegführung gegen Athen rechtfertigte.42 Durch die Hervorhebung der imperialistischen Elemente in der Intention der Perser wird der athenische Verteidigungskrieg völlig legitimiert und glorifiziert. Dazu führt auch der Faktor, dass die Freiheit (ἐλευθερία)43 und die Rettung (σωτηρία) aller Hellenen ins Spiel gebracht wurden, weshalb die Athener als Wohltäter für ganz Hellas gelten sollten.44 Der Sieg der Seeschlacht bei Salamis dient als Beweis, dass der Krieg um die Freiheit Athens und aller Hellenen das höchste Gut sei und unter allen Umständen geführt werden müsse: ἐπέδειξαν δὲ πᾶσιν ἀνθρώποις, νικήσαντες τῇ ναυμαχίᾳ, ὅτι κρεῖττον μετ‘ ὀλίγων ὑπὲρ τῆς ἐλευθερίας κινδυνεύειν ἢ μετὰ πολλῶν βασιλευομένων ὑπὲρ τῆς αὑτῶν δουλείας. πλεῖστα δὲ καὶ κάλλιστα ἐκεῖνοι ὑπὲρ τῆς τῶν ῾Ελλήνων ἐλευθερίας συνεβάλοντο […].45

Der panhellenische Aspekt ist in der Darstellung des Lysias nicht zu übersehen.46 Die Athener handelten und kämpften demnach ὑπὲρ τῆς Ἑλλάδος oder ὑπὲρ τῆς τῶν ῾Ελλήνων ἐλευθερίας.47 Der damalige selbstlose Einsatz der Athener für alle Hellenen hat allerdings das Ziel, dass Athen inmitten des Korinthischen Krieges

Peloponnesischen Bundes (vgl. Prinz, Epitaphios logos: Struktur, Funktion und Bedeutung der Bestattungsreden im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts 235). 40 Daraus ist ein Versuch des Lysias zur Apologie der athenischen Herrschaft in §§ 54–57 zu erklären. Vgl. dazu Raaflaub, Freiheit 224–228. 41 Zur Vorgeschichte der Perserkriege vgl. Hdt. 5,28–6,32. 42 Vgl. Hdt. 5,97–102. 43 Vgl. Lys. 2,25. 33. 35. 41. 42. 44. 46. 47. 55. Auch die Beziehungen zwischen den Bürgern einer Polis will der Autor am Beispiel des frühen Athen als Grundlage für die allgemeine Freiheit (ἐλευθερία) und folglich auch für die Eintracht (ὁμόνοια) darstellen: vgl. Lys. 2,18. 44 Lys. 2,23: οἱ δ‘ ἡμέτεροι πρόγονοι […] αἰσχυνόμενοι ὅτι ἦσαν οἱ βάρβαροι αὐτῶν ἐν τῇ χώρᾳ, οὐκ ἀνέμειναν πυθέσθαι οὐδὲ βοηθῆσαι τοὺς συμμάχους, οὐδ‘ ᾠήθησαν δεῖν ἑτέροις τῆς σωτηρίας χάριν εἰδέναι, ἀλλὰ σφίσιν αὐτοῖς τοὺς ἄλλους ῞Ελληνας. 45 Lys. 2,41f. 46 Allgemein zum Panhellenismus im lysianischen Epitaphios vgl. die durchgehende Analyse in Kartes, Epitaphios 98–114. Zur Diskussion in der Forschung bis 1981 vgl. Kleinow, Überwindung 18f. 47 Vgl. Lys. 2,20. 33. 34. 42. 73

im Gegensatz zu Sparta als die einzige Polis mit dem Recht auf die Hegemonie in Hellas erscheint.48 Ein zusätzliches Element der athenisch-persischen Auseinandersetzung ist die angebliche Autochthonie der Athener, die keinen Zweifel an ihren Rechten auf Attika lässt. Ihre γνησία καὶ αὐτόχθων ἀρετή sei sogar ein Grund des Sieges gegen die Barbaren gewesen.49 Hierbei wird die angeblich freie, tapfere und naturgemäß überlegene Natur der griechischen Autochthonen in einen Gegensatz zum unfreien, barbarischen Wesen gestellt.50 Es ist festzuhalten, dass der Verfasser des Epitaphios die Kriege der Athener gegen die Barbaren als gerechte Verteidigungskriege darstellt. Dabei beleuchtet er die Umstände, die zum Krieg führten, einseitig und zugunsten Athens. Demzufolge wirken die Kriegsgründe der Barbaren wie niedere Beweggründe. Während die Amazonen, die Töchter des Gottes Ares, nach Ruhm und Expansion streben, ist der Perserkönig in seinen Expansionsbestrebungen von Habsucht getrieben. In den Perserkriegen sieht Lysias die Auseinandersetzung zwischen Freien und Unfreien. Ein panhellenischer Aspekt des athenischen Verhaltens ist in dem Gedanken zu entdecken, dass die Athener für die Freiheit und die Rettung aller Hellenen gegen die Barbaren kämpften.

2.1.2 Krieg unter Hellenen Die zweite aus dem Epitaphios hervorgehende Kriegskategorie ist die des innergriechischen Krieges. Auch hier geht es zum einen um alte Sagengeschichten und zum anderen um tatsächlich geschehene Ereignisse. Die allgemein gültige Rechtfertigung der Kriegführung gegen Hellenen ist die der Hilfeleistung für jene, denen Unrecht geschieht.

2.1.2.1 Mythische Vergangenheit Zunächst nimmt Lysias Bezug auf zwei wohlbekannte Mythen, die wie der Amazonenmythos als Topoi in den attischen Grabreden vorkommen. Es handelt sich um die Hilfe der Athener beim Zug des argivischen Königs Adrastos gegen Theben (§§ 7–10) und den Verteidigungskrieg der Herakliden gegen Eurystheus (§§ 11–16).

48 Dazu dient die Gegenüberstellung der athenischen Herrschaft im 5. Jh. mit der spartanischen nach 404 in §§ 17–61. Vgl. Schmitz, Prosperität 237f. 49 Vgl. Lys. 2,43. 50 Ähnlich spricht Platon in seinem Menexenos über das γενναῖον καὶ ἐλεύθερον der reinblütigen und von Natur aus barbarenfeindlichen Hellenen (vgl. Plat. Mx. 245c–d). S. Tsitsiridis (Menexenos 357) notiert dazu, dass Platon diese Worte durchaus ernst gemeint hat. 74

Als die Αthener zugunsten des Adrastos intervenierten, kämpften sie für die Bestattung der Toten im Krieg.51 Da die Thebaner diese unter ihrem König Kreon dem Sohn des Oidipus, Polyneikes, und den anderen Gefallenen der Sieben gegen Theben verweigerten, handelte es sich für die Athener um ein nicht geziemendes Verhalten gegenüber den chthonischen Göttern und eine ἀσέβεια gegen die oberen, also die olympischen Götter.52 Demzufolge ist die Untersagung der Bestattung der Toten nicht nur moralisch verwerflich, sondern verstößt auch gegen das sakrale Recht.53 Lysias beschreibt detailliert das Vorgehen Athens und hebt die Tatsache hervor, dass Athen zunächst den Weg der Diplomatie wählte.54 Die Stadt schickte Herolde, welche die Herausgabe der Gefallenen erwirken sollten.55 Als sich allerdings die Thebaner weder von religiösen noch von ethischen oder rationalen Argumenten beeinflussen ließen, fühlten sich die Athener verpflichtet, für ihre Überzeugung zu kämpfen.56 Lysias will hier deutlich machen, dass sich die Athener vor ihrem Angriff gegen Theben formell legitim verhalten hatten. Athen führte also Krieg gegen die Thebaner, damit diese nie wieder gegen die göttlichen Gesetze verstießen und damit die ewigen ungeschriebenen Regeln der

51 Grundzüge des Mythos sind uns vor allem durch die Tragödien des Aischylos (Sieben gegen Theben), Sophokles (Antigone) und Euripides (Hiketiden) überliefert (vgl. auch Hdt. 9,27,3; Plat. Mx. 239b; Isokr. 4,55; 12,168–171; [Demosth.] 60,8). Demnach half der König von Argos Adrastos Polyneikes, dem Sohn des Oidipus, gegen seinen Bruder Eteokles die Macht in Theben wiederzuerlangen. Das Heer von Adrastos, das von sieben Helden – darunter auch Polyneikes – angeführt wurde, unterlag allerdings in der Schlacht bei Theben; alle Angreifenden mit Ausnahme von Adrastos fielen. Da der neue thebanische Herrscher Kreon die Bestattung der Gefallenen untersagte, zog Adrastos als Bittsteller nach Athen und überredete den König Theseus, gegen Theben zu ziehen. 52 Lys. 2,7: […] τοὺς δὲ κάτω τὰ αὑτῶν οὐ κομίζεσθαι, ἱερῶν δὲ μιαινομένων τοὺς ἄνω θεοὺς ἀσεβεῖσθαι […]. 53 Es steht nicht fest, ob die Asebie wegen der Nicht-Bestattung von Toten selbst oder wegen der Tatsache, dass ein sakrales Beerdigungsritual wegen der Untersagung der Bestattung nicht stattfinden konnte, bestand. Vgl. Todd, A Commentary on Lysias 219. 54 Vgl. Lys. 2,7f. 55 Die Herolde (κήρυκες) konnten seit mykenischer Zeit an politischen, diplomatischen, juristischen und rituellen Angelegenheiten teilnehmen. Noch in klassischer Zeit konnten sie als Abgesandte ihrer Polis Kriegserklärungen und Bedingungen für den Waffenstillstand überbringen. Vgl. Beck, DNP 6 (1999) s. v. Keryx [2] 450. 56 Vgl. Kartes, Epitaphios 44. B. Kartes notiert dazu, dass die zwei Versionen bezüglich der Herausgabe der Gefallenen durch die Kadmeier, die Lysias hier erwähnt, eine Abhängigkeit von ähnlichen Stellen bei Herodot und Euripides aufweisen. Die Kriegsversion findet sich bei Herodot (vgl. Hdt. 9,27,2); die Version der Auslieferung der Toten durch den friedlichen Weg der Diplomatie findet sich in den Hiketiden des Euripides, wo sie ebenso wie bei Lysias mit der herodoteischen Version verbunden ist (vgl. Eur. Suppl. 384–391. 634ff.). 75

Menschlichkeit57 und des Hellenentums (Ἑλληνικὸς νόμος) in jedem Fall – hier für Polyneikes und die anderen Gefallenen – ewige Gültigkeit besäßen.58 Folglich sollte die Bestrafung der Thebaner einen erzieherischen Wert haben.59 Im Gegensatz zum Bericht über die Perserkriege betont der Autor, dass es vorher keinerlei Zwist mit den Thebanern gegeben habe.60 Dies ist für die Abfassungszeit der Rede erwähnenswert, denn der einstige Feind Theben war jetzt Athens Verbündeter im Korinthischen Krieg gegen Sparta. Keine Feindschaft bzw. Erbfeindschaft mit Theben war gegeben, sondern lediglich die Untersagung der Bestattung von Toten durch Kreon soll eindeutig als gerechter Kriegsgrund erscheinen. Darüber hinaus wird durch den Hinweis auf die bis dato friedlichen Beziehungen zwischen Athen und Theben der moralische Stellenwert Athens erhöht, indem Lysias einen Krieg aufgrund eventueller Rachegefühle kategorisch ausschließt.61 Der Kampf für die Beibehaltung des sakralen Rechts wird folglich als Beispiel für einen Sieg der Athener, wenn sie rechtmäßig handelten, herangezogen: τὸ δὲ δίκαιον ἔχοντες σύμμαχον ἐνίκων μαχόμενοι.62 Auf ähnliche Weise ist das kriegerische Vorgehen Athens im Heraklidenmythos zu rechtfertigen.63 Die Athener unterstützten die Kinder des Herakles gegen die Streitmacht von Eurystheus militärisch, da sie das Recht respektierten. Die bei den attischen Rhetoren übliche Form des gerechten Krieges als Hilfeleistung gegenüber Unrecht Leidenden wird auch im Epitaphios dargestellt: […] καὶ ἠξίουν ὑπὲρ τῶν ἀσθενεστέρων μετὰ τοῦ δικαίου διαμάχεσθαι μᾶλλον ἢ τοῖς δυναμένοις χαριζόμενοι τοὺς ὑπ‘ ἐκείνων ἀδικουμένους ἐκδοῦναι.64

57 Vgl. Schneider, Untersuchungen über die Staatsbegräbnisse und den Aufbau der öffentlichen Leichenreden bei den Athenern der klassischen Zeit 42. 58 Lys. 2,9: ὑπὲρ ἀμφοτέρων ἐκινδύνευσαν, ὑπὲρ μὲν τῶν, ἵνα μηκέτι εἰς τοὺς τεθνεῶτας ἐξαμαρτάνοντες πλείω περὶ τοὺς θεοὺς ἐξυβρίσωσιν, ὑπὲρ δὲ τῶν ἑτέρων, ἵνα μὴ πρότερον εἰς τὴν αὑτῶν ἀπέλθωσι πατρίου τιμῆς ἀτυχήσαντες καὶ ῾Ελληνικοῦ νόμου στερηθέντες καὶ κοινῆς ἐλπίδος ἡμαρτηκότες. 59 Vgl. Kartes, Epitaphios 45. 60 Vgl. Lys. 2,8. 61 Vgl. Kartes, Epitaphios 44. 62 Lys. 2,10. 63 Der Heraklidenmythos ist uns vor allem durch die Tragödie des Euripides Herakliden überliefert (vgl. auch Hdt. 9,27,2; Plat. Mx. 239b; Isokr. 4,56–62. 65; 12,194; [Demosth.] 60,8). Demnach hatte König Eurystheus von Argos nach dem Tod des Herakles dessen Kinder, die Herakliden, verbannt. Nur Athen wagte es, sie aufzunehmen. Aufgrund ihres Gerechtigkeitssinnes verweigerten die Athener Eurystheus die Auslieferung der Kinder des Herakles, besiegten ihn im darauf folgenden Kampf und ermöglichten somit den Herakliden die Rückkehr auf die Peloponnes und damit die Gründung Spartas. 64 Lys. 2,12. Hier ist das mythologische Äquivalent zur Darstellung des historischen Athens im isokrateischen Panegyrikos (§ 53), in dem die Polis als Beschützerin der Machtlosen geschildert wird, zu finden. Vgl. Todd, A Commentary on Lysias 223. 76

Das unumstrittene Recht der Kinder des Herakles erklärt der Autor durch die Auseinandersetzung zwischen Herakles und dem Herrscher von Argos Eurystheus, die der große griechische Held, der die ἀρετή verkörperte, nicht zu seinen Gunsten entscheiden konnte.65 Lysias hebt den Einsatz Athens für Unrecht Leidende hervor, indem er diese Art der Hilfe als Kennzeichen der Gerechtigkeit darstellt: […] δικαιοσύνης δὲ (σημεῖον εἶναι) τοῖς ἀδικουμένοις βοηθεῖν […]66. Ferner schließt er Gründe, die eine Kriegsrechtfertigung Athens schwächen würden, kategorisch aus: Weder eine vorherige Feindschaft mit Eurystheus noch Habsucht und Eigennutz (προκείμενον κέρδος) bewegten Athen zum Krieg.67 In Bezug auf die Hilfe der Athener für Schwächere darf allerdings auch der religiöse Aspekt nicht außer Acht gelassen werden. Die Kinder des Herakles kamen nämlich nach Athen und setzten sich als ἱκέται auf die Altäre.68 Im Fall, dass sie an Eurystheus ausgeliefert würden, hätten die Athener gegen das sakrale Recht verstoßen. Als Institution des griechischen Sakralrechtes war nämlich die Hikesie vergleichbar mit dem Gastrecht des Fremden und eng mit der Einrichtung der Asylie verbunden. Gewalt gegen ἱκέται galt als Sakrileg.69 Die Verweigerung der Auslieferung bedeutete keineswegs automatisch, Krieg gegen Eurystheus zu führen. Dieser könnte aber als Konsequenz auf die athenische Haltung eröffnet werden. Lysias rühmt Athen an dieser Stelle als eine Polis, die zugunsten der Schwächeren (ἀσθενέστεροι) und Unrecht Leidenden (ἀδικούμενοι) bewusst Krieg in Kauf nimmt. Es handelt sich also um eine politische Entscheidung, die auch im Bereich der sakralen Gesetzte Unterstützung findet. Das Hilfegesuch in der Form der Hikesie deutet vorrangig auf Athens Bereitschaft zur Übernahme der Verteidigung von Individuen hin. Hier steht also nicht der Kampf der Athener für Recht und Freiheit hellenischer Gemeinden gegen andere Hellenen im Vordergrund.70 Zusammenfassend gesehen bringt Lysias durch die Sagengeschichten das Vorgehen der Athener gegen andere Hellenen lediglich mit dem Gerechtigkeitssinn

65 Vgl. Lys. 2,11. 66 Lys. 2,14. 67 Vgl. Lys. 2,14. Die Hilfe für Unrecht Leidende stellt Lysias als eine Maxime des athenischen Handelns dar; dies soll sogar der Perserkönig Dareios I. gewusst und sich folglich entschieden haben, direkt gegen Athen, nicht gegen andere hellenische Poleis vorzugehen, denn Athen würde ihnen ohnehin Hilfe leisten (vgl. Lys. 2,22). 68 Eine Hikesie (ἱκετεία oder ἱκεσία) ist „eine Handlung einer Person (eines Schutzflehenden, Fremden) gegenüber einer anderen (einem Mächtigeren) mit dem Ziel, den gewaltsamen Zugriff auf Leib, Leben und Besitz des Schwächeren oder Unterlegenen zu verhindern“ (Derlien, Asyl 45). 69 Vgl. Plat. leg. 5,730a; Gödde, DNP 5 (1998) s. v. Hikesie 554f. Die ἱκετεία war in klassischer Zeit ein sakraler Akt von besonderer Verbindlichkeit. Sie galt – so wie das sakrale Asyl – als ein alle griechischen Staaten übergreifendes Recht. Vgl. Traulsen, Das sakrale Asyl in der alten Welt 131–138. 70 Vgl. Kierdorf, Perserkriege 89–93. 77

und der Religiosität in Verbindung. Damit wird der erneute Anspruch Athens auf Hegemonie in Hellas propagiert.71

2.1.2.2 Historische Vergangenheit Lysias bezieht sich in §§ 48–66 auf die Pentekontaetie, also auf eine Zeit, die vom Dualismus Athens und Spartas und vom sich steigernden Antagonismus dieser zwei Mächte gekennzeichnet ist. Als Ursache für die innergriechischen Auseinandersetzungen nach den Perserkriegen nennt er keine Verstöße gegen Staatsverträge bzw. zwischenstaatliche Rechtsordnung, sondern die Missgunst (ζῆλος) und den Neid (φθόνος) zwischen den Poleis. Die von den Kriegsparteien aufgeführten Kriegsgründe seien dagegen in der Tat lediglich willkommene Anlässe zum Ἑλληνικὸς πόλεμος: ῾Υστέρῳ δὲ χρόνῳ ῾Ελληνικοῦ πολέμου καταστάντος διὰ ζῆλον τῶν γεγενημένων καὶ φθόνον τῶν πεπραγμένων, μέγα μὲν ἅπαντες φρονοῦντες, μικρῶν δ' ἐγκλημάτων ἕκαστοι δεόμενοι […]72

Der Autor bezieht sich auf die Auseinandersetzung der Jahre 460–457 zwischen Athen und Aigina, Korinth und ihren Verbündeten, die schließlich in einen Konflikt zwischen Athen und Sparta mündete. Konkret erwähnt er die Seeschlacht der Athener gegen die Aigineten und deren Verbündete sowie den Einfall der Korinther ins Gebiet von Megara und ihre Niederlage durch athenische Truppen bei Geraneia. Ziel des Verfassers ist es, die Kriegsleistungen und den Mut der Athener sowie ihren selbstlosen Einsatz für die Gerechtigkeit zu loben. Dies wird besonders durch den Bericht über die Schlacht bei Geraneia deutlich, da wegen zweier zeitgleicher Expeditionen – der athenischen Belagerungen von Ägypten und Aigina – das athenische Heer in Megara nur aus älteren Männern und noch nicht waffenfähigen Jünglingen bestand.73 Im Epitaphios wird weder für die Seeschlacht bei Aigina noch für den korinthischen Einfall in Geraneia der Kriegsgrund erwähnt. Lysias spricht in § 48 allgemein über den Neid unter den Hellenen sowie über ihren Hochmut und wirft allen Parteien vor – in erster Linie aber Athen und Sparta –74, dass sie in der Zeit nach den Perserkriegen jede kleine Anschuldigung nutzten, um Krieg gegeneinander zu führen. Die Umstände, die zum Krieg Athens gegen Aigina, Korinth und ihre Verbündeten führten, waren allerdings komplex. Es handelte sich bei dem Übergriff Korinths nicht um athenisches, sondern um megarisches Gebiet. Laut Thukydides hatte ein Grenzstreit zwischen Korinth und Megara im Jahr 461/0 auf megarische Initiative hin zu einer Allianz zwischen Athen und Megara geführt. Die folgenden 71 Vgl. Kartes, Epitaphios 50. 72 Lys. 2,48. 73 Vgl. Lys. 2,48–53; Lysias’ Angaben stimmen mit dem diesbezüglichen Bericht des Thukydides überein (vgl. Thuk. 1,105,3ff.). 74 Vgl. Kartes, Epitaphios 76. 78

militärischen Aktionen resultierten in erster Linie aus Spannungen zwischen Athen und Korinth nach dieser Allianz;75 dazu gehört auch der von Lysias erwähnte überragende Sieg der Athener in der Seeschlacht bei Aigina gegen eine aiginetische und peloponnesische Flotte.76 Da vorher (462/1) die Athener als Folge der begonnenen Rivalität mit Sparta Bündnisse auch mit Thessalien und dem Sparta feindselig gesonnenen Argos geschlossen hatten,77 musste ihnen bewusst sein, dass sie sich damit selbst in den Kriegszustand mit Sparta begeben würden. Die folgenden Auseinandersetzungen, bei denen es allerdings nur einmal zu einer direkten Konfrontation zwischen Athen und Sparta kam,78 werden in der modernen Forschung meist als Erster Peloponnesischer Krieg bezeichnet.79 Die danach folgenden Bündnisse Athens gelten teils als Ausdruck defensiver Absicherung gegen Sparta, teils als Indiz für eine expansive athenische Außenpolitik.80 Lysias erwähnt in seiner Rede mit keinem Wort, dass die Kampfhandlungen im Jahr 460 mit der Landung einer athenischen Streitmacht bei Halieis begannen, die bald darauf von den Korinthern und ihren Verbündeten aus Epidauros und Sikyon vernichtend geschlagen wurde.81 Da er aber den Einfall der Korinther in Geraneia, und zwar in Abwesenheit der waffenfähigen athenischen Bürger, hervorhebt, ist es offenkundig, dass Korinth als der eigentliche, ungerecht handelnde Aggressor erscheinen soll. Lysias nennt also den Neid unter den Hellenen zwar als Grund für die innergriechischen Konflikte während der Pentekontaetie, aber in seinem speziellen Bericht über die Auseinandersetzung zwischen Athen und Korinth erscheint lediglich Korinth als Träger dieses Neides. Allerdings behauptet Thukydides, dass der große Hass (σφοδρὸν μῖσος) der Korinther gegenüber Athen erst nach der Intervention der Athener zugunsten von Megara begann.82 Der φθόνος im Epitaphios sowie das thukydideische μῖσος beschreiben einen psychologisch-emotionalen Faktor, der als Beweggrund zur Kriegsführung eine wichtige Rolle spielen konnte; er ist aber trotzdem nicht die Kriegsursache, sondern eher als das Ergebnis der

75 76 77 78 79 80 81 82

Vgl. Thuk. 1,103,4; Diod. 11,79f.; Welwei, Athen 96f. Vgl. Lys. 2,48; auch Thuk. 1,105,2. Dies geht aus Thuk. 1,107,5ff. hervor. Im Jahr 457 errang Sparta mit seinen verbündeten Boiotiern einen Sieg bei Tanagra gegen Athen und seine Bundesgenossen. Vgl. Thuk. 1,107–108,2; Hdt. 9,35; Diod. 11,79ff. Die Bezeichnung wird trotz des Problems, dass der im Jahr 431 begonnene Krieg nicht entsprechend als Zweiter Peloponnesicher Krieg bezeichnet wird, verwendet. Vgl. Dreher, Athen und Sparta 186 Anm. 162. Vgl. Welwei, Athen 96. Zur ersteren Ansicht vgl. Croix, Origins 182f.; zur zweiten vgl. Lewis, CAH V, 111; Tritle, A New History of the Peloponnesian War 12. Vgl. Thuk. 1,105,1; Welwei, Athen 97. Thuk. 1,103,4: καὶ Κορινθίοις μὲν οὐχ ἥκιστα ἀπὸ τοῦδε τὸ σφοδρὸν μῖσος ἤρξατο πρῶτον ἐς ᾿Αθηναίους γενέσθαι. Vgl. dazu Croix, Origins 181f. 79

politischen Vorgehensweise, der Bündnispolitik und des Expansionsstrebens von Korinth und Athen zu verstehen. Es ist fraglich, ob den Zuhörern des Epitaphios oder Lysias selbst das genaue Umfeld der athenisch-korinthischen Auseinandersetzung, die ungefähr siebzig Jahre zurücklag, noch bekannt war. In der Tat waren die Athener in diesen Krieg aufgrund ihrer Allianz mit Megara verwickelt, obgleich Lysias die vertragsmäßige Hilfeleistung Athens gegenüber Megara nicht erwähnt. In einer Grabrede ist es zwar üblich, sich lobend über die Vorfahren zu äußern; eine politische Analyse der historischen Ereignisse hingegen gehört meist nicht dazu. Obwohl dieser ältere Krieg sich in seiner Darstellung als Hilfeleistung für Verbündete zur Parallelisierung mit Athens Teilnahme am Korinthischen Krieg des 4. Jh. eignen würde, verfolgt Lysias an dieser Stelle ein anderes Ziel: Der spezielle Krieg gegen die Korinther im Jahr 460 wird im Epitaphios als Beispiel gewählt, um das Vertrauen der damals in Athen gebliebenen Streitkräfte hinsichtlich ihres Mutes (ταῖς δ‘ αὑτῶν ψυχαῖς πιστεύσαντες)83 und ihrer ἀρετή84 hervorzuheben. Mit diesen positiven Eigenschaften verbindet Lysias geschickt die im gegenwärtigen Krieg Gefallenen. Der Rhetor ist also nicht daran interessiert, die wahren und vermutlich in Vergessenheit geratenen Kriegsgründe aufzulisten und dabei den Krieg aus athenischer Seite zu rechtfertigen; ihm ist es hinreichend genug, allgemein den ohnehin bestehenden Neid zwischen hellenischen Poleis als Triebkraft für Kriege in Hellas zu benennen. Zum weiteren Lob Athens wird im Epitaphios die zur Abfassungszeit der Rede kurz zurückliegende spartanische Niederlage durch die Perser bei Knidos instrumentalisiert. So wie die athenische Niederlage im Peloponnesischen Krieg nicht nur für Athen, sondern auch für die anderen Hellenen größtes Unheil gebracht hatte,85 führte die Übernahme der ἀρχή in Hellas durch Sparta zu weiteren Übeln. Die Lakedaimonier konnten nämlich die griechische Welt nicht vor den Barbaren schützen; dies hatte zum Ergebnis geführt, dass die Perser nach ihrem Sieg bei Knidos 394 nach vielen Jahrzehnten wieder nach Europa vordringen konnten. Es heißt, die Barbaren siegten über die Hellenen, nicht konkret über die Lakedaimonier.86 Lysias erwähnt absichtlich nicht die Rolle des athenischen Strategen Konon, der bei der Seeschlacht an der Seite der Perser als Oberbefehlshaber einer hellenischen – wenn auch nicht athenischen – Einheit entscheidend mitgewirkt hatte,87 denn dies konnte keineswegs im Einklang mit dem Geist des Epitaphios stehen.88 In dieser Rede soll 83 Lys. 2,50. 84 Vgl. Lys. 2,51. 85 Vgl. Lys. 2,58. Hiermit wird auf das Verhalten Spartas nach 404 hingewiesen. Unterdrückung griechischer Poleis und brutale Eingriffe in deren Autonomie gehören dazu, sodass über μεγίστη συμφορά für Athen und die anderen Griechen gesprochen wird. 86 Vgl. Lys. 2,59f.; auch 33,3. 87 Vgl. Xen. hell. 4,3,11f.; Diod. 14,83,5ff.; Welwei, Athen 267f. 88 Es handelt sich also nicht um eine „negative Darstellung Konons“ (Schmitz, Prosperität 238) bei Lysias, sondern eher um Verschweigen seiner Rolle angesichts 80

der herkömmliche Gegensatz zwischen Athen und den Barbaren sowie der Anspruch Athens auf die ἀρχή unterstrichen werden. Während allerdings die Schlacht bei Knidos in späterer Zeit als Wendepunkt zur Restauration der athenischen ἀρχή sowie zur Befreiung der Hellenen vom spartanischen Joch betrachtet wurde,89 ist für die Intention dieser Rede die Betonung der Ohnmacht Spartas und die Stilisierung Athens als einer sich auf eigene Kraft stützenden, uneigennützigen, freiheitsliebenden und gegenüber anderen Hellenen solidarisch handelnden Macht wichtiger.90

2.1.2.3 Gegenwart Es ist unausweichlich, dass der Autor Bezug auf den Korinthischen Krieg nimmt. Lysias beschränkt sich allerdings – außer im Hinweis auf die Seeschlacht bei Knidos, die er nicht als Teil des Korinthischen Krieges wahrnimmt – auf die Hilfeleistung Athens für Korinth, also auf die Rechtfertigung des Kampfes der gefallenen Athener gegen spartanische Truppen. Es macht zunächst Eindruck, dass der Autor in derselben Rede bereits einen älteren gerechten Verteidigungskrieg der Athener gegen die Korinther referiert hatte (§§ 48–53); gerade dies lässt allerdings den aktuellen Einsatz Athens zugunsten der alten Feinde als selbstlos erscheinen, da das Prinzip der Hilfe für Unrecht Leidende verdeutlicht wird.91 Dies betont Lysias in § 67, indem er im selben Satz die alten Freunde (παλαιοὶ φίλοι) Spartas als neue Verbündete (καινοὶ σύμμαχοι) Athens bezeichnet. Eindeutig werden die Spartaner sowohl als Beendiger des Freundschaftsverhältnisses mit Korinth als auch als ungerecht Handelnde gegenüber ihren ehemaligen Verbündeten dargestellt, während die Athener bereit wären, jederzeit für das Gerechte einzutreten. Die Rechtfertigung dieses Krieges aus athenischer Sicht wird demzufolge durch die Erläuterung der Gründe, wofür die athenischen Gefallenen gekämpft hätten, dargestellt. Das Motiv der Hilfeleistung gegenüber den Unrecht Leidenden, das zu einer Allianz mit Korinth geführt hätte, erscheint als der Hauptgrund zumindest für den athenischen Hilfszug gegen Sparta im Rahmen dieses Krieges: der Hervorhebung der Konsequenzen der Schlacht bei Knidos auf Hellas, denn der Redner bezieht sich weder im Epitaphios noch in der überlieferten Einleitung des Olympiakos (vgl. bes. Lys. 33,3) namentlich auf Konon bzw. auf dessen Wirken an der Seite der Perser. 89 Erst 380 lobt Isokrates in seinem Panegyrikos den Beitrag Konons, also auch Athens, zum Sieg gegen Sparta bei Knidos. Vgl. Isokr. 4,154; 9,56. 68; 7,12. 65; ep. 8,8; 5,63f.; Demosth. 20,68; Deinarch. 1,14. 75; 3,17; Seager, JHS 87 (1967) 95–115, bes. 100; Funke, Homónoia und Arché 120–122 mit Anm. 51–54. 90 Vgl. Schmitz, Prosperität 238. 91 Vgl. Low, Interstate Relations 180. Somit trifft die Behauptung von F. Blass (Beredsamkeit I, 440), dass Lysias’ Darstellung der Korinther zunächst als Feinde, dann als Verbündete im Krieg befremdet, nicht zu. F. Blass verkennt die rhetorische Anwendung des Zusammenhangs der beiden Fälle; keineswegs können die unterschiedlichen Hinweise auf Korinth als Indiz für die Unechtheit der Rede gelten (vgl. Kartes, Epitaphios 91; Todd, A Commentary on Lysias 266). 81

Οἱ δὲ νῦν θαπτόμενοι, βοηθήσαντες Κορινθίοις ὑπὸ παλαιῶν φίλων ἀδικουμένοις καινοὶ σύμμαχοι γενόμενοι, οὐ τὴν αὐτὴν γνώμην Λακεδαιμονίοις ἔχοντες (οἱ μὲν γὰρ τῶν ἀγαθῶν αὐτοῖς ἐφθόνουν, οἱ δὲ ἀδικουμένους αὐτοὺς ἠλέουν, οὐ τῆς προτέρας ἔχθρας μεμνημένοι, ἀλλὰ τὴν παροῦσαν φιλίαν περὶ πολλοῦ ποιούμενοι) πᾶσιν ἀνθρώποις φανερὰν τὴν αὑτῶν ἀρετὴν ἐπεδείξαντο.92

Während das Mitleid (ἔλεος – ἠλέουν) der Athener ihre Teilnahme an diesem speziellen Krieg rechtfertigen soll, wird der Neid (φθόνος – ἐφθόνουν) der Lakedaimonier auf den Reichtum ihrer alten Bundesgenossen als der eigentliche Auslöser des Krieges dargestellt. Letztendlich wird durch dieses Beispiel die ἀρετή der im Korinthischen Krieg gefallenen Athener gezeigt. Als entscheidendes Element für das Bündnis Athens sowie für die innergriechischen Kriege nutzt Lysias die psychologisch-emotionale Einstellung der Bürger unterschiedlicher Poleis. Der Autor unterstreicht die angebliche moralische Überlegenheit Athens gegenüber Sparta und übersieht dabei absichtlich politische Motive und Ziele, die Athen und Sparta in ihrem Kampf verfolgten: Während Sparta die Konsolidierung seiner Vorherrschaft in Hellas nach dem Sieg im Peloponnesischen Krieg anstrebte, war Athen vorrangig daran interessiert, sich gegen diesen Anspruch aufzulehnen und eine Basis zu schaffen, die einen Wiederaufstieg zur eigenen alten Macht ermöglicht hätte. Bezüglich des Korinthischen Krieges im Allgemeinen unternimmt Lysias allerdings keinen Rechtfertigungsversuch. Zwei Aspekte sollten hier berücksichtigt werden, die das Vorgehen des Autors zu begründen vermögen: Erstens ging es nicht um einen Krieg ausschließlich zwischen Korinth und Sparta, sondern gegen Sparta kämpften die verbündeten Truppen von Athen, Boiotien, Korinth, und Argos. Den Krieg hatten zunächst die Boiotier durch ihre Intervention zugunsten der Lokrer in der Grenzfehde zwischen diesen und den Phokern provoziert.93 Erst nach den ersten Kriegshandlungen und dem Zustandekommen des athenisch-boiotischen Bündnisses traten Korinth und Argos auf die Seite der Allianz.94 Somit kann die Rechtfertigung, dass der Korinthische Krieg von athenischer Seite als Hilfeleistung gegenüber Korinth zu gelten habe, schon aus dem Grund, dass Korinth erst später in den Krieg eintrat, nicht überzeugen. Lysias rechtfertigt demzufolge lediglich die Teilnahme der Athener an einer Schlacht des Krieges der Korinther gegen die Spartaner, nicht aber den ganzen Krieg. Zweitens sind die Ursachen des Korinthischen Krieges in den komplexen politischen Verhältnissen zu Beginn des 4. Jh. zu finden. Jede Polis der Allianz hatte ihre eigenen Gründe, sich gegen die Vormachtstellung Spartas in der griechischen Welt nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges aufzulehnen. Zunächst waren es die Ausschreitungen der oligarchischen Machthaber, die der spartanische Feldherr Lysandros in griechischen Poleis eingesetzt hatte; danach die Beschränkungen, die 92 Lys. 2,67. 93 Vgl. Hell. Oxyrh. 20,2 (Chambers); Xen. hell. 3,5,3ff. 94 Korinth hatte aber bereits den Lakedaimoniern die Heeresfolge gegen Boiotien verweigert. Vgl. Xen. hell. 3,5,17. 23. 82

Sparta den Einzelstaaten unter Missachtung ihrer Souveränität auferlegte, die für eine generelle antispartanische Stimmung sorgten. Auch in den Staaten, die bisher ihre Unabhängigkeit bewahrt hatten, begann man mit immer steigenderer Besorgnis auf die gewaltige Macht Spartas zu blicken.95 Dazu kommt die Rolle Persiens, das wegen der lakedaimonischen Aktionen in Kleinasien stark an einer Entmachtung Spartas interessiert war und die Allianz gegen Sparta zu diesem Zweck finanzierte.96 Den Neid der Spartaner auf den Reichtum anderer griechischer Poleis als die treibende Macht dieses Krieges zu nennen, ist eine vereinfachte Denkweise, die in Athen eher zur Darstellung Spartas als einer egoistisch handelnden Macht am Anfang des 4. Jh., also nach dem verlorenen Peloponnesischen Krieg, gehörte; es ist schwer festzustellen, weswegen Korinth zu dieser Zeit durch Sparta beneidet werden sollte.97 In erster Linie führte Sparta eine expansive Politik zum Nutzen seiner Interessen und zur Beibehaltung seiner Vormachtstellung. Der Mangel an Freiheit und der starke Unabhängigkeitswille der Verbündeten angesichts der spartanischen Gewaltherrschaft führte logischerweise zu einer negativen Stimmung (δυσμενῶς ἔχειν) und zum Hass (μισεῖν) sowie zur Furcht98 gegenüber Sparta.99 In diesem Sinne können diese emotionalen Faktoren als Kriegsgründe für die Gegner Spartas gelten. Sowohl aber das thukydideische μῖσος in Bezug auf den korinthisch-athenischen Konflikt von 461/60 als auch das μῖσος der Griechen nach dem Verfasser der Hellenika von Oxyrhynchos bezüglich des Korinthischen Krieges sind das Ergebnis politischer Entwicklungen und somit nicht als eigentliche Kriegsgründe wie die Interventionen Spartas und die davon ausgehende Verletzung der Autonomie und Unterdrückung hellenischer Poleis wahrzunehmen. Es ist nun zu untersuchen, welches Unrecht die Korinther erleiden mussten, sodass die athenische Hilfeleistung gerechtfertigt ist. Hierunter ist das lakedaimonische Intervenieren in die korinthische Innenpolitik zu verstehen, welches die Autonomie der Stadt in Frage stellte. Ähnlich waren die Spartaner in anderen Poleis, die im Korinthischen Krieg auf der Seite der Allianz standen, vorgegangen, nicht zuletzt in Athen, wo es unter spartanischer Ägide zur Herrschaft der Dreißig Tyrannen gekommen war. Allerdings war Korinth im Korinthischen Krieg am meisten betroffen, da viele Operationen in seiner Nähe stattfanden; demzufolge verzeichnete es die meisten Verluste.100 Dies brachte die oligarchischen Kräfte in Korinth dazu, einen Frieden mit Sparta in Erwägung zu ziehen, was im Jahr 392 zu einer demokratischen Revolution in der Stadt und zur Fortsetzung des Krieges führte.101 95 96 97 98

Vgl. Beloch, GG III.1, 61f. Vgl. Xen. hell. 3,5,2. Vgl. Todd, A Commentary on Lysias 267. S. Perlman (CQ 14 [1964] 64–81) stellt fest, dass hauptsächlich die Furcht vor Sparta den Krieg verursacht hätte. 99 Vgl. Hell. Oxyrh. 10,2 (Chambers). 100 Vgl. Xen. hell. 4,1,1. 101 Vgl. Xen. hell. 4,1ff.; Diod. 14,86. 91,2. 92,1. Wenn Lysias diese Ereignisse vor Auge hatte, dann spricht alles für die Datierung der Rede in die Zeit nach 392. 83

Dennoch wird im Epitaphios die βοήθεια der Athener den Korinthern gegenüber mehr unter dem Aspekt, dass diese ἀδικούμενοι im Krieg waren, und weniger anhand des vorhergegangenen politischen Intervenierens der Lakedaimonier als Rechtfertigung der Teilnahme Athens im Krieg Korinths gegen Sparta propagiert. Lysias geht einen Schritt weiter und stellt den Kampf der Athener auf der Seite Korinths gegen Sparta und seine Verbündete als einen Kampf nicht nur für die Rettung der eigenen Polis, sondern auch für die Freiheit der in diesem Krieg Verbündeten Spartas, also der Feinde Athens, dar. Die Athener seien also sogar ὑπὲρ τῆς τῶν πολεμίων ἐλευθερίας gefallen, da sie durch ihre Tapferkeit in dieser Schlacht der Bevölkerung auf der Peloponnes die sichere Knechtschaft erspart haben.102 Aus rhetorischer Sicht erlangt die Rechtfertigung der athenischen Teilnahme am Krieg gegen Sparta hier ihren Höhepunkt. Zusammenfassend gesehen lässt Lysias zwar emotionale Faktoren als Ursachen der innerhellenischen Kriege in historischer Zeit erscheinen, doch werden die Kriege Athens gegen Hellenen als gerechtfertigt dargestellt. So nimmt der Krieg Athens gegen Korinth Mitte des 5. Jh. die Form eines Verteidigungskrieges tapferer, alter oder nicht waffenfähiger Athener gegen einen ungerecht, lediglich aus Neid handelnden Aggressor an. Anders wird der Korinthische Krieg des 4. Jh., also die damals aktuellen Ereignisse, behandelt. Vorrangig wird die Teilnahme der gefallenen Athener, in Bezug auf die der Epitaphios verfasst wurde, am Krieg begründet. Ihr Vorgehen wird als selbstloser Einsatz für die ehemaligen Feinde, jetzt aber Unrecht Leidenden Korinther, gerechtfertigt. Darüber hinaus wird der Krieg aus Sicht der Athener als ein Kampf für die eigene Rettung und die Freiheit der hellenischen Welt dargestellt. Im Mittelpunkt steht, wenn auch indirekt, die Rivalität zwischen Athen und Sparta in Bezug auf die ἀρχή,103 die seit dem Gegensatz zwischen Freiheit und Gewaltherrschaft zugunsten Athens entschieden wurde. Dies wird schon durch die Zweifel am Anspruch Spartas auf die ἀρχή durch den Hinweis des Lysias auf die Seeschlacht bei Knidos, die zwar formell nicht zum Korinthischen Krieg gehört, ihn aber maßgeblich beeinflusst hat, deutlich.

2.2 Fazit Im Epitaphios werden zwei Kriegskategorien vorgestellt. Zum einen handelt es sich um Kriege zwischen Hellenen und Barbaren und zum anderen um innergriechische Kriege. Lysias unterscheidet nicht zwischen mythischer und historischer Zeit. In 102 Lys. 2,68: ἐτόλμησαν γὰρ μεγάλην ποιοῦντες τὴν ῾Ελλάδα οὐ μόνον ὑπὲρ τῆς αὑτῶν σωτηρίας κινδυνεύειν, ἀλλὰ καὶ ὑπὲρ τῆς τῶν πολεμίων ἐλευθερίας ἀποθνῄσκειν; Kartes, Epitaphios 92. 103 H.-G. Kleinow (Überwindung 188) zufolge richtet sich Lysias mit seinem Epitaphios an ganz Griechenland und fordert dazu auf, „die Vorteile für ein unter athenischer Hegemonie stehendes Griechenland den gegenwärtigen, durch Spartas Hegemonialpolitik verschuldeten Nachteilen kritisch gegenüberzustellen“. 84

Bezug auf die Rechtfertigung der Kriege Athens durchdringen drei höhere Werte die lysianischen Darstellungen wie ein roter Faden: der Gerechtigkeitssinn, die Religiosität und die Freiheitsliebe. Dabei wird emphatisch die Hilfe für Unrecht Leidende hervorgehoben;104 Ziel ist zum einen die Rechtfertigung der athenischen Teilnahme am Korinthischen Krieg und zum anderen die Propagierung einer angeblichen überzeitlichen Mission Athens, durch aktive Interventionen die Rechte anderer Hellenen zu bewahren.105 Diese Intention der Rede ist im Rahmen des Versuchs der Athener, an ihre alte Machtstellung vor der Niederlage im Peloponnesischen Krieg wieder anzuknüpfen, zu beurteilen. Die Kriege gegen die Barbaren werden in der Regel als Notwehr gesehen. Die Bestrafung der unangemessenen Ruhmsucht oder Habgier der Feinde vermag es, einen legitimen Verteidigungskrieg zu kennzeichnen. Dem Genos einer Grabrede entsprechend, wird Athen speziell wegen seines angeblich mächtigen Status als Kriegsrivale für die Barbaren attraktiv. Dadurch ist der Krieg der Athener ein Kampf für die Freiheit und die Rettung aller Hellenen. Das Recht haben die Athener selbstverständlich auf ihrer Seite. Ihre traditionell gepflegte Autochthonie ist ein weiterer Faktor, der keinen Zweifel an der Legitimation des Krieges gegen die Invasoren zulässt. Auf der anderen Seite werden die Kriege der Athener gegen andere hellenische Poleis mit dem Argument der Hilfeleistung gegenüber Schwächeren und Unrecht Leidenden sowie als ein Kampf für die Freiheit gerechtfertigt. Nach der Feststellung von P. Low (2007) kann der lysianische Epitaphios als ein typisches Beispiel gelten, in dem das Motiv τοῖς ἀδικουμένοις βοηθεῖν sowohl als ein traditionelles Element zwischenstaatlichen Verhaltens als auch als ein erstrebenswerter Aspekt der Politikgestaltung zur Abfassungszeit der Rede erscheint.106 Die auf mythische Zeiten bezogenen Kriege werden zusätzlich durch das starke Argument der Beibehaltung des sakralen Rechts legitimiert. Uralte ungeschriebene Gesetze für die Bestattung der Toten sowie religiöse Normen, die sich auf die Annahme einer Hikesie bzw. die Bestrafung einer Asebie beziehen, spielen eine bedeutende Rolle. Somit erscheint die Gerechtigkeit der so geführten Kriege bei Lysias als unbestritten. Dennoch wird als Ursache der historischen innergriechischen Kriege lediglich der Neid unter den griechischen Poleis genannt. Diese Zuordnung reflektiert die angespannten Gefühle, die die ständigen innergriechischen Kriege und Rivalitäten – besonders die, die zur Zeit des Epitaphios aktuell waren –, in Athen und in den anderen Poleis hervorriefen. Auf politische bzw. machtpolitische Ursachen für den Krieg geht der Autor nicht ein. Generell spricht er über die

104 Dies fällt im lysianischen Epitaphios trotz der Tatsache auf, dass es sich um ein Motiv handelt, das als Topos in den Grabreden vorkommt. Vgl. Low, Interstate Relations 181. 105 Vgl. Low, Interstate Relations 180f. 106 Vgl. Low, Interstate Relations 178. 85

Unrecht Leidenden Verbündeten Athens, wobei Athen seiner traditionellen Rolle als Wohltäter in der gesamten griechischen Welt entspricht.

3. Der Olympiakos Der Ὀλυμπιακός wurde von Lysias selbst vor einem panhellenischen Publikum anlässlich eines olympischen Festes vorgetragen.107 Nur der Anfang der Rede, deren Echtheit außer Zweifel steht,108 ist erhalten und wurde uns von Dionysios von Halikarnassos als Beispiel eines πανηγυρικὸς λόγος überliefert.109 Die Datierung der Rede ist umstritten. Da der Gedankengang des Lysias von einem ganz bestimmten Abfassungszeitpunkt der Rede abhängt, ist es erforderlich, der Datierungsdiskussion Aufmerksamkeit zu schenken. Diodor datiert den Olympiakos ausdrücklich ins erste Jahr der 98. Olympiade, also anlässlich der Olympischen Spiele von 388.110 Als erster vertrat dagegen G. Grote (1852) die Auffassung, Lysias habe diese Rede erst 384 gehalten. Er behauptete, dass die Angriffe des Rhetors gegen den Tyrannen Dionysios I. von Syrakus und den Perserkönig nur in die hellenische Situation nach dem Königsfrieden von 387/6, nicht aber schon in das Jahr 388 passten.111 Sein Argument ist, dass Lysias als athenischer Metöke eine so kühne öffentliche Äußerung inmitten des Korinthischen Krieges nicht gewagt hätte. Außerdem hätte Lysias vor dem Königsfrieden, als Athen noch auf die Hilfe Persiens hoffte, die Spartaner kaum als ἡγεμόνες τῶν Ἑλλήνων112 angesprochen und sich zudem nicht auf griechische Territorien bezogen, die zu dieser Zeit unter persischer bzw. barbarischer Besatzung waren.113 Obwohl diese These G. Grotes von einigen Forschern übernommen114 und von M. Gigante (1960) sogar weitergeführt wurde,115 hatte sie bereits A. Schäfer (1862) überzeugend

107 Vgl. Dion. Hal. Lys. 29; Diod. 14,109,3; Lesky, Literatur 666. 108 Vgl. Gigante, Die Olympische Rede des Lysias, in: Anastassiou/Irmer, Kleinere Attische Redner 158–193, bes. 159. 109 Vgl. Dion. Hal. Lys. 30. Zur Hypothesis der Rede vgl. Dion. Hal. Lys. 29. 110 Vgl. Diod. 14,107,1. 109,3. 111 Vgl. Grote, A History of Greece X, 103 Anm. 2; XI, 48 Anm. 1. 112 Lys. 33,7. 113 Vgl. Lys. 33,3. 114 Vgl. die Literaturangaben in: Gigante, Die Olympische Rede des Lysias, in: Anastassiou/Irmer, Kleinere Attische Redner 158–193, bes. 180f. Anm. 56; ferner Perlman, Historia 25 (1976) 1–30, bes. 20 Anm. 64. 115 Vgl. Gigante, Die Olympische Rede des Lysias, in: Anastassiou/Irmer, Kleinere Attische Redner 158- 193, bes. 180–189. Sein wichtigstes Argument ist, dass Lysias im verlorenen Teil des Olympiakos das Wort Ἰόνιος verwendet, was durch das Lexikon des Harpokration (s. v. Ἰόνιος) belegt wird. Er (a.a.o. bes. 187) sieht darin einen Hinweis des Lysias auf die Operationen des Dionysios nach 387/6 im Adriatischen Meer. Lysias könnte aber genauso gut von der Seemacht des Dionysios im Westen, also im ionischen und adriatischen Meer – so wie des Perserkönigs im 86

widerlegt116: Die politischen Argumente des Lysias lassen sich mit der Lage im Sommer 388 durchaus vereinbaren, da Dionysios I. schon eine Anzahl griechischer Städte in Unteritalien angegriffen hatte, während sich Sparta bemühte, mit Hilfe von Persien und Syrakus den Korinthischen Krieg für sich zu entscheiden und somit den Sieg um die Vorherrschaft gegen die Gegner im Mutterland zu erlangen. Zwar war Lysias kein athenischer Vollbürger, setzte sich aber für den Wiederaufstieg des demokratischen Athens nach dem Peloponnesischen Krieg vehement ein; er stand während des Korinthischen Krieges auf der Seite Konons und jener Athener, die sich aktiv gegen die Gewaltherrschaft Spartas wandten. Ein weiteres wichtiges Argument für die Datierung der Rede in das Jahr 388, das bereits A. Schäfer erkannt hatte, ist der Aufruf des Lysias an die Hellenen, den innerhellenischen Krieg zu beenden117 und mit gesammelten Kräften im Osten den Großkönig, im Westen den Tyrannen Dionysios zu bekämpfen. Als innergriechischer Krieg kann nur der Korinthische gemeint sein, der damals noch in vollem Gange war, was – über die Analyse A. Schäfers hinaus – durch den sich auf die Gegenwart beziehenden Ausdruck des Lysias καομένην τὴν ῾Ελλάδα offenkundig wird.118 Der Olympiakos wurde also aller Wahrscheinlichkeit nach im vorletzten Jahr des Korinthischen Krieges verfasst. Im Verlauf dieses Krieges war zum einen die Macht des Perserkönigs gestiegen; laut Xenophon waren spätestens im Jahr 388 ionische

Osten, also im Ägäischen Meer – im Jahr 388 berichten, wenn überhaupt Ἰόνιος in einem solchen Zusammenhang verwendet wurde. Ferner hält M. Gigante zu Unrecht eine Passage der 19. Rede des Lysias, die anscheinend aus dem Jahre 387 stammt, für einen Beleg für die spätere Datierung des Olympiakos. Lysias stellte in der Prozessrede Ὑπὲρ τῶν Ἀριστοφάνους χρημάτων den Versuch des verstorbenen Bürgers Aristophanes, den Tyrannen Dionysios I. im Jahr 393 auf die Seite Athens im Kampf gegen Sparta zu ziehen, als Zeichen der Sorge des Aristophanes für das allgemeine Wohl (vgl. Lys. 19,19f.); durch diesen Hinweis zielt der Logograph Lysias allerdings lediglich darauf ab, an die Verdienste des Aristophanes für Athen zu erinnern, wobei er keine andere Wahl hat, als sich auf die tatsächlichen Ereignisse zu stützen und zu berufen. Die Rede wurde für den Schwager des Aristophanes geschrieben und von ihm im Prozess vorgetragen. Diese Stelle kann demzufolge keineswegs als die persönliche Einstellung des Lysias gegenüber Dionysios oder als Widerspruch zu seinen im Olympiakos mit aller Deutlichkeit geäußerten eigenen Ansichten beurteilt werden. 116 Vgl. Schäfer, Philologus 18 (1862) 187–190. 117 Vgl. Lys. 33,6. 118 Vgl. Lys. 33,7; dazu Jebb, Orators I, 204 Anm. 2. Es besteht also ein Unterschied zwischen Lysias’ und Isokrates’ Aufforderung zur Beendigung des innergriechischen Krieges; Lysias bezieht sich im Olympiakos konkret auf den Korinthischen Krieg, während Isokrates im Panegyrikos (vgl. Isokr. 4,6. 15. 19. 172f.) allgemein die Beilegung der innergriechischen Konflikte als Ergebnis eines panhellenischen Krieges gegen die Barbaren vor Augen hat. 87

Gebiete in Kleinasien zum Teil wieder in persischer Hand.119 Zum anderen versuchte Dionysios I. seit 390 seine Herrschaft in Unteritalien gewaltsam auszudehnen,120 sodass er nicht nur von den unteritalischen Städten, wie Rhegion,121 sondern auch im griechischen Mutterland, in dessen Angelegenheiten er aktiv eingriff,122 als gefährlich eingestuft wurde.123 Lysias’ Befürchtung, dass in dieser Zeit der sizilische Tyrann zusammen mit dem Perserkönig ein Komplott schmiedete, um Hellas gemeinsam anzugreifen und später zu teilen,124 passt nicht in das Jahr 384, also zwei Jahre nach dem Abschluss des Königsfriedens, da dies einem offenen Bruch des bestehenden Friedens gleichgekommen wäre.125 Hier ist anzumerken, dass Isokrates im Jahr 380, als er durch seinen Panegyrikos, in dem der Einfluss des Olympiakos sichtbar ist, zum panhellenischen Krieg gegen die Perser aufruft, keine Gelegenheit verpasst hätte, um auf die Gefahr eines Angriffs des Perserkönigs trotz des bestehenden Friedensvertrags hinzuweisen. Dies wäre ein weiteres wichtiges Argument für den Bruch des Vertrags mit dem Perserkönig.126 Darüber hinaus ist es wahrscheinlicher, dass Lysias die Spartaner im Jahr 388 inmitten des Krieges als ἡγεμόνες τῶν Ἑλλήνων bezeichnete, gerade um die Entstehung eines Bündnisses zwischen Sparta, Dionysios und Persien zu verhindern, als im Jahr 384.127 Zum einen hatte Sparta bereits in den ersten Friedensjahren durch seine Interventionen

119 Xenophon zufolge herrschte im Jahr 388, also vor dem Abschluss des Königsfriedens, der kleinasiatische Satrap Tiribazos über Gebiete Ioniens. Vgl. Xen. hell. 5,1,28. 120 Vgl. Diod. 14,100,1. 121 In Unteritalien gründeten zunächst die drei griechischen Städte Kroton, Kaulonia und Sybaris sowie danach weitere Gemeinden den Italiotischen Bund mit dem Ziel, ihre Unabhängigkeit und ihre demokratische Verfassung zu verteidigen sowie Dionysios‘ Expansionspläne aufzuhalten (vgl. Pol. 2,39,3; Diod. 14,91). Dionysios griff allerdings im Jahr 390 die Stadt Rhegion an und begann kurz vor den Olympischen Spielen im Sommer des Jahres 388, diese zu belagern, bis er sie im Sommer 387 eroberte. Militärische Auseinandersetzungen gingen in den nächsten Jahren weiter. Bereits 389 musste die Stadt Thurioi durch die mit Dionysios verbündeten Leukaner eine schwere Niederlage erleiden. Im selben Jahr besiegte Dionysios den Italiotischen Bund am Fluss Eleporos vernichtend (vgl. Diod. 14,100–106. 109; Pol. 1,6,2); zur Chronologie vgl. Meyer, GdA V, 121–124; Walbank, A Historical Commentary on Polybius I, 48; Stylianou, Commentary on Diodorus 178f. 122 Dionysios leistete Sparta entscheidende Unterstützung im letzten Jahr des Korinthischen Krieges. Vgl. Xen. hell. 5,1,6. 25–29; Polyain. 2,24. 123 Vgl. Blass, Beredsamkeit I, 432. 124 Vgl. Lys. 33,8; ein entsprechendes Fragment des Ephoros (vgl. FGrHist 70 F 211) enthält konfuse und schwer datierbare Informationen. 125 Vgl. Stylianou, Commentary on Diodorus 178. 126 Dies fällt auf, da Isokrates in derselben Rede Vorwürfe gegen Sparta wegen seiner Beziehungen zu Dionysios I. und dem Perserkönig erhebt (vgl. Isokr. 4,126) und die Verwüstung Italiens sowie die Knechtung Siziliens beklagt (vgl. Isokr. 4,169). 127 Vgl. Lys. 33,7; s. dazu Kap. III. 3.1 (hier S. 90–95). 88

in den hellenischen Poleis einen negativen Eindruck als Hegemon hinterlassen,128 zum anderen hatte Lysias 384 keinen Grund, den Spartanern in Friedenszeiten die Führungsrolle einzuräumen, zumal keine Bedrohung durch eine gemeinsame Aktion Spartas, Dionysios‘ und des Großkönigs bevorstand.129 Der These von A. Schäfer bzw. der Datierung des Olympiakos ins Jahr 388 haben sich mehrere Forscher angeschlossen.130 Unter ihnen auch K.F. Stroheker, der zusätzlich beweist, dass sich Diodor in der Chronologie nicht widerspricht, wenn er im 15. Buch seines Geschichtswerkes zum zweiten Mal von der Festgesandtschaft des Dionysios I. nach Olympia berichtet.131 Lysias folgt mit seiner Rede der von Gorgias in seinem Olympikos132 von 408 eingeleiteten Tradition einer neuen Form des Panegyrikos. Nicht länger stehen sophistisch geprägte Kleinigkeiten darin, sondern es geht nunmehr um wichtige Themen wie die Eintracht unter den Hellenen und den gemeinsamen Krieg gegen die Barbaren.133 Die Stellung Athens gegenüber Sparta im Korinthischen Krieg, die Freiheit der Hellenen und der Schutz der demokratischen Verfassungen in den griechischen Städten in Unteritalien und Sizilien sowie im griechischen Mutterland waren für den aus Syrakus stammenden und in Athen lebenden überzeugten Demokraten Lysias wichtige Ausgangspunkte. Trotz der Feststellung von Isokrates, dass die Reden vor den Festversammlungen keine große Wirkung auf die politischen Entwicklungen hätten,134 sind sie bedeutende literarische Quellen für die Auffassungen der Redner im Hinblick auf wichtige zeitgenössische Angelegenheiten, die weite Kreise in Hellas erreichen konnten. Darüber hinaus blieb die Rede des Lysias nicht ohne Folgen: Sein heftiger Angriff auf Dionysios I. soll bewirkt haben, dass die Zuschauer in Olympia die Prunkzelte der syrakusanischen Festgesandtschaft

128 Vgl. Xen. hell. 5,1,32ff.; Plut. Ages. 23,3; Seager, CAH VI, 118. 129 P.J. Stylianou (Commentary on Diodorus 178) notiert demzufolge zu § 7 des Olympiakos: „Section 7 may seem a little surprising for 388, but would Lysias have dared return to Athens if he had expressed such sentiments about Sparta in 384?“ 130 Vgl. z. B. Meyer, GdA V, 264f.; Plöbst, RE XIII,2 (1927) s. v. Lysias 2533–2544, bes. 2537; Ferckel, Lysias und Athen 79 mit Anm. 488; Dobesch, Gedanke 19; Seager, JHS 87 (1967) 95–115, bes. 114 mit Anm. 186; Lesky, Literatur 666; Kleinow, Überwindung 191; Stylianou, Commentary on Diodorus 177f. 131 Vgl. Diod. 15,7,2; Stroheker, Dionysios 233f. Anm.43; auch Stylianou, Commentary on Diodorus 177ff. 132 Eher zufällig sind die Titel der Reden des Gorgias und Lysias in der Antike entsprechend in Ὀλυμπικός und Ὀλυμπιακός unterschieden worden. Vgl. Blass, Beredsamkeit I, 432 mit Anm. 3. 133 Vgl. Blass, Beredsamkeit I, 430; Lysias selbst behauptet, dass er mit dieser Rede im Gegensatz zu den Sophisten die Absicht habe, über Wichtiges zu beraten (ὑπὲρ τῶν μεγίστων συμβουλεύειν); vgl. Lys. 33,3. 134 Vgl. Isokr. 5,12. 89

plünderten.135 Dies konnte jedoch die Pläne des syrakusanischen Tyrannen nicht aufhalten.136

3.1 Kriege unter Hellenen und gegen Barbaren: Φιλία und τιμωρία Lysias legt seinem Olympiakos panhellenische Argumente zugrunde, indem er τύραννος und βάρβαρος gleichstellt.137 Die beiden Machthaber im Westen und Osten, der syrakusanische ‚Tyrann‘ und der persische ‚Barbar‘, seien die beiden großen Feinde des Hellenentums, von denen eine Allianz befürchtet werden müsse.138 Der Redner sieht die Lösung in der Beendigung des Krieges zwischen den Hellenen und in dem gemeinsamen Kampf für ihre Rettung: ὥστε ἄξιον τὸν μὲν πρὸς ἀλλήλους πόλεμον καταθέσθαι, τῇ δ‘ αὐτῇ γνώμῃ χρωμένους τῆς σωτηρίας ἀντέχεσθαι139

Dieser Satz zeigt die eigentliche Problematik in der Intention des Lysias. Wenn er über die Beendigung des innergriechischen Krieges spricht, also auf die ὁμόνοια des gorgianischen Olympikos zurückgreift,140 handelt es sich nicht um ein politisches Verhalten der Poleis zueinander, das ihnen vorübergehende Gewinne einbringen würde, sondern um die für alle gemeinsam wichtige σωτηρία der Hellenen, mit der dieser Krieg zusammenhängt. Es werden über diesen jedoch keine Gedanken und Bewertungen mit theoretischer Allgemeingültigkeit abgegeben, stattdessen bezieht sich Lysias nur auf die teilnehmenden Parteien und die anzustrebenden Gewinne für die griechischen Poleis. Den Aufruf zur Beendigung des Korinthischen Krieges verbindet Lysias gleichzeitig mit der Befürchtung eines neuen Krieges gegen den sizilischen Tyrannen und den Perserkönig.141 Die Argumentation des Lysias bezüglich der innergriechischen Feindseligkeiten ist gerade für ein panhellenisches Publikum passend. Durch den Hinweis auf den großen griechischen Heros Herakles versucht er seine eigene Zielsetzungen zu 135 Vgl. Dion. Hal. Lys. 29; Diod. 14,109,1ff.; [Plut.] mor. 836D. Aus der Hypothesis des Dionysios von Halikarnassos, dem die ganze Rede vorlag, ergibt sich zusätzlich, dass der größere Teil des verlorenen Olympiakos aus Vorwürfen gegen Dionysios I. bestand. Diodor bezeichnet zwar die Plünderung der Zelte lediglich als Reaktion der Hellenen auf die Verletzung ihres ästhetischen Gefühls, er weist aber zugleich im selben Zusammenhang auf die Angriffe des Lysias gegen den ‚gottlosen Tyrannen‘ hin. 136 S. dazu den folgenden Abschnitt. 137 Vgl. Buchner, Panegyrikos 117 mit Anm. 1. 138 Vgl. Lys. 33,8; Stroheker, Dionysios 138. 139 Lys. 33,6. 140 Vgl. Gorg. VS II 82A; dazu hier S. 107f.; ferner Kleinow, Überwindung 189f. 141 Lys. 33,8: […] οὐδ‘ ἀναμεῖναι (δεῖ), ἕως ἂν ἐπ‘ αὐτοὺς ἡμᾶς αἱ δυνάμεις ἀμφοτέρων ἔλθωσιν. 90

legitimieren.142 Er erinnert demnach seine Zuhörer daran, dass das Ideal der Eintracht in der griechischen Welt zunächst durch Herakles verwirklicht worden sei, der die Olympischen Spiele stiftete und diese als Anfang der zwischengriechischen φιλία betrachtete.143 Diese stellt den Kontrast zur gegenwärtigen φιλονικία der Griechen dar, deren Ergebnis der Verlust griechischer Territorien in Barbaren- und Tyrannenhände sei.144 Die Gründe für die zunehmende Macht des Artaxerxes II. und des Dionysios I. sieht Lysias ausdrücklich im innergriechischen Krieg.145 Der Rhetor bedauert hauptsächlich den Verlust der attischen Führungsrolle, wenn er feststellt, dass die Macht denjenigen gehöre, die die Herrschaft über das Meer innehaben. Von daher sind – unter Berücksichtigung des finanziellen Aspekts – der persische Großkönig und der Tyrann von Syrakus derzeit die eigentlichen Machthaber.146 Feinde der Hellenen sind sie jedoch, weil sie eine offensichtliche Gefahr für die ἐλευθερία der Poleis bilden. Der Krieg gegen Dionysios und das Perserreich wird demzufolge einerseits zur Verteidigung machtpolitischer Interessen Athens und andererseits zum Erhalt des höchsten Ideals der Freiheit propagiert.147 Die Griechen sollten ihren Vorfahren in ihrem Kampf gegen die Barbaren und die Tyrannen nacheifern: πρὸς τοὺς προγόνους ἁμιλλᾶσθαι148. Die Barbaren wurden damals als τῆς ἀλλοτρίας ἐπιθυμοῦντες durch den Verlust eigener Gebiete bestraft und die Tyrannen wurden vertrieben.149 Die imperialistischen Absichten der beiden Gegner rechtfertigen also nicht nur einen Verteidigungskrieg, sondern auch die Einnahme von Territorien der Angreifenden. An dieser Stelle bezieht sich Lysias eindeutig auf die attisch-persische Auseinandersetzung nach den Perserkriegen und die Expansionspolitik Athens während der Pentekontaetie.150 Indem Lysias mit dem Satz κοινὴν ἅπασι τὴν ἐλευθερίαν κατέστησαν151 das große Verdienst der Vorfahren 142 143 144 145 146 147

148

149 150 151

Vgl. Kleinow, Überwindung 194. Vgl. Lys. 33,1f. Vgl. Lys. 33,3f. Lys. 33,9: τίς γὰρ οὐκ ἂν εν ὁρῶν ἐν τῷ πρὸς ἀλλήλους πολέμῳ μεγάλους αὐτοὺς γεγενημένους; Vgl. Lys. 33,5. Die sizilische Herkunft des Lysias selbst schließt eine allgemeine feindliche Haltung gegen die sizilischen Griechen aus. Der Angriff des Rhetors wendet sich in der Tat lediglich gegen den Tyrannen von Syrakus. Vgl. Ferckel, Lysias und Athen 82. Vgl. Lys. 33,6. Obgleich das in den Codices GT und FM überlieferte μιμεῖσθαι dem in den lysianischen Ausgaben weitgehend durchgesetzten ἁμιλλᾶσθαι eher vorzuziehen ist (vgl. Gigante, Die Olympische Rede des Lysias, in: Anastassiou/ Irmer, Kleinere Attische Redner 158–193, bes. 175), ändert sich der Sinn des Satzes nicht. Vgl. Lys. 33,6. Es handelt sich um die Leistungen des Kimon, der das erklärte Ziel des Seebundes hinsichtlich eines Angriffs auf Territorien des persischen Großkönigs (vgl. Thuk. 1,96,1) verwirklichte. Vgl. Bellen, Chiron 4 (1974) 44–67, bes. 51 Anm. 51. Lys. 33,6. 91

zusammenfasst, handelt es sich in der Tat um das proklamierte Ziel des DelischAttischen Seebundes und dessen politische Rehabilitation. Da es aber zunächst um die Rettung der griechischen Poleis geht, nutzt der Rhetor die Gelegenheit, auf die Verdienste Spartas in den Perserkriegen zurückzugreifen. Die Lakedaimonier sollten als ἡγεμόνες τῶν Ἑλλήνων nun ihre Rolle als σωτῆρες erneut wahrnehmen und somit auch für sich selbst die ewige Freiheit sichern.152 Aus zwei Gründen befremdet hier zunächst die lysianische Einstellung gegenüber Sparta. Erstens war der athenische Metöke ein bewusster Demokrat, aus dessen Reden hervorgeht, dass er, besonders nach seinen persönlichen Erfahrungen unter den Dreißig Tyrannen, in Sparta einen traditionellen Feind für die Demokratie sah.153 Zweitens räumt der Rhetor den Spartanern die Führungsrolle in der griechischen Welt ein, und dies zu einem Zeitpunkt, als sich Athen mit seinen Verbündeten im Krieg gegen Sparta befand. Offensichtlich beruhen die von Lysias vertretenen Anschauungen nicht auf einer festen, politischen Überzeugung, sondern scheinen situationsbedingt zu sein. Denn zu diesem Zeitpunkt näherten sich sowohl Dionysios I. als auch das Perserreich Sparta an. Zum einen hatten die Athener die Beteiligung des athenischen Nauarchen Konon im Jahr 394 an der Seeschlacht bei Knidos als Oberbefehlshaber der persischen Flotte toleriert, wenn nicht sogar gefördert.154 Der Perserkönig verfolgte in den Jahren danach eine athenfreundliche Politik, die er allerdings im Jahr 392/1 ab den ersten Friedensverhandlungen durch den Spartaner Antalkidas mit dem persischen Strategen Tiribazos allmählich zugunsten Spartas änderte.155 Zudem hatte sich die machtpolitische Gesamtkonstellation im Ägäisbereich verändert.156 Zum anderen hatten die Athener gleich nach der Seeschlacht bei Knidos versucht, Verbindungen zum mächtigen syrakusanischen Machthaber zu knüpfen, um ihn für ihre Sache zu

152 Vgl. Lys. 33,7. 153 Dies geht aus den Reden Κατὰ Ἐρατοσθένους (Lys. or. 12) und Περὶ τοῦ μὴ καταλῦσαι τὴν πάτριον πολιτείαν Ἀθήνησι (Lys. or. 34), die Lysias in eigener Sache verfasst hat, hervor; außerdem wird es von einigen Reden, die er als Logograph schrieb – und die daher nicht unbedingt mit seinen persönlichen Ansichten übereinstimmen mussten – bestätigt (vgl. Lys. 12,58. 60; 34,6. 11; auch 13,14f. 34; 14,30; 18,15; 30,22). Eine potentielle Herrschaft der Lakedaimonier nach 404 in Athen würde für Lysias gleichbedeutend mit δουλεία sein (vgl. Lys. 26,2. 19; 14,34), der gegenüber der Tod als das geringere Übel vorzuziehen sei (vgl. Lys. 34,6. 11). 154 Vgl. hier S. 35. 155 Die Spartaner schickten Antalkidas nach Sardeis, damit durch Verhandlungen mit Tiribazos ein Frieden mit dem Großkönig erwirkt würde. Daraufhin unterstützte Tiribazos bereits vor der Entscheidung des Großkönigs Antalkidas heimlich mit Geld. Vgl. Xen. hell. 4,8,12–17; Urban, Königsfrieden 60f. 156 Vgl. Funke, Homónoia und Arché 149f. mit Anm. 60. Im Jahr 390 hatten die Athener keine Bedenken, dem kyprischen König Euagoras in seinem Konflikt mit Persien militärische Hilfe zu leisten (vgl. Xen. hell. 4,8,24; Lys. 19,21f. 43). Der Wechsel der persischen Politik wird durch die Ablösung des Satrapen Struthas durch den spartafreundlichen Tiribazos in Kleinasien 389/8 signalisiert (vgl. Xen. hell. 5,1,6). 92

gewinnen.157 Dionysios blieb allerdings seinem alten Verbündeten Sparta, das ihm 396 zu seinem schwierigen Kampf gegen die Karthager militärische Unterstützung gesandt hatte, treu.158 Es gab demzufolge politische Gründe, nämlich das Verhältnis des Dionysios zu Sparta, weshalb in Athen Ressentiments gegen den sizilischen Tyrannen existierten.159 Im überlieferten Teil des Olympiakos verschweigt Lysias die athenische Annäherungsversuche an Dionysios und Persien. Ebenfalls untersucht er nicht die Rolle Athens bei dem Aufstieg Persiens zur führenden Seemacht anstelle Spartas.160 Lysias ist in dieser Zeit wegen der Verhandlungen, die Sparta in der ersten Hälfte des Jahres 388 sowohl mit Dionysios als auch mit Persien aufgenommen zu haben scheint,161 tief besorgt. Der Rhetor hat allerdings die politische Situation richtig eingeschätzt, denn in den Monaten nach seinem Olympiakos verhandelte der Spartaner Antalkidas erneut mit Persien, was schließlich zum Königsfrieden führte;162 die Athener stimmten der Beendigung des Korinthischen Krieges nur unter Zwang zu, weil Antalkidas als spartanischer Nauarch, nachdem seine Flotte durch Hilfeleistung durch die damaligen kleinasiatischen Satrapen Tiribazos und Ariobarzanes sowie des Dionysios wesentlich verstärkt wurde, die Meerengen am Hellespont blockierte und dadurch die Getreidezufuhr vom Schwarzmeergebiet nach Athen unterband.163 Das im Olympiakos propagierte Einverständnis zwischen Athen und Sparta im Namen der griechischen Eintracht kann demzufolge als „klug erdachter Schachzug“164 des Lysias betrachtet werden, da es der letzte Ausweg für Athen war, die Niederlage im Korinthischen Krieg gegen eine potentielle starke Allianz 157 Vgl. das athenische Ehrendekret für Dionysios: IG II² 18 = Syll. I³ 128 = Tod II 108; dazu Funke, Homónoia und Arché 106 Anm. 13. Zur selben Zeit sandte Konon eine Gesandtschaft nach Syrakus (vgl. Lys. 19,19f.; Funke, Homónoia und Arché 130f.). 158 Die Spartaner pflegten traditionell gute Beziehungen zu Dionysios. Da sie sich in den 390er Jahren als Vorkämpfer der hellenischen Freiheit ausgaben und gegen die Perser für die Freiheit der Hellenen in Kleinasien kämpften, gingen sie mit ähnlicher Rhetorik in Sizilien vor. Sie sandten ein Hilfskorps von 30 Trieren unter dem Kommando des Nauarchen Pharakidas und lieferten somit entscheidende Unterstützung zugunsten des Dionysios, nicht aber zugunsten der von seiner tyrannischen Herrschaft unterdrückten Sizilier. Vgl. Diod. 14,63,4. 70,2; Meyer, GdA V, 106 mit Anm 1. 159 Vgl. Perlman, Historia 25 (1976) 1–30, bes. 20f. 160 Ed. Meyer (GdA V, 265) notiert treffend, Lysias verschwiege wohlweislich, „daß es Athen gewesen war, das mit seinen Bundesgenossen den Krieg in Hellas entzündet und den Perserkönig, den Sparta bekriegte, zur entscheidenden Macht im Ägäischen Meer erhoben hatte“. 161 Vgl. Meyer, GdA V, 264. 162 Vgl. Xen. hell. 5,1,25; Diod. 14,110,1–4; Plut. Art. 21f. 163 Vgl. Xen. hell. 5,1,6. 25–29; Polyain. 2,24; Beloch, GG III.1, 94. 118; Bengtson, GG 270; Funke, Homónoia und Arché 100f. 164 Ferckel, Lysias und Athen 83. 93

Spartas mit Dionysios oder mit dem Perserkönig zu vermeiden. Lysias spricht nun die Spartaner als Anführer der Hellenen an, um dadurch den krassen Gegensatz zur Preisgabe der Hellenen Kleinasiens und Unteritaliens gerade durch Sparta zu betonen und deutlich zu machen, dass Sparta seine außenpolitische Linie ändern müsste, wenn es die Rolle des Hegemons behalten wollte.165 Außerdem sprach Lysias im Olympiakos zwar im Einvernehmen mit Athen, aber nicht im Namen Athens, und von daher tat das Lob für Sparta dem Prestige Athens keinen Abbruch.166 Zusätzlich schließt die Führungsrolle – nicht die Herrschaft ˗167 Spartas in Hellas eine gleichzeitige hegemoniale Stellung Athens nicht aus, denn Lysias bezieht sich im Anschluss an die Bezeichnung der Spartaner als ἡγεμόνες auf die Rettung von ganz Hellas durch diese in der Vergangenheit (ἐν τοῖς παρεληλυθόσι κινδύνοις σωτῆρας γενομένους τῆς ῾Ελλάδος)168, also gerade in den Perserkriegen, in denen Athen ebenfalls erfolgreich als Hegemonialmacht aufgetreten war. Der Hinweis auf Spartas Hegemonie in Hellas sollte demzufolge zum einen im Rahmen eines Appells an ein panhellenisches Publikum zur Beendigung des Korinthischen Krieges und zum anderen als ein Versuch, eine Koalition Spartas mit Dionysios und dem Großkönig zu verhindern, beurteilt werden. Um diese Ziele zu erreichen, zögert Lysias nicht, über die Beendigung des innergriechischen Krieges hinauszugehen und von einem gemeinsamen Kampf gegen die auswärtigen Feinde zu sprechen. Die Gefährdung der Freiheit der Hellenen Unteritaliens und Kleinasiens sowie die vergangenen Angriffe der Perser gegen Hellas sieht Lysias als Indizien einer immanenten Bedrohung für die griechischen Poleis. Demnach sollten diese nicht den Angriff auf die griechische Freiheit abwarten, sondern gemeinsam den Krieg aus praktisch-militärischen Gründen schon jetzt gegen beide Feinde führen.169 Diese Form eines Präventivkrieges unterstützt Lysias mit Argumenten für das in der griechischen Welt legitimierte Vergeltungsprinzip. Zum einen sollte dem Hochmut (ὕβρις) der Feinde ein Ende gesetzt werden; zum anderen sei eine Bestrafung (τιμωρία) für τὰ αἰσχρά und τὰ δεινά, die sie aufgrund ihres Vorgehens verursacht hätten, geboten.170 Somit bekommt mit Lysias der Barbarenhass einen aktuellen Bezug und es entsteht das Konzept des Rachefeldzuges gegen die Barbaren, das Isokrates acht Jahre später in seinem Panegyrikos übernommen und vervollständigt hat.171 Lysias schlägt also einen Krieg im Namen der hellenischen Freiheit und zur Bestrafung der Tyrannen und Barbaren vor. Dadurch zielt er einerseits darauf ab, seiner von Dionysios unterdrückten Heimat Syrakus sowie den sich in Gefahr befindenden sizilischen und italiotischen Städten wie z. B. Thurioi, wo er einige Jahre seines Lebens verbracht hatte, Unterstützung zu bieten, sodass ihre Autonomie 165 166 167 168 169 170 171 94

Vgl. Seager, JHS 87 (1967) 95–115, bes. 114. Vgl. Ferckel, Lysias und Athen 83f. Es ist kein Zufall, dass Lysias hier den Begriff ἡγεμονία der ἀρχή vorzieht. Lys. 33,6. Vgl. Lys. 33,8. Vgl. Lys. 33,9. Vgl. Bellen, Chiron 4 (1974) 44–67, bes. 51.

und demokratische Verfassung gesichert wären; andererseits sucht er seine zweite Heimat, das demokratische Athen, vor einer Niederlage im Korinthischen Krieg zu schützen und ihr zum Wiederaufstieg zur Hegemonialmacht zu verhelfen.172

3.2 Fazit In der überlieferten Einleitung des Olympiakos sind die Ansichten von Lysias über die zwei Kriegsformen, den gegenwärtigen innergriechischen und den potentiellen künftigen Angriffskrieg gegen auswärtige Feinde, erläutert. Krieg unter Hellenen darf prinzipiell nicht stattfinden, da das allgemeine griechische Ideal die φιλία sein sollte. Deswegen sollte dem Korinthischen Krieg ein schnelles Ende bereitet werden. Jedoch ist der Krieg gegen einen griechischen, nicht mutterländischen Tyrannen, der die Freiheit anderer Griechen gefährdet, ebenso gerechtfertigt und geboten wie der gegen einen Barbaren. In diesem Fall wäre sogar ein Präventivkrieg die optimale Lösung, da es um die Rettung sowohl der unterdrückten Hellenen Unteritaliens als auch der Hellenen des Mutterlandes geht. Dasselbe gilt auch in Bezug auf einen Angriffskrieg gegen die Perser, den Lysias durch die Forderung zur Nachahmung der Vorfahren propagiert. Hier wird der Präventivkrieg nicht nur durch die Argumente der Rettung und der Verteidigung der eigenen Freiheit, sondern auch durch die Anwendung des Vergeltungsprinzips gegenüber dem persischen Übermut und dem feindseligen, imperialistischen Vorgehen gegen die Hellenen in der Vergangenheit gerechtfertigt. Lysias’ Gedanken sind allerdings unter Berücksichtigung der Lage Athens im letzten Jahr des Korinthischen Krieges, die aufgrund der Annäherung Spartas an Dionysios I. und das Perserreich verschlechtert wurde, zu sehen. Der Redner versucht eine klare Trennung zwischen den freien hellenischen Poleis Unteritaliens und des Mutterlandes – Sparta eingeschlossen – auf der einen Seite und der Tyrannenherrschaft des Dionysios sowie der Barbaren auf der anderen Seite zu ziehen. Deswegen zögert er nicht, Sparta vor einem panhellenischen Publikum als Kämpfer für die hellenische Freiheit eine Führungsrolle einzuräumen. Dadurch will er ein Bündnis Spartas mit den zwei wichtigsten auswärtigen Mächten verhindern; er sah darin die Chance, die sich daraus vermutlich ergebende Niederlage der Korinthischen Allianz sowie die weitere Gefährdung der italiotischen Griechen abzuwenden. Um die angestrebten Verhältnisse deutlich zu machen, stellt Lysias Dionysios wie auch Artaxerxes II. als die eigentlichen Feinde des Hellenentums, die bestraft und präventiv bekämpft werden müssten, dar.

172 Zur diesbezüglichen Einschränkung des Panhellenismus des Lysias vgl. Perlman, Historia 25 (1976) 1–30, bes. 19ff. 95

IV. Isokrates 1. Isokrates und seine zu untersuchenden Reden Der Redner Isokrates aus dem attischen Demos Erchia wurde als Sohn des wohlhabenden Flötenherstellers Theodoros im Jahr 436 in Athen geboren und ist im Alter von 98 Jahren kurz nach der Schlacht bei Chaironeia im Jahr 338 gestorben.1 Sein Leben erstreckte sich also über den Zeitraum, in dem das perikleische Athen auf der Höhe seiner Macht war, bis zum Anfang des Verfalls der griechischen Poleis nach dem Sieg des Makedonenkönigs Philipp II. über die Koalition von Athen, Theben und anderen hellenischen Poleis. Die Periode des eigentlichen Wirkens des Isokrates fällt in die Zeit nach 400, sodass man ihn nicht nur als einen Mann des 4. Jh., sondern auch als „signifikanten Vertreter dieses Zeitabschnittes“2 bezeichnen kann.3 Isokrates erhielt eine mehrjährige Ausbildung. Der Überlieferung nach war er Schüler der Rhetoriklehrer Prodikos, Teisias und Theramenes, die dem Kreis der Sophisten zugerechnet werden. Am meisten hat ihn aber zweifelsohne sein Lehrer Gorgias aus Leontinoi geprägt, der sein rhetorisches Vorbild wurde und dessen politisches Programm er in wesentlichen Punkten fortsetzen wollte.4 Darüber hinaus machte er sich mit Schriften vertraut, die Ende des 5. bzw. Anfang des 4. Jh. publiziert wurden, wobei das Werk des Thukydides ihn besonders beeinflusst haben soll.5 Auch soll er Sokrates kennengelernt haben, gehörte aber nicht zum Kreis seiner Schüler.6

1 Die biographische Tradition über Isokrates geht auf den griechischen Biographen Hermippos von Smyrna des 3. Jh. v. Chr. zurück (vgl. Hermipp. FGrHist 1026 F 42–54; dazu Bollansée, FGrHist IV A 3, Komm. S. 367–427); zu ihrer Dokumentation vgl. auch: Dion. Hal. Isoc. 1; [Plut.] mor. 836E-839D; Phot. Bibl. 486b–488a; Suda s. v. ᾿Ισοκράτης; die anonyme Vita auf der Rückseite eines Papyrus des 2. Jh. n. Chr. aus Oxyrhynchos (vgl. POxy 3543) sowie eine anonyme vermutlich Zosimos von Askalon zuzuschreibende Vita. Autobiographische Angaben finden sich in der Antidosisrede, Isokr. or. 15. Dazu auch Blass, Beredsamkeit II, 8–100; Jebb, Orators II, 1–35; Münscher, RE IX,2 (1916) s. v. Isokrates [2] 2146–2227, bes. 2146–2156; Thraede, RAC 18 (1998) s. v. Isokrates 1027–1048, bes. 1027ff.; Weißenberger, DNP 5 (1998) 1138–1143, bes. 1138f.; Walter, Isokrates, in: Brodersen, Große Gestalten 193–200. 2 Lesky, Literatur 654. 3 Vgl. Mikkola, Isokrates 16. 4 Vgl. Dion. Hal. Isoc. 1.; [Plut.] mor. 838D. Durch Isokrates gelangte die Kunstprosa gorgianischer Tradition auf ihren Höhepunkt. Vgl. Lesky, Literatur 655; Degani, Griechische Literatur, in: Nesselrath, Einleitung in die griechische Philologie 171–245, bes. 218. 5 Vgl. Mathieu, RPh 42 (1918) 122–129. 6 Vgl. Blass, Beredsamkeit II, 11; Mathieu, Ιδέες 56. 97

Als das Familienvermögen des Isokrates in der letzten Phase des Peloponnesischen Krieges7 verloren ging, begann er seine erworbenen Rhetorikkenntnisse als bezahlter Logograph auszuüben.8 Um 390 gründete er seine Schule für Redekunst und Bildung in Athen. In den folgenden 50 Jahren übte er seine Lehrtätigkeit aus und verfasste zugleich Reden über sein Bildungskonzept sowie über zentrale politische Themen seiner Zeit.9 Er war also im Athen des 4. Jh. als Rhetoriklehrer und Publizist tätig, wobei er seine pädagogische Tätigkeit in beiden Bereichen seines Wirkens hervorhob.10 Somit ist er nach W. Jaeger (1947) der Erbe der sophistischen und rhetorischen Bildung der perikleischen Zeit in der Nachkriegsperiode und der eigentliche Vollender der sophistischen Bildungsbewegung.11 Seine Rhetorik verstand Isokrates als ein Erziehungskonzept und nannte es ‚Philosophie‘.12 Er unterschied dieses aber von der zeitgenössischen Philosophie der Sokratiker und des Platon.13 Seine Schriften sollten dem Ziel der praktischen Erziehung zum politischen Leben dienen. Wichtig in Bezug auf die Erkenntnis der Wirklichkeit war für ihn also nicht die wissenschaftliche Einsicht, da sicheres Wissen zwar möglich aber nutzlos sei, sondern die lebenspraktische Erfahrung.14 Ferner betonte Isokrates den Unterschied seiner ‚Philosophia‘ bzw. Rhetorik „sowohl von der sophistischen τέχνη einer formalen und neutralen ‚Allgemeinbildung‘

7 Es handelt sich vermutlich um die Phase nach der Besetzung von Dekeleia 413 durch Sparta. Infolge der steigenden Not in Athen aufgrund des Dekeleischen und Ionischen Krieges (413–404) verarmte mit vielen anderen auch Isokrates’ Vater. Vgl. dazu Isokr. 15,161; Blass, Beredsamkeit II, 14. 8 Zwischen ca. 403 und dem Ende der 390er Jahre betätigte er sich als Logograph. Vgl. Weißenberger, DNP 5 (2001) 1138–1143, bes. 1138f. 9 Zur Gründung seiner Rhetorikschule vgl. Isokr. 15,193; dazu Weißenberger, DNP 5 (2001) 1138–1143, bes. 1138f. 10 A. Lesky (Literatur 659) sieht im Werk des Isokrates die Vereinigung des Erziehers, des politischen Publizisten und des Sprachkünstlers. 11 Vgl. Jaeger, Paideia III, 107. 109. 12 Vgl. Isokr. 13,1. 11; 11,1; 10,6. 66; 14,270f. Zum Begriff ‚Philosophia‘ bei Isokrates vgl. Jaeger, Paideia III, 108ff.; Mikkola, Isokrates 201ff.; Pointner, Die Verfassungstheorie des Isokrates 5; Eucken, Isokrates 14–18. 13 Vgl. Isokr. 10,4ff.; 15,260–263. 269. Dazu: Jaeger, Paideia III, 110: „Die Rhetorik, nicht die Philosophie im platonischen Sinne, erschien dem Isokrates als die geistige Form, die den politischen und ethischen Ideengehalt der Zeit am vollkommensten in sich auszuprägen und zum Allgemeingut zu machen fähig war.“ Das angeblich antagonistische Verhältnis des Isokrates zu Platon wegen des divergierenden Bildungsideals, die sie vertraten, ist Anlass für zahllose Diskussionen in der modernen Forschung. Zur Beurteilung des Verhältnisses der ‚Philosophie‘ sowie der Bildungsideale des Isokrates und Platons vgl. Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum 135f.; Steidle, Hermes 80 (1952) 257–296, bes. 280; Eucken, Isokrates 6–12. 56–62; Ober, Antidosis, in: Poulakos/Depew, Isocrates 21–43, bes. 26f. 14 Vgl. Robling, Redner und Rhetorik 105. 98

(παιδεία) als auch von der speziellen τέχνη der Gerichtsrede“15. Den Sokratikern, die er ‚Eristiker‘ nannte, warf er vor, dass ihre Lehre, wie auch die der Redelehrer, bei der praktischen Bewältigung konkreter Situationen versage.16 Im Gegensatz zu ihnen sollte laut Isokrates der gebildete Mensch in der Lage sein, “sich die gute Lösung einfallen zu lassen (ἐπιτυγχάνειν) oder doch die am wenigsten schlechte, die am besten mit der gegebenen Lage (καιρός) übereinstimmt, und dies, weil er eine richtige ‚Meinung‘ (δόξα) hat.“17 Isokrates’ Rhetorik steht demzufolge in der Mitte zwischen dem platonischen Idealismus und dem extremen Relativismus des Gorgias und der anderen Sophisten.18 Kennzeichnend für die Rhetorik des Isokrates ist die Tatsache, dass er aufgrund seiner angeblich schwachen Stimme im Gegensatz zu den aktiven Rednern seiner Zeit nie öffentlich aufgetreten ist,19 was ihn von den Tagespolitikern und ihren Zielen wesentlich unterscheidet.20 Er selbst hielt sich für einen schreibenden Redner und hat zumindest die Form der Rede in seiner Publizistik stets bewahrt. Am Hauptziel des Redens, den Zuhörer zu überzeugen, hat er festgehalten und die traditionelle Aufgabe des Beratens von der mündlich-performativen Rhetorik in seine Publikationen übernommen.21 Während Isokrates in seiner Anfangstätigkeit als Logograph lediglich Gerichtsreden schrieb, sind seine Reden nach der Schulgründung Muster der neuen Beredsamkeit, die er in seiner Schule lehrte. Sie hatten epideiktischen und meistens auch symbuleutischen Charakter und dienten zur feierlichen Verlesung. Darüber hinaus wurden sie als Flugschriften gezielt veröffentlicht, sodass durch ihre publizistische 15 16 17 18

Wolf, Griechisches Rechtsdenken III.2, 251. Vgl. Robling, Redner und Rhetorik 105. Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum 135. Vgl. Benoit, Rhetoric Society Quarterly 20 (1990) 251–259, bes. 254–257; Behme, Rhetoric Review 23 (2004) 197–215, bes. 210. 19 Isokrates behauptete selbst, zum Auftritt als politischer Redner fehle ihm eine kräftige Stimme (φωνή ἰκανή) und persönlicher Wagemut (τόλμη) (vgl. Isokr. 5,81f.; 12,10; ep. 8,7; dazu Cic. de orat. 2,10). Dies kann jedoch lediglich ein rhetorischer Topos sein. Isokrates hielt wahrscheinlich seine Einflussnahme auf die Politik für effektiver und langfristiger. Vgl. dazu Pownall, From Orality to Literacy: The Moral Education of the Elite in Fourth-Century Athens, in: Cooper, Politics of Orality 235–249, bes. 240. Laut G. Heilbrunn (Hermes 103 [1975] 154–178, bes. 157ff.) sieht Isokrates seinen Mangel an Wagemut nicht wirklich als Schwäche, denn Wagemut ist nach isokrateischer Ansicht ein wesentlicher Nachteil der derzeitigen attischen Demokratie. Diese Ansicht teilt auch Y.L. Too (Identity 74–112). 20 Vgl. dazu detailliert Piepenbrink, Die „aktiven“ Redner, in: Orth, Isokrates 41–61. Laut W. Jaeger sei das Denken des Isokrates zunächst doch so wie das der Realpolitiker auf das Erlangen von Macht, Ruhm, Prosperität, Expansion orientiert. Erst durch seine Erfahrungen seien diese Ziele später teilweise modifiziert worden. Vgl. Jaeger, Paideia III, 111. 21 Vgl. Usener, Isokrates und sein Adressatenkreis, in: Orth, Isokrates 18–33, bes. 19f. mit Belegen. 99

Verbreitung weitere Adressatenkreise erreicht wurden.22 Die Vorteile der schriftlich publizierten gegenüber der in der Volksversammlung vorgetragenen Reden sind evident: Als rhetorische und politische Pamphlete konnten die Reden ein möglichst großes Publikum ohne zeitliche und räumliche Begrenzung erreichen sowie unter einzelnen Lesern oder in Lektüregruppen zirkulieren und somit immer wieder neu in die Öffentlichkeit treten.23 Zweifelsohne war es gerade Isokrates’ Ziel, eine möglichst weite Verbreitung seiner editierten Schriften zu erreichen.24 Die Hörer der Schriften sollten im Idealfall die Reden auch aktiv lesen und kritisch mit ihnen umgehen können.25 In der Tat richteten sich die politischen Reden und Sendschreiben des Isokrates zunächst an die Elite eines gebildeten Lesepublikums und sind mit offenen Briefen und überdimensionierten Leitartikeln vergleichbar. Als intellektuelle Elite betrachtete Isokrates seine Schüler und Anhänger, in denen er die künftigen Führungspersonen verschiedener Poleis sowie die Multiplikatoren26 seiner moralischen Prinzipien und politischen Vorstellungen sah. Dadurch hatte er, ohne selbst aktiv an Volksversammlungen teilzunehmen, einen Weg gefunden, indirekt auf die Politik einzuwirken und die Durchsetzung seiner politischen Vorstellungen voranzutreiben.27 Es ist nicht ohne Bedeutung, dass sich unter den Schülern des Isokrates in der Zukunft führende Politiker und Strategen sowie wichtige Geschichtsschreiber des 4. Jh. befanden, die sowohl aus Athen als auch aus anderen Staaten der hellenischen Welt stammten.28 Fraglich ist es zwar, inwieweit der Rhetor durch seine Schüler unmittelbar auf

22 Vgl. Lesky, Literatur 656; Jaeger, Paideia III, 114. 23 Vgl. Bons, Mnemosyne 46 (1993) 160–171; Usener, Isokrates und sein Adressatenkreis, in: Orth, Isokrates 18–33, bes. 21. 24 Vgl. Lesky, Literatur 662. E. Mikkola (Isokrates 272) notiert in Bezug auf das isokrateische Sendschreiben Philippos, es wurde von Tausenden und Abertausenden gelesen. 25 Vgl. Usener, Isokrates, Platon und ihr Publikum. Hörer und Leser von Literatur im 4. Jahrhundert v. Chr. 47f. 65ff. 82f. 86–97. 26 Da aber Isokrates selbst seine Schüler zum aktiven Lesen und Zweifeln aufforderte, eröffnete er ihnen die Möglichkeit, auch individuell als unterschiedliche Interpreten seiner leitenden Gedanken zu wirken. Vgl. Engels, Schüler des Isokrates, in: Orth, Isokrates 175–194, bes. 194. 27 Vgl. Bringmann, Redeliteratur, in: Orth, Isokrates 7–17, bes. 13; Pownall, From Orality to Literacy: The Moral Education of the Elite in Fourth-Century Athens, in: Cooper, Politics of Orality 235–249, bes. 240. 28 Zu erwähnen sind z. B. die athenischen Strategen Timotheos (Sohn des Konon) und Diophantos; die Rhetoren Leodamas, Lykurgos, Hypereides, Kephisodoros, Philiskos von Milet und vermutlich Aischines; der berühmte Logograph Isaios; die Historiker Theopompos von Chios und Ephoros von Kyme; die im Dienste Philipps II. wirkenden Politiker Diodotos aus Kleinasien und Python aus Byzanz; Nikokles, der Sohn des kyprischen Königs Euagoras; der Rhetor und Dichter Theodektes von Phaselis. Vgl. Engels, Schüler des Isokrates, in: Orth, Isokrates 175–194, bes. 181ff. 100

konkrete politische Entscheidungen, Kriegführung und Geschichtsschreibung29 einwirken konnte, seine Schüler wurden aber in bestimmtem Ausmaß bezüglich leitender politischer Gedanken und ethischer Prinzipien von ihrem Lehrer beeinflusst.30 In ihren hinterlassenen Werken sind jedoch keine Positionen zu erkennen, die sie und ihren Lehrer im politischen Sinne verbunden hätten. Die Existenz bestimmter Gruppen von Rhetoren und Strategen, die unter der Leitung des Isokrates wirkten, kann man jedenfalls ausschließen.31 Schon unter den Zeitgenossen galt Isokrates sowohl in Athen als auch in anderen Poleis und Königreichen der hellenischen Staatenwelt als ein politischer Schriftsteller und Rhetoriklehrer von erheblichem Einfluss.32 Dies erklärt sich durch die Tatsache, dass sich noch zu seinen Lebzeiten oder zumindest bereits in der ersten Generation nach seinem Tod prominente Autoren mit seinem Leben und seiner Tätigkeit als Lehrer befasst haben.33 Die starke Wirkung des Isokrates und seiner Schule, die über die Antike hinausreicht, polarisiert einerseits durch die früh entstandenen Vorwürfe gegen ihn wegen angeblicher geistiger Mittelmäßigkeit und Mangels an Originalität,34 andererseits durch seine starken schöpferischen Impulse.35 Die moderne Rezeption des Isokrates seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts hat im Gegensatz zur älteren Ansicht, die in ihm lediglich den Moralisten sah, seine Rolle als einflussreicher politischer Publizist betont.36 E. Meyer (1902) hielt Isokrates

29 Laut D. Nickel (Philologus 135 [1991] 233–239, bes. 236) hat Isokrates seine Schüler Ephoros von Kyme und Theopomp von Chios und somit die Historiographie des 4. Jh. in dreierlei Hinsicht beeinflusst: im methodologischen Ansatz, in der Auffassung von der paradigmatischen Funktion der Geschichte und in der Anwendung stilistischer Mittel zur künstlerischen Gestaltung. 30 Vgl. Beloch, GG III.1, 525. 31 Vgl. Engels, Schüler des Isokrates, in: Orth, Isokrates 175–194, bes. 193f. 32 Vgl. Engels, Schüler des Isokrates, in: Orth, Isokrates 175–194, bes. 175 mit Anm. 3; Lesky, Literatur 662. 33 Es handelt sich um Werke des Phainias von Eresos, Idomeneus von Lampsakos, Philiskos von Milet, Lakritos von Phaselis, Demetrios von Phaleron und Theophrastos von Eresos. Allerdings ist uns aus diesen Werken sehr wenig fragmentarisch überliefert. Vgl. dazu Engels, Schüler des Isokrates, in: Orth, Isokrates 175–194, bes. 183f. mit Anm. 31–35. 34 Auf die Originalität seiner Ideen und Gedanken verzichtet Isokrates selbst. Vgl. Isokr. 4,10. 35 Vgl. Lesky, Literatur 654. Dies bemerkt bereits Cicero (de orat. 2,94), der die Schule des Isokrates mit dem troianischen Pferd verglich: tamquam ex equo Troiano meri principes exierunt. Cicero weiß demnach Isokrates hoch zu schätzen. Vgl. Cic. Brut. 32; de orat. 2,57; 3,36. 36 Vgl. Jaeger, Areopagitikos, in: Seck, Isokrates 139–188, bes. 139f.; ders., Paideia III, 113f.; Bringmann, Studien 13ff. Die Bemühungen im Deutschland des 19. Jh. um die nationale Einigung spielten bei einigen Forschern bis zum Anfang des 20. Jh. eine Rolle; diese sahen im Hellas des 4. Jh. eine historische Analogie und in Isokrates 101

für den politischen Wortführer der hellenischen Nation.37 K. J. Beloch (1922) notierte dazu: „War doch damals die Rhetorik in Griechenland eine Macht, und Isokrates ihr gefeiertster Lehrer. Was er schrieb, wurde gelesen von einem Ende zum andern der hellenischen Welt. (…) Die Stimme eines solchen Mannes fand einen Widerhall, wie kaum die eines zweiten.“38 Wenn diese Aussagen auch hyperbolisch klingen,39 stimmen die meisten Forscher darin überein, dass Isokrates die Politikgestaltung seiner Zeit in vielen Fällen40 beeinflusst hat.41 Es muss jedoch stets im Auge behalten werden, dass die öffentlichen Schriften des Isokrates hauptsächlich im Dienste des Erziehungsprogramms seiner Schule standen.42 Er hat aber erkannt, dass die Rhetorik nur dann zur Trägerin einer politischen Bildung wird, wenn sie fähig ist, der Politik Ziele zu setzen.43 Isokrates nimmt zwar eine Sonderrolle, aber trotzdem eine zentrale Stelle in der attischen Rhetorik des 4. Jh. ein; im Folgenden sollen seine Ansichten speziell in Bezug auf die Kriegsrechtfertigung untersucht werden. Dazu werden jene Reden und Sendschreiben in Betracht gezogen, in denen der Autor Stellung zu bedeutenden politischen Themen der Zeit bezieht. Es handelt sich um Schriften, die nach der

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einen Vorkämpfer der Einigung der Hellenen seines Zeitalters. Vgl. Weißenberger, DNP 5 (1998) 1138–1143, bes. 1141ff.; vgl. dazu Beloch, GG III.1, 525 mit Anm. 1. Vgl. Meyer, GdA V, 330. Beloch, GG III.1, 525. Besonders wenn man daran denkt, dass Isokrates oft lediglich Gemeinplätze behandelte. Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, Die griechische und lateinische Literatur und Sprache 68f. Es handelt sich vorrangig um die Gründung des Zweiten Attischen Seebunds 378/7, die Finanzpolitik des Eubulos nach dem Bundesgenossenkrieg 357–355, die Einigung Griechenlands unter Philipp II. auf dem Kongress in Korinth 337 und den Zug Alexanders des Großen nach Persien. Allerdings sind sich nicht alle Forscher bezüglich der Rolle einig, die Isokrates’ Reden und Sendschreiben bei diesen Ereignissen gespielt haben. Zur Wirkung des Isokrates allgemein bzw. in Bezug auf spezielle politische Fragen vgl. Oncken, Isokrates und Athen 113–133; Jebb, Orators II, 13; Kessler, Isokrates und die panhellenische Idee, bes.: 23–27. 40ff. 80–84; Adams, CPh 7 (1912) 343–350; Wilamowitz-Moellendorff, Aristoteles und Athen II, 381f. 389; Die griechische und lateinische Literatur und Sprache 68; Mathieu, Ιδέες, bes. 311–313; Laistner, The Classical Weekly 23 (1930) 129–131; Jaeger, Paideia III, 113; Steidle, Hermes 80 (1952) 257–296, bes. 258f.; Dobesch, Gedanke 34f. mit Anm. 27; Lesky, Literatur 654. 662f.; Allroggen, Attische Redner 59f.; Markle, JHS 96 (1976) 80–99, bes. 89–92; Cawkwell, Isocrates, in: Ancient Writers I, 313–329, bes. 326; Bengtson, GG 319; Jähne, Kommunikative Umsetzung gesellschaftlicher Problematik bei Isokrates, in: Philologus 135 (1991) 131–139, bes. 135–139; Burckhardt, Bürger und Soldaten 180f.; Weißenberger, DNP 5 (1998) 1138–1143, bes. 1141ff.; Bringmann, Redeliteratur, in: Orth, Isokrates 7–17, bes. 13. Vgl. Jaeger, Paideia III, 113f. Vgl. Jaeger, Paideia III, 131.

Gründung der Schule des Isokrates verfasst worden sind.44 Obwohl in diesen Reden meistens Ort, Zeit und Personen fingiert wurden, sind sie aus bestimmtem Anlass und zu bestimmten Zwecken zustande gekommen; sie sind sowohl an Athener als auch an Nicht-Athener gerichtet.45 Passagen von parainetischen oder enkomiastischen Schriften46 sowie der überlieferten Briefe oder Fragmente von Briefen47 des Isokrates werden nur ergänzend in die Untersuchung mit einbezogen. Sämtliche Gerichtsreden aus der Zeit der logographischen Tätigkeit des Rhetors werden wegen ihrer Irrelevanz zur behandelten Thematik nicht berücksichtigt.48 Die Leitgedanken des Isokrates in den diesbezüglichen Reden lassen sich wie folgt zusammenfassen: In seinem berühmten Panegyrikos (380) stellt der Rhetor sein panhellenisches Programm vor. In ihm rät der Autor zur Einigung der Hellenen und zum gemeinsamen Krieg unter der Führung Athens und Spartas gegen das Perserreich. Der Plataikos (373) enthält Isokrates’ Gedanken bezüglich der Stellung Athens gegenüber Thebens Machtentfaltung durch die Einnahme und völlige Zerstörung der boiotischen Nachbarstadt Plataia. Auch im Archidamos (366) wendet sich der Rhetor gegen die thebanischen Machtansprüche und verteidigt zudem Spartas Rechtsanspruch auf Messenien. Der Areopagitikos (ca. 357) ist die Hauptschrift des Isokrates zur athenischen Innenpolitik. Hierbei wird von der radikalen Demokratie und der Machtpolitik Athens abgeraten; an deren Stelle sollte eine gemäßigte Demokratie unter einem Areopag, der über weitgehende Vollmachten verfügt, treten.49 In der Friedensrede (355) schlägt Isokrates nach dem für Athen verlorenen Bundesgenossenkrieg eine neue außenpolitische Orientierung vor. Mit dem Sendschreiben Philippos (346) sowie mit seinen zwei Briefen an Philipp (ep. 3 im Jahr 346 und ep. 2 im Jahr 344) nimmt Isokrates sein panhellenisches Konzept wieder auf. Diesmal 44 Es handelt sich um die Reden: Panegyrikos (or. 4), Plataikos (or. 14), Archidamos (or. 6), Areopagitikos (or. 7), Über den Frieden (or. 8), Philippos (or. 5) Panathenaikos (or. 12). Die Reden Gegen die Sophisten (or. 13) und Über den Vermögensaustausch (or. 15) haben zwar einen epideiktischen Charakter, ihre Thematik hat aber wenig mit der Kriegsrechtfertigung zu tun. 45 Vgl. Wolf, Griechisches Rechtsdenken III.2, 251f. 46 Nach der Klassifikation des Augsburger Humanisten Hieronymus Wolf gehören zu den parainetischen die Reden: An Nikokles (or. 2), Rede des Nikokles an die Kyprioten (or. 3) und die pseudoisokrateische Schrift An Demonikos (or. 1). Folgende hier als enkomiastisch bezeichnete Reden zählt H. Wolf zu den epideiktischen: Busiris (or. 11), Enkomion auf Helena (or. 10) und Euagoras (or. 9). 47 Relevant für die Untersuchung sind insbesondere die zwei Briefe an Philipp, der erste am Ende des Jahres 346 (ep. 3) und der zweite im Jahr 344 (ep. 2). 48 Die überlieferten Gerichtsreden des Isokrates zwischen 403–390 sind: Aiginetikos (or. 19), Trapezitikos (or. 17), Über das Gespann (or. 16), Gegen Kallimachos (or. 18), Gegen Lochites (or. 20) und Gegen Euthunous (or. 21). 49 Die im Areopagitikos angestrebte Demokratie sollte sich nach der alten, reineren Demokratie der Vorfahren richten, also der des 5. Jh. Vgl. dazu Bearzot, Ισοκράτης, in: Spatharas/Tzallila, Πειθώ 307–341, bes. 321ff. 103

wendet er sich an den Makedonenkönig Philipp II. und fordert ihn auf, die Hellenen zu einigen und sie zum Krieg gegen Persien zu führen. Die Intention der letzten großen Rede, des Panathenaikos (342–339), ist schwer zu durchschauen. Isokrates lobt seine Heimatstadt und deren Leistungen, die Rede ist aber wegen des bevorstehenden Krieges gegen Philipp von Resignation gezeichnet. Wenige Monate nach der Veröffentlichung der Rede wurde das athenische Heer bei Chaironeia vernichtet.50 Hinsichtlich der Analyse isokrateischer Ansichten bezüglich der Kriegsrechtfertigung, die eng mit bestimmten Fragen der Außenpolitik und der zwischenstaatlichen Beziehungen zusammenhängt, muss zunächst betont werden, wie groß die Zeitspanne war, in der die Schriften veröffentlicht wurden. Die zu behandelnden Reden umfassen Publikationen von vier Jahrzenten. Da es sich nicht um Reden im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern um Muster- und Prunkstücke handelt, stellt sich einerseits die Frage nach der politischen Aktualität der Schriften und andererseits nach der Entwicklung im politischen Denken des Isokrates. Seine sorgfältig ausformulierten politischen Flugschriften nannte Isokrates λόγοι ἑλληνικοὶ καὶ πολιτικοὶ καὶ πανηγυρικοί51 sowie beratende Reden περὶ τῶν συμφερόντων τῇ τε πόλει καὶ τοῖς ἄλλοις ῞Ελλησι52. Es geht auch hieraus hervor, dass sich diese an die griechische Welt wandten und so ihren Einfluss auf die öffentliche Meinung erlangten. Zwar setzten die πολιτικοὶ λόγοι des Isokrates eine Beschäftigung mit politischen Themen voraus, aber ihr erstrangiges Ziel war die Förderung der individuellen und kollektiven Bildung zum Nutzen der Polis.53 Die Lehre sollte demnach zu seiner Gesamtkonzeption gehören, was aber nicht immer deutlich zu Tage tritt. Die programmatischen Äußerungen des Isokrates unmittelbar nach der Gründung seiner Schule in seiner Rede Gegen die Sophisten (um 390) weichen von den Zielen seiner berühmtesten politischen Reden – z. B. dem Panegyrikos (380) oder dem Philippos (346) – wesentlich ab.54 Dies ist nachvollziehbar, denn bei der Darlegung von großen politischen Themen konnte er sich nicht auf die rhetorisch-künstlerische Darstellung genereller moralischer Prinzipien beschränken, denen Bürger und politische Führer folgen sollten. Seine zu propagierenden Auffassungen in Bezug auf politische Ziele, die er sich setzte, musste er zumindest bis zu einem gewissen Grad konkretisieren und dem aktuellen politischen Kurs anpassen. Daraus erklärt sich, dass er in den Jahren von 380 bis 339 zum einen zwar seinen wichtigsten politischen Leitgedanken treu bleibt, zum anderen aber seine 50 Zum Inhalt der Reden vgl. Münscher, RE IX,2 (1916) s. v. Isokrates [2] 2146–2227, bes. 2181–2223; Bringmann, Studien 17; Lesky, Literatur 657ff.; Nickel s. v. Panegyrikós 614f.; Plataïkós 733; Archídamos 83; Areopagitikós 84f.; Perì Eirénes 637; Phílippos 724; Epistulae 344; Panathenaikos 611. 51 Vgl. Isokr. 15,46. 52 Isokr. 12,2. 53 Isokrates versteht somit den Begriff πολιτικοὶ λόγοι in Bezug auf seine Reden anders als dieser z. B. von Platon gebraucht wurde. Vgl. Eucken, Πολιτικοὶ λόγοι, in: Orth, Isokrates 34–42; Haskins, Logos, in: Poulakos/Depew, Isocrates 84–103, bes. 90–96. 54 Vgl. Eucken, Πολιτικοὶ λόγοι, in: Orth, Isokrates 34–42, bes. 34. 104

Argumentation je nach Publikum, Empfänger, Thema, Abfassungszeit und äußeren Umständen abändert. Das politische Denken des Isokrates beinhaltet zwar eine generelle innere Einheit, wobei es aber unwahrscheinlich ist, dass der Rhetor von den zahlreichen Ereignissen in vier Jahrzehnten unberührt blieb. Aus diesem Grund modifiziert er zuweilen sein Urteil bezüglich konkreter historischer Ereignisse sowie bezüglich des außenpolitischen Vorgehens Athens oder der Personen, die eine Führungsrolle in Hellas übernehmen sollten, sodass seine Einsichten, Bekenntnisse und politischen Positionen in einigen Fällen als widersprüchlich erscheinen.55 Es ist nicht Isokrates’ Ziel, unmittelbar auf die Geschichte seiner eigenen Zeit einzuwirken, sondern vielmehr Richtlinien für eine angemessene Hegemonialpolitik und die Staatsordnung Athens aufzustellen, sodass im besten Fall sein politisches Konzept realisiert wird. In seinen politischen Reden und Fragestellungen soll nicht für den Augenblick, sondern langfristig über die Innen- und Außenpolitik Athens, das außenpolitische Verhalten anderer hellenischer Poleis sowie über das Verhältnis der Hellenen zum Perserreich entschieden werden.56 Mit der Frage, wie seine Ideen praktisch umzusetzen seien, befasst er sich nie detailliert. Die Reden des Isokrates sind meistens nur im Hinblick auf die Behandlung wichtiger politischer Themen der Zeit aktuell und nehmen nur dann unmittelbar Bezug auf die gegenwärtigen politischen Ereignisse, wenn dies seiner Argumentation dient bzw. das Interesse des Publikums weckt.57 Die Entfaltung seiner grundsätzlichen Gedanken steht sowohl bei seinen fingierten Reden wie dem Plataikos als auch bei Reden wie der Über den Frieden, die sich auf einen besonderen Anlass beziehen, im Vordergrund.58 Demzufolge wird er kaum von der unmittelbaren Realität genötigt, seine Leitgedanken zu verändern und umzudenken; in vielen Fällen kann er seine bestehenden Gedanken der neuen Situation einfach nur anpassen. Denn er will keine Politik gestalten, sondern sie lediglich beeinflussen. Hierbei unterscheidet er sich von den aktiven Politikern seiner Zeit, die in der Ekklesia bei konkreten Anlässen regelmäßig Reden vortrugen und die Volksentscheidung unmittelbar zu beeinflussen suchten, indem sie – wenn möglich – überzeugende, konkrete und realisierbare Lösungen vorstellten. Bei ihnen ist die Untersuchung ihrer Gedanken und Argumente mit dem Zeitpunkt und dem Anlass der Rede sowie dem politischen Kontext straffer 55 Es stellt sich die heute in der Forschung immer noch nicht geklärte Frage, ob Isokrates seinen wichtigsten Überzeugungen konstant treu blieb, oder sie jeweils einer veränderten Situation anzupassen suchte. Gegen die innere Einheit der isokrateischen Reden bezüglich der Grundsätze des Rhetors sprechen u. a. K. Bringmann (Studien 16ff.) und E. Wolf (Rechtsdenken III.2, 250). Für die Einheit der politischen Äußerungen des Rhetors argumentieren W. Steidle (Hermes 80 (1952) 257–296, bes. 285) und E. Buchner (Panegyrikos 87ff. 150ff.); Argumente gegen E. Buchner: Newiger, Rez. zu E. Buchner, Der Panegyrikos des Isokrates, in: Gnomon 33 (1961) 761–768, bes. 767f. 56 Vgl. Steidle, Hermes 80 (1952) 257–296, bes. 284. 57 Vgl. Mathieu, Ιδέες 68f. 58 Vgl. Steidle, Hermes 80 (1952) 257–296, bes. 285. 105

durchgeführt. Isokrates hingegen hat meistens die größeren Ereignisse vor Augen, die zwar nicht unmittelbar, wie die aktuellen Vorfälle, jedoch umso tiefer auf die Geschichte der Polis einwirken.59 Bei der Untersuchung der Argumente zur Kriegsrechtfertigung bei Isokrates soll überdies ein wichtiger Punkt berücksichtigt werden: Dem Rhetor war bewusst, dass die Argumente der beratenden Reden nach bestimmten Hauptpunkten unterteilt sind, und bediente sich in seinen Reden einer derartigen Gliederung.60 Er benutzte somit eine ähnliche Kategorisierung wie die des Anaximenes, der die Argumente der rhetorischen Schriften mit Bezug auf δίκαιον, νόμιμον, συμφέρον, καλόν, ἡδύ, ῥᾴδιον sowie δυνατόν und ἀναγκαῖον unterteilt hat.61

2. Der Panegyrikos Im Jahr 380 veröffentlichte Isokrates seine erste politische Rede, den Panegyrikos.62 Dieser gibt vor, bei einer panhellenischen Veranstaltung, wahrscheinlich in Olympia, vorgetragen worden zu sein.63 Isokrates hat seine Schrift so sorgfältig verfasst, dass er daran wohl Jahre gearbeitet hat.64 Hier erklärt er zum ersten Mal sein politisches Programm, das auf zwei Pfeilern beruht: 1. Friede und Eintracht (ὁμόνοια) unter den griechischen Poleis und 2. ein gemeinsamer Krieg der Hellenen unter der Führung Athens und Spartas gegen das Perserreich (πόλεμος πρὸς τοὺς βαρβάρους).65 Als Ziele dieses Krieges werden die Abwendung der persischen Bedrohung und die Befreiung der kleinasiatischen Hellenen – wider die Bestimmungen des Königsfriedens – sowie die Lösung der ökonomischen Schwierigkeiten Griechenlands

59 Deswegen strebt Isokrates die Betrachtung seiner πολιτικοὶ λόγοι als ein einheitliches Korpus an. Vgl. Too, Identity 35. 60 Vgl. Martin, Antike Rhetorik 170. 61 Vgl. Anximen. rhet. 1421b 23–33; dazu hier S. 27. 62 Die Datierung des Panegyrikos auf 380 wird allgemein akzeptiert. Ins Jahr 380 fällt das späteste von Isokrates erwähnte Ereignis, nämlich der Beginn der Belagerung von Phleius durch die Lakedaimonier unter Agesilaos (vgl. Isokr. 4,128). Vgl. Buchner, Panegyrikos 30 Anm. 1. 63 Es ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber dennoch nicht auszuschließen, dass Isokrates den Panegyrikos in Olympia vorlesen ließ (vgl. Münscher, RE IX,2 [1916] s. v. Isokrates [2] 2146–2227, bes. 2189). Darüber hinaus ist die Auffassung nachvollziehbar, dass in der Tat nicht Olympia, sondern Athen der fingierte Festspielort des Panegyrikos sei (vgl. dazu Müller, Philologus 135 [1991] 140–156, bes. 144 mit Anm. 23). 64 Isokrates war stolz auf die lange Zeit, die er für das Verfassen der Rede gebraucht hat (vgl. Isokr. 4,14). Ein anonymer Autor spricht in seinem Werk Περὶ ὕψους – wahrscheinlich übertrieben – von einer zehnjährigen Arbeit (vgl. [Long.] sublim. 4,2). 65 Die Ziele der Rede legt Isokrates in der Einleitung fest. Vgl. Isokr. 4,3; auch 4,6. 15. In der Antidosisrede des Jahres 354/3 erinnert er an die Ziele des Panegyrikos (vgl. Isokr. 15,76ff.) 106

propagiert. Für den Redner sind demzufolge politische und wirtschaftliche Vorteile für Hellas ausschlaggebend.66 Die Rede lässt sich in einen epideiktischen (§§ 20–128) und einen symbuleutischen Teil (§§ 133–186) aufgliedern,67 wobei der symbuleutische inhaltlich Vorrang vor dem epideiktischen hat.68 Die beiden Teile verfolgen zunächst unterschiedliche Ziele, sodass sie zuweilen eine einander widersprechende Argumentation beinhalten. Im epideiktischen Abschnitt führt Isokrates den Nachweis, dass Athen die ἡγεμονία zustünde; davon ausgehend wird im symbuleutischen Teil vorgeschlagen, dass Athen und Sparta gemeinsam die Hellenen gegen die Barbaren führen.69 Der Panegyrikos knüpft an die bereits seit dem Ende des 5. Jh. in der Öffentlichkeit diskutierten und publizierten Pläne eines Angriffs der hellenischen Poleis gegen Persien an.70 Der Lehrer des Isokrates, Gorgias, der Isokrates wohl in vielerlei Hinsicht beeinflusst hat,71 behauptete in seinem auf die im Peloponnesischen Krieg gefallenen Athener gehaltenen Epitaphios, dass die Triumphe über die Nichtgriechen Preisgesänge, jene von Griechen über Griechen jedoch Klagegesänge erforderten.72 Weiterhin hatte er in seiner im Jahr 408 in Olympia gehaltenen Festrede Olympikos zur Eintracht (ὁμόνοια) unter den Hellenen und zum gemeinsamen Vorgehen gegen das Perserreich aufgerufen.73 Der Begriff ὁμόνοια, der sonst seit dem späten fünften Jahrhundert als politisches Schlagwort für die Beilegung innerstaatlicher

66 Vgl. Schmitz, Prosperität 252. 67 Die Rede besteht zusätzlich aus dem Prooimion (§§ 1–14), dem Epilog (§§ 187–189) und zwei überleitenden Partien (§§ 15–20. 129–132). Vgl. Buchner, Panegyrikos 8. 16. 28; Seck, Die Komposition des Panegyrikos, in: ders., Isokrates 353–370, bes. 367. 68 Isokrates selbst unterscheidet nicht zwischen epideiktischen und symbuleutischen Reden. Vgl. Eucken, Isokrates 157. 69 Vgl. Buchner, Panegyrikos 28–36. 70 Bereits in den 20er Jahren des 5. Jh. lässt Herodot den Tyrannen von Milet Aristagoras in seinem Hilfegesuch während des Ionischen Aufstandes (499–494) an den spartanischen König Kleomenes den Vorschlag äußern, dass unter Spartas Führung das Perserreich durch Griechen erobert wird (vgl. Hdt. 5,49; dazu Weißenberger, Plan, in: Orth, Isokrates 95–110, bes. 95 mit Anm. 3). Es handelt sich um einen Anachronismus, da so ein kühner Vorschlag frühestens nach dem überraschend erfolgreichen Ausgang der griechisch-persischen Auseinandersetzungen des 5. Jh. stattfinden konnte. Aristagoras wandte sich in der Tat lediglich mit einem Hilfegesuch an Kleomenes (vgl. How/Wells, A Commentary on Herodotus II, 19. 350f.). 71 Vgl. Too, Identity 239. 72 Vgl. Gorg. VS II 82B 5b = Philostr. soph. 1,9,5. Der Epitaphios des Gorgias soll bald nach dem Nikias-Frieden des Jahres 421 in Athen gehalten worden sein (vgl. Nestle, Mythos 312; Nickel s. v. Epitáphios 351). 73 Vgl. Gorg. VS II 82A 1 = Philostr. soph. 1,9,4; F. Blass (Beredsamkeit I, 59) datiert die Rede auf 392, während U. v. Wilamowitz-Moellendorff (Aristoteles und Athen I, 172f. mit Anm. 75) sie überzeugender auf 408 ansetzt. 107

Parteistreitigkeiten gebraucht wurde,74 wird hier zum ersten Mal auf das gemeinschaftliche Zusammenhalten der Hellenen gegen die Perser übertragen.75 Somit erwies sich Gorgias als ein Wegweiser der panhellenischen Idee in einer Zeit, in der der große innergriechische Krieg im vollen Gang war und sich seine schwerwiegenden Folgen bereits gezeigt hatten. Gorgias stellt den Panhellenismus im Olympikos in Zusammenhang mit der theoretischen Einschätzung von der Verwerflichkeit des Krieges und dem Lob des Friedens.76 Da er aber zum Krieg gegen die Barbaren auffordert, beziehen sich seine Auffassungen über Krieg und Frieden lediglich auf die hellenische Welt. In der Tat suchte Gorgias das expansive Machtstreben aus den griechischen Poleis zu verbannen und es gebündelt gegen das Perserreich zu lenken.77 Zwei Jahrzehnte nach dem Olympikos des Gorgias hatte Lysias in seinem Olympiakos des Jahres 388 panhellenische Argumente zu Grunde gelegt und φιλία unter Griechen sowie die Bestrafung der Barbaren gefordert.78 Es ist allerdings Isokrates, der die panhellenischen Gedanken seiner Vorgänger übernommen und weiterentwickelt hat.79 Bis ins Greisenalter beharrte er auf dem Krieg gegen die

74 Der Begriff ὁμόνοια scheint erst eine Schöpfung der attischen Literatur des 5. Jh. zu sein, nachdem sich seit dem Beginn der Parteikämpfe in Athen die Sehnsucht nach Einmütigkeit im Interesse des Staatswohls einstellte. In allen griechischen Städten wurde es Sitte, die Bürgerschaft eidlich zur ὁμόνοια zu verpflichten. Diese spielte die Hauptrolle bei den politischen Verhandlungen in Athen in den Jahren 411 und 404. Im 4. Jh. wird sie mehrmals von Philosophen und Sophisten für die Familie, den Staat und die zwischenstaatlichen Beziehungen unter den Griechen gepredigt. Besonders der Sophist Antiphon beschäftigte sich Ende des 5. Jahrhunderts mit der Wirkung der ὁμόνοια und verfasste dazu die Schrift Περὶ ὁμονοίας (vgl. dazu. WilamowitzMoellendorff, Aristoteles und Athen I, 173f. Anm. 77), wobei ὁμόνοια als ein Mittel, das dem Menschen zum Erlangen der σωφροσύνη und danach der Einmütigkeit und Verträglichkeit empfohlen wird, zu deuten ist. Vgl. Schmid, Literatur I.3.1., 163f. mit Belegen. Zur Definition des Begriffs ὁμόνοια notiert Aristoteles, dass deren Ziel die Beendigung der στάσις und somit die Versöhnung streitender Parteien innerhalb eines Staates sei. Aristot. eth. Nic. 1155a 22ff.: ἡ γὰρ ὁμόνοια ὅμοιόν τι τῇ φιλίᾳ ἔοικεν εἶναι, ταύτης δὲ μάλιστ‘ ἐφίενται καὶ τὴν στάσιν ἔχθραν οὖσαν μάλιστα ἐξελαύνουσιν. 75 Vgl. Schmid, Literatur I.3.1., 69; Buchner, Panegyrikos 20. 76 Vgl. Nestle, Mythos 312f. 77 Vgl. Gorg. VS II 82A 1 = Philostr. soph. 1,9,4f.; Buchner, Panegyrikos 22. 78 Vgl. dazu Kap. III. 3.1 (hier S. 90–95). 79 Vgl. Nestle, Mythos 334. Isokrates behauptete selbst, dass die Hauptgedanken des Panegyrikos bereits von anderen Gelehrten behandelt wurden, er ziele jedoch darauf ab, eingehender darüber zu sprechen (vgl. Isokr. 4,3f.). Anders als seine Vorgänger sei für ihn zunächst die Verständigung zwischen Athen und Sparta die Grundlage für den gemeinsamen Feldzug und die Versöhnung der Griechen (vgl. Isokr. 4,15–20). Zu der panhellenischen Idee vor Isokrates vgl. auch Kessler, Isokrates und die panhellenische Idee 7f. 108

Perser, sodass „sich dieser Krieg bei dem alternden Isokrates immer mehr zu einem Axiom entwickelt“80. Die Rechtfertigung des vorgeschlagenen Krieges gegen das Perserreich verfolgt das typische Vorgehen der beratenden Beredsamkeit und beruht auf unterschiedlichen Argumenten, die sich jeweils auf συμφέρον, δίκαιον, ῥᾴδιον bzw. δυνατόν beziehen. Weniger ist Isokrates allerdings daran interessiert, den Krieg durch das νόμιμον zu begründen, da er sich prinzipiell nicht auf bestehendes Kriegsrecht bzw. auf schriftlich nie dargelegtes zwischenstaatliches Recht beruft.81 Der Panegyrikos, der sowohl in der Antike als auch in der Neuzeit als das bedeutendste Werk des Isokrates gilt, wird in dieser Arbeit im Mittelpunkt der Untersuchung in Bezug auf die Kriegsrechtfertigung bei Isokrates stehen, da bereits in ihm die meisten seiner verwendeten Argumente zu finden sind.82

2.1 Die Kriegsrechtfertigung im Panegyrikos Am Schluss des symbuleutischen Teils des Panegyrikos (§§ 181–186) werden die Ausgangspunkte der Kriegsrechtfertigung zusammengefasst. Im Mittelpunkt steht eindeutig das συμφέρον (§§ 182; erste Hälfte von 184. 185. 186). Es fällt aber auf, dass der Rhetor sich davon unabhängig auch auf das δίκαιον des Krieges bezieht und dieses aufzuzeigen versucht (§ 183). Abschließend stellt er das δίκαιον und das συμφέρον in einen Zusammenhang (zweite Hälfte von § 184).83 Darüber hinaus wiederholt Isokrates kurz seinen festen Glauben an die Durchführbarkeit, also an das δυνατόν des Krieges (§182).84 Zum συμφέρον gehören hauptsächlich die durch einen siegreichen Krieg zu erlangende Eintracht unter den Griechen und die Übertragung des asiatischen Reichtums auf die Hellenen. Diesem sind überdies Ruf, Ruhm und Ansehen (φήμη, μνήμη, δόξα), die der Krieg den Hellenen im Leben und nach dem Tod bringen solle, zuzuordnen.85 Zum δίκαιον gehört besonders die Befreiung der Hellenen Kleinasiens, die aufgrund des Königsfriedens von 387/6 ihre Autonomie und Freiheit einbüßen mussten; genauso ist es nach Isokrates gerecht, sich an dem persischen Erbfeind zu rächen sowie Krieg gegen die Perser zu führen, da sie die natürlichen Feinde der Hellenen seien.

80 Drerup, Philologus 54 (1895) 636–653, bes. 644. 81 Isokrates übt allerdings heftige Kritik an dem Vertrag des Königsfriedens 387/6; damit will er ein Hindernis beseitigen, das die Kriegserklärung formell erschweren würde. Die Bedingungen des Vertrags und deren Auswirkungen betrachtet er als weitere Kriegsgründe. 82 Vgl. Münscher, RE IX,2 (1916) s. v. Isokrates [2] 2146–2227, bes. 2188; WilamowitzMoellendorff, Aristoteles und Athen II, 381f. 83 Vgl. Buchner, Panegyrikos 149. 84 Isokr. 4,182: […] ἡμᾶς δ' ὅλης τῆς ῾Ελλάδος ὑβριζομένης μηδεμίαν ποιήσασθαι κοινὴν τιμωρίαν, ἐξὸν ἡμῖν εὐχῆς ἄξια διαπράξασθαι. 85 Vgl. Isokr. 4,186. 109

Die hier nur sporadisch angesprochenen einzelnen Aspekte der Kriegsrechtfertigung werden in den folgenden Kapiteln näher beleuchtet und analysiert.

2.1.1 Krieg gegen Persien zum συμφέρον der Hellenen 2.1.1.1 Krieg zur Beendigung der innergriechischen Kriege Das Motiv der Eintracht unter den Hellenen zwecks eines gemeinsamen Krieges gegen die Barbaren erscheint bei Isokrates zum ersten Mal in dem Enkomion auf Helena mit Bezug auf den Troianischen Krieg, d. h. auf die mythische Vergangenheit.86 Doch im Panegyrikos verfolgt der Rhetor praktische Ziele und bezieht sich unmittelbar auf die politische und soziale Lage der Hellenen seiner Zeit. Die geforderte ὁμόνοια unter den Hellenen erscheint hier als Vorbedingung für einen gemeinsamen Angriffskrieg und gleichzeitig als Ergebnis des potentiellen Sieges über die Perser.87 Isokrates bewertet diesen Krieg vorrangig anhand seines möglichen erfolgreichen Ausgangs. Die Beendigung der andauernden Bruderkriege, die mit größtem Unheil88 verbunden seien, wäre für die Griechen von größtem Nutzen. Der κοινὸς πόλεμος πρὸς τοὺς βαρβάρους wird in den Augen der Hellenen damit gerechtfertigt, dass er dem πόλεμος πρὸς ἀλλήλους sowie der bestehenden Feindseligkeit (ἔχθρα)89 und Streitsucht (φιλονικία)90 unter Griechen ein endgültiges Ende bereiten würde.91 Der nationale Angriffskrieg der Hellenen gegen Persien wird demzufolge als ein Mittel zum Zweck, d. h. hier zu einem Dauerfrieden in Hellas, betrachtet.92 86 Vgl. Isokr. 10,67: […] τοὺς ῞Ελληνας […] ὁμονοήσαντας καὶ κοινὴν στρατείαν ἐπὶ τοὺς βαρβάρους ποιησαμένους […]. 87 Nach K. Bringmann folgt im Panegyrikos die ὁμόνοια der Griechen dem Feldzug gegen Persien, während im isokrateischen Philippos des Jahres 346 die ὁμόνοια als Vorbedingung für den Perserkrieg gilt (vgl. Isokr. 5,83; Bringmann, Studien 24). Jedoch behauptet Isokrates auch im Panegyrikos, dass die Hellenen nur ὁμονοήσαντες gegen den Perserkönig siegen könnten (vgl. Isokr. 4,138), bevor er das Argument anführt, dass nur ein Sieg der hellenischen Poleis gegen die Perser – wahre und beständige – ὁμόνοια in Hellas bringen würde (vgl. Isokr. 4,173f.). Zum Sinn des Begriffs ὁμόνοια bei beiden Fällen vgl. Weißenberger, Plan, in: Orth, Isokrates 95–110, bes. 106f. Wörtlich und als Vorstellung begegnet ὁμόνοια häufig auch in anderen Schriften des Isokrates (vgl. Isokr. 15,77; 5,16. 31. 40. 83. 141; 12,42. 77. 131. 167; dazu Romilly, JHS 78 (1958) 92–101, bes. 98). 88 Isokrates spricht bezüglich der Ergebnisse bisheriger innergriechischer Kriege von μέγιστα κακά (vgl. Isokr. 4,6) und συμφοραί (vgl. Isokr. 4,15). Bezüglich der – zu vermeidendenden – künftigen Bruderkriege warnt er vor der Wirkung eines ἀνήκεστόν τι κακὸν (vgl. Isokr. 4,172). Damit wählt er die härtesten Ausdrücke, um seine Abscheu gegenüber den innergriechischen Kriegen zu äußern. 89 Vgl. Isokr. 4,172. 90 Vgl. Isokr. 4,19. Zur Definierung des komplexen Begriffs vgl. LSJ s. v. φιλονικέω 1937. 91 Vgl. Isokr. 4,6. 15. 19. 172f. 92 Vgl. Isokr. 4,172f., bes. Isokr. 4,173: οὔτε γὰρ εἰρήνην οἷόν τε βεβαίαν ἀγαγεῖν ἢν μὴ κοινῇ τοῖς βαρβάροις πολεμήσωμεν, οὔθ' ὁμονοῆσαι τοὺς ῞Ελληνας πρὶν ἂν καὶ 110

Die Ansicht des Rhetors, dass beständiger Friede durch Krieg erreicht werden soll, klingt zwar paradox, wirkt aber im Kontext der innergriechischen Wirren der aktuellen Zeit durchaus überzeugend. Der katastrophale Peloponnesische Krieg war seit 404 zu Ende, trotzdem konnte Jahrzehnte danach keineswegs die Rede von Frieden in Hellas sein. Ein nicht-griechischer auswärtiger Feind schien wahrhaftig die einzige Möglichkeit zu sein, die griechischen Poleis miteinander zu versöhnen.93 Durch die Verfolgung dieses Gedankengangs ist nochmals festzustellen, dass Isokrates die internationalen Verhältnisse lediglich aus der Sicht des Nutzens für die Hellenen beurteilt. Allerdings bewegt ihn in der Tat konkret der Nutzen für seine Heimatstadt, denn gerade Athen war – im Gegensatz zu Sparta – durch den Frieden zur außenpolitischen Handlungsunfähigkeit verurteilt.94 Im Folgenden wird das Verhältnis des Isokrates zum Peloponnesischen Krieg, der Seeschlacht bei Knidos und dem Korinthischen Krieg näher beleuchtet: Isokrates ist während des Peloponnesischen Krieges aufgewachsen, dürfte in dieser Zeit Militärdienst geleistet haben und war zu Kriegsende 32 Jahre alt. Er hat demzufolge alle Phasen des Krieges miterlebt. In seinem Gedächtnis dürften die totale Niederlage Athens bei Aigospotamoi im Jahr 405, die erniedrigende Kapitulation des Jahres 404 sowie deren harte Folgen für die Polis fest verhaftet gewesen sein.95 Die Athener verzichteten jedoch in den Jahren danach keineswegs auf Versuche zur Rückgewinnung ihrer verlorenen Machtposition.96 Diese Hoffnung kommt durch den im Panegyrikos propagierten Hegemonieanspruch Athens zum Ausdruck. Isokrates stellt nicht nur Athen, sondern ganz Hellas als von den schlimmen Folgen des Peloponnesischen Krieges betroffen dar.97 Die Niederlage der Athener und der daraus resultierende Verlust von deren ἀρχή seien für die Hellenen der

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τὰς ὠφελείας ἐκ τῶν αὐτῶν καὶ τοὺς κινδύνους πρὸς τοὺς αὐτοὺς ποιησώμεθα. Übers. Nach Ch. Ley-Hutton: „Denn es wird nicht möglich sein, einen beständigen Frieden zu genießen, wenn wir nicht einen gemeinsamen Kriegszug gegen die Perser unternehmen, noch werden die Griechen einträchtig miteinander leben können, bevor wir nicht von ein und demselben Gegner unsere Vorteile holen und gegen ihn unsere Kriege führen“. Vgl. auch Wilcken, Philipp II. von Makedonien und die panhellenische Idee, in: SB d. Berl. Akad. d. Wiss., philos.-hist. Kl. 18 (1929) 291–318, bes. 294 Anm. 4. Die Gründe, die einst Gorgias bewegten, dürften Isokrates eindeutig beeinflusst haben. Laut Philostratos trat nämlich Gorgias als ‚Anwalt der Eintracht‘ angesichts des Griechenland zerfleischenden Bruderkrieges zwischen Athen und Sparta auf. Gorg. VS II 82A 1 = Philostr. soph. 1,9,4: στασιάζουσαν γὰρ τὴν ῾Ελλάδα ὁρῶν ὁμονοίας ξύμβουλος αὐτοῖς ἐγένετο […]; vgl. dazu Nestle, Griechische Geistesgeschichte 180f. Vgl. Drerup, Philologus 54 (1895) 636–653, bes. 640f. Vgl. Walter, Isokrates metanóôn? In: Orth, Isokrates 78–94, bes. 79. Vgl. Funke, Homónoia und Arché 102. Vgl. Isokr. 4,119. Die Folgen werden als συμφοραί bezeichnet und der Ausgang der Schlacht bei Aigospotamoi als ἀτυχία. Vgl. auch Isokr. 4,98. 111

Anfang ihrer Leiden gewesen.98 Die Spartaner übernahmen nach dem Krieg zwar die ἀρχή in Hellas, aber zum einen übten sie ihre Herrschaft maßlos und unterdrückend aus.99 Zum anderen konnten die Perser in dieser Zeit ihre Herrschaft über die ionischen Poleis Kleinasiens zurückgewinnen. Während die Spartaner also ihre Kriegserklärung, die zum Peloponnesischen Krieg im Jahr 431 geführt hatte, durch das Argument der Befreiung der Hellenen von der athenischen Gewaltherrschaft mittels des Delisch-Attischen Seebundes gerechtfertigt hatten, führte schließlich der auf spartanische Initiative geschlossene Königsfrieden im Jahr 387/6 zur Versklavung der zuvor freien – wenn auch unter athenischer Herrschaft stehenden – Ionier Kleinasiens durch ihren barbarischen Erzfeind.100 Die Seeschlacht bei Knidos 394 hält Isokrates wie früher Lysias in seinem Epitaphios für den Versuch eines erneuten Vorstoßes der Barbaren nach Hellas. Demzufolge wird der Sieg als ein rein persischer betrachtet,101 obgleich bei Knidos an der Seite der Barbaren der athenische Stratege und Schüler des Isokrates Konon entscheidend mitgewirkt hat.102 Es ist jedoch anzunehmen, dass nicht wenige Athener gegen die Aussendung Konons plädierten, da sie fürchteten, dass eine Zusammenarbeit mit den Persern der Polis einen schlechten Ruf bescheren würde.103 Isokrates betrachtet diese Schlacht keineswegs als eine innergriechische Auseinandersetzung bzw. spielt die Tatsache herunter, dass bei Knidos gleichfalls Hellenen gegen Hellenen kämpften. Da für ihn die ὁμόνοια vorrangiges Ziel bleibt, vermeidet er zunächst, den persischen Sieg seinem Schüler Konon zuzuschreiben und die Beteiligung hellenischer Streitkräfte zu erwähnen. In §119 heißt es lediglich: […] ἐνίκησαν μὲν οἱ βάρβαροι ναυμαχοῦντες […]. Er versucht dabei die neue Rolle der Perser in Hellas hervorzuheben. Als er aber im symbuleutischen Teil der Rede die für ihn unumstritten 98

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Isokr. 4,119: ἅμα γὰρ ἡμεῖς τε τῆς ἀρχῆς ἀπεστερούμεθα καὶ τοῖς ῞Ελλησιν ἀρχὴ τῶν κακῶν ἐγίγνετο. Hierbei verwendet Isokrates das Wort ἀρχή zweimal in einem Satz mit jeweils unterschiedlicher Bedeutung; somit unterstreicht der Rhetor mit einer aphoristischen Homonymia den katastrophalen Wandel des Schicksals der Griechen nach 404. Vgl. Usher, Panegyricus and To Nicocles 180, Komm. zu 119. Vgl. Isokr. 4,110–114. Isokrates brandmarkt vor allem die spartanische Politik nach 404, die ohne Bedenken in die Autonomie Athens und anderer griechischer Poleis eingriff. Vgl. Isokr. 4,122f. Zur Rechtfertigung der Kriegserklärung Spartas gegen Athen vor dem Peloponnesischen Krieg vgl. Thuk. 2,8,4. 11,2; 3,32,2; 4,85,1. Vgl. Isokr. 4,119; Lys. 2,59; dazu Buchner, Panegyrikos 133. Isokrates hat offensichtlich die Fakten des Vorstoßes der Perser nach Hellas dem Bericht Xenophons (vgl. Xen. hell. 4,8,7f.) entliehen. Vgl. Xen. hell. 4,3,11f. Die Flotte des Konon bestand nicht aus athenischen Trieren, sondern größtenteils aus kyprischen Einheiten, die der König von Salamis auf Kypros, Euagoras, Konon anbot. Vgl. Isokr. 9,54ff.; March, Historia 46 (1997) 257–269, bes. 263–269; Welwei, Athen 267f. Zu Konons Oberkommando vgl. auch Diod. 14,83,5ff. Dies wird in Hell. Oxyrh. 9,2 (Chambers) impliziert. Vgl. dazu Strauss, Athens 107.

gegenwärtige persische Inferiorität unterstreichen will, weist er auf die Rolle Konons und die athenische Beteiligung an der Seeschlacht hin.104 Die Verdienste Konons rühmt er expressis verbis, als er Kritik an dem Verhalten der Barbaren gegenüber ihren Wohltätern üben will, denn schließlich sei es Konon gewesen, der die lakedaimonische ἀρχή zerstört habe.105 Aus dieser Textpassage geht hervor, dass Isokrates im Jahr 380 die Schlacht bei Knidos – trotz des damaligen Sieges der Perser – für einen entscheidenden Schritt für die Rückgewinnung der ἀρχή durch die Athener hielt. Dabei propagiert er im Panegyrikos, dass die Lakedaimonier ihre Rolle als alleinige Beschützer der Hellenen nicht erfüllen konnten und sich somit die Hegemonie im vorgeschlagenen gemeinsamen Perserkrieg mit den Athenern teilen müssten. In den nächsten Jahrzehnten wurde die spartanische Niederlage bei Knidos in Athen allgemein – berichtet auch durch die Schriften des Isokrates – hauptsächlich als Wendepunkt zur Befreiung der Hellenen vom spartanischen Joch106 sowie zur Restauration der athenischen ἀρχή107 betrachtet. Der Bericht des Isokrates im Panegyrikos über die Niederlage Athens bei Aigospotamoi und Spartas bei Knidos weist auffällige Ähnlichkeiten mit der diesbezüglichen Schilderung im lysianischen Epitaphios auf.108 Isokrates stimmt offenbar Lysias zu und übernimmt dessen Beurteilung der erwähnten Ereignisse. Beide zielen auf das Lob Athens und die große Bedeutung der früheren attischen ἀρχή für die Sicherheit und Freiheit aller Hellenen.109 Der Historiker Xenophon bedauert um 390, dass sich nunmehr keine griechische Flotte in der Ägäis befand und die Perser ihre Seeherrschaft fest zu etablieren suchten.110 Daraus lässt sich schließen, dass es zunächst großen Eindruck gemacht haben muss, dass sich die griechischpersischen Verhältnisse in relativ kurzer Zeit so dramatisch geändert hatten, indem die Perser die Oberhand in der Ägäis gewannen. Isokrates fasst im Panegyrikos den Königsfrieden von 387/6, den er im Übrigen scharf kritisiert, als Ausfluss der neuen

104 Vgl. Isokr. 4,142. 105 Isokr. 4,154: Οὐ Κόνωνα μὲν ὃς ὑπὲρ τῆς ᾿Ασίας στρατηγήσας τὴν ἀρχὴν τὴν Λακεδαιμονίων κατέλυσεν […]. 106 Vgl. Isokr. 9,56. 68; 5,63; Demosth. 20,69; Deinarch. 1,14; 3,17. 107 Vgl. Isokr. 9,56. 68; 7,12. 65; 5,64; Demosth. 20,68; Deinarch. 1,76. 108 Vgl. Lys. 2,58–60; Isokr. 4,119; dazu Buchner, Panegyrikos 133. In beiden Reden werden die Ergebnisse der athenischen Niederlage bei Aigospotamoi als äußerst negativ nicht nur für Athen sondern auch für alle Hellenen bezeichnet. Zusätzlich werden der Sieg der Barbaren über Hellenen, nicht lediglich über Sparta, bei Knidos und der Vorstoß der Perser nach Griechenland unterstrichen. Ferner wird die – verlorene – athenische ἀρχή als effektiver und gerechter als die gegenwärtige spartanische dargestellt. 109 Vgl. dazu Seager, JHS 87 (1967) 95–115, bes. 100. 110 Xenophon lässt den Spartaner Derkylidas in Abydos so argumentieren (Xen. hell. 4,8,4): […] ἐννοείτω ὅτι ῾Ελληνικὸν μὲν οὔπω ναυτικόν ἐστιν ἐν τῇ θαλάττῃ, οἱ δὲ βάρβαροι εἰ ἐπιχειρήσουσι τῆς θαλάττης ἄρχειν, οὐκ ἀνέξεται ταῦτα ἡ ῾Ελλάς. 113

Verhältnisse nach 394 auf.111 Diesen Kausalschluss wiederholt er nur noch einmal in seiner letzten Rede, dem Panathenaikos (342–339), als er Kritik an Sparta übt.112 In den Reden von 370 bis 346 bezeichnet er dagegen die Ergebnisse der Seeschlacht als gewinnbringend für Athen und die Hellenen.113 Der Korinthische Krieg 395–387/6 wird im Panegyrikos nicht direkt kommentiert, obwohl – oder gerade weil – er ein interhellenischer Krieg war. Der Rhetor erwähnt nur am Rande die Korinthische Allianz (συμμαχία ἡ περὶ τὴν Κόρινθον)114 gegen Sparta. Dieser Krieg bietet sich als Argument für das Vermeiden von Auseinandersetzungen zwischen Hellenen nicht an, war aber für Athen und andere mächtige Poleis der erste wichtige Versuch, die rücksichtslose Ausübung der lakedaimonischen Herrschaft und die Fortsetzung der imperialistischen Politik Spartas zu beenden. Die Athener ihrerseits hofften dadurch auf die Wiederherstellung ihrer alten Herrschaft. Isokrates übt jedoch Kritik an dem Vertrag des sogenannten Königsfriedens, der diesen Krieg beendete. Der Korinthische Krieg führte also wie der Peloponnesische und die Seeschlacht bei Knidos zu einer verstärkten Intervention des Großkönigs in hellenische Angelegenheiten. Dies ist auch der hauptsächliche Kritikpunkt, den Isokrates indirekt am Korinthischen und den anderen innergriechischen Kriegen übt, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben. Realpolitisch bedeuten für den Rhetor die Kriege zwischen den Hellenen lediglich das Erstarken ihres Erzfeindes, des persischen Königs, da jede Polis auf die Hilfe des Artaxerxes II. hoffte, ohne die Tatsache zu berücksichtigen, dass dessen tatsächliches Ziel die Vernichtung aller Hellenen sei.115 Durch sein Intervenieren in Hellas konnte der Perserkönig erreichen, dass die Hellenen nie aufhören würden, sich zu seinen Gunsten gegenseitig zu bekriegen.116 Die innergriechischen Kriege sind also für Isokrates ein gezieltes Ergebnis der persischen Politik. In diesem Sinne brandmarkt er die Entwicklung des Krieges zwischen Persien und dem kyprischen König von Salamis Euagoras;117 der Großkönig habe zur Konfliktlösung Hellenen aus Kleinasien rekrutiert und sie gegen Euagoras

111 Im Anschluss an die Ergebnisse der Knidosschlacht vergleicht Isokrates den während des Delisch-Attischen Seebundes geschlossenen Kalliasfrieden und den unter spartanischer Hegemonie geschlossenen Königsfrieden. Vgl. Isokr. 4,120f. 112 Vgl. Isokr. 12,105f. 113 Isokr. 9,56. 68; 7,12. 65; 5,63f. 114 Vgl. Isokr. 4,142. 115 Vgl. Isokr. 4,121. 116 Vgl. Isokr. 4,134. 117 Es handelt sich um einen Krieg zwischen Artaxerxes II. und Euagoras, worauf Isokrates in seiner Rede Euagoras (vgl. Isokr. 9,64) hinweist. Der Krieg brach aus, als Euagoras unabhängig von Persien die ganze Insel Kypros unter seiner Herrschaft zu vereinigen suchte. Er dauerte von 391 bis 380 bzw. 379; zur Zeit der Veröffentlichung des Panegyrikos war er also seinem Ende nahe. Schließlich wurde Euagoras besiegt und in Salamis belagert, erhielt aber sein Stadtkönigtum zurück. Vgl. Högemann, DNP 4 (1998) s. v. Euagoras [1] 201f. 114

geschickt; dabei seien doch eigentlich für beide einander bekämpfenden Parteien gerade die Perser ihre eigentlichen Feinde.118 Kritik an dem Krieg an sich und seinen negativen Folgen übt Isokrates nur an den Kriegen, in denen Hellenen gegen Hellenen als Söldner kämpfen müssen. Hierbei notiert er, dass der Krieg in der Tat großes Leid hervorriefe.119 Dieses Leid ist jedoch kein Hindernis für den Rhetor, den Krieg gegen die Barbaren zu propagieren; dieser Krieg – und nur dieser – sei sogar besser als Friede.120 Zusammenfassend gesehen lehnt Isokrates zwar die Kriege zwischen Griechen selbstverständlich ab121 und setzt sich für ihre Beilegung ein; er begründet aber diese Ansicht trotz der panhellenischen Intention der Rede an dieser Stelle nicht mit der gemeinsamen Herkunft der Hellenen,122 sondern sucht Argumente, die praktischer und effektiver auf den Zuhörer wirken könnten. Der Gedanke des gemeinsamen Krieges gegen die Barbaren zur Beendigung der innergriechischen Kriege sollte dem συμφέρον der Hellenen dienen.123

2.1.1.2 Krieg zur Mehrung des Wohlstands der Hellenen Obgleich Isokrates den panhellenischen Krieg gegen Persien in vielschichtiger Hinsicht rechtfertigt, ist für ihn eines der wichtigsten und wirksamsten Argumente der materielle Nutzen, den die Hellenen aus einem Sieg ziehen könnten.124 Der begehrte Wohlstand wird mit εὐπορία bzw. εὐδαιμονία wiedergegeben, wobei letzterer Begriff semantisch den Wohlstand mit Glückseligkeit verbinden kann.125 Isokrates bewertet die materialistischen Motive der Kriegführung somit positiv; im Gegensatz dazu betrachtet der zeitgenössische Philosoph Platon den Erwerb von materiellen

118 Vgl. Isokr. 4,134f. 119 Vgl. Isokr. 4,168: […] ἀληθινὰ δὲ πάθη πολλὰ καὶ δεινὰ γιγνόμενα διὰ τὸν πόλεμον […]. 120 Isokr. 4,182: Μόνος γὰρ οὗτος ὁ πόλεμος εἰρήνης κρείττων ἐστίν […]. 121 In seinem Bericht über innergriechische Kriege in der Zeit der mythischen Vorgeschichte (vgl. Isokr. 4,54–60) kritisiert Isokrates allerdings nicht die Kriege unter Griechen an sich, denn er zielt darauf ab, die Bereitschaft Athens zur Hilfeleistung gegenüber Unrecht erleidenden Hellenen zu zeigen. 122 Isokrates weist allerdings an anderer Stelle auf die gemeinsame Herkunft der Hellenen hin. Vgl. Isokr. 4,43. 123 Isokrates wendet sich an die Lakedaimonier und führt das Argument, dass die Teilung der Hegemonie dem συμφέρον der Hellenen dienen sollte, an. Daraufhin erklärt er, dass er für die Beilegung der zwischengriechischen φιλονικίαι sowie für den gemeinsamen Krieg gegen die Barbaren plädieren wird. Vgl. Isokr. 4,17f. Zur Verbindung dieser Ziele der Rede mit dem συμφέρον vgl. auch Isokr. 4,74. 124 Zur Bedeutsamkeit dieses Argumentes für Isokrates vgl. Green, Athenian Panhellenism, in: Wallace/Harris, Transitions to Empire 5–36, bes. 21; Seibert, „Panhellenischer“ Kreuzzug, in: Will, Alexander der Grosse 5–58, bes. 24. 44. 125 Vgl. LSJ s. v. εὐδαιμονία 708. 115

Gütern theoretisch zwar als die eigentliche Ursache der Kriege,126 jedoch verurteilt er diese Motivation indirekt.127 Im ersten – epideiktischen – Teil der Rede spricht Isokrates generell von Vorteilen, die mit einem siegreichen Krieg gegen das Perserreich verbunden seien128 und stellt die Barbaren als das eigentliche Hindernis der griechischen εὐδαιμονία dar.129 Das zum Genos der Rede passende Lob der Vergangenheit Athens nutzt er, um sein Hauptargument zur Kriegsrechtfertigung zu verstärken; die gewonnenen Vorteile nach den Siegen der Hellenen gegen Barbaren im Zeitalter der – angeblich unter athenischer Führung durchgeführten – griechischen Kolonisation sollen als überzeugendes Beispiel fungieren. Damals hätten sowohl die Kolonisten als auch die in ihren Mutterstädten zurückgebliebenen Hellenen größeren Anteil an Bodenbesitz gewonnen.130 Schließlich dienten diese Siege dem συμφέρον der Hellenen, da ihnen dadurch der Weg zur εὐπορία offen stand.131 Der epideiktische Teil endet mit der Feststellung, dass die Asiaten mehr Ackerland besitzen, als das, was sie in der Tat bebauen und brauchen, so groß sei ihr Reichtum.132 Hier finden sich die ersten Spuren einer schwachen Rechtfertigung für das Argument, einen Krieg aus rein imperialistischen Gründen zu führen. Der zweite – symbuleutische – Teil der Rede beginnt mit der Auffassung, dass die Ausbeutung Asiens für den Wohlstand der Poleis viel effektiver wäre als die innergriechischen Kriege.133 Weiterhin erläutert Isokrates die Folgen der griechischen ἀπορία134. Dazu gehören soziale Konflikte und στάσεις in den hellenischen Poleis, Söldnerdienst aus wirtschaftlicher Not und das Umherziehen in der Fremde, um die Familie zu ernähren.135 Tatsächlich nahm im 4. Jh. das Söldnerwesen enorm zu, 126 Vgl. Plat. rep. 2,372b-c, wo auf die Alternative zwischen Armut und Krieg hingewiesen wird; rep. 2,372e-374a; rep. 8,547b-c. 127 Die Kritik Platons wird besonders im Dialog Phaidon evident, in dem die materialistischen Kriegsgründe mit dem Streben des Leibes nach Luxus gleichgesetzt werden (vgl. Plat. Phaid. 66b-d). 128 Vgl. Isokr. 4,17. 129 Vgl. Isokr. 4,20. Isokrates verspricht, über diejenigen zu sprechen, die die Eudaimonie der Griechen verhindern; dies tut er im weiteren Verlauf der Rede. Vgl. Mathieu, Ιδέες 123. 130 Vgl. Isokr. 4,35f. Isokrates ist nicht präzise in seinem Bericht über die ionische Ostkolonisation. Diese war nicht allein von Athen initiiert, und von einer organisierten panhellenischen Bewegung zu dieser Zeit kann die Rede nicht sein. Darüber hinaus existierte damals in Kleinasien kein Perserreich bzw. keine asiatische Macht ähnlichen Ranges. Vgl. Weißenberger, Plan, in: Orth, Isokrates 95–110, bes. 102. 131 Vgl. Isokr. 4,37. 132 Vgl. Isokr. 4,132. 133 Vgl. Isokr. 4,133. 134 Im Sinne von Armut, Not, Bedürftigkeit. Dazu und zu weiteren Bedeutungen des Begriffs vgl. Passow, I.1 s. v. ἀπορία 354. 135 Vgl. Isokr. 4,132. 166. 168. 173f. 184. 116

und an der Neubesiedlung Ostsiziliens sind nach Diodors Angaben 55.000 Hellenen beteiligt gewesen. Das Problem der Landversorgung bestand durchaus, es war allerdings für Athen weniger kritisch als für den Rest Griechenlands.136 Als Lösung schlägt Isokrates die Verlegung des Krieges nach Asien vor. Die Eroberung kleinasiatischen Landes sollte der verbreiteten sozialen Not in Griechenland ein Ende machen und so die eigentliche Quelle des ewigen Zwistes beseitigen.137 Somit stilisiert er sich selbst als Verteidiger der gesamthellenischen und nicht nur der athenischen Interessen. Der Expansionismus sollte keinesfalls aufgegeben, sondern nur aus der griechischen Staatenwelt auf Kosten der persischen Barbaren verbannt werden.138 Einen legitimen Anspruch der Hellenen auf asiatisches Land vermag Isokrates nicht überzeugend zu begründen. Nach seiner Argumentation wurden Land und Wohlstand den Griechen durch die Barbaren in widersinniger Weise vorenthalten.139 Er attackiert damit jene Bedingung des Königsfriedens, in der die Herrschaft des Perserkönigs über ganz Asien bestimmt wird. Der Großkönig könne nicht als Gott handeln und Anspruch über die Hälfte der – damals bekannten – Welt erheben.140 Hierbei wird auf das seit Herodot existierende Hybris-Motiv hingewiesen, demzufolge der persische Großkönig durch seine Überheblichkeit das menschliche Maß übersteige und deswegen einer gerechten Bestrafung anheimgestellt sei. Die Perserkriege des 5. Jh. gingen laut Herodot vom Anspruch des Xerxes auf die 136 Vgl. Diod. 16,82,3ff.; Schmitz, Prosperität 309. 137 Vgl. Isokr. 4,173f. Landnot sei bereits in der entfernten Vergangenheit der eigentliche Grund der Kriege zwischen Griechen gewesen (vgl. Isokr. 4,34). Vgl. dazu Fuks, AncSoc 5 (1974) 51–81, bes. 65; Weißenberger, Plan, in: Orth, Isokrates 95–110, bes. 97. W. Schmitz (Prosperität 253) beurteilt dieses Lösungskonzept zutreffend als konservativ, da der Grundbesitz alleine als langfristige und dauerhafte Lösung angeboten wird. 138 Vgl. Bringmann, Redeliteratur, in: Orth, Isokrates 7–17, bes. 16f. 139 Vgl. Grieser-Schmitz, Vorstellungen, in: Orth, Isokrates 111–127, bes. 126. 140 Isokr. 4,179: Τῆς γὰρ γῆς ἁπάσης τῆς ὑπὸ τῷ κόσμῳ κειμένης δίχα τετμημένης, καὶ τῆς μὲν ᾿Ασίας, τῆς δ‘ Εὐρώπης καλουμένης, τὴν ἡμίσειαν ἐκ τῶν συνθηκῶν εἴληφεν, ὥσπερ πρὸς τὸν Δία τὴν χώραν νεμόμενος, ἀλλ‘ οὐ πρὸς ἀνθρώπους τὰς συνθήκας ποιούμενος. Der Versuch, den Perserkönig als hybristisch handelnd im Sinne Herodots darzustellen, ist hier eindeutig. Die Zweiteilung der Welt in Asien und Europa ist charakteristisch für Isokrates (vgl. auch Isokr. 4,34f.; Rauchenstein, Panegyricus und Areopagiticus 39, Komm. zu Isokr. 4,35) sowie für die wissenschaftliche Theorie seiner Zeit (vgl. Eur. Ion 1356. 1585ff.; Tro. 927; Plat. Kritias 112e4; Zajonz, Isokrates’ Enkomion auf Helena 245f, Komm. zu Isokr. 10,51). Es spielt hierbei keine Rolle, dass nach isokrateischer – sowie nach herodoteischer – Terminologie, Europa mit Hellas oder mit dem hellenischen Kulturraum identifiziert wird (vgl. Hdt. 1,4,4; Isokr. 10,51; Momigliano, Europa, in: Seck, Isokrates 128–138, bes. 129f.; Grieser-Schmitz, Vorstellungen, in: Orth, Isokrates 111–127, bes. 124); in Hellas bzw. in Europa ist nämlich die Macht durch das Nebeneinander zahlreicher Poleis und Königreiche zersplittert und differenziert sich somit wesentlich von der Einzelherrschaft über ganz Asien. 117

Weltherrschaft aus, sodass das Persische Reich nur an den Herrschaftsbereich des Zeus grenzen würde.141 Diese Charakteristik des Perserkönigs übernimmt Isokrates nun im 4. Jh. und verwendet sie als passendes rhetorisches Mittel. In der Tat bestimmt jedoch die durch Xenophon überlieferte Urkunde des Königsfriedens die Zugehörigkeit der hellenischen Poleis Kleinasiens zum Perserkönig.142 Da dieser Vertrag lediglich die griechisch-persischen Verhältnisse regeln sollte, wird nicht auf die Herrschaft des Königs über das ganze Asien hingewiesen. Isokrates’ Äußerung, dass der Perserkönig durch den Vertrag das ganze Asien für sich, das hieße die Hälfte der Welt, erhalten hätte, ist nicht präzise und absichtlich übertrieben; sie soll sein Plädoyer für eine expansionsstrebende griechische Politik unterstützen.143 Den Krieg gegen Persien würden laut Isokrates sowohl die dem Krieg abgeneigten Grundbesitzer als auch die kriegsbegeisterten besitzlosen Hellenen für nützlich erachten. Die einen hätten ohne Bedrohung ihren Besitz genießen, die anderen durch Aneignung fremden Eigentums große Reichtümer erwerben können.144 Hierbei wird deutlich, dass der Hinweis auf die Vorteile der älteren griechischen

141 Herodot (7,8γ) legt Xerxes in den Mund: εἰ τούτους τε καὶ τοὺς τούτοισι πλησιοχώρους καταστρεψόμεθα, οἳ Πέλοπος τοῦ Φρυγὸς νέμονται χώρην, γῆν τὴν Περσίδα ἀποδέξομεν τῷ Διὸς αἰθέρι ὁμουρέουσαν· οὐ γὰρ δὴ χώρην γε οὐδεμίαν κατόψεται ἥλιος ὁμουρέουσαν τῇ ἡμετέρῃ, ἀλλά σφεας πάσας ἐγὼ ἅμα ὑμῖν μίαν χώρην θήσω, διὰ πάσης διεξελθὼν τῆς Εὐρώπης. Vgl. dazu Stepper, Die Darstellung von Naturkatastrophen bei Herodot, in: Olshausen/Sonnabend, Naturkatastrophen in der antiken Welt 90–98, bes. 91. Hier wird die weitverbreitete Auffassung des 5. Jh. über die menschliche Überheblichkeit, d. h. die ὕβρις, widergespiegelt, wonach der Mensch, der den leichtlebigen Göttern zu nahe kommt bzw. sich mit den Göttern zu messen sucht, aufgrund der νέμεσις θεῶν ins Elend gestürzt wird (vgl. Martin P. Nilsson, Die Griechengötter und die Gerechtigkeit, in: The Harvard Theological Review 50 [1957] 193–210, bes. 205). In den Perserkriegen wurden nach Herodot vorrangig die persische Hybris und der asiatische Despotismus durch die hellenische bzw. attische Demokratie besiegt (vgl. Harrison, The Persian Invasions, in: Bakker/De Jong/Van Wees, Herodotus 551–578, bes. 577). Zur Relativierung des hochmütigen Verhaltens des Xerxes bei Herodot vgl. Sancisi-Weerdenburg, The personality of Xerxes, King of Kings, in: Bakker/De Jong/Van Wees, Brill‘s Companion to Herodotus 579–590, bes. 587f. Zu Kriegen aufgrund von Hochmut bei Herodot nicht nur in Bezug auf Xerxes vgl. Huber, Religiöse und politische Beweggründe des Handelns in der Geschichtsschreibung des Herodot 66f. und 66 Anm. 1. 142 Xen. hell. 5,1,31: Αρταξέρξης βασιλεὺς νομίζει δίκαιον τὰς μὲν ἐν τῇ ᾿Ασίᾳ πόλεις ἑαυτοῦ εἶναι […]. Hier können nur die hellenischen Poleis Kleinasiens gemeint sein. 143 Zunächst übte Isokrates Kritik daran, dass die Barbaren vor dem Zeitalter der griechischen Kolonisation zu Lasten der Hellenen den größten Teil der Erde besaßen (vgl. Isokr. 4,34). Bereits an dieser Stelle war es sein Ziel, die griechischen Territorialansprüche gegenüber den Persern zu begründen. 144 Vgl. Isokr. 4,182. 118

Kolonisation145 als ein Plädoyer für eine neue Ansiedlung hilfsbedürftiger Hellenen in Kleinasien und für den sich daraus ergebenden Abbau sozialer Konflikte und die Sicherung der bestehenden Besitzverhältnisse in Hellas wirken sollte.146 Es geht daraus hervor, dass nach Isokrates’ Ansicht die Haltung der Hellenen gegenüber dem Perserkrieg sowie die Entscheidung für diesen Krieg durch ökonomische Motive bestimmt werden. Es handelt sich um einen sozioökonomischen Expansionismus, für dessen Rechtfertigung das Argument des allgemeinen Nutzens zwar zynisch, aber für den Rhetor zur Durchsetzung offensichtlich hinreichend genug ist.147 Die besondere Stellung des Krieges für den Wohlstand der Hellenen wird im Epilog der Rede deutlich, in dem Isokrates es nicht für nötig hält, die anderen Kriegsgründe zu wiederholen, und lediglich auf die Übertragung der asiatischen εὐδαιμονία auf Hellas148 bzw. auf das daraus folgende Ende der griechischen ἀπορία149 hinweist. Dies stellt er mit der Motivierung zum weiterführenden Handeln zusammen.150

2.1.2 Krieg gegen das Perserreich im Hinblick auf das δίκαιον Während sich Isokrates im Panegyrikos nicht scheut, den Nutzen des panhellenischen Feldzugs für die Hellenen immer wieder zu betonen, ist ihm durchaus bewusst, dass jeder Angriffskrieg einer moralischen Legitimation bedarf. Ohne die Auflistung von Argumenten, die die Gerechtigkeit des Unternehmens betonen, hätte die ganze Rede an Überzeugungskraft verloren. Durch die Berufung auf das συμφέρον sollen die Hellenen vom Krieg begeistert, durch das δίκαιον aber von der Entscheidung für den Krieg tatsächlich überzeugt werden. Darüber hinaus richtet sich das συμφέρον bezüglich der Kriegsrechtfertigung nach innen – hier an die Athener und die anderen Hellenen –, das δίκαιον sowohl nach innen als auch nach außen, d. h. auch an den Perserkönig. Obgleich ein allgemein gültiges

145 Vgl. Isokr. 4,35f. 146 Vgl. Kessler, Isokrates und die panhellenische Idee 21. Ähnliches hat Isokrates auch in späteren Reden vorgeschlagen (vgl. Isokr. 8,24; 5,120ff.). Einen ersten misslungenen Versuch zur Koloniegründung am Pontos und in Bithynien hatte – der Historiker – Xenophon als Oberhaupt der griechischen Söldner während des Zuges der Zehntausend (401–398) unternommen (vgl. Xen. an. 5,6,15ff. an. 6,4ff.); Isokrates erwähnt im Panegyrikos die Rückführung der Söldner (§§ 145–149), nicht aber Xenophons Kolonisierungsbemühungen; trotzdem ist es sehr wahrscheinlich, dass der Rhetor durch Xenophons Plan beeinflusst wurde. 147 Vgl. Mathieu, Ιδέες 126; Schmitz, Prosperität 154. 148 Vgl. Isokr. 4,187: Αὐτοὺς οὖν χρὴ συνδιορᾶν, ὅσης ἂν εὐδαιμονίας τύχοιμεν εἰ τὸν μὲν πόλεμον τὸν νῦν ὄντα περὶ ἡμᾶς πρὸς τοὺς ἠπειρώτας ποιησαίμεθα, τὴν δ' εὐδαιμονίαν τὴν ἐκ τῆς ᾿Ασίας εἰς τὴν Εὐρώπην διακομίσαιμεν […]. 149 Vgl. Isokr. 4,189. 150 Vgl. Isokr. 4,188f. 119

zwischenstaatliches Kriegsrecht im Hellas des 4. Jh. fehlt,151 muss jeder Angriffskrieg vor den Augen des Feindes mit Bezug auf das δίκαιον begründet werden und demzufolge als legitim erscheinen. Nach E. Wolf (1956) bedeutet δίκαιον für Isokrates im politischen Kontext ganz allgemein das „sozialethisch Gesollte“; es ist das „Zukommende“, „das, was allgemeiner sozialer Erwartung entspricht“.152 Die isokrateischen Argumente für einen gerechten Krieg gegen das Perserreich lassen sich in drei Gruppen teilen: Erstens wird das Unternehmen als ein Krieg für die Freiheit und die Autonomie der hellenischen Poleis Kleinasiens dargestellt. Zweitens rechtfertigt Isokrates den Krieg aufgrund der Hellenen-Barbaren-Antithese. Drittens sollte ein Krieg gegen die Perser den nach Isokrates’ Urteil äußerst ungerechten Vertrag des Königsfriedens von 387/6 negieren.

2.1.2.1 Krieg für die Freiheit Isokrates sucht zur Begründung des Perserkrieges für die Freiheit von Hellas sowie des Anspruchs Athens auf die Führungsrolle Paradigmata in der Vergangenheit Athens, wobei es um Auseinandersetzungen zwischen Hellenen und Barbaren geht und die entscheidende Rolle Athens im Hinblick auf deren Ausgang evident ist. Wie üblich in Bezug auf die herkömmliche Vergangenheitsbetrachtung wird nicht zwischen mythischer und historischer Zeit unterschieden.153 Im Panegyrikos steht Isokrates’ Lob Athens dem zur etwa gleichen Zeit154 entstandenen platonischen Menexenos u. a. in dem Punkt nahe,155 wo die athenischen Vorfahren als Kämpfer

151 Die Friedensverträge können nicht als allgemein gültiges Kriegsrecht betrachtet werden. Selbst jene Verträge des 4. Jh., die eine κοινὴ εἰρήνη postulieren, beziehen sich auf eine geschlossene Gruppe ausschließlich hellenischer Staaten. Dasselbe gilt in Bezug auf die bestehenden Kriegsnormen der pyläisch-delphischen Amphiktionie. 152 Wolf, Rechtsdenken III.2, 272. 153 Lediglich im demosthenischen Epitaphios werden die Perserkriege von den angeblich in mythischer Vorzeit stattgefundenen Ereignissen unterschieden, als in dieser Rede – der Tradition der Grabreden gemäß – auf dieselben Muster Bezug genommen wird. Vgl. [Demosth.] 60,9; dazu Martin, Divine Talk 291f. 154 Es kann nicht mit Gewissheit die Frage geklärt werden, welche dieser zwei epideiktischen Reden zuerst zustande kam (vgl. Martin, Antike Rhetorik195f.). Da im Menexenos ein Epitaphios nach dem Königsfrieden auf die Gefallenen des Korinthischen Krieges fingiert wird, wurde in der älteren Forschung angenommen, dass er um 386 verfasst wurde (vgl. Wilamowitz-Moellendorff, Platon I, 266f.; II, 127). Doch scheint Platon auf bestimmte Passagen des isokrateischen Panegyrikos zu reflektieren, sodass der Annahme, dass der Menexenos kurz nach dem Erscheinen des Panegyrikos, also 380–379, publiziert wurde, überzeugende Argumente zu Grunde liegen (vgl. Müller, Philologus 135 [1991] 140–156, bes. 142f. 150ff.). 155 Nach der Annahme von A.E. Taylor ist der platonische Menexenos in der Tat eine Satire auf den isokrateischen Panegyrikos. Platon greift den Inhalt der Rede des 120

für die Freiheit der griechischen Welt gewürdigt werden, ob es um Kriege unter Hellenen oder gegen Barbaren ging.156 Demnach berichtet der Rhetor von Kriegen Athens ὑπὲρ τῆς ἐλευθερίας gegen Hellenen (§§ 51–65), der Polis gegen Barbaren in mythischer Zeit (§§ 66–70) und während der Perserkriege (§§ 71–98). In erster Linie werden zwei Ziele verfolgt: Zum einen soll der Anspruch Athens auf die Führungsrolle bezüglich eines erneuten Perserkrieges untermauert und zum anderen dessen Durchsetzung gerechtfertigt werden. Beide Ziele werden gerade durch die Berichte in den §§ 66–98 über ältere Barbarenkriege am besten erreicht. Die Parole des Krieges gegen Persien wird von den Athenern zu Anfang des 4. Jahrhunderts immer noch mit den Perserkriegen des 5. Jh. als Kampf ihrer Vorfahren für die Freiheit von ganz Hellas assoziiert.157 Isokrates steht also ein starkes Argument zur Verfügung, als er für einen erneuten Krieg gegen den Erbfeind plädiert. In seiner typischen Form setzt jedoch der Krieg um die Freiheit zunächst einen Angriff eines auswärtigen Feindes voraus, was freilich zur Zeit der Entstehung des Panegyrikos nicht der Fall war. Isokrates verzichtet allerdings auf das Argument des Kampfes um die Freiheit nicht: Er setzt die verlorene Freiheit und Autonomie158 der hellenischen Städte Kleinasiens in den Mittelpunkt und nutzt diesen altüberlieferten Befund zur Rechtfertigung eines Angriffskrieges. Zusätzlich beruft er sich auf die seit alters tradierte Verpflichtung der Athener, Schwächeren zu helfen.

Isokrates auf und imitiert dessen patriotische Version der Geschichtsbetrachtung wohl mit dem Ziel, sich darüber lustig zu machen. Vgl. Taylor, Plato: The Man and his Work 42f. 156 Platon (Mx. 239b) imitiert Form und Inhalt der Grabreden und bezieht sich auf den angeblich festen Glauben der Vorfahren der Athener im Hinblick auf die Freiheitskriege: […] οἰόμενοι δεῖν ὑπὲρ τῆς ἐλευθερίας καὶ ῞Ελλησιν ὑπὲρ ῾Ελλήνων μάχεσθαι καὶ βαρβάροις ὑπὲρ ἁπάντων τῶν ῾Ελλήνων. 157 In den attischen Leichenreden des 4. Jahrhunderts sind die Berichte von der entscheidenden Rolle Athens beim Sieg der Hellenen in den Perserkriegen ein gemeinsamer Topos. Vgl. Kierdorf, Perserkriege 83. 158 Mit dem Begriff ἐλευθερία wird die Freiheit eines Staates nach außen bestimmt und nicht dessen politische Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, die mit dem Begriff αὐτονομία zum Ausdruck kommt und Teil der politischen Terminologie in den zwischenstaatlichen Beziehungen war (vgl. Passow I.2 s. v. ἐλευθερία 871; I.1. s. v. αὐτονομία 450; Bickerman, RIDA 5 [1958] 313–344, bes. 339ff.; Croix, Origins 98f.; Steinbrecher, Der Delisch-Attische Seebund 62ff.; Ostwald, Autonomia: Its Genesis and Early History 1. 29; Raaflaub, Freiheit 199–203; Sealey, Demosthenes and His Time 241–244; Low, Interstate Relations 187–199). Demzufolge ist die Hilfeleistung gegenüber einer Polis bzw. einem verwandten Stamm für die Freiheit von dem Intervenieren zur Einrichtung eines demokratischen bzw. oligarchischen politischen Systems zu differenzieren. Doch gab es im 4. Jh. eine Tendenz zur Angleichung dieser Begriffe (vgl. dazu Karavites, RIDA 31 [1984] 167–191). 121

a. Krieg für die Freiheit der Hellenen Kleinasiens Obgleich Isokrates Muster verwendet, die häufig in attischen epideiktischen Reden vorkamen,159 und die sich in einer sehr ähnlichen Weise im platonischen Menexenos und in den Epitaphien, die Lysias und Demosthenes zugeschrieben sind, finden,160 geht seine Intention über das bloße Lob Athens hinaus. Die Rechtfertigung des vorgeschlagenen Perserkrieges und des Anspruchs Athens auf die Teilung der ἡγεμονία mit Sparta sind wichtige Ziele der Rede und bestimmen die Darstellung der Ereignisse von der ruhmreichen Vergangenheit Athens. Als der Rhetor von den Verdiensten Athens für die hellenische Freiheit in mythischen und historischen Kriegen gegen Barbaren berichtet, betont er die angebliche Uneigennützigkeit Athens. Das Streben nach Freiheit wird unter allen Umständen als das höchste Gut geschätzt.161 Der Perserkrieg kann somit im weiteren Verlauf der Rede über die ökonomischen Motive hinaus moralisch als Freiheitskrieg rechtfertigt werden. Laut Isokrates hätten die Vorfahren der Athener eine Reihe von barbarischen Einfällen nach Attika zugunsten ganz Griechenlands erfolgreich bewältigt.162 Der Krieg gegen die Barbaren wird einheitlich behandelt, sodass unter dem Begriff 159 Vgl. Aristot. rhet. 1396a 15–18. W. Kierdorf (Perserkriege 83. 89f.) spricht von einem immer wieder auftauchenden ‚Katalog der Heldentaten Athens’ in den attischen Grabreden sowie im Panegyrikos und Panathenaikos des Isokrates. Für die Entstehung des Tatenkatalogs seien allerdings das Erlebnis der Perserkriege und das daraus entstandene Selbstbewusstsein der Athener maßgeblich. 160 Es handelt sich um die Mythen bezüglich der Hilfe Athens an die Hiketen Adrastos und die Söhne des Herakles sowie über die Kriege der Amazonen und der Thraker unter Eumolpos gegen Athen (vgl. Plat. Mx. 239b; Lys. 2,4–16; [Demosth.] 60,8). Darüber hinaus wird stets von der vorzüglichen Rolle Athens in den Perserkriegen berichtet (vgl. Plat. Mx. 239d-241e; Lys. 2,20–47; [Demosth.] 60,10). Außerhalb der Grabreden hatte bereits im 5. Jh. der Geschichtsschreiber Herodot den Athenern einen Bericht über die ruhmreichen Kriegstaten Athens in mythischer Vorzeit in den Mund gelegt (vgl. Hdt. 9,27). Thukydides hingegen bezieht sich in seiner Athenerrede lediglich auf die Rolle Athens in den Perserkriegen (vgl. Thuk. 1,72). 161 Im Bericht über die Ereignisse der Seeschlacht des Jahres 480 bei Salamis erscheint der Krieg ὑπὲρ τῆς ἐλευθερίας sogar wichtiger als die Verteidigung der eigenen Landesgrenzen. Die Athener hätten sich nach dem Verlassen ihrer Polis trotz der Angebote des Großkönigs vorbereitet, einen Krieg für ihre Freiheit zu führen (vgl. Isokr. 4,94f.). Der imposante Gedanke der höheren Wertschätzung der Freiheit als der Besitz der Heimat findet sich auch in der isokrateischen Rede des Archidamos, in dem der spartanische Thronfolger den Lakedaimoniern rät, das Vaterland um der Freiheit willen zu verlassen, so wie es einst die Phoker und die Athener getan hätten (vgl. Isokr. 6,43. 73–80. 84). Vgl. dazu Pointner, Die Verfassungstheorie des Isokrates 9. 162 Vgl. Isokr. 4,68. Zur ausdrücklichen Bezeichnung der Kämpfe Athens in den Perserkriegen als Kämpfe um Griechenlands Freiheit bzw. Rettung vgl. Isokr. 4,52. 83. 85f. 98f.; dazu auch Isokr. 4,154 mit Bezug auf die Rolle des Themistokles bei der Seeschlacht von Salamis. 122

‚Barbaren‘ die Thraker, die Skythen und die Perser erfasst sind, also drei der den damaligen Hellenen bekanntesten Barbarenvölker.163 Isokrates nimmt Bezug auf die angeblich skythische Herkunft der Amazonen und ihren Überfall auf Athen sowie auf den Krieg gegen die Thraker, die es unter ihrem mythischen König Eumolpos ebenfalls auf die Eroberung Athens abgesehen hatten164. Der Rhetor ist nicht der erste, der diese zwei mythischen Motive in einer epideiktischen Rede verwendet; ganz im Gegenteil: Er folgt einer bereits bestehenden Tradition, deren Berichte er zugunsten seiner Argumentation benutzt. Aus allen Angriffen auf Athen macht er Angriffe der Barbaren gegen ganz Hellas, wobei die Leistungen Athens ein stets gültiges Paradeigma anbieten.165 Allerdings kann bei den politischen Konstellationen nach dem Königsfrieden ein Krieg gegen das Perserreich für die Freiheit praktisch nur als ein Krieg für die Freiheit der Ionier Kleinasiens gerechtfertigt werden. Die historischen Wurzeln eines solchen Argumentes gehen auf das 5. Jh. zurück und waren zur Zeit des Panegyrikos immer noch aktuell. Der Kampf der ionischen Städte Kleinasiens um ihre Unabhängigkeit von der persischen Herrschaft und die Unterstützung des Mutterlands dazu waren bereits am Anfang des 5. Jh. der erwünschte Anlass zum Angriff der Perser gegen hellenische Poleis – zunächst gegen Eretria und Athen.166 Seit dem Ende der Perserkriege waren die Freiheit und Autonomie der Griechenstädte Kleinasiens das proklamierte Ziel attischer Außenpolitik schlechthin, die vor allem durch den Delisch-Attischen Seebund ausgeführt wurde. Dadurch rechtfertigten die Athener nicht nur die Existenz des Seebundes, sondern auch ihre Angriffe gegen persische Ziele bis zum sogenannten Kalliasfrieden von 449. Erst seit Verlust der attischen ἀρχή nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges begann der König Artaxerxes II. erneut Besitzanspruch auf die ionischen Städte Kleinasiens zu erheben. Die Spartaner hatten laut Xenophon während ihres Krieges gegen den persischen Satrapen Tissaphernes in Kleinasien (399–397) auf der Autonomie der Griechenstädte Kleinasiens bestanden,167 was schließlich als eine der Bedingungen in den Friedensvertrag von 397 aufgenommen wurde.168 Allerdings vergaß der Großkönig seinen Anspruch 163 Vgl. Buchner, Panegyrikos 72. 164 Der wahre Kern des thrakischen Überfalls auf Athen geht wahrscheinlich auf einen älteren Krieg zwischen den Athenern und ihren damaligen Nachbarn, den Eleusiniern, zurück. Vgl. dazu Buchner, Panegyrikos 71 Anm. 2. Zur umstrittenen Herkunft des Eumolpos entweder aus Eleusis oder aus Thrakien vgl. Clinton, DNP 4 (1998) s. v. Eumolpos 254; Harrison, Hesperia 69 (2000) 267–291, bes. 274. 165 Vgl. Buchner, Panegyrikos 71. 166 Es geht um den Ionischen Aufstand (499–494), der mit militärischer Unterstützung aus Athen und Eretria stattfand. Vgl. Hdt. 5,28–6,32. 167 Vgl. Xen. hell. 3,2,20. Xenophon lässt den spartanischen Truppenführer Derkylidas bei den Verhandlungen über den Waffenstillstand mit den persischen Satrapen Tissaphernes und Pharnabazos seine Bedingung aussprechen: εἰ αὐτονόμους ἐῴη βασιλεὺς τὰς ῾Ελληνίδας πόλεις. 168 Vgl. StV II² 219. 123

auf jene Poleis keineswegs. Durch eine Klausel des Königsfriedens von 387/6 gewann er schließlich die Oberhoheit über die kleinasiatischen Poleis.169 Isokrates hält diese Vertragsbestimmung für einen wichtigen Grund, gegen das Perserreich vorzugehen. Das Unterstreichen der Stellung der nunmehr untergeordneten Hellenen Kleinasiens und ihre Befreiung sind beständige Ziele seiner Argumentation vom Panegyrikos an bis zu seiner letzten Rede, dem Panathenaikos.170 Für die harte Bedingung in Bezug auf die ionischen Poleis im Königsfrieden macht Isokrates bereits im Panegyrikos die Lakedaimonier verantwortlich. Die Spartaner hatten schon während des Peloponnesischen Krieges die Befreiung der Hellenen von der attischen Herrschaft als ihr Ziel festgesetzt und zudem die Ionier zum Abfall von Athen angeregt, nun hätten sie aber die Ionier Kleinasiens den Barbaren ausgeliefert und somit das missbraucht, was Isokrates zum höchsten Besitz der Griechen rechnete, nämlich das Streben nach Freiheit.171 Der neue Zustand sei also das Ergebnis des Peloponnesischen Krieges und des Erlangens der ἀρχή durch Sparta an der Stelle Athens.172 Isokrates’ vorrangiges Ziel ist es aber nicht, die spartanische ἀρχή zu kritisieren, sondern sein Konzept der Eintracht und des gemeinsamen Angriffskrieges darzulegen.173 Er nutzt dabei die Gelegenheit, das alte Argument des Kampfes für die Freiheit der Hellenen Kleinasiens zu verwenden und passt es den neuen politischen Umständen nach dem Königsfrieden an. Er wirbt für ein Bündnis unter der Führung Athens und Spartas; die Teilnahme der Ionier Kleinasiens galt als selbstverständlich. Der panhellenische Feldzug würde nämlich ein Krieg für die Freiheit der Bündner sein: τῆς στρατιᾶς […] ὑπὲρ δὲ τῆς τῶν συμμάχων ἐλευθερίας ἁθροιζομένης.174 Somit gelangt der Rhetor zum eigentlichen Ziel seiner Argumentation und Endpunkt seiner Gedanken über die Freiheitskriege Athens, die mit der Unterscheidung der vergangenen Kriege zwischen denen, die für die eigene Freiheit und denen, die für die Freiheit anderer Hellenen geführt wurden, begonnen hatten: Οὐ γὰρ μικροὺς οὐδ‘ ὀλίγους οὐδ‘ ἀφανεῖς ἀγῶνας ὑπέμειναν, ἀλλὰ πολλοὺς καὶ δεινοὺς καὶ μεγάλους, τοὺς μὲν ὑπὲρ τῆς αὑτῶν χώρας, τοὺς δ‘ ὑπὲρ τῆς τῶν ἄλλων ἐλευθερίας·175

Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich für Isokrates die Superiorität des Griechentums unter anderem in der Freiheit der politischen Organisationsformen, 169 170 171 172

Vgl. Xen. hell. 5,1,31; StV II² 242. Vgl. Isokr. 4,122f. 135f. 175; 5,100. 125f.; 12,59f. 103. 106f.; Mathieu, Ιδέες 94f. Vgl. Pointner, Die Verfassungstheorie des Isokrates 9. Vgl. Isokr. 4,122. Die Lakedaimonier macht Isokrates ähnlicherweise im Panathenaikos für die Situation in Hellas verantwortlich. Vgl. Isokr. 12,59f. 103. 106f. 173 Es ist auffällig, dass Isokrates in seinem Bericht zum Beitrag der Athener für Hellas in den Perserkriegen Athen neben Sparta stellt und beide Poleis wegen ihrer Verdienste gemeinsam lobt. Vgl. Isokr. 4,73ff. 85ff. Dazu Buchner, Panegyrikos 74f. 174 Isokr. 4,185. 175 Isokr. 4,52. 124

d. h. der Abkehr vom Despotismus, manifestiert, kann die Rechtfertigung eines Angriffskrieges gegen den persischen Großkönig für die Freiheit der Hellenen Kleinasiens tatsächlich kein Problem bedeuten.176 Allerdings weisen die zwei isokrateischen Typen des Krieges um die Freiheit, nämlich der Krieg ὑπὲρ τῆς ἐλευθερίας der eigenen Polis und der ὑπὲρ τῆς τῶν ἄλλων ἐλευθερίας einen wesentlichen Unterschied auf: Während ersterer reine Verteidigungskriege rechtfertigt, handelt es sich beim zweiten um die Rechtfertigung von vergangenen oder auch für die in der Zukunft geplanten Offensivkriegen. Es ist hier nicht zu übersehen, dass der isokrateische Freiheitsbegriff durchaus imperialistische Elemente in sich birgt. Freiheit kommt der Poleis für ihn nicht von vornherein zu, sie ist vielmehr ein Preis, für den unter allen Umständen gekämpft werden muss. Ein erfolgreich bestandener Freiheitskampf erscheint bei ihm als Vorstufe zu neuer Expansion und neuer Macht.177

b. Krieg als Hilfeleistung Die Interventionen in anderen Poleis waren ein außenpolitisches Vorgehen der jeweils mächtigsten Polis. Im 4. Jh. sollten zwar die allgemeinen Friedenssch­lüsse – sei es der Königsfrieden oder die folgenden Friedensverträge – die Autonomie hellenischer Poleis garantieren, die Autonomieklauseln waren aber zugleich ein destabilisierender Faktor, weil sie Interventionen unter dem vorgeblichen Schutz oder der Wiederherstellung von Autonomie ermöglichten.178 Nicht zuletzt aus dieser Sicht ist Isokrates’ Bemühen zu verstehen, athenische Interventionen in der mythischen Vorzeit zu den großen Leistungen Athens zu zählen, um somit die Kriegspolitik Athens zu seiner Zeit zu rechtfertigen und die Rolle der Athener als προστάται der Hellenen hervorzuheben.179 Empfänger der athenischen Hilfe sollen ἀδικούμενοι (Unrecht erleidende) und ἀσθενέστεροι (schwächere) Hellenen sein.180 Προεστάναι τῶν ῾Ελλήνων181 kann ein Hinweis sowohl auf den Führungsanspruch als auch auf die Schutzfunktion der Rolle Athens sein. Im Panegyrikos behauptet der Rhetor, dass die Hilfeleistung für andere hellenische Poleis ein hochwertiges Prinzip der attischen Außenpolitik sei, sodass die Athener es vorgezogen hätten, auf stärkere Bündnisse zu verzichten, um so Schwächeren,

176 177 178 179

Vgl. Weißenberger, Plan, in: Orth, Isokrates 95–110, bes. 104. Vgl. Pointner, Die Verfassungstheorie des Isokrates 14. Vgl. Walter, Isokrates metanóôn? In: Orth, Isokrates 78–93, bes. 90. Zumal es die Spartaner waren, die gemäß dem Königsfrieden die Rolle der προστάται des Friedens übernahmen und demzufolge berechtigt waren, in hellenischen Poleis zum Schutz der Bestimmungen des Vertrags zu intervenieren. Vgl. Xen. hell. 5,1,36. 180 Vgl. Isokr. 4,52f. 181 Die Athener werden als diejenigen bezeichnet, die schlechthin Anspruch auf προεστάναι τῶν ῾Ελλήνων haben dürfen. Vgl. Isokr. 4,57. 95. 125

auch wenn es gegen die Interessen der Polis war, zu helfen.182 Hierbei ist ein oft geäußerter Vorwurf zu beachten, der auch in entsprechenden Passagen der Friedensrede des Andokides und des platonischen Menexenos zu finden ist. Andokides bezeichnete die Gewohnheit Athens, den Schwächeren zu helfen, als εἰθισμένον κακόν, da dieses Verhalten zu Krieg führe, während die Wahl für die Stärkeren den Frieden sichern würde. Platon übertreibt, wenn er behauptet, man könnte Athen als Dienerin des Schwächeren anklagen.183 Isokrates wendet sich gegen diejenigen, die dieses Vorgehen Athens kritisieren184 und versucht zu zeigen, dass die Athener lediglich von der Gerechtigkeit ausgegangen seien: ᾑρούμεθα τοῖς ἀσθενεστέροις καὶ παρὰ τὸ συμφέρον βοηθεῖν μᾶλλον ἢ τοῖς κρείττοσιν τοῦ λυσιτελοῦντος ἕνεκα συναδικεῖν.185

Der Publizist zielt hier darauf ab, die moralische Überlegenheit Athens zu manifestieren, sodass deutlich wird, dass seine Heimatstadt die Prostasie in Hellas übernehmen sowie der Forderung nach einer Führungsrolle im vorgeschlagenen Perserzug nachkommen solle. Denn das gerechte Vorgehen der Polis sichert gegenüber den Verbündeten, dass sich Athen im Kriegszug nicht nach seinem eigenen Vorteil, sondern zum Nutzen aller Beteiligten richten würde.186 Jedoch vermag es Isokrates hier nicht, seine Argumentation auf eine feste Grundlage zu stützen, denn die Zeiten des Machtmissbrauchs Athens gegenüber Schwächeren und sogar gegen die Bundesgenossen während des Delisch-Attischen Seebundes und des Peloponnesischen Krieges lagen nicht weit zurück und existierten nach wie vor im Gedächtnis der Hellenen. Daher sucht der Redner bewusst nicht nach entsprechenden Beispielen in der nahen Vergangenheit, sondern in der mythischen Vorzeit Athens, die seine Position stärken sollte.187 So wie Lysias und Platon berichtet er von älteren Hilfeleistungen Athens bei Hilfegesuchen, und zwar in der Form von Hikesien.188 Bei 182 Vgl. Isokr. 4,53. 57. 183 Vgl. And. 3,28 (s. hier S. 50); Plat. Mx. 244e; dazu Pohlenz, Aus Platos Werdezeit 307f.; Eucken, Isokrates 164f.; Tsitsiridis, Menexenos, Komm. zu 344e, 341f. 184 Isokr. 4,53: Διὸ δὴ καὶ κατηγοροῦσίν τινες ἡμῶν ὡς οὐκ ὀρθῶς βουλευομένων, ὅτι τοὺς ἀσθενεστέρους εἰθίσμεθα θεραπεύειν, ὥσπερ οὐ μετὰ τῶν ἐπαινεῖν βουλομένων ἡμᾶς τοὺς λόγους ὄντας τοὺς τοιούτους. Es kann allerdings nicht mit Sicherheit gefolgert werden, dass Isokrates auf die genannten Stellen des Andokides oder Platons anspielt. Zu den unterschiedlichen Vermutungen vgl. Tsitsiridis, Menexenos, Komm. zu 344e, 342. 185 Isokr. 4,53. 186 Vgl. Usher, Panegyricus and To Nicocles 161. 187 Isokrates macht ausdrücklich deutlich, dass er die in jüngster Vergangenheit oder die aus nichtigen Anlässen an Athen gerichteten Hilfegesuche übergehen wird (vgl. Isokr. 4,54). Hierbei erklärt er aber nicht, weshalb er auf die in jüngerer Zeit – eventuell aus ernsten Anlässen hervorgerufenen – an Athen gerichteten Hilfegesuche nicht eingeht. 188 Vgl. Plat. Mx. 239b-c; Lys. 2,7–16; Isokr. 4,54ff. Ähnliches wird im demosthenischen Epitaphios berichtet (vgl. [Demosth.] 60,8f.). 126

Isokrates hätten die Athener durch die Kriege aufgrund von ἱκετεῖαι bereits in der Vergangenheit Unrecht bestraft.189 Wichtig ist hierbei, das sich die Bittflehenden nach Isokrates’ Darstellung an eine starke Polis, und zwar an Athen wandten, da sie nur diese Stadt für fähig hielten, die Bittsteller wirkungsvoll zu beschützen. Dadurch erkannten diese den Anspruch der Athener, als προστάται der bedrängten Hellenen zu agieren.190 Die Hikesie-Erzählungen bieten damit die mythische Parallele zu den Kämpfen, die die Athener für Recht und Freiheit bedrohter hellenischer Gemeinden gegen andere hellenische Mächte durchführten.191 Nicht die Existenz der um Schutz Flehenden, sondern die Wiedergutmachung einer ἀδικία steht im Mittelpunkt. Demzufolge seien die Athener mit dem König von Argos, Adrastos, gegen Theben gezogen, damit das ererbte Gesetz der Bestattung der Kriegsgefallenen nicht außer Kraft gesetzt wird.192 Ähnlich hätten sie zusammen mit den schutzflehenden Söhnen des Herakles einen Krieg gegen die Streitmacht des Eurystheus geführt, sodass dessen frevelhaftes Benehmen bestraft wurde.193 Der Beifall der anderen Hellenen für dieses Vorgehen sei der Beweis für die Gerechtigkeit dieser athenischen Kriegszüge gewesen.194 Indem Isokrates die älteren athenischen Hilfeleistungen mit der Hikesie, der unumstrittenen Institution des griechischen Sakralrechts, verbindet, versucht er den Anspruch der vorgeblich fromm und gerecht handelnden Athener auf Prostasie und Hegemonie in Hellas zu rechtfertigen. Dies steht besonders im Zusammenhang mit dem vorgeschlagenen Perserkrieg. Dazu ist die Wiederherstellung der athenischen Macht – eventuell durch die Erneuerung einer Seeherrschaft – erforderlich. Es ist jedoch nicht nachzuweisen, dass Isokrates durch seinen Panegyrikos explizit die Gründung eines neuen Seebundes, zumindest so, wie dieser drei Jahre später tatsächlich zustande kam, propagierte. Da Isokrates allerdings von einer βοήθεια gegenüber den Unrecht Leidenden auf Kosten der Teilnahme Athens an stärkeren Symmachien spricht, versteht er die Hilfeleistung als einen Akt innerhalb eines Bundes mit Schwächeren,195 wobei er dies nicht weiter konkretisiert; jedenfalls kann der Panegyrikos nicht ohne Vorbehalte als gezielte Vorbereitung des Zweiten Attischen Seebundes betrachtet werden.196 189 190 191 192 193 194 195 196

Vgl. Isokr. 4,54. Vgl. Isokr. 4,57. Vgl. Kierdorf, Perserkriege 92. Isokrates beruft sich hierbei sowohl auf einen alten sozialethischen Brauch (παλαιὸν ἔθος) als auch auf das ererbte, sakrale Recht (πάτριος νόμος), beide sehr starke und populäre Rechtfertigungsargumente. Vgl. Isokr. 4,55. Vgl. Isokr. 4,54–58. Vgl. Isokr. 4,59. Vgl. Isokr. 4,53. Argumente gegen die These des U. von Wilamowitz-Moellendorff, dass der Panegyrikos die Gründung des Zweiten Attischen Seebundes vorbereiten sollte (vgl. Wilamowitz-Moellendorff, Aristoteles und Athen II, 380–390; zustimmend dazu Drerup, Philologus 54 [1895] 636–653, bes. 644f.), bieten zutreffend F. Taeger, 127

Unabhängig davon kann Isokrates durch den Verweis auf ältere Beispiele von Hilfegesuchen und Hikesien militärisches Eingreifen zugunsten der Ionier Kleinasiens sowie – unter Umständen – jede Intervention Athens in anderen Poleis, auch wenn sich diese gegen Hellenen wendet, jederzeit als eine ebenfalls angemessene Hilfeleistung gegenüber Schwächeren und Unrecht Leidenden rechtfertigen.

2.1.2.2 Rachekrieg und natürliche Feindschaft Während ein großer Teil der isokrateischen Argumentation die Durchführbarkeit des Krieges gegen das Perserreich sowie den Nutzen für die Hellenen in Betracht zieht, stellt der Rhetor zusätzlich die Frage nach der Gerechtigkeit dieses Krieges, und zwar unabhängig von den möglichen Vorteilen des Unternehmens: πρὸς τίνας χρὴ πολεμεῖν τοὺς μηδεμιᾶς πλεονεξίας ἐπιθυμοῦντας, ἀλλ᾿ αὐτὸ τὸ δίκαιον σκοποῦντας;197

Nicht das Mehr-Haben-Wollen, sondern eine Kriegführung ausschließlich in Bezug auf das Gerechte interessiert hier den Rhetor.198 Das δίκαιον wird aber nicht als ein aufgrund von völkerrechtlichen Verträgen bestehendes Recht, sondern als ‚das Rechte‘ im sozialethischen Sinne untersucht.199 Demzufolge führt Isokrates folgende drei Voraussetzungen an, die eine panhellenische Kriegführung gegen die Perser rechtfertigen: […] (χρὴ πολεμεῖν) πρὸς τοὺς καὶ πρότερον κακῶς τὴν ῾Ελλάδα ποιήσαντας καὶ νῦν ἐπιβουλεύοντας καὶ πάντα τὸν χρόνον οὕτω πρὸς ἡμᾶς διακειμένους 200

Der Krieg ist also laut Isokrates gerecht, da er sich gegen diejenigen wenden wird, a. die in der Vergangenheit Hellas heimgesucht hatten b. die Hellas gegenwärtig bedrohen, c. die den Hellenen die ganze Zeit über feindlich gesinnt sind.

197 198 199 200 128

E. Buchner und K. Bringmann (vgl. Taeger, Der Friede von 362/1: Ein Beitrag zur Geschichte der panhellenischen Bewegung im 4. Jahrhundert 24; Buchner, Panegyrikos 136ff.; Bringmann, Studien zu den politischen Ideen des Isokrates 42–46). In der Tat kann eine derartige panegyrische Rede keine enge Beziehung zur realen Politik haben, d. h. auch nicht das Programm des Zweiten Attischen Seebundes enthalten. Isokrates propagiert alleine den nationalen Krieg gegen das Perserreich; ein Mittel zu diesem Zweck ist die Wiederherstellung der athenischen Macht, eventuell auch durch die Übernahme bzw. Teilung der Hegemonie mit Sparta innerhalb eines neuen Bundes (vgl. dazu Jaeger, Paeideia III, 142). Isokr. 4,183. Die πλεονεξία wird von Isokrates als gegensätzlicher Begriff zum δίκαιον benutzt (vgl. Weber, Pleonexie 148), was hier unmittelbar die weiterführenden Ansichten des Rhetors über den gerechten Krieg betonen soll. Vgl. Wolf, Rechtsdenken 272. Isokr. 4,183.

Durch die Darstellung des ersten Punktes nimmt das Unternehmen gegen Persien den Charakter eines Rachekrieges ein. Der zweite Punkt bezieht sich auf den gegenwärtigen Standort. Der dritte Gesichtspunkt hebt die Erbfeindschaft zwischen Hellenen und Persern hervor und zwar als ein Verhältnis, das bis zur Abfassungszeit der Rede dauert. Daraus ergibt sich, dass ein panhellenischer Angriff auf das Perserreich der Form nach sowohl einen Rache- als auch einen Präventivkrieg darstellt.

a. Krieg als Racheaktion Die Forderung nach Rache an den Persern äußert Isokrates durch die Ausdrücke δίκην διδόναι und δίκην λαμβάνειν.201 Beide Termini bezeichnen im Kontext des Perserkrieges die ‚Sühne‘, die die Perser nach natürlich-geschichtlicher ‚Lage‘ zu leisten hatten, sowie eine ‚Genugtuung‘, die sie den Griechen schuldeten.202 Es ist zu beachten, dass Isokrates sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart im Sinn hat, wenn er von τῶν γεγενημένων δίκην ληψόμεθα203 spricht. In Bezug auf das erlittene Unrecht in der Vergangenheit ist an die persischen Feldzüge gegen Hellas und die damals stattgefundene Zerstörung hellenischer Heiligtümer zu denken; in der Gegenwart stehen die Auswirkungen der von den Persern festgelegten Bedingungen des Königsfriedens im Mittelpunkt. Im weiteren Verlauf wird zunächst der Rachegedanke wegen des erlittenen Unrechts in der Vergangenheit untersucht.204 Die gewünschte Rache an den asiatischen Barbaren hatte sogar Jahrzehnte nach den Perserkriegen nachhaltige Wirkung in Hellas. Sie spielte noch einige Jahre vor dem Verfassen des Panegyrikos eine große Rolle, als im Jahr 400 die Spartaner als προστάται aller Hellenen den ionischen Poleis Kleinasiens zu Hilfe gekommen waren, die den persischen Thronprätendenten Kyros gegen seinen Bruder Artaxerxes II. unterstützt hatten.205 Als im Jahr 396 der Spartanerkönig Agesilaos die Kriegführung gegen den persischen Großkönig innehatte, entschied er sich vor der Überfahrt nach Ephesos ein Opfer in Aulis darzubringen, so wie es Agamemnon vor der Ausfahrt nach Troia getan hatte. Die Opferhandlung in Aulis – die jedoch durch die Intervention der Boiotarchen verhindert wurde – sollte symbolisch darauf hindeuten, dass Agesilaos einen panhellenischen Rachekrieg gegen dieselben Feinde

201 Vgl. Isokr. 4,149 (Rache in der Vergangenheit); 4,181 (erneute Racheaufforderung). 202 Zur Erläuterung der Ausdrücke δίκην διδόναι und δίκην λαμβάνειν im gerichtlichen sowie im außergerichtlichen Kontext bei Isokrates vgl. Wolf, Rechtsdenken III.2, 262. 268. 203 Isokr. 4,181: Υπὲρ ὧν ἄξιον ὀργίζεσθαι καὶ σκοπεῖν ὅπως τῶν τε γεγενημένων δίκην ληψόμεθα καὶ τὰ μέλλοντα διορθωσόμεθα. 204 Die Kritik des Rhetors gegen den Königsfrieden und seine Forderung nach Vertragsbruch wird im nächsten Kapitel untersucht. 205 Vgl. Xen. hell. 3,1,3. 129

wie einst Agamemnon führte.206 Dies dient als Hinweis, dass die griechische Welt einen Krieg gegen die Barbaren wegen der historischen Hintergründe legitimieren wollte. Es kann also einige Jahre später keineswegs befremden, wenn Isokrates den Kriegszug gegen das Perserreich mit dem Troianischen Krieg in eine Reihe stellt, denn in beiden Fällen geht es um die Vergeltung für erlittenes Unrecht. Damals war es der Raub der Helena, jetzt die Schäden, die die Perser den Hellenen über ein Jahrhundert lang beschert hatten.207 Bezüglich der Perserkriege des 5. Jh. weist Isokrates darauf hin, dass die Perser schon dafür bestraft wurden, dass sie überhaupt nach Europa kamen.208 Hierbei wird impliziert, dass allein der Angriff asiatischer Barbaren gegen den griechischen Kulturraum Vergeltung erforderte, denn Isokrates identifiziert Europa mit Hellas.209 Der erneuten Racheaufforderung werden weitere Rechtfertigungen zu Grunde gelegt: Im Hinblick auf das erlittene Unrecht spricht der Redner zwar zunächst ganz allgemein über das den Hellenen von den Persern ständig zugefügte Unheil,210 er konzentriert sich aber auf die während der Perserkriege verübten Frevel. Dazu gehören die Zerstörung der Sitze der Götter sowie die Plünderung und Niederbrennung griechischer Tempel. Somit werden die Perser zu Feinden erklärt: Τί δ‘ οὐκ ἐχθρὸν αὐτοῖς ἐστὶν τῶν παρ‘ ἡμῖν, οἳ καὶ τὰ τῶν θεῶν ἕδη καὶ τοὺς νεὼς συλᾶν ἐν τῷ προτέρῳ πολέμῳ καὶ κατακάειν ἐτόλμησαν; 211

206 Vgl. Xen. hell. 3, 4, 3f.; Plut. Ages. 6, 4–11; Paus. 3, 9, 2f.; dazu Hamilton, Agesilaus and the Failure of Spartan Hegemony 31. 207 Vgl. Isokr. 4,181. Der Zug der Griechen gegen Troia wird von Herodot als ein Rachekrieg bezeichnet, womit die große Auseinandersetzung zwischen Europa und Asien begonnen hätte (vgl. Hdt. 1, 4, 1f.). 208 Isokr. 4,149: […] διαβάντες εἰς τὴν Εὐρώπην δίκην ἔδοσαν. 209 Bereits in seiner Rede Enkomion auf Helena stellte Isokrates den Troianischen Krieg als eine griechisch-barbarische Auseinandersetzung um den Wohlstand entweder Europas oder Asiens dar (vgl. Isokr. 10, 51; Momigliano, Europa, in: Seck, Isokrates 128–138, bes. 130). Für Isokrates gilt also Europa schon seit der Zeit des Troianischen Krieges als ein ausschließlich hellenischer Raum, auf den Nichtgriechen keinen Anspruch erheben dürfen. Die Lobrede Helena lässt sich nur grob auf die Jahre zwischen der Sophistenrede 390 und dem Panegyrikos 380 datieren (Vgl. Blass, Beredsamkeit II, 244; Drerup, Isocratis opera omnia I, CXXXIIff.; Münscher, RE IX,2 [1916] s. v. Isokrates [2] 2146–2227, bes. 2184; Eucken, Isokrates 44; Zajonz, Isokrates‘ Enkomion auf Helena 58f.; Zur Zusammenfassung der einzelnen älteren abweichenden Meinungen in der Forschung bezüglich der Helenadatierung vgl. Eucken, Isokrates 44 Anm. 1.). 210 Isokr. 4,155: Περὶ τίνας δ‘ ἡμῶν οὐκ ἐξημαρτήκασιν; Ποῖον δὲ χρόνον διαλελοίπασιν ἐπιβουλεύοντες τοῖς ῞Ελλησιν. 211 Isokr. 4,155; vgl. auch Isokr. 4,156. 130

Ein Krieg, der nicht nur gegen Menschen, sondern auch gegen ihre Heiligtümer geführt worden sei,212 müsste nach Isokrates als immer weiter bestehend wahrgenommen werden. Das religiöse Motiv tritt somit bei der Kriegsrechtfertigung in den Vordergrund und macht die Argumentation wirkungsvoller.213 Als der Rhetor daraufhin von der ἀσέβεια der Barbaren spricht,214 wählt er diesen eindrucksvollen Begriff, der in Athen mit einem der schwersten Verstöße gegen die Gesetze verbunden war und hart bestraft wurde.215 Im attischen Gerichtswesen war die ἀσεβείας γραφή eine Anklage wegen Gottlosigkeit, deren gesetzliche Grundlage im Jahr 432 geschaffen wurde. Allerdings war der Begriff ἀσέβεια weitgehend unbestimmt und dehnbar, sodass darunter jede Art sakralen Deliktes fallen konnte.216 Im Sinne der ἀσέβεια machte sich jedenfalls derjenige schuldig und straffällig, der τὰ ἱερά, die den Göttern geweihten Tempel, Altäre, Bilder oder sonstige mit ihnen in unmittelbarer Verbindung stehenden Gegenstände, verletzte.217 Im griechischen Denken war ἀσεβεῖν eng mit ἀδικεῖν – gegen die Götter – verbunden.218 Wenn demzufolge Isokrates von ἀσέβεια spricht, deutet er auf ein auf jeden Fall zu bestrafendes Unrecht hin. Die während des Xerxeszuges im Jahr 480/79 verübten Frevel waren typische der ἀσέβεια zuzuordnende Untaten; im Fall, in dem ähnliche Frevel durch attische Bürger verübt worden waren, müssten diese der attischen Gesetzgebung nach verurteilt werden. Die ἀσέβεια der Perser jedoch, eines auswärtigen Kriegsfeindes, konnte selbstverständlich keineswegs im Rahmen 212 Isokr. 4,156: […] ὁρῶντες αὐτοὺς οὐ μόνον τοῖς σώμασιν ἡμῶν, ἀλλὰ καὶ τοῖς ἀναθήμασιν πολεμήσαντας. 213 Vgl. Mühl, Die politischen Ideen des Isokrates und die Geschichtsschreibung I, 29f. 33. 43. 214 Vgl. Isokr. 4,156. 215 Die Asebie-Strafe schwankte je nach Schwere des Falls zwischen Güterverlust, Verbannung, Ächtung oder Tod (Vgl. Thalheim, RE II,2 [1896] s. v. ἀσεβείας γραφή 1529–1531, bes. 1530; Busolt, Staatskunde I, 525). Durch Asebie-Prozesse, die allerdings meistens einen politischen Hintergrund hatten, wurden in Athen bereits bedeutende Persönlichkeiten angeklagt bzw. verurteilt (Vgl. Nestle, Mythos 479–485). Der berühmte Sokrates-Prozess, dessen Ausgang großen Eindruck in Athen hinterlassen hatte, lag nur zwei Jahrzehnte zurück (vgl. Beloch, GG III.1, 386ff.; Nestle, Mythos 481ff.). 216 Vgl. Thalheim, RE II,2 (1896) s. v. ἀσεβείας γραφή 1529–1531, bes. 1529f.; Lipsius, Das attische Recht II, 358.; Cohen, Law 189f. Die Unbestimmtheit und Dehnbarkeit des Deliktbegriffes wurden in der neueren Forschung in Frage gestellt, konnten aber nicht überzeugend bestritten werden. J. Rudhardt (MH 17 [1960] 87–105) behauptet, das Delikt sei durch ein Gesetz kasuistisch definiert worden. R.A. Bauman (Political Trials 114) vertritt die Meinung, nur bestimmte Taten könnten je nach Interpretation als ἀσέβεια wahrgenommen werden. Beide Auffassungen können nicht hinreichend nachgewiesen werden. 217 Vgl. Thalheim, RE II,2 (1896) s. v. ἀσεβείας γραφή 1529–1531, bes. 1529; Busolt, Staatskunde I, 523f. 218 Vgl. Dover, Morality 247ff. 253. 131

des attischen Gerichtswesens bestraft werden. Somit verwendet Isokrates „den Asebie-Akt ganz offenkundig als Stimulation für den Barbarenhass und damit für den Rachegedanken“219. Gegenüber der persischen Asebie sollten sich die Hellenen als eine große Religionsgemeinschaft begreifen.220 Der Rhetor nutzt die Kraft, die der Begriff als ungeschriebenes Recht besitzt und demzufolge in zwischenstaatlichen Verhältnissen angewandt werden konnte; er zieht daraus den Schluss, dass die Rache nur durch Krieg vollzogen werden könne. Obwohl Isokrates den Gedanken eines panhellenischen Angriffskrieges gegen die Perser mit der Bestrafung ihrer Religionsvergehen begründet, ist dies keineswegs sein Hauptargument zur Kriegsrechtfertigung.221 Es dient lediglich als moralische 219 Bellen, Chiron 4 (1974) 44–67, bes. 52. 220 Im selben Sinne werden die Hellenen wahrgenommen, als die Asebie des Andokides in einer Gerichtsrede des Pseudo-Lysias angeklagt wurde. Vgl. [Lys.] 6,19; dazu Kleinow, Überwindung 81. 221 Vgl. Gillis, WS N.F. 5 (1971) 52–73, bes. 71; Seibert, „Panhellenischer“ Kreuzzug, in: Will, Alexander der Grosse 5–58, bes. 23; Weißenberger, Plan, in: Orth, Isokrates 95–110, bes. 103. Nach U. Wilcken (Philipp II. von Makedonien und die panhellenische Idee, in: SB d. Berl. Akad. d. Wiss., philos.-hist. Kl. 18 [1929] 291–318, bes. 314ff.) ist die Motivierung des Perserkrieges als eine Rache für die Frevel des Xerxes erst durch den Makedonenkönig Philipp II. verwendet worden. Es kann aber nicht behauptet werden, dass Isokrates keinen Gebrauch von einem solchen Argument gemacht hatte, gleichgültig ob der Rhetor selbst nicht an das Überzeugungsvermögen des Racheargumentes glaubte und folglich dieses nicht vertieft hat (vgl. dazu Dobesch, Gedanke 138 Anm. 10). Nach Isokrates werden die Perser gerade wegen ihrer ἀσέβεια zum ἐχθρός (vgl. Isokr. 4,155), d. h. zum Kriegsgegner, erklärt. Darüber hinaus ruft er zum Perserkrieg u. a. auch aufgrund der εὐσέβεια, also der Ehrfurcht vor den Göttern, auf (vgl. Isokr. 4,184). U. Wilckens Argument, dass Isokrates in seinem Philippos 346 nirgendwo von einer Rache für die persischen Frevel spricht, ist sehr schwach: Xerxes plünderte Heiligtümer in unterschiedlichen griechischen Poleis (Eretria, vgl. Hdt. 6,101,3; Branchidai, vgl. Hdt. 6,19,3; Naxos, vgl. Hdt. 6,96,1; Abai, vgl. Hdt. 8,33; und Athen, vgl. Hdt. 8,53,2), nicht aber in Makedonien. Es wäre mindestens ungeschickt, wenn Isokrates von einem Makedonen verlangt hätte, Rache für die – anderen – Hellenen mit Hinweis auf die Perserkriege zu nehmen, obwohl es allgemein bekannt war, dass das makedonische Königreich in den Perserkriegen – im besten Fall – nicht feindlich gegenüber den Persern eingestellt war. Dass Philipp im Jahr 337 trotzdem die Rache für die persischen Frevel zu seiner Parole machte (vgl. Diod. 16,89,2), lässt sich zunächst durch die Rolle und Argumentation Philipps im Dritten Heiligen Krieg (356–346) erklären; damals erschien der Makedonenkönig als Verfechter des delphischen Gottes und drang dynamisch in die hellenischen Angelegenheiten ein, indem er sich propagandistisch als Rächer an die Seite des delphischen Gottes stellte und folglich sogar den Vorsitz der pyläisch-delphischen Amphiktionie erlangte. Der Erfolg des Nutzens religiöser Argumente führte ihn nach Chaironeia dazu, die alten im berühmten isokrateischen Panegyrikos 132

Untermauerung seiner Aufforderung zum Krieg. Deswegen nimmt es laut H. Bellen (1974) die Rolle eines Vorwandes ein.222 Dies kann kaum bestritten werden; allerdings ist in den griechischen Poleis zum einen das religiöse Empfinden des Volkes nicht zu unterschätzen und zum anderen sind religiöses und politisches Denken meistens nicht voneinander trennbar. Ein sich auf 100 Jahre davor geschehene Ereignisse beziehendes Argument konnte allerdings allein keineswegs ein so großes panhellenisches Unternehmen gegen Persien initiieren. Wieso verwendet Isokrates es dann? Abgesehen von der Tatsache, dass der Meister der Rhetorik das Ziel seiner Rede selbstverständlich durch mehr als ein Argument begründen würde, ist die Funktion des Rachegedankens selbst in zwei Richtungen zu suchen: In der ersten vermag der Rhetor durch die Auswahl seiner unverblümten Worte zur Beschreibung der persischen Frevel panhellenisches Entsetzen gegen die Perser zu schüren und das Gerechte der Aktion für seine Adressaten zu betonen. Wenn Isokrates im Panegyrikos die Hellenen zum δίκην λαμβάνειν aufruft und als Ziel des Feldzuges ausdrücklich die Bestrafung (τιμωρία)223 der Perser nennt, ist somit seine Rechtfertigung für einen Angriffskrieg propagandistisch und rhetorisch überzeugend, denn die Rede ist eindeutig von einem gerechten Krieg.224 In der zweiten bietet er die sehr wohl erforderliche Kriegsrechtfertigung gegenüber dem Feind. Er stellt also den griechischen Politikern ein propagandistisches Mittel zur Verfügung, wodurch sie das Zustandekommen eines hellenischen Bundes225 und die Kriegserklärung gegen die Perser begründen können. Ein derartiges Argument war kein Novum in Bezug auf die Kriegserklärung; seiner hatten sich in der Vergangenheit doch sowohl die Perser – zumindest nach der Geschichtsschreibung Herodots – als auch die Hellenen bedient: – Bezüglich der Schuldfrage bei den Perserkriegen berichtet Herodot, dass die Perserkönige Dareios und Xerxes ihre Züge nach Griechenland als Vergeltung (τιμωρία) für den ionisch-attischen Angriff gegen Sardeis und die Niederbrennung der Tempel darstellten.226 Dieses Rachemotiv tritt wiederholt als einziger

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präsentierten Argumente des Nationalkrieges – auch – zur Rache für die alten Frevel des Xerxes zu verwenden. Vgl. Bellen, Chiron 4 (1974) 44–67, bes. 52. Vgl. Isokr. 4,185. Vgl. Weißenberger, Plan, in: Orth, Isokrates 95–110, bes. 103. Zu Recht behauptet D. Gillis (WS N.F. 5 [1971] 52–73, bes. 71), dass die griechische Einheit leichter erlangt würde, wenn ihr religiöse Motive, und zwar die Wendung gegen die persischen Frevel, zu Grunde lägen. Bereits beim Bericht über die Zerstörung von Sardeis und die Niederbrennung des Tempels der örtlichen Göttin Kybebe behauptet Herodot, dass die Perser sich später darauf bezogen, um die Niederbrennung der griechischen Tempel ihrerseits zu rechtfertigen (vgl. Hdt. 5,102,1). In diesem Sinne betrachteten sie die Zerstörung der Tempel in Eretria als Vergeltung (vgl. Hdt. 6,101,3). Darüber hinaus legt Herodot Xerxes die Kriegsrechtfertigung in den Mund, dass die Athener als erste 133

Grund für die Perser zur Kriegsrechtfertigung hervor.227 Der Geschichtsschreiber behauptet allerdings, das Racheargument hätte den Persern nur als Vorwand (πρόσχημα, πρόφασις)228 gedient, um auch andere griechische Poleis bzw. ganz Hellas unterwerfen zu können.229 Es handelt sich demzufolge um einen formellen Kriegsgrund der Perser, der rein imperialistische Ziele kaschieren sollte.230 Isokrates verschweigt die bei Herodot geschilderte Argumentation der Perser bezüglich ihrer Angriffe gegen Hellas gänzlich. Ihm ist zwar bewusst, dass die Rache-Prophasis als Begründung des Krieges nach außen hin eine Rolle als ‚offizielle Rechtfertigung‘231 einnehmen kann, er vermeidet aber den Hinweis auf die persische Forderung nach Rache, denn gerade dieses Argument könnte in der griechischen Welt des 4. Jh. das Rachemotiv der Hellenen entlarven; demzufolge hätte der Rhetor sein eigenes Argument herabgesetzt.232 – Die Athener hatten bereits nach der Seeschlacht bei Salamis das ihnen im Winter 480/79 von den Persern unterbreitete Bündnisangebot abgelehnt. Sie behaupteten, dass die zerstörten Heiligtümer Rache forderten.233 Zusätzlich entschlossen

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mit dem Unrecht gegen Dareios und die Perser angefangen hätten, als sie die persischen Tempel in Sardeis niederbrannten (vgl. Hdt. 7,8 β3). Zum Rachemotiv in Bezug auf Dareios vgl. Hdt. 5,105,1f.; 7,1,1; in Bezug auf Xerxes und dessen Kriegszug gegen Hellas vgl. die herodoteischen Reden des Xerxes und des Mardonios im siebten Buch, bes. Hdt. 7,8 β1ff.; 7,9,2. Bei Herodot ist πρόφασις sowie πρόσχημα τοῦ λόγου eine Erklärung bzw. Rechtfertigung nach außen hin, die zugleich die wahre Intention des Handelnden verschleiert. L. Pearson (TAPhA 83 [1952] 205–223, bes. 206) notiert zu πρόφασις: „Herodotus paraphrases it by πρόσχημα τοῦ λόγου so that the προ- element means “in front,” plain for everyone to see and also a shield for your real actions or intentions“. Herodot bezeichnet die Forderung des Dareios nach Rache als πρόφασις (vgl. Hdt. 6,94,1). Ebenso bezeichnet er die persische Kriegsrechtfertigung als πρόσχημα zur Eroberung von Hellas, wobei dieser Terminus einmal als seine eigene Ansicht (vgl. Hdt. 6,44,1) und einmal als Beurteilung durch die hellenischen Gesandten bei ihren Verhandlungen mit Gelon, dem Tyrannen von Syrakus, erscheint (vgl. Hdt. 7,157,1). Vgl. Pearson, TAPhA 83 (1952) 205–223, bes. 208f. Vgl. Huber, Religiöse und politische Beweggründe des Handelns in der Geschichtsschreibung des Herodot 76f. Die Kriege der Hellenen gegen die Streitkräfte des Dareios und Xerxes wurden im Hellas des 5. und 4. Jh. als Freiheitskriege wahrgenommen und galten somit als gerechte Kriege schlechthin. Dies geht bereits aus den Persern des Aischylos sowie der Darstellung Herodots und den lobenden Hinweisen in den attischen Epitaphien und epideiktischen Reden des 4. Jh. hervor. Vgl. Hdt. 8,144,2. Zeitlich setzt Isokrates das persische Bündnisangebot fälschlich vor die Salamisschlacht, um die damalige Aussichtslosigkeit der athenischen Position sowie die Unbeugsamkeit der Athener hervorzuheben und daraus folgend ihren Hegemonieanspruch zu begründen (vgl. Isokr. 4,93ff.; dazu Weißenberger, Hermes 124 [1996] 418–424, bes. 421f.).

sie sich, die Tempelruinen als Mahnmale für die nachfolgenden Generationen stehen zu lassen.234 Jedoch wurden die Heiligtümer nach dem sogenannten Kalliasfrieden von 449 wieder aufgebaut und verloren damit ihren angedachten Charakter.235 Vermutlich deswegen spricht Isokrates in § 156 nicht von Athen, sondern vom Beschluss der Ionier Kleinasiens, ihre zerstörten Heiligtümer wegen deren Memorialcharakter nicht wieder aufzubauen. Unabhängig davon beruhte die athenische Außenpolitik in der Zeit nach den Perserkriegen auf dem Argument der Verpflichtung zur Rache an den Persern. Allerdings bezeichnete Thukydides den von Athen bei Abschluss des Delisch-Attischen Seebundes propagierten Perserkrieg als Vorwand (πρόσχημα)236 und sah das wahre Ziel der Athener in der Übernahme der Hegemonie und der eventuell daraus folgenden Machterweiterung für ihre Polis in der griechischen Welt.237 Es ist folglich festzuhalten, dass in Bezug auf das griechisch-persische Verhältnis zwar ein starkes politisches Rachedenken (zunächst am Anfang des 5. Jh. von den Persern und nach den Perserkriegen von den Hellenen) in den Vordergrund gestellt wurde, was auch im 4. Jh. aktuell blieb;238 dadurch konnten aber die wahren Intentionen der Kriegsparteien nicht verschleiert werden. Trotzdem deutet die häufige Verwendung des Racheargumentes auf eine legitime Kriegsrechtfertigung hin, auch wenn es als Vorwand für die kriegführende Partei diente. Dies erklärt, wieso sich Philipp II. und Alexander der Große derselben Rhetorik zur Legitimation ihrer geplanten Perserkriege bedienten.239 Beide konnten sich auf das in der griechischen

234 Vgl. Diod. 11,29,3, Lykurg. 1,81; dazu Bellen, Chiron 4 (1974) 43–67, bes. 44. 235 Vgl. Bellen, Chiron 4 (1974) 43–67, bes. 44f. 236 Vgl. Thuk. 1,96,1; Zurecht wird im Satz πρόσχημα γὰρ ἦν ἀμύνεσθαι ὧν ἔπαθον δῃοῦντας τὴν βασιλέως χώραν der Begriff πρόσχημα von den meisten Forschern als ‚Vorwand‘ verstanden. Überzeugend ist die Argumentation von H. Rawlings (Phoenix 31 [1977] 1–8) für diese Interpretation des Begriffs. Vgl. auch Meyer, Historia 12 (1963) 405–446, bes. 439f.; French, Phoenix 33 (1979) 134–141, bes. 134ff.; Steinbrecher, Der Delisch-Attische Seebund 81ff.; Hornblower, The Greek World 13f.; Hornblower, A Commentary on Thucydides I, 144. 237 Vgl. Rawlings, Phoenix 31 (1977) 1–8, bes. 4–8; Hornblower, The Greek World 13f.; Hornblower, A Commentary on Thucydides I, 144. K.-E. Petzold (Historia 42 [1993] 418–443, bes. 420f.) behauptet, Thukydides hätte nicht meinen können, dass die Athener bereits 477 den Perserkrieg als Vorwand für den athenischen Imperialismus propagierten. Dies ist zwar richtig, Thukydides beurteilt aber in 1,96,1 den Rachekrieg als Vorwand für die athenische Übernahme der Hegemonie, nicht der Arché, also nicht der Herrschaft über die Bündner, so wie sich der Seebund später entwickelte. 238 H. Bellen (Chiron 4 [1974] 43–67) hat nachgewiesen, dass die Rachegefühle der Hellenen gegenüber den persischen Tempelplünderungen über Jahrzehnte nach Salamis und Plataia bestehen blieben und bis in den 330er Jahren in Hellas besonders durch die Geschichtsschreiber und die Rhetoren zum Ausdruck kamen. 239 Zu Philipp vgl. Diod.16,89,2; zu Alexander vgl. Arr. an. 2,14,4. 135

Welt nicht selten vorkommende Talionsprinzip berufen; die Rache für die Frevel des Xerxes konnte demzufolge sogar in den 330er Jahren als nicht vollzogen betrachtet werden, da noch immer nicht Gleiches mit Gleichem vergolten wurde. 240

b. Krieg gegen den natürlichen Feind und den Erbfeind Obwohl in archaischer Zeit der Barbarenbegriff noch nicht pejorativ besetzt war,241 wird in Hellas spätestens nach den Erlebnissen der Perserkriege des 5. Jh. das Hellenen-Barbaren-Verhältnis als eine Antithese wahrgenommen.242 Dies kommt bereits in den literarischen Quellen des 5. Jh. eindeutig zum Ausdruck und es darf als gesichert gelten, dass in diesen die durchschnittliche Volksmeinung widergespiegelt wird.243 Seit den kriegerischen Auseinandersetzungen stellten also die Perser den Feind schlechthin dar, sodass βάρβαροι und ἐχθροί oft als Synonyme vorkamen.244 Die alte Feindschaft zwischen Hellenen und Barbaren bildet die Grundlage, auf der das ganze herodoteische Geschichtswerk aufgebaut ist.245 Hier wird bereits die ganze Welt in zwei Einheiten geteilt, die räumlich und kulturell trennbar sind, nämlich in Hellenen und Nicht-Hellenen.246 Aus der Hellenen-Barbaren-Antithese ergab sich in der zweiten Hälfte des 5. Jh. eine Antithese, in der die ‚griechische Freiheit‘ und das ‚Sklaventum der Barbaren‘ im scharfen Gegensatz zueinander standen.247 Zusätzlich war häufig von einer naturgegebenen moralischen Überlegenheit der 240 Vgl. Bellen, Chiron 4 (1974) 43–67, bes. 49f. 241 Vgl. Jäkel, Arctos 25 (1991) 69–76, bes. 69f. 242 Vgl. Jüthner, Hellenen und Barbaren 12; Diller, Hellenen-Barbaren-Antithese, in: Grecs et Barbares 37–82, bes. 39. 44f.; Cartledge, Οι Έλληνες 67; Lund, Historia 54 (2005) 1–17, bes. 12,16. 243 Bereits der tragische Dichter Aischylos betrachtet zwar die Perser mit Wohlwollen, er stellt aber ihre sklavische Natur in Kontrast zur griechischen Freiheit dar. Vgl. die Darstellung des Traums der persischen Königin Atossa in Aischyl. Pers. 181ff. Aber auch sonst ist in der tragischen Dichtung sowie in der Komödie eine Verachtung für die Barbaren zu spüren (vgl. Jüthner, Hellenen und Barbaren 18–22). Darüber hinaus ist die Ansicht des Arztes Hippokrates von Kos zu erwähnen, welche durch seine Schrift Über Luft-, Wasser- und Ortsverhältnisse überliefert ist: Demnach hätten die Asiaten nicht von Natur aus unterschiedliche Eigenschaften wie die Europäer; im Gegensatz seien das Klima und das politische System, nämlich die Despotie, dafür verantwortlich, dass die Asiaten unkriegerischer und sanftmütiger als die Europäer seien (vgl. Hippokr. Aer. 16). Dagegen seien dem Geschichtsschreiber Thukydides nach die Hellenen lediglich wegen ihrer höheren Entwicklungsstufe den Barbaren überlegen (vgl. dazu Thuk. 1,5f.). 244 Vgl. Lund, Historia 54 (2005) 1–17, bes. 12. 245 Vgl. Hdt. 1,1,1. 5,1 und ausdrücklich in 1,4,4: ᾿Απὸ τούτου αἰεὶ ἡγήσασθαι τὸ ῾Ελληνικὸν σφίσι εἶναι πολέμιον. Vgl. Jüthner, Hellenen und Barbaren 15; Bellen, Chiron 4 (1974) 44–67, bes. 48. H. Bellen weist daraufhin, dass Herodots Werk die Anschauungen jener Zeit repräsentiert. 246 Vgl. Lund, Historia 54 (2005) 1–17, bes. 11f. 247 Vgl. Clavadetscher-Thürlemann, Πόλεμος δίκαιος 30f. 136

Hellenen die Rede.248 Obwohl in derselben Zeit durch die Sophistik zum ersten Mal die Lehre von der Freiheit und Gleichheit aller Menschen, seien es Hellenen oder Barbaren, verkündet wurde,249 blieb dieser Ansatz zunächst ohne Wirkung und auf den Kreis einiger Sophisten und ihrer Anhänger beschränkt.250 Die herrschende Meinung dagegen wird Ende des 5. Jh. in den Versen des tragischen Dichters Euripides zusammengefasst,251 als seine aulische Iphigeneia folgendermaßen urteilt: βαρβάρων δ' ῞Ελληνας ἄρχειν εἰκός, ἀλλ' οὐ βαρβάρους, μῆτερ,῾Ελλήνων· τὸ μὲν γὰρ δοῦλον, οἳ δ' ἐλεύθεροι.252

Auch der Philosoph Aristoteles spricht ausdrücklich von einer natürlichen Unterschiedlichkeit zwischen Hellenen und Barbaren. Er vertritt ohnehin die Mehrheitsanschauung,253 als er in seinen Politika – Mitte des 4. Jh. – Euripides zitiert und von der These ausgeht, dass die Barbaren von Natur aus nicht dazu bestimmt seien zu herrschen und dass daher die Herrschaft der Hellenen über die Barbaren berechtigt sei. Durch die Formulierung ταὐτὸ φύσει βάρβαρον καὶ δοῦλον ὄν verdeutlicht er, dass der Barbar und der Sklave dasselbe seien.254 248 Vgl. Jüthner, Hellenen und Barbaren 8f. 249 Der Sophist Antiphon, der wahrscheinlich auf Gedanken des Hippias zurückgreift, erkennt lediglich das Naturrecht als gültig an und behauptet, dass der Unterschied zwischen Freien und Sklaven nur auf Satzung und Sitte, also auf νόμος und nicht auf φύσις, beruhe: Antiph. VS II 87B 44b: […] ἐπεὶ φύσει πάντα πάντες ὁμοίως πεφύκαμεν καὶ βάρβαροι καὶ Ἕλληνες εἶναι (vgl. dazu Jüthner, Hellenen und Barbaren 17; Guthrie, The Sophists 24. 152f.). Im 4. Jh. vertritt der Rhetor Alkidamas die Meinung, Gott habe alle frei geschaffen und die Natur keinen zum Sklaven bestimmt (vgl. Schol. Aristot. rhet. 1373b 18). Alkidamas war zwar Schüler des Gorgias, kam aber mit Isokrates wegen dessen Stellungnahme für die geschriebene Rede in Streit (vgl. Bons, Mnemosyne 46 [1993] 160–171, bes. 162). 250 Vgl. Jüthner, Hellenen und Barbaren 18. 251 Es ist allerdings zwischen der durch Iphigeneia dargestellten Ansicht und der tatsächlichen Auffassung des Euripides zu unterscheiden. Der Dichter selbst scheint von der Sophistik beeinflusst zu sein und sich der Lehre des Naturrechts, also der ursprünglichen Gleichheit aller Menschen, anzuschließen (vgl. Nestle, Euripides, der Dichter der griechischen Aufklärung 358f.; Egli, Euripides 208ff.; dagegen: Jüth­ ner, Hellenen und Barbaren 20ff.). Allerdings wird in seinen Tragödien häufig ein abwertendes Barbarenbild präsentiert, wobei er – dem Schweizer Kulturhistoriker J. Burckhardt (Kulturgeschichte I, 301) nach – die Vorurteile seiner athenischen Zuschauer missbraucht. 252 Eur. Iph. A. 1400f. Die Iphigeneia in Aulis wurde erst nach dem Tod des Euripides, vermutlich im Jahr 405, uraufgeführt (vgl. Nickel s. v. Iphigéneia he en Aulídi 479). 253 Vgl. Cartledge, Οι Έλληνες 68. 70. 254 Vgl. Aristot. pol. 1252b 6–9: αἴτιον δ‘ ὅτι τὸ φύσει ἄρχον οὐκ ἔχουσιν, ἀλλὰ γίνεται ἡ κοινωνία αὐτῶν δούλης καὶ δούλου. διό φασιν οἱ ποιηταὶ „βαρβάρων δ‘ ῞Ελληνας ἄρχειν εἰκός“, ὡς ταὐτὸ φύσει βάρβαρον καὶ δοῦλον ὄν. Aristoteles zitiert hierbei Verse von Euripides (Eur. Iph. A. 1400f.), ohne ihn namentlich zu erwähnen. 137

Isokrates greift demzufolge auf ein etabliertes Barbarenbild zurück, als er im Panegyrikos auf die Sklavennatur, Feigheit und Treulosigkeit der Perser hinweist.255 Verantwortlich dafür seien ihre Erziehung, ihr politisches System und ihr luxuriöses Leben. Durch ihre Erziehung zum Sklavensein (πρὸς τὴν δουλείαν πεπαιδευμένοι) seien sie im Krieg unfähig und untüchtig;256 wegen der μοναρχία seien sogar die Perser größten Ansehens unterwürfig, ihnen fehle die soziale Gesinnung, und durch ihr Leben im Reichtum verwöhnten sie ihren Körper mit Luxus (τὰ σώματα διὰ τοὺς πλούτους τρυφῶντες).257 Isokrates benutzt die Anschauungen der Hellenen über negative Charakterzüge der Perser, um zu beweisen, dass sie als Kriegsgegner leicht zu besiegen seien. Auch die bei Euripides auftretende Meinung nimmt Isokrates auf; er wirft den Spartanern vor, dass sie die persischen Barbaren nicht zu Heloten und Periöken aller Hellenen gemacht hätten.258 Der Rhetor hat den Gedanken, dass die Hellenen von Natur zur Herrschaft gegenüber den Barbaren bestimmt seien, nie aufgegeben.259 Isokrates spricht von einem ewig dauernden Hass260 und prägt den Begriff der ‚natürlichen Feindschaft‘ zwischen Hellenen und Barbaren,261 während Platon im Menexenos über einen natürlichen Hass der Athener gegen die Barbaren (φύσει μισοβάρβαρον) spricht262. Als Isokrates die nach seiner Ansicht gerechten,

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Vgl. Isokr. 4,149–152. Vgl. Isokr. 4,150; dazu auch 4,184. Vgl. Isokr. 4,151. Vgl. Isokr. 4,131; Auch in seinem Brief an Philipp Ende des Jahres 346 fordert Isokrates den Makedonenkönig auf, die Perser zu Heloten zu machen; Isokr. ep. 3,5: ὅταν τοὺς μὲν βαρβάρους ἀναγκάσῃς εἱλωτεύειν τοῖς ῞Ελλησιν […]. Sogar zur Zeit der Friedensrede (355), als Isokrates auf seine früheren Machtträume verzichten musste, hat er diesen Gedanken nicht fallen lassen. Vgl. Jaeger, Padeia III, 196. Vgl. Isokr. 4,157. 159. Isokr. 4,158: […] φύσει πολεμικῶς πρὸς αὐτοὺς ἔχομεν […]; vgl. auch Isokr. 4,184; 12,163. Die natürliche Feindschaft wird im Panegyrikos unter anderem durch die – allerdings von Gorgias übernommene (vgl. Gorg. VS II 82B 5b = Philostr. Vit. Soph. 1,9,5) – Feststellung aufgewiesen, dass die vergangenen Kriege gegen Barbaren – seien es gegen die Troianer oder die Perser – Gegenstand von griechischen Lobgesängen, jene Kriege hingegen zwischen Hellenen das Thema von Klageliedern gewesen seien; Isokr. 4,158: Εὕροι δ‘ ἄν τις ἐκ μὲν τοῦ πολέμου τοῦ πρὸς τοὺς βαρβάρους ὕμνους πεποιημένους, ἐκ δὲ τοῦ πρὸς τοὺς ῞Ελληνας θρήνους ἡμῖν γεγενημένους, καὶ τοὺς μὲν ἐν ταῖς ἑορταῖς ᾀδομένους, τοὺς δ‘ ἐπὶ ταῖς συμφοραῖς ἡμᾶς μεμνημένους. Plat. Mx. 245c-d: οὕτω δή τοι τό γε τῆς πόλεως γενναῖον καὶ ἐλεύθερον βέβαιόν τε καὶ ὑγιές ἐστιν καὶ φύσει μισοβάρβαρον, διὰ τὸ εἰλικρινῶς εἶναι ῞Ελληνας καὶ ἀμιγεῖς βαρβάρων. Dabei wird durch den Athener der ideale und reine Hellene verkörpert (vgl. Kleinow, Überwindung 86f.). Laut E. Schütrumpf (Hermes 100 [1972] 5–29, bes. 9–13) haben sowohl Isokrates als auch Platon ihre Ansichten einer gemeinsamen Quelle der Sophistik des 5. Jh. entlehnt.

ehrfürchtigen und nützlichen Kriegsgründe anführt, betont er, dass man Krieg gegen die Perser führen müsse, weil sie zugleich Natur- und Erbfeinde seien: Οὐκ (στρατεύειν προσήκει) ἐπὶ τοὺς καὶ φύσει πολεμίους καὶ πατρικοὺς ἐχθροὺς […];263

Der Krieg wendet sich gegen die Feinde der Vorfahren und ist somit als Racheaktion gerechtfertigt. Er stützt sich zugleich auf das ewig bestehende Naturrecht – so wie es Isokrates wahrnimmt –, welches zu jeder Zeit ausreichend legitimiert ist. Somit verwandelt der Rhetor den angeblich naturgegebenen Gegensatz zwischen Hellenen und Barbaren zu einem grundlegenden Argument für den Krieg gegen die Perser. Gerade die Tatsache, dass die Perser πατρικοὶ ἐχθροί sind, gilt für ihn als zusätzlicher Beweis, dass sie φύσει πολέμιοι sind. Hier soll die berühmte Stelle des Panegyrikos § 50 in Betracht gezogen werden: Τοσοῦτον δ’ ἀπολέλοιπεν ἡ πόλις ἡμῶν περὶ τὸ φρονεῖν καὶ λέγειν τοὺς ἄλλους ἀνθρώπους, ὥσθ’ οἱ ταύτης μαθηταὶ τῶν ἄλλων διδάσκαλοι γεγόνασιν, καὶ τὸ τῶν ῾Ελλήνων ὄνομα πεποίηκεν μηκέτι τοῦ γένους, ἀλλὰ τῆς διανοίας δοκεῖν εἶναι, καὶ μᾶλλον ῞Ελληνας καλεῖσθαι τοὺς τῆς παιδεύσεως τῆς ἡμετέρας ἢ τοὺς τῆς κοινῆς φύσεως μετέχοντας.264

Dieser Abschnitt wurde in der älteren Forschung als eine Ausweitung des Begriffs Hellenen auf Barbaren mit griechischer Bildung und somit als Bekundung eines beeindruckenden Kosmopolitismus interpretiert, da das Hellene-Sein von der παίδευσις und nicht von der φύσις abhinge.265 Wenn Isokrates in der Tat eine solche Ansicht vertreten hätte, stünde dies in krassem Kontrast zu seiner Auffassung über die naturgegebene Feindschaft zwischen Hellenen und Barbaren. J. Jüthner (1923) hat hingegen die These vertreten, dass der Rhetor den Begriff ‚Hellenen‘ lediglich auf Griechen attischer Bildung einengt;266 zurecht bemerkt er: „Der Stadt Athen allein wird das Verdienst zugeschrieben, durch ihre für alle vorbildliche Kultur die einschneidende Umdeutung des Hellenennamens veranlaßt zu haben.“267 Diese

263 Isokr. 4,184. 264 Isokr. 4,50. Übersetzung nach Buchner, Panegyrikos 58: „So sehr hat unsere Stadt im Denken und Reden die anderen Menschen übertroffen, daß ihre Schüler die Lehrer der anderen geworden sind, und sie hat bewirkt, daß der Name der Hellenen nicht mehr (ein Name) der Abstammung sondern des Denkens zu sein scheint, und daß mehr Hellenen genannt werden die, die an unserer Bildung, als die, die an der gemeinsamen Natur teilhaben.“ 265 Vgl. Meyer, GdA V, 314; Beloch, GG III 1, 432; Wendland, Beiträge I, 123–182, bes. 123; Wundt, Geschichte der griechischen Ethik II, 14ff.; Kessler, Isokrates und die panhellenische Idee 61; Jaeger, Paideia III, 139ff. Zu zusätzlichen Stellen vgl. die Literatursammlung in Jüthner, Hellenen und Barbaren 132 Anm. 92. 266 Vgl. Jüthner, Hellenen und Barbaren 34ff.; ders., WS 47 (1929) 26–31. 267 Jüthner, WS 47 (1929) 26–31, bes. 27f. 139

Interpretation hat sich weitgehend durchgesetzt.268 Isokrates knüpft offensichtlich an den Satz an, den Thukydides Perikles in den Mund legt: Ξυνελών τε λέγω τήν τε πᾶσαν πόλιν τῆς ῾Ελλάδος παίδευσιν εἶναι […].269 Der isokrateische Gedanke soll in Zusammenhang mit dem Lob Athens und dessen Anspruch auf die Hegemonie270 im epideiktischen Teil des Panegyrikos, und zwar mit den ἀγαθά, die die Athener den anderen Hellenen als Wohltaten erwiesen hätten, betrachtet werden.271 Demnach sei die in der griechischen Welt weit verbreitete attische Bildung, also die παίδευσις, das eigentliche Erkennungszeichen der Hellenen. Grundlage dieser παίδευσις sind für den Rhetoriklehrer Isokrates durchaus die λόγοι, wobei vor allem das kunstvolle Reden, d. h. die Fähigkeit, eine seiner rhetorischen Techne entsprechende Rede zu verfertigen, gemeint ist.272 Durch diese Art von παίδευσις, also Isokrates’ φιλοσοφία,273 unterscheiden sich die Hellenen von den anderen Menschen. Der Begriff ‚Hellenen‘ wird folglich weder ausgeweitet noch eingeengt. Es wird lediglich darauf hingewiesen, wie wichtig neben der gemeinsamen Abstammung das von den Hellenen vertretene Bildungsideal ist, wodurch sie den anderen Völkern überlegen seien. Demnach formuliert er keine allgemeine Menschheitsidee und ist kein Kosmopolit bzw. Vorbereiter des Hellenismus, auch wenn die Akzentuierung von der gemeinsamen Abstammung zur gemeinsamen Bildung und Kultur die Möglichkeit in sich trug, über die konventionellen Grenzen zwischen Hellenen und Barbaren hinaus zu denken.274 Für ihn ist die Beseitigung der naturgegebenen Schranken 268 Vgl. Wilcken, Griechische Geschichte im Rahmen der Altertumskunde 227; Mathieu, Ιδέες 95f.; Schmitz-Kahlmann, Das Beispiel der Geschichte im politischen Denken des Isokrates 67f.; Stier, Grundlage und Sinn der griechischen Geschichte 76ff.; Baynes, Isocrates, in: ders., Essays 144–167, bes. 151ff.; Steidle, Hermes 80 (1952) 257–296, bes. 232 Anm. 809; Buchner, Hermes 82 (1954) 378–384, bes. 379 Anm. 5; Buchner, Panegyrikos 58ff.; Bringmann, Studien 107 Anm. 2; Bengtson, GG 298; Usher, Panegyricus and To Nicocles 161; Grieser-Schmitz, Seebundpolitik 137ff.; Grieser-Schmitz, Vorstellungen, in: Orth, Isokrates 111–127, bes. 123f.; Lund, Historia 54 (2005) 1–17, bes. 12f. 269 Thuk. 2,41,1. Nach Ch. Eucken (Isokrates 170f.) entwickelt Isokrates diesen thukydideischen Gedanken in seinem Sinne weiter. 270 Vgl. Usher, Panegyricus and To Nicocles 161. 271 Vgl. Buchner, Panegyrikos 58. 60f. 272 Vgl. Isokr. 4,49. Isokrates stellt λέγειν und φρονεῖν in unmittelbare Beziehung zueinander und macht demzufolge das εὖ λέγειν zu seinem eigentlichen Erziehungsziel. Vgl. Buchner, Panegyrikos 54ff.; auch Too, Identity 147. Zur Bedeutung der λόγοι für Isokrates vgl. auch Isokr. 3,6ff.; 15,253. 273 Zur Deutung des Begriffs φιλοσοφία durch Isokrates vgl. Isokr. 15,266. 274 Vgl. Buchner, Hermes 82 (1954) 378–384, bes. 379 Anm. 5; Buchner, Panegyrikos 64; Lesky, Literatur 661; Bengtson, GG 298. Vgl. auch Steidle, Hermes 80 (1952) 257–296, bes. 277 Anm. 4, wobei allerdings davon ausgegangen wird, dass mit Isokrates der Begriff des Griechentums ausschließlich an die Bildung anknüpft und daher auf die Zukunft des Hellenismus hinweist. Weiterhin deutet W. Jaeger die Stelle im Panegyrikos § 50 – anders als J. Jüthner – als eine Ausweitung des 140

zwischen Hellenen und Barbaren unvorstellbar.275 Im Panegyrikos ist keine Spur von einer Verschmelzung der Hellenen und Barbaren zu finden.276 Im Gegenteil: Isokrates wünscht, dass die Perser Periöken der Hellenen werden,277 dass asiatisches Land durch Hellenen besiedelt und der asiatische Reichtum ausgenutzt wird,278 ohne irgendwelche Beteiligung der Perser anzunehmen; diese sollen sich lediglich passiv unterwerfen. Im selben Sinne rät der Rhetor dem Makedonenkönig Philipp II. im Jahr 346, die Führung der Hellenen gegen die Barbaren zu übernehmen, dabei den Hellenen ein Wohltäter und den Makedonen ein König zu sein, dagegen aber über möglichst viele Barbaren zu herrschen.279 Der griechische Kulturraum soll nach Isokrates durch Eroberung und Ausbeutung des kulturlosen Raumes der Barbaren expandieren.280 Gerade die kulturelle Überlegenheit der Hellenen legitimiert solche rein imperialistischen Bestrebungen, während den Persern kein Anspruch auf gleichwertige Beteiligung an dem neuen hellenozentrischen, sozialen und politischen Leben in Asien eingeräumt wird. Folglich war die Ausweitung des Griechentums, keineswegs aber die Übernahme der griechischen Kultur durch die Barbaren sein Ziel.281 Gegen diese Auffassung sprechen allerdings einige Hinweise des Isokrates in seinem Euagoras, dem Enkomion auf den gleichnamigen kürzlich verstorbenen kyprischen König, das um 370 veröffentlicht wurde.282 Euagoras wird hierbei als Kulturheld gefeiert, der in Kypros die hellenische Kultur eingeführt283 und Barbaren zu Griechen gemacht hätte284; einige Forscher sehen dies im Anschluss an Panegyrikos § 47–50 als Beweis dafür, dass Isokrates durch Paideia eine Hellenisierung

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Begriffs Hellenen auf Barbaren hellenischer Bildung und gelangt zur Folgerung, dass Isokrates die neue Ära des Hellenismus vorgefühlt und vorgedacht hätte (vgl. Jaeger, Paideia III, 141). S. Jäkel (Arctos 25 [1991] 69–76, bes. 76) übersieht die Intention des Panegyrikos und bezeichnet Isokrates aufgrund von § 50 als einen „Vorkämpfer des Humanismus der Gleichheit mit kosmopolitischen Geltungsansprüchen auf der Basis eines vorurteilslosen Denkens“. In der Antidosisrede im Jahr 354/3 spricht Isokrates den Barbaren ganz allgemein die Bildung und insbesondere die Redekunst ab. Vgl. Isokr. 15,293. Vgl. Buchner, Hermes 82 (1954) 378–384, bes. 383; Grieser-Schmitz, Seebundpolitik 138–141. Vgl. Isokr. 4,131; dazu auch Isokr. ep. 3,5. Vgl. Isokr. 4,182. 174 dazu auch Isokr. 8,24; 5,120f. Isokr. 5,154: Φημὶ γὰρ χρῆναί σε τοὺς μὲν ῞Ελληνας εὐεργετεῖν, Μακεδόνων δὲ βασιλεύειν, τῶν δὲ βαρβάρων ὡς πλείστων ἄρχειν. Über die richtige Übersetzung des ἄρχειν als ‚herrschen‘ vgl. Buchner, Hermes 82 (1954) 378–384, bes. 380. Vgl. Grieser-Schmitz, Vorstellungen, in: Orth, Isokrates 111–127, bes. 123. Vgl. Mathieu, Ιδέες 95f. Zur Datierung des Euagoras vgl. Alexiou, Euagoras 38f. mit Anm. 139. Vgl. Isokr. 9,47–50. Isokr. 9,66: […] τοὺς δὲ πολίτας ἐκ βαρβάρων μὲν ῞Ελληνας ἐποίησεν […]. 141

der Barbaren anstrebte und somit Kulturpropaganda betrieb.285 Einiges spricht jedoch gegen diese Einschätzung: Die eigentliche Intention dieses Enkomions ist die Verherrlichung des Euagoras und seiner Leistungen. Nur unter diesem Aspekt wird sein Kampf um den Thronaufstieg in Salamis und seine Eroberung umliegender Regionen als Kulturmission gerechtfertigt; dabei werden die imperialistischen Motive des Königs verschleiert.286 Außerdem handelt es sich in Kypros um einen Ausnahmefall, da dort seit dem 9/8. Jh. außer Hellenen auch Phöniker lebten, ohne dass es zu ethnischen Spannungen gekommen war.287 Freilich übertreibt Isokrates in seinem Bericht, wenn er von einer angeblich sehr niedrigen Kulturstufe der Insel während der phönikischen Herrschaft berichtet, um so den Gegensatz zu Euagoras’ Herrschaft hervorzuheben. In der Tat hatte Euagoras weder eine Stärkung des griechischen Elements noch eine Schwächung der phönikischen Bevölkerungsgruppe im Sinn.288 Zur Zeit des Euagoras waren Isokrates zufolge die Barbaren hellenisiert worden, ohne aber kulturell eine Rolle zu spielen; die Blüte im Lande wird wesentlich auf griechischen Einfluss zurückgeführt, sodass der Bildungserwerb durch Nicht-Griechen auch hier problematisch erscheint.289 Darüber hinaus werden als Barbaren lediglich die Phöniker benannt, nicht die eigentlichen Erbfeinde, nämlich die Perser, gegen die Isokrates ständig Krieg forderte und an deren Verschmelzung mit den Hellenen er nie gedacht hatte. Unter Euagoras kam es sogar zu heftigen kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem persischen Großkönig Artaxerxes II. von 391 bis 380/79,290 worauf Isokrates in seinem Enkomion hinweist.291 Es ist folglich festzuhalten, dass durch Euagoras keine isokrateische Auffassung über die Ausweitung des Hellenenbegriffs auf Barbaren wirklich belegt werden kann. Auf jeden Fall wird der Krieg gegen das Perserreich als eine Möglichkeit zur Erweiterung des griechischen Kulturraums, nicht als ein Versuch zur Hellenisierung der Perser in Erwägung gezogen. Isokrates hatte die Gelegenheit, insbesondere im Panegyrikos und im Philippos, seinen Eroberungsplan u. a. als eine Kulturmission darzustellen und ihn somit durch ein weiteres Motiv zu rechtfertigen, so wie er es bezüglich der

285 Vgl. Steidle, Hermes 80 (1952) 257–296, bes. 277 Anm. 4; Eucken, Isokrates 170; Alexiou, Ruhm und Ehre 155; Alexiou, Εὐαγόρας 201. 286 Vgl. Pownall, Lessons from the Past. The Moral Use of History in Fourth-Century Prose 24f. 287 Vgl. Högemann, DNP 4 (1998) s. v. Euagoras [1] 201f. 288 Vgl. Mathieu, Ιδέες 75. 289 Vgl. Grieser-Schmitz, Vorstellungen, in: Orth, Isokrates 111–127 bes. 123f. mit Anm. 40. 290 Dabei erhielt Euagoras durch Athen militärische Unterstützung. Vgl. Lewis/Stroud, Hesperia 48 (1979) 180–193; Stylianou, Historia 37 (1988) 463–471. Zur Chronologie des sogenannten Kyprischen Krieges vgl. Beloch, GG III.2, 226–229. 291 Vgl. Isokr. 9,64. Der Krieg brach aus, als Euagoras unabhängig von Persien die ganze Insel Kypros unter seiner Herrschaft zu vereinigen suchte. Schließlich wurde Euagoras besiegt und in Salamis belagert, erhielt aber sein Stadtkönigtum zurück (vgl. Högemann, DNP 4 [1998] s. v. Euagoras [1] 201f.). 142

Expansionsbestrebungen des Euagoras in Kypros ansprach. Offensichtlich dachte der Rhetor jedoch nicht an den Export hellenischer Kultur an die Asiaten, er vermied es sogar, ein derartiges Argument als glaubhaften Vorwand zu verwenden. Der Geist des Hellenismus, auf dem die spätere Politik Alexanders des Großen gegenüber den asiatischen Völkern beruhte, war Isokrates fremd.292 Im Gegensatz dazu stützt der Rhetor die Eroberungspläne, zu denen er die Hellenen aufruft, auf das Argument der natürlichen Feindschaft in Zusammenhang mit der damals ohnehin in Hellas geläufigen Anschauung bezüglich der geistigen Überlegenheit der Hellenen über andere Völker.293 Die Perser hatten demnach als natürlicher Feind nicht das Recht, der Ausdehnung des hellenischen Kulturkreises im Wege zu stehen bzw. völkerrechtlichen Schutz in Anspruch zu nehmen. Durch das Betonen der angestammten und natürlichen Gegnerschaft wird der Kampf eines überlegenen Volkes gegen die Bedrohung durch eine fremde und kulturell unterlegene Macht propagiert. Demzufolge werden die Hellenen zu einer Schicksalsgemeinschaft, die vereint Krieg gegen die Perser führen müsse. Dieser Krieg wird zwar als ein ‚kultureller Kreuzzug‘ gerechtfertigt;294 von den kulturellen Vorteilen seines Ausgangs werden die Barbaren allerdings kaum Gebrauch machen können. Es ist auffällig, dass der Philosoph Platon dem isokrateischen Gedanken ein paar Jahre nach der Veröffentlichung des Panegyrikos eine theoretische Untermauerung verschafft. In seiner Politeia – um 374 – stellt er die ‚natürliche Feindschaft‘ (πολεμίους φύσει εἶναι) zwischen Hellenen und Barbaren der ‚natürlichen Freundschaft‘ (φύσει μὲν φίλους εἶναι) unter Hellenen gegenüber, sodass eine Auseinandersetzung zwischen Hellenen lediglich als eine Fehde (στάσις), eine zwischen Hellenen und Barbaren aber als Krieg (πόλεμος) bezeichnet wird. 295 Während demzufolge Isokrates den Krieg gegen die Barbaren durch das Argument der natürlichen Feindschaft rechtfertigt, wird für Platon aufgrund des Naturrechts nur dann eine Auseinandersetzung zum Krieg, wenn Hellenen gegen

292 E. Buchner weist nach, dass Isokrates sowie Aristoteles nicht eine Gleichstellung von Griechen und Barbaren, sondern lediglich eine gute Behandlung der von Natur aus Untergebenen fordert. Vgl. Buchner, Hermes 82 (1954) 378–384, bes. 380ff. 293 W. Jaeger sieht im Panegyrikos § 50 die höhere Legitimation eines neuen, national begründeten Imperialismus, indem darin „das spezifisch Griechische mit dem allgemein Menschlichen“ gleichgesetzt wird; somit wird deutlich, dass das griechische Ideal der Paideia auch durch die anderen Menschen und Völker übernommen werden soll. Vgl. Jaeger, Paideia III, 140f. 294 Vgl. Grieser-Schmitz, Seebundpolitik 105f.; 139; auch Hammond, HSPh 58/59 (1948) 105–161, bes. 112. 295 Plat. rep. 5,470c: ῞Ελληνας μὲν ἄρα βαρβάροις καὶ βαρβάρους ῞Ελλησι πολεμεῖν μαχομένους τε φήσομεν καὶ πολεμίους φύσει εἶναι, καὶ πόλεμον τὴν ἔχθραν ταύτην κλητέον· ῞Ελληνας δὲ ῞Ελλησιν, ὅταν τι τοιοῦτον δρῶσιν, φύσει μὲν φίλους εἶναι, νοσεῖν δ‘ ἐν τῷ τοιούτῳ τὴν ῾Ελλάδα καὶ στασιάζειν, καὶ στάσιν τὴν τοιαύτην ἔχθραν κλητέον. Zur Unterscheidung zwischen πόλεμος und στάσις. 143

Barbaren kämpfen. Ein Einfluss des Isokrates auf Platon ist nicht nachzuweisen, aber doch anzunehmen.296 Isokrates hat nie aufgehört, seinen Eroberungsplan gegen das Perserreich zu verteidigen. In seiner letzten epideiktischen Rede, dem Panathenaikos von 342–339, kommt er auf die Kriegsrechtfertigung aufgrund der ‚natürlichen Feindschaft‘ in beeindruckender Weise zurück. Zu einer Zeit, in der eine athenische Gesandtschaft auf Antrag des Rhetors Demosthenes im Sommer 341 an den persischen Hof reiste, um Unterstützung gegen den Makedonenkönig Philipp II. zu erreichen, kritisiert Isokrates das diplomatische Vorgehen Athens und Spartas heftig, das angeblich auch den Ausgleich mit dem Perserkönig suchte. Friede mit den Barbaren und Krieg gegen Hellenen bleibt für ihn unvorstellbar.297 Er erinnert an die – stets vorbildlichen – Vorfahren der Athener, die andere hellenische Poleis für unantastbar hielten, dagegen Kriege gegen Barbaren derartig begründeten: […] τῶν δὲ πολέμων ὑπελάμβανον ἀναγκαιότατον μὲν εἶναι καὶ δικαιότατον τὸν μετὰ πάντων ἀνθρώπων πρὸς τὴν ἀγριότητα τῶν θηρίων γιγνόμενον, ἕτερον δὲ τὸν μετὰ τῶν ῾Ελλήνων πρὸς τοὺς βαρβάρους τοὺς καὶ φύσει πολεμίους ὄντας καὶ πάντα τὸν χρόνον ἐπιβουλεύοντας ἡμῖν.298

Diesem Textausschnitt zufolge sei für die alten Athener zunächst der notwendigste und gerechteste Krieg jener, der von der gesamten Menschheit gegen die Aggression wilder Tiere geführt werde. An zweiter Stelle aber stehe der Krieg, der mit den Hellenen gegen die Barbaren geführt werde. Die Barbaren seien nämlich natürliche Feinde der Hellenen (φύσει πολέμιοι) und eine beständige Bedrohung für Griechen. Die Einstufung der Barbaren direkt unter den Tieren beruht auf der Vorstellung der Griechen über die Kulturentwicklung, die zunächst in der sophistischen Bewegung des 5. Jh. und später auch in der Ethnographie und Philosophie merkbar wurde.299 Auch der Gedanke des gerechten Krieges gegen wilde Tiere kann zur Zeit der Veröffentlichung des Panathenaikos zumindest in den Gelehrtenkreisen wenig befremden. Die anthropozentrische Lehre, so wie sie sich bereits im 5. Jh. entwickelt hatte, sprach dem Menschen die natürliche Bestimmung zu, alles Übrige zu seinem Nutzen auszubeuten.300 Im 4. Jh. folgt Aristoteles dieser Tradition und formuliert in seinen Politika eine Theorie über die Erwerbskunst, die sich unter anderem auf den von Natur gerechten Krieg (φύσει δίκαιον πόλεμον) gegen die wilden Tiere bezieht:

296 297 298 299

Vgl. dazu Buchner, Hermes 82 (1954) 378–384, bes. 380. Vgl. Roth, Panathenaikos 194ff. Isokr. 12,163. Vgl. Volkmann, Hermes 82 (1954) 465–476, bes. 469. Zur Zusammenstellung der Barbaren mit den Tieren vgl. z. B. Aristot. eth. Nic. 1145a 30. 1149a 10. 300 Vgl. Dover, Morality 74f.; Clavadetscher-Thürlemann, Πόλεμος δίκαιος 47f. 144

διὸ καὶ ἡ πολεμικὴ φύσει κτητική πως ἔσται (ἡ γὰρ θηρευτικὴ μέρος αὐτῆς), ᾗ δεῖ χρῆσθαι πρός τε τὰ θηρία καὶ τῶν ἀνθρώπων ὅσοι πεφυκότες ἄρχεσθαι μὴ θέλουσιν, ὡς φύσει δίκαιον τοῦτον ὄντα τὸν πόλεμον.301

Früher hatte sich bereits der platonische Protagoras zur Notgemeinschaft der Menschen gegen die wilden Tiere geäußert.302 So wird auch von Isokrates ein Krieg gegen die wilden Tiere als gerecht bezeichnet. Der Krieg wird von einer Gesamtheit mit gleichen Kennzeichen – Gattung der Menschen – gegen eine andere – Gattung der Tiere – geführt, die erstere bedroht.303 In diesem Sinne ist die Zusammenstellung dieses Krieges mit dem der Hellenen gegen die Barbaren umso interessanter. Das gemeinsame Merkmal, das die Griechen verbindet, ist nicht nur die Stammesverwandtschaft, sondern auch ihre Paideia, die nach isokrateischer Denkweise auf dem Logos basiert, da sich die Kultur des Geistes in der Sprache zu erkennen gibt. Gerade der durch παίδευσις erworbene Logos, also der Logos in seinem Doppelsinne von Sprache und Geist,304 grenzt demnach nicht nur die Menschen von den Tieren ab, sondern auch die Hellenen von den Barbaren.305 Für den Feind andererseits ist neben der Bedrohung für die Hellenen die niedere Zivilisationsstufe, die er für die Griechen repräsentiert, charakteristisch. Durch diese rhetorische Anwendung des Beispiels vom gerechten Krieg gegen die Tiere werden beide Typen der genannten Kriege als δίκαιοι oder nach aristotelischer Terminologie sogar als φύσει δίκαιοι dargestellt. Man stellt fest, dass der Krieg gegen die wilden Tiere bei Isokrates nur im Kontext des Krieges der Hellenen gegen die Barbaren seinen Sinn findet. Es handelt sich also um ein Stilmittel, das den angeblich von Natur aus notwendigen Krieg gegen die Barbaren durchsetzen soll. Dazu passt zusätzlich die bereits im Panegyrikos verwendete Bezeichnung der Barbaren als φύσει πολέμιοι.

301 Aristot. pol. 1256b 23–26: Übers. nach E. Schütrumpf: „Deswegen fällt auch von Natur unter die Erwerbskunst in gewisser Weise die Kriegskunst – zu der als ein Teil ja auch die Jagdkunst gehört –, die man sowohl gegen Tiere einsetzen muss als auch gegen die Menschen, die zwar von Natur dazu bestimmt sind, beherrscht zu werden, aber sich dazu nicht bereit finden wollen: denn in diesem Fall ist ein Krieg von Natur gerechtfertigt“. 302 Vgl. Plat. Prot. 322 a-b. 303 Auch der Barbarenbegriff entstand bei den Griechen als Kollektivbegriff in Bezug auf alle auch untereinander oft sehr verschieden gearteten Fremdvölker, ebenso wie der Mensch die unendliche Mannigfaltigkeit der anderen Lebewesen mit der Bezeichnung ‚Tier‘ zusammenfasst. Vgl. Jüthner, Hellenen und Barbaren 6f. 304 Vgl. Jaeger III, 139. 305 Vgl. Isokr. 15,293; dazu auch Isokr. 15,253f.; Snell, Die Entdeckung der Menschlichkeit, in: ders., Die Entdeckung des Geistes 231–243, bes. 232. 145

2.1.2.3 Krieg wegen des Königsfriedens Isokrates’ Konzept zum Perserkrieg in der Zeit des Panegyrikos stößt auf ein schwerwiegendes Hindernis: seit einigen Jahren bestand formell Friede zwischen den wichtigen hellenischen Poleis und dem Perserreich. Es handelt sich um den sogenannten Königsfrieden, auch Antalkidasfrieden genannt,306 der aufgrund einer spartanischen Initiative im Jahr 387/6 zwischen den Poleis und dem persischen Großkönig Artaxerxes II. geschlossen wurde.307 Die Spartaner hatten bereits 392 versucht, einen bilateralen Vertrag mit dem Großkönig zu schließen, um dadurch die weitere Unterstützung der Korinthischen Allianz durch Persien zu beenden. Obwohl bereits damals den Persern die Anerkennung ihrer Oberhoheit über die kleinasiatischen hellenischen Poleis angeboten wurde, wies Artaxerxes den Vorschlag zurück; die Verpflichtung Persiens und Spartas auf Autonomie aller anderen Griechen hätte nämlich für beide den Verzicht auf territoriale Expansion in den hellenischen Raum bedeutet.308 Im Jahr 387 sah die Situation anders aus. Der spartanische Gesandte Antalkidas handelte zunächst in Susa einen Frieden zwischen Sparta und Persien aus, um den seit 400 bestehenden Krieg zwischen diesen zwei Mächten zu beenden. Ein Auszug der hierbei vereinbarten Friedensbestimmungen bildete den Kern des nächsten Friedensvertrags, nämlich des Königsfriedens, der nun nicht nur den persisch-spartanischen, sondern auch den Korinthischen Krieg beenden sollte.309 Als sich im Herbst 387 Gesandte der am Korinthischen Krieg beteiligten Poleis in Sardeis zu Verhandlungen versammelten, verlas der persische Satrap Tiribazos ein Schreiben des Königs Artaxerxes, das die Bestimmungen des daraufhin geschlossenen Friedens enthielt. Xenophon überliefert die Hauptzüge des königlichen Reskripts,310 wonach: – die persische Herrschaft über die griechischen Poleis in Kleinasien sowie über die Inseln Klazomenai und Kypros anerkannt werden sollte. 306 Diese Benennung des Friedens wird vom Namen des spartanischen Gesandten Antalkidas abgeleitet, der bereits seit 392 die Friedensverhandlungen seitens der Lakedaimonier führte. Vgl. Xen. hell. 4,8,12–16; 5,1,6. 25. 30. 36. 307 Vgl. StV II² 242. 308 Vgl. Jehne, Koine Eirene 33 mit Anm. 12. 309 Zu diesem Schluss kommt U. Wilcken unter Berücksichtigung von Xen. hell. 5,1,25. 29 und besonders von Diod. 14,110,3 (vgl. Wilcken, Über Entstehung und Zweck des Königsfriedens, in: Abh. d. Preuß. Akad. d. Wiss., philos. -hist. Kl. 15 [1941] 2–20, bes. 9. 12ff. Vgl. dazu StV II² 241). Anders geht R. Urban (Königsfrieden 101–104. 107f.) davon aus, dass in Susa zwar Friedensgespräche zwischen Sparta und Persien durchgeführt wurden, aber kein bilateraler Friede geschlossen wurde. 310 Xen. hell. 5,1,31: Ἀρταξέρξης βασιλεὺς νομίζει δίκαιον τὰς μὲν ἐν τῇ Ἀσίᾳ πόλεις ἑαυτοῦ εἶναι καὶ τῶν νήσων Κλαζομενὰς καὶ Κύπρον, τὰς δὲ ἄλλας ῾Ελληνίδας πόλεις καὶ μικρὰς καὶ μεγάλας αὐτονόμους ἀφεῖναι πλὴν Λήμνου καὶ ῎Ιμβρου καὶ Σκύρου· ταύτας δὲ ὥσπερ τὸ ἀρχαῖον εἶναι Ἀθηναίων. ὁπότεροι δὲ ταύτην τὴν εἰρήνην μὴ δέχονται, τούτοις ἐγὼ πολεμήσω μετὰ τῶν ταῦτα βουλομένων καὶ πεζῇ καὶ κατὰ θάλατταν καὶ ναυσὶ καὶ χρήμασιν. 146

– die Autonomie aller anderen Griechenstädte,311 kleine wie große, gewährleistet werden sollte. Ausnahme hierbei seien die attischen Kleruchien Lemnos, Imbros und Skyros, die von alters her den Athenern gehörten und was so bleiben sollte. Darauf droht Artaxerxes allen denjenigen mit Krieg, die den Frieden nicht annehmen würden. Diese Sanktion betraf lediglich die Annahme des Friedensvertrags, nicht seine dauerhafte Durchsetzung. Obwohl die auf Bestimmungen des Friedens bezogenen Sanktionsklauseln fehlten, boten die Vereinbarungen die moralische Rechtfertigung für jede Macht, die aufgrund des Schutzes oder der Verwirklichung der Autonomie militärisch einzugreifen hätte.312 Es lag insbesondere im Interesse der derzeit mächtigsten griechischen Polis – nämlich Spartas –, dass die vertragsgemäßen Interventionsbestimmungen derart vage blieben; somit konnte diese die Autonomieklausel beliebig interpretieren und in anderen griechischen Poleis intervenieren.313 Der Vertrag trat in Kraft, nachdem ihn die Griechen im Frühjahr 386 in Sparta beschworen hatten. Bereits zu dieser Zeit zeigte der Spartanerkönig Agesilaos, wie er die Autonomieklausel auszunutzen gedachte, indem er durch Androhung von Gewalt die Thebaner nicht im Namen aller Boiotier den Eid leisten ließ, was der Auflösung des Boiotischen Bundes gleichkam, und die Korinther zwang, ihre Union mit Argos aufzugeben.314 Der Verlauf der politischen und militärischen Ereignisse in den folgenden Jahren geschah im Schatten des Königsfriedens. Dieser bildete in Athen den Hintergrund unzähliger politischer Diskussionen und Publikationen,315 da er die Hoffnungen der Athener auf einen raschen Wiederaufstieg zur alten Macht zunichtemachte.316 Der Panegyrikos wurde sechs Jahre nach dem Friedenschluss veröffentlicht und es fällt direkt auf, dass das isokrateische politische Programm, das einen gemeinsamen Krieg gegen das Perserreich enthielt, in krassem Kontrast zum Friedensvertrag stand. Der Rhetor stellt den Königsfrieden nicht als ein unüberwindbares Hindernis dar, das die athenischen Handlungsmöglichkeiten in Richtung Angriffskrieg gegen Persien – und der späteren Wiederherstellung der athenischen Macht – einschränkt, sondern gerade als ein Mittel zu diesem Zweck, d. h. als einen wichtigen Kriegsgrund. Eine offizielle zwischenstaatliche, durch Eid gesicherte Vereinbarung war allerdings nur schwer zu beseitigen; Isokrates versucht dies, indem er in dreifacher Hinsicht argumentiert: a. Die Bedingungen des Vertrags seien bereits verletzt worden (§§ 115ff. 125ff.); b. der Vertrag 311 Der Friede wird hiermit auf alle Hellenen ausgeweitet, gleichgültig ob sie am Korinthischen Krieg teilnahmen oder nicht. Vgl. Buckler/Beck, Central Greece 72. 312 Vgl. Jehne, Koine Eirene 40. 44. 313 Vgl. Badian, King’s Peace, in: Flower/Toher, Georgica 25–48, bes. 42; ihm stimmt M. Jehne (Koine Eirene 44 Anm. 81) zu; Seager, CAH VI, 118. 314 Vgl. Xen. hell. 5,1,32ff.; Plut. Ages. 23,3; Seager, CAH VI, 118; Urban, Königsfrieden 111–114; Welwei, Athen 276; Buckler/Beck, Central Greece 72. 315 Vgl. Urban, Königsfrieden 144. 316 Vgl. Walter, Isokrates metanóôn? In: Orth, Isokrates 78–94, bes. 80. 147

sei schädlich für die Hellenen und sichere nicht den Frieden unter Griechen (§§ 120–132; 172f.); c. es handle sich um einen ungerechten und nicht ordnungsgemäßen Friedenvertrag, daher müsse er für ungültig erklärt werden. Demzufolge fordert er den Vertragsbruch (§ 175f.). Darüber hinaus beurteilt er die damalige schlechte Situation in Hellas insgesamt als Folge des Königsfriedens.317 Im Weiteren werden die drei genannten Punkte anhand der historischen Zusammenhänge und der isokrateischen Zielsetzung kommentiert.

a. Die Verletzung des Königsfriedens Als sich Isokrates zunächst auf den Königsfrieden bezieht, hängt dies mit seiner Verteidigung der athenischen Arché während des Delisch-Attischen Seebundes zusammen. Mit der athenischen Vorherrschaft jener Zeit vergleicht er die Situation in Hellas während der spartanischen Vorherrschaft nach 387/6, um so Athens erneuten Anspruch auf Hegemonie zu begründen. Zum Erreichen dieses letzten Zieles baut er sein panhellenisches Programm auf der Schilderung der Gegenwart auf.318 Trotz des letzten Friedensvertrags herrschten weder Friede noch Sicherheit in der griechischen Welt; Piraten beherrschten das Meer,319 Bürgerkriege häuften sich, Städte wurden durch Söldner unterdrückt.320 Zusätzlich seien einige Poleis in der Gewalt von Tyrannen, in manchen wurden spartanische Militärbefehlshaber – Harmosten – eingesetzt und einige Städte sogar zerstört. Ferner seien griechische Städte von Barbaren unterworfen worden,321 während zur Zeit der attischen Hegemonie die Perser immerhin fern gehalten wurden.322 Beachtenswert ist dabei, dass Isokrates im weiteren Verlauf der Rede auf die spartanischen Interventionen von

317 Vgl. Isokr. 4,182. 318 Vgl. Buchner, Panegyrikos 127. 319 Nach der Auflösung des größten Teils der athenischen Flotte 404 (vgl. Xen. hell. 2,2,20) war besonders Athen vom Seeraub betroffen (vgl. Usher, Panegyricus and To Nicocles 179 Komm. zu 115). Der Königsfrieden hatte dieses schwerwiegende Problem offensichtlich nicht gelöst. Isokrates spricht hierbei athenische Adressaten an. 320 Vgl. Isokr. 4,115f. 321 Hierbei handelt es sich lediglich um Kypros, Klazomenai und die ionischen Poleis Kleinasiens (vgl. Usher, Panegyricus and To Nicocles 179 Komm. zu 117) und daher kann nicht die Rede von einem Verstoß der Perser gegen die Bestimmungen des Königsfriedens (vgl. Xen. hell. 5,1,31) sein. 322 Vgl. Isokr. 4,117f. 120f. Isokrates verweist auf die Bestimmungen des sogenannten Kalliasfriedens von 449, sodass der Gegensatz zum Königsfrieden und somit der Unterschied zwischen den Ergebnissen der damaligen athenischen und der derzeitigen spartanischen Arché auffallen (vgl. Bringmann, Studien 42). 148

385 bis 380 in Mantineia323, Phleius324, Olynthos325 und Theben326 zurückgreift, ohne jedoch die unterschiedlichen Motive der jeweiligen Aktionen zu unterscheiden.327 Es 323 Im Jahr 385 hatte Sparta die arkadische Stadt Mantineia zur Mitgliedschaft im Peloponnesischen Bund gezwungen, und in fünf selbstständige Landgemeinden aufgespalten (vgl. Xen. hell. 5,2,1–7; 6,4,18; Isokr. 4,126; 8,100; Ephor. FGrHist 70 F 79; Diod. 15,5). Die Spartaner konnten ihre Vorgehensweise damit rechtfertigen, dass sie die Autonomie dieser arkadischen Gemeinden wiederherstellten und damit den Bedingungen des Königsfriedens entsprachen (vgl. Hornblower, The Greek World 228). Dagegen behauptet Diodor, dass die Spartaner gerade durch ihre Intervention in Mantineia gegen die Autonomieklausel des Königsfriedens verstoßen hätten (vgl. Diod. 15,5,1f.). Zu den machtpolitischen Motiven Spartas vgl. Rice, Historia 23 (1974) 164–182, bes. 166. 169; Hornblower, The Greek World 228. 231. 324 In Phleius, auf der nordöstlichen Peloponnes, intervenierten die Spartaner nach 384 militärisch, um die oligarchischen Kräfte innenpolitisch zu unterstützen (vgl. Xen. hell. 5,2,8ff. 5,3,10–25; dazu Welwei, Sparta 293f.). 325 Im Jahr 382 griff Sparta aufgrund eines Hilfegesuches der chalkidischen Städte Akanthos und Apollonia die – innerhalb des Chalkidischen Bundes allzu mächtig gewordene – Stadt Olynthos an (Xen. hell. 5,2,11–24; Diod. 15,20,3. 21,1ff.). Die Reaktion auf ein Hilfegesuch und zwar unter Berufung auf die Autonomieklausel des Königsfriedens bot Sparta eine ausgezeichnete Gelegenheit zur Rechtfertigung des Vorgehens gegen Olynthos. Sparta gelang es, die Kräfteverhältnisse in Nordgriechenland nach seinen Interessen zu regeln und eine Verstärkung Athens – und Thebens – durch ein potentielles Bündnis mit Olynthos zu verhindern (vgl. Cawkwell, CQ 26 [1976] 62–84, bes. 77; Quass, HZ 252 [1991] 33–56, bes. 45; Hornblower, The Greek World 230f.; Buckler/Beck, Central Greece 74f.). Ein Bündnis Spartas sowohl mit dem Makedonenkönig als auch mit Akanthos und Apollonia (vgl. StV II² 249) ist keineswegs auszuschließen (vgl. Zahrnt, Hermes 134 [2006] 127–141, bes. 131f. mit Anm. 14). Zu den unterschiedlichen Berichten Xenophons und Diodors über die Vorgeschichte des spartanisch-olynthischen Krieges vgl. Parker, RhM 146 (2003) 113–137. 326 Spartanische Truppen machten im Jahr 382 unter der Führung von Phoibidas auf ihrem Weg nach Olynthos eine Zwischenstation in Theben und besetzten mit Hilfe von thebanischen Oligarchen die Burg Kadmeia. Die oligarchische, pro-spartanische Gruppierung unter Leontiades erlangte somit die Macht und Theben geriet de facto unter spartanische Herrschaft (vgl. Xen. hell. 5,2,24–36; Plut. Pel. 5; Plut. Ages. 23,3–7; Plut. mor. 575F; Diod. 15,20; Androt. FGrHist 324 F 50). Xenophon stellt Phoibidas lediglich als einen Ehrgeizling dar (Vgl. Xen. hell. 5,2,28). K. L. Noethlichs (Historia 36 [1987] 129–170, bes. 149f.) lässt mit guten Argumenten die Frage offen, ob Phoibidas durch thebanische Oligarchen bestochen wurde, nachdem er in Theben ankam. Der Spartanerkönig Agesilaos versuchte diesen Verstoß als vereinzelte Aktion eines spartanischen Feldherrn darzustellen, wovon sich die offizielle spartanische Politik distanzierte. Dieses Argument konnte ihm langfristig nicht gelingen, zumal die lakedaimonische Besatzung auf der Kadmeia bestehen blieb (vgl. Buckler/Beck, Central Greece 77f.). 327 Vgl. Isokr. 4,126; Usher, Panegyricus and To Nicocles 184 Komm. zu 126. 149

ist allerdings nicht zu bezweifeln, dass Sparta in hellenischen Poleis mit Gewalt intervenierte und spartafreundliche, oligarchische Führungen ohne Rücksicht auf die Autonomieklausel des Friedens einsetzte oder sich sogar fälschlich darauf berief.328 Durch das Auflisten der mehrfachen Verletzungen des Königsfriedens durch Sparta konnte Isokrates darauf hinweisen, dass der Friede nur vorgeblich war und folglich nicht als bestehend betrachtet werden konnte; besonders die allgemeine Empörung in Hellas wegen der Besatzung von der thebanischen Burg Kadmeia durch Sparta,329 die als ein eindeutiger Bruch des Königsfriedens gewertet wurde, gab eine ausgezeichnete Gelegenheit dazu, dies nachzuweisen. Der Redner kann folglich den Vertragsbruch fordern:330 Die Verletzung der Autonomie von Inseln und Poleis im europäischen bzw. hellenischen Teil der Welt sei ein klarer Verstoß gegen den Königsfrieden;331 daher sei eine künftige Verletzung des Vertrags ebenfalls im asiatischen bzw. persischen Teil gerechtfertigt.332 Isokrates sucht keineswegs eine Auseinandersetzung mit Sparta, auch wenn er durch die Aufhebung des Vertrags der spartanischen Vorherrschaft in Hellas ein Ende machen wollte. Im Jahr der Veröffentlichung des Panegyrikos – also 380 – stand Sparta nach dem Königsfrieden auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung.333 Athen hatte auf Spartas Expansionsbestrebungen bis dahin nur zurückhaltend reagiert, nicht zuletzt weil es nicht hinreichend mächtig war, militärisch vorzugehen.334 Eine Konfrontation mit Sparta war zu dieser Zeit auf jeden Fall zu vermeiden; diese Auffassung war allgemein bekannt und wurde durch die dominierende demokratische Gruppierung unter Kephalos von Kollytos, Thrasybulos von Kollytos335 und Kallistratos von Aphidnai336 vertreten.337 Athen hatte jedoch im Sommer 384 eine Symmachie mit der griechischen Insel Chios in der östlichen Ägäis geschlossen.338 Es ist anzunehmen, dass manche 328 Vgl. Welwei, Sparta 294. 329 Vgl. Xen. hell. 5,4,1; Pol. 4,27,4–7; Diod. 15,19,4. 20,1ff.; Plut. Ages. 23,3; Iust. 8,1,5; dazu Bengtson, GG 272; Dreher, Athen und Sparta 151; Welwei, Sparta 295. 330 Dies drückt Isokrates eindeutig in § 175 aus. 331 Isokr. 4,176: ῝Α μὲν γὰρ αὐτονόμους ἀφίησιν τάς τε νήσους καὶ τὰς πόλεις τὰς ἐπὶ τῆς Εὐρώπης, πάλαι λέλυται καὶ μάτην ἐν ταῖς στήλαις ἐστίν. 332 Vgl. Isokr. 4,187; dazu Momigliano, Europa, in: Seck, Isokrates 128–138, bes. 131. 333 Vgl. Xen. hell, 5,3,27; Diod. 15,23,3; Bengtson, GG 273; Seager, CAH VI, 162f.; Hornblower, The Greek World 232; Welwei, Sparta 295. 334 Vgl. Welwei, Athen 278. 335 Thrasybulos von Kollytos ist nicht mit dem bedeutenden demokratischen Politiker und Soldat Thrasybulos von Steiria zu verwechseln. Letzter starb bereits im Jahr 389. Vgl. Kinzl, KlP 5 (1979) s. v. Thrasybulos [3] 784f. 336 Vgl. Beloch, Perikles 133f. 337 Vgl. dazu Rice, Historia 23 (1974) 164–182, bes. 169. 338 Vgl. IG II² 34; StV II² 248. Kurz davor hatten die Athener versucht, auch im Norden präsent zu werden, indem sie mit den odrysischen Thrakern eine Symmachie abschlossen und den thrakischen König Hebryzelmis ehrten (vgl. IG II² 31 = Tod II 117). Dazu sowie zu anderen Bemühungen Athens, nach dem Königsfrieden Einfluss im griechischen Raum zu gewinnen vgl. Seager, CAH VI, 163f. 150

athenische Politiker zu dieser Zeit an die Etablierung eines neuen Seebundes als Reaktion auf Spartas Ambitionen dachten. Das Bündnis zwischen Athen und Chios diente als Vorbild für spätere attische Symmachieverträge; seine Bedeutung wird dadurch deutlich, dass Chios als erster in der Reihenfolge der Bündner im Aristotelesdekret, also im Gründungsvertrag des Zweiten Attischen Seebundes von 377, aufgelistet wurde.339 Dass Athen keinesfalls gegen den Königsfrieden vorgehen wollte, wird im Vertrag zwischen Athen und Chios deutlich, wird doch der Königsfrieden als Grundlage für seine Bestimmungen genannt und die ἐλευθερία und αὐτονομία der Chier ausdrücklich anerkannt.340 Aus dem Vertragstext geht hervor, dass diese die Initiative zum Bündnis mit Athen ergriffen hatten und es nicht auszuschließen ist, dass die Chier als erste die Idee entwickelten, dass ein Defensivbündnis unter Hellenen nicht gegen den Königsfrieden verstoße.341 Ihr Interesse wird deutlich, wenn man beachtet, dass sie trotz des Friedens gute Gründe hatten, sich bedroht zu fühlen, denn unmittelbar nach dessen Abschluss hatten die persischen Satrapen begonnen, gemäß den Bestimmungen des Königsfriedens die persische Herrschaft in griechischen Poleis Kleinasiens durch die Einrichtung von Befestigungen und sogar durch die Zerstörung einiger Städte durchzusetzen.342 Über diese Entwicklung konnten die Chier nur tief beunruhigt sein und größtmöglichen Schutz vor einer eventuellen persischen Aggression suchen.343 Dies gilt auch für den Fall, in dem sich die Inselbewohner zwar nicht durch den Perserkönig, sondern durch dessen ehemaligen Feldherrn Glos, der gegen ihn rebelliert hatte, gefährdet fühlten.344 Die Gründe, weshalb sich die Chier an Athen und nicht an Sparta, den angeblichen Garanten des Friedens, wandten, sind offensichtlich: Nach der Seeschlacht 339 Vgl. Bruce, Phoenix 19 (1965) 281–284, bes. 284. Zum Aristotelesdekret vgl. IG II² 43 (= Syll. I³ 147; Tod II 123). 340 Vgl. Badian, King’s Peace, in: Flower/Toher, Georgica 25–48, bes. 37. 341 Vgl. Rhodes/Osborne, Komm. zu 20. 342 Vgl. Isokr. 4,137. Da die kleinasiatischen Festlandsbesitzungen der Inselstaaten (περαῖαι) mit großer Wahrscheinlichkeit nach den Bedingungen des Königsfriedens unter persische Kontrolle gerieten, ist anzunehmen, dass persische Truppen in diesen Gebieten stationiert waren und somit Befestigungen in unmittelbarer Nähe der Inseln Chios, Tenedos, Samos und Rhodos eingerichtet waren. Der genaue Text des Friedensvertrags ist nicht überliefert, die Existenz jedoch der Klausel über die Peraiai lässt sich aus der Abfolge der späteren Ereignisse erschließen (vgl. Hornblower, CAH VI, 80). Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass solche Klauseln erst in späteren Erneuerungen des Friedensvertrags mit einbezogen wurden (vgl. Saeger, CAH VI, 118). 343 Vgl. Bruce, Phoenix 19 (1965) 281–284, bes. 283. Allerdings hat der persische Großkönig Chios nicht angegriffen und insgesamt in die griechischen Angelegenheiten nur einmal in den sechzehn Jahren vom Abschluss des Königsfriedens bis 370 interveniert (vgl. Ryder, Koine Eirene 41 mit Anm. 5). 344 Diese Auffassung wird durch S. Dušanić vertreten, der jedoch – gegen die bisher durchgesetzte Einschätzung – Diodors Datierung der Rebellion Glos’ ins Jahr 385/4 für richtig hält. Vgl. Dušanić, ZPE 133 (2000) 21–30, bes. 27–30. 151

bei Knidos 394 vertrieben die Chier die spartanischen Garnisonen und schlossen sich dem athenischen Nauarchen Konon an.345 In den Jahren danach erhielt Chios eine demokratische Verfassung, stand in enger Verbindung mit Athen und pflegte Kontakte zu führenden athenischen Politikern wie Kephalos. Bis zum Ende des Korinthischen Krieges blieb allerdings die Furcht vor einer Wiederbesetzung ihrer Insel durch Sparta bestehen. Nach dem Königsfrieden war anstelle von Sparta Persien die bedrohliche Macht.346 Isokrates behauptet im Panegyrikos, dass die griechischen Inseln in der östlichen Ägäis die Athener als ihre Beschützer vor persischen Aggressionen, d. h. auch vor einem möglichen Bruch des Königsfriedens, erachteten.347 Hierbei kann er aus persönlicher Erfahrung sprechen, da er selbst nach der Vertreibung der spartanischen Garnisonen in Chios, also nach 394, als Rhetoriklehrer auf der Insel tätig war und bei der Etablierung der demokratischen Verfassung mitgewirkt hatte.348 Somit war er über die Vorgänge auf der Insel zuverlässig informiert und hatte wahrscheinlich Kontakt zu der Gesandtschaft aus Chios in Athen im Jahr 384.349 Isokrates behauptet allerdings nicht, dass die Athener anstelle Spartas als προστάται fungieren sollten.350 Der Rhetor hat die Furcht der Inselbewohner vor dem benachbarten Perserreich und den Vertrag zwischen Chios und Athen lediglich benützt, um seine Forderung nach einem Krieg gegen Persien, selbst wenn es sich in diesem Fall um einen Präventivkrieg351 handle, zu unterstützen.352 Die Kontakte zu den Inselbewohnern haben vermutlich zur Prägung des panhellenischen Konzepts des Isokrates beigetragen, denn er konnte dadurch Aktualität und Popularität der Auffassung bestätigen, dass 345 Vgl. Diod. 14,84,3. 346 Vgl. Bruce, Phoenix 19 (1965) 281–284, bes. 282f. Die Unterstützung, die bereits 387 der Satrap Tiribazos und sein Schwiegersohn Glos Sparta anboten (vgl. Xen. hell. 5,1,28; Ruzicka, Historia 48 [1999] 23–43, bes. 26), sollte bewirken, dass Sparta keine Konfrontation zugunsten der Chier gegen persische Streitkräfte beschließen würde, selbst wenn dies dem Schutz des Königsfriedens gedient hätte (Vgl. Seager, CAH VI, 163). 347 Vgl. Isokr. 4,163. 348 Vgl. Plut. mor. 837B-C; Nach S. Dušanić reflektiert auch der platonische Euthydemos (vgl. Plat. Euthyd. 305b-d) Isokrates’ Aktivitäten in Chios (vgl. Dušanić, JHS 119 [1999] 1–16). Ein Aufenthalt des Isokrates in Chios kann nur zwischen der Schlacht bei Knidos 394 und 387 stattgefunden haben (vgl. Bruce, Phoenix 19 [1965] 281–284, bes. 282). M.L.W. Laistner (De Pace and Philippus 12f.) setzt ihn zwischen 390 und 388 ein. 349 Vgl. Dušanić, JHS 119 (1999) 1–16, bes. 4ff. 350 Xenophon nennt die Lakedaimonier προστάται τῆς ὑπὸ βασιλέως καταπεμφθείσης εἰρήνης (Vgl. Xen. hell. 5,1,36). Es ist aber unwahrscheinlich, dass sie vom Großkönig offiziell als Vorsteher des Friedens anerkannt wurden. Vgl. Urban, Königsfrieden 117f. mit Anm.453; Welwei, Athen 276. 351 Einen Präventivkrieg fordert Isokrates nicht nur zum Schutz der Inselbewohner, sondern vor allem aus militärisch-taktischen Gründen. Vgl. Isokr. 4,164f. 352 Vgl. dazu Hornblower, The Greek World 233. 152

die Perser der gemeinsame Feind aller Hellenen seien, und so seine Argumentation untermauern. Durch den Vorschlag zum Krieg aller Hellenen gegen die Perser wendet Isokrates sich bezeichnenderweise nicht gegen Sparta als den Vertragsbrüchigen, sondern gegen den – seiner Ansicht nach – eigentlichen Urheber des Vertrags, nämlich gegen das Perserreich. Dabei sollten Athen und Sparta Seite an Seite kämpfen.353 Selbst wenn die Verwirklichung seines Plans unter den Zeitumständen unwahrscheinlich war, hätte Athen bei Durchführung sicherlich einen Teil seiner alten Stellung in Hellas wiederhergestellt. Demzufolge hätte Athen durch einen derartigen Krieg weniger riskiert, als durch einen Krieg gegen Sparta.

b. Die Benachteiligung der Hellenen Im Urteil des Isokrates im Panegyrikos ist der Königsfrieden Sinnbild für die griechische Abhängigkeit von den Persern.354 Dies ist ein essentieller Punkt in seiner Argumentation für den Bruch des Friedens und den Krieg gegen das Perserreich. Die sich aus dem Königsfrieden ergebende Schiedsrichterrolle des Großkönigs in Hellas brandmarkt Isokrates, indem er zunächst diesen Vertrag mit dem sogenannten Kalliasfrieden355 des 5. Jh. vergleicht. Er verteidigt hierbei die attische ἀρχή des 5. Jh. und versucht zu zeigen, dass die Athener damals die Führungsrolle hatten und sich dies für die griechische Welt als nützlich erwies. Durch den Kalliasfrieden hätte Athen es geschafft, die griechisch-persischen Beziehungen in eigener 353 Vgl. Isokr. 4,129–132. Dieser Vorschlag macht ihn nicht wegen Spartafreundlichkeit verdächtig, da er vorher nicht nur die Vertragsverstöße nach dem Königsfrieden, sondern auch den spartanischen Imperialismus nach 404 deutlich verurteilte (vgl. Isokr. 4,110–114). 354 Vgl. Jaeger, Paideia III, 194f. 355 Isokrates bezieht sich in drei seiner Reden auf den Kalliasfrieden, ohne namentlich Kallias, der angeblich die Verhandlungen von athenischer Seite führte, zu erwähnen (vgl. Isokr. 4,117–120; 7,80; 12,59). Die Geschichtlichkeit dieses Friedens wurde bereits in der Antike von Theopompos (vgl. FGrHist 115 F 153f.) und vermutlich auch Kallisthenes (FGrHist 124 F 16; vgl. aber dazu Bosworth, JHS 110 [1990] 1–13) bezweifelt und ist auch in der Forschung umstritten, indem er teilweise als eine Erfindung des 4. Jh. betrachtet wird (vgl. die Literatursammlung bis 1961 in StV II² 152, S. 69; Meister, Die Ungeschichtlichkeit des Kalliasfriedens und deren historische Folgen). Allerdings soll aufgrund des reichen Quellenmaterials (vgl. StV II² 152) im Zusammenhang mit den einander ergänzenden Studien zum Thema von Ed. Meyer, H.T. Wade-Gery, K. Kraft, S.K. Eddy, E. Badian (der allerdings von zwei Kalliasfrieden spricht), W.E. Thompson und zuletzt G.L. Cawkwell und L.J. Samons II. kein Zweifel mehr an der Echtheit des Friedensschlusses von 449 bestehen (vgl. Meyer, Forschungen zur alten Geschichte II, 71–82; Wade-Gery, The Peace of Kallias, in: ders., Essays in Greek History 201–232; Kraft, Hermes 92 [1964] 144–171, bes. 158–171; Eddy, CPh 65 [1970] 8–14; Thompson, Historia 30 [1981] 164–177; Badian, JHS 107 [1987] 1–39; Cawkwell, Phoenix 51 [1997] 115–130; Samons II, Historia 47 [1998] 129–140). 153

Regie zu regeln. In diesem Vertrag wurden der Machtausdehnung des Perserkönigs Grenzen gesetzt; so wurden Abgaben für einige griechische Poleis im persischen Herrschaftsbereich festgesetzt356 und die Perser gehindert, mit Kriegsschiffen das Meer zu befahren.357 Allerdings ist der Kalliasfrieden in der Tat angesichts der früheren ruhmreichen militärischen Siege Athens über Persien kein wirklicher Erfolg gewesen; jedenfalls brachte er Athen keinerlei Machtzuwachs und Thukydides fand keinen Grund, diesen Frieden in seinem Geschichtswerk zu erwähnen.358 Sieben Jahrzehnte nach dem Friedenschluss hat Isokrates viel Freiraum, den Frieden nach eigenem Gutdünken darzustellen und als nutzbringend für die Hellenen zu interpretieren.359 Ihn interessiert hier nicht, die Bedingungen des Kalliasfriedens präzise zu überliefern, sondern diesen in seine Argumentation einzubinden. Demzufolge vermeidet er die Erwähnung der Autonomieklausel360 über die Griechenstädte Kleinasiens, da dem Vergleichsobjekt, nämlich Athen in den Zeiten des Delisch-Attischen Seebunds, zu Recht Vorwürfe wegen der Beeinträchtigung der Autonomie seiner Bündner gemacht werden könnten.361 Isokrates vergleicht den Kallias- mit dem Königsfrieden in Bezug auf den Nutzen für die Hellenen. Somit wird die athenische Vorherrschaft als Gegensatz zum

356 K. Kraft (Bemerkungen zu den Perserkriegen, in: Hermes 92 [1964] 144–171, bes. 162) notiert zu der Regelung über die Abgaben (Phoroi): „Es handelt sich nach Isokrates nicht schlechthin um einen Verzicht des Großkönigs auf alle Phoroi aus dem westlichen Kleinasien, sondern anscheinend um gewisse Regelungen, wobei wohl die mit Athen verbundenen Städte ganz von der Besteuerung ausgenommen wurden, andere Griechenstädte dagegen nur eine Ermäßigung und Fixierung der Forderungen erreichten, andere, nicht oder nicht überwiegend griechische Gebiete überhaupt nicht betroffen wurden.“ 357 Vgl. Isokr. 4,120. 358 Vgl. Meyer, Forschungen zur alten Geschichte II, 81. 359 Ähnlich hat Demosthenes Ende der 350er Jahre den Kalliasfrieden als Beispiel eines gerechten Friedensvertrags dargestellt, während er den Königsfrieden als Sinnbild des Faustrechts verstand. Vgl. Demosth. 15,29; dazu hier S. 342. 360 Diodor, dessen Quelle der Historiker des 4. Jh. Ephoros ist, erwähnt als erste Bestimmung des Kalliasfriedens die Autonomie der griechischen Poleis Asiens (vgl. Diod. 12,4,5). Ähnlich weist der Rhetor Lykurgos um 330 auf die Autonomie der Griechen Europas und Asiens hin (vgl. Lykurg. 1,73). Die Geschichtlichkeit der Autonomieklausel ist umstritten, doch sehr wahrscheinlich (vgl. Thompson, Historia 30 [1981] 164–177, bes. 172; Cawkwell, Phoenix 51 [1997] 115–130, bes. 125 mit Anm. 29). 361 Isokrates betonte kurz zuvor in früheren Passagen des Panegyrikos (§§ 115ff.), dass die Autonomie der Griechenstädte trotz des Königsfriedens in der Tat nicht bestehe. Er konnte nun in § 120 auf den Kalliasfrieden in Bezug auf andere Gesichtspunkte hinweisen, sich nicht aber auf die Autonomie der Griechenstädte berufen, zumal die früheren Interventionen Athens in Hellas im gemeinsamen Gedächtnis der Hellenen ihre Spuren hinterlassen haben sollen (vgl. Thompson, Historia 30 [1981] 164–177, bes. 172). 154

persischen Machtzuwachs in Hellas nach 386 dargestellt. Der Rhetor weist darauf hin, dass der Perserkönig seit dem Königsfrieden sowohl die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Hellenen als auch die inneren Angelegenheiten in griechischen Poleis bestimmte.362 Ab diesem Moment wurde der Kalliasfrieden ein rhetorischer Topos bis zum Ende des 4. Jh., gerade weil er mit dem Königsfrieden verglichen werden konnte.363 Durch derartige Argumente gelangte Isokrates zu den wichtigsten Zielen des Panegyrikos, nämlich zum Anspruch Athens auf Hegemonie und zum panhellenischen Perserkrieg. Ferner hat sein massiver Protest gegen die Auslieferung der Hellenen Kleinasiens an den Perserkönig364 zum Ergebnis geführt, dass der Königsfrieden in der ganzen hellenischen Welt als äußerst ungerecht erschien. Dies gelingt dem Rhetor, indem er den derzeitigen Zustand der Hellenen Kleinasiens als δουλεία365 bezeichnet und dem Perserkönig πλεονεξία, also ‚Mehr-Haben-Wollen‘ vorwirft.366 Πλεονεξία ist hier ein Schlüsselbegriff, denn dadurch rückt Isokrates den ethischen Faktor überzeugend in den Vordergrund, um die Absicht des Perserkönigs zu verurteilen.367

c. Der Königsfrieden als Diktat des Artaxerxes II Nachdem Isokrates den Königsfrieden in allerlei Hinsicht kritisiert, fordert er ausdrücklich den Bruch des Friedens,368 da dieser nicht zum Nutzen der Griechen geschlossen worden sei.369 Allerdings stehen dem Bruch eidlich beschworene rechtliche Hindernisse im Weg.370 Diese Abmachungen versucht Isokrates zu beseitigen, indem er den Vertrag des Königsfriedens als völkerrechtliche Urkunde in Frage stellt. Er spricht dem Vertrag den Terminus συνθῆκαι ab, und bezeichnet ihn als ein πρόσταγμα des Großkönigs, also als ein die Hellenen benachteiligendes persisches 362 Vgl. Isokr. 4,121. 363 Vgl. Thompson, Historia 30 (1981) 164–177, bes. 176. Im platonischen Menexenos wird ebenfalls auf den Kalliasfrieden hingewiesen (vgl. Plat. Mx. 242a); obwohl auch in dieser Rede auf den Gegensatz des Kallias- und des Königsfriedens zugespitzt argumentiert wird, fehlt dort ein ausdrücklicher Vergleich (vgl. Pohlenz, Aus Platos Werdezeit 307). 364 Vgl. Isokr. 4,122f. 137. 169. 365 Vgl. Isokr. 4,123; auch 4,127. 366 Vgl. Isokr. 4,179. 367 Isokrates verwendet hier πλεονεξία als Gegensatz zur ἰσότης, zum δίκαιον, zum κόσμιον und zur ἀρετή, als Ausdruck einer privaten und politischen Eigensucht (Weber, Pleonexie 148). Allerdings ist die πλεονεξία als Streben nach politischer Macht für Isokrates nicht immer negativ gefärbt. Im Gegenteil lobt er den echten Leistungsehrgeiz in einigen Fällen als politischen Weg zum Machtzuwachs (vgl. Isokr. 15,281. 284; 8,28 auch 3,1–4; Wolf, Rechtsdenken 288; Weber, Pleonexie 137–139.) 368 Isokr. 4,175: Καίτοι πῶς οὐ χρὴ διαλύειν ταύτας τὰς ὁμολογίας […]; 369 Vgl. Isokr. 4,175f. 370 Vgl. Urban, Königsfrieden 157f. 155

Friedensdiktat.371 Συνθῆκαι sollen nämlich für beide Seiten gleiche und gemeinsame Bestimmungen enthalten. Es handele sich hingegen um ein πρόσταγμα, wenn es einer Seite widerrechtlich Nachteile bringe: Τίς γὰρ οὐκ οἶδεν, ὅτι συνθῆκαι μέν εἰσιν, αἵτινες ἂν ἴσως καὶ κοινῶς ἀμφοτέροις ἔχωσιν, προστάγματα δὲ τὰ τοὺς ἑτέρους ἐλαττοῦντα παρὰ τὸ δίκαιον.372

Es stellt sich hier die Frage, ob Isokrates’ Urteil über den Königsfrieden als einseitig wahrgenommen werden konnte. Aus dem Wortlaut des von Xenophon überlieferten königlichen Reskripts, das mit der Phrase Ἀρταξέρξης βασιλεὺς νομίζει δίκαιον […]373 beginnt, geht deutlich hervor, dass der Text ein Edikt des Artaxerxes war.374 Xenophon lässt den Frieden demnach als Diktat des Königs erscheinen.375 Dies hat nicht nur mit seiner durchweg negativen Beurteilung des Friedens zu tun;376 der attische Historiker ist sich der Tatsache bewusst, dass der Großkönig Verträge mit anderen Staaten nicht wie mit gleichberechtigten Mächten schloss. Im Gegenteil – es war üblich, dass das Ergebnis von Verhandlungen als sein Diktat erschien.377 Da bezüglich des Reskripts des Königs keine Diskussion oder Abänderung seiner Bestimmungen durch die beteiligten griechischen Staaten vorgesehen war,378 ist festzuhalten, dass es eher den Charakter eines Diktats einnahm und meistens auch so in der hellenischen Welt wahrgenommen wurde. Trotzdem ist nicht zu übersehen, dass jede beteiligte Polis der Korinthischen Allianz diesen von der spartanischen Initiative ausgehenden und vom Großkönig geprägten 371 Isokrates bezweifelt keineswegs, dass der Vertrag gemäß den rechtmäßigen Stipulationen geschlossen wurde, ein Teil deren die Eidleistung der beteiligten Parteien war. Die Begriffe συνθῆκαι und ὅρκοι verwendet er sonst in seinen Schriften häufig als Synonyme (vgl. Keil, Εἰρήνη 66 Anm. 3). Seine Kritik an dem Königsfrieden und die Aberkennung des Terminus συνθῆκαι in Bezug auf diesen konzentrieren sich nicht auf die Form, sondern auf den Inhalt und die Folgen des Vertrags. 372 Isokr. 4,176. 373 Xen. hell. 5,1,31. 374 Vgl. Wilcken, Über Entstehung und Zweck des Königsfriedens, in: Abh. d. Preuß. Akad. d. Wiss., philos.-hist. Kl. 15 (1941) 2–20, bes. 16f. 375 Vgl. Xen. hell. 5,1,25. 30ff. 376 Drei Jahrzehnte nach der Veröffentlichung des Panegyrikos schilderte Xenophon in seinen Hellenika die Folgen des Königsfriedens in derselben Weise, wie es früher Isokrates getan hatte. Da sogar sprachliche Übereinstimmungen zu finden sind, ist anzunehmen, dass Xenophon Isokrates zitiert haben dürfte (vgl. Xen. hell. 5,1,36; Isokr. 4,139). Jedoch ist Xenophons Kritik des Königsfriedens zurückhaltender im Vergleich zu Isokrates’ Verdammung des Vertrags. Isokrates wendet sich im Panegyrikos unter anderem gegen die derzeitige spartanische Machtpolitik, die auch durch die früheren spartanischen Vereinbarungen mit dem Großkönig demonstriert wurde, was zu Xenophons Spartabild nicht passte (vgl. Zahrnt, RhM 143 [2000] 295–325, bes. 306). 377 Vgl. Zahrnt, RhM 143 (2000) 295–325, bes. 303f. 378 Vgl. Jehne, Koine Eirene 36f. 156

Frieden samt seinen Bestimmungen ablehnen konnte. Dies würde allerdings für jene Macht die Fortsetzung des Krieges und dabei den Verzicht auf persische Unterstützung bedeuten. Demzufolge konnte der Perserkönig seine tragende Rolle nicht nur in der Formulierung der Vertragsklauseln, sondern auch bei der Annahme des Friedens durch alle Parteien spielen. Isokrates’ Kritik an der Rolle des Perserkönigs konnte daher nicht als übertrieben beurteilt werden, auch wenn die Stellungnahme und Zielsetzung des Rhetors im Panegyrikos eindeutig situationsbedingt waren. Der Friede wurde bereits von den zeitgenössischen Griechen βασιλέως εἰρήνη, also Königsfrieden, genannt. Diese Bezeichnung verrät den eigentlichen Urheber des Vertrags und muss als erste offizielle Intervention des Großkönigs in die hellenischen Angelegenheiten großen Eindruck hinterlassen haben und als Schmach wahrgenommen worden sein.379 Isokrates hat demzufolge gute Gründe, zwischen συνθῆκαι und προστάγματα zu unterscheiden. Er macht aber keinen Gebrauch von dem Wortlaut und der äußeren Form des königlichen Reskripts, um sein Argument zu stützen. Er versucht hingegen den Vertrag als Diktat zu entlarven, indem er die praktische Durchführung der Bestimmungen des Friedens untersucht. Von den Definitionen der Begriffe συνθῆκαι und προστάγματα ausgehend vermag er nun argumentativ in Bezug auf die Beurteilung des bestehenden Rechts die Hellenen aufzufordern, das einseitige Diktat des Artaxerxes nicht einen Tag länger hinzunehmen.380 Freilich legitimiert diese Ansicht den Vertragsbruch nur in den Augen der Hellenen, und zwar lediglich unter Berufung auf ethische Normen. Συνθῆκαι ist im attischen und hellenischen Recht kein festumrissener technischer Begriff, da sich für diese sowie für Verträge aller Art keine bindende gesetzlich festgelegte Bestimmung nachweisen lässt, die den Vertrag inhaltlich und formell näher erläutert.381 Isokrates definiert selbst die συνθῆκαι als gerechten Friedensvertrag, als er den bei den Verhandlungen in Susa anwesenden griechischen Gesandten vorwirft, sie hätten den Frieden zum Nutzen des Perserkönigs geschlossen. Der Friedensvertrag wäre gerecht gewesen, wenn der Friede auf gängigen Prinzipien aufgebaut wäre, denen alle Parteien in gleicher Weise unterworfen seien. Folgende Voraussetzungen hätten garantiert werden sollen:382 379 Vgl. Buchner, Panegyrikos 129. In den nächsten Jahrzehnten rechnete die griechische Welt immer mehr mit einer aktiven Rolle des Perserkönigs in Hellas. Die βασιλέως εἰρήνη entwickelte sich zu einem terminus technicus, der die inhaltliche Substanz eines allgemeinen Friedens zusammenfasste; seit der zweiten Hälfte der 370er Jahre gilt dieser Begriff nicht mehr als die nationale Schmach (vgl. Jehne, Koine Eirene 77). 380 Isokr. 4,176. ἃ χρῆν ἀναιρεῖν καὶ μηδὲ μίαν ἐᾶν ἡμέραν, νομίζοντας προστάγματα καὶ μὴ συνθήκας εἶναι. 381 Vgl. Schultheß, RE Suppl. VI (1935) s. v. συνθήκη 1158–1168, bes. 1158; Berneker, KlP 5 (1979) s. v. Syntheke 459. 382 Isokr. 4,177: ᾿Εχρῆν γὰρ αὐτοὺς, εἴτ‘ ἐδόκει τὴν αὑτῶν ἔχειν ἑκάστους, εἴτε καὶ τῶν δοριαλώτων ἐπάρχειν, εἴτε τούτων κρατεῖν ὧν ὑπὸ τὴν εἰρήνην ἐτυγχάνομεν 157

a. Das Beibehalten des traditionellen Gebietes eines jeden Staates. b. Die Herrschaft eines jeden Staates über das Gebiet, das er einmal erobert hat. c. Die Herrschaft eines jeden Staates über das Gebiet, welches er zur Zeit des Friedensschlusses besaß. Hiervon werden als unantastbare Voraussetzungen der συνθῆκαι ungeschriebene völkerrechtliche Grundsätze zugrundegelegt, also ἄγραφοι νόμοι, die sich durchgesetzt hatten und dem allgemeinen Rechtsgefühl entsprachen.383 In diesem Sinne behauptet Aristoteles – bezogen auf die durch Kriegsgefangenschaft entstandene Sklaverei –, dass dem Kriegsrecht zufolge jeder Partei das, was sie in ihre Gewalt bekam, gehörte.384 Isokrates weist auf die Existenz eines solchen Kriegsrechts auch bezüglich der durch Krieg okkupierten Gebiete hin, was später ein Prinzip des römischen Kriegsrechts werden sollte.385 Während hierbei der Rhetor theoretisch über ordnungsgemäße Friedensverträge referiert, will er die Gegensätze zum Königsfrieden aufzeigen. Alle drei Punkte sollten dementsprechend in Anbetracht der unbegründeten Preisgabe hellenischer Poleis Kleinasiens an den Perserkönig vorrangig und zusätzlich in der neuen Abhängigkeitsbeziehung der Hellenen des Mutterlands zum Großkönig als nicht erfüllt wahrgenommen werden. Es ist festzuhalten, dass Isokrates den Bruch des Friedens rechtfertigt, indem er selbst eine Definition von συνθῆκαι vorstellt, diese analysiert und davon ausgehend den Königsfrieden nicht als ‚Übereinkunft‘ gleichberechtigter Parteien anerkennt. Dies ist sein einziges Argument, das die völkerrechtliche Legitimation des Königsfriedens in Betracht zieht und somit den Krieg gegen das Perserreich als νόμιμον zu rechtfertigen sucht. Da er sich aber nicht nach schriftlich festgelegten Gesetzen richten kann, ist es auch in diesem Fall das δίκαιον, also das abstrakte Rechtsgefühl seiner Adressaten, worauf er sich zu berufen vermag.

2.1.3 Krieg gegen das Perserreich im Hinblick auf das δυνατόν und πρέπον Neben dem συμφέρον und δίκαιον untersucht Isokrates im Panegyrikos den Krieg gegen das Perserreich aufgrund seiner Durchführbarkeit. Er versucht nachzuweisen, dass ein panhellenischer Feldzug militärisch durchaus erfolgreich sein könnte.386

383 384 385 386 158

ἔχοντες, ἕν τι τούτων ὁρισαμένους καὶ κοινὸν τὸ δίκαιον ποιησαμένους, οὕτω συγγράφεσθαι περὶ αὐτῶν. Zu den ἄγραφοι νόμοι im griechischen Völkerrecht vgl. Busolt/Swoboda, Staatskunde II, 1259. Aristot. pol. 1255a 6f.: ὁ γὰρ νόμος ὁμολογία τίς ἐστιν ἐν ᾗ τὰ κατὰ πόλεμον κρατούμενα τῶν κρατούντων εἶναί φασιν. Dazu Busolt/Swoboda, Staatskunde II, 1261; Koslowski, Politik und Ökonomie bei Aristoteles 52. Vgl. Chaniotis, Justifying Territorial Claims, in: Harris, The Law and the Courts 185–213, bes. 193 mit angegebener Literatur in 219 Anm. 38. Vgl. Isokr. 4,138–154. 160–166.

Dementsprechend verwendet er das rhetorische Mittel des δυνατόν und folgt somit einer für die Beredsamkeit des 4. Jh. typischen Vorgehensweise zur Begründung eines der Hauptziele seiner Rede;387 die Aufforderung zum Krieg wurde in der Rhetorik unter anderem durch den Hinweis auf die angebliche Inferiorität des Gegners begründet.388 Trotz der inneren Probleme, die der Großkönig in seinem Staat bewältigen musste, war die griechische Welt des Mutterlands nach dem Korinthischen Krieg zu einem größeren Krieg weder bereit noch fähig. Athen war zwar aus seiner Ohnmacht nach der Niederlage des Peloponnesischen Krieges erwacht, es war aber weit vom Ziel entfernt, seine alte Macht wiederherzustellen. Sparta spielte immer noch eine hegemoniale Rolle auch außerhalb der Peloponnes; in internationalen Maßstäben war es aber – nicht zuletzt wegen seiner Oliganthropie – eher eine durchschnittliche Macht, was besonders in den nächsten Jahrzehnten deutlich wurde.389 Ein Krieg einer breiten hellenischen Symmachie mit dem Ziel, das Perserreich zu erobern, konnte kein entsprechendes Beispiel in der Vergangenheit finden und gehörte offensichtlich nicht zu den tagespolitischen Themen in Athen oder anderswo.390 Er galt im besten Fall als sehr risikohaft, wenn nicht sogar als utopisch. Isokrates ist allerdings der erste, der ein greifbares Konzept in diese Richtung entwickelt und veröffentlicht hat. Während sein panhellenischer Plan ohne Lösungen zu unterschiedlichen Teilaspekten nur allgemeine Richtlinien anbietet, stellt er einige überraschende konkrete Argumente zum Beweis der Durchführbarkeit des vorgeschlagenen Krieges dar. Dadurch übernimmt er die schwierige Aufgabe, der Meinung der Mehrheit, dass der Perserkönig δυσπολέμητος sei, entgegenzutreten.391 Seine Argumentation stützt er zunächst auf Beispiele persischer militärischer Misserfolge in der nahen und fernen Vergangenheit:

387 Vgl. Anaximen. rhet. Alex. 1421b 26. 1422a 19. 388 In diesem Sinne notiert Anaximenes in den 340er Jahren in seiner Schrift über die rhetorische Kunst (Anaximen. rhet. Alex. 1425a 26ff.): ὅταν ἐπὶ τὸ πολεμεῖν παρακαλῶμεν, τὰ μὲν τῶν ἐναντίων ταπεινοῦντες, τὰ δ‘ ἡμέτερα ταῖς αὐξήσεσι μεγάλα καθιστῶντες. 389 Sparta hatte gerade einen Krieg gegen das Perserreich überstanden, ohne sein proklamiertes Ziel, nämlich die Sicherung der Autonomie der Griechenstädte Kleinasiens, verwirklicht zu haben. 390 Trotz der Tatsache, dass der Gedanke der Eroberung des Perserreichs schon lange vertreten war und bereits bei der Rede des Milesiers Aristagoras im Geschichtswerk Herodots vorhanden war (vgl. Hdt. 5,49). 391 Als Einleitungssatz seiner Untersuchung der Durchführbarkeit des Krieges stellt Isokrates die Ansicht jener dar, die auf die Größe der Macht des Königs und die Schwierigkeit, ihn zu besiegen, hinweisen: Καίτοι τινὲς θαυμάζουσιν τὸ μέγεθος τῶν βασιλέως πραγμάτων καὶ φασὶν αὐτὸν εἶναι δυσπολέμητον […]. 159

1. Der Perserkönig habe Athen und Sparta in der Vergangenheit nie zeitgleich besiegt. Dadurch wird der Wert der von Isokrates geforderten ὁμόνοια unter den Hellenen deutlich (§§ 138f.). Isokrates bezieht sich hierbei auf die ruhmreichen Perserkriege des 5. Jh.392 2. Der Perserkönig habe den Aufstand in Ägypten nicht niederschlagen (§ 140)393, nicht einmal die Oberhand im Krieg gegen Euagoras von Kypros, dem König der einzigen Polis Salamis, gewinnen können. Dieser Krieg dauerte immerhin sechs Jahre, was die Langsamkeit und Schwerfälligkeit (βραδυτής) der Unternehmungen des Perserkönigs zeigte (§ 141). Isokrates beschreibt hier Vorgänge, die im Jahr 384/3 stattfanden.394 Euagoras hatte bis 390 in der Tat die ganze Insel Kypros erobert.395 Diese expansionsorientierte Politik des Euagoras und seinen davon ausgehenden Machtzuwachs verschweigt Isokrates hier.396 3. Den Seesieg gegen die Spartaner bei Knidos im Jahr 394 hätten die Perser lediglich aufgrund griechischer Unterstützung und besonders durch die Beteiligung des athenischen Nauarchen Konon errungen. Bis dahin hätten die Spartaner die Küste Kleinasiens drei Jahre lang unter ihrer Kontrolle gehabt (§§ 142f.). Dies ist aber eher ungewiss, denn obwohl die Ereignisse bis zur Seeschlacht bei Knidos durch Xenophon und Diodor geschildert werden,397 sind in ihrem Geschichtswerk die angeblichen Erfolge der spartanischen Flotte in den drei Jahren vor der Schlacht nicht überliefert. 4. Während des persisch-spartanischen Krieges (400–387), der mit dem Korinthischen Krieg verwickelt war, hätten die Spartaner mehrmals mit relativ geringen Streitkräften den persischen Kräften eine Niederlage beschert. Dabei hätte der Spartanerkönig Agesilaos beinahe das gesamte Gebiet westlich des Flusses Halys erobert (§ 144). Die Erfolge der spartanischen Feldherren und des Agesilaos waren zwar wichtig, allerdings ist eine Übertreibung der isokrateischen Darstellung nicht anzuzweifeln.398 Es ist hier jedoch anzumerken, dass die panhellenische Propaganda des Agesilaos und der Versuch, Satrapen des Perserreichs sowie

392 Der Intention wegen erscheinen im Panegyrikos die Perserkriege als panhellenische Kriege schlechthin, wobei allerdings die Rolle Athens überbetont wird. 393 Vgl. dazu Diod. 15,29; Nep. Chab. 2,1. Der Aufstand in Ägypten war tatsächlich ein großes Problem für den Großkönig. Er musste sich militärisch auf die Bewältigung des Aufstands konzentrieren, sodass dies ein wichtiger Grund für ihn zum Abschluss des Königsfriedens von 387/6 war. Vgl. Usher, Panegyricus and To Nicocles 188 Komm. zu 140. 394 Vgl. Usher, Panegyricus and To Nicocles 188 Komm. zu 140 und 141. 395 Vgl. Diod. 14,110,5. 396 So auch in der Lobrede auf den verstorbenen Euagoras. Vgl. Isokr. 9,62. 397 Vgl. Xen. hell. 4,3,10ff.; Diod. 14,83,4–7. 398 Vgl. Lehmann, Historia 21 (1972) 385–398, bes. 387 mit Anm. 7; Seibert, „Panhellenischer“ Kreuzzug, in: Will, Alexander der Grosse 5–58, bes. 31. 160

die einheimische Bevölkerung gegen den Großkönig aufzuhetzen, Isokrates’ panhellenischen Plan beeinflusst haben sollen.399 5. Der Zug der Zehntausend, also die Rückführung der griechischen Söldner, die den jüngeren Kyros im Krieg gegen seinen Bruder Artaxerxes II. unterstützt und das persische Heer bei Kunaxa im Jahr 401 besiegt hatten,400 sei mit großem Erfolg gelungen. Der Sieg über die angeblich mächtigen Truppen des Großkönigs und vor allem die ungestörte Durchquerung Kleinasiens durch die zehntausend Hellenen beweise die militärische Schwäche des Perserreichs (§§ 145–149).401 Isokrates wird in seinem Bericht durch Xenophons Anabasis bestätigt, auch wenn der Rhetor – anders als der Historiker – das griechische Heer als eine unbedeutende Streitmacht darstellt, sodass die persische Schwäche hervorgehoben wird. Der Rückzug der griechischen Söldner durch Kleinasien ist das mächtigste Argument des Isokrates in Bezug auf die Durchführbarkeit eines Perserfeldzuges. Der Rhetor hat zusätzlich Teilaspekte dieses wichtigen Ereignisses in seinen panhellenischen Plan eingebaut; so findet sein Gedanke, dass der Perserzug mit Koloniegründungen für die besitzlosen Hellenen verbunden werden müsse, Parallelen in Xenophons misslungenem Versuch als Anführer der griechischen Söldner während deren Rückführung Kolonien am Pontos und in Bithynien zu gründen.402 Es ist auffällig, dass Isokrates die Darstellung der erwähnten militärischen Auseinandersetzungen für seine Intentionen verallgemeinert und vereinfacht. In einigen Fällen übertreibt er offenbar, um den Wert der persischen Streitkräfte herabzusetzen.403 Allerdings deuten alle erwähnten Beispiele auf ein ungleiches Verhältnis zwischen der zurzeit durchaus überragenden politischen Macht des Perserkönigs auf der einen Seite und dessen militärisch geringen Effektivität auf der anderen Seite hin. Das Bild eines militärisch schwachen Perserreichs muss sich am Anfang des 4. Jh. allmählich durchgesetzt haben.404 Alle präsentierten Ereignisse lagen nicht 399 Trotz der Tatsache, dass die panhellenische Propaganda der Spartaner aus der Sicht vieler Griechen lediglich die Expansionsbestrebungen der spartanischen Führung verschleiern sollte. Vgl. Welwei, Sparta 281. 400 Xenophon beschreibt in seinem Werk Anabasis das Eindringen der Söldner ins Perserreich, woran er auch selbst beteiligt war. Bei Kunaxa waren die Söldner als Teil des Heers von Kyros auf der Seite der Sieger der einzigen großen Schlacht gegen die Truppen des Artaxerxes. Allerdings starb in der Schlacht der Thronprätendent Kyros (vgl. Xen. an. 1,8,27) und die Söldner kehrten nach Kleinasien zurück; dort stellten sie sich im Frühjahr 398 in den Dienst des spartanischen Feldherrn Thibron, zunächst noch unter dem Kommando Xenophons (vgl. Xen. hell. 3,2,7; dazu Lendle, Kommentar zu Xenophons Anabasis (Bücher 1–7) 390). 401 Vgl. auch Isokr. 5,90ff. 402 Vgl. Xen. an. 5,6,15ff. an. 6,4ff.; Bengtson, GG 263. 403 Vgl. Mathieu, Ιδέες 101. 404 So spricht der Bericht des Arkaders Antiochos in Xenophons Hellenika über die persische Untüchtigkeit im Krieg. Vgl. Xen. hell. 7,1,38. 161

weit zurück und waren demzufolge in Hellas bekannt. Besonders der Zug der Zehntausend soll in der griechischen Welt als eine beeindruckende Leistung gewirkt haben. Isokrates weiß solche Fakten zu nutzen, um diese an sein Perserbild anzupassen. Indem er also bekannte Ereignisse in seine Argumentation einbaut, erscheint seine Kriegsaufforderung realistischer; ferner schafft er eine glaubhafte Ausgangsbasis, um zusätzlich durch theoretische Argumente die persische Inferiorität darzulegen. Hierzu gehört sein Bericht über die persischen Charakterzüge: Durch ihre Lebensweise, Erziehung und Regierungsform seien die Perser feige geworden und hätten eine Sklavenmoral entwickelt. Daher seien sie nicht kriegstüchtig und leicht zu besiegen (§§ 150–153). Isokrates hat also zunächst die Gründe dargestellt, weshalb der Kriegszug gegen das Perserreich mit Erfolg unternommen werden kann. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass jeder, der mit den Persern gekämpft hatte, einen Gewinn daraus gezogen hatte (§ 154). Diese Schlussfolgerung hatte große Wirkung und so gab der Rhetor den Hellenen für die Jahre danach maßgebende Argumente für einen erfolgreichen panhellenischen Perserkrieg an die Hand.405 Nun geht der Rhetor einen Schritt weiter und behauptet, dass der Angriffskrieg nicht nur stattfinden kann, sondern muss. Rhetorisch wird hierbei der Terminus δυνατόν mit πρέπον verbunden. Dies begründet er zunächst theoretisch durch das Argument der natürlichen Feindschaft zwischen Hellenen und Barbaren, die einen Krieg naturgemäß unausweichlich mache (§§ 157f.). Aber auch aus praktischer Sicht müsse derzeit ein Perserkrieg geführt werden, weil die augenblickliche Situation (ὁ παρὼν καιρός) günstiger als je zuvor sei.406 Die innenpolitische Situation im Perserreich böte die besten Voraussetzungen für einen Angriffskrieg gegen dasselbe: – Es gebe Kriege gegen den Großkönig in Ägypten und Kypros; Phönikien und Syrien seien durch letzteren Krieg verwüstet, Tyros sei sogar in Feindeshand.407 Die meisten Städte Kilikiens seien durch ionische Söldner kontrolliert, die Isokrates 405 Seit dem Panegyrikos „ist Agesilaos’ Perserkrieg in der ‚panhellenischen‘ Diskussion immer wieder in einem Atemzug mit der Anabasis des Kyros und der Rückkehr der Zehntausend als historischer Beweis dafür angeführt worden, dass ein Angriffs- und Eroberungskrieg gegen das morsche Perserreich, von hellenischen Hegemoniemächten oder einer großen Führergestalt geleitet, größtmögliche Erfolgsaussichten hatte“: Lehmann, Historia 21 (1972) 385–398, bes. 393; vgl. dazu Xen. hell. 6,1,12; Pol. 3,6,11. 406 Isokr. 4,160: ῞Ωστε μοι δοκεῖ πολλὰ λίαν εἶναι τὰ παρακελευόμενα πολεμεῖν αὐτοῖς, μάλιστα δ‘ ὁ παρὼν καιρὸς, οὗ σαφέστερον οὐδέν. Isokrates verwendet hierbei den Begriff καιρός so, wie es in der Topik der symbuleutischen Reden üblich war, also „im Sinne von ‚günstige politische Lage‘, die das Schicksal herbeigeführt, die vielleicht schnell vorübergeht, ohne wiederzukehren, und darum entschlossen auszunützen ist.“; Wersdörfer, Φιλοσοφία 75. Auf den καιρός als Motiv zum entschlossenen Handeln weist der Redner an mehreren Stellen in seinen Schriften hin (vgl. Wersdörfer, Φιλοσοφία 75–77). 407 Vgl. dazu Isokr. 9,62; Diod. 15,2. 162

als Kräfte auf der Seite der Hellenen zählt. Weiterhin sei Lykien noch nie durch die Perser unterworfen worden (§ 161). Ferner sei auch der Satrap von Karien, Ekatomnos, schon lange gegen Artaxerxes aufständisch. – Von Knidos bis Sinope, also an den Küsten des Ägäischen und des Schwarzen Meeres, wohnten Hellenen, die bereit wären, die Gelegenheit zu nutzen, um gegen den Perserkönig zu kämpfen (§ 162). Isokrates fordert, den Krieg jetzt zu beginnen, da sich bereits von Ägypten bis zum Schwarzen Meer eine Front gegen den König gebildet hatte. Eine Verzögerung hätte dem ganzen Unternehmen nur geschadet; der Perserkönig hätte dann nämlich Zeit, sich an der Ägäischen Küste der Aufständischen zu entledigen. Dies hätte zu dem Ergebnis geführt, dass sich die vorgelagerten griechischen Inseln Rhodos, Samos und Chios beim Fehlen anderer Alternativen ihm anschließen würden; gerade ein solcher Fall wäre fatal, denn die Hellenen könnten dann die Küstenstädte nicht als Operationsbasis nutzen (§ 163).408 Ferner müsse man sich beeilen und das Perserreich überraschend angreifen, bevor der Perserkönig seine Kontingente zusammenziehen könnte; der Krieg sollte demnach nur gegen einen Teil der persischen Macht geführt werden (§§ 164f.). Auffällig ist, dass Isokrates für einen Präventivkrieg gegen das Perserreich eintritt; nur durch eine überraschende Offensive und eine schnelle Durchführung des Krieges wäre ein Sieg möglich.409 Der Präventivkrieg hat rein praktische Gründe und muss lediglich aufgrund des καιρός stattfinden. Über die Rechtfertigung des Krieges in Bezug auf das δυνατόν und πρέπον hinaus gibt der Rhetor zusätzlich noch einige Richtlinien für das militärische Vorgehen der Griechen: Zunächst sollte sich die gesamte hellenische Macht in Lydien und Ionien versammeln und die Gegner in einzelnen Scharmützeln angreifen, bis sie bei ihrem Vormarsch nach Asien auf das Heer des Königs trifft, es in einer Entscheidungsschlacht besiegt und dann ganz Asien erobert (§§ 165f.).410 Obwohl diese praktischen Anweisungen zum Feldzug unrealistisch und sehr vom Ehrgeiz geprägt 408 Athen hatte bereits 384 mit Chios eine Symmachie geschlossen (vgl. IG II² 34; StV II² 248) und war offensichtlich auch an den anderen wichtigen Inseln interessiert; drei Jahre nach der Veröffentlichung des Pangeyrikos wurden diese Inseln tatsächlich Mitglieder des Zweiten Attischen Seebundes. Isokrates warnt in dieser Passage die Athener indirekt, diese wichtigen Inseln als künftige Verbündete zu verlieren. 409 Vgl. Buchner, Panegyrikos 144. 410 M. Weißenberger (Plan, in: Orth, Isokrates 95–110, bes. 97) sieht als Isokrates’ Zielsetzung nicht die Eroberung des Perserreichs, sondern „die Befreiung der griechischen Küstenstädte und die Sicherung des Hinterlandes, also etwa eine Wiederherstellung desjenigen Zustandes, der zur Zeit der athenischen Hegemonie in der zweiten Hälfte des 5. Jh. bestanden hatte“. Obwohl diese Feststellung aus der knappen Schilderung des militärischen Angriffsplans nicht deutlich hervorgeht, ist sie durchaus möglich. An die Eroberung des ganzen Perserreichs soll Isokrates nicht wirklich geglaubt haben, und man soll stets vor Augen haben, dass hinter 163

sind, erscheinen sie nun als durchführbar; die vorherige isokrateische Analyse der Termini δυνατόν und πρέπον hat zwar – zumindest bis zum Perserzug Alexanders des Großen – nicht ihr politisches Ziel erreicht, jedoch eine überzeugende Argumentationskette aufgezeichnet.

2.1.4 Fazit Der panhellenische Krieg gegen die Perser wird in der weit verbreiteten Flugschrift Panegyrikos vorrangig mit Bezug auf die Begriffe συμφέρον, δίκαιον, δυνατόν und πρέπον gerechtfertigt. Da sich die Schrift an alle Hellenen wandte, beziehen sich die zu gewinnenden Vorteile des Krieges nicht nur auf Athen, sondern auch auf ganz Hellas. Der gorgianische und lysianische Ruf nach Eintracht unter den Hellenen und besonders die bittere Erfahrung der stetigen innergriechischen Kriege haben die Argumentation des Rhetors geprägt. Der Perserkrieg soll gerade wegen der angestrebten ὁμόνοια unter Einbeziehung aller Hellenen stattfinden. Die ὁμόνοια soll zunächst die Vorbedingung für den Krieg darstellen und danach das beständige Ergebnis des Krieges manifestieren. Es fällt hierbei der Widerspruch auf, dass der Dauerfrieden in Hellas nur durch Krieg gegen einen auswärtigen Feind zu erreichen sei. Der Nutzen des Krieges ist zusätzlich mit dem Hinweis auf den Erwerb von materiellen Gütern verbunden. Da Isokrates Wohlstand mit Glückseligkeit verbindet, fordert er ohne Hemmungen einen Krieg aus rein imperialistischen Gründen. Sein Argument ist einseitig, für seine Adressaten aber durchaus überzeugend: Die soziökonomischen Probleme Griechenlands sollen endgültig durch die Ausbeutung des asiatischen Reichtums gelöst werden. Die aus völkerrechtlicher Sicht schwache Begründung des hellenischen Expansionismus wird durch den Hinweis, dass der Großkönig über ein übermäßig großes und reiches Gebiet herrscht, eingeleitet. Isokrates nutzt an dieser Stelle mit Bezug auf den Königsfrieden das zunächst durch Herodot geprägte Hybris-Motiv hinsichtlich des Anspruchs des Perserkönigs auf Weltherrschaft. Der Perserkrieg wird zusätzlich als ein Befreiungskrieg sowie als Hilfeleistung für Schwächere und daher als gerecht dargestellt. Isokrates verbindet die Perserkriege des 5. Jh., in denen es um die Freiheit der sich verteidigenden Hellenen ging, mit dem geplanten Offensivkrieg. Jetzt soll der Krieg für die Befreiung der Ionier Kleinasiens stattfinden. Das Argument ist wirkungsvoll, da zum einen der Schutz der kleinasiatischen Hellenen bereits ein proklamiertes Ziel des Delisch-Attischen Seebundes gewesen war und zum anderen der Krieg als Hilfe für schwächere Hellenen dem Selbstverständnis Athens als einer gerecht handelnden Führungsmacht entsprach. Dadurch drückt Isokrates den erneuten Anspruch Athens auf die Hegemonie trotz der prekären Lage, in der sich die Polis nach dem Königsfrieden gegenüber

dem panhellenischen Akzent des Panegyrikos die Förderung der athenischen Interessen steckt. 164

Sparta befand, aus. Während allerdings Sparta die Ionier Kleinasiens durch den Königsfrieden dem Perserkönig preisgegeben hätte, wäre der Anspruch der stets für die Freiheit anderer Hellenen kämpfenden Athener zumindest auf die Teilung der Hegemonie mit Sparta im panhellenischen Krieg gegen Persien nachvollziehbar. Ferner bedient sich Isokrates des Rachemotivs und der natürlichen Feindschaft zwischen Hellenen und Barbaren. Die Aufforderung zur Rache stützt er auf die nachhaltige Wirkung, die die persischen Invasionen am Anfang des 5. Jh. und die damit verbundene Zerstörung der hellenischen Heiligtümer im gemeinsamen Gedächtnis der Hellenen hatten. Diese setzt er mit der angeblich stetigen Bedrohung der griechischen Welt durch das Perserreich in Verbindung. Es handelt sich somit bei seiner Planung eines panhellenischen Krieges nicht nur um einen Rache-, sondern auch um einen Präventivkrieg. Die Erbfeindschaft ist für Isokrates nichts Anderes als Ausdruck der natürlichen Feindschaft zwischen Hellenen und Barbaren, eine Ansicht, die ohnehin vorherrschend in Hellas war. Sogar Platon und Aristoteles vertraten ähnliche Auffassungen; Isokrates schafft es allerdings, das Naturrecht als Mittel zur Kriegsrechtfertigung zu instrumentalisieren. Das Gerechte im sozialethischen Sinne, also das δίκαιον, so wie es Isokrates bisher verwendet hat, steht im krassen Gegensatz zum νόμιμον, was durch den Königsfrieden vertreten ist. Isokrates’ Aufruf zur Befreiung der Hellenen Kleinasiens und zum Angriff auf das Perserreich widersetzt sich dem bestehenden und formell gültigen Recht dieses zwischenstaatlichen Vertrags. Der Rhetor zögert nicht, den Vertragsbruch zu fordern, indem er den Vertrag selbst für nichtig erklärt. Zunächst sei die Autonomieklausel durch Spartas Interventionen in hellenischen Poleis verletzt worden, was eine Verletzung des Vertrags durch die Hellenen im asiatischen Raum rechtfertigt. Es fällt auf, dass Isokrates die Verstöße gegen den Königsfrieden zu seinen Zwecken nutzen will. Nicht die Bestrafung des Vertragsbrüchigen setzt Isokrates dabei in den Vordergrund, um die eigentliche Intention – den Krieg gegen Persien – zu kaschieren. Zudem propagiert er ein weiteres Argument, um dem Königsfrieden in rechtlicher Hinsicht die Legitimation zu entziehen: Aufgrund einer Analyse der – freilich schriftlich nicht fixierten – Merkmale und Prinzipien eines gerechten Friedensvertrags stellt er fest, dass der Königsfrieden keine gültige völkerrechtliche Urkunde, sondern ein Diktat des Großkönigs sei. Über diesen Umweg vermag Isokrates den Perserkrieg auch mit Bezug auf das νόμιμον zu rechtfertigen. Die Hellenen versucht er darüber hinaus durch pragmatische Argumente gegen den Königsfrieden aufzuhetzen. Er weist darauf hin, dass sich dieser als schädlich für die Hellenen erwiesen hatte, was durch die ‚Versklavung‘ der Ionier Kleinasiens evident sei. Zusätzlich sei der Königsfrieden ein Hindernis für die Hauptziele des Panegyrikos, also die Eintracht und den Dauerfrieden in Hellas. Die Kritik gegen den Vertrag wirkt infolge der Propaganda des Isokrates in vielerlei Hinsicht überzeugend, und das formelle Problem einer eventuellen Kriegserklärung gegen das Perserreich kann man zumindest für die Hellenen als beseitigt ansehen. Die Durchführbarkeit und besonders die Erfolgsaussichten des Krieges sind ein entscheidender Faktor zur Begründung jeden Angriffskrieges. Isokrates legt auf diese Aspekte großen Wert. Allerdings schlägt er keinen konkreten militärischen 165

Plan vor. Er begnügt sich damit, das Perserreich als eine militärisch schwache Macht darzustellen, indem er in seiner subjektiven Sicht die persische Inferiorität durch Hinweise auf frühere Auseinandersetzungen zwischen Hellenen und Barbaren sowie auf die Charakterzüge und die angebliche Sklavenmoral der Perser zu beweisen sucht. Ferner stützt er seinen Optimismus auf die momentan angeblich günstige Situation, da zum einen der Perserkönig viele Aufstände in seinem Reich zu bewältigen habe und zum anderen die Hellenen Kleinasiens sich im Kriegsfall den angreifenden, panhellenischen Streitkräften gegen den Perserkönig anschließen würden. Das Urteil des Isokrates ist in seiner Darstellungsweise einseitig und vereinfacht, es kann aber im Hellas des Anfangs des 4. Jh. gerade wegen des zeitlich kurz zurückliegenden Erfolges des Spartaners Agesilaos im Perserreich überzeugend wirken. Durch den Panegyrikos hat Isokrates bewusst oder unbewusst die Voraussetzungen für das Entstehen des Zweiten Attischen Seebundes im Jahr 378/7 zu Gunsten Athens beeinflusst. Der Perserkrieg war allerdings in Athen zu dieser Zeit keineswegs gewollt und gehörte nicht zu den tagespolitischen Themen.411 Während Isokrates’ Ablehnung einer Konfrontation mit Sparta Rückhalt bei einem Teil der athenischen Bürger finden konnte, vertrat die damals herrschende Gruppe athenischer Demokraten unter der Führung des Kephalos von Kollytos den panhellenischen Standpunkt keineswegs. Zur Förderung der athenischen Interessen suchte Kephalos sogar den Anschluss an Persien. Sparta wurde als Feind der Demokratie betrachtet und eine militärische Auseinandersetzung zwischen beiden Poleis wurde nur aus Gründen der derzeitigen athenischen Inferiorität vermieden.412 Im Jahr 380 wurde wahrscheinlich in Athen bereits die Unterstützung thebanischer Demokraten zur Befreiung der von spartanischen Truppen besetzten Burg Kadmeia, was 379 stattfand, vorbereitet. Isokrates steht offensichtlich in Opposition zu Kephalos, als er Sparta trotz dessen Vertragsverstößen für einen potentiellen Bundesgenossen gegen Persien hält. Beide bemühen sich, die athenischen Interessen zu fördern; wenn aber Kephalos eine prinzipiell gegen Sparta gerichtete athenische Machtentfaltung mit persischer Unterstützung anstrebt, distanziert sich Isokrates von engstirnigen, lokalpatriotischen Parolen und will in Athen den größten Nutznießer einer gemeingriechischen ὁμόνοια und des panhellenischen Kriegszuges gegen Persien sehen.413 Sein Plan scheint zu dieser Zeit utopisch zu sein, doch ist ihm bewusst, dass durch seine Schrift zumindest eine Zielgruppe jener Bürger in Athen zu erreichen war, die mit den Ergebnissen des Königsfriedens nicht zufrieden waren und eine Allianz mit Persien strikt ablehnten, nicht zuletzt weil sie die Macht Athens in der Ägäis

411 Isokrates wendet sich gegen die Tagespolitiker, die sich nicht mit wichtigen Angelegenheiten, wie dem Plan des Persekrieges, befassten. Vgl. Isokr. 4,170f. 412 Vgl. Beloch, Perikles 135. 413 S. Perlman (Historia 25 [1976] 1–30, bes. 27) erkennt, dass durch den panhellenischen Geist der antipersischen Propaganda und der Kritik am Königsfrieden zum einen auf die Verbesserung der Stellung Athens und zum anderen auf den Frieden und die Freiheit in Hellas gezielt wird. 166

durch die Perser behindert sahen und zudem die Preisgabe der kleinasiatischen Poleis nicht hinnehmen konnten.414

3. Der Plataikos 3.1 Athen, Sparta und Theben in den Jahren 379–371 Als Isokrates mindestens sieben Jahre nach dem Panegyrikos den Plataikos, seine nächste politische Rede, als Flugschrift veröffentlichte, hatte sich vieles auf der hellenischen Politikbühne geändert. Theben hatte sich im Winter 379/8 von seiner prospartanisch-oligarchischen Regierung und kurz danach auch von der spartanischen Besatzung der Burg Kadmeia befreit.415 Es erlangte in den Jahren danach allmählich einen beeindruckenden militärischen Machtzuwachs, der vor allem von seiner Hegemoniestellung im neu geschaffenen Boiotischen Bund ausging.416 Von essentieller Bedeutung ist die Gründung des sogenannten Zweiten Attischen Seebundes 378417, dessen Gründungsmitglieder neben Athen Chios, Byzantion, Rhodos und Mytilene waren.418 Bis zum Frühjahr 377 traten Theben als einzige größere Landmacht sowie Methymna bei.419 Wichtig bezüglich des neuen Bundes ist, dass die Athener die Spartaner im Frühjahr 377 durch einen Volksbeschluss, das sogenannte Aristoteles-Dekret,420 aufforderten, den Griechen Freiheit, Autonomie, Frieden und ungestörten Besitz ihrer Territorien zu gewähren;421 zusätzlich luden sie alle Hellenen und Barbaren, soweit sie nicht Untertanen des Großkönigs waren, zum Beitritt ein.422 Ferner wurde die Übereinstimmung mit den Bestimmungen

414 415 416 417

418 419

420 421 422

Vgl. Urban, Königsfrieden 153–156. Vgl. Xen. hell. 5,4,1–12; Diod. 15,25ff.; dazu Gehrke, Stasis 177–180. Vgl. Bengtson, GG 274f. In der älteren Forschung wurde das Jahr 377 als Gründungsdatum des Seebundes angenommen; dagegen argumentiert R. Sealey überzeugend für das Jahr 378 (vgl. Sealey, Demosthenes and His Time 52–58; dazu zustimmend Welwei, Athen 280; Dreher, Athen und Sparta 153 mit 191 Anm. 258). Vgl. Diod. 15,28,2f. Zuerst kam das Bündnis zwischen Athen und Theben und erst nach dem Erlass des Aristoteles-Dekrets das zwischen Athen und Methymna zustande. Vgl. Dreher, LCM 15 (1990) 51ff. Speziell zum Bündnis mit Theben vgl. Xen. hell. 6,3,19. 6,14,21. 34. 43f.; IG II² 1607 Z. 49. 155; [Demosth.] 49,14f. 21. 48–54. Zum Bündnis mit Methymna vgl. IG II² 42 (= Syll. I³ 149; Tod II 122). Aufgrund des Namens des athenischen Bürgers Aristoteles von Marathon, der das Psephisma beantragte. Zum Aristoteles-Dekret vgl. IG II² 43 (= Syll. I³ 147; Tod II 123; Rhodes/Osborne 22); StV II² 257. Vgl. IG II² 43 Z. 9–15. Vgl. IG II² 43 Z. 15–19. Tatsächlich traten dem Seebund allmählich ca. 70 Mitglieder bei, darunter auch Inseln der Ägäis und Griechenstädte der thrakischen Küste. Vgl. Bengtson, GG 274. 167

des Königsfriedens betont,423 um so heftigen Reaktionen Spartas vorzubeugen. Im Aristoteles-Dekret schien Athen also der Vorkämpfer für die griechische Autonomie zu sein. Zwar war das Ziel gegen Sparta gerichtet; eine Verständigungsmöglichkeit mit Sparta wurde aber aufgrund seiner vorsichtigen Formulierung nicht ausgeschlossen.424 Dennoch erfolgte eine heftige spartanische Reaktion. Obwohl Athen durch Hilfskontingente an der Befreiung Thebens beteiligt war, distanzierte es sich danach wieder von der thebanisch-spartanischen Auseinandersetzung bezüglich der übrigen boiotischen Städte.425 Trotzdem misstrauten die leitenden Kreise in Sparta der attischen Politik und suchten der Gefahr einer erneuten Unterstützung Athens vorzubeugen.426 Der im boiotischen Thespiai stationierte spartanische Kommandeur Sphodrias drang in athenisches Gebiet ein.427 Obwohl er sich bald darauf wieder zurückzog, fanden nun die Athener den willkommenen Anlass, den Königsfrieden für gebrochen zu erklären.428 Nach Beitritt Thebens in den Zweiten Attischen Seebund entsandte Athen erneut ein athenisches Korps, um seinem Bundesgenossen Theben zu helfen. In der darauf folgenden zweijährigen athenisch-spartanischen Konfrontation gelangen der athenischen Flotte unter Chabrias im September 376 bei Naxos429 und im folgenden Jahr unter Timotheos von Anaphlystos bei Alyzeia430 zwei wichtige Seesiege gegen Sparta, sodass Athen wieder als die stärkste hellenische Seemacht erscheinen konnte.431 Auf der anderen Seite gewannen die Thebaner in den Jahren 376 und 375 die Oberhand in Boiotien und brachten dort die meisten kleineren Städte in ihre Gewalt.432 Trotz der schwierigen Lage Spartas waren es Xenophon zufolge die Athener, die nun den Frieden suchten, denn zum einen waren sie finanziell erschöpft und zum anderen grassierte die Meinung, dass nur noch Theben von einer Weiterführung des Krieges profitieren würde.433 Da auch Sparta über den Aufstieg Thebens beunruhigt war, steht somit fest, dass der Friedenskongress in Sparta auf innerhellenische Initiative zurückzuführen ist.434 Auf ihn nahmen allerdings auswärtige Mächte, so Dionysios I. von Syrakus und der persische Großkönig Artaxerxes II., 423 Vgl. IG II² 43 Z. 12–15. 424 Vgl. Welwei, Athen 280. 425 Deswegen wurden die zwei athenischen Strategen, die die Thebaner gegen die Spartaner unterstützt hatten, in Athen angeklagt und zum Tode verurteilt. Vgl. Xen. hell. 5,4,19; Plut. Pel. 14,1. 426 Vgl. Beloch GG III.1, 147. 427 Vgl. Xen. hell. 5,4,20f.; Diod. 15,29,5f.; Plut. Pel. 14,1–6; Ages. 24,4–8. 428 Vgl. Xen. hell. 5,4,34; Diod. 15,29,7; Plut. Ages. 26,1. 429 Vgl. Xen. hell. 5,4,60f.; Diod. 15,34,3–35,2. 430 Vgl. Xen. hell. 5,4,62–66. 431 Vgl. Bengtson, GG 275; Welwei, Athen 283; Dreher, Athen und Sparta 155. 432 Vgl. Xen. hell. 5,4,63; Plut. Pel. 15. 433 Vgl. Xen. hell. 6,2,1. 434 Vgl. Bengtson, GG 276. 168

ihren Einfluss.435 Im Herbst 375 schlossen Athen und Sparta unter Anerkennung der jeweiligen Machtstellung tatsächlich Frieden;436 somit wurden die Seekriege zwischen beiden Mächten sowie der Landkrieg zwischen Sparta und Theben beendet. Die Verbündeten Athens – darunter auch Theben –437 und Spartas wurden in den Frieden mit eingeschlossen und es ging also um eine κοινὴ εἰρήνη, da auch die Autonomie der nicht direkt beteiligten hellenischen Poleis garantiert wurde. Zudem wurde auch die Auflösung fremder Stützpunkte vorgesehen und zur Überwachung der Durchführung dieser Bestimmung wurden sogar Beobachter bestellt.438 Es ist anzunehmen, dass man bei der Festschreibung der Besatzungsfreiheit nicht nur die Expansion Athens und Spartas, sondern auch Thebens Herrschaftsstreben einschränken wollte;439 demzufolge musste nicht nur Sparta, sondern auch Theben seine Garnisonen aus den boiotischen Städten entfernen.440 Dem Frieden von 375 lagen die wichtigsten Klauseln des Königsfriedens von 387/6 zugrunde; wieder fehlte auch in ihm eine Regelung zum Vorgehen gegen Friedensstörer.441 Dieser Friede bedeutete für Athen mehr als eine bloße Erneuerung des Königsfriedens,442 da nun die stillschweigende Anerkennung des Zweiten Attischen Seebundes durch Persien und Sparta erreicht wurde und Athen sich damit wieder als hellenische Hegemonialmacht neben Sparta etablierte,443 zumal in der Folgezeit der Seebund durch den erneuten Beitritt vieler anderer Poleis verstärkt wurde.444 435 Vgl. Didym. in D. 10,34 col. 7,62–71 (= Philoch. FGrHist 328 F 151). Laut Diodor war der Großkönig an einem allgemeinen Frieden in Hellas interessiert, da er für seine geplante Offensive gegen Ägypten griechische Söldner benötigte (vgl. Diod. 15,38,1). 436 Vgl. StV II² 265; Zur Datierung des Friedens auf das Jahr 375/4 vgl. Cawkwell, Historia 12 (1963) 84–95, bes. 88–91; Ryder, Koine Eirene 58–63. 124ff. 437 Diodor behauptet, Theben habe den Frieden nicht beschworen; dabei verwechselt er den Frieden von 374 mit dem von 371 (vgl. Diod. 15,38,3; dazu Lauffer, Historia 8 [1959] 315–348, bes. 318–321). Isokrates spricht im Plataikos an mehreren Stellen vom Bruch des Friedens von 375 seitens der Thebaner (vgl. Isokr. 14,1. 5. 10. 12. 14. 23f. 39. 42ff.). Vgl. auch Roos, Mnemosyne 2 (1949) 265–285, bes. 273ff.; Gray, CQ 30 (1980) 306–326, bes. 310 mit Anm. 15; Jehne, Koine Eirene 59f.; Buck, Boiotia 102f. 438 Vgl. Diod. 15,38,2. Die Bestellung von ἐξαγωγεῖς (Kontrolleure) war eine institutionelle Erneuerung des Friedens von 375. Vgl. Jehne, Koine Eirene 61. 439 Vgl. Xen. hell. 6,2,1; Diod. 15,38,4; dazu Judeich, RhM 76 (1927) 171–197, bes. 181; Gray, CQ 30 (1980) 306–326, bes. 311 mit Anm. 18. 440 Vgl. Diod. 15,38,4; Jehne, Koine Eirene 62 mit Anm. 90. 441 Vgl. Jehne, Koine Eirene 61. 442 Philochoros weist auf die Ähnlichkeit des Friedens von 375 mit dem Königsfrieden hin. Vgl. Philoch. FGrHist 328 F 151. 443 Vgl. Diod. 15,38,4; Jehne, Koine Eirene 57f. 61f. 64; Welwei, Athen 283. 444 Die Gründe für diese Beitritte sind zum einen der Schutz vor Spartas Interventionen, falls Sparta in derselben Art wie nach dem Königsfrieden in die inneren Angelegenheiten hellenischer Poleis eingreifen würde; zum anderen ist 169

Demzufolge hatten die Athener guten Grund, den Frieden als einen großen Erfolg zu feiern.445 Selbst Isokrates lobt diesen Frieden und versucht noch zwei Jahrzehnte später, seinen Schüler, den athenischen Strategen Timotheos, als damaligen Kriegshelden und Friedensbringer darzustellen.446 In der Tat hielt der Friede von 375 nur für kurze Zeit. Der Eingriff des Timotheos auf der Rückfahrt aus seinem Einsatzgebiet in die inneren Verhältnisse von Zakynthos gab den Spartanern laut Xenophon die Gelegenheit, den ihnen unbequemen Frieden als gebrochen zu betrachten und die prospartanische Faktion auf der Insel zu unterstützen.447 Daraufhin wurden Athen und Sparta noch im Jahr 375 in einen Verfassungsstreit Kerkyras hineingezogen.448 Obwohl Timotheos mit Erfolg gegen spartanische Kräfte in Zakynthos operiert hatte, wurde er nach Athen zurückberufen und im November 373 wegen seiner Verzögerung bezüglich des Eingriffs in den Kerkyra-Konflikt, als dieser sich im Spätsommer 373 zuspitzte, unter Anklage gestellt.449 Er wurde zwar freigesprochen, verließ Athen aber für die nächsten Jahre. Nun waren seine Ankläger, also sein Nachfolger Iphikrates und vor allem der Politiker Kallistratos von Aphidnai, die führenden Personen in Athen.450 Während des spartanisch-athenischen Konfliktes konnten die Thebaner im Sommer 373 die Städte Tanagra und Thespiai gewinnen451 und danach auch Plataia

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anzunehmen, dass die neuen Seebundmitglieder gegenüber dem erneuten athenischen Machtzuwachs gesichert sein wollten. Vgl. Cawkwell, JHS 101 (1981) 40–55, bes. 43f. Dies wird durch die Einführung eines Eirene-Kultes zu dieser Zeit in Athen deutlich. Ein Altar wurde eingerichtet und der Friedensgöttin jährlich geopfert (vgl. Philoch. FGrHist 328 F 151; Isokr. 15,110; Nep. Timoth. 2,2). Der Auftrag an Kephisodotos zur Schaffung einer Eirene-Statue mit dem Plutosknaben im Arm ist wahrscheinlich auch mit dem Frieden von 375 zu verbinden und zeigt die Hoffnung der Athener, durch den Frieden aus der finanziellen Misere herauszukommen und zu neuem Wohlstand zu gelangen. Zur Eirene-Statue vgl. Paus. 1,8,2; 9,16,2; dazu Jehne, Koine Eirene 63f. mit Anm. 94. Vgl. Isokr. 15,108ff.; auch 7,12. Vgl. Xen. hell. 6,2,1f.; Diod. 15,45,2f.; Bengtson, GG 276; Doch wird in der neueren Forschung angenommen, dass Timotheos’ Verhalten nicht sofort wieder zum Krieg führte. Vgl. Jehne, Koine Eirene 62 mit den Literaturangaben in Anm. 89; Hochschulz, Kallistratos 105ff. Vgl. Xen. hell. 6,2,3–7; Diod. 15,45,4; Gehrke, Stasis 94ff. Vgl. Diod. 15,47,3; [Demosth.] 49,9; dazu sowie zu einem nächsten Anklagepunkt, nämlich dem der Veruntreuung von Geldern, vgl. Hochschulz, Kallistratos 99–102. Vgl. Xen. hell. 6,2,13. Diodor behauptet fälschlicherweise, dass Timotheos wieder in sein Amt eingesetzt wurde (vgl. Diod. 15,47,3); dazu Beloch, Perikles 359ff.; Rice, Litigation as a Political Weapon: The Case of Timotheus of Athens. In: Hamilton/ Krentz, Polis and Polemos: Essays on Politics, War, and History in Ancient Greece in Honor of Donald Kagan 227–240. Vgl. Isokr. 14,9.

besetzen, dessen Bürger auf athenische Hilfe hofften und sich an Athen wandten.452 Athen befand sich jetzt in dem Dilemma, sich entweder für die Fortsetzung des Krieges gegen Sparta oder für ein Vorgehen gegen Theben entscheiden zu müssen. Über Maßnahmen gegen die Aggression Thebens musste vorsichtig nachgedacht werden, denn Theben war Seebundmitglied,453 für dessen Befreiung die Athener vorgegeben hatten, in den Kampf gezogen zu sein.454 Auf der anderen Seite waren die boiotischen Städte, darunter auch Plataia, keine Mitglieder des Seebundes, doch formell war ihre Autonomie durch den Frieden von 375 garantiert worden. Gerade zu diesem Dilemma bezieht Isokrates durch seinen Plataikos offen Stellung gegen Theben. Als die Thebaner im Weiteren gegen Phokis marschierten, intervenierten die Spartaner und stationierten, gegen die Bestimmungen des Friedens, eine Garnison in Phokis.455 In Athen scheute man sich vor dem offenen Bruch mit Theben und beschloss schließlich durch eine Volksversammlung im Sommer 371, den Thebanern eine gemeinsame Friedensgesandtschaft nach Sparta vorzuschlagen.456 Daraufhin folgte eine erneute κοινὴ εἰρήνη,457 die jedoch von sehr kurzer Dauer war, da die Thebaner sich einerseits weigerten, den übrigen Boiotern die Autonomie zuzugestehen und andererseits der Spartanerkönig Agesilaos keineswegs die Hegemonie Thebens in Boiotien anerkennen wollte.458 Durch die Ereignisse zwischen 379 bis 371 wird deutlich, dass Athen und Sparta über ihre Auseinandersetzung hinaus den Machtzuwachs einer dritten Polis, Thebens, mit großem Bedenken betrachteten. Als Hegemon des Boiotischen Bundes war diese Macht ein nicht zu übersehender Mitspieler um die Vormachtstellung in Hellas.

452 Vgl. Isokr. 14,7; Diod. 15,46,4–6; Paus. 9,1,7f. 453 Vgl. Xen. hell. 6,3,19; Isokr. 14,21. 34. 43f.; IG II² 1607 Z. 49; [Demosth.] 49,14f. 21. 48–54. 454 Vgl. Isokr. 14,6. 17; Demosth. 16,14f.; Jehne, Koine Eirene 64 mit Anm. 98. 455 Vgl. Xen. hell. 6,4,2. 17. 456 Vgl. Xen. hell. 6,3,2; dazu Burnett, Historia 11 (1962) 1–17, bes. 14. 457 Vgl. StV II² 269. 458 Die Gesandten der Thebaner, darunter auch Epameinondas, hatten das Abkommen zunächst beschworen, verlangten aber am nächsten Tag, im Vertragstext anstelle des Namens der Thebaner die Bezeichnung ‚Boioter‘ in die Liste der Unterzeichneten einzusetzen und somit die Anerkennung der Hegemonie Thebens in Boiotien herbeizuführen. Da dies der Spartanerkönig Agesilaos nicht akzeptierte und daraufhin den Ausschluss Thebens von diesem neuen allgemeinen Frieden erreichte, war der Friede bereits einen Tag, nachdem man ihn unterzeichnet hatte, de facto nicht mehr in Kraft. Vgl. Xen. hell. 6,3,18ff.; Diod. 15,51–56; Plut. Ages. 27,4–28,2; Paus. 9,13,2; dazu Welwei, Athen 285. 171

3.2 Isokrates’ Plataikos In der Rede Plataikos wird durch Isokrates die antithebanische Stimmung in Athen widergespiegelt, nachdem die Thebaner im Jahr 373459 Plataia besetzten, sein Gebiet mit Theben vereinigten und die Stadt zerstörten; die Bewohner Plataias fanden in Athen Zuflucht und wurden, wie ihre Vorfahren während des Peloponnesischen Krieges, als Bürger minderen Rechtes aufgenommen.460 In Athen sah man das Vorgehen des Seebundmitglieds Theben, boiotische Städte gewaltsam dem Boiotischen Bund einzuverleiben, skeptisch; außer den Bewohnern Plataias erschien in Athen eine Gesandtschaft aus Thespiai und bat um Hilfe, da man das gleiche Schicksal wie das der Plataier fürchtete.461 Angesichts der Stellungnahme Athens gegenüber Thebens Machterweiterung verfasste Isokrates den Plataikos, eine fingierte Rede, die einem Plataier in den Mund gelegt wird, der angeblich vor dem athenischen Volk spricht und um Schutz vor Thebens Expansion bittet.462 Es handelt sich um eine politische Flugschrift, die zwar in Form und Struktur einer Gerichtsrede ähnelt, die sich gegen Theben richtet, inhaltlich ist sie jedoch eine symbuleutische Rede.463 Zeitlich muss sie noch im Jahr 373 kurz nach der Zerstörung Plataias veröffentlicht worden sein.464 459 Plataia wurde nach Diodor im Jahr 374/3 (vgl. Diod. 16,46,6), nach Pausanias 373/2 (vgl. Paus. 9,1,8) zerstört. Meistens wird in der neueren Forschung das Jahr 373 angenommen. Vgl. z. B. Bakhuizen, Phoenix 48 (1994) 307–330, bes. 310; Welwei, Athen 284; Hammond, CQ 50 (2000) 80–93, bes. 90; Buckler/ Beck, Central Greece 90. 460 Vgl. Isokr. 14,13; Xen. hell. 6,3,1. 5; Diod. 15,46. G.L. Cawkwell (Historia 12 [1963] 84–95, bes. 84) nimmt an, dass die Plataier gerade aufgrund der Wirkung des Plataikos und der darauf folgenden Diskussion in Athen ἰσοπολιτεία erhielten. 461 Vgl. Xen. hell. 6,3,1. 462 In der Forschung ist man darin größtenteils einig, dass diese Rede nicht auf Bestellung eines Plataiers verfasst und von diesem gehalten wurde (vgl. dazu Blass, Beredsamkeit II, 265; Münscher, RE IX,2 [1916] s. v. Isokrates [2] 2146–2227, bes. 2198; Mathieu, Ιδέες 146f.); anders nehmen unter anderem G. Grote (A History of Greece X, 220) und R.C. Jebb (Orators II, 178) den tatsächlichen Vortrag eines Plataiers an, ohne aber ihre Ansicht zu begründen. Auch als Übungs- und Musterrede kann diese nicht betrachtet werden; stilistisch fehlt ihr der rhetorische Schmuck, inhaltlich verfolgt sie realpolitische Ziele, die über eine Musterrede hinausgehen. 463 Vgl. Blass, Beredsamkeit II, 265. 268. 464 Die Rede kann nur zwischen der Zerstörung von Plataia 373 und dem Frieden von 371 veröffentlicht worden sein. Allerdings kann Isokrates von der Fiktion einer Anklage gegen Theben nur kurz, nachdem Flüchtlinge aus Plataia von Athen aufgenommen wurden, Nutzen gezogen haben. Zur Datierung der Rede auf das Jahr 373 vgl. Momigliano, Un momento di storia greca: la pace del 375 a.C. e il Plataico di Isocrate (1936), in: ders., Terzo contributo alla storia degli studi classici e del mondo antico 421–455, bes. 446f.; Jaeger, Demosthenes 196ff. (gegen die Datierung von G. Mathieu [Ιδέες 148] auf 371); Cawkwell, Historia 12 (1963) 84–95, bes. 84ff.; Tuplin, Athenaeum 64 (1986) 321–34, bes. 321f. 172

Da der Plataikos nicht dieselben Ziele wie der Panegyrikos verfolgt, stellt sich die Frage, inwieweit Isokrates in der plataiischen Rede seine eigenen Ansichten darstellt. Die Annahme, dass es sich um eine bestellte Arbeit des Timotheos – freilich vor dessen Prozess, also vor November 373 – handelt, ist recht wahrscheinlich, wenn auch nicht nachweisbar. Isokrates stand seinem Schüler auf jeden Fall sehr nahe, war in seiner Gefolgschaft während einiger Operationen zwischen 376 und 374 und hat ihn bis zu seinem Sturz nach dem Bundesgenossenkrieg (357–355) unterstützt.465 Ob Timotheos im Gegensatz zum Geist des Plataikos einer thebenfreundlichen Kriegspolitik folgte, geht keineswegs aus seinem Handeln oder aus den wahren Gründen des Prozesses gegen ihn hervor.466 Auf der anderen Seite ist es unwahrscheinlich, dass Isokrates die Rede im Auftrag des im Jahr 374/3 führenden Politikers in Athen, Kallistratos, geschrieben hatte, auch wenn dessen Auffassungen im Friedenskongress von Sparta im Jahr 371 den im Plataikos präsentierten Ansichten nahe kommen.467 Für Kallistratos hätte Isokrates praktisch nur nach Timotheos’ Verlassen der politischen Bühne, d. h. nach Timotheos’ Prozess, die Rede schreiben können; der Lehrer würde aber nicht im Auftrag des Anklägers seines Schülers und Freundes unmittelbar nach dem Prozess so gehandelt haben.468 Außerdem benötigte ein derart aktiver Politiker und kompetenter Redner wie Kallistratos nicht Isokrates’ Hilfe, um antithebanische Stimmung in Athen zu machen.469 Durch den Plataikos kommt Isokrates zum ersten Mal in engere Beziehung zur Realpolitik Athens.470 Unabhängig davon, ob es sich um eine bestellte Rede handelt, kann als sicher gelten, dass der Rhetor seine eigenen Ansichten hier nicht beiseitelässt. Er vertritt nicht nur im Plataikos, sondern prinzipiell eine antithebanische Haltung, die mindestens bis zum Fall Thebens im Dritten Heiligen Krieg (356–346) angedauert hat.471 Darüber hinaus entspricht der Partikularismus im Plataikos den politischen und militärischen Vorgängen in Hellas in der Zeit nach der Gründung des Zweiten Attischen Seebundes. Es handelt sich um eine Propagandaschrift zur Förderung der athenischen Interessen.472 Den panhellenischen Plan gegen Persien

465 In der Antidosisrede von 354/3 stellt Isokrates detailliert die Taten des Timotheos dar und rechtfertigt sie. Vgl. Isokr. 15,101–139. 466 Vgl. Cawkwell, Historia 12 (1963) 84–95, bes. 94; Hochschulz, Kallistratos 107 mit Anm. 369; 108–111. 467 Vgl. Xen. hell. 6,3,10–17. 468 Jaeger, Demosthenes 197. 199f. 469 Die rhetorischen Fähigkeiten des Kallistratos werden in der anekdotischen Überlieferung Plutarchs wiedergegeben, wonach der Politiker als Redner großen Eindruck auf den jungen Demosthenes gemacht haben soll. Vgl. Plut. Dem. 5,1–3; [Plut.] mor. 844B. 470 Jaeger, Demosthenes 199. 471 Vgl. die archidamische Rede des Isokrates (or. 6) sowie Isokr. 5,53ff.; 15,248; Shrimpton, Phoenix 25 (1971) 310–318, bes. 311. 472 Vgl. Laistner, The Classical Weekly 23 (1930) 129–131, bes. 131; Buckler/Beck, Central Greece 91. 173

nimmt Isokrates erst dann wieder auf, als der Zweite Attische Seebund geschwächt wird und Athen seine Stellung als Vormacht in Hellas nicht überzeugend behaupten kann.473

3.3 Die Kriegsrechtfertigung im Plataikos Die Zielsetzung des Plataikos ist es, die Athener zu motivieren, Thebens Machterweiterung in Boiotien und dessen Aufstieg zu einer Großmacht in Hellas aufzuhalten. Die Stellung Thebens im Zweiten Attischen Seebund sollte unmittelbar nach der Verletzung seiner Bundespflicht überprüft werden.474 Als starke militärische Landmacht wurde Theben bereits vor der Schlacht bei Leuktra 371 wahrgenommen. Die negative Einstellung der Athener gegenüber ihres Bündners bezog sich nicht nur auf den thebanischen Machtzuwachs während des letzten athenisch-spartanischen Krieges (378–375),475 sondern auch auf die schon langwährende Feindschaft mit Theben.476 Ferner grenzte das boiotische Land an Attika, und das zerstörte Plataia lag nur ca. 60 km nordwestlich von Athen.477 In der Rede beschäftigt sich Isokrates in doppelter Hinsicht mit der Rechtfertigung von Kriegen. Einerseits wird die bereits geschehene Kriegshandlung, die zur Zerstörung Plataias führte, als ungerecht dargestellt. Andererseits wird die geforderte Hilfe Athens für Plataia ausführlich begründet.

3.3.1 Thebens Argumente gegen Plataia Wie die Thebaner ihren Angriff 478 gegen die Plataier und die Vertreibung der Bewohner der Stadt rechtfertigten, lässt sich aus dem Bericht des Isokrates schließen, da der Rhetor keinen Grund hat, die – in Athen allgemein bekannten – dargestellten Angriffsgründe der Thebaner zu verfälschen und dabei die Glaubwürdigkeit seiner Rede in Frage zu stellen.479 Demnach hätten sich die Plataier einerseits geweigert, 473 Erst im Jahr 367 versuchte Isokrates durch einen Brief den Tyrannen von Syrakus Dionysios I. zu einem panhellenischen Krieg gegen Persien unter dessen Führung zu bewegen. Vgl. Isokr. ep. 1; hier S. 195f. 474 Vgl. Jaeger, Demosthenes 198. 475 Diese ist die Ansicht des zeitgenössischen Geschichtsschreibers Xenophon. Vgl. Xen. hell. 6,2,1. 476 Vgl. Isokr. 14,31f. 477 Vgl. Kirsten, RE XX,2 (1950) s. v. Plataiai [1] 2255–2332, bes. 2259–2267; zur Bedeutung der Lage Plataias besonders wegen der Verkehrsverbindungen vgl. 2267f.; Papillon, Isocrates II, 228. 478 Diodor zufolge griffen die Thebaner die Plataier unangekündigt an und konnten diese demzufolge leicht zu ihren Bedingungen bezwingen (vgl. Diod. 15,46,5; dazu auch Paus. 9,1,6f.). 479 Obwohl der Plataikos als ein politisches Pamphlet nicht unbedingt auf die objektive Darstellung der Ereignisse abzielte, mussten die aktuellen Vorgänge mit Rücksicht auf die Realität präsentiert werden; sonst könnte die Rede auch in ihren 174

Tribute an Theben zu zahlen (συντελεῖν)480 und hatten andererseits während der letzten Kriegsereignisse an der Seite der Spartaner und folglich auch gegen die Interessen des Seebundes gekämpft.481

3.3.1.1 Syntelie Der Sprecher des Plataikos stellt zunächst den durch die Thebaner präsentierten Kriegsgrund dar: ᾿Ενίοτε γὰρ ἐπιχειροῦσι λέγειν ὡς διὰ τοῦτο πρὸς ἡμᾶς οὕτω προσηνέχθησαν, ὅτι συντελεῖν αὐτοῖς οὐκ ἠθέλομεν.482

Durch den Begriff συντελεῖν wird allerdings nicht nur die Pflicht zur Zahlung von Tributen, sondern auch ein spezifisches Herrschaftsverhältnis zum Ausdruck gebracht; es handelt sich um die Form der Abhängigkeit einer Stadt von einem Bund oder einer Stadt von einer anderen Stadt oder eines ländlichen Gebietes von einer Stadt.483 Im Boiotien des 4. Jh. wird ab den 370er Jahren durch συντέλεια ausschließlich die direkte Abhängigkeit von Theben beschrieben.484 Syntelische Gebiete mussten den Thebanern Tribute zahlen und militärische Unterstützung anbieten.485 Somit existierte neben dem Boiotischen Bund eine zweite, von diesem aber nur theoretisch getrennte Machtebene in der Form der Syntelie. Demzufolge genossen die Boioter einerseits innerhalb des Koinon die Vollbürgerschaft und eine Reihe von

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485

übrigen Teilen nicht ernst genommen werden. Vgl. Roos, Mnemosyne 2 (1949) 265–285, bes. 273. Vgl. Isokr. 14,8f. Vgl. Isokr. 14,11. Die ganze Rede wird als eine Antwort auf die Rechtfertigungsargumente der Thebaner und ihrer Freunde in Athen präsentiert; vgl. Bringmann, Studien 50 mit Anm. 3. Isokr. 14,8. Vgl. Bakhuizen, Phoenix 48 (1994) 307–330, bes. 310; zu Beispielen syntelischer Abhängigkeit vgl. Tuplin, Athenaeum 64 (1986) 321–341, bes. 339f. Syntelische Gebiete waren nun getrennte, aber abhängige Teile der thebanischen Chora. Demnach wurde es perioikischen boiotischen Poleis und Gemeinden erlaubt, innerhalb eines vergrößerten thebanischen Territoriums zu existieren, vorausgesetzt sie hatten ihre syntelischen Verpflichtungen erfüllt (vgl. Bakhuizen, Phoenix 48 (1994) 307–330, bes. 318; Beck, Polis und Koinon 209). Zum SynteliePlan der Thebaner und dessen Verwirklichung vgl. auch Diod. 15,38,3; 15,70,2. Die Pflicht zur militärischen Unterstützung geht aus Diodors Bericht vom thebanischen Angriff auf Orchomenos, das nun syntelisch wurde, hervor; die Orchomenier gehörten jetzt zur ‚Chora der Bundesgenossen‘ (vgl. Diod. 15,57,1). S.C. Bakhuizen (Phoenix 48 [1994] 307–330, bes. 316) notiert dazu: „The sentence in Diodorus Siculus describing the legal position of Orchomenos after the Theban attack mentions that the Orchomenian chora was now to contribute military contingents to the Thebans. This is precisely what synteleia signified.“ 175

Privatrechten, andererseits waren sie aufgrund der Syntelie direkt von den Thebanern abhängig. Durch die Koexistenz des Boiotischen Koinon und der thebanischboiotischen Syntelie entstand in der Tat ein thebanischer Einheitsstaat.486 Verlierer dieser Entwicklung waren die boiotischen Großpoleis,487 die früher selbst über Syntelien verfügt hatten.488 Athen und Sparta versuchten bereits beim Abschluss des Friedens von 375 die boiotischen Poleis von ihrem Syntelie-Verhältnis zu Theben zu befreien. Beide Mächte waren sich darin einig, die Herrschaft in Hellas – Athen zur See, Sparta zu Lande – zu behalten und dabei keine dritte Hegemonialmacht zu dulden.489 Als trotz des Friedensschlusses die athenisch-spartanische Auseinandersetzung weiterging, nutzten die Thebaner dies zur weiteren Ausdehnung ihrer Macht. In Boiotien konnten sie die Städte Tanagra und Thespiai zur Syntelie verpflichten. In Plataia war ihr Vorgehen härter: Hier zerstörten sie die Stadt und vertrieben die Einwohner. Der Grund war laut Isokrates nicht die Weigerung der Plataier zur Teilnahme an der Syntelie; dies diente den Thebanern lediglich als Vorwand, um die plataiische Chora zu annektieren. Den wahren – imperialistischen – Grund legt der Rhetor offen, wenn er den Plataier den Vorwurf τῆς χώρας ἡμῶν ἐπιθυμήσαντες an die Thebaner formulieren lässt.490 Die Thebaner hätten nach Isokrates durchaus die Möglichkeit gehabt, die Plataier lediglich zur Syntelie zu zwingen, so wie sie es in Tanagra und Thespiai gemacht hatten. Dabei ist der Rhetor keineswegs prinzipiell mit dem Zwang zur Teilnahme an der Syntelie einverstanden,491 er zieht dies aber als eine humane Lösung im Vergleich zur völligen Zerstörung der Stadt und der Vertreibung von deren Einwohnern vor. Das Verhältnis zwischen der Weigerung der Plataier und der darauf folgenden äußerst harten Sanktion der Vernichtung sei keineswegs mit dem δίκαιον 486 Vgl. die überzeugende These von H. Beck (Polis und Koinon 209f.) mit der Diskussion der bisherigen Forschungsansätze in Anm. 27. Zustimmend dazu Hammond, CQ 50 (2000) 80–93, bes. 92 mit Anm. 45. 487 Außer Theben waren Thespiai, Plataia und Orchomenos wichtige Poleis in Boiotien. Im Gegensatz zu Thespiai und Orchomenos wurde allerdings Plataia nicht syntelisch an Theben gebunden, da das Land annektiert war und die Bewohner vertrieben wurden. 488 Vgl. Beck, Polis und Koinon 210. 489 Diod. 15,38,4: Λακεδαιμόνιοι μὲν γὰρ καὶ ᾿Αθηναῖοι, διὰ πάντων περὶ τῆς ἡγεμονίας διαφιλοτιμούμενοι, παρεχώρουν ἀλλήλοις, οἱ μὲν τῆς κατὰ γῆν, οἱ δὲ τῆς κατὰ θάλατταν ἀρχῆς ἄξιοι κρινόμενοι. διόπερ τὴν ἐκ τρίτου προσώπου ἀναφερομένην ἡγεμονίαν χαλεπῶς ἔφερον, καὶ τὰς κατὰ Βοιωτίαν πόλεις ἀπέσπων τῆς τῶν Θηβαίων συντελείας. Bezogen auf den Friedenschluss von 371 notiert Diodor (15,50,4), dass die Thebaner von der κοινὴ εἰρήνη ausgeschlossen wurden, weil sie darauf bestanden, Boiotien unter ihrer Syntelie zu behalten. 490 Vgl. Isokr. 14,9. 491 Deswegen unterscheidet er in § 8 zwischen freiwilliger und gezwungener Teilnahme an der Syntelie: […] ἔπειτ‘ εἰ προσήκειν ὑμῖν δοκεῖ μὴ πεισθεῖσαν τὴν Πλαταιέων πόλιν, ἀλλὰ βιασθεῖσαν Θηβαίοις συντελεῖν. 176

vereinbar.492 Die erzwungene Teilnahme an der Syntelie hält der Rhetor also nicht für rechtmäßig, aber moralischer und dem ungeschriebenen Recht näher, wenn ohnehin die Entscheidung zwischen zwei Übeln fallen muss. Isokrates’ Bericht ist glaubhaft. Es stellt sich jedoch die Frage, warum die Thebaner die Annexion der menschenleeren plataiischen Chora gegen die Syntelie Plataias vorzogen. Die Thebaner hätten ja durch die Teilnahme der Stadt am Boiotischen Bund sowie durch die Syntelie zusätzliche finanzielle und militärische Abgaben sichern können. Allerdings ließen die seit ältester Zeit bestehenden schlechten Beziehungen zwischen Theben und Plataia keinen freien Raum zum gegenseitigen Vertrauen und zur Zusammenarbeit innerhalb eines Bundes bzw. eines Einheitsstaates. Theben hätte ohnehin keinen Vorteil zu gewinnen, wenn unzuverlässige plataiische Kontingente an der Seite des thebanischen Heeres kämpfen mussten.493 Der Plan der Thebaner, die Kontrolle und Herrschaft über ganz Boiotien zu erlangen, d. h. die Expansion Thebens auch in die plataiische Chora auszudehnen, wäre ohne die Beteiligung der widerwilligen Plataier am neuen Einheitsstaat leichter zu erreichen gewesen. Als Plataia nach dem Königsfrieden, im Jahr 386, wiederhergestellt wurde,494 stand es unter starkem spartanischen Einfluss und hatte zeitweise sogar eine spartanische Besatzung, deren es gegen Thebens Aufstieg bedurfte.495 Nach dem Frieden von 375 wurde Plataia dann von den Spartanern geräumt, und die Thebaner hatten nun die Gelegenheit – wenn auch wider die Bestimmungen des Friedens – gegen Plataia vorzugehen. Diodor sieht die Gründe für den plötzlichen thebanischen Überfall auf Plataia im vorherigen Hilfegesuch der Plataier an Athen,496 wonach die Plataier ihre Stadt zum Schutz vor einem thebanischen Angriff den Athenern übergeben wollten.497 Theben konnte aber weder ein spartanisches noch ein athenisches Bollwerk in der Umgebung dulden, da es auf exklusive

492 Isokr. 14,8: ῾Υμεῖς δ‘ ἐνθυμεῖσθε πρῶτον μὲν εἰ δίκαιόν ἐστιν ὑπὲρ τηλικούτων ἐγκλημάτων οὕτως ἀνόμους καὶ δεινὰς ποιεῖσθαι τὰς τιμωρίας […]. 493 Spätestens seit der Konfrontation der Plataier mit Theben während des Peloponnesischen Krieges, aufgrund welcher sie im Jahr 427 vertrieben wurden und die Zerstörung der Stadt folgte (vgl. Kirsten, RE XX,2 [1950] s. v. Plataiai [1] 2255–2332, bes. 2305ff. mit Quellenangaben), waren sie gegenüber Theben argwöhnisch. 494 Vgl. Paus. 9,1,4. 495 Anfang 378 benutzten die Spartaner Plataia und Thespiai als Stützpunkte für den Kampf gegen Theben und setzten in Thespiai einen Harmosten ein. Vgl. Isokr. 14,45; Xen. hell. 5,4,10. 15f.; dazu Kirsten, RE XX, 2 (1950) s. v. Plataiai [1] 2255– 2332, bes. 2309; Brodersen, Isokrates, Sämtliche Werke II, 284 Anm. 13. 496 Vgl. Diod. 15, 46, 4. 497 Die Furcht vor einem thebanischen Angriff hatte mit der Beteiligung der Plataier an der Seite der spartanischen Kräfte im Krieg gegen Theben in Boiotien zu tun. Eine thebanische Vergeltung wurde in Plataia erwartet; außer dem Hilfegesuch an Athen wurden noch andere Verteidigungsmaßnahmen in der Stadt ergriffen (vgl. Paus. 9, 1, 5). 177

Herrschaftsrechte in Boiotien abzielte.498 Zur Erlangung dieses Zieles konnte Theben eine Auseinandersetzung mit dem wichtigsten Bündner im Seebund, also Athen, in Kauf nehmen. Auch würde durch die Vertreibung der Plataier ein weiteres Hilfegesuch an Athen am besten vermieden, da ein athenisches Unternehmen zur Rückführung der Plataier zurzeit eher unwahrscheinlich war.499 Isokrates vermeidet es jedoch, auf jegliche Rivalität zwischen Athen und Theben um den Einfluss auf Boiotien oder um die Rolle beider Parteien innerhalb des Seebundes hinzuweisen.

3.3.1.2 Bestrafung der Plataier im Interesse des Seebundes Die Weigerung der Plataier zur Teilnahme an der Syntelie war also eine für die Thebaner erwartete und erwünschte Reaktion, sodass sie ihren Angriff rechtfertigen konnten. Die Tatsache allerdings, dass das Ziel des Angriffs die Zerstörung der Stadt und die Vertreibung der Einwohner war, erforderte eine zusätzliche Begründung. Isokrates weist hierbei auf die Argumente der Thebaner hin: Diese stellten ihr Vorgehen als Bestrafung der Plataier wegen der militärischen Unterstützung, die sie den Spartanern in Boiotien nach 379/8 lieferten, dar. Da sie die Rechtfertigung des Angriffs in den Kontext des Krieges gegen Sparta einordneten, konnten sie nun ihrem Bundesgenossen Athen gegenüber argumentieren, dass sie den Interessen des Zweiten Attischen Seebundes gedient hätten, als sie Plataia als einen Bündner des feindlichen Sparta zerstörten.500 Isokrates akzeptiert dieses Argument nicht: Erstens hätten die Plataier eine überzeugende Entschuldigung, dass sie durch die Spartaner zur Symmachie gezwungen worden seien und gerade deswegen nicht als einzige von allen Bundesgenossen Spartas derartig hart bestraft werden durften.501 Zweitens herrschte zu dieser Zeit Friede, dessen Eide und Verträge respektiert werden mussten. Hierbei geht Isokrates im selben Sinne wie zuvor im Panegyrikos vom Grundsatz der Vertragstreue aus.502 Die Thebaner verrieten also die ursprünglichen Ziele des Bundes, die αὐτονομία und ἐλευθερία aller Staaten503 und zusätzlich verstießen sie gegen die Gesetze der natürlichen Gerechtigkeit, indem sie zum einen Gleichberechtigung mit Athen und Sparta beanspruchten, zum anderen aber die Schwächeren misshandelten.504 Thebens Aktion kann nicht als eine Leistung im Interesse des 498 Plataias Lage war aufgrund der gebotenen Verkehrsverbindungen von strategischer Bedeutung. Vgl. Kirsten, RE XX, 2 (1950) s. v. Plataiai [1] 2255–2332, bes. 2267f. 499 Dies beweisen die Fakten nach der Aufnahme der Plataier in Athen; trotz ihres Hilfegesuches riskierten die Athener eine direkte Auseinandersetzung mit dem wichtigen Seebundmitglied Theben nicht. 500 Vgl. Isokr. 14, 11. 21. 25. 501 Vgl. Isokr. 14, 12–15. Dem Sprecher des Plataikos nach dürfen auch die Athener ihre Hilfe für die Plataier aufgrund des letzten Bündnisses Plataias mit Sparta nicht ablehnen; ein solches Argument wäre eine πρόφασις (vgl. Isokr. 14, 45). 502 Vgl. Isokr. 14, 10. 23 mit 4, 81; dazu Bringmann, Studien 51. 503 Vgl. Isokr. 14, 18f. 24. 504 Vgl. Isokr. 14, 22f.; dazu Bringmann, Studien 51. 178

Seebundes gelten, da die legitime und moralische Rechtfertigung fehlte, was in den Statuten des Seebundes verankert war. Isokrates versucht anhand dieser Aktion, die Trennung von δίκαιον und συμφέρον505 im thebanischen Verhalten zu zeigen, indem er das συμφέρον der ἀδικία und der πλεονεξία gegenüberstellt.506 In der Tat war die Zerstörung Plataias weder gerecht noch für alle Seebundmitglieder vorteilhaft. Das Unrecht wird daran offensichtlich, weil die Thebaner das Thema dem Rat des Seebundes hätten vorstellen und eine Genehmigung des Angriffs hätten beantragen können, wenn sie vom allgemeinen Interesse ihres Vorgehens gegen Plataia überzeugt gewesen wären; dies haben sie aber nicht ohne Grund vermieden.507 Isokrates enttarnt so das ohnehin schwache Argument der Aktion im Namen des Seebundes. Eines seiner Hauptziele im Plataikos ist es, Athen im Gegensatz zu Theben als die führende und allgemein anerkannte Macht des Seebundes darzustellen.

3.3.2 Isokrates’ Argumente gegen Theben: τὰ πάτρια und der Friede von 375 Das harte Vorgehen gegen die Plataier war also mit einem Rachemotiv verbunden, das den Aufbau eines syntelischen Verhältnisses verhinderte. Isokrates hat keine Schwierigkeiten, die Argumente der Thebaner, so wie er diese anführt, zu widerlegen. Den ursprünglichen Kriegsgrund, die Syntelie-Weigerung der Plataier, bewertet er zunächst mit Berufung einerseits auf das angestammte Recht (τὰ πάτρια) und andererseits auf die Bedingungen des Friedens von 375. Die Thebaner hätten den πάτρια zufolge kein Recht, Tribute zu verlangen, im Gegenteil: Sie selbst sollten tributpflichtig gegenüber Orchomenos sein.508 In seiner Beurteilung ist der Rhetor an dieser Stelle nicht sehr präzise. Im 5. Jh. verfügten nämlich sowohl Theben als auch Orchomenos über ihre eigenen Syntelie-Gebiete. Von den bedeutenden boiotischen Städten hatte wohl lediglich Chaironeia ein syntelisches Verhältnis zu Orchomenos, das bis 424 andauerte.509 Isokrates bezieht sich auf die ältere, mythisch-historische Zeit, als er vom Tribut Thebens an Orchomenos spricht. Die damalige Rivalität zwischen Theben und Orchomenos spiegelt sich in der Überlieferung über das reiche Orchomenos und das tributpflichtige Theben 505 Diesen Gedanken hatte Isokrates im Panegyrikos §§ 80f. angeführt und in der Friedensrede von 355 eingehend behandelt (vgl. Isokr. 6, 30ff.), was darauf hindeutet, dass es sich um eine konstante Grundüberzeugung des Rhetors handelt. Vgl. Bringmann, Studien 51 mit Anm. 5. 506 Isokr. 14, 25: καὶ φασὶ τὸ Θηβαίους ἔχειν τὴν ἡμετέραν, τοῦτο συμφέρον εἶναι τοῖς συμμάχοις, κακῶς εἰδότες ὡς οὐδ' αὐτοῖς τοῖς παρὰ τὸ δίκαιον πλεονεκτοῦσιν οὐδὲν πώποτε συνήνεγκεν, ἀλλὰ πολλοὶ δὴ τῆς ἀλλοτρίας ἀδίκως ἐπιθυμήσαντες περὶ τῆς αὑτῶν δικαίως εἰς τοὺς μεγίστους κινδύνους κατέστησαν. 507 Vgl. Seager, CAH VI, 156–186, bes. 178. 508 Vgl. Isokr. 14, 10. 509 Vgl. Thuk. 4, 76, 3; Freitag, DNP 9 (2000) s. v. Orchomenos [1] 9. 179

wider. Es gibt aber keine überzeugenden Belege über das genaue Verhältnis zwischen diesen zwei boiotischen Poleis für die Zeit vor dem 5. Jh.510 Die Rückberufung auf ein angestammtes Recht war also ein rhetorisches Mittel, das Isokrates nicht zu seinem Hauptargument machen konnte. Das stärkste Argument des Isokrates ist der Hinweis auf die Bedingung des Friedens von 375, wonach alle Poleis, große wie kleine, autonom sein sollten. Der Angriff Thebens auf Plataia wird somit als Unrecht und eindeutiger Bruch des Friedensvertrags hervorgehoben.511 Es ist zu beachten, dass Athen und Sparta durch den Frieden von 375 u. a. Thebens Machterweiterung stoppen wollten. Dies wird nicht nur durch die Autonomieklausel, sondern auch durch die Bestimmung über die Garnisonenfreiheit, womit boiotische Gebiete von spartanischen und thebanischen Besatzungen gereinigt werden sollten, erreicht.512 Isokrates’ Protest gegen Thebens Expansion nach Plataia bzw. Boiotien stimmt also völlig mit der offiziellen athenischen Politik überein. Die nunmehr positive Beurteilung des Friedens von 375, obwohl er in der Tat eine Erneuerung des Königsfriedens war, ist durchaus nachvollziehbar; Athen spielte nämlich diesmal eine aktive Rolle beim Abschluss des Friedens und dessen Bedingungen. Der Friede konnte weder formell noch inhaltlich als Diktat des Perserkönigs erscheinen, obwohl letzterer auch dieses Mal daran beteiligt war. Der größte Gewinn Athens war die indirekte Anerkennung des Seebundes durch Sparta und den Perserkönig; somit nahm Athen an, dass der Weg zur Wiederherstellung der alten Macht für die Polis frei war.513 Isokrates hatte jetzt keinen Grund mehr, die Bedingungen oder die Form des Friedens in Frage zu stellen. Auch die Stellungnahme der Thebaner über die Bestrafung von Plataia wird durch das Argument des bestehenden Friedens widerlegt.514 Durch εἰρήνης οὔσης ist der Friede von 375, nicht der Abschluss des Zweiten Attischen Seebundes gemeint.515 Μνησικακεῖν kann nicht mit der εἰρήνη vereinbart werden, das Rachemotiv sollte also nach dem Beschluss des Friedens seine argumentative Geltung einbüßen.

510 Der Plataikos des Isokrates ist die älteste Quelle, die auf die ältere Tributpflicht Thebens an Orchomenos hinweist. Später ist Ähnliches durch Diodor, Strabon und Pausanias überliefert worden; allerdings versuchen die Autoren in erster Linie die einstige Macht von Orchomenos und dessen Rivalität mit Theben zu betonen, indem sie ihre Berichte auch mit mythischen Elementen bereichern; demnach zahlten die Thebaner Tribute, bis sie davon durch Herakles befreit wurden. Vgl. Diod. 4, 10, 3f.; 15, 79, 5; Strab. 9, 2, 40; Paus. 9, 25, 4. 34, 6. 511 Isokr. 14, 10: εἰ δὲ τὰς συνθήκας ἀξιοῦσιν εἶναι κυρίας, ὅπερ ἐστὶν δίκαιον, πῶς οὐχ ὁμολογήσουσιν ἀδικεῖν καὶ παραβαίνειν αὐτάς; ῾Ομοίως γὰρ τάς τε μικρὰς τῶν πόλεων καὶ τὰς μεγάλας αὐτονόμους εἶναι κελεύουσιν. Vgl. auch Isokr. 14, 22ff. 512 Vgl. Diod. 15, 38, 2; Jehne, Koine Eirene 61. 513 S. hier S. 169. 514 Vgl. Isokr. 14, 14: […] τούτους μὲν γὰρ εἰρήνης οὔσης οὐ προσῆκε μνησικακεῖν περὶ τῶν τότε γεγενημένων […]. 515 Vgl. Roos, Mnemosyne 2 (1949) 265–285, bes. 274f. mit Anm. 10. 180

Isokrates geht nicht auf die Tatsache ein, dass der Friede durch die Auseinandersetzungen Athens und Spartas tatsächlich gebrochen war und die Thebaner deswegen ungestört boiotische Städte angreifen konnten.516 Der Verstoß gegen die Autonomieklausel durch Athen und Sparta war vermutlich ein Argument der Thebaner, worauf der Rhetor im Plataikos gar nicht hindeuten wollte. Darüber hinaus konnten alle drei Mächte das Fehlen einer expliziten Regelung im Friedensvertrag zum Vorgehen gegen den jeweiligen Friedensstörer nutzen.

3.3.3 Athen gegen Theben und für Plataia Isokrates fordert im Plataikos ein Vorgehen Athens gegen Theben. Obwohl er sich nicht explizit auf die Form dieses Vorgehens bezieht, soll als sicher gelten, dass der diplomatische Weg allein schwerlich den Plataiern ihre Stadt zurückgeben und die Thebaner von ihrer Expansion in Boiotien abhalten konnte. Jede Konfrontation mit Theben würde die Gefahr einer direkten militärischen Auseinandersetzung mit sich bringen. Isokrates sowie allen politisch aktiven Athenern war es also bewusst, dass eine Hilfeleistung für Plataia zum Krieg gegen Theben führen konnte.517 Deswegen spricht er nicht über eine bloße Hilfeleistung, sondern über κίνδυνοι, denen sich die Athener gegebenenfalls aussetzen mussten, sogar in einem eventuellen Krieg.518 Außerdem nimmt er Rücksicht auf die Folgen und Aussichten eines – gerechten – Krieges, als er seine Forderung zur Aktion gegen Theben begründet.519 Die Rechtfertigung des Vorgehens gegen Theben beruht sowohl auf logischen als auch auf sentimentalischen Argumenten.520 Diese werden im Folgenden untersucht.

516 Vgl. dazu hier S. 170–171. 517 Dass man damals in Athen an einen Krieg gegen Theben dachte, doch mit einer solchen Entscheidung zögerte, geht auch aus Xenophons Bericht hervor (Xen. hell. 6, 3, 1): Οἱ δὲ ᾿Αθηναῖοι, ἐκπεπτωκότας μὲν ὁρῶντες ἐκ τῆς Βοιωτίας Πλαταιᾶς, φίλους ὄντας, […] οὐκέτι ἐπῄνουν τοὺς Θηβαίους, ἀλλὰ πολεμεῖν μὲν αὐτοῖς τὰ μὲν ᾐσχύνοντο, τὰ δὲ ἀσυμφόρως ἔχειν ἐλογίζοντο. 518 Vgl. Isokr. 14, 39. 42. 519 Vgl. Isokr. 14, 39–45. In Isokr. 14, 17 wird von Athens Bereitschaft in der Vergangenheit berichtet, Kriege für die Friedensverträge und Autonomie der Griechen zu führen; somit kann die geforderte Hilfe für die Plataier als mögliches kriegerisches Eingreifen gedeutet werden. 520 Der Hauptteil des Plataikos, also die Beweisführung, enthält zum größten Teil eine logische Argumentation (§§ 8–44) und abschließend einen sentimentalischen Appell (§§ 45–55). Vgl. Papillon, Isocrates II, 229. 181

3.3.3.1 Logische Argumente: Eide und Verträge – Gleichgewichtspolitik – Gerechter Krieg a. Αὐτονομία und ἐλευθερία Der Appell der Plataier an Athen stößt auf ein schwerwiegendes Hindernis: Plataia war formell – im Gegensatz zu Theben – kein Bundesgenosse Athens. Isokrates überwindet dieses Problem, indem er auf die Autonomieklausel des Friedensvertrags von 375 hinweist. Die Rücksichtnahme auf Eide und Verträge sind Motive, die die ganze Rede durchdringen.521 Es erscheint als Beleg, dass Thebens Angriff auf Plataia ungerecht sei, wie auch als Rechtfertigung des Vorgehens gegen Theben.522 Während aber durch den Friedensvertrag von 375 die Autonomie der Plataier gesichert war, fehlte eine Exekutionsklausel gegen Vertragsbrüchige, und es war kein Garant für den Frieden – sei es Athen oder eine andere Macht – vorgesehen. Wenn eine vertraglich festgelegte Funktion Athens als φύλαξ bzw. προστάτης τῆς εἰρήνης existiert hätte, so wäre die Gelegenheit darauf hinzuweisen von Isokrates jedenfalls genutzt worden, denn er hätte sich ausdrücklich auf die entsprechende Klausel berufen, d. h. er hätte die Athener direkt aufgefordert, ihrer Rolle als Verfechter des Friedens in Bezug auf die Plataier-Frage nachzukommen.523 Stattdessen sollte für Isokrates die freiwillige Verteidigung der Prinzipien der Autonomie und Freiheit, worauf im Königsfrieden, im Aristoteles-Dekret und im Friedensvertrag von 375 ausdrücklich hingewiesen wurde, der treibende Faktor für das athenische Handeln sein. Diesen stellt er mit früheren athenischen Aktionen ähnlicher Natur in eine Reihe, die nun fortgesetzt werden müsse. Es wäre inkonsequent, die Thebaner ungestraft zu lassen, während Athen zwischen 378 und 375 den Krieg gegen Sparta und gerade für die Autonomie Thebens geführt hatte.524 Die Mitgliedschaft Thebens am Zweiten Attischen Seebund ist nun kein Hindernis zum Vorgehen gegen diese Polis, weil Theben auch gegen die Autonomieklausel des Bundes verstoßen hatte. Isokrates zieht deswegen nicht nur die ὅρκοι καὶ συνθῆκαι von 375, sondern auch die Grundbestimmungen des Seebundes zur Unterstützung seiner Argumentation heran.525 Er zielt hierbei darauf ab, die Rolle Athens innerhalb des Seebundes zu stärken und den Wiederaufstieg zu fördern.

521 Dies kann u. a. als ein unumstrittener Beweis gelten, dass die Thebaner den Frieden von 375 mit beschworen hatten. Vgl. Roos, Mnemosyne 2 (1949) 265–285, bes. 273. 522 Vgl. Zahrnt, RhM 143 (2000) 295–325, bes. 308. Zur Erinnerung an die bestehende εἰρήνη, die ὅρκοι und die συνθῆκαι erstens in Bezug auf das Unrecht der Thebaner vgl. Isokr. 14, 1. 5. 10. 12. 23 und zweitens in Bezug auf das Vorgehen gegen Theben vgl. Isokr. 14, 17. 39. 42. 44. 63. 523 Vgl. Bringmann, Studien 49 mit Anm. 5; Roos, Mnemosyne 2 (1949) 265–285, bes. 281f. 524 Vgl. Isokr. 14, 17. 525 Vgl. Isokr. 14, 44; Seager, CAH VI, 156–186, bes. 178. 182

b. Die ῥοπή und der diplomatische Weg Durch die Rechtfertigung des Vorgehens gegen Theben und seine Propaganda für die Autonomie und Freiheit griechischer Poleis antwortet Isokrates auf Stimmen in Athen526, die gegen einen Bruch mit dem wichtigen Bündner Theben Stellung nahmen. Er überliefert die pro-thebanischen Argumente folgendermaßen: Athen würde das nachbarliche Boiotien, das für Athen προπολεμεῖ, also wegen seiner geographischen Lage als ein Bollwerk im Krieg gegen Athens Feinde fungiert, als verbündetes Land vermissen. Darüber hinaus bestehe die Gefahr des Bruchs des Friedens von 375 sowie des Verlassens des Seebundes und eines Bündnisses Thebens mit Sparta. Dies würde eine enorme ῥοπή herbeiführen, das Mächtegewicht in Hellas wäre also zu Lasten Athens und des Seebundes entscheidend geändert.527 Simultan bestand die Gefahr, dass Athen einen aussichtslosen Krieg gleichzeitig sowohl gegen Theben als auch Sparta führen müsse.528 Die Einwände gegen einen Bruch mit Theben beruhten Isokrates zufolge ausschließlich auf der Verteidigung der machtpolitischen Interessen Athens. Die Reaktion des Rhetors darauf geht ebenfalls von machtpolitischen Spekulationen und Analysen aus. Er nimmt zunächst an, dass sich die Thebaner nicht zu den Lakedaimoniern gesellen würden, da dies die Preisgabe ihrer Polis an Sparta bedeuten könnte.529 Hinter diesem Gedanken steckt die Auffassung, dass die demokratische Führung Thebens, die die Befreiung der Kadmeia mit Hilfe der Athener vorbereitet hatte und zwischen 378–375 Krieg gegen Sparta führte, nun Schaden durch einen Abfall zu Sparta erleiden sollte; die Lakedaimonier wären an der Unterstützung durch die Oligarchen in der Stadt interessiert und bereit, die Macht jenen zu verschaffen. Es liege daher laut Isokrates keineswegs im Interesse der Thebaner, ihre Stadt um einer fremden Polis willen preiszugeben und zusätzlich in Zukunft keine Hoffnungen mehr auf Unterstützung durch die Athener hegen zu können.530 Hierbei führt der Sprecher des Plataikos das Beispiel des boiotischen Oropos an. Dieses hatte nach dem Königsfrieden seine Autonomie erlangt. Den Thebanern missglückte es, vermutlich kurz vor dem Frieden von 375, Oropos an den Boiotischen Bund anzuschließen, da sich die Oropier unter den Schutz der Athener stellten und diese den Thebanern mit dem Ausschluss aus dem Seebund drohten. Isokrates zieht Parallelen zwischen dem Oropos- und dem Plataia-Fall und nimmt an, dass 526 Isokrates spricht über die Warnungen von ῥήτορες (vgl. Isokr. 14, 38), was auf eine bestehende politische Diskussion in Athen bezüglich der plataiischen Frage und der Beziehungen Athens zu Theben hindeutet. 527 Isokr. 14, 33: […] ὡς νῦν μὲν ἡ Βοιωτία προπολεμεῖ τῆς ὑμετέρας χώρας, ἢν δὲ διαλύσησθε τὴν πρὸς τούτους φιλίαν, ἀσύμφορα τοῖς συμμάχοις διαπράξεσθε· μεγάλην γὰρ ἔσεσθαι τὴν ῥοπὴν, εἰ μετὰ Λακεδαιμονίων ἡ τούτων γενήσεται πόλις. 528 Vgl. Ryder, CQ 13 (1963) 237–241, bes. 238. 529 Vgl. Isokr. 14, 34f. Der Abfall vom Seebund und die Preisgabe der Stadt an Sparta wird sogar als Wahnsinn (μανία) bezeichnet. 530 Vgl. Isokr. 14, 36. 183

die Thebaner auch diesmal vor einem Austritt aus dem Seebund zurückschrecken würden.531 Es ist hierbei festzuhalten, dass der Rhetor vieles von einer diplomatischen Lösung der Plataier-Frage erwartet. Seine erste Priorität ist nicht der Krieg mit Theben, sondern die Veranlassung, dass sich diese Polis den Athenern unterordnet und sich zudem loyal gegenüber dem Seebund verhält. Es wird deutlich, dass Isokrates in erster Linie den Status quo des Friedens von 375 beibehalten will, ohne dass die Seebundmitgliedschaft und die Mächtekonstellation in Hellas geändert werden.

c. Πόλεμος und δίκαιον Obwohl Isokrates die Diplomatie dem Krieg vorzog, musste er auf die möglichen Auswirkungen seines Vorschlags, auch wenn er kein Realpolitiker war, gefasst sein. Die Reaktion der Thebaner konnte er zwar einschätzen, jedoch nicht mit Sicherheit voraussagen. Der Sprecher des Plataikos lässt deswegen die Möglichkeit eines Krieges mit Theben offen und versucht einen solchen pragmatisch zu rechtfertigen. Demnach wäre ein solcher Krieg gerecht, denn die Thebaner hätten den Plataiern Unrecht getan,532 während sich die Athener auf die Autonomie und Freiheitsklausel des Friedensvertrags von 375 berufen533 und den Unrecht Leidenden Hilfe geleistet hätten534. Dem Rhetor ist allerdings bewusst, dass es bezüglich der Begründung des Krieges nicht so sehr um die Durchsetzung des Gerechten, sondern vielmehr um die machtpolitischen Folgen geht. Demzufolge gelangt er zu dem interessanten Gedanken, dass im Krieg diejenigen siegen, die Hellas rechtschaffener und milder regieren: […] συμβαίνει κρατεῖν ἐν τοῖς πολέμοις οὐ τοὺς βίᾳ τὰς πόλεις καταστρεφομένους, ἀλλὰ τοὺς ὁσιώτερον καὶ πραότερον τὴν ῾Ελλάδα διοικοῦντας.535

Seiner Auffassung nach führen nicht die rohe Gewalt, sondern das gerechte Verhalten einer führenden Macht in Hellas und die sich daraus ergebende gerechte Kriegführung zunächst zum guten Ruf (δόξα)536 einer Polis. Durch die δόξα werden

531 Vgl. Isokr. 14, 20. 37. Beiden Fällen gemeinsam sei die thebanische πλεονεξία. Wenn nun der Sprecher des Plataikos daran erinnert, dass die Thebaner ἔκσπονδοι erklärt wurden, bezieht er sich eindeutig auf deren Ausschluss vom Seebund (vgl. Sealey, Historia 5 [1956] 178–203, bes. 191). 532 Das Unrecht der Thebaner analysiert Isokrates eingehend. Vgl. Isokr. 14, 8–15. 35. 533 Vgl. Isokr. 14, 17. 39. 42. 44. 63. 534 Vgl. Isokr. 14, 1f. 34f. 42. 535 Isokr. 14, 39. Im Panegyrikos §§ 80f. lobte Isokrates die athenischen Vorfahren, die nicht mit Gewalt, sondern mit Gerechtigkeitssinn und Vertragstreue zu neuen Bündnern kamen. Dieser Gedanke ist im Plataikos weiterentwickelt worden. 536 Die δόξα von § 40 ist als Gegensatz zu den ἀδοξίαι καὶ αἰσχύναι von § 39 wahrzunehmen; daher ist darunter die gute Meinung der anderen Hellenen bzw. der gute Ruf der Athener oder der Spartaner zu verstehen. Vgl. dazu Alexiou, Ruhm und Ehre 27. 184

neue Bündner gewonnen und der davon ausgehende Machtzuwachs führt zum entsprechenden Ergebnis eines siegreichen Krieges.537 Während das Gerechte in Bezug auf die Verwaltung von Hellas mit ὅσιον und πράον 538 bezeichnet wird, zieht Isokrates den Begriff δίκαιον539 vor, wenn er sich auf die Kriegführung bezieht, da es nicht um das Gerechte im sozialethischen Sinne geht, sondern sich eher auf das aufgrund von Verträgen gebotene Handeln bezieht.540 Das Schema πόλεμος δίκαιος – δόξα – σύμμαχοι – κρατεῖν ἐν τοῖς πολέμοις belegt Isokrates, indem er die Zerstörung der attischen ἀρχή des 5. Jhs. durch Sparta und die spätere Beendigung der lakedaimonischen ἀρχή durch Athen als Beispiele anführt.541 Dabei werden zwar komplizierte Vorgänge vereinfacht,542 der Rhetor erkennt aber im Endeffekt den gravierenden Grund für den Machtverlust der Hegemonialmächte und die politischen Voraussetzungen, unter denen zwischenstaatliche Beziehungen auf Dauer entstehen. Die Erfahrung des Zusammenbruchs der athenischen Herrschaft im 5. Jh. und die Folgen der Niederlage im Peloponnesischen Krieg haben offenbar zu einem politischen Umdenken der Generation des Isokrates in Athen geführt.543 Der Rhetor setzt sich allerdings für die Interessen der Polis, und nicht für eine nach allgemein anerkannten Prinzipien ausgerichtete Außenpolitik ein. Konkret gesprochen wäre nun der Krieg gegen Theben wegen des athenischen Einsatzes für die Autonomie und Freiheit der Plataier theoretisch gerecht. Die 537 Vgl. Isokr. 14, 39–45. 538 Ὅσιον und πράον werden mit dem sozialethischen Sinn panhellenischen ungeschriebenen Rechtes in Verbindung gestellt. Vgl. Wolf, Rechtsdenken III.2, 271. 281. 539 Die Athener hätten τὸ δίκαιον ἔχοντες σύμμαχον die lakedaimonische Herrschaft gestürzt (vgl. Isokr. 14, 40), und kein Athener sollte sich nun bezüglich des Vorgehens gegen Theben davor fürchten, μετὰ τοῦ δικαίου ποιούμενος τοὺς κινδύνους (vgl. Isokr. 14, 42). 540 Dies wird sonst mit dem Begriff νόμιμον wiedergegeben. Zum Wortgebrauch des δίκαιον hier vgl. Wolf, Rechtsdenken III.2, 269. 541 Vgl. Isokr. 14, 40f. Isokrates verurteilt hier zum ersten Mal die athenische Herrschaft während des Delisch-Attischen Seebundes, indem er die Gewaltpolitik als nicht nützlich für die Polis bewertet. 542 In Bezug auf den Krieg gegen die spartanische Arché sieht Isokrates die Zeit vom Korinthischen Krieg bis zum Frieden von 375 als Einheit (vgl. Bringmann, Studien 52 Anm. 7). Seine Behauptung, dass Athen den Korinthischen Krieg beendigte, ist falsch, da dies durch Verhandlungen zwischen dem Perserkönig und den Spartanern geschah. Darüber hinaus sollten in einer Diskussion über die Ursachen des Falls Athens und Spartas wichtige Einzelaspekte beurteilt werden. Der langjährige Peloponnesische Krieg mit seinen vielfachen Vorgängen und Ereignissen, der Korinthische Krieg mit den Bündnissen, die damals zustande kamen, und die Rolle des Perserkönigs in beiden Fällen sollten eingehend untersucht werden. 543 Vgl. Bringmann, Studien 52 und die Quellenangaben in Anm. 4: Xen. hell. 5, 4, 1, Ephoros bei Diod. 14, 2. 185

Athener sollen jedoch nicht aus diesem Grund, sondern aufgrund der zwangsläufigen Folgen eines gerechten Krieges, d. h. der Aussichten zum Sieg und des daraus entstehenden Machtzuwachses eine positive Entscheidung für den Krieg treffen. Isokrates scheint dem außenpolitischen Verhalten Athens in den Jahren nach der Befreiung der Kadmeia bis zur Zeit des Plataikos zuzustimmen. Die Berufung auf die Autonomie und Freiheit der Hellenen im Gegensatz zu Spartas Interventionen in griechischen Poleis hatte zur Gründung des Zweiten Attischen Seebundes und zur Anerkennung desselben durch den Frieden von 375 geführt. Insofern hatten der behauptete Kampf für das Gerechte und der mit ihm verbundene gute Ruf tatsächlich einen schnellen Wiederaufstieg Athens bewirkt. Dies sollte auch weiterhin Grundlage der Außen- und Bündnispolitik Athens bleiben.544 Isokrates zielt darauf ab, dass Athen seinen guten Ruf behält und seine hegemoniale Rolle im Seebund und in Hellas als die moralisch überlegene Macht, die immer mehr Verbündete gewinnt, behalten kann. Demnach sollte Athen sein rechtschaffenes Vorgehen durch seine außenpolitischen Entscheidungen stets als Gegenpol zur Gewaltpolitik anderer Poleis manifestieren.545 Das Gerechte wird jedoch nur in Verbindung mit dem Nutzen für die Polis gefordert, sodass der egoistische Gedanke stets – wenn auch getarnt – im Vordergrund steht.546 Im Krieg gegen Sparta werde Athen künftig keine Verbündeten gewinnen können und daher schlechte Aussichten haben, wenn es jetzt Theben erlaube, gegen die Eide und Verträge zu verstoßen.547 Dann würde es nämlich so scheinen, als ob die Athener die ὅρκοι καὶ συνθῆκαι nur als Vorwand zur Kriegsrechtfertigung verwendet hätten (ὑπὲρ τῶν αὐτῶν τούτων προσποιήσεσθε πολεμεῖν) 548. Die rhetorische Anwendung des Gerechten ist hier eindeutig, da bereits festgestellt wurde, dass Isokrates durch die Aufforderung zum Schutz der Verträge das Gerechte in der Tat als Mittel zu den machtpolitischen Zwecken seiner Polis verwendet.

3.3.3.2 Emotionale Argumente a. Τοῖς ἀδικουμένοις βοηθεῖν – ἱκεσία Da der Plataikos insgesamt als Hilfegesuch an Athen formuliert ist, tritt das Motiv τοῖς ἀδικουμένοις βοηθεῖν stärker hervor als alle anderen und begleitet mehr oder weniger die wichtigen Gedanken des sprechenden Plataiers. Isokrates idealisiert, so wie im Pangeyrikos, die athenische Vergangenheit, indem er bereits im ersten Satz der Rede die zeitübergreifende Hilfsbereitschaft der Stadt gegenüber Unrecht

544 Vgl. Isokr. 14, 40ff.; Zahrnt, RhM 143 (2000) 295–325, bes. 308f. 545 Zu Recht sieht G. Mathieu (Ιδέες 138) den in § 40 betonten Vorsprung des Gerechten vor der Gewalt während des Krieges als eine Propaganda für Athens Rolle im Zweiten Attischen Seebund. 546 Vgl. Mathieu, Ιδέες 140. 547 Vgl. Isokr. 14, 44f. 548 Isokr. 14, 44. 186

Leidenden und Wohltätern lobt.549 Dabei beruft er sich hinreichend auf ungeschriebenes Recht, also auf das Gerechte im allgemeinen und sozialethischen Sinne. Demnach sollten die Athener ihrer Bewertung als die gottesfürchtigsten und gerechtesten der Hellenen (ὁσιώτατοι καὶ δικαιότατοι τῶν Ἑλλήνων)550 nachkommen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Isokrates das eingeforderte außenpolitische Handeln in Verbindung mit gewissen Vorteilen für die Bündnispolitik der Polis stellt. Das gerechte Handeln stellt er zunächst mit der gefälligen Parole der Hilfe für die Unrecht Leidenden an den Anfang,551 bevor er sich auf das durch zwischenstaatliche Verträge gesicherte Recht beruft.552 Es wird deutlich, dass Isokrates u. a. bewusst auf die emotionale Beeinflussung der Athener zielt. Daraus ergibt die in §§ 46–52 – nach modernen Begriffen – äußerst populistische Schilderung der plataiischen Leiden und des Unglücks wegen ihrer Vertreibung einen Sinn. Ferner ist der Hinweis auf die Hilfe aufgrund von ἱκετεῖαι ein Gedanke, der bereits von Isokrates im Panegyrikos angeführt wurde. Im Plataikos berichtet Isokrates allerdings nur vom Adrastos-Mythos,553 denn so kann er ein negatives Bild der Thebaner aufzeichnen und daraus durch Vergleiche mit der derzeitigen Situation Vorteile ziehen. Er bezieht sich auf die Hilfe der athenischen Vorfahren für den schutzflehenden König von Argos Adrastos, womit die Thebaner gezwungen würden, sich gerechter (νομιμώτερον)554 zu verhalten.555 Hierbei wird ein zeitübergreifendes Bild von den ungerecht handelnden Thebanern vermittelt.556 Das Unrecht hängt mit einem konkreten Verstoß gegen das beständige νόμιμον des Sakralrechts zusammen.557 Isokrates nutzt die Gelegenheit und stellt die Plataier als ἱκέται in Athen dar, die sich in kritischerer Lage als damals Adrastos befänden: Die Argiver baten nämlich – dem Mythos nach – um einen Krieg gegen eine andere Polis, während die Plataier für ihre eigene Polis Hilfe suchen; darüber hinaus gehe es nun um die überlebenden Plataier, denen das Recht auf Verbleib in ihrer Heimat nicht 549 Isokr. 14, 1: Εἰδότες ὑμᾶς, ὦ ἄνδρες ᾿Αθηναῖοι, καὶ τοῖς ἀδικουμένοις προθύμως βοηθεῖν εἰθισμένους καὶ τοῖς εὐεργέταις μεγίστην χάριν ἀποδιδόντας […]. Vgl. auch Isokr. 14, 34, wobei die ‚Unrecht Leidenden‘ (οἱ ἀδικούμενοι) durch die ‚Schwächeren‘ (οἱ ἀσθενέστεροι) ersetzt werden. 550 Vgl. Isokr. 14, 2. Als Politen sind sie daher ‚Rechtbürger‘, also Menschen, die sich gemäß sozialer Erwartungen verhalten, zuverlässig, beständig und ehrfürchtig sind, zu ihrem Wort stehen und das Notwendige im Sinne der Naturgesetzlichkeit tun. Vgl. Wolf, Rechtsdenken III.2, 268ff. 551 Vgl. Isokr. 14, 42. 552 Vgl. Isokr. 14, 42ff. 553 Während es sich im Panegyrikos um die Hikesie sowohl des Adrastos als auch der Söhne des Herakles handelt. Vgl. Isokr. 4, 54–60. 554 Im Sinne von ‚rechtlich‘, da es sich auf ungeschriebenes Sakralrecht bezieht. Vgl. dazu Wolf, Rechtsdenken III.2, 281. 555 Vgl. Isokr. 14, 53. 556 Isokrates hatte im Panegyrikos noch keinen Grund, die Thebaner konkret als Unrechthandelnde darzustellen. 557 Im Panegyrikos § 55 spricht Isokrates von παλαιὸν ἔθος und πάτριος νόμος. 187

gestattet wird, während damals dem König von Argos nicht erlaubt wurde, die im Krieg Gefallenen zu bestatten.558 Obwohl die Plataier nach ihrer Vertreibung in Athen als Hilfssuchende, nicht aber unbedingt als Hiketen gemäß dem sakralen Brauch auftraten, geht Isokrates vom selben alten Hikesie-Fall wieder aus. Es besteht offenbar ein sich wiederholender Rückgriff auf Beispiele aus mythischer Vorzeit, die besonders in Grabreden des 5. und 4. Jh. immer wieder vorkamen.559 Es stellt sich allerdings die Frage, weshalb der Rhetor nicht auf die historische Hikesie der Plataier im 6. Jh in Athen hinweist. Herodot berichtet, dass sich die Plataier im Jahr 519 als ἱκέται am Altar niederließen, gerade als die Opferfeierlichkeiten für die zwölf Götter stattfinden sollten, um die Athener zur Hilfe gegen die Thebaner zu bewegen. Daraufhin entsprachen die Athener ihrer Bitte.560 Entweder ist Isokrates dieses Ereignis nicht bekannt, oder er meidet solche Vergleiche, da sich im Jahr 373 keine rituelle Hikesiehandlung in Athen abgespielt hatte, weswegen eine Berufung auf eine vergangene formelle Hikesie der Vorfahren der Plataier nicht das erhoffte Äquivalent bot.561 Die Hilfeleistung aufgrund einer Hikesie wird nicht durch materielle Gewinne oder den machtpolitischen Nutzen für die Stadt gerechtfertigt. Neben dem ὅσιον, δίκαιον und νόμιμον spielt die stets anzustrebende δόξα für die Poleis eine bedeutsame Rolle.562 Es handelt sich demnach um eine sich aus der mythischen Vergangenheit ergebende Forderung nach einem sich nach Recht und Ruhm ausrichtenden Verhalten.563

b. Εὔνοια – εὐεργεσία – εὐσέβεια Neben den von mythologischem Geschehen abgeleiteten Vorbildern nutzt Isokrates die historische Zeit. So schildert er die traditionell guten Beziehungen zwischen Plataia und Athen; die εὔνοια564 der Plataier gegenüber Athen wird in der Rede hervorgehoben und der Feindseligkeit Thebens gegenübergestellt. Εὔνοια ist im isokrateischen Denken ohnehin von zentraler Bedeutung; sie bestimmt die 558 559 560 561

Vgl. Isokr. 14, 54f. Vgl. Buchner, Panegyrikos 65ff. Vgl. Hdt. 6, 108, 4; Gould, JHS 93 (1973) 74–103, bes. 95; Derlien, Asyl 106. Der Sprecher des Plataikos verwendet zwar die Phrase ἥκομεν ἱκετεύσοντες (Isokr. 14, 1), das Verb ἱκετεύω wurde aber durchaus auch im profanen Kontext verwendet. Vgl. LSJ s. v. i ἱκετεύω 826. 562 Isokrates verwendet stark gefärbte Begriffe, um auf die Bedeutsamkeit der Aufnahme einer Hikesie hinzuweisen. Demnach verhielten sich die Vorfahren der Athener keineswegs αἰσχρῶς oder ἀκλεῶς und hinterließen somit der Polis einen unvergänglichen Ruhm für alle Zeiten (τῇ πόλει δόξαν ἀείμνηστον εἰς ἅπαντα τὸν χρόνον κατέλιπον). Vgl. Isokr. 14, 52f. 563 Vgl. Schmitz, Prosperität 262. 564 Vgl. Isokr. 14, 15. 51. 63. Εὔνοια wird als Begriff für Wohlwollen, Zustimmung, Sympathie und Hilfsbereitschaft gebraucht. Vgl. Romilly, JHS 78 (1958) 92–101, bes. 92. 188

zwischenstaatlichen Beziehungen und kann am Ende Recht und Erfolg in den außenpolitischen Entscheidungen verbinden.565 Die Belagerung und Eroberung Plataias 480 durch die Perser und 431–427 durch Sparta wird im Plataikos als eine Konsequenz der plataiisch-athenischen φιλία dargestellt.566 Zusätzlich wird an die traditionelle Bundesgenossenschaft zwischen den beiden Poleis erinnert, wobei die letzte Symmachie Plataias mit Sparta als eine Ausnahme aufgrund von Zwang beschrieben wird;567 sogar währenddessen wich die εὔνοια der Plataier nicht von der Seite Athens.568 Die politischen Rechte, die den Plataiern in Athen bereits seit ihrer ersten Vertreibung von 427 gewährleistet wurden, hätten zusätzlich zu den engen Beziehungen zwischen beiden Bevölkerungsgruppen beigetragen und die εὔνοια weiter gefördert.569 Speziell auf die Haltung ihrer Stadt in den Perserkriegen, besonders auf ihren Kampf an der Seite Athens in der Schlacht bei Marathon waren die Plataier seither sehr stolz. Bereits in der thukydideischen Rede der Plataier an Sparta, berufen sie sich auf ihren Kampf für die Freiheit aller Hellenen in den Perserkriegen, die Verehrung der daran beteiligten Vorfahren und ihre Wohltat der hellenischen Welt gegenüber.570 Dieselben Motive kommen im Plataikos vor. Isokrates folgt der thukydideischen Tradition, nutzt allerdings die Gelegenheit, um die damalige Beteiligung Plataias am Krieg nicht als einen Kampf für alle Hellenen, sondern als Hilfeleistung für Athen darzustellen, denn die Vorfahren der Plataier hatten den Athenern während der Perserkriege geholfen, ihre Stadt zu retten. Aus diesem Grund dürfen die Plataier in Bezug auf ihre jetzige Auseinandersetzung mit Theben mit Recht eine Wohltat (εὐεργεσία) als Dankesschuld (χάρις) von den Athenern erwarten.571 Die Hilfeleistung wird hierbei als selbstverständliche Gegenleistung gefordert. Es handelt sich um die Übertragung eines Prinzips des hellenisch-aristokratischen Verhaltungskodexes in archaischer Zeit bezüglich der persönlichen und innenpolitischen Verhältnisse auf die zwischenstaatlichen Beziehungen in klassischer Zeit.572 Demnach erzeugte eine Wohltat die Schuld zur Zurückerstattung.573 Darauf beriefen

565 566 567 568 569 570

Vgl. Romilly, JHS 78 (1958) 92–101, bes. 92. 96f. Vgl. Isokr. 14, 26. Vgl. Isokr. 14, 45. Vgl. Isokr. 14, 15. Vgl. Isokr. 14, 51. Vgl. Thuk. 3, 54, 3f. 56, 5. 57,1f. 58, 1. 58,3ff. 59, 1f. Da sich diese Rede an die Lakedaimonier wendet, wird speziell auf die Teilnahme der Plataier an der Seeschlacht bei Artemision und an der Schlacht bei Plataia hingewiesen (vgl. Thuk. 3,54,4). 571 Isokr. 14, 57: […] ὥστε δικαίως ἂν τὴν αὐτὴν εὐεργεσίαν ἀπολάβοιμεν, ἥνπερ αὐτοὶ τυγχάνομεν εἰς ὑμᾶς ὑπάρξαντες. Bereits in der Einleitung erinnerte der Plataier die Athener an ihre Gewohnheit, die Wohltaten zurückzuerstatten (Isokr. 14, 1: […] καὶ τοῖς εὐεργέταις μεγίστην χάριν ἀποδιδόντας). 572 Vgl. Karavites, RIDA 27 (1980) 69–79. 573 Vgl. Herman, Ritualised Friendship and the Greek City 48. 189

sich u. a. die Athener,574 obwohl sie besonders in den epideiktischen, aber auch in den politischen Demegorien ihre Wohltaten meist als uneigennützige Hilfeleistung gegenüber Schwächeren präsentierten.575 Das Argument des isokrateischen Plataiers beruht somit auf einer bereits etablierten und praktizierten, allerdings ungeschriebenen Institution im zwischenstaatlichen Verhalten in der hellenischen Poliswelt. Die subjektive Sicht und Zielsetzung des Isokrates wird im Plataikos deutlich: Obwohl die gegenseitigen Verpflichtungen beider Poleis betont werden, wird Plataia eindeutig als der untergeordnete Partner dargestellt. Die Plataier wenden sich an Athen nicht nur als an eine zuvor von ihnen begünstigte Polis, sondern auch und vor allem als die hierarchisch höher stehende Macht. Während sie also Gleichberechtigung mit den anderen Hellenen fordern,576 erkennen sie Athen als Führungsmacht in Hellas an.577 Unabhängig von den Auswirkungen der εὔνοια und der εὐεργεσία nutzt Isokrates die symbolische Wirkung, die Plataia als Erinnerungsstätte für die Perserkriege hatte. Die Athener sollten aus zwei Gründen dafür sorgen, dass Plataia nicht zerstört wird und unbewohnt bleibt: Erstens sollen gerade die Siegeszeichen und Denkmäler in der Stadt vom Kampf der Hellenen gegen die Perser zeugen; dies sei im Interesse der Polis, denn nur aufgrund der damaligen Leistungen konnte Athen die Hegemonie in Hellas beanspruchen: ἐξ ἐκείνων γὰρ τῶν ἔργων ἡγεμόνες κατέστητε τῶν ῾Ελλήνων.578 Hier wird ein essentieller Punkt angesprochen: Die athenische Reaktion auf die plataiische Frage wird in Zusammenhang mit dem Wiederaufstieg Athens und dessen Rolle im Seebund gestellt. Das Emporkommen Thebens als neue Hegemonialmacht wird gerade durch dasselbe Beispiel kritisiert, denn die Thebaner hatten damals an der Seite der Perser gegen die Freiheit von Hellas gekämpft. Jene Erinnerungszeichen in Plataia seien eine einzige Schande für sie.579 Zweitens muss Plataia gerade wegen seiner εὐσέβεια gegenüber den athenischen Vorfahren und deren Kampf für die Freiheit der Hellenen geschützt werden; sonst würden die Gräber der Gefallenen keine Verehrung mehr finden.580 Das Motiv der Ehrfurcht vor den Vorfahren ist zwar ein üblicher Topos, gewinnt aber durch die Verknüpfung der ‚Rechtlichkeit‘ mit der ‚Frömmigkeit‘581 eine stark untermauerte Stellung in der Argumentation für die Rettung Plataias. 574 Vgl. Karavites, Capitulations and Greek Interstate Relations 106–111. 575 Deswegen unterscheidet A. Missiou (Andokides 112ff.) zwischen zwei Typen von εὐεργεσία, nämlich diejenige, die auf der Erwiderung eines Gefallens (χάρις) basiert, und diejenige, die lediglich aus moralischer Pflicht und Uneigennützigkeit geschieht. 576 Vgl. Isokr. 14, 5. 577 Vgl. Low, Interstate Relations 75f. 578 Isokr. 14, 59. 579 Vgl. Isokr. 14, 59. 580 Vgl. Isokr. 14, 60f. 581 Vgl. Wolf, Rechtsdenken III.2, 275. 190

c. Ἔχθρα der Thebaner Im Plataikos macht das deutlich geschilderte Feindbild der Thebaner großen Eindruck,582 obwohl es in vielen Punkten an das Thebenbild in der thukydideischen Rede des Plataiers erinnert.583 Isokrates benutzte das vor einigen Jahrzehnten publizierte Geschichtswerk, um so seine Rede in Athen von 373, in der er sich offen gegen ein bedeutendes Mitglied des Seebundes wendet, zu legitimieren. Hierin liegt vermutlich auch der Grund, weshalb Isokrates diese Rede als die eines empörten Plataiers erscheinen lässt. Mit diesen Rückgriffen kann der Rhetor antithebanische Propaganda machen und Athen als die einzige Macht des Seebundes darstellen, die Anspruch auf die Hegemonie erheben darf. Das Zögern der Athener, gegen Theben vorzugehen, kann durch die Erinnerung an die beständige ἔχθρα der Thebaner gegenüber Athen aufgehoben werden. Die Hinweise auf die Rolle der Thebaner in den Perserkriegen an der Seite der Perser und ihre Bezeichnung als Verräter aller Hellenen (ἁπάσης τῆς ῾Ελλάδος προδόται)584 und auf ihre Rolle im Peloponnesischen Krieg an der Seite Spartas gegen Athen585 sollten die Bürger gegen ihren benachbarten Erbfeind aufhetzen.586 Der Gegensatz zwischen Theben und Plataia wird durch rhetorische Mittel stark betont. Während Theben ständig gegen Athen konspiriert hätte, habe Plataia für Athens σωτηρία mehrmals die Existenz riskiert. Waren jene Verräter der Hellenen, so waren diese Wohltäter der Athener. Die plataiische εὔνοια sei das Gegenteil der thebanischen ἔχθρα. Demzufolge sei die Entscheidung für oder gegen die Hilfe eine Wahl zwischen der ὕβρις oder der δόξα der eigenen Polis.587 Die harten und oft übertriebenen Ausdrücke, die Isokrates benutzt, stimmen mit der offiziellen außenpolitischen Linie Athens nicht überein, da sie jegliche Verständigungsmöglichkeit mit dem wichtigsten Mitglied im Seebund verhinderten. Sie verweisen aber auf die prinzipielle Einstellung des Isokrates gegen Theben, die auch in weiteren Reden deutlich wird. 582 Vgl. besonders Isokr. 14, 20. 21f. 24f. 28. 30ff. 35f. 45. 53. 61ff. 583 In der thukydideischen Rede des Plataiers wird auf das gewalttätige Verhalten der Thebaner hingewiesen, und ihr damaliger Angriff auf Plataia wird als ungerechter Angriffskrieg dargestellt. Thuk. 3, 55, 1. 56, 1–6. 584 Isokrates weist auf die harten Angriffe Thebens gegen Athen während des Dekeleischen Krieges sowie auf die Forderung Thebens zur völligen Zerstörung Athens am Ende des Peloponnesischen Krieges hin (vgl. Isokr. 14, 31f.). Die spartafreundliche Einstellung Thebens erschließt er von den Zuständen in der Stadt nach der Besetzung der Kadmeia (vgl. Isokr. 14, 27), ohne aber die Tatsache zu erwähnen, dass die Thebaner damals gezwungen waren, sich den Entscheidungen der Spartaner unterzuordnen. Vgl. Mathieu, Ιδέες 140. 585 Vgl. Isokr. 14, 31f. 586 Die Thebaner werden allerdings nicht expressis verbis als Erbfeinde bezeichnet. Dies wäre aus der Sicht aller ein schwer zu erklärender verbaler Angriff gegen einen derzeitigen Bundesgenossen. 587 Vgl. Isokr. 14, 62. 191

3.3.4 Fazit Im Plataikos wird zunächst die Argumentation der Thebaner zur Verteidigung ihres Angriffs auf Plataia diskutiert. Ihre Entscheidung, die Plataier zu vertreiben, statt sie ihrer συντέλεια einzuverleiben, erklärt Isokrates als eine Folge des thebanischen Machtzuwachses. Dieser entspricht nicht dem δίκαιον, da er u. a. mit dem angestammten Recht nicht übereinstimmt. Das Argument der Zerstörung Plataias im Interesse des Zweiten Attischen Seebundes widerlegt Isokrates, indem er zunächst den Thebanern vorwirft, sie hätten durch ihre πλεονεξία auf ihren eigenen Nutzen gezielt, ohne das δίκαιον, d. h. hier die Eide und Verträge, zu berücksichtigen. In einem nächsten Schritt zeigt er, dass das thebanische Vorgehen ohnehin nicht im Interesse des Seebundes liegen konnte, da es gegen die wichtigen Prinzipien, nämlich der Autonomie und Freiheit, verstieß. Zur Begründung des diplomatischen oder kriegerischen Vorgehens Athens gegen Theben verwendet Isokrates zunächst logische Argumente. Im Mittelpunkt steht der Schutz der Eide und Verträge, hier der Autonomie- und Freiheitsklausel des Friedensvertrags von 375. Eine Regelung zum Vorgehen gegen die Störer des Friedens war zwar nicht vorgesehen, jedoch erinnert Isokrates an die letzten Kriege Athens gegen Sparta, die für die Autonomie Thebens und anderer Poleis geführt und unter ähnlichen Rahmenbedingungen entschieden wurden und schließlich Athens Wiederaufstieg zur Hegemonialmacht möglich machten. Allerdings legt der Rhetor großen Wert darauf, dass sich die Mächtekonstellation in Hellas, wie sie durch die Gründung des Zweiten Attischen Seebundes und den Frieden von 375 geformt wurde, nicht ändern sollte. Der Status quo könne durch diplomatische Maßnahmen, wie die Androhung des Ausschlusses Thebens vom Seebund, beibehalten werden. Im Fall eines Krieges gegen Theben wäre dieser jedoch gerecht und von Nutzen für Athen. Gerecht, weil er aus Gründen des Schutzes der Autonomie und der Unrecht Leidenden geschieht; von Nutzen, weil er Athen δόξα und davon ausgehend neue Verbündete, militärische Siege und Machtzuwachs bringen würde. Es sollte also ein gerechter Krieg geführt werden müssen, denn er würde dem Nutzen der Polis dienen. Ferner sucht Isokrates die Athener durch emotionale Argumente zum Vorgehen gegen Theben zu bewegen. Dazu gehört der Bericht über die Leiden der Plataier, der Appell an die althergebrachte Hilfeleistung der Athener besonders den Unrecht Leidenden – wie den Hiketen – gegenüber, die stetige εὔνοια der Plataier gegenüber Athen und die dafür zu erbringende εὐεργεσία als Gegenleistung der Athener. Die Rolle Plataias an der Seite Athens in den Perserkriegen und die geforderte εὐσέβεια gegenüber den athenischen Vorfahren werden ebenso stark hervorgehoben. Auf der anderen Seite werden der unzuverlässige Charakter der Thebaner und ihre historisch belegbare ständige ἔχθρα gegenüber Athen gebrandmarkt. Es ist festzustellen, dass sich Isokrates zur Begründung des Vorgehens gegen Theben auf allgemein gültige Prinzipien bezieht sowie auf Logik, Ethik und Gefühl zielende Argumente, wie δίκαιον, δόξα, εὐσέβεια, beruft. In allen Fällen wird 192

allerdings der Nutzen für Athen direkt oder indirekt angesprochen. Durch diese Argumente soll die Stilisierung Athens als der einzigen legitimen und moralisch gewachsenen Hegemonialmacht des Zweiten Attischen Seebundes bezweckt werden. Die Auswirkung der Rede war zunächst kaum spürbar. Die Athener scheuten zurück, mit Theben zu brechen. Sie arbeiteten aber mithilfe von Diplomatie und der Fortsetzung des Krieges gegen Sparta an der Wiederherstellung ihrer Macht. Durch die Propaganda einer auf Autonomie bedachten hellenischen Polis wollte sich Athen als Hegemonialmacht im Seebund und als Vormacht in Hellas bei gleichzeitiger Isolierung Thebens durchsetzen. Dies waren die Grundgedanken des Plataikos, denen die athenische Politik folgte, was in den Verhandlungen über den Frieden von 371 in Sparta deutlich wurde.588

4. Die Archidamosrede 4.1 Athen, Sparta und Theben von 371 bis 366 Ein Versuch der Spartaner im Somer 371, durch ihren Einmarsch nach Boiotien die Thebaner zur Anerkennung der κοινὴ εἰρήνη zu zwingen,589 endete mit der vernichtenden Niederlage des spartanischen Heeres in der Schlacht bei Leuktra,590 was in der Literatur als „einer der bedeutendsten Wendepunkte in der griechischen Geschichte“591 gilt. Sparta verlor damit endgültig seine seit 404 bestehende Vormachtstellung in Hellas. An ihre Stelle trat nun Theben für das nächste Jahrzehnt (371–362) als neue Hegemonialmacht in den Vordergrund.592 Athen verfolgte in den Jahren danach erfolglos eine Politik zur Eindämmung der Expansion Thebens, was einige Male zur Unterstützung Spartas führte.593 Noch im 588 Besonders in der Rede des Kallistratos fällt die Übereinstimmung mit den Ideen des Plataikos auf (vgl. Xen. hell. 6, 3, 10–17; Laistner, The Classical Weekly 23 [1930] 129–131, bes. 131). Die Athener nahmen Stellung für Plataia und Thespiai (vgl. Xen. hell. 6, 3, 1). Gerade wegen der Autonomie der boiotischen Poleis missglückten schließlich die Verhandlungen zwischen Sparta und Theben (vgl. Xen. hell. 6, 3, 19f.; Plut. Ages. 28, 1f.); Mathieu, Ιδέες 145. 148. Dazu auch Bringmann, Studien 54. 589 Vgl. Xen. hell. 6, 4, 3. 590 Zur Schlacht bei Leuktra, die dank des militärischen Genies und der neuen Kriegstaktik des thebanischen Feldherrn Epameinondas mit einer völligen Niederlage der spartanischen Truppen unter der Führung des Königs Kleombrotos I. endete, vgl. Xen. hell. 6, 4, 8–15; Diod. 15, 55, 1–56, 4; Plut. Pel. 23. 591 Bengtson, GG 278. 592 In der Tat wurde die von den Persern seit dem Königsfrieden beabsichtigte Aufsplitterung der hellenischen Welt in mehrere ohnmächtige Kleinstaaten vollendet. Nunmehr sollten auswärtige Mächte die Vorherrschaft in Hellas haben. Vgl. Bengtson, GG 278. 593 Vgl. Fisher, Attitudes to Sparta, in: Hodkinson/Powell, The Shadow of Sparta 347–400, bes. 371. 193

Jahr 371 wurde durch athenische Initiative ein Friede in Athen geschlossen, dessen Grundlage die Bestimmungen des Königsfriedens waren. An den Verhandlungen nahmen Athen, alle Seebundmitglieder außer Theben und neben Sparta die meisten peloponnesischen Poleis teil.594 Der Friedensbeschluss richtete sich gegen Theben, das sich formlos aus dem Seebund zurückgezogen hatte.595 Theben dehnte seine Macht weiter aus, indem es in Mittelgriechenland neue Bundesgenossen gewann596 und 370 auf der Peloponnes einen Symmachievertrag597 mit dem kurz zuvor entstandenen Arkadischen Bund598 schloss. Ein Hilfegesuch des Arkadischen Bundes, der sich im Krieg gegen Sparta befand, bot dem thebanischen Feldherrn Epameinondas den lang ersehnten Vorwand, Sparta endgültig zu besiegen.599 Im Winter 370/69 unternahm er einen Feldzug auf die Peloponnes, und zwar bis an den Siedlungsrand von Sparta, ohne aber einen Angriff auf die Stadt zu wagen. Trotzdem musste Sparta innenpolitisch einen schweren Schlag erleiden, denn im Frühjahr 369 erhoben sich die messenischen Heloten unter Beteiligung von messenischen Flüchtlingen und Emigranten und gründeten mit thebanischer Rückendeckung erstmals einen von Sparta unabhängigen messenischen Staat. Folglich konnten die Thebaner einen ebenso mächtigen Gegenpol zu Spartas Macht auf der Peloponnes bilden.600 Die Spartaner büßten mit dieser neuen Staatsgründung etwa ein Drittel ihres Gebietes ein: Dabei handelte es sich um den fruchtbarsten Teil samt den von ihnen ausgebeuteten Heloten, die seit mehr als zwei Jahrhunderten die wirtschaftliche Basis der Polis bildeten; dies verdeutlicht, dass die Spartaner dadurch einen erheblichen Teil ihrer Existenzgrundlage verloren hatten.601 Die Spartaner suchten nun Unterstützung in Athen, zumal nach der militärischen Niederlage bei Leuktra und nach dem Einfall des thebanischen Heeres auf der Peloponnes die Mehrzahl der Bundesgenossen Spartas abfielen. Da Athen in erster Linie an der Schwächung Thebens interessiert war, schloss es ein förmliches

594 595 596 597 598

Vgl. Xen. hell. 6, 5, 1; StV II² 270; Jehne, Koine Eirene 74f. Vgl. Cargill, Second Athenian League 192; Welwei, Athen 286. Vgl. Xen. hell. 7, 5, 4. Bündnis mit Phokis im Jahr 370: StV II² 271. Vgl. StV II² 273. Der Arkadische Bund entstand im Sommer 370 unter der Führung von Mantineia. Vgl. StV II² 272; Beck, Polis und Koinon 74ff. 599 Vgl. Bengtson, GG 280. 600 Vgl. Xen. hell. 6, 5, 23–52; Diod. 15, 62–66; Plut. Ages. 31–34, 1; Paus. 9, 14, 5; Welwei,  Athen 286. Aus demselben Grund wurde im nächsten Jahr die Stadt Megalopolis in Messenien mit thebanischer Unterstützung begründet. Vgl. Diod. 15, 72, 4; Paus. 8, 27, 3f.; Nielsen, Arcadia, in: Hansen/Nielsen, An Inventory of Archaic and Classical Poleis 505–546, bes. 520f.; Christien, Σπάρτη, in: Amouretti/Christien/Ruzé/ Sineux, Πώς έβλεπαν οι αρχαίοι Έλληνες τον πόλεμο 282–313, bes. 295ff. 601 Zur Bedeutung Messeniens für Sparta vgl. Roebuck, CPh 40 (1945) 149–165, bes. 151f.; Oliva, Sparta and her social problems 194–197; Bengtson, GG 280; Buckler, Theban Hegemonie 86; Thommen, Sparta 16; Welwei, Sparta 306. 194

Bündnis mit Sparta auf der Basis der Gleichberechtigung.602 Dieses konnte allerdings weder Erfolge erzielen noch den Frieden sichern. Ein weiteres Bündnis der Athener im Frühjahr 367 mit den Tyrannen von Syrakus Dionysios I. konnte ebenfalls keine wesentliche Verstärkung bringen.603 Der sizilische Tyrann hatte zwar ein Jahr zuvor den Sohn des spartanischen Königs Archidamos durch die Entsendung einer Söldnertruppe in einer Schlacht gegen die Streitkräfte der Arkader und Argiver unterstützt,604 aber der verlustlose Sieg der Spartaner war für den Kriegsverlauf nicht relevant. Jedoch war dieser als der erste militärische Erfolg seit Leuktra für das Selbstbewusstsein der Spartaner wichtig.605 Es ist anzunehmen, dass Isokrates zu dieser Zeit seinen panhellenischen Plan seit dem Panegyrikos zum ersten Mal wieder aufnahm. Durch ein Sendschreiben an Dionysios I., wovon uns nur das Prooimion erhalten ist, versuchte der Rhetor ihn anscheinend zu bewegen, die Führung eines gemeingriechischen Perserzuges zu übernehmen. Zu diesem Zeitpunkt ist dies durchaus nachvollziehbar, denn der sizilische Monarch verfügte nicht nur über eine starke Persönlichkeit, sondern auch über enorme Macht;606 zudem pflegte er gute Beziehungen zu Sparta wie auch zu Athen.607 Beide Poleis waren gegenüber Thebens Vorherrschaft zu schwach – die Hoffnungen auf den Aufstieg Athens zur Hegemonialmacht aufgrund des Zweiten Attischen Seebundes waren nun nicht mehr realistisch – und der Versuch des Perserkönigs, die hellenischen Angelegenheiten zunächst zu Gunsten Spartas, danach Thebens zu steuern,608 war offensichtlich.609 Ein hellenischer Perserzug unter 602 Vgl. StV II² 274. Die Bundesgenossen auf beiden Seiten waren in das Bündnis einbezogen. Der Oberbefehl sollte zwischen Athen und Sparta zu Lande und zu Wasser alle fünf Tage wechseln (vgl. Xen. hell. 7, 1, 14). 603 Vgl. StV II² 280. 604 Es handelt sich um die sogenannte ‚tränenlose Schlacht‘, weil kein einziger Spartaner gefallen ist. Vgl. Xen. hell. 7, 1, 28–32; Diod. 15, 72, 3f.; Plut. Ages. 33, 5–8. 605 Dreher, Athen und Sparta 161. 606 In seiner fingierten Rede des kyprischen Monarchen Nikokles weist Isokrates auf den Erfolg des Dionysios hin, Syrakus zu einer der mächtigsten griechischen Poleis zu machen (vgl. Isokr. 3, 23). Zur überragenden militärischen Macht des Dionysios vgl. Meyer, GdA V, 486f. 607 Im Gegensatz zu den traditionell guten Beziehungen zu Sparta wurde das Verhältnis des Dionysios zu Athen erst nach der Schlacht bei Leuktra verbessert. Vgl. Stroheker, Dionysios 136f. 143ff.; Perlman, Historia 25 (1976) 1–30, bes. 21. 608 Die Perser riefen im Winter 369/8 die Hellenen zu einer Friedenskonferenz in Delphi. Laut Xenophon scheiterten die Verhandlungen daran, dass Theben nicht bereit war, die erneute Unterwerfung Messeniens durch Sparta zu akzeptieren. Der persische Abgesandte warb daraufhin mit mitgebrachtem Geld eine Söldnertruppe für Sparta an (vgl. Xen. hell. 7, 1, 27; Diod. 15, 70, 2). Es ist anzunehmen, dass der Großkönig zu diesem Zeitpunkt eine Verschiebung der Mächtekonstellation zu Gunsten Thebens für bedrohlich hielt und entweder den Frieden oder eine Stärkung Spartas im Krieg anstrebte. Vgl. Jehne, Koine Eirene 79ff. 609 Vgl. Dobesch, Gedanke 43f. 195

Dionysios setzte zunächst den Friedensschluss mit Theben bzw. die Auflösung von dessen Vormachtstellung voraus, was jedoch in der erhaltenen Einleitung des Briefes nicht angedeutet wird. Isokrates sieht aber den einzigen Ausweg gegenüber Thebens Machtzuwachs und der Ohnmacht Athens und Spartas in der auswärtigen Hilfe durch Syrakus. Die im Panegyrikos propagierten Gewinne eines Perserzuges sowohl für die Hellenen als auch speziell für Athens Wiedererlangen einer hegemonialen Rolle blieben immer noch bestehen. Wurde Dionysios allerdings in jener Rede noch angegriffen,610 sollte er nun dreizehn Jahre später neben Athen und Sparta eine führende Rolle übernehmen. Isokrates spricht in der Einleitung des Briefes für die Rettung der Hellenen (ὑπὲρ τῆς τῶν ῾Ελλήνων σωτηρίας)611, womit er an die Beendigung der innergriechischen Wirren der letzten Jahre in Hellas und die Zurückführung der Mächtekonstellation vor Leuktra gedacht haben muss. Da Dionysios im selben Jahr (Frühjahr 367) allerdings starb, wurde der Brief vermutlich nicht vollendet, jedenfalls niemals abgeschickt.612 Im Jahr 367, also ein Jahr vor der Veröffentlichung des isokrateischen Archidamos, kam es in Susa zu einem Friedenskongress, auf dem die hellenischen Konflikte unter Vermittlung des Perserkönigs geregelt werden sollten. Die Konzeption des thebanischen Gesandten Pelopidas fand bei Artaxerxes II. Zustimmung: Demnach sollte erneut die Autonomie für die griechischen Poleis, diesmal aber ausdrücklich unter Einschluss von Messenien, anerkannt werden; darüber hinaus wurde die Autonomie von Amphipolis durch eine Sanktionsklausel garantiert und Athen sollte seine Flotte abrüsten.613 Aufgrund dieser Bedingungen versuchte Theben im folgenden Jahr eine κοινὴ εἰρήνη zustande zu bringen. Diese wäre allerdings aus der Sicht der Bundesgenossen Thebens einer Anerkennung thebanischer Vormachtstellung 610 Im Panegyrikos wurde Dionysios I. neben dem Makedonenkönig Amyntas und dem Perserkönig als einer der Tyrannen, die von Sparta Unterstützung erhielten, aufgelistet (vgl. Isokr. 4, 125f.). Darüber hinaus wird im Rahmen der panhellenischen Zielsetzung der Rede Dionysios vorgeworfen, dass er die sizilischen Griechen versklavt habe (vgl. Isokr. 4, 169); vgl. Perlman, Historia 25 (1976) 1–30, bes. 22. Zur unterschiedlichen Beurteilung des Dionysios in den Reden und Briefen des Isokrates vgl. Ungern-Sternberg, Die Beurteilung Dionysios’ I. von Syrakus, in: ders., Griechische Studien 225–250, bes. 241f. 611 Isokr. ep. 1, 7. 612 Vgl. Isokr. ep. I; Münscher, RE IX, 2 (1916) s. v. Isokrates [2] 2146–2227, bes. 2199f. Diese Annahme setzt voraus, dass der Brief im Jahr 367 verfasst worden ist. Die Datierung des Briefes in das Jahr 369/8 ist weniger wahrscheinlich, da zunächst das Defensivbündnis des Dionysios mit Athen Isokrates zu einer solchen Initiative geführt haben soll. Außerdem war im Winter 368 der Krieg des sizilischen Monarchen gegen Karthago durch einen – wenn auch befristeten – Waffenstillstand beendet, sodass Isokrates doch auf eine endgültige Beendigung dessen hoffen konnte. Zur Diskussion über die Chronologie in der Forschung vgl. Eucken, Isokrates 132f. Anm. 44, wobei jedoch Ch. Eucken selbst eher die Datierung ins Jahr 369/8 vorzieht. 613 Vgl. StV II² 282; dazu Jehne, Koine Eirene 83 mit Anm. 208. 196

gleichgekommen, woran sie scheiterte.614 Trotzdem ergab sich daraus immerhin ein Sonderfrieden mit Korinth, Phleius und anscheinend auch Epidauros, also mit denjenigen peloponnesischen Poleis, die durch die Einfälle der Boiotier besonders betroffen waren und im Wesentlichen keine andere Alternative hatten.615 Die Spartaner konnten keineswegs auf Messenien verzichten und lehnten demzufolge, sogar im Widerspruch zu ihren eigenen Bundesgenossen, den Frieden ab.616 Auch Athen war vermutlich an dem Frieden nicht beteiligt. Die für Athen harte Bedingung der Flottenaufgabe war dafür nicht der einzige Grund, auch die Annexion von Oropos durch Theben am Anfang des Jahres 366 sowie die neue Stellung Thebens in Hellas werden eine Rolle gespielt haben.617

4.2 Isokrates’ Archidamos Im Jahr 366618 hat Isokrates eine fingierte politische Rede verfasst, die er in den Mund des spartanischen Kronprätendenten Archidamos III., des Sohnes des Königs Agesilaos II.,619 legt. Archidamos spricht vor der spartanischen Volksversammlung,620 in der es um Krieg und Frieden mit Theben geht. Der Königssohn nimmt leidenschaftlich Stellung für den Krieg. Xenophon berichtet von einer Gesandtschaft der Korinther, die von den Spartanern forderten, entweder Korinth zu folgen und Frieden mit Theben zu schließen, was den Verzicht auf Messenien bedeutet hätte, oder Korinth zu erlauben, alleine Frieden mit Theben zu schließen. Die Spartaner entschieden sich für die zweite Variante.621 Ihren Anspruch auf Messenien begründeten sie durch die Argumente, dass die Zugehörigkeit Messeniens zu Sparta gottgefällig sei und dass das messenische Land bereits ihre Vorfahren erhalten hätten.622 Es ist durchaus anzunehmen, dass Isokrates diese Argumentationsbasis in seiner Rede 614 615 616 617 618

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Vgl. Xen. hell. 7, 1, 39f.; Welwei, Sparta 307. Vgl. StV II² 285. Vgl. Xen. hell. 7, 4, 9. Zur Annexion von Oropos vgl. Xen. hell. 7, 4, 1; Demosth. 16, 11. 13. 18; 18, 99 mit Schol. Demosth. 18, 176 (Dilts); Aischin. 2, 164; 3, 85 mit Schol. (Dilts); Diod. 15, 76, 1; Plut. Phok. 9, 6. Dazu Jehne, Koine Eirene 114 Anm. 104. Die Datierung des Archidamos auf 366 hat sich in der Forschung durchgesetzt. Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, Aristoteles und Athen II, 394; Drerup, Isocratis opera omnia I, CLIff.; Meyer, GdA V, 438 Anm. 2; Mathieu, Ιδέες 167f. Anders setzt F. Blass (Beredsamkeit II, 289) die Rede zwischen 356–352; seine Argumente widerlegen Ed. Meyer und G. Mathieu überzeugend. Archidamos soll im Jahr 366 ungefähr 24 Jahre alt gewesen sein. Er war von 359 bis 338 Spartas König. Vgl. Welwei, DNP 1 (1996) s. v. Archidamos [2] 991f. Vgl. Isokr. 6, 1. 7. Der Beschluss über Krieg und Frieden gehörte zu den frühen Befugnissen der spartanischen Volksversammlung (vgl. Thommen, Sparta 148). Vgl. Xen. hell. 7, 4, 8f.; Jehne, Koine Eirene 84 mit Anm. 217. Xen. hell. 7, 4, 9: αὐτοὶ δ‘ ἔφασαν πολεμοῦντες πράξειν ὅ τι ἂν τῷ θεῷ φίλον ᾖ· ὑφήσεσθαι δὲ οὐδέποτε, ἣν παρὰ τῶν πατέρων παρέλαβον Μεσσήνην, ταύτης στερηθῆναι. 197

Archidamos benutzte, um in ganz Hellas gegen einen Frieden mit Theben zu propagieren.623 Isokrates nimmt Stellung gegen die Forderung der Bundesgenossen Spartas,624 aber auch einiger Spartaner,625 dem Frieden beizutreten und Messeniens Unabhängigkeit anzuerkennen. Allerdings bleiben die Art und das Ziel dieser Rede in der Forschung umstritten. Die bereits in der Antike angenommenen Thesen, dass die Rede entweder von Archidamos selbst bei Isokrates bestellt und dieser sie in Sparta wirklich gehalten habe, oder dass sie lediglich eine rhetorische Übung (γυμνασία) sei, können wenig überzeugen.626 K. Münscher (1916), G. Mathieu (1925) und K. Bringmann (1965) sehen im Archidamos eine bedeutsame politische Rede, die als Pamphlet weite Kreise erreichen sollte und von Isokrates’ kontinuierlicher antithebanischer Einstellung durchdrungen ist.627 Die genannte Auffassung erscheint als die wahrscheinlichste: Isokrates ist gerade zum Zeitpunkt der Rede wegen der aktuellen Ereignisse beunruhigt, denn das Ende der Vormachtstellung Thebens hatte Priorität. Vor allem hinsichtlich der athenischen Ablehnung des von den Thebanern vorgeschlagenen Friedens versuchte Isokrates die Athener durch den Archidamos zu beeinflussen.628 Ein schwaches Sparta, mit dem Athen zu dieser Zeit verbündet war, würde keineswegs den Interessen Athens dienen können; zudem würde ein Friedensvertrag zwischen Sparta und Boiotien die Vorherrschaft der Thebaner auch auf der Peloponnes bestätigen und Athen wäre als die einzige Gegenmacht im mutterländischen Hellas weiterhin isoliert. Isokrates sah einen Ausweg aus den Wirren in Hellas nur in der Zusammenarbeit zwischen Athen und Sparta und davon ausgehend in einer gemeingriechischen Aktion gegen Persien.629 Der Archidamos sollte sowohl in Athen als auch in Sparta Stimmung gegen Theben machen, denn die Athener sollten auf künftige Gefahren aufmerksam gemacht werden.630 Zusätzlich sollten ihnen Stützpunkte zu einer spartafreundlichen Politik zur Verfügung gestellt werden; die Spartaner sollten in dieser sehr kritischen Situation ihrer Geschichte Unterstützung durch Athen bekommen und Argumente zur Ablehnung der Expansionspolitik Thebens finden, auch wenn dies gerade wegen der derzeitigen Stärke dieser Polis mit großem Risiko verbunden war. Es handelt sich also im Wesentlichen um eine symbuleutische Rede mit politischen Propagandazielen. Die Ansicht von N.H. Baynes (1955), der Archidamos sei ausschließlich eine epideiktische Rede, wobei Isokrates 623 624 625 626 627

Vgl. Cawkwell, CQ 11 (1961) 80–86, bes. 82. Vgl. Isokr. 6, 11. 34. 58. Vgl. Isokr. 6, 34. Vgl. Münscher, RE IX, 2 (1916) s. v. Isokrates [2] 2146–2227, bes. 2201. Vgl. Münscher, RE IX, 2 (1916) s. v. Isokrates [2] 2146–2227, bes. 2201; Mathieu, Ιδέες 166; Bringmann, Studien 55f. 628 Vgl. Zahrnt, RhM 143 (2000) 295–325, bes. 319. 629 Vgl. Mathieu, Ιδέες 166f.; Ruzé/Sineux, Οι ρήτορες και ο πόλεμος, in: Amouretti/ Christien/Ruzé/Sineux, Πώς έβλεπαν οι αρχαίοι Έλληνες τον πόλεμο 189–225, bes. 203. 630 Vgl. Drerup, Isocratis opera omnia I, CLIII. 198

seine eigenen Anschauungen beiseitelässt,631 ist nicht anzunehmen, denn der Rhetor passt zwar seine Argumentation in einigen Fällen den spartanischen Vorstellungen an, behält aber grundsätzlich seine eigene, den Interessen Athens dienende Zielsetzung. Da die politischen Reden des Isokrates Stellung zu aktuellen Themen nehmen, bleibt kein Spielraum zu puren, realitätsfremden, öffentlichen rhetorischen Übungen.632 Isokrates selbst schätzt ohnehin nur Prunkreden, die einen expliziten Bezug zur politischen Praxis aufweisen und aktuelle politische Fragen behandeln.633 Archidamos weist durchaus eine Menge epideiktischer Elemente, so wie jede Rede des Rhetoriklehrers, auf; diese können jedoch die Funktion und Zielsetzung der Rede als politische symbuleutische Schrift nicht beseitigen, auch wenn Isokrates via Königssohn selbstverständlich auch typisch spartanische Auffassungen in die Rede einzubauen versucht. Die Ziele sowie die meisten Argumente der Rede befinden sich allerdings eindeutig im Einklang mit den Ansichten des Rhetors.634 P. Harding (1973) vertrat dagegen die These, der Archidamos sei als Gegenstück zur Friedensrede im Jahr 355 geschrieben worden, sodass nach der sophistischrhetorischen Praxis der Antilogiai zwei Reden zustande kamen, die über dasselbe Thema, d. h. über Krieg und Frieden, gegensätzliche Meinungen vertreten.635 P. Harding kann jedoch durch seine Argumente nicht überzeugen,636 da sich die jeweilige Rede auf Ereignisse eines völlig unterschiedlichen historischen Kontexts bezieht. Isokrates würde sich keinesfalls zwölf Jahre nach dem Messenien-Konflikt auf die vergangenen Ereignisse so energisch rückbeziehen und Vorschläge zur Durchführbarkeit eines Krieges von Sparta gegen Theben machen, die in der Zeit um 355 nicht nur unbestätigt blieben, sondern auch als unmöglich galten.637 Ferner wird 631 Vgl. Baynes, Isocrates, in: ders., Essays 144–167, bes. 160f. 632 Hierzu ist die Meinung von A. Jähne (Philologus 135 [1991] 131–139, bes. 134) zutreffend: „Isokrates’ Reden waren im ambivalenten Sinne epideiktisch, d. h. einerseits Schau- und Kunstreden, andererseits jedoch mehr als das und darauf gerichtet, einen bestimmten politischen Sachverhalt verständlich darzustellen und mit beweiskräftigen Argumenten eine politische Idee überzeugend zu propagieren.“ 633 Vgl. Isokr. 4, 12f.; 12, 2; Piepenbrink, Die “aktiven” Redner, in: Orth, Isokrates 41–61, bes. 58. 634 Zum politischen Charakter der Reden des Isokrates vgl. auch Ober, AncW 1 (1978) 119–130, bes. 119 Anm. 4 mit Literaturangaben. 635 Vgl. Harding, CSCA 6 (1973) 137–149; dazu zustimmend Buckler/Beck, Central Greece 151. 636 Vgl. dazu die überzeugende Argumentation von R.A. Moysey gegen P. Harding in: Moysey, AJAH 7 (1982) 118–127; zustimmend dazu: Davidson, Historia 39 (1990) 20–36, bes. 21 Anm. 3; Hunt, War 21 Anm. 69. 637 Nach den Ereignissen zwischen 366–356, besonders nach der Schlacht bei Manti­neia 362, würden sich die Vorschläge zur Entleerung Spartas von dessen Bevölkerung und zur Erhaltung lediglich einer strategischen Position zum Guerillakrieg gegen Theben (vgl. Isokr. 6, 73ff.) als unrealistische und völlig unpraktische Lösungen (Mathieu, Ιδέες 166) erweisen. Isokrates hatte keinen 199

im Archidamos keineswegs im Gegensatz zur Friedensrede ein reiner Imperialismus propagiert,638 denn der geforderte Krieg gegen Theben wird als Verteidigungskrieg gegen eine expansionsorientierte Macht dargestellt; als solche wurde Theben von den meisten zeitgenössischen Hellenen zu dieser Zeit wahrgenommen. Zusätzlich hat sich P. Harding in seiner Behauptung geirrt, dass Isokrates im Archidamos gegen seine Ideale, also die Autonomie und Freiheit der Hellenen, Stellung nimmt: Messenien war seit Jahrhunderten Teil des lakedaimonischen Landes und keine unabhängige Polis, in deren Angelegenheit Sparta intervenierte bzw. deren Autonomie verletzte. Erst 369 wurde die Polis durch Epameinondas mit der eindeutigen Zielsetzung, gegen Spartas Herrschaft auf der Peloponnes vorzugehen, gegründet. Die Freiheits- und Autonomieklauseln des Königsfriedens sowie der Verträge von 375 und 371 konnten sich nicht auf Teilgebiete unabhängiger Poleis beziehen; auch wenn die Eroberung Messeniens in der griechischen Welt als Ergebnis spartanischer Expansionspolitik wahrgenommen wurde, konnte – insbesondere nach Jahrhunderten – die Zugehörigkeit dieses Gebietes zu Sparta im völkerrechtlichen Sinne kaum in Zweifel gezogen werden, da es nie zuvor als unabhängiger organisierter Staat existierte.639 Die ganze Diskussion hatte nur durch Einmischung der Thebaner nach der Invasion des Epameinondas angefangen; erst durch die κοινὴ εἰρήνη, die nach der Schlacht bei Mantineia 362 zustande kam, wurde Messeniens Unabhängigkeit in Hellas weitgehend anerkannt, zumal es nun auch der Symmachie angehörte.640 Allerdings verwehrte Sparta seine Zustimmung zu diesem Friedensvertrag, um seinen Anspruch auf Messenien aufrecht zu erhalten.641

4.3 Die Kriegsrechtfertigung im Archidamos Die zentrale Frage der Archidamosrede ist, ob die Spartaner Krieg führen sollen oder nicht (περί γε τοῦ πολεμεῖν ἢ μὴ)642. Die durch Archidamos propagierte Beitrittsweigerung zum Frieden der peloponnesischen Poleis mit Theben würde die Fortsetzung des Krieges bedeuten. Die ganze Rede ist in Hinsicht auf die Rechtfertigung dieser

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Grund, im Nachhinein falsche Lösungen zum Krieg Spartas gegen Theben vorzuschlagen. Dies behauptet P. Harding (CSCA 6 [1973] 137–149, bes. 147). Selbstverständlich bilden hier die unterjochten Messenier eine Ausnahme. Ihr erster Aufstand im 7. Jh. führte zum Zweiten Messenischen Krieg. Jedoch existierte im archaischen Messenien kein staatlich organisiertes Gemeinwesen; demzufolge konnten die Messenier die Rückkehr zu der Form eines unabhängigen Staates nicht beabsichtigen (vgl. Welwei, Sparta 71). Ein Aufstand der messenischen Heloten nach dem Erdbeben in Sparta im Jahr 464 ist allerdings ein Indiz, dass diese ihre ursprüngliche Identität und das Selbstbewusstsein nie verloren hatten (vgl. Thommen, Sparta 28). Vgl. Diod. 15, 89, 1; Jehne, Koine Eirene 99. Vgl. Pol. 4, 33, 9; Diod. 15, 89, 2; Plut. Ages. 35, 3f.; Thommen, Sparta 174f. Isokr. 6, 3. Die außergewöhnliche Bedeutsamkeit des zu entscheidenden Krieges wird unterstrichen (vgl. Isokr. 6, 7).

Stellungnahme aufgebaut. Zunächst werden die Spartaner trotz der vernichtenden Niederlage bei Leuktra fünf Jahre zuvor und dem Beschluss der peloponnesischen Bundesgenossen, Frieden mit Theben zu schließen, eindeutig zum Krieg aufgefordert (§§ 7–15). An dieser Stelle wird auf den sehr wichtigen Punkt des rechtmäßigen Besitzens Messeniens durch Sparta hingewiesen, was die Grundlage der Argumentation der Rede bildet (§§ 16–32). Weiterhin untersucht Isokrates den Krieg im Hinblick auf das δίκαιον und das συμφέρον (§§ 34–39). Der erfolgreiche Ausgang des Krieges, also das δυνατόν wird ebenfalls in Betracht gezogen (§§ 40–86): Zum einen wendet sich der isokrateische Archidamos gegen diejenigen, die vom Krieg wegen der geringen Siegchancen für Sparta, was mit dem Fehlen von Bundesgenossen zu tun hätte, abraten (§§ 49–71); zum anderen untermauert er die Durchführbarkeit des Krieges durch die Darstellung eines generellen militärischen Plans (§§ 72–86). Erst danach wiederholt der Rhetor einige essentielle politische, rechtliche und sozialethische Argumente für den Krieg (§§ 87–88). Ab diesem Punkt führt Isokrates eher emotionale Argumente an, die das πρέπον des Krieges hervorheben: die δόξα als Gegensatz zu ὄνειδος und αἰσχύνη, das Spartanerbild bei den Hellenen, der Rückgriff auf die siegreichen Vorfahren und die Verpflichtung gegenüber den Nachfahren (89–110). An keiner Stelle führt der Rhetor die konkreten Argumente der Thebaner für die Unabhängigkeit Messeniens auf; dagegen verwendet er mehrfach Begriffe, die auf die autoritäre Art der Thebaner verweisen, ihre Machtpläne durchzusetzen. Demnach verhandeln die Thebaner nicht, sondern sie erteilen Befehle.643 Isokrates hetzt somit durch ein psychologisch effektiv eingesetztes rhetorisches Mittel die Hellenen gegen Thebens Vorherrschaft auf und versucht zu verhindern, dass die Spartaner in eine nüchterne Diskussion über die thebanischen Forderungen einbezogen werden.

4.3.1 Anspruch Spartas auf Messenien Der isokrateische Archidamos stellt den Krieg um Messenien als einen reinen Verteidigungskrieg dar. Nicht die ἀρχή, sondern der Widerstand gegen die Befehle Thebens sei angestrebt.644 Er beharrt darauf, dass Messenien einst, so wie das übrige lakedaimonische Gebiet, gerecht erobert worden sei, und Sparta demzufolge dieselben Rechte auf Messenien wie auf Lakedaimonien habe.645

643 Die Forderung der Thebaner wird meistens als τὸ προσταττόμενον erwähnt, was auf den Gehorsam eines Schwächeren zu einem Stärkeren hindeutet. Vgl. Isokr. 6, 2. 7. 8. 25. 39. 47. 56. 70. 84. 88. 89. 94. Dies stellt Isokrates der Zeit der lakedaimonischen Herrschaft gegenüber, damit die neue thebanische Rolle als durchaus unannehmbar erscheint. Vgl. Isokr. 6, 47. 94. 644 Vgl. Isokr. 6, 7. 645 Vgl. Isokr. 6, 16. 24. 201

4.3.1.1 Historisch-mythologische Begründung Zum Beweis für diese Auffassung greift der Rhetor auf die ferne Vergangenheit zurück, wobei er reale historische Ereignisse nicht von denen einer obskuren mythischen Vorzeit trennt. Isokrates geht demnach von einem in Athen häufig bevorzugten propagandistisch ausgerichteten Umgang mit der Vergangenheit aus. Dies soll nicht befremden, wenn nun Sparta im Mittelpunkt steht; denn auch in dieser Polis verstand man es, sich durch mythologisch geprägte Erzählungen und Vergangenheitsberichte im gesamtgriechischen Raum zu positionieren und bei Bedarf damit seine staatliche Herrschaft zu begründen.646 A. Chaniotis (2004) hat zutreffend gezeigt, dass im klassischen und hellenistischen Hellas über die zwischenstaatlichen Verträge hinaus eine Art – ungeschriebenes – zwischenstaatliches Recht in Bezug auf die Einnahme von Territorien existierte, das auch allgemein anerkannt war. Er unterscheidet zwischen vier rechtmäßigen Erwerbsmöglichkeiten: Erbschaft, Ankauf, Eroberung und Schenkung.647 Es ist auffällig, dass Isokrates in seiner Archidamosrede Nutzen aus drei der vier erwähnten Möglichkeiten zieht, um den rechtmäßigen Besitz von Territorien zu belegen. Demnach leitet der Rhetor den Anspruch Spartas auf Messenien von dessen Eroberung durch Herakles her. Während den Herakliden zu Lebzeiten des Herakles die Stadt Argos nach dem Erbfolgerecht (κατ‘ ἀγχιστείαν)648 und Lakedaimonien aufgrund einer Schenkung (κατὰ δόσιν)649 gehört habe, sei Messenien ein 646 Zu diesem Ergebnis gelangt überzeugend L. Thommen (Historia 49 [2000] 40–53, bes. 52f.) 647 A. Chaniotis (Justifying Territorial Claims, in: Harris, The Law and the Courts 185–213) geht zunächst vom epigraphisch überlieferten Urteil von 23 magnesischen Richtern aus, die im Jahr 112 nach Kreta eingeladen waren, um als objektive, unabhängige Beobachter über einen Territorialkonflikt zwischen den Poleis Hierapytna und Itanos zu entscheiden. Darin sind ihre Ansichten über den rechtmäßigen Besitz von Territorien dokumentiert (I. Cret. iv 9 Z. 133f.): [--- ἄν]θρωποι τὰς κατὰ τῶν τόπων ἔχουσι κυριείας ἢ παρὰ προγόνων π[αραλαβόν]τες αὐτοὶ [ἢ πριάμενοι | κατ‘] ἀργυρίου δόσιν ἢ δὸρατι κρατήσαντες ἢ παρά τινος τῶν κρεισσόν[ων σχόντες]. 648 Vgl. Isokr. 6, 18. Die Söhne des Herakles waren zum Zeitpunkt des Todes des Eurystheus die einzigen noch lebenden Nachkommen des Perseus. Dadurch vermag Isokrates den Anspruch der Herakliden auf Argos zu legitimieren. Er verwendet den Begriff ἀγχιστεία, der im griechischen Recht u. a. den Kreis der Erbberechtigten für den Fall, dass keine direkten Nachkommen vorhanden waren, bezeichnete (vgl. Thür, DNP 1 [1996] s. v. Anchisteia 678f.). Der Anspruch der Herakliden auf Argolis erscheint somit im Vergleich zu dem auf Messenien und Lakedaimonien als direkter; in der mythologischen Tradition wurde dies so beibehalten (vgl. Hall, Ethnic Identity in Greek Antiquity 61). 649 Vgl. Isokr. 6,18. Auch hier stimmt Isokrates’ Legitimierung des Besitzes durch die Herakliden bereits bestehendem Recht zu. Κατὰ δόσιν war eine Intestaterbfolge (Erbrecht, das nicht auf Erbvertrag oder Testament beruhte), die der testamentarischen (κατὰ γένος) gegenüberstand. Die Erbschaft κατὰ δόσιν sollte 202

ähnlich gelagerter Fall: Es sei durch Herakles als Kriegsbeute eingenommen worden (δοριάλωτον ληφθεῖσαν)650, und zwar nach einem gerechten Krieg, da der Held ein Unrecht vergolten habe.651 Als ihm nämlich die Rinder aus Erytheia durch Neleus, den König des messenischen Pylos, geraubt worden waren, habe Herakles Messenien eingenommen und Neleus und seine Söhne – bis auf Nestor – als Übeltäter getötet. Dem nun am Unrecht nicht beteiligten und daher einzigen lebenden Sohn des Neleus, Nestor, habe Herakles Messenien als παρακαταθήκη (Depositum) übertragen, worauf sich die Herakliden berufen konnten.652 Durch die παρακαταθήκη war hellenischen Rechtsvorstellungen zufolge dem Empfänger Gebrauch oder Verbrauch des Verwahrgutes zwar gestattet, auf Verlangen musste es jedoch unbeschadet zurückgegeben werden.653 Da es sich um ein Rechtsverhältnis handelte, in dem keine Zeugen oder andere Beweismittel erforderlich waren, konnte eine solche Erzählung besonders Propagandazielen dienen.654 Der Neleus-Mythos war wahrscheinlich die dorisch-spartanische Version zur Rechtfertigung der Kolonisation der Peloponnes in archaischer Zeit und wurde u. a. von Isokrates übernommen.655 Demzufolge musste Nestor Messenien für die Nachkommen des Herakles verwahren,656 zum anderen wurden die legitimen Ansprüche des Herakles sogar auf seine fernsten Nachkommen, d. h. auch die späteren Königen Spartas, übertragen.657 Während jedoch die Rechte der Herakliden auf Argos, Lakedaimonien und Messenien durch ἀγχιστεία, δόσις und παρακαταθήκη begründet werden, treffen diese Rechtsbegriffe lediglich bei Anwendung des griechischen Zivilrechts zu. Da aber kein Völkerrecht die Erwerbsart von Territorien bestimmte, wurde die Herrschaft

650 651 652 653 654 655 656 657

eine Schenkung auch unter Lebenden erlauben und geht wahrscheinlich auf die solonische Gesetzgebung zurück. Vgl. Lipsius, Das attische Recht II, 561f. mit Quellenangaben in Anm. 56. Vgl. Isokr. 6,18; δοριάλωτος bedeutet wortwörtlich ‚durch den Speer erobert‘ (vgl. LSJ s. v. δοριάλωτος 445). Zu den Ansprüchen der Herakliden und der Dorer auf Argos, Lakedaimonien und Messenien vgl. Isokr. 6,17–23. Vgl. Isokr. 6,19. Der Anspruch der Herakliden auf Messenien geht primär aus dem gerechtfertigten Siegesrecht und sekundär aus der παρακαταθήκη hervor. Vgl. Hall, Ethnic Identity in Greek Antiquity 61. Vgl. Lipsius, Das attische Recht II, 735–738; Thür, DNP 9 (2000) s. v. Parakatatheke 316f.; Maffi, Family and Property Law, in: Cohen/Gagarin, The Cambridge Companion to Ancient Greek Law 254–266, bes. 260. Vgl. Bickermann, Επιστολή Σπευσίππου, in: Iakow, Συκουτρής II, 59–167, bes. 89. Vgl. Natoli, Speusippus 70. 126. Vgl. Natoli, Speusippus 128. Vgl. Is. 8,34; Bickermann, Επιστολή Σπευσίππου, in: Iakow, Συκουτρής II, 59–167, bes. 88. Auch unabhängig von der παρακαταθήκη muss in Hellas zunächst ein Eigentümer seinen Besitz legal erworben haben; danach kann er den Eigentumsanspruch bis zu seinen fernsten Nachkommen ausdehnen (vgl. Natoli, Speusippus 69 Anm. 201). 203

über ein Gebiet durch einen Staat als eine Form Landbesitzes behandelt und in Bezug auf zwischenstaatliche Streitigkeiten durch das Zivilrecht entschieden.658 Isokrates hat demzufolge keine Bedenken, sich auf das den Terminus παρακαταθήκη berufende Recht zu besinnen, so wie er es während seiner früheren Tätigkeit als Logograph in Zivilprozessen gehandhabt hatte.659 Dies war kein Einzelfall; im Konflikt wegen der Insel Halonnesos Ende der 340er Jahre zwischen Athen und dem Makedonenkönig Philipp II. nutzten die Rhetoren Hegesippos und Demosthenes eine ähnliche Argumentation: Philipp habe zwar die Piraten besiegt, die das einst den Athenern gehörende Halonnesos erobert hatten, er müsse aber die Insel den Athenern nicht schenken, sondern zurückgeben, da der Makedonenkönig immer noch nicht als der legitime Besitzer der Insel wirken dürfe.660 Nun konzentriert Isokrates seine Beweisführung konkret auf die Ansprüche Spartas auf Messenien. Zunächst behauptet er, dass die Herakliden sich auf ihre unumstrittenen Rechte berufen und zusammen mit den Dorern die drei peloponnesischen Gebiete erobert hätten. Sie hätten einen Vertrag geschlossen und sich darin verpflichtet, das eroberte Land unter sich aufzuteilen, wofür die Dorer den Herakliden das Königtum zusagten. Während aber die Lakedaimonier ihrem Eid für immer treu geblieben seien und den Herakliden die Königsherrschaft gestatteten, hätten die Messenier Kresphontes, den als Nachkommen des Herakles rechtmäßigen ersten König ihres Staates, getötet und damit einen Frevel (ἀσέβεια) begangen. Die Kinder des Kresphontes wurden vertrieben und wandten sich als Hiketen an Sparta. Selbst der delphische Gott Apollo habe durch einen Orakelspruch den Lakedaimoniern aufgetragen, das Unrecht der Messenier zu rächen (τιμωρεῖν τοῖς ἠδικημένοις)661 und den Unrecht Leidenden Söhnen des Königs zu helfen (βοηθεῖν τοῖς ἀδικουμένοις)662. Das Ergebnis sei der Krieg gegen Messenien, die zwanzigjährige663 Belagerung des Gebiets und die Unterwerfung der Einwohner sowie der Besitz des Landes durch die Spartaner gewesen.664 Die Herrschaft Spartas über Messenien wird somit durch das griechische Gewohnheitsrecht begründet, wonach eine Eroberung dann gerechtfertigt und legitim ist, wenn sie als Ergebnis die Vergeltung oder Hilfe für die

658 Vgl. Bickermann, Επιστολή Σπευσίππου, in: Iakow, Συκουτρής II, 59–167, bes. 87. J. Partsch (Die Schriftformel im römischen Provinzialprozesse 14) notiert dazu: „Seit alter Zeit entschieden ja die Glieder der griechischen Völkerrechtsgemeinschaft ihre Streitigkeiten im Wege des Zivilprozesses“. 659 Isokrates hatte zwei auf παρακαταθήκη bezogene Klagereden für Privatprozesse verfasst, die Rede Gegen Euthynos (or. 21) und den Trapezitikos (or.17). Vgl. dazu Lispius, Das attische Recht II, 735. 660 Vgl. [Demosth.] 7,5; 12,14; dazu Aischin. 3,83; Chaniotis, Justifying Territorial Claims, in: Harris, The Law and the Courts 185–213, bes. 198f. 661 Isokr. 6,23. 662 Isokr. 6,31. 663 Vgl. Isokr. 6,57. 664 Vgl. Isokr. 6,22f.; dazu Niese, Hermes 26 (1891) 1–32, bes. 3. 204

Unrecht Leidenden aufweisen kann.665 Dass die Grundlage dieser Argumentation ein alter Mythos war, sollte nicht befremden: Im 4. Jh. war dies eine annehmbare Begründung für Ansprüche auf Territorien, die nicht nur in der Rhetorik, sondern auch in der Historiographie und sogar in zwischenstaatlichen Verhandlungen eingesetzt wurde.666 Es ist anzunehmen, dass in der Archidamosrede der KresphontesMythos verwendet wird, weil die Spartaner und ihre Könige zumindest im 4. Jh. entsprechend argumentierten und sich auf das Heraklidentum bezogen.667 Den historischen Rechtsanspruch auf Messenien haben also zunächst die Herakliden wegen des Siegesrechts inne. Zusätzlich können die Spartaner aus zwei Gründen einen Rechtsanspruch erheben: Erstens eroberten sie Messenien durch einen von Gott legitimierten Rachekrieg gegen Frevler und Übeltäter; zweitens konnten ihre Könige als Herakliden die παρακαταθήκη zurückverlangen. Das Siegesrecht geht also nicht von einem Aggressionskrieg, sondern von einem gerechten Krieg aus. Die Parole der Hilfe für Unrecht Leidende hinterlässt auch in diesem Fall ihre Wirkung. Durch die Hervorhebung des Unrechts der alten Messenier wird das Recht der neuen bekämpft.668 Isokrates präsentiert und erläutert hier entsprechend seiner üblichen Praxis die Vergangenheit nach eigenem Gutdünken, ohne an der historischen Realität, der Genauigkeit oder Objektivität seiner Darstellung wirklich interessiert zu sein.669 Die Überlieferung zu den Messenischen Kriegen war allerdings zur Zeit des Isokrates problematisch. Der Rhetor unterscheidet weder zwischen dem Ersten (um 700)670 noch dem Zweiten (um 600)671 Messenischen Krieg;672 offenkundig erschienen diese bis zu seiner Zeit als ein einziger Krieg in Erinnerung geblieben zu sein.673 Tyrtaios, der Dichter des ausgehenden 7. Jh., dessen Elegien zur Zeit des Zweiten Messenischen Krieges entstanden waren und die Hauptquellen zu diesen Kriegen überhaupt sind, erwähnt den Kresphontes-Vorfall nicht; in einer Elegie beschreibt

665 Die Bestrafung einer zuvor geschehenen ἀσέβεια verlieh dem spartanischen Siegesrecht die Legitimationsgrundlage. 666 Zu Beispielen dazu vgl. Bickermann, Επιστολή Σπευσίππου, in: Iakow, Συκουτρής II, 59–167, bes. 109–112. 667 Vgl. Huttner, Heraklesgestalt 60. 668 Vgl. Niese, Hermes 26 (1891) 1–32, bes. 3; Luraghi, Messenians 62. 669 Dies ist eher ein Grundsatz des isokrateischen rhetorischen Vorgehens, das G. Schmitz-Kahlmann „Abstraktion der Geschichte“ nennt. Vgl. Schmitz-Kahlmann, Das Beispiel der Geschichte im politischen Denken des Isokrates 26f. 670 Vgl. Welwei, Sparta 53f. 671 Vgl. Welwei, Sparta 70f. 672 In §§ 23f. 31f. und 57 spricht Isokrates über denselben Krieg gegen Messenien. Während er in § 23 die Belagerung und Eroberung Messeniens referiert, betont er in § 57, dass die Belagerung zwanzig Jahre gedauert habe, ohne auf einen früheren Krieg hinzudeuten. 673 Vgl. das erhaltene Fragment des Geschichtsschreibers des 5. Jh. Antiochos von Syrakus; Antioch. FGrHist 555 F 9. 205

er das Gebiet Messeniens als sehr fruchtbar und demzufolge sehr nützlich für die spartanischen Sieger des ersten Krieges;674 hierin sind – ihm zufolge – die historischen Gründe für den spartanischen Expansionskrieg anzunehmen.675 Tyrtaios beschreibt zusätzlich die Härte der spartanischen Herrschaft,676 gegen welche die Messenier vermutlich revoltierten,677 was folglich der wahrscheinlichste Grund für den zweiten Krieg ist. Obwohl die Elegeien des Tyrtaios von Isokrates teilweise adaptiert wurden,678 übernimmt der Rhetor nicht die Ansichten des Dichters über die Ursachen für den spartanisch-messenischen Konflikt, da der Kresphontes-Mythos ihm das erwünschte Material bot. Es ist anzunehmen, dass es sich hierbei um eine geläufige Überlieferung des 4. Jh. handelt, denn auch Platon führt einige Jahre danach in seinem Spätwerk Nomoi eine ähnliche Fassung an, die er als bekannt voraussetzt. Während bei ihm das Unrecht nicht auf Seiten der Messenier, sondern auf der des tyrannisch regierenden Kresphontes liegt, sieht er ebenfalls wie Isokrates den Eidbruch der Messenier als die Ursache für ihren Niedergang. Obwohl Platon nicht im selben Maße wie Isokrates Partei für Sparta ergreift, geht er dennoch von einem größeren Anspruch Spartas aus.679 Auch sein Nachfolger in der Akademie, Speusippos, nutzt später den Neleus-Mythos in ähnlicher Weise wie Isokrates, um so den Anspruch des makedonischen Königs Philipps II. als Nachkomme des Herakles auf Messenien zu begründen.680 674 Vgl. Tyrt. Frg. 4 (Diehl). 675 Private Raubzüge spartanischer Gefolgschaftsgruppen auf messenischem Gebiet, die zu offenen Kämpfen geführt haben, sind nicht auszuschließen. Vgl. Welwei, Sparta 53. 676 Vgl. Tyrt. Frg. 5 (Diehl). 677 Vgl. Fränkel, Dichtung 173. 678 Bezüglich der zwanzigjährigen Dauer des Krieges greift Isokrates auf eine bereits bei Tyrtaios existierende Tradition zurück (vgl. Tyrt. Frg. 4 [Diehl]), wobei der Dichter allerdings den Kampf um Troia zur Bestimmung der Kriegsdauer des Ersten Messenischen Krieges zum Maßstab genommen hat (Welwei, Sparta 53; Luraghi, Messenians 77). Auch Wortlaut und Inhalt von § 105 sind bei Tyrtaios (vgl. Tyrt. Frg. 5f. [Diehl]) wiederzufinden. Darüber hinaus ist der Hinweis auf das Urteil des delphischen Gottes in Bezug auf Sparta mit Tyrt. Frg. 3 (Diehl) zu verbinden (vgl. dazu Treves, JHS 64 [1944] 102–106, bes. 104 mit Anm. 7; Fisher, Attitudes to Sparta, in: Hodkinson/Powell, The Shadow of Sparta 347–400, bes. 363 mit 391 Anm. 54). 679 Vgl. Plat. leg. 3,683c-e; Niese, Hermes 26 (1891) 1–32, bes. 3f. Im 4. Jh. wird Kres­ phontes auch durch Ephoros erwähnt; nach seiner Version hätte der erste messenische König den eingeborenen Messeniern und den Dorern gleiche Rechte bewilligt, sodass er den Unwillen der letzteren auf sich zog (vgl. Ephor. FGrHist 70 F 116). 680 Vgl. Speus. ad Phil. 6; dazu Bickermann, Επιστολή Σπευσίππου, in: Iakow, Συκουτρής II, 59–167, bes. 86; Natoli, Speusippus 68–72. 126. Speusippos’ Brief an Philipp wird auf das Jahr 343/2 datiert. 206

Es ist interessant, dass nach der Gründung Messeniens 369 nationalmessenische Versionen über die weit zurückliegenden Kriege erschienen, die das Unrecht eindeutig in Richtung Spartas verschoben.681 In Teilen der hellenischen Welt wurden nun die Messenischen Kriege – gerade wegen Ablehnung der Hegemonialpolitik Spartas im frühen 4. Jh. – als heroischer Kampf gegen eine expansionsorientierte Macht gefeiert.682 Auch wenn sich zur Zeit des Archidamos diese neuen Versionen noch nicht vollständig durchgesetzt hatten, müssen die Thebaner jedenfalls während ihrer Invasionen auf die Peloponnes auf das Recht der Nachkommen der alten Messenier auf ihr Land hingedeutet haben, worauf sich ihre Forderung zur Anerkennung der Unabhängigkeit Messeniens bezieht. Isokrates hatte also einen Grund mehr, an die ältere, spartafreundliche Überlieferung zu erinnern, denn dadurch konnte er ein wichtiges Argument der thebanischen Seite, das ein gewisses Propagandapotential in Hellas besaß, entkräften. Es ist allerdings zu beachten, dass Isokrates die spartanische Version der historisch-mythologischen Begründung der Ansprüche Spartas auf Messenien übernimmt, allerdings ohne selbst mit der Darstellung in seinem Archidamos übereinzustimmen. Als rhetorische Praxis ist dies jedoch durchaus annehmbar. In seiner Lobrede – dem Panathenaikos – an Athen 24 Jahre später betrachtet er sowohl die Eroberung der Peloponnes durch die Dorer, als auch die Einnahme Messeniens durch Sparta aus völlig gegensätzlicher Sicht. In dieser Rede verfolgt er das Ziel, durch einen Vergleich zwischen Athen und Sparta seine Heimat als die moralisch überlegene Macht in Hellas zu präsentieren und stellt dabei die athenische und damit vermutlich auch seine persönliche Variante der spartanischen Frühgeschichte dar. Er nutzt dabei implizit den Krieg der peloponnesischen Poleis Argos und Messenien gegen Sparta in der zweiten Hälfte der 340er Jahre sowie die politischen Zeitumstände.683 Der Rhetor präsentiert hier die frühen militärischen Ereignisse um Sparta ohne die mythologischen Elemente, die ihnen Legitimation verleihen

681 Dieser Tradition folgten zwei Epen des 3. Jh. mit dem Titel Messeniaka, das eine von Rhianos von Bene (vgl. Rhianos FGrHist 265 F 38–46), das andere von Myron von Priene (vgl. Myron FGrHist 106 F 2). Da der umfangreiche Bericht des Pausanias über die Messenischen Kriege hauptsächlich auf diesen Quellen basiert, besitzt er geringe historische Aussagekraft (vgl. Welwei, Sparta 70 mit Literaturangaben in Anm. 120). Die Annahme, dass auch vor 369 über die Jahrhunderte eine Erinnerung der Messenier an die Kämpfe ihrer Vorfahren existierte, ist nicht abzulehnen (vgl. Shero, TAPhA 69 [1938] 500–531, bes. 502–505; Treves, JHS 64 [1944] 102–106, bes. 103 mit Anm. 4; Thommen, Historia 49 [2000] 40–53, bes. 46). Allerdings ist nicht nachzuweisen, inwieweit solche Erinnerungen Wirkung auf die übrigen Hellenen oder sogar auf das nationale Gedächtnis der Messenier unter spartanischer Herrschaft haben konnten. Eine bessere Möglichkeit zu gemeinsamer Erinnerung könnte für diejenigen Messenier bestehen, die seit dem Zweiten Messenischen Krieg die Peloponnes verlassen hatten. 682 Vgl. Welwei, Sparta 70. 683 Vgl. hier S. 286–287. 207

sollten. Ohne jeglichen Hinweis auf den Herakliden-Mythos stellt er den Einfall der Dorer auf die Peloponnes als ungerechte Einvernahme des Landes von ihren rechtmäßigen Besitzern dar.684 Bezüglich des Verhaltens Spartas nach der Eroberung des lakedaimonischen Landes spricht er vom Verstoß gegen das göttliche Gesetz und gegen die Gerechtigkeit;685 so gelangt er zu dem Ergebnis, dass die Triebkraft für das spartanische Handeln lediglich Besitzgier war.686 Es wird an dieser Stelle deutlich, dass Isokrates zwischen Besitz und Eigentum unterscheidet, indem er nicht jede Eroberung, sondern diejenigen, die aus gerechtem Anlass stattgefunden haben, als Beweis für den rechtmäßigen Besitz von Territorien betrachtet.687 So wird im Panathenaikos die Eroberung Messeniens durch Sparta zudem als ein unrechtmäßiges Vorgehen gegen Stammesverwandten dargestellt.688 Der Vergleich zwischen Athen und Sparta spielt auch hierbei eine entscheidende Rolle. Den Verwüstungen von Poleis wie Melos, Skione und Torone durch die Athener während des Peloponnesischen Krieges stellt Isokrates die Eroberung Messeniens und anderer peloponnesischer Orte durch Sparta gegenüber, damit die Verbrechen Athens als Aktionen geringeren Ausmaßes erscheinen. Offensichtlich nutzt Isokrates im Panathenaikos die nun etablierte Position der öffentlichen Meinung für den Messenischen Staat und gegen Sparta. Der Rhetor vergisst dabei völlig die im Archidamos genannten Argumente für Sparta, nämlich die Bestrafung einer Asebie, die delphische Legitimation und das Siegerrecht zur Eroberung des Landes. Isokrates’ Argumentation ist eindeutig von der unterschiedlichen Art und Zielsetzung der beiden Reden geprägt. Es wird deutlich, dass er den Kresphontes-Mythos in der Archidamosrede nicht aus persönlicher Überzeugung verwendet, sondern als ein notwendiges Argument, damit die alten messenischen Kriege den Aktionen Spartas eine neue Legitimation schaffen; dies zeigte jedenfalls Wirkung, denn die Bestrafung einer Asebie oder die Übereinstimmung der Tat mit dem göttlichen Wille sind Argumente, die nicht überprüft, aber auch nicht leicht bestritten werden konnten. Den Kresphontes-Mythos und das delphische Urteil kann Isokrates jedoch genauso gut ignorieren, wenn er Sparta im Panathenaikos als eine ungerechte Kriege führende Macht zu verurteilen sucht. Er geht sogar – im Gegensatz zum Gedanken über das Siegerrecht im Archidamos – von der Behauptung aus, dass der rechtmäßige Besitz des lakedaimonischen Landes durch Sparta nur eine Illusion war. Die Spartaner hätten nämlich gelernt, dass in der Geschichte das Recht des Stärkeren gelte, und handelten auch so. Infolge dieser Denkweise hätten sie alle Poleis der

684 Vgl. Isokr. 12,177. 685 Vgl. Isokr. 12,182–187. 686 Isokr. 12,188: βλέπουσι γὰρ εἰς οὐδὲν ἄλλο πλὴν ὅπως ὡς πλεῖστα τῶν ἀλλοτρίων κατασχήσουσιν. 687 Chaniotis, Justifying Territorial Claims, in: Harris, The Law and the Courts 185–213, bes. 197. 688 Vgl. Isokr. 12,89ff. auch 46. 70ff. 94. 166. 207. 220. 208

Peloponnes mit Ausnahme von Argos erobert.689 Sogar als Isokrates im Dialogteil des Panathenaikos die gegensätzliche Meinung präsentiert und seinem Schüler einen Bericht in den Mund legt, in dem es um die Rechtfertigung der Kriege Spartas gegen seine Nachbarn geht, lässt er die Argumentation im Archidamos unerwähnt; die frühen Kriege gegen die Messenier hätten lediglich zum Erwerb materiellen Nutzens stattgefunden, was durch die damals schlechte sozioökonomische Lage Spartas begründet werde.690 Durch diesen Gegensatz wird deutlich, dass Isokrates im Archidamos den rechtmäßigen Besitz Messeniens durch Sparta nachzuweisen sucht, nicht weil er grundsätzlich damit einverstanden ist, sondern weil dies zu diesem Zeitpunkt den Interessen Athens diente.

4.3.1.2 Die langjährige Besitzdauer Messeniens und das Urteil Athens und Persiens Neben der historisch-mythologischen Begründung des Anspruchs Spartas auf Messenien weist Isokrates auf die angeblich vierhundertjährige Zugehörigkeit Messeniens zu Sparta hin; das wäre doppelt so viel Zeit wie der Besitz Asiens durch die Perser.691 Beachtenswert ist seine Behauptung, dass nach solch langem Zeitraum sowohl Privatbesitz als auch öffentlicher Besitz als gesichert sowie als angestammtes Recht gelten: ᾿Αλλὰ μὴν οὐδ' ἐκεῖν' ὑμᾶς λέληθεν, ὅτι τὰς κτήσεις καὶ τὰς ἰδίας καὶ τὰς κοινὰς, ἂν ἐπιγένηται πολὺς χρόνος, κυρίας καὶ πατρῴας ἅπαντες εἶναι νομίζουσιν.692

Da Isokrates diese Ansicht auf keine rechtliche Grundlage stützen kann, ist er anscheinend gezwungen, auf populäre Anschauungen zurückzugreifen.693 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass das griechische Zivilrecht grundlegend auch für völkerrechtliche Angelegenheiten war. Obgleich jedoch Eigentumserwerb durch Ersitzung, d. h. durch zeitlich langen Besitz (usucapio), den Rechtsanschauungen der Athener nicht ganz fremd geblieben war, steht fest, dass bloße langfristige

689 Vgl. Isokr. 12,46. Offensichtlich wird hier auch Messenien mit einbezogen. Vgl. dazu Roth, Panathenaikos 111. 690 Vgl. Isokr. 12,253ff. 691 Vgl. Isokr. 6,26ff. Durch den Ersten Messenischen Krieg wurde Spartas Stellung auf der Peloponnes gestärkt, eine komplette Besetzung Messeniens erfolgte aber erst nach dem Zweiten Messenischen Krieg (vgl. Welwei, Sparta 55. 57. 70). In der Tat umfasst die Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Messenischen Krieges und der Gründung Messeniens durch Epameinondas um die 230 Jahre (vgl. Welwei, Sparta 70 mit Quellen- und Literaturangaben in Anm. 121 und 122). 692 Isokr. 6,26. 693 Der Bezug des Isokrates auf populäre Auffassungen hinsichtlich ungeschriebener Normen steht im Einklang mit seiner gesamten Wertordnung, die ohnehin kaum über eine ‚Allerweltsmeinung’ hinausgeht. Vgl. Bleicken, Die athenische Demokratie 459; Alexiou, Ruhm und Ehre 15. 209

Einnahme nicht über den Besitz entscheiden konnte,694 denn zunächst sollte der legitime Anspruch darauf nachgewiesen werden. Insofern war auch die Eroberung eines Gebietes nicht von alleine legitim, es sei denn, diese hatte die Merkmale einer Vergeltung bzw. einer Hilfeleistung für Unrecht Leidende. Die Einnahme des Eigentums eines Unrechttäters und seiner Nachkommen stimmte mit den hellenischen Anschauungen über das Völkerrecht überein.695 Demzufolge verwendet Isokrates das Besitzungs-Argument in seiner Archidamosrede sekundär, und zwar nur nachdem er den rechtmäßigen Anspruch Spartas auf Messenien durch den Neleus-Mythos nach seiner Ansicht überzeugend geklärt hatte. Er kann somit die für seine Argumentation sehr wichtige Position begründen, dass das messenische Gebiet nur als Teil des spartanischen Staates wahrgenommen und behandelt werden dürfe, was in den zwischenstaatlichen Verträgen berücksichtigt werden sollte. Nun kann der Rhetor den propagierten Status Messeniens mit seiner anti­ thebanischen und antipersischen Zielsetzung in Verbindung bringen; den Thebanern wirft er vor, den Persern Asien trotz der relativ kurzen Dauer ihrer dortigen Herrschaft zuzugestehen, aber selbst gegen die Städte Plataia und Thespiai und zusätzlich gegen Spartas Rechte auf Messenien vorzugehen.696 Indirekt wird hierbei zunächst auf die – in der hellenischen Welt und besonders in Athen nicht willkommene – perserfreundliche Einstellung der Thebaner angespielt, zumal der thebanische Gesandte Pelopidas 367 die Bestimmungen eines allgemeinen Friedens mit Artaxerxes herausgearbeitet hatte; von diesem Frieden sollte bekanntlich nur Theben, und zwar im klaren Gegensatz zu Athen und Sparta, profitieren. Als Pelopidas auf der Autonomie Messeniens beharrte, konnte er sich an der Weigerung des spartanischen Königs Agesilaos in den Friedensverhandlungen von Sparta im Jahr 371, die Theben im Namen aller Boiotier unterzeichnen ließ, rächen. Isokrates versucht diese beiden Fälle als nicht vergleichbar zu erklären.697 In dieser Hinsicht 694 Vgl. Is. 10,24; Plat. leg. 12,954c; dazu Lipsius, Das attische Recht II, 676; Biscardi, Αρχαίο ελληνικό δίκαιο 317–320; Todd, The Shape of Athenian Law 247; Troianos/Velissaropoulou-Karakosta, Ιστορία δικαίου 2010. E. Bickermann (Hermes 67 [1932] 47–76, bes. 51) notiert den Gegensatz zum römischen Recht: „Nach dem römischen Immobilienrecht, dem das Völkerrecht nachgebildet wurde, war aber die Usucapio eine natürliche und gangbare Erwerbsart, während nach dem griechischen die Ersitzung keinen Eigentumsanspruch begründete.“ 695 Vgl. Bickermann, Επιστολή Σπευσίππου, in: Iakow, Συκουτρής II, 59–167, bes. 87; Natoli, Speusippus 69 Anm. 201. 696 Vgl. Isokr. 6,27. 697 In den Friedensverhandlungen im Jahr 371 in Sparta hatte Epameinondas auf die Aufforderung des Agesilaos, den boiotischen Städten die Autonomie wiederzugeben, mit der Gegenforderung reagiert, Sparta möge dann auch Lakedaimonien die Autonomie gewähren (vgl. Plut. Ages. 28,1–3; Nep. Ep. 6,4; Paus. 9,13,2). Obwohl Xenophon bewusst diese verbale Auseinandersetzung unterschlägt, ist ihre Historizität nicht umstritten (vgl. Cawkwell, CQ 22 [1972] 254–278, bes. 255; Jehne, Koine Eirene 72 mit Anm. 149; Cartledge, Agesilaos 380). Das Argument des Epameinondas ging allerdings eher von der unumstrittenen Zugehörigkeit 210

hat er insofern Recht, als Messenien von alters her zu Sparta gehörte, während Plataia und Thespiai in der Vergangenheit unabhängige boiotische Poleis gewesen waren.698 Davon ausgehend kann er für beide Fälle einen thebanischen Verstoß gegen die Autonomieklauseln der Eide und Verträge (ἀμφότερα παρὰ τοὺς ὅρκους καὶ τὰς συνθήκας πράττοντες)699 belegen.700 Isokrates wendet sich indirekt auch gegen die Rolle Persiens in diesem allgemeinen Frieden: Der Vertrag würde wahrscheinlich, so wie der Königsfrieden, den Anspruch des Perserkönigs auf ganz Asien, d. h. auch auf die griechischen Poleis Kleinasiens, sichern, obwohl dies durch Xenophon nicht erwähnt wird. Der Vergleich des Besitzes Messeniens und Asiens bezüglich seiner Dauer sollte in die Diskussion über die Friedensklauseln einbezogen werden701 und den Spartanern ein zusätzliches Verhandlungsargument gegenüber Theben und Persien bieten. Es ist hierbei zu beachten, dass der Perserkönig spätestens im Jahr 368 die Ansprüche Spartas auf Messenien anerkannt hatte.702 Nach den Verhandlungen mit Pelopidas 367 hatte er jedoch die thebanische Sichtweise angenommen. Im Archidamos wird weder die frühere Anerkennung Messeniens durch den Perserkönig erwähnt, noch auf persische Hilfe gehofft; im Gegensatz dazu werden Hilfegesuche an die Feinde703 des Perserkönigs gerichtet.704 Die Berichterstattung des Isokrates hatte aber nicht so sehr mit dem Verzicht Spartas auf persische Hilfe, sondern vielmehr mit der grundsätzlich perserfeindlichen Einstellung des Verfassers zu tun.

698

699 700 701 702 703 704

Lakedaimoniens – einschließlich Messeniens – aus, um eine Parallele zu den boiotischen perioikischen Gemeinden zu ziehen (vgl. Luraghi, Messenians 225). Dass Agesilaos trotzdem die Einbeziehung der boiotischen Poleis in den Frieden verlangte (vgl. Jehne, Koine Eirene 73 mit Anm. 156), deutet darauf hin, dass die boiotischen Poleis anders als die lakedaimonischen perioikischen Gemeinden in Hellas wahrgenommen wurden (vgl. Keen, Were the Boeotian poleis autonomoi? In: Hansen/Raaflaub, More Studies in the Ancient Greek Polis 113–125, bes. 115ff.). Thespiai und Plataia, solange seine Einwohner nicht vertrieben waren, gehörten in archaischer und klassischer Zeit zu den unabhängigen boiotischen Poleis. Allerdings büßten sie als Mitglieder des Boiotischen Bundes zwischen 447 und 386 ihre Autonomie ein und erlangten diese nach dem Königsfrieden zurück (vgl. Hansen, Boiotian Poleis – a Taste Case, in: ders., Sources II, 13–63, bes. 16f. 25. 32f. 34ff. 53 Anm. 13, 54 Anm. 21). In Messenien hingegen konnte sich keine unabhängige autonome Polis behaupten. Isokr. 6,27. Es geht um die Autonomie von Plataia, Thespiai und Sparta, nicht Messenien. Die Eide und Verträge können sich sowohl auf den Königsfrieden von 387/6 als auch auf den Frieden von 375 beziehen. Vgl. Zahrnt, RhM 143 (2000) 295–325, bes. 320. 322. Vgl. Xen. hell. 7,1,27. Es geht um den Ägypterkönig und rebellierende kleinasiatische Satrapen. Vgl. Isokr. 6,63. Vgl. Cawkwell, CQ 11 (1961) 80–86, bes. 82f. 211

Als der Rhetor jedoch daraufhin behauptet, dass weder Athen noch der Perserkönig je Spartas rechtmäßige Eroberung Messeniens in Zweifel gezogen hätten,705 bezieht er sich selbstverständlich auf die Zeit vor 367 und stellt ein historisch reales und rhetorisch überzeugendes Argument vor, das auf dem – angeblich objektiven – Urteil anderer Großmächte beruhe. Die Athener waren dadurch besonders angesprochen, da sich ihre Vorfahren zur Niederschlagung des messenischen Aufstandes nach 464 für die Entsendung eines athenischen Hilfskorps unter Kimon an Sparta entschieden hatten.706 Im Panegyrikos von 380 hatte Isokrates auf die athenische Wohltat für die Herakliden hingewiesen, wodurch diese auf die Peloponnes zurückkehren und Argos, Lakedaimonien und Messenien erobern konnten.707

4.3.1.3 Die Heloten Isokrates setzt im Archidamos seinen Versuch fort, den Anspruch Spartas auf Messenien nachdrücklich zu untermauern, und verwendet ein merkwürdiges Urteil in Bezug auf die Neubesiedlung Messeniens im 4. Jh. Er behauptet, selbst wenn die Thebaner die ‚wahren Messenier‘ (οἱ ὡς ἀληθῶς Μεσσήνιοι) – und nicht die derzeitigen Heloten, was jetzt der Fall sei – zurückgeführt hätten, täten sie Unrecht.708 Hierbei soll zunächst darauf hingewiesen werden, dass kein klares Bild über die Einwohner des neuen messenischen Staates zu rekonstruieren ist.709 Es ist allerdings anzunehmen, dass zumindest ein kleiner Teil davon Heloten altmessenischer Abstammung waren.710 Isokrates präsentiert hier die spartanische Version, wonach die Messenier – sogar die revoltierenden Heloten des 5. Jh. – nicht als ethnische Gruppe anerkannt waren, obwohl diese durchaus existiert hatte.711 Die Spartaner beabsichtigten dadurch, jedem Anspruch der Heloten auf das alte messenische Gebiet vorzubeugen. Auch die Thebaner stimmten der These zu, dass die messenischen Heloten zur Zeit der Invasionen des Epameinondas nicht die ‚ursprünglichen Messenier‘ waren. Anders aber als die Spartaner behaupteten sie, diesmal die wahren Messenier aus dem Exil in ihre Heimat zurückgeführt zu haben. Die Thebaner präsentierten sich selbst 705 Vgl. Isokr. 6,30. 706 Die damaligen Spannungen zwischen Athen und Sparta und die Zurücksendung des Hilfskorps durch die Spartaner (vgl. Thuk. 1,102) spielen bezüglich der Grundeinstellung der Athener für Spartas Anspruch auf Messenien keine Rolle. 707 Vgl. Isokr. 4,60ff. Zur gegensätzlichen Auffassung des Isokrates über Messenien vgl. Kap. IV. 7.1.2.2 (hier S. 285–288). 708 Vgl. Isokr. 6,28. Isokrates spricht demzufolge im weiteren Verlauf der Rede nicht über ‚Messenier‘, sondern über εἵλωτες (vgl. Isokr. 6,28) oder οἰκέται (vgl. Isokr. 6,87. 96); vgl. dazu Whitby, Two Shadows: Images of Spartans and Helots, in: Hodkinson/Powell, The Shadow of Sparta 87–126, bes. 94. 709 Zur komplexen und einander widersprüchlichen Quellenlage mit einer ausführlichen Diskussion dazu vgl. Luraghi, Messenians 100–106. 219–230. 710 Vgl. Luraghi, Messenians 223f. 227. 711 Thukydides nach waren die meisten Heloten altmessenischer Abstammung. Vgl. Thuk. 1,101,3; dazu Luraghi, Messenians 202. 227. 212

demnach als Erneuerer eines alten unabhängigen Staates, nicht aber als Befreier der Heloten. Offensichtlich verfolgten sowohl die Spartaner als auch die Thebaner mit ihrer jeweiligen Version ihre eigenen politischen Ziele.712 Es stellt sich jedoch die Frage, weshalb laut Isokrates sogar die ‚ursprünglichen Messenier‘ kein Anrecht auf Messenien hätten. Wenn die Auffassungen des Rhetors im Panegyrikos über die Autochthonie der Athener Gültigkeit behalten sollten,713 musste das messenische Land den ὡς ἀληθῶς Μεσσήνιοι aufgrund angestammten Rechtes gehören. Die dortige Auffassung des Rhetors über das unbestreitbare Recht der Autochthonen scheint er hier nicht berücksichtigen zu wollen. Wenn allerdings in jener Rede offensichtlich die Athener mit dem Terminus Autochthonen gemeint sind, werden in der Rede des Archidamos die ‚ursprünglichen Messenier‘ nicht ausdrücklich als solche bezeichnet, denn eine Stellungnahme gegen das Recht der Eingeborenen hätte keineswegs überzeugend gewirkt. Die athenischen Adressaten dieser Schrift verstanden sich selbst als Autochthone, wovon sie die unbestreitbaren Rechte auf Attika ableiten konnten. Gerade deswegen vermeidet der Rhetor den Begriff αὐτόχθονες in Bezug auf die alten Messenier. Hier wird deutlich, dass Isokrates in einer Zwickmühle steckt, hatte er doch bereits mit seiner historischmythologischen Begründung des Besitzes Messeniens zugunsten Spartas sowie mit seinem Hinweis auf die lange Besitzdauer Messeniens durch Sparta zugleich den Anspruch der ‚ursprünglichen Messenier’ auf ihr Land bestritten. Es stellt sich trotzdem weiterhin die Frage, ob Isokrates der Meinung ist, dass der langjährige Besitz Messeniens durch Sparta ein neues Recht schafft, das sich im Gegensatz zum alten der Ureinwohner Messeniens befindet und dieses letztendlich in seiner Funktion als Legitimationsgrundlage ablöst. Der Publizist kaschiert diese – rechtlich nicht annehmbare – Auffassung, damit er sein Ziel der Beeinflussung der athenischen Außenpolitik gegen Theben und für Sparta zu diesem Zeitpunkt erreicht. Er ist sich aber durchaus der geringen Überzeugungskraft seiner Ansicht bewusst; deshalb versucht er mit der beeindruckenden Dauer des Besitzes Messeniens durch Sparta und mit dem Argument, dass es sich bei den Bewohnern ohnehin um Heloten nicht messenischer Abstammung handelt, Wirkung zu erzielen. Er betont, dass die frei gewordenen Heloten nicht als Besitzer lakedaimonischen Landes anerkannt werden dürften.714 Dadurch versucht er die messenische Frage zu einem Konflikt zwischen Herrschern und Untertanen zu stilisieren und Nutzen aus der Mehrheitsanschauung in Hellas über die Sklaven zu ziehen; die Befreiung von Sklaven durch Epameinondas könnte nämlich künftig auch in anderen hellenischen Poleis Umstürze bewirken.715 712 Vgl. Luraghi, Messenians 101. 224f. 713 Vgl. Isokr. 4,63; 68; zur Bedeutung der Autochthonie der Athener für das isokrateische Denken vgl. Orth, Autochthonie und “Ostkolonisation”. Zum politischen Konzept des Isokrates, in: Olshausen/Sonnabend, “Troianer sind wir gewesen” – Migrationen in der antiken Welt 90–97, bes. 90ff. 714 Vgl. Isokr. 6,28. 87f. 715 Vgl. Luraghi, Messenians 223 mit Anm. 48. 213

Besonderes Augenmerk hätte hierbei die verlorene Messenische Rede des zeitgenössischen Rhetoriklehrers Alkidamas aus dem kleinasiatischen Elaia verdient. Diese muss ebenfalls in den 360er Jahren verfasst und als Broschüre veröffentlicht worden sein,716 wohl als Antwort auf Isokrates’ Archidamos und als Vertreter der Stimmen in Athen, die sich für die Unabhängigkeit Messeniens und gleichzeitig für die Schwächung Spartas einsetzten.717 Alkidamas war als Verteidiger der Improvisation in Reden bekennender Gegner der isokrateischen Praxis, Reden schriftlich auszuarbeiten und genau auszufeilen.718 Durch seine Messenische Rede widersetzt er sich Isokrates hier in Bezug auf das aktuelle politische Thema; er nimmt für die Befreiung der Messenier und gegen Sparta Stellung. Die Rede richtet sich fiktiv an die Lakedaimonier719 und ist ein Plädoyer für die Beendigung des Krieges und die Wiedergutmachung durch Frieden.720 Obwohl der genaue Inhalt der Rede und folglich auch die Argumentation des Alkidamas für die Unabhängigkeit Messeniens nicht bekannt sind, geht aus einem erhaltenen Fragment hervor, dass er die Aufforderung zur Befreiung der Messenier auf das allgemeine Naturrecht stützt, wonach der Gott alle Menschen frei geschaffen und die Natur keinen zum Sklaven bestimmt habe.721 Er knüpft somit an Gedanken der sophistischen Bewegung des 5. Jh. an,722 vertritt aber mit dieser Ansicht keineswegs die Mehrheit der Athener seiner Zeit. Die hauptsächlich existierende sklavenfeindliche Gesinnung wurde durch Isokrates vertreten, der jedoch nichts zur These des Alkidamas über das Naturrecht der Heloten auf Freiheit beiträgt, sodass von einer früheren Veröffentlichung des Archidamos auszugehen ist.723

716 Vgl. Keil, Analecta Isocratea 6. 717 Ed. Meyer (GdA V, 437f.) behauptet, dass man sich von beiden Seiten, d. h. der Spartaner und Messenier bzw. Thebaner, jeweils an Isokrates und Alkidamas, also an die angesehensten Publizisten der Zeit, wandte, um die Ansprüche vor dem großen Publikum zu rechtfertigen. Dies ist aber schwer denkbar. Eher ist anzunehmen, dass beide gegensätzliche Stimmen in Athen vertraten. 718 Vgl. Bons, Mnemosyne 46 (1993) 160–171, bes. 162; Eucken, Isokrates 120–130. 719 Vgl. Blass, Beredsamkeit II, 350. 720 Aristoteles (rhet. 1397a 13f.) führt dazu ein Fragment der Messenischen Rede an: εἰ γὰρ ὁ πόλεμος αἴτιος τῶν παρόντων κακῶν, μετὰ τῆς εἰρήνης δεῖ ἐπανορθώσασθαι. 721 Schol. Aristot. rhet. 1373b 18: ἐλευθέρους ἀφῆκε πάντας θεός, οὐδένα δοῦλον ἡ φύσις πεποίηκεν. Ob es sich hierbei durch die Verwendung des Terminus πάντας um ‚alle Menschen’ oder lediglich um ‚alle Hellenen’ handelt, ist fraglich, aber die erste Interpretation ist die wahrscheinlichste (vgl. Merlan, CPh 45 [1950] 161–166, bes. 164; Guthrie, The Sophists 159). Jedenfalls ist der Satz in Bezug auf die Messenier gültig. 722 Antiphon und Hippias sind hierbei zu erwähnen. Vgl. hier S. 137 Anm. 249. 723 Trotzdem ist diese Einschätzung nur mit Vorbehalt anzunehmen, denn von der Messenischen Rede des Alkidamas ist uns bis auf zwei Sätze nichts erhalten. 214

Es ist festzuhalten, dass Isokrates sein Ziel weitgehend erreicht, den Krieg Spartas für Messenien als reinen Verteidigungskrieg darzustellen. Auch wenn einige seiner Argumente anfechtbar erscheinen, weiß der Rhetor die hellenische communis opinio in Bezug auf die unterschiedlichen Aspekte von Krieg und Frieden für seine Zwecke zu nutzen.724 Dies ist sein Weg, eine Antwort auf die Vorwürfe der Thebaner, Sparta habe aus Gewinnsucht (πλεονεξία) und Habgier nach fremdem Besitz (τῶν ἀλλοτρίων ἐπιθυμία) Krieg geführt, zu finden.725

4.3.2 Das δίκαιον und das συμφέρον Der anonyme antike Autor der Hypothesis des Archidamos rückt das συμφέρον in den Vordergrund der isokrateischen Rede.726 Isokrates wäre mit diesem Urteil nicht ganz einverstanden, da zum einen die Hauptmotive des δίκαιον, δυνατόν und πρέπον zumindest gleichstark vertreten sind, während in seinem Denken δίκαιον und συμφέρον untrennbar sind. Der Rhetor stellt den Standpunkt derjenigen dar, die den Krieg um Messenien verhindern wollten. Demnach sollte man sich den Umständen anpassen und angesichts der gegenwärtigen Lage nicht das Gerechte, d. h. den Krieg, sondern das Nützliche, d. h. den Friedenschluss, anstreben.727 Ohne von einem Wertabsolutismus des δίκαιον auszugehen,728 versucht Isokrates durch eine an die Sophistik des 5. Jh. anknüpfende Dialektik, den Vorrang des Gerechten zu beweisen. Er vertritt die Auffassung, dass gerade das δίκαιον das wahrhaftig Zweckdienlichere (προὐργιαίτερον)729 ist,730 was wiederum im Zusammenhang mit seiner Grundeinstellung zu sehen ist, wonach das δίκαιον als das ‚Zukommende‘ nie unvorteilhaft sein kann, weil es der Natur der Dinge entspricht.731 In diesem Sinne erläutert der isokrateische Archidamos in § 36 die Bedeutung des Gerechten in Bezug auf die Gesetze, die Lebens- und Staatsführung und behauptet 724 Der erste Teil der Beweisführung zur Rechtfertigung des Krieges um Messenien endet mit einer Zusammenfassung der Argumente für den rechtmäßigen Besitz Messeniens durch Sparta. Isokrates spricht über die Erhaltung Messeniens durch dessen rechtmäßige Besitzer (πρῶτον μὲν παρὰ τῶν κυρίων τὴν χώραν λαβόντες), die göttliche Legitimation, das Recht des Siegers, den langen Zeitraum des Besitzens Messeniens (τὸ πλῆθος τοῦ χρόνου) und das Urteil der Feinde Spartas (ἡ τῶν ἐχθρῶν κρίσις). Vgl. Isokr. 6,32. 725 Vgl. Isokr. 6,33. 726 Vgl. den Schlusssatz der Hypothesis in Schol. Isokr. hypoth. or. 6 (Dind.). 727 Vgl. Isokr. 6,34. 728 Vgl. Mikkola, Isokrates 157. 729 Προὐργιαίτερον, Komparativ von προὔργου kann als ‚vorkommend‘, ‚förderlicher‘, ‚zweckdienlicher‘, ‚nützlicher‘, ‚wichtiger‘ übersetzt werden (vgl. Passow II.1 s. v. προὔργου 1249; auch LSJ s. v. προὔργου 1538. E. Wolf (Rechtsdenken III.2, 272) zog ‚das Dienlichere‘ vor. 730 Vgl. Isokr. 6,35. 731 Vgl. Wolf, Rechtsdenken III.2, 272. 215

dabei, dass alle Kriege in der Vergangenheit nicht von den jeweiligen Machtverhältnissen, sondern von der Gerechtigkeit der Sache entschieden wurden: ἔτι δὲ τοὺς πολέμους τοὺς προγεγενημένους οὐ κατὰ τὰς δυνάμεις, ἀλλὰ κατὰ τὸ δίκαιον τὸ τέλος ἅπαντας εἰληφότας […].732

Diese Auffassung erscheint ohne Zusatz zunächst als pure rhetorische Übertreibung. Isokrates führt allerdings im Verlauf der Rede Beispiele an, in denen nicht der Mächtigere, sondern der Gerechtere und zum Widerstand Willige im Krieg siegte.733 Der Gedanke wurde bereits im Plataikos nach dem Schema πόλεμος δίκαιος – δόξα – σύμμαχοι – κρατεῖν ἐν τοῖς πολέμοις präsentiert.734 Der isokrateische Archidamos rückt ohnehin den guten Ruf in den Mittelpunkt, den der Kampf um die gerechte Sache verleiht und der zur Anwerbung von Bundesgenossen führt, sodass der Krieg siegreich zu Ende gehen wird.735 Isokrates setzt seine Gedanken über die Verbindung des δίκαιον mit dem συμφέρον fort, indem er den Kriegsgegnern736 antwortet, dass alle über die Berechtigung des messenischen Krieges gleicher Meinung seien, dagegen gingen die Meinungen bezüglich des Nutzens des Friedensschlusses auseinander. Es sei demzufolge unsinnig, anstatt einer von allen anerkannten Sache etwas Unsicheres zu wählen.737 Daraus ergibt sich, dass das Gerechte in der gegebenen Situation aller Wahrscheinlichkeit nach auch das Nützlichste sei. Dies steht im Einklang mit der Grundauffassung des Rhetors, dass das συμφέρον ohnehin keinen Gegensatz, sondern eine Ergänzung oder Variante des Terminus δίκαιον bildet. Für Isokrates sind Recht, Macht und Nutzen die drei Grundwerte des sozialen Gefüges, wobei es die Aufgabe des politischen Denkers sei, diese drei in ein rechtes Verhältnis zueinander zu bringen.738 Isokrates kommt nun zur realpolitischen Situation zurück, in der sein Denken Anwendung finden soll. Er behauptet, dass bei der Verteidigung des Rechten bessere Möglichkeiten zum Sieg bestünden und hingegen die Preisgabe Messeniens weder gerecht noch nützlich sei.739 Dabei vertritt er eine in der modernen Diplomatie als Grundsatz geltende Auffassung: Nachgiebigkeit führt zur schlechteren 732 733 734 735 736

Isokr. 6,36. Vgl. Isokr. 6,41–47. Vgl. dazu nächstes Kapitel. Vgl. Isokr. 14,39–45 und Kap. IV. 3.3.3.1.c (hier S. 184–186). Dies durchdringt die ganze Rede und wird u. a. in § 59 deutlich. Das sind einige peloponnesische Bundesgenossen Spartas und einige Spartaner selbst, die sich unter nüchterner Betrachtung der machtpolitischen Verhältnisse für den Frieden und die Preisgabe von Messenien einsetzten. 737 Vgl. Isokr. 6,37; Mikkola, Isokrates 156. 738 Vgl. Wolf, Rechtsdenken III.2, 288. 739 Isokr. 6,38: […] ὑπὲρ δὲ τῶν δικαίων κινδυνεύοντας ἐλπίζειν ἄμεινον ἀγωνιεῖσθαι τῶν ἐχθρῶν, ἐν δὲ τοῖς τούτων ἀφεστάναι μὲν ἤδη Μεσσήνης, προεξαμαρτόντας δὲ τοῦτ‘ εἰς ὑμᾶς αὐτοὺς σχεδὸν καὶ τοῦ συμφέροντος καὶ τοῦ δικαίου καὶ τῶν ἄλλων ἁπάντων ὧν προσδοκᾶτε διαμαρτεῖν. 216

Ausgangsposition in Verhandlungen. Der Kampf für das δίκαιον werde in den Friedensverhandlungen Vorteile bringen; im Gegensatz dazu würden die Spartaner schlechtere Friedenskonditionen erhalten, wenn sie die von den Thebanern erteilten Befehle sofort ausführten. Denn wer zum Krieg bereit sei, erhalte einen Frieden zu besseren Bestimmungen als der, der allzu willig zustimme.740 Weil Isokrates kein Politiker war und anscheinend keine diplomatische Erfahrung hatte, wurde er häufig in der Forschung als realitätsfremd denkender ‚Stubenhocker‘ beurteilt. Dabei erweist sich die Klarheit des Denkens bei Isokrates als das eines Politikers schlechthin, indem er die Macht der Forderung nach dem Argument der Gerechtigkeit als Druckmittel bei politischen Verhandlungen erkennt. Aus dem Archidamos geht zusätzlich hervor, dass trotz der nachdrücklichen Aufforderung zum Krieg eine politische Lösung des Messenien-Konflikts nicht abgelehnt wird.

4.3.3 Das δυνατόν, πρέπον und καλόν des Krieges Das wichtigste Argument derjenigen, die einem Friedensbeitritt zustimmten, waren die schlechten Aussichten Spartas auf einen siegreichen Krieg. Dies war vermutlich in Sparta selbst der einzige umstrittene Punkt, denn besonders nach der katastrophalen Niederlage bei Leuktra hatte sich das alte Problem der ὀλιγανθρωπία zugespitzt und stellte eine besonders schwerwiegende Gefahr sogar für die Existenz der Polis dar.741 Der Bedarf nach Bundesgenossen und vorsichtigem Vorgehen gegenüber Theben bestand nun mehr denn je. Isokrates widmet dem Ziel, von der Durchführbarkeit und Notwendigkeit des Krieges zu überzeugen, einen großen Teil der Rede. Während sich die Beweisführung über die Rechtmäßigkeit des Besitzes Messeniens auf die Athener und andere Hellenen, die eventuell daran zweifelten, bezog, ist die Argumentation hinsichtlich des δυνατόν und πρέπον vorranging an spartanische Adressaten und sekundär an ihre potentiellen Bundesgenossen gerichtet. Der Rhetor stellt zunächst das δίκαιον mit dem δυνατόν zusammen, indem er die Durchführbarkeit mit dem bereits erwähnten Argument, dass die Entscheidung im Krieg nicht von den militärischen Kräften, sondern vom Recht abhänge (§ 36), verbindet. Dazu spricht er von bereits erzielten Siegen Schwächerer gegenüber Stärkeren.742 740 Isokr. 6,39: […] ὥστε συμβαίνειν βελτίονος εἰρήνης τυγχάνειν τοὺς πολεμικῶς διακειμένους τῶν ῥᾳδίως τὰς ὁμολογίας ποιουμένων. 741 Die Oliganthropia, also den Menschenmangel, hält Aristoteles für eine der wichtigsten Ursachen des Niedergangs Spartas (vgl. Aristot. pol. 1270a 30–34; vgl. dazu Herrmann-Otto, Historia 47 [1998] 18–40, bes. 29–32). Besonders die Oligandria als Mangel an spartanischen Vollbürgern nahm nach der Schlacht bei Leuktra, in der von 700 Spartanern 400 zu Tode kamen, enorm zu (vgl. Xen. hell. 6,4,15). Nunmehr dürfte die Vollbürgerzahl 1100 nicht überschritten haben (vgl. Welwei, Sparta 310f.). 742 Vgl. Isokr. 6,40. Ein Argument, dass Isokrates selbst als das einfachste (ἁπλούστατον) bezeichnet, seine Wirkung aber offensichtlich schätzt. 217

Er beginnt mit einem indirekten Hinweis auf die Niederlage der Athener im Peloponnesischen Krieg, die er ihrem schlechten Ruf als Hegemon der Hellenen zuschreibt.743 Eine derartige Kritik an der athenischen Arché macht Eindruck, ist aber auch durch Ziel und Form der Rede zu erklären. Weiterhin verwendet er im Gegensatz dazu die in der athenischen Rhetorik üblichen Topoi über die Kämpfe der Vorfahren; er erwähnt die gerechten – mythischen – Kriege gegen die Amazonen und die Streitmacht des Eurystheus, die Athens guten Ruf in Hellas begründet hätten. Zudem verweist er auf die Kämpfe um die Freiheit gegen die übermächtigen Perserkönige im 5. Jh.744 Es geht hierbei um weit zurückliegende Ereignisse in der athenischen Traditionsgeschichte, die zwar Bestandteil fast jeder epideiktischen attischen Rede waren, aber dennoch gegenüber einem spartanischen Auditorium wenig Überzeugungskraft besitzen. Dabei greift Isokrates auf bekannte Ereignisse der nahen Vergangenheit zurück, die – ihrer Aktualität wegen – eindringlicher wahrgenommen werden konnten. Es handelt sich um außerathenische Kämpfe, wie den des Tyrannen von Syrakus Dionysios I. gegen die Karthager745 und des Königs von Makedonien Amyntas III. gegen den Chalkidischen Bund zur Wiedereroberung seiner Staatsgebiete746. Beide Kriege galten in der griechischen Öffentlichkeit als gerechtfertigt; der erste als Krieg zwischen Hellenen und Barbaren, der zweite

743 Vgl. Isokr. 6,42; Im Panegyrikos hatte Isokrates auf schlechte Seiten der athenischen Machtausübung während der attischen Arché hingewiesen, diese aber weitgehend gerechtfertigt (vgl. Isokr. 4,100–109). 744 Vgl. Isokr. 6,42f.; Zu den mythischen Kriegen Athens vgl. Isokr. 4,54–60. 66–70. Zur Übersicht des Aufkommens dieser Topoi in attischen epideiktischen Reden vgl. Buchner, Panegyrikos 65. Zu den Verdiensten Athens in den Perserkriegen des 5. Jh. vgl. Isokr. 4,71–78. 745 Vgl. Isokr. 6,44f. Dionysios I. machte zu seinem Lebenswerk den Krieg gegen die Karthager in Sizilien. Obwohl er dabei eher seine eigene Stellung in Sizilien zu stärken suchte, nutzte er die unter einem Teil der griechischen Bevölkerung der Insel herrschende Unzufriedenheit wegen der drückenden karthagischen Übermacht (vgl. Huß, Geschichte der Karthager 125). Als er 398 in den Krieg gegen die Karthager zog, sprach er von der Befreiung griechischer Poleis, die sich unter barbarischer Besatzung befanden; Diod. 14,45,4: ἅμα δὲ συνίστα δεινὸν εἶναι περιορᾶν τὰς ῾Ελληνίδας πόλεις ὑπὸ βαρβάρων καταδεδουλωμένας, ἃς ἐπὶ τοσοῦτον συνεπιλήψεσθαι τῶν κινδύνων, ἐφ‘ ὅσον τῆς ἐλευθερίας τυχεῖν ἐπιθυμοῦσιν. Während seiner Herrschaft fanden vier Kriege gegen Karthago statt, der letzte davon im Jahr 368/7. 746 Vgl. Isokr. 6,46. Amyntas III. hatte in den 390er Jahren einen Teil des makedonischen Ostens dem Chalkidischen Bund übergeben. Im Jahr 383 verlangte er das anvertraute Land zurück. Als ihm dies verweigert wurde, griff er zusammen mit Sparta den Bund an und dehnte sein Gebiet auf Kosten von Olynthos aus. Nach 377 trat er dem Zweiten Attischen Seebund bei und unterstützte in einem hellenischen Kongress – entweder im Sommer 371 oder im Herbst 375 – in Sparta Athens Anrecht auf den Besitz von Amphipolis (vgl. Aischin. 2,32f.). Er starb im Jahr 370. Vgl. Badian, DNP 1 (1996) s. v. Amyntas [3] 636. Zur Festsetzung des hellenischen 218

als Verteidigungskrieg zur Rückgabe vaterländischen Territoriums. Der Krieg des in der hellenischen Welt weitgehend isolierten Makedonenkönigs Amyntas wäre unter anderen Umständen nur wenig erwähnenswert,747 nun aber hat er eine Vorbildfunktion in Bezug auf die Zurückeroberung Messeniens durch Sparta. Darüber hinaus ist hierbei zu bemerken, dass beide, Dionysios und Amyntas, in den letzten Jahren sowohl zu Sparta als auch zu Athen gute Beziehungen pflegten und somit eine gewisse Popularität in beiden Poleis genossen.748 Besonderen Eindruck macht die Tatsache, dass der Ausgang der Schlacht bei Leuktra 371 als ein Ergebnis des Widerstandes der Thebaner beurteilt wird, die angesichts der spartanischen Invasionen in Boiotien ihre offenkundige militärische Inferiorität ignorierten und die Schlacht gewannen.749 Dass dies gerade nach den Kriegen von Dionysios und Amyntas erwähnt wird, deutet darauf hin, dass Isokrates dabei das Unrecht auf Seiten der Spartaner sieht. Dies wird aber nur verdeckt dargestellt und kann sogar von einem voreingenommen Hörer der Rede geleugnet werden, denn es ist keineswegs zu einer Kriegsrede des spartanischen Thronfolgers gegen Theben passend, wenn er auch nur indirekt vom Unrecht seiner Polis in der schwersten Niederlage der spartanischen Geschichte spricht.750 Demzufolge wird das Motiv des Verteidigungskrieges in den Mittelpunkt gerückt. Isokrates beabsichtigt lediglich eine Parallele zu den thebanischen Invasionen auf die Peloponnes zu ziehen und weniger Theben als gerecht handelnde und starke Militärmacht zu stilisieren: Zum einen hatte er bereits in derselben Rede die Niederlage bei Leuktra lediglich einem strategischen Fehler des spartanischen Königs

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Kongresses, an dem Amyntas teilnahm, vgl. Zahrnt, Hermes 134 (2006) 127–141, bes. 133f. mit Anm. 20 und 21. Anders hält M. Zahrnt (Hermes 134 [2006] 127–141, bes. 133) die Hinweise des Isokrates auf Amyntas im Panegyrikos (vgl. Isokr. 4,126) und Archidamos (vgl. Isokr. 6,46) für Belege, dass der Makedonenkönig keine unbedeutende Rolle in der griechischen Welt spielte. Zu Dionysios vgl. hier S. 195. Besonders die frühere Unterstützung des Amyntas für den Anspruch Athens auf Amphipolis war in Anbetracht des PelopidasFriedens von 367, in dem die Autonomie von Amphipolis anerkannt wurde, von besonderer Bedeutung für Athen. Vgl. Isokr. 6,47. Isokrates betrachtet die Niederlage bei Leuktra als die unausweichliche Folge der Gewaltpolitik Spartas in den Jahrzehnten seiner Arché. Etwa elf Jahre später, in seiner Friedensrede von 355, geht er auf das ungerechte Handeln der Spartaner und deren Angriffe gegen peloponnesische Poleis (Elis, Korinth, Mantineia, Phleius) ein, womit sie die Niederlage bei Leuktra vorbereitet hätten (vgl. Isokr. 8,99f.). Im etwa zwei Jahre vor der Friedensrede verfassten Areopagitikos machte er den übermäßigen Hochmut der Spartaner während ihrer Vorherrschaft in Hellas für ihr Schicksal verantwortlich, ohne aber Leuktra namentlich zu erwähnen (vgl. Isokr. 7,7). Für Isokrates steht also bezüglich Leuktra auch im Archidamos das Unrecht machtpolitischer spartanischer Entscheidung, nicht das Recht Thebens im Mittelpunkt. 219

und Oberbefehlshabers Kleombrotos I. zugeschrieben,751 zum anderen seien die Forderungen der Thebaner nach Leuktra alles andere als gerecht gewesen.752 Während die erwähnten Beispiele von Siegen Schwächerer gegenüber Stärkeren zeugen sollen, weist Archidamos darauf hin, dass die Spartaner nicht wirklich schwach seien, denn sie verfügten über zwei äußerst wichtige Vorteile: πολιτεία χρηστή und überragende περὶ τὸν πόλεμον ἐμπειρίαι.753 Die Verfassung Spartas wurde in Hellas bereits im 5. Jh. für ihre Stabilität und Effektivität bewundert,754 und Isokrates erklärt im Archidamos den Nutzen, den Sparta aus seiner guten Verfassung ziehen konnte: Die ganze Polis sei wie ein Heerlager eingerichtet, sodass sie unabhängig von ihrer Größe und Bevölkerungszahl den anderen Griechen überlegen sein konnte.755 Auf der anderen Seite lobt er die berühmte spartanische Kriegstüchtigkeit,756 indem er von den Erfahrungen der Spartaner im Krieg spricht. Er greift auf den seit langem etablierten legendären Ruf des Militärstaates Sparta zurück757 und verkennt dabei die spätestens seit Leuktra offensichtliche Veränderung in der Effektivität der spartanischen Verfassung und Kriegstechnik. Dies haben selbst die Spartaner nicht rechtzeitig wahrgenommen und blieben lange reformunwillig, was ihren Niedergang beschleunigte.758 Für Isokrates’ Argumentation in Bezug auf das δυνατόν ist es allerdings grundlegend, die Niederlage bei Leuktra vom

751 Vgl. Isokr. 6,9. Obwohl diese Begründung der Niederlage als vereinfacht und leichtfertig erscheint, war tatsächlich die militärische Taktik des Kleombrotos gegenüber Epameinondas’ Genie die eigentliche Ursache der schweren Niederlage in Sparta (vgl. Cawkwell, CQ 33 [1983] 385–400, bes. 397–399). 752 Der Rhetor bezieht sich auf die Forderungen nach Leuktra in Bezug auf Messenien und bezeichnet diese als ein Ergebnis der Arroganz der Thebaner (Θηβαίων ἀλαζονεία); vgl. Isokr. 6,10. Kritik an dem Vorgehen Thebens nach der Schlacht bei Leuktra übt Isokrates auch in der Friedensrede und im Philippos (vgl. Isokr. 8,58; 5,53ff.) 753 Vgl. Isokr. 6,48. 754 Vgl. Thommen, Lakedaimonion Politeia 23–32; Aristoteles folgt einer bereits bestehenden Tradition und wählt in seinem zweiten Buch der Politika die spartanische Verfassung – neben der von Kreta und Karthago – als eine der drei besten bestehenden Verfassungen zu seinen Überlegungen zum Idealstaat (vgl. dazu Aristot. pol. 1260b 27–33); dabei übt er eine systematische Spartakritik im neunten Kapitel des zweiten Buches. Isokrates nach bestand im politischen System Spartas die am meisten vollendete Demokratie und Gleichheit (vgl. Isokr. 7,61). 755 Vgl. Isokr. 6,81; ähnlich beschreibt Platon in seinem Werk Nomoi Sparta als Feldlager (vgl. Plat. leg. 2,666e). Zum Zusammenhang von Größe und Bevölkerung Spartas notiert K. J. Beloch (GG III.1, 172): „Denn Sparta war allerdings der größte unter allen griechischen Staaten; aber an Zahl der Bürger stand es selbst hinter einem Kleinstaat wie Phleius zurück (…).“ 756 Xenophon nach beherrschen nur die Spartaner die Kriegstechnik. Vgl. Xen. Lak. pol. 13,5. 757 Vgl. dazu Herrmann-Otto, Historia 47 (1998) 18–40, bes. 18ff. 758 Vgl. Cawkwell, CQ 33 (1983) 385–400, bes. 397–400. 220

spartanischen Potential zur Kriegführung zu trennen. Er weist auf die spartanische Verfassung, Lebensweise und Bereitschaft, im Krieg bis zum Tod zu kämpfen, hin,759 um den Vorsprung Spartas vor seinen Feinden zu zeigen. Im bevorstehenden Krieg seien Fehler der Feinde zu erwarten, gerade weil sie wegen ihrer Maßlosigkeit zu falschen Entscheidungen in Bezug auf die Bündnispolitik und Kriegführung gelangen werden.760 Die Gefahr, dass sich die Hellenen einigen und gegen Sparta wenden würden, bestand demnach nicht. Die neu entstehenden Symmachien sind ein neuralgischer Punkt bezüglich des Kriegsbeschlusses. Isokrates setzt sich als Ziel, denjenigen zu antworten, die auf die Schwäche Spartas und die Stärke des Feindes hinwiesen und zudem daran zweifelten, dass Sparta auf eine Hilfeleistung (βοήθεια) mächtiger Bündner hoffen konnte.761 Er behauptet ähnlich wie im Plataikos762, dass die Symmachieschlüsse von dem gerechten Handeln abhängig seien: ᾿Εγὼ δὲ μεγίστην ἡγοῦμαι συμμαχίαν εἶναι καὶ βεβαιοτάτην τὸ τὰ δίκαια πράττειν εἰκὸς γὰρ καὶ τὴν τῶν θεῶν εὔνοιαν γενέσθαι μετὰ τούτων […].763

In seiner Beweisführung ist die Ansicht neu, dass das gerechte Handeln das Wohlwollen der Götter (τῶν θεῶν εὔνοια) nach sich ziehe. Dies erwähnt der Rhetor jedoch nur ergänzend, da er in der Tat die menschliche Reaktion in der Form des Vertrauens gegenüber einer gerecht handelnden Macht hervorheben will.764 Hiermit wird der schwierige Versuch unternommen, eine Distanzierung von den gewaltpolitischen Aktionen Spartas zwischen 404–371 aufzuweisen und ein Umorientieren nach der Schlacht bei Leuktra zu manifestieren. Dies kann ein Grund dafür gewesen sein, dass die Rede dem Thronfolger Archidamos in den Mund gelegt wird, sodass nunmehr das Bild eines neuen Sparta entsteht. Die Auswahl der von Sparta erhofften Bundesgenossen ist nicht unbegründet. Athen, der Tyrann von Syrakus Dionysios II., der Ägypterkönig und asiatische Satrapen sollten Sparta unterstützen.765 Die Hilfeleistung Athens für Sparta ist eines der Hauptziele der Rede und steht im Einklang mit der athenischen Politik gegen Thebens Machterweiterung nach Leuktra. Athen hatte durchaus Interesse, für die σωτηρία Spartas zu kämpfen und wollte dies aufgrund der seit 369 bestehenden Symmachie weiterführen.766 Ferner war der Tyrann von Syrakus Dionysios II. daran 759 Isokr. 6,59: […] τὸ καλῶς πολιτεύεσθαι καὶ σωφρόνως ζῆν καὶ μέχρι θανάτου μάχεσθαι τοῖς πολεμίοις ἐθέλειν […]. 760 Vgl. Isokr. 6,60f. 72. 761 Vgl. Isokr. 6,58. 762 Vgl. Isokr. 14,39–45. 763 Isokr. 6,59; vgl. dazu die bereits kommentierte Stelle über die Auffassung des Isokrates bezüglich des Endsieges des Rechts im Krieg (Isokr. 6,36; hier S. 216). 764 Vgl. auch Isokr. 8,33; Romilly, JHS 78 (1958) 92–101, bes. 97. 765 Vgl. Isokr. 6,62f. 766 Trotz der Tatsache, dass Athen 366 eher aus Unsicherheitsgefühl nach dem Verlust von Oropos eine Symmachie mit den Sparta gegenüber verfeindeten Arkadern 221

interessiert, die Politik seines Vaters fortzusetzen und somit die guten Beziehungen zu Sparta beizubehalten.767 Darüber hinaus waren der Ägypterkönig und die rebellischen Satrapen Kleinasiens, also gerade die aktuellen Feinde des Großkönigs Artaxerxes II., der zur Zeit mit Theben, dem Feind Spartas zusammenarbeitete, die optimalen Bündnerkandidaten. Die außenpolitischen Richtlinien, die hier vorgeschlagen werden, sind beeindruckend zutreffend, woraus zu schließen ist, dass Isokrates sehr gut über die tatsächliche politische Diskussion in Sparta informiert gewesen war. Ein weiterer Punkt der Bündnispolitik Spartas betrifft die peloponnesischen Staaten. Nach der Schlacht bei Leuktra konnten die meisten Poleis auf Spartas Gewaltpolitik der letzten Jahre reagieren. Der Peloponnesische Bund wurde aufgelöst und Athen versuchte, seine eigene Herrschaft an die Stelle der spartanischen zu setzen. Es folgte eine Periode innerer Wirren auf der ganzen Halbinsel, die durch Morde, Verbannungen und Konfiskationen gekennzeichnet war.768 Einige Poleis bekamen eine demokratische Verfassung, während sich die Staseis und gewaltige Auseinandersetzungen innerhalb der Städte zuspitzten.769 Isokrates beschreibt die aussichtslose Situation auf der Peloponnes770 sehr lebendig und nutzt sie für die Ziele des Archidamos. Er geht von der Überzeugung aus, dass sich die Peloponnesier, sogar die demokratischen Gruppierungen unter ihnen, nun nach der spartanischen ἐπιμέλεια sehnen würden.771 Der Rhetor setzt sich allerdings nicht für die Veränderung der zuletzt etablierten demokratischen Verfassungen in den Poleis ein, die früher unter oligarchischem, spartafreundlichem Regime standen, denn Athen konnte nur aufgrund der derzeitigen Voraussetzungen eine Rolle auf der Peloponnes spielen und an seinen Bündnissen festhalten. Es wird hier deutlich, dass Isokrates die athenischen Interessen unterstützt, auch wenn er seine Argumentation aus der Sicht des spartanischen Thronfolgers darzustellen sucht. Allerdings hofft Isokrates, dass die peloponnesischen Poleis sich von einer nun thebenfreundlichen Politik abwenden; er zieht deren erneute Zusammenarbeit mit Sparta vor. Dementsprechend verweist er zunächst auf die derzeit eingebüßten ἐλευθερία und αὐτονομία, also auf Werte, die gerade auch unter der spartanischen Arché der letzten Jahrzehnte beeinträchtigt

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schloss (vgl. StV II² 284), blieb die Symmachie mit Sparta bestehen. Vgl. dazu Meyer, GdA V, 439f. Isokrates hat die Reaktion des Dionysios II. richtig erkannt; der Tyrann sandte im Jahr 365 ein Hilfskorps von zwölf Trieren, das Sparta zur Zurückeroberung von Sellasia unterstützte. Vgl. Xen. hell. 7,4,12. Vgl. Bengtson, GG 279f. So z. B. in Phigaleia, Korinth, Phleius und Sikyon (vgl. Xen. hell. 6,5,3ff.; Diod. 15,40). Nach einer Stasis in Argos fanden über 1000 Bürger den Tod (vgl. Isokr. 5,52; Diod. 15,58). Vgl. dazu Beloch, GG III.1, 173ff. Vgl. Isokr. 6,64–69. Vgl. Isokr. 6,64. Vorsichtig spricht Isokrates nicht von der Arché oder Hegemonie Spartas, sondern von der ἐπιμέλεια, also eher dem Schutz, den Sparta anbieten konnte.

waren.772 Ferner weist er auf den Verlust der inneren Ruhe und Eintracht (ὁμόνοια) sowie des materiellen Wohlstands (εὐπορία) in den Poleis hin.773 Schließlich gibt er zwei Möglichkeiten vor, durch die jene Poleis an einem Bündnis mit Sparta interessiert seien und dort ihre Rettung suchen würden: erstens der Sieg Spartas im Krieg gegen Theben und zweitens das weiterhin gemäßigte Verhalten der Spartaner im Gegensatz zur früheren Zeit.774 Dies ist eher ein Appell an die peloponnesischen Poleis, sich mit Sparta gegen Theben zusammen zu schließen. Zugleich versucht der Rhetor, die Hoffnungen der Spartaner auf die Wiedergewinnung der Vorherrschaft auf der Peloponnes zu stärken. Dies will er aber nicht in der alten Form erreichen, sondern vielmehr im Rahmen eines neuen Bundes, in dem Sparta eine gemäßigte Politik befürworten und Athen seinen Einfluss in einigen peloponnesischen Poleis behalten sollte. Isokrates versagt in jenem Punkt völlig, in welchem er einen dem Krieg angemessenen militärischen Plan zugrunde legt.775 Hier wird deutlich, dass ihm der praktische Sinn für Kriegführung und die militärisch-strategische Vorgehensweise fehlten.776 Er kann weder die Spartaner noch ihre Bundesgenossen durch seinen Vorschlag überzeugen, dass die spartanische Bevölkerung – außer der waffenfähigen Bürger – das Land verlassen solle und die spartanischen Truppen eine Art Guerillakrieg gegen Theben und seine Bundesgenossen führen sollten. Hierbei erscheint der Rückgriff auf die Räumung Athens wegen der persischen Gefahr vor der Seeschlacht bei Salamis 480 als unpassend, da in Sparta 366 völlig andere Umstände herrschten. Die Existenz der Polis war nämlich nicht unmittelbar durch einen Angriffskrieg bedroht und konnte jederzeit durch den Friedenschluss mit Theben gesichert werden. Zusätzlich hatte die Räumung Athens im 5. Jh. einen gut organisierten Plan einer breiten hellenischen Symmachie gegen einen unberechenbar bedrohlichen barbarischen Invasor vorausgesetzt. Ein kaum organisierter Guerillakrieg gegen eine hellenische Macht, mit der Verhandlungsmöglichkeiten noch immer offen standen, war eine andere Sache. Darüber hinaus hatte Isokrates bereits zutreffend deutlich gemacht, dass eine effektive Symmachiepolitik für Sparta jederzeit möglich sei. Ein davon ausgehender organisierter Kampf gegen Theben oder eine politische Lösung des Konflikts hätten durchaus viel bessere Aussichten. In der ganzen Rede ergänzen Isokrates’ Hinweise auf das πρέπον und καλόν des Krieges seine Argumentation für den Krieg. Dem Rhetor gelingt es dabei, sich in spartanisches Denken und Empfinden einzufühlen; der Archidamos gilt als überzeitliches Zeugnis spartanischer Anschauungen über Tapferkeit und Unnachgiebigkeit. Das πρέπον, also das geziemende bzw. anständige Verhalten, erscheint mit Rücksicht auf Spartas Ehre und stolze Vergangenheit als eines der Hauptmotive

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Vgl. Isokr. 6,64. Vgl. Isokr. 6,67. Vgl. Isokr. 6,69. Vgl. Isokr. 6,73–86. Vgl. Mathieu, Ιδέες 166. 223

der Rede.777 Die leidenschaftlichen Begriffe und rhetorischen Mittel, die Isokrates dazu verwendet, sind beeindruckend. So fordert der isokrateische Archidamos seine Mitbürger auf, das zu tun, was πρέπον für die Lakedaimonier sei.778 Dies stehe in krassem Gegensatz zur Unterwerfung vor den Befehlen der Thebaner.779 Der Kampf bis zum Äußersten gegen Feinde passe ebenso zur Gesinnung der Spartaner.780 Dies verbindet Isokrates mit seiner Vorstellung von Ruhm und Ansehen. Die δόξα gilt ihm also als zielbewusstes Streben und persönliche Wahl der spartanischen Bürger.781 Mit dem Terminus καλόν wird ebenfalls die Nachahmung der Vorfahren bezeichnet: Καλὸν οὖν μιμήσασθαι τοὺς προγόνους.782 Damit wird deutlich, dass eine gegenwärtige Kapitulation unter schimpflichen Bedingungen einen erbärmlichen Gegensatz zur glorreichen Vergangenheit Spartas darstellen würde.783 Ferner ist φιλοπονία, die Liebe zur Anstrengung – hier im Sinne von Tüchtigkeit im Krieg –, eine Eigenschaft der Spartaner, die weiterhin gepflegt werden sollte.784 Dadurch sei die Hegemonialstellung in Hellas zu erreichen. Das Beispiel der athenischen und thebanischen Arché habe dies bewiesen.785 Auf der anderen Seite legt Isokrates genauso viel Wert auf negative Bezeichnungen, die zu vermeiden wären. Dieses Vorgehen ist rhetorisch äußerst wirksam, denn es spielt direkt auf das berühmte spartanische Ethos an. Die Scheu vor dem Krieg sei 777 Vgl. Wersdörfer, Φιλοσοφία 29f. 778 Isokr. 6,90: […] ὃ πρέπον ἔσται τῇ Λακεδαίμονι καὶ τοῖς πεπραγμένοις ἡμῖν. 779 Vgl. Isokr. 6,84. 94. Zur Darstellung der thebanischen Forderungen als Erteilungen von Befehlen vgl. auch Isokr. 6,2. 7. 8. 25. 39. 47. 56. 70. 88. 89. 780 Isokr. 6,72: Καὶ γὰρ ἐξαγγελθῆναι τοῖς ῞Ελλησι καλλίω ταῦτ‘ ἐστὶν καὶ μᾶλλον ἁρμόττοντα τοῖς ἡμετέροις φρονήμασιν ὧν ἔνιοί τινες ὑμῖν συμβουλεύουσιν. Vgl. Wersdörfer, Φιλοσοφία 30. 781 Durch Berufung auf die δόξα der Vorfahren lehnt Archidamos die Preisgabe Messeniens als ἀπρεπεστέρα συμφορά ab (vgl. Isokr. 6,12). Der glorreiche Tod sei dem demütigenden Frieden vorzuziehen (Vgl. Isokr. 6,89. 91. 93. 107). Demnach sollten die Spartaner die ἀθάνατος δόξα für die sterblichen Körper eintauschen (Isokr. 6,109). Δόξα als Ruhmgedanke ist ein Grundbegriff im isokrateischen Denken. Vgl. Alexiou, Ruhm und Ehre 33. 782 Isokr. 6,82. Deswegen berichtet Isokrates von den historischen kriegerischen Errungenschaften der Spartaner sowohl gegen Hellenen als auch gegen Perser. 783 Vgl. Isokr. 6,52ff. 99ff.; Nickel, Philologus 135 (1991) 233–239, bes. 234. 784 Vgl. Isokr. 6,56; Φιλοπονία stellt Isokrates dem abwertenden Begriff ῥᾳθυμία (im Sinne von Arbeitsscheu) gegenüber und spricht somit die stolze Gesinnung der Spartaner an. 785 Isokr. 6,104: αἱ γὰρ ἐπιφάνειαι καὶ λαμπρότητες οὐκ ἐκ τῆς ἡσυχίας, ἀλλ‘ ἐκ τῶν ἀγώνων γίγνεσθαι φιλοῦσιν. Da die Rede von der Hegemonie Athens und Thebens ist, wird hier durch ἐπιφάνειαι καὶ λαμπρότητες kein permanenter Glanz oder Ruhm gemeint, sondern eine Situation, die sich ändern kann. Der Punkt ist, dass auch Sparta zu solchem Ruhm gelangen kann, wenn es den Krieg der ἡσυχία vorzieht. Vgl. Alexiou, Ruhm und Ehre 23. 224

eine große Schande für Sparta (αἰσχύνη, ὄνειδος);786 darüber hinaus sei es Feigheit, sich dem Ungerechten zu beugen.787 Das Spartabild bei den Hellenen macht Isokrates in erster Linie von dem Beschluss über Krieg oder Frieden abhängig. Die ganze hellenische Welt habe ihre Augen auf Sparta gerichtet, und die spartanische Volksversammlung gleiche demnach einem Theaterstück, gespielt vor allen Hellenen.788 Während die Hinweise auf das καλόν und πρέπον ganz anderer Natur als die sozialpolitischen, rechtlichen und militärstrategischen Argumente sind, können sie sich unter Umständen wegen ihres emotionalen und ethischen Affektes als durchaus wirksamer erweisen. Isokrates weiß, dass solche Hinweise gerade in einer spartanischen Kriegsrede unabdingbar sind und verwendet sie daher rhetorisch meisterhaft in Verbindung mit der realpolitischen Komponente der Redethematik.

4.3.4 Politische Argumente zur Kriegsrechtfertigung 4.3.4.1 Krieg für materielle Vorteile Im selben Sinne wie im Panegyrikos hält es Isokrates im Archidamos für geboten, dass die in schlechten Verhältnissen lebenden Menschen den Krieg mit Absicht führen sollten. Nur dadurch sei auf einen Umsturz und eine sich daraus ergebende Veränderung der sozialen Lage zu hoffen. Im Gegensatz dazu sollte sich ein Staat, der sich in Wohlfahrt befindet, um Frieden bemühen.789 Die derzeitigen Spartaner gehörten zweifellos zu den δυστυχοῦντες, da sie nach Leuktra ihre Vorherrschaft in Hellas endgültig eingebüßt hatten. Daraufhin hatte Sparta den Verlust des fruchtbaren Messeniens samt vieler Heloten hinnehmen müssen. Diese letzte Folge war der seit langem furchtbarste Schlag für die Wirtschaft des Staates und Auswirkungen auf die soziale Lage vieler einzelner Bürger waren offensichtlich. Der Krieg um Messenien ist zwar ein Krieg um materielle Gewinne, kann aber im Gegensatz zum propagierten Perserkrieg des Panegyrikos nicht als imperialistisch bezeichnet werden, denn dieser allein weist die Merkmale eines Krieges zur Verteidigung von Territorien des Vaterlandes auf.

786 Der Schandebegriff durchdringt die ganze Rede. Vgl. zu αἰσχύνη: Isokr. zu ὄνειδος: Isokr. 6,58. 88. 787 Die Feigheit gibt Isokrates mit dem Begriff ἀνανδρία, Unmännlichkeit, wieder (vgl. Isokr. 6,7. 13. 56f. 94). Zur Verwendung des Begriffs in der Rhetorik und Historiographie als Argument für den Krieg vgl. Hunt, War 120f. 788 Isokr. 6,106: ῞Ωσπερ οὖν ἐν κοινῷ θεάτρῳ τῶν ῾Ελλήνων διδοὺς ἔλεγχον ἕκαστος ὑμῶν τῆς αὑτοῦ φύσεως, οὕτω διακείσθω τὴν γνώμην. 789 Vgl. Isokr. 6,50. Die Tatsache, dass die Kriege an sich sehr kostspielig waren und demzufolge das Argument der Kriegführung zum materiellen Gewinn nicht wirklich verwendet werden konnte (vgl. Hunt, War 29–35), trifft auf Sparta nicht ganz zu. Die staatliche Verwaltung und Organisation war nach den Kriegen so ausgerichtet, dass diese jedenfalls weniger als die Kriege Athens kosteten. 225

4.3.4.2 Kritik an dem Frieden Die politische Beurteilung des abzuschließenden Friedens ist im isokrateischen Denken ein wichtiger Bestandteil seiner Pro-Kriegsargumentation. So wie er im Panegyrikos den Königsfrieden als πρόσταγμα des Perserkönigs ablehnte, bezeichnet er den entworfenen Pelopidas-Frieden des Jahres 367 als ἐκ τῶν ἐπιταγμάτων συνθήκη; er durfte demzufolge von freien Menschen nicht angenommen werden.790 Dieses Mal befinden sich nicht die Perser, sondern die Thebaner in der Rolle des Befehlshabers. Isokrates verpasst hier nicht die Gelegenheit daran zu erinnern, dass bis vor kurzem die Lakedaimonier über die Thebaner herrschten. Ihm ist nämlich bewusst, dass die Spartaner nicht bereit waren, auf eine so demütigende Art ihre neue Rolle als Macht zweiten Ranges in Hellas anzunehmen. Auf dieses emotional gefärbte Argument folgt die wirkliche politische Analyse der Situation. Isokrates führt den allgemeinen Grundsatz an, dass die Friedensbestimmungen immer vom Ausgang des Krieges abhängig sind. Dies wird zum einen mit dem Ziel verbunden, Hoffnungen auf einen siegreichen Krieg zu wecken; zum anderen steht es in Zusammenhang mit dem Argument, dass ein einziger thebanischer Einfall in lakedaimonisches Land völlig unzureichend zur Teilnahme Spartas an diesem als Befehl erteilten Frieden sei.791 Hierbei unterschlägt Isokrates die Niederlage bei Leuktra, die in der Tat die Situation auf der Peloponnes zumindest bis zur Zeit der Verfassung der Rede zugunsten der Thebaner maßgeblich bestimmte. Das wichtigste politische Argument des Isokrates ist allerdings, dass der Friedensschluss nicht zu einem beständigen Frieden führen kann. Es handelte sich also keinesfalls um eine καλὴ καὶ βεβαία εἰρήνη. Dies begründet der Rhetor durch seinen argumentativen Standpunkt, dass ein Helotenstaat an der Grenze Lakedaimoniens zu dauernden Kriegen führen würde.792 Die Erfahrung aus den älteren Helotenaufständen und die permanente Furcht und Vorbereitung der Spartaner für den Fall eines neuen deuten auf die Überzeugungskraft dieses Argumentes hin.793 Hierbei ist zu beachten, dass die Gründung des Staates Messenien durch Epameinondas vor allem den thebanischen machtpolitischen Interessen mit dem Ziel, die spartanische Vorherrschaft auf der Peloponnes zu beendigen, dienen sollte. Diesen Punkt greift Isokrates nicht auf, obgleich die Absichten des Epameinondas unschwer zu erkennen und in der gesamten griechischen Welt bekannt waren. Die athenischen Adressaten der Rede sollten aber von der Unterstützung Spartas, und nicht von der spartanischen Arché, überzeugt werden. Die Kritik an dem Frieden hängt mit den für Athen nachteiligen Bedingungen unmittelbar zusammen.794 Die Anerkennung der Autonomie von Amphipolis und die 790 791 792 793

Vgl. Isokr. 6,51. Vgl. Isokr. 6,57. Vgl. Isokr. 6,87. Zur antiken Überlieferung über die Helotenphobie und die Kritik der neueren Forschung daran vgl. Herrmann-Otto, Historia 47 (1998) 18–40, bes. 23f. 794 Vgl. StV II² 282. 226

Abrüstung der athenischen Flotte entsprachen keineswegs den Interessen Athens. Isokrates hat also als Athener gute Gründe, sich energisch gegen den PelopidasFrieden zu wenden. Es gibt allerdings im Archidamos keinen Hinweis auf die athenische Position in diesem Frieden; der Art und Zielsetzung der Rede nach sollen die Argumente ausschließlich aus spartanischer Sicht dargestellt werden. Es ist festzuhalten, dass sich die politische Argumentation des Isokrates für den Krieg hauptsächlich auf die Unrechtmäßigkeit des Friedensvertrags sowie den Anspruch Spartas auf sein herkömmliches Territorium und seine Sklaven sowie den davon ausgehenden materiellen Nutzen bezieht. Er fasst die Kriegführungsgründe zusammen, indem er auf die Frage antwortet, wofür man im Kampf sterben sollte: οὐχ ὅταν οἱ πολέμιοι προστάττωσίν τι παρὰ τὸ δίκαιον καὶ τῆς χώρας ἀποτέμνωνται καὶ τοὺς οἰκέτας ἐλευθερῶσιν, καὶ τούτους μὲν κατοικίζωσιν εἰς ταύτην ἣν ἡμῖν οἱ πατέρες κατέλιπον, ἡμᾶς δὲ μὴ μόνον τῶν ὄντων ἀποστερῶσιν, ἀλλὰ καὶ πρὸς τοῖς ἄλλοις κακοῖς εἰς ὀνείδη καθιστῶσιν;795

Es soll darauf hingewiesen werden, dass Isokrates zwar den Krieg vorschlägt, aber zusätzlich gerade durch diesen Vorschlag Druck für eine politische Lösung des Konflikts auf einer neuen Verhandlungsbasis macht.796 Allerdings soll dabei die Rückgabe Messeniens an Sparta außer Diskussion stehen.

4.3.5 Fazit Isokrates nimmt sich mit seinem Archidamos die schwierige Aufgabe vor, die Interessen Athens zusammen mit denen Spartas in der Überzeugung, dass diese bis zu einem gewissen Grad identisch sind, zu fördern. Das eigentliche Ziel ist die Eindämmung der Macht Thebens. Dazu war ein auf der Peloponnes starkes Sparta unentbehrlich. Isokrates versucht Sympathien für Sparta zu erwecken, sodass es durch Athen und wenn möglich auch durch weitere peloponnesische Poleis in seinen diplomatischen, wenn nicht sogar kriegerischen Angelegenheiten unterstützt wird. Dies erwuchs aus seiner Erkenntnis, dass ein unabhängiger messenischer Staat die Vorherrschaft Thebens auf der Peloponnes und damit in Hellas festigen würde. Deswegen setzt er sich in der Rede nachdrücklich für den Krieg Spartas um Messenien ein. Zur Kriegsrechtfertigung nutzt er alle rhetorischen Mittel, die einem erfahrenen Lehrer zur Verfügung stehen. Epideiktische und beratende Elemente ergänzen 795 Isokr. 6,88: „Ist es denn nicht schon ein hinreichender Grund, wenn die Feinde uns etwas Rechtswidriges anordnen, wenn sie etwas von unserem Land wegnehmen und unsere Sklaven befreien? Ist es denn nicht Grund genug, wenn die Feinde unsere Sklaven in eben der Polis ansiedeln, die unsere Vorfahren uns hinterlassen haben, wenn sie ferner nicht nur all unser Hab und Gut rauben, sondern uns zusätzlich zu allem anderen Unglück auch noch in Schande bringen?“ (Übers. nach C. Ley-Hutton). 796 Vgl. Mathieu, Ιδέες 168. 227

einander. Obwohl er den Standpunkt der Feinde, also der Thebaner und Messenier, nicht erwähnt, ist anzunehmen, dass diese auf die Rückführung der Nachkommen der alten Messenier auf ihr vaterländisches Gebiet beharrten. Deswegen stellt Isokrates als Ergebnis seiner Rede die Begründung des rechtmäßigen Anspruchs Spartas auf Messenien fest. Dies erzielt er durch weitgehend überzeugende Argumente, wobei der Krieg als reiner Verteidigungskrieg dargestellt wird. Der Besitz Messeniens beruhte daher – nach hellenischen Rechtsvorstellungen – auf historisch gerechten Gründen. Die Hilfeleistung für Unrecht Leidende und das Recht des Siegers nach einem gerechten Krieg stehen hierbei im Mittelpunkt. Darüber hinaus versucht Isokrates aufzuzeigen, dass der Besitz Messeniens vom delphischen Gott legitimiert sei. Ferner geht er vom langen Zeitraum der Zugehörigkeit des Gebietes zu Sparta aus, die von den Feinden Spartas nie in Zweifel gezogen worden sei; er schließt mit dem Argument, dass Messenien nicht an Spartas Sklaven übergeben werden könne. Es ist festzustellen, dass Isokrates mehr oder weniger wirksame Argumente verbindet. Die meisten davon entsprechen allgemein gültigen hellenischen Vorstellungen über zwischenstaatliches Recht, über die Verhaltensweisen der Staaten im Umgang miteinander sowie über die Haltung der Götter gegenüber menschlichen und zwischenstaatlichen Angelegenheiten. Nach seiner Argumentation zugunsten der Gerechtigkeit der Ansprüche Spartas wiederholt der Rhetor seine im Plataikos präsentierte Auffassung, dass das Streben nach dem Gerechten für alle von Nutzen sei. Das συμφέρον sei somit kein Gegensatz, sondern eine Ergänzung oder eine Nebenerscheinung des δίκαιον. Das nutzbringende, weil gerechte Handeln stellt er mit Spartas Bündniss- und Verhandlungspolitik in eine Reihe. Trotz der allgemeinen Kritik wegen der fehlenden Originalität in seinem Denken ist Isokrates eine diplomatische Scharfsinnigkeit zuzugestehen. Die guten Aussichten für die Durchführbarkeit des Krieges sind wegen des allgemeinen Misstrauens gegen Spartas militärische Kompetenz nach der Schlacht bei Leuktra von großer Bedeutung. Isokrates erklärt zutreffend, wie Sparta mächtige Bundesgenossen finden könne; hierbei tritt er für eine Politik ein, die die athenischen Interessen nicht unberücksichtigt lässt, denn schließlich soll das gemeinsame Ziel Spartas und Athens die Niederschlagung des thebanischen Machtzuwachses sein. Besonders die Hervorhebung des ethischen Aspekts, also der moralischen Notwendigkeit des Krieges, gehört zu den Stärken der Rede, da sie sehr effektiv psychologischen Druck zum Widerstand gegen Thebens Machtpolitik ausübt. Während der Rhetor darüber hinaus an Spartas Kriegstüchtigkeit mit beeindruckenden rhetorischen Mitteln erinnert, misslingt sein Versuch, ein realisierbares militärisches Konzept für den Krieg Spartas gegen Theben bzw. gegen eine Symmachie griechischer Staaten unter Thebens Hegemonie zu entwerfen, völlig. Es folgt eine sozialpolitische bzw. sozialökonomische Kriegsrechtfertigung. Der Krieg aufgrund materieller Gewinne ist für Isokrates geboten, wenn die Bürger eines Staates unter schlechten Verhältnissen zu leben gezwungen sind. Aber anders als im früher propagierten Perserkrieg geht es nun nicht um die Eroberung eines Landes zur Ausnutzung seines Reichtums, sondern um die Zurückeroberung eines 228

verlorengegangenen Staatsgebietes von enormer wirtschaftlicher Bedeutung. Der Krieg um materielle Gewinne ist in diesem Fall kein Krieg um die Ressourcen eines fremden Landes, sondern Krieg zur Verteidigung der traditionellen wirtschaftlichen Vorteile des Staates. Ein letztes, nicht bedeutungsloses Argument ist Isokrates zufolge, dass der Krieg gerecht ist, weil er sich gegen einen ungerechten Friedensvertrag wendet. Die Klauseln des Vertrags von 367 seien auf Befehl der Thebaner entstanden und beruhten nicht auf einem Konsens; daher führten sie nicht zu einem beständigen Frieden. Durch die Hervorhebung des Grundsatzes, der Krieg sei der einzige Weg, die Friedensbestimmungen zu ändern, hofft Isokrates auf eine Lösung des Konflikts, die unter Umständen keine kriegerische, sondern auch eine politisch-diplomatische sein könnte.

5. Der Areopagitikos, die Friedens- und die Antidosisrede 5.1 Isokrates in den Jahren 357–355 In den Jahren von 366 bis 357 hat Isokrates keine Schrift publiziert. Sein Schweigen hat wahrscheinlich mit seiner Enttäuschung über eine Reihe athenischer innen- und außenpolitischer Fehlentscheidungen in einer Zeit zu tun, in der Athen als hegemoniale Macht des Zweiten Attischen Seebundes, ohne Rücksicht auf die Ziele und den Geist des Aristoteles-Dekrets von 377 zu nehmen, eine neue Arché zu etablieren versucht hatte.797 Trotz der Tatsache, dass im Jahr 362/1 durch den Abschluss des allgemeinen Friedens nach der Schlacht bei Mantineia die Autonomie der griechischen Poleis erneut garantiert wurde, waren die Athener nicht bereit, Austritte von Poleis aus dem Zweiten Attischen Seebund hinzunehmen. Allerdings konnte Athen spätestens nach 358 keinen überzeugenden Existenzgrund für diese Symmachie angeben. Die ursprüngliche Zielsetzung des Seebundes, gegen Sparta vorzugehen, entfiel nach dem athenisch-spartanischen Bündnisschluss von 369. Auch konnten sich die Athener nicht mehr auf den Schutz vor Theben durch die Bundesgenossen nach der Beendigung des thebanischen Vormachtstrebens durch die Schlacht bei Mantineia 362 berufen. Ferner hörten die Übergriffe des mächtigen Bündners Thebens, 797 Auf die Aktionen Athens auf Samos, in der Nordägäis und Euboia geht Isokrates allerdings in den Reden der 350er Jahre nicht ein, außer als er in der Antidosisrede die Tätigkeit seines Schülers Timotheos zu rechtfertigen sucht (vgl. Isokr. 15,107–113). Im Panathenaikos spricht Isokrates eindeutig über die Misshandlung hellenischer Poleis in der Zeit nach Leuktra (vgl. Isokr. 12,100). Zu den einzelnen Aktionen dieser Zeit vgl. Sealey, Demosthenes and His Time 102–107; Welwei, Athen 287–296. R. Sealey sowie K.-W. Welwei raten davon ab, die athenische Seebundpolitik in den Jahren vor Ausbruch des Bundesgenossenkrieges generell als imperialistisch zu bezeichnen. Vgl. Sealey, Demosthenes and His Time 106ff.; Welwei, Athen 287–296. 229

des Tyrannen von Pherai, Alexander, gegen Mitglieder des Seebundes mit dessen Tod im Jahr 358 auf. Da die Athener den Austritt ihrer Bundesgenossen trotzdem verhindern wollten, erklärten ihnen die Seebundmitglieder Chios, Kos, Rhodos und das bereits früher abgefallene Byzantion den Krieg. Dieser dauerte drei Jahre,798 bis Athen durch den Friedensschluss am Ende des Jahres 355 die Freiheit und Autonomie der abgefallenen Bundesgenossen anerkennen musste. Dieser Krieg hatte Athen finanziell ruiniert und außenpolitisch befand es sich in einer kritischen Lage.799 In der Zeit des Bundesgenossenkrieges publizierte der bereits über achtzigjährige Isokrates zwei politische Schriften, den Areopagitikos und die Friedensrede. Der Brief an Archidamos, womit sich angeblich Isokrates im Jahr 356 an den Spartanerkönig zur Übernahme der Hegemonie eines panhellenischen Perserzuges wandte, hat sich als unecht erwiesen.800 Die Datierung der beiden ihm zuzuordnenden Reden ist umstritten. Da aber durch den Vergleich zwischen der im Areopagitikos geschilderten noch optimistischen Haltung der Athener mit ihrer in der Friedensrede zum Ausdruck gebrachten verwirrten Orientierungslosigkeit evident wird, dass die beiden Reden durch das einschneidende Geschehen des Bundesgenossenkrieges voneinander getrennt sind, ist die These von W. Jaeger, dass der Areopagitikos im Herbst 357, kurz vor Beginn des Krieges, und die Friedensschrift am Ende des Jahre 355801 publiziert worden sind, durchaus nachvollziehbar. Im Areopagitikos wird noch das athenische Selbstbewusstsein widergespiegelt; in der Friedensrede hingegen das katastrophale und wenig ehrenvolle Ende des Krieges für Athen.802 798 Vgl. Diod. 16,7,3. 799 Zu Quellenangaben und ausführlicherer Darstellung des historischen Kontextes dieser Zeit s. hier S. 302–306. 800 Isokrates dachte inmitten des Bundesgenossenkrieges nicht an einen Perserzug. Weder im Areopagitikos von 357 noch in der Friedensrede von 355 findet er die derzeitigen Umstände dazu günstig. In der Friedensrede wird zudem deutlich, dass Isokrates Athen immer noch als führende, weil gerechte Macht fördern will. Im Gegensatz dazu sollte dem Brief zufolge einzig Archidamos die Führung des Perserkrieges übernehmen (vgl. [Isokr.] ep. 9,17). Ein solcher Gedanke war allerdings erst im Jahr 346 und nur in Bezug auf den mächtigen Makedonenkönig Philipp II. möglich. Die Hinwendung an Archidamos zu einer Zeit, als ein schwaches Sparta seine Stellung auf der Peloponnes mühsam zu verteidigen suchte, ist nicht wahrscheinlich. Außerdem deuten die sprachlichen Singularitäten des Briefes trotz der Wiederholung von Argumenten des Panegyrikos und des Philippos auf einen anderen Autor hin. Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, Aristoteles und Athen II, 394; Münscher, RE IX,2 (1916) s. v. Isokrates [2] 2146–2227, bes. 2204; SchmitzKahlmann, Das Beispiel der Geschichte im politischen Denken des Isokrates 123. 801 Vgl. dazu auch hier S. 232 Anm. 810. 802 Vgl. Jaeger, Areopagitikos, in: Seck, Isokrates 139–188, bes. 139–175. Zur Datierung des Areopagitikos in das Jahr 357 zustimmend vgl. Wallace, HSPh 90 (1986) 77–84, bes. 77ff.; Due, The Date of Isocrates’ Areopagiticus, in: Christiansen/DamsgaardMadsen/Hallager, Studies 84–90; Badian, Ghost of Empire, in: Eder, Athenische Demokratie 79–106, bes. 96f.; Grieser-Schmitz, Seebundpolitik 147f. Dagegen: 230

5.2 Der Areopagitikos Zur Überwindung der politischen Krise schlägt Isokrates den Athenern in seinem Areopagitikos, einer symbuleutischen Rede, die Rückwendung zur alten Verfassung der Vorfahren vor. Für die schlechte innen- und außenpolitische Lage Athens macht er die derzeitige Verfassung, die den Machtmissbrauch der Polis sowohl zur Zeit des Delisch-Athenischen Seebundes als auch nach dem Wiederaufstieg Athens zur Hegemonialmacht nach dem Peloponnesischen Krieg erlaubte, verantwortlich. Athens Neigung zu imperialer Macht sei demnach die Ursache für die Entfremdung der Bundesgenossen und Bündner.803 Die gerechte Kriegführung als Gegensatz zum imperialistischen Expansionsstreben ist laut Isokrates unmittelbar mit der existierenden Polisverfassung verknüpft. Die Institution des Areopags in seiner alten Form war darauf bedacht, die πολιτεία derartig zu bewachen, dass ἡσυχία in der Polis und εἰρήνη in den Beziehungen mit allen anderen herrschte.804 Der Krieg wandte sich keineswegs gegen Hellenen, sondern nur gegen die Perser als Rache oder Bestrafung für begangenes Unrecht (δίκην λαμβάνειν): Παρεῖχον γὰρ σφᾶς αὐτοὺς τοῖς μὲν ῞Ελλησιν πιστοὺς, τοῖς δὲ βαρβάροις φοβερούς. Τοὺς μὲν γὰρ σεσωκότες ἦσαν, παρὰ δὲ τῶν δίκην τηλικαύτην εἰληφότες […]805

Hierbei erscheint bei Isokrates erneut das im Panegyrikos energisch präsentierte Motiv des Panhellenismus und des als Rachereaktion gerechtfertigten Krieges gegen die Barbaren.806 Isokrates geht im Areopagitikos davon aus, dass eine Wendung der Athener hin zu der Gesinnung der Vorfahren in Bezug auf ihr Verhältnis zum Staat und zur staatlichen Machtausübung sowie auf ihre panhellenisch ausgerichtete Überzeugungskraft die Beziehungen Athens zu den anderen Hellenen rehabilitieren werde.807

803 804 805 806 807

Bringmann, Studien 75–81, wobei auch die Datierungsdiskussion in der Forschung bis zu dieser Zeit kurz dargestellt wird; Naef, Klio 79 (1997) 317–340, bes. 332f., wobei allerdings der Standpunkt nicht näher begründet wird. Vgl. Isokr. 7,6. 9–12. Vgl. Isokr. 7,51. In der Phrase πρὸς τοὺς ἄλλους ἅπαντας εἰρήνην ἦγον sind nach isokrateischen Vorstellungen die Nicht-Hellenen des asiatischen Raums nicht mit einbezogen. Isokr. 7,51f. Der gerechte Krieg gegen die Perser wird erneut mit dem Topos der mythischen Kriege gegen barbarische Invasoren gleich gesetzt; vgl. Isokr. 7,75. Vgl. Isokr. 7,80f. 84; Grieser-Schmitz, Seebundpolitik 163. 231

5.3 Die Friedensrede Die Friedensrede ist eine symbuleutische Rede,808 die in der Endphase des Bundesgenossenkrieges publiziert wurde, und zwar wohl kurz vor dem Friedenschluss809 am Ende des Jahres 355.810 Die Aussichtslosigkeit und die negativen Folgen des Bundesgenossenkrieges waren bereits sichtbar, und es muss in Athen zu dieser Zeit ernsthaft über die Liquidierung der Gewaltpolitik diskutiert worden sein.811 Nicht zuletzt wegen der finanziellen Erschöpfung des Staates war die Fortsetzung des Krieges oder auch ein neuer Krieg gegen den Perserkönig nur schwer denkbar. Anscheinend trat nur noch eine kleine Minderheit für eine aktive Kriegspolitik ein.812 Indem Isokrates heftige Kritik an der expansiven Politik Athens innerhalb des Zweiten Attischen Seebundes und dem Streben nach der ἀρχή übt, versucht er durch seine Flugschrift, die sich vorrangig an die Athener wendet,813 nicht nur seine 808 Freilich fehlen die epideiktischen Elemente auch in dieser Rede nicht, sodass sie einer epideiktischen Tadelrede sehr nahe steht. Vgl. Gillis, Philologus 114 (1970) 195–210, bes. 196. 809 Dieser Friede wird in der Forschung zuweilen als Eubulosfrieden bezeichnet, da dem Demosthenes-Scholiasten zufolge der athenische Politiker Eubulos von Probalinthos die Verhandlungen und den Abschluss des Friedens für Athen übernommen haben soll (vgl. Schol. zu Demosth. 3,28 [VIII p. 133 l. 8 Dind.]). Der Einfluss des Eubulos auf die Beendigung des Bundesgenossenkrieges ist allerdings, so wie der des Isokrates, nicht nachweisbar (vgl. Sealey, JHS 75 [1955] 74–81, bes. 25f.; Cawkwell, JHS 83 [1963] 47–67, bes. 48; Naef, Klio 79 [1997] 317–340, bes. 331). 810 Die Datierung geht aus den in der Rede angesprochenen Fakten nicht deutlich hervor (zur Datierungsdiskussion und zu Literaturangaben vgl. Bringmann, Studien 59 Anm. 2). Zur Datierung in das Ende des Jahres 355 behaupten M. Opitz (Das Bild Philipps 27 mit Anm. 3) und J. Davidson (Historia 39 [1990] 20–36, bes. 21) zu Recht, dass die Rede kurz vor Abschluss des Friedens verfasst worden sei, da in §§ 15f. und 25 darauf hingewiesen wird, dass eine Friedensresolution bevorstand. Zur Datierung der Rede kurz nach dem Krieg vgl. Wallace, HSPh 90 (1986) 77–84. 811 Vgl. Bringmann, Studien 59. In der Schrift Poroi des Xenophon, die nicht viel später veröffentlicht wurde, wird ebenfalls für eine friedliche Wirtschaftspolitik und für den Verzicht auf jegliches expansionsorientiertes Machtstreben Athens Stellung genommen. 812 Im Jahr 355/4 lehnte Demosthenes den Krieg gegen den Perserkönig aus verschieden Gründen ab, wobei die finanzielle Lage der Polis eine wichtige Rolle spielte (vgl. Demosth. or. 14). Demosthenes fand zu seinen Positionen Zustimmung (vgl. Demosth. 15,6). Nur noch einzelne Politiker und Militärs, Aristophon und Chares mit ihren Anhängern, setzten sich für einen Perserkrieg und für ein Wiedererlangen der Arché ein. Vgl. Jaeger, Demosthenes 73; ders., Areopagitikos, in: Seck, Isokrates 139–188, bes. 157f. Anm. 39. Siehe aber Badian, Prominence, in: Worthington, Demosthenes 9–44, bes. 29. 813 D. Gillis (Philologus 114 [1970] 195–210, bes. 195f.) behauptet, dass Adressaten der Rede ausschließlich die Athener seien, da Isokrates nicht darum bemüht sei, panhellenische Sympathien für seine Polis zu gewinnen. Dennoch wenden sich die 232

Anti-Kriegsposition zu verbreiten, sondern vielmehr sein derzeitiges politisches Konzept darzustellen. Er ruft zu einer neuen politischen Ordnung auf, in der Freiheit und Autonomie der griechischen Poleis sichergestellt werden und die Athener nicht die ἀρχή, also eine Herrschaft, die auf den Konsens verzichten zu können glaubte, sondern eine ihnen von den anderen Hellenen zu verleihende ἡγεμονία innerhalb eines Bundes übernehmen sollten.814 Der Rhetor sieht folglich das Thema der Rede, die Diskussion über Krieg und Frieden,815 als einen Anlass zur Darstellung einer Konzeption, die darüber hinausgeht. Für ihn steht außer Zweifel, dass Athen den Bundesgenossenkrieg lediglich zur Aufrechterhaltung der Seeherrschaft führte. Davon ausgehend bezieht er gegen den Krieg Stellung, indem er die Ausübung der ἀρχή und deren Folgen kritisiert. Die Rede ist demnach ein Manifest gegen die attische imperiale Machtausübung.

5.3.1 Gegen den Bundesgenossenkrieg: Argumente für den Frieden von 355 Isokrates befürwortet den Frieden mit Chios, Rhodos, Byzantion und πρὸς ἅπαντας ἀνθρώπους,816 wobei zu beachten ist, dass er seine Schriften und Gedanken nur an Hellenen richtet, sodass mit ‚alle Menschen‘ nicht unbedingt die persischen

Hinweise des Rhetors bis zu einem gewissen Grad auch an andere Hellenen, die aufgrund des vorgeschlagenen gerechteren außenpolitischen Vorgehens Athens an die freiwillige Übergabe der Hegemonie innerhalb eines neuen Bundes an Athen denken sollten. 814 Vgl. Jaeger, Paideia III, 195; Buchner, Panegyrikos 3–6. 13f. 38–42. 150; Davidson, Historia 39 (1990) 20–36, bes. 22 mit Anm. 7; Walter, Isokrates metanóôn? In: Orth, Isokrates 78–94, bes. 84 Anm. 33. Während mit ἀρχή die Herrschaft eines Staates über die übrigen bezeichnet wird, wird durch ἡγεμονία die militärische Führung bzw. der politische Vorrang innerhalb eines Bundes wiedergegeben. Die Ansicht von J. Cargill (Hegemony, AncW 5 [1982] 91–102, bes. 94), dass Isokrates beide Begriffe in der Friedensrede allgemeiner und jedenfalls nicht unbedingt hinsichtlich der oben gegebenen Deutungen verwendet, ist nicht nachvollziehbar: Sein Argument, dass in § 135 ἡγεμονία mit δυναστεία, also die Führungsrolle mit Macht verbunden wird, spricht keineswegs gegen die Bedeutung von ἡγεμονία als militärisch führende Macht in einem Bund; ähnlich ist durch τοιαύτη ἡγεμονία in § 144 konkret eine auf Gerechtigkeit gerichtete Führung und demzufolge ein Gegensatz nicht zur tyrannischen Hegemonie (so J. Cargill), sondern zu den τυραννικαὶ ἀρχαί (§ 142) gemeint. Ebenso hat die Gegenüberstellung von ἄρχειν und τυραννεῖν in § 91 nicht die Funktion einer Verbindung absoluter Gegensätze, denn ἄρχειν bedeutet die Ausübung einer Herrschaft, die verschiedene Formen, auch eine tyrannische, einnehmen kann; Isokrates versucht hierbei lediglich, die schlechteste Form des ἄρχειν, nämlich die tyrannische, hervorzuheben. 815 In der Fiktion wird über dieses Thema vor der athenischen Volksversammlung referiert. Isokr. 8,2: ῞Ηκομεν γὰρ ἐκκλησιάσοντες περὶ πολέμου καὶ εἰρήνης […]. 816 Vgl. Isokr. 8,16. 233

Barbaren gemeint sind.817 Es geht in der Rede nicht um Rechtfertigung eines Krieges, sondern u. a. um Kritik am ungerechten Krieg. Damit werden nicht nur der Bundesgenossenkrieg, sondern auch von der ἀρχή ausgehende Kriege in ihrer Gesamtheit abgelehnt. Der Bundesgenossenkrieg wird als Ausdruck imperialer Herrschaft wahrgenommen, dessen Beweisführung Isokrates mit dem δίκαιον und dem συμφέρον verknüpft. Auf das δυνατόν des Krieges wird lediglich im Resultat als dessen aussichtslose Durchführung angespielt.818 Der Krieg und die damit anzustrebenden Vorteile werden bereits in der Einleitung als ungerecht gekennzeichnet, wobei der tiefreichende Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Nutzen beeindruckend dargestellt wird.819 Im Mittelpunkt steht die moralische Frage, ob gerechtes Verhalten nützlicher als ungerechtes sei, wobei Argumente ethisch-philosophischer Natur überwiegen.820 Isokrates lehnt keineswegs den materiellen Nutzen als das Ziel der athenischen Politik ab, er vertritt lediglich die Meinung, dass die materielle εὐδαιμονία nicht durch Krieg, sondern durch Frieden am effektivsten zu erreichen sei. Der Krieg sei als ungerechtes Handeln gerade für den Täter extrem schädlich.821 Die Durchführung eines auf den Prinzipien des Königsfriedens von 387 oder dessen Erneuerung von 375 basierenden Friedens wird jetzt von Isokrates gefordert.822 Es geht ihm um gerechte und für die Polis nützliche Bestimmungen, also um die Sicherung der Autonomie der Griechenstädte, den Abzug der fremden Besatzungen und die Sicherung des eigenen Territoriums für jede Polis.823 Da der Rhetor damit genau erläutert, welche 817 Vgl. Grieser-Schmitz, Seebundpolitik 177f. Im selben Sinne spricht Isokrates im Areopagitikos über den Frieden der Vorfahren ‚mit allen Menschen‘. Vgl. Isokr. 7,51; hier S. 231 Anm. 804. 818 Vgl. Isokr. 8,8. 819 Isokr. 8,6: […] δεῖ (…) μὴ μεγάλων ἐπιθυμεῖν παρὰ τὸ δίκαιον […]. Das συμφέρον der Polis wird ebenfalls in der Einleitung angesprochen, und zwar als das eigentliche Ziel der Entscheidung gegen den Krieg (vgl. Isokr. 8,10. 13). J. de Romilly (JHS 78 [1958] 92–101, bes. 97) notiert dazu: „And so we should not be surprised to see that this profound connexion between justice and advantage has nowhere been so fully developed and thought out as in the beginning of the essay On the Peace (…).“ 820 Vgl. Michelini, TAPhA 128 (1998) 115–133, bes. 117. 821 Vgl. 8,34f. K. Bringmann (Studien 66) notiert dazu: „Maßstab ist Isokrates wie den Imperialisten die materielle εὐδαιμονία, worin er sich von ihnen unterscheidet, ist, daß er ihre Methode für falsch hält, weil ungerechte πλεονεξία Gegenkräfte weckt, die den Ungerechten in die Katastrophe stürzen.“ 822 Vgl. Isokr. 8,16. Zur Diskussion in der Forschung, ob es sich um den Königsfrieden oder den Frieden von 375 handelt, vgl. Jehne, Koine Eirene 60 Anm. 76 mit Literaturangaben. Zur weiteren Literatur für den Bezug auf den Frieden von 375 vgl. Mathieu, Ιδέες 190f. 823 Isokr. 8,16: […] τοὺς ῞Ελληνας αὐτονόμους εἶναι καὶ τὰς φρουρὰς ἐκ τῶν ἀλλοτρίων πόλεων ἐξιέναι καὶ τὴν αὑτῶν ἔχειν ἑκάστους. M. Jehne (Koine Eirene 234

Bestimmungen der κοινὴ εἰρήνη erneuert werden sollten, besteht bei Isokrates kein auffälliger Gesinnungswandel seit der Zeit des Panegyrikos, wie er zum Teil in der Forschung angenommen wird.824 Die Hauptkritikpunkte gegen den Königsfrieden im Panegyrikos825 werden hier nicht verworfen. Bereits im Plataikos hatte Isokrates der Erneuerung des Königsfriedens, also des Friedens von 375, zugestimmt; die Erfahrung hatte lediglich gezeigt, dass Athen anstelle Spartas als Beschützer der hellenischen Autonomie treten und somit den Wiederaufstieg zur Hegemonialmacht erlangen könnte.826 Als Isokrates in der Friedensrede den Verzicht auf die Arché propagiert, stehen die von ihm vorgeschlagenen Bestimmungen des Vertrags dazu im Einklang. Die Rolle des Perserkönigs wird nicht definiert, diese könnte allerdings durchaus eine diskrete, ähnlich der im Frieden von 375, sein. Lediglich in diesem Punkt besteht ein wesentlicher Unterschied in der isokrateischen Einstellung, da zur Zeit des Panegyrikos der Perserkrieg propagiert wurde, im Jahr 355 hingegen zunächst ein Friede mit dem Perserreich geplant ist. Darüber hinaus spricht Isokrates in der Friedensrede nicht von einer Garantiemacht des Friedens, er sieht aber darin ein künftiges Athen, das als gerecht handelnde, führende Macht sich für die Autonomie und Freiheit der Hellenen einsetzen würde.827 Ferner denkt er so wie im Panegyrikos daran, dass ein Friedensabschluss nur dann einen Sinn hat, wenn er sozioökonomische Vorteile und beständigen Frieden nach Hellas bringt.828 Dies könnte nun die neue angestrebte Hegemonie Athens im Gegensatz zu Spartas Arché nach dem Königsfrieden garantieren. Es ist festzuhalten, dass Isokrates’ Einschätzung der Prinzipien eines gerechten Friedensvertrags konstant bleibt; lediglich ändert sich teilweise seine außenpolitische Zielsetzung. Der Gesinnungswandel des Rhetors in der Friedensrede betrifft nur seine Position gegenüber der attischen Arché. Isokrates widerlegt den Standpunkt jener, die den Krieg für nützlich halten.829 Nur durch den Frieden seien die angestrebten sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gewinne erreichbar. Dazu gehören das Sicherheitsgefühl der Bürger, die Eintracht innerhalb der Polis, der Wohlstand und das Ansehen Athens gegenüber den anderen Hellenen. Die Übereinstimmung dieser Ansicht mit dem politischen

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60 Anm. 76) behauptet zu Recht, dass die Einzelbestimmungen dieser Passage nicht die Klauseln eines einzigen Friedensvertrags gewesen sein müssen. Vgl. z. B. Jaeger, Paideia III, 194; ders., Demosthenes 53f.; M. Zahrnt (RhM 143 [2000] 295–325, bes. 307) spricht von einer ‚gewaltigen Kehrtwendung‘ des Isokrates. Anders wertet D. Grieser-Schmitz (Die Seebundpolitik Athens in der Publizistik des Isokrates 189) die Passage § 16 „nicht unbedingt als Wandel in der isokrateischen Einstellung zum Königsfrieden“. S. hier S. 146–158. Vgl. hier S. 180–181. Vgl. Isokr. 8,141–144. Zum materiellen Nutzen vgl. Isokr. 8,19–24 und hier nächstes Kapitel. Zum Ziel des beständigen Friedens unter Hellenen vgl. Isokr. 8,71. Isokrates stilisiert sich bereits in der Einleitung als Ratgeber im allgemeinen Interesse, und zwar im Gegensatz zu den Kriegstreibern. Vgl. Isokr. 8,5f. 235

Programm Xenophons, das nach dem Bundesgenossenkrieg in seiner Denkschrift über die öffentlichen Einkünfte Poroi veröffentlicht wurde,830 deutet zum einen auf das öffentliche Nachdenken über eine effektive Friedenspolitik im damaligen Athen und zum anderen auf die Wechselbeziehung zwischen diesen beiden Flugschriften hin.831 Besonders auf den wirtschaftlichen Nutzen und das Ansehen Athens geht Isokrates ausführlicher ein, denn sie können als unmittelbar vom Krieg oder Frieden abhängig gedeutet werden.

5.3.1.1 Materieller Nutzen Die Kriegskosten werden laut Isokrates durch εἰσφοραί und λειτουργίαι von den Athenern getragen, was ihren Wohlstand maßgeblich beeinträchtigen werde.832 Im Frieden dagegen seien durch Ackerbau, gesicherte Seefahrt sowie Wiederbelebung des Handels und die Ankunft bzw. Rückkehr von Metöken und Fremden die Einnahmen gesteigert.833 Zusätzlich lehnt er die erzwungenen Steuereinnahmen von den Bundesgenossen (βιαζώμεθα τὰς πόλεις συντάξεις διδόναι) im Rahmen der Seebundpolitik strikt ab; nicht nur führe die Steuerbelastung der Bündner zur Feindschaft mit diesen und zum Krieg,834 sondern sie diene auch der Finanzierung von Söldnern,835 denen Isokrates ein solch brutales Benehmen im Krieg unterstellt,836 dass er sie als gemeinsame Feinde aller Menschen bezeichnet.837 Isokrates betrachtet demnach zum einen die

830 Diese Schrift soll frühestens am Anfang des Jahres 354 verfasst worden sein, da Xenophon das Ende des Bundesgenossenkrieges voraussetzt (vgl. Xen. vect. 4,40). Zu den Reformvorschlägen des Xenophon vgl. Dillery, Historia 42 (1993) 1–11, bes. 6–9. 831 Vgl. Xen. vect. 6,1; Naef, Klio 79 (1997) 317–340, bes. 336f. 832 Vgl. Isokr. 8,20. Wie hoch die Belastung tatsächlich war, ist umstritten (vgl. Schmitz, Prosperität 281 mit Anm. 38). 833 Vgl. Isokr. 8,20f. 834 Vgl. Isokr. 8,29. 835 Vgl. Isokr. 8,45f. Es ist allerdings nicht schätzbar, ob und um wie viel eine Söldnertruppe teurer im Vergleich zu Bürgereinheiten war (vgl. Burckhardt, Bürger und Soldaten 146 mit Anm. 331). 836 Da die Syntaxeis der Bundesgenossen nicht ausreichten, die Kosten der Söldnertruppen zu decken, war die Finanzierung der Söldner aus dem Krieg selbst, also durch Plünderungen und Übergriffe gegen Städte und einzelne Schiffe, durchaus gewöhnlich (vgl. Schmitz, Prosperität 279f.). Zum abschätzigen Urteil des Isokrates über die Söldner vgl. Burckhardt, Bürger und Soldaten 188f. 837 Vgl. Isokr. 8,44ff. Trotz der Äußerung des Isokrates werden hierbei die Söldner als gemeinsame Feinde nicht aller Menschen, sondern lediglich der Hellenen wahrgenommen. Es werden somit Ansichten des 4. Jh. über die Notwendigkeit humaner Kriegführung gegen Hellenen widergespiegelt, die allerdings ein weit entferntes Ideal von der kriegerischen Realität in Hellas waren. 236

Steuerauflage für die Bundesgenossen – eine der Ursachen des Bundesgenossen­ krieges – als unnötig und sogar schädlich für Athen; zum anderen hält er die Beiträge der athenischen Bürger und Metöken in die Kriegskasse für vermeidbar. Hierbei ist zu bemerken, dass auch Xenophon die schlechte finanzielle Lage Athens und die davon ausgehende Massenarmut für die imperialistische Seebundpolitik verantwortlich machte; demnach seien die führenden athenischen Politiker trotz ihrer Überzeugung, dass diese Politik ungerecht war, ihr wegen fehlender Alternativen gefolgt.838 Ähnlich wie Isokrates, allerdings ausführlicher und sachlicher, behauptet der Historiker, dass die Staatskasse neuer Einnahmequellen bedürfe, und zwar ohne Belastung der Bundesmitglieder. Das Fortbleiben von auswärtigen Händlern und die Auswanderung der Hauptsteuerzahler, also der reichen Metöken, vor allem weil sie im Krieg zum Militärdienst herangezogen wurden, sieht er als Grund für die Handelsstagnation und die schlechte wirtschaftliche Lage Athens und schlägt Reformen im Rahmen einer friedlichen Politik vor.839 Sowohl Isokrates als auch Xenophon sollen implizit das Programm der gemäßigten Gruppierung von Bürgern in Athen, angeführt von Eubulos von Probalinthos, vertreten haben.840 Es ging aber nicht nur um die Beendigung der Kriegstreiberei der Vertreter von vielen besitzlosen Athenern, die anders als die wohlhabenderen weniger von den Kriegskosten belastet wurden und folglich schneller bereit waren, sich für den Krieg als gewinnbringende Tätigkeit einzusetzen:841 In den außenpolitischen Fragen spielten auch andere Faktoren, wie die machtpolitischen Vorteile oder die Einhaltung von traditionellen Verpflichtungen, eine wichtige Rolle. Die Rhetorik war ein Weg, die alle Bürgerschichten maßgeblich beeinflussenden Faktoren aufzuzeichnen; da der Imperialismus nicht nur ökonomische Motive hatte, zeichnet Isokrates allerdings eine Gesamtkonzeption auf, die zwar den engen materiellen Nutzen der Bürger berücksichtigt, darüber jedoch weit hinausgeht.842 Isokrates’ Vertrauen in den diplomatischen Weg ist zu dieser Zeit uneingeschränkt. Er schätzt, dass Kersobleptes, König des odrysischen Thrakien und Philipp II. von Makedonien, mit denen sich Athen im Krieg befand, entsprechend auf die umstrittenen Gebiete der Chersones in Thrakien und Amphipolis in der Nordägäis verzichten würden, wenn sie feststellten, dass Athen keiner durch πλεονεξία

838 Vgl. Xen. vect. 1,1. 839 Zur Metökenpolitik vgl. Xen. vect. 2; dazu Jaeger, Demosthenes 54ff. 840 Vgl. Meyer, GdA V, 482; Mathieu, Ιδέες 193; Isokrates und Xenophon sind allerdings strikt von den aktiven Politikern zu unterscheiden, sodass ihr Werk nicht als ein Ergebnis einer engen Beziehung zu politischen Gruppen bzw. zu Eubulos betrachtet werden kann. Vgl. Sealey, JHS 75 (1955) 74–81, bes. 77; Naef, Klio 79 (1997) 317–340, bes. 331f.; Hunt, War 257f. 841 Dies wird in der Forschung häufig als eine Auseinandersetzung zwischen den radikalen Demokraten und der aristokratischen Opposition bezeichnet. Vgl. z. B. Bringmann, Studien 64f.; Opitz, Das Bild Philipps 28; Schmitz, Prosperität 271–275. 842 Vgl. Schmitz, Prosperität 272f. 275. 237

motivierten imperialistischen Kriegspolitik folgt,843 obgleich beide Orte für Athen wegen einer gesicherten Getreide- und Rohstoffversorgung wirtschaftlich und strategisch von großer Bedeutung waren.844 Isokrates hält in der Tat an den athenischen Ansprüchen auf die Chersones und Amphipolis fest, hofft aber, dass diese durch Friedensverhandlungen durchgesetzt werden könnten; denn wenn Kersobleptes und Philipp den attischen Expansionismus nicht mehr zu fürchten hätten, würden sie nicht länger wegen dieser Gebiete den Krieg fortsetzen. Angesichts der politischen Lage der zwei Monarchen, besonders ihrer Probleme mit innerstaatlichen Rivalen, basieren die Ideen des Isokrates auf der logischen Folgerung, dass beide zu dieser Zeit an einem Frieden, wenn nicht sogar an einer athenischen Unterstützung, interessiert wären.845 Darüber hinaus hatte Philipp den Athenern versprochen, ihnen Amphipolis im Austausch mit der Stadt Pydna zu übergeben;846 aus politischem Kalkül hatte der Makedonenkönig Städte, die er auf der Chalkidike eingenommen hatte, also Anthemus und Poteidaia, bereits der mächtigsten Polis auf der Chalkidike, nämlich Olynthos, überlassen.847 Isokrates beurteilt allerdings Philipp auf der Basis seiner Vorgänger, indem er von der traditionellen makedonischen Politik ausgeht, die nicht auf aggressive Expansion zulasten hellenischer Gebiete gerichtet war.848 Es wird hier erneut deutlich, dass Isokrates keineswegs sein Ziel, also die Förderung der Interessen Athens, aufgibt, sondern das Mittel dazu ändern will. Dazu sollen nicht Krieg und Expansionspolitik, sondern Friede dienen, erreicht durch Diplomatie und gute zwischenstaatliche Beziehungen miteinander. Darüber hinaus hofft der Rhetor, dass Athen freiwillig einen Teil Thrakiens erhalte. Der äußerst optimistische und kaum realisierbare Gedanke macht auf den Leser wegen seines panhellenischen Akzents Eindruck. So hofft Isokrates, dass Athen in diesen neuen Gebieten Hellenen ansiedeln könne, die derzeit in Armut und Elend leben und sich deswegen als Söldner zur Verfügung stellen müssen.849 Was im Panegyrikos der Perserkrieg bewirken sollte, war jetzt den guten diplomatischen Beziehungen zu den Königen im Norden zugedacht. Dadurch könnte Athen als Retter Griechenlands die Hegemonie unter Zustimmung Aller völlig gewaltlos übernehmen.850 843 844 845 846 847 848 849 850

238

Vgl. Isokr. 8,22. Vgl. Opitz, Das Bild Philipps 30 mit Belegen in Anm. 12. Vgl. Opitz, Das Bild Philipps 31ff. Vgl. StV II² 298; Demosth. 2,6f.; Theopomp. FGrHist 115 F 30. Zum Nutzen Philipps von der Übergabe von Amphipolis an Athen äußert sich Isokrates auch im Jahr 346 nach dem Philokratesfrieden in der Rede Philippos (vgl. Isokr. 5,6). Vgl. Griffith, in: Hammond/Griffith, Macedonia II, 244 mit Belegen in Anm. 2. Vgl. Dobesch, Gedanke 60. Vgl. Isokr. 8,23. Auch wenn Isokrates an eine Teilnahme Makedoniens und Thrakiens am Attischen Seebund denkt, sodass Kleruchien in deren Gebiete angesiedelt werden, wirkt sein Plan unrealistisch. Vgl. Isokr. 8,24. Das Beenden der griechischen finanziellen Misere durch Kolonisation war seit dem Panegyrikos (vgl. Isokr. 4,36. 182) ein konstantes Ziel des

5.3.1.2 Ansehen Athens und gerechtes Handeln Auf der anderen Seite werde die strikte Einhaltung der Bestimmungen des neuen Friedensschlusses für Athen neue Bündner nicht durch Zwang, sondern durch Überzeugung zuführen.851 Dies steht im Gegensatz zur bisherigen – oben genannten – gewaltigen Steuerlast sowie dem Zwang der Bundesgenossen, weiterhin am Seebund teilzunehmen; Feindschaft (ἔχθραι) mit anderen Hellenen, Kriege (πόλεμοι) und hohe Kosten (δαπάναι) seien die negativen Folgen dieser imperialen Seeherrschaft gewesen.852 Isokrates bleibt seinem im Plataikos und Archidamos präsentierten Grundsatz treu, dass gerechtes Handeln den größten Nutzen und Gewinn einbringe. Dem gerechten Handeln werden die πολυπραγμοσύνη und die τῶν ἀλλοτρίων ἐπιθυμία gegenüber gestellt.853 Der Bundesgenossenkrieg wird somit als ungerechtfertigte Intervention in die Belange anderer Poleis und ein aus Gier nach fremdem Besitz geführter Krieg betrachtet. Isokrates nutzt hierbei die Gelegenheit, Musterbeispiele aus der Vergangenheit aufzugreifen. Den athenischen Vorfahren sei durch die anderen Hellenen die Hegemonie freiwillig überlassen worden, da ihre Kriegspolitik gegen die Perser auf dem δίκαιον basiert hatte.854 Dies ist durch zwei konkrete antiimperialistische Merkmale bestimmt: erstens durch die Hilfeleistung für Unrecht Leidende und zweitens durch das Vermeiden jeglichen Strebens nach fremdem Besitz: […] βοηθεῖν τοῖς ἀδικουμένοις καὶ μὴ τῶν ἀλλοτρίων ἐπιθυμεῖν […]855

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855

isokrateischen panhellenischen Konzeptes und wird auch im Philippos (vgl. Isokr. 5,120ff.) wiederholt. Lediglich in der Friedensrede scheint Isokrates seinen Kolonisationsplan nicht durch Krieg, sondern durch gerechtes Handeln der Athener und diplomatische Tätigkeit durchführen zu wollen. Vgl. Isokr. 8,21. Vgl. Isokr. 8,29. Vgl. Isokr. 8,26. Die zu verwerfende Vergangenheit wird als Gegensatz zum geforderten künftigen Verhalten der Polis dargestellt, indem die den zwei Perioden entsprechenden Prinzipien gegenübergestellt werden; konkret sollte die πολυπραγμοσύνη durch ἡσυχία, die ἀδικία durch δικαιοσύνη und die τῶν ἀλλοτρίων ἐπιθυμία durch τῶν ἰδίων ἐπιμέλεια ersetzt werden. Im selben Sinne fordert Xenophon in den Poroi ἡσυχία als Grundlage der außenpolitischen Neuorientierung Athens (vgl. Xen. vect. 5,3; Dillery, Historia 42 [1993] 1–11, bes. 6f. 9). Die Ähnlichkeit mit dem Wortlaut des berühmten diesbezüglichen Satzes des Thukydides ist auffällig; Thuk. 1,96,1: Παραλαβόντες δὲ οἱ ᾿Αθηναῖοι τὴν ἡγεμονίαν τούτῳ τῷ τρόπῳ ἑκόντων τῶν ξυμμάχων […]. Isokr. 8,30: […] παρ‘ ἑκόντων τῶν ῾Ελλήνων τὴν ἡγεμονίαν ἐλάβομεν. Zur freiwilligen künftigen Übergabe der Hegemonie, die allerdings εὐδοκιμεῖν und δόξα bei den Hellenen voraussetzt, vgl. Isokr. 8,135. 144. Vgl. Isokr. 8,30. 239

In diesem Satz werden die konstanten Ansichten des Isokrates bezüglich der Verhältnisse unter den Griechen widergespiegelt. Nur die Intervention als gerechtfertigte Hilfeleistung wird akzeptiert. Diese steht im Gegensatz zur Intervention, die sich aus der πολυπραγμοσύνη ergibt.856 Die Grenzen zwischen diesen zwei Prinzipien waren nicht immer sichtbar. Allerdings wurde πολυπραγμοσύνη bereits im 5. Jh. als ein Motiv des dynamischen Imperialismus wahrgenommen. K. Bringmann bringt dies mit der Radikalisierung der Demokratie während der Periode des DelischAttischen Seebundes in Verbindung. Thukydides sprach von der πολυπραγμοσύνη der Athener im Gegensatz zur ἀπραγμοσύνη der Spartaner, deren Ideal die Autonomie aller Staaten sei. Darauf spielt Isokrates anscheinend an, als er in § 108 auf πολυπραγμοσύνη als attisches Merkmal hinweist und diese für den Verlust von Bundesgenossen verantwortlich macht.857 Den Gedanke der πολυπραγμοσύνη als aktive und zuweilen aggressive Außenpolitik Athens hatte Isokrates dem 5. Jh. entlehnt, ihn aber wegen seine Auswirkungen auf die attische ἀρχή negativ beurteilt und strikt von der Intervention als Hilfeleistung getrennt.858 Auf das Gegenargument, dass ungerechtes Handeln zwar schändlich, aber im Gegensatz zum gerechten Handeln nutzbringend sei, antwortet Isokrates mit der Hervorhebung ethischer Werte (δικαιοσύνη, ἀρετή, εὐσέβεια), die als gottgefällig für die Polis nur nützlich sein konnten.859 Demzufolge sieht er in der Friedensrede, so wie in seinen anderen politischen Reden, keinen wirklichen Konflikt zwischen dem δίκαιον und dem συμφέρον.860 Speziell in der Friedensrede wird die Verbindung von Gerechtigkeit mit Erfolg und von Ungerechtigkeit mit Scheitern zur Hauptmaxime der isokrateischen Paränese.861 Isokrates nimmt erneut Bezug auf die Argumentation derjenigen Demagogen, die zur Kriegführung rieten. Zunächst wirft er ihnen vor, dass sie bestochen werden und 856 Vgl. Isokr. 8,30; Low, Interstate Relations 205f. Zur πολυπραγμοσύνη als Intervention und daher als imperialistisches Motiv in der Friedensrede vgl. auch Isokr. 8,26. 58. 108. Im Areopagitikos lobt Isokrates die Athener der Zeit der Perserkriege, die die persischen Interventionen in hellenischen Gebieten, also ihre πολυπραγμοσύνη beendet hatten (vgl. Isokr. 7,80). 857 Vgl. Bringmann, Studien 62ff.; zur πολυπραγμοσύνη und ἀπραγμοσύνη bei Thukydides vgl. die Quellengaben in Bringmann, Studien 63 Anm. 6 und Ehrenberg, JHS 67 (1947) 46–67, bes. 47–53. 858 V. Ehrenberg (JHS 67 [1947] 46–67, bes. 58) verweist auf die Rede des Alkibiades bei Thukydides, in der die Reaktion auf Hilfegesuche als Grundlage der Realisierung der Arché dargestellt wird. Βοηθεῖν wird aber in dieser Rede nicht als Gegensatz zur πολυπραγμοσύνη dargestellt; vgl. Thuk. 6,18,2. 859 Vgl. Isokr. 8,31ff.; Zur zentralen politischen Deutung der δικαιοσύνη und ihrer engen Verbindung zu ἀρετή und εὐσέβεια bei Isokrates vgl. Wolf, Rechtsdenken III.2, 275. In Isokr. 8,63 werden εὐσέβεια, δικαιοσύνη und σωφροσύνη als Leitprinzipien einer sinnvollen Politik dargestellt. 860 Vgl. Kennedy, TAPhA 90 (1959) 131–138, bes. 132; Gillis, Philologus 114 (1970) 195–210, bes. 209f. 861 Vgl. Bringmann, Redeliteratur, in: Orth, Isokrates 7–17, bes. 15. 240

stellt ihr Verhalten somit als eigennützig dar. Er scheut nicht davor zurück, ihr einzig rechtliches Argument, nämlich die zwangsmäßige Steuereintreibung bei den tributpflichtigen Bundesgenossen, zu erwähnen;862 Isokrates macht allerdings deutlich, dass die auferlegten Tributpflichten in der Tat eine gewaltige Ausplünderung der Bundesgenossen seien.863 In den Augen der anderen Griechen sei demnach Athen lediglich eine Macht, die die übrigen Hellenen dominiere und Tribute eintreibe.864 Dieser Gedanke bestand bereits im 5. Jh.; Thukydides nennt dies als eine der wichtigsten Ursachen, die zur Missstimmung gegenüber Athen und zu den Aufständen der Bündner führte.865 Es ist festzustellen, dass sich Isokrates gegen den Bundesgenossenkrieg wendet, indem er das δίκαιον in Betracht zieht, ohne aber unmittelbar auf ungerechte Aktionen Athens während dieses Krieges oder in den Jahren unmittelbar davor hinzuweisen. In seinen Bezügen auf die Gegenwart legt er größeren Wert darauf, vom materiellen und politischen Nutzen einer friedliebenden und gerechten Neuorientierung des Staates zu sprechen. Den Bundesgenossenkrieg betrachtet er als die letzte Etappe einer ungerechten Machtausübung der Athener, die durch πολυπραγμοσύνη gekennzeichnet wird. Er führt lediglich die gewaltige Steuereinnahme Athens vor dem Krieg als Beispiel für ungerechtes Handeln an, das konkret mit diesem Krieg verbunden wird. Der Rhetor ist vielmehr daran interessiert, seine Gesamtkonzeption gegen die Ausübung von Arché darzustellen.866

5.3.2 Gegen die ungerechten Kriege während der Arché Zu seiner Stellungnahme gegen die imperialen Ambitionen Athens verwendet Isokrates im Hauptteil der Friedensrede moralische und historische Argumente.867 Er fordert den Verzicht auf die Seeherrschaft, denn diese sei die Ursache fast aller Übel gewesen. Sie habe den Vorfahren ταραχή gebracht, ihre δημοκρατία gefährdet und die εὐδαιμονία verhindert.868 Hier macht Isokrates deutlich, dass die ἀρχή zunächst die inneren Verhältnisse, wozu die demokratische Verfassung der Polis gehört, negativ beeinflusst und führt somit den populären Gedanken der Mitte des 4. Jh. an, dass Athen im Peloponnesischen Krieg aufgrund innerer Verwirrungen untergegangen sei.869 Die Kritik des Isokrates an den Trägern der radikalen Demokratie, die er sowohl in der letzten Phase des Peloponnesischen Krieges als auch in der Zeit der Friedensrede als eigennützige Kriegstreiber mit imperialistischen Motiven 862 863 864 865 866 867 868 869

Vgl. Isokr. 8,36. Vgl. Isokr. 8,29. 46. 90. Vgl Isokr. 8,124f. Vgl. Thuk. 1,99; Davidson, Historia 39 (1990) 20–36, bes. 29. Vgl. Davidson, Historia 39 (1990) 20–36, bes. 30. Vgl. Isokr. 8,63–119; Usher, Greek Oratory 303. Vgl. Isokr. 8,64. Vgl. Davidson, Isocrates against Imperialism: An Analysis of the De Pace, in: Historia 39 (1990) 20–36, bes. 34. 241

betrachtet, ist offensichtlich und wird unter Berücksichtigung der Leitlinien des Areopagitikos bestätigt.870 Isokrates erweitert seine Argumentation durch die Auffassung, dass die Arché auch in außenpolitischer Hinsicht unnütz sei. Dazu geht er von der Lage Athens Ende des Bundesgenossenkrieges aus und bezweifelt, dass eine erneute attische Herrschaft noch möglich (δυνατήν) sei.871 Während der Rhetor in seinen bisherigen politischen Reden das Verhalten der athenischen Vorfahren lediglich wegen der vorbildlichen Funktion für die Gegenwart verwendet, muss er sich in der vergangenheitskritischen Friedensrede teilweise von der absolut positiven Beurteilung der älteren politischen Praxis distanzieren. Da die Nachahmung der Vorfahren ein Topos zur Begründung für ungerechte Kriege bzw. für das expansive Verhalten der Polis war, unterscheidet Isokrates zum ersten Mal zwischen zwei Perioden der attischen Vergangenheit: Auf der eine Seite stehen die Athener, die in den Perserkriegen heroisch gekämpft hatten und nachher die Hegemonie des Delisch-Attischen Seebundes mit Einwilligung der anderen Hellenen übernehmen durften.872 Auf der anderen stehen die Athener, die ihre ἀρχή durch eine ungerechte Kriegspolitik missbrauchten und sich deswegen am Ende des Peloponnesischen Krieges nahe einer totalen Katastrophe befanden: An die Stelle des Wohlwollens (εὔνοια) trat bald der Hass (μῖσος) der Bündner.873 Hierbei verwendet der Rhetor das Schema: Ungerechte Kriege – Missachtung bei den Hellenen bzw. Bundesgenossen – Niederlage im Krieg und Verlust der ἀρχή. Auffällig ist die Kritik an Athens Vorgehen gegen seine Bundesgenossen während des Peloponnesischen Krieges. Die Athener seien diejenigen gewesen, die mit der Offensive begannen. Die Bundesgenossen seien stattdessen in der Defensive gewesen und hätten viel Unglück leiden müssen (οὐ γὰρ ὑπάρχοντες, ἀλλ‘ ἀμυνόμενοι καὶ πολλὰ καὶ δεινὰ παθόντες).874 Hierbei führt Isokrates den Gedanken des Verteidigungskrieges als eines gerechtfertigten Krieges an. In der Lobrede des kyprischen Königs Euagoras hatte der Rhetor mit ähnlichem Wortlaut die Machtübernahme des Königs gerechtfertigt; Euagoras handelte angeblich unter dieser moralischen Maxime auch bezüglich seiner Kriege gegen Sparta und 870 Vgl. auch Isokr. 8,51; 95. Bringmann, Studien 64f.; Bearzot, Ο Ισοκράτης και το ζήτημα της δημοκρατίας 318; Jaeger, Areopagitikos, in: Seck, Isokrates 139–188, bes. 179–188. Die führenden Köpfe der radikalen Demokraten, gegen die sich Isokrates wendet, sind namentlich nicht erwähnt; es ist allerdings an Chares als Strategen und Aristophon als Rhetor und Politiker zu denken (vgl. Opitz, Das Bild Philipps 27f. mit Belegen in Anm. 5). 871 Vgl. Isokr. 8,66. 872 Vgl. Isokr. 8,30. 42f. 873 Vgl. Isokr. 8,78; vgl. dazu Romilly, JHS 78 (1958) 92–101, bes. 97. Zum Hassmotiv vgl. auch Isokr. 8,29. 47. 82. 100. Isokrates hatte bereits in § 37 deutlich gemacht, dass er sich zwischen den Athenern der Perserkriege und denen des Dekeleischen Krieges an die ersteren halten wolle. 874 Vgl. Isokr. 8,79. 242

den Perserkönig, die als Hilfe für die Unterdrückten sowie als Reaktion auf Provokation und keineswegs als Krieg zur Machtausdehnung des Königs dargestellt wurden.875 Allerdings stellt Isokrates in der Friedensrede Athen zum ersten Mal als eine willkürlich angreifende Macht dar. In dieser Rede besteht keinen Grund mehr, den Delisch-Attischen Seebund zu rechtfertigen, was im Panegyrikos der Fall war. Die Umorientierung der isokrateischen Einstellung gegenüber der athenischen ἀρχή ist unbestritten.876 Dasselbe gilt für die Kriegspolitik Athens während der ἀρχή. Im Jahr 380 wurden die ungerechten Kriege während der attischen Herrschaft im 5. Jh. offensiv gerechtfertigt,877 da dies durch die Zielsetzung der Rede geboten war; im Panegyrikos sollten die nationalen Interessen durch die Wiederherstellung der attischen ἀρχή gefördert werden. 25 Jahre später beurteilt Isokrates in der Friedensrede die von den Athenern während dieses Bundes geführten Kriege als Folge ihres Machtstrebens (πλεονεξία).878 Demzufolge sei die Sizilische Expedition ein Krieg gegen Menschen gewesen, die Athen nie Unrecht getan hätten (ἐπὶ δὲ τοὺς οὐδὲν πώποτ' εἰς ἡμᾶς ἐξαμαρτόντας στρατιὰν ἐκπέμποντες)879 und entsprang einem reinen imperialistischen Element, nämlich der Gier nach fremdem Besitz (ἡ τῶν ἀλλοτρίων ἐπιθυμία) und einem wahnwitzigen Ehrgeiz.880 Daraufhin listet Isokrates athenische Niederlagen in der Vergangenheit auf, damit die katastrophalen Folgen der Arché aufgewiesen werden. Es wird auf die Kriege Athens in Ägypten und Kypros in den 450er Jahren sowie auf die großen Verluste von der Sizilischen Expedition 415 bis zum Ende

875 Isokr. 9,28: […] ἀμύνεσθαι καὶ μὴ προτέρους ὑπάρχειν […]. Zur Hilfe des Euagoras für Athen gegen Sparta im Korinthischen Krieg behauptet Isokrates, dass Athen durch Spartas ἀρχή unterdrückt war und ihm die Lakedaimonier in der Tat den Anlass zum Krieg gegeben hätten (vgl. Isokr. 9,54); ähnlich hätte Euagoras Krieg gegen den Großkönig geführt, weil dieser ihn zwang, die Offensive aufzunehmen (vgl. Isokr. 9,58). Ohne Rücksicht auf die historische Wahrheit zu nehmen, versucht Isokrates Euagoras‘ Machtausdehnungsbestreben als Kriege zur Hilfeleistung gegenüber ungerecht Behandelten bzw. als Verteidigungskriege zu rechtfertigen. Vgl. Sykutris, Hermes 62 (1927) 24–53, bes. 33. 876 Während im Panegyrikos von einem rechtmäßigen Anspruch der Athener auf ihre Herrschaft über die Hellenen gesprochen (Isokr. 4,123: […] νομίμως ἐπάρχειν τινῶν ἠξιοῦμεν) und der Sturz der attischen Arché als die Ursache aller Übel bezeichnet wurde (vgl. Isokr. 4,119), ist es in der Friedensrede (Isokr. 8,64. 101) umgekehrt: Die Arché selbst ist σχεδὸν ἁπάντων αἰτία τῶν κακῶν. 877 Vgl. Isokr. 4,100ff. Es handelt sich um die Vernichtung der Skioner im Jahr 421 und die Versklavung der Melier im Jahr 416 durch die Athener. 878 Vgl. Isokr. 8,82. 879 Isokr. 8,84. 880 Vgl. Isokr. 8,84f. Während Isokrates hierbei von der ἀφροσύνη der Athener in der Zeit des Dekeleischen Krieges spricht, stellt er in § 119f. die individuelle σωφροσύνη als Wert dar, der auch das Verhalten des Staates regeln sollte; vgl. Davidson, Historia 39 (1990) 20–36, bes. 25f. 243

des Peloponnesischen Krieges hingewiesen. 881 Zwar geht er nicht konkret auf die Kriegsschuldfrage ein, die Kriege werden aber eindeutig im Rahmen der imperialen Kriegspolitik und Machtausübung Athens erwähnt. Während allerdings die Feldzüge nach Ägypten und Kypros zeitlich weit zurücklagen,882 war die Sizilische Expedition im Gedächtnis der Athener als unnötige Katastrophe verankert. Damit die Allgemeingültigkeit der Negativfolgen von Arché, insbesondere der ἀρχὴ τῆς θαλάττης, bewahrt bleibt, wird in der isokrateischen Kritik auch die spartanische Herrschaft mit einbezogen. Die lakedaimonische ἀρχή von 404 bis 371 habe durch Interventionen dazu geführt, dass Sparta gegen die Autonomie griechischer Poleis verstoßen und rechtswidrig gehandelt habe,883 denn δίκαιόν ἐστιν αὐτονόμους εἶναι τοὺς ῞Ελληνας884; ferner sei es ungerecht und nicht nützlich, dass nur eine einzige Polis über alle Hellenen herrsche (οὔτε δίκαιόν ἐστιν οὔτε συμφέρον μίαν πόλιν κυρίαν εἶναι τῶν ῾Ελλήνων)885. Dieses Argument war der Ausgangspunkt des anti-spartanischen Bündnisses im Jahr 395 zunächst zwischen Theben und Athen, dem sich danach auch Argos, Korinth und andere Poleis anschlossen.886 Isokrates entwickelt diesen letzten Punkt mit der Absicht weiter, um nachdrücklich darzulegen, dass die Herrschaft der Stärkeren über die Schwächeren nicht gerecht sei (οὐ δίκαιόν ἐστιν τοὺς κρείττους τῶν ἡττόνων ἄρχειν)887. Hier besteht ein Gegensatz zur sophistischen These des 5. Jh., die das Recht des Stärkeren propagiert, was auch im thukydideischen Melierdialog zum Ausdruck kommt;888 auf der anderen Seite stellt K. Bringmann fest, dass Isokrates hierbei das Prinzip des Sophisten Antiphon über die natürliche Gerechtigkeit, die darin bestehe, weder Unrecht zu tun noch Unrecht zu leiden, auf die Politik überträgt.889 881 Vgl. Isokr. 8,86f. Konkret nennt Isokrates die Verluste Athens in Ägypten kurz nach 460, auf Kypros gegen Ende der 450er Jahre, in Sizilien während des Peloponnesischen Krieges von 415 bis 413, bei Daton, also während des Dekeleischen Krieges 414–404, und am Hellespont, also bei Aigospotamoi 405. Dabei berücksichtigt er die Angaben des Thukydides nicht und übertreibt demzufolge bezüglich der athenischen Verluste in Sizilien und bei Daton, damit sein Argument größeren Eindruck macht. Vgl. Mathieu, Ιδέες 185f. 882 Es ist sogar fraglich, ob diese wirklich als Ausdruck einer imperialen Politik zu werten sind. Vgl. Welwei, Athen 97f. 883 Vgl. Isokr. 8,96–100. Hierzu gehört die Installierung von Dekarchien durch die Spar­ taner nach 404 in einigen griechischen Poleis, wovon im Panegyrikos §§ 110–114 die Rede ist. Konkret wird auf die Expeditionen der Spartaner nach Elis 402–1, Korinth 391, Argos 390, Mantineia 385, Phleius 381/379 hingewiesen. Vgl. Laistner, De Pace and Philippus 111f. 884 Isokr. 8,67. 885 Isokr. 8,68. 886 Vgl. Laistner, De Pace and Philippus 98. 887 Isokr. 8,69. Dieselbe Auffassung hatte Isokrates aus anderem Anlass in früheren Reden vertreten (vgl. Isokr. 4,81; 2,24; 14,20; 3,61). 888 Vgl. Thuk. 5,89. 889 Vgl. Antiph. VS II 87B 58; Bringmann, Studien 68f. 244

Als ein zusätzliches emotional starkes Argument für den Verzicht auf die Seeherrschaft benutzt Isokrates den Vergleich der innenpolitischen Alleinherrschaft eines Tyrannen,890 die für die Athener völlig inakzeptabel war,891 mit der Alleinherrschaft einer Polis über die anderen, wonach die Athener strebten. Er sieht in den Wirkungen und Konsequenzen dieser beiden Herrschaftsformen keinen Unterschied, wobei er allerdings die Ähnlichkeiten nicht gründlich aufzeigt,892 sondern auf die für ihn identischen Termini τυραννίς und ἀρχὴ κατὰ θάλατταν beschränkt.893 Der Rhetor ruft hiermit den Geist der wahrhaftigen Demokratie ins Leben, was den Verzicht auf Machtstreben bedeuten sollte.894 Darüber hinaus behauptet Isokrates, dass zwischen den Staaten dieselben durch die ἀρετή definierten moralischen Regeln herrschen sollten wie zwischen einzelnen Menschen.895 Er bleibt somit in der Friedensrede dem Grundsatz seines politischen Denkens treu, dass keine Gewalttat mit utilitaristischen Argumenten zu rechtfertigen sei.896 Es ist festzuhalten, dass für Isokrates die Seeherrschaft lediglich den Machtmissbrauch Athens anhand des verderblichen Strebens der Athener nach selbstherrlicher Machtentfaltung aufzeigt.897 Somit ist der moralische Niedergang der Athener sowohl im privaten als auch im innen- und außenpolitischen Bereich nicht das Ziel, sondern der Ausgangspunkt seiner Argumentation.898 Isokrates klärt selbst nicht die Frage, wann er den Anfang des athenischen Machtmissbrauchs sieht. Indem er Beispiele von unterschiedlichen Epochen des Delisch-Attischen Seebundes anführt, 890 Der Begriff τύραννος hat bei Isokrates nicht unbedingt pejorativen Beiklang und wird meistens als Synonym zu μόναρχος und βασιλεύς verwendet; je nach Zielsetzung hat Isokrates allerdings die Bedeutung der Tyrannos-Ausdrücke modifiziert (vgl. Eucken, Isokrates 220 mit Anm. 31). 891 Isokrates selbst bezieht sich in seiner fingierten Rede des kyprischen Monarchen Nikokles (Isokr. 3,24) auf Athen mit der Phrase τὴν πόλιν τὴν μάλιστα τὰς τυραννίδας μισοῦσαν. 892 Vgl. Isokr. 8,91. 111–115. Es ist Isokrates bewusst, dass die Ähnlichkeit zwischen τυραννίς und ἀρχή in Athen nicht ohne weiteres annehmbar wäre, trotzdem stellt er diese als Faktum dar, sodass sein Argument größeren emotionalen Eindruck hinterlässt (vgl. Tuplin, Imperial Tyranny, in: Cartledge/Harvey, Essays 348–375, bes. 361). 893 Vgl. Isokr. 8,115. Isokrates vergleicht hier die athenische ἀρχή mit einem Tyrannen, so wie es Thukydides gemacht hatte (vgl. Thuk. 1,124,3; 3,37,2). Sonst wurde die Metapher der Stadt als Tyrann im 4. Jh. klischeehaft verwendet (vgl. Plat. rep. 8,565d; Aristot. pol. 1310b 1ff. 14ff.; dazu die Literaturangaben in Burckhardt, Bürger und Soldaten 185 Anm. 118). 894 Vgl. Jaeger, Paideia III, 197. 895 Vgl. Isokr. 8,119f. Zur Übertragung der Privatmoral in den Bereich der Beziehungen des Bürgers mit dem Staat vgl. Isokr. 8,4. 13. 896 Vgl. Sykutris, Hermes 62 (1927) 24–53, bes. 33f. 897 Vgl. Grieser-Schmitz, Seebundpolitik 180. 898 Vgl. Low, Interstate Relations 160. 245

ist er hauptsächlich daran interessiert, die imperialistischen Elemente Athens als Führungsmacht des Seebundes aufzuweisen, und nicht daran, die unterschiedlichen Perioden gründlich zu analysieren, um die Entwicklungsrichtung aufzuzeichnen; der Unterschied zwischen der anfänglichen ἡγεμονία Athens und seiner späteren ἀρχή ist für seine argumentativen Ziele völlig hinreichend.899 Speziell die Kriege während der attischen und lakedaimonischen Herrschaft waren für Isokrates ungerecht, weil sie willkürliche Offensivkriege waren, die sich gegen die Autonomie griechischer Poleis wandten. Ihre Motive des Machtstrebens und der Gier nach fremdem Besitz waren von der Maxime der Stärkeren gegen Schwächere geleitet. Diese Kriege hatten allerdings in einigen Fällen die totale Niederlage und in langfristigerer Hinsicht immer den Verlust der Arché zur Folge. Zusammenfassend gesehen erscheint das ungerechte Handeln für alle Poleis als keinesfalls nützlich.

5.3.3 Hegemonie, Prostasie und gerechte Kriegführung Durch die Betrachtung der Vorschläge des Isokrates bezüglich der politischen Richtung nach der Beendigung des Bundesgenossenkrieges werden seine Positionen zur gerechten Kriegführung deutlich: Die Hegemonie würde den Athenern von den anderen Hellenen lediglich unter zwei Voraussetzungen übergeben: Athen solle mächtig sein und sich dennoch gerecht verhalten. Die Polis müsse demnach für Kriege gut vorbereitet sein, aber trotzdem einer friedlichen Politik unter Berücksichtigung des δίκαιον folgen: ῍Ην οὖν ἐμμείνητε τοῖς εἰρημένοις καὶ πρὸς τούτοις ὑμᾶς αὐτοὺς παράσχητε πολεμικοὺς μὲν ὄντας ταῖς μελέταις καὶ ταῖς παρασκευαῖς, εἰρηνικοὺς δὲ τῷ μηδὲν παρὰ τὸ δίκαιον πράττειν, οὐ μόνον εὐδαίμονα ποιήσετε ταύτην τὴν πόλιν, ἀλλὰ καὶ τοὺς ἄλλους ῞Ελληνας ἅπαντας.900

Die Kriegsvorbereitung sei demnach lediglich eine Vorbereitung zur Hilfeleistung für die Unrecht Leidenden.901 Sie soll zwar die Grundlage eines dauerhaften Friedens in Hellas schaffen,902 ist aber kein Garant für Frieden im Allgemeinen, sondern ein 899 Vgl. dazu die Diskussion der Problematik in: Davidson, Historia 39 (1990) 20–36, bes. 21–24. 900 Isokr. 8,136. Den Gedanken der Vorbereitung zum Krieg in Zusammenhang mit einer friedliebenden Politik und gerechten Kriegführung hatte Isokrates bereits um 374 im Rahmen seines erzieherischen Konzeptes gegenüber dem jungen kyprischen Monarchen Nikokles vorgebracht (vgl. Isokr. 2,24). 901 Vgl. Isokr. 8,137f. 902 Vgl. Bringmann, Studien 72; L.A. Burckhardt (Bürger und Soldaten 191f. mit Anm. 142), weist darauf hin, dass ein Unterschied zur spätrömisch überlieferten Leitlinie si vis pacem, para bellum besteht: Bei Isokrates ist grundlegende Friedensvoraussetzung nicht alleine die Kriegsrüstung, sondern zusätzlich der Wille, auf ungerechte Kriege und deren Früchte zu verzichten. 246

Garant für Frieden mit den künftigen Bundesgenossen – im besten Fall mit allen Griechen –, was ebenfalls als die Ausgangsbasis einer gerechten Kriegführung betrachtet wird.903 Aufgrund ihrer Gerechtigkeit und Macht (δύναμις) könne die Polis möglichst viele Bundesgenossen gewinnen,904 wobei sich ihre Rolle auf die des Prostates der griechischen Freiheit (προστῆναι τῆς τῶν ῾Ελλήνων ἐλευθερίας)905 und des Retters der Hellenen beschränken solle, was Isokrates mit dem Motiv der sich von der Nachahmung der Vorfahren ergebenden δόξα verbindet.906 Wenn Athen also die immerwährende Hegemonie übernehmen wolle, sollte es keine sinnlosen Kriege mehr führen.907 Die Kriege gegen Hellenen müssten vermieden oder lediglich zur Wahrung der Autonomie und Freiheit geführt werden. Durch diesen Argumentationsstrang wird die Nichtinterventionspolitik des Eubulos im Jahr 355 durch Isokrates nicht nur vertreten, sondern auch propagiert.908 Auf der anderen Seite kann der Führungsanspruch Athens nur mit Bezug auf einen Perserkrieg verstanden werden.909 Die Hegemonie kann nämlich nur als die Führung in einem gemeinsamen Krieg gegen eine dritte Macht erlangt werden, wobei die Perser der wahrscheinlichste Feind sind.910 Isokrates propagiert dennoch in der Friedensrede keineswegs einen panhellenischen Krieg gegen das Perserreich. Die Umstände für einen solchen waren völlig

903 D. Gillis (Philologus 114 [1970] 195–210, bes. 198) übersieht den Hinweis auf den Krieg als Hilfeleistung in § 138 und sieht in der Kriegsvorbereitung lediglich den Garanten des Friedens. 904 Vgl. Isokr. 8,138f. 905 Isokr. 8,141. So wie Demosthenes wählt Isokrates für den Führungsanspruch Athens einen Begriff mit positiver Konnotation. Durch die Prostasie tritt die Schutzfunktion der Führungsmacht in Gegensatz zur Herrschaftsausübung, worauf die Arché hinweist. Zur terminologischen Analyse des Begriffes vgl. Kap. V. 5.5.2 (hier S. 429–434). Ähnlich wird in § 24 der milde Ausdruck πρωτεύειν ἐν τοῖς ῞Ελλησιν verwendet. 906 Vgl. Isokr. 8,141. 42. 907 Isokr. 8,142: […] παύσασθαι δὲ τῶν πολέμων τῶν μάτην γιγνομένων, κτήσασθαι δὲ τῇ πόλει τὴν ἡγεμονίαν εἰς τὸν ἅπαντα χρόνον […]. 908 Ebenso in Xenophons Poroi. Vgl. Xen. vect. 1,1; 4,51; 5,1–13; Bringmann, Studien 73 mit Anm. 2.; Dillery, Historia 42 (1993) 1–11, bes. 6f. 909 Den Gedanken des Panegyrikos, dass die Griechen von Natur zur Herrschaft über die Barbaren bestimmt seien, hatte Isokrates sogar zur für Hellas ungünstigen Zeit der Friedensrede nicht fallen lassen (vgl. Jaeger, Paideia III, 196); die Verpflichtung Athens als Führungsmacht, die Freiheit einer in ihren Gliedern autonomen Poliswelt zu sichern und somit die Voraussetzungen für einen Feldzug gegen Persien zu schaffen, geht aus der Friedensrede hervor (Grieser-Schmitz, Vorstellungen, in: Orth, Isokrates 111–127, bes. 117). 910 Vgl. Perlman, Historia 25 (1976) 1–30, bes. 27; Naef, Klio 79 (1997) 317–340, bes. 333. 247

ungünstig.911 Die Rückkehr zu einem Friedensschluss nach dem Vorbild des Königsfriedens bzw. des Friedens von 375 sollte vielmehr derzeit den Ausbruch eines solchen Krieges verhindern. Isokrates lässt jedoch eine künftige panhellenische Aktion offen, denn sollte Athen nach der Umorientierung seiner Politik auf eine gerechtere Basis die Hegemonie und die Rolle des Prostates der griechischen Freiheit übernommen haben, wäre eine solche nicht auszuschließen.

5.4 Fazit Isokrates fordert zur Zeit des Bundesgenossenkriegs durch den Areopagitikos und die Friedensrede eine innen- und außenpolitische Neuorientierung der athenischen Politik. Seine Ansichten in Bezug auf eine gerechte Kriegführung bleiben allerdings konstant, obgleich er zum ersten Mal Kritik an den ungerechten Kriegen Athens, während es die Hegemonie des Delisch-Attischen Seebundes innehatte, übt. Im Areopagitikos wird das Motiv des panhellenischen Perserkrieges als Racheaktion angesprochen, allerdings ohne die Forderung nach einem neuen Feldzug gegen das Perserreich. Dies würde das Thema der Rede über die Verfassungsreform nicht treffen. In der Friedensrede geht es nicht um eine Kriegsrechtfertigung, es werden aber die Ansichten des Isokrates über die Kriegspolitik Athens im Rahmen seines neuen Reformkonzeptes angesichts des Scheiterns der Polis im Jahr 355 deutlich. Den Bundesgenossenkrieg sowie alle Kriege zum Erlangen oder Festigen der attischen Seeherrschaft lehnt Isokrates strikt ab, indem er sie als ungerecht und demzufolge als nicht nützlich darstellt. Seine Argumentation folgt hier den sophistisch geprägten und philosophischen Diskussionen des 5. und 4. Jh. über die Beziehung zwischen δίκαιον und συμφέρον. Während die materiellen Vorteile für Isokrates ein selbstverständliches Ziel der athenischen Politik sind, behauptet er emphatisch, dass nicht der Krieg, sondern der Friede das geeignete Mittel dazu sei. Die hohen Kriegskosten bedingen eine schwere finanzielle Belastung athenischer Bürger und Metöken und drängen zu einer ungerechten und sinnlosen Steuerpolitik gegenüber den Bundesgenossen im Seebund. Hiermit beabsichtigt Isokrates zum einen die kriegsbegeisterten Athener, die auf Verbesserung ihrer finanziellen Lage durch den Krieg hoffen, zum Umdenken zu bewegen; zum anderen befasst er sich mit einem wichtigen Grund für den Austritt von Poleis aus dem Seebund, der zum Bundesgenossenkrieg geführt hatte. Die Änderung der Einnahmequellen Athens sollte nach dem Krieg dazu beitragen, dass Athen das Wohlwollen seiner Bündner erhält und als friedliebende Führungsmacht erscheint. In dieser Richtung soll auch von der Intervention gegen die Autonomie anderer Poleis sowie vom bisherigen Expansionsstreben abgeraten werden. Dies

911 Isokrates vermeidet also eine antipersische Propaganda, die eventuell zur Argumentation der Rede gut gepasst hätte, weil es derzeit zu früh für einen Perserkrieg war. Vgl. Gillis, Philologus 114 (1970) 195–210, bes. 199. 248

sind Elemente, die das athenische außenpolitische Verhalten vor und während des Bundesgenossenkrieges gekennzeichnet und Athen in die finanzielle Misere und politische Isolierung geführt hatten. In Bezug auf die Beurteilung der Arché Athens und Spartas in der Vergangenheit charakterisiert Isokrates Typen von Kriegen, die allgemein als ungerecht galten. Dazu gehören die Offensivkriege aus Machtstreben: Diejenigen, die die Autonomie griechischer Poleis einschränkten, sowie Kriege, die auf die Herrschaft einer einzigen Polis über die übrigen Hellenen abzielten, und Kriege von stärkeren Mächten gegenüber Schwächeren. Isokrates wirft in der Friedensrede demzufolge Athen zum ersten Mal vor, ungerechte Kriege geführt zu haben. Diese macht er für das katastrophale Ende der Arché verantwortlich und fordert – davon ausgehend – ein gerechteres außenpolitisches Verhalten. Die Ansichten des Rhetors über die Kriegsrechtfertigung haben sich nicht geändert; sie werden lediglich anhand der Zielsetzung der Friedensrede konkretisiert. Isokrates fühlt sich in den 350er Jahren genötigt, harsche Kritik an seiner Heimatstadt zu üben, wodurch er es versteht, seiner Polis einen Dienst zu leisten. In einer Zeit der Resignation und des allgemeinen Umdenkens in Athen ist Isokrates der Vermittler und Verteidiger der Gedanken über eine gemäßigte und gerechtere außenpolitische Linie. Er will aber keineswegs Athen nur eine Nebenrolle in Hellas zuweisen; im Gegenteil – Athen soll zwar nicht die herrschende, jedenfalls aber doch die führende Macht in Hellas werden. Die Kriege, die die Polis von jetzt an führen sollte, könnten nur als Form der Hilfeleistung an Poleis wegen eines erlittenen Unrechts praktiziert werden oder das große Ziel der Verteidigung der griechischen Freiheit verfolgen. Dies bedeutet, dass nur gerechte Kriege in Hellas oder gemeinsame panhellenische Kriege unter der Führung Athens in der Zukunft geführt werden dürften. Allerdings ist für Isokrates sowie für die meisten übrigen Athener zur Zeit der Friedensrede ein Krieg gegen das Perserreich keineswegs sinnvoll.

5.5 Die Antidosisrede Zwischen 355 und 346 veröffentlichte Isokrates keine politische bzw. symbuleutische Schrift. Ein Grund dafür kann die für seine politische Konzeption ungünstige Lage sein; der Krieg zwischen Athen und Philipp II. um Amphipolis hatte länger als angenommen gedauert und bestimmte in dieser Zeit weitgehend die athenische Außenpolitik. Ein weiterer Grund sind die persönlichen Angriffe, die Isokrates im Rahmen des Prozesses gegen ihn über den Vermögensaustausch hinnehmen musste.912 Kritik an seiner Lehrtätigkeit und Vorwürfe, dass er durch seine publizistische 912 Der athenische Bürger Lysimachos hatte von einem Gesetz Gebrauch gemacht, wonach jeder wohlhabende Bürger, der aufgrund der Steuerpolitik des Staates zur Finanzierung eines Teiles der Kriegskosten durch die Leistung der Trierarchie herangezogen wurde, die Möglichkeit hatte, diese auf einen anderen Bürger dadurch abzuschieben, dass er im Falle der Weigerung Vermögensaustausch beantragte (vgl. Rhodes, DNP 1 [1996] s. v. Antidosis 747). Isokrates erschien nicht selbst vor 249

und erzieherische Lehre ein großes Vermögen gemacht hätte, stellten zudem einen Angriff gegen seinen Ruf und seine Popularität dar. Im Jahr 353 veröffentlichte er lediglich eine fingierte Gerichtsrede, in der er als Anlass den Prozess nimmt, um sein Leben sowie seine Lehrtätigkeit zu verteidigen. Die Antidosisrede ist folglich eine Verbindung von Gerichtsrede, Selbstverteidigung und Autobiographie, sodass sie durchaus politische Motive enthält.913 Die in dieser Rede präsentierten Ansichten des Isokrates unterscheiden sich keineswegs von seinen früheren Schriften, die er zum Teil auch zitiert. Bei seinen Hinweisen auf den Krieg wiederholt er seine konstanten Prinzipien: Krieg solle sich möglichst gegen Barbaren wenden und von Nutzen für Athen und Hellas sein. Der bereits im Panegyrikos geforderte Perserkrieg wird als das schönste und bedeutsamste Thema jeder Rede gepriesen.914 Isokrates erinnert seine Leser bzw. Zuhörer daran, dass er die Beendigung der kritischen Lage in Hellas in einer Gesamtlösung sehe, wobei Athen als Prostates der Hellenen gerecht zu handeln und für die materiellen Vorteile aller zu sorgen habe.915 In der Antidosis legt Isokrates großen Wert darauf, den Erfolg seines erzieherischen Konzeptes nachzuweisen. Dazu entwirft er in §§ 101–139 das Porträt seines bedeutenden Schülers Timotheos, der zum Zeitpunkt der Rede nicht mehr am Leben war. Timotheos hatte trotz einiger Erfolge als Stratege keine Popularität bei den Athenern erlangen können, sodass der Rhetor hier die Beziehung dieser individuellen Persönlichkeit zur politischen Gemeinschaft wiederherstellen will.916 Isokrates versucht daher zu belegen, welchen Nutzen seine Lehre, insbesondere die Übertragung auf die praktische Weisheit (φρόνησις), für Timotheos auch bezüglich der Kriegführung hatte.917 So spricht er von der Fähigkeit des Strategen, zu erkennen, gegen wen Krieg zu führen sei und wer zum Bundesgenossen gemacht werden solle. Andernfalls werde der Krieg unvorteilhaft (ἀσύμφορος),

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Gericht, er wurde von seinem Adoptivsohn Aphareus vertreten. Der Prozess wurde zulasten des Isokrates entschieden. Vgl. Münscher, RE IX,2 (1916) s. v. Isokrates [2] 2146–2227, bes. 2208f. Jaeger, Paideia III, 200. Vgl. Isokr. 15,57f. 77. Vgl. Isokr. 15,79. 85 und 86: Καίτοι τὸν πάντας τοὺς πολίτας προτρέπειν προθυμούμενον πρὸς τὸ βέλτιον καὶ δικαιότερον προστῆναι τῶν ῾Ελλήνων […]. Es handelt sich hier um eine Wiederholung der Hauptgedanken der Friedensrede, nämlich um die Kritik an der Seeherrschaft Athens. Die Enttäuschung des Isokrates über die Verurteilung des Timotheos vor athenischem Gericht und dessen Unpopularität bei den Athenern wird in §§ 129–139 deutlich. Nach G. Heilbrunn (Hermes 103 [1975] 154–178, bes. 159) kam es Isokrates mehr darauf an, den athenischen Demos und die radikal-demokratischen Rhetoren anzugreifen, als die Tätigkeit seines Schülers zu rechtfertigen; vgl. dazu auch Alexiou, Ruhm und Ehre 69; ders., Euagoras 18. Vgl. Depew, Practical Philosophy, in: Poulakos/Depew, Isocrates 157–185, bes. 172f. Zu den erzieherischen Leitlinien des Isokrates über die Haltung eines Machthabers zum Krieg vgl. auch. Isokr. 2,24.

schwer durchführbar (χαλεπός) und sinnlos (περίεργος).918 Neben den ethischen, politischen und strategischen Vorzügen hält der Rhetor alle Feldzüge und Poleiseinnahmen des berühmten Strategen zweifelsohne für gerechtfertigt.919 Die Kriege des Timotheos waren laut Isokrates nicht an materiellen Gewinnen orientiert, sondern waren wegen ihrer politischen Erfolge von Nutzen. Dies wird durch den Friedensschluss von 375 nachgewiesen, den der Rhetor bereits im Plataikos für sehr erfolgreich hielt.920 Darüber hinaus habe Timotheos Athen weder finanziell belastet noch die Bundesgenossen durch zwangsmäßiges Geldeintreiben verärgert, da er die Kriegskosten entweder durch Mittel des eroberten Feindeslandes oder durch Gelder deckte, die er selbst herbeigeschafft hatte.921 Die Gerechtigkeit der Kriege des Timotheos begründet Isokrates nicht sachlich, sondern durch die Behauptung, dass alle Hellenen diese Kriege für gerecht hielten: πλείστους γὰρ πολέμους ἄνευ τῆς πόλεως ἀνελόμενος ἅπαντας τούτους κατώρθωσεν καὶ δικαίως ἅπασι τοῖς ῞Ελλησιν ἔδοξεν αὐτοὺς ποιήσασθαι.922

Durch diese Feststellung werden die aufgrund der isokrateischen Bildung erworbenen geistigen Fähigkeiten des Timotheos mit dem Sinn für Gerechtigkeit, also mit ethischen Qualitäten, verbunden.923 Der Rhetor weist generell darauf hin, dass Timotheos sich lediglich gegen die Poleis gewandt habe, die Ungerechtigkeiten begangen hatten,924 wobei er jedoch nicht auf die Kriegs- bzw. Interventionsgründe eingeht. Die Aktionen von 375 bis 361, die völlig unterschiedliche Hintergründe hatten, werden pauschal bewertet, sodass die wahren Motive der Kriege verschleiert werden. Für Isokrates ist es hinreichend, dass die Kriege im athenischen Interesse geführt wurden und demzufolge keine weitere Rechtfertigung benötigten.

918 Vgl. Isokr. 15,117: Πρῶτον μὲν δύνασθαι γνῶναι πρὸς τίνας πολεμητέον καὶ τίνας συμμάχους ποιητέον· ἀρχὴ γὰρ αὕτη στρατηγίας ἐστίν, ἧς ἢν διαμάρτῃ τις, ἀνάγκη τὸν πόλεμον ἀσύμφορον καὶ χαλεπὸν καὶ περίεργον εἶναι. Demnach habe der Stratege seine Aufgabe stets sowohl politisch als auch militärisch zugleich zu betrachten (vgl. Jaeger, Paideia III, 208). 919 Vgl. Classen, Herrscher, Bürger und Erzieher 88f. 920 Dieser Friede wird in der Antidosisrede als für Athen sehr wünschenswert dargestellt, worauf die Einführung des Eirene-Kultes hindeuten sollte. Vgl. Isokr. 15,109f. Zum Eirene-Kult in Athen nach 375 vgl. hier S. 170 Anm. 445. 921 Vgl. Isokr. 15,111. 113. 120. Die Feldzüge wurden zwar hauptsächlich durch Plünderungen und Geldeintreibungen finanziert, Isokrates betont aber, dass Timotheos‘ Soldaten sich von Brutalitäten fernhalten mussten (vgl. Isokr. 15,126f.). Das Gewinnen von Geldmitteln ist im 4. Jh. allgemein nicht das Ziel der Kriege; es ist lediglich die Voraussetzung der Finanzierung der Kriege (vgl. Hunt, War 31). 922 Isokr. 15,118. Zur Auflistung der Kriege und Eroberungen des Timotheos vgl. Isokr. 15,107–113. 923 Vgl. Alexiou, Ruhm und Ehre 72. 924 Vgl. Isokr. 15,121. 251

In der Realität waren diese oft mit Machtstreben und Expansionspolitik verbunden und widersprachen somit den Auffassungen des Rhetors über gerechte und dementsprechend nützliche Kriegführung.925 So war der Grund für die Auseinandersetzung mit Sparta 375/4 der Einfluss bezüglich der inneren Angelegenheiten und Staatsverfassungen auf Kerkyra und Zakynthos und fand im Rahmen des Antagonismus zwischen beiden Mächten um die Vormacht in Hellas statt. Die Eroberung von Samos im Jahr 365 sowie die Vertreibung der Einwohner und die Ansiedlung athenischer Kleruchen auf der Insel wurde zwar durch den Vorwand der Vertreibung einer persischen Garnison auf der Insel durchgeführt, hatte aber offenbar andere Motive; selbst wenn kein Verstoß gegen die Bestimmungen des Aristoteles-Dekrets vorlag, da Samos kein Mitglied des Seebundes war, lautete die implizite Botschaft, dass nur die sich innerhalb des Seebundes befindenden Poleis in Sicherheit vor athenischer Expansion waren.926 Auch die Kriege von 365 bis 361 gegen Amphipolis, Olynthos und Städte auf der Chalkidike und in der Nord-Ägäis hatten weniger mit legitimen Ansprüchen Athens als vielmehr mit der Sicherung der Getreide- und Rohstoffzufuhr sowie mit den militärischen Interessen der Polis zu tun.927 Isokrates geht jedoch auf die wahren Gründe und die Gerechtigkeit dieser Kriege nicht ein, da Timotheos mit Hilfe dieser Kriege Athen und den Zweiten Attischen Seebund stärken konnte. Vielmehr rückt er die milde Kriegführung928 und das Verhalten des Timotheos zu den anderen Hellenen in den Vordergrund,929 sodass Athen an Ansehen gewinnt und seine Führungsrolle innerhalb eines starken Seebundes behaupten kann. 925 Isokrates weist auf Kerkyra, Samos, Sestos und Krithote, Poteidaia und Torone hin (vgl. Isokr. 15,108–113). Zur ausführlichen Darstellung der einzelnen Aktionen des Timotheos und ihres historischen Kontextes vgl. Buckler, Aegean Greece 253–270. 926 Vgl. Badian, The Ghost of Empire. Reflections on Athenian Foreign Policy in the Fourth Century BC. In: Eder, Die athenische Demokratie 79–106, bes. 91; Walter, Isokrates metanóôn? In: Orth, Isokrates 78–94, bes. 82. 927 Deshalb versuchten die Athener bereits seit dem 6. Jh. Anspruch auf diese Gebiete zu erheben. Vgl. Heskel, North Aegean Wars 15ff. 928 Isokr. 15,125: Πρὸς δὲ τούτοις τὰς δοριαλώτους τῶν πόλεων οὕτω πράως διῴκει καὶ νομίμως […]. In §§ 123f. wurde dies präzisiert: Im Rahmen seiner gemäßigten Kriegführung informierte Timotheos die Beamten der Poleis, die bisher keine Tribute gezahlt hatten, bevor er dort unter Umständen mit Gewalt die Steuern einsammelte; zusätzlich verbot er seinen Soldaten Raub und Plünderungen. 929 Vgl. Isokr. 15,126f. Zu einer Zeit, in der athenische Strategen häufig in die inneren Angelegenheiten anderer Poleis eingriffen, stellte Timotheos eine Ausnahme dar. Er berücksichtigte die bereits bestehenden Staatsverfassungen und verhinderte innere Wirren, Aufstände und Brutalitäten. Als Isokrates später im Panathenaikos ‚zwei oder drei‘ athenischen Strategen vorwirft, in den Jahren nach Leuktra hellenische Poleis misshandelt und keine Rücksicht auf ihre Autonomie genommen zu haben (vgl. Isokr. 12,100), denkt er anscheinend an Chares und Chabrias, nicht aber an Timotheos. Trotzdem nimmt er seinen Schüler nicht namentlich heraus, sodass die Gefahr bestand, das Andenken an ihn zu beflecken (vgl. Roth, Panathenaikos 141). 252

Nur am Rande wird der Widerwille von Mitgliedern des Seebundes gegen Tributzahlungen als konkreter Kriegsgrund genannt.930 Als Isokrates in der Friedensrede die Steuerbelastung der Bundesgenossen als unnötig und schädlich für Athen verurteilte, stellte er die Auswirkungen dieser Politik auf das Urteil der anderen Hellenen über Athen und auf das Verhältnis der Polis ihnen gegenüber in den Vordergrund.931 Während er nun in der Antidosis die Angriffe des Timotheos auf Poleis wegen unbezahlter Steuern nicht beurteilt, unterstreicht er dagegen den Beitrag seines Schülers zum guten Ruf Athens. Dem für den Rhetor sehr wichtigen Ansehen der Polis habe Timotheos durch seine faire und humane Kriegführung am besten gedient.932 Das durch die Lehre des Isokrates vermittelte Prinzip der Gewinnung von εὔνοια und εὐδοκιμεῖν933 überträgt Timotheos auf die Außenpolitik im Interesse seiner Polis.934 Demzufolge wird Timotheos als militärischer Machthaber sozusagen als ein „Genie der moralischen Eroberungen“935 dargestellt.936 Die Antidosisrede erhält demnach in Bezug auf die Kriegsrechtfertigung zunächst die seit dem Panegyrikos bekannte Auffassung des Isokrates über die Planung eines Perserkrieges. Die gerechte Kriegführung im Rahmen einer gemäßigten Machtausübung der Polis wird anhand der Friedensrede zusammenfassend angesprochen. Neu ist die Begründung der Kriegshandlungen des Timotheos als Beispiel für den Erfolg und den Nutzen, der aus der Lehrtätigkeit des Isokrates gezogen werden konnte. Die Kriege des Strategen erscheinen folglich als politisch und materiell vorteilhaft für Athen und gleichzeitig als human und ethisch annehmbar für die anderen Hellenen.

6. Isokrates’ Philippos Athen befand sich seit 357 mit König Philipp II. von Makedonien um die nord­ ägäische Stadt Amphipolis im Krieg. Inzwischen hatte der Makedonenkönig durch eine Reihe von expansionsorientierten Feldzügen sowie durch seine Teilnahme am Dritten Heiligen Krieg auf Seiten der Thessaler und der Thebaner gegen die Phoker seine Macht dermaßen ausgebaut, dass er im Jahr 346 König der stärksten Macht im europäisch-balkanischen Raum war.937 Gerade zu dieser Zeit fand der neunzigjährige Isokrates die politische Lage günstig, um auf seinen alten und niemals verworfenen Lebensplan eines panhellenischen Feldzuges gegen das Perserreich zurückzugreifen. Er verfasste eine neue 930 Vgl. Isokr. 15,123. 931 Vgl. Isokr. 8,29 und hier S. 236–241. 932 Vgl. Isokr. 15,122. Hiermit macht Isokrates deutlich, dass das Streben nach Wohlwollen bei den Hellenen seine echte, gefestigte und zugleich praktisch verwendbare Überzeugung ist. Vgl. Romilly, JHS 78 (1958) 92–101, bes. 95. 933 Vgl. Isokr. 15,278ff. 934 Vgl. Alexiou, Ruhm und Ehre 73. 935 Jaeger, Paideia III, 208. 936 Vgl. Isokr. 15,122f. 126. 937 Zum historischen Kontext s. hier S. 346–350. 378–380. 253

symbuleutische Rede – in politischer Hinsicht seine wichtigste –, in der er sich direkt an den Makedonenkönig wandte. Die Flugschrift wurde Philipp geschickt, aber sie sollte zugleich von der ganzen hellenischen Bevölkerung wahrgenommen werden.938 Es handelt sich um den isokrateischen Philippos. Da enthaltene Hinweise sowie – aus anderen Quellen datierbare – Fakten eindeutig sind, besteht kein Grund, an der Feststellung der bisherigen Forschung zu zweifeln, dass die Rede zwischen April und Juli 346 verfasst und anschließend sofort publiziert wurde.939 Es ist hier anzumerken, dass der Krieg zwischen Athen und Philipp um Amphipolis in diesem Jahr durch den Philokratesfrieden auf der Basis des Status quo beendet wurde; die Friedensverhandlungen begannen im März 346 und der Vertrag wurde von den Athenern Mitte April und von Philipp Anfang Juni ratifiziert.940 Dagegen dauerte der Dritte Heilige Krieg noch einige Monate an. Ein essentieller Unterschied zu den früheren panhellenischen Entwürfen des Isokrates ist, dass er diesmal Athen nicht die Hegemonie im Krieg zuweist, da dies den Plan schwer realisierbar gemacht hätte.941 Alleine der mächtige und bisher erfolgreiche König Philipp sollte die Führung übernehmen, nachdem er die vier wichtigsten hellenischen Poleis, d. h. Athen, Sparta, Theben und Argos, versöhnen würde. Isokrates zielt unmittelbar auf die praktische Wirkung dieser Schrift und glaubt fest an ihren Erfolg bei Philipp und den Hellenen.942 Philipp verkörpert für den Rhetor die ideale Führungsperson im Perserkrieg, denn er besaß als Alleinherrscher volle 938 Vgl. Isokr. 5,1. 17. 21. 23; ep. 3,6; Speus. ad Phil. 1; Dobesch, Gedanke 67; Usener, Isokrates und sein Adressatenkreis, in: Orth, Isokrates 18–33, bes. 22. 24. Die Ansicht von M.M. Markle (JHS 96 [1976] 80–99, bes. 81–95), dass sich Isokrates durch den Philippos ausschließlich an die hellenische Öffentlichkeit wendet, ist nicht nachvollziehbar. Besonders eine Reihe von Argumenten, die den Makedonenkönig zum Perserkrieg auffordern, damit dieser Ruhm erlange, ist auf den ehrgeizigen Charakter des Königs angepasst. Darüber hinaus ist es zu bezweifeln, dass Philipp bereits vor 346 durchaus vom Perserkrieg überzeugt war und dieser zu seinen Prioritäten gehörte. 939 Vgl. Isokr. 5,7f. 50. 54. 74; Blass, Beredsamkeit II, 314 mit Anm. 3 und 4; Drerup, Isocratis opera omnia I, CLVII; Wendland, Beiträge I, 123–182, bes. 129; Mathieu, Ιδέες 237f. zustimmend Bringmann, Studien 97; Perlman, Historia 6 (1957) 306–317, bes. 306. 940 Vgl. Kap. V. 4.1 (hier S. 378–380). 941 Vgl. Bringmann, Studien 99; Dobesch, Gedanke 57; Grieser-Schmitz, Seebundpolitik 196. 198. Die Ansicht von S. Perlman (Historia 6 [1957] 306–317, bes. 312. 316; ders., Historia 25 [1976] 1–30, bes. 28), dass sich Isokrates für eine Teilung der Hegemonie im Krieg gegen Persien zwischen Athen und Makedonien einsetze, geht aus der Rede keineswegs hervor. Isokrates würde einen so wichtigen Punkt seines Plans eindeutig formulieren, so wie er es im Panegyrikos § 17 in Bezug auf die Teilung der Hegemonie zwischen Athen und Sparta tat (vgl. gegen S. Perlman: Bringmann, Studien 99; dazu auch Dobesch, Gedanke 206f.). 942 Es ist die einzige politische Rede des Isokrates, in der so häufig auf den Zweck hingewiesen wird, dass die Rede ein praktisches Ergebnis haben soll. Vgl. Isokr. 254

politische Handlungsfreiheit, was ihn flexibler und effektiver gegenüber allen anderen großen Männern in den griechischen Poleis machte. Zudem verfügte er über die wichtigsten Voraussetzungen für ein erfolgreiches Unternehmen, nämlich über Reichtum und Macht.943 Hierbei sind zwei zusätzliche Gründe zu beachten, die von Isokrates zumindest nicht direkt angesprochen werden: Philipp war zu dieser Zeit ohnehin das Zentrum der griechischen Politik und der einzige Machthaber, der über das Potential zur Verwirklichung des isokrateischen Programmes verfügte. Ferner hatten seine bisherigen Aktionen bereits auf seinen großen persönlichen Ehrgeiz und seine damit verbundene Entschlossenheit, Großes wie Kühnes zu leisten, hingedeutet.944 Philipp war ab 346 die letzte Hoffnung des Isokrates zur Verwirklichung seiner weltpolitischen Ansichten. Dies brachte der Rhetor zusätzlich durch zwei Briefe an Philipp zum Ausdruck: Einen ersten Brief schickte er dem Makedonenkönig vermutlich Ende des Jahres 346, und zwar als Anhang zum Philippos aufgrund der nach dem Ende des Dritten Heiligen Krieges veränderten Situation in Hellas; es handelt sich um die im isokrateischen Corpus als 3. epistula aufgezählte Schrift, die in der älteren Forschung allgemein zwar als echt galt945, aber auf das Jahr 338 datiert wurde und deswegen als der zweite Brief des Isokrates an Philipp angenommen wurde.946 Inhaltlich fordert Isokrates darin im Geist des Philippos den Makedonenkönig zur Durchführung des panhellenischen Perserkrieges auf; denn durch den Friedensschluss des Dritten Heiligen Krieges waren die Konflikte zwischen den hellenischen Poleis formal zu Ende und Philipp erlangte eine hervorragende Rolle in Hellas, was die Durchsetzung des isokrateischen Plans erleichtern würde. Darüber hinaus hatte Isokrates Philipp nach dessen schwerer Verwundung im Jahr 344/3 einen Mahnbrief (2. epistula) geschickt, in dem er ihn davor warnt, an sinn- und ruhmlosen Kriegen

943 944 945

946

5,12f. 17. passim; dazu Dobesch, Gedanke 52f. mit Anm. 96; Usener, Isokrates und sein Adressatenkreis, in: Orth, Isokrates 18–33, bes. 25. Vgl. Isokr. 5,14f. Vgl. Dobesch, Gedanke 58. Die Argumente für die Echtheit dieses Briefes sind überwiegend (vgl. Wendland, Beiträge I, 123–182, bes. 177–182.; Wüst, Philipp II., 171 Anm. 2; dem zustimmend Bengtson, GG 325 mit Anm. 4). Auch Ed. Meyer (Isokrates’ zweiter Brief an Philipp und Demosthenes’ zweite Philippika, in: SB d. Königl. Akad. d. Wiss., phil.-hist. Cl. 31 [1909] 758–779, bes. 766 Anm. 1) äußerte sich eindeutig für die Echtheit des Briefes, ohne dies aber zu begründen. J. Signes Codoñer (Emerita 69 [2001] 7–53, bes. 44–51; zustimmend dazu Roth, Panathenaikos 262f. Anm. 637) liefert im Anschluss an einen bisher unbeachteten Beitrag von Ph. Wagner (Adnotationes criticae in Isocratis epistolas, in: Programm des Marien-Gymnasiums zu Jever 1875) eine Reihe von Argumenten, die zwar die Datierungsdiskussion dieses Briefes nicht endgültig klären können, doch aber – im Gegensatz zur bisher allgemein herrschenden These – den Brief überzeugend auf 346 datieren. 255

teilzunehmen und ihn daran erinnert, das große Ziel des Perserkrieges nicht aus den Augen zu verlieren.947 Der Philippos ist stilistisch schlichter als der Panegyrikos, der Gedankengang und die Argumentation befinden sich allerdings auf ebenso hohem Niveau. Nach dem Prooimion in §§ 1–29 wird der Hauptteil anhand der zwei zentral behandelten Gesichtspunkte aufgebaut: In §§ 30–82 wird das Konzept der Versöhnung der griechischen Poleis und des davon ausgehenden Friedenszustandes in Hellas dargestellt. In §§ 83–148 wird der Versuch unternommen, Philipp von der Übernahme der Hegemonie und Durchführung des panhellenischen Perserkrieges zu überzeugen. Die wesentlichsten Argumente werden schließlich nochmals im Epilog §§ 149–155 zusammengefasst.948

6.1 Die Kriegsrechtfertigung im Philippos 6.1.1 Der Krieg um Amphipolis Isokrates beginnt sein Sendschreiben an Philipp mit der kurzfassenden Darstellung in §§ 2–7, einer Schrift über den Krieg zwischen Athen und Makedonien wegen Amphipolis, die er während des Krieges verfasste, welche nun aber von den Ereignissen überholt wurde und deswegen unvollendet blieb. Das Hauptthema dieser Rede sollte die Aufforderung zur Beendigung dieses Krieges sein.949 Isokrates geht allerdings ganz bewusst nicht auf die Ursachen des Konfliktes und die Besitzfragen ein.950 Der Krieg wird nicht nach der Schuldfrage und dem Gerechten beurteilt, vielmehr überlässt der Rhetor die konkreten Lösungskonzepte den Realpolitikern und versucht im Sinne der Friedensrede für den Nutzen von dessen Beendigung für beide Seiten zu plädieren. Eine zentrale Stelle nahm erneut das durch eine Friedenspolitik zu erlangende Wohlwollen ein. Jedoch nicht Athen, sondern Philipp wird diesmal als der eigentliche Machthaber betrachtet, der nun – durch εὔνοια und φιλία mit Athen – eine führende Rolle in Hellas spielen könnte.951 Das συμφέρον Philipps und Athens ist der einzige Grund, auf den Isokrates seine Forderung nach Frieden stützt.952 Der Rhetor wiederholt die von Demosthenes bereits im Jahr 352 vertretene Ansicht über den geringen Nutzen, den Philipp vom Besitz der Stadt Amphipolis zu Lasten der guten Beziehungen zu Athen hätte.953 Den Antagonismus zwischen den beiden Mächten um die Vorherrschaft im hellenischen Raum sowie den Verlust des Prestiges nach einem zehnjährigen Krieg für Athen 947 948 949 950 951 952

Vgl. Isokr. ep. 2,4f. 9. 11. Zur Gliederung der Rede vgl. Dobesch, Gedanke 71f. Vgl. Isokr. 5,1. 2. 7. Isokr. 5,3: ἐγὼ δὲ περὶ μὲν τῶν ἀμφισβητουμένων οὐδὲν ἀπεφαινόμην […]. Vgl. Isokr. 5,5f. Isokrates spricht von dem Unheil, das der Krieg beiden Seiten brachte. Jede Partei habe in der Tat zum Nutzen der anderen gearbeitet. Vgl. Isokr. 5,2f. 953 Vgl. Demosth. 23,111; Isokr. 5,5. 256

als herrschende Seemacht in der Ägäis lässt Isokrates völlig beiseite. Pragmatisch urteilt er in derselben Richtung wie eine Gruppe gemäßigter Politiker in Athen, denen er durch seine Schrift publizistische Unterstützung anbot, indem er feststellte, dass Athen in militärischer Hinsicht Philipp unterlegen war und Amphipolis bereits vor dem Friedensschluss als verloren betrachtet werden sollte.954 Seine einzige Hoffnung war es, dass der Makedonenkönig den Athenern Amphipolis aus gutem Willen überlassen würde, sodass er das Wohlwollen Athens, der bedeutendsten griechischen Polis, für sich gewänne.955 Dies sah zum jetzigen Zeitpunkt, also nach dem Philokratesfrieden und einige Jahre nach dem diesbezüglichen Versprechen des Makedonenkönigs, allerdings unrealistisch aus, Isokrates hofft dennoch auf ein neues Verhältnis zwischen Athen und Philipp, wobei neue Perspektiven und Zusammenarbeitsmöglichkeiten offen waren. Obwohl sich der Rhetor für den Frieden zwischen Philipp und Athen einsetzt, verzichtet er aus völkerrechtlichen Gründen keineswegs auf den Anspruch Athens bezüglich Amphipolis. Die Amphipolis-Frage war allerdings ein Nebenthema, das beendet werden sollte. Die unvollendete Rede Über Amphipolis sollte den Frieden und somit die Grundlage für die Darstellung des Konzeptes der Bewahrung des Friedens durch den panhellenischen Expansionsplan in einer nächsten Rede vorbereiten.956

6.1.2 Der panhellenische Perserkrieg 957 Im Philippos präsentiert Isokrates eine nur in ihrem äußeren Rahmen modifizierte Version seines seit dem Panegyrikos des Jahres 380 konstanten Programmes eines panhellenischen Perserkrieges.958 Da die wesentlichen Züge identisch sind, kann

954 Es handelt sich um jene Politiker, die an einem Friedenskonzept arbeiteten und den Philokratesfrieden durchsetzten. Vgl. Dobesch, Gedanke 63. 955 Dies steht im Zusammenhang mit dem älteren Versprechen Philipps an die Athener, ihnen Amphipolis im Austausch mit der Stadt Pydna zu übergeben (vgl. StV II² 298; Demosth. 2,6f.; 23,121; Theopomp. FGrHist 115 F 30; dazu Croix, CQ 13 [1963] 110–119). 956 Nach G. Dobesch (Gedanke 65) sollte die Amphipolisrede die Voraussetzungen zum panhellenischen Programm des Philippos schaffen, so wie der Areopagitikos die innenpolitische Grundlage für das in der Friedensrede unterbreitete politische Programm gewesen sei. 957 Die meisten Argumente zur Kriegsrechtfertigung des Philippos hatte Isokrates bereits im Panegyrikos verwendet. Da diese in mehrfacher Hinsicht in den entsprechenden Kapiteln über den Panegyrikos analysiert wurden, werden sie in den folgenden Kapiteln zwar angesprochen, nicht aber wieder analysiert, wenn nichts Neues hinzuzufügen ist. 958 Auf diese zwei Reden weist Isokrates in seinem Brief an Philipp am Ende des Jahres 346 hin, als er zu betonen sucht, dass das Beenden des innergriechischen Zwistes und der panhellenische Perserkrieg seine beständigen Lebensziele seien. Vgl. Isokr. ep. 3,6. 257

der Rhetor Wiederholungen nicht vermeiden.959 Jedoch sollte hier speziell der Makedonenkönig vom Krieg und der Übernahme der Hegemonie überzeugt werden; daher nimmt die Darstellung der persönlichen Vorteile, die Philipp durch den Krieg gewinnen würde, eine zentrale Rolle ein. Neben dem συμφέρον, δίκαιον, ῥᾴδιον bzw. δυνατόν erscheint im Gegensatz zum Panegyrikos das neue Motiv des καλόν, da dieses Philipp unendlichen Ruhm einbringen sollte. Die Argumente können in der Rede nicht in einer bestimmten Reihenfolge nach den oben genannten Kategorien gegliedert werden, denn Isokrates bedient sich hier und da des einen oder anderen Stilmittels und wiederholt dieselben Gedanken, wenn er dies für nötig hält. Wenn unabhängig von der an Philipp gerichteten Argumentation die Frage gestellt wird, weshalb sich Isokrates in dieser Zeit immer noch für den Perserkrieg einsetzte, sollte man zunächst an die Hoffnung auf die Verbesserung der sozioökonomischen Lage in Hellas durch einen beständigen Frieden und den materiellen Gewinn durch den Krieg denken. Dies war auch ein zentraler Punkt des isokrateischen Plans im Panegyrikos. Seitdem hatte sich die Lage in Hellas durch die ständigen Kriege weiter verschlechtert. Keine der drei potentiellen Hegemonialmächte, weder Sparta noch Theben oder Athen, hatte es seither geschafft, den innerhellenischen Wirren und den großen sozialen Problemen ein Ende zu bereiten. Im Jahr 346 haben folglich ungünstigere Umstände als 380 in Hellas geherrscht, sodass Isokrates guten Grund hatte, an seinem alten Programm als der einzigen Alternative festzuhalten.960

6.1.2.1 Das συμφέρον des Krieges Sein panhellenisches Konzept preist Isokrates als ὑπόθεσις συμφέρουσα für alle Hellenen.961 Der Nutzen des Perserkrieges wird ähnlich wie im Panegyrikos in zweifacher Hinsicht hervorgehoben: Erstens werden die permanenten innergriechischen Kriege beendet. Zweitens werden die Hellenen den Wohlstand Asiens ausnutzen können. Im Philippos ist freilich auch vom Nutzen für den Makedonenkönig aufgrund dieser zwei Aspekte die Rede.

959 In der ganzen Rede beklagt Isokrates durchgehend sein hohes Alter und beanstandet sogar, dass es ihm nun schwer falle, das Niveau des Panegyrikos trotz derselben Thematik stilistisch und inhaltlich zu erreichen. Vgl. Isokr. 5,9–12. 18. 28. 84. 93. 960 Die These von M.M. Markle (JHS 96 [1976] 80–99, bes. 86–89), Isokrates ziele lediglich darauf ab, dass er und seine rhetorische Schule die königliche Unterstützung und Begünstigung erlangen, nachdem Philipp aufgrund des Perserkrieges eine Spitzenposition in Hellas einnimmt, ist nicht haltbar. Im Philippos nimmt Isokrates nämlich seinen seit dem Panegyrikos bestehenden Plan auf. Inzwischen hatte er sich auch an andere mächtige Alleinherrscher gewandt, jedenfalls an den Tyrannen von Syrakus Dionysios I. Weder damals noch jetzt verfolgte er eigennützige Ziele. 961 Vgl. Isokr. 5,10; auch 17. 258

a. Krieg zur Beendigung der innergriechischen Kriege Isokrates sieht im Philippos eine Wechselbeziehung zwischen Perserkrieg und innergriechischem Frieden, da für ihn der eine Voraussetzung des anderen ist.962 Sein Ziel ist demzufolge keineswegs pazifistisch, da er seine friedliebende Haltung auf den hellenischen Raum beschränkt. Der Dauerfrieden zwischen den hellenischen Staaten ist ein konstantes Ziel der politischen Anschauungen des Isokrates.963 Die Friedenschlüsse der ersten Hälfte des 4. Jh. konnten allerdings jedes Mal nur kurzfristig die innergriechischen Kriege beendigen, selbst wenn sie eine κοινὴ εἰρήνη proklamierten. Infolgedessen ist es durchaus nachvollziehbar, wenn Isokrates den Philokratesfrieden von 346 zwar begrüßte, aber zugleich die Voraussetzungen schaffen wollte, dass dieser von langer Dauer sein werde.964 Die Umstände in Hellas waren verwirrender als die Jahre nach dem Königsfrieden; es handelt sich um eine Zeit, in der die Polisordnung gestürzt war. Der Historiker Xenophon schloss seine Hellenika mit der Feststellung ab, dass nach der Schlacht bei Mantineia 362 ἀκρισία und mehr ταραχή als je zuvor in Hellas herrschte.965 Eine wichtige Ursache der στάσεις und ταραχαί innerhalb der Poleis sind für Isokrates die Kriege zwischen den griechischen Staaten.966 Diese hält er im Philippos für den Niedergang der größten Poleis, namentlich Sparta, Argos, Theben und Athen, für verantwortlich.967 Die Kriege setzten sich nicht nur durch die Auseinandersetzungen Athens mit Philipp um Amphipolis, sondern auch durch den Dritten Heiligen Krieg ab 356 fort. Da nun alle Poleis ὡμαλισμέναι ὑπὸ τῶν συμφορῶν seien, hätten sie den Nutzen des Friedens vorgezogen.968 Der Rhetor hält diesen ohnehin für die treibende Macht hinsichtlich 962 Vgl. Isokr. 5,9. 963 Im Panegyrikos lehnte Isokrates den Königsfrieden ab, gerade weil dieser u. a. keine Voraussetzungen für einen beständigen Frieden in Hellas schaffe (vgl. Isokr. 4,173). Im Archidamos legte er dem Spartanerkönig in den Mund, dass der Friede mit Theben unter Preisgabe Messeniens nicht anzunehmen sei, da Sparta dadurch fortan keine βεβαία εἰρήνη zugesichert werde (vgl. Isokr. 6,87). In der Friedensrede setzte er sich als Ziel, Vorschläge zu machen, die zu einem beständigen Frieden in Hellas führen würden (vgl. Isokr. 8,71). 964 Vgl. Isokr. 5,8. 965 Vgl. Xen. hell. 7,5,27. 966 Vgl. Isokr. 5,52; Hunt, War 257 mit Anm. 125. 967 Vgl. Isokr. 5,38. Es handelt sich tatsächlich um die bedeutendsten griechischen Poleis. Isokrates erwähnt Theben trotz seiner grundsätzlich negativen Einstellung gegen diese Polis. Dies ist ein Indiz seines aufrichtigen panhellenischen Empfindens. Lediglich Argos war zu keinem Zeitpunkt des 4. Jh. mächtig genug, um eine wichtige zwischenstaatliche Rolle zu spielen, es gehörte aber historisch zu den ältesten und größten Städten und wurde als solche betrachtet. Zugleich war Argos angeblich die ferne Abstammungsstadt des Geschlechts Philipps (vgl. auch Isokr. 4,64); Diodor weist auf ein Hilfegesuch des Perserkönigs im Jahr 343 hin, wobei er sich an diese vier Städte als die größten hellenischen Poleis wendet (vgl. Diod. 16,44,1; Dobesch, Gedanke 126 mit Anm. 13 und 14). 968 Vgl. Isokr. 5,40. 259

des außenpolitischen Verhaltens der Poleis; sogar die bestehenden Eide sowie die zwischenstaatliche Feindschaft seien dem ὠφέλιμον untergeordnet.969 Isokrates beschreibt vergangene und aktuelle Kriege und die damit verbundenen Folgen wie Unordnung und Unheil in Sparta, Argos und Theben, wobei Athen lediglich wegen des kürzlich geschlossenen Friedens unerwähnt bleibt.970 Der Rhetor ist wahrhaftig zutiefst beunruhigt wegen der ungeordneten Zustände in Hellas und der Machtlosigkeit des Hellenentums in der weltpolitischen Lage, was er auch als Spiegel der öffentlichen Meinung vertritt.971 In dem Makedonenkönig sieht er denjenigen, der dem zwischen den griechischen Staaten herrschenden Wahnsinn (μανία) und den Kriegen ein Ende bereiten sollte.972 Die Versöhnung der o.g. vier wichtigsten Poleis sollte der Ausgangspunkt eines ganz Hellas umfassenden Friedens sein. Den Philokratesfrieden zwischen Philipp und Athen betrachtet Isokrates lediglich als Vorstufe eines breiteren Friedens, der als Voraussetzung für den Erfolg eines panhellenischen Perserkrieges geschlossen werden müsse.973 Der Rhetor ist allerdings auch daran interessiert, dass Philipp keine Machtpolitik mehr gegen die griechischen Poleis betreibt. Dies ist eindeutig Intention der Rede und eines ihrer Hauptziele.974 Sollte nun Philipp wegen der Führung im Perserkrieg zunächst als διαλλακτής die vier hellenischen Hauptpoleis versöhnen, so war es selbstverständlich, dass sich sein Expansionsstreben nicht mehr auf Hellas richten durfte.975 Ferner ist es für Isokrates auch moralisch unmöglich, dass Philipp als Sohn des Amyntas III.976 und vor allem als Nachkomme des Herakles, des εὐεργέτης der Hellenen, diesen gegenüber feindlich gesonnen sein durfte.977 Die Aufgaben des Wohltäters der Griechen habe nämlich Herakles seinen Nachkommen als Erbe

969 970 971 972 973 974 975 976 977

260

Vgl. Isokr. 5,45. Vgl. Isokr. 5,48–56. Vgl. Dobesch, Gedanke 130. Zu μανία vgl. Isokr. 5,88; auch ep. 3,2. Zur ausdrücklichen Aufforderung an Philipp, die innergriechischen Kriege zu beendigen, vgl. Isokr. 5,50. 52; auch 38. Vgl. Isokr. 5,56. Vgl. Perlman, Historia 25 (1976) 1–30, bes. 27. Vgl. Isokr. 5,30. 41. 83. 88. Durch διαλλάξαι wird auf die Versöhnung der vier griechischen Poleis untereinander, nicht zwischen ihnen und Philipp hingewiesen (vgl. Perlman, Historia 6 [1957] 306–317, bes. 310 Anm. 24). Isokrates weist auf die guten Beziehungen, die Amyntas sowie der erste makedonische König und Urahne Philipps Perdikkas zu den Hellenen pflegten, hin. Vgl. Isokr. 5,106ff. Bereits der Tragiker Euripides stellte Herakles als εὐεργέτης ῾Ελλάδος dar (vgl. Eur. Herc. 1309). Die Makedonenkönige wurden tatsächlich als Nachkommen des Herakles betrachtet. Die königliche Familie galt als argivischer Herkunft, nicht aber das Volk der Makedonen (vgl. Huttner, Heraklesgestalt 65ff.). Philipp selbst legte großen Wert auf seine angebliche Abstammung von Herakles und propagierte diese durch Münzprägung sowie andere Mittel; er verehrte Herakles als seinen Schutzgott (Vgl. Huttner, Heraklesgestalt 70f.).

hinterlassen und sie seien demnach Philipps Aufgabe und Verpflichtung.978 Auf der anderen Seite seien auch die Beziehungen der vier griechischen Hauptpoleis und die Wohltaten, die diese dem Herakles und seinen Söhnen erwiesen hätten, für Philipps Verpflichtung zur Gegenleistung aus Dankbarkeits- und Pietätsgründen entscheidend.979 Darüber hinaus sei der Krieg des Hellenen Philipp gegen Hellenen ein Bruderkrieg und deswegen als οὐ δίκαιον abzulehnen.980 Durch die Berufung auf die Abstammung und auf das Nationalgefühl des Königs sucht Isokrates in seinem Konzept den Frieden in jeder Hinsicht, d. h. auch gegen Philipps Angriffe auf den hellenischen Raum, zu sichern. Die im Panegyrikos nachdrücklich geforderte ὁμόνοια unter Griechen wird auch im Philippos in den Mittelpunkt gerückt. Hier ist die Eintracht unter den Hellenen eine unabdingbare Vorbedingung des Perserzuges.981 Während allerdings im Panegyrikos Athen und Sparta anstatt von πλεονεκτεῖν zunächst einander gleiche Rechte zugestehen (ἰσομοιρεῖν πρὸς ἀλλήλους) und danach die Führung im Kriege teilen sollten,982 ist der Plan im Philippos bezüglich der Hauptakteure umbesetzt worden. Hier sollen zwar die vier griechischen Hauptstaaten aufgrund desselben Ausgangspunktes beteiligt sein (ἰσομοιρεῖν πρὸς ἀλλήλους),983 Philipp soll jedoch die Führung übernehmen (προστῆναι τῆς τε τῶν ῾Ελλήνων ὁμονοίας καὶ τῆς ἐπὶ τοὺς βαρβάρους στρατείας)984. Der Makedonenkönig solle als unparteiischer, panhellenischer Leiter sowohl im gemeinsamen Krieg als auch im Frieden als Wohltäter und Vermittler der Ordnung die hellenischen Städte leiten.985 Dies ist konkret der Nutzen, den Philipp aus der griechischen Eintracht ziehen würde. Denn aus Isokrates’ Vorschlägen geht hervor, dass Philipp auch nach dem Krieg seine Spitzenposition im neugeordneten Hellas behalten sollte; an ein fest institutionalisiertes Amt oder eine Ausdehnung der makedonischen Königsherrschaft über Hellas denkt der Rhetor allerdings nicht.986 Philipp soll anscheinend als Beschützer und Garant des Friedens auftreten. Isokrates nennt den Makedonenkönig sowohl ἐπιστάτης τῶν

978 Vgl. Isokr. 5,76f.; Perlman, Historia 6 (1957) 306–317, bes. 314f.; Huttner, Heraklesgestalt 80. 979 Vgl. Isokr. 5,32–37. 980 Vgl. Isokr. 5,115. 981 Vgl. Isokr. 5,83; dazu hier S. 110 Anm. 87. Im Zusammenhang mit Stellen des Paneyrikos (§§ 138. 173f.) und Panathenaikos (§ 167) wird deutlich, dass für Isokrates ὁμόνοια unter Hellenen in zwei Stufen zu erreichen ist: Zuerst entsteht eine Versöhnung aufgrund des geplanten Krieges und nach dem Sieg eine beständige ὁμόνοια, da der erfolgreiche Krieg die Hauptgründe des innergriechischen Zwistes beseitigt haben sollte. 982 Vgl. Isokr. 4,17. 983 Vgl. Isokr. 5,39. 984 Isokr. 5,16. 985 Vgl. Dobesch, Gedanke 127. 986 Vgl. Weißenberger, Plan, in: Orth, Isokrates 95–110, bes. 99. 261

διαλλαγῶν als auch ἐπιστάτης τῆς εἰρήνης.987 Der Rhetor denkt an einen breiteren Friedenschluss, der nur die positiven Seiten des Königsfriedens enthält. Die Teilnahme daran wird auf freiwilliger Basis stattfinden und nicht die Perser, sondern Philipp wird vermutlich eine Rolle übernehmen, die der des φύλαξ τῆς εἰρήνης entspricht.988 Der Rhetor lässt allerdings konkrete Hinweise über das Friedenskonzept sowie Fachtermini beiseite. Er vermeidet sogar den Begriff κοινὴ εἰρήνη, gerade weil er das Ziel eines umfassenden Friedens nicht durch Diskussionen und Streitigkeiten über die Einzelbestimmungen aus den Augen verlieren will.989 Der Rhetor beabsichtigt im Jahr 346, dem Makedonenkönig gerade die Rolle zuzuweisen, die er in der Friedensrede Athen als gerecht handelnder Führungsmacht zugedacht hatte, ohne dass sie die Herrschermacht in Hellas zu beanspruchen habe.990 Was seine Polis nicht verwirklichen konnte, sollte nun eine Einzelpersönlichkeit erlangen. Sein Ziel sei die κοινὴ σωτηρία der Hellenen.991 Die in der Friedensrede angesprochenen Voraussetzungen für Athen, die δύναμις bzw. δυναστεία und die durch gerechtes Handeln zu erlangende εὔνοια bei den Hellenen, sind auch im Philippos für den Makedonenkönig erforderlich.992 Während dieser ohnehin über uneingeschränkte Macht – und Reichtum – verfügt, sieht Isokrates die Gewinnung des Wohlwollens der Hellenen lediglich als Teil der neuen Rolle, die Philipp als διαλλακτής und εὐεργέτης der Hellenen übernehmen solle, bevor er den Perserkrieg beginnt. Bereits U. Wilcken (1929) hat zu Recht erkannt, dass Isokrates sich ausschließlich auf die Person Philipps konzentriert, dabei aber die makedonischen Interessen unberücksichtigt lässt. Der Redner betrachtet demnach den Makedonenkönig als Herakliden und Hellenen, nicht aber als Herrscher eines den Hellenen nahezu unbekannten, fremden Staates; daher war es allzu idealistisch seitens Isokrates, zu denken, dass der Realpolitiker Philipp einen Krieg lediglich zugunsten der griechischen Interessen führen würde.993 Es sei jedoch einzuwenden, dass die Alleinherrschaft Philipps ein ganz anderes Wesen als die Machtstruktur in den Staaten mit anderen Verfassungen hatte. Die Interessen Makedoniens waren eng mit den Interessen des Königs verbunden. Isokrates wirbt für eine verstärkte Rolle Philipps innerhalb von Hellas, er denkt anscheinend sogar an eine Hegemonialrolle des Makedonenkönigs. Philipp an der Spitze der – wie er sich vorstellte – unabhängigen griechischen

987 Vgl. Isokr. 5,45. 50. 71. Die Rolle Philipps im neugeordneten Hellas wird in §§ 69ff. beschrieben; vgl. dazu Dobesch, Gedanke 220ff. 988 Vgl. Dobesch, Gedanke 131f. mit Anm. 44. 989 Vgl. Dobesch, Gedanke 135f. 990 S. Kap. IV. 5.3.3 (hier S. 246–248). Ein ähnliches Bild Athens wurde zur selben Zeit auch in Xenophons Poroi dargestellt (vgl. Xen. vect. 5,8ff.). 991 Vgl. Isokr. 5,69. 992 Vgl. Isokr. 8,138ff. 5,15. 133. 136. 993 Vgl. Wilcken, Philipp II. von Makedonien und die panhellenische Idee, in: SB d. Berl. Akad. d. Wiss., philos.-hist. Kl. 18 (1929) 291–318, bes. 296f. 262

Poleis während und nach dem Perserkrieg würde in allen Fällen den Interessen Makedoniens dienen.

b. Krieg zur Mehrung des Wohlstands der Hellenen und Philipps So wie im Panegyrikos begründet Isokrates auch im Philippos den Perserkrieg durch das Argument, dass Griechenland Reichtum durch die Eroberung asiatischen Landes gewinnen könne. Die griechische πλεονεξία ist für ihn in diesem Fall kein Problem.994 Es sei eine Schmach, dass Asien im Gegensatz zu Europa in Blüte stehe und die Barbaren wohlhabender seien als die Hellenen: Σκέψαι δ' ὡς αἰσχρὸν περιορᾶν τὴν ᾿Ασίαν ἄμεινον πράττουσαν τῆς Εὐρώπης καὶ τοὺς βαρβάρους εὐπορωτέρους τῶν ῾Ελλήνων ὄντας […].995

Die konstante Auffassung des Isokrates von der naturgemäßen Überlegenheit des Hellenentums wird hierbei zur Rechtfertigung imperialistischer Ziele angewendet. Der Krieg zur εὐδαιμονία und εὐπορία wird so wie im Panegyrikos nachdrücklich gefordert, ohne dass im Philippos weitere Argumente verwendet werden, die den Anspruch der Perser in Frage stellen. Der Plan zur Kolonisation Kleinasiens und die Gründe dafür bleiben allerdings gleich und nehmen immer noch eine zentrale Stelle in Isokrates’ Begründung für den Perserkrieg ein: Die besitzlosen, verarmten Hellenen sollen im eroberten Kleinasien in neu gegründeten Poleis angesiedelt,996 d. h. die bevölkerungspolitischen und sozialökonomischen Schwierigkeiten der Hellenen dadurch bewältigt werden.997 Zur Eroberung Kleinasiens oder sogar des ganzen Persischen Reichs macht der Rhetor keine präzisen Vorschläge und lässt Philipp alle Möglichkeiten offen.998 Konkret fordert er nur, dass im westlichen Kleinasien, also bis zur Linie von Sinope bis Kilikien, griechische Städte gegründet würden, die den hellenischen Raum begrenzen und als Bollwerke gegen die Barbaren fungieren 994 Vgl. Isokr. 5,9. Isokrates proklamiert daher ohne Vorbehalt sein stetes Ziel, die führende Macht oder Persönlichkeit zu finden, die den Barbaren ihren Wohlstand nimmt; Isokr. 5,130: […] προτρέπειν δ‘ ἐπιχειρῶν οὓς ἂν ἐλπίσω μάλιστα δυνήσεσθαι τοὺς μὲν ῞Ελληνας ἀγαθόν τι ποιῆσαι, τοὺς δὲ βαρβάρους ἀφελέσθαι τὴν ὑπάρχουσαν εὐδαιμονίαν. 995 Isokr. 5,132. 996 Vgl. Isokr. 5,121f. 997 Isokrates warnt davor, dass sich die Besitzlosen vermehren und genauso gefährlich für Hellas wie die Barbaren würden. Vgl. Isokr. 5,121. 998 Die Idee der Eroberung Kleinasiens hat Isokrates wahrscheinlich von einem Vorgänger übernommen (vgl. Dobesch, Gedanke 23 mit Anm. 77; Lehmann, Historia 21 [1972] 385–398, bes. 391–395). Isokrates entwirft hierbei drei Modelle: Erstens könnte das ganze Perserreich vernichtet werden. Wenn dies nicht möglich wäre, sollte von dessen Territorium das westliche Kleinasien abgeschnitten werden. Die dritte Variante wäre lediglich die Befreiung der hellenischen Poleis an der Ostküste der Ägäis; vgl. Isokr. 5,123; dazu Dobesch, Gedanke 92. 142ff.; Weißenberger, Plan, in: Orth, Isokrates 95–110, bes. 100. 263

sollten.999 Die Stellung der nichtgriechischen Bevölkerung in den eroberten Gebieten solle die der Beherrschten sein.1000 Auf den Nutzen der Besiedlung Kleinasiens durch Hellenen macht Isokrates Philipp folgendermaßen aufmerksam: Die heimat- und besitzlosen Griechen werden in Wohlstand leben und folglich keine Gefahr mehr für die Hellenen des Mutterlandes sein. Die εὐδαιμονία jener ist die Voraussetzung für deren ἀσφάλεια.1001 Der Nutzen für Philipp selbst wäre der Kriegsgewinn, denn er werde ihm Macht (δυναστεία), Reichtum (πλοῦτος) und Ruhm (δόξα) einbringen.1002

6.1.2.2 Das δίκαιον und πρέπον des Krieges Das Gerechte des Krieges, so wie es Isokrates stets nicht im völkerrechtlichen, sondern im sozialethischen Sinn als Argument verwendet, nimmt im Philippos keine zentrale Rolle ein. Der Krieg der Hellenen gegen die Barbaren gilt als selbstverständlich gerechtfertigt und Isokrates wiederholt Ansichten, die anscheinend der communis opinio der Zeit entsprachen.1003 Während der Makedonenkönig die Hellenen durch Überredung (πειθώ) überzeugen solle, sei das geeignete Mittel gegenüber den Barbaren die Gewalt (βία).1004 So solle er bei den Hellenen Vertrauen hervorrufen, den Barbaren hingegen Schrecken einflößen.1005 Dies wird nicht auf eine rechtliche, 999 Vgl. Isokr. 5,122. Im Panegyrikos weist Isokrates darauf hin, dass im asiatischen Land von Knidos bis Sinope Hellenen wohnen (vgl. Isokr. 4,162). Im Philippos propagiert er die Gewinnung von weiteren Siedlungsgebieten in Asien, die durch Griechen besiedelt werden sollten. Die Linie Sinope-Kilikien findet sich als geographische Bezeichnung bereits bei Herodot, ohne dass es sich um hellenische Anwesenheit oder Expansion handelt (vgl. Hdt. 2,34). Vgl. Buchner, Panegyrikos 145 Anm. 4; Dobesch, Gedanke 144 Anm. 38. 1000 Dies wird nicht präziser definiert, es ist aber auf seinen einige Monate später veröffentlichten Brief an Philipp hinzuweisen, in dem er fordert, dass die Barbaren zu Heloten der Griechen werden. Vgl. Isokr. 5,154; ep. 3,5. Im Panegyrikos wurde in Bezug auf die geforderte Stellung der Barbaren nicht zwischen Periöken und Heloten unterschieden (vgl. Isokr. 4,131). 1001 Isokr. 5,123: Ταῦτα γὰρ πράξας οὐ μόνον ἐκείνους εὐδαίμονας ποιήσεις, ἀλλὰ καὶ πάντας ἡμᾶς εἰς ἀσφάλειαν καταστήσεις. 1002 Vgl. Isokr. 5,133f. 1003 Auffällig ist der ähnliche Wortklang zwischen Gorg. VS II 82A 1 = Philostr. soph. 1,9,4: στασιάζουσαν γὰρ τὴν ῾Ελλάδα ὁρῶν ὁμονοίας ξύμβουλος αὐτοῖς ἐγένετο τρέπων ἐπὶ τοὺς βαρβάρους καὶ πείθων ἆθλα ποιεῖσθαι τῶν ὅπλων μὴ τὰς ἀλλήλων πόλεις, ἀλλὰ τὴν τῶν βαρβάρων χώραν und Isokr. 5,16: Μέλλω γάρ σοι συμβουλεύειν προστῆναι τῆς τε τῶν ῾Ελλήνων ὁμονοίας καὶ τῆς ἐπὶ τοὺς βαρβάρους στρατείας· ἔστι δὲ τὸ μὲν πείθειν πρὸς τοὺς ῞Ελληνας συμφέρον, τὸ δὲ βιάζεσθαι πρὸς τοὺς βαρβάρους χρήσιμον. Vgl. dazu Jäkel, Arctos 25 (1991) 69–76, bes. 70f. 1004 Vgl. Isokr. 5,16. Ebenso sollte er die Hellenen mit politischen Maßnahmen εὐεργετεῖν, aber gegen die Barbaren στρατηγεῖν (vgl. Isokr. 5,140). 1005 Vgl. Isokr. 5,80. 264

sondern auf eine moralische Grundlage gestützt. Bezogen auf historische Beispiele, besonders auf die heroische Haltung der Spartaner bei den Thermopylen, unterstreicht Isokrates, dass der Krieg der Perser gegen die Griechen ein Zeichen der πλεονεξία, aber der der Griechen gegen die Perser ein Zeichen der ἀρετή sei.1006 Hier ist allerdings eindeutig, dass die ἀρετή von dem heroischen Verteidigungskrieg der Hellenen gegen die Perser abgeleitet wird. Isokrates hat jedoch keine Schwierigkeiten, den vorgeschlagenen Offensivkrieg als δίκαιον und πρέπον darzustellen. Er greift beliebig auf die mythische Vorzeit zurück und findet das passende Beispiel: Herakles, Sinnbild für ἀρετή und δικαιοσύνη1007 und zugleich Urahne des makedonischen Königshauses, hatte bereits die hellenischen Poleis versöhnt und ihnen gezeigt, mit wem und gegen wen zu kämpfen sei.1008 Er habe mit allen Griechen zusammen gegen Troia, die damals mächtigste barbarische Stadt, Krieg geführt1009 und damit Philipp gezeigt, dass die Kriegführung mit den Hellenen gegen die Barbaren zum einen gerecht (δίκαιόν ἐστιν) und zum anderen passend (προσήκει) sei: Σκέψαι δ‘ ὅτι σε τυγχάνω παρακαλῶν ἐξ ὧν ποιήσει τὰς στρατείας οὐ μετὰ τῶν βαρβάρων ἐφ‘ οὓς οὐ δίκαιόν ἐστιν, ἀλλὰ μετὰ τῶν ῾Ελλήνων ἐπὶ τούτους πρὸς οὓς προσήκει τοὺς ἀφ‘ ῾Ηρακλέους γεγονότας πολεμεῖν.1010

Das panhellenische Motiv, das den ganzen Philippos durchdringt, tritt hier besonders stark hervor. Philipp ist als Nachkomme des Herakles, der Isokrates zufolge über Nichtgriechen herrscht,1011 völlig ungebunden an eine Heimatstadt (ἄφετος), kann ganz Hellas als sein Vaterland betrachten und zudem als panhellenischer Führer die

1006 Vgl. Isokr. 5,148. Zur unterschiedlichen Verwendung der Schlacht bei den Thermopylen anhand der jeweiligen Argumentation bei Isokrates vgl. Albertz, Exemplarisches Heldentum 72ff. 1007 Für Isokrates sind außer den körperlichen Kräften des Herakles besonders seine geistigen Fähigkeiten, darunter φρόνησις, φιλοτιμία und δικαιοσύνη äußerst lobenswert. Vgl. Isokr. 5,110; dazu Alexiou, Ruhm und Ehre 94f. 1008 Isokr. 5,111: […] διαλλάξας τὰς πόλεις πρὸς ἀλλήλας, ὑπέδειξε τοῖς ἐπιγιγνομένοις μεθ‘ ὧν χρὴ καὶ πρὸς οὓς δεῖ τοὺς πολέμους ἐκφέρειν. Vgl. dazu Isokr. 15,117: Was in der Antidosisrede der Träger der isokrateischen Paideia, also Isokrates’ Schüler Timotheos, erkennen kann, wird im Philippos durch das Beispiel des Herakles geäußert. 1009 Vgl. Isokr. 5,111f. 1010 Vgl. Isokr. 5,115. 1011 Isokrates berichtet vom ersten makedonischen König, der als Hellene nicht über seine Stammesgenossen herrschen wollte, da diese die Alleinherrschaft nicht duldeten. Es wird dadurch deutlich, weshalb das makedonische Volk zwar nicht als von hellenischer Herkunft galt, doch die königliche Familie ihre Herkunft aus Argos herleiten konnte. Vgl. Isokr. 5,108; Badian, Greeks and Macedonians, in: Barr-Scharrar/Borza, Macedonia 33–53; Borza, Hesperia Suppl. 19 (1982) 7–13; Huttner, Heraklesgestalt 65ff. 265

Leitung des Krieges übernehmen.1012 Die panhellenische Aufgabe der Athener im Panegyrikos, die Hellas seit den Perserkriegen für κοινὴ πατρίς hielten,1013 soll jetzt Philipp ausführen. Isokrates betont hierbei die überstaatliche Verpflichtung aller Hellenen gegenüber ihrer gemeinsamen Herkunft.1014 Er denkt aber keineswegs an eine politische Vereinigung Griechenlands durch Philipp oder an irgendeine radikale Änderung der politischen Strukturen in Hellas. Die Freiheit und Autonomie der Poleis sind für ihn unter allen Umständen – auch für Philipp – unantastbar.1015 Das wirksamste Argument für den Perserkrieg blieb allerdings auch im Philippos die Darstellung des Krieges als Vergeltung für den früheren Angriff der Perser gegen Hellas: […] ὥστ‘ ἐκεῖνοι μὲν οὐκ ὤκνησαν οὐδὲ προϋπάρξαι τῆς ἔχθρας τῆς πρὸς τοὺς ῞Ελληνας, ἡμεῖς δ‘ οὐδ‘ ὑπὲρ ὧν κακῶς ἐπάθομεν ἀμύνεσθαι τολμῶμεν αὐτοὺς […].1016

Die Rache an den Persern wird hier, obgleich so viel Zeit nach dem Xerxeszug von 480 verstrichen ist, als immer noch nicht vollzogen betrachtet.1017 Isokrates verpasst es auch in dieser Rede nicht, die Perser als Erbfeinde (πατρικοὶ ἐχθροί) zu bezeichnen und somit den Krieg gegen sie als selbstverständlich zu legitimieren; das Argument über eine natürliche Feindschaft zwischen beiden wiederholt er – wie im Panegyrikos – zwar nicht, gibt aber die gemeinsame Abkunft und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Hellenen durch den Hinweis auf ihre συγγένεια wieder.1018 Seine Ansichten entsprechen der öffentlichen Meinung und es sind keine speziellen Argumente zum Nachweis der griechisch-persischen Feindschaft erforderlich. Isokrates wendet sich außerdem vorrangig an den Makedonenkönig und kann mit Argumenten, die auf die Zeit der Perserkriege zurückgehen, nur wenig überzeugen. Philipp ist ein Mann des Handelns und konzentriert sich eher auf konkrete Ziele und Vorteile, wie die Gewinne und die Durchführbarkeit des Krieges. Der bestehende und von Isokrates konservierte Rachegedanke bot dem Makedonenkönig allerdings im Korinthischen Kongress von 338 die Möglichkeit, die Rache für den Frevel der Perser als Vorwand zur Rechtfertigung des nunmehr geplanten Krieges gegen sie zu verwenden.1019 Dies erkannte der Historiker Polybios, der bezüglich der Absichten

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Vgl. Isokr. 5,127; dazu Mathieu, Ιδέες 241. Vgl. Isokr. 4,81. Vgl. Low, Interstate Relations 60. Vgl. Perlman, Historia 25 (1976) 1–30, bes. 28f. Isokr. 5,125. Vgl. Bellen, Chiron 4 (1974) 44–67, bes. 56 mit Anm. 93. Vgl. Isokr. 5,126. Zur συγγένεια vgl. auch Isokr. 4,43; 12,43; dazu Schütrumpf, Hermes 100 (1972) 5–29, bes. 25 mit Anm. 1; Dobesch, Gedanke 156. 1019 Vgl. Diod.16,89,2. Gegen die Ansicht U. Wilckens, dass erst Philipp, nicht Isokrates, den Krieg als Rache für die persischen Frevel verwendet hatte, sowie zur Begründung der Tatsache, dass Isokrates im Philippos nicht von den persischen Freveln spricht, vgl. hier S. 132–133 Anm. 221. 266

Philipps zwischen πρόφασις und αἰτίαι strikt unterscheidet; als Argumente für die πρόφασις hat Philipp dem Historiker zufolge eindeutig auf die Gedanken des Isokrates im Philippos zurückgegriffen.1020 Ein letzter Punkt, der den Krieg mit dem δίκαιον verbindet, ist der Krieg für die Freiheit der Hellenen. Dreimal ist im Philippos davon die Rede, allerdings nur am Rande. Als Isokrates die Eroberung des Persischen Reichs oder wenigstens Kleinasiens fordert, stellt er als Mindestprogramm die Befreiung der griechischen Poleis Kleinasiens dar.1021 Im Gegensatz zum Panegyrikos macht er dies aber nicht zu seinem Hauptargument.1022 Er kann den Makedonenkönig nicht als Vorkämpfer der griechischen Freiheit darstellen, da es keinen historischen Rückhalt dafür gibt – die Kriege Philipps gegen griechische Poleis hatten eher das Gegenteil bewiesen. Zusätzlich lag der Königsfrieden bereits 40 Jahre zurück und es gab trotz Erneuerungen kaum eine Diskussion zur vertraglichen Absicherung der Autonomie der hellenischen Poleis Kleinasiens. Wieder am Rande wird aus anderen Gründen der Krieg Philipps für die Freiheit, diesmal für die der Untertanen des Großkönigs, erwähnt. Die Macht des persischen Großkönigs, die allein zum Zweck der Unterdrückung aufgebaut worden sei, werde gerade angesichts des Befreiungscharakters von Philipps Feldzug schnell brüchig.1023 Hier steht allerdings die Durchführbarkeit des Krieges, nicht das Ziel der Freiheit im Mittelpunkt. Isokrates denkt ohnehin nicht wirklich an die Befreiung der asiatischen bzw. nichtgriechischen Untertanen des Großkönigs, denn er empfiehlt Philipp im Epilog ausdrücklich, über die Barbaren zu herrschen.1024 1020 Pol. 3,6,12ff.: ἐξ ὧν Φίλιππος κατανοήσας καὶ συλλογισάμενος τὴν Περσῶν ἀνανδρίαν καὶ ῥᾳθυμίαν καὶ τὴν αὑτοῦ καὶ Μακεδόνων εὐεξίαν ἐν τοῖς πολεμικοῖς, ἔτι δὲ καὶ τὸ μέγεθος καὶ τὸ κάλλος τῶν ἐσομένων ἄθλων ἐκ τοῦ πολέμου πρὸ ὀφθαλμῶν θέμενος, ἅμα τῷ περιποιήσασθαι τὴν ἐκ τῶν ῾Ελλήνων εὔνοιαν ὁμολογουμένην, εὐθέως προφάσει χρώμενος ὅτι σπεύδει μετελθεῖν τὴν Περσῶν παρανομίαν εἰς τοὺς ῞Ελληνας, ὁρμὴν ἔσχε καὶ προέθετο πολεμεῖν καὶ πάντα πρὸς τοῦτο τὸ μέρος ἡτοίμαζε. διόπερ αἰτίας μὲν τὰς πρώτας ῥηθείσας ἡγητέον τοῦ πρὸς τοὺς Πέρσας πολέμου, πρόφασιν δὲ τὴν δευτέραν, ἀρχὴν δὲ τὴν Αλεξάνδρου διάβασιν εἰς τὴν ᾿Ασίαν. Vgl. Bellen, Chiron 4 (1974) 44–67, bes. 55 mit Literaturangaben in Anm. 83. 1021 Vgl. Isokr. 5,123. 1022 Im Panegyrikos sollte Athen an der Hegemonie des Perserzuges teilhaben und Isokrates wusste seine Argumentation daran anzupassen. Die Athener verstanden sich selbst als die Macht, die sich zeitübergreifend für die Freiheit der Hellenen eingesetzt hatte und noch immer einsetzte. Darüber hinaus war der Panegyrikos ein heftiger Angriff des Rhetors auf den Königsfrieden, in dem die Preisgabe der hellenischen Poleis Kleinasiens an den Perserkönig vertraglich festgelegt wurde. 1023 Vgl. Isokr. 5,104. 139. 1024 Vgl. Isokr. 5,154. Dass in dieser vieldiskutierten Passage mit der Phrase τῶν δὲ βαρβάρων ὡς πλείστων ἄρχειν die Herrschaft bzw. Gewaltherrschaft Philipps gegenüber den Barbaren zum Ausdruck kommt, steht außer Zweifel (vgl. Buchner, Hermes 82 [1954] 378–384, bes. 380; auch Isokr. ep. 3,5). 267

6.1.2.3 Das καλόν des Krieges und die δόξα Philipps Da im Philippos allein dem Makedonenkönig die Führungsrolle zugewiesen wird, ist ein erheblicher Teil der Argumentation auf ihn angepasst. Durch die geschickte Ausnutzung des persönlichen Ehrgeizes und des Leistungswillens von Philipp scheint Isokrates mehr erreichen zu können als durch Argumente, die materielle Vorteile oder rechtliche Voraussetzungen propagieren. Die Hervorhebung des zu erlangenden persönlichen Ruhms nimmt somit eine zentrale Stelle ein.1025 Da Philipp selbst seine Abstammung von Herakles in jeder Hinsicht propagierte,1026 hat Isokrates guten Grund, darauf seine Argumentation in Bezug auf die δόξα zu stützen. Es sei demnach schändlich, dass die minderwertigen Perserkönige μεγάλοι βασιλεῖς genannt werden, während der Nachkomme des Herakles weitaus unbedeutendere Titel führe.1027 Gleichgültig, ob Philipp die Zerstörung des Perserreichs, die Kolonisation Kleinasiens oder lediglich die Befreiung der hellenischen Poleis erreichen würde, sei seine εὐδοκιμία bei den Griechen garantiert.1028 Isokrates hebt zusätzlich hervor, dass der Erwerb der δόξα für Philipp wichtiger als die zu erlangenden Macht und Reichtum sei; es sei vielmehr wichtiger, nach Unsterblichkeit (ἀθανασία) zu streben.1029 Der Rhetor ist hier nicht der Wegweiser für einen neuen Herrscherkult, da es sich lediglich um den guten Ruf einer Person nach ihrem Tode aufgrund ihres gerechten Verhaltens zu Lebenszeiten handelt.1030 1025 Zu Recht spricht G. Dobesch (Der Panhellenische Gedanke 121) von einer außerordentlichen psychologischen Geschicklichkeit des Isokrates. Zum Ruhmesgedanken sowie zu den Begriffen, womit ‚Ruhm‘ im Philippos wiedergegeben wird, vgl. Dobesch, Gedanke 121ff.; Alexiou, Ruhm und Ehre 118–130. 1026 Vgl. Huttner, Heraklesgestalt 70f. 1027 Vgl. Isokr. 5,132. 1028 Vgl. Isokr. 5,123. Im Schlusswort des ersten Teils der Rede weist Isokrates darauf hin, dass Philipp durch die Versöhnung der Griechen einen guten und großen Ruf (καλὴ καὶ μεγάλη δόξα) erreicht und sich den Vorfahren gegenüber würdig erwiesen hätte (vgl. Isokr. 5,79). Ausdrücklich sei δόξα durch εὐεργετεῖν gegenüber den Griechen und στρατηγεῖν gegenüber den Barbaren zu erlangen (vgl. Isokr. 5,140). Ein erfolgreicher Perserkrieg würde dem Makedonenkönig ohnehin Ansehen und Bewunderung der späteren Generationen sichern (vgl. Isokr. 5,153; auch 68). Dies belegt Isokrates durch mythische und historische Beispiele, die er wiederum Philipp anpasst. Demnach hätten diejenigen Könige, die nach Troia gezogen waren, göttergleichen Ruhm errungen, obwohl die meisten von ihnen im Gegensatz zu Philipp nur kleine Poleis und Inseln beherrschten (vgl. Isokr. 5,144f.). Auch auf die Perserkriege des 5. Jh. greift Isokrates zurück, um zu betonen, dass Athen nicht wegen der Seeherrschaft, sondern wegen seiner Leistungen als Retter Griechenlands während dieser Kriege gerühmt wird; ein Ruhm, den die Spartaner wegen ihres heroischen Kampfes bei den Thermopylen erlangten (vgl. Isokr. 5,146ff.). 1029 Vgl. Isokr. 5,133f. 1030 In diesem Sinne kann Isokrates zufolge irgendeine willkürliche Person die ἀθανασία erlangen. Aus seiner letzten Rede, dem Panathenaikos, geht hervor, 268

In seinem Brief an den Makedonenkönig einige Monate später zögert Isokrates nicht zu schreiben, dass Philipp nach der Unterwerfung des Perserreichs nichts anderes mehr übrig bliebe, als ein Gott zu werden;1031 die These, dass Isokrates dabei das hellenistische Gottkönigtum vorwegnahm,1032 ist eher eine anachronistische Annahme: Zum einen passt Isokrates’ Wendung stilistisch zu seinen im Philippos verwendeten Argumenten, die dazu dienten, Philipps Ehrgeiz anzustacheln; zum anderen wird nirgendwo in den übrigen isokrateischen Schriften eine Art Gottkönigtum propagiert, was darauf hindeutet, dass ein solcher Gedanke dem Rhetor fremd war.1033 Insgesamt ist festzustellen, dass das Streben nach Ruhm ein zentrales Argument des Isokrates bei seiner Aufforderung Philipps zum Krieg ist. Es wird deutlich, dass der Rhetor dabei alle Mittel zur Überzeugung zum Einsatz bringen will.

6.1.2.4 Das ῥᾴδιον und δυνατόν des Krieges Im Jahr 346 hatte Philipp als König und zugleich Feldherr bereits wichtige Errungenschaften zur Machtausdehnung vollzogen, von denen Isokrates die Kriege gegen die Thessaler, Paionen und Illyrier erwähnt.1034 Während der Rhetor im Panegyrikos davon ausging, dass ein wichtiger Teil seiner Argumentation die Durchführbarkeit des Krieges beinhalten sollte, hat er im Philippos einen Grund mehr, dies fortzuführen. Denn ein erfahrener Feldherr wie Philipp sei von einer so großen Unternehmung nur zu überzeugen, wenn die Aussichten des Krieges nahezu optimal wären. Obwohl sich die Gedankenkonstruktion nicht ändert, ergänzt Isokrates die Argumente des Panegyrikos zum δυνατόν des Krieges um neue, die mit Philipp oder dem aktuellen politischen Zustand im Perserreich in Beziehung standen. Die zu erlangende δόξα verbindet er mit der möglichen Frage des Königs, welche Unternehmungen möglich sind (δυνατόν), auch wenn sie fast unmöglich erscheinen; zudem sollte der rechte Augenblick (καιρός) ausgenutzt werden.1035 Den Perserkrieg stellt Isokrates im Philippos als leicht durchführbar (ῥᾴδιον) dar.1036 Durch den Vergleich des Makedonenkönigs mit den athenischen Strategen Alkibiades und Konon, dem sizilischen Monarchen Dionysios I. von Syrakus und

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dass der Rhetor auch für sich selbst eine solche ἀθανασία beansprucht (vgl. Isokr. 12,260). Isokr. ep. 3,5: Οὐδὲν γὰρ ἔσται λοιπὸν ἔτι πλὴν θεὸν γενέσθαι. Vgl. Wüst, Philipp II., 172 und Anm. 4 mit angegebener Literatur. H. Bengtson (GG 325f.) bezieht sich auf Isokr. ep. 3,5 und notiert: „das hellenistische Gottkönigtum wirft hier seine Schatten voraus“. Als ἐπιστάτης τῶν διαλλαγῶν sowie als ἐπιστάτης τῆς εἰρήνης sollte Philipp im neugeordneten Hellas die Autonomie und Freiheit der hellenischen Poleis respektieren (vgl. Isokr. 5,45. 50. 69ff. 154; Dobesch, Gedanke 220ff.; Weißenberger, Plan, in: Orth, Isokrates 95–110, bes. 99.). Zur Kritik des Isokrates am Gottkönigtum vgl. Isokr. 3,5. Vgl. Isokr. 5,20f. Vgl. Isokr. 5,118. Zum καιρός vgl. auch 5,137. Vgl. Isokr. 5,41. 67. 269

dem Begründer des persischen Weltreichs, Großkönig Kyros, zeigt Isokrates, dass Philipp als König edler Herkunft und Herrscher über Makedonien und viele weitere Gebiete einen deutlichen Vorsprung habe.1037 Besonders die Erwähnung von Dionysios macht hierbei Eindruck, denn gerade ihn hatte Isokrates im Jahr 367 zur Durchführung des panhellenischen Plans gegen Persien gewählt.1038 In den §§ 86–104 versucht Isokrates in vielerlei Hinsicht das δυνατόν des Krieges zu belegen. Auf konkrete militärische Konzepte zur Durchführung des Krieges geht er nicht ein, da er sich selbst – zu Recht – für ungeeignet in Bezug auf solche Vorschläge hält.1039 Im Zentrum der Argumentation steht, dass alle, die je einen Kriegszug gegen den Perserkönig unternahmen, es zu Erfolg brachten.1040 Diese Aufzählung, besonders der Angriffskrieg des Agesilaos und der Rückzug der griechischen Söldner unter Xenophon, sollen Philipp laut dem Geschichtsschreiber Polybios tatsächlich bewogen haben, die Kriegsplanungen aufzunehmen.1041 Auf den Zug des spartanischen Königs Agesilaos gegen die Perser im Jahr 396 weist Isokrates bemerkenswerterweise nicht in demselben Sinne wie im Panegyrikos § 144 hin. Damals betonte er, dass Agesilaos mit kleinen Streitkräften die Perser bezwingen konnte; im Philippos setzt er dies als bekannt voraus und versucht dieses Ereignis unter einem anderen Aspekt zu nutzen. Er belegt die Gründe, die Agesilaos damals hinderten, den Perserkönig endgültig zu besiegen und das Perserreich zu erobern. So kann er für die Bedeutsamkeit der Versöhnung der Hellenen untereinander als unabdingbare Voraussetzung für den Perserkrieg argumentieren.1042 Es ist zwar zu bezweifeln, dass Agesilaos tatsächlich einen Plan verfolgte, der über die Befreiung der hellenischen Poleis Kleinasiens hinausging, der spartanische König musste jedoch tatsächlich wegen des Korinthischen Krieges nach Hellas zurückkehren und seinen Feldzug beenden. Isokrates verwendet somit ein passendes historisches Beispiel, ohne die Wahrheit verfälschen zu müssen. Es wird allerdings auch hier deutlich, dass dem Rhetor die Eintracht und der Friede in Hellas wichtiger als das δυνατόν des Krieges sind. Den Krieg der griechischen Söldner, die unter dem Spartaner Klearchos den jüngeren Kyros im Krieg gegen seinen Bruder Artaxerxes II. im Jahr 401 unterstützt hatten, erwähnt Isokrates als das Paradebeispiel, das die leichte Durchführbarkeit 1037 Vgl. zu Alkibiades Isokr. 5,58–61; zu Konon 5,62ff.; zu Dionysios 5,65; zu Kyros 5,66. 1038 Vgl. Isokr. ep. 1. Dionysios erschien damals als der stärkste griechische Machthaber. 1039 Vgl. Isokr. 5,105. Isokrates erkennt richtig, dass er durch konkrete Vorschläge dem erfahrenen Feldherrn Philipp gegenüber jegliches Überzeugungspotential eingebüßt hätte. 1040 Isokr. 5,89: […] ὅσοι περ ἐπεχείρησαν πρὸς τὸν βασιλέα πολεμεῖν, ἅπασιν συνέπεσεν ἐξ ἀδόξων μὲν γενέσθαι λαμπροῖς, ἐκ πενήτων δὲ πλουσίοις, ἐκ ταπεινῶν δὲ πολλῆς χώρας καὶ πόλεων δεσπόταις. 1041 Vgl. Pol. 3,6,10f. 1042 Vgl. Isokr. 5,86ff. 270

des Krieges gegen den Perserkönig aufzeigen sollte.1043 Verantwortlich für den letztlichen Misserfolg der Söldner macht er den Perserkönig Artaxerxes II., der es vorzog, einen Frevel zu begehen anstatt ehrlich gegen die griechischen Soldaten kämpfen zu müssen.1044 Diese Aktionen verbindet Isokrates nun mit Philipp. Er weist auf eine Reihe von Vorteilen hin, die der Makedonenkönig gegenüber den Söldnern des Kyros und ihrem Anführer Klearchos hatte. Demnach könnte Philipp ein stärkeres Heer als jenes des Kyros aufstellen.1045 Ferner werde Philipp εὔνοια bei den Hellenen genießen, während die spartanischen Feldherren des Kyros bei den Griechen verhasst waren. Hierbei erinnert Isokrates an die Zeit der spartanischen Arché und der Beschränkung der Autonomie griechischer Poleis durch die Einrichtung von Dekarchien.1046 Die Funktion dieses Argumentes liegt darin, dass der Rhetor Philipp von einer ungerechten Machtausübung gegenüber Hellenen abraten möchte.1047 Darüber hinaus werde Philipp im Gegensatz zu Kyros leichter und weniger kostenaufwendig Soldaten anwerben können; denn er sei in der Lage, ein starkes Heer aus heimatlosen Griechen zu bilden, die bereit seien, als Söldner für ihn und die Sache zu kämpfen; solche Söldner würden weniger als Bürgertruppen kosten. Isokrates hatte zwar in der Friedensrede Kritik am teuren Söldnerwesen geübt, damals verurteilte er allerdings in erster Linie die Brutalitäten der Söldner gegen Hellenen.1048 Nun werden auch Söldner gegen Barbaren kämpfen und zusätzlich nicht durch die Steuerbelastung Athens oder der Bundesgenossen, sondern lediglich aus Philipps Mitteln bezahlt. Darüber hinaus denkt Isokrates sowohl in der Friedensrede als auch im Philippos an deren Ansiedlung in neuen Landgebieten, da sie in ihren Heimatstädten als landlose Hellenen in Armut und Elend leben und gerade deswegen als Söldner tätig sind.1049 Philipp würde demnach durch die Anwerbung dieser Soldaten ein starkes Heer bilden und könne zusätzlich ein soziales Problem lösen,

1043 In der Schlacht bei Kunaxa hätten sie laut Isokrates die ganze Streitmacht völlig besiegt, wie wenn sie mit den Frauen der Perser die Schlacht ausgetragen hätten (vgl. Isokr. 5,90). Im Panegyrikos konzentriert sich Isokrates nicht auf die Schlacht bei Kunaxa, sondern auf den Rückmarsch der auf sich allein gestellten griechischen Söldner – durch Zentralanatolien bis zum Schwarzen Meer und dann weiter nach Westen –, um die Durchführbarkeit des Krieges zu zeigen (vgl. Isokr. 4,145–149). 1044 Artaxerxes II. hatte die griechischen Anführer, die ihn besiegt hatten, wider seine Eide zu sich gelockt und dann ermordet. Vgl. Isokr. 5,91. 1045 Vgl. Isokr. 5,92. 1046 Vgl. Isokr. 5,95. 1047 Weder βασιλεύειν noch ἄρχειν, sondern lediglich εὐεργετεῖν sollte Philipp gegenüber den Hellenen. Vgl. Isokr. 5,154. 1048 Vgl. Isokr. 5,96; 8,44ff.; dazu hier S. 236 mit Anm. 836 und 837. 1049 Vgl. Isokr. 8,23. Im Philippos §§ 120ff. weist Isokrates nicht ausdrücklich auf Söldner hin, diese gehören aber in jedem Fall zu den πλανωμένους δι‘ ἔνδειαν τῶν καθ‘ ἡμέραν καὶ λυμαινομένους οἷς ἂν ἐντύχωσιν (Isokr. 5,120). 271

das für Unruhen in Hellas verantwortlich war. Auch in diesem Punkt verbindet Isokrates die Durchführbarkeit des Krieges mit der eigentlichen Intention seiner Rede. Als letztes vergleicht der Rhetor den erfahrenen und erfolgreichen Feldherrn Philipp und den bis zu seiner Tätigkeit in Kleinasien unbekannten sowie keine militärischen Erfolge aufweisenden Klearchos.1050 Schon die Gegenüberstellung des Königs mit einem solch unbedeutenden Feldherrn sollte Philipp zur Verwirklichung des Plans führen. Weiterhin versucht Isokrates in §§ 99–104 die Minderwertigkeit des Artaxerxes III. Ochos nachzuweisen. Dies versucht er zunächst durch den Vergleich des derzeitigen Perserkönigs mit dessen Vater Artaxerxes II. zu erreichen. Dieser habe in der Vergangenheit sowohl Athen als auch Sparta besiegt.1051 Isokrates verwendet hier ein Argument, das im Panegyrikos oder sonstigen Reden, die sich hauptsächlich an Athener wandten, undenkbar wäre. Über Erfolge der Perser gegen Hellenen hätte der Rhetor unter anderen Umständen nie gesprochen, zumal es sich um Kriege handelte, die keine entscheidenden Siege der Perser darstellten. Bezüglich des Krieges gegen Athen ist lediglich die persische Unterstützung für Sparta während der letzten Phase des Peloponnesischen Kriegs gemeint. Gegen Sparta wiederum hatten die Satrapen des Artaxerxes II. von 399 bis 387 gekämpft, wobei lediglich der Sieg der persischen Flotte bei Knidos 394 bedeutend war.1052 Isokrates wendet sich mit diesen Argumenten an Philipp und beabsichtigt so, die angebliche Überlegenheit des Artaxerxes II. gegenüber seinem Sohn Artaxerxes III., dem jetzigen Herrscher, aufzuzeigen. Der Abschluss des Königsfriedens, den Artaxerxes II. diktierte und der ihm ganz Asien zuwies, ist das stärkste Argument des Isokrates, da der Sohn Artaxerxes III. über die erlangten Gebiete nicht wirklich herrschen konnte.1053 Ferner malt der Rhetor ein momentan von Schwäche geprägtes Bild des Perserreichs, wie er es bereits im Panegyrikos § 161 dargestellt hatte. So wie damals herrschten auch zur Zeit des Philippos Aufstände und Kriege in für Nachschub und Handel wichtigen Gebieten wie Ägypten, Kypros, Phönikien und Kilikien, sodass Artaxerxes III. keine Mittel zur Erhaltung seiner Flotte zur Verfügung stünden.1054 Hier ist die Einschätzung des Isokrates allerdings falsch. Der Vergleich zwischen Vater und Sohn Artaxerxes in Bezug auf den Aufstand in Ägypten ist nicht zutreffend, denn Artaxerxes II. hatte es nach der Revolte in den letzten Jahren des 5. Jh. trotz seiner Versuche nicht geschafft, Ägypten wieder einzunehmen. Artaxerxes III. 1050 Vgl. Isokr. 5,97f. Trotz der Tatsache, dass Klearchos seit 411 in unterschiedlichen militärischen Aktionen Spartas eingesetzt war, hatte er durchaus keine großen Erfolge errungen. Vgl. Welwei, DNP 6 (1999) s. v. Klearchos 500f. 1051 Vgl. Isokr. 5,99. 1052 Vgl. Laistner, De Pace and Philippus 156. Bezüglich der Seeschlacht bei Knidos weist Isokrates im Panegyrikos daraufhin, dass die Perser lediglich aufgrund griechischer Unterstützung und besonders der Beteiligung Konons die spartanische Flotte besiegen konnten (vgl. Isokr. 4,142; hier S. 113). 1053 Vgl. Isokr. 5,100. 1054 Vgl. Isokr. 5,101f. 272

hatte zwar auch einen Misserfolg gegen die Ägypter zu verzeichnen,1055 konnte aber in den Jahren unmittelbar nach der Veröffentlichung des Philippos, von 346 bis 344, Kypros, Phönikien und Ägypten wieder einnehmen.1056 Da Artaxerxes III. zu solchen Leistungen fähig war, entspricht das schwache Bild über ihn und das Perserreich, zumindest so wie es im Philippos dargestellt wird, nicht ganz der Wahrheit.1057 Isokrates spricht schließlich bezüglich des δυνατόν über die Bereitschaft persischer Satrapen, an der Seite Philipps gegen ihren König zu kämpfen. Der reiche Satrap von Karien, Idrieus, habe persönliche Gründe, sich gegen Artaxerxes III. zu wenden, denn der Perserkönig habe seinen Bruder Maussolos misshandelt. Ähnlich würden die anderen Satrapen angesichts der versprochenen Freiheit durch Philipp dem Makedonenkönig in seinem Krieg helfen.1058 Der Rhetor zeichnet hierbei nur Vermutungen und Annahmen auf, ohne dass er diese überzeugend begründen kann. Tatsächlich hatte Maussolos als Satrap Kariens für eine kurze Zeit mit anderen Satrapen im Jahr 362 gegen den Perserkönig revoltiert, es geht aber aus den überlieferten Quellen nicht hervor, inwiefern er vom Perserkönig misshandelt wurde. Maussolos zahlte dem Perserkönig regelmäßig Tribute, und von daher ist Isokrates nicht präzise, wenn er Idrieus, Maussolos’ Nachfolger, als den ersten Satrapen Kariens darstellt, der Tribute zahlen musste.1059 Während seiner Herrschaft von 351 bis 344 war Idrieus dem Perserkönig treu geblieben und hatte ihm bei der Erhebung von Kypros gegen Persien entscheidend geholfen.1060 Andererseits steht keineswegs fest, dass weitere Satrapen Philipp als Befreier betrachten und ihm deswegen helfen würden. Der Plan des Isokrates ist ohnehin panhellenisch und Philipp sollte nach dem Kriegsgewinn über die Barbaren herrschen.1061 Dass die Satrapen daran glauben würden, unter Philipp ihre Positionen als Machthaber – sogar unter besseren Umständen – behalten zu können, ist jedenfalls zu bezweifeln. Die umfassenden Argumente zum δυνατόν des Krieges schließt Isokrates mit Hinweisen auf Stereotype in Hellas bezüglich des Barbarenbildes ab; es handele sich demzufolge um kriegsunerfahrene, durch ihre üppige Lebensweise verweichlichte, verdorbene und untaugliche Männer.1062 Der Rhetor führt seine Gedanken zum

1055 Vgl. Diod. 16,40. 1056 Vgl. Laistner, De Pace and Philippus 156. Im Panegyrikos § 141 hatte Isokrates ebenfalls das Argument der damaligen Aufstände u. a. in Ägypten, Kypros und Phönikien verwendet, ohne auf Erfolge des Artaxerxes II. hinzuweisen. 1057 Vgl. Weißenberger, Plan, in: Orth, Isokrates 95–110, bes. 100. 1058 Vgl. Isokr. 5,103f. 1059 Vgl. Laistner, De Pace and Philippus 157. 1060 Vgl. Diod. 16,42,6f. 1061 Die ausdrückliche Ausnahme im Brief an Philipp am Ende des Jahres 346 sind die Barbaren, die bereit wären, an der Seite Philipps zu kämpfen (Isokr. ep. 3,5); dies kann ebenfalls als utopisch betrachtet werden. 1062 Vgl. Isokr. 5,124. 137. 273

Ergebnis, dass die Macht des Königs im Gegensatz zur Meinung vieler Hellenen keineswegs ἄμαχος sei.1063 Ungewöhnlich für Isokrates ist, dass er sich im Epilog der Schrift in §§ 149–152 auf die Hilfe der Götter bezieht und somit das δυνατόν des Krieges unter einem metaphysischen Aspekt betont. Das δαιμόνιον habe ihm die Worte der Rede eingegeben.1064 Die Götter hätten bisher dem Makedonenkönig bei allen seinen Unternehmungen geholfen; das eigentliche Ziel dabei sei der Krieg gegen die Barbaren Asiens. Philipp dürfe nicht hinter seinem günstigen Schicksal (τύχη) zurückbleiben.1065 Bei diesem Argument ist an Philipps bisherige Erfolge sowie an seine Rolle im Dritten Heiligen Krieg zu denken, wobei sich der Makedonenkönig zum Eingreifen in die hellenischen Angelegenheiten als frommer König, der für die Sache des delphischen Gottes kämpfte, stilisierte.1066 Auch diese Besonderheit Philipps sucht Isokrates in seine Argumentation für den Krieg einzubauen. Er stellt den Makedonenkönig als einen Günstling der Götter dar, vermeidet es aber, auf dessen Rolle als Rächer für Apollon hinzuweisen oder den religiösen Rachekrieg gegen die 1063 1064 1065 1066

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Vgl. Isokr. 5,139. Vgl. Isokr. 5,149. Vgl. Isokr. 5,152. Im Jahr 354 sah Philipp das Hilfegesuch der Thessaler als eine gute Gelegenheit, am Heiligen Krieg um Delphi gegen die Phoker teilzunehmen und seine angebliche εὐσέβεια gegenüber der ἀσέβεια der Frevler zu stellen. Dies wird in seinem Verhalten während des Krieges offensichtlich: Bei der entscheidenden Schlacht gegen die Phoker auf dem Krokosfeld im Jahr 352 schmückte er seine Soldaten mit Lorbeerkränzen des Apollon (vgl. Iust. 8,2,3), denn dem antiken Glauben nach wuchs im delphischen Tempel, und zwar im Adyton, ein Lorbeerbaum. Dieser war das Symbol des Gottes und besaß reinigende Kraft (vgl. Roux, Delphi, Orakel und Kultstätten 115–121). Ferner ließ Philipp die Leiche des Anführers der Phoker Onomarchos als die eines Frevlers nach der Schlacht aufhängen und die gefallenen phokischen Soldaten als Tempelschänder ohne Beerdigung ins Meer werfen (vgl. Diod. 16,35,6. Diodor meint an einer anderen Stelle [16,61,2], Philipp ließ Onomarchos kreuzigen.). Dadurch erschien er als Rächer des Frevels am Göttlichen: illum vindicem sacrilegii, illum ultorem religionum (Iust. 8,2,6). Philipp präsentierte sich, als wäre er seiner εὐσέβεια verpflichtet und rechtfertigte dadurch seine Einmischung im Heiligen Krieg. Es muss auch hervorgehoben werden, dass der Dritte Heilige Krieg zum ersten Mal von Philipps Vertrautem Kallisthenes als ‚heilig’ bezeichnet wurde. Es gibt mehrere Hinweise, dass Kallisthenes’ Monographie ‚Über den Heiligen Krieg’ zum Plan Philipps gehörte, durch Propaganda den Krieg als einen ‚Heiligen’ zu rechtfertigen. Durch das einzig überlieferte Fragment dieser Schrift von Kallisthenes (FGrHist 124 F 1) wird der Versuch Philipps deutlich, sein Eingreifen in den Dritten Heiligen Krieg als einen Kampf an der Seite des delphischen Gottes zu legitimieren (vgl. Pownall, EMC 17 [1998] 35–55, bes. 48–53). Nach dem Frieden von Philokrates war Philipp der absolute Beherrscher der Situation. Trotzdem überließ er es der pyläisch-delphischen Amphiktionie, die Strafmaßnahmen gegen die Phoker durchzuführen, damit sein Verhalten mit seiner Rolle als frommer Kämpfer zugunsten des delphischen Gottes übereinstimmte.

Phoker mit dem Perserkrieg zu parallelisieren. Jedenfalls hat Isokrates Philipp den Weg vorbereitet, seine Erfolge als Wirken der Olympischen Götter zu stilisieren und somit seinen Herrschaftsanspruch propagieren zu können. Im Dienste dieser machtpolitischen Propaganda ließ der Makedonenkönig in der Münzprägung sein Porträt in die Gestaltung des Zeus-Kopfes einfließen.1067

6.1.3 Fazit Im Philippos begrüßt Isokrates zunächst den Philokratesfrieden und weist kurz auf den Krieg um Amphipolis hin. Zur Beendigung dieses Krieges stellt der Rhetor einzig das συμφέρον Athens in den Vordergrund. Rechtsansprüche in Bezug auf den Besitz von Amphipolis werden nicht genannt. Isokrates konzentriert sich ganz auf sein eigentliches Ziel, das die Bewahrung des Philokratesfriedens und dessen Ausbau zu einem umfassenden Frieden in Hellas beinhaltet. Alle Argumente des Isokrates zur Rechtfertigung eines panhellenischen Perserzuges unter Philipps Führung sind Mittel zum obersten Zweck des Friedens und der Beendigung der sozialen Spannungen in Hellas. Die meisten seiner Gedanken passt Isokrates dabei der Person Philipps an. Der Makedonenkönig, der stärkste Machthaber im hellenischen Raum, sollte vom Perserkrieg überzeugt werden. Dazu verwendet Isokrates seine üblichen rhetorischen Mittel nach der Art des Panegyrikos. Das συμφέρον des Perserzuges betrifft sowohl die Hellenen als auch den Makedonenkönig als hellenischen Machthaber, nicht aber explizit die Makedonen. Durch die Vorbereitung des Krieges, also durch die Versöhnung der wichtigsten griechischen Staaten dank Philipp, sollten Eintracht und Friede in Hellas herrschen. Isokrates beabsichtigt hierbei, die griechische Welt nicht nur vor inneren Kriegen, sondern auch vor dem Expansionsbestreben des Makedonenkönigs in Richtung Hellas, das in den letzten Jahren deutlich wurde, abzusichern. Philipp sollte als Versöhner und Wohltäter der Griechen eine Spitzenposition in Hellas einnehmen, die er auch nach dem erfolgreichen Krieg gegen Persien behalten würde. Die Autonomie und Freiheit der griechischen Poleis sollten jedoch vom Makedonenkönig unter allen Umständen unangetastet bleiben. Als unmittelbaren Nutzen des Krieges propagiert Isokrates den Erwerb des Reichtums Asiens. Durch ein großes Kolonisationsprogramm seien die bevölkerungspolitischen und sozialökonomischen Probleme Griechenlands zu bewältigen. Philipp sollte durch seine Eroberungen in Asien noch mehr Macht und Reichtum, aber vor allem Ruhm erlangen. Ethische oder rechtliche Bedenken hat Isokrates nicht: Ein Krieg gegen Barbaren gilt für ihn als ein selbstverständlich legitimierter Krieg gegen Erbfeinde. Aus diesem Grund legt der Rhetor keinen großen Wert darauf, auf dem δίκαιον und πρέπον des Krieges zu beharren. Drei Argumente, die er diesbezüglich anspricht, hält er für völlig ausreichend: Erstens weist er auf mythische und auf historische

1067 Vgl. Schumacher, Historia 39 (1990) 426–445, bes. 440–443. 275

panhellenische Kriege gegen Barbaren hin, wobei sich der Krieg des angeblichen Urahnen Philipps, Herakles, mit allen Hellenen gemeinsam gegen Troia als wirksam erweisen sollte. Zweitens soll die Darstellung des Krieges als Rachekrieg wegen der Perserkriege des 5. Jh. nicht in Vergessenheit geraten. Die Schuldfrage ist somit ein für alle Mal gegen die Perser entschieden. Drittens wird auf die Befreiung der Hellenen Kleinasiens hingewiesen. Während aber diese im Panegyrikos im Rahmen seiner Ablehnung des Königsfriedens eine zentrale Stelle einnahm, wird sie im Philippos nur noch als das Mindestprogramm des Krieges dargestellt. Da sich Philipp im Jahr 346 bereits als ein sehr ehrgeiziger, machthungriger und ruhmessüchtiger König erwiesen hatte, verwendet Isokrates eine Reihe von Argumenten, die diese Charakterzüge des Königs zum Kriegsbeginn nutzen sollten. Der Rhetor baut somit in seiner Argumentation einen psychologischen Faktor ein, denn allein der Perserkrieg würde Philipp genügend Ruhm und Wohlwollen bei den Griechen einbringen. Ferner sei dies der einzige Weg für Philipp selbst, sich gegenüber seinen edlen Vorfahren als würdig zu erweisen. Ebenso wichtig ist es für Isokrates, den erfahrenen Feldherrn von der Durchführbarkeit des Krieges zu überzeugen. Der Krieg wird anhand einer Reihe von unterschiedlichen Argumenten als leicht und möglich dargestellt, wobei nicht alle die volle Überzeugungskraft besitzen. Dazu benutzt er Hinweise auf vergangene Erfolge von Hellenen gegen die Perser sowie die derzeitige politische Lage im Perserreich. Er stellt besonders die Inferiorität des Artaxerxes III. gegenüber Philipp und die Bereitschaft der persischen Satrapen, den Makedonenkönig zu unterstützen, in den Vordergrund. Ferner die Macht und die Fähigkeiten Philipps, die mit keinem zu vergleichen seien sowie seine Begünstigung durch die Götter, die für Philipp und den panhellenischen Perserkrieg eintreten würden. Wichtig ist, dass die derzeitige optimale Situation (καιρός) genutzt werden solle. Das panhellenische Motiv durchdringt den Philippos. Zum ersten Mal geht Isokrates nicht von der Machtposition Athens aus. Die Förderung der athenischen Interessen sieht er hier lediglich im Zusammenhang mit denen der anderen wichtigen griechischen Staaten im Rahmen einer gemeingriechischen Aktion. Athens Führungsrolle wird beeinträchtigt, gerade weil Isokrates sich diesmal ausschließlich auf die Verwirklichung seines panhellenischen Plans konzentriert. Dazu hält er nur den Makedonkönig für geeignet. Im Jahr 346 war der Rhetor davon überzeugt, dass Athen nach dem Bundesgenossen- und dem Amphipoliskrieg keinesfalls mehr eine überragende Rolle als Hegemonialmacht spielen konnte. Die Interessen der Polis sah er in den Zielen des Perserzuges ausreichend gefördert, wozu der Friede in Hellas und der Wohlstand für alle gehörten. Jedoch ist bei Isokrates keine Spur von einer strukturellen Neuordnung Griechenlands sowie einer Vereinigung der hellenischen Poleis unter der Führung Philipps zu finden. Freiheit und Autonomie der Poleis sind genauso wie in den anderen politischen Reden des Rhetors von größter Bedeutung. Philipp blieb König der Makedonen, keinesfalls König über Hellas.

276

7. Der Panathenaikos Isokrates begann im Greisenalter von 94 Jahren im Jahr 342 mit der Ausarbeitung einer Lobrede an Athen, dem Panathenaikos. Er wurde inzwischen krank und beendete daher die Rede erst drei Jahre später, also 339.1068 Es handelt sich um die letzte große Rede des Rhetors, die zwar politische Elemente enthält, aber keine eindeutigen politischen Ziele mehr verfolgt.1069 Dies hängt vermutlich nicht nur von der Redegattung, sondern auch von den politisch-historischen Umständen der Zeit ab, da Isokrates wegen des steigenden Widerstands der starken antimakedonischen Gruppe in Athen gegen Philipps Expansionspläne nur wenig Spielraum zur Verteidigung seines politischen Konzeptes zur Verfügung stand. Darüber hinaus spielten die verschiedenen zeitlichen Perioden des Verfassens eine Rolle, die dadurch notwendigen mehrfachen Überarbeitungen der Rede und vermutlich die jeweils unterschiedlichen Teilziele, die Isokrates von 342 bis 339 verfolgte. Der Panathenaikos ist vor allem als eine epideiktische Rede verfasst worden, wodurch der Rhetor zum einen seine rhetorisch-pädagogische Praxis1070 und seinen geschädigten Ruf rehabilitieren wollte. Zum anderen war ihm daran gelegen, seinen athenischen Patriotismus öffentlich zu machen.1071 Obwohl es sich um die längste isokrateische Rede handelt, sind die meisten Gedanken bereits in seinen früheren Schriften – im Panegyrikos, im Philippos, im Areopagitikos, in der Friedensrede und in der Antidosisrede – enthalten. Zu Recht spricht U. Walter von einer ‚politischhistorischen Unerheblichkeit‘ des Panathenaikos.1072 Die Hoffnungen des Rhetors auf eine panhellenische Aktion unter Philipp gegen die Perser konnten im Jahr 342 nicht als realistisch erscheinen, da eine Reihe von Interventionen des Makedonenkönigs in Hellas in den Jahren nach dem Philokratesfrieden nun von einer bedeutenden politischen Gruppe in Athen sehr skeptisch betrachtet wurde.1073 Während in den Jahren 345 und 344 noch die prophilippischen Politiker die Oberhand in Athen hatten, wurden danach Philipps Aktionen als athenfeindlich bewertet. Demosthenes hielt bereits 344 den Makedonekönig für einen Feind Athens,1074 obwohl formell Friede zwischen Athen und Makedonien

1068 Die Datierung der Rede geht eindeutig aus den Angaben, die Isokrates selbst in der Rede anführt, hervor. Vgl. Isokr. 12,3. 17. 270; dazu Roth, Panathenaikos 71. 1069 Übertrieben ist die Ansicht des P. Wendland (Beiträge I, 123–182, bes. 142), der Panathenaikos sei lediglich eine verkleidete symbuleutische Rede (λόγος ἐσχηματισμένος) und daher ausschließlich als politisches Pamphlet zu verstehen. 1070 Vgl. Gray, Panathenaicus, in: Hodkinson/Powell, The Shadow of Sparta 223–271. 1071 Zu Recht behauptet J. Signes Codoñer (Emerita 66 [1998] 67–94), dass Isokrates seine beschädigte Reputation wiederherzustellen versucht. 1072 Vgl. Walter, Rez. zu P. Roth, Der Panathenaikos des Isokrates, in: H-Soz-u-Kult, 03.01.2005. 1073 Vgl. hier S. 393–397. 1074 Vgl. Demosth. 6,6. 277

herrschte.1075 Am Anfang des Jahres 343 begann die antimakedonische Wende in der athenischen Politik spürbar zu werden.1076 Im selben Jahr scheiterten die von Philipp angestrebten Verhandlungen zur Revision des Philokratesfriedens zwischen den Athenern und einer makedonischen Gesandtschaft unter der Führung des Python von Byzantion, eines ehemaligen Schülers des Isokrates.1077 In den Jahren von 342 bis 340 spitzte sich die Spannung zwischen den zwei Mächten zu,1078 bis schließlich im Herbst 340 die Athener auf Demosthenes’ Antrag Philipp den Krieg erklärten, indem sie die Stele mit dem Vertrag des Philokratesfriedens umstürzten.1079 Isokrates beendete folglich den Panathenaikos zu einer Zeit, in der sich Athen intensiv zum militärischen Widerstand gegen Philipp rüstete. Die Konzeption eines panhellenischen Krieges unter Philipps Führung gegen Persien passte somit keineswegs mehr zu den derzeitigen politischen Umständen in Hellas und konnte in Athen sogar als Verrat wahrgenommen werden. Trotzdem findet Isokrates einerseits die Gelegenheit, die früheren Leistungen Athens zu loben und andererseits einen Perserkrieg implizit zu propagieren.1080 Der Panathenaikos wird in Proimion (§§ 1–39a), drei Hauptteile (§§ 39b-107; 108–198; 199–265) und den Epilog (§§ 266–272) gegliedert.1081 Zur Untersuchung der Kriegsrechtfertigung werden hier zunächst die beiden ersten Hauptteile untersucht, in denen ein Vergleich Athens und Spartas unter unterschiedlichen Aspekten behandelt wird. Im dritten Hauptteil stehen zwei Gespräche des Isokrates mit einem Schüler über das fertige Werk im Mittelpunkt; der Dialog fungiert als nachträglich hinzugefügter Anhang, der durch seine rhetorisch-pädagogische Wirkung die Argumentation des Isokrates stärken soll.1082

7.1 Die Rechtfertigung der Kriege Die ganze Argumentation des Panathenaikos findet im Rahmen des Vergleichs von Athen mit Sparta in ihrer historischen Entwicklung statt. Athen soll dabei als moralisch überlegen erscheinen. Zu einer Zeit, in der Sparta praktisch nur geringe 1075 Der Philokratesfrieden von 346 war immer noch gültig. 1076 Vgl. Jaeger, Demosthenes 165; Lehmann, Demosthenes 147. 149f. 1077 Vgl. [Demosth.] 7,18–32; [Demosth.] 12,18; Demosth. 18,136; Cawkwell, CQ 13 (1963) 120–138, bes. 132 mit Anm. 5; Sealey, Historia 27 (1978) 295–316, bes. 300; Lehmann, Demosthenes 150. 1078 Vgl. Kap. V. 5.2.1.1; 5.2.1.4; 5.4.1.2b (hier S. 395–396. 401–402. 417–421). 1079 Vgl. Demosth. 18,71; Aischin. 3,55; Philoch. FGrHist 328 F 55; dazu hier S. 401f. 1080 In der Einleitung der Rede betont Isokrates, dass die Forderung nach Eintracht unter den Hellenen und Krieg gegen die Barbaren ein Hauptanliegen seiner publizistischen Tätigkeit gewesen sei (vgl. Isokr. 12,13). 1081 Die Gliederung nach Roth, Panathenaikos 69f. 1082 Da allerdings Isokrates in keiner seiner anderen Schriften einen ähnlichen Dialog dargestellt hat, ist die Absicht des Verfassers im Panathenaikos schwer zu durchschauen und daher in der Forschung umstritten. Zur Forschungsdiskussion vgl. Roth, Panathenaikos 11–16. 278

politische Bedeutung hatte, war Isokrates weder von einer Zusammenarbeit Athens mit Sparta, noch von einer wichtigen Rolle Spartas innerhalb seines panhellenischen Konzeptes überzeugt. In Bezug auf die Argumentation zur Kriegsrechtfertigung ändert Isokrates seine Grundauffassungen nicht. Lediglich die Kriegführung von Hellenen gegen Barbaren gilt als a priori legitimiert und ist folglich lobenswert. Die innerhellenischen Kriege hingegen werden im Allgemeinen verurteilt. Das ältere Athen wird in dieser Rede im Kontrast zu Sparta als Vertreter einer annehmbaren Kriegspolitik dargestellt.

7.1.1 Der Krieg gegen die Barbaren Isokrates baut in seiner letzten Lobrede auf Athen seinen Grundsatz über die Eintracht (ὁμόνοια) zwischen Hellenen und über die Feindschaft (ἔχθρα) gegen die Barbaren nochmals aus.1083 Die Athener hätten bereits in der Zeit der frühen griechischen Kolonisation die Barbaren vertrieben und somit im Gegensatz zu Sparta in einer legitimen Art die Expansion der griechischen Welt vorbildlich vorangetrieben.1084 In dieser expansiven Zielsetzung sieht der Rhetor nicht nur die Förderung dezidiert athenischer, sondern vor allem panhellenischer Interessen. Die Legitimation des Krieges gegen die Barbaren ist im isokrateischen Denken – auch im Panathenaikos – in der Erb- und Naturfeindschaft zwischen Hellenen und Barbaren zu finden. Es handelt sich demnach um einen notwendigen und gerechten Rachekrieg.1085 Die Feindschaft fängt mit dem Troianischen Krieg an (§ 42), wird durch die Kolonisations- (§§ 43f. 166f. 190) und die Perserkriege (§§ 49–52. 189. 195) fortgesetzt und gilt als ewig bestehend. Athen habe in allen diesen Auseinandersetzungen bis auf den Troianischen Krieg eine führende Rolle übernommen.1086 Uneigennützigkeit und Streben nach gutem Ruf seien die Prinzipien gewesen, nach denen die Athener vorgegangen seien.1087 Die Schilderung von mythischen Kriegen der Athener gegen Nichtgriechen kann in einer derartigen Lobrede nicht fehlen. Isokrates nutzt also die Gelegenheit, durch erneute Hinweise auf die Angriffskriege der Thraker unter Eumolpos sowie der Skythen und der Amazonen gegen Athen (§ 193) die Gerechtigkeit des Krieges gegen die Barbaren zu demonstrieren.1088

1083 Vgl. Isokr. 12,42. 1084 Vgl. Isokr. 12,44: […] τοὺς μὲν βαρβάρους ἀνέστειλαν ἀπὸ τῆς θαλάττης, τοὺς δ‘ ῞Ελληνας ἐδίδαξαν […] πρὸς οὓς πολεμοῦντες μεγάλην ἂν τὴν ῾Ελλάδα ποιήσειαν. 1085 Vgl. Isokr. 12,163. Die Passage wurde im Kap. IV. 2.1.2.b (hier S. 144) mit einbezogen und analysiert. 1086 In den Perserkriegen erschienen die Athener sogar als Retter von ganz Hellas. Vgl. Isokr. 12,189. 1087 Vgl. Isokr. 12,188. 1088 S. dazu hier S. 289. 279

Der Rhetor lobt allerdings lediglich das alte Athen der Vorfahren. Aktuelle Bezüge werden im Panathenaikos vermieden. Zur Abfassungszeit der Rede denkt er nicht mehr an die Führung Athens im Rahmen eines gemeingriechischen Krieges gegen Persien, sondern besteht auf seiner im Jahr 346 durch die Schrift Philippos und seiner in den Briefen an Philipp in den Jahren 346 (ep. 3) und 344/3 (ep. 2) vertretenen Auffassung, dass der Makedonkönig eine solche Rolle übernehmen sollte. Allerdings erlaubte das politische Klima in Athen bereits im Jahr 342 keine explizite Forderung nach einer Übernahme der Hegemonie durch den Makedonkönig. Drei Jahre später wäre ein solcher Vorschlag sogar lebensgefährlich gewesen, da der Krieg zwischen Athen und Philipp bereits bestand. Isokrates wagt es dennoch im ersten Teil seiner Rede, der vermutlich noch im Jahr 342 geschrieben wurde, einen Exkurs über den troianischen Anführer der Achaier, Agamemnon, einzuschieben (§§ 71–90) und dabei zu unterstreichen, worauf er im Philippos den Makedonenkönig aufmerksam gemacht hatte.1089 Der Rhetor erwähnt Philipp hierbei nicht namentlich. Auch in dem Fall, dass Isokrates im Jahr 342 doch eine Verbindung zwischen Agamemnon und Philipp explizit gemacht hätte, ist es sehr wahrscheinlich, dass er diese bei der Weiterverarbeitung der Rede spätestens im Jahr 339, als der Krieg zwischen Athen und Makedonien geführt wurde, gestrichen hätte. Implizit wird allerdings im Panathenaikos eine klare Parallele zwischen dem makedonischen und dem mykenischen König gezogen. Durch das Agamemnon-Paradeigma1090 macht der Rhetor noch einmal deutlich, wie er sich theoretisch den panhellenischen Krieg gegen Persien unter Philipps Führung vorstellte:

1089 Vgl. Zucker, Isokrates’ ‘Panathenaikos’, in: Seck, Isokrates 227–252, bes. 235f. 1090 Vgl. die Literatursammlung und die Diskussion in Race, Panathenaicus 74–90: The Rhetoric of Isocrates’ Digression on Agamemnon, in: TAPhA 108 (1978) 175–185, bes. 175 Anm. 1. W.H. Race selbst hält dagegen den AgamemnonExkurs lediglich für einen rhetorisch-epideiktischen Teil der Rede, der als Vorbild zur konstruktiven politischen Aktivität fungieren sollte, ohne dass unbedingt auf die Verbindung zwischen Philipp und Agamemnon gezielt wird. Ein Vergleich jedoch der Merkmale des Anführers der Hellenen im Philippos und im Panathenaikos und die Berücksichtigung des allgemeinen politischen Konzeptes des Isokrates, das selbst in einer epideiktischen Rede nicht bei Seite gelassen werden konnte, sprechen eindeutig für die gewollte Übertragung des Agamemnon-Falls auf Philipp (vgl. dazu besonders die ausgezeichnete Analyse des Agamemnon-Exkurses und der Verbindung dessen mit Philipp in: Wendland, Beiträge I, 123–182, bes. 147–153; dazu auch Zucker, Isokrates’ ‘Panathenaikos’, in: Seck, Isokrates 227–252, bes. 241f.). 280

– Es handelt sich um einen Rachekrieg.1091 – Der Anführer darf den Hellenen kein Unrecht antun und soll die Eintracht zwischen ihnen sichern.1092 – Der Feldzug wird für die Griechen wegen der materiellen Gewinne und für ihren Anführer wegen des zu erlangenden Ruhmes vorteilhaft sein.1093 Es geht folglich auch aus dem Panathenaikos dezidiert hervor, dass Isokrates den Krieg gegen die Barbaren bzw. die Perser als gerechten Krieg versteht und sich theoretisch auf die Grundsätze des panhellenischen Perserkrieges bezieht, so wie diese im Panegyrikos präsentiert und im Philippos aktualisiert wurden.1094

7.1.2 Die Kriege unter Hellenen: Athen gegen Melos, Skione und Torone Die ungerechten Kriege Athens während dessen Arché im 5. Jh. werden im Panathenaikos zwar durch den Vergleich mit Spartas angeblich bedeutenderen ungerechten Kriegen relativiert, jedoch vom Verfasser kritisiert. Es wird damit deutlich, dass Isokrates nicht bereit war, aufgrund einer Lobrede auf seine Grundauffassungen, was Unrecht ist und was nicht, zu verzichten. Athens außenpolitisches Verhalten im Rahmen des Delisch-Attischen Seebundes wurde zwar im Panegyrikos von 380 wegen der damaligen Zielsetzung der Rede verteidigt, doch seit der Friedensrede von 355 als Ausgangspunkt des attischen Machtmissbrauchs wahrgenommen. Dies ändert sich im Panathenaikos nicht. Isokrates bezieht sich auf die harten militärischen Aktionen Athens während des Peloponnesischen Krieges gegen die Insel Melos und die chalkidischen Städte Torone und Skione. Im Panegyrikos hatte Isokrates versucht, den dortigen Kriegseinsatz Athens zu verteidigen; im Panathenaikos steht er diesen Untaten eher kritisch gegenüber. Der Vorfall auf Melos ist das bekannteste Beispiel für einen ungerechten Krieg sowie für den grausamen und zynischen Machtmissbrauch der Athener während des Peloponnesischen Krieges;1095 darauf deutet die berühmte Schilderung des 1091 Vgl. Isokr. 12,80. Die vorigen historischen und mythischen Kriege gegen die NichtGriechen werden als Verteidigungskriege oder Bestrafung der Hybris der Barbaren dargestellt (vgl. Isokr. 12,196). 1092 Vgl. Isokr. 12,77. Die Sicherung der ὁμόνοια unter den Hellenen befindet sich seit dem Panegyrikos im Zentrum des isokrateischen panhellenischen Plans und wird deswegen im Agamemnon-Exkurs des Panathenaikos als Hauptmotiv dargestellt. Vgl. dazu Haskins, QJS 87 (2001) 158–178, bes. 168. 1093 Vgl. Isokr. 12,78. 1094 Isokrates knüpft ebenfalls an seinen im Jahr 344/3 geschriebenen Brief an Philipp an. Vgl. Isokr. ep. 2,4f. 9. 11. 17; dazu Zucker, Isokrates’ ‘Panathenaikos’, in: Seck, Isokrates 227–252, bes. 241f. 1095 Das Urteil von G. Grote (A History of Greece VII, 156) dazu ist kennzeichnend: „Taking the proceedings of the Athenians towards Melos from the beginning to the end, they form one of the grossest and most inexcusable pieces of cruelty combined with injustice which Grecian history presents to us. […] But the treatment 281

Thukydides durch seinen Melierdialog sehr eindrucksvoll hin.1096 Dem Historiker nach hatte Melos als Spartas Kolonie seit archaischer Zeit gute Beziehungen zur Mutterstadt,1097 gehörte aber zu Beginn des Peloponnesischen Krieges keiner Symmachie an.1098 Auch als der athenische Stratege Nikias im Jahr 426 durch einen Feldzug dies zu erzwingen versuchte, trat es dem Delisch-Attischen Seebund nicht bei.1099 Die Melier blieben zwar in den ersten Jahren des Peloponnesischen Krieges neutral, bevorzugten aber später Sparta. Die Athener eroberten schließlich die Insel im Jahr 416, töteten die Männer, versklavten Frauen und Kinder und siedelten dort attische Kleruchen an.1100 Ähnlich hart wurden auch die Bewohner von Torone im Jahr 422 und Skione 421 behandelt. Anders als der Fall in Bezug auf Melos handelt es sich bei diesen Fällen um frühere Verbündete Athens. Torone war Mitglied des Delisch-Attischen Seebundes, wurde aber von den Spartanern in Zusammenarbeit mit einer Minderheit philolakedämonischer Bürger im Jahr 423 erobert, jedoch ein Jahr später durch den athenischen Strategen Kleon zurückerobert und hart behandelt. Skione wurde wegen dessen Abfalls von Athen an Sparta 423 zwei Jahre später zurückerobert und ebenfalls schwer bestraft; ihr Land wurde an vertriebene Plataier gegeben.1101 Aufgrund der unangemessenen Härte Athens reagierte die öffentliche Meinung in Hellas mit steigender Empörung.1102 Diese Reaktion hängt mit einem Wandel in der griechischen Kriegsethik zusammen. Während in archaischer Zeit das Siegesrecht in den meisten Fällen ein hartes und grausames Vorgehen gegenüber dem Besiegten erlaubte, wurde im 5. und im 4. Jh. besonders in Bezug auf Kriege unter Hellenen ein humaneres Verfahren gegenüber dem unterlegenen Feind verlangt.1103 Isokrates ist selbst Vertreter dieser Auffassung und beruft sich demzufolge weder im Panegyrikos noch im Panathenaikos auf dieses alte Recht, um die Vernichtungskriege

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of the Melians goes beyond all rigour of the laws of war; for they had never been at war with Athens, nor had they done anything to incur her enmity.“ Vgl. Thuk. 5,85–113; eindeutig vertreten die Athener ihre Auffassung über das Recht des Stärkeren in § 89. Laut Thukydides wurde Melos zur frühen Kolonisationszeit durch Dorer besiedelt (vgl. Thuk. 5,112,2). Die Melier betrachteten ihre Polis als eine spartanische Kolonie (vgl. Hdt. 8,48; Thuk. 5,84,2; 5,89. 106; Xen. hell. 2,2,3). Vgl. Thuk. 2,9,4; 5,84,2. Vgl. Thuk. 3,91,2f. Vgl. Thuk. 5,84–116; speziell zum Melierdialog vgl. Thuk. 5,85–113. Zu Torone vgl. Thuk. 4,110–114.; zu Skione vgl. Thuk. 4,120–130; 5,32,1; Isokr. 4,109. Die Athener selbst waren sich der unangemessenen Grausamkeit dieser Aktionen bewusst. Xenophon berichtet über die Furcht der Athener nach der Niederlage bei Aigospotamoi im Jahr 405, dass sie nun selbst das erleiden müssten, was sie während des Krieges den Einwohnern von Melos, Histiaia, Skione, Torone, Aigina und vielen anderen Hellenen angetan hatten. Vgl. Xen. hell. 2,2,3. Vgl. Kiechle, Historia 7 (1958) 129–156.

der Athener gegen hellenische Städte zu verteidigen.1104 Ein Vergleich der isokrateischen Hinweise auf die genannten Kriege in seinen zwei Schriften, die sich mit dem Thema befassen und die eine Zeitspanne von vier Jahrzehnten umfassen, ist hierbei erforderlich:

7.1.2.1 Der Panegyrikos Im Panegyrikos verteidigt Isokrates die Maßnahmen gegen Melos und Skione im Rahmen der Rechtfertigung der Seeherrschaft Athens während des DelischAttischen Seebundes.1105 Sowohl die Kriegführung als auch ihre vernichtende Art versucht der Rhetor wie folgt zu begründen. Er unterscheidet nicht zwischen dem Verhältnis Athens zu Melos und zu Skione, obwohl es sich um verschiedene Fälle handelt; nach der thukydideischen Darstellung blieb erstere Polis zumindest vom Beginn des Krieges bis 426 neutral, während die zweite ein abgefallener Bundesgenosse war.1106 Die Insel Melos wurde von Thukydides als eine kleine Stadt betrachtet, „die allein gelassen werden wollte, aber nicht in Ruhe gelassen werden konnte“1107 und ergriff erst nach dem Feldzug Athens gegen Melos im Jahr 426 Partei für Sparta und wurde so in den Krieg verwickelt.1108 Obwohl der Historiker über den Anlass für den Angriff Athens im Jahr 416 und über die konkreten Umstände nur wenige Informationen preisgibt, geht aus der athenischen Rede des Melierdialogs seine Auffassung hervor, dass die imperiale Machtpolitik Athens die eigentliche Ursache dieses Krieges war.1109 Der – wenn erforderlich durchaus zwangsmäßige – Beitritt von Melos zum Delisch-Attischen Seebund war demnach

1104 Vgl. Kiechle, Historia 7 (1958) 129–156, bes. 139f. 144ff. 1105 Vgl. Isokr. 4,100ff. 1106 Vgl. Thuk. 5,84,2; 4,120,1. Umstritten bleibt in der Forschung, ob Melos Mitglied des Delisch-Attischen Seebundes wurde. M. Treu (Historia 2 [1954] 253–273, bes. 253ff.) behauptet, dass Melos dem Seebund bereits 426/5 angehörte und tributpflichtig war. Ihm schließt sich A.E. Raubitschek (Historia 12 [1963] 78–83) an, der sich auf Diodor (vgl. Diod. 12,65,1ff.) und dessen vermutliche Quelle, Ephoros, bezieht. W. Eberhardt (Historia 8 [1959] 284–314) vertritt hingegen überzeugend die Meinung, dass die Melier auf Betreiben des athenischen Politikers Kleon im Jahr 425 lediglich auf die Schatzungsliste gesetzt wurden, ohne dass sie dies anerkannten; somit wird die Darstellung des Thukydides über die ursprüngliche Neutralität von Melos und die späteren Sympathien der Insel für Sparta bestätigt. 1107 Raubitschek, Historia 12 (1963) 78–83, bes. 83; vgl. auch Treu, Historia 2 (1954) 253–273, bes. 272f. 1108 Thuk. 5,84,2: οἱ δὲ Μήλιοι Λακεδαιμονίων μέν εἰσιν ἄποικοι, τῶν δ' ᾿Αθηναίων οὐκ ἤθελον ὑπακούειν ὥσπερ οἱ ἄλλοι νησιῶται, ἀλλὰ τὸ μὲν πρῶτον οὐδετέρων ὄντες ἡσύχαζον, ἔπειτα ὡς αὐτοὺς ἠνάγκαζον οἱ ᾿Αθηναῖοι δῃοῦντες τὴν γῆν, ἐς πόλεμον φανερὸν κατέστησαν. 1109 Vgl. Seaman, Historia 46 (1997) 385–418, bes. 386. 414f. 283

das Ziel des Vorgehens Athens gegen die kleine ägäische Insel.1110 Trotz der Tatsache, dass in der Forschung unter Berücksichtigung zusätzlicher Quellen auch über andere Motive der Athener debattiert wird, nahm Isokrates, der immerhin Zeitgenosse der Ereignisse war, die thukydideische Version an, indem er die MelosVorkommnisse von der Rolle Athens im Seebund abhängig macht. Der Rhetor stellt jedoch eine von Thukydides abweichende Darstellung der Ereignisse vor, indem er den Krieg von athenischer Seite zu rechtfertigen sucht. Er stellt sowohl Melos als auch Skione als kriegführende Poleis dar, die Athen provozierten und folglich angemessen bestraft wurden.1111 In Bezug auf beide kleinen Poleis spricht der Rhetor generell von τινες τῶν πολεμησάντων ἡμῖν und von ἐξαμαρτάνοντες, die eine Strafe verdienten,1112 ohne zu definieren, weshalb die Kriegsschuld bei Melos und Skione lag und wogegen diese verstoßen hätten. Nur durch solche obskure Darstellungen können die Vernichtungskriege als Racheaktionen gerechtfertigt werden. Neben den mangelnden Hinweisen bezüglich der Kriegsschuld verfolgt seine gewollte Zusammenstellung von zwei verschiedenen Ereignissen auf einer Ebene das Ziel, die wahren Umstände zu verschleiern. Während der Krieg – nicht aber die Grausamkeiten – gegen Skione, das die drückende attische Herrschaft abzuschütteln versuchte, unter Umständen als eine strenge Bestrafung des Widerstands in der griechischen Welt Akzeptanz finden konnte, war weder der Angriff noch das brutale Vorgehen gegen Melos durch rechtliche oder ethische Argumente legitimiert.1113 Isokrates verleiht Athen lediglich aufgrund seiner Rolle als Vormacht des Seebundes das Recht des κολάζειν, auch wenn sich die Bestrafung auf keine Mitglieder des Seebundes zur Zeit der Vorgänge bezieht; die Argumentation erweist sich daher im Weiteren als unzureichend.1114 Der Rhetor versucht zu zeigen, dass kein Missbrauch der ἀρχή stattgefunden hatte, weil sich die betroffenen Poleis zur Zeit des Krieges nicht unter der Herrschaft Athens befanden.1115 Demnach konnten Städte außerhalb des Seebundes wie gewöhnliche auswärtige Feinde bestraft werden.1116 Er hält die Bestrafung für den Widerstand gegen die Symmachie bezüglich der Bewahrung der ἀρχή für erforderlich, sodass die Vergehen Athens

1110 Das Ziel kommt eindeutig durch die Forderung der Athener an die Melier ξυμμάχους γενέσθαι ἔχοντας τὴν ὑμετέραν αὐτῶν ὑποτελεῖς (Thuk. 5,111,4) zum Ausdruck. 1111 Isokr. 4,101: Εγὼ δ' ἡγοῦμαι πρῶτον μὲν οὐδὲν εἶναι τοῦτο σημεῖον ὡς κακῶς ἤρχομεν, εἴ τινες τῶν πολεμησάντων ἡμῖν σφόδρα φαίνονται κολασθέντες […]. 1112 Vgl. Isokr. 4,101f. 1113 Vgl. Seaman, Historia 46 (1997) 385–418, bes. 414 Anm. 105. Allerdings handelt es sich entgegen der Behauptung von M.G. Seaman bei Isokrates nur im Panegyrikos um Rechtfertigung (justifying) dieser Kriege, nicht aber auch im Panathenaikos. 1114 Vgl. Kiechle, Historia 7 (1958) 129–156, bes. 146. 1115 Isokr. 4,101: […] τῶν πόλεων τῶν ὑφ‘ ἡμῖν οὐσῶν οὐδεμία ταύταις ταῖς συμφοραῖς περιέπεσεν. 1116 Vgl. Popp, Historia 17 (1968) 425–443, bes. 438. 284

als Aktionen im Interesse der Bundesgenossen erschienen.1117 Der Rhetor versucht zum einen zu zeigen, dass nur innerhalb des Seebundes Sicherheit für griechische Poleis bestand und zum anderen, dass Athen die Führung des Seebundes trotz der Aggression gegen Melos und Skione verdiente. Durch seine ‚sophistische Beweisführung‘1118 gelangt der Autor zu einer wenig strukturierten Erklärung für diese ungerechten und inhuman geführten Kriege. Abschließend fühlt er sich zur Verteidigung Athens gezwungen, ein Argument zu verwenden, das nur wenig mit der Legitimation dieser Kriege zu tun hat, doch eine gewisse rhetorische Wirkung zu erzielen vermochte: Andere Poleis seien nicht besser gewesen und hätten in der gleichen Situation nicht milder gehandelt.1119 Hiermit spielt Isokrates auf die für die griechische Welt zur Zeit des Panegyrikos anstößigen Interventionen Spartas in hellenischen Poleis während seiner Vorherrschaft in Hellas nach 404 an.1120

7.1.2.2 Der Panathenaikos Im Panathenaikos verzichtet Isokrates auf jeden Versuch, die Kriege gegen Melos und Skione in rechtlicher oder ethischer Hinsicht zu rechtfertigen. Ganz im Gegenteil ist er bereit zuzugeben, dass es sich um ungerechte Kriege und fehlerhaftes Verhalten handelte.1121 Allerdings soll die glorreiche Vergangenheit Athens in dieser Rede verteidigt werden: Isokrates versteht dies zu unternehmen, ohne sich auf wenig überzeugende Rechtfertigungsargumente zu berufen. Er versucht das Vorgehen Athens gegen kleine Poleis während des Peloponnesischen Krieges nicht zu verteidigen, sondern lediglich zu relativieren. Demnach erhoben diese zwar zu Recht Vorwürfe gegen Athen, jedoch seien nicht einmal die Götter unfehlbar.1122 Der Rhetor wiederholt dabei ein – den Panegyrikos abschließendes – Argument, wonach ‚die anderen‘ viel schlimmer gewesen seien. Er betont dabei den Unterschied zwischen Athens und Spartas Verhalten: Athen habe nur gelegentlich so gehandelt, und zwar an völlig unbedeutenden Orten,1123 Sparta dagegen habe die bedeutendsten griechischen Staaten, darunter Messenien dermaßen zerstört, dass es das Land okkupieren konnte.1124 Es handelt sich hier um eine zynische Argumentation,1125 die keineswegs die Kriege Athens zu legitimieren vermag. Im Gegenteil – Isokrates 1117 1118 1119 1120 1121 1122

Vgl. Grieser-Schmitz, Seebundpolitik 127. Vgl. Popp, Historia 17 (1968) 425–443, bes. 438. Vgl. Isokr. 4,102. Vgl. Usher, Panegyricus and To Nicocles 174. Vgl. Isokr. 12,63f. Isokr. 12,64: ᾿Εγὼ δὲ πρὸς ἅπαντα μὲν τὰ δικαίως ἂν ῥηθέντα κατὰ τῆς πόλεως οὔτ’ ἂν δυναίμην ἀντειπεῖν οὔτ’ ἂν ἐπιχειρήσαιμι τοῦτο ποιεῖν· καὶ γὰρ ἂν αἰσχυνοίμην, ὅπερ εἶπον ἤδη καὶ πρότερον, εἰ τῶν ἄλλων μηδὲ τοὺς θεοὺς ἀναμαρτήτους εἶναι νομιζόντων ἐγὼ γλιχοίμην καὶ πειρῴμην πείθειν ὡς περὶ οὐδὲν πώποτε τὸ κοινὸν ἡμῶν πεπλημμέληκεν. 1123 Vgl. Isokr. 12,63. Ausdrücklich werden nur Melos, Skione und Torone genannt. 1124 Vgl. Isokr. 12,70ff. 89. 1125 Vgl. Miller, Die griechische Kolonisation im Spiegel literarischer Zeugnisse 81f. 285

musste auf die Knechtung der Messenier durch Sparta in hocharchaischer Zeit zurückgreifen, um ein passendes Gegenbeispiel zu finden, das den Untaten Athens im Peloponnesischen Krieg entspreche.1126 Demzufolge findet sich keine Rechtfertigung für die Kriege Athens gegen Hellenen im Panathenaikos. Es wird lediglich auf den Aspekt des Ausmaßes eines innerhellenischen Krieges als entscheidenden Faktor zu seiner Beurteilung hingewiesen. Im Mittelpunkt des isokrateischen Gedankengangs stehen zum einen die Bemühung der jeweils mächtigeren Polis zur Sicherung und Bewahrung ihrer Herrschaft, zum anderen der Antagonismus sowie der Vergleich zwischen Athen und Sparta; die Stellungnahme des Autors über die ungerechten Kriege gegen Hellenen kann nicht unabhängig davon beurteilt werden. Der Panathenaikos-Rede nach sei die Übernahme der Arché während des Delisch-Attischen Seebundes eine bewusste Entscheidung der Athener nach den Perserkriegen gewesen, um eine spartanische Herrschaft zu verhindern. Die Athener hätten vor der Wahl aus zwei Übeln gestanden: Entweder Unrecht erleiden bzw. von den Lakedaimoniern unterdrückt werden oder selbst ungerecht sein, wobei sie das Zweite bevorzugten.1127 Hier ist ein offener Widerspruch zu dem Grundsatz des Philosophen Sokrates ‚Unrecht tun ist schlechter als Unrecht leiden’ zu finden, der den platonischen Dialog Gorgias durchzieht.1128 Isokrates distanziert sich von Platon, indem er die Gerechtigkeit als eine möglichst gemeinnützige Form der Selbstbehauptung betrachtet.1129 Demnach setzt die Fürsorge der Athener für die anderen ein, sobald die eigene Freiheit und Unabhängigkeit gesichert ist.1130 Die Übergriffe Athens gegen kleine hellenische Poleis während des Peloponnesischen Krieges können somit – dem Geist des Panathenaikos nach – als ungerechte aber notwendige Aktionen zur Sicherung der athenischen Arché gegenüber Sparta und zur Verteidigung der eigenen Freiheit und Unabhängigkeit im Gesamtkontext des Krieges gegen die Peloponnesische Allianz verstanden werden. Als der Rhetor allerdings von den ungerechten Kriegen Spartas gegen Hellenen berichtet, äußert er sich klar und streng: Die frühen Kriege gegen die Peloponnesier und die Etablierung der spartanischen Macht seien in der Tat kein Resultat legitimen Siegerrechts, sondern Ergebnis des festen Glaubens der Spartaner an das Recht des Stärkeren.1131 Isokrates verurteilt explizit die Kriege Spartas gegen die stammesverwandten1132 Messenier und Argeier und präsentiert somit – konkret in Bezug auf 1126 Vgl. Kiechle, Historia 7 (1958) 129–156, bes. 141f. Anm. 2. 1127 Vgl. Isokr. 12,117: δυοῖν γὰρ πραγμάτοιν προτεινομένοιν μὴ σπουδαίοιν, κρείττω τὴν αἵρεσιν εἶναι τοῦ δεινὰ ποιεῖν ἑτέρους ἢ πάσχειν αὐτοὺς καὶ τοῦ μὴ δικαίως τῶν ἄλλων ἄρχειν μᾶλλον ἢ φεύγοντας τὴν αἰτίαν ταύτην ἀδίκως Λακεδαιμονίοις δουλεύειν. 1128 Vgl. Plat. Gorg. 473a. 474b. 508b. 509b. 509c. 527b; Roth, Panathenaikos 151. 1129 Vgl. Eucken, MH 39 (1982) 43–70, bes. 67. 1130 Vgl. Eucken, MH 39 (1982) 43–70, bes. 51. 1131 Vgl. Isokr. 12,46; Roth, Panathenaikos 111. 1132 Isokr. 12,91: ἐξαμαρτεῖν […] περὶ τοὺς ἐκ τῶν αὐτῶν ὁρμηθέντας. Zur Verurteilung der spartanischen Kriege gegen Stammesverwandte (συγγενεῖς) vgl. auch 286

Messenien – eine völlig andere Auffassung als die, die er in seiner Archidamosrede von 366 vertreten hatte.1133 Dies ist dadurch zu erklären, dass er im Jahr 366 unter Berücksichtigung der damaligen interstaatlichen politischen Umstände an einem starken Sparta auf der Peloponnes interessiert war, damit Thebens Machterweiterung begrenzt werden konnte. Andererseits waren Isokrates’ Positionen in den 340er Jahren eindeutig promakedonisch bzw. prophilippisch. Da der Makedonenkönig ab 344 Messenien und Argos in ihrem Krieg gegen Sparta unterstützte1134 und auch Athen in der ersten Hälfte des Jahres 342 Bündnisse mit Argos, Messenien, Megalopolis, Achaia und Arkadien schloss,1135 zog es Isokrates nun vor, für das Recht der Feinde Spartas zu plädieren. Dabei spielte auch die Tatsache eine Rolle, dass nun, anders als 366, der Anspruch der Messenier auf einen unabhängigen Staat von der öffentlichen Meinung in Hellas weitgehend anerkannt war.1136 Zusätzlich bezieht sich Isokrates im Panathenaikos auf die Leistung der Plataier in den Jahren der Perserkriege, um die Zerstörung ihrer Stadt durch Sparta im Jahr 427 zu verdammen.1137 Hierbei ist nicht bloß der Krieg gegen Hellenen, sondern der Krieg gegen diejenigen, die ganz Hellas eine Wohltat erwiesen hätten, als höchstes Unrecht dargestellt. Um dies noch zynischer erscheinen zu lassen, behauptet Isokrates, dass die Spartaner sogar nicht nur im eigenen Interesse handelten, sondern ebenso den Thebanern einen Gefallen zukommen lassen wollten.1138

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Isokr. 12,94. 207. 220. Zur Darstellung der Aktionen gegen die Peloponnesier als ungerecht vgl. auch Isokr. 12,177. Vgl. Isokr. 12,91. 94. Zur Gegenüberstellung der Argumentation im Archidamos und im Panathenaikos s. hier S. 207–209. Im Bericht des Schülers des Isokrates zur Rechtfertigung der Kriege Spartas gegen die Peloponnesier im Dialogteil des Panathenaikos wird keines der Argumente dem Archidamos entlehnt, sodass die Argumentation des Schülers schließlich als unzulänglich erscheint (vgl. Isokr. 12,253f.; dazu hier S. 293 mit Anm. 1171). Vgl. Demosth. 6,25; Lib. Arg. D. 6, 2; Griffith, in: Hammond/Griffith, Macedonia II, 477f. Das Bündnis brachte Demosthenes als Gesandter auf der Peloponnes zustande. Da bereits 343 Argos, Megalopolis und Messenien ein Bündnis mit Philipp geschlossen hatten (vgl. Demosth. 18,156. 158; Beloch, GG III.1, 546 Anm. 3), sahen die Athener ihr Bündnis mit den peloponnesischen Städten als eine Prävention vor Philipps Aggression an. Vgl. StV II² 337; Wüst, Philipp II., 93f.; Tigerstedt, The legend of Sparta in classical antiquity I, 187ff. Zur selben Zeit vertrat dagegen Demosthenes den antimakedonischen Standpunkt und nahm daher im Jahr 344 in seiner II. Philippika Stellung für den Anspruch Spartas auf Messenien. Vgl. Demosth. 6,13. Vgl. Isokr. 12,92ff. Isokrates übertreibt bezüglich der Darstellung des Ausmaßes dieses Krieges, als er von der Ermordung aller Männer, mit Ausnahme derer, denen die Flucht gelungen war, spricht. Sein Ziel ist es offensichtlich, ein Äquivalent zur Vernichtung der Melier und Skionier zu finden (vgl. Roth, Panathenaikos 137). Vgl. Isokr. 12,93. Obwohl Thukydides in der Zerstörung Plataias auch ein Eigeninteresse Spartas feststellt (vgl. Thuk. 3,68,4), spielte die Symmachie mit Theben 287

Isokrates spricht demzufolge in seinem Bericht über Spartas Verbrechen eindeutig von zwei Typen des ungerechten Krieges unter den Hellenen, und zwar erstens gegenüber den Stammesverwandten und zweitens gegenüber den Wohltätern der Griechen.1139 Dadurch versucht er zu zeigen, dass sich die Taten Athens nicht nur auf quantitativer, sondern auch auf moralischer Ebene von denen Spartas unterschieden.1140

7.1.3 Die ungerechten Kriege Spartas und Athens gerechte Kriege Der Vergleich der Kriegsaktionen Athens und Spartas wird im Panathenaikos nicht nur zur Verteidigung der Kriegsverbrechen Athens im Peloponnesischen Krieg unternommen. Isokrates stellt die Kriegspolitik beider Poleis in den Mittelpunkt, damit die moralische Überlegenheit Athens demonstrativ nachgewiesen wird. Deswegen kommt er in §§ 177–198 auf eine generelle Gegenüberstellung der ungerechten Kriege Spartas und der gerechten Kriege Athens zurück. Demnach habe Sparta von Anfang seiner Geschichte an ungerechte Kriege geführt. Isokrates stellt anders als in der Archidamosrede die ursprüngliche Eroberung des peloponnesischen Landes durch die Dorer als ungerechte Aktion gegen dessen rechtmäßige Besitzer dar.1141 Spartas Geschichte entwickelte sich auch nach der Verteilung der peloponnesischen Gebiete in eine Reihe von ungerechten Kriegen und Taten – darunter die Unterwerfung der Perioiken –, die sogar gegen die göttlichen Gesetze verstießen.1142 Die siegreichen Kriege der Spartaner werden im Allgemeinen sowohl ethisch als auch rechtlich abgewertet.1143 Das Gerechte wird anhand der Motivationsgründe für den Krieg untersucht; es wird festgestellt, dass Spartas Kriege aus reiner Besitzgier stattgefunden hätten.1144 Als Gegenbeispiel dazu wird auf die Thermopylenschlacht der Lakedaimonier gegen die Perser hingewiesen. Diese soll dem Rhetor nach als eine Ausnahme in der spartanischen Geschichte fungieren, da es sich um einen gerechten Krieg handelte,

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1143 1144

288

doch eine entscheidende Rolle. Isokrates führt im Panathenaikos seine bereits im Plataikos von 373 geäußerte Auffassung unverändert an (vgl. Isokr. 14,62); Roth, Panathenaikos 136. Isokr. 12,94: οἱ μὲν γὰρ περί τε τοὺς εὐεργέτας τῆς ῾Ελλάδος καὶ τοὺς συγγενεῖς τοὺς αὑτῶν τὰ τοιαῦτ' ἐξαμαρτάνειν ἐτόλμησαν […]. Vgl. Roth, Panathenaikos 135. Vgl. Isokr. 12,177. Vgl. Isokr. 12,182–187. Es handelt sich demnach um Kriege, die nicht durch ἀρετή, d. h. hier durch εὐσέβεια und δικαιοσύνη, zustande kamen (§ 183). Die Verurteilung der spartanischen Siege im Krieg wird besonders in § 187 hinsichtlich der Frage nach ihrer Gerechtigkeit unternommen; folglich kann nichts als ὅσιον und καλόν gelten, wenn dies ohne δικαιοσύνη gesagt oder getan wird. Vgl. Isokr. 12,185. Isokr. 12,188: βλέπουσι γὰρ εἰς οὐδὲν ἄλλο πλὴν ὅπως ὡς πλεῖστα τῶν ἀλλοτρίων κατασχήσουσιν. Vgl. auch Isokr. 12,186.

ohne dass dies erläutert werden müsse.1145 Im Weiteren zielt Isokrates ohnehin darauf ab, die Erfolgsgeschichte Spartas über die Jahrhunderte ethisch zu degradieren. Er nutzt dabei die rhetorisch wirksame Folgerung, dass eine Niederlage in einem gerechten Krieg dem Sieg in einem ungerechten Krieg vorzuziehen sei. Es ist hierbei zu beachten, dass dieser Gedanke von ihm zu einem Zeitpunkt geäußert wurde, als sich Sparta politisch und militärisch im Niedergang befand. Die isokrateische Auffassung über den Sieg des gerecht Handelnden findet hier Anwendung.1146 Die Besitz- und Machtgier Spartas werden der angeblichen athenischen Uneigennützigkeit gegenübergestellt. Demzufolge weist der Rhetor unmittelbar nach den Vorwürfen gegen Spartas Verhalten auf die Triebkraft der athenischen Vorfahren hin: das Streben zum εὐδοκιμεῖν παρὰ τοῖς ῞Ελλησιν.1147 Der angestrebte gute Ruf für die Polis und das panhellenische Motiv ihres Handelns werden zur Ausgangsbasis für die positive Darstellung der Kriege Athens. Dazu spricht Isokrates von drei Kriegen der Hellenen bzw. der Athener gegen die Barbaren. Während es sich bezüglich der drei Kriege erstens um den gegen Xerxes (§ 189) und zweitens um den Krieg für die Koloniegründungen (§ 190) handelt, ist die Darstellung des dritten Krieges, der angeblich zu Beginn der Besiedlung der hellenischen Städte stattfand (§§ 191–195), problematisch. Denn als dritten Krieg erwähnt Isokrates zusammenfassend drei verschiedene Kriege der mythischen Vorzeit gegen Athen als a) den Einfall der Thraker unter Eumolpos, b) die Invasion der Skythen und Amazonen, c) den Angriff der Peloponnesier unter Eurystheus, um dann auf den Feldzug des Dareios, der historisch ist und sich am Anfang des 5. Jh. ereignete, umzuschwenken. Isokrates bezieht sich also auf alle Kriege, die er in einer epideiktischen Rede, und zwar in einer Lobrede auf Athen, wie schon geschehen mit einbeziehen wollte1148 1145 Vgl. Isokr. 12,187. Im Philippos von 346 hatte Isokrates die Thermopylenschlacht als einen Krieg, in dem die ἀρετή der Hellenen gegenüber der πλεονεξία der Barbaren stand, dargestellt (vgl. Isokr. 5,148). Dies soll als communis opinio unter den Hellenen gegolten haben und braucht im Panathenaikos nicht wiederholt zu werden, da darauf durch den Kontext hingedeutet wird. Vgl. dazu Albertz, Exemplarisches Heldentum 74. 1146 Vgl. das im Plataikos und Archidamos präsentierte Schema πόλεμος δίκαιος – δόξα – σύμμαχοι – κρατεῖν ἐν τοῖς πολέμοις (vgl. Isokr. 14,39–45; 6,36 und Kap. IV. 3.3.3.1.c; 4.3.2 [hier S. 184–186. 215–217]). Nicht der Gedankengang des Schemas, sondern die Grundidee des endlichen Sieges einer gerecht handelnden Macht wird hier parallelisiert. In § 186 hatte Isokrates behauptet, dass die ungerechten Siege, wie der der Perser bei den Thermopylen, auf die ἀμέλεια τῶν θεῶν zurückzuführen seien. Jedoch wird die Vernachlässigung der Götter bezüglich der gerechten Sache nicht als Permanentzustand wahrgenommen. 1147 Vgl. Isokr. 12,188. 1148 Bereits im Panegyrikos unterschied Isokrates zwischen den Kriegen gegen die Skythen, Thraker und Perser (vgl. Isokr. 4,66–72). Darüber hinaus wies er auf den Krieg der Athener gegen Eurystheus hin (vgl. Isokr. 4,54–60). Zusammen werden alle diese Kriege im Archidamos und im Areopagitikos aufgezählt (vgl. Isokr. 6,42; 7,75). 289

und variiert dabei beliebig seinen Gedankengang und seine Argumentation: Die Invasion der Peloponnesier ist kein Krieg zwischen Hellenen und Barbaren und der Feldzug des Dareios hatte keineswegs in der Zeit der Besiedlung der griechischen Poleis stattgefunden.1149 Warum werden jedoch alle diese Kriege im Gegensatz zu Spartas Kriege als gerecht bewertet? Gemeinsamer Nenner aller genannten Auseinandersetzungen ist, dass die Athener nicht für sich selbst, sondern direkt oder indirekt für alle Hellenen gekämpft und diese in den meisten Fällen gerettet hätten. Alle Kriege aufgrund barbarischer Invasionen, seien es die mythischen Kriege oder die Perserkriege, werden sowohl als Verteidigungskriege als auch als Kriege gegen Erb- und Naturfeinde als gerecht wahrgenommen.1150 Darüber hinaus sind die hellenischen Angriffskriege gegen Barbaren zu Koloniegründungen im isokrateischen Denken ebenfalls gerechtfertigt; die Erbfeindschaft, der Rachekrieg, das panhellenische Motiv und das prinzipielle Einvernehmen des Isokrates mit expansiven Kriegen gegen Barbaren zur Lösung bevölkerungspolitischer und sozioökonomischer Probleme sollen den imperialistischen Charakter dieser Kriege beseitigen und sie zumindest in den Augen der Hellenen als legitimiert und nützlich erscheinen lassen.1151 Während die ionische Kolonisation unter denselben Aspekten wie im Panegyrikos §§ 34–37 angesprochen wurde, ist im Panathenaikos zum ersten Mal das gegensätzliche Verhalten des angeblich panhellenisch denkenden Athen und des eigennützigen dorischen Sparta hervorgehoben.1152 Der Angriff des Eurystheus mit den Peloponnesiern gegen Athen ist zwar ein innerhellenischer Krieg, Isokrates weist jedoch noch einmal auf die Hikesie der Kinder des Herakles hin.1153 Der Krieg gilt somit für die Athener als unbestritten legitimiert, denn sie hätten die gebotene Hilfe für Hiketen dem göttlichen Gesetz nach geleistet. Ähnlich wurde dieses mythische Ereignis im Panegyrikos dargestellt,1154

1149 Zur Analyse und Diskussion des isokrateischen Vorgehens vgl. Roth, Panathenaikos 211–214. 1150 Vgl. Isokr. 12,163; dazu Kap. IV. 7.1.1 (hier S. 279–281). 1151 Während im Panegyrikos mit Hinweis auf die ältere Kolonisation die Eroberung des Perserreichs propagiert (vgl. Isokr. 4,34–37 und 131ff. 166. 173f. 182; dazu Weißenberger, Plan, in: Orth, Isokrates 95–110, bes. 96) und im Philippos explizit eine neue griechische Kolonisation gefordert wird (vgl. Isokr. 5,120–123), hebt Isokrates im Panathenaikos die Notwendigkeit und den Nutzen älterer Vertreibungen der Barbaren und Koloniegründungen hervor. Demnach wurden im Rahmen der Politik der Feindschaft gegenüber Barbaren und Eintracht unter Griechen die Kykladeninseln von den bedürftigsten Griechen besiedelt, nachdem die Karer vertrieben wurden (vgl. Isokr. 12,42ff.). Darüber hinaus wird die ionische Kolonisation zur Lösung sozioökonomischer Probleme mit dem Rachekrieg verbunden (vgl. Isokr. 12,167. 190). 1152 Vgl. Miller, Die griechische Kolonisation im Spiegel literarischer Zeugnisse 23ff. 1153 Vgl. Isokr. 12,194. 1154 Vgl. Isokr. 4,54–60; dazu hier S. 127. 290

jedoch betont, dass sich die Hiketen mit ihrem Hilfegesuch an die stärkste Polis wandten1155. Die Rolle Athens als uneigennützige hellenische Schutzmacht kommt auch im Panathenaikos durch die Darstellung der ‚drei‘ gerechten Kriege Athens zum Ausdruck. Im einzigen Fall, in dem es sich um einen Krieg unter Hellenen handelt, dient das sakrale Recht der Kriegsrechtfertigung. Isokrates nutzt also ganz nach seinem Gutdünken die vergangenen Kriege Athens und Spartas, um die moralische Überlegenheit Athens nachzuweisen.1156 Es ist allerdings offensichtlich, dass er die spartanische Kriegsgeschichte nur vage und unpräzise darstellt,1157 während er in Bezug auf Athen selektiv vorgeht und trotzdem lediglich die Perserkriege als historische Beispiele anführen kann. Die Teilnahme auch der Spartaner an den Kriegen gegen die Perser wird zwar in § 189 kurz erwähnt, aber nur um ihren Beitrag zu bagatellisieren. Isokrates weicht vom Muster der epideiktischen Rede zusammenfassend gesehen nicht ab und verwendet Ereignisse der mythischen Vorzeit zum Vorteil seiner Argumentation. Selbst wenn diese nun als Topoi erscheinen, ist es viel schwieriger, sie im Vergleich zu anderen Argumenten zu bestreiten und sie bleiben immerhin emotional wirksam. Im Dialog des dritten Hauptteils der Rede (§§ 199–265) übt der Schüler des Isokrates Kritik an den Ansichten seines Lehrers und präsentiert ein ihm widersprechendes, diesmal positives Bild Spartas. Während der Rhetor zu einigen angesprochenen Aspekten keine Stellung nimmt und somit die rhetorisch-pädagogische Wirkung seines Vorgehens in eine gewisse Richtung zu wenden beabsichtigt, verteidigt er vehement seine Positionen zur Kriegsrechtfertigung. Auf den ersten Einwand des Schülers, die Spartaner hätten die schönsten Verhaltensweisen (κάλλιστα ἐπιτηδεύματα) entwickelt und somit den Hellenen einen großen Verdienst erwiesen,1158 antwortet Isokrates heftig (§§ 203–214), indem er zunächst hauptsächlich auf die fehlende εὐσέβεια gegenüber den Göttern, δικαιοσύνη gegenüber den Menschen und φρόνησις bei allem ihrem sonstigen Handeln hinweist.1159 Dies erklärt er insbesondere durch die Verurteilung der Angriffe der Spartaner gegen Stammesverwandte und andere Hellenen.1160 1155 Vgl. Isokr. 4,56f. 1156 Vgl. Isokr. 12,196ff.; Roth, Panathenaikos 214. 1157 Dass Isokrates auch selbst seine Darstellung Spartas zum Teil für subjektiv, nicht aber für verfehlt hält, geht aus seinem Urteil in § 232 und der Antwort seines Schülers darauf in § 235 hervor (vgl. dazu Gray, Panathenaicus, in: Hodkinson/ Powell, The Shadow of Sparta 223–271, bes. 232). 1158 Vgl. Isokr. 12,202; auch 216. 1159 Vgl. Isokr. 12,204. Auch in der Friedensrede hatte Isokrates das Argument, dass ungerechtes Handeln vorzuziehen sei, wenn es nutzbringend sei, durch die Hervorhebung ethischer Werte wie εὐσέβεια und δικαιοσύνη zurückgewiesen (vgl. Isokr. 8,33). 1160 Isokr. 12,207: νῦν δ' ἐπῃνεκότι σοι τὸν ἐμὸν λόγον, τὸν ἐπιδεικνύντα πολλὰ καὶ δεινὰ Λακεδαιμονίους περί τε τοὺς συγγενεῖς τοὺς αὑτῶν καὶ περὶ τοὺς ἄλλους 291

In seiner zweiten Antwort auf die Erläuterung des Schülers, die κάλλιστα ἐπιτηδεύματα seien zwar nicht durch εὐσέβεια, δικαιοσύνη und φρόνησις, doch aber durch Tapferkeit, Eintracht innerhalb der Polis und Pflege des Militärwesens gekennzeichnet,1161 argumentiert Isokrates, dass diese Werte nicht zum Nutzen der Hellenen genutzt wurden.1162 Damit wendet er sich gegen das Spartabild, das wegen der militärischen Tüchtigkeit und der Erziehung der spartanischen Jugend gerade durch Platon Mitte des 4. Jh. und wenig später auch durch Aristoteles präsentiert und geschätzt wurde.1163 Die Ansichten des Isokrates über positive Verhaltensweisen im Krieg (καλῶς χρῆσθαι τοῖς περὶ τὸν πόλεμον ἐπιτηδεύμασιν)1164 verdeutlichen seine Vorstellung von einer gerechten Kriegführung. So wirft er den Spartanern vor, dass ihre Kriege sich nicht gegen Barbaren, Unrechttäter oder Angreifer ihres Landes wandten. Hierbei fasst Isokrates drei der wichtigsten Argumente zusammen, durch die er in seinen Schriften mehrmals Kriege zu rechtfertigen suchte. Die Verurteilung der Kriege gegen Stammesverwandte oder Hellenen und die Hervorhebung panhellenischer Ziele in Bezug auf die Kriegführung ergänzen sein theoretisches Konzept.1165 Beachtenswert ist, das Isokrates die angestrebte ὁμόνοια in der spartanischen Polis strikt ablehnt, weil sie angeblich durch gewalttätige Außenpolitik zu Lasten der Eintracht mit und zwischen den anderen Hellenen erzielt wurde.1166 Die Ansichten des Schülers werden weiterhin in einem sich fortsetzend präsentierten Gespräch (§§ 233–265) – diesmal vor einem breiteren Schülerkreis – dargestellt. Dieser wechselt nun seine Perspektive zur Widerlegung des isokrateischen Spartabildes, indem er die Bezeichnung der Spartaner als ὑπεροπτικοί (hochmütig), πολεμικοί (kriegerisch) und πλεονέκται (auf den eigenen Vorteil bedacht) als

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῞Ελληνας διαπεπραγμένους, πῶς οἷόν τ' ἦν ἔτι σοι λέγειν τοὺς ἐνόχους ὄντας τούτοις ὡς τῶν καλλίστων ἐπιτηδευμάτων ἡγεμόνες γεγόνασιν; Dies ist das strenge Urteil des Isokrates über den spartanischen Imperialismus und die lakedaimonische politische Ordnung. Vgl. auch Isokr. 12,210. Vgl. Isokr. 12,216f. Den ethischen Werten wie εὐσέβεια, δικαιοσύνη und φρόνησις stellt Isokrates die spartanischen ἄσκησις τῆς ἀνδρείας, ὁμόνοια und περὶ τὸν πόλεμον ἐπιμέλεια gegenüber. Vgl. Isokr. 12,219. 223ff. Vgl. Plat. leg. 1,630d-e; Aristot. pol. 1271a 41; dazu Kröner, Dialog und Rede, in: Seck, Isokrates 296–328, bes. 325f. Anm. 109. Isokr. 12,216. P. Roth (Panathenaikos 230) notiert treffend dazu, dass der Schüler von den ‚schönsten Verhaltensweisen‘ (κάλλιστα ἐπιτηδεύματα) der Spartaner spricht, Isokrates hingegen über das ‚schön Gebrauchen‘ der Verhaltensweisen antwortet und somit die Aussage seines Schülers inhaltlich verfälscht. Isokr. 12,220: […] μὴ πρὸς τοὺς βαρβάρους μηδὲ πρὸς τοὺς ἁμαρτάνοντας μηδὲ πρὸς τοὺς εἰς τὴν αὑτῶν χώραν εἰσβάλλοντας, ἀλλὰ πρὸς τοὺς οἰκειοτάτους καὶ τῆς αὐτῆς συγγενείας μετέχοντας· ἅπερ ἐποίουν Σπαρτιᾶται. Καίτοι πῶς ὅσιόν ἐστιν φάσκειν καλῶς χρῆσθαι τοῖς περὶ τὸν πόλεμον ἐπιτηδεύμασιν, οἵτινες οὓς προσῆκεν σῴζειν, τούτους ἀπολλύοντες ἅπαντα τὸν χρόνον διετέλεσαν. Vgl. Isokr. 12,226ff.

nutzbringend für sie einschätzt.1167 Als πολεμικοί seien sie demnach nicht nur zum Erwerb fremden Besitzes, sondern auch zur Bewahrung dessen fähig.1168 Darüber hinaus sollte ihre πλεονεξία – im Gegensatz zum gängigen Gebrauch des Begriffs – als höchstes Gut, μέγιστον τῶν ἀγαθῶν, gewertet werden, da ihnen gerade dieses ‚Mehr-Haben-Wollen‘ zu herrschen erlaubt habe.1169 Der Schüler benutzt hier eine positive Bedeutung des Pleonexiebegriffes, so wie ihn Isokrates in der Antidosisrede dargestellt hatte.1170 Während allerdings Isokrates mit echtem Ehrgeiz zum Machtzuwachs prinzipiell einverstanden gewesen sein mag, hat er bereits in früheren Teilen des Panathenaikos gezeigt, dass ein streng auf Eigennutz gerichteter Machzuwachs einer Polis ohne Rücksicht auf die anderen Hellenen ohnehin zu verurteilen sei. In einer kurzen Lobrede zugunsten Spartas (§§ 253–259) rechtfertigt der Schüler die bereits seit seiner frühen Geschichte bestehende Gewaltpolitik Spartas. Die Gewinne aus den Expansionen – zunächst gegen die Peloponnesier – seien für Sparta die materielle εὐδαιμονία bzw. εὐπορία,1171 dazu käme die Bewahrung der Unabhängigkeit und der αὐτονομία sowie das Erlangen einer führenden Rolle auf der Peloponnes und in Hellas, die der Polis die ἡγεμονία in den Perserkriegen einbrachte,1172 und schließlich die ὁμόνοια innerhalb der Polis.1173 Hierbei ist anzumerken, dass die durch den Schüler präsentierten Vorteile des spartanischen Expansionsbestrebens bereits in früheren Schriften des Isokrates als Ziele des gemeingriechischen Krieges gegen die Perser in Erscheinung traten. Darin wurden diese jedoch lediglich aus der panhellenischen Perspektive heraus gefordert. Die spartanische Kriegspolitik wird folglich im Panathenaikos nicht wegen ihrer Ergebnisse an sich, sondern aufgrund der extremen spartanischen Eigennützigkeit abgelehnt. Die Analyse der Vorteile der spartanischen Kriegstüchtigkeit durch den Schüler konnte Isokrates demzufolge wenig überzeugen, denn er hatte bereits klargestellt, dass der Nutzen als Argument für die Kriegsrechtfertigung nur dann verwendet werden könne, wenn dieser auch andere bzw. alle Hellenen betrifft oder

1167 Vgl. Isokr. 12,241. Diese drei Begriffe werden den vom Schüler zusammengefassten isokrateischen Bezeichnungen der Athener als εἰρηνικοί (friedliebend), φιλέλληνες (griechenfreundlich) und τῆς ἰσότητος τῆς ἐν ταῖς πολιτείαις ἡγεμόνες (Bahnbrecher der Gleichheit in den politischen Ordnungen) gegenübergestellt. Vgl. Roth, Panathenaikos 247. 1168 Vgl. Isokr. 12,242. 1169 Vgl. Isokr. 12,243f. 1170 Vgl. Isokr. 15,281. 284; Weber, Pleonexie 140f.; vgl. auch hier S. 155 Anm. 367. 1171 Vgl. Isokr. 12,253f. Es fällt hier auf, dass die ἔνδεια und ἀπορία einer Polis nicht nur zur Rechtfertigung eines Krieges gegen Stammesgenossen und eines gewaltigen Raubes, sondern auch zur Bezeichnung eines derartigen Angriffskrieges als gottgefällig (θεοφιλὴς πράξις) dienen. Isokrates legt seinem Schüler hier offenbar absichtlich ein unzulängliches Argument in den Mund, damit seine eigene Argumentation als überlegen erscheint. 1172 Vgl. Isokr. 12,255ff. 1173 Vgl. Isokr. 12,258. 293

wenn der Krieg zumindest nicht zu Lasten anderer Hellenen geführt werde. Es ist festzuhalten, dass der Rhetor trotz seines Schweigens am Ende des Dialogs mit der Rechtfertigung des spartanischen Imperialismus durch seinen Schüler grundsätzlich nicht einverstanden ist. Der Dialogteil wurde von Isokrates also nicht hinzugefügt, damit verschiedene Deutungen des Panathenaikos offen gehalten werden, sondern damit die Argumentation des Rhetors durch den Vergleich mit den schwächeren Gegenargumenten seines Schülers gestärkt wird.1174

7.1.4 Fazit Die Auffassungen des Isokrates über die Kriegsrechtfertigung ändern sich im Panathenaikos nicht. Trotz der Tatsache, dass diese Schrift keine explizit politische Zielsetzung hat, wiederholt der Rhetor seine Ansichten über die Kriege zwischen Hellenen und Barbaren. Die Kriegsrechtfertigung erfolgt durch das Argument der zeitübergreifenden Natur- und Erbfeindschaft, welche sich nicht nur auf die historischen und mythischen Verteidigungskriege, sondern auch auf die hellenischen Expansionskriege während der frühen griechischen Kolonisation bezieht. Das Motiv des Rachekrieges ist auch in dieser letzten, obgleich diesmal versteckten, Darstellung des Konzeptes zum panhellenischen Perserkrieg durch Isokrates immanent. Er verwendet ein zur epideiktischen Rede passendes Stilmittel, um an seinen panhellenischen Plan zu erinnern: Durch einen Exkurs über den mythischen Anführer der Achaier im Troianischen Krieg, Agamemnon, erläutert er implizit, wie er sich einen panhellenischen Krieg unter der Führung des Makedonenkönigs Philipp vorstellt. Es findet sich allerdings in dieser Rede kein direkter Hinweis auf die Forderung nach einem solchen Krieg oder auf Philipp selbst, gerade weil zu diesem Zeitpunkt die Beziehung Athens zum Makedonenkönig schlecht war und Isokrates wegen seines positiven Verhältnisses zu Philipp in dieser Schrift nicht umhin kam, seinen Patriotismus als Athener unter Beweis zu stellen. Die innergriechischen Kriege werden zwar von Isokrates allgemein als nicht erwünscht betrachtet, im Panathenaikos jedoch konfrontiert sich der Rhetor im Rahmen des Lobes auf das ältere Athen auch mit Aspekten von dessen unbequemer Vergangenheit, und zwar mit den Übergriffen der Polis im Peloponnesischen Krieg gegen kleine hellenische Staaten. Der Rhetor konzentriert sich darauf, den Ruf Athens unbeschädigt zu lassen, indem er die Angriffe auf Melos, Skione und Torone zwar nicht rechtfertigt, aber im Vergleich zu den ungerechten Kriegen Spartas gegen seine gleichstämmigen Nachbarn auf der Peloponnes in hocharchaischer Zeit und gegen die Plataier während des Peloponnesischen Krieges als kleine, moralisch zu vertretende Aktionen bewertet. Isokrates gibt jedoch im Panathenaikos zu, dass die Bewahrung der ἀρχή zwangsläufig auch mit ungerechten Taten Athens verbunden

1174 Zu verschiedenen Annäherungen und zur Diskussion in der Forschung über die Funktion des Dialogs und das Schweigen des Isokrates am Ende vgl. die angegebene Literatur in Roth, Panathenaikos 216 Anm. 519. 294

war. Dies verteidigt er mit dem Argument, dass die einzige Alternative dazu die Übernahme der Herrschaft durch Sparta mit der daraus folgenden Unterdrückung der Athener unter Verzicht auf ihre eigene Freiheit und Unabhängigkeit gewesen wäre. Die ungerechten Kriege der Polis werden also zum einen relativiert und zum anderen als unabdingbarer Teil der angeblich alternativlosen und unausweichlichen Politik Athens dargestellt. Mit den Aktionen Athens gegen Melos und Skione hatte sich Isokrates auch im Panegyrikos beschäftigt, sodass die Gelegenheit zum Vergleich seiner Argumente gegeben ist. Im Jahr 380 suchte der Rhetor die athenische Arché unbedingt zu verteidigen, denn er bezweckte – anders als im Panathenaikos – die erneute Übernahme bzw. Teilung der Hegemonie Athens mit Sparta in Hinsicht auf einen panhellenischen Perserkrieg. Athen sollte zu diesem Zeitpunkt als geeignete Führungsmacht präsentiert werden. Isokrates versuchte – mit wenig Erfolg – die genannten Kriege zu rechtfertigen, indem er die Kriegsschuld auf die Opfer der athenischen Aggression schob. Durch eine absichtlich nicht präzise Darstellung wurden Melos und Skione pauschal als kriegführende Gegner Athens dargestellt, die zu bestrafen seien. Athen hätte demnach das Recht, gegen Poleis, die nicht Mitglieder des Seebundes waren, in dessen Interesse hart vorzugehen. Es stellt sich heraus, dass sich Isokrates zwar schwer tut, ungerechte Kriege Athens gegen Hellenen zu rechtfertigen, dies jedoch versucht, wenn es von der politischen Zielsetzung der Rede gefordert wird; dabei nutzt er das gewöhnliche Argument des Rachekrieges gegen Übeltäter. Dass Isokrates aber prinzipiell die Vergehen Athens im Peloponnesischen Krieg verurteilt, geht aus dem Panathenaikos hervor, in dem der Rhetor kein Wort zur wahren Rechtfertigung dieser Kriege findet. Eine Lobrede, die keine konkreten politischen Ziele verfolgte, konnte ihn offenbar nicht zur Verschleierung bzw. Verfälschung alter Untaten der Polis bewegen. Isokrates schließt den zweiten Hauptteil der Rede mit einem Vergleich zwischen Spartas ungerechten und Athens gerechten Kriegen. Ohne wirklich überzeugen zu können, stellt er alle Kriege in der Geschichte Spartas mit Ausnahme der Thermopylenschlacht als Kriege, die wegen Besitz- und Machtgier geführt worden waren, dar. Die Ungerechtigkeit des spartanischen Vorgehens besteht in seinen Augen hauptsächlich darin, dass es sich gegen Stammesgenossen und Hellenen wandte. Im Gegensatz dazu hebt er bei den athenischen Kriegen hervor, dass diese uneigennützig seien und eine panhellenische Zielsetzung verfolgten. Athen erscheint als die von Urzeiten an führende Schutzmacht der Hellenen. Den einzigen Krieg seiner Polis gegen Hellenen in mythischer Vorzeit rechtfertigt Isokrates als Krieg, der dem göttlichen Gesetz nach zum Schutz von Hiketen geboten ist. Im dritten Hauptteil urteilt Isokrates während des Dialogs mit seinem Schüler gegen die spartanische Besitz- und Machtgier, da diese nicht gottgefällig, gerecht und griechenfreundlich sei. Zusammenfassend gibt er seine Vorstellung vom gerechten Krieg wieder, die von den Spartanern nicht befolgt wurde: Der Krieg soll sich gegen Barbaren, Übeltäter oder Angreifer des eigenen Landes wenden. Hiermit spricht er die üblichen Formen des zwar ungeschriebenen, aber in Hellas weitgehend anerkannten Kriegsrechts an. Darüber hinaus sollte der Krieg, der zum Nutzen 295

anderer bzw. aller Hellenen geführt wird, gerechtfertigt sein. Die innerhellenischen Kriege werden demzufolge deutlich abgelehnt, während der Krieg als Hilfeleistung für Griechen legitim ist. Die grundsätzlichen Auffassungen des Isokrates über einen gerechten Krieg und seine panhellenische Zielsetzung werden im Panathenaikos anhand der Kritik an Spartas Kriegsverhalten noch einmal zusammengefasst und propagiert.

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V. Demosthenes 1. Demosthenes und seine zu untersuchenden Reden Der Redner und Politiker Demosthenes (384–322) aus dem attischen Demos Paiania zählt zu den einflussreichsten Rhetoren Athens in der zweiten Hälfte des 4. Jh. Als er sieben Jahre alt war, starb sein Vater, der wohlhabende Unternehmer Demosthenes. Gegen seine Vormünder, die sich das Vermögen seines Vaters aneigneten, musste der junge Demosthenes nach seiner Mündigkeit, d. h. nach Vollendung des 18. Lebensjahres, von 364/3 bis 362/1 schwere Prozesse führen, um Reste vom früheren Wohlstand seiner Familie zurückzugewinnen. In den erhaltenen Prozessreden wird bereits das rednerische Talent des Demosthenes evident,1 denn schon zuvor nahm er Unterricht bei Isaios, dem damals berühmten Anwalt für Erbschaftsprozesse.2 Darüber hinaus soll er die Schriften des Isokrates3 und Thukydides studiert haben und mit der Philosophie Platons vertraut gewesen sein.4 Sein rednerisches und politisches Vorbild soll allerdings der Politiker Kallistratos von Aphidnai gewesen sein.5 Demosthenes war zunächst als Logograph und vermutlich auch als Rhetoriklehrer tätig.6 Im Jahr 355/4 kommt er durch das Verfassen von Gerichtsreden mit der Politik in Berührung; auf seine logographische Tätigkeit verzichtete er aber nicht. Von diesem Zeitpunkt bis zu seinem Suizid im Jahr 3227 verfasste er eine Reihe

1 Es handelt sich um drei Reden gegen Demosthenes’ Vormund Aphobos (Demosth. orr. 27; 28; 29) und zwei gegen Onetor, den Bruder der geschiedenen Frau von Aphobos (Demosth. orr. 30; 31). Diese enthalten zahlreiche biographische Informationen über Demosthenes. Zu den biographischen Daten des Demosthenes vgl. auch Theopomp. FGrHist 115 F 325; Plut. Dem.; Dion. Hal. Amm. I; [Plut.] mor. 844A-848D; dazu Thalheim, RE V,1 (1903) s. v. Demosthenes [6] 169–188, bes. 169; Usher, On the Crown 1 Anm. 1; Engels, DNP 3 (1997) s. v. Demosthenes [2] 467–470, bes. 467–470. 2 Vgl. Plut. Dem. 5; Lib. Arg. D. 8; dazu Schäfer, Demosthenes und seine Zeit I, 287; Usher, On the Crown 2 mit Anm. 7. 3 Vgl. Plut. Dem. 5; Usher, On the Crown 2 mit Anm. 8. 4 Vgl. [Plut.] mor. 844B-C; Thalheim, RE V,1 (1903) s. v. Demosthenes [6] 169–188, bes. 170f.; Lehmann, Demosthenes 38. 46. 5 Vgl. Plut. Dem. 5,1–3; [Plut.] mor. 844B; Jaeger, Demosthenes 88. 106; Usher, On the Crown 2; Lehmann, Demosthenes 59f.; Hochschulz, Kallistratos 1f. mit Anm. 1. 2. 6 Zur Tätigkeit des Demosthenes als Redelehrer in privatem Kreis vgl. Aischin. 1,117. 170–173. 7 Demosthenes wurde im Jahr 323 als Hauptangeklagter in den Harpalos-Prozessen in Athen wegen Bestechung verurteilt und entwich nach seiner Inhaftierung ins Exil. Von dort aus und nach seiner baldigen Rückkehr nach Athen folgte er einer Politik, die Athen an der Spitze eines Hellenenbundes gegen Makedonien führte. Nach der Niederlage der Hellenen im Lamischen Krieg, und zwar nach der Schlacht bei Krannon wurde Demosthenes in Abwesenheit zum Tode verurteilt; er beging im 297

öffentlicher Prozessreden und nahm aktiv an der attischen Politik teil, indem er politische Reden in der Ekklesia vortrug und in der letzten Periode seines Wirkens einige diesbezügliche Briefe veröffentlichte. Sein Einfluss auf die athenische Politik war besonders in der Zeit von 343 bis 338 maßgebend. Am Anfang seiner politischen Karriere, die im Jahr 355 begann, konnte er seine Vorschläge hinsichtlich der Innen- und Außenpolitik nicht durchsetzen, gewann aber als junger Politiker Ansehen und schuf so die Basis für seine spätere einflussreiche Tätigkeit. Ab 351 widersetzte er sich vehement der Expansionspolitik des Makedonenkönigs Philipp II. Während Demosthenes in der Auseinandersetzung Athens mit Philipp zunächst die Kontrolle über die Nordägäis in den Mittelpunkt rückte, forderte er in den erhaltenen Reden der Jahre von 344 bis 340 den offenen Krieg gegen Philipp; den Kampf gegen Makedonien sah er in dieser Zeit als unabdingbar für die Wiederherstellung der Seemacht Athens in Hellas sowie für die Existenz aller Hellenen an. Seine Positionen waren wichtige Faktoren, die im Jahr 338 zur entscheidenden Schlacht bei Chaironeia führten, in der Athen und Theben als Hegemonen des Hellenenbundes eine schwere Niederlage durch die makedonischen Truppen Philipps hinnehmen mussten. Von da an kam es zur Wende in der griechischen Poliswelt, was in den nächsten Jahren durch den Übergang zur hellenistischen Ära deutlich wurde. Die politische Aktivität des Demosthenes nach 338 ordnete sich zwangsläufig den neuen Gegebenheiten unter; er verfolgte trotzdem bis zu seinem Tod seine Politik gegen die makedonische Herrschaft. Allerdings geben bereits seine politischen Reden von 354/3 bis 340 ein vollständiges Bild seines politischen Denkens und seiner Positionen zur Kriegsrechtfertigung, so wie sich diese seit dem Ende des Bundesgenossenkrieges unter den jeweils unterschiedlichen Umständen entwickelten, preis. Es handelt sich gerade um eine Zeit, in der sich Athen immer noch als hellenische Vormacht verstand und die letzten Versuche zur Wiederherstellung seiner alten Macht unternahm. Gerade die demosthenischen Gedanken dieser Zeit werden im Folgenden untersucht, weil sie ein komplexes Stimmungsbild von der Polis Athen liefern. Das uns größtenteils überlieferte Corpus Demosthenicum8 enthält 15 Reden, die vor der Volksversammlung gehalten wurden (orr. 1–10; 13–17). Drei Reden aus diesem Corpus sind unecht. Ein Brief Philipps II. von Makedonien an die Athener ist umstritten (or. 12) und eine dem Demosthenes zugeschriebene Antwort darauf ebenso (or. 11). Neun Reden entstammen politischen Prozessen (orr. 18–26), 33 Reden sind aus Privatprozessen (orr. 27–59), darunter sicherlich einige unechte, ferner zwei Prunkreden (orr. 60; 61), eine davon unecht, einige Prologe, die er gelegentlich in seinen Reden verwendete und sechs Briefe, von denen einer vermutlich unecht ist.9 Jahr 322 Selbstmord im Poseidonheiligtum auf Kalauria. Vgl. Engels, DNP 3 (1997) s. v. Demosthenes [2] 467–470. 8 Vgl. dazu Blass, Beredsamkeit III.1, 49–65; Sealey, Demosthenes and His Time 221–229 (Appendix 1). 9 Von den politischen Reden vor der Volksversammlung stammen die zeitgenössischen Reden Über Halonnesos (or. 7) und Über den Vertrag mit Alexander von Makedonien (or. 17) nicht von Demosthenes. Ebenfalls unecht, aber in einer späteren Zeit von 298

Im Folgenden werden in Bezug auf die Kriegsrechtfertigung die echten politischen bzw. symbuleutischen Staatsreden und einige themenrelevante politische Prozessreden von 354/3 bis 340 in Betracht gezogen, indem sie zunächst in den historischen Kontext eingeordnet werden. Es handelt sich in einem ersten Kapitel um die ersten drei Staatsreden, also die Rede Über die Symmorien (354/3), die Rede Für die Megalopoliten (353/2) und die Rede Für die Freiheit der Rhodier (352 oder 351/0). In einem nächsten Kapitel werden die I. Philippische (351/0) und die drei Olynthischen Reden (349/8) untersucht. Die Rede Über den Frieden bezüglich des Philokratesvertrags von 346 wird eigenständig in Betracht gezogen. In einem weiteren Kapitel werden die Reden der zweiten Hälfte der 340er Jahre, also die II. Philippika (344), die Rede Über die Angelegenheiten auf der Chersonesos, die III. Philippika (341) und die IV. Philippika (340) untersucht.10 Ergänzend wird auf die Gerichtsreden Über die Truggesandtschaft (343) und Über den Kranz (330) sowie auf die Staatsrede des mit Demosthenes gleichgesinnten Hegesippos Über

unbekannten Verfassern geschrieben, sind die Antwort des Demosthenes auf den Brief Philipps (or. 11) sowie die Rede Über die Syntaxeis (or. 13). Von den politischen Gerichtsreden ist die erste Rede Gegen Aristogeiton (or. 25) umstritten und die zweite (or. 26) unecht. Von den Gerichtsreden in privatrechtlichen Prozessen sind orr. 46; 49; 50; 52; 53 und 59 unecht und stammen von einem anderen Redner, wahrscheinlich Apollodoros; umstritten sind orr. 33; 34; 35; 43; 44; 56. Von den epideiktischen Reden ist der uns erhaltene Epitaphios (or. 60), also die Rede auf die Gefallenen der Schlacht bei Chaironeia im Jahr 338, wahrscheinlich lediglich eine Nachahmung der ursprünglichen Rede; die andere Prunkrede, der Erotikos (or. 61), also das Lob eines schönen Knaben in Briefform, ist umstritten. Zur Frage der Echtheit der Reden vgl. Blass, Beredsamkeit III.1, 60–65; Montgomery, Chaeronea 39f.; Worthington, in: Mnemosyne 44 (1991) 425–428; Sealey, Demosthenes and His Time 230–240 (Appendix 2); Worthington, Introduction: Demosthenes, then and now. In: ders., Demosthenes 1–8, bes. 1. Von den sechs dem Demosthenes zugeschriebenen Briefen ist der fünfte, der einzige private Brief, den Demosthenes angeblich in seiner Jugend geschrieben hat, vermutlich unecht. Die anderen fünf politischen Briefe, mit denen sich Demosthenes an den athenischen Demos wendet, sind zwar umstritten, wahrscheinlich aber doch echt. Die ersten vier Briefe soll Demosthenes während seines Exils im Jahr 323, den sechsten während des Lamischen Krieges 323/2 verfasst haben. Zu den Briefen und ihrer Echtheit vgl. Worthington, Mnemosyne 56 (2003) 585–589; MacDowell, Demosthenes the Orator 408–423. 10 Tuplin (Historia 47 [1998] 276–320, bes. 310) teilt die politischen Demegorien des Demosthenes in drei Gruppen: A. Drei hellenische Demegorien (orr. 14, 16, 15). B. Vier philippische Reden vor dem Philokratesfrieden (orr. 4, 1, 2, 3). C. Vier philippische Reden nach dem Philokratesfrieden (orr. 5,6,8,9). Es wird hier diese Teilung weitgehend eingehalten; unterschiedlich sind allerdings zwei Punkte: 1. Die Rede Über den Frieden (or. 5) wird in einem eigenständigen Kapitel behandelt. 2. In die letzte der drei Gruppen wird die IV. Philippika (or. 10) mit einbezogen. 299

Halonnesos (343/2), welche im demosthenischen Corpus eingeschlossen ist, Bezug genommen.11 Es steht fest, dass einige Reden für die Veröffentlichung in schriftlicher Form überarbeitet worden sind.12 Die Annahme, dass einige Schriften nur als politische Pamphlete verbreitet wurden, kann – wenn überhaupt – lediglich ausnahmsweise für eine sehr begrenzte Zahl gelten.13 In jedem Fall sollen allerdings die Demegorien und einige Gerichtsreden des Demosthenes als Bestandteil der politischen Praxis wahrgenommen werden, da der Rhetor vorrangig auf die Beeinflussung der athenischen Öffentlichkeit und der Politikgestaltung seiner Polis abzielte.14 Die Interpretation seiner Argumente in Bezug auf die Kriegsrechtfertigung ist nicht von der Veröffentlichungsform der Reden abhängig, da diese zum einen von den tatsächlich vorgetragenen Texten nicht große Abweichungen aufweisen konnten und zum anderen Adressaten sowohl innerhalb als auch außerhalb Athens überzeugen sollten.15

2. Die hellenischen Demegorien Von besonderem Interesse sind die frühen drei Staatsreden des Demosthenes, die er in den ersten vier Jahren seiner politischen Karriere, also von 354/3 bis 351/0, vor der attischen Volksversammlung gehalten hat. In dieser Zeit war zum einen die makedonische Gefahr in ihrer wahren Dimension in Athen noch nicht wahrgenommen worden, zum anderen ist gerade diese Zeit geeignet, um die Entwicklung des politischen Denkens von Demosthenes deutlich zu machen. In den Reden Über die Symmorien, Für die Megalopoliten und Für die Freiheit der Rhodier geht es um jeweils ganz unterschiedliche außenpolitische Situationen. In der ersten Rede handelt es sich nicht nur um die Vorschläge des Demosthenes für eine innenpolitische Steuerreform, sondern auch um die Beziehungen Athens zum Perserreich. Die zweite Rede behandelt die Haltung Athens in einem innergriechischen Konflikt. Mit der dritten Rede fordert der Redner die Athener auf, in 11 Zur Auswahl der genannten Reden des Demosthenes und zu relevanten Informationen über ihren Inhalt s. hier S. 30–32. 12 Vgl. Kennedy, The Art of Persuasion in Greece 204ff.; Worthington, C&M 42 (1991) 55–74, bes. 55f. 68; ders., History and Oratorical Exploitation, in: ders., Persuasion. Greek Rhetoric in Action 109–129, bes. 114–118; Tuplin, Historia 47 (1998) 276–320, bes. 291–319; Milns, The Public Speeches of Demosthenes, in: Worthington, Demosthenes 205–223, bes. 207ff.; MacDowell, Demosthenes the Orator 7f. 13 Zur noch nicht entschiedenen Diskussion in der Forschung mit reichlich Literaturangaben vgl. Piepenbrink, Diskurs 96f. Anm. 18; Milns, The Public Speeches of Demosthenes, in: Worthington, Demosthenes 205–223, bes. 219 Anm. 13. 14 Vgl. Piepenbrink, Diskurs 96f. 15 Vgl. Milns, The Public Speeches of Demosthenes, in: Worthington, Demosthenes 205–223, bes. 207ff. Bereits F. Blass (Beredsamkeit III.1, 49) notierte dazu: „die Herausgabe hatte keinen andern als den praktischen Zweck, den auch die gesprochene Rede gehabt hatte.“ 300

einer anderen Polis zu intervenieren, um die Verfassungssolidarität zu bekräftigen. Jedenfalls bezeichnete Dionysios von Halikarnassos diese drei Reden aufgrund des Inhalts als δημηγορίαι Ἑλληνικαί.16

2.1 Die Rede Über die Symmorien Demosthenes betrat die öffentliche Rednerbühne vor der Volksversammlung zum ersten Mal im Jahr 354/3 während des Archontats von Diotimos, nach dem Ende des sogenannten Bundesgenossenkrieges,17 also ungefähr ein Jahr nach dem Ausbruch

16 Vgl. Dion. Hal. Amm. I, 10. Offensichtlich werden die Rede Über die Symmorien wegen der im Mittelpunkt stehenden Steuerreform in Athen sowie die Reden Für die Megalopoliten und Für die Freiheit der Rhodier wegen der Beziehungen Athens zu Megalopolis bzw. Rhodos als ,hellenische‘ Demegorien betrachtet. Bezüglich der Rede Für die Freiheit der Rhodier ist allerdings zu bemerken, dass durch die Parteinahme Athens für Rhodos indirekt auch die Beziehungen zum Perserreich beeinflusst werden. 17 Vermutlich ist die Symmorienrede auf das Ende des Jahres 354 zu datieren. Zur Datierung der Rede auf 354/3 vgl. Dion. Hal. Amm. I, 4; Schäfer, Demosthenes und seine Zeit I, 470f.; Meyer, GdA V, 481 Anm. 2; Kahrstedt, Forschungen 97f. (Jahr 354); Pokorny, Studien 77 (Jahr 354); Focke, Demosthenesstudien 20; Jaeger, Demosthenes 218 Anm. 6; Sealey, REG 68 (1955) 77–120, bes. 117 (Jahr 355/4 oder 354/3); Will, Klio 65 (1983) 51–80, bes. 52 mit Anm. 3; Sealey, Demosthenes and His Time 128; Lane Fox, C&M 48 (1997) 167–203, bes. 177–181. Andererseits setzt K. J. Beloch (GG III.2, 261f.) die Rede in die Zeit des Bundesgenossenkrieges und zwar spätestens ins Jahr 355 (Archontat des Elpines). Seine Argumente wurden von E. Link (Symmorienrede 10ff.) überzeugend widerlegt. Erwähnenswert ist der Datierungsversuch von Ch. Karvounis auf das Jahr 354: Erstens geht er von der Art, wie Demosthenes mit den Fragen ‚Krieg‘ und ‚Großkönig‘ umgeht, sowie von der gebotenen Rücksicht auf die Staatsfinanzen und die Rüstungsvorschläge aus und kommt zu dem Schluss, dass die Rede nach dem Bundesgenossenkrieg abgefasst wurde. Zweitens nimmt Ch. Karvounis als Ausgangspunkt die Angabe des Demosthenes, Athen verfüge zur Zeit der Symmorienrede über 300 Trieren (vgl. Demosth. 14,13. 18. 29), und belegt, dass dies in die Zeit des finanziellen Aufstiegs von Athen passt, d. h. auf jeden Fall nach 355/4: Die inschriftlichen Zeugnisse über die Anzahl der athenischen Trieren in den Jahren 357/6 beziehen sich nämlich auf 283 Trieren (vgl. IG II² 1611 Z. 5–9). Während des Bundesgenossenkrieges musste Athen schwere materielle Verluste hinnehmen, d. h. die Anzahl der Trieren kann zumindest nicht gestiegen sein. Isokrates erwähnt, dass Athen zur Zeit des Bundesgenossenkrieges etwas mehr als 200 Trieren besaß (vgl. Isokr. 7,1). Für das Jahr 353/2 sind 349 Trieren bezeugt (vgl. IG II² 1613 Z. 302). Dass im Jahr 354/3 Athen über ca. 300 Trieren verfügte, ist also durchaus nachvollziehbar. Drittens widerlegt Ch. Karvounis das Argument von K. J. Beloch, dass Demosthenes in seiner Rede nichts vom Feldzug des Thebaners Pammenes zur Unterstützung des Artabazos gegen den Perserkönig weiß, indem er nicht wie dieser den Pammeneszug in das Frühjahr 354, sondern in das des Jahres 353 setzt: vgl. Karvounis, Demegorien 72–75. 301

des Phokischen bzw. Dritten Heiligen Krieges18. Seine eigentliche Laufbahn als Rhetor begann mit der Demegorie Περὶ τῶν συμμοριῶν,19 durch die er einerseits Athen davor warnte, sich in einen Krieg gegen den Perserkönig verwickeln zu lassen und andererseits einen detaillierten Reformplan für organisatorische Verbesserungen der Marinerüstung und der Finanzierung der Flotte vorschlug.20 Bevor die Argumentation des Demosthenes gegen den Krieg untersucht wird, ist es erforderlich, den historisch-politischen Rahmen, in dem die Rede gehalten wurde, zu untersuchen. Zunächst stellt sich die Frage, wieso im Jahr 354/3 eine Diskussion über einen Krieg Athens gegen das Perserreich auf der Tagesordnung der Volksversammlung stand. Nach der Schlacht bei Mantineia, in der Theben und seine Verbündeten gegen Sparta, Athen und deren Bundesgenossen gekämpft hatten, kam es 362/1 zu einem Friedensschluss zwischen allen Kriegsparteien bzw. allen griechischen Staaten mit Ausnahme von Sparta, das den gegenwärtigen Besitzstand nicht anerkannte. Ausdrückliches Ziel des Friedensvertrags war ein für alle geltender allgemeiner Friede (κοινὴ εἰρήνη) in der griechischen Welt. In der Friedensordnung war unter anderem eine klare Exekutionsklausel sowohl gegen Angriffe von persischer Seite – auch in dem Falle, dass die Gefahr nicht explizit vom Großkönig ausging – als auch gegen Friedensstörungen innerhalb von Hellas vereinbart worden. Ferner wurde die Autonomie aller griechischen Poleis garantiert.21

18 Demosthenes erklärt selbst, dass er vor dem Ausbruch des Phokischen Krieges politisch nicht tätig war (vgl. Demosth. 18,18). Der Phokische Krieg (356–346) wird in der modernen Forschung meistens als der ‚Heilige Krieg‘ bzw. der ‚Dritte Heilige Krieg‘ bezeichnet. Es handelt sich um einen Krieg, den die pyläisch-delphische Amphiktionie – auf Antrag der Lokrer und unter thebanischem Einfluss – im Jahr 356 den Phokern wegen eines angeblichen Sakrilegs gegen das delphische Heiligtum erklärt hatte. Der Krieg selbst soll spätestens im Herbst 355 begonnen haben. Über die Chronologie des Kriegsausbruchs vgl. Beloch, GG III.2, 264ff.; Buckler, Sacred War 28. 19 Dieser Titel ist in hellenistischer Zeit entstanden (vgl. Dion. Hal. Amm. I, 4). Symmorien waren im Athen des 4. Jh. steuerpflichtige Personengruppen, die Flotteneinheiten auszurüsten hatten (vgl. dazu Ruschenbusch, ZPE 31 [1978] 275–284). 20 Vgl. Lehmann, Demosthenes 70. Demosthenes soll ein Jahr zuvor zum ersten Mal vor der athenischen Öffentlichkeit mit der Rede Gegen Leptines (Demosth. or. 20) Stellung zu innenpolitischen Fragen genommen haben (vgl. Dion. Hal. Amm. I, 4). Es handelt sich allerdings nicht um eine Staatsrede, sondern um eine Prozessrede, die Demosthenes als Rechtsbeistand des Ktesippos, Sohn des im Jahr 357 verstorbenen Strategen Chabrias, vorgetragen haben soll (vgl. Demosth. 20,1; Lesky, Literatur 673; Badian, Prominence, in: Worthington, Demosthenes 9–44, bes. 26ff.). 21 Vgl. StV II² 292. Zu den speziellen Merkmalen dieses in den Quellen (vgl. SIG³ 182 Z. 5; Diod. 15,89,1) als κοινὴ εἰρήνη bezeichneten Friedens vgl. die zutreffende Analyse von M. Jehne (Koine Eirene 96–102). 302

Trotzdem verzichtete Athen auch in den Jahren danach keineswegs darauf, sich in die inneren Angelegenheiten von Bundesgenossen, denen man Separationsbestrebungen unterstellte, einzugreifen.22 Neben der sich vermutlich daraus ergebenden Missstimmung gegen Athen23 sollen lokale Gründe auf den Inseln Chios und Rhodos sowie die Machtkonstellation in der östlichen Mittelmeerwelt zur Erhebung von Chios, Rhodos und Kos gegen Athen wesentlich beigetragen haben.24 Im sogenannten Bundesgenossenkrieg (συμμαχικὸς πόλεμος)25, der bis 355 dauerte, konnte Athen weder den Austritt der drei Poleis aus dem Seebund noch die Unabhängigkeit von Byzantion verhindern, was für die politische Stellung und die Finanzen Athens ein schwerer Schlag war. Die Rolle Persiens in diesem Krieg hat wesentlich zum athenischen Misserfolg beigetragen. Die vier Poleis wurden nämlich nicht nur vom Satrapen von Karien, Maussolos, zum Aufstand gegen Athen aufgewiegelt, sondern erhielten auch während des Krieges seine militärische Unterstützung.26 Maussolos, der über sehr gute Beziehungen zum seit 359 amtierenden Großkönig Artaxerxes III. Ochos verfügte, nutzte also die Situation, um seinen Machtbereich in den Ägäisraum auszuweiten, was sehr wohl auch den Interessen des Großkönigs entsprach.27 Nach Misserfolgen der athenischen Flotte bei Chios und Samos28 versuchten die Athener durch ein Bündnis mit dem Satrapen von Phrygien, Artabazos, der sich gegen den Perserkönig erhob, den Kriegsschauplatz auf Westkleinasien auszudehnen; 22 Besonders die Intervention des athenischen Strategen Chares in Kerkyra 361/0 soll – Diodor zufolge – zur Empörung in der griechischen Welt gegen Athen geführt haben. Vgl. Diod. 15,95,3. 23 Vgl. Beloch, GG III.1, 237; Dagegen gibt allerdings M. Dreher ein eher positives Urteil über das Verhältnis Athens zu seinen Bundesgenossen innerhalb des Zweiten Attischen Seebundes ab (vgl. Dreher, Hegemon und Symmachoi 281–286); er stellt fest, „dass die Frage nach Qualität und Quantität athenischer Eingriffe in die innere und äußere Autonomie der Verbündeten möglicherweise nicht der Schlüssel zur Erklärung der Austrittswelle aus dem Seebund zu Anfang der fünfziger Jahre sein muß.“; Dreher, Hegemon und Symmachoi 281. 24 Vgl. Welwei, Athen 296f. Die lokalen Gründe hatten vermutlich mit den Übergriffen gegen die demokratischen Regierungen auf Rhodos, Kos und Chios zu tun, was aber einen vorherigen Bruch mit Athen voraussetzte (vgl. Beloch, GG III.1, 237). Die drei Poleis erklärten im Herbst 357 ihren Austritt aus dem Seebund. Auch Byzantion, das bereits seit 364 an einen Austritt dachte, schloss sich dem neu gegründeten Sonderbund an (vgl. StV II² 305). 25 Diod. 16,7,3: οἱ δ' ᾿Αθηναῖοι Χίων καὶ ῾Ροδίων καὶ Κῴων, ἔτι δὲ Βυζαντίων ἀποστάντων ἐνέπεσον εἰς πόλεμον τὸν ὀνομασθέντα συμμαχικόν […]. 26 Vgl. Demosth. 15,3; 5,25; Diod. 16,7,3. Quelle Diodors ist hierbei Ephoros, ein Geschichtsschreiber des 4. Jh. (vgl. Hornblower, The Greek World 264). 27 Während Maussolos Interesse daran hatte, die vor der karischen Küste liegenden Inseln zu kontrollieren (vgl. Beloch, GG III.1, 236f.), war das Verhältnis des Großkönigs zu Athen bereits seit 367 gespannt, sodass eine Schwächung Athens und des Seebundes im Jahr 357 von ihm erwünscht war (vgl. Welwei, Athen 296f.). 28 Vgl. Demosth. 20,81; Diod. 16,7,3f. 21; Nep. Chab. 4. Timoth. 3. 303

dorthin entsandten sie mit dem Strategen Chares an der Spitze eine Söldnerstreitmacht.29 Aber nach einem Ultimatum des persischen Großkönigs, der in dieser Zeit gewaltige Rüstungsanstrengungen – vermutlich für die Vorbereitungen eines Krieges gegen Ägypten, das sich bereits an Athen gewandt hatte –30 unternahm, musste das finanziell bereits erschöpfte Athen im Jahr 355 aufgeben und sich zum Frieden mit den ehemaligen Bundesgenossen bereit erklären.31 Die Nachricht von den umfangreichen Rüstungen und Truppenanwerbungen der Perser, die im Sommer 354 in Athen eintraf,32 verbreitete eine – wenn auch unbegründete – Furcht (φόβος)33 vor einem persischen Angriff, sodass sich eine anscheinend kleine politische Gruppe,34 vermutlich unter Mitwirkung des angesehenen Politikers Aristophon und des Strategen Chares, formierte, die als einziges Gegenmittel einen Präventivkrieg gegen das Perserreich propagierte.35 Dieser sollte anscheinend zunächst in Form von Hilfsexpeditionen für aufständische Satrapen gegen den Großkönig stattfinden; zugleich wurde allerdings eine Beteiligung anderer hellenischer Staaten für einen breiteren nationalen Präventivkrieg gefordert.36 29 Vgl. Demosth. 4,24; Diod. 16,22,1f.; Welwei, Athen 297. 30 Vgl. Demosth. 15,5. 31 Vgl. Diod. 16,22,2. Zum Friedensschluss, der im Wesentlichen eine Erneuerung des Königsfriedens war, vgl. StV II² 313; zur Zusammenfassung der Vorgänge vgl. Lehmann, Demosthenes 66f. 32 Es handelt sich um ein Gerücht, über das unsere einzige zuverlässige Quelle die demosthenische Symmorienrede selbst ist (vgl. Demosth. 14,12. 25. 30f. 39). Libanios, der Verfasser der Hypothesis der Rede, scheint nichts Näheres über die φήμη gewusst zu haben, denn er berichtet: Φήμης γενομένης τὸν Περσῶν βασιλέα παρασκευάζεσθαι στρατεύειν ἐπὶ τοὺς Ἕλληνας […] (Lib. Arg. D. 13, 1). Aus der späteren Rhodierrede des Demosthenes geht hervor, dass Ochos’ Rüstungen sich gegen Ägypten richteten (vgl. Demosth. 15,5). Allerdings wissen wir durch Aristoteles (rhet. 1393a-b), dass man in Athen, um Stimmung für einen antipersischen Angriffskrieg zu machen, in den außenpolitischen Debatten oft folgendes Argument verwandte: Der Großkönig rüste stets gegen Ägypten, bevor er gegen Hellas zu Felde zöge. Vgl. dazu: Schäfer Demosthenes und seine Zeit I, 457; Link, Symmorienrede 24. 33 Vgl. Demosth. 14,2. 34 In der modernen Forschung ist oft von einer ,Kriegspartei‘ die Rede. Aber die Annahme von ‚Parteien‘ ist ein unangemessener Terminus, da dadurch die Verhältnisse des modernen Parlamentarismus auf das prinzipiell offene System der attischen Demokratie übertragen werden. Bezeichnungen wie ‚Friedenspartei‘, ‚Kriegspartei‘ und ähnliches sollten vermieden werden, weil sie den Eindruck vermitteln, als ob jede dieser politischen Gruppen nur ein einziges und zwar immer dasselbe Ziel hätte. Vgl. Lehmann, Demosthenes 70; Karvounis, Demegorien 76f. Anm. 25. 35 Vgl. Jaeger, Demosthenes 73; ders., Areopagitikos, in: Seck, Isokrates 139–188, bes. 157f. Anm. 39. Dagegen behauptet E. Badian (Prominence, in: Worthington, Demosthenes 9–44, bes. 29), dass Aristophon und Chares trotz ihrer antipersischen Gesinnung gegen den Perserkrieg waren; Stellung für den Krieg hätten folglich lediglich „minor political figures“ genommen. 36 Vgl. Demosth. 14,12f. 38; Link, Symmorienrede 26f. 304

In einer Erneuerung des Krieges gegen Persien sahen die Kriegsbefürworter die Möglichkeit zur Wiederherstellung der athenischen Macht.37 Es ging also in der Tat um die Wiederaufnahme des Plans eines panhellenischen Angriffs gegen das Perserreich, den Isokrates einst in seinem Panegyrikos beschrieb, aber nach den bitteren Erfahrungen des Bundesgenossenkrieges in seiner Rede Über den Frieden negiert hatte.38 Diese Schrift des Isokrates sowie die zur selben Zeit abgefassten Poroi des Xenophon bezeugen, dass in Athen – entgegen der sich in der Öffentlichkeit verbreitenden Kriegspsychose – der größte Teil der Bürger sich eher nach einem gesicherten Frieden sehnte. Zu diesen gehörte der Realpolitiker Eubulos, der seit 354 Vorsteher der Theorikon-Kasse war und damit eine wichtige Stellung in der Staatsverwaltung innehatte.39 Der Grundgedanke der Symmorienrede des Demosthenes gegen die unverantwortliche Kriegstreiberei stimmt mit der politischen Linie der Eubulos-Gruppe überein. Es ist daher zu überlegen, ob Demosthenes mit dieser Rede zumindest am Anfang seiner politischen Karriere Anhänger seines späteren politischen Gegners Eubulos war oder bereits hier selbstständige Positionen vertrat.40 Der Rhetor sollte aber in dieser Zeit weder nach seiner Zugehörigkeit zu einer politischen Gruppe noch unter dem Aspekt seiner späteren politischen Haltung betrachtet werden. Er ist ein junger Politiker, der sich in dieser Phase seiner Karriere noch nicht zu dem einflussreichen Staatsmann entwickelt hat, der er später war; erst in seiner späteren Zeit geht aus seinen Reden eine feste politische und ideologische Richtung hervor.41 Der junge Demosthenes hat im Kampf gegen dieselben 37 E. Link erwähnt psychologische (Vergeltung für den Verlust der Bundesgenossen), politische (Angst vor dem Prestigeverlust) und wirtschaftliche (Spekulation auf Verbesserung der Finanzlage durch einen siegreichen Feldzug) Aspekte, die zum Befürworten des Krieges führten. Als eigentlichen Anlass zur Kriegstreiberei erkennt er die Hilfegesuche der gegen den Perserkönig aufständischen Ägypter (vgl. Demosth. 15,5) sowie der Satrapen Orontes (vgl. Demosth. 14,31) und Artabazos (vgl. Diod. 16,34,1) an Athen; vgl. Link, Symmorienrede 26. 38 Vgl. Jaeger, Demosthenes 73. 39 Vgl. Bengtson, GG 315. Die Theorikon-Kasse stellte armen Bürgern Schaugelder zur Verfügung, damit diese an Festen, besonders an dramatischen Aufführungen teilnehmen konnten (vgl. Schwahn, RE V A,2 [1934] s. v. Theorikon 2233–2237, bes. 2233). Ab 354 zog die Theorikon-Kasse zusätzliche Kompetenzen aus anderen Kassen von Magistraturen an sich, sodass der Theorikon-Verwalter, wahrscheinlich ein einziger Beamte in der Zeit des Eubulos, schließlich zusammen mit dem Rat der 500 das Finanzwesen der Polis kontrollierte (vgl. Cawkwell, JHS 83 [1963] 47–67, bes. 54–58; Naef, Klio 79 [1997] 317–340, bes. 323 mit Anm. 23; Engels, DNP 4 [1998] s. v. Eubulos [1] 212f.). 40 Vgl. dazu Will, Demosthenes 47. 41 Vgl. Jaeger, Demosthenes 57ff.; Lehmann, Demosthenes 70. Aus anderen Gründen lehnen A. Schäfer (Demosthenes und seine Zeit I, 186ff.) und K. J. Beloch (Perikles 183) Demosthenes’ Anlehnung an Eubulos ab. Im Gegensatz dazu sehen E. Schwartz (Demosthenes’ erste Philippika, in: Jörs/Schwartz/Reitzenstein, Festschrift 1–56, bes. 50ff.), E. Pokorny (Studien 77ff.) und H. Bengtson (GG 315 mit Anm. 2) Demosthenes 305

Gegner wie Eubulos seine Laufbahn begonnen; Ähnlichkeiten mit den Zielen des Eubulos sollte man ihm aber nicht als opportunistisches Vorgehen unterstellen, da Demosthenes in der Symmorienrede nicht zögert, sich in unterschiedlichen politischen Fragen auch gegen eine starke Gegenströmung in Athen zu positionieren.42 Mit der Symmorienrede zielt Demosthens darauf ab, Athen auf eine neue wirtschaftliche und militärische Basis zu stellen, sodass die Polis ihre Macht nach dem verlorenen Bundesgenossenkrieg allmählich wiederherstellen könne. Somit hat er zwei Grundgedanken, die dem Nutzen Athens dienen sollten: Zum einen rät er vom zur Diskussion stehenden Krieg gegen das Perserreich bzw. von der Entsendung der Hilfskorps an aufständische Satrapen ab und zum anderen schlägt er die Vorbereitung für einen künftigen Krieg gegen Persien oder andere potentielle Feinde Athens vor. Es handelt sich um zwei zueinander durchaus widersprüchliche Gedanken, die Demosthenes als Teile eines zusammenhängenden Plans zum Erlangen seines eigentlichen Ziels verbindet.43 Im Folgenden werden die Argumente des Rhetors gegen den Krieg und seine allgemeine Einstellung dazu in diesem Zeitraum untersucht.

2.1.1 Demosthenes gegen den Krieg Die Argumentation in der Symmorienrede gegen den Krieg beruht auf drei Gedanken: Erstens darf Athen, wenn es nur auf sich gestellt ist, keinen Krieg führen. Zweitens darf die Polis nicht als erste mit dem Krieg beginnen. Drittens muss ein gerechter Grund den Ausgangspunkt für den Krieg bilden. Während das Gesamtziel das συμφέρον, der Nutzen für die Polis,44 ist, beziehen sich die ersten zwei Positionen auf das δυνατόν, also die Durchführbarkeit und die Aussichten des Krieges und die dritte vornehmlich auf das δίκαιον, das Gerechte eines solchen Unternehmens.45

42 43 44 45

306

in dieser Phase als einen direkten Anhänger des Eubulos. Auch D. Brown (Das Geschäft mit dem Staat 87) behauptet, Demosthenes stünde zu dieser Zeit ganz im Dienste des Eubulos und der begüterten Schicht. Hat der Rhetor zu diesem Zeitpunkt tatsächlich die politische Richtung des Eubulos unterstützt, bedeutet dies aber nicht, dass er dieser Gruppe insgesamt angehörte. Darüber hinaus schließt Demosthenes in der Symmorienrede einen zukünftigen Krieg keineswegs aus, was in Widerspruch zur konstanten Friedenspolitik des Eubulos steht. Demosthenes schließt z. B. eine Verständigung mit den verhassten Thebanern nicht aus (vgl. Demosth. 14,33f.). Vgl. Lehmann, Demosthenes 77f. Vgl. Yatromanolaki, Λόγοι 39. Die Hinweise des Demosthenes auf den Nutzen für die Polis durchdringen die Rede vom Prooimion bis zum Epilog. Vgl. Demosth. 14,1. 2. 3. 28. 41. Dies ist ein gezieltes Vorgehen des Rhetors. In § 28 betont Demosthenes, dass Ausgangspunkt seiner Vorschläge in der Symmorienrede das δυνατόν, das καλόν – hier im Sinne des Ehrenhaften – und das συμφέρον seien; in § 35 beruft er sich ausdrücklich auf das δίκαιον.Vgl. dazu Kennedy, TAPhA 90 (1959) 131–138, bes. 136; Usher, Greek Oratory 210.

2.1.1.1 Nicht allein gegen den gemeinsamen Feind – balance of threat Zunächst macht Demosthenes deutlich, dass der Perserkönig auch für ihn der gemeinsame Feind der Hellenen ist. Er fügt aber hinzu, dass die Athener nicht allein den Krieg gegen Persien beginnen sollten: ᾿Εγὼ νομίζω κοινὸν ἐχθρὸν ἁπάντων τῶν ῾Ελλήνων εἶναι βασιλέα, οὐ μὴν διὰ τοῦτο παραινέσαιμ’ ἄν μόνοις τῶν ἄλλων ὑμῖν πόλεμον πρὸς αὐτὸν ἄρασθαι.46

Obwohl aus dieser Passage kein Beleg für eine natürliche Feindschaft zwischen Griechen und Barbaren hervorgeht – so wie sie im isokrateischen Panegyrikos (§ 184) beschrieben wird –, stellt Demosthenes den persischen König doch ganz im Sinne des Isokrates als den selbstverständlichen Feind der Hellenen dar. Dies hatte nicht nur mit den Drohungen des Großkönigs gegen Athen während des Bundesgenossenkrieges im Jahr zuvor zu tun, sondern auch mit der Intervention der Perserkönige in griechische Angelegenheiten über Jahrzehnte hinweg und zusätzlich mit der nach den Perserkriegen oft präsentierten These, dass die Perser Erbfeinde der Hellenen seien.47 Außerdem scheint Demosthenes das Gerücht über einen Plan des Perserkönigs gegen Athen für wahr zu halten.48 Ihr Bild des Perserkönigs als des gemeinsamen Feindes der Hellenen hatten die Athener schon während und nach den Perserkriegen, später durch Isokrates und andere Redner und nicht erst, nachdem sie die erste demosthenische Demegorie gehört hatten. Demosthenes zielte aber durch die Bezeichnung κοινὸς ἐχθρός darauf ab, die Intention seiner Rede verständlicher zu machen: Obwohl er für den Frieden mit Persien plädieren möchte, hält er den persischen König dennoch zweifellos für einen Kriegsgegner. Damit erweckt er einerseits das Interesse des Auditoriums bezüglich seiner nun folgenden Argumentation gegen den Krieg und andererseits vermeidet er es, perserfreundlich zu erscheinen.49

46 Demosth. 14,3. 47 Es geht hieraus hervor, dass der einst von Isokrates im Panegyrikos (§ 157) betonte ewige Hass gegen den Perserkönig in den 350er Jahren immer noch bestand. Vgl. Bellen, Chiron 4 (1974) 44–67, bes. 53f. 48 Vgl. Demosth. 14,7. 12. 49 Entgegen den in Athen verbreiteten Gerüchten soll der Großkönig in der Zeit direkt nach dem Bundesgenossenkrieg an guten Beziehungen mit Athen interessiert gewesen sein. Wegen der Unruhen in Kleinasien und Ägypten hoffte der persische König, sich zu diesem Zeitpunkt der Zuverlässigkeit der mächtigsten Parteien in der griechischen Staatenwelt, d. h. Athens und Spartas, zu versichern. Besonders nach dem Zug des Thebaners Pammenes zur Unterstützung des aufständischen Satrapen Artabazos gewann für Artaxerxes die Freundschaft mit Athen an Bedeutung. Wegen seiner Bemühungen ist es möglich, dass Politiker in Athen aufgrund ihrer Beziehung und Einstellung zu Artaxerxes unter Bestechungsverdacht gerieten. Dies könnte ein weiterer Grund gewesen sein, weshalb der junge Demosthenes es für nötig hielt, seine persönliche Position deutlich abzugrenzen, allerdings nur unter 307

In einer weiteren Stelle seiner Symmorienrede behauptet der Rhetor, dass es nützlich für die griechischen Poleis sei, den Perserkönig für den κοινὸν ἐχθρόν zu halten. Ein Angriffskrieg gegen das Perserreich wäre kein ἀδίκημα, wenn – und das ist die Bedingung –, sich dieser auf eine gemeinsame, panhellenische Aktion stützt.50 Offensichtlich bezieht sich diese Meinung des Rhetors auf die populäre Ansicht, dass dieser Krieg nach dem Vergeltungsprinzip gerechtfertigt sei.51 Freilich könnte hiergegen von den Befürwortern des Krieges gegen das Perserreich entgegnet werden, dass gerade Athen als die unmittelbar in den Perserkriegen betroffene Polis dazu berechtigt wäre, einen Rachefeldzug zu unternehmen. Dann sei aber die Gefahr zu groß, dass sich Athen auch in Hellas Feinde mache, mit denen es sich zeitgleich auseinandersetzen müsse. Diese Erkenntnis lässt Demosthenes vor der Gefahr warnen, dass der Großkönig die Situation ausnutzen und durch Bestechung griechische Poleis gegen Athen aufwiegeln könne.52 Die ὁμόνοια unter den Hellenen, die Isokrates für die unbedingte Voraussetzung eines panhellenischen Krieges gegen das Perserreich hält, scheint für Demosthenes gleichermaßen wichtig zu sein.53 Ein entscheidender Unterschied zum isokrateischen Panegyrikos und wichtiger Aspekt der Intention der Symmorienrede darf aber nicht außer Acht gelassen werden: Demosthenes’ Ziel ist es, zu diesem Zeitpunkt von einem Angriffskrieg gegen Persien auf alle Fälle abzuraten. Demzufolge ist seine Begründung, dass die Athener nicht allein ein solches Kriegsunterfangen beginnen sollten, auch unter dem Gesichtspunkt zu bewerten, dass die Erfolgsaussichten des Feldzuges wegen der mangelnden bestehenden Mittel nicht gesichert waren. Hierin liegt ein zweiter Grundgedanke der Argumentationsweise. Demosthenes macht deutlich, dass Athen in Bezug auf einen Angriffskrieg nicht nur auf die eigene militärische Macht, sondern auch auf Verbündete in Hellas angewiesen sei. Dies sei nur erreichbar, wenn sich andere Poleis auch vom Großkönig bedroht fühlten, was nur nach einer persischen Invasion im griechischen Raum möglich wäre.54 Die Art, wie Demosthenes mit Blick auf die bestehenden Mächteverhältnisse vom Krieg abrät, weist ein politisches Denken auf, das in der modernen Forschung hinsichtlich internationaler Beziehungen durch die balance-of-threat-Theorie der Voraussetzung, dass die Symmorienrede erst nach dem Pammeneszug gehalten wurde. Vgl. dazu Kahrstedt, Forschungen 96f. 100f. 50 Vgl. Demosth. 14,36f. 51 Vgl. dazu Demosth. 14,37. 39. P. Wendland (Beiträge II, in: Schindel, Demosthenes 100–138, bes. 106) notiert: „Demosthenes weiß, daß der Standpunkt der zum Krieg hetzenden Redner populär ist. Darum betont er, daß er mit der traditionellen Beurteilung des Persers völlig harmoniert. Der Revanchekrieg ist notwendig und ist nur eine Frage der Zeit (…); nur im Augenblick ist er durchaus inopportun.“ 52 Vgl. Demosth. 14,5. 37. 53 Vgl. Demosth. 14,36; dazu Wendland, Beiträge II, in: Schindel, Demosthenes 100–138, bes. 105f. Zum Vergleich der isokrateischen und des demosthenischen panhellenischen Plans vgl. Jaeger, Demosthenes 170f. 54 Vgl. Demosth. 14,4. 308

repräsentiert wird. Derzufolge ist das Drohpotential (threat) einer aggressiv auftretenden und als gefährlich eingestuften Macht der entscheidende Faktor zur Entstehung von Bündnissen. Das Sicherheitsbedürfnis bestimmt somit das außenpolitische Verhalten eines oder mehrerer Staaten, wobei in der Regel zwei Möglichkeiten vorgegeben sind: Entweder schließen sie Bündnisse zum Ausgleich gegenüber der Macht, die ein höheres Drohpotential aufweist (balancing) oder sie schließen sich an die gefürchtete Macht an, damit sie sich nicht mehr in Gefahr befinden (bandwagoning).55 Demosthenes sucht in der Symmorienrede §§ 35–40 ein bandwagoning, also einen Anschluss griechischer Staaten an das Perserreich,56 das zu dieser Zeit als mächtig und gefährlich eingestuft wurde, zu verhindern. Dabei will er Athen die Rolle des balancer zuweisen, sodass es an der Spitze einer defensiven Symmachie griechischer Poleis stehend einen Ausgleich für die Hegemonialbestrebungen im Ägäisraum anbietet und der Perserkönig auf diplomatischem Weg isoliert wird.57 Um das zu erreichen, versucht der Rhetor an das Zusammengehörigkeitsgefühl der Hellenen zu appellieren und den Anspruch Athens auf die Führung aufgrund seiner moralischen Überlegenheit und seines gerechten Verhaltens deutlich zu machen. Der gemeinsame Kampf für die κοινὴ σωτηρία58 könne nur dann stattfinden, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt wären, d. h. der Rhetor hält eine panhellenische Aktion nur unter dem Aspekt des Verteidigungskampfes zur gemeinsamen Rettung für realistisch. Es befremdet daher nicht, wenn Demosthenes zum einen den Großkönig definitiv als Feind der griechischen Welt bezeichnet und zum anderen die Athener ermahnt, dass sie den persischen König keineswegs ‚ungerecht’ behandeln dürfen.59 Die Athener sollten demzufolge den Krieg eindeutig rechtfertigen können

55 Die balance-of-threat-Theorie ist dem Politologen S.M. Walt (Alliance Formation and the Balance of World Power, in: International Security 9 [1985] 3–43, bes. 4–21; The Origins of Alliances 17–33) zuzuschreiben, wobei er seine Theorie als Teil der neorealistischen balance-of-power-Theorie versteht und die Fachbegriffe balance und bandwagon im Sinne von K.N. Waltz (Theory of International Politics 116–123. 125–128) verwendet. S.M. Walt (Alliance Formation and the Balance of World Power, in: International Security 9 [1985] 3–43, bes. 4) stellt zusammenfassend fest: „Alliances are most commonly viewed as a response to threats, yet there is sharp disagreement as to what that response will be. When entering an alliance, states may either balance (ally in opposition to the principal source of danger) or bandwagon (ally with the state that poses the major threat).“ Zur Nutzung einer Art balance-ofpower-Argumentation durch Demosthenes s. Kap. V. 2.2.1 (hier S. 321–326). 56 Vgl. auch Demosth. 14,3–7. Demosthenes verwirft eine Rolle des Großkönigs als Friedensstifter in Bezug auf die unter sich uneinigen Hellenen (διαλλακτής). Er negiert also eine Schiedsrichterrolle in den hellenischen Angelegenheiten, so wie letzterer diese im Rahmen des Königsfriedens von 387/6 übernommen hatte. Vgl. Demosth. 14,40; Link, Symmorienrede 51. 57 Vgl. Samotta, Demosthenes 38f. 58 Demosth. 14,5. 59 Vgl. Demosth. 14,36. 309

und zusätzlich in der Lage sein, die anderen Griechen zu beschützen,60 wodurch sie weiterhin Anspruch auf die Hegemonie in Hellas erheben können.61 Demosthenes führt in der Tat den Gedanken des Kampfes der Panhellenen gegen den gemeinsamen Feind, den persischen König, in der Symmorienrede lediglich aus technisch-rhetorischen Gründen an. Er selbst steht nicht ernsthaft hinter diesem Konzept.62 Dies geht nicht nur aus dem Abraten vom Krieg in der Symmorienrede, sondern auch aus seinen späteren Demegorien hervor, in denen er nie realistisch über einen Krieg gegen das Perserreich nachdenkt und auch keinen panhellenischen Plan wie Isokrates vorschlägt, damit die innerhellenischen sozialpolitischen Probleme bewältigt werden.63 Bei einem Rückblick auf die Symmorienrede in seiner Rhodierrede – im Jahr 352 oder 351/0 – erinnert Demosthenes die Athener an seine Position, dass der Hass gegen den Perserkönig nicht zum Vorwand für Kriegsvorbereitungen gegen die Perser werden dürfe; man müsse im Gegenteil vor allem die derzeitigen Feinde vor Augen haben oder eine feindliche Aktion des Großkönigs abwarten.64 Seine Argumentationsweise vierzehn Jahre später in der IV. Philippischen Rede bewegt sich in entgegengesetzter Richtung; angesichts der Gefahr, die der makedonische König Philipp II. für Athen darstellt, versucht Demosthenes nun sogar eine Koalition mit Persien zustande zu bringen.65 Es wird deutlich, dass Demosthenes’ Behauptungen über den Großkönig in der Symmorienrede rein taktischen Charakter haben. Seine Absicht bestand darin, nicht nur von dem geplanten Präventivkrieg abzuraten, sondern auch eine neue 60 Vgl. Demosth. 14,3. 35. 37. 41. 61 Vgl. Demosth. 14,5. 10f. 41; Dunkel, CPh 33 (1938) 291–305, bes. 295; Perlman, Historia 25 (1976) 1–30, bes. 24. 62 Vgl. Link, Symmorienrede 51f. Als erster interpretierte Pseudo-Dionysios die Art, in der Demosthenes den Krieg in der Symmorienrede ablehnt, als eine rhetorische Technik (vgl. [Dion. Hal.] rhet. 9,10), ein σχῆμα β (vgl. [Dion. Hal.] rhet. 8,2); demnach habe Demosthenes in Wirklichkeit keinen Krieg gewollt und seine Absicht verheimlicht, indem er „noch keinen Krieg“ sagte. Die Behauptung des Ps-Dionysios, dass Demosthenes schon in der Symmorienrede anstatt eines Krieges gegen Persien einen Krieg gegen Philipp II. anstrebte, geht aus der Rede nicht hervor und sollte als falsch betrachtet werden, wenn auch Demosthenes schon 355/4 in der Rede Gegen Leptines (vgl. Demosth. 20,61) die Feindseligkeit Philipps gegenüber Athen erwähnt. Vgl. dazu Karvounis, Demegorien 80 Anm. 46. 63 Obwohl sowohl Isokrates im Panegyrikos als auch Demosthenes in der Symmorienrede in Bezug auf den panhellenischen Krieg vom Nutzen Athens ausgehen, vertritt Demosthenes durch sein Abraten vom Krieg die Gegenposition zu Isokrates. Vgl. Bellen, Chiron 4 (1974) 44–67, bes. 54. 64 Vgl. Demosth. 15,6. 65 Demosthenes (10,33) entlarvt dabei das Argument des Barbaren und gemeinsamen Feindes Persien als sinnlose Schwätzerei, die die Athener aufgeben müssten: […] καὶ τὴν ἀβελτερίαν ἀποθέσθαι, δι’ ἣν πολλάκις ἠλαττώθητε, 'ὁ δὴ βάρβαρος, καὶ ὁ κοινὸς ἅπασιν ἐχθρός,‘ καὶ πάντα τὰ τοιαῦτα. Vgl. dazu Hajdú, Kommentar 275f.; Clavadetscher-Thürlemann, Πόλεμος δίκαιος 37f.; Hunt, War 83. 310

Rüstungspolitik zu aktivieren. Ferner wollte er die Änderungen der Symmorienorganisation in Bezug auf die Eisphoraeintreibung als notwendig darstellen. Daher besteht der größte Teil seiner Rede aus konkreten Vorschlägen über die Steuerreform und die sich daraus ergebende Finanzierung eventueller Kriegskosten.66

2.1.1.2 Angriffs- vs. Verteidigungskrieg Im Zusammenhang mit der in § 3 dargestellten Ansicht, dass die Athener nicht im Alleingang Krieg gegen den gemeinsamen Feind führen sollten, beschäftigt sich Demosthenes mit der Frage des πόλεμον ἄρασθαι und warnt vor einem Angriffskrieg Athens gegen das Perserreich.67 Obwohl mit einem solchen Krieg implizit die Schuldfrage verbunden ist, stützt der Rhetor seine Argumentation auf rein pragmatische Aspekte. Die Gerechtigkeit dieses Krieges müsse zunächst nicht geprüft werden, denn der Großkönig sei nach wie vor der gemeinsame Feind. Ein Angriffskrieg wird abgelehnt, weil seine Perspektive nicht positiv sei; zudem sei es schwierig, die anderen griechischen Mächte derzeit zu überreden, an einem Präventivkrieg teilzunehmen.68 Die Krisensituation in Hellas sowie die militärische und finanzielle Lage Athens hätten die Chancen, einen Angriffskrieg gegen das Perserreich zu bestehen, zunichte gemacht. Im Gegenteil dazu befindet Demosthenes, dass ein Verteidigungskrieg für die Hellenen erfolgreich ausgegangen sei. Im Hinblick auf einen solchen Krieg sei der Unterschied zwischen πόλεμος und ἀγών entscheidend: […] νομίζω τὸν μὲν πόλεμον τὸν πρὸς βασιλέα χαλεπὸν τῇ πόλει, τὸν δ‘ ἀγῶνα τὸν ἐκ τοῦ πολέμου ῥᾴδιον ἂν συμβῆναι.69

Demnach wird ein Angriffskrieg schwierig sein, aber der von einem Verteidigungskrieg ausgehende Kampf wäre leichter zu bestehen.70 Während die Perser besser gerüstet seien und über wesentlich mehr Ressourcen verfügten, würden die Athener in Bezug auf den kämpferisch-psychologischen Aspekt des Krieges überlegen sein; denn der Begriff ἀγών verweist eher auf den ethischen Aspekt der Auseinandersetzung;71 die moralische Überlegenheit der Athener wird von der Gerechtigkeit ihres Kampfes getragen. Die Verteidigung der eigenen Landesgrenzen und die Gefahr, gegen die sie kämpfen müssen, werden ihnen den Willen und die 66 Vgl. dazu Link, Symmorienrede 51f.; Karvounis, Demegorien 80f. 67 Seine Warnung, nicht mit dem Krieg anzufangen, wiederholt Demosthenes in der Symmorienrede zur Betonung der Wichtigkeit noch dreimal. Vgl. Demosth. 14,10. 35. 37. 68 Demosth. 14,5f. Obwohl das Argument des Präventivkrieges im klassischen Hellas gelegentlich verwendet wurde, sollte damit vorsichtig umgegangen werden, da ein Missbrauch dieses Argumentes leicht evident werden konnte (vgl. Hunt, War 152). 69 Demosth. 14,9. 70 Der kontextuelle Zusammenhang des πόλεμος mit einem Angriffskrieg und des ἀγών mit einem Verteidigungskrieg wird in § 10 deutlich, indem Demosthenes einen Angriffskrieg ablehnt, aber Vorbereitungsmaßnahmen für den ἀγών fordert. 71 Vgl. Drakonake-Kazantzake, Δημοσθένους Περὶ τῶν συμμοριῶν 141f. 311

Kraft zum Sieg geben.72 Hier legt Demosthenes seine Ansicht dar, dass die Athener nicht von sich aus Persien angreifen sollten, sondern nur, wenn die Situation gefährlich wird, ihre ἀνδρεία, Männlichkeit, zeigen sollten (ἐπὶ μὲν τῶν κινδύνων τὴν ἀνδρείαν ἐνδείκνυσθαι)73. Dabei versucht der Redner das Gegenargument der Feigheit, das in der politischen Diskussion eine wichtige psychologische Rolle bei der Entscheidung für den Krieg spielen konnte, außer Kraft zu setzen.74 Auf diesem Gedanken beruht sein in dieser Rede beeindruckend häufiger Aufruf zur παρασκευή, d. h. zur Vorbereitung auf den (Verteidigungs-) Kampf bzw. zur militärischen Rüstung.75 Diese hält Demosthenes für nötig, sodass Athen nicht nur wegen seiner ethischen, sondern auch wegen seiner militärischen Überlegenheit bessere Chancen für den Sieg und Anspruch auf eine Rolle als Hegemon eines hellenischen Defensivbündnisses anmelden kann.76 Allerdings sollten die Vorbereitungen die Interessen Athens im Allgemeinen schützen, sodass sie sich nicht nur gegen die Perser, sondern vor allem gegen die bereits vorhandenen Feinde Athens (ὁμολογούμενοι ἐχθροί / ὑπάρχοντες ἐχθροί)77 richten, womit Theben und wahrscheinlich auch Philipp II. gemeint waren.78 Gerade unter diesen Gesichtspunkten 72 Der Begriff ἀγών kann u. a. als ‚Gefahr’ oder als ‚mental struggle’ (mentale Anstrengung) gedeutet werden. Vgl. Passow I.1 s. v. ἀγών 27; LSJ s. v. ἀγών 18f. 73 Demosth. 14,8. 74 Vgl. Roisman, Masculinity 114. Das Argument der Feigheit verwendet auch Demosthenes selbst in seinen späteren Reden zur Kriegsaufforderung (vgl. Demosth. 15,28; 4,42). 75 Vgl. dazu z. B. Demosth. 14,2. 10f. 41. 76 Vgl. Demosth. 14,12f. 77 Demosth. 14,11. 41. 78 In der Forschung herrscht Uneinigkeit in Bezug auf die Frage, welche potentiellen Feinde Athens hier gemeint sind. Dass Demosthenes und die meisten Athener Theben definitiv für eine feindliche Macht hielten, ist sehr wahrscheinlich. Dafür spricht auch die Tatsache, dass Athen am Anfang des Dritten Heiligen Krieges, der sich zunächst nur auf eine phokisch-thebanische Auseinandersetzung begrenzte, mit den Phokern sympathisierte, auch wenn es am Krieg nicht beteiligt war (vgl. dazu Xen. vect. 5,9; Iust. 8,1,10; Cawkwell, Philip 64f). Ein Krieg in der Nähe Athens hat bestimmt eine Kriegsdebatte in Athen ausgelöst, zu der die Stellungnahme der Polis gegenüber dem Krieg und die Bestimmung von potentiellen Feinden und Bundesgenossen gehörte. Theben wurde darin selbstverständlich den Feinden zugeordnet. Auf der anderen Seite kann Demosthenes auch Philipp II. als aktuellen Feind Athens gemeint haben, mit dem sich Athen seit 357/6 theoretisch wegen der Kontrolle über die nordägäische Stadt Amphipolis im Kriegszustand befand. Obwohl bis dato keine direkten militärischen Auseinandersetzungen zwischen Athen und dem Makedonenkönig stattgefunden hatten, hatte Philipp schon Amphipolis, Pydna, Poteidaia und vielleicht auch Methone eingenommen. Dies und die Tatsache, dass Athen im Juli 356, vermutlich noch während Philipp Poteidaia belagerte, Bündnisse mit den Makedonien umgebenden Fürsten schloss, spricht dafür, dass die Athener zur Zeit der Symmorienrede in Philipp bereits einen Feind sahen (vgl. Syll. I³ 114; Diod. 16,22; Kahrstedt, Forschungen 40 mit Anm. 77). Allerdings soll deutlich festgestellt werden, 312

ist der Vorschlag des Demosthenes zur Reorganisation der steuerpflichtigen Personengruppen, der Symmorien, einzuordnen. Es ist festzuhalten, dass Demosthenes seine Argumentation gegen den Angriff auf das Perserreich vorwiegend mit dem Gedanken des μὴ δυνατόν, also der geringen Chancen Athens auf einen Sieg, begründet. Diese Analyse sollte offenbar die Zuhörer zu einer realistischeren Einschätzung der Situation motivieren. Andererseits könnte in einem – ohnehin gerechten – Verteidigungskrieg den Athenern wegen ihres solidarischen Verhaltens gegenüber den anderen Hellenen die Rolle als Beschützer und Hegemon der hellenischen Welt zufallen.

2.1.1.3 Der gerechte Krieg Nicht zu unterschätzen ist der Versuch des Rhetors, über die prinzipielle Rechtfertigung des Krieges zu referieren. Demosthenes mahnt die Athener, einen gerechten Anlass für den Krieg, konkret eine ἀρχὴ ἴση καὶ δικαία τοῦ πολέμου, abzuwarten.79 Was versteht der Rhetor darunter? Durch das Attribut δικαία wird deutlich, dass der Ausbruch des Krieges auf einem gerechten Grund basieren muss. Das Gerechte versteht hier Demosthenes vornehmlich nicht im juristischen, sondern im sozial­ ethischen Sinn, da ein Defensivkrieg gegenüber einem Angreifer, den die Hellenen keineswegs provoziert haben, unter allen Umständen als gerecht gilt. Allerdings versteht der antike Scholiast diesen πόλεμος δίκαιος nur als einen πόλεμος νόμιμος, d. h. als eine Aktion, die durch das Recht der bestehenden zwischenstaatlichen Verträge abgedeckt ist.80 Ein Angriff des Perserkönigs gegen hellenische Poleis wäre damit ein Verstoß gegen den Königsfrieden von 387/6 und dessen spätere Neuerungen. Dies mag Demosthenes vor Augen haben, aber in der Symmorienrede spricht er weder ausdrücklich vom νόμιμον des Verteidigungskrieges noch von dem durch die Staatsverträge bestehenden Frieden zwischen hellenischen Poleis und dem Perserreich. Er meidet jegliche juristische Analyse der zwischenstaatlichen dass Demosthenes keinesfalls in dieser frühen Demegorie bereits die große Gefahr, die aus dem Norden auf Athen zukam, erkannte; auch wenn er in § 11 und § 41 der Symmorienrede auf Philipp anspielt und bereits in der Gerichtsrede Gegen Leptines (vgl. Demosth. 20,61) über die Feindseligkeit Philipps gegenüber Athen gesprochen hatte, wäre ein solcher Rückschluss übertrieben, Demosthenes’ Einstellung zu Philipp im Jahr 354/3 anhand seiner späteren, deutlich feindseligen Haltung Philipp gegenüber zu beurteilen, wie es bereits in der Antike Pseudo-Dionysios (vgl. [Dion. Hal.] rhet. 9,10) unternommen hat. Über die kontroverse Diskussion in der modernen Forschung vgl. Schäfer, Demosthenes und seine Zeit I, 469 Anm. 4; Wendland, Beiträge II, in: Schindel, Demosthenes 100–138, bes. 106 Anm. 12; Link, Symmorienrede 27. 29f.; Luccioni, Démosthène et le panhellénisme 48; Opitz, Das Bild Philipps 57. 61f. und vor allem die überzeugende Argumentation von Ch. Karvounis, Demegorien 87ff. mit Anm. 72 und 76. 79 Vgl. Demosth. 14,3. 80 Schol. Demosth. 14,3,8f. (Dilts): ἀξιοῖ γὰρ τὸν πόλεμον δίκαιον γενέσθαι (τοῦτο δέ ἐστι τὸ νόμιμον) καὶ τὸ μὴ δεῖν παραβαίνειν αὐτοὺς τὰς συνθήκας πρότερον. 313

Verhältnisse, denn die älteren und immer noch bestehenden Staatsverträge würden es dem Großkönig durchaus ermöglichen, in Angelegenheiten hellenischer Poleis – angeblich zugunsten ihrer Autonomie – zu intervenieren; somit schränkten sie den athenischen Handlungsspielraum ein.81 Der Rhetor lässt demzufolge die Möglichkeit offen, an den Verträgen mit dem Großkönig zu zweifeln. Zumal ein persischer Angriff gegen Hellas auch ohne die Berufung auf bestehende Verträge als ungerecht wahrgenommen würde. Der Oberbegriff δικαία, bezogen auf die ἀρχὴ τοῦ πολέμου, ist somit der optimale Terminus, denn er deutet auf das sozialethisch Gerechte hin, ohne das schriftliche Recht unbedingt ein- bzw. auszuschließen.82 Die Hinzufügung des Attributs ἴση bezogen ebenfalls auf die ἀρχὴ τοῦ πολέμου ist eine Ergänzung zu δικαία. Obwohl im demosthenischen Corpus die Adjektive ἴσος und δίκαιος oft in Verbindung vorkommen,83 ist ἴσος semantisch jeweils aus seinem kontextuellen Zusammenhang zu deuten.84 Demzufolge soll ἴση in § 3 der Symmorienrede darauf hindeuten, dass der Anlass zum Krieg für alle Hellenen gleichwertig sein muss; d. h. durch einen ungerechten persischen Angriff gegen Athen bzw. Hellas würden sich auch alle anderen hellenischen Poleis betroffen fühlen. Dies dient dem Argument des Rhetors, dass Athen nur durch seine Teilnahme an einer hellenischen Symmachie Erfolgsaussichten im Krieg gegen den Großkönig haben wird.85 Die Untersuchung der Existenz einer ἀρχὴ ἴση καὶ δικαία τοῦ πολέμου wirkt also bezüglich der athenischen Entscheidung für oder gegen einen Krieg auch deswegen, weil sie die Beurteilung der Situation durch die anderen griechischen Poleis und ihre Zustimmung zu einer Symmachie mit Athen bzw. zu einer Zusammenarbeit mit dem Großkönig maßgeblich mitbestimmt.86 Während sich demzufolge die δικαία ἀρχή auf das Gerechte im sozialethischen und juristischen Sinne beziehen kann, soll die ἴση ἀρχή an die politischen Verhältnisse und die Entstehung militärischer Bündnisse in Hellas appellieren. Demosthenes setzt folglich in den Mittelpunkt seiner Argumentation den gerechten Krieg, worunter er einen Verteidigungskrieg versteht, dessen Merkmale im weiteren Verlauf der Rede aufgezeichnet werden. Eine psychologische Wirkung auf sein Auditorium hat seine Reminiszenz des glorreichen Marathon-Sieges, wobei das

81 Nach dem verlorenen Bundesgenossenkrieg war für Athen die Erhaltung seiner Machtposition innerhalb des Zweiten Attischen Seebundes wichtig. Die bestehenden Verträge waren ein Hindernis zum Durchsetzen der Interessen der Polis in der Ägäis. Demosthenes hat also guten Grund, in dieser Rede die Verträge beiseite zu lassen und nicht einmal darauf hinzuweisen, als er in § 37 über die Möglichkeit eines panhellenischen Angriffskrieges gegen das Perserreich spricht. 82 Vgl. Yatromanolaki, Λόγοι 47f. 83 Vgl. Demosth. 21,67; 19,15. 334; 12,9; 18,284. 315. 84 Im Allgemeinen können ἴσος und δίκαιος zusammen oder getrennt als synonyme Begriffe erscheinen. Vgl. Passow I.2 s. v. ἴσος [3] 1505; LSJ s. v. ἴσος [II.2] 839. 85 Vgl. Yatromanolaki, Λόγοι 49–52; dazu auch Karvounis, Demegorien 78f. Anm. 38. 86 Dies macht Demosthenes in § 7 deutlich. 314

moralisch vorbildliche Vorgehen der Vorfahren hervorgehoben wird.87 Erst wenn sich die Athener in der Verteidigung gegen einen persischen Angriff befinden sollten, wäre der πρὸς τὸν βάρβαρον πόλεμος als ein Krieg um Land, Leben, Gebräuche und Freiheit gerechtfertigt: οὐ γὰρ ὑπὲρ ἄλλου τινός ἐστιν ὁ πρὸς τὸν βάρβαρον πόλεμος ἢ περὶ χώρας καὶ βίου καὶ ἐθῶν καὶ ἐλευθερίας καὶ πάντων τῶν τοιούτων.88

In diesem Argumentationsstrang sind Elemente zu finden, die über die bestehenden Staatsverträge hinaus die unumstrittene Gerechtigkeit eines Verteidigungskrieges gegen einen barbarischen Invasor betonen. Während ein Krieg um Land und Leben auch innergriechische militärische Auseinandersetzungen kennzeichnet, wird durch die Hinweise auf Gebräuche und Freiheit die Hellenen-Barbaren-Antithese als ein Kampf zwischen zwei gegensätzlichen Kulturräumen benutzt;89 Demosthenes zielt hier darauf ab, eine Zusammenarbeit hellenischer Poleis oder hellenischer Söldner mit dem Perserkönig abzuwenden. Dem persischen Gold werden somit panhellenische Prinzipien gegenübergestellt.90 Mit rhetorischer Gewandtheit zieht der Redner eine klare Linie zwischen den Hellenen, die dem Gerechten dienen, also ihre Heimat und Freiheit verteidigen, und dem Perserkönig samt den für ihn kämpfenden verräterischen Hellenen. Auf der einen Seite steht ἡ τάξις τοῦ δικαίου und auf der anderen οἱ προδόται καὶ ὁ βάρβαρος;91 die Botschaft ist demzufolge unmissverständlich. Weitere Ansichten des Demosthenes über einen gerechten Krieg sind im Zusammenhang mit seinen Vorschlägen über die Kriegsvorbereitungen zu sehen. Danach wären folgende Gründe die wichtigsten, weshalb Athen über hinreichende militärische Macht verfügen müsse: […] τοὺς ἐχθροὺς ἀμύνασθαι δύνασθαι, τοῖς οὖσι συμμάχοις βοηθεῖν, τὰ ὑπάρχοντ‘ ἀγαθὰ σῴζειν […]92

Die δύναμις der Polis sollte also einerseits der Abwehr von Feinden und der Bewahrung der Güter der Polis und andererseits der Hilfeleistung gegenüber den 87 Vgl. Demosth. 14,30. Auf die Perserkriege des 5. Jh. und deren Beitrag zur Entwicklung Athens bezieht sich Demosthenes noch einmal in § 40. In dieser Rede ist er aber eher darum bemüht, das gerechte Verhalten der Vorfahren, nicht das traditionelle Feindbild der Perser hervorzuheben (vgl. Demosth. 14,41; Hunt, War 129f.) 88 Demosth. 14,32. Dies erwähnt der Rhetor im Zusammenhang mit seiner im selben Abschnitt vertretenen Meinung, dass andere griechische Poleis gerade wegen des Charakters des Krieges nicht mit dem Perserkönig zusammengearbeitet hätten. 89 P. Low (Interstate Relations 68f.) nutzt § 32, um zu zeigen, welche Aspekte als gemeinsame panhellenische Elemente von den hellenischen Poleis wahrgenommen wurden. 90 Vgl. auch Demosth. 14,33ff. 91 Vgl. Demosth. 14,35. 92 Demosth. 14,11. 315

Verbündeten dienen. Zwei typische Formen des gerechten Krieges sind festzustellen: Neben dem Verteidigungskrieg wird die Hilfeleistung für die Verbündeten, also die Pflicht zur Erfüllung eines Bündnisvertrags, hervorgehoben.93

2.1.2 Δίκαιον und συμφέρον Es stellt sich die Frage, wie Demosthenes seine eigentliche Intention, nämlich den Erhalt des Nutzens für die Polis, mit der Kriegsrechtfertigung verbinden konnte. Charakteristisch ist die in § 3 – teilweise bereits diskutierte – zusammenfassende Darstellung seiner Vorschläge: […] νομίζω συμφέρειν ὑμῖν τὴν μὲν ἀρχὴν τοῦ πολέμου τηρεῖν ὅπως ἴση καὶ δικαία γενήσεται, παρασκευάζεσθαι δ‘ ἃ προσήκει πάντα καὶ τοῦθ‘ ὑποκεῖσθαι.

Demzufolge werden beide demosthenische Leitgedanken, also das Warten auf einen gerechten Ausgangspunkt für den Krieg und der Beginn von ökonomischen und militärischen Vorbereitungsmaßnahmen (παρασκευή), als nützlich für die Athener dargestellt und auf dieser Basis gefordert. Zu Recht stellt der antike Scholiast fest, dass Demosthenes das συμφέρον auf das δίκαιον und auf das δυνατόν stützt.94 Der Krieg wird also nutzbringend sein, wenn er hinreichend gerechtfertigt und zudem erfolgversprechend ist. Demzufolge soll der Krieg gerecht sein, vor allem weil das Urteil der anderen Hellenen darüber die entstehenden Bündnisse beeinflussen wird. Die Kriegsrechtfertigung beinhaltet die ethische und juristische Begründung des Krieges, womit die Macht und die günstige Ausgangsposition Athens vor dem Krieg gesichert sind. In dieser Hinsicht ist das Gerechte des Krieges erforderlich, weil es Nutzen bringt, ebenso wie die Vorbereitung zum Krieg notwendig ist. Die Rolle des δίκαιον und des δυνατόν beschränkt sich darauf, dem συμφέρον zu dienen.95 Demosthenes zielt allerdings nicht auf eine Abgrenzung zwischen δίκαιον und συμφέρον ab, sondern vielmehr auf die Integration dieser beiden Faktoren in ein kohärentes System, das auf der Gerechtigkeit basiert.96 Dies wird im Epilog der Rede deutlich. Demosthenes fordert eine moralische und prinzipielle Ordnung der Gesetze ein, wobei die Schuldfrage eines Krieges von 93 Diese Pflicht wird allerdings von Demosthenes selbst in späteren Reden relativiert, wenn der Nutzen für die Polis dadurch gewährleistet ist. Vgl. dazu z. B. Demosth. 16,26–29. 94 Schol. Demosth. 14,3,1–15 (Dilts): κατὰ βραχὺ τὸ συμφέρον κατασκευάζει τῷ δικαίῳ, μᾶλλον δὲ τὸ ἀσύμφορον τῷ ἀδυνάτῳ. […] οὐ συμφέρει πρώτους ὑμᾶς ἐπιθέσθαι τοῖς πράγμασι διὰ τὸ μὴ ἔχειν δύναμιν καὶ διὰ τὸ τοὺς ῞Ελληνας πρὸς ἐκεῖνον μᾶλλον βλέπειν ἢ πρὸς ἡμᾶς. οὐκ ἀπέχεται δὲ οὐδὲ τοῦ δικαίου ἐν τῇ κατασκευῇ τοῦ συμφέροντος. […] ἐνδιατρίβει δὲ τῷ δυνατῷ μᾶλλον, οὐδὲν ἧττον ἐμφανίζων καὶ διὰ τούτου τὸ δίκαιον, τὸ μέντοι γε συμφέρον, ὡς ἔφην, διὰ τούτων ἁπάντων παραινῶν. 95 Vgl. Yatromanolaki, Λόγοι 43 mit Anm. 80. 96 Vgl. Hunt, War 157. 316

primärer Bedeutung ist. Er ist sich dabei völlig der Tatsache bewusst, dass es in der Politik vorrangig um das Durchsetzen der Interessen einer Polis geht und betont folglich am Ende, dass seine Vorschläge für Athen nutzbringend (συμφέροντα) seien.97 Eine der Machtpolitik dienende – zynische – Verbindung des δίκαιον mit dem συμφέρον, so wie sie in den späteren politischen Reden des Demosthenes zu finden ist, erscheint in der Symmorienrede noch nicht. Trotzdem wird in dieser Rede deutlich, dass der Rhetor die Begriffe δίκαιον bzw. ἄδικον nicht nur in ethischer Hinsicht, sondern auch zum Erlangen politischer Ziele seines Vaterlandes verwendet. Er verstand bereits in der Symmorienrede unter δίκαιον und συμφέρον die legitimen Interessen Athens.98

2.1.3 Fazit Die Symmorienrede ist nicht in die zeitgenössische Debatte über den Frieden und seine Vorteile einzuordnen.99 Im Gegenteil: Die Kriege, die auf Athen zukommen, werden hier als ein unausweichliches politisches Schicksal wahrgenommen. Demosthenes lehnt den Krieg an sich nicht ab, bemüht sich aber, seine Form und die Bedingungen, unter denen er zu führen sei, festzulegen. Trotz der Erfahrungen, die durch den Bundesgenossenkrieg gemacht wurden, geht er auf die Frage nach der Gerechtigkeit der athenischen Herrschaft bzw. Vorherrschaft nicht ein. Die künftigen Kriege sind entsprechend seiner Argumentation vorrangig von dem ἀδικεῖν anderer Poleis bzw. Reiche abhängig. Eine Kritik an dem bisherigen Vorgehen Athens als führender Macht des Zweiten Attischen Seebundes fehlt ganz. Vielmehr zielt Demosthenes eindeutig darauf ab, die Vormachtstellung Athens in Hellas unter allen Umständen zu unterstützen und zu fördern. Aus diesem Grund ruft er in der Rede zur finanziellen und militärischen Aufrüstung Athens auf. Der Angriffskrieg gegen das Perserreich wird aus utilitaristischen Gründen offen abgelehnt, dennoch sollte Athen die Drohung, die das Perserreich für hellenische Poleis darstellt, ernst nehmen und auf jeden Fall ein aus diesem Drohpotential 97 Demosth. 14,41: παρασκευάζεσθαι μὲν πρὸς τοὺς ὑπάρχοντας ἐχθροὺς κελεύω, ἀμύνεσθαι δὲ καὶ βασιλέα καὶ πάντας, ἂν ἀδικεῖν ἐπιχειρῶσι, ταύτῃ τῇ αὐτῇ δυνάμει φημὶ δεῖν, ἄρχειν δὲ μηδενὸς μήτε λόγου μήτ‘ ἔργου ἀδίκου, τὰ δ‘ ἔργ‘ ἡμῶν ὅπως ἄξια τῶν προγόνων ἔσται σκοπεῖν, μὴ τοὺς ἐπὶ τοῦ βήματος λόγους. κἂν ταῦτα ποιῆτε, καὶ ὑμῖν αὐτοῖς καὶ τοῖς τἀναντία πείθουσι συμφέροντα πράξετε. 98 Vgl. Karvounis, Demegorien 113. J. Triantaphyllopoulos (Das Rechtsdenken der Griechen 12f. mit 101f. Anm. 88) notiert treffend, dass für Demosthenes das Gesetz dem Nützlichen und dem Vorteilhaften dienen müsse. Zusätzlich sei bei den Rhetorikern allgemein das Triptychon νόμιμον, δίκαιον, συμφέρον ein gängiger Topos. Das δίκαιον gelte aber unabdingbar nur im Inland. Im zwischenstaatlichen Umgang miteinander fände lediglich das Recht des Stärkeren Anwendung, vorausgesetzt, die internationalen Verhältnisse sind nicht durch Staatsverträge geregelt. 99 Vgl. Isokr. 8,12. 19ff. 26. 64; Xen. vect. 5,2f. 5. 12; 6,1. Im Gegensatz zu Demosthenes ist bei Isokrates und Xenophon in dieser Zeit eine Kritik an den imperialistischen Kriegen Athens als hegemonialer Macht zu finden. 317

entstehendes Bündnis hellenischer Poleis mit dem Großkönig verhindern. Deswegen sollte Athen nicht allein das Perserreich angreifen, sondern an der Spitze einer defensiven Symmachie stehend den Gegenpol zur Macht des Großkönigs bilden. Es sollte also die Vorteile eines nach modernen Begriffen balance of threat ausnutzen. Zusätzlich weist Demosthenes auf das μὴ δυνατόν des Krieges hin, das in der schlechten finanziellen und militärischen Lage Athens nach dem Bundesgenossenkrieg seinen Ursprung hat. Ferner soll der Krieg nur nach einem persischen Angriff stattfinden, sodass er aus athenischer Sicht sozialethisch und juristisch legitimiert ist. In der Symmorienrede setzt Demosthenes das δίκαιον nahezu für jede legitimierte Staatshandlung voraus,100 besonders weil es seiner Meinung nach auch nutzbringend sei; in Bezug auf die Kriegsrechtfertigung kann dies nur ein Verteidigungskrieg sein. Demosthenes verlangt den gerechten Krieg aufgrund seines Nutzens: Zum einen wird Athen leichter Symmachien mit anderen griechischen Poleis, die vom persischen Angriff auch betroffen sind, schließen; zum anderen verspricht ein defensiver Existenzkrieg mehr Erfolgsaussichten als ein Angriffskrieg. Das Gerechte wird hier mit dem Nutzen ausgezeichnet kombiniert. Die Auswirkung der Symmmorienrede auf die athenische Innen- bzw. Außenpolitik ist kaum spürbar. Auf der einen Seite fanden die Anträge des politischen Neulings Demosthenes zu einer Reform der Flottenbaupolitik und der Kriegsfinanzierung, auch wenn sie mit dem Programm des Eubulos prinzipiell übereinstimmten, keinen Anklang beim attischen Demos. Auf der anderen Seite entsprach die Aufforderung, keinen Präventivkrieg gegen das Perserreich zu führen, den bereits existierenden Vorstellungen der Mehrheit der Bürger. Gerade die Begüterten waren ohnehin gegen einen solch kostspieligen Krieg, dessen Finanzierung sie hauptsächlich tragen müssten. Darüber hinaus vermochte Eubulos die Masse der Kriegsbegeisterten durch seine Stellung als Verwalter der Theorikon-Kasse in seinem Sinne zu beeinflussen.101 Es kann somit nicht behauptet werden, dass Demosthenes’ Rede ein entscheidender Faktor zur Vermeidung des Krieges war.102

2.2 Die Rede Für die Megalopoliten Während sich die Gedanken des Demosthenes in der Symmorienrede auf eine Auseinandersetzung Athens mit einem auswärtigen Feind, hier dem Perserreich, beziehen, handelt es sich in seinen nächsten beiden außenpolitischen Reden um die Stellung Athens gegenüber hellenischen Poleis. Die politischen Umstände, unter denen die Reden Für die Megalopoliten und Für die Freiheit der Rhodier verfasst wurden, beziehen sich auf eine komplizierte Bündnispolitik, sodass die Bewertung der Reden stark von den zwischenstaatlichen Korrelationen beeinflusst wird. 100 Vgl. Karvounis, Demegorien 113. 101 Es befremdet demzufolge nicht, dass sich zu diesem Zeitpunkt Reiche und Arme einig in ihrer Stellung gegen den Krieg waren. Vgl. Hunt, War 43f. 102 Vgl. Will, Klio 6 (1983) 51–80, bes. 53ff. 318

In der athenischen Ekklesia, wo die Megalopolitenrede vorgetragen wurde, stand im Mittelpunkt der Diskussion ein außenpolitisches Dilemma: Sollten die Athener dem Hilfegesuch des arkadischen Megalopolis nachgeben oder ihrem Bündnis mit Sparta treu bleiben? Die Rede Für die Megalopoliten wurde im Jahr 353/2 gehalten,103 als der Dritte Heilige Krieg in vollem Gange war. Der phokische Landshauptmann Onomarchos hatte im Frühjahr 353 einige wichtige militärische Erfolge gegen die Boiotier errungen, sodass sich die Thebaner in einer so ungünstigen Lage befanden, dass sie sich ausschließlich mit der Situation in Boiotien beschäftigen mussten.104 Die Spartaner nutzten diese Gelegenheit, um ihre seit der Niederlage bei Leuktra 371 verlorene Vormachtstellung auf der Peloponnes wiederherzustellen. Die vom thebanischen Feldherrn Epameinondas durchgesetzte Neuordnung hatten sie nie anerkannt.105 Die Schwächung Thebens während des Heiligen Krieges Anfang des Jahres 353 gab den Lakedaimoniern den Anstoß, ihren Anspruch, auf der Peloponnes alles auf den früheren Besitzstand zurückzuführen, deutlich zu machen. Der in ihren Augen legitime alte Rechtszustand in Hellas sollte wiederhergestellt werden, was für Sparta zunächst die Auslöschung von Megalopolis106 und anschließend die Wiederinbesitznahme des für die lakedaimonischen Interessen besonders wichtigen

103 Dionysios von Halikarnassos setzt die Rede ins Jahr des Archonten Thudemos 353/2 (vgl. Dion. Hal. Amm. I, 4). Die moderne Forschung stimmt ihm zu: Vgl. Schäfer, Demosthenes und seine Zeit I, 519; Fox, Rede für die Megalopoliten 11; Pokorny, Studien 40–42; Momigliano, Filippo il Macedone 128; Jäger, Demosthenes 222 Anm. 31; Sealey, REG 68 (1955) 77–120, bes. 118; Will, Klio 65 (1983) 51–80, bes. 52 mit Anm. 3; Lane Fox, C&M 48 (1997) 167–203, bes. 181–183; Karvounis, Demegorien 141f. mit Anm. 87. 104 Einfälle des phokischen Feldherrn Onomarchos in Boiotien im Herbst 354 und Frühjahr 353 brachten unter anderem Koroneia, eine Stadt, die sich an einer strategisch wichtigen Position zwischen dem östlichen und dem westlichen Boiotien befand, auf phokische Seite; eine Niederlage des Onomarchos durch Theben bei Chaironeia war von geringer Bedeutung. Vgl. Diod. 16,33,3f. 35,3; Buckler, Sacred War 71ff. 105 Nach der Schlacht bei Mantineia 362 weigerten sich die Spartaner dem allgemeinen Frieden beizutreten, gerade weil sie dann wegen der darin enthaltenen Autonomieklausel auf das benachbarte Messenien hätten verzichten müssen. Vgl. StV II² 292; Pol. 4,33,8f.; Diod. 15,89,2; Plut. Ages. 35,3f. 106 Megalopolis wurde im Jahr 368/7 mit Unterstützung von Theben und als Gegengewicht zum benachbarten Sparta durch die Zusammenlegung von vierzig Orten gegründet und umfasste den größten Teil des westlichen Arkadiens. Vgl. Diod. 15,72,4; Paus. 8,27,3f.; Meyer/Lafond, DNP 7 (1999) s. v. Megale Polis 1135ff.; Nielsen, Arcadia, in: Hansen/Nielsen, An Inventory of Archaic and Classical Poleis 505–546, bes. 520f.; Christien, Σπάρτη, in: Amouretti/Christien/Ruzé/Sineux, Πώς έβλεπαν οι αρχαίοι Έλληνες τον πόλεμο 282–313, bes. 295ff. 319

Messenien bedeuten würde.107 Da die Megalopoliten unmittelbar bedroht waren und mit Hilfe ihres wichtigsten Verbündeten, Theben, zu diesem Zeitpunkt nicht rechnen konnten, wandten sie sich an Athen. Zugleich mit der megalopolitischen Gesandtschaft trafen in Athen lakedaimonische Gesandte ein, die sich auf das bereits bestehende athenisch-spartanische Bündnis beriefen und ebenfalls um Hilfeleistung im Kriegsfall baten.108 Athens Bündnispolitik nach Leuktra erforderte ein vorsichtiges Agieren. Im Jahr 353 bestand nämlich ein Bündnis der Athener nicht nur mit Sparta (seit 369), sondern auch mit Arkadien (seit 366) und Messenien (seit 355).109 Bei einer durchaus möglichen militärischen Auseinandersetzung zwischen diesen Verbündeten Athens wäre Athens Handlungsspielraum, vorausgesetzt es gäbe keine Klausel in den Einzelverträgen, die solche Fälle voraussähen, nur schwer zu bestimmen.110 Durch eine ausführliche Analyse untermauert Demosthenes seine Behauptung, dass bei einem bevorstehenden Angriff Spartas auf Megalopolis die Athener aktiv auf der Seite der arkadischen Stadt stehen müssten.111 Es ist hierbei interessant, seine Begründung für die Teilnahme Athens an einem Krieg zu untersuchen, nicht zuletzt, weil das wichtigste Argument, nämlich das der Hilfeleistung einem Verbündeten gegenüber, durch die Konstellation der Kriegsparteien entkräftet wird: Der potentielle Kriegsgegner Sparta war immer noch ein Verbündeter Athens, während die Megalopoliten auf einen erneuten Symmachievertrag mit Athen angewiesen waren, obwohl sie Teil des 366 noch bestehenden Arkadischen Bundes waren. Denn in der Schlacht bei Mantineia im Jahr 362 traten die Arkader gespalten auf, da der 107 Vgl. zu Megalopolis: Demosth. 16,4. 16f.; zu Messenien Demosth. 16,8. 17. 20; dazu Cartledge/Spawforth, Hellenistic and Roman Sparta 11f.; Jehne, Koine Eirene 113. Die Besetzung von Messenien hing von alters her eng mit der wirtschaftlichen und militärischen Macht Spartas zusammen. Dies war auch der Grund, weshalb Epameinondas sich aktiv für die Unabhängigkeit Messeniens und die daraus folgende Schwächung Spartas einsetzte. Vgl. Roebuck, CPh 40 (1945) 149–165, bes. 151f.; Oliva, Sparta and her social problems 194–197; Buckler, Theban Hegemonie 86. 108 Vgl. Demosth. 16,1; Lib. Arg. D. 15, 2. 109 Das gegen Boiotien gerichtete Bündnis zwischen Athen und Sparta war vermutlich eine Erweiterung des Bündnisses von 371, welches den Symmachievertrag von 378 zwischen Athen und Theben beendete: Vgl. StV II² 274; Buckler, Theban Hegemony 88 mit Anm. 28. Zum Defensivbündnis zwischen Athen und den Arkadern vgl. StV II² 284. Zum Bündnis zwischen Athen und Messenien vgl. Demosth. 16,9; Paus. 4,28,1f.; dazu Karvounis, Demegorien 139 mit Anm. 81. 110 Während solche Klauseln in den Quellen nicht überliefert sind, nimmt allein J. Buckler (Theban Hegemony 195–198) an, dass die Athener und die Arkader bei einem potentiellen Angriff Thebens auf Athen bzw. Spartas auf Arkadien vertragsgemäß von ihrer Pflicht zur Hilfeleistung befreit würden. Zu der gleichzeitigen Symmachie sowohl mit Sparta als auch mit den Arkadern vgl. Xen. hell. 7,4,2. 111 Vgl. Demosth. 16,32. Aber auch aus der ganzen Rede geht Demosthenes’ Stellung für Megalopolis eindeutig hervor. 320

Arkadische Bund seit 370 auch mit Boiotien verbündet war.112 Folglich kämpften bei Mantineia die Nordarkadier an der Seite von Sparta und Athen, die Südarkadier hingegen, darunter auch die Megalopoliten, an der Seite von Theben.113 Kurz nach der Schlacht bei Mantineia kam die Spaltung des Arkadischen Bundes auch in den Bündnisverträgen zum Ausdruck: Anfang des Jahres 362/1 schlossen die Mantineer ein Bündnis mit Athen, Achaia, Elis und Phleius, dem Sparta beitrat; dagegen blieben die Megalopoliten und Tegeaten auf Seiten der Boiotier.114 Trotz allem plädiert Demosthenes für die Unterstützung der Megalopoliten, obwohl die Stellungnahme für die Symmachie mit Megalopolis de facto einen Krieg gegen Sparta bedeutete,115 was Demosthenes und seinem Auditorium bewusst war. Kennzeichnend für die Art der Argumentation des Rhetors in der Megalopolitenrede ist seine Aussage, wonach man zwar das Gerechte tun müsse, gleichzeitig aber darauf bestanden werden sollte, dass dies auch nutzbringend für die eigene Polis sei: δεῖ δὲ σκοπεῖν μὲν καὶ πράττειν ἀεὶ τὰ δίκαια, συμπαρατηρεῖν δ‘ ὅπως ἅμα καὶ συμφέροντ‘ ἔσται ταῦτα.116

Das ‚Nutzbringende‘, was bereits in der Symmorienrede eine wichtige Stellung einnahm, bildet für die Megalopolitenrede den Kern des Argumentationsstranges. Das Stichwort συμφέρον soll die Volksversammlung zum Handeln bewegen, während das δίκαιον die Richtigkeit der Gedanken überzeugend darlegen soll.

2.2.1 Krieg zur Bewahrung der balance of power Die Symmachie mit den Arkadern und der sich daraus ergebende Krieg gegen Sparta werden vorrangig als nutzbringend gerechtfertigt. Dabei vertritt Demosthenes die These vom Gleichgewicht der Mächte. Die in den modernen internationalen 112 Vgl. StV II² 273. 113 Vgl. Xen. hell. 7,5,4. 18; Diod. 15,84,4. 85,2. Vgl. dazu Kromayer, Antike Schlachtfelder I, 114f. 121. 114 Vgl. StV II² 290. 291. 115 Ch. Karvounis (Demegorien 156) behauptet, Demosthenes befürwortete keinen Krieg gegen Sparta, sondern lediglich die Zusicherung, dass Athen Megalopolis helfen werde. Seiner Meinung nach würde die Entsendung eines einzigen athenischen Korps nach Megalopolis reichen, damit Sparta auf seine Pläne gegen Megalopolis verzichtet. Auch wenn eine solche Entwicklung nicht ausgeschlossen werden kann, ist gegen Ch. Karvounis einzuwenden, dass die Verwirklichung des demosthenischen Vorschlages den Kriegszustand zwischen Athen und Sparta als Ergebnis haben würde. Die Folgen eines solchen Vorgehens sind meistens ungewiss, und es wäre von daher naiv, wenn die Athener einer Expedition nach Megalopolis zustimmten, ohne mit einem Krieg gegen Sparta zu rechnen. Als zwei Jahre später Theben militärische Hilfe nach Megalopolis entsandte, führte dies zur kriegerischen Auseinandersetzung der verbündeten megalopolitischen und thebanischen Streitkräfte mit Spartas Truppen (vgl. Diod. 16,39,4–7; Paus. 4,28,2). 116 Demosth. 16,10. 321

Beziehungen herrschende balance of power-Theorie geht von einem Mächtegleichgewicht aus, wenn ein politischer und militärischer Ausgleich zwischen konkurrierenden Kräften, seien es einzelne Staaten oder Bündnisse von Staaten, existiert; demnach haben Staaten ein Interesse daran, die Macht stärkerer Staaten auszugleichen, damit diese nicht hegemonial werden. Dies wird durch Bündnisschlüsse oder auch durch das Führen von Kriegen erreicht.117 In Bezug auf die griechische Antike bot bereits Thukydides eine realpolitische Analyse der Mächteverhältnisse in der hellenischen Poliswelt des 5. Jh.; aus ihr wird deutlich, dass in einigen Fällen die Außenpolitik griechischer Poleis mit dem Terminus balancing behaviour gegenüber einer Hegemonialmacht beschrieben werden kann.118 Im 4. Jh., einer Zeit, in der Athen, Sparta, Theben und Makedonien in verschiedenen oder auch in denselben zeitlichen Perioden für sich eine Rolle als Hegemonialmacht anstrebten, folgten griechische Poleis gelegentlich und meistens instinktiv einer Politik, die das Prinzip des Mächtegleichgewichts in den Mittelpunkt rückte; Athen gehört hier zu den Wegweisern.119 Es sind uns allerdings zum ersten Mal durch Demosthenes Ideen überliefert, die systematisch und mit Scharfsinn eine solche Politik in der Ekklesia vorschlagen. Diese finden ihre Parallelen in der modernen balance of power-Theorie.120 117 Fry/Goldstein/Langhorne, Guide to International Relations and Diplomacy 3: „The balance of power as a theory of state behaviour explains and predicts how states respond to threats posed by a potentially dominant, revisionist and possibly aggressive state. If a state bids for hegemony, other states will, as a matter of conscious choice and perhaps for domestic reasons or because of structural imperatives, form an alliance to contain and deter the expansionist-revisionist states. Other states might join the potential aggressor so as to benefit from its successful diplomacy or conduct of war. (…). Unless alliances deter the potential aggressor, the balance of power becomes a theory of war involvement.“. Zur balance of powerTheorie vgl. auch Waltz, Theory of International Politics 116–128. Zur Übertragung der Theorie auf Hellas des 5. und 4. Jahrhunderts vgl. Hunt, War 168–180. 118 Vgl. z. B. Thuk. 1,71,4f. 77,6; 2,8,4f.; 6,33,4; dazu Eckstein, Mediterranean Anarchy 65f. Demosthenes kann nicht als der Erfinder der Mächtegleichgewichtspolitik gelten. Vielmehr ist ein Einfluss des Thukydides auf den Rhetor festzustellen. Vgl. Will, Demosthenes 54f. 119 Vgl. Harding, Klio 77 (1995) 105–125, bes. 108f. mit Anm. 21; Hunt, War 170f. 120 Bereits Isokrates hatte in seinem Plataikos die Unterstützung Plataias durch Athen mit Bezug auf die Erhaltung des Mächtegleichgewichts zwischen Athen, Theben und Sparta untersucht (s. hier S.  182–184). Da auch Kallistratos als Sprecher der Athener bei den Friedensverhandlungen im Juni 371 in Sparta einer Politik folgte, die zur Isolierung des zuletzt mächtig gewordenen Theben führen sollte (vgl. Xen. hell. 6,3,10–17) und auch nach der Schlacht bei Leuktra – August 371den Sieger Theben zu schwächen und den großen Verlierer Sparta zu stärken suchte, was im Jahr 369 zum gegen Boiotien gerichteten Bündnis zwischen Athen und Sparta führte (vgl. StV II² 274; Jaeger, Demosthenes 47ff.; Hochschulz, Kallistratos 130f.), sind dort Ansätze einer Gleichgewichtspolitik in der athenischen 322

In der Megalopolitenrede hängt Demosthenes zufolge Athens Machtposition von der Schwäche seiner zwei großen Rivalen, Theben und Sparta, ab, worauf er seine Beweisführung stützt.121 Demzufolge ist nur jene Bündnispolitik nützlich, die zum Ergebnis hat, dass Athen sich gegenüber diesen beiden Mächten als überlegen erweisen kann. Die Polis müsse darauf achten, dass weder Sparta noch Theben vom Megalopolis-Konflikt profitieren.122 Dies könnte geschehen, wenn die Lakedaimonier Megalopolis einnähmen oder die Megalopoliten nach einer Absage der Athener in den Boiotern einen zuverlässigen Verbündeten fänden.123 Spartas Vorgehen gegen Megalopolis versteht Demosthenes als Teil eines Plans der Lakedaimonier, der auf die Wiederherstellung ihrer führenden Rolle in der hellenischen Welt abzielt.124 Nach der Auflösung von Megalopolis wäre die Einnahme von Messenien durch Sparta und somit die Kontrolle über die Peloponnes nur eine Frage der Zeit. Ein unabhängiges Messenien liege aber im Interesse Athens, weil dadurch Sparta nach wie vor in einer benachteiligten Lage bliebe.125 Deswegen lehnt Demosthenes eine Unterstützung Spartas strikt ab, selbst wenn die Wiederherstellung des früheren Besitzstandes, worauf die lakedaimonischen Gesandten bestanden, auch für Athen gewisse Vorteile hätte. Den Athenern sollte nämlich dem lakedaimonischen Vorschlag nach Oropos zugewiesen werden, welches nicht zuletzt wegen seiner geographischen Lage126 bereits seit dem 6. Jh. ein Streitobjekt

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Außenpolitik erkennbar (in diese Richtung bewegt sich die Argumentation in der Rede des Prokles aus Phleius vor der athenischen Volksversammlung, wie sie ihm Xenophon in den Mund legt [vgl. Xen. hell. 6,5,38f.], als die Spartaner und ihre Bundesgenossen im Winter des Jahres 370/69 an Athen ein Hilfegesuch gegen die Boiotier richteten). Da uns jedoch von den genuinen Reden des Kallistratos (außer einigen Notizen) keine erhalten geblieben sind, ist es fraglich, inwieweit er vor der Ekklesia in Athen eindeutig für eine systematische Gleichgewichtspolitik argumentierte. Auf jeden Fall verfolgt Demosthenes mit der Megalopolitenrede bewusst eine solche Politik und ordnet sie meisterhaft in einen theoretischen Rahmen ein, wobei der Einfluss seines großen rhetorischen und politischen Vorbilds Kallistratos nicht auszuschließen ist. Vgl. Jaeger, Demosthenes 44. 88. 213 Anm. 2; Sealey, Historia 5 (1956) 178–203, bes. 192–202; Lehmann, Demosthenes 59f.; Hochschulz, Kallistratos 115–119. Vgl. Fox, Rede für die Megalopoliten 57f. Vgl. Demosth. 16,4f. Vgl. Demosth. 16,30. Vgl. Demosth. 16,22. Angesichts der demographischen und militärischen Lage Spartas hält E. Badian zu Recht Demosthenes’ Befürchtung zu dieser Zeit für völlig unrealistisch (vgl. Badian, Prominence, in: Worthington, Demosthenes 9–44, bes. 31). Vgl. Demosth. 16,9. 20. Oropos befand sich an einem wichtigen Grenzübergang von Attika nach Boiotien und war deswegen sowohl in militärisch-strategischer als auch in handelspolitischer Hinsicht von großer Bedeutung. Vgl. Dombrowski, Die politischen Prozesse in Athen 49; Hochschulz, Kallistratos 156. 323

zwischen Theben und Athen war und 366 den Athenern entrissen wurde.127 Obwohl die Athener großen Wert auf Oropos legten,128 geht Demosthenes auch hier sehr pragmatisch vor: Zum einen sei Oropos auch ohne den Verzicht auf die Unterstützung der Megalopoliten einzunehmen. Zum anderen sei das Verhindern der lakedaimonischen Vormacht über die Peloponnes von größerer Bedeutung, sodass sich sogar ein gänzlicher Verzicht auf Oropos lohne.129 Die Stellungnahme von Demosthenes mutet hier sehr waghalsig an, ist aber in Bezug auf sein politisches Denken charakteristisch.130 Weiterhin führt der Rhetor an, dass Theben im Falle einer Weigerung Athens, den Megalopoliten zu helfen, an Bedeutung gewinnen würde. Denn Theben könnte dann die Vorteile eines erneuten und beständigen Bündnisses mit Megalopolis, dem Bollwerk gegen die Vormacht Spartas auf der Peloponnes, nutzen. Im Gegensatz dazu: Im Fall eines athenisch-megalopolitischen Bündnisses hätte Theben einen wichtigen Verbündeten, Megalopolis, verloren und wäre folglich geschwächt. Darüber hinaus wäre der Sieger, der aus einem anderen Konflikt zwischen Theben und Sparta hervorginge, gleichgültig, wer von beiden es sei, auf jeden Fall zu stark und gefährlich für Athen.131 Demzufolge ist nach Demosthenes die Triebkraft der Entscheidung der Athener für eine Symmachie mit Megalopolis lediglich das Verhindern eines Machzuwachses Thebens oder Spartas.

127 Vgl. Schäfer, Demosthenes und seine Zeit I, 104–107; Wiesner, RE XVIII,1 (1939) s. v. Oropos 1171–1174, bes. 1173f. Im Jahr 366 verhalfen die Thebaner Tylanion, dem Tyrannen des euboischen Eretria, Oropos in seine Gewalt zu bringen (vgl. Xen. hell. 7,4,1). 128 Davon zeugt unter anderem die Anklage des Leodamas gegen Kallistratos und Chabrias, die für den Verlust von Oropos die Verantwortung hatten (vgl. Aristot. rhet. 1364a 19ff.). Hinter der Anklage verbarg sich in erster Linie der Versuch der politischen Gegner des Kallistratos, die von ihm initiierte spartafreundliche Politik zu beenden. Sparta bot nämlich trotz des bestehenden Bündnisses den Athenern keine Hilfe in Bezug auf den Oropos-Konflikt an. Allerdings ist der Unmut der Athener wegen des Verlustes von Oropos und der daraus resultierenden militärischen und wirtschaftlichen Schwächung Athens ein nicht zu übersehender Faktor. Vgl. Hochschulz, Kallistratos 156f. 129 Vgl. Demosth. 16,17f. 130 Anzumerken ist hier die anekdotische Überlieferung, dass der junge Demosthenes als Zuhörer des oropischen Prozesses von 366 durch die Rede des damals angeklagten Kallistratos maßgebend beeinflusst wurde. Nicht nur die Beredsamkeit, sondern auch der Inhalt der politischen Argumente des Kallistratos sollen Demosthenes’ Bewunderung gewonnen haben; vgl. Plut. Dem. 5,1–3; [Plut.] mor. 844B. Wenn man dieser Anekdote Glauben schenken mag, ist folgende Annahme zu riskieren: Die mutige Haltung in der Megalopolitenrede bezüglich Oropos basiert auf der früheren Argumentation des Kallistratos; zusätzlich wurde das Auditorium nicht zum ersten Mal zum Vermeiden einer Überbewertung von Oropos ermahnt. 131 Vgl. Demosth. 16,30f. 324

Zum ersten Mal in der griechischen Geschichte ist mit Demosthenes durch eine genuine Rede die Befürwortung eines Krieges überliefert, dessen Ziel eindeutig die Beibehaltung bzw. Manipulation des Mächtegleichgewichts ist. Die Gestaltung der Politik nach rein pragmatischen Kriterien wurde damit zu diesem Zeitpunkt von der Innen- auf die Außenpolitik übertragen. Hier sind die Wurzeln der ‚Außenpolitik im modernen Sinne’ zu erblicken, wovon die Wiederentdeckung der Megalopolitenrede und ihrer Ideen in der Neuzeit zeugt. Bislang ist die Anwendung der balance of power-Theorie systematisch erst in Bezug auf die zwischenstaatlichen Beziehungen seit dem Zeitalter der Renaissance untersucht.132 Im 19. Jh. notiert allerdings der englische Politiker Henry Lord Brougham: „Thus, the well known and much admired speech for Megalopolis is a calm and judicious statement of the sound principle of foreign policy on which the modern doctrine of the balance of power rests.“133 Das von Demosthenes angestrebte Mächtegleichgewicht bezieht sich allerdings auf die Gegner Athens, wobei Athen selbst eine Sonderrolle spielt. Demosthenes’ Ziel ist lediglich die Schwächung der Kräfte Thebens und Spartas, sodass Athen die Vormacht in Hellas erlangt.134 Das Prinzip der Politikgestaltung unter Berücksichtigung des Mächtegleichgewichts hatte Demosthenes bereits in der Symmorienrede angewandt, in der Megalopolitenrede ausgebaut und in weiteren Reden gelegentlich als schwerwiegendes Argument verwandt. Ein Jahr später, in seiner Gerichtsrede Gegen Aristokrates,135 wiederholt er seine Position, dass es von Nutzen für Athen sei, wenn weder die 132 Vgl. Scheehan, The Balance of Power 24. Dies schließt nicht aus, dass in der Weltgeschichte vor 1500 – d. h. auch im Altertum – in einigen Fällen eine Mächtegleichgewichtspolitik praktiziert wurde, ohne aber dass dies die Regel war (vgl. Wright, A Study of War 125.). Obwohl laut M. Scheehan auch bei Thukydides in Bezug auf seine Betrachtung des Ausbruchs des Peloponnesischen Krieges Elemente einer Skepsis, die der modernen Mächtegleichgewichtspolitik ähnelt, zu finden sind, notiert er dazu: „Only in a single speech by Demosthenes, the oration for the Megalopolitans, does the ancient world provide us with evidence of thinking about a balance of power system, with Greece seen in terms of many states, all concerned with the relative power of all the others“; Scheehan, The Balance of Power 27. 133 Brougham, A Critical Dissertation upon the Eloquence of the Ancients, in: Speeches of Henry Lord Brougham, vol. IV 440; vgl. dazu Jaeger, Demosthenes 88, 223 Anm. 37. 134 Deswegen kann laut H. B. Dunkel die Rede nicht wirklich von ‚balance of power‘, sondern vom anzustrebenden politischen Übergewicht Athens sein. Vgl. Dunkel, CPh 33 (1938) 291–305, bes. 296 mit Anm. 25. 135 Es handelt sich um eine Prozessrede, die Demosthenes als Logograph im Jahr 352 für Euthykles aus Thria verfasste. Die Rede wandte sich gegen den Bürger Aristokrates, der besondere Vergünstigungen für den thrakischen Fürsten Kersobleptes und dessen Schwager, den Militär Charidemos, beantragte. Im Prozess werden u. a. außenpolitische Fragen untersucht, da es sich um die Beziehungen Athens zu Kersobleptes und die Entwicklungen im athenischen Einflussbereich im Norden 325

Thebaner noch die Spartaner stärker werden.136 Eine solche Politik des Mächtegleichgewichts stellt er als Axiom dar, das auch in anderen Fällen der athenischen Außenpolitik Anwendung finden müsse.137

2.2.2 Die Gerechtigkeit des Krieges 2.2.2.1 Hilfe für Unrecht Leidende Parallel zur Darstellung seines Hauptargumentes, des Nutzens für die Polis, untersucht Demosthenes, ob die Symmachie mit den Megalopoliten und der davon ausgehende Krieg gegen Sparta gerecht seien. Dabei führt er das in den politischen und panegyrischen Reden immer wieder verwendete Argument der Rettung von Unrecht Leidenden (τοὺς ἀδικουμένους σῴζειν) an, das ein konstantes Ziel und Ideal der Polis wäre.138 Im Gegensatz zu den Rednern vor ihm führt Demosthenes hierzu Beispiele an, die sich ausschließlich auf die unmittelbare historische Vergangenheit und nicht auf die heroisch-mythische Zeit beziehen. Demnach erscheint Athen zu der Zeit von 379/8 bis 357 zuerst als Retter der Thebaner gegen Sparta, danach der Lakedaimonier gegen Theben und schließlich der Euboier gegen Theben.139 Diese Beispiele dienen offensichtlich einem wichtigen Ziel der Rede: Die Bündnispolitik

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auch mit Blick auf das expansionsorientierte Vorgehen Philipps II. handelte. Vgl. Demosth. or. 23; Montgomery, Chaeronea 34f. Demosth. 23,102: […] συμφέρει τῇ πόλει μήτε Θηβαίους μήτε Λακεδαιμονίους ἰσχύειν. Folglich plädiert Demosthenes in der Aristokratea dafür, dass ein Mächtegleichgewicht zwischen den beiden thrakischen Königreichen bestehen müsse, sodass Athen seine Kontrolle über die Chersones behaupten könne; es sei demnach zum Nutzen Athens, den schwächeren thrakischen Fürsten Amadokos gegen seinen Bruder und König des angrenzenden Odrysenreichs Kersobleptes zu unterstützen. Vgl. Demosth. 23,103–117. Vgl. Demosth. 16,15; Low, Interstate Relations 182f. Vgl. Demosth. 16,14. Es geht um folgende Ereignisse: Durch die Bereitstellung von Truppen an der attisch-boiotischen Grenze verhalfen die Athener 379/8 thebanischen Exulanten, die spartanische Besatzung auf der Kadmeia zu vertreiben und somit Theben von der lakedaimonischen Herrschaft zu befreien (vgl. Xen. hell. 5,4,1–12; Diod. 15,25–27; Plut. Pel. 7–13). Die vorgebliche Rettung der Spartaner bezieht sich auf die Schlacht bei Mantineia von 362. Die angebliche Unterstützung von Euboia ist ein Ergebnis der athenischen Sicherheitspolitik im Jahr 357: Innere Auseinandersetzungen in den euboischen Städten hatten dazu geführt, dass sich die verschiedenen politischen Gruppierungen teils an Athen teils an Theben wandten und die Thebaner sofort intervenierten. Darauf reagierten die Athener, zwangen die Thebaner zum Abzug und schlossen eine erneute Symmachie mit den Poleis auf Euboia (vgl. Aischin. 3,85; Demosth. 8,74f.; 22,14; Diod. 16,7,2; StV II² 304; dazu Welwei, Athen 295). Obschon Athen zweifelsohne eine wichtige Rolle in allen drei Fällen gespielt hatte, ist die Bezeichnung als Retter der Unrecht Leidenden auf jeden Fall übertrieben.

der Polis wird von Demosthenes so dargestellt, als hätten sich die Athener schon immer nach ihrem Gerechtigkeitssinn gemäß den jeweiligen Gegebenheiten und nicht nach der Stärke der Verbündeten gerichtet. Es ist beeindruckend, dass Demosthenes seine Beweisführung in Bezug auf das erlittene Unrecht der Megalopoliten nicht auf bestehendes Völkerrecht wie z. B. die Anerkennung der Autonomie von Messenien durch den – von Sparta allerdings nicht unterzeichneten – allgemeinen Frieden von 362 oder die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Besitzes von Territorien durch eine Polis, sondern auf die politische Analyse der Ereignisse und des davon ausgehenden ungeschriebenen Rechtes stützt.140 In diesem Sinne behauptet er, der einzig wahre Kriegsgrund der Lakedaimonier gegen Megalopolis sei ihre πλεονεξία und das davon ausgehende Streben nach Wiederherstellung ihrer früheren Macht.141 Der Rhetor geht hier bewusst auf eine besonders wichtige Komponente, auf die sich die lakedaimonischen Gesandten in der athenischen Volksversammlung berufen hatten, nicht ein: Das Gebiet, in dem Megalopolis 368/7 gegründet wurde, bestand teilweise aus lakedaimonischem Boden, da eine Reihe von lakedaimonischen perioikischen Gemeinden Teil von Megalopolis wurde.142 Dies waren die perioikischen Gemeinden von Aigytis und Skiritis, deren Gebiete vermutlich bereits in archaischer Zeit unter lakedaimonische Herrschaft gerieten.143 So beschreibt Thukydides Skiritis als einen Teil von Lakonien und die Skiriten selbst als Lakedaimonier.144 Es ist allerdings wahrscheinlich, doch schwer zu beweisen, dass diese Perioiken ursprünglich arkadischer Herkunft waren.145 Als gesichert kann jedoch gelten, dass Sparta in archaischer Zeit tegäisches Territorium annektiert hatte, was die Vermutung nahelegt, dass es zur selben Zeit auch andere arkadische Gebiete okkupiert hatte. Erst nach der Gründung von Megalopolis wurden die oben genannten perioikischen Gemeinden wieder Teil von Arkadien.146 Die lange Zeit aber, in der dieses Gebiet als lakedaimonisch galt,

140 Wenn die Hilfe für Unrecht Leidende nicht aus bestimmten Vertragsverpflichtungen hervorgeht, gilt sie als moralische Pflicht Athens und folglich als Ergebnis eines ungeschriebenen Rechtsverhaltens. 141 Vgl. Demosth. 16,21f. Bemerkenswert ist hierbei die Aussage: ὁρῶ γὰρ αὐτοὺς καὶ νῦν οὐχ ὑπὲρ τοῦ μὴ παθεῖν τι κακὸν πολεμεῖν αἱρουμένους, ἀλλ‘ ὑπὲρ τοῦ κομίσασθαι τὴν πρότερον οὖσαν αὑτοῖς δύναμιν. Mit ὑπὲρ τοῦ μὴ παθεῖν τι κακὸν πολεμεῖν wird in erster Linie ein Verteidigungskrieg gerechtfertigt. Da sich aber das μὴ παθεῖν τι κακὸν auf die Zukunft bezieht, kann es sich logischerweise auch um einen Präventivkrieg handeln. 142 Vgl. Paus. 8,27,4. 143 Vgl. Roy, History of Arcadia 37. 144 Vgl. Thuk. 5,33,2; 5,67,1. 145 Vgl. Roy, History of Arcadia 37; Nielsen, Arkadia and its Poleis 107. 146 Vgl. Roy, History of Arcadia 37. 96f.; Nielsen, Arkadia and its Poleis 107f. Die Eingliederung der lakedaimonischen perioikischen Gemeinden in Megalopolis hat wahrscheinlich unmittelbar nach der Gründung von Megalopolis stattgefunden, kann aber nicht mit Sicherheit datiert werden. Vgl. dazu Paus. 8,27,5f. 327

führte dazu, dass Sparta in der Mitte des 4. Jh. keineswegs bereit war, die neue Ordnung zu akzeptieren. Mehr noch – es konnte einen Krieg gegen Megalopolis aufgrund des Territorialverlustes überzeugend rechtfertigen. Demosthenes lässt diesem Argument allerdings keinen Spielraum und übergeht einen formell berechtigten Kriegsgrund, indem er die angeblich wahren Hintergründe des spartanischen Vorgehens zu entlarven sucht.

2.2.2.2 Reaktion auf die expansive Politik Spartas Der Rhetor erklärt, weshalb die Athener gemeinsam mit den damaligen Feinden, zu denen die Megalopoliten gehörten, gegen die früheren Verbündeten, die Spartaner, Krieg führen sollten.147 Besonders wichtig ist dieser Gedanke im Hinblick darauf, dass die frühere Bundesgenossenschaft mit Sparta förmlich noch nicht aufgelöst, wenn auch allmählich so bedeutungslos war, dass man ihre Existenz in Frage hätte stellen können.148 Weil laut Demosthenes die Voraussetzung ‚τὰ δίκαια ποιεῖν ἐθελόντων τῶν ἑτέρων'149 zur Fortsetzung des Bündnisvertrags und zur Wahrung des Friedens notwendig sei, wäre das Handeln der Athener gerecht. Als ἕτεροι sind die Lakedaimonier gemeint, denen Demosthenes bewusst ungerechtes Handeln vorwirft,150 was unmittelbar mit deren Willen bzw. Unwillen zu εἰρήνην ἄγειν zu tun hat: εἰ μὲν τοίνυν ἐθελήσουσιν εἰρήνην ἅπαντες ἄγειν, οὐ βοηθήσομεν τοῖς Μεγαλοπολίταις·151

Den Krieg gegen Megalopolis sieht der Rhetor als das Ergebnis einer den Frieden störenden Politik Spartas. Hierzu ist zu bemerken, dass Sparta die κοινὴ εἰρήνη nach der Schlacht bei Mantineia auffälligerweise nicht unterzeichnet hatte. Demosthenes erwähnt zwar die Selbstausschließung Spartas vom Friedensvertrag von 362 nicht, spielt aber durch εἰ μὲν τοίνυν ἐθελήσουσιν εἰρήνην ἅπαντες ἄγειν dezidiert darauf an152 und ordnet somit überzeugend den einzelnen Kriegsfall in den breiteren außenpolitischen und expansionsorientierten Plan einer kriegstreibenden Macht ein. Auf dieser Grundlage wird die endgültige Auflösung der Symmachie mit Sparta als Folge einer nach 362 konstant provokativen und imperialistischen Politikgestaltung 147 Vgl. Demosth. 16,6f. Die Lakedaimonier werden als συμπαραταξάμενοι und σύμμαχοι bezeichnet. Die hier erwähnten zwischenstaatlichen Verhältnisse beziehen sich auf das Jahr 362, in dem die Schlacht bei Mantineia stattfand. 148 Vgl. Fox, Rede für die Megalopoliten 83. 149 Demosth. 16,6. 150 Vgl. Fox, Rede für die Megalopoliten 80. 151 Demosth. 16,7. 152 ἐθελήσουσιν bezieht sich auf die Zukunft und kann im Kontext selbstverständlich auch im Gegensatz zur Vergangenheit – also zum Friedensvertrag von 362 – verstanden werden. ἅπαντες wird absichtlich anstatt οἱ Λακεδαιμόνιοι verwendet, damit deutlich wird, dass es gerade die Lakedaimonier sind, die sich von allen anderen an den Frieden haltenden Poleis ausschließen. 328

der Lakedaimonier dargestellt. In diesem Sinne handelt es sich von athenischer Seite keinesfalls um einen Vertragsbruch. Demosthenes bemüht sich in erster Linie um Rechtfertigung einer Symmachie mit Megalopolis und des davon ausgehenden Krieges gegen die ehemaligen verbündeten Spartaner. In diesem Fall haben er und sein Auditorium mehr Interesse an der Erfüllung pragmatisch-machtpolitischer Ziele als an einem formell legitimierten Handeln der Polis.153

2.2.2.3 Beschützen alter Poleis vor der Vernichtung Demosthenes sucht weitere Argumente zur Unterstützung der Frage nach der Gerechtigkeit des Krieges. Besonderes Augenmerk erfordert seine Auffassung, dass es ungerecht sei, die Zerstörung bzw. Entvölkerung von alten Poleis zu dulden: ταῦτα γὰρ καὶ καλὰ καὶ δίκαια, μὴ περιορᾶν πόλεις ἀρχαίας ἐξανεστώσας154

Der Rhetor bezieht sich zunächst auf die Zerstörung der boiotischen Städte Thespiai, Orchomenos und Plataia durch Theben und fordert, dass diese Städte wieder besiedelt werden, sodass diese Ungerechtigkeit beseitigt wird (§ 25). Unabhängig von gerechten oder ungerechten Kriegsgründen soll es als rechtswidrig gelten, wohlbekannte alte Städte oder hellenische Poleis überhaupt dem Erdboden gleich zu machen. Die völlige Zerstörung einer hellenischen Polis im Krieg war zwar im allgemeinen kein Verstoß gegen geschriebene Rechtsordnung, die Meinung aber, dass die innergriechischen Kriege in einem möglichst humanen Rahmen durchgeführt werden sollten, war im Hellas des 4. Jh. zumindest theoretisch vertreten. Platon notiert in seinem Menexenos die Ansicht der hellenischen Vorfahren, man dürfe gegen seine Stammesgenossen – im Gegensatz zum Krieg gegen Barbaren – einen Kampf nur bis zum Sieg und nicht bis zur Zerstörung einer Stadt führen.155 Auch in dem von Aischines überlieferten Amphiktioneneid wird darauf hingewiesen, dass die Mitglieder der pyläisch-delphischen Amphiktionie verpflichtet waren, keine

153 Diese Perspektive erklärt, weshalb Demosthenes nicht den Fall von 366 erwähnt: Damals hat Theben Oropos annektiert, was für Athen einem Kriegsgrund gleichkam (vgl. Xen. hell. 7,4,1). Sparta kam den Athenern aber trotz des Bündnisvertrags von 369 nicht zu Hilfe. Wenn der Rhetor also den Vertragsbruch der Athener diesmal gegen Sparta verteidigen wollte, hätte er ein überzeugendes Argument dazu gehabt. Das Bündnis zwischen Athen und Sparta war aber zur Zeit der Megalopolitenrede dermaßen entkräftet, dass Demosthenes sich ohne weiteres auf die Symmachie Athens mit Megalopolis und die Rechtfertigung des Krieges gegen Sparta an sich konzentrieren konnte. 154 Demosth. 16,25. 155 Vgl. Plat. Mx. 242d. Ähnliches behauptet Platon in seiner Politeia (vgl. Plat. rep. 5,470c. 471a-b). Allerdings waren im Hellas des 4. Jh. inhumane Kriege, d. h. Vernichtungskriege von Hellenen gegen Hellenen, keine seltene Ausnahme. Vgl. Kiechle, Historia 7 (1958) 129–156. 329

amphiktionische Stadt dem Erdboden gleich zu machen, und zwar weder im Krieg noch im Frieden.156 Demosthenes zielt somit direkt auf die Emotionen der Athener ab, die das tragische Schicksal der von Theben zerstörten Poleis als höchstes Unrecht empfanden.157 Der Redner beabsichtigt hier, die voraussichtliche Auflösung von Megalopolis durch Sparta jenen skrupellosen Kriegshandlungen zuzuordnen und dadurch eine gewisse Vorverurteilung Spartas herbeizuführen. Deswegen vergleicht er die momentane Situation von Megalopolis und Messenien mit der früheren von Thespiai, Orchomenos und Plataia. Als Maßstab für seine Beurteilung nimmt er die ἀδικία, die die Vernichtung hellenischer Poleis umfasst. Nicht das Alter der Städte ist für ihn ausschlaggebend, da Megalopolis zu dieser Zeit keineswegs als ἀρχαία πόλις gelten konnte. Demosthenes zeigt sich allerdings nachgiebig gegenüber Theben, da sein vorrangiges Ziel in der Megalopolitenrede das Aufhalten der Expansion Spartas ohne Thebens Intervention auf der Peloponnes ist.158

2.2.2.4 Das zwischenstaatliche Recht und das Gerechte Demosthenes ordnet die Verbindung des Schicksals von Thespiai, Orchomenos und Plataia mit dem von Megalopolis in seine Frage nach dem gerechten Handeln ein. Es fällt auf, dass er das gerechte außenpolitische Verhalten nicht vom normativen Recht abhängig macht. Er folgt einem eher sophistischen rhetorischen Vorgehen. Erstens verweist er in § 27 auf die Ansicht, dass die Megalopoliten die Stelen, auf denen ihr Vertrag mit Theben verzeichnet ist, abreißen müssten, damit dieser so nicht mehr gültig sei; denn das in seiner Existenz bedrohte Megalopolis hätte nicht die moralische Berechtigung, mit jener Polis verbündet zu sein, die sich mit der Vernichtung der genannten boiotischen Städte so ungerecht verhalten hatte, sogar ihren Wiederaufbau verhindert und somit fremdes Land in Besitz genommen hatte. Dies wäre die Voraussetzung des Bündnisses zwischen Megalopolis und Athen. Es fällt auf, dass der hier vorgeschlagene Bruch des Vertrags nicht durch juristische, sondern implizit durch ethische und explizit durch utilitaristische Argumente gefordert wird; gezielt weist der Rhetor auf die Behauptung der Megalopoliten hin, dass nicht die Verträge, sondern der Nutzen die zwischenstaatlichen Freundschaften bzw. Bündnisse erzeugen würden.159 Zweitens verlangt Demosthenes ebenfalls in § 27 von den Spartanern, sich an den Frieden zu halten (εἰρήνην ἄγειν) und somit einen Angriff auf Megalopolis – auch wenn die Stadt ein Bündnis mit Athen eingeht – zu 156 Vgl. Aischin. 2,115. 157 Charakteristisch für die Stimmung in Athen bezüglich der Zerstörung von Plataia ist die Schrift Plataikos, die Isokrates im Jahr 373 veröffentlicht hatte. S. dazu hier S. 171–174. 158 Vgl. Ingenkamp, Hermes 100 (1972) 195–205, bes. 200. 159 Demosth. 16,27: οἱ δέ φασι μὲν αὑτοῖς οὐ[κ εἶναι] στήλας, ἀλλὰ τὸ συμφέρον εἶναι τὸ ποιοῦν τὴν φιλίαν, τοὺς δὲ βοηθοῦντας ἑαυτοῖς, τούτους νομίζειν εἶναι συμμάχους. 330

vermeiden; hierbei kann er sich auf keine bestimmte Satzung bestehenden Rechtes berufen, da sich die Spartaner von der κοινὴ εἰρήνη des Jahres 362 bewusst ferngehalten hatten und Megalopolis nach wie vor als lakedaimonisches Gebiet auffassten. Schließlich gelangt der Rhetor zum Fazit seines Gedankenganges, wonach sich Athen zu jeder der beiden Poleis halten sollte, die sich der athenischen Anordnung, d. h. dem δίκαιον, fügt;160 denn die Reaktion von Megalopolis und Sparta auf die Forderung Athens würde die wahren Motive der beiden Poleis entlarven.161 Somit besteht Demosthenes auf seinem anfänglichen Vorschlag, also ein Bündnis Athens mit Megalopolis bei gleichzeitiger Schwächung Thebens und Spartas einzugehen, verstärkt ihn mit Bezug auf die Moral162 und geht nicht auf das bestehende zwischenstaatliche Recht ein, sondern rückt das Gerechte im sozialethischen Sinne in den Mittelpunkt.

2.2.3 Fazit In der Megalopolitenrede setzt sich Demosthenes für ein Bündnis Athens mit Megalopolis ein und bejaht somit eine Annäherung Athens an einen Krieg gegen Sparta. Dies begründet er vor der athenischen Volksversammlung, indem er zunächst realpolitisch die Mächteverhältnisse im hellenischen Raum aus athenischer Sicht analysiert. Während seine Argumente vorrangig antispartanisch sind, bezieht er eindeutig Position gegen den Machtzuwachs Thebens. Die Hilfe für Megalopolis und der sich daraus ergebende Krieg gegen Sparta werden somit durch das Argument der Bewahrung des Mächtegleichgewichts unter den Gegnern Athens in Bezug auf die Vorherrschaft in Hellas begründet. Auf der anderen Seite stellt Demosthenes eine Reihe von Argumenten dar, die eine Symmachie mit Megalopolis befürworten bzw. einen Krieg aufseiten von Megalopolis mit Bezug auf das sozialethisch Gerechte legitimieren. Hierzu gehört die Tradition Athens, denjenigen, denen Unrecht geschieht, zu helfen, die Bestrafung des expansiven und daher ungerechten Vorgehens Spartas und das Beschützen hellenischer Poleis vor der völligen Vernichtung. Demzufolge wird das Gerechte in der Megalopolitenrede, wie es bezüglich der Außenpolitik dargestellt ist, argumentativ nicht mit der sich aus den Symmachieverträgen ergebenden zwischenstaatlichen Rechtsetzung in Einklang gebracht. Der ethische 160 Demosth. 16,27: φημὶ δεῖν ἅμα τούτους ἀξιοῦν καθαιρεῖν τὰς στήλας καὶ Λακεδαιμονίους ἄγειν εἰρήνην, ἐὰν δὲ μὴ 'θέλωσι ποιεῖν ὁπότεροι ταῦτα, τότ‘ ἤδη μετὰ τῶν ἐθελόντων ἡμᾶς γίγνεσθαι. Vgl. dazu Ingenkamp, Hermes 100 (1972) 195–205, bes. 200. 161 Demosthenes stellt somit die Frage, ob Megalopolis und Sparta sich nach dem Gerechten richten, oder ob die Megalopoliten die Pleonexie der Thebaner akzeptierten und die Spartaner ihre eigene Vorherrschaft auf der Peloponnes anstrebten. Vgl. Demosth. 16,28; Yatromanolaki, Λόγοι 120f. 162 Dazu gehört seine Aussage, dass sich alle Poleis bis zu einem Punkt aus Schamgefühl nicht trauen, gegen τὰ δίκαια zu handeln, selbst wenn sie es eigentlich wollen. Vgl. Demosth. 16,24. 331

Faktor auf der einen und der Nutzeffekt auf der anderen Seite sollen das δίκαιον bestimmen. Selbst völkerrechtliche Verträge sollen hinter diesen zwei Aspekten der demosthenischen Auslegung des Gerechten zurückstehen. Trotz der Megalopolitenrede blieben die Athener Sparta gegenüber loyal.163 Zwei Jahre danach, im Jahr 351, griff der spartanische König Archidamos Megalopolis an. Seine Aktion blieb trotzdem erfolglos, weil Megalopolis Hilfe von Argos, Sikyon, Messenien und besonders von Theben erhielt.164 In der Folgezeit waren jedoch die Thebaner nicht mehr in der Lage, auf der Peloponnes zu intervenieren. Aber auch Archidamos’ Plan, Spartas Hegemonie auf der Halbinsel zurückzugewinnen, ließ sich nicht realisieren.165

2.3 Die Rede Für die Freiheit der Rhodier Während sich die Megalopolitenrede mit der Hilfeleistung Athens für eine von Sparta, also von einem auswärtigen Feind bedrohte Polis, befasst, geht es in der dritten hellenischen Demegorie um Hilfe für einen Teil der Bürger einer Polis, der von dem anderen Bevölkerungsteil bedroht bzw. bedrängt wird. Konkret steht die Unterstützung der Demokraten auf Rhodos gegen die Oligarchen, die zuvor an die Macht gekommen sind, zur Diskussion. Das innenpolitische Kräfteverhältnis auf Rhodos war oft in der Geschichte der Insel von außenpolitischen Gegebenheiten bestimmt. Die Unterstützung der Demokraten durch die Athener geht in das Jahr 395 zurück, als die Oligarchen ihre Verbindung zu Sparta abgebrochen hatten und in der Folge ihre Macht einbüßten. Im Bürgerkrieg, der 391 ausbrach, standen die Athener auf der Seite der Demokraten, während die Spartaner die Oligarchen unterstützten. Seit dem Königsfrieden von 387/6 haben sich die Demokraten durchgesetzt, da Sparta die Oligarchen nicht länger unterstützen konnte. Rhodos trat 378/7 dem Zweiten Attischen Seebund bei,166 sodass die Demokraten durch die Unterstützung Athens ihre Herrschaft auf lange Zeit sichern konnten. Allerdings hatte der Bundesgenossenkrieg von 357–355 zur Folge, dass sich die rhodischen Demokraten wegen des Krieges gegen Athen von diesem lossagten und somit ihren wichtigsten Machtrückhalt aufgaben. Durch diese Umstände gelangten die Oligarchen im Jahr 353/2167 mit Unterstützung des karischen Satrapen Maussolos an die Macht. Die Lage der Demokraten war nun so 163 Dies ist keineswegs als Niederlege des Demosthenes zu bewerten, denn der junge Rhetor konnte durch diese Rede sein politisches Profil schärfen. Vgl. Will, Demosthenes 55. 164 Vgl. Diod. 16,39,4–7; Paus. 4,28,2; Cartledge/Spawforth, Hellenistic and Roman Sparta 11f. 165 Vgl. Welwei, Sparta 309. 166 Vgl. Syll. I³ 147 Z. 82. 167 Der genaue Zeitpunkt des Umsturzes ist nicht bekannt. Er soll unter der Regierung von Maussolos und zwar gegen Ende seiner Regierungszeit, also 353/2, stattgefunden haben (vgl. Karvounis, Demegorien 192 Anm. 84). 332

aussichtslos, dass sie Athen um Hilfe baten.168 Die athenische Volksversammlung, in der auch die demosthenische Rhodierrede vorgetragen wurde, sollte nun über die Anfrage der rhodischen Demokraten beraten.169 Demosthenes bezieht in seiner Rede Stellung für eine athenische Hilfssendung an Rhodos; Rachegefühle der Athener wegen des Austritts der Rhodier aus dem Zweiten Attischen Seebund und wegen des letzten Krieges zwischen den zwei Poleis durften nach Demosthenes’ Ansicht das athenische Vorgehen keineswegs bestimmen,170 denn es handelte sich nun um einen Krieg für Hellenen gegen ihre barbarischen Besatzer und ferner für die Durchsetzung eines demokratischen Regimes gegen die derzeitigen oligarchischen Machthaber.171 Athen sollte sich folglich nach seinen alten Prinzipien richten und ὑπὲρ τῶν δικαίων πολεμεῖν.172 Die chronologische Einordnung der Rede Für die Freiheit der Rhodier ist in der Forschung sehr umstritten. Tatsächlich reichen die vorhandenen Quellen nicht aus, um eine genaue Datierung der Rede zu ermöglichen. Entweder im Jahr 352 zu Beginn des Archontats von Aristodemos oder im Jahr 351/0 während des Archontats von Theelos hat sie Demosthenes wohl vor der Ekklesia vorgetragen. Das war auf jeden Fall nach der Symmorien- und der Megalopolitenrede; es bleibt jedoch fraglich, ob die I. Philippische Rede kurz davor oder danach gehalten wurde.173 168 Hier ist allerdings zu bemerken, dass nur Athen als die einzige derzeitige Großmacht in Griechenland für eine Hilfeleistung in Frage kommen konnte. Vgl. dazu Karvounis, Demegorien 193. 169 Vgl. Radicke, Rhodier 43f. 170 Demosthenes schließt eine Racheaktion der Athener gegen Rhodos ausdrücklich aus (vgl. Demosth. 15,16), obwohl er den Rhodiern vorwirft, sie hätten zu Unrecht den Krieg gegen Athen bewirkt (vgl. Demosth. 15,2. 15). Die Hilfe für Rhodos gegen die karischen Besatzer sieht er als eine gute Gelegenheit, die Rechtsposition der Athener im Bundesgenossenkrieg darzulegen. Damals hätte Maussolos die Rhodier unterstützt, jetzt aber unterjocht (vgl. Demosth. 15,2f.). 171 Vgl. Low, Interstate Relations 72f. 172 Vgl. Demosth. 15,8. 173 Dionysios von Halikarnassos setzt die Rede ins Archontat des Theelos 351/0 (vgl. Dion. Hal. Amm. I, 4). Für die Datierung der Rede sind zwei Anhaltspunkte entscheidend. Erstens erwähnt Demosthenes den Tod des Maussolos und nennt Artemisia als Gegnerin Athens (vgl. Demosth. 15,11. 23. 27). Zweitens berichtet er von einem erfolglosen Feldzug des persischen Königs nach Ägypten (vgl. Demosth. 15,11f.). Nach den – allerdings oft umstrittenen – Angaben Diodors in Bezug auf die Zeitverhältnisse der karischen Dynasten fällt Maussolos’ Tod ins Jahr 353/2 und Artemisias Regierungszeit in die Jahre 352/1 und 351/0 (vgl. Diod. 16,36,2. 45,7. 69,2. 74,2). Bezüglich des erfolglosen Feldzuges nach Ägypten steht wiederum nur eine Stelle Diodors zur Verfügung, wonach die Eroberung Ägyptens durch den Großkönig im Jahr 351/0 erfolgt sei, der erfolglose Ägyptenfeldzug wird in die Zeit davor datiert (Diod. 16,40,3ff.). Hierbei irrt sich Diodor, denn die Unterwerfung Ägyptens erfolgte im Jahr 343/2. Diese unklare Quellenlage löste eine kontroverse Diskussion bezüglich der genauen Datierung der Rhodierrede aus, ohne dass dabei 333

2.3.1 Befreiungskrieg Die Rhodierrede erweist sich als besonders relevant in Bezug auf die Untersuchung der demosthenischen Ansichten bzw. Argumentation über den Krieg im Allgemeinen wie auch im Besonderen. Es stellen sich zunächst zwei wichtige Fragen: Erstens, kann eine potentielle Unterstützung der Demokraten auf Rhodos mit einem Krieg gleichgesetzt werden? Zweitens, wie kann Athen sein Einmischen legitimieren, ohne gegen die rhodische Autonomie zu verstoßen, die es ein Jahr davor, also im Frieden von 355,174 ausdrücklich anerkannt hatte? Zunächst kann von einem Krieg kaum die Rede sein, denn in erster Linie geht es um eine Förderung der demokratischen Bürger auf Rhodos zwecks Wiedererlangens der Macht. Vorausgestellt zur Parteinahme Athens soll bemerkt werden, dass den rhodischen Oligarchen durch den benachbarten karischen Satrapen Maussolos und seine Nachfolgerin Artemisia zur Machtübernahme verholfen wurde. Nach der Errichtung einer oligarchischen Verfassung sicherten karische Truppen in der Folge in den rhodischen Akropoleis die oligarchische Herrschaft.175 Daher vernachlässigt Demosthenes zunächst die innenpolitische Seite des Konflikts und spricht dezidiert von einer Befreiung der Rhodier bzw. des rhodischen Demos: ῞Οτι δ' οὐδὲν καινὸν οὔτ' ἐγὼ λέγω νῦν κελεύων ῾Ροδίους ἐλευθεροῦν […]176. Die Befreiung wird als geboten dargestellt, denn diese bezieht sich auf Hellenen und auf die demokratischen Bürger der Insel.177

174 175 176 177

334

die jeweiligen Thesen mit Sicherheit bewiesen werden können. Vgl. dazu folgende Datierungsversuche: Zum Jahr 352: Focke, Demosthenesstudien 18–21; Jaeger, Demosthenes 224 Anm. 41; Lesky, Literatur 673; Will, Klio 65 (1983) 51–80, bes. 52 mit Anm. 3; Lane Fox, C&M 48 (1997) 167–203, bes. 187–191. Zum Jahr 351/0: Dindorf, Demosthenis orationes V, 266; Grote, Geschichte Griechenlands VI, 254 Anm. 178; Spengel, ΔΗΜΗΓΟΡΙΑΙ 14; Schäfer Demosthenes und seine Zeit I, 481–487; Blass, Beredsamkeit III.1, 305; Kahrstedt, Forschungen 22–26; Pokorny, Studien 104; Beloch, GG III.1, 224 Anm. 3; Cawkwell, CQ 56 (1962) 122–140, bes. 122–125; Hornblower, Mausolus 39f.; Radicke, Rhodier 33–43. Zum Jahr 353: Judeich, Kleinasiatische Studien 186–189. Nach R. Sealey ist sowohl das Jahr 353/2 als auch das Jahr 352/1 sowie 351/0 möglich: Sealey, REG 68 (1955) 77–120, bes. 118. Ch. Karvounis gibt bei seinem ausführlichen Datierungsversuch zwei mögliche Versionen an, die erste für das Jahr 351, die zweite für 352: Karvounis, Demegorien 175–192. Die Vorschläge von Ch. Karvounis werden hier zugrunde gelegt. Vgl. StV II 313. Vgl. Demosth. 15,14ff. Demosth. 15,9. Vgl. auch Demosth. 15,15f. Die angebliche Pflicht und Gewohnheit Athens andere Hellenen und daher auch die Rhodier zu befreien, betont ebenfalls Libanios in seiner Hypothesis; Lib. Arg. D. 14, 3: εἰ δὲ ἠδικήκασιν ἡμᾶς ῾Ρόδιοι, φησίν, ἀλλὰ πρέπον ἐστὶν ἡμῖν καὶ σύνηθες τὸ καὶ τοὺς λυπήσαντάς τι τῶν ῾Ελλήνων ἐλευθεροῦν […]. Dionysios von Halikarnassos rückt die Befreiung des Demos von der Oligarchie in den Mittelpunkt;

Intention der Rhodierrede ist es, Hilfeleistungen für die rhodischen Demokraten durchzusetzen; 178 dies bedeutet aber militärischen Aufwand und Krieg. Als Gegner allerdings sind nicht nur die rhodischen Oligarchen, sondern vor allem die karischen Besatzer gemeint.179 Denn Demosthenes behauptet, dass sich die Rhodier derzeit in einer so unfreien Lage befänden, dass sie den (karischen) Barbaren und Dienern (des persischen Großkönigs) dienen müssten: τὴν ἑαυτῶν ἐλευθερίαν ἀπολωλέκασι (οἱ Ῥόδιοι), καὶ […] βαρβάροις καὶ δούλοις, οὓς εἰς τὰς ἀκροπόλεις παρεῖνται, δουλεύουσιν.180

Der Rhetor hebt die Intervention karischer Truppen in Rhodos stark hervor und stellt den Umsturz wie eine kriegerische Eroberung der Insel durch den karischen Satrapen dar. Nach dieser Argumentationsweise handelte es sich um einen Rechtsbruch des Satrapen – Demosthenes verweist auf die Anerkennung der Freiheit und Autonomie hellenischer Poleis wie Kos und Rhodos durch den Perserkönig im Vertrag des Königsfriedens und seinen Erneuerungen und hält den Verstoß der karischen Satrapen Maussolos und Artemisia diesen entgegen-181, was die Berechtigung eines athenischen Eingreifens nach sich zieht.182 Demzufolge verstoßen die Athener nicht gegen die rhodische Autonomie, gerade weil sie sich gegen die bereits unbegründete Intervention von persischer Seite wenden. Durch dieses Argument weist Demosthenes die Ansicht jener Athener zurück, die eine athenische Intervention in Rhodos mit Bezug auf die Friedensverträge, die den Bundesgenossenkrieg beendeten, ablehnten.183 Zur Verstärkung seines Standpunktes als Befürworter des Krieges unterstreicht Demosthenes die angebliche militärische Überlegenheit Athens gegenüber den Barbaren; er behauptet, dass die Athener nichts zu fürchten hätten, denn sie wurden niemals von den Untertanen des Großkönigs oder vom persischen König selbst im Kampf besiegt.184

178 179

180 181

182 183 184

Dion. Hal. Amm. I, 4: […] τὴν περὶ ῾Ροδίων ἀπήγγειλε δημηγορίαν, ἐν ᾗ πείθει τοὺς ᾿Αθηναίους καταλῦσαι τὴν ὀλιγαρχίαν αὐτῶν καὶ τὸν δῆμον ἐλευθερῶσαι. Vgl. dazu Radicke, Rhodier 44f. Aus der Ansicht von Demosthenes, dass sich die Athener vor dem Perserkönig nicht fürchten und dem rhodischen Volk helfen müssen (vgl. Demosth. 15,5), geht hervor, dass der eigentliche Kriegsgegner der Großkönig ist. Vgl. dazu Radicke, Rhodier 80f. Demosth. 15,15. Demosth. 15,27: οὐδὲ Μαύσωλον ζῶντα, οὐδὲ τελευτήσαντος ἐκείνου τὴν ᾿Αρτεμισίαν οὐδείς ἐσθ' ὁ διδάξων μὴ καταλαμβάνειν Κῶν καὶ ῾Ρόδον καὶ ἄλλας ἑτέρας πόλεις ῾Ελληνίδας, ὧν βασιλεὺς ὁ 'κείνων δεσπότης ἐν ταῖς συνθήκαις ἀπέστη τοῖς ῞Ελλησι, καὶ περὶ ὧν πολλοὺς κινδύνους καὶ καλοὺς ἀγῶνας οἱ κατ' ἐκείνους τοὺς χρόνους ῞Ελληνες ἐποιήσαντο. Vgl. Radicke, Rhodier 43f. Anm. 171. Vgl. Demosth. 15,28; Hunt, War 225. Vgl. Demosth. 15,23f. Die Karier bzw. der Satrap gehörten für Demosthenes und die Hellenen nicht zu den freien Menschen, sondern zu den Untertanen des persischen Königs. 335

Darüber hinaus bestünde die Möglichkeit, dass der Perserkönig aus vertragsrechtlichen Gründen nicht auf das Vorgehen der Athener reagieren würde. Während die Athener, ohne ihre Verträge mit dem Großkönig zu brechen, die Insel befreien, hätte Artaxerxes kein Interesse daran, einen unbegründeten, expansiven Krieg um Rhodos zu führen.185 Demosthenes deutet auf die unterschiedliche Moral der Aggressiv- und Defensivkriege hin und betont, dass die expansiven und daher ungerechten Kriege bis zu dem Punkt geführt werden, wo sie geduldet werden. Der Perserkönig wird somit vom Krieg ablassen, zum einen weil dieser angesichts der Verträge rechtswidrig ist, zum anderen, gerade weil diese Rechtswidrigkeit den Widerstand der sich Verteidigenden steigern wird.186 Trotz der Argumente des Demosthenes in Bezug auf die Erfolgsaussichten des athenischen Unternehmens wird es deutlich, dass der Rhetor keine überzeugenden Anhaltspunkte liefert, zumal er es meidet, von der derzeitigen militärischen und finanziellen Lage Athens zu berichten.

2.3.2 Krieg als Hilfeleistung Für Demosthenes befand sich Rhodos unter Fremdbesatzung, denn die oligarchischen Machtführer waren nichts anderes als eine Marionettenregierung, die im Grunde genommen der karischen Satrapie und damit dem persischen Befehlshaber unterstand. Aus dieser Perspektive ist der Befreiungskrieg für Rhodos in die populäre Kategorie der Kriege Athens, die zur Hilfeleistung gegenüber den Schwächeren bzw. Unrecht Leidenden geführt werden, einzuordnen. In Fortsetzung der Argumentation früherer Rhetoren erinnert Demosthenes die Athener daran, dass sie wegen ihrer Verpflichtung zum σῴζειν τοὺς ἀτυχοῦντας bekannt seien.187 Das Motiv der Rettung, der σωτηρία, an dem sich der Redner orientiert,188 steht hier in direktem Zusammenhang mit der Befreiung der Rhodier. Zwei besondere Merkmale der bevorstehenden Hilfeleistung hebt Demosthenes hervor: Erstens die Hilfe von Hellenen für Hellenen und zweitens den Krieg für die Demokratie.

185 Dies beweist Demosthenes mit Bezug auf die Intervention – der Rhetor nennt diese ebenfalls Befreiung – des Timotheos in Samos im Jahr 365/4, da sich damals der athenische Stratege rechtmäßig verhielt, sodass der Großkönig daraufhin keinen Krieg gegen Athen um Samos führte. Vgl. Demosth. 15,9f. Dazu Isokr. 15,111; Radicke, Rhodier 169–182; Karvounis, Demegorien 199. 186 Vgl. Demosth. 15,10. Die expansiven Kriege gibt Demosthenes mit ὑπὲρ τοῦ πλεονεκτεῖν πολεμεῖν wieder, wobei er πλεονεκτεῖν so wie in der politischen und ethischen Philosophie als Synonym mit ἀδικεῖν verwendet. Vgl. Yatromanolaki, Λόγοι 149f. 187 Vgl. Demosth. 15,22. 188 Vgl. Demosth. 15,2. 4. 15. 16. 336

2.3.2.1 Hilfeleistung für Hellenen Demosthenes macht deutlich, dass Hilfe geboten werden müsse und außer Debatte stehen sollte, wenn die Unrecht Leidenden Hellenen sind. Die Intervention des Perserkönigs in die Angelegenheiten von Rhodos sowie das Hilfegesuch der demokratischen Rhodier an Athen schaffen die Voraussetzungen, dass die Rhodier als Unrecht Leidende gelten. Das athenische Eingreifen in Rhodos kann somit als ethisch gerechtfertigt gelten.189 Unter diesem Aspekt bedauert Demosthenes, dass sich die Athener bei der Frage um die Unterstützung der Rhodier im Zweifel befanden, hatten sie doch bereits Nicht-Griechen, und zwar den Ägyptern, bei ihrem Aufstand gegen den Perserkönig geholfen.190 Denn hier gehe es nicht nur um die Rhodier, sondern auch um die Athener und um alle Hellenen.191 Dieses Argument wäre für ein hellenisch-athenisches Auditorium durchaus nachvollziehbar, die Unterscheidung jedoch zwischen Griechen und Nicht-Griechen in der Außenpolitik reicht nicht aus, um Demosthenes’ Zielsetzung in der Rhodierrede als panhellenisch zu bezeichnen, da allein Athen die führende Rolle im Seebund und in der griechischen Welt eingeräumt wird.192 Beachtenswert ist seine Behauptung, dass die zwischenstaatlichen Beziehungen in Hellas durch die mächtigsten Staaten bestimmt werden.193 Demnach muss in innergriechischen Angelegenheiten das Recht des Stärkeren gelten, vorausgesetzt es handelt sich um Athen. Lediglich unter dieser Bedingung sollten die Athener ihrer Rolle als Hegemonialmacht und Beschützer der Freiheit aller (κοινοὶ προστάται τῆς πάντων ἐλευθερίας)194 nachkommen. Der immer noch bestehende Anspruch Athens auf die Hegemonie in Hellas wird hierin deutlich.195

2.3.2.2 Hilfeleistung für die Demokratie Die Hilfeleistung gegenüber dem rhodischen Demos, d. h. praktisch die Unterstützung der Exildemokraten, hat die Errichtung bzw. Wiedererrichtung einer demokratischen Verfassung, welche Demosthenes mit den Begriffen Freiheit bzw. Befreiung verbindet, zum Ziel. Der militärische Aufwand Athens wäre berechtigt,

189 Vgl. Low, Interstate Relations 186 Anm. 23. 190 Vgl. Demosth. 15,5. Die Rhodier gehörten aufgrund der Bestimmungen des Königsfriedens nicht zum Persischen Reich, da es darin keine Sonderregelung bezüglich dieser Insel gab (vgl. StV II² 242). 191 Vgl. Demosth. 15,13. 192 Bezogen auf den Zweiten Attischen Seebund und die frühere Mitgliedschaft der Insel Rhodos spricht Demosthenes zwar von der formalen Gleichberechtigung der Symmachen (ἐξ ἴσου συμμαχεῖν), hebt aber die besondere Rolle der Athener innerhalb der griechischen Welt hervor (βελτίοσιν αὐτῶν); demnach haben die Rhodier anstelle Athens den unterlegenen karischen Satrapen als ihren Hegemon gewählt. Vgl. Demosth. 15,15; Low, Interstate Relations in Classical Greece 74. 193 Vgl. Demosth. 15,29; dazu hier S. 341–343. 194 Demosth. 15,30. 195 Vgl. Demosth. 15,29f.; Dunkel, CPh 33 (1938) 291–305, bes. 297. 337

wenn diejenigen, die die demokratische Verfassung umstürzen wollten und an ihrer Stelle eine oligarchische einzurichten planten, als κοινοὶ ἐχθροί196 aller Freiheitsliebenden zu verurteilen wären.197 Sehr interessant ist die Unterteilung der Kriege gegen Demokraten und gegen Oligarchen:198 – Krieg gegen oligarchische Staaten Der Krieg gegen eine Polis oligarchischer Verfassung ist nach Demosthenes immer gerechtfertigt, denn es geht um die Verteidigung höherer Werte, und zwar die der Demokratie und der Freiheit. Es ist also immer ein Krieg ὑπὲρ τῆς πολιτείας καὶ τῆς ἐλευθερίας.199 Diese Aussage ist tendenziös, da Athen in den früheren Kriegen gegen oligarchische Poleis zusätzlich das Ziel der Sicherung oder Erweiterung seines Machtbereiches verfolgte, selbst wenn, wie vor allem im Peloponnesischen Krieg, die Verfassung auf dem Spiel stand.200 Es ist allerdings bemerkenswert, auf welche Art und Weise Demosthenes in seinen Ausführungen die Frage nach der Autonomie einer Polis außer Acht lässt. Die Intervention in die inneren Angelegenheiten eines fremden, autonomen Staates ist für ihn immer dann berechtigt, wenn das Ziel die Wiedererrichtung der Demokratie ist. Als Redner und Politiker ist Demosthenes in der Lage, sein Denken zu vertiefen und es gegen oberflächliche Argumente der Gegenseite abzusichern. Folglich befürwortet der Rhetor eine Aktion gegen die Autonomie einer Polis, indem er das Vorgehen gegen sie als eine Sicherheitsmaßnahme für die eigene Polis darstellt, denn die oligarchische Verfassung eines Staates gefährdet den Frieden in Athen wie auch in allen anderen Poleis. Die 196 Den Begriff κοινὸς ἐχθρός verwendet Demosthenes sonst im Zusammenhang mit dem Perserkönig als ein politisches Schlagwort. Vgl. Demosth. 14,3. 36; 10,33. 197 Demosth. 15,20: τοὺς δὲ τὰς πολιτείας καταλύοντας καὶ μεθιστάντας εἰς ὀλιγαρχίαν κοινοὺς ἐχθροὺς παραινῶ νομίζειν ἁπάντων τῶν ἐλευθερίας ἐπιθυμούντων. Im selben Abschnitt (§ 20) behauptet Demosthenes, dass die Athener alle anderen, die jemandem Unrecht antun, nicht als gemeinsamen Feind, sondern nur als Feind des ἀδικούμενος betrachten sollten. Diese Behauptung kann allerdings nicht unabhängig von ihrem kontextuellen Zusammenhang beurteilt werden und als eine demosthenische Ansicht mit allgemeiner Geltung verstanden werden, denn der Rhetor bemüht sich hier, lediglich die Art der Feindschaft gegen die die Demokratie gefährdenden Oligarchen zu betonen. 198 Der antike Scholiast spricht von διττὰ πολέμων εἴδη. Vgl. Schol. Demosth. 15,9 (Dilts). 199 Vgl. Demosth. 15,17. Πολιτεία bedeutet hier wie auch in den §§ 19. 20 die demokratische Verfassung. Harpokration notiert, dass diese semantische Verwendung des Begriffs üblich bei den Rhetoren war (vgl. Harpokr. s. v. Πολιτεία). Vgl. dazu Radicke, Rhodier 124. 200 Vgl. Radicke, Rhodier 116f. Zu den Eingriffen Athens zugunsten der demokratischen Verfassung in verbündeten Poleis vor und während des Peloponnesischen Krieges vgl. Rhodes, Democracy and Empire, in: Samons II, The Cambridge Companion to the Age of Pericles 24–45, bes. 27f. mit Quellenangaben in Anm. 22. 32. 338

Oligarchen wären nämlich feindlich gegen alle griechischen Poleis gesinnt, in denen ἰσηγορία herrscht.201 In dem Fall, dass sich die Oligarchen durchsetzten, würden sie sich gegen den Vorkämpfer der Freiheit, nämlich den athenischen Demos, wenden.202 Demosthenes betrachtet Athen als die eigentliche Führungsmacht der demokratischen Poleis und versteht somit Rhodos als Teil des athenischen Interessengebiets. Den Sieg der Oligarchen auf Rhodos sieht er folgerichtig als Gefährdung der athenischen Interessen und schätzt einen Angriff gegen die Oligarchie infolgedessen als einen Präventivkrieg ein. Der demosthenische Gedankengang in Bezug auf Interventionen in Angelegenheiten eines unabhängigen Staates aufgrund seiner Verfassung weist auffällige Parallelen zu der modernen Theorie des gerechten Krieges auf, wonach die Veränderung des politischen Systems eines souveränen Staates in Richtung eines Exports der Demokratie der Kriegsrechtfertigung dienen kann.203 Zurecht betont der antike Scholiast, dass Demosthenes Argumente verwendet, die sowohl das δίκαιον als auch das συμφέρον in den Vordergrund rücken, wobei eher das συμφέρον den Krieg gegen die rhodische Oligarchie begründete.204 Denn die Legitimation des Krieges geht zwar von der Verteidigung der Demokratie und dadurch der gemeinsamen Freiheit und des Friedens aus, überzeugend wirkt die Kriegsrechtfertigung aber lediglich wegen der realpolitischen Auslegung des Nutzens für die eigene Polis. – Krieg gegen demokratische Staaten Bei seiner Unterscheidung der Kriege beschreibt Demosthenes die Kriegsziele, die sich auf einen πόλεμος gegen demokratische Poleis beziehen, in denen der Bestand der Demokratie nie in Gefahr war. Prinzipiell sollte kein Kriegszustand zwischen Demokratien herrschen, trotzdem werden gelegentlich Kriege gegeneinander geführt, damit agonale Ziele erreicht werden. Hierbei gibt uns der Rhetor eine zusammenfassende Übersicht der mit der attischen Geschichte verbundenen Kriegsgründe, nicht nur über die gegen Demokratien. Folgende Kriegsgründe werden vom Rhetor aufgezählt: ὑπὲρ τίνων οὖν ἐστίν πρὸς μὲν τοὺς δήμους ἢ περὶ τῶν ἰδίων ἐγκλημάτων, οὐ δυνηθέντων δημοσίᾳ διαλύσασθαι ταῦτα, ἢ περὶ γῆς μέρους ἢ ὅρων ἢ φιλονικίας ἢ τῆς ἡγεμονίας·205

Ἴδια ἐγκλήματα sind Klagen, die aufgrund der Verletzung der privatrechtlichen Individualsphäre oder einzelner Bevölkerungsgruppen entstehen. Können diese

201 202 203 204 205

Vgl. Demosth. 15,18. Vgl. Demosth. 15,19. Vgl. Walzer, Just and Unjust Wars 96–101; Hunt, War 91. Vgl. Schol. Demosth. 15,9 (Dilts). Vgl. Demosth. 15,17. 339

Streitigkeiten von den Staaten nicht selbst gelöst werden, so wird darum Krieg geführt. Es kann hier z. B. um Handelskonflikte gehen.206 Bei einem Kampf περὶ γῆς μέρους geht es um einen Streifen Land207 und es ist nicht eindeutig, welche Kriegspartei sich im Recht befindet. Es kann sich für beide entweder um einen Angriffs- oder um einen Verteidigungskrieg handeln und ist mit dem selbstverständlich berechtigten Kampf für die Verteidigung des vaterländischen Territoriums, περὶ χώρας, gegen einen Einfall nicht zu vergleichen.208 Bei den Grenzkonflikten bzw. Kriegen Athens περὶ ὅρων geht es um Auseinandersetzungen um die Ausdehnung des attischen Territoriums, wobei die Gerechtigkeit des Kampfes zumindest für die Athener nicht in Frage gestellt ist.209 Die φιλονικία verweist nicht auf einen materiellen, sondern eher auf einen geistigen Kriegsgrund hin. Der Wettkampf um den Vorrang210 zwischen zwei Staaten steht hier im Mittelpunkt. Damit verbunden ist auch die ἡγεμονία. Während sich die φιλονικία aber auf einen begrenzten Konflikt zwischen zwei Staaten beziehen kann, geht es bei der ἡγεμονία um die Vormachtstellung in ganz Griechenland. Der Anspruch auf die Führungsrolle in Hellas, worauf sich Demosthenes in der Folge immer wieder bezieht, gehört seit den Perserkriegen zum festen Selbstverständnis des demokratischen Athen und befremdet daher als Teil der Argumentation nicht, sondern unterstreicht diese.211 Während folglich ein Krieg Athens gegen eine Polis mit oligarchischer Verfassung durch die aus der Oligarchie hervorgehende Bedrohung der allgemeinen Freiheit demokratischer Poleis begründet wird, erfordert die Rechtfertigung eines Krieges gegen eine Polis demokratischer Verfassung meistens konkrete und legitime Kriegsgründe. Wenn aber Demosthenes zur gegenwärtigen Stellung Athens gegenüber Rhodos zurückkehrt, dann konzentriert er sich ausschließlich auf die Intention seiner Rede und hat folglich keine Skrupel, sich zynischer auszudrücken, indem er das Recht des Stärkeren in seine Argumentation mit einbezieht, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird.

206 Vgl. Radicke, Rhodier 115f. J. Radicke erwähnt als Beispiel dazu einen Fall aus der Mitte des 4. Jh., in dem Byzantier die Schiffe athenischer Reeder belästigten, die Korn vom Bosporanischen Königreich nach Athen transportierten. Athen sah sich gezwungen, seine Flotte zum Schutz der Schiffe an den Hellespont zu entsenden. 207 Hierzu ist in Bezug auf die athenischen Kriege an ein umstrittenes Landstück außerhalb Attikas zu denken, was z. B. der Fall bei den Konflikten Athens mit Olynthos und Kardia war. 208 Z. B. der Krieg gegen einen barbarischen Invasor ist ein gerechter Krieg unter anderem περὶ χώρας, so wie er in der Symmorienrede (vgl. Demosth. 14,32) dargestellt wird. 209 Zu der Zeit der Rhodierrede ist hier an den Konflikt Athens mit Theben um den Besitz von Oropos zu denken. Vgl. Radicke, Rhodier 116. 210 „Der Wettkampf um den Vorrang, im guten Sinne“ ist eine treffende Übersetzung des Begriffs. Vgl. Passow II.2 s. v. φιλονικία 2276f. 211 Vgl. Radicke, Rhodier 117. 340

2.3.3 Recht des Stärkeren Durch die bisherige Argumentation des Demosthenes wird deutlich, dass er darauf abzielt, die Hilfeleistung für die rhodischen Exildemokraten als gerecht darzustellen. Nun konzentriert er sich darauf, die Ansicht jener zu widerlegen, die eine athenische Intervention in Rhodos als einen Verstoß gegen die Autonomieklausel des Friedensvertrags von 355 ablehnten.212 In § 28 bezeichnet der Rhetor das vorgeschlagene Vorgehen ausdrücklich als δίκαιον, fügt aber hinzu, dass die Athener mit Gewalt vorgehen sollten, auch wenn diese Aktion ungerecht wäre.213 Dies behauptet er in Gegenüberstellung zu seinen Hinweisen auf die ungerechten Aktionen der Gegner Athens.214 Eine passive Haltung der Athener setzt er nicht mit Gerechtigkeit, sondern mit ἀνανδρία, also mit Feigheit, gleich und übt damit emotionalen Druck auf sein Auditorium aus.215 Das zwischenstaatliche Recht relativiert er durch die Realpolitik; fremde Rechtsbrüche legitimieren dabei den eigenen.216 Demosthenes begründet nicht in ethisch-philosophischer Hinsicht das vom Stärkeren geprägte Recht, sondern stellt dies als eine unausweichliche Tatsache dar. Daraus folgert er den Lehrsatz, dass alle Anspruch auf Rechte gemäß der eigenen Macht haben: ὁρῶ γὰρ ἅπαντας πρὸς τὴν παροῦσαν δύναμιν τῶν δικαίων ἀξιουμένους.217 Im Umgang der Staaten miteinander gilt also die Regel, dass einer Polis entsprechend ihrer vorhandenen Macht Rechtsansprüche

212 Vgl. Hunt, War 159. 213 Bereits der antike Scholiast fand Parallelen zwischen dieser demosthenischen Auffassung und der Wahrnehmung des Rechts in Bezug auf die athenische Außenpolitik bei der thukydideischen Mytilenäerdebatte im Athen des Jahres 427. Der Scholiast weist auf die Demegorie des athenischen Strategen Kleon hin; hierin wird die Todesstrafe der abgefallenen Mytilenäer zunächst durch die Berufung auf das δίκαιον, weiterhin aber unabhängig vom Gerechten, und zwar mit Berufung auf die Durchsetzung der athenischen Interessen, d. h. der aus der ἀρχή hervorgehenden athenischen Macht, gefordert. Vgl. Schol. Demosth. 15,12,18–26 (Dilts); Thuk. 3,40,4. 214 Vgl. Demosth. 15,26f. 215 Vgl. Demosth. 15,28. Dass nicht die δικαιοσύνη, sondern die ἀνανδρία das athenische Verhalten kennzeichnen würde, durfte als Argument gewaltige Wirkung haben, denn das ‚unmännliche Verhalten‘ galt zumindest im 5. und 4. Jh. als schwerer Vorwurf (vgl. Dover, Morality 100; Roisman, Masculinity 7–10. 113–116). J. Roisman untersucht das Argument der ἀνανδρία in den politischen Reden des Demosthenes und gelangt zur Schlussfolgerung: „When Demosthenes opposes war, he equates courage with rashness. But when he urges military action, he characterizes inaction as shameful and cowardly. He is able to accomplish this rhetorical feat because of the elasticity of the Athenian concept of masculine courage“; Roisman, Masculinity 116. 216 Vgl. Radicke, Rhodier 149. 217 Demosth. 15,28. 341

von den anderen Staaten eingeräumt werden.218 Somit beurteilt Demosthenes nicht juristisch, sondern moralisch die bestehenden zwischenstaatlichen Verträge, indem er behauptet, dass diese ohnehin von den Mächtigeren geprägt werden.219 Er führt als Beispiel den Kallias- und den Königsfrieden an, von denen der erste – von den Athenern durchgesetzt – die Gerechtigkeit und der zweite – vom Perserkönig diktiert – das Faustrecht symbolisiere.220 Das νόμιμον der Verträge identifiziert sich somit nicht unbedingt mit dem δίκαιον. Den Friedenschluss von 355 kann Demosthenes dadurch als einen durch den Perserkönig geprägten Vertrag moralisch herabstufen.221 Interessant ist, dass Demosthenes das vom Stärkeren definierte Recht als Grundlage für die außenpolitischen Beziehungen akzeptiert, nicht aber für die innenpolitischen Angelegenheiten, die durch klare und unanfechtbare Gesetze geregelt sind.222 Somit nimmt er Stellung für die athenische Intervention in Rhodos und damit für ein Vorgehen gegen die Autonomieklausel des Friedensvertrags von 355, nicht nur aufgrund des Hilfegesuches der rhodischen Demokraten, auch nicht nur wegen des früheren Rechtsbruchs des karischen Satrapen, sondern besonders weil die Beziehungen zwischen den hellenischen Staaten ohnehin als Basis das vom Stärkeren bestimmte Recht haben: τῶν δ‘ ῾Ελληνικῶν δικαίων οἱ κρατοῦντες ὁρισταὶ τοῖς ἥττοσι γίγνονται.223 Demosthenes knüpft hierbei zum Teil an Gedanken an, die bereits Thukydides in Bezug auf das außenpolitische Handeln Athens geäußert hatte, in dem er als höchstes Ziel nicht die Beibehaltung des Rechts, sondern den Nutzen für die Polis sieht; auf diese Art und Weise argumentiert der Athener Diodotos in der Mytilenäer­ debatte im thukydideischen Geschichtswerk.224 Die Ansichten des Demosthenes 218 Vgl. Radicke, Rhodier 151. 219 Vgl. Hunt, War 160. 220 Vgl. Demosth. 15,29. Konkret wird der Kalliasfrieden von 449, der den griechischen Städten Kleinasiens Autonomie zusicherte, als Gegenpart zum Königsfrieden von 387/6 dargestellt, der das kleinasiatische Festland zum persischen Territorium erklärte (vgl. dazu Radicke, Rhodier 153). 221 Der Druck des Perserkönigs hatte am Ende des Bundesgenossenkrieges eine entscheidende Rolle gespielt, damit sich die Athener zum Frieden bereit erklären; s. hier S. 303–304. 222 Vgl. Demosth. 15,29; Usher, Greek Oratory 214; Low, Interstate Relations 163f. 223 Demosth. 15,29. 224 Diodotos fordert bei seiner Antwort auf die Demegorie Kleons, dass nicht nach den entsprechenden Rechtsgründen, sondern nach den Interessen Athens gehandelt wird; die vom Attischen Seebund abgefallenen Mytilenäer sollten demzufolge – wider einen früheren Volksbeschluss und eine erneute Forderung Kleons – nicht durch Hinrichtung der männlichen Bürger und Versklavung der Frauen und Kinder bestraft werden (vgl. Thuk. 3,44,4). Es handelt sich hier um eine zynische Befürwortung der athenischen Machtpolitik, obgleich Diodotos eine friedliebende Haltung anrät. Entscheidend wirkt für ihn, dass ein solches Vorgehen gegen die Mytilenäer an die anderen Bundesgenossen Athens ein falsches Signal senden 342

weisen allerdings einen signifikanten Unterschied zur Auffassung über das Recht des Stärkeren auf, so wie es Thukydides in Bezug auf die zwischenstaatlichen Beziehungen im Melierdialog aufzeichnet und Platon aus philosophisch-anthropologischer Sicht in seinem Werk präsentiert:225 Während Thukydides und Platon in der Tat von der willkürlichen Durchsetzung meistens des Unrechts des Stärkeren sprechen, berichtet Demosthenes lediglich von der gebotenen Ausprägung des Rechts durch den Stärkeren; nach ihm existiert Gerechtigkeit in den zwischenstaatlichen Beziehungen, sie nimmt allerdings eine Form an, in der der mächtigste Staat davon profitiert.226 Wenn der Stärkere Athen ist, dann zweifelt Demosthenes nicht an den gerechten Absichten der Polis, was sogar vertragswidriges Vorgehen moralisch legitimiert. Athen sollte zur Zeit der Rhodierrede als die mächtigste Polis die Initiative übernehmen, um die außenpolitischen Verhältnisse in Hellas entscheidend zu prägen. Dies ist eng mit dem Anspruch Athens auf die Hegemonie verbunden. Der Rhetor sieht zweifelsohne in Athen die mächtige Polis schlechthin, die ihren Willen in Hellas durchsetzt, indem sie das sozialethisch Gerechte im Auge behält. Auch wenn die Athener sich nicht ohne Weiteres an die Verträge halten, sollten sie in Hellas als κοινοὶ προστάται τῆς πάντων ἐλευθερίας227 wirken. In diesem Sinne wird die Verteidigung des Gerechten, welches mit den athenischen Interessen verbunden ist, höher als das νόμιμον der Verträge gesetzt.228

2.3.4 Fazit Demosthenes sieht im Hilfegesuch der rhodischen Exildemokraten eine passende Gelegenheit für Athen, mit dem Versuch der Wiedererrichtung der attischen Hegemonie nach dem Bundesgenossenkrieg neu zu beginnen. Ein Eingreifen in Rhodos

225

226 227 228

würde; dies würde das Verhältnis zu ihnen verschlechtern und somit die außenpolitische Lage der Polis negativ beeinflussen. Zur Diskussion in der Forschung über Diodotos’ Haltung vgl. Schmitz, The Mytilene Debate in Thucydides, in: Pausch, Stimmen der Geschichte. Funktionen von Reden in der antiken Historiographie 45–65, bes. 53–56. Im thukydideischen Melierdialog (zu seinem historischen Rahmen s. hier S. 281f.) behaupten die Athener, das Gerechte käme nur unter gleichwertigen Mächten zur Geltung, andernfalls setzten die Mächtigeren ihren Willen gegen die Schwächeren durch: Thuk. 5,89: τὰ δυνατὰ δ‘ ἐξ ὧν ἑκάτεροι ἀληθῶς φρονοῦμεν διαπράσσεσθαι, ἐπισταμένους πρὸς εἰδότας ὅτι δίκαια μὲν ἐν τῷ ἀνθρωπείῳ λόγῳ ἀπὸ τῆς ἴσης ἀνάγκης κρίνεται, δυνατὰ δὲ οἱ προύχοντες πράσσουσι καὶ οἱ ἀσθενεῖς ξυγχωροῦσιν. Platon betrachtete die Durchsetzung des Rechts bzw. Unrechts des Stärkeren als einen naturgemäßen Vorgang (vgl. Plat. Gorg. 483c-d; rep. 1,338c). P. Low (Interstate Relations 163) notiert treffend dazu: „Demosthenes is not suggesting here that power makes justice irrelevant to interstate relations: justice exists, but it is defined by the powerful.“. Vgl. auch Yatromanolaki, Λόγοι 184. Demosth. 15,30. Vgl. Yatromanolaki, Λόγοι 175. 343

würde für Athen zum einen die Rolle der Vormacht in der Ägäis unterstreichen und zum anderen die Voraussetzungen für die Neuaufnahme eines alten wichtigen Bundesgenossen im Zweiten Attischen Seebund schaffen. Deswegen versucht der Redner mit unterschiedlichen Argumenten eine Intervention Athens in Rhodos zu rechtfertigen. Erstens stellt Demosthenes die Aktion als einen Befreiungskrieg gegen die karischen Besatzer der Insel dar. Dies ist in zweierlei Hinsicht wichtig: Moralisch ist eine Hilfeleistung für Unrecht Leidende Hellenen gegen Barbaren geboten; juristisch legitimiert der Rechtsbruch der karischen Satrapie die Verletzung der Autonomieklausel des Vertrags von 355 zwischen Athen und seinen Gegnern im Bundesgenossenkrieg. Dies soll auch die Durchführbarkeit, also das δυνατόν des Krieges, beweisen, da der Perserkönig keinen berechtigten Kriegsgrund hätte, sich militärisch gegen Athen zu wenden und dies folglich auch nicht versuchen würde. Demosthenes kann allerdings dieses letzte Argument nicht überzeugend begründen. Dasselbe gilt auch in Bezug auf seine Auffassung, dass der Krieg erfolgreich sein wird, weil die Athener den Barbaren traditionell militärisch überlegen seien. Zweitens rechtfertigt Demosthenes die Hilfeleistung für Rhodos aufgrund der Verfassungssolidarität. Ein Krieg für die Restauration der demokratischen Verfassung in Rhodos wird als ein Krieg für die Demokratie und die Freiheit aller hellenischen Poleis präsentiert. Hier spricht Demosthenes die demokratischen Gefühle und die Furcht der Athener vor einer Änderung ihrer Verfassung und deren Konsequenzen für die Polis an. Der gerechte Krieg erscheint als ein Präventivkrieg. Besonders wichtig ist allerdings, dass der Rhetor Athen als die Vormacht an der Spitze eines Bündnisses demokratischer Poleis versteht. Athen soll seine Einflusssphäre sichern und seine Rolle als gerecht handelnder Hegemon, der die Freiheit aller Hellenen garantiert, wahrnehmen. Durch die Hilfe für Rhodos soll in der hellenischen Welt die Beschützerrolle Athens und sein erneuter Anspruch auf die Hegemonie propagiert werden. Drittens spricht der Rhetor das Recht des Mächtigen an und fordert Athen auf, das zwischenstaatliche Recht als Großmacht selbst zu definieren. Die Athener durften gegen die zwischenstaatlichen Verträge handeln, solange dies alle anderen auch tun. Der Unterschied ist, dass die Athener auf das sozialethisch Gerechte achten, sodass ihre Handlung moralisch legitimiert ist. Das Gerechte wird somit mit dem Nutzen verbunden und kann das geschriebene, zwischenstaatliche Recht außer Kraft setzen. Die Intervention in Rhodos wird somit als Verteidigung des Gerechten durch die unausweichliche Durchsetzung des Rechts des Stärkeren dargestellt. Es fällt auf, dass Demosthenes nicht unmittelbar auf den Nutzen hinweist, den Athen außenpolitisch für sich gewinnen würde, wenn in Rhodos die Demokraten an die Macht kämen. Er zieht es vor, die Intervention in Rhodos als einen Krieg, der mit Bezug auf den ethischen, politischen, juristischen, militärischen und machtpolitischen Aspekt zu rechtfertigen ist, darzustellen. Seine Gedanken erscheinen

344

mal als allzu populistisch, mal als nicht hinreichend überzeugend.229 Es überrascht nicht, dass sein Vorschlag ohne Erfolg und Rhodos weiterhin unter karischem Einfluss blieb.230 Trotz der Argumentation des Demosthenes hätte ein Eingreifen eine Rechtsverletzung dargestellt und die Gefahr eines Perserkrieges oder im besten Fall die Verschlechterung des Verhältnisses zum Perserkönig mit sich gebracht. Weiterhin können handelspolitische Gründe, besonders die Kontrolle über den bisher durch Rhodos kontrollierten ägyptischen Markt, die Entscheidung der athenischen Ekklesia beeinflusst haben. Denn die weiterhin bestehenden turbulenten politischen Umstände der Insel hätten Athen die Gelegenheit gegeben, den ägyptischen Markt für sich zu gewinnen.231 Es ist ferner fraglich, ob eine athenische Intervention zu dieser Zeit überhaupt durchführbar gewesen wäre, da sich Athen von der finanziell und militärisch schwierigen Lage am Ende des Bundesgenossenkrieges nur langsam zu erholen begann. Darüber hinaus war Demosthenes immer noch am Anfang seiner Laufbahn und als Politiker noch ohne Einfluss.232

2.4 Die hellenischen Demegorien: Ausblick Die ersten drei hellenischen Demegorien des Demosthenes haben die athenische Außenpolitik hinsichtlich der Kriegsfragen nicht beeinflusst. Trotzdem lässt sich in ihnen bereits ein klares politisches Denken des Verfassers erkennen. An die Stelle der idealistischen Vorstellungen früherer Rhetoren tritt die demosthenische Realpolitik. Kennzeichnend für die politische Argumentation des Demosthenes ist der Utilitarismus. Der Krieg als solcher wird von ihm nicht nur unter ethischen Gesichtspunkten bewertet, obgleich er sich in einigen Fällen auf moralische Kriegsgründe beruft. Der Krieg wird meistens anhand des Nutzens für die Polis untersucht. Auffällig ist, dass Demosthenes im Gegensatz zur Argumentation der Historiker Herodot und Thukydides, welche sich zur Kriegsrechtfertigung ständig auf völkerrechtliche Gewohnheiten bzw. Satzungen beziehen, den systematischen Rückgriff auf rechtliche Normen bzw. zwischenstaatliche Verträge meidet. Als gelernter Advokat weiß Demosthenes aber den Nutzen mit dem Gerechten – wenn er es für nötig hält – meisterhaft zu verbinden. Jede athenische Handlungsweise lässt sich von ihm legitimieren. Wenn Athen in einem Krieg gegen die zwischenstaatlichen Verträge verstößt, dann zögert Demosthenes nicht, das zwischenstaatliche Recht durch das ungeschriebene Recht oder das Gerechte im sozialethischen Sinne zu ersetzen. In der Symmorienrede lehnt er den Krieg gegen das Perserreich ab, aber nur, weil dieser nach seinen Erkenntnissen nicht durchführbar ist. In der Megalopolitenrede setzt er sich für den Krieg gegen Sparta ein, damit Athen sich entsprechend einer neuen Bündnispolitik orientiert und somit innerhalb 229 Vgl. Karvounis, Demegorien 205. 230 Vgl. Demosth. 5,25. Über die schlechten Beziehungen zwischen Athen und Rhodos in den nächsten Jahren vgl. Theopomp. FGrHist 115 F 164. 231 Vgl. Opitz, Das Bild Philipps 94 mit 318 Anm. 3. 232 Vgl. Radicke, Rhodier 53f.; Karvounis, Demegorien 218f. 345

der hellenischen Mächtekonstellation besser positioniert ist. In der Rhodierrede befürwortet er den Krieg gegen die rhodische Oligarchie und denkt zugleich an die machtpolitischen Interessen Athens in einem erneuerten Seebund. Wenn Demosthenes selbst vom Nutzen eines Krieges überzeugt ist, dann versucht er sein Auditorium durch ein rein sophistisches Vorgehen zusätzlich von der Gerechtigkeit des Krieges zu überzeugen. Auch wenn er die wahlberechtigten Bürger Athens als politischer Neuling nicht zum Handeln zu bewegen vermag, legt er bereits die Grundlage für seine spätere einflussreiche politische Tätigkeit.

3. Die I. Philippische und die drei Olynthischen Reden 3.1 Athen und Philipp von 359 bis 351 und die I. Philippika Eine Schlüsselrolle in der Beziehung der Athener zum Makedonenkönig Philipp II. spielte zunächst die Kontrolle über die Stadt Amphipolis. Diese hatte eine strategisch vorteilhafte Lage, denn sie lag an der Küste von Makedonien und zwar an der Strymonmündung. Infolgedessen war sie der wichtigste Hafen für den Handel mit dem Binnenland und für den Zugang zum Bergwerksgebiet am Pangaion, das reich an Gold- und Silberminen war. Zudem war Amphipolis durch die Holz- und Teervorkommen in seiner Umgebung in wirtschaftlicher Hinsicht von großer Bedeutung.233 Amphipolis war athenische Kolonie seit 437, wobei es rechtlich ein eigenes Gemeinwesen bildete.234 Athen verlor allerdings die Kontrolle über diese Stadt während des Peloponnesischen Krieges im Jahr 424/3 an Sparta.235 Seitdem versuchte Athen Amphipolis in seinen Machtbereich wiedereinzugliedern, dieses behauptete allerdings seine Autonomie.236 In den 360er Jahren operierten athenische Streitkräfte mehrmals im Großraum der nördlichen Ägäis, um die wirtschaftlichen und militärischen Interessen Athens zu fördern. Seit 368 unternahm der athenische Stratege Iphikrates Feldzüge auf der thrakischen Chersones und gegen Amphipolis. Da er aber wenig Erfolg hatte, wurde er durch Timotheos abgelöst. Bei diesen Operationen gegen Amphipolis kämpfte zumindest zeitweise der Makedonenkönig Perdikkas III. im Bunde mit Amphipolis gegen Athen.237 Timotheos konnte trotz einiger Erfolge, wozu die Einnahme von Poteidaia, Methone, Pydna und Torone gehörten,238 seine wichtigsten Ziele, nämlich die Einnahme von Amphipolis und Olynthos, nicht 233 Vgl. Errington, DNP 1 (1996) s. v. Amphipolis 616; Treister, The Role of Metals in Ancient Greek History 136ff. 185f. Über die strategische Lage und die Bedeutung von Amphipolis vgl. auch Thuk. 4,102. 108; Liv. 45,30,3. 234 Vgl. Welwei, Athen 114. 235 Vgl. Thuk. 5,7–10. 236 Trotz der Tatsache, dass Amphipolis im Frieden von 421 Athen zugesprochen wurde. Vgl. Thuk. 5,18,5; Errington, DNP 1 (1996) s. v. Amphipolis 616. 237 Vgl. Aischin. 2,29; Demosth. 2,14; Welwei, Athen 422 Anm. 178. 238 Vgl. Demosth. 4,4; Deinarch. 1,14. Zur Einnahme von Torone vgl. Diod. 15,81,6. 346

erreichen.239 Im Sommer 362 schloss Perdikkas erneut ein Bündnis mit Amphipolis und stationierte dort eine Garnison, sodass die Chancen der Athener, diese Polis wiederzugewinnen, erheblich sanken.240 Perdikkas fiel jedoch 360/59 im Kampf gegen die Illyrer. Das Verhältnis Athens zum Thronfolger Philipp II.241 war von Anfang an schwierig. Die Athener hatten nach dem Tod des Perdikkas einen anderen Angehörigen des Königshauses, Argaios242, in der Nachfolgefrage unterstützt. Dieser unterlag jedoch den Truppen Philipps.243 Nachdem Philipp 359 zum König gekrönt wurde,244 hofften die Athener, die Stadt Amphipolis für sich zu gewinnen. Philipp zog zunächst die makedonische Besatzung aus der Stadt zurück und schloss vermutlich noch im Jahr 359 einen Friedensvertrag mit Athen. Angeblich versprach er in einer geheimen Zusatzklausel, Amphipolis zu erobern und es im Austausch gegen die südmakedonische Stadt Pydna, die ihm den Weg zum Meer eröffnen sollte, den Athenern zu übergeben.245 Die offene Auseinandersetzung Philipps mit Athen fing im Jahr 357 an, nachdem der Makedonenkönig Amphipolis überfiel,246 wobei er sich den Athenern gegenüber dadurch rechtfertigte, dass er die Stadt für sie zu erobern beabsichtigte.247 Nach der Eroberung der Stadt behielt Philipp sie allerdings in seinem Besitz. Das war

239 Vgl. Demosth. 23,149f. 240 Vgl. Aischin. 2,29; Welwei, Athen 293 mit 422 Anm. 178. 241 Perdikkas hinterließ einen minderjährigen Sohn namens Amyntas (vgl. Diod. 16,2,4f.; Griffith, in: Hammond/Griffith, Macedonia II, 233–240). Philipp II. übernahm unter dem Königstitel die Vormundschaft für den minderjährigen Amyntas, gab aber später den Thron nicht auf (vgl. Badian, DNP 1 [1996] s. v. Amyntas [4] 636). 242 Argaios vertrieb im Jahr 383 den Herrscher Amyntas III. und wurde makedonischer König. Zwei Jahre später wurde er von Amyntas III. vertrieben. Im Jahr 359 trat er wieder als Prätendent auf. Vgl. Kaerst, RE II,1 (1895) s. v. Argaios [6] 685; Heskel, Philipp II and Argaios, in: Wallace/Harris, Transitions 37–56. 243 Vgl. Demosth. 23,121; Diod. 16,2,4ff.; Theopomp. FGrHist 115 F 29; Heskel, Philipp II and Argaios, in: Wallace/Harris, Transitions 37–56. 244 In der Übertragung der Königswürde an Philipp II. im Jahr 359 sind sich die meisten Forscher einig. Vgl. Le Rider, Le monnayage d’argent et d’or de Philippe II frappé en Macédoine de 359 à 294; Ellis, JHS 91 (1971) 15–24; Griffith, in: Hammond/Griffith, Macedonia II, 208f. und 702ff.; Hatzopoulos, The Oliveni Inscription and the Dates of Philip II’s Reign, in: Adams/Borza, Philip II, Alexander the Great, and the Macedonian Heritage 21–42. 245 Vgl. StV II² 298; Demosth. 2,6; Theopomp. FGrHist 115 F 30; Welwei, Athen 294 und 424 Anm. 219. Es bleibt immerhin umstritten, ob in der Tat Pydna gegen Amphipolis getauscht werden sollte, oder ob das geheime Versprechen über die Übergabe der Stadt Amphipolis an Athen in Zusammenhang mit einem anderen Plan Philipps stand. Vgl. Croix, CQ 13 (1963) 110–119. 246 Vgl. Diod. 16,8,2. 247 Vgl. Demosth. 2,6f.; Theopomp. FGrHist 115 F 30; Bengtson, GG 311. 347

nicht nur aus Prestigegründen ein schwerer Verlust für Athen, denn es musste auf seine strategisch und wirtschaftlich wichtigste Tochterstadt in Nordgriechenland verzichten.248 Festzuhalten bleibt, dass die Athener Pydna in ihrem Besitz behielten, es nicht gegen den Besitz von Amphipolis austauschten, wie es vermutlich in der geheimen Zusatzvereinbarung festgehalten war.249 Daher bemächtigte sich Philipp militärisch der Stadt Pydna (357/6).250 Nach diesen Vorgängen erklärte Athen Philipp den Krieg und beide Mächte befanden sich somit in den nächsten Jahren zumindest theoretisch im Kriegszustand miteinander.251 In der Tat hatte allerdings bis zur Zeit der I. Philippischen Rede des Demosthenes im Jahr 351/0 – und auch in den Jahren danach – keine direkte militärische Auseinandersetzung zwischen Athen und dem makedonischen Königreich stattgefunden. Philipp hatte jedoch bis 351 eine Reihe von erfolgreichen Feldzügen außerhalb und innerhalb des hellenischen Raums unternommen, sodass er seine Machtposition auch in Regionen athenischen Interesses gestärkt hatte und nun Anspruch auf die Vorherrschaft in Hellas erheben konnte.252 Aktionen, wie die Einnahme der sich in athenischem Besitz befindenden Städte Poteidaia und Methone, deuten darauf hin,253 dass Philipp beabsichtigte, nicht nur Herr der makedonischen Küste zu werden, sondern auch alle Stützpunkte der Athener, die bei dem Versuch, Amphipolis wieder zu gewinnen, hilfreich wären, zu eliminieren.254 Überdies hatten die letzten Erfolge Philipps in Thrakien255 und sein 248 Zum Bedauern der Athener wegen des Verlustes von Amphipolis vgl. Demosth. 1,8; 2,6; [Demosth.] 7,27f. Zur wirtschaftlichen Bedeutung von Amphipolis für Athen bzw. Philipp wegen des Imports von Schiffsbauholz aus Thrakien vgl. Welwei, Athen 299; dazu auch Samotta, Demosthenes 40. 249 Die Gründe dafür sind unklar. K. J. Beloch (GG III.1, 230) notiert, dass Athen „entweder nicht imstande, oder überhaupt nicht willens“ war, Pydna dem Makedonenkönig auszuliefern. Vgl. dazu hier S. 347. 359–361. 250 Vgl. Demosth. 1,5; Diod. 16,8,3; Bengtson, GG 311. 251 Vgl. Demosth. or. 4 passim; 5,14; Aischin. 2,21. 70. 72; 3,54; Isokr. 5,2. 252 Philipp hatte von 358 bis 355 nördlich von Makedonien die Paionen unterworfen, nordwestlich die Illyrier in zwei Feldzügen besiegt, intervenierte in Thessalien und bildete dort Symmachiebündnisse mit Larisa und Pherai, eroberte die Küstenstädte Amphipolis, Pydna und Poteidaia, unternahm einen Vorstoß in Thrakien und konnte dadurch 354 Methone einnehmen. Nach 354 intervenierte er entscheidend im Dritten Heiligen Krieg zunächst gegen die Tyrannen von Pherai und ihre Verbündeten, die Phoker. Danach unternahm er eine Expedition nach Thrakien und bei seinem Rückweg einen Streifzug in die Chalkidike, um das Athen zuneigende Olynthos zu warnen. Zur ausführlichen Darstellung dieser Ereignisse mit den Quellenbelegen vgl. Griffith, in: Hammond/Griffith, Macedonia II, 216–295. 253 Vgl. dazu hier S. 361–363. 254 Vgl. Griffith, in: Hammond/Griffith, Macedonia II, 242. 255 Die Thraker an der Nordküste des ägäischen Meeres waren von jeher brauchbare Hilfskräfte für Athen im Krieg; im Frieden war ihr Land wichtig für den attischen Handel. Darüber hinaus hing für Athen die Zufuhr des Getreides aus dem Schwarzen Meer und damit die gesamte Ernährung der Bevölkerung vom 348

Vordringen nach Zentralgriechenland durch seine Teilnahme am Dritten Heiligen Krieg, in dem die Phoker gegen die Thebaner um die Schätze des delphischen Heiligtums kämpften,256 ausreichend Wirkung auf die öffentliche Meinung in Athen hinterlassen, sodass die Diskussion über einen Krieg gegen Philipp im Jahr 351/0 auf der Tagesordnung der Ekklesia stand.257 Zu dieser Zeit hielt Demosthenes, der bereits ein Jahr zuvor als Logograph der Gerichtsrede Gegen Aristokrates Philipp aufgrund seiner expansiven Politik als den größten Feind Athens bezeichnet hatte,258 seine I. Philippische Rede (351/0)259 und erkannte frühzeitig den Aufstieg Makedoniens zu einer ernst zu nehmenden

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Besitz der thrakischen Chersones ab. Die unausgesetzten Thronstreitigkeiten der thrakischen Fürsten machten es Athen leicht, durch gelegentliche Interventionen im Norden seine Vormachtstellung zu bewahren. (vgl. Jaeger, Demosthenes 101f.; Karvounis, Demegorien 55f. mit Belegen). Die Gelegenheit zum Eingriff in den Dritten Heiligen Krieg (356–346) bot sich für Philipp, als der Krieg auf Thessalien übergriff. Der phokische Stratege Onomarchos schloss im Jahr 354 ein Bündnis mit den Tyrannen von Pherai gegen die übrigen Thessaler (vgl. Diod. 16,35,1; Wirth, Philipp II., Geschichte Makedoniens I, 48). Diese richteten einen Hilferuf an den Makedonenkönig, dem dieser im Sommer 354 nachkam (vgl. Diod. 16,35,1; Iust. 8,2,1; Buckler, Sacred War 64f). Im Rahmen des Krieges unterstützte Philipp auch Theben, das traditionell ein Gegengewicht zu Athen bildete und daher wichtig für Philipps Pläne war. Er sicherte dem thebanischen Feldherrn Pammenes zunächst die moralische Unterstützung zugunsten Thebens bei der Verteidigung von Delphi zu. Eher unwahrscheinlich ist es aber, dass es zu diesem Zeitpunkt zu einem formellen Bündnis zwischen Theben und Makedonien gekommen ist (vgl. Buckler, Sacred War 52 mit Belegen). Die Thessaler wählten Philipp 352 zu ihrem Regenten, d. h. zum ‚Archon’ ihres Bundes, auf Lebenszeit. Dadurch gewann der Makedonenkönig das Oberkommando über die thessalische Armee und die Kontrolle über die thessalischen Einkommen. In dieser Hinsicht wurde seine Macht in Mittelgriechenland deutlich ausgebaut (vgl. Iust. 11,3,2; Griffith, in: Hammond/Griffith, Macedonia II, 220f.; Buckley, Aspects 351; Ellis, CAH VI, 764; Worthington, Philip II of Macedonia 65). Im selben Jahr gelang Philipp und den Thessalern ein vollständiger und entscheidender Sieg auf dem Krokosfeld in Südthessalien über die Streitmächte von Phokis und Pherai (vgl. Diod. 16,35,3–6). Im Anschluss an diese Niederlage erfolgte die Kapitulation von Pherai (vgl. Diod. 16,37,3; Beloch, GG III.2, 270). Vgl. Galenos, in: Weil/Γαληνός, Δημοσθένους λόγοι Ι, 78. Demosth. 23,121: ἀλλ’ ὁ μάλιστα δοκῶν νῦν ἡμῖν ἐχθρὸς εἶναι Φίλιππος οὑτοσί […]. Die Rede ist jedenfalls vor den Angriff gegen Olynthos zu datieren. J.R. Ellis setzt die Rede auf den Januar 350, G.W. Griffith dagegen ins Frühjahr 351 und Ch. Karvounis zwischen Herbst 351 und Winter 351/0. Vgl. Ellis, REG 79 (1966) 636–639; Griffith, in: Hammond/Griffith, Macedonia II, 297; Karvounis, Demegorien 223–232. 349

Großmacht.260 In dieser Rede prangert er die Nachlässigkeit der Athener an261 und stellt Philipps Aggressivität, Macht und taktisches Geschick sowie seine weiteren Stärken und Schwächen dar (§§ 6f. 38–44). Er fordert die Athener zu energischen Kriegsaktionen gegen Philipp auf und präsentiert einen zweifachen Plan: Erstens sollten 50 Trieren ausgerüstet werden, die dazu dienen sollten, Philipps unerwartete Überfälle, z. B. auf die Thermopylen, auf die Chersones, wie auf Olynthos, zu verhindern (§§ 16ff.). Zweitens sollte fortlaufend eine effiziente Streitmacht zur Verfügung stehen, die einen permanenten Guerillakrieg gegen Philipp in Makedonien führen und so seine Kräfte zersplittern sollte (§§ 19–23). Der Plan des Demosthenes wurde von der Ekklesia nicht angenommen. Die Athener fühlten sich durch Philipp immer noch nicht so bedroht, dass sie sich gezwungen sahen, aufwendige Maßnahmen zu ergreifen. Demzufolge kann die I. Philippische Rede vom Ergebnis her für Demosthenes als ein enttäuschender Misserfolg gelten.262

3.2 Der Kampf um Olynthos und die Olynthischen Reden Zwei Jahre danach griff Demosthenes erneut in die athenische Politik ein. Diesmal war Gegenstand seiner Demegorien der Krieg zwischen Philipp, dem Chalkidischen Bund und dessen mächtigster Polis Olynthos. Aufgrund von Hilfegesuchen der Olynthier an Athen trug Demosthenes in den Jahren von 349 bis 348 vor der Ekklesia seine drei Olynthischen Reden vor, in denen er für die Entsendung athenischer Hilfstruppen auf die Chalkidike argumentierte. Olynthos war eine griechische Polis im westlichen Teil der chalkidischen Halbinsel und lag auf den zwei länglichen Hügeln am Ostufer des Vatuniaflusses.263 Im Jahr 357/6 schloss der Chalkidische Bund, dessen Hegemonialmacht eindeutig Olynthos darstellte, ein Bündnis mit Philipp, gegen den sich zu dieser Zeit die Illyrer, Thraker und Athener vereinigt hatten. Dem Vertrag gemäß erhielt der Chalkidische Bund durch Philipp das vielbegehrte Poteidaia und das Gebiet um Anthemus.264 In den folgenden Jahren gab es enge, hauptsächlich wirtschaftliche Beziehungen zwischen Olynthos und Makedonien. Als aber Olynthos im Jahr 352 einen Sonderfrieden mit Athen schloss, der de iure gegen den Vertrag mit Philipp verstieß, änderte sich die

260 Vgl. Opitz, Das Bild Philipps 125. 261 Während des Thrakienzuges im Herbst 352 erkrankte Philipp und ein Gerücht verbreitete sich in Athen, dass er tot sei (vgl. Demosth. 4,17; 1,13). Die Athener sahen keinen Grund mehr, kostenaufwendige militärische Aktionen im Norden zu unterstützen. Aus diesem Grund entsandten sie im Jahr 351 den Strategen Charidemos mit einer sehr geringen Ausstattung auf die Chersones (vgl. Demosth. 3,26). 262 Vgl. Jaeger, Demosthenes 126. 263 Vgl. Zahrnt, DNP 8 (2000) s. v. Olynthos 1194ff. 264 Vgl. StV II² 308; Allianz der Illyrer, Thraker und Athener gegen Makedonien: StV II² 309. 350

Situation.265 Als Reaktion darauf fiel Philipp bereits 352 in chalkidisches Gebiet ein, um seine Macht zu demonstrieren. Daraufhin verhandelten chalkidische Gesandte 351/0 mit Philipp, ohne einen bleibenden Erfolg zu erzielen.266 Außer dem Friedensvertrag der Olynthier mit Athen hatte Philipp noch einen weiteren Anlass zur Invasion gegen die Chalkidike, nachdem zwei seiner Halbbrüder, die er als Thronrivalen und Bedrohung seiner Herrschaft betrachtete, nach Olynthos flüchteten und dort Schutz fanden.267 Philipp sandte im Sommer 349 ein Ultimatum an den Chalkidischen Bund und verlangte die bedingungslose Auslieferung seiner Halbbrüder.268 Die Forderung des Makedonenkönigs war juristisch nicht unbegründet, denn er war mit dem Chalkidischen Bund verbündet, während seine Halbbrüder angesichts der nicht selten vorkommenden Herrschaftsusurpationen am makedonischen Hof die Rolle des Feindes des legitimen Königs einnahmen. Philipp konnte demzufolge das Verhalten der Olynthier als vertragswidriges Handeln und Einmischung in die inneren Angelegenheiten seines Staates werten.269 In der Tat war seine Forderung allerdings eher ein Vorwand, die so wichtige chalkidische Stadt unter seine Kontrolle zu bringen, um die Gefahr, die aus ihr als Gegenspielerin Makedoniens hervorging, zu eliminieren.270 Ende Sommer oder spätestens Anfang Herbst 349 zog Philipp gegen die Chalkidier zu Felde.271 Gleich zu Beginn des Krieges schickten die Olynthier eine Gesandtschaft nach Athen, um eine Symmachie abzuschließen. An der darauf folgenden 265 Demosth. 3,7; StV II² 317; Beck, Polis und Koinon 158. Der Vertrag zwischen Philipp und Olynthos von 357/6 bestimmte, dass beide Staaten nur gemeinsam Frieden mit Athen schließen durften. 266 Vgl. Theopomp. FGrHist 115 F 127. 267 Es handelt sich um Menelaos und Arrhidaios, die Makedonien vermutlich in der Zeit nach 352 verlassen hatten und Zuflucht in Olynthos fanden. Den älteren Halbbruder Archelaos hatte Philipp bereits ermordet (vgl. Iust. 8,3,10; 7,4,5; dazu Ellis, Historia 22 [1973] 350–354, bes. 353f). Griffith setzt die Flucht der Halbbrüder Philipps nach Olynthos ins Jahr 349, und zwar kurz vor Philipps Ultimatum im Sommer dieses Jahres (vgl. Griffith, in: Hammond/Griffith, Macedonia II, 315). 268 Vgl. Iust. 8,3,10. 269 Davon ausgehend wird teilweise in der Forschung die Kriegsschuld den Olynthiern zugerechnet. Vgl. Griffith, in: Hammond/Griffith, Macedonia II, 315; Worthington, Philip II of Macedonia 74. 270 Bereits der antike Scholiast bezeichnete den angeblichen Kriegsgrund Philipps als Vorwand, πρόφασις (vgl. Schol. Demosth. 1,36b [Dilts]); vgl. auch Bengtson, GG 316; Bengtson, Demosthenes, in: ders., Staatsmänner 272–304, bes. 286; Borza, Shadow of Olympus 217; Auch in der neuen Forschung überwiegt die Deutung des Ultimatums als Vorwand (vgl. Samotta, Demosthenes 49). Als πρόφασις bezeichnete auf der anderen Seite Libanios in seiner Hypothesis der I. Olynthika die Berufung Philipps auf den Abschluss des Friedensvertrags zwischen Athen und dem Chalkidischem Bund im Jahr 352. Vgl. Lib. Arg. D. 1, 2f. 271 Vgl. Diod. 16,52,9; Philoch. FGrHist 328 F 49; Zahrnt, Olynth 110; Hammond, Philipp of Macedon 61. 351

Diskussion in der athenischen Ekklesia nahm Demosthenes mit seiner I. Olynthischen Rede teil. Er sprach sich für eine Symmachie aus, indem er die Athener zu überreden versuchte, eine Hilfsexpedition sofort nach Olynthos zu schicken und somit energisch den Krieg gegen den Makedonenkönig zu führen. Dies forderte er auch in der II. Olynthischen Rede sehr beharrlich, die kurz danach im selben Jahr gehalten wurde, ohne dass wichtige militärische Auseinandersetzungen inzwischen stattgefunden hatten. Obgleich die Symmachie mit Athen kurz nach der II. Olynthika abgeschlossen wurde, konnten die Olynthier der makedonischen Großoffensive des nächsten Jahres nicht standhalten. Athen sandte folgende Hilfsexpeditionen: eine noch im Jahr 349 nach dem ersten Hilfegesuch und der II. Olynthika unter dem Strategen Chares; eine zweite im Frühjahr 348 nach dem zweiten Hilfegesuch unter Charidemos; eine dritte vermutlich auch noch im Jahr 348 unter Chares und Phokion nach der III. Olynthika und zugleich nach dem dritten Hilfegesuch, in dem die Olynthier diesmal nicht nach Söldnern, sondern nach Truppen athenischer Bürger fragten, was auf die gestiegene Notwendigkeit militärischer Hilfe deuten läßt. Alle Hilfsexpeditionen blieben jedoch völlig ohne Wirkung.272 Philipp führte den Krieg zunächst gegen einzelne Bundesstädte, erst dann gegen Olynthos selbst. So nahm er im zweiten Kriegsjahr Torone und Mekyberna ein und zog dann mit seiner gesamten Streitmacht gegen Olynthos und schloss die Stadt ein.273 Im Spätsommer oder Herbst 348 mussten die Olynthier kapitulieren, ihre Stadt wurde vollständig zerstört und zahlreiche Einwohner versklavt; das athenische Einsatzheer der dritten Hilfsexpedition kam zu spät an.274 Der Chalkidische Bund existierte in der Folge nicht mehr und Philipp stand es frei, die gesamte Halbinsel zu annektieren.275 Die ersten zwei Olynthischen Reden lassen sich zeitlich der zweiten Hälfte des Jahres 349, der Phase direkt nach dem Beginn der makedonischen Offensive, also noch vor dem Bündnis zwischen Athen und Olynthos und bevor die Athener ihre erste Hilfsexpedition nach Olynthos geschickt hatten, zuordnen.276 Die III. Olynthische Rede ist in das Frühjahr 348 zu datieren, denn hier wird auf die sich schon abzeichnende Entscheidung im Belagerungskampf um die chalkidische Metropole hingewiesen und erneut für eine massive Hilfsaktion plädiert.277 272 Vgl. StV II² 323; Philoch. FGrHist 328 F 49f.; Worthington, Philip II of Macedonia 75ff. Wenn die Inschrift IG II² 207 in das Jahr 348 gesetzt wird, haben die Athener im April 348 die dritte große Expedition unter Chares und Phokion nach Olynthos gesandt. Vgl. Philoch. FGrHist 328 F 51f.; Bengtson, GG 316f. und 317 Anm. 2. 273 Vgl. Diod. 16,5,32; Zahrnt, Olynth 111. 274 Vgl. Diod. 16,53,2f.; Philoch. FGrHist 328 F 51f.; Zahrnt, Olynth 111. 275 Vgl. Demosth. 19,266; Hyp. Frg. 76. 276 Die olynthischen Gesandten sollen in Athen noch anwesend gewesen sein, als Demosthenes die ersten zwei Olynthischen Reden vortrug. Vgl. Worthington, Philip II of Macedonia 75. 277 Die III. Olynthische Rede wurde wahrscheinlich, nachdem die Athener zwei Hilfsexpeditionen nach Olynthos geschickt hatten, gehalten. Zur Datierung 352

Als Demosthenes das Wort ergriff, um seine I. Olynthische Rede vorzutragen, stand die Diskussion über eine eventuelle militärische athenische Hilfe für Olynthos bereits im Vordergrund.278 Es ist davon auszugehen, dass diesbezüglich kein allgemeiner Konsens in der Versammlung herrschte, obgleich die meisten wohl einverstanden waren, eine Hilfsexpedition nach Olynthos zu schicken.279 Es musste aber zusätzlich entschieden werden, mit welchen Mitteln und wann die Athener helfen konnten.280 Die I. Olynthika knüpft an die I. Philippika an. Die überraschende Annektion eines weiteren Gebietes, die der Rhetor in der I. Philippika als eine bedrohliche Möglichkeit vor Augen führte, war jetzt Wirklichkeit. Zur Finanzierung der militärischen Aktionen Athens schlägt Demosthenes zum ersten Mal vor, eine gemeinsame Kasse sowohl für die Theorika-Gelder (Schaugelder) als auch für die Stratiotika-Gelder (Militärgelder) zu führen (§ 19f.). Diese Kasse sollte je nach Bedarf die Gelder verteilen. Da eine Änderung der Theorikon-Institution gesetzwidrig war und darauf eine strenge Strafe vorgesehen war, verwendet Demosthenes nicht verbatim die Termini Theorika und Stratiotika. Seine darauf bezogene Äußerung ist zwar vorsichtig, aber weitgehend klar.281 Der Vorteil des demosthenischen Vorschlags wäre, dass ein flexibler Beamtenapparat für die Verwaltung dieses gemeinsamen Fonds zuständig ist. Sonst bliebe, wie zur Zeit der I. Olynthika, die Geldübertragung von einer Kasse in die andere situationsbedingt und kompliziert, da sie immer wieder der Zustimmung der Ekklesia bedurft hätte.282 In der II. Olynthika fordert Demosthenes wieder βοήθεια für Olynthos (§ 11). Demosthenes’ optimistische Einschätzung in Bezug auf den Ausgang eines Kampfes gegen Philipp lässt sich dadurch erklären, dass bis zur Zeit dieser Rede noch keine direkte Konfrontation zwischen Athen und Makedonien stattgefunden hatte. Der Rhetor fordert, wie auch in der I. Olynthika, eine Eisphora (§§ 13. 27. 31.) und die Entsendung eines athenischen Kontingents auf die Chalkidike (§§ 11. 13. 31). In diplomatischer Hinsicht sollten Athens Interessen durch die Entsendung einer

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der Olynthischen Reden vgl. die ausführliche Untersuchung von Ch. Karvounis (Demegorien 287–316; vgl. auch Lehmann, Demosthenes 111). Gegen die in der Forschung übliche Reihenfolge der Olynthischen Reden argumentierten J.R. Ellis (Historia 16 [1967] 108–111), der die II. Olynthika vor der ersten ansetzt, und C. Tuplin (Historia 47 [1998] 276–320; bes. 276–291), der Argumente zu einer Überprüfung der Reihenfolge aller drei Reden vorbringt. Vgl. Demosth. 1,2. Es bleibt ungewiss, ob der Redner Demades in derselben Diskussion gegen Demosthenes aufgetreten ist, so wie es in der Suda (s. v. Δημάδης) überliefert ist. Vgl. dazu Schäfer Demosthenes und seine Zeit II, 131 mit Anm. 3. Vgl. Karvounis, Demegorien 316f. Vgl. Karvounis, Demegorien 325. Vgl. dazu Kahrstedt, Demosthenes und die Theorika, in: NGG 191 (1929) 156–163; Schwahn, RE V A,2 (1934) s. v. Theorikon 2233–2237; Buchanan, Theorika 28ff.; Leppin, Zur Entwicklung der Verwaltung öffentlicher Gelder im Athen des 4. Jahrhunderts. v. Chr., in: Eder, Die athenische Demokratie 557–571, bes. 559–566. 353

Gesandtschaft nach Thessalien gefördert werden (§ 11). Die zweite Rede war durchaus erfolgreich, denn die Athener schlossen ein Bündnis mit Olynthos und sandten zahlreiche Söldner unter Chares auf die Chalkidike. Das Hilfskorps blieb jedoch wirkungslos.283 In der III. Olynthischen Rede betrachtet Demosthenes die außenpolitische Situation als sehr kritisch und Philipp nicht mehr als einen leicht zu besiegenden Gegner (§§ 27f.). Der Grund dafür ist eine differenzierte Beurteilung der Sachlage, da die von den Athenern vor dieser Rede bereits ausgesandten Hilfsexpeditionen keinen Erfolg erzielen konnten.284 Darüber hinaus legt Demosthenes großen Wert darauf, dass die Athener endlich selbst ins Feld ziehen und nicht Söldnern diese Aufgabe überlassen sollten;285 die βοήθεια soll diesmal mit allen erforderlichen Mitteln geleistet werden (§ 6. 8). Außerdem fordert er jetzt offen und ohne Hemmungen, dass die TheorikaGelder zur Finanzierung des Kriegszwecks gebraucht werden und leitet zu diesem Zweck ein Nomothesia-Verfahren ein (§§ 10–13). Die athenische Hilfe für Olynthos blieb insgesamt gesehen wirkungslos und Demosthenes konnte mit seinen Olynthischen Reden die athenische Außenpolitik nicht nach seinen Vorstellungen lenken. Die Athener vermieden einen Entscheidungskampf gegen Philipp, da sie zum einen die demosthenischen Vorschläge für unrealistisch hielten und sich zum anderen nicht auf einen Zweifrontenkrieg einlassen wollten, da sie ab Winter des Jahres 349/8 proathenische Kräfte auf der für sie sehr wichtigen Nachbarinsel Euboia gegen promakedonische Kräfte, denen Philipp Hilfe schickte, unterstützten.286 Die Reden des Demosthenes waren aber jedenfalls sorgfältig ausgearbeitet und richteten sich nicht nur an die athenische Ekklesia, sondern auch an die gesamthellenische Öffentlichkeit innerhalb der griechischen Staatenwelt, mit dem Ziel, eine möglichst große politische Wirkung gegen Philipp auszuüben.287

3.3 Die Kriegsrechtfertigung in den Jahren 351–348 Die Leitargumente des Demosthenes in den Jahren von 351–348 vor der athenischen Ekklesia für die Durchführung eines Krieges gegen Philipp werden in seiner letzten und heftigsten Rede dieser Phase, der III. Olynthika,288 in der Form aufeinander folgender Fragen über die Taten und das Wesen Philipps zusammengefasst:

283 Vgl. Philoch. FGrHist 328 F 49. 284 Vgl. Opitz, Das Bild Philipps 237–266; Karvounis, Demegorien 336. 285 Dies behauptet Demosthenes in allen Olynthischen Reden. In der III. kommt es allerdings deutlicher zum Ausdruck. Vgl. Demosth. 1,6; 2,27. 31; 3,33. 36. 286 Vgl. Welwei, Athen 314 mit Quellenbelegen. 287 Vgl. Lehmann, Demosthens 111. 288 P. Treves (Die Olynthischen Reden, in: Schindel, Demosthenes 189–232, bes. 191) bezeichnet die III. Olynthika als „die traurigste, bitterste und dennoch auch die, in der stärker als in den anderen Mahnung und schwerer Vorwurf ertönt.“ 354

χρόνον ἢ τίνα καιρόν, ὦ ἄνδρες ᾿Αθηναῖοι, τοῦ παρόντος βελτίω ζητεῖτε; ἢ πόθ' ἃ δεῖ πράξετ', εἰ μὴ νῦν; οὐχ ἅπαντα μὲν ἡμῶν προείληφε τὰ χωρί' ἅνθρωπος, εἰ δὲ καὶ ταύτης κύριος τῆς χώρας γενήσεται, πάντων αἴσχιστα πεισόμεθα; οὐχ οὕς, εἰ πολεμήσαιεν, ἑτοίμως σώσειν ὑπισχνούμεθα, οὗτοι νῦν πολεμοῦσιν; οὐκ ἐχθρός; οὐκ ἔχων τὰ ἡμέτερα; οὐ βάρβαρος;289

Es wird darauf hingewiesen, dass der Krieg bereits besteht, Philipp der Feind Athens ist und es höchste Zeit sei, darauf zu reagieren, zumal die derzeitige Lage dazu sehr günstig sei. Zusätzlich behauptet Demosthenes, ein aktives militärisches Handeln Athens sei nun endgültig geboten, denn Philipp habe athenische Besitzungen – die Stützpunkte Athens im nordägäischen Raum – erobert. Ferner erinnert der Rhetor an die Vertragspflicht Athens, den Olynthiern im Kriegsfall militärisch zur Seite zu stehen. Schließlich wird auf die angeblich barbarische Herkunft Philipps hingewiesen, was seinen bedrohlichen Charakter und seine Feindschaft den Hellenen gegenüber unterstreichen soll. Es werden demzufolge Argumente, die hauptsächlich auf die sozialpolitische Notwendigkeit, die Durchführbarkeit und die rechtliche Legitimation des Krieges hindeuten, von Demosthenes verwandt. Im Folgenden wird die demosthenische Aufforderung zum Krieg gegen den Makedonenkönig in der I. Philippischen und in den Olynthischen Reden analysiert.

3.3.1 Forderung nach Reaktion auf den bereits bestehenden Amphipoliskrieg Selbst wenn die Behauptung des Demosthenes in der I. Philippika, Philipp sei eine Gefahr für die Polis,290 in Athen als übertrieben wahrgenommen wurde, stellte sich die Grundlage seines Gedankens über das Expansionsbestreben des Makedonenkönigs nach dem Fall von Olynthos im Jahr 348 und in der zweiten Hälfte der 340er Jahre als richtig heraus. Erst im Jahr 341/0 konnte der Rhetor die athenische öffentliche Meinung in Bezug auf die makedonische Gefahr entscheidend mobilisieren.291 Ein Jahrzehnt früher, im Jahr 351/0, war in der Ekklesia die Diskussion über die Beziehungen Athens zu Philipp auf der Tagesordnung, allerdings geht aus der I. Philippika kein konkreter Anlass dafür hervor. Demosthenes bezieht sich auf keine bestimmte Gegebenheit, sondern betrachtet die Lage Athens insgesamt im Verhältnis zu Philipps Machtgewinn, spricht deshalb gleich am Anfang der Rede über die schlechte Ausgangslage von Athen und fordert zugleich eine aktive Reaktion des Demos.292 Der Ernst der Lage geht nicht nur aus der Einnahme von Amphipolis im Jahr 357 hervor, sondern besonders aus der Erweiterung des makedonischen Machtanspruchs gegenüber Athen während des formell bestehenden Kriegszustandes 289 Demosth. 3,16f. 290 Vgl. Demosth. 4,9. 43. 50. 291 Die III. und IV. Philippische Rede in den Jahren 341–340 sollen die Athener zum offenen Krieg gegen Philipp entscheidend beeinflusst haben. 292 Vgl. Demosth. 4,2. 355

zwischen den zwei Mächten in den Jahren 356–352/1: Dieser Machtanspruch betraf die Unterwerfung der athenischen Stützpunkte an der südmakedonischen Küste und auf der Chalkidike sowie die Vorherrschaft Philipps über den größten Teil Thrakiens.293 Wenn allerdings ein aktives Vorgehen gegen Philipp vorgeschlagen wird,294 dann sollte die Tatsache, dass Philipp eine gewisse Distanz zu Athen einhielt, nicht unberücksichtigt bleiben; seine Angriffe betrafen in den meisten Fällen sein eigenes Interessensgebiet, nicht das von Athen.295 Demosthenes versucht nicht den Krieg zu veranlassen, sondern ihn von athenischer Seite zu aktivieren. Er schlägt militärische Maßnahmen zur Verteidigung athenischer Interessensgebiete und zu einer Art Guerillakrieg gegen Philipp in Makedonien vor.296 Es ist interessant, wie der Rhetor Athens künftiges Vorgehen rechtfertigt. Der eigentliche Kriegsgrund für ihn ist die Voraussetzung, dass sich Athen bereits im Krieg befindet. Davon ausgehend begründet er die aktive Rolle Athens im Krieg in dreifacher Hinsicht: Erstens müsse Philipps Expansionsstreben gestoppt werden, was zweifellos zum Nutzen Athens sei. Dies ist der Kerngedanke des Demosthenes; er sucht die Tatsache, dass es noch zu keiner direkten Konfrontation zwischen Athen und Makedonien gekommen ist, vom ohnehin bestehenden Krieg zu unterscheiden. Die aggressiven Aktionen und die Einkreisungspolitik gegenüber Athen sowie die Bedrohungen des Makedonenkönigs ließen Athen in der Tat keine andere Alternative, als militärisch zu handeln.297 Der Krieg wird demzufolge als ein unausweichliches Faktum zur Bewältigung der bestehenden Verhältnisse gefordert. Die vorgeschlagenen militärischen Maßnahmen sollen entweder so viel Druck ausüben, dass die Athener den Krieg selbst beenden können, wenn ihre Interessen gesichert sind, oder die Voraussetzungen für eine siegreiche Kriegführung gegen die makedonischen Feinde schaffen.298 Die Auseinandersetzung zwischen Athen und Philipp betrachtet Demosthenes vorrangig als Interessenkonflikt, in dessen jetziger Phase Philipp eine Bedrohung für Athen war, weil er zunehmend nach mehr strebe (νῦν δ‘ ἐπιχειρῶν ἀεί τινι καὶ τοῦ πλείονος ὀρεγόμενος)299 und somit den athenischen

293 In der I. Philippika spricht Demosthenes konkret über den Verlust von Amphipolis (§ 12), Pydna, Poteidaia und Methone (§ 4) und allgemein über die expansiven Aktionen Philipps (§§ 5f. 9. 50). 294 Vgl. Demosth. 4,2. 16–23. 30. 50. 295 Vgl. Karvounis, Demegorien 246. 296 Vgl. Demosth. 4,16–23. Dazu hier S. 350. 297 Demosth. 4,9: […] ὃς οὐδ‘ αἵρεσιν ὑμῖν δίδωσι τοῦ πράττειν ἢ ἄγειν ἡσυχίαν, ἀλλ‘ ἀπειλεῖ καὶ λόγους ὑπερηφάνους, ὥς φασι, λέγει, καὶ οὐχ οἷός ἐστιν ἔχων ἃ κατέστραπται μένειν ἐπὶ τούτων, ἀλλ‘ ἀεί τι προσπεριβάλλεται καὶ κύκλῳ πανταχῇ μέλλοντας ἡμᾶς καὶ καθημένους περιστοιχίζεται. 298 Vgl. Demosth. 4,15. Die Frage ἢ διαλυσώμεθα πεισθέντες τὸν πόλεμον ἢ περιγενώμεθα τῶν ἐχθρῶν ist in der Tat kein Dilemma zwischen Diplomatie und Krieg, sie macht lediglich das Ausmaß des Krieges vom Erfolg der militärischen Maßnahmen Athens abhängig. 299 Demosth. 4,42. 356

Einflussbereich beschränke. Zusätzlich verschweigt der Rhetor allerdings nicht die Gefahr, die Philipps Pläne für Athen bergen. Die Athener sollen nicht länger – wie am Anfang des Krieges – Philipp wegen Amphipolis bestrafen, sondern vielmehr ihre eigene Polis vor seinem Expansionismus verteidigen, andernfalls könnte sich der Krieg sogar gegen Athen wenden.300 Zweitens dürfte Athen aus militärisch-praktischen Gründen die Initiative nicht länger dem Makedonenkönig überlassen. Die vorgeschlagenen militärischen Maßnahmen würden Athen die Oberhand verschaffen und den Weg zu einem erfolgreichen Krieg ebnen. Demosthenes stellt einen Grundsatz effektiver Kriegführung dar, wonach die Macht, die den Krieg als erste entscheidend nach ihrem Plan steuert, einen Vorsprung hat. Im Gegenteil befindet sich diejenige im Nachteil, die vom Gegner gezwungen wird, den Ereignissen zu folgen.301 Auf diesen Gedanken baut Demosthenes seine Feststellung auf, dass die Machterweiterung Philipps auf der Nachlässigkeit der Athener beruhe.302 Ein anderer positiver Aspekt der Entscheidung eines Staates zum Ergreifen der Initiative im Krieg ist das schnelle Abschließen von nützlichen Symmachiebündnissen. Die meisten Staaten schließen sich nämlich an die aktiv handelnde Macht an, nicht an die passive.303 Die Erfolgsaussichten, das δυνατόν, des Krieges hängt also unmittelbar von Athens Entscheidung für die aktive Rolle gegenüber Philipp ab. Drittens sei ein energischer Krieg seitens Athens aus moralischer Sicht geboten. Für Athen sei es eine Schande, auf Philipps Provokationen nicht zu reagieren. Die Notwendigkeit (ἀνάγκη) zum Handeln soll aus der Schande (αἰσχύνη) freier Menschen angesichts der bevorstehenden Situation hervorgehen.304 Ausdrucksvoll ist die Verbindung der αἰσχύνη mit dem Begriff der ἀνανδρία, was für die Moral des 4. Jh. stark verwerflich war. Das in Athen vorherrschende Männlichkeitsethos, worauf in diverser Hinsicht verwiesen werden konnte, weiß Demosthenes bereits seit seinen hellenischen Demegorien als ein psychologisches Werkzeug zur Kriegsaufforderung zu verwenden.305 Er sucht demzufolge, auch mit Bezug auf das πρέπον und καλόν des Krieges, die Athener vom Handeln gegen Philipp zu überzeugen. In der I. Philippika wird schlussfolgernd von den Athenern verlangt, den bereits bestehenden Krieg wahrzunehmen bzw. ihn in einen wirklichen Krieg umzuwandeln 300 Vgl. Demosth. 4,43. 50. 301 Demosth. 4,39: […] δεῖ τοὺς ὀρθῶς πολέμῳ χρωμένους οὐκ ἀκολουθεῖν τοῖς πράγμασιν, ἀλλ‘ αὐτοὺς ἔμπροσθεν εἶναι τῶν πραγμάτων […]. Dies erläutert Demosthenes näher und nimmt Bezug auf die bisherige Haltung Athens gegenüber konkreten Aktionen Philipps in §§ 40f. 302 Die athenische Nachlässigkeit gibt der Rhetor mit ausdrucksstarken Begriffen wie βραδυτής, ῥᾳθυμία (§ 8) und ἀμέλεια (§ 11) wieder. 303 Vgl. Demosth. 4,6. 304 Vgl. Demosth. 4,10. 305 Vgl. Demosth. 4,42; 15,28. Zur ἀνανδρία allgemein und bei Demosthenes vgl. Dover, Morality 100; Roisman, Masculinity 7–10. 113–116; hier S. 341 mit Anm. 215. 357

und in seinen Phasen selbst zu gestalten. Dies wird mit Bezug auf das συμφέρον Athens in machtpolitischer und militärischer Hinsicht gerechtfertigt. Nach dem Bündnisvertrag zwischen Athen und Olynthos im Jahr 349 konnte Demosthenes aufgrund der daraus entstandenen Verpflichtungen Athens darauf hinweisen, dass sich die Polis im Kriegszustand gegen Philipp befand. Der Krieg für Amphipolis hatte sich nun zu einem Krieg für Olynthos gewandelt. Demosthenes bezieht sich dabei nach wie vor auf die bestehenden Kriegsverhältnisse als Kriegsgrund. Die zögerliche Reaktion Athens auf Philipps aggressive Taktik versucht er durch emotional gefärbte Argumente zu ändern. In der II. Olynthischen Rede wirft er den Athenern vor, dass ihr Benehmen nicht dem Verhalten kriegführender Männer (τοῖς πολεμοῦσι) entspräche.306 Ganz entscheidend stellt er in der III. Olynthika unter anderem die Frage nach dem Verhältnis Athens zu Philipp: Οὐκ ἐχθρός;307 Somit wird Philipp ähnlich wie in der I. Philippika308 nicht nur als militärischer Feind, sondern auch als eine Person des Hasses dargestellt, der gegenüber die Athener feindlich gesinnt sein mussten.309 Das Argument, der Krieg bestehe bereits, wird demzufolge auch in den Olynthischen Reden zu einer Aufforderung zur energischen militärischen Auseinandersetzung zwischen Athen und Makedonien benutzt, indem psychologischer Druck auf die Athener ausgeübt wird. Darüber hinaus werden allerdings sowohl in der I. Philippischen Rede als auch in den Olynthischen Reden weitere Argumente zum Krieg gegen Philipp präsentiert.

3.3.2 Krieg wegen Zurückeroberung verlorenen Landes Es wurde bereits deutlich, dass die Argumente des Demosthenes für den Krieg gegen Philipp in pragmatische und emotionale zu unterscheiden sind. Zu den ersten gehören die, die sich auf die Zurückeroberung der von Athen einst abhängigen Stützpunkte beziehen. In der I. Philippika leitet Demosthenes die Konfrontation mit Philipp gleich mit der Eroberung von Pydna, Poteidaia und Methone ein.310 Dabei handelt es sich zwar nicht um attisches Territorium; allerdings behauptet Demosthenes, diese Poleis wären früher dem athenischen Machtbereich zugeordnet gewesen, und wählt dabei den Ausdruck οἰκεῖως ἔχειν, der auf eine legale Eigentümerschaft Athens in Bezug auf drei Poleis und ihre Umgebung hinweist:

306 307 308 309

Vgl. Demosth. 2,23. Demosth. 3,16. Vgl. Demosth. 4,50; auch 4,15. Zum semantischen Unterschied zwischen πολέμιος und ἐχθρός, also den zwei griechischen Begriffen für ‚Feind‘, vgl. Konstan, War and Reconciliation in Greek Literature, in: Raaflaub, War and Peace in the Ancient World 191–205, bes. 198f. 310 Vgl. Demosth. 4,4. Pydna wurde im Jahr 356, Poteidaia später im selben Jahr und Methone 354 von Philipp eingenommen. Vgl. Diod. 16,8,3; Wooten, A Commentary on Demosthenes’ Philippic I., 65. 358

[…] εἴχομέν ποθ‘ ἡμεῖς, ὦ ἄνδρες ᾿Αθηναῖοι, Πύδναν καὶ Ποτείδαιαν καὶ Μεθώνην καὶ πάντα τὸν τόπον τοῦτον οἰκεῖον κύκλῳ […].311

Es geht ihm hauptsächlich um die Wahrung der athenischen Interessen, genauer gesagt um die Etablierung einer neuen stabilen athenischen Herrschaft im nördlichen Ägäisraum. Wegen des Fehlens einer schriftlich fixierten zwischenstaatlichen Rechtsordnung, die die Territorialkonflikte einheitlich regeln könnte, war er in der Lage, die Ansprüche Athens auf diese Regionen als selbstverständlich darzustellen. Nicht durch Völkerrecht, sondern lediglich durch die Berufung auf das δίκαιον im Allgemeinen, also auf das ungeschriebene, zwischenstaatlich allgemein geltende Recht, das in Hellas genauso bindend wie zwischenstaatliche Verträge wirken konnte,312 galt es die Darstellung des Demosthenes zu unterstützen oder anzufechten. Es soll hierbei bemerkt werden, dass die Abhängigkeit der drei von Demosthenes erwähnten Poleis nicht einfach zu bestimmen war, da diese seit alters her eine besondere Beziehung zu Athen hatten, wobei die Rivalitäten zwischen Athen und Makedonien eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten. Im Folgenden wird kurz das Verhältnis Athens und Makedoniens zu diesen drei Poleis in der Argumentation des Demosthenes dargestellt. a) Pydna war eine Hafenstadt an der Küste nördlich der Ebene der makedonischen Pieria. Bereits in der ersten Hälfte des 5. Jh. galt es unter Alexander I. als zu Makedonien gehörend.313 Athen begann aber sich schon seit dem letzten Drittel des 311 Demosth. 4,4. Ἔχειν konnte von allein den Status eines Territoriums in rechtlicher Hinsicht nicht ausdrücken; allerdings deutet die Hinzufügung des Adjektivs οἰκεῖον auf einen legitimen Besitz hin. Vgl. Chaniotis, Justifying Territorial Claims, in: Harris, The Law and the Courts 185–213, bes. 188. 312 G.A. Sheets (AJPh 115 [1994] 51–73) bestreitet überzeugend die in der Forschung weitgehend akzeptierte These, dass die zwischenstaatlichen Verträge die einzige Form zwischenstaatlichen Rechts in Hellas waren, und gelangt zum folgenden Ergebnis: „International custom was not only as fully valid a source of law as written treaties, it defined the juridical order which gave meaning and effect to those treaties. I also argued that the nomoi of Greek international relations were not, as some scholars have suggested, mere “platitudes” of indeterminate content and negligible authority. On the contrary, they could be expressed in the form of specific rules and doctrines, and they could be invoked as the principled basis for defining issues of disagreement and resolving those issues in an authoritative way“; Scheets, AJPh 115 (1994) 51–73, bes. 70. Vgl. dazu zustimmend Chaniotis, Justifying Territorial Claims, in: Harris, The Law and the Courts 185–213, bes. 206f. 313 Vgl. Thuk. 1,137,1f. Als Themistokles nach Pydna flüchtete, war dies ein Ort des makedonischen Königs. Es ist eher unwahrscheinlich, dass Pydna eine griechische Kolonie gewesen war. Thukydides nennt keine Mutterstadt bei den makedonischen Küstenstädten, was er bei echten Kolonien immer vermerkt. Pydna war somit eher eine makedonische Stadt mit hellenischer Polis-Struktur. Vgl. Kahrstedt, Hermes 81 (1953) 85–111, bes. 85–92. Bezüglich der Diskussion über den griechischen oder makedonischen Ursprung der Bewohner von Pydna vgl. Danoff, RE Suppl. X (1965) s. v. Pydna 833–842, bes. 834. 359

5. Jh. auf Kosten Makedoniens auszubreiten. Ein erster Versuch, Pydna zu erobern, fand im Jahr 432 statt, als Athen im Rahmen militärischer Aktionen an der makedonischen Küste Pydna belagerte, daraufhin aber Frieden mit Pydna und eine Symmachie mit dem makedonischen König Perdikkas II. schloss.314 Der Versuch Athens, Teile der makedonischen Küste zu kontrollieren, ging allerdings weiter. Erst 410/9, also nachdem Athen seine Macht in diesem Gebiet eingebüßt hatte, nahm der Makedonenkönig Archelaos Pydna ein, wobei die Bürger der Stadt Widerstand leisteten. Die Bevölkerung wurde daraufhin ca. 4 km vom Hafen entfernt im Landesinneren angesiedelt.315 Der Hafen kam unter makedonische Oberhoheit, aber die Gemeinde blieb zunächst formal selbständig,316 bis 364 Athen Pydna durch den athenischen Strategen Timotheos einnahm.317 Acht Jahre später (356) wurde Pydna von Philipp – trotz der bereits erwähnten angeblichen geheimen Zusatzklausel im Friedensvertrag mit Athen – zurückerobert und blieb in der Folge makedonisch.318 Es ist festzuhalten, dass der Nachweis des legitimen Besitzanspruches auf Pydna sowohl für Makedonien als auch für Athen in erster Linie nur aus den jeweiligen Eroberungen der Stadt abzuleiten und demzufolge subjektiv zu beurteilen ist, da Pydna seit Jahrzehnten wegen seiner in wirtschaftlicher Hinsicht vorteilhaften Lage ein Zankapfel zwischen beiden Mächten war. Dass Pydna aber für eine sehr lange Zeit makedonisch war, spielte mit Sicherheit eine Rolle: Der zeitgenössische Geschichtsschreiber Theopompos von Chios überliefert den auf die Zusatzklausel bezogenen Plan Athens, Pydna Philipp zu überlassen, um es gegen Amphipolis einzutauschen, wozu er die Ansprüche des Makedonenkönigs auf Pydna durch die Bezeichnung αὐτοῦ οὖσαν als legitim darstellt.319 Auch wenn die Stadt seit der Regierungszeit Alexanders I. makedonisch war, hat sie die athenische Politik – trotz der kürzeren athenischen Einflussnahme – der Monarchie entfremdet. Unter dieser Prämisse, dass in der Stadt keine typisch makedonische, sondern eine Polis-Struktur herrschte, konnte Athen die politische Situation in Pydna beeinflussen. Dort, wo städtische Kultur aufblühte, konnten örtliche Kräfte eine eigene Polis gründen und sich mit Athens Hilfe vom Makedonenkönig emanzipieren.320 Pydna gehörte jedoch nicht dem Zweiten Attischen Seebund an und die Athener hatten vermutlich kein Problem damit, mit der Einnahme der Stadt durch Timotheos einverstanden zu sein, gerade weil sie diese eher als einen Teil 314 315 316 317 318 319

Vgl. Thuk. 1,61,2f. Vgl. Diod. 13,49,1f. Vgl. IG IV² 1, 94. Vgl. Deinarch. 1,14; Errington, DNP 10 (2001) s. v. Pydna 609. Vgl. Diod. 16,8,3; Danoff, RE Suppl. X (1965) s. v. Pydna 833–842 bes. 833ff. Vgl. Theopomp. FGrHist 115 F 30b; Schol. Demosth. 2,50c (Dilts). Αὐτοῦ οὖσαν deutet auf einen legalen Besitz oder legale Eigentümerschaft hin, die üblicherweise durch den Besitzer oder Eigentümer im Genitiv und das Verb ἐστι (hier sein Partizip οὖσαν) zum Ausdruck kam (vgl. Chaniotis, Justifying Territorial Claims, in: Harris, The Law and the Courts 185–213, bes. 187f.). 320 Vgl. Kahrstedt, Hermes 81 (1953) 85–111, bes. 88–91. 360

einer expansionsorientierten Politik, die zur Wiederaufrichtung der ἀρχή Athens in Hellas führen sollte, ansahen. Weder rechtfertigt noch bezweifelt Demosthenes den Besitzanspruch Athens auf Pydna, denn dazu gehörte die Diskussion über die Begründung der Eroberung Pydnas durch Timotheos. Durch seinen verbalen Angriff auf Philipp macht der Rhetor den Athenern klar, dass es sich bei dem Einsatz gegen die Makedonen sowohl für Pydna als auch für Poteidaia und Methone lediglich um den Schutz des athenischen Machtbereichs gegenüber dem makedonischen handelt. b) Poteidaia war eine korinthische Kolonie zu Anfang des 6. Jahrhunderts auf dem schmalen Isthmos der Halbinsel Pallene der Chalkidike. Nach den Perserkriegen wurde es Mitglied des Delisch-Attischen Seebundes und zur Stellung zuerst von Schiffen, dann von hohem Tribut verpflichtet. Wegen der Tribute sowie der Spannungen zwischen Perdikkas II., Athen und Korinth, zu dem Poteidaia als Tochterkolonie immer noch enge Beziehungen pflegte, löste sie sich 432 vom Seebund. Nach langer Belagerung durch Athen kapitulierte Poteidaia im Winter 430/29, die Bewohner erhielten freien Abzug und die Stadt wurde mit 1000 attischen Siedlern (ἔποικοι) neu besiedelt.321 Diese waren Teil des athenischen Volkes322 und blieben auch weiterhin athenische Bürger, auch wenn sie eine gewisse Autonomie besaßen. Nach dem Peloponnesischen Krieg wurde Poteidaia selbständig und schloss sich in den frühen 380er Jahren zunächst dem Chalkidischen Bund an, trat aber 382 auf die Seite Spartas.323 Im Jahr 364/3 eroberte Timotheos Poteidaia zusammen mit Torone im Rahmen der nordägäischen Expansionspolitik Athens. Er sicherte die Neueinnahme durch Entsendung athenischer Kleruchen nach Poteidaia im Jahr 362/1.324 Dabei handelte es sich formell nicht um einen Verstoß gegen die von Athen gesetzten Prinzipien des Zweiten Attischen Seebundes – auch wenn die Polis kein Mitglied war -, da die Bürger von Poteidaia selbst um eine athenische Kleruchie nachgesucht hatten.325 Die Stadt behielt jedenfalls nach ihrer Einnahme durch Timotheos ihre Selbständigkeit. Die Athener versuchten durch ihr Vorgehen die Handelswege zum Schwarzen Meer zu sichern; deswegen ist das Vorgehen als ein eindeutiger Ausdruck athenischer Interessenpolitik zu verstehen, die sich zu eigenen Gunsten über Prinzipien hinwegsetzte, um so Erfolge zu erzielen.326 Der 357 begonnene Krieg zwischen Athen und Philipp wegen Amphipolis führte schließlich im Jahr 357/6 zu einem Bündnis zwischen dem Makedonenkönig und dem Chalkidischen Bund, dem Philipp die Wiedereingliederung von Poteidaia

321 Vgl. Thuk. 2,70,4; Diod. 20,46,7. 322 Dies ist aus der Inschrift des Vertrags zwischen Athen und Aphytis im Jahr 428/7 zu schließen. Vgl. IG I² 58. 323 Vgl. Meyer, RE Suppl. X (1965) s. v. Poteidaia 616–628. 324 Vgl. Isokr. 15,108; Deinarch. 1,14; Diod. 15,81,6 325 Ein Hilfegesuch aus Poteidaia ist aus IG II² 114 zu erschließen. 326 Vgl. Welwei, Athen 289; Schmitz, Prosperität 302f.; Cargill, Athenian Settlements 22. 361

versprach.327 Im Jahr 356 nahm er trotz der Tatsache, dass er zuvor – wohl zwischen 359–356 – mit der Stadt Frieden geschlossen hatte, Poteidaia ein.328 Eine athenische Hilfsexpedition erschien in Poteidaia zu spät. Philipp übergab die Stadt vertragsgemäß an Olynthos, verkaufte die Einwohner in die Sklaverei, behandelte aber die ansässigen Athener mit großzügiger Rücksicht und schickte sie nach Athen zurück, da er zu dieser Zeit keineswegs eine direkte Konfrontation mit Athen forcieren wollte.329 In seinen Reden von 351–348 hält Demosthenes Poteidaia in der Zeit vor der Eroberung durch Philipp für legitimen athenischen Besitz und erinnert die Athener daran.330 Erst in seiner späteren II. Philippischen Rede des Jahres 344 nennt er die athenischen Kleruchen in Poteidaia ἀποίκους.331 Eine solche athenische ἀποικία in Poteidaia hat niemals existiert. Demosthenes verwendet den älteren Begriff ἄποικοι hier als Synonym für den späteren Begriff κληροῦχοι, um auf die alte Beziehung Athens zu Poteidaia hinzuweisen und somit den Anspruch Athens auf diese Polis gegenüber Makedonien zu begründen. Die patriotischen Gefühle der Athener sollten eher mit dem Terminus ἄποικοι als κληροῦχοι geweckt werden.332 Aus demselben Grund spricht auch der Rhetor Aischines im Jahr 343/2 in seiner Rede Περὶ παραπρεβείας bewusst von den ἀποικίαι und nicht von den κληρουχίαι Athens, obwohl letzterer Begriff der richtige wäre.333 c) Methone war eine Stadt in der makedonischen Landschaft Pieria, nördlich von Pydna.334 Plutarch überliefert es als Gründung von Eretria, wobei dies der einzige Beleg ist.335 Wegen der Bedrohung durch Perdikkas II. schloss es sich dem 327 328 329 330

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Vgl. Diod. 16,8,3; StV II² 308. Vgl. StV II² 300. Vgl. Diod. 16,8,3; Alexander, Potidaia 86–92. Vgl. Demosth. 2,7. Sich an die Athener in der Ekklesia wendend betont Demosthenes auf Poteidaia bezogen: ὑμετέραν οὖσαν. Dadurch stellt er Poteidaia als legitimen Besitz Athens dar. Zu ἡμέτερός ἐστι vgl. Chaniotis, Justifying Territorial Claims, in: Harris, The Law and the Courts 185–213, bes. 187–190. Vgl. Demosth. 6,20. Durch den Begriff ἄποικοι werden eher nicht die athenischen ἔποικοι des 5. Jh. in Poteidaia, sondern die Kleruchen des Jahres 362/1 gemeint. In der Rede des Hegesippos Περὶ Ἁλοννήσου (Jahr 342) werden die Kleruchen Athener οἱ ἐν Ποτειδαίᾳ κατοικοῦντες genannt ([Demosth.] 7,10). Ähnlich spricht Aristoteles über Ἀθηναῖοι οἱ ἐν Ποτειδαίᾳ οἰκοῦντες (vgl. Aristot. oec. 1347a 18ff.). Diodor nennt sie τὴν τῶν Ἀθηναίων φρουράν (Diod. 16,8,5). Vgl. dazu Meyer, RE Suppl. X (1965) s. v. Poteidaia 616–628, bes. 624f. Vgl. Worthington, Hermes 128 (2000) 235f. Im Titel des Aufsatzes von I. Worthington wird Poteidaia im Hinblick auf Demosthenes’ Zitat ἀποικία genannt. Von einer ἀποικία spricht aber Demosthenes nicht, er nennt lediglich einen Teil der Bürger Poteidaias, nämlich die Athener, ἀποίκους. Aischines bezieht sich auf die Chersones, Naxos und Euboia. Vgl. Aischin. 2,175; Cargill, Athenian Settlements 135. Vgl. Errington, DNP 8 (2000) s. v. Methone [3] 98. Vgl. Plut. mor. 293A-B. U. Kahrstedt bezweifelt heftig, dass Methone eine griechische Kolonie war. Vgl. Kahrstedt, Hermes 81 (1953) 85–111, bes. 85–91.

Delisch-Attischen Seebund mit einem Tribut von drei Talenten an. Es erhielt um 430 sogar Handelsprivilegien und hatte traditionell gute Beziehungen zu Athen, nicht nur als Handelspartner, sondern auch als dessen Stützpunkt bei Operationen während des Peloponnesischen Krieges im Norden.336 Nach dem Peloponnesischen Krieg wurde Methone selbständig. Erst 362 wurde es von Timotheos eingenommen.337 Im Herbst 355, also nach dem Ende des Bundesgenossenkrieges, begann Philipp die Polis zu belagern, wobei die Kämpfe bis zum Frühjahr oder Frühsommer 354 dauerten. Da die Athener mit Hilfeleistungen nur zögerlich reagierten, musste Methone schließlich kapitulieren.338 Fraglich ist, ob Methone Mitglied des Zweiten Attischen Seebundes war. Die Tatsache, dass die Athener, wenn auch zu spät, eine Hilfsexpedition nach Methone entsandten, ist keine zuverlässige Bestätigung der Zugehörigkeit, denn eine solche Hilfe könnte auch nach einem Hilfegesuch bzw. nach einem anderen – in den Quellen nicht dokumentierten – Symmachievertrag entstehen. Die Mitgliedschaft einer Stadt der Küste Makedoniens zum Seebund setzte voraus, dass es eine proathenische, demokratische Gruppierung gab, die die Macht innehatte.339 Solche Gruppierungen könnten zwar zu dieser Zeit existieren, es gibt jedoch keinen einzigen Beleg, dass die Städte, die Timotheos erobert hatte, sei es Pydna, Methone oder Poteidaia, nach der Eroberung Mitglieder des Seebundes wurden. Demosthenes behauptet in einer Stelle zwar vage, dass Athen diese Städte einmal legitim besaß, wies aber nicht auf eine Allianz bzw. auf den Seebund hin.340 Vermutlich waren wegen der Angriffe Philipps weitere Bündnisse zustande gekommen, die aber außerhalb des Seebundes geschlossen wurden, was auch die athenischen Hilfsexpeditionen erklärt hätte.341 Im potentiellen Fall eines bestehenden Symmachievertrags, sei es der Zweite Attische Seebund oder ein anderes Bündnis, war die Kriegsrechtfertigung aufgrund der Vertragsverpflichtungen gegenüber Methone freilich angemessen. Zur Zeit der I. Philippika und der Olynthischen Reden war Methone allerdings vor mindestens drei Jahren durch Philipp eingenommen worden, und es war demzufolge zu spät, eine Verteidigung der Rechte von Methone zu propagieren. Demosthenes stellt in der I. Philippika Methone zusammen mit Pydna und Poteidaia als Orte des athenischen Machtbereichs dar, die durch Krieg gewonnen wurden. Seine Aussage, dass dem Naturrecht zufolge das Eigentum des Abwesenden Besitz

336 Vgl. Lenk, RE XV,2 (1932) s. v. Methone 1385ff. Nr. 7. Über die Handelsprivilegien vgl. IG I³ 61. 337 Vgl. Demosth. 4,4; Deinarch. 1,14; Heskel, North Aegean Wars 34. 172. 338 Vgl. Diod. 16,31,6. 34,5; Welwei, Athen 300; Rhodes, A History of the Classical Greek World: 478–323 BC, 300f. 339 Vgl. Kahrstedt, Hermes 81 (1953) 85–111, bes. 90. 340 Vgl. Demosth. 4,4; dazu hier S. 359 Anm. 311. 341 Vgl. Cawkwell, JHS 101 (1981) 40–55, bes. 45. 363

des zurzeit Anwesenden und des zum Kampf bereit Stehenden wird,342 ist wegen ihrer Diskrepanz zur üblichen Gerechtigkeitsfunktion auffällig.343 Philipp konnte demnach Anspruch auf diese Gebiete erheben, solange die Athener dort nicht tätig waren. Dadurch wollte Demosthenes allerdings keineswegs die Aktionen Philipps legitimieren, sondern seine Aggressivität anschaulich als gefährlich für die athenischen Interessen einstufen.344 Demosthenes wiederholt das Argument des verlorenen athenischen Gebietes in seinen Olynthischen Reden, in denen es nicht nur um die drei bereits erwähnten Poleis geht. Konkret spricht er in der II. Olynthika über die Schande, dass Athen sich nicht mehr für die πόλεις und τόποι, die es einmal – legal – besaß, inte­ ressiert.345 Zwar handelte es sich nicht um genuin attisches Territorium, sondern hauptsächlich um die Eroberungen des Timotheos. Eroberungen galten allerdings im hellenischen Rechtsdenken als ein Aspekt, der den Anspruch eines Staates auf das Gebiet legitimieren konnte. Einzig die Fragen, ob eine Eroberung erstens aus einem gerechten Grund oder Anlass und zweitens durch den Sieg über den legalen Besitzer bzw. Eigentümer des Gebietes stattgefunden hatte, mussten untersucht werden.346 Da Demosthenes sich in derselben Rede auf die Verteidigung athenischer Eroberungen (κτήματα) bezieht, die Athen wegen der Aggression Philipps einbüßen musste,347 und dies mit dem δίκαιον verbindet,348 betrachtet er die Einnahmen des Timotheos – vermutlich wegen der älteren Beziehungen dieser Gebiete zu Athen – im Gegensatz zu den Eroberungen derselben Territorien durch Philipp als gerechtfertigt.349 Darüber hinaus hätte er die Eroberungen Philipps dem ungeschriebenen Kriegsrecht zufolge bestreiten können, da diese nicht im Kampf gegen die Athener selbst stattfanden.350 Demosthenes hat aber kein Interesse daran, das 342 Demosth. 4,5: […] ὅτι ταῦτα μέν ἐστιν ἅπαντα τὰ χωρί‘ ἆθλα τοῦ πολέμου κείμεν‘ ἐν μέσῳ, φύσει δ‘ ὑπάρχει τοῖς παροῦσι τὰ τῶν ἀπόντων, καὶ τοῖς ἐθέλουσι πονεῖν καὶ κινδυνεύειν τὰ τῶν ἀμελούντων. 343 Vgl. Hunt, War 161. 344 Vgl. Wooten, A Commentary on Demosthenes’ Philippic I., 56f. 345 Demosth. 2,2: ὡς ἔστι τῶν αἰσχρῶν, μᾶλλον δὲ τῶν αἰσχίστων, μὴ μόνον πόλεων καὶ τόπων ὧν ἦμέν ποτε κύριοι φαίνεσθαι προϊεμένους […]. 346 Vgl. Chaniotis, Justifying Territorial Claims, in: Harris, The Law and the Courts 185–213, bes. 194–199. 347 Vgl. Weil, in: Weil/Γαληνός, Δημοσθένους λόγοι Ι, 286 Anm. 3. 348 Vgl. Demosth. 2,24. 349 Die Aspekte, worauf Demosthenes seine Beurteilung der Eroberungen von Gebieten athenischen Interesses durch Philipp stützt, gehen aus seiner Kranzrede des Jahres 330 hervor. Damals griff er auf ältere Ereignisse zurück und betonte, das Philipp Städte erobert hatte, die ihm nicht gehörten und unter Athens Herrschaft kein Unrecht erlitten hatten (Demosth. 18,181): […] πόλεις παραιρεῖται οὐδὲν αὐτῷ προσηκούσας, τινὰς δὲ καὶ ᾿Αθηναίων οὔσας δοριαλώτους πεποίηκεν οὐδὲν προαδικηθεὶς ὑπὸ τοῦ δήμου τοῦ ᾿Αθηναίων […]. 350 Dies war gerade das Argument des Rhetors Aischines in der Parapresbeia-Rede des Jahres 343, als er dem Makedonenkönig den Besitz von Amphipolis bestritt. 364

Gerechte des Kriegsgrundes nachzuweisen, sondern diesen in der Ekklesia so dezidiert hervorzuheben, dass die Athener die wahren Dimensionen des Krieges gegen Philipp endlich wahrnehmen würden. Im Rahmen seiner scharfen Kritik gegen seine Mitbürger wegen ihrer Nachlässigkeit speziell gegen den Makedonenkönig nennt er in der letzten und heftigsten Olynthischen Rede erneut alle ehemaligen athenische Besitzungen, die sich Philipp angeeignet hatte, ἅπαντα ἡμῶν χωρία,351 also Gebiete der Athener, und spricht ausdrücklich von eigenem verlorenen Land (ἀποστερήμεθα μὲν χώρας οἰκείας)352. Es handelt sich also um das eindeutig ungerechte Vorgehen des Makedonenkönigs, was auch der Grund dafür ist, weshalb Demosthenes das Vergeltungsprinzip im Zusammenhang mit Philipp einführt und bereits in der Einleitung der III. Olynthischen Rede zur Bestrafung (τιμωρία) des Makedonenkönigs auffordert.353 Zusammenfassend gesehen fordert Demosthenes zum Krieg Athens gegen den Makedonenkönig u. a. durch das Argument der Zurückeroberung verlorenen athenischen Territoriums auf. Der Anspruch Athens auf die erwähnten Gebiete im Norden wird definitiv für legitim gehalten. Vor der Ekklesia wird allerdings kein Wert auf die Begründung des Anspruchs gelegt, wenn auch die früheren Beziehungen Athens mit den nördlichen Städten sowie deren Eroberung durch Timotheos in den 360er Jahren genug Diskussionsaspekte bieten konnten. Demosthenes stützt seine Argumentation auf zwei Punkte: Erstens soll Athen als die eigentliche Führungsmacht erscheinen und Philipp wegen seiner ungerechten Einnahme von Gebieten athenischer Interessen bestrafen. Zweitens soll durch die Wahl bestimmter Ausdrücke deutlich werden, dass die verlorenen Gebiete für die vitalen Interessen und die künftige Stellung Athens gegenüber der Gefahr durch Philipp wichtig waren.

Nur durch die Eroberung von Amphipolis in einem siegreichen Krieg gegen die Athener selbst könnte Philipp aufgrund des ungeschriebenen Kriegsrechts als legitimer Besitzer dieser Stadt anerkannt werden; Aischin. 2,33: Εἰ δ‘ ἀντιποιῇ κατὰ πόλεμον λαβὼν εἰκότως ἔχειν, εἰ μὲν πρὸς ἡμᾶς πολεμήσας δοριάλωτον τὴν πόλιν εἷλες, κυρίως ἔχεις τῷ τοῦ πολέμου νόμῳ κτησάμενος· εἰ δ‘ ᾿Αμφιπολίτας ἀφείλου τὴν ᾿Αθηναίων πόλιν, οὐ τἀκείνων ἔχεις, ἀλλὰ τὴν ᾿Αθηναίων χώραν. Vgl. dazu Chaniotis, Justifying Territorial Claims, in: Harris, The Law and the Courts 185–213, bes. 198. 351 Vgl. Demosth. 3,16. 352 Demosth. 3,28. 353 Vgl. Demosth. 3,1. Die Bestrafung hatte Demosthenes in der I. Philippika als anfängliches Ziel der Athener im Krieg um Amphipolis dargestellt, wobei er betonte, dass der Krieg wegen der athenischen Nachlässigkeit sich mit der Zeit zu einer Auseinandersetzung zur Verteidigung der athenischen Interessen oder auch Athens selbst entwickelt hatte (vgl. Demosth. 4,43). Es fällt aber auf, dass die Einnahme einer Polis athenischen Interesses als erster Kriegsgrund die Bestrafung nach sich zieht. 365

3.3.3 Krieg um die Vorherrschaft Ein pragmatischer Grund, der sich ausschließlich an die athenischen Bürger wendet, ist die Vormachtstellung der Polis in der hellenischen Welt. In der I. Philippischen Rede fordert Demosthenes die Athener auf, die Übermacht Philipps in Hellas ernst zu nehmen. Die Ausdehnung der Macht des Makedonenkönigs auf das für Athen sehr wichtige Thrakien und Zentralgriechenland war nun unabänderliche Tatsache, was den athenischen Interessen durch die starke Beschneidung des athenischen Machtbereichs enorm schadete. Demosthenes stuft die Auseinandersetzung zwischen Athen und Philipp als einen Krieg um die Hegemonie354 ein, indem er bereits in seiner I. Philippischen Rede die neue Rolle Makedoniens zu analysieren versucht. Er erkennt den gefährlichen Ausbau dieser neuen Macht und vertritt eine Position, die eine entscheidende Aufforderung für das aktive Vorgehen gegen Philipp bewirken sollte: γένοιτο γὰρ ἄν τι καινότερον ἢ Μακεδὼν ἀνὴρ ᾿Αθηναίους καταπολεμῶν καὶ τὰ τῶν ῾Ελλήνων διοικῶν.355

Philipp sollte eine Vorherrschaft in der hellenischen Welt auf jeden Fall verweigert werden. Die bisherige Erfahrung bezüglich Kriege um die Führung in der griechischen Welt führte zum Ergebnis, dass eine militärische Auseinandersetzung zwischen Athen und Makedonien unvermeidlich sei. Ein militärischer Sieg Philipps über Athen würde zwangsläufig zu einer makedonischen Hegemonie führen, also sollte Athen laut Demosthenes in der gleichen Weise für die Vormachtstellung in Hellas kämpfen, wie die Stadt es auch früher gegen die Lakedaimonier getan hat. Demosthenes meint hier den Korinthischen Krieg (395–387/6), der ein Krieg ὑπὲρ τῶν δικαίων gewesen sei.356 Dieser Krieg gegen den Machtmissbrauch Spartas, der in dieser Zeit oft angesprochen wurde, kann als gerecht gelten. Es ist ferner festzuhalten, dass es für die Athener seit jeher selbstverständlich war, dass ihre Polis über die griechische Welt herrschte. Dies geht besonders aus dem Epilog der III. Olynthischen Rede hervor, in dem Demosthenes auf die Vorfahren und die ehrenwürdige Stellung in Hellas, die den zeitgenössischen Athenern als Erbe hinterlassen wurde, verweist.357 Dies steht im Zusammenhang mit einer Formel, die der Redner bereits 354 In der Rhodierrede rechnet Demosthenes den Krieg περὶ τῆς ἡγεμονίας einem der in der hellenischen Welt vorherrschenden Kriegstyp zu. Vgl. Demosth. 15,17. 355 Demosth. 4,10. 356 Vgl. Demosth. 4,3. Als Krieg gegen Sparta kann entweder der Korinthische (395) oder der Boiotische (378) gemeint sein (vgl. Weil, in: Weil/Γαληνός, Δημοσθένους λόγοι Ι, 86 Anm. 4). Da aber der Korinthische Krieg ursprünglich vom Wunsch mehrerer Poleis, gegen die lakedaimonische Vormacht zu kämpfen, ausging, ist zu vermuten, dass sich Demosthenes auf diesen bezieht. Der Hinweis des Rhetors im selben Abschnitt, dass seit diesem Krieg nicht viel Zeit vergangen ist, schließt keineswegs den Korinthischen Krieg aus. 357 Vgl. Demosth. 3,36. 366

in früheren Reden verwendet hatte und auf das Wiederbeleben nicht nur der traditionellen Tugenden, sondern auch des alten Herrschaftsanspruchs der Polis abzielt. Es geht um die Nachahmung der Vorfahren und heißt: μιμεῖσθαι τοὺς προγόνους!358 Der Hinweis des Rhetors (4,10) auf die makedonische Herkunft des potentiellen Hegemons der Hellenen kann an dieser Stelle als eine erste Anspielung auf die angeblich barbarische Herkunft Philipps verstanden werden. Dies bringt Demosthenes wenige Jahre später deutlich zum Ausdruck, und zwar in seiner III. Olynthischen Rede. Er nennt darin Philipp βάρβαρος, der gerade aus diesem Grund ein äußerst brutaler Gegenspieler sei und im Falle eines militärischen Sieges seine hellenischen Gegner vernichten würde.359 Demosthenes benutzt nun die Hellenen-Barbaren-Antithese auch bezüglich der humanen Kriegführung zwischen Hellenen im Sinne Platons,360 um seine Aufforderungen zum offenen Kampf gegen Philipp zu betonen. Er verwendet eine panhellenische Topik, die sich diesmal nicht gegen den Perserkönig, sondern gegen den Makedonenkönig richtet, zumal ein wichtiger Grund dazu besteht: Philipp erobert πόλεις Ἑλληνίδας.361 Die Hegemonie Athens wird im Gegensatz zu der Philipps so präsentiert, dass sie sich auf ein moralisches Fundament gründet und eine Sendungsfunktion in Hellas besitzt.362 Somit versteht sich hier die Hellenen-Barbaren-Antithese „als ein Appell an das politische Selbstverständnis der Athener, das in dem Führungsanspruch über Griechenland seinen traditionellen Ausdruck findet“.363 Bezogen auf die Makedonenkönige bedient sich Demosthenes des – in der klassischen hellenischen Welt nicht selten angeführten – Topos364, es gezieme den Barbaren, Untertanen der Hellenen zu sein.365 Inwieweit die Makedonen als NichtGriechen betrachtet werden sollten, ist allerdings fraglich. Auf jeden Fall galt es in der Antike als unumstritten, dass zumindest das Königshaus der Argeaden griechischer Herkunft war.366 Die Intention des Demosthenes ist aber eine andere: In der III. Olynthischen Rede versucht er, seine Argumentation in jeder Hinsicht zu intensivieren, damit endlich drastische Maßnahmen gegen Philipp ergriffen werden. Er und diejenigen, die ein athenisches Einsatzheer nach Olynthos als notwendig empfanden, stießen in der Zeit zwischen der II. und der III. Olynthischen Rede, d. h. 358 Vgl. Demosth. 13,26; 15,35. Dazu: Treves, Die Olynthischen Reden, in: Schindel, Demosthenes 189–232, bes. 191f. 359 Vgl. Demosth. 3,17. 360 Vgl. Plat. Mx. 242d; rep. 5,470c. 471a–b; dazu hier S. 329 mit Anm. 155. 361 Vgl. Demosth. 3,20. 362 Vgl. Treves, Die Olynthischen Reden, in: Schindel, Demosthenes 189–232, bes. 206. 363 Vgl. Opitz, Das Bild Philipps 248. 364 In Bezug auf die Hellenen-Barbaren-Antithese im Allgemeinen (natürliche Feindschaft oder Rolle der Barbaren als Diener der Hellenen) gibt es Hinweise in literarischen, rhetorischen sowie philosophischen Texten. Vgl. Eur. Iph. A. 1400f.; Isokr. 4,163; Plat. rep. 5,470c; Aristot. pol. 1252b 6–9. 365 Vgl. Demosth. 3,24; Opitz, Das Bild Philipps 247–257. 366 Vgl. Karvounis, Demegorien 264f. 367

vom Sommer 349 bis zum Frühjahr 348, auf den Unwillen eines großen Teils der Bevölkerung. Demosthenes setzt daraufhin in seiner Rede Philipp mit einem Barbaren gleich, um zu implizieren, dass er als Nicht-Grieche keine Ansprüche auf eine Hegemonie über die Hellenen erheben dürfe.367

3.3.4 Krieg als Hilfeleistung Das schwere Schicksal der Bewohner einiger Poleis, die Philipp eroberte, war der Ausgangspunkt, den Demosthenes in seinen Olynthischen Reden als Argument zur energischen Kriegführung gegen Philipp benutzt, um so an die σωτηρία Athens zu appellieren.368 Athen soll deswegen die Gelegenheit nutzen, aufgrund seiner Symmachie mit Olynthos als die hauptkriegführende Partei zu erscheinen.369Als Beispiele für das rücksichtslose und brutale Behandeln der Besiegten erwähnt Demosthenes Amphipolis und Pydna. Sich darauf beziehend sagt er in der I. Olynthika das tragische Schicksal der Olynthier im Fall einer Niederlage voraus,370 wobei eine spätere Überarbeitung der Rede nach dem Fall von Olynthos nicht auszuschließen ist; allzu real wirken die Folgen.371 In der I. Olynthika verwendet der Redner zwei verschiedene Kriegsgründe. Zunächst erwähnt er ein sehr beliebtes, selbstverständliches und durchaus gerechtes Argument, das die militärische Hilfe Athens als moralisch geboten erscheinen lässt: Der Krieg der Olynthier gegen die Makedonen zur Rettung ihres Vaterlandes wird indirekt der auf Habgier und Ehrgeiz beruhenden Kriegführung Philipps gegenübergestellt: δῆλον γάρ ἐστι τοῖς ᾿Ολυνθίοις ὅτι νῦν οὐ περὶ δόξης οὐδ‘ ὑπὲρ μέρους χώρας πολεμοῦσιν, ἀλλ‘ ἀναστάσεως καὶ ἀνδραποδισμοῦ τῆς πατρίδος372

Den Gedanken ergänzt Demosthenes durch sein Argument, dass die Olynthier als Unrecht Leidende gegen Philipp kämpfen, weil sie ihn wegen seiner gegen sie gerichteten ἐγκλήματα hassen: ἐπειδὴ δ‘ ἐκ τῶν πρὸς αὑτοὺς ἐγκλημάτων μισοῦσι, βεβαίαν εἰκὸς τὴν ἔχθραν αὐτοὺς ὑπὲρ ὧν φοβοῦνται καὶ πεπόνθασιν ἔχειν.373

Was genau haben jedoch die Olynthier bis zur Zeit der I. Olynthischen Rede durch Philipp erlitten? Demosthenes erwähnt in der I. Philippika einen Feldzug Philipps gegen Olynthos,374 wobei diese Stadt wegen ihrer Führungsrolle innerhalb des 367 368 369 370 371 372 373 374 368

Vgl. Karvounis, Demegorien 339f. Vgl. Demosth. 1,2; 3,21. Vgl. z. B. Demosth. 1,6. 17; 2,2; 3,6; dazu Opitz, Das Bild Philipps 164 mit 343 Anm. 2. Vgl. Demosth. 1,4f. Vgl. Tuplin, Historia 47 (1998) 276–320, bes. 300ff.; S. hier S. 300 mit Anm. 12. Demosth. 1,5. Demosth. 1,7. Vgl. Demosth. 4,17.

Chalkidischen Bundes von Interesse ist; denn obwohl es sich um einen Überfall nicht auf Olynthos selbst, sondern auf chalkidisches Gebiet handelte, waren seine Konsequenzen für Olynthos nicht zu unterschätzen. Der Überfall hatte wahrscheinlich während des Marsches der Makedonen nach Thrakien im Jahr 352 stattgefunden.375 Philipp hatte wohl die Intention, die Olynthier so mit Hilfe einer Machtdemonstration zu warnen, denn sie hatten 352 mit Athen Frieden geschlossen und demnach die Bedingungen ihres Vertrags mit dem Makedonenkönig verletzt. Dieser besagte, dass beide Parteien nur gemeinsam den Kriegszustand mit Athen beenden dürften.376 Olynthos wurde also durch Philipp zwar nicht direkt angegriffen, die Bürger hatten aber als Folge dieser Aktion dennoch Angst vor dem Machtzuwachs Philipps und den daraus für sie selbst resultierenden Folgen. Also stützt sich Demosthenes in seiner Rede auf reale Ereignisse. Dies ist aber nur Teil der Kriegsrechtfertigung, die den Athenern den moralischen Rückhalt zur Hilfeleistung für Olynthos gegen Philipp bieten sollte. Der zweite Teil der Argumentation hat mit einem eigennützigen und deswegen sehr drastischen Argument zu tun: Das συμφέρον377 für die Polis durchdringt die ganze Denkweise der Olynthischen Reden, so wie es auch in den drei hellenischen Demegorien bereits der Fall war. Hauptpunkt ist, dass der Krieg nicht nach Athen getragen werden soll, was aber laut Demosthenes sicher wäre, wenn die Athener nicht schon jetzt reagieren und den Olynthiern helfen würden. Der demosthenischen Einschätzung der politischen Ziele des Makedonenkönigs zufolge beabsichtigte Philipp, sich nach Klärung der Situation im Norden gegen Athen zu wenden.378 Während Philipp in der I. Philippika noch als Gefahr für Athens Einflusssphäre dargestellt wurde, ist er in der I. Olynthika zu einer ernsten Bedrohung für die Integrität des athenischen Staatsgebiets selbst geworden. Das stärkste und immer wieder auftauchende Argument dieser Rede ist, dass der Krieg die Polis erreichen wird, wenn die Athener nicht bereit seien, ihn außerhalb zu führen.379 Die Hilfeleistung für Olynthos hat demzufolge einen nicht übersehbaren praktischen Aspekt für Athens Absicherung gegenüber Philipp.380

375 Vgl. Schäfer, Demosthenes und seine Zeit II², 56. 71f. 122; West, The History oft he Chalcidic League 126; Kaerst, Geschichte des HellenismusI³, 221. 376 Vgl. Demosth. 3,7; 23,108f.; Lib. Arg. D. 1, 2; StV II² 317. Dazu sowie zu weiteren Gründen für den Überfall Philipps vgl. hier S. 350. 377 Vgl. dazu Demosth. 1,1–7. 378 Vgl. Demosth. 1,12. 15. 24ff. 379 Vgl. Demosth. 1,15. 24–27; dazu Jaeger, Demosthenes 234 Anm. 20. Dies wiederholt der Rhetor in der III. Olynthischen Rede, als die Absichten Philipps gegen Olynthos real wurden. Athen sollte Hilfe leisten, bevor es selbst hilfsbedürftig werde; Demosth. 3,9: ἀλλὰ μὴν εἴ τις ὑμῶν εἰς τοῦτ‘ ἀναβάλλεται ποιήσειν τὰ δέοντα, ἰδεῖν ἐγγύθεν βούλεται τὰ δεινά, ἐξὸν ἀκούειν ἄλλοθι γιγνόμενα, καὶ βοηθοὺς ἑαυτῷ ζητεῖν, ἐξὸν νῦν ἑτέροις αὐτὸν βοηθεῖν. 380 Vgl. Low, Interstate Relations 200. 369

Ein drittes Argument ist das der Hilfeleistung gegenüber Bundesgenossen. Die Olynthier hatten zwar bereits im Jahr 352 einen Sonderfrieden, aber noch keine Symmachie mit Athen geschlossen. Erst in der II. Olynthika, als der Abschluss einer Symmachie im Sommer des Jahrs 349 vermutlich unmittelbar bevorstand, weist Demosthenes zum ersten Mal auf eine Hilfe für σύμμαχοι hin, indem er die Olynthier als durch die Tyche, also den Willen der Götter, entstandene Bundesgenossen betrachtet.381 In der III. Olynthika bestand bereits die Symmachie, sodass Demosthenes dezidiert für die σωτηρία der σύμμαχοι spricht382 und sowohl an den Friedensvertrag von 352, den die Athener ausdrücklich im Einvernehmen mit den Olynthiern geschlossen hätten,383 als auch an das dem Bündnis des Jahres 349 entstammende Versprechen der Athener, den Olynthiern im Kriegsfall Beistand zu leisten, erinnert384. Die Hilfe sollte παντὶ σθένει κατὰ τὸ δυνατόν erfolgen; dies ist eine Bemerkung, die vermutlich wortwörtlich dem Symmachievertrag zwischen Athen und Olynthos entlehnt wurde.385 Es ist festzuhalten, dass Demosthenes den Krieg Athens gegen Philipp als Hilfe für Olynthos in moralischer, realpolitischer und juristischer Hinsicht begründet: 1. Es handelt sich um einen gerechten Verteidigungskrieg der Olynthier, die sich in einer Existenzgefahr befinden und daher die Hilfe Athens verdienten. 2. Athen kann selbst Nutzen von einer erfolgreichen Verweisung Philipps aus der Chalkidike ziehen, denn es wäre andernfalls das nächste Angriffsziel des Makedonenkönigs. 3. Athen ist vertraglich verpflichtet, Olynthos militärischen Beistand zu leisten.

3.3.5 Philipps Inferiorität Demosthenes hält es für nötig, den Athenern Selbstvertrauen und Optimismus, als sehr wirksame psychologische Komponenten zur Entscheidung für den Krieg,386 einzuimpfen, indem er die Stärke Philipps relativiert. Ähnlich wie in der Symmorienrede behauptet Demosthenes in der I. Philippika, der Feind – damals der

381 Vgl. Demosth. 2,2: […] ἀλλὰ καὶ τῶν ὑπὸ τῆς τύχης παρασκευασθέντων συμμάχων καὶ καιρῶν. Zur Rolle der Tyche in der II. Olynthika und der I. Philippika vgl. Martin, Divine Talk 231ff.; hier S. 373. 382 Vgl. Demosth. 3,2. 383 Demosth. 3,7: ἐπράξαμεν ἡμεῖς κἀκεῖνοι πρὸς ἡμᾶς εἰρήνην. Demosthenes sagt ἐπράξαμεν εἰρήνην anstatt ἐποιησάμεθα εἰρήνην, um das gegenseitige Einvernehmen zu unterstreichen. Vgl. Weil, in: Weil/Γαληνός, Δημοσθένους λόγοι Ι, 302 Anm. 4. 384 Vgl. Demosth. 3,16. 385 Vgl. Demosth. 3,6. Die Phrase παντὶ σθένει κατὰ τὸ δυνατόν ist auch in anderen Verträgen des 5. und 4. Jh. zu finden. Vgl. Weil, in: Weil/Γαληνός, Δημοσθένους λόγοι Ι, 302 Anm. 2. 386 Vgl. Hunt, War 65f. 370

Perserkönig, jetzt Philipp – stelle zwar für Athen eine sehr große Gefahr dar, diese sei aber eliminierbar.387 Auf die Besiegbarkeit Philipps geht der Rhetor auch in seinen nächsten Reden ein.388 Er verweist auf die Gefährlichkeit und die Macht des Makedonenkönigs, weiß aber diese als nicht realistisch zu beschreiben. Der Hinweis des Demosthenes auf die Inferiorität des Gegners setzt allerdings nicht unbedingt voraus, dass der Rhetor glaubte, Makedonien sei unter der Herrschaft Philipps eine inferiore Macht.389 Er will aber die Athener darauf aufmerksam machen, dass Philipp nur wegen ihrer eigenen Nachlässigkeit stark geworden war.390 In der Folge führt er eine Reihe von Gründen an, die diese Ansicht stützen sollten und sich wie folgt zusammenfassen lassen: 1. Philipp ist militärisch nicht so stark, wie es scheint, und könnte einen Krieg gegen Athen nicht überstehen. So wie er es gewagt hat, sich gegen Athen zu wenden, als Athen über wichtige Stützpunkte verfügte, so darf sich Athen jetzt nicht scheuen, gegen ihn vorzugehen, obwohl er diese Stützpunkte eingenommen hat.391 In der I. Olynthischen Rede behauptet Demosthenes sogar, dass Philipp einen Krieg in Kauf genommen hat, weil er glaubte, die neuen Gebiete kampflos erobern zu können.392 Mit diesem Argument beabsichtigt der Rhetor, die Athener aus ihrem Nichtstun aufzuschrecken. 2. Philipp hat zwar viele Bundesgenossen, kann sich aber nicht auf sie verlassen. Zum einen seien die Thessaler von Natur bei allen Gelegenheiten untreu, d. h. sie sind auch unsichere Verbündete.393 Zum anderen seien die Führer der Illyrier und Paionen es nicht gewohnt, anderen zu gehorchen.394 Diese Argumente des Demosthenes in der I. Olynthika sind spekulativ, und es ist fraglich, inwieweit sich seine Zuhörer davon überzeugen ließen. In der II. Olynthika hingegen setzt Demosthenes zwei unabdingbare Voraussetzungen für einen beständigen Bündnisvertrag fest: Zum einen ist es der gegenseitige Wille (εὔνοια) der teilnehmenden Parteien und zum anderen ihr gemeinsames Interesse (συμφέρον). Die πλεονεξία und πονηρία Philipps ließen aber keinerlei Spielraum für einen

387 Vgl. Demosth. 4,4f.; Pence, Demosthenes’ Use of Epideictic Commonplaces in his Deliberative Speeches Against Philip 31–34. 388 Vgl. Demosth. 1,9; 3,5. 14. 28. 29. 389 Vgl. Opitz, Das Bild Philipps 109. 390 Vgl. Demosth. 4,4f. 11; Karvounis, Demegorien 236f. 391 Vgl. Demosth. 4,4f. 392 Vgl. Demosth. 1,21. 393 Vgl. Demosth. 1,22. Da die politische Situation in Thessalien lange unstabil war, galten die Thessaler in der hellenischen Welt als unzuverlässig. Auch in der von Demosthenes geschriebenen Rede Gegen Aristokrates wird ein schlechtes Bild der Thessaler wiedergegeben. Sie werden im Gegensatz zu den Athenern als verräterisch dargestellt. Vgl. Demosth. 23,112. 394 Vgl. Demosth. 1,23. Vgl. dazu Weil, in: Weil/Γαληνός, Δημοσθένους λόγοι Ι, 266 Anm. 1. 371

solchen Vertrag.395 In seiner Beweisführung erscheint Demosthenes umso glaubwürdiger, da die bisherigen – den Athenern bekannten – Ereignisse für Demosthenes’ Argumentation sprechen. Insbesondere zwei Tatsachen mögen eine Rolle gespielt haben: Erstens die Einnahme von Amphipolis und Pydna durch Philipp trotz der anders lautenden Vereinbarungen Athens mit dem König. Zweitens die Einnahme und Übergabe der Stadt Poteidaia durch Philipp an seinen früheren Verbündeten Olynthos, gegen das Philipp nun Krieg führte. 3. Philipps Feinde seien seine Nachbarn, sie seien militärisch stark und keineswegs zum Kapitulieren bereit.396 Hier weist Demosthenes auf die strategischen Vorteile Athens hin, da Philipp im Kriegsfall im Gegensatz zu Athen gleichzeitig an mehreren Fronten zu kämpfen hätte. Dies stellt ein plausibles Argument dar, auch wenn Demosthenes Philipps Gegner überschätzt bzw. zur Unterstützung seiner Rhetorik überbewertet. 4. In den Kriegen, die Philipp weit außerhalb Makedoniens führt, sei seine Schwäche schwer nachvollziehbar. Wenn er aber Kriege gegen seine direkten Nachbarn führe, dann seien alle seine Defizite sichtbar.397 Dieser Gedanke schließt sich der beharrlichen Aufforderung des Rhetors in der I. Olynthischen Rede an, den Krieg nach Makedonien zu tragen, bevor Philipp Athen in Attika angreifen könne. Dies verringere zum einen die Gefahr, dass die Athener im eigenen Land schwer leiden und mit dem Schlimmsten rechnen müssten, und zum anderen biete ihnen ein solches Vorgehen militärische und logistische Vorteile, indem sie die Gelegenheit hätten, während des Krieges an der Seite von Olynthos ins makedonische Land einzumarschieren und es auszuplündern.398 5. Philipp sei sehr ehrgeizig und strebe nach Ruhm, ohne dabei Rücksicht auf seine Untertanen zu nehmen.399 Demosthenes impliziert damit, dass der Makedonenkönig ein eigennütziger und autoritärer Tyrann sei, der von seinen Soldaten in gegebenem Moment im Stich gelassen würde, da sie nicht vom Sieg ihres Königs profitieren würden. Im Anschluss daran spricht der Rhetor abwertend über die makedonischen Söldner und Pezhetairen, da ihr angeblich guter Ruf nicht der Realität entspräche.400

395 Vgl. Demosth. 2,9. Es ist zu bemerken, dass hier Demosthenes im selben Sinne wie Isokrates die εὔνοια als einen Katalysator der zwischenstaatlichen Beziehungen versteht (vgl. Low, Interstate Relations 52. Zu Isokrates vgl. Isokr. 14,15. 51. 63; 8,138ff.; 5,15. 133. 136 und heir S. 188). Den anderen entscheidenden Faktor der Bündnispolitik, nämlich das συμφέρον, verbindet Demosthenes hier ausnahmsweise nicht mit dem δίκαιον (vgl. Low, Interstate Relations 171ff.). 396 Vgl. Demosth. 2,1. 397 Vgl. Demosth. 2,21. 398 Vgl. Demosth. 1,25ff. 399 Vgl. Demosth. 2,16. Auch in 2,8 behauptet Demosthenes, dass Philipp nichts für die Interessen anderer, sondern alles nur für sich selbst (πάνθ‘ εἵνεχ‘ ἑαυτοῦ) tut. 400 Vgl. Demosth. 2,17. 372

Aus allen diesen Gründen werde Athen laut Demosthenes eine ausgezeichnete Gelegenheit geboten, Krieg gegen Philipp zu führen. Der Gedanke des καιρός, der günstigen Gelegenheit, ist eine besonders sichtbare Form der Schicksalsfügung, der τύχη. Diese hat im religiösen Denken jener Zeit die größte Macht,401 wobei Demosthenes die Termini ‚Götter‘ und ‚Tyche‘ fast als Synonyme verwendet. Auch der καιρός hat für ihn eine unmittelbare religiöse Realität.402 Er erscheint wiederholt in den Olynthischen Reden durch die Aufforderung, die Athener dürften nicht mehr zögern und müssten endlich den rechten Augenblick ausnutzen.403 Auf diesem Kairosmotiv ist die ganze I. Olynthika aufgebaut, denn in derselben Rede folgt darauf die Feststellung von Athens momentan günstiger Lage (καιρός) gerade wegen Philipps ἀκαιρία, womit die Ungunst des Augenblicks für Philipp gemeint ist.404 Demosthenes stützt sich in seiner II. Olynthika auch ganz bewusst auf die religiösen Gefühle seines Auditoriums, wenn er die angeblich optimalen Voraussetzungen für die Athener in der Gunst der Götter (θεῶν εὔνοια) sieht.405 Für die Hellenen des 4. Jh., so auch für Demosthenes, ist in der Politik keinesfalls die ethische von der religiösen Komponente zu trennen. Der Rhetor argumentiert hier mit dem Gedanken, dass nicht nur das, was der Mensch tut, sondern auch das, was er unterlässt, Folgen hat. Wenn die Gottheit dem Menschen eine gute Gelegenheit bietet, dann erwartet sie von ihm, dass er sie ergreift;406 in dem gegebenen Fall heißt es für die Athener, aktiv Krieg gegen Philipp zu führen.407 Somit bietet der religiöse Aspekt, d. h. die vorgebliche Übereinstimmung des Vorschlags des Demosthenes mit dem Willen der Götter, ein starkes Argument zur Kriegsaufforderung gegen den Makedonenkönig.408

401 Die Frage nach der τύχη können wir in den politischen Reden von Solon bis Thukydides stets verfolgen. Die Tyche als Mittel für die Erklärung der großen historischen Vorgänge spielt nicht nur bei Demosthenes, sondern auch bei den griechischen Historikern der vorchristlichen Welt eine bedeutende Rolle. Vgl. Jaeger, Demosthenes 130. 133. 233f. Anm. 17. 402 Vgl. Jaeger, Demosthenes 130. 403 Vgl. Demosth. 1,8f. 11. 24; 2,2. 30; 3,16; dazu Tuplin, Historia 47 (1998) 276–320, bes. 280. 314f. mit Anm. 42. 404 Vgl. Demosth. 1,21–24; Jaeger, Demosthenes 133. 405 Zu den Göttern und dem Schicksal Athens vgl. Demosth. 1,10. Zu der τῶν θεῶν εὔνοια vgl. Demosth. 2,1. 406 Vgl. Jaeger, Demosthenes 131f. 407 Vgl. Martin, Divine Talk 228f. 408 P. Treves (Die Olynthischen Reden, in: Schindel, Demosthenes 189–232, bes. 201) notiert: „(…) über allen zufälligen Ereignissen die unumgängliche übergeordnete Präsenz der Gerechtigkeit Gottes zu behaupten – darin liegt die geistige Substanz der >Olynthischen Reden