Die Kopula und ihre Komplemente: Zur Kompositionalität in Kopulasätzen 9783110891744, 9783484305021

The study proposes a compositional derivation of the meaning of copular sentences featuring noun and adjective complemen

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German Pages 202 [208] Year 2006

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Die Kopula und ihre Komplemente: Zur Kompositionalität in Kopulasätzen
 9783110891744, 9783484305021

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Prädikation vs. Gleichsetzung
3 Prädizierende Sätze und die Stadien/Individuen-Unterscheidung
4. Kopulasätze mit Adjektiven im Russischen: Kurzform vs. Langform
5. Ein geschärfter Blick auf die Nullkopula
6. Die „russische Variante”: Offene Fragen
7. Schlussbemerkungen
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis

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Linguistische Arbeiten

502

Herausgegeben von Peter Blumenthal, Gereon Müller, Ingo Plag, Beatrice Primus, Klaus von Heusinger und Richard Wiese

Ljudmila Geist

Die Kopula und ihre Komplemente Zur Kompositionalität in Kopulasätzen

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2006

Moeü MOMe u MoeMy nane Für meine Eltern

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 13 978-3-484-30502-1 ISBN 10 3-484-30502-9

ISSN 0344-6727

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 Ein Unternehmen der K.G. Saur Verlag GmbH, München http://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Abkürzungsverzeichnis

IX XI

1 1.1. 1.2. 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.3 1.3.1 1.3.2 1.4 1.5

Einleitung Kopulasätze und Kompositionalität Die Kopula Die Kopula im Deutschen Wie ambig ist die Kopula? Die Kopula im Russischen - ein Überblick Das prädikative Komplement der Kopula Was prädiziert das Prädikativ? Wie adjektivisch sind prädikative Adjektive? Grammatiktheoretische Annahmen Aufbau der Arbeit

1 1 2 2 3 5 7 7 9 11 14

2 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3 2.3.1 2.3.2

Prädikation vs. Gleichsetzung Typen von Kopulasätzen Prädizierende Kopulasätze Prädizierende Kopulasätze im Deutschen Prädizierende Kopulasätze im Russischen Prädizierende Kopulasätze an der Syntax/Semantik-Schnittstelle Identitätssätze Identitätssätze im Englischen und Deutschen Abgrenzung der Identitätssätze von prädizierenden Sätzen im Russischen Struktur der efo-Identitätssätze Antezedens von eto Formal-semantische Analyse Pronominale Kopulae in verschiedenen Sprachen Spezifizierende Sätze: Prädikation oder Gleichsetzung? Spezifizierende Sätze im Deutschen Spezifizierende Sätze im Russischen Anmerkungen zu spezifizierenden Sätzen im Englischen Mischtypen: prädizierend-identifizierende Sätze Erreichter Stand und offene Fragen

16 16 21 21 23 26 31 31

2.3.2.1 2.3.2.2 2.3.2.3 2.3.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.5

35 38 40 42 44 46 49 53 56 56 60

VI 3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.2.1 3.1.2.2 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3 3.3.1 3.3.1.1 3.3.1.2 3.3.2 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.5 4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.1.1 4.2.1.2 4.2.1.3 4.2.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4 4.4.1 4.4.2

Prädizierende Sätze und die Stadien/Individuen-Unterscheidung Kasusalternation im Russischen Übersicht über deskriptive Erklärungsversuche Syntax/Semantik der KPK und die Kasusalternation Situationsbasierter Ansatz Aspektueller Ansatz „Pragmatische Wende" Zwei Kopulae im Spanischen: ser vs. estar Kasusvariation im Russischen als pragmatisch gesteuertes Phänomen? Theoretische Voraussetzungen einer formalen Analyse von Kopulasätzen Das Kopulaverb im Deutschen Semantik Syntax-Semantik-Schnittstelle Formale Analyse von ser und estar (Maienborn 2003) Formale Analyse der prädizierenden Kopulasätze im Russischen Probleme für die Null-Hypothese Die „Gesamtbedeutung" des Instrumentals Prädikative an der Syntax/Semantik-Schnittstelle Analyse Diskussion der Ergebnisse Differenzielle Markierung des Prädikativs im Sprachvergleich Kopulasätze mit Adjektiven im Russischen: Kurzform vs. Langform Einführung Kurzform/Langform-Unterscheidung: Forschungsüberblick Semantische Unterscheidung zwischen Kurz- und Langform Zustand vs. Eigenschaft und „temporär" vs. „permanent" Was bezeichnen die Kurzformen der Adjektive? Prädikative Langformen als Eigenschaftsbezeichnungen Morphosyntaktische Unterscheidung zwischen Kurz- und Langform Kurzform und Langform in der Klassifikation der lexikalischen Kategorien Kriterien zur Differenzierung von Kurzformen und Langformen Prädikative vs. attributive Langformen Diskussion der Befunde Integrierter Ansatz Wortbildung in der Syntax Die Kurzform

64 65 66 72 72 77 80 81 85 90 90 90 94 97 101 102 106 111 114 117 120

124 124 127 127 127 129 131 135 138 138 142 143 145 146 148

VII 4.4.3 4.4.4 4.5

Die Langform Zwei Verben byt"? Zusammenfassung und Schlussbemerkungen

150 152 157

5 5.1 5.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.5 5.5.1 5.5.2

Ein geschärfter Blick auf die Nullkopula Nullkopula und grammatische Defizienz Substitut der Nullkopula Grammatische Indizien für die Annahme einer Nullkopula Situationssensitive Modifikatoren Satznegation Wieso kann sich das Russische eine Nullkopula leisten? Aspekt Tempus Modus Kongruenzmerkmale Syntaktische Blockierungen bei der Nullkopula Blockierung der Instrumentalselektion und einige Ausnahmen Nullkopula und Identitätssätze

162 162 164 167 167 167 169 169 171 171 172 173 173 176

6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.2

177 177 177 178

6.2.1 6.2.2 6.2.3

Die „russische Variante": Offene Fragen Diachronie und interslawischer Vergleich Die NOM/INS-Alternation am Prädikativ Kurzform (KF) und Langform (LF) der Adjektive Ausgeblendete Bereiche der Grammatik der slawischen Kopulasätze Byf als Kopula/Auxiliar/Existenzverb Prädikatsnomina vs. prädikative Adjektive Kurzform (KF) vs. Langform (LF) im Instrumental

7

Schlussbemerkungen

181

Quellenverzeichnis

183

Literaturverzeichnis

185

178 178 179 180

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist die stellenweise revidierte Fassung meiner Dissertation, die im Rahmen des Graduiertenkollegs 275 „Ökonomie und Komplexität in der Sprache" an der Humboldt-Universität zu Berlin und am Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft (ZAS) Berlin in der Werkstatt des Projekts „Semantik-Schnittstellen: Kopula-PrädikativKonstruktionen" erstellt und im April 2004 verteidigt wurde. Mein Dank gilt an erster Stelle Ewald Lang, der mich über die ganzen Jahre intensiv betreut und ermutigt hat. Seine Betreuung kann ich nicht anders als ideal bezeichnen: er war für mich immer ansprechbar, ratgebend, kritisch und anspornend. Auch habe ich viel aus Gesprächen mit den Projektmitarbeitern Claudia Maienborn und Gerd Jäger und mit prominenten Gästen des Projekts wie Leonard Babby, John F. Bailyn, Paul Kiparsky, Antony Kroch und Susan Rothstein gelernt. Die Diskussion mit gestandenen Kopula-Experten hat sich zweifellos auf die Arbeit ausgewirkt - auf die Auswahl der Probleme und deren bisweilen recht technische Darstellung, die einen uneingeweihten Leser vielleicht abschrecken mag. Spezieller Dank gilt dem Graduiertenkolleg für das mir gewährte Stipendium und die zahlreichen Diskussionsforen. Mehrere Konferenzen der Reihe Formal Description of Slavic Languages und Jungslavistlnnen-Treffen boten mir Gelegenheit, Ausschnitte aus meiner Arbeit zur Diskussion zu stellen. Bei diesen und anderen Gelegenheiten haben mir Joanna Biaszczak, Philippa Cook, Natalia Gagarina, Susann Fischer, Robert Hammel, Holden Härtl, Uwe Junghanns, Denisa Lcncrtovä, Line Mikkelsen, Albert Ortmann, Sophie Repp, Penka Stateva und Tolja Strigin durch ihre Anregungen sehr geholfen. Ein Extra-Dank geht an Ilse Zimmermann für ihr Interesse und ihre Hilfestellung bei der Klärung vieler Details. Sie hat mich kritisch angeregt und geduldig auf Irrtümer hingewiesen. Für die intensive Diskussion zu Teilbereichen dieser Arbeit in der Publikationsphase möchte ich Klaus von Heusinger, Elisabeth Löbel und Claudia Maienborn herzlich danken. Klaus von Heusinger danke ich auch für die Aufnahme dieser Arbeit in der Reihe „Linguistische Arbeiten", Elisabeth Löbel für zusätzliche Verbesserungsvorschläge. Ein Dankeschön geht auch an Kirsten Gengel für das akribische und gewissenhafte Korrekturlesen des Manuskripts. Alle verbliebenen Fehler liegen in meiner Verantwortung. Für viele aufmunternde Teestunden danke ich Ulrike Berger, Philippa Cook und YiChun Yang. Meinen Eltern Albert und Tatjana Geist danke ich für ihre jahrelange Unterstützung und Ermunterung auf meinem wissenschaftlichen Werdegang. Ganz besonders danke ich Martin für die technische Unterstützung und für vieles andere.

Dieses Buch widme ich meinen Eltern. Stuttgart, im Oktober 2005

Ljudmila Geist

Abkürzungsverzeichnis

AdvPART AKK DAT FEM FUT GEN IMP IMPER INF INS KF KPK LF MASK NEG NEUT NOM Ρ Konj.Part. PART PERF PL Präd Präp. PRÄPOS PRÄS PRÄT REFL SC SG Subj

Adverbialpartizip Akkusativ Dativ Femininum Futur Genitiv imperfektiv Imperativ Infinitiv Instrumental Kurzform Kopula-Prädikativ-Konstruktion(en) Langform Maskulinum Negation Neutrum Nominativ Person Konjunktiv-Partikel by Partizip perfektiv Plural Prädikat/ Prädikation / prädizierend Präposition Präpositiv Präsens Präteritum reflexiv Small Clause Singular Subjekt

1

Einleitung

Sein: einer der grundlegenden, aber auch vieldeutigsten und bis in die Gegenwart umstrittenen Begriffe in der abendländischen Philosophie, dessen Bedeutung je nach Verwendung in einer bestimmten philosophischen Disziplin oder einem bestimmten Kontext erheblich variiert. (Metzler-Philosophie-Lexikon 1996)

1.1

Kopulasätze und Kompositionalität

Die moderne Grammatiktheorie wurde am Beispiel der Sätze mit typischen (= transitiven) Verben entwickelt, in denen das bedeutungstragende Vollverb als Träger von Finitheitsmerkmalen fungiert und zusammen mit dem von ihm subkategorisierten Komplement und dem Subjekt einen vollständigen Satz formt. Kopulasätze wie in (1) werden aufgrund ihrer syntaktischen Simplizität und ihrer semantischen Armut in der Grammatiktheorie oft vernachlässigt. (1)

Peter ist Lehrer/der Gewinner/jung.

Dabei gehören Kopulasätze in der Sprache unbestritten zur Kerngrammatik. Im Unterschied zu Sätzen mit typischen Vollverben weisen Kopulasätze die folgende Besonderheit auf: Während in Sätzen mit Vollverben das Verb die lexikalische und die grammatische Bedeutung trägt, setzt sich in Kopulasätzen die grammatische und die lexikalische Gesamtbedeutung des Prädikats aus der Bedeutung der Kopula und der Bedeutung ihres prädikativen Komplements zusammen. Die Bedeutungszusammensetzung erfolgt nach dem sogenannten Kompositionalitätsprinzip (auch Frege-Prinzip der Bedeutung genannt): (2)

Kompositionalitätsprinzip Die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks ergibt sich aus der Bedeutung seiner unmittelbaren syntaktischen Teile und der Art und Weise, wie sie sich syntaktisch zusammensetzen.

Die Analyse der zusammengesetzten Prädikate stellt eine Herausforderung für das Kompositionalitätsprinzip dar, weil nicht klar ist, welchen semantischen Beitrag der jeweilige Prädikatsteil zur Gesamtbedeutung leistet.

2 In der vorliegenden Arbeit werden Kopulasätze mit der folgenden Zielsetzung untersucht: - den Beitrag der einzelnen morphosyntaktischen Komponenten der Kopulasätze herauszuarbeiten, und - die keineswegs offensichtliche Interaktion von Morphosyntax, Semantik und Pragmatik in Kopulasätzen zu erfassen. Die Bestandteile eines zusammengesetzten Prädikats des hier zu untersuchenden Satztyps sind das Kopulaverb und sein prädikatives Komplement — beides Kategorien, die einer eigenen Betrachtung bedürfen.

1.2

Die Kopula

1.2.1

Die Kopula im Deutschen

Was das Philosophie-Lexikon dem Begriff Sein an Vieldeutigkeit und Variationsreichtum zuschreibt, hat seine Quelle in der eigentümlichen Grammatik des betreffenden Verbs. Dies gilt nicht nur für das Deutsche, sondern für die meisten Sprachen, die bisher genauer untersucht worden sind. Machen wir uns zunächst in Form eines Überblicks mit den grammatischen Besonderheiten des als .ve/'w-Kopula bekannten Verbs vertraut, bevor wir untersuchen, wie sich diese Besonderheiten auf den gesamten Kopulasatz mit Subjekt und Prädikativ auswirken. Die Kopula SEIN - wobei SEIN als Variable für das Verb sein im Deutschen und seine Entsprechungen in anderen Sprachen stehen soll - ist sowohl morphologisch, syntaktisch als auch semantisch das idiosynkratischste Verb der jeweiligen Sprache. Morphologisch: Das Verb sein hat die meisten Suppletionsformen in seinem Paradigma. Die Formen bist - sein - war, die heute das Paradigma von SEIN im Deutschen ausmachen, sind aus drei verschiedenen Stämmen entstanden *bhü—>bist, *essein/ist, *wesan—> war (Pfeifer 1989: 1608). Syntaktisch: Das Verb SEIN ist syntaktisch polyfunktional bzw. kategoriell ambig. So unterscheidet z.B. Eisenberg (1998: 74) im Deutschen zwischen sein als Kopula (in (3) und (4)), als Hilfsverb (in (5) und (6)) und als Vollverb (in (7)). (3) (4) (5) (6) (7)

Der Bürgermeister ist jung. Peter ist Lehrer. Das Buch ist zu empfehlen. Der Zug ist angekommen. Gott ist.

Die Subklassifikation von sein in Kopula, Hilfsverb und Vollverb entspricht der morphosyntaktischen Kategorisierung des Komplements: das typische Merkmal der

3

Kopula ist ihr Vorkommen mit substantivischen und adjektivischen Prädikatsnomina. Hilfsverben sind Bestandteile zusammengesetzter Verbformen. Sein als Vollverb hat keine Komplemente (Eisenberg 1998: 94).1 Kategorisiert man die Komplemente von sein mithilfe der Merkmale [V] und [N], ergibt sich folgendes Bild: Die Kopula sein selegiert [+N aV]-Komplemente (NP, AP). Das Hilfsverb sein selegiert infinite [ - N +V]-Komplemente (Partizipien, Infinitive). Hinzu kommen zwei weitere Besonderheiten. Erstens haben die angeführten Komplemente keinen Argumentstatus, sondern einen noch genauer zu erläuternden Prädikatstatus. Dazu wiederum gehört, dass, während typische (Voll-)Verben ihrem externen Argument eine Theta-Rolle wie AGENS oder THEMA zuweisen, die Kopula dem externen Argument keine aus dem für Subjekte angenommenen Inventar bekannte Theta-Rolle zuweist. Zweitens, während typische (=transitive) Verben ihre Komplemente syntaktisch subkategorisieren, hat das Verb sein kaum kategorielle Beschränkungen für die Belegung seiner Komplementposition, des Prädikativs. Semantisch: Im Allgemeinen wird angenommen, dass SEIN lediglich als Satzbildner fungiert, nämlich als Träger von Finitheitsmerkmalen (Kongruenz, Tempus, Modus), ansonsten aber semantisch leer ist. So wird in der IDS-Grammatik sein als „semantisch weitgehend ausgebleicht" charakterisiert (Zifonun et al. 1997: 702). Andererseits meinen Sprachphilosophen wie Frege, Russell und Carnap, dass die SEIN-Kopula sehr wohl Bedeutung hat und mindestens 1. zum Ausdruck der Prädikation: Maria ist intelligent. 2. zum Ausdruck der Subsumption: Die Tanne ist ein Nadelbaum. 3. zum Ausdruck der Identität (Gleichsetzung): Der Morgenstern ist der Abendstern. dienen kann. Angesichts der verschiedenen Funktionen von sein (Kopula, Hilfsverb und Vollverb) und der oben differenzierten Interpretationen von Kopulasätzen stellen sich mehrere grundsätzliche Fragen, auf die ich in den folgenden Abschnitten eingehen werde.

1.2.2

Wie ambig ist die Kopula?

Eine Klassifizierung, die nach philosophischen Gesichtspunkten berechtigt erscheint, muss nicht ebenso auch für die Grammatik relevant oder auch nur einschlägig sein. Aus linguistischer Sicht scheint es einerseits sinnvoll, die Funktionen „Prädikation" und „Subsumption" unter „Prädikation" zusammenzufassen, da in beiden die postkopulare Phrase die Eigenschaft bezeichnet, die vom Subjekt-Referenten prädiziert wird. An-

1

Eisenberg nimmt an, dass das Vollverb sein auch eine Präpositionalphrase als Komplement nehmen kann, wie in Anna ist in Prag. Andere Wissenschaftler wie z.B. Steinitz (1997b), Bierwisch (1988) zählen sein-Sätze mit PPs dagegen zu den Kopula-Prädikativ-Konstruktionen.

4 dererseits scheint es angebracht, die Klassifizierung um weitere Typen von Kopulasätzen zu erweitern. Higgins (1979) nimmt neben dem Typ der prädizierenden Sätze und dem Typ der Identitätssätze zusätzlich den Typ der spezifizierenden und identifizierenden Kopulasätze an. (8)

Klassifikation der Kopulasätze nach Higgins (1979) Typ 1. Prädikation: Maria ist intelligent/Lehrerin. Typ 2. Identität (Gleichsetzung): Der Morgenstern ist der Abendstern. Typ 3. Identifizierung: Maria ist die Chefärztin. Typ 4. Spezifikation: Der Gewinner ist Peter.

Im Identitätssatz (Typ 2) wird die Identität zweier durch der Morgenstern und der Abendstern repräsentierter Referenten behauptet. In Typ 3 wird durch die DP die Chefärztin der Referent des Subjekts Maria identifiziert. Im spezifizierenden Satz (Typ 4) bezeichnet die initiale DP die geschlossene Menge derjenigen, die gewonnen haben. Diese Menge wird durch Peter auf ein Individuum eingeschränkt. Unklar bleibt, worin die Quelle der unterschiedlichen Interpretationen von Kopulasätzen zu suchen ist: in der Kopula, in ihrem Komplement oder in der Kombination der beiden. Als Antwort auf diese Frage sind die Alternativen in (I) bis (III) denkbar: I.

Das Lexikon enthält mehrere Einträge für die Kopula mit distinkter Kategorisierung und verschiedenen Bedeutungen, die (zumindest für sein im Deutschen) phonologisch identisch sind (ungeachtet der suppletiven Teil-Paradigmen).

Wegen der mehrfachen Suppletion muss man für die Kopula ohnehin mehrere Lexikoneinträge annehmen. Für die Differenzierungen 1—4 in (8) würden dann noch weitere Lexikoneinträge dazukommen. Aufgrund von Ökonomieüberlegungen ist diese Option jedoch nur dann in Erwägung zu ziehen, wenn andere Optionen nicht in Frage kommen. II. Die Differenzierungen in Typ 1—4 lassen sich nicht an der Kopula festmachen, sondern resultieren aus den Eigenschaften ihres Komplements. Wenn man die syntaktische und semantische Beschaffenheit der Nominalphrasen und deren Referenzialität in der Klassifikation (8) vergleicht, kann man Unterschiede feststellen. So können z.B. in der prädikativen Position der prädizierenden Sätze (Typ 1) Adjektive oder zählbare Nomina im Singular ohne Artikel stehen. Adjektive und artikellose Nomina sind hingegen in den anderen Typen von Kopulasätzen nicht zulässig. In Typ 2-Sätzen stehen links und rechts von der Kopula syntaktisch gleichartige Nominalphrasen, während in den anderen Typen von Kopulasätzen die Nominalphrasen in der Subjekt- und der Komplement-Position mehr Varianz zulassen. Möglicherweise wirken sich allein schon diese Unterschiede für die Gesamtinterpretation des Satzes typenbildend aus. III. Es gibt nur eine, allerdings unterspezifizierte, SEIN-Kopula, die ihre semantische Spezifizierung aus der Kombination mit dem jeweiligen Prädikativ erhält.

5 Deutsch und Englisch sind Sprachen, in denen sich die in (8) aufgeführten Typen von Kopulasätzen zumindest auf der syntaktischen Oberfläche sehr ähneln. Tiefe Einblicke in das Zusammenspiel von Syntax und Semantik in den Kopulasätzen können daher anhand einer Sprache gewonnen werden, die andere morphosyntaktische Mittel für den Ausdruck von Identität und Prädikation verwendet als die germanischen oder romanischen Sprachen.

1.2.3

Die Kopula im Russischen - ein Überblick

Die russische Variante zu 1.2.2 umfasst die folgenden unstrittigen Fakten: Morphologisch: Wie im Deutschen ist im Russischen die Entsprechung fur SEIN, bytdreifach suppletiv (by-pRÄT, est'ρRÄS, bud- ΡυΊ) (s. Werner 1996). Die Präteritalform von byt' wird regulär von dem Infinitiv byt' mit Hilfe des Suffixes -/- abgeleitet und hat die Form byl-. Im Russischen flektieren die Präteritalformen der Verben im Singular nicht nach Person, aber nach Genus; im Plural gilt für alle Genera eine Verbalform byli. (9)

Kopula byt' Singular

Plural

Mask.

Fem.

Neutr.

alle Genera

byl

byla

bylo

byli

Die Kopula byt' ist das einzige Verb, das eine lexikalisch-suppletive Futurform budbesitzt. Im Deutschen wird diese Futurform der russischen Kopula durch werden wiedergegeben. Byt' und werden unterscheiden sich jedoch semantisch. Werden ist inchoativ, d.h. beinhaltet einen Zustandswechsel, byt' ist durativ und bezeichnet die Dauer. Die adäquate Übersetzung von bud- als Kopula wäre [sein-werden]. Dem deutschen Kopulaverb werden entsprechen im Russischen stat 'PERF/stanovit 'sja,MP. Syntaktisch: Im heutigen Russisch hat die Kopula im Präsens eine Nullform, d.h. sie wird im Normalfall nicht phonologisch realisiert. Die phonologisch vorhandene Pause zwischen Subjekt und NP-Prädikativ wird oft orthographisch mit einem Auslassungsstrich wiedergegeben. (10)

Puskin - velikij poet. Puschkin - großer DichterN0M 'Puschkin ist ein großer Dichter.'

(11)

ΕΓ - chvojnoe derevo. Tanne - NadelbaumN0M 'Die Tanne ist ein Nadelbaum.'

6 (12)

Marij a intelligentnaj a. Marija intelligentN0M 'Marija ist intelligent.'

Die ursprüngliche, suppletive Präsensform est' ist im heutigen Russisch marginal. Sie hat die flektierten Formen des Präsens eingebüßt: Est' war ursprünglich 3. P. Sing. Präs., steht jetzt aber unflektiert für alle Personen. Est' hat eine stark eingeschränkte syntaktische Distribution (mehr dazu in Kapitel 5). Hinzuweisen ist auch auf ein bemerkenswertes Substitut für die Nullkopula: in Identitätssätzen wie Typ 2 in (8) erscheint im Russischen an ihrer Stelle das Pronomen eto 'das'. (13)

Utrennjaja z v e z d a - eto vecernjaj a zvezda. Morgenstern - das Abendstern 'Der Morgenstern ist der Abendstern.'

Offensichtlich kann die Nullkopula allein im Russischen die Identitätsrelation zwischen „Morgenstern" und „Abendstern" nicht zum Ausdruck bringen. Die Identitätsrelation, die im Deutschen oder im Englischen durch die Kopula sein bzw. be in die Interpretation eingespeist werden kann, wird im Russischen durch das pronominale Element vermittelt. Die in I—III oben vorgestellten Alternativen könnten also je nach Sprache unterschiedlich motiviert erscheinen, weil die Kopula in den einzelnen Sprachen offensichtlich unterschiedlichen Anteil an der Strukturbildung hat. Soviel zunächst zur Syntax der russischen Kopulasätze. Um von hier ausgehend den Beitrag der Kopula zur semantischen Interpretation von Kopulasätzen (etwa in der Klassifizierung nach Typ 1 bis 4 wie nach Higgins 1979, vgl. (8)) zu ermitteln, sind folgende Fragen zu beantworten: -

Wie erfolgt die Bedeutungskomposition bei den einzelnen Typen von Kopulasätzen?

-

Gibt es Unterschiede zwischen verschiedenen Sprachen (etwa Deutsch vs. Russisch) im Hinblick darauf, wie sich die jeweilige Bedeutung eines Kopulasatzes aus seinen morphosyntaktischen Bestandteilen ergibt?

-

Wie lassen sich solche Unterschiede, die anhand der „russischen Variante" im Detail diskutiert werden, auf typologisch relevante Parameter-Cluster zurückführen?

7 1.3

Das prädikative Komplement der Kopula

1.3.1

Was prädiziert das Prädikativ?

Nicht nur für die Entscheidung zwischen den Antworten (II) und (III), sondern generell für die Exploration des in 1.1 erwähnten „Prädikatstatus" von NP- oder AP-Prädikativen ist zu klären, welche - evtl. typspezifischen - Bedeutungsbeiträge das Prädikativ leistet. Neben den Differenzierungen zwischen den in (8) oben genannten Typen 1 bis 4 gibt es noch Differenzierungen innerhalb der Typen. So wird z.B. für prädizierende Sätze (Typ 1) in der Literatur seit Carlson (1977) eine Differenzierung zwischen Stadien-Prädikaten und Individuen-Prädikaten angenommen. Nach traditioneller Auffassung drücken Individuen-Prädikate zeitlich stabile Eigenschaften von Individuen aus (vgl (14)), wohingegen Stadien-Prädikate temporäre, episodische Eigenschaften von Individuen beinhalten, vgl. (15). (14)

Individuen-Prädikat Firemen are altruistic. Feuerwehrmänner sind selbstlos 'Feuerwehrmänner sind selbstlos.'

(15)

Stadien-Prädikat Firemen are available. Feuerwehrmänner sind vorhanden 'Feuerwehrmänner stehen zur Verfugung.'

Im Sinne von Antwort (I) argumentieren Stump (1985), Diesing (1992) und Kratzer (1994) dafür, dass in Sprachen wie dem Englischen zwei homonyme Kopulae anzunehmen sind, die jeweils nur Stadien-Prädikate bzw. nur Individuen-Prädikate einbetten. Das Spanische mit seinen zwei unterschiedlichen Kopulae ser und estar wird in der Literatur häufig als Beispiel einer Sprache angeführt, die für die zwei Prädikatarten separate Kopulaverben ausgebildet hat, nämlich estar für Stadien-Prädikate und ser für Individuen-Prädikate (mehr dazu in Kapitel 3). (16)

a. Stadien-Prädikat La caja estaba vadia. die Schachtel warEsTAR leer 'Die Schachtel war leer.' b.

(Lujän 1981: 172f)

Individuen-Prädikat Enzo es muy discreto. Enzo istsER sehr diskret 'Enzo ist sehr diskret.'

Das Russische ist in dieser Hinsicht interessant, weil es eine dem Spanischen vergleichbare overte Differenzierung aufweist, jedoch nicht als lexikalische Wahl bezüglich des

8 Kopulaverbs, sondern als morphologische Alternation bezüglich des Kasus am Prädikativ: das Prädikatsnomen kann im Russischen im Nominativ oder im Instrumental stehen. Traditionell wird der Kasusunterschied als Ausdruck des Kontrasts temporäre Eigenschaft (Instrumental) vs. permanente Eigenschaft (Nominativ) gedeutet. (17)

a.

Stadien-Prädikat Ego otec snacala byl ucitelem, a potom stal predprinimatelem. Sein Vater zuerst war LehrerINS und dann wurde Geschäftsmannes 'Sein Vater war zuerst Lehrer und wurde dann Geschäftsmann.'

b.

Individuen-Prädikat Ego otec byl ucitel'. sein Vater war LehrerN0M 'Sein Vater war Lehrer.'

Es ist somit nicht unplausibel, im Russischen den jeweiligen Kasus des Prädikativs als Exponent der Stadien/Individuen-Unterscheidung zu betrachten. Allerdings werde ich in dieser Arbeit zeigen, dass die Kasusvariation im Russischen mit der auf den ersten Blick plausiblen permanent/temporär-Unterscheidung doch nicht erklärt werden kann. Es finden sich, um nur einen Einwand zu benennen, viele Beispiele mit dem Instrumental bei Bezeichnungen von inhärent permanenten Eigenschaften, vgl. (18): (18)

Anna byla docer'ju svjascennika/doc' svescennika. Anna war TochterINS PriesterGEN /TochterNOM PriesterGEN 'Anna war die Tochter eines Priesters.'

Dies kann neben weiteren Befunden als Hinweis darauf gedeutet werden, dass die Unterscheidung permanent vs. temporär nicht direkt mit der Kasuswahl Nominativ vs. Instrumental korreliert, sondern die eigentliche Grundlage für die Nominativ/Instrumental-Zuweisung neu ermittelt werden muss. Auch im Deutschen scheint es zumindest partiell möglich zu sein, ähnliche Kontraste wie in (14) und (15) zu bilden. So können Berufsbezeichnungen und Nationalitätsbezeichnungen in der Position des Prädikativs ohne Artikel verwendet werden. Die bloßen Nomina eignen sich als Stadien-Prädikate, wohingegen entsprechende Prädikatsnomina mit einem definiten Artikel eindeutig Individuen-Prädikate sind. Während Stadien-Prädikate mit einem temporalen Adverbial kombiniert werden können, sind Individuen-Prädikate damit nicht kombinierbar: (19)

a .Stadien-Prädikat Peter war zweimal Sieger bei der Weltmeisterschaft 1990. b.

Individuen-Prädikat * Peter war zweimal der Sieger bei der Weltmeisterschaft 1990.

Nach (19a) muss Peter Sieger in verschiedenen Disziplinen gewesen sein, in (19b) wird diese Interpretation durch den definiten Artikel blockiert. Die Stadien/Individuen-Unter-

9 Scheidung im Deutschen ist allerdings nur auf bloße Nomina mit bestimmter Bedeutung eingeschränkt, während die Kasusalternation im Russischen keinen Restriktionen dieser Art unterliegt. Nun zum Spanischen. Maienborn (2003) weist die Stadien/Individuen-Dichotomie als Erklärungsgrundlage für die Wahl zwischen den Kopulae ser vs. estar als unhaltbar zurück. Sie argumentiert überzeugend dafür, dass die Trennungslinie zwischen ser und estar nicht durch die Unterscheidung permanent vs. temporär markiert wird. Maienborn schlägt einen diskurspragmatischen Ansatz vor, der die Kopula-Unterschiede im Spanischen ohne lexikalische oder syntaktische Stipulation erfassen kann. Demnach müssen im Lexikon zwei (phonologisch distinkte) Kopulae mit der gleichen Argumentstruktur angenommen werden. Estar unterscheidet sich jedoch von ser durch eine diskursbezogene Präsupposition: sein Gebrauch verlangt eine spezifische Bezugssituation. Diese pragmatische Bedingung ist Teil des Lexikoneintrags von estar. Die Temporaritätseffekte, die estar erzeugen kann, führt Maienborn auf diese pragmatische Bedingung im Lexikoneintrag von estar zurück. Ich werde prüfen, ob sich der von Maienborn vorgeschlagene diskurspragmatische Ansatz auch für die Erfassung der Kasusalternation im Russischen eignet. In Kapitel 3 wird gezeigt, dass die Analyse für spanisch ser/estar nicht unmittelbar auf die Kasusalternation Nominativ/Instrumental der nominalen Prädikative im Russischen zu übertragen ist. Was im Spanischen in den Bereichen von Lexikon und Pragmatik verankert ist, wird im Russischen auf die Domänen Lexikon, Morphosyntax und Pragmatik verteilt.

1.3.2

Wie adjektivisch sind prädikative Adjektive?

Die in 1.2.1 erwähnte kaum kategoriell beschränkte Belegung des Prädikativs wirft auch die Frage auf, inwieweit die in der Position des Prädikativs vorkommenden nominalen und adjektivischen Kategorien ihre in Argumentpositionen kategorientypischen Merkmale behalten. Das gilt für die Referenzialität von NPs ebenso wie für die Eigenschaftsdenotation von APs, für die das Russische mit seinen Adjektiven in Kurz- und Langform den Stoff für eine aufschlussreiche Fallstudie bietet. Im Russischen tritt das prädikative Adjektiv im Hinblick auf Kongruenz mit dem Subjekt in zwei Formen auf: einer sog. Langform (LF), die in Genus, Numerus und Kasus, und einer Kurzform (KF), die nur in Genus und Numerus mit der Subjekt-NP kongruiert. Da die Langform ihrerseits auch im Nominativ oder Instrumental vorkommen kann, ergibt sich eine dreifache Variationsmöglichkeit: (20)

Zagadka byla prosta Rätsel

/prostaja

/prostoj.

war einfachK F /einfach| F N { J M /cinfach| F [NS

'Das Rätsel war einfach.' Die strukturellen und interpretativen Unterschiede zwischen Kurz- und Langform sind ähnlich umstritten und unklar wie die Stadien/Individuen-Unterscheidung, die in der Literatur auch hierfür als Sortier-Schablone herangezogen wurde. Wenn der Unterschied zwischen der Langform im Nominativ und der Langform im Instrumental analog zu

10 Prädikatsnomina erklärt werden kann, worin besteht dann der Unterschied zwischen Kurz- und Langform? Die Kurzformen scheinen sich von den typischen Belegungen der Prädikativ-Position sowohl syntaktisch als auch kategoriell zu unterscheiden: Syntaktisch: Generell ist der syntaktische Status des Prädikativs als Komplement der Kopula dem eines Adjunkts vergleichbar. Sowohl Prädikative als auch Adjunkte sind ungesättigte Ausdrücke mit einer offenen externen Theta-Rolle. Da adjektivische Prädikative ungesättigte Ausdrücke sind, können sie z.B im Deutschen oder im Englischen als sekundäre Prädikate fungieren, vgl. (21). Im Russischen hingegen können nur Langformen als sekundäre Prädikate auftreten, Kurzformen jedoch nicht, vgl. (22). Kurzformen scheinen untypische Adjektive zu sein. (21)

Peter arrived drunk. Peter kam-an betrunken 'Peter kam betrunken an.'

(22)

On priechal p'janyj /*p'jan. er kam betrunken LF /*betrunken K F 'Er kam betrunken an.'

(Koch & Rosengreen 1995: 2)

Kategoriell: Kurzformen haben die für nominale Kategorien im Russischen nötige Kasus-markierung nicht, was als Hinweis darauf gelten kann, dass sie eine [-N]-Kategorie sind. Sie sind somit keine typischen Belegungen der prädikativen Position, die nach der traditionellen Auffassung eine Position für [+N aV]-Kategorien ist. Da Kurzformen also nicht die für Prädikative typischen Eigenschaften aufweisen, stellen sich folgende Fragen, die in Kapitel 4 behandelt werden: -

Sind Langform und Kurzform unterschiedliche Belegungen ein und derselben syntaktischen Position des Prädikativs, das als Komplement der Kopula fungiert und mit ihr ein komplexes Prädikat formt, oder handelt es sich bei byt' mit der Kurzform um zusammengesetzte Konstruktionen einer anderen Art?

- Wenn die Kurzform kein Prädikativ und byt' in Verbindung mit der Kurzform nicht wie in den bisher betrachteten Fällen Kopula ist, welchen Beitrag leistet byt' dann? Die Antwort auf diese Frage wirft neues Licht auf die bisher nicht problematisierte kategorielle Differenzierung von byt' in Kopula, Vollverb und Hilfsverb: in 4.4 wird eine Analyse vorgeschlagen, die gestattet, die Kopula-Z>y/' und das Auxiliar-Zy/' zu differenzieren, ohne jedoch unterschiedliche Lexikoneinträge für Kopula und Auxiliar postulieren zu müssen. Die Abschnitte 1.2 und 1.3 konturieren den Gegenstand dieser Arbeit, nämlich zu ergründen, wie die Bedeutung der Kopulasätze aus den Bedeutungen ihrer Teile rekonstruiert werden kann. In diesem Zusammenhang ist zu prüfen, was das Verb SEIN bewirkt, warum es trotz seiner „Leere" - inklusive der Nullkopula im Russischen! - für die

11 Satzbildung unverzichtbar ist, und welchen semantischen Beitrag es zusammen mit seinem Komplement zu den verschiedenen Typen von Sätzen leistet. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf Kopulasätze mit nominalen und adjektivischen Prädikativen im Deutschen, Englischen, Spanischen und Russischen. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem systematischen Vergleich der zuerst genannten Sprachen mit dem Russischen, dessen weitreichende Bedeutung für eine auf Universalien und typologische Variation abzielende Analyse der Kopulasätze bisher unterschätzt wurde. Russische Spezifika wie die Nullkopula im Präsens, Pronomen mit gleichsetzender Bedeutung, die Kasusalternation und die distinkte Kongruenzmarkierung beim prädikativen Adjektiv und vieles mehr machen die Interaktion von Syntax und Semantik transparenter und gewähren so einen tieferen Einblick in die typologisch parametrisierten Ausdrucksoptionen, die einzelsprachliche Grammatiken für die Kopulasätze bereitstellen.

1.4

Grammatiktheoretische Annahmen

An dieser Stelle werden nun die theoretischen Grundannahmen über den Aufbau der Grammatik umrissen, die ich meiner Untersuchung zugrunde legen werde. In den einzelnen Kapiteln werden diese Grundannahmen dann schrittweise vertieft. Die Grammatik wird als ein modulares System von strukturbildenden Komponenten (Modulen) wie Syntax, Phonologie und Semantik verstanden. Die Interaktion dieser Module basiert auf der Zuordnung von Strukturrepräsentationen an den Schnittstellen zwischen den betreffenden Komponenten. Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht die logische Form als Schnittstelle zwischen Syntax und semantischer Interpretation. Für die Kodifizierung der strukturellen Befunde auf entsprechenden Repräsentationsebenen halte ich mich an die folgenden Annahmen. Syntaktische

Repräsentationsebene

Die Syntax an sich wird in der vorliegenden Arbeit nur insoweit einbezogen, als sie für Fragen der Kompositionalität relevant ist. Meiner Arbeit wird das syntaktische Modell der Rektions- und Bindungstheorie (Chomsky 1981) mit einigen Erweiterungen wie den von Larson (1988) vorgeschlagenen VP-Schalen, der Split-Infl-Hypothese von Pollock (1989) und dem Mechanismus der Kopf-Bewegung und Inkorporierung nach Baker (1988) zugrunde gelegt. In diesem Modell können reguläre Wortformen in der Syntax durch die Bewegung von Stämmen hin zu Affixen, die als Belegungen von funktionalen Kategorien figurieren, gebildet werden. Funktionale Kategorien stellen Bündel von abstrakten Merkmalen dar, die durch das Lexikon bereitgestellt werden. Das Lexikon wird in dieser Arbeit als Sammlung von verschiedenen Einheiten wie Stämmen, Affixen, abstrakten Merkmalen und irregulär gebildeten (komplexen) Wörtern aufgefasst. Lexikalische Einträge leisten die Zuordnung von phonologischen, morpho-syntaktischen und semantischen Angaben zu einer gegebenen lexikalischen Einheit.

12

Für die Aufgabenteilung zwischen Syntax und Lexikon ist das Kriterium der Regularität bzw. Produktivität entscheidend. Produktive Wort- und Formbildungsprozesse mit vollständig vorhersehbarem und regulärem Output finden in der Syntax statt, unproduktive und idiosynkratische Bildungen sind im Lexikon angesiedelt, d.h. das Lexikon enthält einerseits ein Inventar an einfachen und komplexen Lexemen, die idiosynkratisch gebildet sind, und andererseits einzelne Stämme, Morpheme sowie syntaktische und semantische Merkmale, aus denen neue Wörter und Wortformen regulär in der Syntax gebildet werden können. In Kapitel 4 wird die syntaktische Wortbildung am Beispiel der Kurz- und Langform der Adjektive im Russischen auf der Basis der Theorie der „Distributed Morphology" (Halle & Marantz 1993 und Harley & Noyer 1999) erprobt, einer Theorie, die generell die Wort- und Formbildung in die Syntax verlagert. Semantische

Repräsentationsebene

In dieser Arbeit wird die „Zwei-Ebenen-Theorie der Bedeutung" nach Bierwisch (1983, 1997) und Bierwisch & Lang (1987) vertreten. Nach dieser Konzeption wird zwischen zwei Ebenen der Bedeutungskonstitution, der semantischen Form bzw. der logischen Form2 (s. Bierwisch 1997) und der konzeptuellen Struktur, unterschieden. Die semantische bzw. logische Form ist eine sprachliche Bedeutungsrepräsentationsebene, die die Zuordnung von syntaktischen und konzeptuellen Strukturen herstellt. Die semantische Form eines Ausdrucks enthält lediglich ein Gerüst an Information, sie wird in einer Äußerung durch den Rückgriff auf kontextuelles, enzyklopädisches und anderes konzeptuelles Wissen spezifiziert. Diese Bedeutungsspezifizierung erfolgt auf der Ebene der konzeptuellen Struktur. Das Spektrum zulässiger Interpretationen eines sprachlichen Ausdrucks auf der konzeptuellen Ebene wird durch die semantische Form dieses Ausdrucks beschränkt. Die semantische Form von Ausdrücken sowie die logische Form eines Satzes sind mit der formalen Sprache der Prädikatenlogik beschreibbar. Jeder Ausdruck hat eine semantische Repräsentation, der ein logischer Typ zugewiesen wird. Die Verknüpfung der semantischen Repräsentation ausgehend von einzelnen Einheiten zu einer semantischen Repräsentation komplexer Einheiten im Zuge der semantischen Strukturbildung erfolgt durch Amalgamierungsregeln. Richtschnur für die semantische Strukturbildung ist dabei das Kompositionalitätsprinzip, das besagt, dass die Bedeutung eines komplexen sprachlichen Ausdrucks eine Funktion der Bedeutung seiner Teile unter Berücksichtigung ihrer syntaktischen Fügung ist, vgl. (2). In der semantischen Komposition der Bedeutung von komplexen Ausdrücken können die semantischen Typen der einzelnen Teile des komplexen Ausdrucks zu Typkonflikten

2

Genauer genommen ist der Begriff der logischen Form breiter als der der semantischen Form. Nach Bierwisch (1997) muss die logische Form in zwei Komponenten aufgeteilt werden, die semantische Form und die grammatische Form. Während die semantische Form eine Schnittstelle zur konzeptuellen Struktur im engeren Sinne darstellt, d.h. die Information enthält, die auf der Ebene der konzeptuellen Struktur interpretiert wird, enthält die grammatische Form die syntaktische und morphologische Information, die auf der Ebene der konzeptuellen Struktur nicht interpretiert wird.

13 fuhren. Solche Konflikte können spezielle Operationen der Sortenanpassung auslösen, durch die unmittelbar auch die Bedeutung von mindestens einem der kombinierten Lexeme verändert wird. Ein geeignetes Instrumentarium zur Erfassung von systematischen Bedeutungsverschiebungen dieser Art bieten die Typverschiebungsoperatoren von Partee (1987). Um die Typverschiebungen bei Nominalphrasen erfassen zu können, nimmt Partee an, dass eine Nominalphrase neben ihrer primären semantischen Repräsentation eine fixierte Menge weiterer Repräsentationen hat, die sich aus der primären Repräsentation durch typgerechte Anwendung von bestimmten semantischen Operatoren ableiten lassen. Partees Typanpassungsoperatoren sind ein geeignetes Mittel zur Lösung von Typkonflikten und zur Erfassung der Bedeutungsvariation von Ausdrücken, die durch den Kompositionalitätprozess auf der Satzebene ausgelöst wird. Nachdem der Kompositionsprozess auf der Satzebene abgeschlossen ist, kann es bei einer Äußerung auf der Ebene der konzeptuellen Struktur zu weiteren nichtkompositionalen Bedeutunsspezifizierungen der Ausdrücke kommen. Die Auslöser hierfür sind der Kontext und außersprachliches Wissen. Um die kontextuelle Spezifizierung der Bedeutung eines Ausdrucks in einer Äußerung zu ermöglichen, wird in der „Zwei-EbenenTheorie der Bedeutung" angenommen, dass die Bedeutungen von lexikalischen Ausdrücken, d.h. ihre semantische Form, wegen des Vorkommens von noch zu fixierenden freien Parametern unterspezifiziert ist. Durch die kontextuelle Spezifizierung der Bedeutung der Ausdrücke werden die freien Parameter in der semantischen Form dieser Ausdrücke fixiert. Die kontextuell bedingte Interpretationsvariablität sprachlicher Ausdrücke kann so ohne die Annahme der mehrfachen Polysemie erfasst werden. Somit kann nach Dölling (2001: 13) zwischen zwei Typen der Bedeutungsvariation unterschieden werden: (i) Bedeutungsvariationen, die durch Bedeutungsanpassung bei Typkonflikten bedingt sind, und (ii) Bedeutungsvariationen, die durch die kontextuelle Spezifizierung ausgelöst werden. Die Bedeutungsvariation vom Typ (i) betrifft die semantische Form einzelner Ausdrücke, sie ist kompositional erfassbar. Die Bedeutungsvariation vom Typ (ii) ist auf der Ebene der konzeptuellen Struktur angesiedelt. Da die konzeptuelle Bedeutungsspezifizierung teilweise den von der Grammatik unabhängigen pragmatischen Prinzipien unterliegt, ist sie nicht streng kompositional erfassbar. Bei der Untersuchung der Kopulasätze werden wir uns hauptsächlich auf die Ebene der semantischen bzw. der logischen Form konzentrieren. In Kapitel 3 wird allerdings ein kurzer Ausflug in die Pragmatik unternommen, ein Bereich, den ich als Teil der konzeptuellen Struktur betrachte. Die in diesem Abschnitt vorgenommene Skizzierung des theoretischen Rahmens stellt lediglich einen kursorischen Überblick dar. In den weiteren Kapiteln werden entsprechend der Notwendigkeit weitere theoretische Ausführungen vorgenommen, um die Argumentation verständlich zu machen. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt jedoch auf der detaillierten Untersuchung der in 1.1-1.3 diskutierten Fakten in den verschiedenen Bereichen und ihrer Interrelation an der Schnittstelle zwischen Syntax und konzeptueller Struktur.

14 1.5

A u f b a u der Arbeit

Der Aufbau der Arbeit ergibt sich aus den in Kapitel 1 angeführten Problemen. Die Kapitel 2-5 liefern Antworten auf die in 1.1-1.3 gestellten Fragen. Hier eine kurze Vorschau: Kapitel 2 geht der Frage nach, wodurch die Interpretation eines Kopulasatzes als prädizierend, identifizierend oder spezifizierend gesteuert wird: durch das jeweilige Kopulaverb, durch das Prädikativ oder durch die Interaktion beider Konstituenten. Hier bietet sich ein Vergleich zwischen Deutsch und Englisch, die beide für alle drei Kopulasatz-Typen die gleiche Oberfläche aufweisen, mit dem Russischen an, das ein spezielles morphosyntaktisches Mittel für die Unterscheidung von prädizierenden und Identitätssätzen ausgebildet hat. Kapitel 3 überprüft nach einer kritischen Übersicht über Erklärungsansätze zur Kasusalternation im Russischen, die den Stadien/Individuen-Unterschied in der Argumentsstruktur der jeweiligen Kopula festmachen, anhand von Belegen aus Textkorpora, ob der diskurs-pragmatische Ansatz von Maienborn (2003), der zur Erklärung des Unterschieds zwischen ser und estar im Spanischen entwickelt wurde, die Kasusalternation im Russischen erfassen kann. Ferner wird gezeigt, wie sich die Bedeutung, die im Spanischen im Lexikoneintrag der jeweiligen Kopula kodiert ist, im Russischen aus dem Zusammenspiel von Morphosyntax, Semantik und Pragmatik mit einer Kopula ergibt. In Kapitel 4 wird geprüft, ob es sich bei byt '-Sätzen mit der Kurzform des Adjektivs um Kopulasätze handelt, die ja nach gängiger Auffassung nur [+N]-Kategorien in der Position des Prädikativs zulassen. Die Grundlage dafür bildet der Vergleich des morphosyntaktischen Status von Kurzformen und Langformen. Das Interesse gilt der Klärung der Frage, wie das Zusammenspiel zwischen byt' und dem Adjektiv von der jeweiligen morphosyntaktischen Kategorisierung dieses Adjektivs abhängt und was byt' zur Satzbildung beiträgt. Kapitel 5 konzentriert sich auf das Phänomen der Nullkopula im Russischen und geht der Frage nach, wie ein Kopulasatz ohne overte Kopula funktioniert und weshalb sich das Russische eine phonologisch leere Kopula leisten kann, während die anderen slavischen Sprachen diese Option nicht ausgebildet haben. Kapitel 6 illustriert einige Datenbereiche aus dem Russischen und anderen slavischen Sprachen, deren Bearbeitung zur Abrundung des Gesamtbildes nachzutragen ist, und ordnet die Befunde in den Kontext der diachronischen und typologischen Forschung ein. Kapitel 7 enthält abschließende Bemerkungen zur Arbeit. Für die Bewertung sprachlicher Daten verwende ich folgende Markierungen: *

ungrammatisch (klare Verletzung der grammatischen Wohlgeformtheit)

?/?? weniger bis kaum akzeptabel, Sprecherurteile unsicher, Quelle der Abweichung nicht ohne weiteres lokalisierbar #

pragmatisch unangemessen, d.h. grammatisch wohlgeformt, aber im gegebenen Kontext fehlplatziert

15 Die Beispiele sind teils von mir (als russischer Muttersprachlerin) gebildet, teils stammen sie aus den Tübinger russischen Korpora (s. Quellenverzeichnis am Ende der Arbeit) bzw. wurden mithilfe der Suchmaschine Google ermittelt und muttersprachlich bewertet.

2

Prädikation vs. Gleichsetzung

... predication and identity. It is a disgrace to the human race that it has chosen to employ the same word „is" for these two entirely different ideas - a disgrace which a symbolic logic language of course remedies. (Bertrand Russell 1919: 172)

Gemäß der klassischen Sichtweise in der Sprachphilosophie und in der Linguistik gibt es zwei nach ihrer Interpretation unterschiedenen Haupttypen von Kopulasätzen: prädizierende Kopulasätze und gleichsetzende Kopulasätze (letztere werden auch Identitätssätze genannt). Nach Higgins (1979) und Declerk (1988) können noch weitere Typen von Kopulasätzen unterschieden werden. Am Beispiel des Russischen, Deutschen und Englischen soll untersucht werden, wie die jeweilige Interpretation des Kopulasatzes zustande kommt und welchen Beitrag dabei die Kopula und das Prädikativ leisten. Insbesondere wird der Frage nachgegangen, ob es Evidenz fur die Annahme verschiedener Kopulaverben, einer Kopula der Prädikation, einer Kopula der Identität und noch weiterer Kopulae, gibt. Dabei werden die in der Literatur bisher vorgeschlagenen Analysen diskutiert und auf ihre Tragfähigkeit überprüft.

2.1

Typen von Kopulasätzen

Um die Frage nach dem Beitrag der Kopula zur kompositional-semantischen Struktur der Kopulasätze beantworten zu können, müssen wir zunächst die interne Struktur der Kopulasätze unter die Lupe nehmen. Seit Frege und Russell wird zwischen prädizierenden Aussagen und Identitätsaussagen unterschieden. Diese Unterscheidung hat sich auch in der Sprachwissenschaft eingebürgert. In prädizierenden Kopulasätzen wie in (1), (2) und (3) wird dem Subjektreferenten der NP1 1 eine Eigenschaft zugeschrieben (prädiziert), die durch die postkopulare Phrase bezeichnet wird. Als Träger der Eigenschaftsbezeichnung können APs (vgl. (1)), NPs (vgl. (2)) sowie lokale und nicht-lokale Präpositionalphrasen wie in (3) dienen. Den letzten Typ führe ich nur der Vollständigkeit halber an und werde mich auf die ersten beiden Typen beschränken.

1

Der Einfachheit halber werde ich die linke NP „NP1" und die rechte NP „NP2" nennen. Die Bezeichnungen NP1 und NP2 sind vorerst neutral gegenüber ihrem syntaktischen Status als DP oder NP. Ich werde sie aber später in diesem Kapitel terminologisch differenzieren.

17

(1)

Prädikation (Zuschreibung): a. Die Erdkugel ist nicht ganz rund. b. Der Fahrer war betrunken. c. Der König ist kahlköpfig.

(2)

a. Peter ist Lehrer. b. Er war ein Glückspilz. c. Sie ist eine gute Sängerin.

(3)

a. Peter ist in Berlin. b. Der Patient ist im Koma. c. Anna ist im besten Alter.

Identitätssätze wie in (4) werden hingegen anders als prädizierende Sätze interpretiert. Sie behaupten die Identität zweier durch NP1 und NP2 repräsentierter Referenten. Der Satz (4a) besagt z.B., dass der Referent von der Morgenstern gleich dem Referenten von der Abendstern ist. Solche Aussagen wären in einer Situation denkbar, in der der Hörer davon ausgeht, dass die Referenten von NP1 und von NP2 zwei verschiedene, miteinander nicht identische Individuen sind.

(4)

Gleichsetzung (Identität) a. Der Morgenstern ist der Abendstern, b. Samuel Clemens ist Mark Twain.

Für die Unterscheidung zwischen Prädikation und Gleichsetzung spielt der referenzielle Status der NP2 eine entscheidende Rolle. Daher soll hier der Begriff der Referenzialität, der bei der Analyse der Kopulasätze eine wichtige Rolle spielen wird, kurz erläutert werden. Grundsätzlich wird zwischen referenziellen (Argument-NPs wie der Mann, ein Mann), nicht-referenziellen (Prädikat-NPs wie Lehrer in Lehrer sein) und quantifizierenden Phrasen (jeder Student) unterschieden. Da quantifizierende Phrasen wie jeder Mann nicht in der prädikativen Position in Kopulasätzen vorkommen können (Partee 1986: 361) vgl. (5), werde ich diese aus der weiteren Betrachtung ausklammern: (5)

*Peter ist jeder Student in meiner Klasse.2

Ich folge hier einem weiten Referenzbegriff, nach dem jede Nominalgruppe in einer Argumentposition, d.h. einer Subjekt- oder Objektposition, einen Referenten 3 einführt. Da die

2

Quantifizierende Phrasen in Kopulasätzen sind jedoch nicht völlig ausgeschlossen (E. Löbel, pers. Kommunikation), vgl. (i): (i) Ein Junggeselle ist jeder Mann, der noch nie geheiratet hat. Die quantifizierende Phrase jeder Mann spielt hier jedoch nicht die Rolle eines Prädikativs, sondern des Subjekts. Solche Sätze zähle ich zum Typ der spezifizierenden Sätze, vgl. dazu Abschnitt 2.4. Sie zeichnen sich syntaktisch dadurch aus, dass das Prädikativ in der satzinitialen Position, das Subjekt hingegen in der satzfinalen Position steht.

18 NP2 in Identitätssätzen ebenfalls einen Referenten einfuhrt, kann man die Komplementposition der Kopula in Identitätssätzen als Argumentposition betrachten. Die Komplementposition der Kopula in prädizierenden Sätzen wie (1), (2) und (3) wird prädikative Position genannt. Im Allgemeinen wird angenommen, dass NPs genau wie APs in der prädikativen Position keinen Referenten einführen und daher nicht-referenziell sind (s. Kuno 1970, Leys 1973, Partee 1987, Doron 1988). Die prädikative NP Lehrer in (2) bezeichnet die Eigenschaft, Lehrer zu sein. Ich belasse es zunächst bei der intuitiven Unterscheidung zwischen referenziell und prädikativ (=nicht-referenziell) und werde in 2.2.1 den grammatischen Hintergrund für diese Unterscheidung erläutern. Über die zwei grundlegenden Typen hinaus - prädizierende vs. gleichsetzende bzw. Identitätssätze - lassen sich weitere Subtypen ermitteln. So nimmt Higgins (1979: 264) außer den prädizierenden Kopulasätzen und den Identitätssätzen (Typ I und II in der Klassifikation von Higgins) zwei weitere Subtypen an, vgl. Tabelle 1: Tabelle 1: Klassifikation der Kopulasätze nach Higgins (1979) Type

NP1

NP2

Examples

I. Predicational II. Identity (Equative) III. Identificational IV. Specificational

referential

predicational

referential

referential

referential

identificational

superscriptional

specificational

John is a teacher John is tall. The Morning Star is the Evening Star. That woman is the Mayor of Cambridge. a) The person I like most is my father. b) What I don't like about John is his tie.

In Typ HI-Sätzen (identifizierender Kopulasatz) dient die NP2 der Identifizierung des Subjektreferenten. Solche Sätze sind dem Typ II (Identitätssatz) am nächsten. Beim vierten Typ (spezifizierende Kopulasätze) beschreibt die NP1 bzw. der Relativsatz in der Position der NP1 eine Einzelmenge, daher die Bezeichnung des Subjekts als beschreibend („superscriptional"). Die NP2 dient in solchen Sätzen der „Spezifizierung" der beschriebenen Menge, daher die Etikette „specificational" für die NP2. Die Einfuhrung der Etiketten für NPs bei Typ III {identifizierend) und IV (spezifizierend und beschreibend) rührt von dem Bedürfnis her, unterschiedliche Verwendungsweisen von Nominalgruppen voneinander abzugrenzen. Solche Etiketten sagen aber wenig über den referenziellen Status der jeweiligen NP aus. Es ist nicht ganz klar, in welcher Beziehung die grammatisch relevante

3

Dazu ist anzumerken, dass der Referent unterschiedlich sein kann: Es kann ein Einzelindividuum wie z.B. meine Schwester und ein pluralisches wie die Familie sein. Nominalphrasen können auch auf Ereignisse wie der Mord und auf Arten (z.B. die generisch verwendete Nominalgruppe wie die Giraffe) referieren (vgl. Carlson 1977, Chierchia 1998). Es ist auch eine weitere Differenzierung der Referenz in spezifische oder nicht-spezifische Referenz möglich.

19 Unterscheidung referenziell/nicht-referenziell zur Unterscheidung identifizierend/spezifizierend/beschreibend steht. Heggie (1988) untersucht die Faktoren, die die Zuordnung eines Kopulasatzes zu dem jeweiligen Typ determinieren. Als entscheidenden Faktor für die jeweilige Interpretation des Kopulasatzes betrachtet sie die relative Referenzstärke der jeweiligen NP. Für das Englische nimmt sie die folgende Hierarchie der relativen Referenzstärke an: (6)

Hierarchie der relativen Referenzstärke nach Heggie (1988) deixis —> that, he

names —> John the Morning Star

definite descriptions —> the Mayor of Cambridge the winner

indefinites a teacher

Nach dieser Hierarchie sind Deiktika referenziell am stärksten. Heggie begründet dies damit, dass Deiktika auf Individuen direkt durch Zeigen verweisen. Sie referieren unabhängig davon, ob der Referent dem Sprecher und Hörer bekannt oder unbekannt ist. Die von Higgins ermittelten Typen können durch die relative Referenzialitätsstärke der NP1 gegenüber der NP2 wie folgt charakterisiert werden: Tabelle 2: Verteilung der Referenzialität in Kopulasätzen Referenzialitätsstärke

Typ I. Prädizierend II. Identitätssatz III. Identifizierend IV. Spezifizierend

Beispiele

NP1

>

NP2

He/John/is a teacher.

NP1

_

NP2

The Morning star is the Evening star.

NP1

>

NP2

John is the president of the club.

NP1


' referenziell stärker; ,] (a) ^ [P(a>]

Für die Theta-Markierung des externen Arguments des Verbs tanzen mit der semantischen Repräsentation in (38a) (zunächst unter Vernachlässigung des referenziellen Arguments) ergibt sich für den Beispielsatz Peter tanzt die logische Form in (38b):

30 (38)

a. tanzen: λ γ [ΤΑΝΖΕΝ(Υ)] b. Peter tanzt: λγ

[TANZEN(y)]

(peter) Ξ [ T A N Z E N ( p e t e r ) ]

Die Theta-Markierung des externen Arguments beim Kopulaverb verläuft etwas anders als bei einem Vollverb. In einem Kopulasatz sind das Kopulaverb und das Prädikativ an der Theta-Markierung des Subjekt-Arguments beteiligt. Für die Kopula der Prädikation nehme ich nach Dowty (1979) vorläufig folgende semantische Repräsenation an: (39)

SEIN Präd : λ Ρ λχ [ P ( x ) ]

Die Kopula nimmt ein prädikatives Komplement Ρ vom T y p , das einer N P oder A P entspricht, und ein referenzielles Argument χ v o m T y p e. Das prädikative Komplement der Kopula ist semantisch ein Prädikat, es wird nicht durch einen Argumentausdruck, sondern durch einen Prädikatausdruck spezifiziert. Da das Kopulaverb keinen deskriptiven Gehalt hat, kann es keine Theta-Rolle an sein externes Argument vergeben. Die Theta-Rolle bekommt das externe Argument der Kopula von der prädikativen N P . Die prädikative N P kann das externe Argument der Kopula theta-markieren. Nimmt man an, dass die Kopula im Deutschen eine linksköpfige Verbalphrase projiziert und eine syntaktische Position für das Subjekt beisteuert, könnte ein prädizierender Kopulasatz zunächst syntaktisch wie folgt repräsentiert werden: (40)

[ypPeterj [ v -j ist [ N P j Katholik]]] (j steht für die externe Theta-Rolle der prädikativen N P

Katholik).

Die externe Theta-Rolle der prädikativen N P vererbt sich auf das ganze zusammengesetze Prädikat V ' und wird dem Satzsubjekt Peter zugewiesen (vgl. auch Bierwisch 1988: 47). Für Repräsentationszwecke wird in (41) die Bedeutung eines prädizierenden Satzes kompositional abgeleitet. Bei dieser Ableitung bleibt Tempus unberücksichtigt. Später, im Kapitel 3, wird diese Analyse verfeinert. Der Satz in (41a) mit der Bedeutung der Kopula und des Prädikativs in (41b/c) wird in (41d/e) durch funktionale Applikation kompositional abgeleitet. (41)

a. Peter ist Katholik b. ist: λ Ρ λ χ [ P ( x ) ] c.

[ N P Lehrer]: Xy

d.

[ y Ξ

[KATHOLlK(y)]

ist Lehrer]: λΡ λχ [Ρ (χ)] (Xy λ χ

[KATHOLlK(y)])

[KATHOLIK(x)]

e. [VP Peter ist Katholik]: λχ [KATHOLIK(X)] (peter) =

KATHOLiK(peter)

Die resultierende Repräsentation sagt aus, dass Peter die Eigenschaft hat, Katholik zu sein. Zusammengefasst bestehen prädizierende Sätze aus einem referierenden Subjekt, aus einem nicht-referierenden Prädikativ und einer Kopula der Prädikation, die zusammen mit dem Prädikativ ein komplexes Prädikat formt. Die einzelsprachlichen Besonderheiten der prädi-

31 zierenden Sätze sind die folgenden: Im Deutschen dient die artikellose Verwendung eines Nomens im Singular als Kennzeichen der nominalen Prädikative. Im Russischen ist die Möglichkeit der Kasusvariation zwischen Nominativ und Instrumental beim Prädikatsnomen bei der overten Kopula ein Indiz für den prädikativen Status einer NP.

2.3

Identitätssätze

2.3.1

Identitätssätze im Englischen und Deutschen

Identitätssätze wie (42) stehen seit Frege im Zentrum der philosophischen Diskussion (s. die Übersicht in Fiengo & May 2002, May 2001). Ich werde mich hier aber auf eine linguistische Analyse dieser Sätze konzentrieren. In der Linguistik gibt es generell zwei Auffassungen über Identitätsaussagen, eine strikte und eine weite. Nach der strikten Auffassung gehören zu Identitätssätzen solche, die aus zwei referierenden syntaktisch gleichartigen Nominalgruppen bestehen wie in (42). Solche Sätze gehören in der Klassifikation von Higgins, die ich auf S. 18 vorgestellt habe, zum Typ der Identitätssätze (Typ II in Tabelle l). 10 (42)

a. Peter Panter ist Kurt Tucholsky. b. Cicero ist Tullius. c. Der Morgenstern ist der Abendstern.

Diese Sätze können nach dem folgenden Schema paraphrasiert werden: „der Referent von NP1 ist identisch mit dem Referenten von NP2." Im unmarkierten Fall dienen Identitätssätze dazu, den Hörer davon zu unterrichten, dass der Referent von NP1, der dem Hörer nicht bekannt ist, und der Referent von NP2, der als bekannt vorausgesetzt wird, ein und dasselbe Individuum sind. So könnte z.B. (42a) in einer Situation geäußert werden, in der dem Hörer der Träger des Namens Peter Panter nicht geläufig ist. Auf die Frage „Wer ist Peter Panter?" könnte er dann (42a) als Antwort bekommen. Dass der Sprecher zur Identifikation von Peter Panter den richtigen Namen Kurt Tucholsky und nicht ein anderes Pseudonym wie Ignaz Wrobel oder Theobald Tiger wählt, hängt damit zusammen, dass der Name Kurt Tucholsky viel bekannter ist und sich damit für die Identifikation besser eignet. Nach einer weiten Auffassung gehören auch Sätze wie (43), wenn sie als Antworten auf wer-Fragen interpretiert werden, zu Identitätssätzen. Bei Higgins bilden sie den Typ III, die identifizierenden Kopulasätze (s. Tabelle 1).

10

Zu Identitätssätzen im weitesten Sinne gehören auch Aussagen wie (i) Nach der Wahl ist vor der Wahl. (ii) Reisen ist Reifen. Hier wird eine Identitätsrelation zwischen zwei Referenten abstrakterer Art hergestellt: in (i) zwischen zwei Situationen, der vor der Wahl und der nach der Wahl, und in (ii) zwischen dem, was Reisen bedeutet, und dem Reifen.

32 (43)

a. (Wer ist Einstein?) Einstein ist der Begründer der Relativitätstheorie, b. (Who is that woman?) That woman is the Mayor of Cambridge.

In ihren Verwendungsbedingungen sind identifizierende und Identitätssätze ähnlich. In beiden wird der Referent von NP1, dessen Existenz dem Hörer unbekannt ist, mit dem Referenten der zweiten NP, dessen Existenz dem Hörer bekannt ist, identifiziert. Die Identifizierung kann nur glücken, wenn dem Hörer tatsächlich bekannt ist, dass der Referent von NP2 existiert. So würde die Antwort auf die wer-Frage in (43a) einer Person nichts nutzen, wenn sie nicht weiß, dass es eine Relativitätstheorie und somit auch den Entdecker dieser Theorie gibt. Identifizierung ist somit immer mit der Rückführung auf Bekanntes verbunden (s. Weiss 1978). Im Unterschied zu Identitätssätzen sind in identifizierenden Sätzen NP1 und NP2 referenziell nicht gleichartig: NP1 ist referenziell stärker als NP2, vgl. die Referenzialitätsskala in (6). Dieser Unterschied hat Higgins (1979) veranlasst, für Sätze wie in (43) einen eigenen Typ zu postulieren. In dieser Arbeit werde ich mich auf die Identitätsaussagen konzentrieren und gehe davon aus, dass die Analyse, die fur sie vorgeschlagen wird, auch auf identifizierende Sätze vom Typ (43) übertragbar ist. Identitätssätze unterscheiden sich von prädizierenden Sätzen in ihrer Interpretation. In der Linguistik gibt es kontroverse Auffassungen darüber, welches Element der Auslöser für die identifizierende Interpretation ist, das Prädikativ oder die Kopula. Im Weiteren werde ich auf zwei Analysen eingehen, die für Identitätssätze im Englischen vorgeschlagen wurden. Traditioneller Ansatz: zwei Kopulae Die identifizierende Bedeutung in Sätzen wie (42) und (43) machen Philosophen seit Russell (1919) an der Bedeutung der Kopula fest. Russell (1919) nimmt daher neben der Kopula der Prädikation auch eine Kopula der Identität an. Folgt man dieser Tradition, muss man zwei unterschiedliche Lexikoneinträge für SEIN annehmen, einen für SEIN Präd und einen für SEINident· SEIN Präd nimmt ein Prädikat vom Typ als Komplement und ein Argument vom Typ e als Subjekt und bildet das Prädikat auf das Argument ab, s. den Lexikoneintrag in (44). Das SEIN der Prädikation ist nach dieser Repräsentation faktisch leer. Anders das SEIN der Identität. SEIN|dent nimmt zwei Argumente vom gleichen Typ e und etabliert eine Identitätsrelation zwischen ihnen, s. den Lexikoneintrag in (45). (44)

SEIN Präd : λΡ λχ [P(x)]

(45)

SEINi den t: λy λχ [χ = y]

(s. z.B. Sharvit 1999: 306)

Für den Identitätssatz in (46a) kann unter dieser Annahme die logische Form durch zweifache funktionale Applikation abgeleitet werden.

33 (46)

a. Cicero is Tully. b. Cicero: cicero c. Tully: tullius d. isident Tully: λy λχ [χ = y] (tullius) = λχ [x = tullius] f. Cicero isident Tully: λχ [χ = tullius] (cicero) = cicero = tullius

Eine gesonderte Kopula der Identität SEINIdent neben der Kopula der Prädikation SEINPräd wird von Linguisten wie Higgins (1979), Kamp & Reyle (1993), Sharvit (1999) und Schlenker (2001) angenommen. Alternativer Ansatz: eine Kopula Williams (1983) und Partee (1986, 1998) schlagen eine alternative Analyse vor. Sie nehmen nur SEINpräd an. Die gleichsetzende Interpretation des Kopulasatzes wird mithilfe eines leeren Operators erreicht. Da SEINPräd immer ein prädikatives Komplement des Typs nimmt, muss in (47a), das aus zwei referenziellen DPs besteht, die NP2 an den Typ angepasst werden. Dies geschieht durch die Anwendung des Operators IDENT wie in (47d). In (47e) wird NP2 durch IDENT von einem Term-Ausdruck des Typs e in ein Identitätsprädikat des Typs überfuhrt und damit zu einem Ausdruck gemacht, der in eine prädikative Position eingesetzt werden kann. Aus Tully entsteht in (47e) die Eigenschaft to be identical to Tully 'mit Tullius identisch sein'. Die Anwendung des leeren Operators IDENT macht es den Autoren möglich, mit einem einzigen Kopulaverb SEINPräd auszukommen. Nach der Anhebungsoperation werden Identitätssätze weiter wie prädizierende Sätze behandelt. (47)

a. Cicero is Tully b. Cicero: cicero c. Tully: tullius d. IDENT (j): λχ [χ = j] e. IDENT (tullius): λχ [χ = tullius] f. isprad Tully : λΡ λy [P(y)] (λχ [χ = tullius]) = λy [y = tullius] g. Cicero is Tully : λy [y = tullius] (cicero) = [cicero = tullius]

Um es noch einmal deutlich zu machen: die beiden Ansätze, der traditionelle und der alternative, unterscheiden sich darin, was sie jeweils als Auslöser der Identitätsinterpretation ansehen, eine spezielle Kopula oder das auf bestimmte Weise semantisch manipulierte Prädikativ. Die resultierenden logischen Formen des Satzes Cicero is Tully sind bei beiden Analysen gleich, die Verteilung der semantischen Komponenten auf syntaktische Einheiten ist in diesen Analysen jedoch unterschiedlich. Es entsteht die Frage nach der empirischen Rechtfertigung der einen oder der anderen Analyse. Prüfen wir zunächst den zweiten Ansatz. Der postulierte Typ-Anpasser IDENT ist ein Operator, der frei zur Verfugung steht und bei Bedarf immer zur Anwendung kommen kann. Die Analyse in (47) macht die Vorhersage, dass in Identitätssätzen NP2 ein PrädikatAusdruck ist. Wir wollen testen, ob das empirisch begründet ist. Als Test kann die Wahl

34 des entsprechenden Fragepronomens dienen. Wie (48) zeigt, würde man in den Identitätssätzen nach NP2 mit who und nicht mit what fragen. Dies lässt auf den Argumentstatus von NP2 schließen. Auch im Deutschen deutet dieser Test auf den Argumentstatus von NP2 hin. (48)

a. Cicero is Tully. (Who/* What is Cicero?) b. Cicero ist Tullius. (Wer/*Was ist Cicero?)

Der Frage-Test legt den Schluss nahe, dass NP2 in den Identitätssätzen ein Argument und kein Prädikat ist. Der Pronominalisierungstest in (49) bestätigt dies, zeigt aber zusätzlich, dass auch NP1 Argumentstatus hat: (49)

a. Mary! ist Georg Preuss. Siei ist eine bekannte Figur im Showgeschäft, b. Mary ist [Georg Preuss]j. Erj ist ein großer Verwandlungskünstler. (E. Löbel, pers. Kommunikation)

Der Unterschied im Genus zwischen NP1 und NP2 macht es möglich zu zeigen, dass sowohl NP1 als auch NP2 als Antezedenten von Personalpronomina dienen können, was als Hinweis fur ihre Referenzialität zu deuten ist. Die in (47) vorgeschlagene „alternative" Analyse sollte daher revidiert werden. Wenn es nicht die NP2 ist, die die Identitätsinterpretation auslöst, was ist dann der Auslöser? Meine Annahme ist die folgende. In Identitätssätzen wird die identifizierende Interpretation durch die Kopula SEIN|dent ausgelöst. Nimmt man dies an, bekommt der Kontrast in (48) eine natürliche Erklärung: Diese Kopula nimmt in einem Satz wie Cicero ist Tullius den rechtsstehenden Eigennamen als Argument. Es gibt also Gründe, neben SEINPräd eine Kopula SEINIdent anzunehmen. Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob es sich bei diesen beiden Kopulae um unterschiedliche Verben handelt, die eigenständige Lexikoneinträge beanspruchen. Will man die Repräsentationen im Lexikon nach Ökonomieprinzipien im Sinne von Bierwisch (1997) gestalten, wäre zu überlegen, ob man nicht auch mit einem einzigen Lexikoneintrag für die Kopula auskommen kann. So könnte man annehmen, dass SEINPräd eine unterspezifizierte Kopula ist, die durch den nicht-overten Operator IDENT spezifiziert werden kann. In (50) wird dieser Vorschlag durchgespielt. IDENT mit der Repräsentation in (50a) wird in (50c) mit SEINPrad durch funktionale Komposition" (das Zeichen „o") verbunden. Auf diese Weise wird die Identitätsrelation in die Bedeutung der Kopula eingespeist.

11

In der Kategorialgrammatik wird zur Kombination zweier Konstituenten neben funktionaler Applikation funktionale Komposition angenommen. Bei funktionaler Komposition werden zwei Funktionen zu einer komplexen Funktion vereint, s. Steedman (1985). Funktionale Komposition kommt bei der Verknüpfung der Affixbedeutungen mit dem Stamm zum Tragen, s. z.B. Zimmermann (1988b). Dieses Verfahren ermöglicht es, semantische Leerstellen der Ableitungsbasis gewissermaßen zu übergehen. Die ausgeblendeten Leerstellen gehen in die resultierende Repräsentation ein. In (i) ist die allgemeine Regel für die Funktionale Komposition angegeben: (i)PoQ^yn...Xy,[P(Q(yn)...(y,))] Die λy π ... λy 1 sind die von dem Nebenfunktor Q an die komponierte Funktion P(Q) vererbten Argumentstellen.

35 (50)

a. IDENT: λγ λιι [u = y] b. SEINPräd: λΡ λχ [P(x)] c. SEINIde„,: [λΡ λχ [P(x)]] ο [λγ Xu [u = y]] s λγ [λΡ λχ [P(x>] (λιι [u = y])] Ξ λγ [λχ [ λιι [u = y] (χ)]] = λγ λχ [χ = y]

Das Resultat der Ableitung ist die Kopula der Identität. Das so abgeleitete SEINident bezeichnet eine Relation, die zwischen zwei Individuen besteht. Da NP2 ein gesättigter Ausdruck mit Argumentstatus ist, hat sie nicht die Funktion eines Prädikativs. Somit sind Identitätssätze keine Kopula-Prädikativ-Konstruktionen im engeren Sinne. Die Kopula repräsentiert ein zweistelliges Identitätsprädikat, d.h. sie ist ein transitives Verb. Nach dem oben gemachten Vorschlag kann die Zahl der Lexikoneinträge für SEIN auf einen Lexikoneintrag für SEINprad. reduziert werden. Der IDENT-Operator muss als universelles Anpassungsmittel ohnehin im Lexikon repräsentiert sein. Die Ableitung der Kopula SEINIden, wäre somit für diesen Operator nur ein Anwendungsbereich von vielen. Im Weiteren wird gezeigt, welche Rolle dieser Operator sonst noch spielt. Im nächsten Abschnitt werden wir Identitätssätze im Russischen untersuchen. Das Russische ist für die Untersuchung der Identitätssätze aufgrund seiner Spezifika wie die Nullkopula im Präsens, die Kasusalternation bei der overten Kopula und die reiche Morphologie von Interesse. Zu klären wäre, wie unter diesen einzelsprachlichen Voraussetzungen die Identitätsrelation zum Ausdruck gebracht wird.

2.3.2

Abgrenzung der Identitätssätze von prädizierenden Sätzen im Russischen

In der Slawistik haben sich mehrere Autoren mit dem Thema „Identitätssatz" 12 auseinandergesetzt, s. Arutjunova (1976), Paduceva (1985, 1987), Paduceva & Uspenskij (1979, 1997) und Weiss (1978), zum Polnischen s. Hentschel (2001). '3 Dabei wird allerdings der Begriff „Identitätssatz" recht uneinheitlich verwendet. Die Autoren scheinen sich jedoch einig zu sein, dass Sätze wie (51) im Präsens repräsentativ für Identitätssätze sind: 14

12

13

14

Der entsprechende russische Terminus predlozenija tozdestva, wörtlich: Sätze der Gleichsetzung, findet sich z.B. bei Sachmatov (1941: 150). Einige Vorarbeiten zu Identitätssätzen im Russischen und Polnischen finden sich in Geist & Blaszczak (2000) und Blaszczak & Geist (2001). Zu Identitätssätzen im weitesten Sinne gehören auch solche Aussagen, die aus zwei Infinitiven oder Adjektiven bestehen (vgl. Fn. 10 zum Deutschen): (i) Dljaartista ne volnovat'sja - eto ne zit'. (Svedova 1980: 313) fur Schauspieler nicht [sich-aufregen] das nicht leben. 'Für einen Schauspieler heißt nicht aufgeregt zu sein nicht zu leben.' (ii) Bagrovyj - eto temno-krasnyj. (Arutjunova 1976:306) Purpurrot - das Dunkel-Rot 'Das Purpurrot, das ist/(heißt) das Dunkelrot.'

36 (51)

a. Dzomolungma

- eto Everest.

Chomolungma N O M - das Everest N 0 M·

'Der Chomolungma ist der Mt. Everest.' 15 · 16 b. Venera

(Paduceva 1985)

- eto Gesper.

Venus N 0 M

_

das Hesperos N O M

'Die Venus ist der Hesperos.' c. My - eto vy. wir N 0 M — das S i c n o m 'Wir sind Sie.'

(Paduceva 1985)

(Weiss 1978)

Identitätssätze kommen typischerweise im Präsens vor. Im Russischen wird die Kopula im Präsens nicht overt realisiert. Eine Besonderheit der Identitätssätze ist, dass sie ein zusätzliches Element, das anaphorische und deiktische Pronomen eto 'das', enthalten. Dies scheint im Russischen ein Spezifikum dieses Satztyps zu sein, da in prädizierenden Sätzen mit NPs und APs eto unzulässig ist: (52)

a. Moj brat - (*eto) voditel' po professii. mein BruderNOM - (*das) FahrerN0M von Beruf 'Mein Bruder ist Fahrer von Beruf.' b. Venera

-

(*eto) tumannaja.

Venus N 0 M - (*das)

nebelig N O M .SG.FEM

'Die Venus ist nebelig.' Die Nullkopula, die im Präsens angenommen wird, kann offensichtlich keine Identitätsrelation zwischen zwei referenziellen DPs herstellen: (53)

a. *Ciceron-Tullij. b. *Venera - Gesper.

In prädizierenden Sätzen reicht die Nullkopula für die Satzbildung hingegen völlig aus. Das notwendige Vorkommen von eto in Identitätsaussagen scheint dadurch bedingt zu sein, dass die Nullkopula zwei referenzielle Ausdrücke nicht verbinden kann. Nimmt man mit Partee (1986, 1998) an, dass in einem Identitätssatz die NP2 durch einen IDENT-Operator

15

16

Wie hier und in den folgenden Beispielen kann auch in der deutschen Entsprechung für eto-Sätze das Pronomen das verwendet werden, z.B. Der Chomolungma, das ist der Mt. Everest. Solche Sätze sind aber als mögliche Varianten zu den Sätzen ohne das anzusehen und haben somit einen anderen Stellenwert als efo-Identitätssätze im Russischen: Im Deutschen ist das fakultativ, im Russischen dagegen ist eto obligatorisch. Nach orthographischen Regeln, vgl. z.B. Rosental (1988: 158), kann in denjenigen Sätzen mit der Nullkopula, die aus zwei Nominalgruppen im Nominativ bestehen, die Pause zwischen den Nominalgruppen durch einen Gedankenstrich markiert werden. In prädizierenden Sätzen mit prädikativen Adjektiven wird kein Gedankenstrich eingesetzt.

37 in ein Prädikat überfuhrt werden kann, wäre eto in russischen Identitätssätzen entbehrlich. Das Russische stellt somit den Zugang, nach dem in Identitätssätzen die Identitätsrelation durch NP2 eingespeist wird, grundsätzlich in Frage. Es sei darauf hingewiesen, dass Identitätssätze im Präsens auch ohne eto auskommen, wenn die archaische Kopula est' eingesetzt wird, vgl. (54). Est' kann unbetont oder fokussiert sein, im zweiten Fall geht ihr die Partikel i 'doch' voraus, vgl. (54): (54)

a. Venera ( - eto) est' Gesper. Venus N0 M ( - das) ist HesperosNOM'Venus ist Hesperos.' b. Venera ( - eto) i EST' Gesper. VenusN0M ( - das) doch IST HesperosNOM 'Venus IST doch Hesperos.'

Ferner ist eto optional bei der overten Kopula in anderen Tempora, vgl. (55), ein Beispiel im Präteritum. (55)

Volgograd ( - eto) ran'se byl Stalingrad. VolgogradNOM ( - das) früher war StalingradN0M 'Volgograd" war früher Stalingrad.'

In diesem Satz kann offensichtlich die overte Kopula die Identitätsrelation zwischen zwei referenziellen DPs herstellen, was die Einsetzung von eto entbehrlich macht. Identitätssätze mit einer overten Kopula ohne eto können analog zu den Identitätssätzen im Englischen in (47) analysiert werden, in denen die verbale Kopula die Identitätsrelation beisteuert. Die prädizierende Kopula est' kann durch den IDENT-Operator in eine Kopula der Identität überführt werden. Auf Identitätssätze mit der overten Kopula werde ich am Ende dieses Abschnittes kurz eingehen. Im Weiteren werde ich mich auf Identitätssätze ohne verbale Kopula mit dem obligatorischen eto konzentrieren, um Aufschluss darüber zu gewinnen, wie die Identitätsinterpretation von solchen Sätzen zustande kommt. Ich werde eine Analyse vorschlagen, nach der das Pronomen eto die denotative Identität zwischen zwei Referenten herstellt und in gewisser Weise die Rolle einer „Kopula" übernimmt. Es sei darauf hingewiesen, dass auch identifizierende Sätze wie (56) das Pronomen eto benötigen. Sie bestehen ebenfalls aus zwei referenziellen DPs und sind analog zu Identitätssätzen analysierbar. (56)

Raskol'nikov- eto ubijca ν romane Dostoevskogo. Raskol'nikov NO M das MörderN0M i m Roman Dostoevskij GEN 'Raskolnikov ist ein Mörder in einem Roman von Dostoevskij.'

38 2.3.2.1

Struktur der efo-Identitätssätze

Es ist im Allgemeinen schwierig, in den Identitätssätzen die syntaktische Rollenverteilung nach Subjekt und Prädikat zu bestimmen, vgl. die Diskussion in Arutjunova (1976: 319ff.) und Weiss (1978: 247). Generell gilt diejenige Nominalgruppe als Subjekt eines Satzes, die die meisten prototypischen Subjektkriterien wie Referenz, Kongruenzgeber für das finite Verb, Position im Satz, Topikalität usw. (s. Keenan 1976) erfüllt. Das Referenzialitätskriterium greift bei den Identitätssätzen nicht, weil NP1 und NP2 ja gleichermaßen referenziell sind. Wenn man die Topikalität als Subjektkriterium nimmt, könnte die NP1 als Subjekt bestimmt werden. Die NP1 kann jedoch wie im Deutschen auch fehlen, und der έίο-Satz kann in diesem Fall als selbständiger Satz fungieren, vgl. (57): (57)

A: Kto takoj Raskol'nikov? wer solcher Raskolnikov 'Wer ist Raskolnikov?'

B: Eto ubijca ν romane Dostoevskogo. das MörderNOM im Roman DostoevskijGEN 'Das ist ein Mörder in einem Roman von D.'

Syntaktisch ähneln die Identitätssätze mit έίο den sog. Linksversetzungen (,Left Dislocations'), in denen das nach links verschobene Element in demselben Satz durch ein anaphorisches Pronomen aufgenommen wird, vgl.: (58)

Devocki - oni akkuratno nosjat plat'e. Mädchen sie achtsam tragen Kleid. 'Die Mädchen, sie tragen ihre Kleider achtsam.'

(Paduceva 1985: 39)

Die Linksversetzung einer DP in (58) dient der Auszeichnung dieser DP als Topik. Unter Topik wird generell der Satzgegenstand verstanden, über den der Rest des Satzes als Kommentar eine Aussage macht. In (58) erzeugt die Linksversetzung des Topiks devocki 'Mädchen' beim Hörer die Erwartung, dass im Restsatz eine Prädikation über den Referenten dieser DP folgt. Zybatow (1999: 80) folgend werde ich die linksversetzte DP externes Topik nennen. Das anaphorische Pronomen oni 'sie' in (58) nimmt das externe Topik wieder auf und fungiert als internes Topik des Satzes. Da aber der Satz auch ohne externes Topik ein vollständiger Satz wäre und da zwischen dem externen Topik und dem Restsatz akustisch eine Intonationspause wahrnehmbar ist, die orthographisch durch einen Bindestrich wiedergegeben wird, nehmen Junghanns (1997c) und Zybatow (1999) an, dass das externe Topik ein CP-Adjunkt ist. Da Sätze wie (58) als Ganzes einbettbar sind, wie in (59) gezeigt wird, nehme ich im Gegensatz zu den genannten Autoren an, dass das externe Topik an die IP adjungiert, vgl.: (59)

on dumal, eto devocki - oni akkuratno nosjat plat'e er dachte, dass Mädchen sie achtsam tragen Kleid

(60)

... [cpcto [ip devocki- [IP oni akkuratno nosjat plat'e]]] dass Mädchen sie achtsam tragen Kleid

Identitätssätze mit eto wie z.B. Venera eto Gesper 'Die Venus ist der Hesperos' können syntaktisch wie Linksversetzungen analysiert werden. Ähnlich wie linksversetzende

39 Konstruktionen können auch sie ohne eine NP1 einen vollständigen Satz formen, und wenn eine NP1 vorhanden ist, wird sie durch eine Intonationspause vom Restsatz getrennt. Analog zu linksversetzenden Konstruktionen sind auch Identitätssätze als Ganzes einbettbar, vgl. (61). (61)

Onznaet, cto Venera eto Gesper. er weiß, dass Venus das Hesperos 'Er weiß, dass die Venus der Hesperos ist.'

Der Satz Venera eto Gesper macht eine Aussage über Venera 'Venus', nämlich dass sie identisch mit Gesper 'Hesperos' ist. Venera fungiert somit als externes Topik, das von έίο anaphorisch wieder aufgenommen und so mit dem Restsatz verbunden wird. Das Pronomen eto dient als internes Topik des Kopulasatzes eto Gesper, in dem die verbale Präsenskopula nicht overt realisiert werden kann. Da die aufgezählten Eigenschaften der eto-Sätze auf die strukturelle Ähnlichkeit des Kopulasatzes zu linksversetzenden Konstruktionen deuten, werde ich die Identitätssätze im Russischen syntaktisch analog zu linksversetzenden Konstruktionen analysieren, vgl. (62)

... [CP cto [IP NP, - [1P eto 0 K O p NP 2 ]]]

Ein Identitätssatz im Russischen besteht aus einer als externes Topik zu interpretierenden NP1 und einer nachfolgenden Kopulakonstruktion mit έίο als internem Topik. Der Unterschied zwischen linksversetzenden Konstruktionen und Identitätssätzen besteht in der Art der Wiederaufnahme des externen Topiks. Anaphorisch verwendete Pronomina bei Linksversetzungen kongruieren mit ihrem nominalen Antezedenten in allen morphologischen Merkmalen. So stimmt in (58) das Pronomen ona 'sie' mit devocki 'Mädchen' in Genus, Numerus und Kasus überein. In Identitätssätzen hingegen bleibt das Pronomen eto unflektiert. Betrachten wir nun den eto-Kopulasatz ohne NP1. Wie ist die syntaktische Struktur dieses Satzes zu bestimmen? Hier wäre ein Blick auf identifizierende Sätze hilfreich, da sie genauso wie Identitätssätze aus zwei referenziellen DPs, aber außer im Präsens auch in anderen Tempora vorkommen, in denen das Kopulaverb overt realisiert wird. Von der Kongruenzmorphologie der Kopula kann man die syntaktischen Beziehungen im eto-Kopulasatz ablesen. Ein Beleg für einen identifizierenden Satz findet sich in (63): (63)

Kruglyj temnyj predmet -

eto

byla

otrezannaja

runder dunkler GegenstandNoM.MASK dasNEuT warFEM abgeschnittener golova

Berlioza.

Kopf N Q M .FEM B e r l i o z c E N

'Der runde dunkle Gegenstand - das war der abgetrennte Kopf von Berlioz.' (verändert aus Paduceva 1981: 73/Bulgakov „Meister und Margarita") Genauso wie in Identitätssätzen ist in identifizierenden Sätzen eto in den Kopulasatz integriert. Aus dem Beispielsatz ist ersichtlich, dass die finite form byla der Kopula byt' in Genus mit der NP2 und nicht mit έίο oder der NP1 kongruiert: έίο steht im Neutrum, das Kopfnomen der NP2 golova 'Kopf ist ein Femininum, das Kopfnomen der NP1 ist ein

40 Maskulinum, die Kopula steht im Femininum genauso wie das Kopfnomen der NP2. Daraus folgt, dass NP2 als Kongruenzgeber das syntaktische Subjekt des Kopulasatzes ist. Unklar bleibt jedoch, ob eto die syntaktische Rolle eines Objekts oder eines Prädikativs hat. Um diese Frage zu klären, versuchen wir nun festzustellen, worauf sich eto tatsächlich bezieht und welchen semantischen Beitrag es zur Bildung von Identitätsaussagen leistet.

2.3.2.2

Antezedens von eto

Worauf referiert eto? Paduceva (1981, 1985, 1992) und Junghanns (1997a) weisen darauf hin, dass das Pronomen eto im Allgemeinen Antezedenten unterschiedlicher syntaktischer Kategorien nehmen kann, DPs, Relativsätze, infinitivische VPs, nominalisierte APs und Ereignisnominalisierungen.17 (64)

DP Certanovo, eto nachoditsja na okraine Moskvy. CertanovoNEUT dasN0M befmdet-sich im Vorort von-Moskau. 'Der Bezirk „Certanovo", der befindet sich im Vorort von Moskau.'

(65)

CP Arkadij Apollonovic vcera vecerom byl na zasedanii akusticeskoj Arkadij Apollonovitsch gestern Abend war in SitzungPRÄpos akustischen komissii ... no ja ne ponimaju, kakoe otnosenie eto KommissionGEN ... aber ich nicht weiß, welche Beziehung dasN0M imeet k magii. hat mit Magie

'Arkadij Apollonovitsch war gestern Abend in der Sitzung der Akustikkommission ... aber ich weiß nicht, was dasN0M mit der Magie zu tun hat.' [CP: dass A.A. gestern in der Sitzung der Akustikkommission war] (Korpusbeleg aus Junghanns 1997a: 173) (66) VP im Infinitiv Perechodit' granicu, eto javljalos' opasnym delom. überqueren Grenze, dasN0M galtNEUT gefahrliche Sachets 'Die Grenze zu überqueren galt als ein gefährliches Unternehmen.' (67)

17

Nominalisierte APs A: Vy trebuete nevozmoznogol Sie fordern UnmöglichesAKK 'Sie fordern das Unmögliche.' Β: Α vy sdelajte, ctoby eto stalo vozmoznym. und Sie machenIMP, damit dasN0M wirdNEuT möglichINS 'Und sie sollen alles tun, damit das möglich wird.' (Paduceva 1985: 165)

Vgl. hierzu auch eine korpusbasierte Untersuchung von Bartels (1999).

41 (68)

Ereignisnominalisierung Nikakogo lecenija ne provodilos'. Vmesto etogo bol'nych obrekali keine Behandlung G EN nicht durchgeführt. Statt das G EN Kranke überließ-man na medlennuju smert'. Präp. dem-langsamen Tod. 'Es wurde keine Behandlung durchgeführt. Stattdessen überließ man die Kranken einem langsamen Tod.' (Paduceva 1985: 167)

In all diesen Beispielen fungiert eto als Argument. Die Antezedenten sind projektiv geschlossene Ausdrücke, alle letztlich DPs, die aber entsprechend ihrer internen Struktur auf Entitäten verschiedener Art referieren können: die DP in (64) referiert auf ein unbelebtes Objekt, die nominalisierte VP im Infinitiv in (66), die CP in (65) sowie die deverbale Nominalisierung in (68) referieren auf ein Ereignis, und die DP als Adjektivnominalisierung in (67) referiert auf das Konzept einer Eigenschaft. Ich werde das eto, das solche DPs anaphorisch aufnehmen kann, als DP mit Argumentstatus analysieren. Das Argument-;?to kann als freie Variable repräsentiert werden: (69)

Argument-eto eto]: xi

[DP

Die Variable χ rangiert über verschiedene Arten von Entitäten, s.o. Der Index I an der Variablen soll signalisieren, dass der Wert von χ durch die Koindizierung mit einem Antezedenten spezifiziert wird. Das so repräsentierte Argument-eto kann als Subjekt oder Objekt eingesetzt werden. Als Subjekt in (64)-(67) löst eto die Kongruenz mit dem finiten Verb aus. Eine weitere Eigenschaft des Argument-eto ist, dass seine Antezedenten alle vom neutralen Genus, also Neutrum, sind. Ein Eigenname wie Mark Twain kann z.B. nicht von einem Argument-eto aufgenommen werden, vgl.: (70)

Mark Twain *eto napisalo /on napisal prikljucenija Torna Sojera. Mark Twain *das schriebNEUT/er schriebMAsK Abenteuer Tom SawyerGEN 'Mark Twain hat die Abenteuer des Tom Sawyer geschrieben.'

Das einzige Pronomen mit Argumentstatus, das Mark Twain als Antezedens nehmen kann, ist das Personalpronomen on 'er'. Die oben gemachten Überlegungen legen nahe, dass έίο in einem Identitätssatz wie (71) keinen Argumentstatus haben kann. (71)

Mark Twain eto Samuel Klemens. Mark Twain das Samuel Clemens 'Mark Twain ist Samuel Clemens.'

Um die Ungrammatikalität in (70) und die fehlende Kongruenz mit έίο in identifizierenden Sätzen erklären zu können, erscheint es mir sinnvoll, anzunehmen, dass eto in Identitätssätzen Prädikat-Status hat. Das Prädikat-eto kann vom Argument-eto durch die Anwendung des Operators IDENT abgeleitet werden. Da die Reihenfolge der Variablen bei der Gleichsetzung nicht von Belang ist, können beide Reihenfolgen angenommen werden.

42 (72)

IDENT: Xu Xy [y = u] Ξ XU Xy [u = y]

Das Ergebnis der Anwendung von IDENT auf das Argument-eto ist das Identitätsprädikateto: (73)

Identitätsprädikat-έίο IDENT (eto): Xu λy [u = y] (χ,) Ξ Xy [χ, = y]

Wie oben angenommen, bekommt die freie Variable Xi ihren Wert durch die Koindizierung mit ihrem Antezedenten. Der Antezedent muss dabei von demselben semantischen Typ sein wie die freie Variable. Das externe Topik bei Identitätssätzen ist ein geeigneter Kandidat dafür. Der eto-Satz kann nach der hier vorgeschlagenen Analyse von eto als prädizierender Satz mit der linken NP1 als Satzadjunkt, NP2 als Subjekt und eto als Prädikativ analysiert werden.

2.3.2.3

Formal-semantische Analyse

Nachdem wir syntaktische und semantische Beziehungen in efo-Kopulasätzen analysiert haben, können wir die Bedeutung eines eto-Kopulasatzes kompositional ableiten. Für den Satz in (74a) mit den semantischen Bausteinen in (74b) wird die syntaktische Repräsentation in (74c) angenommen.18 (74)

a Ciceron - eto Tullij. b. Ciceron ciceron

eto λy [xi = y]

Tullij I i λΡ λιι [P(u)J tullius 0KOP

c. —> [cicero = tullius] —> [X[ = tullius]

(iv)

—> λΡ [P(tullius)] Lambda-Abstraktion

(iii)

-> [P(tullius)] —» Xu [P(u)]

8

(v)

(ii) (i)

Die Indizes in der syntaktischen Repräsentation zeigen die Beziehungen zwischen den bewegten Konstituenten und ihren Spuren an.

43 Die einzelnen Schritte der Ableitung können wie folgt beschrieben werden: (i)

Das Identitätsprädikat eto wird als prädikatives Komplement der Kopula basisgeneriert. Da eto als internes Topik des Satzes fungiert, wird eto das Merkmal [TOPIK] zugeteilt, das eine Bewegung nach Spec, IP auslöst. 19 Die Spur der bewegten Konstituente wird als Prädikatsvariable verarbeitet.

(ii)

Die Bedeutung des Subjekts Tullij wird in die semantische Repräsentation der Kopula eingesetzt. Xu [P(u)] (tullius) = P(tullius)

(iii) Für die kompositionale Ableitung der IP-Bedeutung muss über die Prädikatsvariable Ρ Lambda-abstrahiert werden. (iv) Die Bedeutung von I' wird mit der Bedeutung von eto amalgamiert. λΡ [P(tullius)] (ky [x, = y]) = [x, = tullius] (v)

Nun soll ein passender Antezedent für die Individuenvariable χ rekonstruiert werden. Der Referent der DP Cicero kann als Antezedens für χ dienen. In der resultierenden Repräsentation kann deshalb χ durch Cicero ersetzt werden: [cicero = tullius]

Nach der oben vorgeschlagenen Repräsentation bedeutet der eto-Satz, dass Cicero identisch mit Tullius ist. Die logische Form des eto-Satzes ist somit identisch mit der logischen Form des entsprechenden englischen Satzes Cicero is Tully in (47g). Zum Schluss soll noch eine kurze Anmerkung zu Identitätssätzen mit der overten Kopula gemacht werden. Identitätssätze kommen hauptsächlich im Präsens vor, und da im Präsens keine overte Kopula im Russischen vorhanden ist, ist eto obligatorisch. Wenn aber Identitätssätze mit der overten Kopula z.B. im Präteritum vorkommen, wird eto optional, vgl.: (75)

Volgograd ( - eto) ran'se byl Stalingrad. (=(55)) VolgogradNOM (-das) früher war StalingradN0M 'Volgograd war früher Stalingrad.'

Ich nehme an, dass die overte Kopula im Russischen genauso wie SEIN Präd im Englischen durch IDENT in eine Kopula der Identität umgewandelt werden kann, was eto als Stifter der Identitätsrelation entbehrlich macht. Wird eto trotzdem eingesetzt, wird es mit der Kopula der Prädikation und nicht der Kopula der Identität kombiniert.

19

Das Russische verfügt über eine relativ freie Wortfolge. Die Oberflächenkonfiguration wird hauptsächlich durch die Informationsstruktur gesteuert. Nach Junghanns (1997c) und Zybatow (1999) können Konstitutenten im Satz informationsstrukturelle Merkmale wie [TOPIK] bzw. [FOKUS] frei zugeteilt werden. Diese Merkmale unterliegen keinem Checking, lösen allerdings Bewegungen von Konstituenten in funktionale Projektionen aus.

44 Fazit zu identifizierenden und Identitätssätzen im Russischen In den vorangegangenen Abschnitten habe ich dafür argumentiert, dass im Englischen und im Deutschen die Identitätsrelation in Identitätssätzen durch das Kopulaverb eingebracht wird. In der Analyse der Identitätssätze im Russischen ging es mir darum, zu zeigen, wie in einer Sprache ohne overte Kopula im Präsens die Identitätsinterpretation zustande kommt. Als Resultat der vorgeschlagenen Analyse lässt sich Folgendes festhalten: 1.

Die Nullkopula kann im Präsens keine Identitätsinterpretation herstellen, was offensichtlich auf ihre Defizienz zurückzufuhren ist, vgl. Kapitel 6.

2.

Wenn keine verbale Kopula vorhanden ist, übernimmt das Pronomen eto die Funktion, die Identität zu signalisieren.

3.

Identitätssätze im Russischen unterscheiden sich syntaktisch von Identitätssätzen im Englischen und Deutschen. Sätze vom Typ Ciceron eto Tullij enthalten zwei Topiks und sind syntaktisch den linksversetzten Konstruktionen gleich.

2.3.3

Pronominale Kopulae in verschiedenen Sprachen

Wenn man die slawischen Sprachen im Hinblick auf die syntaktische Struktur von Identitätsaussagen vergleicht, stellt man Unterschiede fest. Während im Polnischen genauso wie im Russischen das Pronomen to (die Entsprechung von eto) obligatorisch ist, werden Identitätssätze im Tschechischen und Bulgarischen nach dem „deutsch-englischen Typ" mithilfe der verbalen Kopula ohne Pronomen gebildet.

(76)

(77)

(78)

Polnisch Zeus *(to) Jowisz. Zeus *(das) Jupiter 'Zeus ist Jupiter.' Tschechisch Jitrenka, (to) je Veceraice. Morgenstern (das) ist Abendstern 'Der Morgenstern ist der Abendstern.' Bulgarisch Dora (tova) e gospozica Toneva. Dora (das) ist Frau Toneva 'Dora ist Frau Toneva.'

(Btaszczak & Geist 2001)

(D. Lenertovä, pers. Kommunikation)

(D. Toneva, pers. Kommunikation)

Es wäre eine interessante Aufgabe für die weitere Forschung, zu klären, warum das Polnische, das im Präsens über eine overte Kopula mit dem vollständigen Paradigma verfugt, dennoch für die Bildung von Identitätssätzen das deiktisch-anaphorische Pronomen nutzt und die verbale Kopula im Präsens weglässt. Als möglicher Grund dafür wäre neben sprachimmanenten Gründen auch Sprachkontakt zu erwägen.

45 Dass die Semantik der Gleichsetzung nicht durch eine verbale Kopula, sondern durch ein Pronomen induziert wird, scheint kein Spezifikum des Russischen oder Polnischen zu sein. Ähnliches wurde fur das schottische Gälisch (Adger & Ramchand 2001), das Haitianische und das Irische (DeGraff 1991), für das Arabische sowie fur das Hebräische (Greenberg 1999, Rothstein 2001) festgestellt. Hier einige Beispiele:

(79)

(80)

Haitianisch a. Bouki *(se) Aristide. Bouki *(Pron) Aristide 'Bouki ist Aristide.'

(DeGraff 1991)

b. Bouki (*se) malad. Bouki (*Pron) krank 'Bouki ist krank.'

(DeGraff 1991)

Hebräisch a. dani *(hu) mar yosef Dani * ( P r o n M A S K . s G ) Herr Yosef 'Dani ist Herr Yosef.'

(Rothstein 2001: 207)

Bis auf das schottische Gälisch sind dies gerade Sprachen, die im Präsens keine Kopula haben. Rothstein (2001) weist daraufhin, dass im Hebräischen das Personalpronomen hu in einem Identitätssatz die Typanhebung der rechten DP auslöst, damit eine semantische Relation zwischen zwei referierenden DPs hergestellt werden kann. Diese Analyse kann allerdings nicht erklären, warum das Pronomen im Hebräischen auch in prädizierenden Sätzen mit Adjektiven auftreten kann: (81) Dani (hu) nexmadAp dani ( P r o n M A S K . s G ) nice ' Dani ist nett.' (82)

(Rothstein 2001: 206)

Ivan (*eto) dobryj. Ivan (*das) gutherzig. 'Ivan ist gutherzig.'

Im Russischen ist eto in prädizierenden Sätzen mit Adjektiven ausgeschlossen. Aufgrund dieses Unterschieds kann die hier für das russische eto vorgeschlagene Analyse nicht auf das Hebräische übertragen werden. Greenberg (1999) analysiert das Pronomen hu im Hebräischen als Generizitätsmarker, es gibt aber auch andere Vorschläge in der Literatur, auf die ich hier nicht eingehen werde. Was der Vergleich zwischen Russisch und Hebräisch zeigt, ist, dass der Katalog der Möglichkeiten der morphosyntaktischen Kodierung der Gleichsetzung in Kopula-Sätzen mit der „deutsch-englischen Art" und der „russischen Art" noch nicht ausgeschöpft ist. Bevor wir zum nächsten Typ der Kopulasätze übergehen, halten wir über den Typ der Identitätssätze abschließend Folgendes fest: Die Identitätssätze in den hier untersuchten

46 Sprachen Englisch, Deutsch und Russisch gleichen sich darin, dass sie aus zwei referenziellen DPs bestehen, für deren Referenten angenommen wird, dass sie identisch sind. Nach der oben vorgestellten Analyse wird die Identitätsinterpretation in allen drei Sprachen von einem unsichtbaren IDENT-Operator bereitgestellt. Die genannten Sprachen scheinen sich darin zu unterscheiden, auf welche syntaktische Komponente dieser Operator appliziert. Im Deutschen und Englischen ist die Applikationsdomäne von IDENT die Kopula der Prädikation, im Russischen ist es die overte Kopula der Prädikation oder, im nicht-overten Fall, das deiktisch-anaphorische Pronomen eto. Während Identitätssätze im Deutschen und Englischen syntaktisch gesehen Simplexsätze sind, haben efo-Identitätssätze eine komplexere Struktur, die der der linksversetzenden Konstruktionen entspricht.

2.4

Spezifizierende Sätze: Prädikation oder Gleichsetzung?

Zum Typ der spezifizierenden Kopulasätze gehören Sätze wie in (83): (83)

a. b. c. d.

Der Mann, den er am meisten schätzt, ist sein Vater. Der Mörder war Raskolnikov. Mein einziger Freund ist mein Hund. (Die) Ursache des Flugzeugabsturzes war menschliches Versagen.

Die Relation zwischen NP1 und NP2 in solchen Sätzen beschreibt Higgins (1979: 8) wie folgt: „[...] the subject phrase constitutes the heading of the list and the predicate complement is an item on the list". In Sätzen wie (83a) wird durch die NP1 eine Alternativenliste der von einer Person am meisten geschätzten Männer hervorgerufen, aus der das Element sein Vater ausgewählt wird. Die Metapher der Liste ist aus der Überlegung entstanden, dass die präverbale NP1 in spezifizierenden Sätzen nicht ein Individuum, sondern eine Menge bezeichnet, die durch eine Bedingung für ihre Elemente charakterisiert ist. Die postkopulare Konstituente NP2 benennt Individuen, die Elemente dieser Menge sind. In (83b) wird die Menge der Mörder auf ein Individuum, Raskolnikov, eingeschränkt, d.h. alle alternativen Kandidaten werden ausgeschlossen. Die Sätze in (83c/d) lassen sich analog analysieren. In der Literatur werden spezifizierende Sätze heftig diskutiert. Im Zentrum der Diskussion steht die Frage, ob sie dem Typ der Identitätssätze oder dem Typ der (inversen) prädizierenden Kopulasätze zuzuordnen sind. Die Einordnung der spezifizierenden Kopulasätze bezüglich dieser Klassifizierung hängt davon ab, ob NP1 ein Argument oder ein Prädikat ist. Ist die NP1 ein Prädikatausdruck, sind spezifizierende Sätze als Inversionen der prädizierenden Sätze zu analysieren, ist die NP1 hingegen ein Argumentausdruck, sind spezifizierende Sätze den Identitätssätzen zuzurechnen. Mit der Klassenzuordnung der spezifizierenden Sätze hängt auch die Analyse der betreffenden Kopula als SEINPräd oder SEINident zusammen. Williams (1983), Heggie (1988) und Moro (1997) klassifizieren spezifizierende Kopulasätze als Inverse von prädizierenden Kopulasätzen. Moro (1997) nimmt an, dass spezifizierende Sätze von derselben Ausgangsstruktur wie prädizierende abgeleitet werden. In

47 der Ausgangsstruktur nimmt die Kopula einen Small Clause (SC), bestehend aus zwei NPs, als Komplement: (84)

[ IP e was [ S c [subj a picture of the wall] [Präd the cause of the riot]]]

Die Anhebung des Subjekts in die Subjektposition [Spec, IP] ergibt einen kanonischen Kopulasatz, die Anhebung der prädikativen NP ergibt einen spezifizierenden Satz, vgl. (85)

prädizierender Satz a. [ipfsubj a picture of the wall] was [ S c tSubj [präd the cause of the riot]]] spezifizierender Satz b. [ip[präd the cause of the riot] was [ S c [subj a picture of the wall] t Präd ]]

Evidenz für die Analyse der spezifizierenden Sätze als Prädikat-Inversionen im Italienischen liefert die inverse Kongruenz der Kopula. Während in prädizierenden Sätzen die Kopula mit der satzinitialen NP1 kongruiert, besteht in spezifizierenden Sätzen die Kongruenz zur satzfinalen NP2: (86)

Italienisch a. [ NP iLe fotopL del muro] *fu S G/iurono PL [Np2 la causaSG della rivolta] the pictures of the wall was/were the cause of the riot b. [ N p,La causaSG della rivolta] *fuSG/furonopL [ NP2 le foto PL del muro] the cause of the riot was/were the pictures of the wall (Moro 1997: 28)

Die Analyse der spezifizierenden Sätze als Untertyp der prädizierenden kann die inverse Kongruenz der Kopula erklären. Heycock & Kroch (1998, 1999) weisen allerdings auf Schwierigkeiten hin, die sich bei der Übertragung der Prädikat-Inversion-Analyse auf spezifizierende Sätze im Englischen ergeben. Die Annahme, NP1 sei ein Prädikativ, ist für spezifizierende Sätze im Englischen aus den folgenden zwei Gründen problematisch: (i) Kongruenz der Kopula In spezifizierenden Sätzen kongruiert im Englischen die Kopula mit der NP1. Dies deuten Heycock und Kroch als Hinweis darauf, dass die NP1 referenziell ist und als Argument fungiert. (87)

a. [ NP iThe pictures PL of the wall] *wasSG/werePL [ NP2 the causeSG of the riot]. b. [ NP iThe causeSG

of the riot] wasso/*were PL [ NP2 the pictures PL of the wall].

48 (ii) Referenzialität von NP1 Als weitere Evidenz für den Argumentstatus von NP1 wird in Heycock und Kroch (1999) der Test mit dem Relativsatzanschluss verwendet (s. auch Doron 1988). Wie sie an einem Beispiel (88) illustrieren, kann die NP1 in spezifizierenden Sätzen durch einen appositiven Relativsatz erweitert werden, vgl. (88a). Eine eindeutig prädikative NP als Komplement von consider in (88b) hingegen kann durch einen appositiven Relativsatz nicht erweitert werden: (88)

a. The duty nurse, who is very efficient, is Rina, who I am very fond of b. *I consider Rina the duty nurse, who is very efficient. (Heycock & Kroch 1999: 374)

Um als Anschlussstelle fur einen appositiven Relativsatz zu dienen, muss die NP1 in (88a) referenziell sein. (iii) Vergleich mit Prädikat-Inversionen Gegen die Prädikat-Inversion-Analyse der spezifizierenden Sätze im Englischen spricht auch die Tatsache, dass prädizierende Kopulasätze mit prädikativen Adjektiven oder Prädikatsnomina keine spezifizierenden Sätze bilden können. (89)

a. * Silly is John. b. *A doctor is John.

(Heycock & Kroch 1999: 379)

Eindeutig nicht-referenzielle prädikative XPs wie Adjektive und einige indefinite NPs können nicht in der NP1-Position in spezifizierenden Sätzen vorkommen. Möglich allerdings wären Prädikatvoranstellungen bei gleichzeitigem Kontrastakzent wie in (90). Solche Konstruktionen gehören aber strukturell nicht zum Typ der spezifizierenden Sätze. (90)

Silly, John is (, not stubborn). A doctor, John is (, not a teacher).

(Huber 2002: 14)

Während in spezifizierenden Sätzen die Kopula an der zweiten Position steht, bewirkt die Bewegung des Prädikativs an die Satzspitze im Englischen die V-3-Stellung der Kopula. Im Englischen kann man daher also für die grammatische Eigenständigkeit von spezifizierenden Kopulasätzen argumentieren. 20 Zwischen inversen prädizierenden Sätzen vom Typ in (90) und den spezifizierenden Sätzen gibt es nicht nur einen syntaktischen Unterschied, sondern auch einen informationsstrukturellen, und zwar einen Unterschied auf der Ebene der Fokus-HintergrundGliederung. In einem invertierten prädizierenden Satz wie in (89) trägt das invertierte Prädikativ einen kontrastiven Fokusakzent. Das Satzsubjekt ist deakzentuiert und gehört zum Hintergrund. In spezifizierenden Sätzen hingegen trägt die postkopulare NP2 einen

20

Für strukturelle Differenzen zwischen spezifizierenden Sätzen und der Inversion von fokussierten Prädikaten am Beispiel des Dänischen s. Mikkelsen (2002a, 2004).

49 Fokusakzent, NP1 ist deakzentuiert und gehört zum Hintergrund (s. Mikkelsen 2002a, Heycock & Kroch 2002), vgl. (91): (91)

A: Who was the culprit? (John or Bill?) Β: [NpiThe culprit] was [NP2 JOHN],

(Heycock & Kroch 2002: 149)

Auch auf der Topik-Kommentar-Ebene der Informationsstruktur besteht zwischen PrädikatInversionen und spezifizierenden Kopulasätzen ein Unterschied. Während in Prädikatinversionen wie in (90) die Topik-Konstituente der prädikativen Konstituente folgt, steht in spezifizierenden Sätzen die Topik-Konstituente an der ersten Position im Satz. Ein spezifizierender Satz in (91) ist eine Aussage über das Topik the culprit 'der Beschuldigte'. Vor diesem Hintergrund der aufgezählten Besonderheiten der spezifizierenden Kopulasätze schlagen Heycock und Kroch (1999, 1998) vor, diese als Identitätssätze zu analysieren. Ihrer Analyse zufolge sind NP1 und NP2 in spezifizierenden Sätzen referenziell, und es besteht eine Identitätsrelation zwischen den Referenten. Die Syntax müsste dann auf die Semantik wie folgt abgebildet werden: (92)

The murderer was 21 Raskolnikov. 1 ?44 i x [MÖRDER(X)] =

raskolnikov

Der bisher erreichte Forschungsstand ist also, dass spezifizierenden Sätzen im Englischen eine Identitätsrelation zugrunde liegt, und spezifizierende Sätze im Italienischen auf der Relation der Prädikation basieren. Das bedeutet, dass die Semantik der „Spezifikation" in verschiedenen Sprachen durch zwei verschiedene semantische Relationen zum Ausdruck gebracht wird. Dies ist eine unerwartete und unplausible Konsequenz, die wir, wenn möglich, vermeiden wollen. Weitere sprachvergleichende Analysen sind daher notwendig. Im Weiteren werden wir uns auf spezifizierende Sätze im Deutschen und im Russischen konzentrieren und klären, wie die Syntax-Semantik-Abbildung in spezifizierenden Kopulasätzen in diesen Sprachen funktioniert.

2.4.1

Spezifizierende Sätze im Deutschen

Ebenso wie im Italienischen kongruiert die Kopula in spezifizierenden Sätzen im Deutschen mit NP2. (93)

21

(Die) Ursache des Unfalls *war/waren defekte Bremsen.

Die Autoren nehmen keine Kopula der Identität an und deuten an, dass die Identitätsinterpretation durch ein zusätzliches leeres Element induziert wird: „It seems that equative small clauses involve some functional head, absent from the predicative cases..., but more research is needed on this question" (Heycock & Kroch 1999: 382).

50 Ferner können im Deutschen genuine Prädikative wie artikellose NPs, die ein Nomen wie Schauspieler (in (94)) als Kopf haben, nicht in der NP1-Position von spezifizierenden Sätzen stehen: (94)

(A: Wer ist hier Schauspieler?) B: * Schauspieler bin ich.

Nomina wie Ursache in (93) oder Ziel in (95), die ebenfalls artikellos verwendbar sind, sind jedoch nicht mit Nomina vom Typ Schauspieler zu verwechseln, da diese Nomina im Gegensatz zu Schauspieler (vgl. (94)) durchaus artikellos in spezifizierenden Sätzen in der Position der NP1 stehen können: (95)

(Das) Ziel der Sitzung war die Wahl des Vorstandes.

Die Ausdrücke Ursache und Ziel sind funktionale Ausdrücke (vgl. Löbner 1985). Sie bestimmen ein Objekt durch eine eindeutige Beziehung zu einem anderen Objekt und sind daduch inhärent definit, ähnlich wie Eigennamen. In der Syntax dienen sie als Köpfe von DPs. Aufgrund ihrer inhärenten Definitheit kann der definite Artikel in D auch phonologisch unrealisiert bleiben. Spezifizierende Kopulasätze bereiten auch im Deutschen Probleme für die kompositional-semantische und die syntaktische Analyse, und zwar wegen des unklaren referenziellen Status der NP1 (s. z.B. Huber 2002). Während die NP2 klar referenziell ist, ist der referenzielle Status der NP1 nicht eindeutig feststellbar. Die NP1 kann mit einem Personalpronomen anaphorisch nicht wieder aufgenommen werden. Dies sieht man in einem Pronominalisierungstest, vgl. (96): Testl. (96)

Pronominalisierung A: B: A: B:

Wer war der Mörder? Der Mörder war Raskol'nikov. Nein, das glaube ich nicht. Doch, es/das war wirklich Raskol'nikov/#er/ war wirklich Raskol'nikov.

Das Pronomen er kann auf die NP1 der Mörder nicht anaphorisch zugreifen. Der Mörder kann nur durch ein Pro-Prädikativ wie es/das wieder aufgenommen werden. Dies dürfte ein Hinweis darauf sein, dass die NP1 kein Argument, sondern eher ein Prädikat ist. Andererseits wird in der Literatur (u.a. Declerck 1988: 14 ff., Schlenker 2001) darauf hingewiesen, dass die NP1 in diesem Satztyp eine Existenzpräsupposition aufweist. In einem spezifizierenden Satz wie (97)

Der Mörder ist Raskolnikov.

würde man die NP1 der Mörder so paraphrasieren: „Es gibt eine Person x, die jemanden ermordet hat" bzw. „es gibt eine Person x, die der Mörder ist". Die Existenz von χ wird präsupponiert. Als Test für das Vorliegen einer Präsupposition können der Negations- oder

51 Fragetest verwendet werden. Diese Tests basieren auf der Beobachtung, dass Präsuppositionen unter Negation und in Fragekontexten konstant bleiben. (98)

a. Negationstest: Unsere neue Mitarbeiterin ist nicht Frau Schmidt. (Präsupposition: Wir haben eine neue Mitarbeiterin.) b. Fragetest: Ist unsere neue Mitarbeiterin Frau Schmidt? (Präsupposition: Wir haben eine neue Mitarbeiterin.)

In (98a) wird negiert, dass es sich bei unserer neuen Mitarbeiterin um Frau Schmidt handelt. Die Existenz einer Person, die als neue Mitarbeiterin eingestellt ist, wird dabei nicht negiert. Auch in der Frage bleibt die Existenzpräsupposition einer Person, die zur Deskription „unsere neue Mitarbeiterin" passt, erhalten. Da die NP1 eine Existenzpräsupposition enthält, kann sie nicht als prädikative NP analog zu Lehrer in Er ist Lehrer analysiert werden, weil solche genuin prädikativen NPs keine Existenz von Referenten präsupponieren. Als weiterer Test zur Überprüfung des referenziellen Status der NP1 kann der Anschluss eines appositiven Relativsatzes dienen (s. auch Bsp. (88)). Während referenzeinschränkende restriktive Relativsätze auch an nicht-referenzielle prädikative NPs adjungierbar sind, liefern appositive Relativsätze Zusatzinformationen über den Referenten, d.h. sie können nur an referenzielle NPs adjungieren. Wie (99) zeigt, kann NP1 in spezifizierenden Sätzen als Anschlussstelle für appositive Relativsätze dienen. Test 2. Anschluss eines appositiven (99)

Relativsatzes

Der Praktikant, der ja bei uns schon seit zwei Monaten arbeitet, ist Peter.

Der konsequente Schluss wäre an dieser Stelle der folgende: Die NP1 ist referenziell, genau wie es Heycock & Kroch für das Englische annehmen. Das Ergebnis dieses Tests steht aber im Widerspruch zu dem Ergebnis des Pronominalisierungstests in (96) oben, der eher gegen die Referenzialität von NP1 spricht. Wenn beide Tests den referenziellen Status der jeweiligen NP nachweisen sollen, sind zwei unterschiedliche Resultate hier etwas unerwartet. Ich werde eine Analyse der NP1 vorschlagen, die dem hybriden Status dieser NP Rechnung tragen kann. Mit Partee (1987) gehe ich davon aus, dass eine Nominalgruppe nicht nur einem, sondern mehreren systematisch aufeinander bezogenen semantischen Typen angehört. Ich nehme an, dass die NP1 in spezifizierenden Sätzen weder eine prädikative NP noch eine Argument-DP, sondern eine NP vom dritten Typ ist: eine prädikative DP. In Abschnitt 2.3.2.2 wurde bereits eine prädikative DP am Beispiel des Identitätsprädikat-eto abgeleitet. Analog kann aus einer Argument-DP wie der Mörder durch die Anwendung des IDENT-Operators eine prädikative IdentDP abgeleitet werden.

52 (100)

a. [identDpder Mörder]

b. IDENT (der Mörder): λχ λγ [χ = y] (iu [MÖRDER(u)] ] ξ λ γ [IU [MÖRDER(u)] = y]

Diese Repräsentation der NP1 in spezifizierenden Sätzen genügt den Anforderungen, die an die NP1 in spezifizierenden Kopulasätzen gestellt werden: 1.

Die IdentDP kann als Anschluss für einen appositiven Relativsatz dienen, der in der Regel einen Referenten für den Anschluss braucht. Die IdentDP impliziert die Existenz eines Referenten, weil die Vorstufe der IdentDP eine referenziell abgeschlossene DP ist. Diese kann als Anschluss fur einen appositiven Relativsatz dienen.

2.

Die IdentDP kann nicht durch ein Personalpronomen wie er in der Argumentposition wieder aufgenommen werden. Die IdentDP ist als Ganzes ein Prädikat und somit kein geeignetes Antezedens für eine Argument-Anapher. Die IdentDP stellt eine Art Insel für die anaphorische Wiederaufname dar: Eine Anapher kann nicht auf den referenziellen Teil der IdentDP zugreifen. Als Anapher für die prädikative IdentDP ist daher nur ein Pro-Prädikativ wie es bzw. das zulässig.

3.

Die IdentDP kann als prädikatives Komplement der Kopula SEINPräd eingesetzt werden, da sie ein Prädikat vom Typ ist.

Nach der von mir vorgeschlagenen Analyse sind somit zwei Typen von prädikativen Nominalgruppen zu unterscheiden: primäre (NPs) und abgeleitete (IdentDPs) Nominalgruppen. Vom semantischen Typ her sind diese Phrasen zwar identisch, sie unterscheiden sich aber in ihrer internen Struktur. Beide Phrasen können in prädizierenden Sätzen als Komplemente von SEINPräd eingesetzt werden. In spezifizierenden Sätzen sind prädikative NPs jedoch nicht zulässig, vgl. (94), nur IdentDPs können hier als satzinitiale Prädikative eingesetzt werden. Was ist jedoch der Grund für den Ausschluss von NPs aus der satzinitialen Position? Ich denke, der Grund liegt in der Informationsstruktur. Wie oben gezeigt wurde, dient das Prädikativ an der Spitze der spezifizierenden Sätze als Topik, es führt den Satzgegenstand ein, über den der Satz eine Aussage macht. Die NP1 in spezifizierenden Sätzen muss also Topik sein, d.h. sie muss einen Referenten in den Diskurs einführen, über den im Satz eine Aussage gemacht wird (vgl. Reinhardt 1982: 11). Ein Satz wie Der Mörder ist Raskolnikov macht eine Aussage über den Referenten des Ausdrucks 'der Mörder', also über den Referenten der DP, die nach der oben angenommenen Analyse eine Komponente der IdentDP ist. Da genuine Prädikat-Ausdrücke wie Katholik in Peter ist Katholik keinen Referenten einführen können, sind sie für die Funktion als Topik nicht qualifiziert. Diesen Überlegungen zufolge können wir nun einen spezifizierenden Kopulasatz in (101a) wie folgt ableiten:

53 (101) a Der Mörder ist Raskolnikov. b.

IP DerMörderj

[ix [MÖRDER(x)] = raskolnikov] I'

istK

(iv)

—> λΡ [P(raskolnikov)] Lambda-Abstraktion (iii) VP

DP Raskolnikov

—» P(raskolnikov)

(ii)

V'

(i)

V tK

->λυ[Ρ(ιι)] IdentDP tj

Die einzelnen Schritte der Ableitung können wie folgt beschrieben werden: (i)

Die IdentDP der Mörder wird als prädikatives Komplement der Kopula basisgeneriert. Aus informationsstrukturellen Gründen wird der IdentDP das Merkmal [TOPIK] zugeteilt, das die Bewegung der IdentDP nach [Spec, IP] auslöst. Die Spur der bewegten Konstituente kann als Prädikatsvariable verarbeitet werden. Die Kopula wird nach I bewegt, um verbale Merkmale zu prüfen.

(ii)

Die Bedeutung des Subjekts Raskol'nikov wird in die semantische Form der Kopula eingesetzt. λυ [P(u)](raskolnikov) Ξ P(raskolnikov)

(iii) Für die kompositionale Ableitung der IP-Bedeutung muss über die Prädikatsvariable Ρ Lambda-abstrahiert werden. (iv) Die Bedeutung von I' wird mit der Bedeutung der IdentDP der Mörder amalgamiert. λΡ [P(raskolnikov)] (Xy

[IU [MÖRDER(U)]

= y])

= [iu [MÖRDER(U)] = raskolnikov]

Das Resultat der Ableitung kann als „Der Mörder ist identisch mit Raskolnikov" paraphrasiert werden. Als Ganzes wird der spezifizierende Satz als Identitätsaussage interpretiert. Anders als in Identitätsaussagen wird hier die Identitätsrelation durch NP1 (IdentDP) eingebracht. Ihrer Struktur nach sind spezifizierende Sätze den efo-Identitätssätzen ohne NP1 im Russischen ähnlich, vgl. (74). Daraus läßt sich folgendes schließen: Die spezifizierenden Kopulasätze im Deutschen sind semantisch Identitätssätze, syntaktisch stellen sie Inversionen eines Prädikativs besonderer Art dar. Die spezifizierenden Sätze im Russischen bilden das Thema des folgenden Abschnitts.

2.4.2

Spezifizierende Sätze im Russischen

In der Slawistik wird der Begriff „spezifizierende Sätze" nicht verwendet. Sätze, die ihrer Bedeutung nach zu den spezifizierenden zu zählen sind, werden in der slawistischen Literatur dem Typ der Identitätssätze zugeordnet, vgl. die Beispiele in (102):

54 (102) a. Vladelec etogo osobnjaka - Juvelir Fuzere. BesitzerN0M dieser Villa JuwelierN0M FougeretNOM 'Der Besitzer dieser Villa ist der Juwelier Fougeret.' (Paduceva & Uspenskij 1979) b. Avtor „Veverleja"- Val'ter Skott Autor NO M „Waverley'VjEN Walter N 0 M Scott

'Der Autor von „Waverley" ist Walter Scott.' c. Lider partii - Dzons. FührerNOM ParteiGEN JohnsNOM 'Der Führer der Partei ist Johns.'

(Paduceva 1987)

(Arutjunova 1976)

d. Ego ljubimoe zanjatie byli sachmaty. seine Lieblings-BeschäftigungN0M warPL SchachspielN0M.PL 'Seine Lieblingsbeschäftigung war das Schachspiel.' (Paduceva & Uspenskij 1997) In Abschnitt 2.2.2 und 2.3.2 wurden die Charakteristika von prädizierenden Kopulasätzen und Identitätssätzen im Russischen ermittelt. Anhand dieser Charakteristika soll nun geprüft werden, ob spezifizierende Kopulasätze im Russischen zum Typ der Identitätssätze gehören oder, wie im Deutschen, als Inversion eines Prädikativs besonderer Art analysiert werden sollen. (i) Anders als in Identitätssätzen ist in spezifizierenden Sätzen das eto überflüssig: (103) a. Avtor „Veverleja" - (*eto) Val'ter Skott. Autor „Waverley"oEN - (*das) Walter Scott 'Der Autor von „Waverley" ist Walter Scott.' b. Lider

partii

- (*eto) Dzons.

Führer N 0 M ParteiGEN - (*das) Johns NO M

'Der Führer der Partei ist Johns.' Dies legt nahe, dass sich spezifizierende Sätze zumindest syntaktisch von Identitätssätzen abheben. (ii) Genauso wie in spezifizierenden Sätzen im Deutschen kann die NP1 im Russischen nicht durch ein Personalpronomen wieder aufgenommen werden. Als Anapher fur die NP1 kann hier aber das Pronomen eto fungieren. (104) A: Avtor „Veverleja" - Val'ter Skott. Autor „Waverley" - Walter Skott 'Der Autor von „Waverley" ist Walter Scott.' B: Net, *on/ eto ne Val'ter Skott. nein *er/das nicht Walter Skott 'Nein *er/das nicht Walter Scott.' Dieser Beleg deutet daraufhin, dass die NP1 hier nicht auf ein Individuum referieren kann.

55 (iii) Bei der overten Kopula im Präteritum oder Futur kann die NP1 im Instrumental stehen. Der Instrumental wird gegenüber dem Nominativ sogar bevorzugt. Die Verwendung des Instrumentals wird als Hinweis auf den prädikativen Status der NP1 gedeutet (vgl. Paduceva & Uspenskij 1997, Partee 1998). (105) Prezidentom SS A byl togda Karter. Präsidenti N s USAQEN war damals CarterN0M 'Der PräsidentiNs der USA war damals Carter.' (iv) In Bezug auf die Kongruenz der Kopula verhalten sich spezifizierende Sätze im Russischen wie im Deutschen und Italienischen: die Kopula weist in Bezug auf Numerus und Genus inverse Kongruenz auf, d.h. die satzfinale NP2 dient als grammatisches Subjekt. (106) a. PricinojsG avarii byli PL neispravnye tormoza PL . UrsacheiNs UnfallsGEN waren defekte Bremsen 'Die Ursache des Unfalls waren defekte Bremsen.' b. Edinstvennyj, kto stal na nasu storonu, byla /*byl Varvara der-einzigeMASK.NOM der kam auf unsere Seite, WARFEM/*warMASK VarvaraFEM 'Die Einzige, die auf unserer Seite stand, war Barbara.' (Paduceva & Uspenskij 1997: 178) Die inverse Kongruenz der Kopula könnte eine Prädikat-Inversion-Analyse nahe legen. (v) Funktionsbezeichnungen wie ucitel' 'Lehrer', die im Deutschen in der prädikativen Position artikellos stehen können, aber nicht als Topik fungieren können, sind auch im Russischen als Topiks in spezifizierenden Sätzen nicht akzeptabel: (107)

*Ucitel'empo professii byl Ivan. 22 · 23 *Lehreri NS von Beruf war IvanN0M 'Lehrer von Beruf war Ivan.'

Die in (i-v) beschriebenen Charakteristika der spezifizierenden Kopulasätze im Russischen deuten ebenso wie im Deutschen auf den hybriden Charakter der NP1 hin. Die Analyse der NP1 als prädikative DP (IdentDP) und damit die fur das Deutsche vorgeschlagene Analyse könnte m. E. dem hybriden Charakter der NP1 in russischen spezifizierenden Kopulasätzen ebenfalls Rechnung tragen. Spezifizierende Sätze im Russischen sind somit ebenso wie im Deutschen semantisch als Identitätssätze und syntaktisch als Prädikat-Inversionen zu analysieren.

22

23

Dieser Satz wäre nur akzeptabel, wenn das vorangestellte Prädikativ fokussiert wäre. In diesem Fall aber wäre dies kein spezifizierender Satz. In spezifizierenden Sätzen gehört die satzinitiale Phrase zum Hintergrund und kann daher keinen Fokusakzent bekommen. Die Phrase po professii 'von Beruf ist ein eindeutiger Indikator dafür, dass NP1 als Prädikativ zu interpretieren ist.

56 2.4.3

Anmerkungen zu spezifizierenden Sätzen im Englischen

Nachdem wir spezifizierende Kopulasätze im Deutschen und im Russischen analysiert haben, kommen wir nochmals auf das Englische zurück. Nach dem Vorschlag von Heycock & Kroch (1999, 1998, 2002) sind spezifizierende Kopulasätze im Englischen syntaktisch wie Identitätssätze zu analysieren, da die NP1 anders als im Italienischen oder Deutschen die Kongruenz der Kopula determiniert, was die Autoren als Evidenz für den Argumentstatus von NP1 deuten. Mikkelsen (2002b) zeigt dagegen, dass die NP1 in spezifizierenden Sätzen zwar als Kongruenzgeber der Kopula fungiert, sich aber anders als die ArgumentNP1 in Identitätssätzen verhält. Der Unterschied wird in einem Pronominalisierungstest mit sog. „tag"-Fragen deutlich. Es ist bekannt, dass das Pronomen im „tag" das Subjekt des Satzes anaphorisch aufnimmt. In dem Identitätssatz in (108a) kann das Personalpronomen he auf das Subjekt Samuel Clemens verweisen. In Fragen, die sich auf spezifizierende Sätze wie in (108b) beziehen, muss jedoch stattdessen das Neutrum-Pronomen it stehen. (108) a. Samuel Clemens is Mark Twain, isn't he/*it? b. The murderer of the old lady is Raskolnikov, isn't *he/it?

(Identitätssatz) (spez. Satz)

Wenn spezifizierende Sätze Identitätssätze wären, müsste das Personalpronomen he in (108b) zulässig sein, was jedoch nicht der Fall ist. Die Einsetzung von it statt he zeigt, dass die NP1 in spezifizierenden Kopulasätzen anders als in Identitätssätzen nicht auf belebte Individuen referieren kann. Es ist daher plausibel, anzunehmen, dass in englischen spezifizierenden Sätzen die NP1 genau wie die NP1 im Deutschen und Russischen eine Eigenschaft bezeichnet. It greift in (108b) die Eigenschaft, mit dem Mörder identisch zu sein, anaphorisch auf. It wäre somit parallel zu έίο im Russischen als IdentDP zu analysieren. Ich halte Folgendes fest: Spezifizierende Sätze im Englischen sind analog zu spezifizierenden Sätzen im Deutschen und Russischen syntaktisch als Inversionen des Prädikats einer besonderen Art zu analysieren. Zwischen spezifizierenden Sätzen im Englischen einerseits und spezifizierenden Sätzen im Deutschen und Russischen andererseits besteht lediglich ein Unterschied in der Kongruenz der Kopula. Im Deutschen und Russischen fungiert die referenzielle NP2 als Kongruenzgeber und somit als syntaktisches Subjekt. Im Englischen hingegen fungiert die topikale NP1 als Kongruenzgeber und daher syntaktisch als Subjekt. Die Unterschiede in der Kongruenz lassen sich aus konfigurationellen Unterschieden erklären. Das Englische bestimmt das Subjekt in spezifizierenden Sätzen linear: Die topikale satzinitiale NP bekommt Subjektstatus. Im Deutschen und Russischen, Sprachen mit funktionsunterscheidender Morphologie und relativ flexibler Wortfolge, wird das Subjekt nach dem referenziellen Kriterium bestimmt: die am stärksten referierende NP bekommt Subjektstatus, auch wenn sie rechtsperipher steht.

2.4.4

Mischtypen: prädizierend-identifizierende Sätze

Bisher wurde davon ausgegangen, dass spezifizierende Kopulasätze syntaktisch durch die Inversion eines Prädikats besonderer Art entstehen. Hier sollen die den spezifizierenden

57 Kopulasätzen zugrunde liegenden (nicht-invertierten) Strukturen wie die in (109) kurz analysiert werden. Russisch (109) a. Karter byl togda presidentom SSA. Carter war damals Präsidenti NS USAGEN 'Carter war damals Präsident der USA.' b. Val'ter Skott - avtor „Veverleja". Walter Scott AutorNOM ,,Waverley GEN ". 'Walter Scott ist der Autor von „Waverley".' Solche Kopulasätze werden meist als Untertyp der Identitätssätze betrachtet. Ich werde aber dafür plädieren, solche Sätze als Untertyp der prädizierenden Sätze zu behandeln. Um sie von prädizierenden Sätzen zu unterscheiden, werde ich sie prädizierend-identifizierende Kopulasätze nennen. Mit den prädizierenden Kopulasätzen haben sie Folgendes gemeinsam: (i) Verwendungsbedingungen Satz (109a) könnte in der Biographie von Jimmy Carter vorkommen. Er liefert weiterfuhrende Informationen über einen bereits in den Kontext eingeführten Referenten. Dies ist eine typische Verwendungsbedingung für prädizierende Sätze, vgl. Abschnitt 2.1. (ii) Kasus der NP2 Im Russischen kann die NP2 genau wie in prädizierenden Sätzen im Instrumental oder im Nominativ erscheinen. (110)

Karter byl togda president SSA/presidentom SSA Carter war damals PräsidentNOM /Präsident| NS USAQEN 'Carter war damals der Präsident der USA.'

(iii) Ausschluss von eto Das Pronomen έίο kann in prädizierend-identifizierenden Sätzen nicht eingesetzt werden. (111) a. Karter(*eto)byl togda presidentom SSA. Carter (*das) war damals Präsident| NS USAGEN b. Bus ( * - eto) sejcas president SSA. Bush (*-das) jetzt PräsidentN0M USAGEN 'Bush ist jetzt amerikanischer Präsident.' Wenn έίο doch eingesetzt wird wie in (112), wird der Satz mit έίο nicht mehr als prädizierend-identifizierender Satz interpretiert, sondern als identifizierender Satz:

58 (112) Val'ter Skott - (eto) Avtor „Veverleja". Walter Scott - (das) AutorNOM ,,Waverley"GEN 'Walter Scott ist der Autor von „Waverley".' Der Satz ohne eto, d.h. der prädizierend-identifizierende Satz, könnte in einer Kurzbiographie von Walter Scott vorkommen: Walter Scott wurde 1771 in Edinburgh geboren. ... Walter Scott ist der Autor von „ Waverley" und anderen Werken wie „Ivanhoe" und „Robin Hood". Die Verwendung von έίο wäre in einem solchen biographischen Kontext nicht angemessen, da ein solcher Kontext die Interpretation des Kopulasatzes als prädizierendem Satz erzwingt. Der Satz mit eto würde der Identifizierung von Walter Scott dienen. Denkbar dafür ist folgender Kontext: (113) a. Kto takoj Valt'ter Skott? werN0M solcher Walter ScottNOM? 'Wer ist Walter Scott?' b. Val'ter Skott - eto Avtor

„Veverleja"

W a l t e r Scott - d a s Autor N O M „Waverley G EN"

'Walter Scott ist der Autor von „Waverley".' Das Demonstrativpronomen takoj 'solcher' in der Frage kann als D-Element analysiert werden. Takoj in Kombination mit einer NP kann als eindeutiges Kennzeichen einer DP im Russischen angesehen werden. In der Antwort entspricht der takoj-Ό? die referenzielle DP Avtor „ Veverleja" 'der Autor von „Waverley"'. Es sei darauf hingewiesen, dass im Deutschen der Satz (114) ambig ist, weil es eine prädizierende und eine identifizierende Lesart zulässt (Typ III in der Klassifikation in Tabelle 1 auf S. 18). Allein der Kontext entscheidet über die jeweilige Interpretation. (114) Walter Scott ist der Autor von „Waverley". (ambig) Als Antwort auf die Frage Wer ist Walter Scott? wird der Autor von „ Waverley" referenziell interpretiert und entspricht syntaktisch einer DP. Die russische Entsprechung für diesen Satz wäre (113b). In einem biographischen Kontext oder als Reaktion auf die Aufforderung ,Erzähl mir mehr über Walter Scott' würde die Nominalgruppe der Autor von „ Waverley" in (114) einen anderen grammatischen Status haben. In diesem Fall würde der Autor von „ Waverley" eine Eigenschaft bezeichnen, und der ganze Satz wäre als Antwort auf „In welchem Verhältnis steht Scott zu „Waverley"? oder: „Was hat Scott mit „Waverley" zu tun?" als ein prädizierend-identifizierender Satz zu analysieren. Den in diesem Kapitel angestellten Überlegungen zufolge wäre die NP2 dann syntaktisch eine IdentDP. Die Übersetzung dieses Satzes ins Russische würde kein eto enthalten. (iv) Kopula der Prädikation Anhand eines Ellipsen-Tests (linksperiphere Tilgung) kann im Deutschen und Russischen nachgewiesen werden, dass in prädizierend-identifizierenden Sätzen die Kopula der Prädikation SEINpräd als Satzbildner fungiert. Wenn man zwei Konjunkte durch und verbindet,

59 wobei das erste Konjunkt ein prädizierend-identifizierender Kopulasatz, und das zweite Konjunkt ein prädizierender Kopulasatz ist, können im zweiten Konjunkt sowohl die Kopula als auch das Subjekt ausgelassen werden, vgl. (115). Der Ellipsen-Test funktioniert auch im Russischen, s. (116). (115) a. Peter ist zwar Gabis Mann, aber deswegen noch lange kein Glückspilz. b. [Peter ist zwar Gabis Mann] Kon junkt i> aber [Peter ist deswegen noch lange kein Glückspilz]Konjunkt2 (Huber 2002: 16) (116) Petr byl muzem Gabi, no daleko ne scastlivcikom. Peter war Mannas Gabi G E N, aber bei-weitem nicht Glückspilz1NS 'Peter war Gabis Mann aber deswegen noch lange kein Glückspilz.' Da in solchen Ellipsen nur gleichartige Konstituenten ausgelassen werden können, kann angenommen werden, dass die Kopula im zweiten Konjunkt von demselben Typ ist wie die Kopula im ersten Konjunkt. In beiden Fällen muss es sich um die Kopula der Prädikation handeln. Alles in allem scheint also die Annahme vertretbar, dass prädizierend-identifizierende genauso wie prädizierende Kopulasätze Individuen eine Eigenschaft zuschreiben. Der Unterschied zwischen prädizierenden und prädizierend-identifizierenden Strukturen besteht in der unterschiedlichen Art der prädizierten Eigenschaft. Im Falle der prädizierenden Kopulasätze handelt es sich um die Eigenschaft, zu einer nichteingeschränkten Menge zu gehören, vgl. krasivyj gorod 'eine schöne Stadt' in (117). Im Falle der identifizierenden Sätze handelt es sich um eine „identifizierende" Eigenschaft, die einer Einermenge wie z.B. der Autor von Waverley oder stolica Rossii 'die Hauptstadt von Russland' entspricht. (117) a. Moskva - krasivyj gorod. Moskau - schöne StadtN0M 'Moskau ist eine schöne Stadt.' b. Moskva - stolica Rossii Moskau - HauptstadtN0M Russlands 'Moskau ist die Hauptstadt von Russland.'

(prädizierend)

(prädizierend-identifizierend)

Die semantische Struktur von NP2 in (117) ist jeweils unterschiedlich. Im prädizierendidentifizierenden Satz ist die NP2 eine IdentDP, die nach meiner Analyse einen Referenten impliziert, im prädizierenden Satz ist die NP2 eine NP, die keinen Referenzen impliziert.

60 2.5

Erreichter Stand u n d o f f e n e F r a g e n

(i) Ziel dieses Kapitels war es, ausgehend von der Klassifikation der Kopulasätze von Higgins (1979) zu klären, wie die Interpretation des jeweiligen Kopulasatztyps zustande kommt. Insbesondere war zu untersuchen, welchen Beitrag die Kopula und welchen Beitrag das Prädikativ zu dieser Interpretation leistet. In der sprachphilosophischen Tradition wird ausschließlich das Kopulaverb als Quelle für die Interpretationsunterschiede bei Kopulasätzen angesehen. Ich habe verschiedene Typen von Kopulasätzen untersucht, um zu prüfen, ob dies auf alle Typen zutrifft. Dabei bin ich zum folgenden Schluss gekommen: Bis auf prädizierende Kopulasätze induzieren alle übrigen Typen der Kopulasätze wie identifizierende, spezifizierende, prädizierend-identifizierende und Identitätssätze eine gleichsetzende Interpretation. Ich habe angenommen, dass diese Interpretation durch einen phonologisch leeren IDENT-Operator ausgelöst wird. Die Interpretation eines Kopulasatzes als spezifizierend, identifizierend, prädizierend-identifizierend oder als Identitätssatz hängt von der Anwendungsdomäne des IDENT-Operators ab. In einem spezifizierenden Satz wird IDENT auf die NP1, im Identitätssatz und identifizierenden Satz auf die Kopula, und in einem prädizierend-identifizierenden Satz auf die NP2 angewendet. (ii) Die Typisierung von Higgins (1979), die morpho-syntaktische Kriterien nur wenig berücksichtigt und deshalb auch kaum in die Grammatik integriert ist, beruht auf mehr oder weniger willkürlichen semantischen Setzungen. Eine gründliche Prüfung der morphosyntaktischen und semantischen Bedingungen, die die nach Typen sortierten Lesarten hervorbringen, macht eine Revision der Klassifikation von Higgins notwendig. In Tabelle 4 schlage ich am Beispiel des Deutschen eine neue Typisierung der Kopulasätze vor. Meine Untersuchung der einzelnen Typen nach Higgins hat ergeben, dass Identitätssätze und identifizierende Sätze semantisch und syntaktisch gleich sind, weswegen sie in einem Typ der Identitätssätze zusammengefasst werden können. Den Typen von Higgins (1979) muss aber ein weiterer neuer Typ von Kopulasätzen hinzugefügt werden, nämlich die sog. prädizierend-identifizierenden Kopulasätze, die als Basis für spezifizierende Kopulasätze dienen. Die Typen in Tabelle 4 unterscheiden sich nach zwei Kriterien: (i) dem referenziellen Status von NP1 und NP2 Arg(ument), d.h. Typ referenziell, vs. Präd(ikat), d.h. Typ nicht-referenziell, und (ii) der Anwendungsdomäne des IDENTOperators.

61 Tabelle 4: Klassifikation der Kopulasätze Typen der Kopulasätze

NP1

Kopula

NP2

Beispiele

I.

Arg

SEINPräd

Präd

Sie ist Journalistin/eine Heldin/begabt.

Arg

SEINiden, Arg

Cicero ist Tullius.

IDENT

Walter Scott ist der Autor von „Waverley". (Wer ist Walter Scott?)

prädizierend II. Identitätssatz

SEINPräd

Arg

spezifizierend

Präd IDENT

Der Autor von „Waverley" ist Walter Scott.

IV.

Arg

SEINpräd

Präd IDENT

Walter Scott ist der Autor von „Waverley".

III.

prädizierendidentifizierend

(„Was ist W. Scott im Hinblick auf „Waverley"?)

Wir haben sprachspezifische grammatische Indizien ermittelt, anhand derer zwischen vier Typen von Kopulasätzen unterschieden werden kann: - Als Indiz für prädizierende Sätze im Deutschen (Typ I) dient die artikellose Verwendung eines Nomens als NP2. - Identitätssätze (Typ II) enthalten im Russischen im Präsens obligatorisch das Pronomen eto. - In Typ I, III und IV kann das Prädikatsnomen (Typ ) bei einer overten Kopula im Russischen im Instrumental stehen. - Bei Typ I und IV werden im Deutschen belebte Nomina als NP2 mit was und nicht mit wer erfragt. - Bei Typ II werden belebte Nomina als NP2 im Deutschen mit wer erfragt. (iii) Kopulasätze in den oben untersuchten Sprachen sind auf der Ebene der Logischen Form gleich, in der Abbildung von der Syntax auf die Semantik gibt es aber einzelsprachliche Unterschiede. a) So dient im Russischen, das im Präsens keine overte Kopula hat, das Pronomen eto der Herstellung der Identitätsrelation zwischen zwei Referenten, die im Englischen und Deutschen durch das SEIN der Identität hergestellt wird. b) Spezifizierende Sätze im Englischen unterscheiden sich syntaktisch von denen im Deutschen und Russischen: Im Englischen dient die initiale NP1 als syntaktisches Subjekt, was am Kongruenzverhalten der Kopula sichtbar ist. Im Deutschen und Russischen fungiert NP2 als Kongruenzgeber und somit syntaktisch als Subjekt. Diese Unterschiede sind auf konfigurationelle Unterschiede zurückzufuhren. Während im Deutschen und Russischen das Subjekt nach dem referenziellen Kriterium bestimmt wird, ist im Englischen die Position und der Topik-Status der NP für die Subjekt-Bestimmung entscheidend.

62 (iv) Um unterschiedliche Typen der Kopulasätze kompositional ableiten zu können, habe ich angenommen, dass ein und derselbe natürlich-sprachliche Ausdruck wie z.B. eine Phrase mit einem Nomen als Kopf nicht nur einem, sondern mehreren systematisch aufeinander bezogenen semantischen Typen angehören kann. Von der primären semantischen Repräsentation der Phrase lässt sich eine fixierte Menge weiterer syntaktischer und semantischer Repräsentationen durch typgerechte Anwendung von bestimmten semantischen Operatoren ableiten. Bei diesen Operatoren handelt es sich um Mittel, mit denen in der semantischen Komposition die Typen von Ausdrücken einander angepasst werden können. Durch diese Anpassung werden bestimmte Typkonflikte aufgelöst und so die Kompositionalität bewahrt. Für die unterschiedlichen Interpretationen von Nominalgruppen wurden hier zwei Operatoren von Partee (1987) verwendet: JOTA und IDENT. Wenn Nominalphrasen primär als Prädikate analysiert werden, kann der JOTA-Operator die Entstehung eines nominalen Argument-Ausdrucks durch die Bindung der offenen Argumentstelle des Nomens bewirken. Die morphologische Entsprechung des JOTA-Operators ist im Deutschen und Englischen der definite Artikel. Der IDENT-Operator ist phonologisch leer, er überfuhrt einen Argumentausdruck in einen Prädikatausdruck und speist die Identitätsrelation in die Bedeutung des Prädikats ein. Durch die Anwendung von IDENT werden referenzielle Nominalphrasen an die syntaktische Anforderung angepasst, die die Kopula der Prädikation an die prädikative Position stellt. Insgesamt ergibt sich in Bezug auf die Typisierung der Nominalphrasen in Kopulasätzen folgendes Bild: Tabelle 5. Typen von Nominalphrasen in Kopulasätzen Beispiel

Semantische Form

Typ

Syn. Funktion

Diagnostics

Peter ist [ NP Schauspieler]

λ χ [SCHAUSPIELER(X)]

Prädikativ

Peter ist [ NP ein Feigling]

λ χ [FEIGLING(x)]

Prädikativ

Fragepron. was, kein app.Relativsatz

Cicero ist [ DP Tullius].

cicero, tullius

Objekt

Fragepron. wer

Peter ist [ DP der Dekan].

l y [DEKAN(y)]

Objekt

Prädikativ

Fragepron. was, appos. Relativsatz

Prädikativ

Pronominalisierung mit es/das

Peter ist [idencDP der Dekan].

[ident Der Dekan] ist Peter.

λ χ [χ— l y [DEKAN(y)]]

λ χ [χ— l y [DEKAN(y)]]

Während die Idee der flexiblen Interpretation von Nominalphrasen schon seit langem Gegenstand der linguistischen Diskussion ist, vgl. Partee (1987), Dölling (2001), Zamparelli (2000), ist der Vorschlag, Typverschiebungsoperatoren auch auf Verben anzuwenden, neu. Ich habe gezeigt, dass die Annahme der Mehrdeutigkeit der Kopula vermieden werden kann, wenn IDENT in die Bedeutung der Kopula eingespeist wird. Während IDENT mit Nominalphrasen durch funktionale Applikation verbunden wird, wird die Kopula der Prädikation mit IDENT durch funktionale Komposition verbunden.

63 Offene Fragen Obwohl der Versuch unternommen wurde, die Haupt-Typen von Kopulasätzen zu analysieren, ist es nicht gelungen, alle möglichen Typen zu erfassen. Als weiterer Typ wären klassifizierende Kopulasätze wie (118) aus Löbel (2000) zu nennen: 24 (118) a. Das Veilchen! ist eine Blumej. Esi/siej blüht im Frühling. b. Das erste Buch] ist ein Gesellschaftsromanj. Er/?Esi spielt im 19. Jahrhundert. In diesen Kopulasätzen wird der Subjektreferent als Exemplar einer Art ausgewiesen. Im jeweils zweiten Satz kann man mit einem anaphorischen Pronomen die NP2 wieder aufnehmen. Dies ist als Hinweis darauf zu deuten, dass NP2 ein Argument-Ausdruck ist. Interessanterweise muss bei den Übersetzungen dieser Sätze ins Russische das Pronomen eto eingesetzt werden. (119) a. Fialka - eto cvetok. Veilchen - das Blume 'Das Veilchen ist eine Blume.' b. Pervaja kniga - eto social'nyj roman. erstes Buch - das Gesellschaftsroman. 'Das erste Buch( ist ein Gesellschaftsroman.' Zwischen fialka 'das Veilchen' und cvetok 'Blume' besteht keine Identitätsrelation, ebenso wie zwischen pervaja kniga 'das erste Buch' und social'nyj roman 'der Gesellschaftsroman'. Zwischen den Referenten von NP1 und NP2 besteht eher eine Exemplar-von-Relation: der Referent von NP1 fialka ist ein Exemplar der Art Blume, pervaja kniga ist in diesem Beispiel ein Exemplar der Klasse der Gesellschaftsromane. Ein denkbarer Weg wäre die Ersetzung der Gleichsetzungsrelation in der Repräsentation von eto im Russischen und der Kopula der Identität im Deutschen durch einen freien Parameter, der je nach Belegung von NP1 und NP2 als Identität oder als Exemplar-von spezifiziert werden kann, s. z.B. Dölling (2001: 13Iff.) für einen Vorschlag in dieser Richtung. Die klassifizierenden Sätze in (118) und (119) wären dann als Untertyp von Identitätssätzen zu betrachten. Neben der Differenzierung der Kopulasätze nach der Referenzialität des nominalen Komplements der Kopula und der zugrunde liegenden semantischen Relation zwischen NP1 und NP2 (Identität vs. Prädikation) gibt es innerhalb des Typs der prädizierenden Sätze eine weitere Differenzierung: die Unterscheidung zwischen Stadien- und Individuen-Prädikaten. Diese Unterscheidung bildet den Gegenstand des nächsten Kapitels.

24

Weitere Typen der Kopulasätze werden z.B. in Hengeveld (1992) vorgestellt.

3

Prädizierende Sätze und die Stadien/Individuen-Unterscheidung

Two BEs, or not two BEs, that is the question.

Seit Carlson (1977) wird in prädizierenden Sätzen (auch Kopula-Prädikativ-Konstruktionen (KPK) genannt) zwischen zwei Arten von Prädikaten differenziert. Individuen-Prädikate („individual level predicates") wie intelligent in Bill is intelligent prädizieren eine Eigenschaft über ein Individuum. Stadien-Prädikate („stage level predicates") wie available in Bill is available prädizieren eine Eigenschaft über ein Individuen-Stadium, wobei unter einem Individuen-Stadium ein Lebensausschnitt eines Individuums verstanden wird. Tendenziell bezeichnen Individuen-Prädikate permanente bzw. essenzielle Eigenschaften, während Stadien-Prädikate temporäre bzw. akzidentelle Eigenschaften denotieren (Chierchia 1995, Diesing 1992, Kratzer 1995). In der Forschungsliteratur wird heftig darüber diskutiert, ob die Stadien/Individuen-Unterscheidung Reflexe im Sprachsystem hat, und wenn ja, in welcher Domäne der Grammatik dieser Unterschied manifest wird. Handelt es sich um einen syntaktischen und/oder semantischen oder rein pragmatischen Unterschied? Betrifft diese Unterscheidung nur das prädikative Adjektiv und/oder das Kopulaverb? Welche Reflexe hat die Stadien/IndividuenUnterscheidung in KPK mit Prädikatsnomina? In diesem Zusammenhang sind Sprachen interessant, die zwei unterschiedliche KPK-Varianten haben. So hat das Spanische zwei verschiedene Kopulaverben ser und estar, das Russische lässt bei derselben Kopula die Kasusvariation am prädikativen Adjektiv und Prädikatsnomen zu, das schottische Gälisch hat zwei verschiedene Kopulae, die jeweils unterschiedliche syntaktische Strukturen induzieren (Adger & Ramchand 2001). Nach Stassen (1994) gibt es Sprachen wie z.B. Kannada (Dravidisch), die Prädikation sowohl mit als auch ohne Kopulaverb ausdrücken können. In vielen Sprachen scheint der temporär/permanent-Kontrast auf den ersten Blick als Kriterium zur Selektion der jeweiligen KPK-Variante zu dienen. So werden die beiden Kopulae im Spanischen und schottischen Gälisch als Indikatoren des Prädikatstyps Stadien-Prädikat vs. Individuen-Prädikat betrachtet (Diesing 1992, Kratzer 1994, Adger & Ramchand 2001).' Maienborn (2003) äußert Bedenken hinsichtlich der These, dass es der permanent/temporär-Kontrast ist, den Sprachen mit zwei Varianten der Kopulasätze grammatisch reflektieren. Zumindest für das Spanische lässt sich nachweisen, dass die Kopulaselektion nicht primär durch diesen Kontrast gesteuert wird. Dieses Kapitel soll durch einen Sprachvergleich zwischen Russisch und Spanisch unter Heranziehung des Deutschen über folgende Fragen Klarheit schaffen:

1

Einige Autoren (Carlson 1977, Stump 1985, Diesing 1992, Kratzer 1994) gehen sogar so weit, dass sie im Deutschen und Englischen, in denen dieselbe Kopula Stadien- und Individuen-Prädikate einbettet, zwei homonyme Kopulae annehmen, eine, die nur Stadien-Prädikate einbettet, und eine, die nur Individuen-Prädikate selegiert.

65 -

Was differenzieren die Sprachen mit zwei KPK-Varianten eigentlich?

-

Welche Rolle spielt die temporär/permanent-Unterscheidung bzw. die Stadien/Individuen-Unterscheidung?

-

Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Unterscheidungen für die Grammatik der Kopula und/oder des Prädikativs?

Das Kapitel gliedert sich wie folgt: In einer keineswegs kompletten, aber durchweg repräsentativen, Auswahl wird die deskriptive slawistische Tradition beleuchtet (3.1.1). Dann werden zwei generative Analysen besprochen, deren Ziel die Herausarbeitung mehrerer (im Lexikon vermerkter Kopulae) ist (3.1.2). In 3.2 wird die „Pragmatische W e n d e " in der Erforschung der KPK anhand Maienborns Analyse der zwei lexikalisch unterschiedenen Kopulae im Spanischen vorgestellt (3.2.1) und die sich zunächst anbietenden Möglichkeiten einer passenden Übertragung dieses Ansatzes auf die Kasusalternation im Russischen diskutiert (3.2.2). Abschnitt 3.3 stellt den pragmatischen Ansatz von Maienborn vor, der eine kontrastive Analyse der prädizierenden Sätze im Russischen und Spanischen ermöglicht. In 3.4 werden KPK im Russischen an der Syntax/Semantik-Schnittstelle analysiert. Das Kapitel endet mit einem von dieser Position aus naheliegenden Blick auf die differenzielle Markierung von Prädikativen in KPK.

3.1

Kasusalternation im Russischen

Das Russische nimmt in KPK folgende Differenzierung vor: Bei overter Kopula kann das Prädikatsnomen im Nominativ (NOM) oder im Instrumental (INS) stehen. Dies gilt ebenfalls für das prädikative Adjektiv (vgl. Kapitel 4). Im Folgenden werde ich mich aber auf Prädikatsnomina, genauer gesagt auf prädikative NPs, konzentrieren. (1)

Anna byla ucitel'nica /ucitel'nicej//dobraja /dobroj. Anna war Lehrerin N 0 M /Lehrerin I N S //gutmütig N 0M/gutmütig I N S 'Anna war Lehrerin //gutmütig.'

Die Kasusalternation unterliegt Beschränkungen in Bezug auf die Tempusformen von byt'. Im Präsens, wo das Russische keine overte Kopula hat, kann das Prädikatsnomen bzw. Adjektiv bis auf einige wenige Ausnahmen (vgl. Kapitel 5) nur im N O M stehen. (2)

Anna - ucitel'nica /*ucitel'nicej. Anna Lehrerin N0 M/*Lehrerin INS 'Anna ist Lehrerin.'

Außer KPK im Präsens scheint es keine Kontexte zu geben, in denen der N O M zulässig ist, aber nicht der INS. Bei der Kopula im Futur zeichnet sich die Affinität zum INS ab. So weist Vinogradov (1960: 424) d a r a u f h i n , dass der N O M bei der Kopula im Futur sehr selten vorkommt und

66 archaisch wirkt, vgl. z.B. (3), ein Beleg aus Gogols „Taras Bulba". Der unmarkierte Kasus des Prädikativs bei der Kopula im Futur ist im heutigen Russisch der INS, vgl. (4), ein Pressebeleg. (3)

Terpi kazak, ataman budes'. (archaisch) Habe-Geduld, Kosak, AtamanN0M wirst-sein 'Habe Geduld, Kosak, dann wirst Du zum Kosakenführer.'

(4)

Gromov snova budet atamanom. Gromov wieder wird-sein AtamanINS 'Gromov wird erneut zum Kosakenfuhrer.' (Google-Zeitung „Kuban' segodnja" 2. 06.1998)

Auch bei der Kopula im Konjunktiv 2 und Imperativ wird nach Vinogradov (1960: 424) der INS dem NOM vorgezogen, vgl. seine Belege aus der klassischen Literatur. (5)

a. Dali by ej obrazovanie, ona byla by znamenitym vracom. gab Konj.Partik. ihr Bildung, sie war Konj.Partik. berühmter ArztINS 'Hätte man sie ausgebildet, wäre sie eine berühmte Ärztin geworden.' b. Bud' moej zenoj! seiiMPER.2.sG. Kleiners Frauds 'Werde meine Frau!'

Das Präteritum Indikativ scheint somit die einzige Tempusform der Kopula zu sein, bei der die Kasusalternation NOM/INS auftritt, vgl. Bsp. (1). Diese Fälle werde ich unter die Lupe nehmen. Die Analyse der KPK mit INS soll u.a. klären, warum der INS bei der Kopula im Futur, Konjunktiv und Imperativ präferiert wird. Die slawistische Diskussion dreht sich um die Kernfrage, ob eine semantische Motivation für die Variation zwischen NOM und INS gegeben ist. Im Folgenden werde ich Erklärungsvorschläge aus Grammatiken und Artikeln präsentieren und zeigen, wie sie im theoretischen Rahmen der generativen Grammatik bisher umgesetzt wurden. Dabei werde ich auch auf den in Geist (1997/99) vorgeschlagenen Ansatz eingehen und unter Berücksichtigung der neuen Erkenntnisse der KPK-Forschung auf seine Tragfähigkeit überprüfen.

3.1.1

Übersicht über deskriptive Erklärungsversuche

In diesem Abschnitt werde ich einige Vorschläge in der slawistischen Literatur zur Rekonstruktion des zugrunde liegenden Bedeutungsunterschieds zwischen Prädikatsnomina im NOM und im INS präsentieren.

2

Konjunktivformen der Verben werden im Russischen analytisch durch Verbindung der Partikel by mit dem sog. /-Partizip gebildet, das mit der Präteritumsform der Verben identisch ist.

67 (i) NOM/INS und permanente vs. temporäre Eigenschaften In der älteren Literatur zum Russischen wird als der entscheidende Faktor für die Kasuswahl die Opposition zwischen temporären und permanenten Eigenschaften angesehen (Galkina-Fedoruk et al. 1958: 39, 43; H. Krzizkovä 1969; Miklosich 1926: 726; Peskovskij 1956: 271; Schaller 1975, Vinogradov 1960: 42If.). Der INS wird vornehmlich als Signal des veränderlichen Status, der vorübergehenden Gültigkeit einer Prädikation betrachtet. Die Eigenschaft, die durch das Prädikatsnomen im NOM bezeichnet wird, hat dieser Auffassung gemäß für das Subjekt eine permanente konstitutive Geltung. Wird die Geltung der Prädikation zeitlich beschränkt, z.B. durch Durationsadverbiale, ist nur der INS möglich: (6)

On neskol'ko let byl direktorom/*direktor. er einige Jahre war DirektoriNS/*DirektorNOM· 'Er war ein paar Jahre Direktor.'

(7)

Celyj god onabyla pevicej /(*pevica) ν malen'kom kabare. ganzes Jahr sie war Sängerin INS /(*Sängerin N0 M) im kleinen Kabarett 'Ein ganzes Jahr ist sie Sängerin in einem kleinen Kabarett gewesen.' (Seliverstova 1982: 144)

Tatsächlich fallt die Opposition zwischen temporären und permanenten Eigenschaften in vielen Fällen mit der Kasusalternation INS vs. NOM zusammen, aber es gibt eine Reihe von Fällen, die gegen eine fest verdrahtete Korrelation sprechen: Außiebung der zeitlichen

Beschränkung

Anhand der Beispiele kann gezeigt werden, dass die zeitliche Beschränkung der Geltung einer Prädikation, die durch den INS induziert werden soll, im Folgetext aufgehoben werden kann. (8)

Puskin byl velikim poetom i po sej den' velikim poetom i ostalsja. Puschkin war großer Dichter INS und bis diesen Tag großer Dichter INS auch blieb 'Puschkin war ein großer Dichter und ist es bis heute geblieben.' (Google)

Im zweiten Konjunkt wird die zeitliche Beschränkung der Geltung des Prädikats ein großer Dichter sein, russ. byt' velikim poetom!Ns, aufgehoben. Überschreibung der zeitlichen

Beschränkung

Ferner kann die zeitliche Beschränkung, die durch den INS induziert wird, durch temporale Modifikatoren wie vsegda 'immer' oder vse vremja 'die ganze Zeit' überschrieben werden. (9)

On vsegda byl velikim poetom /velikij poet, er immer war großer Dichteri NS /Dichter N0 M 'Er war immer ein großer Dichter gewesen.'

68 Somit scheint die Korrelation INS - temporäre Eigenschaft, NOM - permanente Eigenschaft eher eine Tendenz als eine feste Regel zu sein. (ii) NOM/INS und essenzielle vs. akzidentelle Eigenschaften Es gibt sodann Vorschläge, die Kasusalternation in Begriffen wie essenziellen (bzw. nicht veräußerlichen) vs. akzidentellen (bzw. veräußerlichen) Eigenschaften zu erklären. [...] the Nominative Case is used when the predicate nominal denotes a property seen as essential and inalienable; the Instrumental case is used when the predicate nominal denotes a property which is seen as transient and inessential. (Wierzbicka 1980: 121)

Diese Intuition ist nicht verkehrt, was ersichtlich wird, wenn man Sätze (lOa/b) miteinander vergleicht. (10)

a. Onbyl ucitel'. er w a r Lehrer N 0 M

'Er war Lehrer.' b. On byl ucitelem. er war LehrerINS 'Er war Lehrer.' Die NOM-Variante bezeichnet nicht so sehr den Beruf, sondern mehr eine Fähigkeit oder Wirkung, die für das betreffende Individuum essenziell ist. Die INS-Variante ist eher eine Bezeichnung für eine Tätigkeit, die erlernbar ist. Zweifel an dieser Erklärung kommen jedoch auf, wenn wir Fälle wie (11) betrachten. Obwohl die Prädikatsnomina doc' vraca 'Tochter eines Arztes' und levsa 'Linkshänder' essenzielle und nicht veräußerliche Eigenschaften bezeichnen, können sie auch im INS stehen, also dem Kasus, der ja die Akzidenzialität signalisieren soll. (11)

a. Anna byla docer'ju vraca. Anna war TochterINS Arztes 'Anna war Tochter eines Arztes.' b. Sergej byl levsoj. Sergej war LinkshänderiNS. 'Sergej war Linkshänder.'

Wir halten fest, dass die Distribution und Interpretation von NOM vs. INS in russischen KPK mit der Opposition essenziell vs. akzidentell nur teilweise erfasst werden können. (iii) INS/NOM und „Teil/Ganzes"-Interpretation Auf eine weitere Interpretationsmöglichkeit des INS im Unterschied zum NOM macht Potebnja (1958: 504) bei der Analyse der Beispiele in (12) aufmerksam.

69 (12)

a. O n b y l oficer. er war Offizier N O M

'Er war Offizier.' b. On byl oficerom er war Offizier 1NS . 'Er war (unter anderem) Offizier.' Seiner Meinung nach impliziert der INS in (12b), dass das Individuum gleichzeitig noch weitere Berufe hat oder anderen Beschäftigungen nachgeht. Die passende Paraphrase für diesen Satz wäre: „Er war unter anderem Offizier". Die Eigenschaft, Offizier zu sein, ist also als Teil der Menge der Eigenschaften des Subjektreferenten zu deuten. Der NOM in (12a) induziert keine Interpretationen dieser Art. Die Eigenschaft, die durch oficer im NOM bezeichnet wird, erscheint hier als „erschöpfende" Eigenschaft, die keine alternativen Eigenschaften impliziert. In einer KPK, die mehr als eine Eigenschaftsbezeichnung enthält wie in (13), würde ein Muttersprachler den INS bevorzugen. Der NOM wäre jedoch grammatisch nicht falsch. (13)

O n b y l oficerom, diplomatom i strategom. er war Offizier INS , Diplomat INS und Stratege INS 'Er war Offizieri NS , D i p l o m a t ^ und Stratege INS .'

Der interpretative Unterschied zwischen (12) a und b, den Potebnja beobachtet, kann mit Hilfe der Opposition Teil (INS) vs. Ganzes (NOM) beschrieben werden. (iv) NOM/INS und idiomatische vs. agentive Interpretation Boguslawski (2001) zeigt am Polnischen, einer Sprache mit besonderer Affinität zum INS beim Prädikatsnomen, dass idiomatisierte Nominalgruppen nur im NOM stehen. Im Russischen ist ein ähnlicher Zusammenhang nachweisbar, d.h. viele Beispiele von Boguslawski finden sich auch im Russischen vorzugsweise im NOM. (14)

a. Syn byl vylityj otec /#vylitym otcom. Sohn war gegossener NO M Vater NO M/#gegossener INS Vater INS 'Der Sohn war dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.' b. Ona byla koza i kosti /#kozej i kostjami. sie war HautN0M und Knochen NO M/#Haut INS und Knocheni NS 'Sie war (nur noch) Haut und Knochen.' c. Ran'se on byl zivoj trup / #zivym trupom. Früher er war lebender Leichnam NOM /#lebender Leichnami N s 'Früher war er ein lebender Leichnam.' d. Ona byla krov' s molokom/*krov'ju s molokom. sie war Blut N0 M mit Milch /*Blut INS mit Milch 'Sie war wie Milch und Blut.'

70 e. On byl rubacha-paren' /#rubachoj-parnem. er war Hemd-Bursche N0 M/#Hemd-Burschei NS 'Er war ein fideles Haus.' Bei diesen Prädikatsnomina ist eine Paraphrase mit „wz'e" möglich, z.B. zu (14c) „Er war •wie ein lebender Leichnam", s. auch (14d). Sie dienen der Charakterisierung des Subjektreferenten. Wenn diese phraseologisierten Nominalphrasen im INS verwendet würden, würden sie ihren idiomatischen Charakter verlieren und in ihrer wörtlichen Bedeutung zu interpretieren sein. So könnte der Satz (15) eine Interpretation bekommen, nach der eine Person einen lebenden Leichnam in einem Theaterstück gespielt hat. (15)

Ran'se on byl zivym trupom. früher er war lebender Leichnames 'Früher war er ein lebender Leichnam.'

Der INS induziert einzelne Ereignisse als Realisierung der Eigenschaft, ein lebender Leichnam zu sein. Auf Agentivitätseffekte beim INS weist auch Seliverstova (1982: 101) hin: [...] pri vybore tvoritel'nogo padeza predikat ukazyvaet na realizaciju pripisyvaemogo sub"ektu svojstva. (Bei der Wahl des Instrumentals verweist das Prädikat auf die Realisierung einer Eigenschaft, die dem Subjekt zugeschrieben wird, (meine Übersetzung, L.G.))

Im zusammengesetzten Satz (16) wird im ersten Konjunkt „sie war die geborene LehreriniNs" durch den INS ein Agentivitätseffekt ausgelöst. Das Lehrer-Sein wird als eine Aktivität mit dem Subjektreferenten als Agens aufgefasst. Im zweiten Konjunkt „aber unterrichtet hat sie nie" wird dieser Agentivitätseffekt nivelliert. Zwischen dem ersten und zweiten Konjunkt entsteht so ein Widerspruch. (16) ??Ona byla prirozdennym prepodavatelem, no prepodavat'ej tak i ne prislos'. sie war geboreneres Lehrer INS , aber unterrichten ihr doch nicht widerfuhr 'Sie war die geborene Lehrerin, aber es kam nie dazu, dass sie unterrichtete.' (Seliverstova 1982: 144) KPK mit dem NOM lösen keine Agentivitätseffekte aus, schließen diese aber nicht aus, so Seliverstova. Satz (17) mit dem Prädikatsnomen im NOM wird von Informanten eher akzeptiert als Satz (16). (17)

Ona byla prirozdennyj prepodavatel', no prepodavat'ej tak i ne prislos' sie war geborenerNOM LehrerN0M, aber unterrichten ihr doch nicht widerfuhr 'Sie war eine geborene Lehrerin, aber es kam nie dazu, dass sie unterrichtet hätte' (Seliverstova, ebenda)

Der Agentivitätseffekt, der durch den INS ausgelöst wird, ist wie die anderen interpretativen Effekte nicht zwingend. So muss z.B. die Bezeichnung der essenziellen Eigenschaft in (IIa), Tochter eines Arztes zu sein, auch wenn sie im INS steht, nicht notwendigerweise agentiv (z.B. als Rolle in einem Theaterstück) interpretiert werden.

71

(ν) Weitere Beobachtungen zur NOM/INS-Alternation In einigen Untersuchungen zur Kasusalternation NOM/INS wie z.B. Nichols (1981) und Hentschel (1991) wird Abstand von monokausalen semantischen Erklärungsversuchen genommen und die Vielfalt der Faktoren, die auf die Wahl der morphologischen Form des nominalen Prädikativs Einfluss nehmen können, betont. Der Untersuchung von Nichols (1981, 1985) zufolge gibt es 28 Faktoren (in 6 Gruppen zusammengefasst), die die Wahl des einen oder des anderen Kasus bei alleinstehenden Nomina und Adjektiven in der prädikativen Funktion beeinflussen. Nichols identifiziert neben der temporär/permanent-Unterscheidung und dem pragmatischen Faktor der „Evidentiality" (Offensichtlichkeit) folgende Faktoren, die ihrer Meinung nach Einfluss auf die Kasuswahl haben: Genus und Belebtheit des Subjektnomens, die Forderungen des Stils3, Wortfolge und andere Aspekte. Ein Nachteil der Untersuchung von Nichols ist, dass das Zusammenwirken der einzelnen Faktoren sowie etwaige implikative Beziehungen zwischen ihnen außer Betracht gelassen werden. Nichols schließt aus ihrer Untersuchung, dass eine einheitliche Regel für die Wahl der Kasusform beim Prädikatsnomen nicht formuliert werden kann. 4 Hentschel (1991) kommt zu einem ähnlichen Schluss. Er ermittelt auf der Basis eines repräsentativen Textkorpus und mit Hilfe von Methoden der analytischen Statistik die Art und die Stärke einzelner potenzieller Faktoren für die Kasuswahl beim Prädikatsnomen im modernen Russisch. Faktoren, die die INS-Verwendung begünstigen bzw. erzwingen, sind u.a. die Position im untergeordneten Nebensatz, das Fehlen des Subjekts und das Auftreten der Kopula im Futur. Andererseits werden genauso wie bei Nichols (1981) bestimmte Spezifizierungen der grammatischen Kategorien des Prädikatsnomens wie Genus und Belebtheit als Einflussfaktoren ermittelt. Hentschel kommt zu dem Schluss, dass aus der Gesamtheit aller Einflussfaktoren kein gemeinsamer semantischer Nenner extrahiert werden kann. Dazu ist Folgendes anzumerken. Geht man davon aus, dass Sprache ein System ist, müsste die NOM/INS-Selektion in russischen KPK bestimmten Regeln unterliegen. Dass man durch statistische Methoden bisher diese Regeln nicht ermitteln konnte, kann daran liegen, dass die Suche auf grammatische Faktoren bezogen war. Die Übersicht über die Beobachtungen zur Kasusalternation in der Literatur legen hingegen nahe, dass die Einflussgrößen für die Kasuswahl nicht wie Hentschel und Nichols vermuten primär in der Grammatik des Satzes (z.B. Genus des Prädikatsnomens) liegen, sondern in der Intention des Sprechers, in der Art der Anbindung an den Kontext, und somit an der Grammatik/Pragmatik-Schnittstelle zu suchen ist. Wir werden in 3.2.2 auf diese Idee zurückkommen.

3

4

In der Akademiegrammatik (Svedova et al. 1980) werden Stilunterschiede als der alleinige Faktor gesehen, der die Kasuswahl beeinflusst. „Forma tv. p. (tvoritel'nogo padeza) stilisticeski nejtral'na; forma im. p. (imenitel'nogo padeza) pri takom ceredovanii mozet imet' ottenok ustarelosti" (Svedova et al. 1980: 239). „Die Form des Instrumentals ist stilistisch neutral; die Form des Nominativs kann bei einer solchen Kasusalternation etwas archaisch wirken" (meine Übersetzung, L.G.). „Predstavljaetsja nevozmoznym vyvesti kakoe-libo edinoe pravilo vybora padeznoj formy predikativnogo imeni" (Nichols 1985). „Es erscheint unmöglich, eine einheitliche Regel ftir die Wahl der Kasusform beim Prädikatsnomen zu formulieren" (meine Übersetzung, L.G.).

72 Fassen wir kurz zusammen. Die Übersicht über die bisherigen Beobachtungen und Erklärungsversuche ergibt Folgendes: Die Kasusalternation hat je nach Semantik des Prädikatsnomens und je nach Kontext unterschiedliche Auswirkung auf die Interpretation. Es lassen sich gewisse Tendenzen feststellen. Danach induziert der INS die Interpretation einer Eigenschaft als temporär, akzidentell bzw. als Teil einer Menge von Eigenschaften oder löst eine agentive Uminterpretation dieser Eigenschaft aus. Beim NOM wird die Eigenschaftsbezeichnung als permanent, essenziell oder als Gesamtmenge von Eigenschaften, d.h. erschöpfend bzw. exhaustiv interpretiert. Der NOM erzeugt keine Agentivitätseffekte. Ein gemeinsamer semantischer Nenner für die NOM/INS-Alternation konnte bisher nicht ermittelt werden. Die deskriptiven Arbeiten hatten lediglich zum Ziel, die interpretativen Effekte zu beschreiben, die mit der jeweiligen Kasuswahl einhergehen, und durch statistische Studien Faktoren zu ermitteln, die die Kasusselektion beeinflussen. Neuere Ansätze, die ich im nächsten Abschnitt vorstellen werde, verlagern den Schwerpunkt der Untersuchung auf die morphosyntaktische und semantische Binnenstruktur der KPK und versuchen, die unterschiedlichen interpretativen Effekte auf einen gemeinsamen Nenner zurückzufuhren und grammatisch zu rekonstruieren.

3.1.2

Syntax/Semantik der KPK und die Kasusalternation

In diesem Abschnitt wird auf zwei generative Ansätze zu NOM/INS-Alternation eingegangen. Das Gemeinsame dieser Ansätze ist, dass sie die Unterschiede in der Kasuszuweisung an der unterschiedlichen syntaktischen und semantischen Struktur der jeweiligen KPK festmachen. Wir werden die wesentlichen Züge dieser Ansätze erläutern und deren Reichweite überprüfen.

3.1.2.1

Situationsbasierter Ansatz

Mein eigener Vorschlag in Geist (1997/99) war dem Ansatz zu Stadien/Individuen-Unterscheidung nach Kratzer (1995) und der neueren Fassung in Maienborn (1996) verpflichtet. In den klassischen Ansätzen zur Stadien/Individuen-Distinktion (Carlson 1977, 1991, Diesing 1992, Kratzer 1994) werden Temporarität und Permanenz als zwei wichtige Merkmale für die Unterscheidung der beiden Prädikatstypen angesehen. Kratzer (1995) argumentiert dafür, dass die Stadien/Individuen-Unterscheidung Reflexe im Sprachsystem hat. Sie nimmt an, dass die beiden Prädikatstypen Unterschiede in der Argumentstruktur aufweisen: Stadien-Prädikate wie be available in (18) sind mit einem Situationsargument 1 ausgestattet, d.h. sie haben eine Argumentposition für Situationsbezug bzw. für eine zeitlich-räumliche Lokalisierung. Das Situationsargument (auch „davidsonsches Argument" genannt) ist das latente Argument der Verben, das anders als Partizipanten-Argumente keine morphosyntaktische Entsprechung hat. Individuen-Prädikate wie be altruistic in (19) haben kein solches Situationsargument in ihrer logischen Form, vgl. Kratzer (1995: 141):

73 (18)

Firemen are available. 3 x j ffireman(x) & available(x, 1)]

(19)

Firemen are altruistic. 3X [fireman(x)] [altruistic(x)]

(Stadien-Prädikat)

(Individuen-Prädikat)

Zumindest einer Interpretation zur Folge drückt (18) aus, dass zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort Feuerwehrleute zur Verfügung stehen. Die Geltung des Prädikats be altruistic in (19) kann wegen des Fehlens des Situationsarguments weder zeitlich noch räumlich eingeschränkt werden. Der Satz bedeutet, dass Feuerwehrleute per se altruistisch sind. Kratzers Überlegungen zufolge hängt die Zuordnung der Prädikate zu der jeweiligen Kategorie vom Kontext ab und ist deswegen variabel. So hat in einem Beispiel wie (20) das Prädikat be French zwei mögliche Interpretationen. (20)

Henry was French.

Im Default wird das Prädikat was French als Individuen-Prädikat interpretiert. In einem Kontext, in dem Henry Franzose war, jetzt aber ein amerikanischer Bürger geworden ist, wird das Prädikat was French als Stadien-Prädikat interpretiert, vgl. Kratzer (1995: 155). In dieser Lesart wird beim Prädikat was French ein Situationsargument angenommen. Die wichtigsten Annahmen von Kratzer (1995) sind die folgenden: Kratzer (1995) Die Stadien/Individuen-Unterscheidung im Englischen und Deutschen hat Reflexe in der Argumentsstruktur. Stadien-Prädikate bezeichnen temporäre Eigenschaften, fuhren ein Situationsargument ein. Individuen-Prädikate bezeichnen permanente Eigenschaften, führen kein Situationsargument ein. Maienborn (1996) weist auf Probleme und Schwächen der kratzerschen Konzeption der Stadien/Individuen-Prädikate hin. Sie zeigt, dass die Unterscheidung von temporären und permanenten Eigenschaften nicht in der von Stadien/Individuen-Ansätzen angenommenen Weise sprachlich reflektiert wird. Die Sprache unterscheidet aber sehr wohl zwischen Prädikaten, die sich auf eine Situation (permanente oder temporäre) beziehen, und Prädikaten, die auf Objekte Bezug nehmen. Wenn man die Stadien/Individuen-Unterscheidung als grammatische Unterscheidung beibehalten will, sollte man Maienborn zufolge Stadien- und Individuen-Prädikate so definieren: Maienbora (1996) Stadien-Prädikate bezeichnen Eigenschaften von Situationen (permanente oder temporäre). Individuen-Prädikate bezeichnen Eigenschaften von Objekten ohne Bezug auf Situationen.

74

Nach Maienborn (1996: 144) hat ein Stadien-Prädikat mit einem referenziellen Situationsargument s eine semantische Repräsentation wie in (21a) auf, ein Individuen-Prädikat dagegen wird wie in (21b) repräsentiert, wobei ο ein Argument für ein Objekt ist. (21) a. Stadien-Prädikat ..As [s ... ] b. Individuen-Prädikat (ähneln) λο 2 λο, [RESEMPLE(o,, o 2 )] Der Ansatz von Geist (1997/99) macht die Stadien/Individuen-Unterscheidung im Sinne von Maienborn fur die Erklärung der Kasusalternation in KPK im Russischen nutzbar. In diesem Aufsatz wurde gezeigt, dass die Stadien/Individuen-Unterscheidung, die Maienborn fur KPK mit prädikativen APs im Deutschen vorschlägt, auch in KPK mit Prädikatsnomina im Russischen geltend gemacht werden kann: Der Kasus des Prädikatsnomens im Russischen dient als Indiz iur die Zuordnung eines zusammengesetzten Prädikats zu Stadienoder Individuen-Prädikaten nach der Definition von Maienborn (1996). Der jeweilige Kasus beim Prädikatsnomen im Russischen zeigt an, ob ein Prädikat den Bezug auf eine (temporäre oder permanente) Situation aufweist (INS) oder keinen solchen Situationsbezug hat (NOM): Geist (1997/99) [byt' + NP i n s ] bezeichnet Eigenschaften von Objekten in Situationen (permanente oder temporäre Eigenschaften). [byt' + NPNOM] bezeichnet Eigenschaften von Objekten ohne Bezug auf Situationen. Da ich in Geist (1997/99) Maienborn folgend davon ausging, dass Verben als Lieferanten der Situationsargumente dienen, müssen im Russischen zwei verschiedene Kopulae byt' angenommen werden. Die Kopula byt'ι hat ein Situationsargument und verbindet sich mit einem Prädikatsnomen im INS, die Kopula byt'2 fuhrt kein Situationsargument ein und verbindet sich mit einem Prädikatsnomen im NOM. Der Argumentstruktur-Unterschied zwischen byt', und byt '2 ist im Lexikon verankert. Er wird im Falle der Modifikation mit Frequenz- und Durationsadverbialen, die das Situationsargument des Verbs als Anker benötigen, deutlich. (i) Modifikation Die Modifikation mit Frequenz- und Durationsadverbialen ist nur bei KPK mit dem INS zulässig. Ob das Prädikatsnomen eine temporäre Eigenschaft wie in (22) oder eine permanente Eigenschaft wie in (23) bezeichnet, wirkt sich auf die Modifizierbarkeit nicht aus. (22)

a. temporäre Eigenschaft - INS Andrej dva raza byl pobeditelem. Andrej zweimal war SiegeriNS 'Andrej war zweimal Sieger.'

b. temporäre Eigenschaft - NOM *On dvaraza byl pobeditel'. *er zweimal war SiegerN0M 'Andrej war zweimal Sieger.'

75 (23)

a. permanente Eigenschaft ~ INS Sergej vsegda byl diabetikom. Sergej immer war DiabetikerINS 'Sergej war immer ein Diabetiker.'

b. permanente Eigenschaft - NOM * Sergej vsegda byl diabetik. * Sergej immer war DiabetikerN0M 'Sergej war immer ein Diabetiker.'

Um die Akzeptabilitätsunterschiede zwischen den a- und b-Beispielen, also zwischen den Beispielen mit dem INS und denen mit dem NOM, zu erfassen, nahm ich in Geist (1997/99) an, dass die Kopula in den Sätzen mit dem INS ein Situationsargument in ihrem Theta-Raster hat, welches als Anker für Modifikatoren dienen kann. In Sätzen mit dem NOM hat die Kopula kein solches referenzielles Argument, woraus die Unzulässigkeit der Kombination mit Modifikatoren resultiert. Für die Analyse der KPK in der Syntax ging ich in Geist (1997/1999) von der Annahme aus, dass alle lexikalischen Verben mit Basisposition in der VP Situationsbezug haben. Die Kopula hyt'i mit dem Situationsbezug kann somit als Verb mit der Basisposition in der Kopfposition einer VP angesehen werden, vgl. (24a). Da es bei byt'2 keine Evidenz für die Annahme eines referenziellen Situationsbezugs gibt, ist byt '2 die Belegung einer funktionalen Kategorie, die lediglich der Spezifizierung von Finitheitsmerkmalen, darunter des Tempusmerkmals, dient. In der generativen Syntax, die meiner Untersuchung in Geist (1997/99) zugrunde liegt, wird das Tempus eines verbalen Prädikats in der funktionalen Projektion Tempus Phrase (TP) spezifiziert. In Geist (1997/99) nehme ich daher an, dass byt '2 in der Kopfposition der TP basisgeneriert wird, vgl. (24b). Die Idee, byt' mit dem NOM-Komplement als Belegung des funktionalen Kopfes für Tempus zu behandeln, wird auch in Franks (1995) und Fowler (1996) vertreten. Da byt'ι genauso wie Vollverben ein Situationsargument hat und in der VP basisgeneriert wird, können wir diese Kopula lexikalische Kopula, kurz byt )ex nennen. Byt '2 als Belegung einer funktionalen Kategorie ist ein funktionales Verb, kurz byt 'ß,. (24)

a. Stadien-Prädikate

b. Individuen-Prädikate

TP

TP Τ

τ

τ

Τ byt'ikt

VP

NPNom

A V

NPINS

byt'iex

Aus den Diagrammen in (24) ist ersichtlich, dass KPK mit dem NOM in (24b) VP-lose Konstruktionen sind. KPK mit dem INS in (24a) enthalten hingegen eine VP. Die Kopula byt 'iex wird aus ihrer Basisposition in V nach Τ bewegt, um Tempus zu spezifizieren. Diese Analyse wird der Beobachtung von Sachmatov (1963: 215) gerecht, dass beim INS das ganze zusammengesetzte Prädikat „verbaler ist" als beim NOM, da nach unserer Analyse beim INS mindestens zwei verbale Projektionen (die lexikalische Projektion VP und die

76 funktionale Projektion TP) angenommen werden, bei N O M jedoch nur eine (TP). Die Annahmen in Bezug auf Syntax der zwei Kopulae in Geist (1997/99) können wie folgt zusammengefasst werden: Geist (1997/99) byt'/ mit dem INS-Komplement ist ein lexikalisches Verb mit der Basisposition in der VP (byt)ex). byt '2 mit dem NOM-Komplement ist eine funktionale Kategorie mit der Basisposition in der TP (byt'ßl). Als stützende Diagnostik für diese Analyse können nicht-finite Formen der Kopula dienen, d.h. Formen, die nicht tempusspezifiziert sind. Die nicht-finiten Formen der Kopula wie Infinitiv, Imperativ 5 und Adverbialpartizip (Gerundium) lassen keinen N O M zu. (25)

Sasa chocet byt' architektorom/*architektor. Sascha will seini NF Architekti NS / * A r c h i t e k t N O M 'Sascha will Architekt werden.'

(26)

Bud' muzcinoj/*muzcina! seiiMPER.so Manni N S /*Mann N O M 'Sei ein Mann!'

(27)

Buduci

studentom/*student on mnogo cital. Studenti NS /*Student N0 M er viel las. 'Als/weil er Student war, hat er viel gelesen.'

sei A dvPART.

Der Ausschluss des N O M bei tempuslosen byt '-Formen kann mit der in (24) skizzierten Analyse ohne Zusatzannahmen erklärt werden. Da die Funktion von byt 'μ, darin besteht, Tempus zu spezifizieren, kann es keine tempuslosen Formen von byt ßt geben. Tempuslose Formen werden nur aus byt)ex, also innerhalb der VP, gebildet, so meine damalige Annahme. Die vorgeschlagene Analyse ist ein Versuch der KPK-Analyse an der Syntax/SemantikSchnittstelle. Alle bisherigen Analysen waren entweder rein deskriptiv und haben zwischen verschiedenen Ebenen der Strukturbildung nicht unterschieden oder konzentrierten sich nur auf die syntaktischen Mechanismen der Kasuszuweisung an das Prädikatsnomen (Bailyn & Rubin 1991, dazu später ausfuhrlicher). Insofern ist die Analyse in Geist (1997/99) einen Schritt weiter. Bei einer kritischen Betrachtung aus heutiger Sicht zeigen sich in dieser Analyse jedoch einige Mängel: Die Analyse greift zu kurz Die damalige Argumentation basierte hauptsächlich auf KPK mit Berufsbezeichnungen, die in ihrer zeitlichen Geltung eingeschränkt werden können. Es ist nicht klar, ob und wie die Analyse auch den KPK mit prädikativen NPs im INS Rechnung tragen kann, die essenzielle Eigenschaften wie syn dvorjanirta 'Sohn eines Adligen' in (28) bezeichnen. Es bleibt 5

Der Imperativ ist in dem Sinne nicht finit, dass er keine Tempusmerkmale besitzt.

77 unklar, wodurch in Beispielen wie (28) die Wahl der Kopula byt)exvs. byt'ßund der damit verbundene Kasusunterschied motiviert sein kann. Um dies festzustellen, müssen KPK in größeren Kontexten analysiert werden. (28)

a. Puskin byl syn dvorjanina. Puschkin war Sohnes AdligerGEN 'Puschkin war Sohn eines Adligen.' b. Puskin

byl synom

dvorjanina.

P u s c h k i n w a r Sohn N O M Adliger G E N

'Puschkin war Sohn eines Adligen.' Die Modifikationsdiagnostiken in (29) liefern weder in (29a) noch in (29b) Anhaltspunkte fur die Annahme eines Situationsarguments: (29)

a. *Puskin byl mnogo razlvsju zizn' synom dvorjanina. *Puschkin war vielmals /ganzes Leben SohnINS AdligerGEN b. *Puskin byl mnogo razlvsju zizn' syn dvorjanina. *Puschkin war vielmals /ganzes Leben SohnNOM AdligerGEN

Die Analyse in Geist (1997/1999) ist nicht präzise genug, da sie den Zusammenhang zwischen der Kopulaselektion byt lex vs. byt tki und den unterschiedlichen interpretativen Effekten, die aus der deskriptiven Literatur bekannt sind (vgl. Abschnitt 3.1.1), offen lässt. Ein weiteres Problem stellt die Aufhebbarkeit und die Überschreibung der Bedeutungseffekte, die durch den jeweiligen Kasus ausgelöst werden (vgl. Bsp. (8) und (9)) dar. Die Aufhebbarkeit bedeutet, dass der argumentstrukturelle Unterschied zwischen zwei Kopulae bei der gleichzeitigen Beibehaltung des Mechanismus der Kasuszuweisung neutralisiert werden kann, was fragwürdig ist. Theorieinterne

Schwierigkeiten

Nach der vorgeschlagenen Analyse enthalten KPK mit Individuen-Prädikaten keine VPs. Die Analyse geht somit davon aus, dass es Sätze mit und ohne VPs gibt, wobei die Sätze ohne VPs keinen referenziellen Bezug auf eine Situation oder Zustand herstellen. Dies ist für eine Theorie, die eine VP als konstitutiven Bestandteil eines Satzes ansieht, eine unerwünschte Konsequenz, die einer unabhängigen Begründung bedarf. Es ist überdies nicht klar, was es für einen Satz bedeutet, keinen Bezug auf eine Situation in der Welt zu haben.

3.1.2.2

Aspektueller Ansatz

Matushansky (2000) entwickelt unabhängig von Geist (1997/99) eine ähnliche Analyse. Während in Geist (1997/99) der Kontrast + / - Situationsargument bei der Kopula für die unterschiedliche Kasuszuweisung verantwortlich gemacht wird, macht Matushansky (2000) die Spezifizierung des Aspekts der Kopula für die Zuweisung des jeweiligen Kasus an das

78 Prädikatsnomen verantwortlich. Sie folgt der Idee von de Hoop (2002) und Kiparsky (1998), dass der Kasus der nominalen Komplemente die aspektuelle Spezifizierung des verbalen Prädikats widerspiegeln kann. Die entscheidende Evidenz für den aspektuellen Ansatz liefern Beispiele mit Aktionsarten der Kopula byf. Von der Kopula ^ ' k ö n n e n mit Hilfe von Präfixen und Suffixen folgende Aktionsarten 6 gebildet werden: die delimitative pobyt' 'eine Zeit lang etwas sein', die perdurative pro by t' 'die ganze Zeit hindurch etwas sein' und die iterative byvat' 'ab und zu etwas sein'. Anders als bei der Kopula byt' ist bei diesen Formen die Kasuswahl auf den INS eingeschränkt. Betrachten wir die Aktionsarten im Einzelnen. Die delimitative Aktionsart bezeichnet die zeitliche Einschränkung des Situationsablaufs. (30)

Ja pobyla zavedujuscej /*zavedujuscaja. ich /?o PERF -war StellvertreteriniNS/*StellvertreterinNoM 'Ich war [eine Zeit lang] Stellvertreterin.'

(Matushansky 2000)

Die perdurative Aktionsart bezeichnet die Ausfüllung eines bestimmten Zeitabschnitts mit der beschriebenen Situation. (31)

Onprobyl vsju zizn' storozem /*storoz. er /7ropERF-war ganzes Leben Wächter INS /*Wächter N0 M 'Er ist sein ganzes Leben [hindurch] Wächter gewesen.'

(Geist 1999)

Die iterative Aktionsart bezeichnet eine wiederholt auftretende Situation. (32)

On byval

svidetelem avarij

er war-να,ΜΡ Z e u g e i N S

/*svidetel'

avarij.

UnfallGEN.PL/*Zeuge N0 M Unfall GE N.PL

'Er war [oft] Zeuge von Unfällen.' Matushansky analysiert die Aktionsart-Affixe als explizite Marker des verbalen Aspekts imperfektiv/perfektiv und nimmt an, dass sie als Belegungen des funktionalen Kopfes Asp fungieren, der eine VP als Komplement nimmt, vgl. (33a). Der aspektuelle Kopf weist dem nach [Spec, Asp] bewegten Prädikatsnomen den INS durch Spec-Head Agreement zu.

6

In der Slawistik wird traditionell zwischen dem Aspekt als grammatischer Kategorie (Flexion), und den Aktionsarten als lexikalischen Bedeutungsgruppen (Derivation) unterschieden. Aspektpaare sowie Aktionsarten werden durch Präfigierung und Suffigierung gebildet. Während AspektPräfixe und Suffixe lediglich der Perfektivierung bzw. Imperfektivierung des Stammes dienen, modifizieren Aktionsarten-Präfixe und Suffixe die Bedeutung des Stammes und können außerdem auch perfektivierend wirken, vgl. Aspekt: Aktionsart: (imperf.) delat' —> (perfektiv) sdelat' (imperf.) holet' —> (perfektiv) zabolet' 'machen' 'krank-sein' 'erkranken' (perf.) opozdat'—> (imperf.) opazdyvat' (imperf.) pisat' —> (imperf.) pisyvat' 'sich verspäten' 'schreiben' 'zu schreiben pflegen'

79 Der NOM wird zugewiesen, wenn die Kopula aspektuell nicht spezifiziert ist. In diesem Fall fehlt die aspektuelle Projektion AspP, s. (33b), und das Prädikatsnomen bekommt den Kasus durch die Kongruenz mit dem Subjekt. (33)

a. INS-Zuweisung (Kasuszuweisung durch Aspekt)

b. NOM-Zuweisung (Kasuszuweisung durch Kongruenz)

AspP

VP DP NOM

Asp po-/pro-/-va/0 /Κ

V byt' 2

VP

DP NOM

V' NPx

V' V byt',

NP

Matushansky nimmt zwei Kopulae an, eine aspektuell spezifizierte (byt'/ und ihre Aktionsarten pobyt', probyt' und byvat') und eine aspektlose (byt'2)· Das aspektuell spezifizierte byt' weist dem Prädikatsnomen den INS zu, beim aspektlosen byt' steht das Prädikatsnomen im NOM. Die Kasusselektion hängt somit davon ab, ob die Kopula in Bezug auf Aspekt spezifiziert wird oder nicht. Ist sie aspektuell spezifiziert, ist eine zusätzliche funktionale Projektion AspP vorhanden. Ist der Aspekt nicht spezifiziert, fehlt die Aspektprojektion AspP. Da der INS in AspP zugewiesen wird, kann bei byt' ohne Aspektspezifizierung das Prädikatsnomen nur im NOM stehen. Die Annahme einer erweiterten Projektion für die INS-Zuweisung untermauert Matushansky mit Inversionsdaten wie in (34). Bei Verben des Benennens kann der Kasus des Prädikativs zwischen NOM und INS nur dann variieren, wenn dieses Prädikativ dem Subjekt des Small Clause wie in (34a) folgt. Die Inversion innerhalb des Small Clause ist nur bei Prädikatsnomina im INS zulässig, weil nur in diesem Fall eine zusätzliche Position in [Spec, AspP] als Landeplatz für das vorangestellte Prädikativ zur Verfugung steht, s. (33a). Prädikatsnomina im Kongruenzkasus können nach Matushansky nicht invertieren, da ein solcher Landeplatz fehlt, s. (33b). (34)

a. Oni nazvali devocku Belosnezkoj /Belosnezka. sie nannten Mädchen AKK Schneewittchen INS /Schneewittchen N0 M 'Sie nannten das Mädchen Schneewittchen.' b. Oni nazvali Belosnezkoj /*Belosnezka devocku. sie nannten Schneewittcheni NS /*Schneewittchen N0 M Mädchen AKK 'Sie nannten das Mädchen Schneewittchen.' (Matushansky 2000)

80 Diese Daten stützen die obige Annahme der erweiterten Small-Clause-Projektion in den KPK mit Prädikatsnomina im INS. Prädikatsnomina im NOM können nicht invertieren, weil für sie keine zusätzliche Position vorhanden ist. Die Syntax/Semantik-Verbindung im Ansatz von Matushansky (2000) wird nur skizziert, auf die Semantik des Aspekts der Kopula und deren Auswirkung auf die Zuweisung des INS geht Matushansky nicht ein. Die Analyse von Matushansky kann zwar die Kasuszuweisung bei Aktionsarten der Kopula und bei Benennungsverben erfassen, berücksichtigt aber die Besonderheiten der Kasuszuweisung bei nicht-finiten Formen der Kopula nicht. Ein weiteres Problem betrifft den Zusammenhang zwischen der Aspektspezifizierung und Kasuszuweisung im Russischen. Nach der Standardauffassung ist der Aspekt im Russischen eine grammatische Kategorie, d.h. jedes lexikalische Verb ist in Bezug auf den Aspekt als perfektiv oder imperfektiv markiert. Der Aspekt kann bei keinem Verb fehlen, auch nicht bei dem Kopulaverb byt\ das ein Imperfektivum tantum ist, vgl. 5.4.1. Unklar bleibt in diesem Ansatz auch der Zusammenhang zwischen der Aspektspezifizierung und den unterschiedlichen interpretativen Effekten, die wir in 3.1.1 vorgestellt haben. Der Versuch, den Kasusunterschied durch die Annahme zweier Kopulae, einer mit und einer ohne referenzielles Argument bzw. einer, die bezüglich des Aspekts spezifiziert ist, und einer, die dafür nicht zugänglich ist, zu erfassen, schlägt fehl. Aus dem Fehlschlagen dieser (und anderer Analyseversuche) ist die Konsequenz zu ziehen, dass die für die Kasusalternation zuständige Domäne bisher nicht gefunden wurde. Einen möglichen Ausweg bietet der diskurspragmatische Ansatz, den ich im nächsten Abschnitt diskutiere.

3.2

„Pragmatische Wende"

In Abschnitt 3.1.1 haben wir verschiedene Bedeutungseffekte vorgestellt, die mit der jeweiligen Kasusselektion in KPK im Russischen einhergehen. Die Erklärung der Entstehung dieser Effekte ist eine Zielvorgabe dafür, was eine formale Analyse der KPK im Russischen leisten können muss. Wie wir im vorhergehenden Abschnitt gesehen haben, bieten die bisherigen Analysen der Kasusalternation im Russischen noch keine befriedigende Lösung. Ein gemeinsames Problem dieser Ansätze ist: Sie konzentrieren sich auf die grammatische Struktur der KPK mit dem jeweiligen Kasus, ohne die Fülle von interpretativen Effekten, die mit der Wahl des jeweiligen Kasus einhergehen, zu berücksichtigen. Sie können deshalb nichts darüber aussagen, wie diese Bedeutungseffekte zustande kommen. Um diese Effekte erklären zu können, sollte das besondere Augenmerk auf die kontextuellen Verwendungsbedingungen der KPK mit dem jeweiligen Kasus gerichtet werden, d.h. die Pragmatik der KPK soll nun bei der Analyse der KPK mehr berücksichtigt werden als bisher. Als Anregung für eine Analyse der KPK im Russischen könnte die diskurs-pragmatische Analyse der KPK im Spanischen von Maienborn (2003, 2005) dienen. Das Spanische ist hier von Interesse, da es genauso wie das Russische zwei KPK-Varianten hat. Im Vergleich zum Russischen zeigt sich aber der Unterschied im Spanischen nicht an der morphologischen Markierung des Prädikativs, sondern an der Wahl des Kopulaverbs. Maienborn

81 (2003) argumentiert dafür, dass die mit den spanischen Kopulaverben ser vs. estar verbundenen Interpretationsunterschiede nicht in der kompositionalen Semantik, sondern in der Domäne der Pragmatik anzusiedeln sind. Nach der Darstellung der Analyse von Maienborn zum Spanischen werde ich prüfen, inwiefern ein pragmatischer Erklärungsansatz auch zur Erfassung der Kasusalternation beim Prädikativ im Russischen geeignet ist.

3.2.1

Zwei Kopulae im Spanischen: ser vs. estar

Im Spanischen entsprechen der deutschen Kopula sein zwei verschiedene Verben: ser und estar. Die .ser/e.sYar- D i c ho to m i e soll hier näher betrachtet werden, weil sie gewisse Ähnlichkeiten mit der NOM/INS-Dichotomie aufweist. Vorauszuschicken ist, dass die ser/ estar-Variation sich auf APs und PPs beschränkt, auf prädikative NPs gehe ich am Ende des Abschnitts kurz ein. Analoge deskriptive Erklärungsansätze wie für die NOM/INS-Alternation im Russischen gibt es auch für die Kopulaselektion ser/estar im Spanischen. Als grundlegendes Prinzip gilt nach deskriptiven Grammatiken des Spanischen (s. z.B. de Bruyne 1993: 533), dass Adjektive mit ser permanente und essenzielle Eigenschaften und Adjektive mit estar temporäre und akzidentelle Eigenschaften bezeichnen. Dabei scheint die lexikalische Bedeutung des Adjektivs für die Kopulawahl nicht entscheidend zu sein. Viele Adjektive können sowohl als Komplement von ser als auch als Komplement von estar dienen, vgl. (35). (Bei den deutschen Übersetzungen werde ich die Zuordnung der Verbformen zum ser- bzw. e.vtar-Paradigma durch die Appendizes „SER" bzw. „ESTAR" kenntlich machen.) (35)

a. Jacinta es soltera. Jacinta istSER ledig. 'Jacinta ist ledig.'

(Lujän 1981: 171)

b. Jacinta estä soltera. Jacinta istSER ledig. 'Jacinta ist ledig.' Mit der Wahl von estar stellt der Sprecher den Familienstand von Jacinta als permanent dar. Der Satz impliziert, dass der Zustand des Ledig-Seins nicht lange anhalten wird, ser impliziert hingegen keine Änderung des Familienstandes. Lujän (1981: 171) zeigt aber, dass man diese Effekte durch Fortsetzungen aufheben kann. (36)

a. Jacinta estä soltera, y se quedarä soltera toda su vida. Jacinta I S T T A R ledig, und S E L bleib R T ledig ganzes ihr Leben 'Jacinta ist ledig, und wird es ihr ganzes Leben lang bleiben.' ES

R E F

b. Jacinta es soltera, pero no lo serä por mucho tempo. Jacinta istSER ledig, aber nicht es sei SE R.FUT für viel Zeit 'Jacinta ist ledig, aber das wird sie nicht lange sein.' In (36a) wird im zweiten Konjunkt die zeitliche Befristung des Familienstandes von Jacinta

82 aufgehoben, die im ersten Konjunkt durch estar ausgelöst wird. Der zweite Konjunkt in (36b) neutralisiert den Effekt der Permanenz, den die Kopula ser erzeugt. Dies deutet Maienborn (2003) als einen ersten Hinweis darauf, dass die ser/estar-Distinktion keine semantische Grundlage hat, sondern lediglich pragmatische Präferenzen darstellt. Die temporär/permanent-Opposition sowie akzidentell/essenziell-Opposition scheint aber nur eine der vielen Möglichkeiten zu sein, die Sätze mit ser und estar zu interpretieren. So zeigt Maienborn (2003: 141) an einem Beispiel aus Querido (1976), dass die temporär/permanent-Opposition für die Charakterisierung der Effekte, die durch die Verwendung von ser vs. estar entstehen, nicht ausreicht, da Bezeichnungen von permanenten Eigenschaften im Spanischen mit ser und mit estar kombiniert werden können: (37)

a. Las hojas de este ärbol son amarillas. die Blätter von diesem Baum sindSER gelb 'Die Blätter von diesem Baum sind gelb.'

(Querido 1976: 353)

b. Las hojas de este ärbol estän amarillas. die Blätter von diesem Baum sindEsTAR gelb 'Die Blätter von diesem Baum sind gelb.' Querido deutet den Unterschied zwischen (37a/b) wie folgt. Man stelle sich einen Botaniker vor, der im Amazonasgebiet einen Baum entdeckt. Wenn er davon ausgeht, dass die Blätter dieses Baumes immer gelb sind, würde er (37a) mit ser äußern. Hat der Botaniker keine Evidenz dafür, dass die Blätter auch schon vor seiner Entdeckung gelb waren, oder möchte er sich nicht festlegen, ob gelb zu sein eine vorübergehende oder permanente Eigenschaft der Blätter ist, würde er (37b) mit estar wählen. Durch die Wahl von estar schränkt er die Geltung seiner Aussage, dass die Blätter gelb sind, auf den Moment seiner Wahrnehmung der Blätter ein. Die Verwendung von estar ermöglicht ihm, die Eigenschaft, gelb zu sein, als unmittelbar wahrgenommen darzustellen: der Botaniker könnte sagen „Ich habe die Blätter gelb vorgefunden", was ebenfalls offen lässt, ob die gelbe Färbung vorübergehend oder permanent ist. Das Beispiel von Querido zeigt, dass die ser/es/ar-Alternation nicht auf eine Opposition wie temporär vs. permanent, akzidentell vs. essenziell oder andere Arten der Opposition reduziert werden kann, sondern kontextabhängig ganz unterschiedliche Interpretationen haben kann. Was aber alle Interpretationen von estar-Sätzen gemeinsam haben, ist, dass estar immer eine einschränkende Nuance hat. Mit estar signalisiert der Sprecher, dass seine Äußerung in irgendeiner Weise eingeschränkt ist. Beobachtungen in Klein (1994: 83) gehen in dieselbe Richtung. Er gibt der einschränkenden Nuance von estar eine Erklärung in seiner Aspekt- und Tempus-Theorie. Er betrachtet folgendes Beispielpaar: (38)

a. Maria esta hermosa. Maria istEsTAR hübsch 'Maria ist hübsch.' b. Maria es hermosa. Maria istSER hübsch 'Maria ist hübsch.'

83 Für eine formale Rekonstruktion des Unterschieds zwischen ser und estar verwendet Klein das Konzept der Topikzeit,7 das eine zentrale Rolle in seiner Tempus- und Aspekttheorie spielt. Im Unterschied zur Situationszeit, der Zeit, zu der eine Situation oder ein stativer Zustand besteht, ist die Topikzeit die Zeit, fur die mit einer Äußerung eine Aussage gemacht wird. Die Situationszeit ist mit der infiniten Komponente des Verbs (dem Stamm), die Topikzeit mit der finiten Komponente verbunden. Während die Situationszeit in (38a/b) gleich ist, ist die Topikzeit verschieden. In (38a) mit estar gilt die Eigenschaft, hübsch zu sein, zu einer spezifischen Topikzeit, die mit anderen möglichen Topikzeiten kontrastiert. Der Bezug auf eine spezifische Topikzeit könnte in (38a) durch Adverbiale wie auf dem Ball oder in ihrer Kindheit verdeutlicht werden. Im Satz (38b) mit ser gibt es keine Festlegung auf eine spezifische Topikzeit. Es wird ausgesagt, dass die Eigenschaft, hübsch zu sein, auf Maria in jeder beliebigen Topikzeit zutrifft. In Sprachen wie dem Deutschen kann in den KPK die Festlegung auf eine spezifische Topikzeit nicht an der Kopula markiert werden. Ein Satz wie (39) wäre nach Maienborn doppeldeutig bzw. bezüglich seiner Topikzeit unspezifiziert. (39)

Hans war in Lima.

Dieser Satz könnte als Antwort auf die Frage War Hans jemals in Lima? dienen. In diesem Kontext wird die Topikzeit nicht näher spezifiziert. Als Antwort auf die Frage Wo war Hans am 30.12.2000? wäre (39) als Aussage über eine spezifische Topikzeit zu deuten. Die Topikzeit gilt nur dann als spezifisch, wenn der Kontext Indizien für einen Kontrast zu anderen möglichen Topikzeiten liefert. Die spezifische Topikzeit am 30.12.2000 steht im Kontrast zu Topikzeiten, in denen die Eigenschaft, in Lima zu sein, auf das SubjektIndividuum nicht zutreffen muss. Zeit ist aber nicht die einzige Dimension für Topikkontraste. In Maienborn (2003) werden noch zwei weitere Kontrast-Arten ermittelt. Dies veranlasst Maienborn, den Begriff „Topikzeit" durch einen allgemeineren Begriff „Topiksituation" zu ersetzen. Für die Topiksituation werden wir die Abkürzung stop verwenden. Wir gehen auf einige stop KontrastMöglichkeiten am Beispielpaar in (40) aus Maienborn (2003: 166) ein. Stellen wir uns vor, ein Reporter berichtet über eine Straße in der Nähe von Lima, die Panamericana. Er kann ein und denselben Sachverhalt durch ser oder durch estar ausdrücken. (40)

a. La carretera es ancha. die Straße istSER breit 'Die Straße ist breit.' b. La carretera estä ancha. die Straße ist E S TAR breit 'Die Straße ist breit.'

7

Topikzeit ist bei Klein (1994: 39) Teil einer im dikurs verankerten „Topik-Komponente", auf die sich eine Äußerung bezieht. Topiksituationen können als Diskursreferenten von Stativen Zuständen betrachtet werden.

84 Mit der Selektion der Kopula estar statt ser beschränkt der Sprecher seine Behauptung auf eine spezifische Topiksituation, die im Kontrast zu anderen Topiksituationen steht, wobei mindestens folgende Kontrastmöglichkeiten denkbar sind: (41)

Optionen für s'op- Kontraste (nach Maienborn 2003: 166) a. frühere oder spätere Topiksituationen, in denen die Eigenschaft, breit zu sein, nicht auf die Panamericana zutrifft; (Dieser Kontrast entspricht Kleins Topikzeit-Kontrast und fuhrt zur temporären Interpretation.) —» „temporale Interpretation" b. Topiksituationen, in denen die Reporterin von anderen Teilabschnitten der Panamericana berichtet; (Unser Weltwissen sagt uns, dass eine Straße - zumal eine so lange wie die Panamericana - nicht überall gleich breit sein muss.) —> „Teil/Ganzes-Interpretation" c. Topiksituationen, die, anders als die aktuelle Topiksituation, keine neue Evidenz dafür liefern, dass die Panamericana breit ist; (Dieser Kontrast führt zur Entdeckens-Interpretation.) —> „Entdeckens-Interpretation"

Option (c) wäre nach Maienborn z.B. in folgender Situation zu wählen: Umweltschützer haben als Protestaktion eine Straßenverengung angekündigt, die Aktion ist leider gescheitert. Der Reporter berichtet über den Zustand der Panamericana am Tag danach. Obwohl sich nichts an der Breite der Straße geändert hat, besteht ein Topikkontrast zwischen der tatsächlichen Topiksituation und der erwarteten Topiksituation, auf den mit estar Bezug genommen werden kann. Die permanent/temporär-Unterscheidung entspricht der Option (a). Sie ist zwar nur eine Interpretationsvariante des Topikkontrasts, wohl aber die näherliegende, weil sie mit geringeren kontextuellen Anforderungen verbunden ist. Ich werde für die Optionen für stopKontraste von nun an folgende Begriffe nennen: Option (a) temporaler Kontrast, Option (b) Teil/Ganzes-Kontrast und Option (c) epistemischer Kontrast, vgl. Maienborn (2005: 14). Fassen wir kurz zusammen: Nach Maienborn (2003, 2005) hängt die Wahl der Kopula ser oder estar von der Perspektive des Sprechers ab: Durch die Wahl von estar beschränkt der Sprecher seine Aussage auf eine spezifische 8 Topiksituation, durch die Verwendung von ser bleibt der Sprecher in Bezug auf die Spezifizität der Topiksituation neutral. KPΚ mit prädikativen NPs Bevor wir zum Russischen kommen, soll kurz auf die Verbindung der Kopulae mit Prädikatsnomina im Spanischen eingegangen werden. Die Kopula estar kann keine DPs selegie8

Die Kategorie der Spezifizität wurde bisher an Nomina untersucht (vgl. Εης (1991), von Heusinger (2002)). Maienborn (2003) hat darüber hinaus gezeigt, dass Spezifizität in der Grammatik der Verben eine wichtige Rolle spielt.

85 ren. Nur in PPs mit der Präposition de eingebettete DPs können in der Komplementposition von estar vorkommen. (42)

a. Carol es (una) medica. Carol istsER (eine) Ärztin 'Carol ist (eine) Ärztin.' b. Raul es delantero pero hoy estä de defensor. Raul ist Stürmer, aber heute istESiAR von Verteidiger 'Raul ist Stürmer, aber heute ist er auf der Verteidigerposition.' (Maienborn 2003: 171)

In der Konstruktion estar de DP wird, so Maienborn (2003: 170f.), genauso wie in der Konstruktion estar AP, der beschriebene Stative Zustand in Bezug auf eine spezifische Topiksituation verankert. Ich nehme daher mit Maienborn an, dass die Analyse der estar de DP im Wesentlichen mit der Analyse der Konstruktion estar AP übereinstimmt und de als Kasusmarker aufzufassen ist, der die DP an die Spezifizitätsanforderung von estar anpasst. Ich kann diesen Überlegungen hier nicht weiter nachgehen, vgl. aber hierzu 3.4.3 und Fn. 15. Im Weiteren soll überprüft werden, ob die pragmatische Unterscheidung, die Maienborn (2003) für die Kopulaselektion im Spanischen geltend macht, als Grundlage für die Kasuszuweisung an Prädikatsnomina im Russischen dienen kann.

3.2.2

Kasusvariation im Russischen als pragmatisch gesteuertes Phänomen?

Wir haben gesehen, dass die generativen Ansätze zur Kasusalternation NOM/INS im Russischen nur ein begrenztes Erklärungspotenzial haben. Sie können die Vielfalt der Bedeutungseffekte, die durch die jeweilige Kasusselektion ausgelöst wird, nicht erklären. Ein Problemfall, der von den bisher vorgestellten semantischen Analysen nicht erfasst werden konnte, sind KPK mit Prädikatsnomina, die permanente Eigenschaften bezeichnen, wie Sohn eines Adligen sein, ein begabter Dichter sein usw. Solche Eigenschaften treffen auf das Individuum während seiner ganzen Lebenszeit zu, und können in ihrer Geltung nicht zeitlich eingeschränkt werden. Ich werde im Folgenden prüfen, ob ein diskurs-pragmatischer Ansatz im Sinne von Maienborn (2003) zur Lösung dieser Probleme beitragen kann. Die Ausrichtung auf eine pragmatische Erklärung der NOM/INS-Alternation zeichnet sich schon in den Arbeiten von Jakobson (1971) und Timberlake (1986) ab. Bezeichnend für den pragmatischen Erklärungsversuch ist der folgende Kommentar von Roman Jakobson: In den Scherzversen „on byl tituljarnyj sovetnik [N], ona general'skaja doc\ on robko ν l'ubvi ej priznalsja, ona prognala ego proc'" „er war Titularrat, sie Generalstochter, er erklärte ihr schüchtern seine Liebe, sie jagte ihn fort" wird der Rang des Titularrates als eine Umrahmung der Handlung aufgefaßt, er wird als etwas Ständiges empfunden und das, was ihm voranging, und das, was folgte, wird absichtlich im Dunkeln gelassen. Aber on byl tituljarnym, potom nadvornym sovetnikom [I] „er war Titular-, später Hofrat", falls die Aufmerksamkeit des Sprechenden auf einen Zeitabschnitt konzentriert ist [...]. (Jakobson 1971: 49)

86 Die Interpretation des Beispiels deutet daraufhin, dass der jeweilige Kasus eine bestimmte Sicht des Sprechers reflektiert. Die Situation, auf die „die Aufmerksamkeit des Sprechenden gerichtet ist" können wir Topiksituation im oben erläuterten Sinne nennen. Im obigen Beispiel kommt es nicht darauf an, wie lange die Eigenschaft auf das Subjekt-Individuum zutrifft, das ganze Leben lang oder nur während eines Lebensabschnitts, sondern über welche Topiksituation der Sprecher berichten möchte, über eine spezifische, die in Kontrast zu anderen Topiksituationen steht (INS), oder ob sich der Sprecher auf keine spezifische Topiksituation festlegen möchte (NOM). Obwohl der NOM keinen Bezug auf eine spezifische Topiksituation suggeriert, wird ein Topikkontrast nicht völlig ausgeschlossen. Das erste Beispiel mit dem NOM aus dem Jakobson-Zitat schließt nicht aus, dass das als Titularrat bezeichnete Subjektindividuum später zum Hofrat aufgestiegen ist. Weitere Hinweise darauf, dass die Sprecherperspektive die entscheidende Rolle bei der Kasuswahl spielt, bieten Timberlake (1986), Filip (2001), Hinterhölzl (2001) fur adjektivische sekundäre Prädikate und Averintseva (2002) für adjektivische Prädikative in KPK. Neben dem temporalen Kontrast, den alle Autoren im Zusammenhang mit dem INS feststellen, fuhrt Averintseva (2002) Korpusbeispiele für weitere Topikkontraste bei Adjektiven im INS an, vgl. (43). Hier wird durch den INS ein Teil/Ganzes-Kontrast ausgelöst, den Maienborn (2003) für ihr Beispiel (40) in (41b) anfuhrt. (43)

Vidrug my poterjali vodotok - pojma byla topkoj i zavalennoj valeznikom, a kogda nasli - voda ν nem uze tekla vpered, po nasemu dvizeniju. (SzhGE 0202) 'Plötzlich verloren wir den Wasserlauf - die A U C S G F E M N O M war sumpßgsc.FEM.ms und mit Bruchholz zugeschüttet - und als wir ihn wiederfanden, floss das Wasser in ihm uns voraus auf unserer Wanderung.'

Durch den Hauptsatz „Plötzlich haben wir den Wasserlauf verloren" wird die Topiksituation spezifiziert. Der Autor schreibt dem Teilabschnitt der Aue, in dem er sich gerade befindet, die Eigenschaften sumpfig und mit Bruchholz zugeschüttet zu, was begründet, warum der Wasserlauf außer Sicht gerät. In diesem Beispielsatz liegt der Teil/Ganzes-Kontrast vor. Beispiel (44) von Averintseva ist ein Beleg für einen anderen stop-Kontrast: (44)

No dlja Anatolija Ivanovica etot ostrovok byl osobym: on ne somnevalsja, cto tut budet chorosij klev. (XSNA0301) 'Aber für A.l. war dieses InselchenMASK etwas ganz besonderessGMASK.im'· er zweifelte nicht daran, dass Fische dort gut anbeißen würden.'

Hier wird die Geltung der Proposition durch die PP für Anatolij Ivanovic explizit relativiert. Die Eigenschaft, eine besondere Insel zu sein, wird nicht der Insel an sich zugeschrieben, sondern gibt den Eindruck wieder, den Anatolij Ivanovic von ihr bekommen hat. Das Zuschreiben einer Eigenschaft aus dem persönlichen Eindruck heraus ist durchaus mit dem epistemischen Kontrast von Maienborn in (41c) vergleichbar. Die Beobachtungen von Averintseva legen nahe, dass verschiedene interpretative Effekte beim INS auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können, nämlich den Bezug auf eine spezifische Topiksituation. Die Temporarität, die in der Literatur mit dem INS verbunden wird, ist nur ein Effekt von vielen.

87 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Kasuswahl beim prädikativen Adjektiv im Russischen nach der Sprecherperspektive zu richten scheint. Averintseva und Timberlake haben ihre Analysen auf prädikative Adjektive beschränkt. Es sollen nun Prädikatsnomina analysiert werden. Als Ausgangspunkt fur die Sortierung der Belege werde ich einige Hinweise aus der slawistischen Literatur nutzen. Die Daten stammen aus den Tübinger russischen Korpora (s. das Quellenverzeichnis am Ende der Arbeit) bzw. wurden mit Hilfe der Suchmaschine Google.ru ermittelt und von mir als Muttersprachlerin beurteilt. Zu den drei Kontrast-Arten von Maienborn, dem temporalen, Teil/Ganzes und dem epistemischen Kontrast, lassen sich folgende repräsentative Beispiele mit dem INS anfuhren. (i) Temporaler Kontrast Die temporale und akzidentelle Interpretation, die in den Grammatiken oft als primäre Interpretation der Prädikatsnomina im INS angeführt wird, scheint bei den meisten Beispielen tatsächlich die nächstliegende zu sein, vgl.: (45)

V Moskvu priechal cetyre goda nazad, do etogo rabotal ν provincii, vo vremja vojny - vo frontovoj gazete, esce ran 'se, ν tridcatye gody, byl poljarnikomMS, zimoval na Diksone, sluzil ν pograncastjach,... (XGTR0201) 'Nach Moskau kam ich vor vier Jahren zurück, und davor arbeitete ich in der Provinz, während des Krieges - in einer Frontzeitung, und davor, in den dreißiger Jahren, war ich PolarforschermS} verbrachte einen Winter auf Dixon, diente bei den Grenztruppen ...'

Durch die kursiv markierten temporalen Modifikatoren in (45) wird ein s'op-Kontrast zwischen aufeinander folgenden Topiksituationen hergestellt. Die Topiksituation, in der der Autor Polarforscher war, wird von anderen Topiksituationen durch die Temporalangabe davor, in den dreißiger Jahren abgegrenzt. In (46) erscheint das explizite Signal für einen temporalen s'°p-Kontrast erst im nachfolgenden Satz: (46)

Otec byl glavnym inzeneromws zavoda, prinosil paek, byla daca ... I vdrug vse razrusilos'... (XOTR 0301) 'Vater war leitender IngenieurINS des Betriebes, bekam Sonderzuteilungen, hatte eine Datscha ... Und plötzlich änderte sich alles ...'

Die Ablösung der Phase, in der der Vater leitender Ingenieur war, wird durch „und plötzlich änderte sich alles" signalisiert. (ii) Epistemischer Kontrast Wie am Anfang des Kapitels in 3.1 angemerkt wurde, stehen Prädikatsnomina bei der Kopula im Konjunktiv, Futur und Imperativ tendenziell im INS (s. Nichols 1981: 162, 211 zu APs).

88 (47)

Sprechen sie Deutsch? - vzvilsja ja radostno, kak esli byKonj Part byl cistokrovnym nemcemws ... (XDIS 0401) 'Sprechen Sie Deutsch? - schrie ich freudig auf, als wäre ich ein waschechter Deutscheres ···'

(48)

Ja chocu stat' velikim celovekom. Iii, ν krajnem slucae, budu putesestvennikom. 'Ich möchte ein großer Mensch werden. Oder schlimmstenfalls werde ich ForschungsreisenderINS.' (Google: Sever Gansovskij. „Soprikosnovenie")

Der Zusammenhang zwischen der Konjunktiv- und Futurform der Kopula und der Kasusselektion kann in dem hier vertretenen Rahmen erklärt werden. Der Konjunktiv sowie das Futur induzieren einen s top -Kontrasts zwischen der realen und der irrealen Welt. So wird in (47) durch die Konjunktivform der Kopula byt' by die irreale Topiksituation, in der der Sprecher ein echter Deutscher ist, und die reale Topiksituation, in der er eine andere, vermutlich die russische Nationalität hat, kontrastiert. In (48) bei der Futurform der Kopula budu wird ebenfalls ein Kontrast zwischen einer Welt, in der sich der Sprecher aktuell befindet, und einer irrealen Welt erzeugt. Der Kontrast, der durch die Futurform und durch die Konjunktivform der Kopula erzeugt wird, ist der epistemischen Kontrast-Domäne nach Maienbom zuzuordnen. (iii) Teil/Ganzes-Kontrast Zu diesem Kontrasttyp gehören u.a. Beispiele, deren Interpretation in 3.1.1 durch die Teil/Ganzes-Opposition charakterisiert wurde. Betrachten wir weitere Beispiele für den Teil/Ganzes-Kontrast. Die unterstrichenen Adverbiale und Partikeln in (49) und (50) verweisen auf die Unvollständigkeit der gemachten Eigenschaftszuschreibungen. (49)

Abu-Abdallach s junych let proslawilsja kak zamecatel'nyj pevec i muzykant. No prezde vsego on byl velikim poetomms. 'Abu-Abdallach wurde in jungen Jahren als hervorragender Sänger und Musiker berühmt. Vor allem aber war er ein großer Dicherms•' (Google)

(50)

Tagor byl ne tol'ko velikimpoetom: on byl zamecatel'no bogatoj licnost'ju. 'Tagor war nicht nur ein großer Dichterm$, er war eine besonders vielseitige PersönlichkeilINS.' (Google)

Im ersten Satz (49) bezeichnen die koordinierten NPs zamecatel'nyj pevec i muzykant 'hervorragender Sänger und Musiker' zwei Eigenschaften von Abdu-Abdach, durch die er bekannt geworden ist. Im zweiten Satz signalisiert prezde vsego 'vor allem', dass diese beiden Eigenschaften das Individuum unvollständig charakterisieren. Die Charakterisierung Abdu-Abdachs wird im zweiten Satz durch die Eigenschaft velikijpoet 'ein großer Dichter' ergänzt. Auch in (50) wird durch ne tol'ko 'nicht nur' explizit signalisiert, dass mehr als eine Eigenschaft der vollständigen Charakterisierung des Subjekt-Referenten dient. Den beiden Beispielen (49) und (50) ist gemeinsam, dass die Eigenschaft, die durch die NP im INS bezeichnet wird, der unvollständigen Charakterisierung eines Individuums dient. Diese Interpretation erinnert an die Teil/Ganzes-Interpretation für das Beispiel (40) in 3.2.1 La

89 carretera estä ancha 'Die Straße ist ES TAR breit' im Spanischen. So wie estar im Spanischen die Interpretation auslösen kann, dass sich die Eigenschaft, brei zu sein, nur auf einen Teil der Straße bezieht, kann der INS im Beispiel (50) oben die Interpretation auslösen, nach der „ein Teil" des Individuums im Sinne einer Facette des Individuums durch die Eigenschaft, ein großer Dichter zu sein, charakterisiert wird. In Abschnitt 3.1.2.1 habe ich gezeigt, dass Prädikatsnomina, die essenzielle bzw. nichtveräußerliche Eigenschaften bezeichnen, wie byt' synom dvorjanina 'Sohn eines Adligen sein', im NOM und INS stehen können. Der INS kann bei solchen Bezeichnungen keinen temporalen Kontrast auslösen. Der INS induziert eher den Teil/Ganzes-Kontrast. Analysieren wir den folgenden Beleg. (51)

Aleksej Afanas'jevic vyros na zavode, byl starsim synom domennogo mastera. On s udovol'stviem vyezzal ν komandirovki,... terpelivo vynosil... razluku s domom. (XGBE0101) 'A.A. ist in einem Betrieb aufgewachsen, war der älteste Sohnm eines Hochofenarbeiters. Er fuhr gerne auf Dienstreisen,... musste die Trennung von zu Hause mit Geduld ertragen.'

Die Motivation für die Wahl des INS besteht hier offensichtlich darin, dass die Eigenschaft, Sohn eines Hochofenarbeiters zu sein, nur eine Facette der Person beschreibt. Weitere Angaben über A.A., dass er in einem Betrieb aufgewachsen ist und gerne auf Dienstreisen fuhr, dienen der Vervollständigung des persönlichen Porträts. Der INS suggeriert den Teil/Ganzes-Kontrast. Zum Vergleich kann folgendes Beispiel mit dem NOM angeführt werden: (52)

Ne prinjali, potomu cto ja byl synNOUserednjaka, a ... prinimali tol'ko detej bednjakov i krasnych partizan. (XGAB0202) 'Ich wurde nicht aufgenommen, weil ich SohnNOM eines Mittelbauers war, man nahm aber nur Kinder von Armen und Roten Partisanen auf.'

Da der NOM keinen Topikkontrast auslöst, wird die Eigenschaft, Sohn eines Mittelbauers zu sein, als eine erschöpfende Eigenschaft interpretiert. So entsteht beim Prädikatsnomen im NOM der Effekt der erschöpfenden Charakterisierung, auf den einige Autoren wie z.B. Peskovskij (1938) verweisen. Zusammenfassung: Der INS kann beim Prädikatsnomen je nach Kontext verschiedene interpretative Effekte auslösen, die aber auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Der INS induziert den Bezug auf eine spezifische Topiksituation, die mit anderen Topiksituationen kontrastiert. Wenn wir KPK im Spanischen und im Russischen vergleichen, stellen wir fest, dass zwischen den Kopulae ser vs. estar und der Kasusalternation NOM vs. INS bei Prädikatsnomina gewisse Parallelen bestehen. Die interpretativen Effekte, die estar im Spanischen und der INS im Russischen auslösen, scheinen ähnlich zu sein: beide induzieren einen Topikkontrast. Die Kopula ser im Spanischen bzw. der NOM bei russischen Prädikatsnomina induzieren hingegen einen solchen Kontrast nicht. Was das Spanische mit Hilfe der jeweiligen Kopulawahl differenziert, scheint das Russische durch die Kasusselektion zu

90 unterscheiden. Eine detaillierte Analyse der Bedingungen für die Kasusalternation im Russischen wird aber zeigen, dass die .s-er/e.star-Unterscheidung mit der Kasusunterscheidung NOM/INS nicht deckungsgleich ist. Im nächsten Abschnitt soll eine formale Analyse der Kopulasätze im Russischen auf der Basis eines Vergleichs mit KPK im Spanischen und Deutschen entwickelt werden.

3.3

Theoretische Voraussetzungen einer formalen Analyse von Kopulasätzen

Die Analyse einschlägiger Beispiele der Kopula-Prädikativ-Konstruktionen im Russischen legt nahe, dass die Differenzierung NOM/INS ähnlich wie die ser/estar-Differenzierung im Spanischen dem Ausdruck einer Sprecherperspektive dient, die anzeigt, ob die im Kopulasatz bezeichnete Situation als kontrastierend zu einer alternativen Situation bewertet wird oder nicht. Allerdings werden wir in diesem Abschnitt zu dem Schluss kommen, dass die Analyse, die für die Kopulaselektion im Spanischen entwickelt wird, nicht ohne weiteres auf die Kopulasätze im Russischen übertragen werden kann. Die grammatischen Verhältnisse im Russischen stehen einer simplen Übertragung entgegen: anders als bei ser/estar im Spanischen ist die Wahl von NOM vs. INS bei nominalen Prädikativen im Russischen nicht rein pragmatisch, sondern zu einem großen Teil auch syntaktisch determiniert. Zunächst werde ich am Beispiel der Kopulasätze im Deutschen den theoretischen Rahmen für eine formale Analyse der Kopulasätze umreißen (3.3.1). Dann wird die Analyse von ser/estar von Maienborn (2003) vorgestellt (3.3.2). Damit ist die Vorarbeit für die Analyse der KPK im Russischen in 3.4 geleistet.

3.3.1

Das Kopulaverb im Deutschen

3.3.1.1

Semantik

Fangen wir mit der Kopula sein im Deutschen an. Bierwisch (1988) geht davon aus, dass alle Verben, und somit auch die Kopula, als Bezeichnungen von Situationen fungieren. Daher haben sie in ihrem Theta-Raster ein referenzielles Situationsargument. So nimmt Bierwisch (1988) für Vollverben den Lexikoneintrag (53) an. In der Lexikon-Repräsentation von Verben dient die Relation INST vom Typ < t , < e , t » dazu, einer Situation s (vom Typ Individuum ) eine Proposition (vom Typ Wahrheitswert ) zuzuordnen, die diese Situation partiell charakterisiert: (53)

Schema der semantischen Form von Verben nach Bierwisch (1988): λχ η λχι λβ [s INST [... Χι ... x n ...]]

Die Variable s steht für das referenzielle Argument eines Verbs, Xi steht für das externe Argument und xn für interne Argumente. Sie kann als Anschlussstelle für adverbiale Modi-

91

fikatoren dienen und bildet die Anlagerungsstelle für die temporale und aspektuelle Einordnung der Proposition (darauf gehe ich später ausfuhrlich ein). Das allgemeine Schema der semantischen Repräsentation von Verben sei anhand des zweistelligen Verbs lesen erläutert: (54)

lesen: λ χ 2 λ χ , Xs [s I N S T [LESEN (x,, x 2 )]]

In (54) wird die Situation s durch die Proposition [LESEN (X 1 ; X2)] charakterisiert. Diese Proposition wird vereinfacht als eine Relation zwischen zwei Objekten, dem Leser (dem externen Argument X]) und dem Objekt des Lesens (dem internen Argument x2), repräsentiert. Nach der hier vertretenen Auffassung sind Verben keine semantisch atomaren Einheiten, sondern nach einem bestimmten Strukturschema aufgebaut, d.h. sie können in ihre semantischen Komponenten zerlegt werden. Dies erlaubt die Hypothese, dass die semantische Form von Verben aus zwei Komponenten besteht: den sog. schema-bildenden und den sog. schema-belegenden, vgl. Lang (1993). Schema-bildende Komponenten eines Lexems bestimmen seine Zuordnung zu lexikalischen Gruppen und seine grammatischen Besonderheiten. So kann über die Relation INST die Klasse der verbalen Kategorien determiniert werden. Die Komponente INST ist für alle Verben und verbale Kategorien konstitutiv. Schema-belegende Komponenten wie z.B. LESEN in (54) fixieren den „deskriptiven Gehalt", d.h. den idiosynkratischen Bedeutungsanteil des Lexems. Gehen wir nun auf das Kopulaverb ein. Für die Kopula nimmt Bierwisch (1988) folgende semantische Repräsentation an: (55)

sein: λΡ λχ Xs [s INST [Px]] mit Ρ vom Typ

(Bierwisch 1988: 46)

Wie Vollverben enthält nach Bierwisch auch die Kopula in ihrem Lexikoneintrag eine schema-bildende Komponente INST. Da die Kopula anders als Vollverben keinen deskriptiven Gehalt hat, wird anstelle der schema-belegenden Komponente eine Prädikatsvariable Ρ eingesetzt. Den Wert für diese Variable liefert das Prädikativ. Nach der Repräsentation in (55) führt die Kopula genauso wie Vollverben ein Argument für Situationen ein. „Situation" dient als Oberbegriff für verschiedene Typen von verbalen Denotaten. Nimmt man als Situationstypen z.B. Zustände (sitzen, schlafen), Aktivitäten (tanzen) und Ereignisse (sterben) (vgl. die aspektuellen Klassen von Vendler 1967) an, würde man die Kopula nach ihrer aspektuellen Charakteristik in die Gruppe der Zustandsverben (,states') zusammen mit Verben wie schlafen und mit Positionsverben wie sitzen einordnen. Die Gleichbehandlung der Kopula mit anderen (Zustands-)Verben setzt voraus, dass sich die Kopula grammatisch wie diese Verben verhält. Maienborn (2003: 28f, 64ff.) zeigt aber, dass dies nicht der Fall ist. Sie weist auf mindestens zwei wesentliche Unterschiede zwischen der Kopula und typischen Zustandsverben hin, die die semantische Rolle des Subjekt-Arguments und die Modifizierbarkeit betreffen. Semantische Rolle des Subjekts Ein Problem, das mit der Behandlung von Kopulasätzen als Untertyp von Situationsbeschreibungen im davidsonschen Sinne zusammenhängt, ist die Bestimmung der semantischen Rolle des externen Arguments der Kopula. Semantische Rollen (manchmal auch

92 Theta-Rollen genannt) etablieren thematische Relationen wie Agens, Patiens und Thema zwischen Situationen und ihren Partizipanten. Analysiert man Kopulasätze, stellt man fest, dass für den Subjektreferenten keine der bekannten Theta-Rollen in Frage kommt. Den Grund dafür sieht Maienborn darin, dass der Subjektreferent in Kopulasätzen nicht als Partizipant an einer Situation beteiligt ist. Dies ist ein Hinweis darauf, dass KPK keine bzw. keine typischen Situationsbezeichnungen sind. Modifizierbarkeit Der zweite Unterschied betrifft die Modifizierbarkeit. Während reguläre Zustandsverben durch lokale VP-Adverbiale modifiziert werden können, sind diese in Kopulasätzen ausgeschlossen (Maienborn 2003). (56)

a. Heidi schläft (gerade) in der Hängematte. b. *Paul ist (gerade) unter der Straßenlaterne betrunken.

(Zustandsverb) (Kopula)

Der Ausschluss von situationssensitiven lokalen PPs in Kopulasätzen ist kein Spezifikum des Deutschen. Auch im Spanischen und Russischen sind in KPK lokale VP-Modifikatoren unzulässig, und zwar ganz unabhängig von der Kasusselektion für das Prädikatsnomen im Russischen und der Wahl des Kopulaverbs im Spanischen, vgl. (57) und (58). (Das Temporaladverbial kak raz 'gerade' stellt sicher, dass sich das Lokaladverbial auf die Kopula bezieht.) (57)

*Pavel byl (kak raz) pod fonarem p'janym /p'janyj /filosof /filosofom. *Pavelwar (gerade) unter Laterne betrunkenINS/betr.NOM/PhilosophNoM/Ph.INS 'Pavel war gerade unter der Laterne betrunken/Philosoph.'

(58)

a. *La ropa estä mojada sobre la silla. 'Die Kleidung i s t E S T A R nass über dem Stuhl.'

(Maienborn 2003: 153)

b. *Carol es simpätica eneljardin. 'Carol istsER sympathisch im Garten.' Geht man aber von der davidsonschen Auffassung von Situationen als raumzeitlichen Entitäten aus, ist man eine Erklärung schuldig, warum in den Kopulasätzen, wenn sie Situationbezeichnungen sind, eine räumliche Lokalisierung durch VP-Modifikatoren unzulässig ist. Der Ausschluss der lokalen VP-Modifikatoren und das Fehlen der funktionalen Einbindung des Subjekts geben Maienborn Anlass, anzunehmen, dass die Kopula kein Situationsargument davidsonscher Prägung einführt, d.h. keine referenzielle Argumentstelle fur eine raumzeitliche Entität aufweist und daher nicht zu Situationsbezeichnungen gehört. Eine berechtigte Frage ist, ob es Gründe gibt, bei der Kopula überhaupt ein referenzielles Argument anzunehmen. Diese Frage wurde im Laufe der Zeit je nach dem Stand der Forschung unterschiedlich beantwortet. Maienborn (1996) nimmt bei Stativen Verben, zu denen sie ähneln, wissen sowie die Kopula sein zählt, kein referenzielles Argument an. In einer späteren Arbeit, Maienborn (1999), schlägt sie vor, bei der Kopula und anderen Stativen Verben

93 ein temporales Argument t anzunehmen, welches als Anker für nicht-lokale Adverbiale dienen kann. (59)

sein: λΡ λχ Xt [P(x) AT t] (Maienborn 1999: 55) (mit AT als Relation zwischen einer Proposition P(x) und einem Zeitintervall t)

Kopula-Prädikativ-Konstruktionen würden demnach Zeitintervalle bezeichnen, zu denen der Subjekt-Referent die vom Prädikativ denotierte Eigenschaft aufweist. Maienborn (2003) argumentiert für eine Reifikation der solchermaßen qualifizierten Zeitphasen. Evidenz für die Reifikation liefert der anaphorische Ausdruck dabei. Wie Maienborn (2003: 113) zeigt, verweist dabei nicht bloß auf ein Zeitintervall, sondern auf eine „durch das Vorliegen einer Eigenschaft qualifizierte Zeitphase". (60)

Die Zucchinis waren zart und dabei aromatisch.

Dies gibt Maienborn (2003) Anlass, das temporale Argument in der Repräsentation der Kopula durch ein referenzielles Argument zu ersetzen. Dieses Argument ist weit- und zeitgebunden, hat aber keinen Raumbezug. Ich werde dieses referenzielle Argument statives Zustandsargument nennen. Ein solches referenzielles Argument ist auch bei Bezeichnungen von Stativen Zuständen wie ähneln, wissen oder kosten anzunehmen. Für die Kopula nimmt Maienbom die Repräsentation in (61) an. Um Stative Verben wie sein von situativen Verben wie tanzen zu unterscheiden, wird bei Stativen Verben anstelle von INST der Charakterisierungsjunktor „=" eingesetzt: (61)

sein: λΡ λχ λζ [ζ = [Ρ(χ)]] (Maienborn 2003: 125) (mit „=" als Charakterisierungsjunktor der einem abstrakten referenziellen Argument für Stative Zustände ζ eine ihn charakterisierende Proposition [P(x)] zuordnet, wobei die Prädikat-Variable Ρ als einstelliges Prädikat fungiert, welches das externe Individuen-Argument χ theta-markiert)

Der semantische Beitrag der Kopula besteht darin, die Proposition P(x) mit einem Stativen Zustand in der Welt zu verbinden. Durch die Einführung des referenziellen Stativen Zustandsarguments ζ garantiert die Kopula den Zugang für die verbalen Kategorien Aspekt, Tempus und Modus. Außerdem dient die Annahme eines referenziellen Stativen Zustandsarguments bei Stativen Verben der Vereinheitlichung der Repräsentation für Verben überhaupt: für jedes Verb wird so ein Bezug auf Referenten garantiert, die nicht mit temporalen oder Objekt-Referenten identisch sind. Je nach Art des referenziellen Bezugs können alle lexikalischen Verben in zwei Klassen unterteilt werden: situative Verben, ihrerseits in Klassen gegliedert (s. z.B. Dowty 1979, wobei zu Zuständen in der Klassifikation nur sog. dynamische Zustände zählen), und Stative Verben (statische Zustände bei Dowty 1979), die einen Referenten besonderer Art haben, den wir statives Zustandsargument genannt haben. Auf Details wie u.a. die genauere Bestimmung des Typs und ontologische Anordnung dieses Arguments kann hier nicht eingegangen werden, s. Maienborn (2003) für eine ausführliche Diskussion dazu.

94 Tabelle 1: Verbklassen situative Verben Dynamischer Zustand: schlafen, kleben, warten sitzen, hocken Aktivität'. Häuser bauen, laufen Ereignis (accomplishment): verarmen, ein Haus bauen Ereignis (achievement)'. sterben, ankommen

3.3.1.2

Stative Verben Stativer Zustand: sein, lieben, hassen, glauben, wissen, kosten, ähneln

Syntax-Semantik-Schnittstelle

Die Abbildung der Syntax auf die Semantik bei KPK wurde im Abschnitt 2.2.3 beschrieben, jedoch wurde dort die Bezugnahme der Kopula auf Situationen nicht berücksichtigt. Das Schnittstellen-Modell der KPK soll nun verfeinert werden. Nachdem wir das Problem des referenziellen Bezugs der Kopula geklärt haben, stellt sich die Frage nach ihrer Funktion in der Syntax. Wegen ihrer „Leere" wird die Kopula oft als funktionale Kategorie für Tempus (T° in Ouhalla 1991), für Agreement (Agr° in Bode 2000) oder für Prädikation (Pred 0 in Blight 1997) analysiert. Folgt man diesen Vorschlägen, muss man für Kopulasätze eine VP-lose Struktur annehmen, die aus einer funktionalen Kategorie und einem nominalen Prädikativ besteht. Wir haben allerdings schon bei der Diskussion der formalen Ansätze zur Kasusalternation im Russischen in 3.1.2.1 gezeigt, dass die Annahme VP-loser Sätze problematisch ist, da in der Theorie das Vorhandensein einer VP konstitutiv für einen Satz als syntaktisches und semantisches Gebilde ist. Es gibt sodann den eher traditionell angelegten Vorschlag, die Kopula als defektives Vollverb mit Basisposition in der VP zu analysieren, s. zum Englischen Ross (1969), Chomsky (1993) und Schütze (2001), zum Italienischen Moro (1997), zum Deutschen Maienborn (2003), zum Russischen Rüzicka (1980) und Junghanns (1997b). Die Annahme, dass die Kopula unter V generiert ist, nivelliert allerdings den wesentlichen Unterschied zwischen Kopula und Vollverb: Die Kopula dient ausschließlich der Ausbuchstabierung eines Bündels von verbalen grammatischen Merkmalen, während Vollverben zusätzlich zu den grammatischen Merkmalen auch einen deskriptiven Gehalt aufweisen. Wie ich oben Lang (1993) folgend angenommen habe, setzt sich die semantische Form eines Vollverbs wie lesen oder tanzen aus einer „grammatischen Komponente" (der schema-bildenden Komponente) und einer „deskriptiven Komponente" (der schema-belegenden Komponente) zusammen. Im Unterschied dazu enthält die semantische Form der Kopula nur eine grammatische und keine deskriptive Komponente. Wie kann man nun diesen Unterschied zwischen Voll- und Kopulaverben in der Syntax abbilden? Eine Lösung könnte die Theorie der Distribuierten Morphologie (Halle & Marantz 1993) bieten. In der Distribuierten Morphologie wird angenommen, dass Wörter sich in der Syntax aus einer abstrakten Wurzel und grammatischen Merkmalen, die in funktionalen Termi-

95 nalknoten generiert werden, zusammensetzen. Folgt man dieser Idee, könnte man annehmen, dass jedes Verb syntaktisch als eine vP-Schale repräsentiert werden kann, wobei dem unteren Kopf V der „deskriptive Gehalt" des Verbs entspricht und ν die verbalen grammatischen Merkmale trägt. Die syntaktische Funktion von ν besteht darin, in [Spec, vP] die Position für das externe Argument zur Verfügung zu stellen. (62)

vP DP ν

VP

A

V tanz-

Alex Das Verb tanzen wird abgeleitet, wenn die in V befindliche verbale Wurzel, der Träger der deskriptiven Bedeutung, in die Position ν angehoben wird, wo sie grammatische Merkmale eines Verbs inkorporiert, sodass ein Komplex [v-V] entsteht. Den verbalen Kopf ν bezeichnet man analog zu Verben, die keinen oder nur geringen deskriptiven Gehalt aufweisen wie machen, tun, haben als sog. light verbs 'leichte Verben'. Sie werden im Minimalistischen Programm durch den griechischen Buchstaben ν repräsentiert (s. Chomsky 1995).9 Da verbale Merkmale in ν verschiedene Werte haben können, da es verschiedene Verbklassen gibt, sind auch verschiedene v-Typen anzunehmen (s. Arad 1999, Harley 1995, Harley & Noyer 1998). Die syntaktische Dekomposition wie in (62) steht jedoch in Konflikt zu meinen Annahmen bezüglich der semantischen Form von Vollverben in (53). Nach dem von mir angenommenen Repräsentationsformat für Vollverben sind der „deskriptive" und der „grammatische" Gehalt im Lexikoneintrag von Verben untrennbar miteinander verbunden. Um die syntaktische Repräsentation von Sätzen mit Vollverben an die von mir gemachten Annahmen zum Lexikoneintrag von Vollverben anzupassen, schlage ich eine alternative syntaktische Analyse in (63) vor. Im Unterschied zu (62) wird in (63) der verbale Stamm tanz-, der in seinem Lexikoneintrag sowohl deskriptiven als auch grammatischen Gehalt besitzt, in die Syntax als komplexer [v-V]-Kopf eingesetzt. Der wesentliche Unterschied zwischen (62) und (63) liegt darin, dass in der Syntax der deskriptive Gehalt eines Verbs nicht vom grammatischen Gehalt getrennt wird.

9

Die ursprüngliche Motivation für die Teilung der Verbalphrase in v P und VP bzw. VoiceP und VP war das Bestreben, das externe Argument vom Rest der verbalen Projektion zu trennen. Damit konnte die syntaktische Domäne fur idiomatische Bedeutungen bestimmt und die Bildung von verschiedenen Typen von Partizipien modelliert werden (vgl. Kratzer 1994, Marantz 1997). Inzwischen werden in der Distribuierten Morphologie verschiedene Typen von „leichten vs" angenommen, darunter auch ein unakkusatives „leichtes v " ohne externes Argument, das lediglich der verbalen Kategorisierung der nach ν bewegten Wurzel dient (vgl. McGinnis 2000, Pylkkänen 2002).

96 (63) v-VP DP

v'-V'

I Alex

I v-V tanz-

Ich nehme überdies an, dass jedes Vollverb in der Syntax in einen komplexen [v-V]-Kopf eingesetzt wird. Da ich mich im Folgenden auf Kopulasätze konzentrieren werde, werden Vollverben in meiner Untersuchung jedoch keine Rolle spielen. Der Vorschlag in (63) fur Vollverben ist nur insofern wichtig, dass er einen Rahmen für die Analyse der Kopulaverben bieten soll. In Kopulasätzen teilen sich die Kopula und das Prädikativ die Eigenschaften eines Stativen Vollverbs. Daher kann angenommen werden, dass die Kopula die phonetische Realisierung des funktionalen Kopfes ν ist, s. (64). Die Kopula dient der Realisierung einer bestimmten Art von „leichtem v", einem Stativen v. In Kopulasätzen wird eine prädikative XP (NP oder AP) als Komplement von ν generiert. Das prädikative Komplement liefert den deskriptiven Gehalt, den die Kopula für die Komplexbildung benötigt. In dieser Hinsicht ähnelt die syntaktische Struktur von Kopulasätzen damit der dekomponierten Struktur von Vollverben in (62). (64) vP DP SUBJEKT ν XP X= Ν, A KOPULA PRÄDIKATIV Wie oben angenommen, besteht der semantische Beitrag der Kopula darin, ein referenzielles statives Zustandsargument beizusteuern. Die Kopula hat allerdings kein eigenes externes Argument, sondern stellt lediglich eine syntaktische Position für das externe Argument des Prädikativs bereit (s. Bierwisch 1988, Steinitz 1997b) und fungiert somit als eine Art Hebungsverb. Ich nehme an, dass Prädikatsnomina von Haus aus einstellige Prädikate sind und keinen selbständigen referenziellen Bezug auf Situationen oder Zustände haben (eine alternative Sicht vertreten z.B. Dölling 2001, Jäger 2002). Nimmt man an, dass Nomina einstellige Prädikate sind, würde der infiniten Komponente des Satzes (65a) die Syntax-SemantikAbbildung in (65b) entsprechen. Die externe Theta-Rolle i wird vom Prädikativ dem Subjekt zugewiesen.

97 (65)

a. Ivan ist Student, b. vP

- >

λ χ λ ζ [ζ = [STUDENT(X)]] ( i v a n ) =λζ [Ζ = [STUDENT(ivan)]]

DP,

λ Ρ λ χ λ ζ [ζ = [ Ρ ( χ ) ] ] ( λ γ [STUDENT(y)])

V'i

= λ χ λ ζ [ζ = [STUDENT(X)]]

Ivan

ν

ivan

sez-

NPj Student

λΡ λχ λζ [ζ = [Ρ(χ)]] λγ [STUDENT(y)]

Die vP bezeichnet somit einen Stativen Zustand, der dadurch charakterisiert wird, dass Ivan die Eigenschaft, Student zu sein, besitzt. Das referenzielle Zustandsargument ζ wird in einer höheren funktionalen Ebene temporal spezifiziert und theta-gebunden (auf die ThetaBindung in KPK wird später ausfuhrlicher eingegangen). Vergleicht man KPK im Deutschen und Spanischen, stellt man fest, dass die Unterscheidung, die mit ser vs. estar vorgenommen wird, im Deutschen nicht kenntlich gemacht werden kann. Anders als im Spanischen wird im Deutschen der pragmatische Unterschied „Bezug auf eine spezifische Topiksituation" vs. „kein Bezug auf eine spezifische Topksituation" auf der morphosyntaktischen Oberfläche nicht reflektiert. Würde also eine deutsche Reporterin über die Panamericana berichten, könnte sie den Bezug auf eine spezifische Topiksituation nicht explizit markieren. Wenden wir uns nun der Analyse der KPK im Spanischen zu.

3.3.2

Formale Analyse von ser und estar (Maienborn 2003)

Rekapitulieren wir Maienborns Feststellung in Bezug auf die Kopulawahl im Spanischen aus Abschnitt 3.2.1: estar wird gewählt, wenn eine spezifische Topiksituation beschrieben wird, sonst wird sich der Sprecher für ser entscheiden. Dies kann als Hypothese formuliert werden: Ser/estar-Hypothese (Maienborn 2005: 12) Durch die Verwendung von estar beschränkt der Sprecher seine Behauptung auf eine spezifische Topiksituation; bei der Verwendung von ser bleibt der Sprecher in Bezug auf die Spezifizität der Topiksituation neutral. Diese unterschiedlichen Verwendungsbedingungen für ser vs. estar fuhrt Maienborn auf Unterschiede in den Lexikoneinträgen zurück. Die Kopula ser hat keine besonderen Anforderungen an den Verwendungskontext, sie ist grundlegende Kopula im Spanischen. Für ser kann der Lexikoneintrag (66) analog zum Lexikoneintrag für sein im Deutschen angenommen werden. Das zusammengesetzte Prädikat [ser AP] wird auf unspezifische Topik-

98 Situationen bezogen, woraus die Präferenz für die Interpretation der Eigenschaften als „permanent" folgt. Estar ist das markierte Gegenstück von ser. Die Tatsache, dass estar-Konstruktionen mit spezifischen Topiksituationen verbunden sind, wird im Lexikoneintrag dieser Kopula als Präsupposition vermerkt. 10 (66)

ser:

λΡ λχ λζ [ζ = [Ρ(χ)]]

(67)

estar: λΡ λχ λζ [ζ = [Ρ(χ)] / [R(z, s,top)]] (verändert' ι aus Maienborn 2003: 163) Assertion

Präsupposition

Die Spezifizitätspräsupposition von estar ist als Bedingung formuliert, die fordert, dass der Stative Zustandsreferent ζ relativ zu einer spezifischen Topikssituation S| t o p verankert ist. R dient als freier Parameter für Relationen. Die Variable für die spezifische Topiksituation s/ op wird bei der aspektuellen Spezifizierung der Kopula gebunden, wie in 3.4.4 erläutert wird. Nach Maienborn hat die Vielzahl der in der Literatur beobachteten interpretativen Effekte bei estar eine gemeinsame Grundlage. Sie sind auf die Spezifizitätspräsupposition von estar zurückzufuhren. Wie diese Präsupposition von estar verarbeitet wird, kann an einem Beispiel veranschaulicht werden. Für (68a) wird in b-d die Bedeutung der vP (=VP bei Maienborn) zunächst ohne Tempus und Aspekt abgeleitet: (68)

a. Jacinta estä soltera. Jacinta istESTAR ledig. b. soltera: ~ky [LEDiG(y)] c. estä soltera: λΡ λχ λζ [ζ = [P(x)]J / [R(z, s,top)]] (ky [LEDLG(y)]) =

λ χ λ ζ [ ζ = [LEDIG(X)] / [ R ( z , S!TOP)]]

d. [ vP Jacinta estä soltera]: λχ λζ [ζ ~ [LEDIG(X)] / [R(z, srtop)]] (jacinta) = λζ [z = [LEDLG(jacinta)] / [R(z, s,top)]]

10

11

Maienborn (2003: 162) zeigt, dass diese Präsupposition zurückgewiesen werden kann, s. auch 3.2.1: (i) jHoy cstäs fino! heute bist ESTAR clever 'Heute bist Du aber clever!' (ii) No, no es que hoy este fino, es que soy fino! nein, nicht ist dass heute bin ESTAR clever, ist dass bin SER clever 'Nein, es ist nicht so, dass ich heute clever bin, ich bin grundsätzlich clever!' Maienborn verwendet die Notation gemäß Diskursrepräsentationstheorie, nach der die Spezifizitätspräsupposition von estar etwas anders repräsentiert wird: (i) estar: λΡ λχ λζ [ζ = [Ρ(χ>] / [s,top | R(z, s,top)]] wobei das Zeichen „|" die Diskursreferenten von Bedingungen abtrennt. Um diese Repräsentation an meine bisherigen Repräsentationen anzugleichen, werde ich Sitop als freien Parameter für eine spezifische Bezugssituation analysieren.

99 In weiteren funktionalen Projektionen wird Aspekt und Tempus spezifiziert. Maienborn nimmt an, dass Tempus und Aspekt als Operatoren für morphologisch ausgewiesene funktionale syntaktische Projektionen Tempus-Phrase (TP) und Aspekt-Phrase (AspP) fungieren, wobei zunächst Aspekt und dann Tempus spezifiziert wird. Aspekt Maienborn übernimmt die Aspekt- und Tempustheorie von Klein (1994), nach der Aspekt als temporale Beziehung zwischen der Topikzeit und der Situationszeit verstanden wird. Für die semantische Repräsentation nimmt sie an, dass das Aspektaffix die Variable für die Topiksituation stop einführt und die Zeit der Topiksituation relativ zur Situationszeit von s lokalisiert. Um den Beitrag von Aspekt zu verdeutlichen, betrachtet Maienborn (2003: 160) zwei spanische Aspekt-Varianten in (69): (69)

a. Durante la crisis de Cuba, Hans estaba en Lima. während der Kuba-Krise Hans warESTAR 1MP in Lima 'Während der Kuba-Krise war Hans in Lima.' b. Durante la crisis de Cuba, Hans estuvo en Lima, während der Kuba-Krise Hans warESTAR PERF in Lima 'Während der Kuba-Krise war Hans in Lima.'

Beide Sätze machen Aussagen über Hans zur Zeit der Kuba-Krise. „Der imperfektive Aspekt in (69a) drückt aus, dass die Kuba-Krise vollständig in die Zeit von Hans' LimaAufenthalt fallt. (Hans könnte also zur Äußerungszeit immer noch in Lima sein.) Der perfektive Aspekt in (69b) besagt umgekehrt, dass Hans' Lima-Aufenthalt vollständig in die Zeit der Kuba-Krise fallt (also zeitlich befristet war)", (Maienborn 2003: 160). Die invariante semantische Repräsentation von Asp mit den beiden möglichen Werten perfektiv [+PERF] und imperfektiv [—PERF] lässt sich wie in (70) angeben: (70)

Asp[±PERR]: λζ> lstop 3s [[x(s,op) R x(s)] & Q(s)] Operator τ (Krifka 1998) bildet Situationen auf Zeitintervalle ab, Operator 3 dient der referenziellen Abbildung des Zustandsarguments s, R ist eine Variable für Relationen.

Je nach Aspektfestlegung wird R unterschiedlich spezifiziert. Wir werden hier nur die Spezifizierung von R beim imperfektiven Aspekt betrachten. Bei der Default-Interpretation des imperfektiven Aspekts wird die Relation R als echte Inklusion „c:" gedeutet. (71)

imperfektiver Aspekt AsP[_reRF]: XQ λ51ορ 3s [[x(s,op) c x(s)] & Q(s)]

Angewendet auf den Beispielsatz (69a) ist die Formel so zu deuten: Die Kuba-Krise entspricht der Topiksituation stop, Hans' Aufenthalt in Lima entspricht dem Zustand s. Der imperfektive Aspekt der Kopula estaba besagt, dass das Zeitintervall der Kuba-Krise x(stop) Teil der zeitlichen Erstreckung des Zeitintervalls x(s) von Hans' Lima-Aufenthalt ist.

100

Tempus Klein (1994) versteht unter Tempus eine Relation zwischen der Topikzeit x(stop) und der Äußerungszeit t°. Maienborn (2003: 160f., 2005) folgend lassen sich für die drei Tempora Präsens, Präteritum und Futur, die durch zwei Merkmale [±PRÄT(ERITUM), ±FUT(UR)] unterschieden werden, semantische Repräsentationen wie in (72) angeben. Das Symbol „ c " steht für unechte Inklusion und „] & [R,(s, y)] / ([R 2 (S, s, ,op )])„] N a c h der Verknüpfung mit dem A f f i x ergibt sich eine Repräsentation der Bedeutung der PrP studentom. Im Lexikon korrespondiert mit dieser semantischen Repräsentation die phonologische Form studentom: (104) Xy [[STUDENT(y)] & [R,(s, y)] / ([R 2 (s, s, top )])a]

studentom

Da der prädikative I N S die Bedeutung des N o m e n s anreichert, werde ich diesen Kasus als semantischen Kasus betrachten. 1 6

16

Ich gehe von der Klassifikation der Kasus aus, die in Wunderlich & Lakämper (2001) und Zimmermann (2003) vertreten wird. Wunderlich & Lakämper nehmen zwei Arten von morphologischen Kasus an: Ein struktureller Kasus (z.B. NOM, Akkusativ, Dativ) ist prädiktabel, er reflektiert die Argumenthierarchie und wird durch abstrakte Rangmerkmale kodiert (Wunderlich 1997b). Ein semantischer Kasus induziert eine bestimmte semantische Interpretation bzw. semantische Anreicherung einer Nominalphrase, vgl. z.B. den Akkusativ bei den sog. Wechselpräpositionen im Deutschen. Er kann entweder die Integration eines zusätzlichen semantischen Prädikats in die semantische Form signalisieren, das durch das betreffende Verb lizensiert sein muss oder, wie Stiebeis (2002: 59f.) annimmt, den Situationsbezug induzieren. Sowohl strukturelle wie auch semantische Kasus können von einzelnen Verben/Verbklassen lexikalisch gefordert sein. Mit Zimmermann (2003) gehe ich davon aus, dass Kasus nicht per se semantisch oder strukturell sind. So kann der INS im Russischen als struktureller Kasus (für das externe Argument bei Passivierung), als lexikalischer Kasus (z.B. als Rektionskasus bei rukovodit' 'leiten') oder als semantischer Kasus (bei sekundären Prädikaten, adverbialen Adjunkten, Prädikativen) fungieren. Eine ausfuhrliche Analyse der adverbiellen Adjunkte im INS im Russischen bieten Demjjanow & Strigin (2003).

114 3.4.4

Analyse

Nun sind wir gerüstet für die kompositionale Analyse der prädizierenden KPK im Russischen. Zunächst die Kopulasätze mit dem Prädikatsnomen im NOM. Die Bedeutung der vP des Satzes (105a) mit den semantischen und syntaktischen Ingredienzien in (105b) wird durch zweifache Anwendung von funktionaler Applikation in (105c/d) abgeleitet. (105) a. Ivanbyl student.

(Tempus und Aspekt zunächst vernachlässigt)

Ivan war StudentNOM b. [ V plvan [ v · by'ivan

λΡ λχ λζ [ζ = [Ρ(χ)]]

[ NP student]]] λy [STUDENT(y)]

c. [ ν · by- student]: λΡ λχ λζ [ζ = [Ρ(χ)]] (λγ [STUDENT(y)]) = λ χ λ ζ [ζ = [STUDENT(x)]]

d. [vplvan by- student]: λ χ λ ζ [ζ = [STUDENT(X)]] (ivan) = λ ζ [z~

[STUDENT(ivan)]]

Die vP in (105d) bezeichnet eine Menge von Stativen Zuständen, die dadurch charakterisiert sind, dass Ivan die Eigenschaft, Student zu sein, aufweist. Die NOM-Zuweisung an das Prädikatsnomen erfolgt via Kongruenz mit dem Subjektnomen unter c-Kommando. Der Kongruenzkasus ist als struktureller Kasus zu betrachten. Anders als Bailyn (2001: 13) nehme ich für die Vergabe des Kongruenzkasus an das Prädikativ keine Bewegung in einen multiplen Spezifikator an. Nach der aspektuellen und temporalen Spezifikation in (106) und (107) und der existenziellen Bindung der Variablen für die Topiksituation ergibt sich die Repräsentation des Satzes in (108). (106) [Aspp Ivan by- student]: XQ Kstop 3s [[t(s ,op ) ] & [R,(s, y)] / [R2(s, s,top)]] (λχ [STUDENT(X)])

I λχ [STUDENT(x)]

= Λ Υ [[STUDENT ( y ) ] & [ R , (s, y ) ] / [ R 2 ( s , S, TOP )]]

d. [v- by- studentom]: λΡ λχ λζ' [ζ' » [Ρ(χ)]] (λγ [[STUDENT(y)] & [R,(s, y)] / [R 2 (s, s,,op)]]) = λχ λ ζ ' [ζ' = [STUDENT(x)] & [ R , ( S , Χ)] / [R 2 (S, s,'0p)]] Die resultierende Repräsentation in (109d) ermöglicht die Spezifizierung der Variablen s und R in der Bedeutungskomponente [Ri(s, x)]. Diese Bedeutungskomponente kann lokal spezifiziert werden, indem das Argument s durch das referenzielle Argument der Kopula z' und R| durch die Charakterisierungsrelation = gebunden wird. Die Spezifizierung der Komponente [Ri(s, x)] fuhrt quasi zu der Repräsentation [z' = [STUDENT(X)]], die aufgrund ihrer Identität mit der Kopulabedeutung eliminiert werden kann. Dies fuhrt zu der Repräsentation in (110). (110)

λχ λζ' [Ζ' = [STUDENT(X)] / [R 2 (S, s,top)]]

Die Integration der Subjektbedeutung ergibt die Repräsentation in (111). (111) [vp Ivan by- studentom]: λχ λζ' [ζ' = [STUDENT(x)] / [R2(S, s,top)]] (ivan) = λζ' [ζ' = [STUDENT(ivan)] / [R 2 (s, SI ,OP )]] Der nächste Schritt ist die aspektuelle Spezifizierung der vP in AspP: (112) [ AspP Ivan by- studentom]: XQ Xstop 3z [[x(s,op) c τ(ζ)] & Q(z)] (λζ' [ζ' = [STUDENT(ivan)] / [R 2 (s, s,,op)]]) op = Xs' 3z [[x(stop) c x(z)] & [z = [STUDENT(ivan)] / [R2(s, s,top)]]]

116 Die resultierende Repräsentation ermöglicht die Bindung der Spezifizitätspräsupposition (vgl. meine Erläuterungen zu (73)). Das Argument s kann mit dem Stativen Zustandsargument der Kopula ζ identifiziert werden. Die Verankerung der Situation s relativ zu einer spezifischen Topiksituation Si'op ist erfüllt, wenn die durch Asp eingeführte Topiksituation s top mit Si'op identifiziert und R durch die aspektuelle Relation zwischen x(stop) und x(z) spezifiziert wird (Details s. Maienborn 2003: 165). (113) λ8ίορ 3z [[x(stop) c x(z)] & [ζ = [STUDENT(ivan)]] & [stop = s,,op]] Nach der Spezifizierung von Tempus und unter Vernachlässigung des kompositionalen Beitrags weiterer funktionaler Projektionen kann die Bedeutung des Satzes in (114) angegeben werden: (114) Ivan byl studentom: 3s t0p 3z [[T(S'°P) < t°] & [X(s,0p) C τ(ζ)] & [Ζ = [STUDENT(ivan)]] & [s top = s,top]] Der Satz ist wahr, wenn es einen Zustand von Ivans Student-Sein gibt, und die zeitliche Erstreckung dieses Zustandes eine kontextuell fixierte Topikzeit x(stop) enthält, die vor der Äußerungszeit liegt. Nachdem wir die zwei Typen der KPK im Russischen analysiert haben, können wir strukturelle Parallelen zwischen den KPK im Russischen und im Spanischen ziehen. Mit der Wahl des INS im Russischen und mit der Wahl der Kopula estar im Spanischen signalisiert der Sprecher, dass die Äußerung auf eine spezifische Topiksituation bezogen ist. Der Bezug auf eine spezifische Topiksituation wird im Russischen im Lexikoneintrag des Kasusaffixes beim Prädikatsnomen verankert, im Spanischen im Lexikoneintrag des Kopulaverbs, vgl. die Schemata in (115) und (116). Die oben vorgeschlagene Analyse legt nahe, dass die hier verglichenen Sprachen unterschiedliche strukturelle Optionen wählen, um denselben diskurs-pragmatischen Unterschied zu kodieren. (115) Russisch

(116)

byl

stident-om I R(s, z,top)

Spanisch

estä 1 R(s, ζ/ ορ )

ancha

117

3.4.5

Diskussion der Ergebnisse

Das Ziel des Kapitels war es, zu prüfen, was die NOM/INS-Alternation im Russischen zur Grammatik der Kopulasätze beiträgt. Das Problem der bisherigen Analysen besteht darin, dass sie die Kasusalternation auf eine genuin semantische Distinktion zurückzufuhren versuchen. Wie die kritische Übersicht über die Analysen der Kasusalternation in 3.1 zeigt, können die verschiedenen Deutungsoptionen des prädikativen INS semantisch nicht vollständig erfasst werden. Die Annahme einer mehrfachen Polysemie des prädikativen INS wäre aber auch keine befriedigende Lösung. Die Unzulänglichkeiten der bisherigen Analysen lassen sich darauf zurückfuhren, dass die für die Kasusalternation zuständige Domäne noch nicht gefunden wurde. Die Einflussgrößen fur die Kasuswahl liegen nicht in der Semantik des Satzes, sondern in der Art seiner Anbindung an den Kontext, und sind somit an der Semantik/Pragmatik-Schnittstelle zu suchen. Der in dieser Arbeit entwickelte Ansatz sieht als Kern der Unterscheidung NOM/INS die beim INS kodierte Spezifizitätspräsupposition an den Diskurskontext und siedelt somit den Unterschied zwischen NOM und INS in der Domäne der Pragmatik an. Das Grundgerüst für die formale Analyse der KPK im Russischen liefert die Analyse der zwei Kopulae ser und estar im Spanischen von Maienborn (2003). Das Spanische weist eine dem Russischen vergleichbare overte Differenzierung auf, jedoch nicht bezüglich des Kasus am Prädikativ, sondern als lexikalische Wahl bezüglich des Kopulaverbs. Für die Diskussion der Ergebnisse werden in (117) bis (119) nochmals die durch den Vergleich mit dem Spanischen entwickelte semantische Repräsentation für die Kopula byt' 'sein', ein Prädikatsnomen im NOM und ein Prädikatsnomen im INS wiederholt; vgl. (77), (65) und (98). (117) byt': λΡ λχ λζ [ζ = [Ρ(χ)]] (118) student NOM : λ y [STUDENT(y)]

(119) studentom INS : λ Υ [[STUDENT(y)] & [R,(s, y)] / ([R 2 (s, s, ,op )]) a ]

Den Hintergrund für die Annahme in (119) bilden Überlegungen zur allgemeinen Bedeutung des INS als kontextabhängig zu interpretierendem Kasus. Der INS unterscheidet sich vom NOM durch zwei Komponenten, eine assertierte und eine präsupponierte. Die erste Komponente signalisiert einen kontextuell zu spezifizierenden Bezug auf das referenzielle Argument eines Verbs, die zweite Komponente verlangt, dass dieses referenzielle Argument relativ zu einer spezifischen Topiksituation verankert ist. Während die erste Komponente ein fester Bestandteil der INS-Bedeutung ist und in allen INS-Verwendungen kontextuell spezifiziert wird, ist die zweite Komponente nur dann aktiv, wenn der INS mit dem NOM konkurriert. Der Vorteil des hier entwickelten Ansatzes ist, dass er die mit der Kasusalternation in Zusammenhang stehenden Phänomene wie die vielfaltigen interpretativen Effekte der KPK mit dem INS und die Modifizierbarkeit durch temporale Adverbiale erfassen kann.

118

Interpretative Effekte Interpretative Effekte, die in der Literatur bei Prädikatsnomina im INS im Unterschied zu Prädikatsnomina im NOM vermerkt werden, wie temporär vs. permanent, akzidentell vs. essenziell, Teil vs. Ganzes, aktiv vs. passiv bzw. idiomatisch, lassen sich auf die Unterscheidung [±Bezug auf eine spezifische Topiksituation] zurückfuhren. Die Bezugname auf eine spezifische Topiksituation ist beim INS lexikalisch präsupponiert. Die Bezugnahme auf eine spezifische Topiksituation ist nur dann zulässig, wenn es aufgrund unseres kontextuellen Wissens alternative Topiksituationen gäbe, in denen die ausgedrückte Prädikation nicht zutrifft. Diese Alternativen können mit der spezifischen Topiksituation in einem temporalen, epistemischen, Teil/Ganzes-Kontrast oder einem anderen Kontrast stehen. Der temporale Kontrast führt z.B. zur Interpretation der Eigenschaftsbezeichnung im INS als „temporär", der Teil/Ganzes-Kontrast zur Interpretation der Eigenschaftsbezeichnung als einer „Facette eines Individuums". Modifizierbarkeit durch temporale Adverbiale Temporale Adverbiale tragen durch die Herstellung eines temporalen Kontrasts zur Spezifizierung der Topiksituation bei. Dadurch erklärt sich die Präferenz des INS in KPK mit temporalen Adverbialen, vgl. 3.1.2.1. Ähnliches lässt sich auch über die Aktionsarten der Kopula sagen. In 3.1.2.2 haben wir die Beobachtung diskutiert, dass bei der Kopula in der delimitativen, perdurativen und iterativen Aktionsart nur der prädikative INS zulässig ist. Die Aktionsarten der Kopula induzieren immer einen zeitlichen Kontrast, d.h. die Präfixe der Aktionsarten haben die gleiche Wirkung auf die Interpretation eines Kopulasatzes wie ein temporaler Modifikator. Fassen wir nun die wesentlichen Punkte der Analyse der prädizierenden Sätze im Russischen zusammen. Zur Orientierung mögen dabei folgende Fragen dienen: - Was tragen die verschiedenen Ebenen grammatischer Strukturbildung zum Aufbau und zur Interpretation von Kopulasätzen im Russischen bei, und worin besteht der Unterschied zwischen dem Russischen und dem Spanischen? - Wie erfolgt im Russischen die Arbeitsteilung zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik bei der Kasuszuweisung an das Prädikativ? - Gibt es im Russischen einen Zusammenhang zwischen der Kasusselektion und der Stadien/Individuen-Distinktion?

(i) Lexikalische Ebene/Lexikoneintrag Prädikatsnomina sind im Lexikon als einstellige Prädikate ohne Situations- oder Zustandsbezug repräsentiert. Die Kopula byt' führt einen Zustandsreferenten ein, der durch das Zutreffen der vom Prädikativ bezeichneten Eigenschaft auf den Subjektreferenten charakterisiert ist. Das INS-Affix reichert die Bedeutung an, macht das Nomen auf das referenzielle Argument der Kopula beziehbar und löst die Verankerung dieses Arguments relativ zu einer spezifischen Topiksituation aus. Steht die NP im NOM, wird sie nicht mit dem referenziellen Argument der Kopula in Zusammenhang gebracht.

119 (ii) Strukturbildung Aufgrund der bei der Kopula nur wenig beschränkten syntaktischen Selektion kann die Kopula als Komplement u.a. eine bloße NP oder eine in eine PrP eingebettete NP annehmen. In einer PrP wird eine NP mit einem INS-Affix kombiniert. Bei der kompositionalen Ableitung der Satzbedeutung wird die relationale Bedeutung des INS spezifiziert und die Spezifizitätspräsupposition gebunden. Eine bloße NP ohne Pr bekommt ihren Kasus via Kongruenz mit dem Subjekt des Kopulasatzes. (iii) Pragmatik (Sprecherperspektive) und Unterschiede zwischen Spanisch und Russisch Im Spanischen ist der vom Sprecher wählbare Bezug auf eine spezifische Topiksituation mit der lexikalischen Distinktion ser vs. estar verbunden. Anders als im Falle der Kopula estar im Spanischen gehört in russischen Kopulasätzen die Festlegung auf eine spezifische Topiksituation nicht zur lexikalischen Bedeutung der Kopula, sondern zur lexikalischen Bedeutung des Kasusaffixes am Prädikatsnomen. Die explizite Kennzeichnung einer Spezifizitätspräsupposition ist dann auch die Basis, auf der eine lexikalische Alternation wie spanisch ser vs. estar und eine flexivische Alternation wie NOM vs. INS im russischen Prädikativ als strukturelle Option vergleichbar werden. Im Unterschied zum Spanischen unterliegt im Russischen die Kennzeichnung des Bezugs auf eine spezifische Topiksituation syntaktischen Beschränkungen. (iv) Kasusdistinktion und Stadien/Individuen-Unterscheidung Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Stadien/Individuen-Unterscheidung im Sinne eines zeitlichen Kontrastes temporär/permanent und der Kasusselektion beim Prädikatsnomen im Russischen? Der Zusammenhang zwischen der Kasusselektion und dem Stadien/Individuen-Unterschied ist indirekt. Der INS bewirkt, dass der nominale Ausdruck auf das referenzielle Argument des verbalen Prädikats beziehbar ist. Besteht beim Prädikativ die Wahlmöglichkeit NOM vs. INS, induziert der INS im Gegensatz zum NOM zusätzlich den Bezug auf eine spezifische Topiksituation. Dieser Bezug kann durch einen temporalen Kontrast legitimiert sein. In diesem Fall entsteht der sog. Temporaritätseffekt, der in der Literatur oft in Verbindung mit dem prädikativen INS gebracht wird (der Permanenzeffekt entsprechend mit dem NOM). Die Interpretation einer NP im INS als temporäre, vorübergehende bzw. akzidentelle Eigenschaft ist die einfachste Option, die Bezugnahme auf eine spezifische Topiksituation zu deuten (s. Maienborn 2003). Ist aber aus syntaktischen Gründen die Wahl des NOM ausgeschlossen und somit nur der INS zugelassen, wird der Temporaritätseffekt, der bei Wahlmöglichkeit auftreten kann, neutralisiert. Wir haben festgestellt, dass das Russische mit zwei KPK-Varianten die gleichen Unterschiede ausdrückt wie das Spanische, nämlich ob der Sprecher seine Aussage auf eine spezifische Topiksituation beschränkt oder nicht. Interessant ist die Frage, welche weiteren Kontraste Sprachen mit zwei KPK-Varianten ausdrücken und wie diese Kontraste mit der im Russischen und Spanischen festgestellten Unterscheidung zusammenhängen. Im nächsten Abschnitt sollen ausschnitthaft zwei weitere Sprachen mit zwei unterschiedlichen Markierungen in KPK betrachtet werden. Dabei wird geprüft, was diese Markierungen kodieren und ob dabei ein Zusammenhang mit der Stadien/Individuen-Unterscheidung besteht.

120 3.5

Differenzielle Markierung des Prädikativs im Sprachvergleich

Am Beispiel des Spanischen und Russischen haben wir gezeigt, dass Sprachen mit zwei verschiedenen KPK-Varianten gleiche Kontraste markieren können. Das Spanische und das Russische reflektieren den pragmatischen Kontrast [± Bezug auf eine spezifische Topiksituation]. Der Stadien/Individuen-Kontrast ist als einer der möglichen Effekte dieser Unterscheidung zu verstehen. Es gibt weitere Sprachen, die differenzielle Markierungen am Prädikatsnomen aufweisen, die auf den ersten Blick als Kennzeichnungen des Stadien/Individuen-Kontrastes erscheinen, aber in Wirklichkeit keine sind. Wir werden hier kurz auf zwei Fälle eingehen: Das Deutsche und das Polnische. Bei der differenziellen Markierung unterscheidet sich das Deutsche vom Russischen: Deutsch weist beim Prädikatsnomen differenzielle Artikelverwendung auf. Das Polnische weist hingegen differenzielle Kasusmarkierung am Prädikativ auf und ähnelt in dieser Hinsicht dem Russischen. Wie sich aber in unserer Übersicht zeigen wird, ist das Kriterium für die jeweilige Kasuswahl im Russischen und Polnischen unterschiedlich. In der Wahl des Unterscheidungskriteriums scheint das Polnische eher dem Deutschen zu ähneln. (i) Differenzielle Markierung des nominalen Prädikativs im Deutschen Im Deutschen können nichtmodifizierte Prädikatsnomina im Singular ohne indefiniten Artikel stehen, vgl. Abschnitt 2.2.1. Die artikellose Verwendung ist allerdings nur bei verschiedenen Funktionsbezeichnungen, darunter Nationalitätenbezeichnungen, Bezeichnungen des beruflichen, gesellschaftlichen oder ideologisch-religiösen Status, episodischen Funktionen wie Zeuge von, Schuldner von möglich, s. z.B. die Duden-Grammatik (2005: 339). (120) Boris ist Schlosser von Beruf. Er war Franzose/Athlet/Katholik/Zeuge des Verkehrsunfalls/Vater dreier Töchter. Die Tendenz zur Artikelweglassung weitet sich sogar auf modifizierte Nomina aus, vgl. Beispiele aus Hentschel (1993: 277): (121) Er ist überzeugter Kommunist/begeisterter Angler. Artikellose Verwendung ist unzulässig bei charakterisierenden Nomina und Epitheta wie Idiot, Trunkenbold, Feigling, Heulsuse, Genie, Riese, Gigant, Zwerg. (122) Puschkin war ein Genie/*Genie. Es sei darauf hingewiesen, dass die Verwendung des indefiniten Artikels bei Nomina in (120) mit einer „Verschiebung" in ihrer Bedeutung in Richtung „Charakterisierungen" bzw. „Qualitätsbezeichnungen" einhergehen würde. So fuhrt Admoni (1973: 89) das Beispielpaar (123) zur Illustration dieser Verschiebung auf, weist aber daraufhin, dass es sich hier eher um eine Tendenz als um eine feste Regel handelt:

121 (123) a. Er ist Athlet. (= Er treibt Sport.) b. Er ist ein Athlet. (= Er hat einen athletischen Körperbau.) Während im ersten Fall Athlet als Berufsbezeichnung fungieren kann, vermittelt im zweiten Satz ein Athlet den Eindruck über den Körperbau. Dabei muss das Individuum, auf das mit er verwiesen wird, nicht einmal Sport treiben. Ein ähnlicher Hinweis findet sich in Heibig & Buscha (2005: 340). E. Lang (pers. Kommunikation) hat auf weitere Beispiele dieser Art hingewiesen: (124) a. Er ist Jesuit/Spieler/Schauspieler. b. Er ist ein Jesuit/ein Spieler/ein Schauspieler.

sj, scharfsinnig

(direkte Bedeutung) (Bedeutungsverschiebung)

.j,

leichtsinnig

unaufrichtig

Wichtig ist, dass die in (124b) aufgeführten Beispiele immer prädizierend sind, d.h. als Antwort auf Was ist er? vorkommen können, nicht als Antwort auf Wer ist er?. Daneben gibt es für die Bsp. in (124b) die identifizierende Lesart (vgl. 2.3): (125) A: Wer ist Ivan Kuzmin?

B: Ein Athlet/ein Jesuit/ein Schauspieler. (*Athlet/*Jesuit/*Schauspieler).

Der Artikel ist hier obligatorisch. Er induziert aber anders als in (124b) keine Bedeutungsverschiebung. Matushanky & Spector (2003) analysieren Prädikatsnomina mit und ohne Artikel im Französischen, das diesbezüglich dem Deutschen 17 ähnelt, und stellen fest, dass der indefinite Artikel bei denjenigen Prädikatsnomina obligatorisch ist, die graduierbare Eigenschaften bezeichnen. Als Indikator der Graduierbarkeit kann die Kombinierbarkeit mit Gradmodifikatoren wie völlig und so ein dienen, vgl. (126) a. Puschkin war so ein Genie! b. Ivanov war ein völliger Idiot. (127) Boris ist (*so ein) Schlosser von Beruf. Die von Matushanky & Spector vorgeschlagene formale Analyse basiert auf der Annahme, dass graduierbare Nomina ein Gradargument analog zu graduierbaren Adjektiven (s. Bierwisch 1987) einfuhren, welches bei Nomina durch den indefiniten Artikel gebunden werden muss. Auf die Kasusmarkierung im Russischen scheint die Graduierbarkeit des Prädikatsnomens nur schwache Auswirkungen zu haben. Inhärent graduierbare Nomina stehen meistens im NOM, der INS ist aber nicht ausgeschlossen:

17

Im Englischen ist die Bedingung für die artikellose Verwendung von Präsikatsnomina völlig anders. Nur Nomina mit der Einzigkeitspräsupposition wie president können ohne Artikel stehen: (i) John is president of the club. (Doron 1988: 284) (ii) He is *(a/the) teacher.

122 (128) Ivanovbyl polnyj idiot Ipolnym idiotom. Ivanov war völliger IdiotNOM /völliger Idiot INS 'Ivanov war ein völliger Idiot.' Aus dem Vergleich Deutsch-Russisch folgt, dass die Trennungslinie zwischen Prädikativen mit Artikel und Prädikativen ohne Artikel im Deutschen anders verläuft als zwischen Prädikativen im NOM und solchen im INS im Russischen. Die Kontraste, die die jeweilige Sprache grammatisch signalisiert, sind nicht identisch, stimmen aber oft überein. So haben graduierbare Epitheta im Russischen eine besondere Affinität zum NOM und erscheinen im Deutschen mit einem indefiniten Artikel, und da solche Epitheta im Default ein Individuum ohne Beschränkung auf eine spezifische Topiksituation charakterisieren, treten sie im Spanischen in der Regel als Komplement von ser auf. (ii) Differenzielle Markierung des nominalen Prädikativs im Polnischen Im Polnischen stehen genauso wie im Russischen der NOM und der INS zur Kasusmarkierung des nominalen Prädikativs zur Verfugung. In der Literatur (u.a. Bailyn & Citko 1999) wird die Meinung vertreten, dass im Polnischen der INS zumeist nicht die Rolle spielt, die ihm im Russischen zukommt: er tritt strukturell bedingt auf, und zwar bei Prädikatsnomina fast immer obligatorisch, und hat seine bedeutungsunterscheidende Rolle eingebüßt, so z.B. Boguslawski (2001). Während der Standardkasus bei Prädikatsnomina der INS ist, ist der Standardkasus bei prädikativen Adjektiven der NOM. Der Kasus des Prädikativs hat im Polnischen somit einen anderen Stellenwert als im Russischen. (129) Jan jest studentem/* student. Jan ist Student INS /*Student N0 M 'Jan ist Student.'

(Bailyn & Citko 1999: 33)

(130) Jan jest *glodnym /glodny. Jan ist *hungrig, NS /hungrig N0 M 'Jan ist hungrig.'

(Bailyn & Citko 1999: 32)

Boguslawski (2001) weist daraufhin, dass Gradmodifikatoren die Tendenz zur NOM-Markierung des Prädikatsnomens verstärken. So ist beim Gradmodifikator taki 'ein solcher' in (131a) der NOM dem INS vorzuziehen, fehlt der Modifikator, ist der NOM nach Boguslawski „kaum möglich", vgl. (131b): 18 (131) a. Ten samochöd taki grat, ze juz reperowac nie warto dieses Auto solcher Klapperkasten dass ihn reparieren nicht lohnt 'Dieses Auto (ist) ein solcher Klapperkasten N0M , dass es sich nicht lohnt, zu reparieren.' (Boguslawski 2001: 112, aus Klebanowska 1976: 61) b. ?Ten samochöd (jest) grat. dieses Auto (ist) Klapperkasten N0 M 18

(Boguslawski ebenda)

Boguslawski selbst betrachtet Prädikative wie taki grat als „spezielle Phraseologismen, die außerhalb jeglicher Regularität stehen", vgl. Boguslawski (1999: 112).

123 Im Polnischen scheint somit der NOM bei Prädikatsnomina eine Differenzierung zu markieren, die im Deutschen durch einen indefiniten Artikel beim bloßen Prädikatsnomen ausgedrückt wird: die Graduierbarkeit. Die Aufgabe der weiteren Forschung wäre, das Spektrum der Unterscheidungen, die Sprachen in Kopulasätzen vornehmen, zu vervollständigen. Es wäre u.a. zu klären, ob es Sprachen gibt, die die Stadien/Individuen-Unterscheidung im Sinne der reinen temporär/permanent-Unterscheidung in Kopulasätzen grammatisch reflektieren. Ein möglicher Kandidat wäre das Altkirchenslawische, das nach Borkovskij (1978: 83) den INS in der privativen Opposition zum NOM für die Markierung der vorübergehenden Geltung einer Eigenschaft verwendet haben soll. Zu überlegen wäre, wie Kontraste, die einzelne Sprachen bzw. diachrone Stufen einer Sprache in den KPK formal reflektieren, miteinander zusammenhängen.

4

Kopulasätze mit Adjektiven im Russischen: Kurzform vs. Langform

Es gibt keine grammatische Form, die nicht zugleich auch etwas „meint", sei es auch etwas sehr Abstraktes. Die Wahl einer der beiden Formen (Kurz- oder Langform des Adjektivs) ist also motiviert und nicht zufallig. (Isacenko 1962: 146)

In den bisherigen Kapiteln haben wir verschiedene zusammengesetzte Prädikate, bestehend aus dem Verb SEIN und einem nominalen Prädikativ, untersucht, um festzustellen, was das Verb SEIN zur Satzbildung beiträgt und wie dabei eine Arbeitsteilung zwischen der Kopula und dem Prädikativ erfolgt. In diesem Kapitel werden wir einen Typ des zusammengesetzten Prädikats im Russischen, bestehend aus byt' und der sog. Kurzform des Adjektivs, unter die Lupe nehmen. Ich werde zeigen, dass sich die Kurzform der Adjektive von der Langform durch Eigenschaften unterscheidet, die die Kurzform von der Funktion eines Prädikativs im bisher betrachteten Sinne ausschließen. Die Leitthese lautet: die Kurzform ist eine verbale Kategorie, der fur die Satzbildung lediglich die Aspekt- und Tempusspezifizierung fehlt. In der formalen Analyse der byt '-Sätze mit Lang- und Kurzform wird die Distinktion Kopula vs. Hilfsverb thematisiert. Eine frühere und kürzere Version dieses Kapitels findet sich in Geist (2003).

4.1

Einführung

Das Russische verfügt über zwei Formen des prädikativen Adjektivs, eine sog. Kurzform (KF) und eine sog. Langform (LF). Die beiden Formen des prädikativen Adjektivs im Russischen unterscheiden sich morphologisch: Die KF flektiert nach Numerus (Sg./Pl.) und im Singular nach Genus (Mask./Fem./Neutr.); die LF weist neben Numerus- und Genus- auch Kasusflexion auf, vgl. (1): (1)

a. Zagadka bylaprostaja /prosta RätselsoFEMNOM war einfach LFS(FFEMNOM /einfach KFSGFFM 'Das Rätsel war einfach.' b. Zagadka byla prostoj Rätselso .FEM.NOM war einfacliLF.sG.FEM.iNs 'Das Rätsel war einfach.'

Die prädikativen LFn kommen in KPK im NOM oder im INS vor. Die Kasusalternation bei den LFn der Adjektive scheint ähnliche interpretative Effekte wie bei Nomina zu haben. In

125 diesem Kapitel wird die KF mit der prädikativen LF im N O M verglichen. Im heutigen Russisch gibt es weniger prädikative KFn als LFn, weil KFn nicht bei allen Adjektiven möglich sind, sondern nur bei den sog. Qualitätsadjektiven. 1 Bis auf wenige Fälle 2 entspricht jeder KF auch eine prädikative LF, 3 vgl. (2). Solche Paare von KFn und LFn werden im Zentrum meiner Untersuchung stehen. (2)

vesel - v e s e l y j , krasiv - krasivyj, star - staryj fröhlichicF - frölich LF h ü b s c h ^ - hübsch LF altK[. - altLF

Die KFn sind in ihrer syntaktischen Distribution eingeschränkt: sie kommen im modernen Russisch nur prädikativ vor. 4 LFn hingegen können sowohl prädikativ als auch attributiv verwendet werden. Die einzige syntaktische Position, in der KF und LF alternieren können, ist die Komplement-Position von byt'. Die Frage, die sich stellt, ist, ob mit der jeweiligen Form des prädikativen Adjektivs semantische oder andere Unterschiede verbunden sind.

1

2

3

4

Im Russischen werden traditionell zwei Typen von Adjektiven unterschieden: Beziehungsadjektive und Qualitätsadjektive. Beziehungsadjektive sind in der Regel abgeleitet. Sie benennen das Merkmal nicht unmittelbar, sondern durch ihren erkennbaren Bezug auf die durch ihre nominale Basis bezeichneten Individuen oder Substanzen, im Deutschen werden sie oft durch Erstglieder von Komposita wiedergegeben: derevjannyj 'hölzern/Holz-', gorodskoj 'städtisch/Stadt-'. Qualitätsadjektive sind dagegen in der Regel primäre Adjektive. Im Gegensatz zu den Beziehungsadjektiven sind Qualitätsadjektive meistens komparierbar. Die Grenze zwischen Beziehungs- und Qualitätsadjektiven ist fließend. a) Nur KFn haben: rad 'froh', gorazd 'fähig', prav 'Recht habend', ljub 'lieb', b) Die KF hat eine andere Bedeutung als die LF bei prav 'Recht habend' - p r a v y j 'recht-', ploch - 'schlecht' nur in Bezug auf Gesundheit - p l o c h o j 'schlecht'. Die KFn sind die ältere Form. Sie gehen historisch auf nominale Formen zurück. Im Urslawischen flektierten die KFn der Adjektive nach dem Muster der Substantive. Schon im Urslawischen wurde von der KF durch die Anfügung des anaphorischen Pronomens */'&, *ja, *je, das dem ebenfalls aus einem Pronomen hervorgegangenen deutschen Artikel der, die, das entsprach, die LF der Adjektive abgeleitet. Einige Slawisten, darunter Tschernych (1957: 179) und Isacenko (1962: 140), vertreten die Meinung, dass dieses Pronomen an die Kurzform des Adjektivs angefügt wurde, um zu kennzeichnen, dass es sich um einen bestimmten, schon bekannten Träger der betreffenden Eigenschaft handelt. So bezeichnete laut Tschernych dobn celovekt 'gut KF Mensch' einen guten Menschen ohne Hinweis auf einen bestimmten Menschen. Dagegen bedeutete dobryj celovekb 'gut LF Mensch' „dieser (genannte, schon bekannte) gute Mensch." Es ist aber nicht endgültig klar, ob die Formunterscheidung wirklich der [±definit]-Unterscheidung entsprach; s. Borkovskij (1978: 169). Selbst wenn es diese Unterscheidung beim Attribut gegeben hat, so wurde sie später jedenfalls eliminiert, weil ab dem 14. Jahrhundert die KFn allmählich aus dem attributiven Gebrauch verschwanden; s. Bailyn (1994) für eine generative Beschreibung dieses Wandelprozesses. In dieser Arbeit werde ich mich ausschließlich auf prädikativ verwendete Adjektive konzentrieren, da nur diese in der KF stehen können. In früheren Sprachzuständen war auch ein attributiver Gebrauch flektierter KFn möglich, wovon synchron noch vorhandene Phraseologismen zeugen, vgl. (i) sred' bela dnja mitten h e l l K F . G E N TagGEN 'am heilichten Tag'

126 Wichtig ist zunächst, dass zusammengesetzte Prädikate mit [byt' + KF] und mit [byt' + LF] in ihrer Referenz gleich sind. Beide bezeichnen Stative Zustände, wie dies fur zusammengesetzte Prädikate bestehend aus Kopula und Prädikatsnomen gilt. Dass sie keine Situationen im davidsonschen Sinne bezeichnen, kann anhand eines Tests mit lokalen Modifikatoren nachgewiesen werden, vgl. die Beispiele in (3). Lokale Modifikatoren wie in (3), die das Situationsargument eines Verbs fiir ihren Anschluss verlangen, sind sowohl in den KPK mit der LF als auch in den KPK mit der KF ausgeschlossen. (Das Temporaladverbial kak raz 'gerade' verhindert die Uminterpretation des situationsbezogenen Lokaladverbials als rahmensetzenden Modifikator. 5 Damit wird sichergestellt, dass sich das Lokaladverbial auf das Verb bezieht.) (3)

a. *On byl (kak raz) doma bolen /bol'noj *er war gerade zu-Hause krankKF/krankLF 'Er war (gerade) zu Hause krank.' b. *Pavel (kak raz) ν kabake p'jan /p'janyj. *Pavel gerade in Kneipe betrunken KF /betrunken LF 'Pavel ist (gerade) in der Kneipe betrunken.' c. *Ivan byl (kak raz) na rynke dobr /dobryj * Ivan war gerade auf Markt gutherzig KF /gutherzikg LF 'Ivan war (gerade) auf dem Markt gutherzig.'

Genauso wie in den KPK mit der LF gibt es somit auch in den KPK mit der KF keine Evidenz, eine referenzielle Argumentstelle fur eine raumzeitliche Entität anzunehmen. Es gibt aber sprachliche Hinweise auf die Existenz eines referenziellen Arguments, das zumindest 5

Lokale Adverbiale als Rahmensetzer sind bei beiden Formen des Adjektivs zulässig. Sie geben jedoch keinen Aufschluss über die Art des referenziellen Arguments des zusammengesetzten Prädikats. (i) a. V Moskve on byl ocen' izvestnyj /izvesten. in Moskau er war sehr berühmt LF /berühmt KF 'In Moskau war er sehr berühmt.' b. Na scene ona simpaticnaja /simpaticna. auf Bühne sie sympathisch LF /sympathisch KF 'Auf der Bühne ist sie sympathisch.' Rahmensetzende Modifikatoren sind in der Satzbedeutung anders verankert als lokale Modifikatoren, sie beziehen sich nicht auf den Situationsreferenten der vP, sondern beschränken den Geltungsbereich der Proposition (s. Maienborn 1996). In (ia) muss sich die betreffende Person nicht in Moskau aufhalten, um dort berühmt zu sein. In (ia) ist es also nicht der Zustand des Berühmtseins der Person, der in Moskau lokalisiert ist, vielmehr wird der Geltungsbereich der Proposition „er ist sehr berühmt" auf Moskau eingeschränkt. Das rahmensetzende Adjunkt na scene 'auf der Bühne' in (ib) schränkt die Geltung der Proposition in temporaler Uminterpretation ein. Dies kann etwa so paraphrasiert werden: „wenn sie auf der Bühne steht, ist sie sympathisch". Rahmensetzende Modifikatoren geben jedoch keinen Aufschluss über die Art des referenziellen Arguments des zusammengesetzten Prädikats.

127 welt- und zeitgebunden ist. Zum Aufspüren des referenziellen Arguments in den KPK kann adverbielle Modifikation mit Frequenzadverbialen wie dva raza 'zweimal' dienen. (4)

a. Na etoj nedele on byl dva raza p'jan /goloden. in dieser Woche er war zweimal betrunken K F/hungrig K F 'Diese Woche war er zweimal betrunken/hungrig.' b. Na etoj nedele on byl dva raza p'janyj /golodnyj. In dieser Woche er war zweimal betrunken LF /hungrig LF 'Diese Woche war er zweimal betrunken/hungrig.'

Sowohl bei KPK mit [byt' + LF] als auch bei solchen mit [byt' + KF] sind Frequenzadverbiale zulässig, was für das Vorhandensein eines referenziellen Arguments bei beiden spricht. Ich nehme an, dass es sich in beiden Fällen um ein statives Zustandsargument im Sinne von Abschnitt 3.3.1.1 in Kap. 3 handelt.

4.2

K u r z f o r m / L a n g f o r m - U n t e r s c h e i d u n g : Forschungsüberblick

Die Unterschiede zwischen LF und KF sind in der russischen und internationalen Slawistik oft und ausgiebig behandelt worden. Der Ertrag dieser Diskussion sind intuitive Erklärungen und eine große Anzahl vorgeschlagener Regeln, die in vielen Fällen widersprüchlich bzw. nicht präzise genug sind. Einige Autoren wie Gabka (1988: 232) und Guiraud-Weber (1996) kommen in ihren Untersuchungen der KF und LF sogar zu dem Schluss, dass feste Regeln für den Gebrauch von prädikativen Kurz- und Langformen gar nicht formuliert werden können, weil die Verteilung dieser Formen in der Sprache der Gegenwart großen Veränderungen unterliegt. Aber es gibt auch viele Versuche, die Unterschiede zwischen KF und LF systematisch zu erfassen. Einige dieser Ansätze werde ich im Folgenden diskutieren.

4.2.1

Semantische Unterscheidung zwischen Kurz- und Langform

4.2.1.1

Zustand vs. Eigenschaft und „temporär" vs. „permanent"

In Svedova (1952, 1980: I, 557) wird der semantische Unterschied zwischen KFn und LFn so dargestellt: KFn bezeichnen ein Merkmal als einen qualitativen Zustand, der zu einer bestimmten Zeit gelten kann, vgl. (5a). 6 LFn bezeichnen hingegen eine permanente konstante Eigenschaft, vgl. (5b).

6

„Po znaceniju kratkie formy otlicajutsja ot polnych form: oni oboznacajut priznak kak kacestvennoe sostojanie, t.e. takoj, kotoryj mozet byt' priurocen k opredelennomu vremeni" (Svedova 1980:

128

(5)

a. Mal'cik zdorov. (sejcas, ν nastojascij moment). Junge gesund^· 0 e t z t > i m Augenblick) 'Der Junge ist gesund.' b. Mal'cik zdorovyj. (vsegda) Junge gesund LF 'Der Junge ist gesund.' (permanent)

Im Erklärungsansatz von Svedova wird m. E. nicht zwischen den zwei Dichotomien temporär vs. permanent einerseits und Zustand vs. Eigenschaft andererseits unterschieden. Mir scheint jedoch, dass diese Dichotomien zur Erklärung des Unterschieds zwischen KF und LF nicht gleichermaßen geeignet sind. Was den Zeitbezug betrifft, sind KFn und LFn inhomogen. So gibt es neben KFn mit dem Merkmal „temporär" wie in (5) oben auch KFn mit dem Merkmal „permanent" wie in vse Ijudi smertny 'alle Menschen sind sterblich^'· Auch LFn können sowohl zur Bezeichnung von permanenten als auch zur Bezeichnung von temporären Merkmalen dienen, vgl. molcalivyj 'schweigsam LF ' (permanent) und golodnyj 'hungrig LF ' (temporär). Solche Befunde legen nahe, dass die zeitliche Charakteristik als Kriterium für die Unterscheidung zwischen KF und LF nicht maßgebend ist (s. auch Isacenko 1962: 148). Gehen wir dem zweiten Hinweis von Svedova nach, KFn würden Zustände, und LFn würden Eigenschaften bezeichnen. Ein lexikalisiertes Beispiel für eine Zustandsbezeichnung wäre z.B. die KF ziv in (6), die - anders als die entsprechende LF zivoj - im Deutschen eher mit einem Verb als mit einem Adjektiv wiedergegeben wird (vgl. Isacenko 1962: 203). Sowohl die KF ziv als auch die LF zuvoj ist in Bezug auf die Unterscheidung temporär vs. permanent spezifiziert. (6)

a. On ziv. er lebendigKF

'Er l e b t ' b. On zivoj. er lebendigLF 'Er ist lebendig.' Nun gibt es KFn, deren Zuordnung zu Zustandsbezeichnungen zumindest nicht auf der Hand liegt. Ist z.B. der Unterschied zwischen der KF krasiv ' h ü b s c h ^ ' und der LF krasivyj 'hübschLF' ebenfalls mit der Dichotomie Zustand vs. Eigenschaft erklärbar? Im Weiteren soll dieser Idee nachgegangen werden. Wir werden zuerst die KFn und dann die LFn betrachten.

I, 557). „Nach ihrer Bedeutung unterscheiden sich Kurzformen von Langformen: Sie bezeichnen ein Merkmal als einen qualitativen Zustand, d.h. einen solchen, der zeitlich beschränkt ist" (meine Übersetzung, L.G.).

129 4.2.1.2

Was bezeichnen die Kurzformen der Adjektive?

Während Svedova (1952, 1980) für eine einheitliche Zuordnung aller KFn zu Zustandsbezeichnungen plädiert, werden in Bulygina (1982) die KFn nach ihrer Bedeutung in Bezeichnungen von Qualitäten (russ. 'kacestva'), von Zuständen (russ. 'sostojanija') und von Verhaltensweisen (russ. 'povedenija') bzw. Situationen (russ. 'situacii') untergliedert werden. In ihrer Klassifikation würde krasiv 'hübsch K F ' zu den Qualitäten, grub 'grob K F' dagegen zu den Verhaltensweisen gehören, s. Abbildung 1 und die anschließenden Beispiele: Abbildung 1:

Klassifikation der Adjektive in der Kurzform (Ausschnitt aus der Klassifikation der Prädikate nach Bulygina 1982: 84) Kurzform des Adjektivs kein Zeitbezug

(7)

Qualitäten

episodisch

(8) Zustände

a. On bolen a. Celovek ot prirody leniv. Mensch von Natur faulKF er krankicp 'Der Mensch ist von Natur aus faul.' 'Er ist krank.' b. Prostranstvo beskonecno. Universum unendlich^ 'Das Universum ist unendlich^.' c. Syn pochoz na otca. Sohn ähnlichKF Präp. Vater 'Der Sohn ähnelt dem Vater.'

7

b. Emu cholodno.7 ihm kaltKF 'Ihm ist kalt.'

(9)

Verhaltensweisen

a. Ona byla gruba s nim. sie war grobKF Präp. ihm 'Sie war grob zu ihm.' b. On byl nem kak ryba. er war stummKF wie Fisch 'Er war stumm wie ein Fisch.'

Diese Gruppe überschneidet sich mit den Prädikaten, die seit Scerba (1928: 17) einer besonderen Wortart Zustandskategorie 'kategorija sostojanija' zugeordnet werden. Die meisten Autoren beschränken diese Wortart auf die unpersönlichen Ausdrücke wie (i) Mne cholodno (ii) Mne bol'no imir kaltKF.sG.NEUT mir krankKF SG NEUT 'Mir ist kalt.' 'Es tut mir weh/es schmerzt mich.'

130 Ich denke, dass „Verhaltensweisen" und „Qualitäten" keine eigenständigen Klassen bei KFn der Adjektive bilden, sondern beides Zustandsbezeichnungen bzw. konkreter, Bezeichnungen von Stativen Zuständen sind. Dies läßt sich wie folgt begründen. Die Bezeichnung „Verhaltensweisen" suggeriert, dass grub 'grob' oder nem 'stumm' eine Aktivität und somit eine Situation im davidsonschen Sinne mit dem Subjektreferenten als Agens bezeichnen. Aktivitäten sind ein Untertyp von Situationen, vgl. in Abschnitt 3.3.1.1 die Klassifikation in Tabelle 1. Bezeichnungen von Aktivitäten müssen ein Situationsargument einführen, welches als Anschluss für lokale Modifikatoren dienen kann. Wie (10) jedoch zeigt, werden lokale Modifikatoren in solchen Beispielen obligatorisch temporal uminterpretiert. (10)

Onabyla gruba s mm na glazachu vsech sie war grobKF mit ihm vor Augen bei Anderen 'Sie war grob zu ihm im Beisein aller Anderen.' (nur temporal: „sie war grob zu ihm, während alle anderen anwesend waren")

(11)

On byl na sobranii nem kakryba. er war in Versammlung stumm KF wie Fisch 'Er war in der Versammlung stumm wie ein Fisch.' (nur temporal: „als er in der Versammlung war")

Aus der Analyse der Belege in (10) und (11) folgt, dass diese Sätze keine Situationen im davidsonschen Sinne und somit auch keine Aktivitäten bezeichnen. Das bedeutet auch, dass die KFn der Adjektive in diesen Sätzen keine Bezeichnungen für „Aktivitäten" sind. Was bezeichnen diese KFn dann? Ich nehme an, dass sie Stative Zustände denotieren (s. dazu Abschnitt 3.3.1.1). Ihre Interpretation als „Verhaltensweisen" wäre dann nicht ihre primäre Interpretation, sondern eine durch den Kontext ausgelöste Uminterpretation. Ähnliche Uminterpretationen mit Agentivitätseffekten haben wir auch bei KPK mit der NP im INS festgestellt (s. Abschnitt 3.1.1). Genau wie bei Prädikatsnomina im INS kann die Möglichkeit der Agentivitätsuminterpretation als Hinweis darauf dienen, dass die KF als Lieferant eines referenziellen Arguments zu analysieren ist (ich gehe später in 4.4.2 ausführlicher darauf ein). Qualitätsbezeichnungen wie leniv 'faul KF ', beskonecen 'unendlich KF ', pochoz 'ähnlich^' sind meiner Meinung nach ebenfalls Bezeichnungen von Stativen Zuständen. KFn zeichnen sich somit generell im Gegensatz zu LFn dadurch aus, dass sie einen Referenten vom Typ „statives Zustandsargument" haben. Eine stützende Evidenz dafür liefert die Beobachtung, dass viele Konzepte, die durch KFn bezeichnet werden, wie z.B. in (12a) und (13a), auch durch Verben mit demselben Stamm bezeichnet werden können, vgl. (12b) und (13b).

Isacenko (1962) zählt auch einige persönlichen Ausdrücke wie ja gotov - ich bereit^ 'ich bin bereit' dazu. Ich werde aber alle KFn, persönliche und unpersönliche, als Zustandsbezeichnungen analysieren und keine spezielle Wortart „Zustandskategorie" annehmen, sondern dafür argumentieren, dass die KFn zur verbalen Kategorie gehören.

131 (12) a.

Prostranstvo beskonecno. Universum unendlich^ 'Das Universum ist unendlich.'

(13) a.

Syn pochoz na otca. Sohn ähnlich KF Präp. Vater 'Der Sohn ähnelt dem Vater.'

Prostranstvo ne imeet konca. Universum nicht hat EndeGEN 'Das Universum hat kein Ende.' b.

Syn pochodit na otca. (veraltet) Sohn ähnelt Präp. VaterAKK 'Der Sohn ähnelt dem Vater.'

Auf die Verwandtschaft zwischen KFn und Verben werde ich im Abschnitt 4.3 ausfuhrlicher eingehen. Halten wir an dieser Stelle fest, dass es plausibel ist anzunehmen, dass alle KFn der Adjektive Stative Zustände bezeichnen. Auf die Interpretation der LFn gehe ich im nächsten Abschnitt ein.

4.2.1.3

Prädikative Langformen als Eigenschaftsbezeichnungen

Gehen wir nun dem zweiten Hinweis von Svedova nach, die LFn der Adjektive würden Eigenschaften bezeichnen. Diese Annahme wird in Isacenko (1962, 1963), Voejkova & Pupynin (1996) und Fruchtmann (1999) präzisiert. Prädikative LFn bezeichnen danach vergleichsklassenbezogene Eigenschaften. Bei Isacenko (1962: 148) lesen wir dazu: Vergleicht man die beiden Sätze kitajskij jazyk ocen' truden 'chinesische Sprache sehr s c h w e r ^ ' und kitajskij jazyk ocen' trudnyj 'chinesische Sprache sehr schwer L F ', so wird im ersten Fall das Merkmal als Ergebnis eines Werturteils des Sprechers dem Beziehungswort zugeschrieben (das Chinesische ist schwer), im zweiten Fall wird es als eine bereits feststehende Wertung ausgedrückt (das Chinesische ist eine schwere Sprache).

Mit der „feststehenden Wertung" bei der LF meint Isacenko, dass das Chinesische im objektiven Vergleich zu anderen Sprachen bewertet und klassifiziert wird. Die LF trudnyj 'schwer L F' bezeichnet eine Eigenschaft des Chinesischen, durch die es sich von anderen Sprachen unterscheidet. Das Nomen Sprache liefert den Vergleichsbezug für die Bewertung. Die KF truden 'schwer KF ' induziert die Interpretation, nach der das Chinesische durch die Eigenschaft, kompliziert zu sein, gekennzeichnet ist, ohne dass ein Vergleich zu anderen Sprachen ausgelöst wird. „Die Wahl der Form hängt somit von der Art ab, in der das Merkmal vom Sprecher ausgesagt wird: Werturteil - Kurzform, Feststellung - Vollform," (Isacenko 1962: 149).8 Der Unterschied zwischen KF und LF kann anhand des Deutschen folgendermaßen verdeutlicht werden: Der LF im Russischen entspricht im Deutschen das prädikativ gebrauchten Adjektiv in einer „Vollform" mit Artikel (eine schwere (Sprache)). Einer KF im Russischen entspricht im Deutschen eine artikellose „Kurzform": (14)

8

a. Das Chinesische ist eine schwere Sprache. b. Das Chinesische ist schwer (für mich).

Diese Idee wird auch in Arbeiten von Jachnow (1977) und Ueda (1992) diskutiert.

(=LF-Lesart) (=KF-Lesart)

132 In generativen Analysen der prädikativen LF wird der von Isacenko beschriebene interpretative Unterschied zwischen KF und LF auf einen syntaktischen Unterschied zurückgeführt. Babby (1975), Siegel (1976) und Bailyn (1994) schlagen vor, die LF syntaktisch als Bestandteil einer Nominalphrase mit einem phonologisch leeren Nomen als Kopf 9 zu analysieren, s. (15). Dieser leere Kopf ist semantisch gesehen eine kontextuell zu interpretierende freie Variable. Diese Variable bezieht sich auf eine Vergleichsklasse, von der sich das in der Subjekt-NP genannte Individuum durch die im Prädikativ erwähnte Eigenschaft auszeichnet. Dem Beispielsatz von Isacenko kitajskij jazyk ocen' trudnyj 'chinesische Sprache sehr schwer LF ' wäre nach dieser Annahme folgende syntaktische Repräsentation zuzuordnen: (15)

[Cp [DP Kitajskij jazyk}, [ vP tj [v. [v 0 K O P ] [NP [AP trudnyj] [Ν· [N Ν ]]]]]]

In (15) kann der leere nominale Kopf Ν z.B. mit dem Nomen zenscina 'Frau' oder studentka 'Studentin' belegt werden. Prädikative LFn fungieren somit als den Referenzbereich eines phonologisch leeren Nomens einschränkende, d.h. restriktive Modifikatoren. In der bisherigen Diskussion über LFn wurde es immer als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, dass die Funktion der LFn als restriktive Modifikatoren auch unbedingt einen Niederschlag in der syntaktischen Struktur hätte, und dass daher die LFn als elliptische NPs zu analysieren seien. Mir scheint, dass man hier die Semantik und Syntax klarer auseinander halten muss. Es gibt nämlich mindestens drei Argumente gegen die syntaktische Analyse einer LF als elliptischer NP. Erstes

Gegenargument

Bei LFn, die vorübergehende Eigenschaften bezeichnen, wie ustalyj 'müde LF ', p'janyj g e trunken', kann das Nomen, das die Vergleichsklasse anzeigt, zwar semantisch, aber nicht syntaktisch rekonstruiert werden. 10 (16)

9

10

a. Posle ekzamena Ivan byl [»pzloj [N]] nach Prüfung Ivan war böserLF 'Nach der Prüfung war Ivan böse.' b. Posle ekzamena Ivan byl zloj (*student/*celovek). nach Prüfung Ivan war böserLF (*Student/*Mensch) 'Nach der Prüfung war Ivan böse.'

In der englischen Übersetzung von (15) wird der nominale Kopf der prädikativen NP durch das Pronomen one belegt: (i) She is a clever one. Im Deutschen wird in solchen KPK das Adjektiv flektiert und erscheint als Teil einer DP mit Artikel: (ii) Sie ist eine Weise. Auch im Englischen kann bei prädikativen Adjektiven, die vorübergehende Eigenschaften bezeichnen, das Pronomen orte (die Belegungen des N-Kopfes) nicht verwendet werden, vgl.: (i) a. *Today he is a tired one. b. Segodnja on ustalyj (*celovek). heute er müdeLF (*Mensch)

133 Die Analyse der LF zloj als NP mit einem leeren Kopf wie in (16a) ist unplausibel, weil die Position des nominalen Kopfes durch kein Nomen belegt werden kann, s. (16b). Zweites

Gegenargument

Berufsbezeichnungen mit maskulinem Genus wie inzenerMASK 'Ingenieur' werden im Russischen ohne Movierung auch für Frauen verwendet. Das Attribut zu diesem Prädikatsnomen steht im Maskulinum, 11 d.h. es kongruiert im Genus mit dem Prädikatsnomen und nicht mit dem Subjekt, vgl. (17): (17)

Ona chorosij inzencr l(*chorosaja) inzener. sie gutMAsK IngenieurMASi