Die Kompatibilität des säkularen Staates mit dem Islam: Am Beispiel der Türkei unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Religionsverfassungsrechts [1 ed.] 9783428540716, 9783428140718

Ziel der Arbeit ist es, herauszufinden, ob der Islam mit dem säkularen Staat vereinbar ist. Mit Blick darauf und im Bewu

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Die Kompatibilität des säkularen Staates mit dem Islam: Am Beispiel der Türkei unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Religionsverfassungsrechts [1 ed.]
 9783428540716, 9783428140718

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1250

Die Kompatibilität des säkularen Staates mit dem Islam Am Beispiel der Türkei unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Religionsverfassungsrechts

Von Müjgan Perçin

Duncker & Humblot · Berlin

MÜJGAN PERÇIN

Die Kompatibilität des säkularen Staates mit dem Islam

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1250

Die Kompatibilität des säkularen Staates mit dem Islam Am Beispiel der Türkei unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Religionsverfassungsrechts

Von Müjgan Perçin

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung.

Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Sommersemester 2012 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-14071-8 (Print) ISBN 978-3-428-54071-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-84071-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Diese Arbeit lag im Juni 2012 der Juristischen Fakultät der HumboldtUniversität zu Berlin als Dissertation vor. Mein Dank gilt meiner Doktormutter Prof. Dr. Rosemarie Will. Ihr Vertrauen, Einsatz und Interesse für das Thema haben diese Arbeit möglich gemacht. Ich danke auch Prof. Dr. Christoph Möllers, LL. M., für die Erstellung des Zweitgutachtens. Mein besonderer Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des ISAM (Islam Araştırmalar Merkezi, Zentrum für Islam­wissenschaftliche Studien). Auf deren großzügige Dienste konnte ich während meines Forschungsaufenthalts in Istanbul zugreifen. Ich danke auch Prof. Dr. Ömer Özsoy und Prof. Dr. Tahsin Görgün für ihre Gesprächsbereitschaft. Auch danke ich der Hans-Böckler-Stiftung für die materielle und ideelle Förderung meiner Promotion. Erst diese Förderung ermöglichte es, mir den notwendigen Freiraum zur Anfertigung meiner Arbeit zu nehmen. Berlin, den 15.7.2013

Müjgan Perçin

Inhaltsverzeichnis A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 I. Anlass und Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 II. Methodik und Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 I. Der Säkularisationsprozess in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1. Säkularisation: Begriff und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2. Die Entstehung der christlichen Theokratie im Römischen Reich  . 30 3. Der geschichtliche Säkularisationsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 a) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 b) 1. Stufe: Investiturstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 c) 2. Stufe: Konfessionskriege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 d) 3. Stufe: Französische Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 4. Ausgewählte Religionen in Deutschland zum säkularen Staat . . . . 37 a) Katholische Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 b) Evangelische Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 c) Muslime in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 II. Das Religionsverfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1. Rechtsgeschichtliche Entwicklung im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . 44 2. Vom Staatskirchen- zum Religionsverfassungsrecht . . . . . . . . . . . . 46 a) Rechtsquellen und Genealogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 b) Vom gesellschaftlichen Struktur- zum normativen Bedeutungswandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3. Religionsverfassungsrechtliche Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 a) Das Verbot der Staatskirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 aa) Prinzipielle Trennung von Staat und Kirche . . . . . . . . . . . 53 bb) Kooperation zwischen Staat und Religionsgesellschaften . 55 cc) Verstoß gegen das Trennungsmodell  . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 b) Die religionsverfassungsrechtliche Neutralität . . . . . . . . . . . . . . 57 aa) Normative Herleitung und subjektive Verwirklichung . . . . 57 bb) Nichtidentifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 cc) Parität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 dd) Offene Neutralität des Religionsverfassungsrechts  . . . . . . 65 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

10 Inhaltsverzeichnis III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsstellung des Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 1. Religions- und Weltanschauungsfreiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 a) Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 aa) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 bb) Der sachliche Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 (1) Religion und Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 (2) Die Glaubensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 (3) Bekenntnisfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 (4) Die ungestörte Religionsausübung . . . . . . . . . . . . . . . . 72 (5) Keine Schutzbereichsbeschränkung bei islamischen Glaubenspraktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 (6) Die positive und negative Religionsfreiheit und ihr Ausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 cc) Der personelle Schutzbereich der Religionsfreiheit . . . . . . 78 (1) Natürliche Personen als Grundrechtsträger . . . . . . . . . 78 (2) Juristische Personen als Grundrechtsträger . . . . . . . . . 79 b) Schranken der Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 c) Die Religionsfreiheit am Beispiel des islamischen Kopftuchs  . 81 aa) Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 (1) Islam als Religion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 (2) Das Tragen eines Kopftuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 bb) Schranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 (1) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 (2) Weltanschaulich-religiöse Neutralität . . . . . . . . . . . . . . 83 (3) Negative Religionsfreiheit der Schüler . . . . . . . . . . . . 84 (4) Elterliches Erziehungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 (5) Abstrakte Gefährdung des Schulfriedens . . . . . . . . . . 85 cc) Islamisches Kopftuch einer Schülerin bzw. Studentin . . . . 85 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2. Der Neuerwerb des Körperschaftsstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 a) Rechtsqualität und Auslegung der Weimarer Verfassungsartikel sowie ihr Verhältnis zur Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 b) Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus . . . . . 89 c) Subjektives Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 d) Voraussetzungen für den Erwerb des öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 aa) Ausdrückliche Tatbestandsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . 91 (1) Religionsgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 (2) Antrag der Religionsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 (3) Gewähr der Dauerhaftigkeit durch ihre Verfassung und Zahl ihrer Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 bb) Ungeschriebene Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

Inhaltsverzeichnis11 (1) Grundgesetzliche Verantwortung des Staates als Rah­ m­engesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 (2) Rechtstreue der Religionsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . 97 (3) Dogmatische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 cc) Der Neuerwerb des öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus durch islamische Religionsgemeinschaften . . . . . . . 99 3. Der Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 a) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 b) Religionsunterricht als Teil des Religionsverfassungsrechts . . . 102 c) Recht der Erziehungsberechtigten beim Religionsunterricht . . . 103 aa) Rechtsqualität und Rechtsverhältnis zur Religionsfreiheit und zum elterlichen Erziehungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 bb) Grundrechtsverpflichteter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 cc) Institutionelle Gewährleistung und subjektives Recht . . . . 104 dd) Grundrechtsgewährleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 d) Der Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 aa) Gewährleistung und Grundrechtsträger  . . . . . . . . . . . . . . . 106 bb) Religionsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 (1) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 (2) Religiöser Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 (3) Umfassende Pflege der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 (4) Religionspflege als Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 (5) Eindeutige Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 (6) Kooperationsbereitschaft und Ansprechpartner . . . . . . 111 (7) Persönliches Substrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 cc) Die Gleichstellung des Religionsunterrichts . . . . . . . . . . . . 113 dd) Sog. Übereinstimmungsklausel und das staatliche Aufsichtsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 ee) Gemeinsame Angelegenheit (res mixta) . . . . . . . . . . . . . . . 115 ff) Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 e) Der Religionsunterricht am Beispiel des islamischen Religionsunterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 aa) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 bb) Fehlen einer Religionsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 cc) Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 dd) Alternative Lösungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 (1) Religionsunterricht durch den deutschen Staat . . . . . . 121 (2) Religionsunterricht durch einen ausländischen Staat  . 123 f) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 4. Die Gleichbehandlung im Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 a) Rechtsnatur und -verhältnis zu anderen religionsverfassungsrechtlichen Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 b) Rechtsberechtigte und -verpflichtete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

12 Inhaltsverzeichnis c) Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 aa) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 bb) Benachteiligung oder Bevorzugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 cc) Glaube und religiöse Anschauung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 dd) Anknüpfungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 (1) Unmittelbares und mittelbares Anknüpfungsverbot . . 126 (2) Kausalität ohne Finalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 (3) Absolutes oder relatives Anknüpfungsverbot . . . . . . . 128 d) Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 C. Staat und Religion im Osmanischen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 II. Die Theokratisierung des Osmanischen Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2. Die Legitimation der Herrschaftsgewalt des Sultans . . . . . . . . . . . 135 3. Das Rechts- und Justizwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 III. Die Rechtsstellung der Nichtmuslime im Osmanischen Reich . . . . . . 138 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2. Dhimmi-Status der Nichtmuslime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3. Osmanisches Millet-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 a) Familien- und Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 b) Vertrags- und Handelsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 c) Aufenthaltsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 d) Kleidungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 e) Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 f) Steuerrecht und Militärdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 g) Gerichtsbarkeit und Verfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 IV. Der Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches . . . . . . . . . . . . . 151 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 2. Die „Entdeckung des neuen Westen“ als erste Stufe der Säkula­ risation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 a) Westliches Lebensgefühl in der Tulpenzeit . . . . . . . . . . . . . . . . 154 b) Anstoß des Reformprozesses unter Selim III. . . . . . . . . . . . . . . 155 c) Erste militärische Reformen und Bündnisse unter Mahmut II. . 158 3. Die Kodifikationsbewegung als zweite Stufe der Säkularisation . . 159 a) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 b) Erstes Reformedikt von 1839 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 c) Erneuerungserlass von 1856 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 aa) Privilegien nichtmuslimischer Religionsgemeinschaften . . 165 bb) Mitwirkungspflicht der nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften bei Reformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166

Inhaltsverzeichnis13 cc) Investitur nichtmuslimischer Geistlicher  . . . . . . . . . . . . . . 166 dd) Einkommen, Vermögen und Verwaltung weltlicher Ange­ legenheiten nichtmuslimischer Religionsgemeinschaften . . 166 ee) Ausbesserung, Wiederherstellung von Kultstätten . . . . . . . 167 ff) Neubau von Kultstätten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 gg) Freiheit des religiösen Kultus und des Glaubens . . . . . . . . 169 hh) Verbot der diskriminierenden Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . 169 ii) Besuch von Zivil- und Militärschulen . . . . . . . . . . . . . . . . 170 jj) Gründung von öffentlichen Schulen durch Religionsgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 kk) Gerichtsprozesse zwischen Muslimen und Nichtmuslimen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 ll) Militärdienst für Nichtmuslime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 mm) Religiöse Öffnung der Verwaltung und Justiz . . . . . . . . . . 171 nn) Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 4. Das konstitutionelle Zeitalter als dritte Stufe der Säkularisation . . 173 a) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 b) Die erste osmanische Verfassung von 1876 . . . . . . . . . . . . . . . . 173 aa) Geheiligter Sultan als Kalif und Beschützer des Islams . . 175 bb) Gleichheitsgrundsatz und Religionsfreiheit unter Wahrung des Islams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 cc) Scheich ul Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 dd) Gleichstellung in anderen Bereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 c) Die Verfassungsänderungen von 1909 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 d) Die zweite osmanische Verfassung von 1921 . . . . . . . . . . . . . . 180 e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 V. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 VI. Exkurs: Die politischen Bewegungen und ihre Theorien im Osmanischen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 2. Die Jung-Osmanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 3. Die Jung-Türken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 4. Die Islamisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . 191 I. Trennungsmodelle in der heutigen Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 1. Der Begriff Laizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 2. Das militante Laizismusmodell  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 3. Das türkisch-muslimische Laizismusmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 4. Das liberale Laizismusmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 II. Die verfassungsrechtliche Entwicklung des Laizismus in der Türkei  . 198 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

14 Inhaltsverzeichnis 2. Die Entwicklung des Laizismus nach Verkündung der Republik und unter der TVerf v. 1924 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 a) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 b) Die Entwicklung des Laizismus nach Verkündung der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 c) Die Entwicklung des Laizismus unter der TVerf v. 1924 . . . . . 203 d) Die Entwicklung des Laizismus nach 1945 bis 1961 . . . . . . . . 207 3. Die Entwicklung des Laizismus unter der TVerf v. 1961 . . . . . . . 211 a) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 b) Präambel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 c) Laizismus als Wesensmerkmal der Republik . . . . . . . . . . . . . . . 214 d) Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 e) Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 f) Schutz der Reformgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 g) Präsidium der religiöse Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 4. Die Entwicklung des Laizismus unter der TVerf v. 1982 . . . . . . . 219 a) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 b) Präambel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 c) Laizismus als Wesensmerkmal der Republik . . . . . . . . . . . . . . . 223 d) Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 e) Missbrauchsverbot der Grundrechte zur Beseitigung des Laizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 f) Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 g) Laizismus und politische Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 h) Treue der Abgeordneten und des Präsidenten zum Laizismus  . 229 i) Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . 230 j) Schutz der Reformgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 III. Ein Sonderfall des türkischen Laizismus: Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 1. Entstehungsgeschichte und Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 2. Struktur und Aufgaben des Präsidiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 a) Zentralverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 aa) Präsident . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 bb) Hoher Rat für Religionsangelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . 238 cc) Kontrollrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 dd) Rechtsbeirat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 ee) Direktorium für Ausstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 b) Provinzverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 c) Auslandsverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 3. Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsprechung des TVerfG zum Präsidium für religiöse Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 a) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242

Inhaltsverzeichnis15 b) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 c) Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 d) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 IV. Ein Sonderfall des türkischen Laizismus: Obligatorisches Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 1. Entstehung und Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 2. Das Laizismus-Prinzip in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum obligatorischen Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 a) Der Staatsrat zum obligatorischen Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 aa) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 bb) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 cc) Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 dd) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 b) EGMR zum obligatorischen Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 aa) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 bb) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 cc) Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 (1) Objektiver, kritischer und pluralistischer Unterrichtsinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 (2) Angemessenes Mittel zur Sicherstellung der elterlichen Überzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 dd) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 c) Der Staatsrat zum obligatorischen Unterrichtsfach „Religiöse Erziehung und Sittenlehre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 aa) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 bb) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 cc) Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 dd) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 V. Ein Sonderfall des türkischen Laizismus: Das Kopftuchverbot in ­öffentlichen Einrichtungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 1. Rechtsgrundlage des Kopftuchverbotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 a) Kopftuchverbot an Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 aa) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 bb) Kopftuchverbot für Mitarbeiterinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 cc) Kopftuchverbot für Schülerinnen der Grund- und Ober­ stufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 dd) Kopftuchverbot für Studentinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 b) Kopftuchverbot für Beamtinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 c) Kopftuchverbot an Hochschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 2. Das Laizismus-Prinzip in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Kopftuchverbot in der Türkei  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

16 Inhaltsverzeichnis a) Gesetzliche Kopftucherlaubnis in der Rechtsprechung des TVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 aa) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 bb) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 cc) Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 dd) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 b) Gesetzliche Kleidungsfreiheit in der Rechtsprechung des TVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 aa) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 bb) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 cc) Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 dd) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 c) EGMR zum Kopftuchverbot an türkischen Hochschulen . . . . . 280 aa) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 bb) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 cc) Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 (1) Eingriff in Art. 9 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 (2) Rechtlich vorgesehen nach Art. 9 Abs. 2 EMRK . . . . 282 (3) Berechtigtes Ziel nach Art. 9 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . 283 dd) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 d) Aufhebung des Kopftuchverbotes in der Rechtsprechung des TVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 aa) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 bb) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 cc) Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 dd) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 VI. Ein Sonderfall des türkischen Laizismus: Das Verbot islamischer Parteien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 1. Geschichtliche Entwicklung der Parteiverbote . . . . . . . . . . . . . . . . 289 2. Rechtsgrundlage für Parteiverbote unter der TVerf v. 1982 . . . . . . 293 3. Das Laizismus-Prinzip in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Verbot islamischer Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 a) TVerfG zum Verbot der Refah Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 aa) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 bb) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 cc) Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 dd) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 b) Der EGMR zum Verbot der Refah Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 aa) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 bb) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 cc) Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 (1) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 (2) Einführung eines pluralen Rechtssystems . . . . . . . . . . 306 (3) Einführung der Scharia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

Inhaltsverzeichnis17 dd) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 c) TVerfG zum Verbot der Fazilet Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 aa) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 bb) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 cc) Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 dd) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 d) Der EGMR zum Verbot der Fazilet Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 aa) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 bb) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 cc) Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 dd) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 e) TVerfG zum Verbot AKP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 aa) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 bb) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 cc) Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 dd) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 VII. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 VIII. Ausblick: Neue türkische Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 E. Der zeitgenössische türkisch-islamische Diskurs zum Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 II. Hayreddin Karaman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 1. Person und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 2. Rechtsauffassungen zum Verhältnis von Staat und Religion . . . . . 326 a) Auffassung zu Demokratie und Laizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 aa) Laizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 bb) Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 b) Präsidium für religiöse Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 c) Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 d) Kopftuchverbot  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 III. Fethullah Gülen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 1. Person und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 2. Auffassungen zum Verhältnis von Staat und Religion . . . . . . . . . . 342 a) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 b) Vereinbarkeit des Islams mit dem Laizismus und der Demo­ kratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 aa) Vereinbarkeit des Islams mit der Demokratie . . . . . . . . . . 343 bb) Vereinbarkeit des Islams mit dem Laizismus . . . . . . . . . . . 346 c) Toleranz und Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 d) Präsidium für religiöse Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 e) Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349

18 Inhaltsverzeichnis f) Kopftuchverbot und Kopftuchzwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 g) Verbot religiöser Parteien und die Politisierung des Islams . . . 352 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 IV. Yaşar Nuri Öztürk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 1. Person und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 2. Rechtsauffassungen zum Verhältnis von Staat und Religion . . . . . 355 a) Laizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 aa) Bedeutung und Abgrenzung zur Säkularisation . . . . . . . . . 355 bb) Vereinbarkeit von Islam und Laizismus . . . . . . . . . . . . . . . 357 b) Präsidium für religiöse Angelegenheiten und Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 c) Kopftuchverbot  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 V. Ali Bulaç . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 1. Person und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 2. Rechtsauffassungen zum Verhältnis von Staat und Religion . . . . . 362 a) Laizismus in der Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 b) Präsidium für religiöse Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 c) Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 d) Kopftuchverbot  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 e) Verbot islamischer Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 VI. Ismail Kara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 1. Person und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 2. Rechtsauffassung zum Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches und der Republik Türkei  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 3. Rechtsauffassung zum Präsidium für religiöse Angelegenheiten . . 379 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 VII. Präsidium für religiöse Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 1. Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 2. Rechtsauffassungen zum Verhältnis von Staat und Religion . . . . . 385 a) Bedeutung des Laizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 b) Vereinbarkeit von Islam und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 c) Religionsfreiheit im Islam und in der Türkei . . . . . . . . . . . . . . 387 d) Präsidium für religiöse Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 aa) Öffentlicher Charakter des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 bb) Freiheitlichkeit und Unabhängigkeit des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 cc) „Ziviler“ Charakter des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 dd) Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten ist kein Klerus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

Inhaltsverzeichnis19 ee) Private Verwaltung der religiösen Angelegenheiten . . . . . . 394 ff) Umgang des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten mit nichtsunnitischen Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 e) Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 f) Kopftuchverbot  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 VIII. Abant-Plattform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 1. Wesen und Bedeutung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 2. Rechtsauffassung zum Verhältnis von Staat und Religion . . . . . . . 399 a) Abschlusserklärung der 1. Abant-Konferenz . . . . . . . . . . . . . . . 399 aa) Gegenstand der 1. Abant-Konferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 bb) Der Herrschaftsbegriff, Ziffer 3 der 1..Abschlusserklärung  399 cc) Bedeutung und Aufgabe des Staates, Ziffer 4 der 1. Abschlusserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 dd) Der Staat im Islam, Ziffer 5 der 1. Abschlusserklärung . . 400 ee) Religionsfreiheit und Laizismus, Ziffer 6 der 1. Abschluss­ erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 ff) Bedeutung des Laizismus, Ziffer 7 der 1. Abschlusserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 gg) Forderungen, Ziffer 8 und 9 der 1. Abschlusserklärung . . 401 b) Abschlusserklärung der 2. Abant-Konferenz . . . . . . . . . . . . . . . 401 aa) Gegenstand der 2. Abant-Konferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 bb) Laizismus im Christentum und Islam, Ziffer 7 der 2. Abschlusserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 cc) Berücksichtigung der Umstände der Türkei, Ziffer 8 der 2. Abschlusserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 dd) Der zeitgemäße Staat, Ziffer 9 der 2. Abschlusserklärung . 403 ee) Religionsfreiheit, Ziffer 13 und 14 der 2. Abschlusserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 ff) Lösungsweg, Ziffer 15 und 16 der 2. Abschlusserklärung . 403 c) Abschlusserklärung der 26. Abant-Konferenz . . . . . . . . . . . . . . 404 aa) Gegenstand der 26. Abant-Konferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 bb) Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 cc) Präsidium für religiöse Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . 404 dd) Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 IX. Ankaraner Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 1. Wesen und Bedeutung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 2. Hüseyin Atay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 a) Zur Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 b) Rechtsauffassung zum Verhältnis von Islam und Staat . . . . . . . 409 aa) Laizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409

20 Inhaltsverzeichnis bb) Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 cc) Kopftuchverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 3. Ilhami Güler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 a) Zur Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 b) Rechtsauffassung zum Verhältnis von Islam und Staat . . . . . . . 412 aa) Die Säkularisation aus islamischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . 412 bb) Der Laizismus aus islamischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 cc) Präsidium für religiöse Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . 417 dd) Kopftuchverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 X. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 F. Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459

Abkürzungsverzeichnis a. A. a. a. O. a. F. AIHM

andere Ansicht am angegebenen Ort alte Fassung Avrupa Insan Hakları Mahkemesi (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) AKP Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) Alt. Alternative AMKD Anayasa Mahkemesi Kararlar Dergisi (amtliche Sammlung der Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts, zitiert nach Band und Seite) Amtsbl. Amtsblatt AöR Archiv des öffentlichen Rechts APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte arab. arabisch Art. Artikel Aufl. Auflage AÜIFD Ankara Üniversitesi Ilahiyat Fakültesi Dergisi (Zeitschrift der Theologischen Fakultät der Universität Ankara) Bd. Band Bf. Beschwerdeführer / in BGBl. Bundesgesetzblatt BP Birlik Partisi (Partei der Einheit) BRD Bundesrepublik Deutschland Buchst. Buchstabe BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungs­ gerichtes, zitiert nach Band und Seite BVerwG Bundesverwaltungsgericht BVerwGE amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtes, zitiert nach Band und Seite bzw. beziehungsweise CHP Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei) D. Decision

22 Abkürzungsverzeichnis DD Danıştay Dergisi (Zeitschrift des Verwaltungsgerichtshofes) dergl. dergleichen ders.  derselbe d. Gr. der Große d. h. das heißt dies. dieselbe DITIB Diyanet İşleri Türk İslam Birliği (Einrichtung der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion) DöV Die öffentliche Verwaltung DP Demokrat Parti (Demokratische Partei) DR Decisions and Reports, Sammlung der Entscheidung der EGMR (seit 1975) E. Esas (Rechtssache) EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EKD Evangelische Kirche in Deutschland EKMR Europäische Kommission für Menschenrechte EMASYA Emniyet-Asayiş-Yardımlaşma (Zusammenarbeit öffentliche Sicherheit und Ordnung) EMRK Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten Ent. Entscheidung EU Europäische Union EuGRZ Europäische Grundrechte-Zeitschrift F.A.Z. Frankfurter Allgemeine Zeitung ff. fortfolgende Fn. Fußnote Forts. Fortsetzung FP Fazilet Partisi (Tugendpartei) geb. geboren gem. gemäß GG Grundgesetz GV. NRW Gesetz- und Verordnungsblatt Nordrhein-Westfalen Halbbd. Halbband HdbStKirchR Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland HdbStR Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Hrsg. Herausgeber Hs. Halbsatz HSFK Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung H.Ü. Harran Üniversitesi HYP Halkın Yükselişi Partisi (Partei des Volksaufschwungs)

Abkürzungsverzeichnis23 HZP Huzur Partisi (Friedenspartei) i. e. S. im engeren Sinne IntKomm Internationaler Kommentar i. S. d. im Sinne des I. Ü. Istanbul Üniversitesi i. w. S. im weitesten Sinne Jahrg. Jahrgang Jh. Jahrhundert JöR Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart JZ Juristen Zeitung K. Karar (Entscheidung) KJ Kritische Justiz Komm. Kommentar Lfg. Lieferung MNP Milli Nizam Partisi (Partei der Nationalen Ordnung) M.Ü. Marmara Üniversitesi m. w. N. mit weiteren Nachweisen n. Chr. nach Christi n. F. neue Fassung NJW Neue Juristische Wochenschrift Nr. Nummer NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht o. oben osman. osmanisch o.V. ohne Verfasser OVerf osmanische Verfassung Plur. Plural PRA Presidency of Religious Affairs reg. regieren RG Resmi Gazete (Amtsblatt der Republik Türkei) RJD Reports of Judgements and Decisions, Entscheidungssammlung des EGMR (seit 1996) Rn. Randnummer RP Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) Rs. Rechtssache RuP Recht und Politik RW Rechtswissenschaft S. Seite s. siehe

24 Abkürzungsverzeichnis Sek. Sekunde SHP Sosyaldemokrat Halkcı Parti (Sozialdemokratische Volkspartei) Sing. Singular sog. sogenannte SP Saadet Partisi (Partei der Glückseligkeit) Sp. Spalte stRspr. ständige / r Rechtsprechung SZ Süddeutsche Zeitung TIS türkisch-islamische Synthese TPartG türkisches Parteiengesetz türk. türkisch TVerf türkische Verfassung TVerfG türkisches Verfassungsgericht u. a. und andere u. ä. und ähnliches Urt. Urteil v. von, vom Var. Variante Verf. Verfassung vgl. vergleiche VO Verordnung Vol. Volume Vorb. Vorbemerkung VVDStRL Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer w. wörtlich WRV Weimarer Reichsverfassung Z. Ziffer, Zahl z. zum ZAR Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik ZevKR Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht ZfP Zeitschrift für Politik ZfTS Zeitschrift für Türkeistudien * * * Im Übrigen wird verwiesen auf: Kirchner, Hildebert; Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 6. Aufl., Berlin / New York, 2008, De Gruyter Recht.

A. Einführung I. Anlass und Ziel In Deutschland leben 3,8 bis 4,3 Millionen Muslime und machen damit zwischen 4,6 bis 5,2 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.1 Durch den Zuzug von Muslimen nach Deutschland ist die Frage der Akzeptanz des säkularen Staates durch den Islam respektive der Muslime für die deutsche Staatsordnung zu einer Herausforderung geworden.2 Nur ein kleiner Teil der in Europa lebenden Muslime prägt über Aktivitäten in Moscheeorganisationen und Dachverbänden das „Bild vom Islam“ in der Gesellschaft.3 Vielfach sind die Vorstellungen dieser Organisationen mit den Grundwerten des säkularen demokratischen Staates nicht vereinbar und haben die Durchsetzung von schariakonformen staatlichen Strukturen zum Ziel.4 Gleichzeitig finden sich eindeutige Bekenntnisse zum deutschen Trennungsmodell, bei gleichzeitiger Mahnung vor dem Laizismus.5 Vor diesem Hintergrund besteht das Bedürfnis, das Verhältnis zwischen dem Islam und der säkularen Staatsordnung zu erörtern. Im Jahr 2006 wurde die Deutsche Islamkonferenz einberufen, um Transparenz und Klarheit über das Verhältnis des Islams und der säkularen Gesellschaft zu fördern. Ziel der Islamkonferenz ist es, das Verhältnis zwischen dem deutschen Staat und den hier lebenden Muslimen, auf eine tragfähige Grundlage zu stellen, um eine verbesserte religions- und gesellschaftspolitische Integration der muslimischen Bevölkerung in Deutschland zu erreichen. Die Arbeitsgruppe 1 der Islamkonferenz trägt den Titel „Deutsche Gesellschaftsordnung und Werte1  Vgl. Frindtke / Boenke / Kreikenbom / Wagner, Lebenswelten junger Muslime in Deutschland, 2011, S. 16. 2  Vgl. Mückl, Trennung und Kooperation, in: Kämper / Thönnes (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, 2007, S. 51. 3  Vgl. Ghadban / Troll / Wielandt, Vorwort, in: Felix Körner, Alter Text neuer Kontext, 2006, S. 7. 4  s.  Ghadban / Troll / Wieland, Vorwort, in: Felix Körner, Alter Text neuer Kontext, 2006, S. 7. 5  So etwa Ayyub Axel Köhler, von 2006 bis 2010 Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland, vgl. ders., Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht, Ein Begriffsstreit und seine religionspolitischen Konsequenzen, in: Johannes Goldenstein (Hrsg.), Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht, 2009, S. 153 (156).

26

A. Einführung

konsens“. Kernfragen dieser Arbeitsgruppe sind der Schutz der Grundrechte, der Säkularität als Ordnungsprinzip sowie der demokratischen Willensbildung.6 Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes leben in Deutschland 1.7 Mio. Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit und stellen mit 25,4 % innerhalb der Gesamtausländerzahl die größte ausländische7 Minderheit in Deutschland.8 Einen Antwortansatz zur oben beschriebenen Fragestellung in Bezug auf Muslime aus der Türkei bietet die Betrachtung des verfassungsrechtlichen Verhältnisses von Staat und Islam in der Türkei sowie des türkisch-islamischen Diskurses dazu. Die Türkei ist qua Verfassung eine laizistische Republik.9 Gleichwohl wird in der Türkei der Islam durch das Präsidium für Religionsangelegenheiten verwaltet. Zudem ist der sunnitisch-islamische Religionsunterricht an Schulen Pflichtfach. Gleichzeitig fordern Muslime in der Türkei mehr Freiheit für den Islam. Dieser Ruf wirft die Frage auf, ob der Islam in der Türkei mit der Trennung von Staat und Islam vereinbar ist, sich also bloß als eine Forderung nach mehr Religionsfreiheit darstellt, oder ob es sich dabei um einen Ausdruck prinzipieller Unvereinbarkeit mit der Trennung von Staat und Islam handelt. Eine nennenswerte Analyse der türkisch-islamischen Theologie findet nach wie vor in der deutschsprachigen Islamwissenschaft nicht statt. Gegenstand verschiedentlicher Arbeiten ist überwiegend die politik- und sozialwissenschaftliche Analyse der Islamisierung durch politische Parteien und anderen gesellschaftlichen Strömungen in der Türkei. Eine Ausnahme bilden dabei die Werke von Ucar10, der zu Recht dem türkischsprachigen Raum in der deutschen Islamwissenschaft ein „stiefkindliches Dasein“ attestiert11,

6  Vgl. im Internet unter: http: /  / www.deutsche-islam-konferenz.de / cln_092 / nn_ 1318820 / SubSites / DIK / DE / Startseite / home-node.html?__nnn=true (zuletzt aufgerufen am 28.05.2012). 7  Nicht berücksichtigt sind dabei Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG mit türkischem Migrationshintergrund, s. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2008, Für die Bundesrepublik Deutschland, 2008, S. 32. 8  Stichtag ist der 31.12.2007, vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2008, Für die Bundesrepublik Deutschland, 2008, S. 47. 9  Einen Vergleich der Staatsverständnisse zwischen Deutschland, dem Osmanischen Reich und der Türkei findet sich in der Dissertation von Yildiz, Ein Staatsvergleich zwischen Deutschland, Großbritannien, dem Osmanischen Reich und der Türkei, 2007. 10  s.  Ucar, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft, 2005. 11  Für das ausklammern der türkischen Islamwissenschaft nennt er beispielhaft Krämer, Gottes Staat als Republik – Reflexion zeitgenössischer Muslime zum Islam, Menschenrechte und Demokratie, 1999, s. Ucar, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft, 2005, s. S. 27, Fn. 29.



I. Anlass und Ziel27

Körner12 sowie Agai13. In seinem Werk vermittelt Ucar sowohl einen Überblick über die Entwicklung der türkischen Theologie vom Osmanischen Reich bis zur Republik Türkei als auch einen Überblick über das „Who is Who?“ des islamischen Diskurses in der Türkei. Dabei ist gerade mit Blick auf den türkeistämmigen Bevölkerungsanteil in Deutschland die Analyse des türkisch-islamischen Diskurses für Deutschland von besonderer Bedeutung. Hinzu kommt, dass das religionsverfassungsrechtliche Staatsgebilde der Türkei vergleichbare Fragen im Umgang mit dem Islam im öffentlichen Raum aufruft, wie sie gegenwärtig in Deutschland bestehen. Die Türkei hat im Umgang mit dem Islam gegenüber Deutschland einen Erfahrungsvorsprung und kann insoweit hinsichtlich der Fragestellungen für Deutschland ein Lehrbeispiel darstellen.14 In ihrer Erklärung im Rahmen des 2. Vatikanischen Konzils anerkennt die katholische Kirche die wechselseitige Unabhängigkeit von Staat und Kirche sowie die Religionsfreiheit als Grundrecht.15 Auch die evangelische Kirche erklärte in der sog. Demokratie-Denkschrift des EKD im Jahre 1985 die Anerkennung der Religionsfreiheit und darüber hinaus das Bekenntnis zur Staatsform der Demokratie.16 Mithin stellt sich die Frage, „ob im Islam eine parallele Entwicklung, eine Art Nachvollzug der Entwicklung, wie sie namentlich in der katholischen Kirche [und der evangelischen Kirche] stattgefunden hat, ohne Selbstaufgabe möglich erscheint“17. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, festzustellen, ob nach Ansicht der türkisch-islamischen Theologie der Islam mit der Trennung von Staat und Religion am Maßstab des deutschen Religionsverfassungsrechts vereinbar ist und ob eine parallele Entwicklung, wie sie die beiden Großkirchen in Deutschland vollzogen haben, auch im türkischen Islam vollzogen wurde oder jedenfalls vollziehbar ist.

12  Vgl. Körner, Alter Text – neuer Kontext: Koranhermeneutik in der Türkei heute, 2006. 13  Vgl. Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, Das Bildungsnetzwerk um Fethullah Gülen (geb. 1938): Die flexible Umsetzung modernen islamischen Gedankenguts, 2004. 14  Zu einer ähnliche Einschätzung kommt auch Ucar, vgl. ders., Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft, 2005, S. 35. 15  Vgl. Mückl, Trennung und Kooperation, in: Kämper / Thönnes (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, 2007, S. 41 (51). 16  Vgl. Mückl, Trennung und Kooperation, in: Kämper / Thönnes (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, 2007, S. 41 (51). 17  Böckenförde, Der säkularisierte Staat, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 11 (39).

28

A. Einführung

II. Methodik und Vorgehen Zur Beantwortung der oben beschriebenen Fragestellung verfolgt die vorliegende Arbeit einen am deutschen Religionsverfassungsrecht angelegten rechtsvergleichenden Ansatz. Dabei wird in einem ersten Schritt das deutsche Religionsverfassungsrecht unter besonderer Berücksichtigung der Stellung des Islams untersucht, wobei der historische Säkularisationsprozess vorangestellt wird. Diese Vorgehensweise ermöglicht sowohl einen Vergleich der Säkularisationsprozesse beider Länder als auch einen Vergleich ihrer religionsverfassungsrechtlichen Systeme, der Rechtsstellung des Islams in ausgewählten Teilbereichen, die in der Türkei besonders umstritten sind und zugleich rechtsvergleichend herangezogenen werden können, sowie eine Einordnung der Forderungen der türkisch-islamischen Theologie im Sinne der oben beschriebenen Fragestellung. Nicht beabsichtigt ist eine eigenständige exegetische Erörterung des islamischen Rechtes selbst. Vielmehr geht es darum, die Ansichten der in der Türkei gesellschaftlich anerkannten Personen und Einrichtungen zum säkularen Staat auszuwerten und einem Ergebnis im Sinne der oben beschriebenen Fragestellung zuzuführen.

B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland I. Der Säkularisationsprozess in Deutschland 1. Säkularisation: Begriff und Bedeutung Die Begriffe Säkularisation und Säkularisierung werden in der Literatur häufig synonym verwendet.1 Im Allgemeinen bezeichnet Säkularisation den „(…) Entzug oder die Entlassung einer Sache, eines Territoriums oder einer Institution aus kirchlich-geistlicher Observanz und Herrschaft.“2 Der Begriff soll im Mai 1646 als „secularisieren“ zuerst in Münster während der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden „(…) aus dem Munde des französischen Gesandten Longueville, der damit die zur Verhandlungen stehende Liquidation geistlicher Herrschaft bezeichnete, der Stifte, Bistümer zum Opfer fielen“3, gefallen sein.4 Davon zu unterscheiden ist die Säkularisation nach kanonischem Recht, welches das ältere kirchenrechtliche Institut der erlaubten Rückkehr aus der Ordensgenossenschaft in die „Welt“ beschreibt.5 Ausgehend davon erwuchs der Begriff seit dem 19. Jh. zu einem „(…) allgemeinen geisteswissenschaftlichen Zentralbegriff, der die Entwicklung der Neuzeit insgesamt charakterisieren soll“.6 Der säkularisierte Staat indessen bezeichnet einen Staat, dessen Grundlage und Fundament nicht die 1  s.  Binder, „Säkularisation“, in: Gerhard Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. XXIX, 1998, S. 597 (597). 2  Lübbe, Säkularisierung, 1975, S. 23. 3  Lübbe, Säkularisierung, 1975, S. 23, 24. 4  s.  Heckel, Das Säkularisierungsproblem in der Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts, in: Gerhard Dilcher / Ilse Staff (Hrsg.), Christentum und modernes Recht, 1. Aufl. (1984), S. 35 (35). 5  Vgl. Lübbe, Säkularisierung, 1975, S. 25; zur Diskrepanz zwischen Begriffsund Sachgeschichte s. Heckel, Das Säkularisierungsproblem in der Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts, in: Gerhard Dilcher / Ilse Staff (Hrsg.), Christentum und modernes Recht, 1. Aufl. (1984), S. 35 (38 ff.); bei Germann ist in diesem Zusammenhang das 16. Jh. als erste Begriffsverwendung genannt, s. Germann, „Säkularisation“, in: Axel von Campenhausen  /  Ilona Riedel-Spangenberger  /  P. Reinhold Sebott SJ (Hrsg.), Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht, Bd. 3, 2004, S. 488 (488), Sp. 1. 6  Heckel, Das Säkularisierungsproblem in der Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts, in: Gerhard Dilcher  /  Ilse Staff (Hrsg.), Christentum und modernes Recht, 1. Aufl. (1984), S. 35 (35).

30

B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

Religion ist.7 Danach sind Staat und Religion grundsätzlich getrennt, der Staat hat und vertritt keine Religion.8 Der säkularisierte Staat agiert und versteht sich als religionsneutral, was dreierlei zur Folge hat:9 Erstens, der Staat identifiziert sich mit keiner Religion, zweitens, er gibt der Religion Raum zur eigenen Entfaltung und drittens, er verwehrt der Religion den Zugriff auf staatliche Institutionen und Ämter sowie dem Staat eine Abkehr vom Prinzip der religiösen Neutralität.10 2. Die Entstehung der christlichen Theokratie im Römischen Reich Die Religion im Römischen Reich war gekennzeichnet durch die Formel „do ut des“.11 Diese Formel bezeichnete eine Art Tauschhandel mit den Göttern im Römischen Reich.12 Durch Erbringung von Opfergaben wurde die Gunst der Götter erkauft, um Frieden und Wohlfahrt des Römischen Reiches sicherzustellen.13 Die den nationalen Kult dienenden religiösen Einrichtungen waren Angelegenheiten des Staates.14 Auf Basis des gemeinsamen Götterkultes wurde die Einheit des Reiches gewährleistet.15 Auf diesem Wege wurde „(…) ein unsichtbares, aber enges Band um alle Bürger geschlagen (…)“16 Das Christentum entsprach nicht der „do ut des“-Formel des Römischen Reiches und wurde durch seine Verbreitung zunehmend zum politischen Problem für das Römische Reich.17 Die Absage der Christen an den Götterkult galt als Verweigerung der Bürgerpflichten und stellte eine Gefahr für den Frieden, die Wohlfahrt und die Einheit des Reiches dar.18 7  s.  Böckenförde, Der säkularisierte Staat, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2007, S. 11 (12). 8  s.  Böckenförde, Der säkularisierte Staat, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2007, S. 11 (12). 9  s.  Böckenförde, Der säkularisierte Staat, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2007, S. 11 (14). 10  s. Böckenförde, Der säkularisierte Staat, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2007, S. 11 (12). 11  s.  Berkhof, Kirche und Kaiser, 1947, S. 15. 12  s.  Berkhof, Kirche und Kaiser, 1947, S. 15. 13  s.  Berkhof, Kirche und Kaiser, 1947, S. 15. 14  s.  Listl, Kirche im freiheitlichen Staat, Bd. 2, 1996, S. 1073. 15  Vgl. Berkhof, Kirche und Kaiser, 1947, S. 15. 16  Berkhof, Kirche und Kaiser, 1947, S. 15; vgl. auch Listl, Kirche im freiheit­ lichen Staat, Bd. 2, 1996, S. 1074. 17  Vgl. Berkhof, Kirche und Kaiser, 1947, S. 28 ff.; Hense, Das Verhältnis von Staat und Religion-eine katholische Betrachtung, in: Johannes Goldenstein (Hrsg.), Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht?, 2009, S. 105 (107). 18  s.  Berkhof, Kirche und Kaiser, 1947, S. 30.



I. Der Säkularisationsprozess in Deutschland31

Das Christentum hielt der Verfolgung stand, was als göttliches Zeichen gedeutet wurde und im ersten Edikt des Jahres 311 n. Chr. zur Anerkennung durch die Regenten des Römischen Reiches führte.19 Im Jahre 313 n. Chr. folgte ein zweites Edikt (das Mailänder Abkommen oder sog. Toleranzedikt), das auf dem Edikt des Jahres 311 n. Chr. aufbaut und als die sog. Konstantinische Wende bezeichnet wird.20 Das Christentum erhielt die Anerkennung und Gleichberechtigung mit anderen Kulturen und die Freiheit öffentlicher Wirksamkeit.21 Schließlich erklärte im Jahre 380 n. Chr. Kaiser Theodosius das Christentum zur Staatsreligion.22 „In der Förderung lag eben auch Beherrschung.“23 „Eine Staatskirche und eine orthodoxe Reichsideologie als Bürgerpflicht – diese Struktur gleicht dem Verhältnis von Staat und Religion im heidnischen Römischen Reich wie ein Tropfen Wasser dem anderen. Nur die Religion ist eine andere. Aber gar so anders ist sie nicht. Und die christliche Religion ist vom Staat in den Dienst seiner Selbstbehauptung gestellt worden. Auch jetzt geht es dem Staat wieder um das do ut des, um die Erringung der Gunst des Himmels und um die Stärkung der Reichseinheit durch eine gemeinsame, vorgeschriebene Ideologie.“24

Ganz im Einklang mit dem „do ut des“-Prinzip nahmen die Kaiser auch gegenüber der christlichen Kirche die gleichen Rechte in Anspruch, die sie gegenüber den heidnischen Kulten ausgeübt hatten.25 Sie erließen für die Kirche geltende Gesetze, beriefen Synoden und Konzilien ein und bestimmten in Glaubensfragen.26 Bereits nach der Anerkennung des Christentums durch das Römische Reich entstand ein erster Unmut über die Einmischung des Staates in die Angelegenheiten der Religion, wie aus dem Brief der 19  s.  Berkhof, Kirche und Kaiser, 1947, S. 49, 50; von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 4. 20  s.  Berkhof, Kirche und Kaiser, 1947, S. 50  ff.; von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 4, 5; Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Auf. (2008), S. 28. 21  s.  Hense, Das Verhältnis von Staat und Religion-eine katholische Betrachtung, in: Johannes Goldenstein (Hrsg.), Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht?, 2009, S. 105 (107). 22  s.  Berkhof, Kirche und Kaiser, 1947, S. 63; Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 23; von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 5; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1513, 1514, Rn. 1. 23  Hense, Das Verhältnis von Staat und Religion-eine katholische Betrachtung, in: Johannes Goldenstein (Hrsg.), Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht?, 2009, S. 105 (107). 24  Berkhof, Kirche und Kaiser, 1947, S. 81, 82. 25  Vgl. von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4.  Aufl. (2006), S. 5; s. Listl, Kirche im freiheitlichen Staat, Bd. 2, 1996, S. 1074. 26  s.  von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4.  Aufl. (2006), S.  5; s. Listl, Kirche im freiheitlichen Staat, Bd. 2, 1996, S. 975.

32

B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

Synode von Sardica aus dem Jahre 342 n. Chr. an die Kaiser Konstans und Konstantius zu entnehmen ist, in dem die Freiheit der Kirche gefordert,27 nicht aber die Suprematie der geistlichen über die weltliche Herrschaft beansprucht wurde: „Möge Euer Gnaden dafür besorgt sein und verfügen, daß überall alle Statthalter, denen die Verwaltung der Provinzen anvertraut ist, und deren Befugnis sich allein darauf erstreckt, sich der Sorge um die staatliche Angelegenheiten zu widmen, die Einmischung in religiöse Dinge unterlassen und nicht länger in anspruchsvoller Anmaßung meinen, die Rechtssachen der Geistlichen untersuchen zu dürfen.“28

Die im vierten Jahrhundert erhobene Forderung über die „Freiheit der Kirche“29 wirkte über die Jahrhunderte fort30 und gewann als religiös-politisches Einheitsdenken kirchenintern an Größe.31 In der mittelalterlichen Kirchengeschichte Deutschlands fand dieses Fortwirken im sog. Investiturstreit seinen Ausdruck.32 3. Der geschichtliche Säkularisationsprozess a) Einleitung Der Freiheitsruf der Kirche richtete sich im antiken Christentum als Appell an die Staatsmacht. Im Mittelalter geht dieser Freiheitsruf dann über einen Appell hinaus. Er geht als gedankliches Gebilde der Theologie in die Ideenwelt des Mittelalters der Art ein, dass er den Säkularisationsprozess von Staat und Kirche einleitete, wenngleich dieses nicht Ziel der Kirche war. Dieser Säkularisationsprozess vollzog sich in Deutschland dreistufig:33 Investiturstreit, Religionskriege und Auswirkungen der Französische Revolution.34

27  s.  Berkhof,

Kirche und Kaiser, 1947, S. 125. nach Berkhof, Kirche und Kaiser, 1947, S. 125, 126. 29  Dieses sog. Schlagwort wurde benutzt, um die Unabhängigkeit der Kirche und gegenüber der weltlichen Gewalt zu erreichen, vgl. Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1514, Rn. 2. 30  Vgl. Berkhof, Kirche und Kaiser, 1947, S. 142. 31  s.  Mikat, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach der Lehre der katholischen Kirche, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 4, S. 111 (127). 32  Vgl. Berkhof, Kirche und Kaiser, 1947, S. 142; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1514, Rn. 2. 33  Vgl. Schlink, Vergewisserung, 2005, S. 97. 34  s.  Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 23. 28  Zitiert



I. Der Säkularisationsprozess in Deutschland33

b) 1. Stufe: Investiturstreit Mit dem Investiturstreit in den Jahren 1057–1122 bricht die „religiöspolitische Einheitswelt“ auf.35 Den theologischen Ansatz lieferte Augustinus mit seinem Werk „De civitate Dei“.36 Neben den Freiheitsruf der Christenheit, der bereits in der Antike aufkam,37 tritt nun auch die Idee der Superiorität des Geistlichen.38 Bis zu diesem Zeitpunkt waren Kaiser und Papst gleichberechtigte geheiligte Repräsentanten einer „religiös-politischen Einheitswelt“.39 Was sich aber nun zusätzlich vollzog, stellt sich als ein Sturz des Kaisers von seiner Geistlichkeit dar.40 Fortan ist er nur noch weltlicher Herrscher und in geistlichen Angelegenheiten Laie.41 Gleichzeitig unterstand er jedoch als christlicher Herrscher der Weltlichkeit den christlichen Geboten, deren Auslegung Angelegenheit der Geistlichkeit war.42 Damit war die Suprematie der Geistlichkeit gegenüber der Weltlichkeit theologisch manifestiert. Die weltliche Herrschaft war prinzipiell säkularisiert.43 Der Papst war Herrscher in geistlichen und weltlichen Angelegenheiten. Während der Papst das Schwert der geistlichen Herrschaft in 35  s.  Hense, Das Verhältnis von Staat und Religion-eine katholische Betrachtung, in: Johannes Goldenstein (Hrsg.), Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht?, 2009, S. 105 (107); Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1966, S. 38; Böckenförde Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 43, (46, 48); Schlink, Vergewisserung, 2005, S. 97; Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 24. 36  s.  Mikat, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach der Lehre der katholischen Kirche, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 4, S. 111 (127). 37  s. B. I. 2. 38  s.  Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 43 (50 ff.); von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 7; Mikat, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach der Lehre der katholischen Kirche, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 4, S. 111 (127). 39  s.  Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 43 (46). 40  s.  Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 43 (49). 41  s.  Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 43 (49). 42  s.  Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 43 (50). 43  s.  Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 43 (51); dazu tendenziell eher kritisch ­Heckel, s. ders., Das Säkularisierungsproblem in der Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts, in: Gerhard Dilcher / Ilse Staff (Hrsg.), Christentum und modernes Recht, 1. Aufl. (1984), S. 35 (41).

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

eigener Hand und Regie führte, lag das Schwert der weltlichen Herrschaft zwar in der des weltlichen Herrschers, dieser unterlag aber der Regie der Kirche.44 Hierbei spielte die sog. „Zwei-Schwerter-Lehre“45 eine entscheidende Rolle.46 Das Wormser Konkordat von 1122 besiegelt schließlich das Ende des Investiturstreits47 und „(…) lässt sich als eine frühe Regelung staatskirchenrechtlichen Charakters verstehen“.48. Die Emanzipation der Kirche von der Bevormundung durch den weltlichen Herrscher wurde durch den Verzicht des Kaisers auf die Laieninvestitur durchgesetzt.49 Die weltliche Obrigkeit wurde durch das kanonische Recht zum „Vollstreckungs- und Schutzorgan“ der Kirche.50 c) 2. Stufe: Konfessionskriege Die Konfessionskriege im 16. und 17. Jh. legten den Grundstein für die zweite Stufe im Säkularisationsvorgang.51 Die Glaubensspaltung war Wirklichkeit geworden.52 Das im Gezerre um die Laieninvestitur entwickelte theologische Konzept verlangte vom weltlichen Herrscher die politische Unterdrückung des religiösen Irrtums und die Bestrafung der Häretiker und Ketzer.53 Doch der Streit um die Wahrheit im Glauben konnte weder theologisch 44  s.  Mikat, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach der Lehre der katholischen Kirche, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 4, S. 111 (129); von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 7; s.  Hense, Das Verhältnis von Staat und Religion-eine katholische Betrachtung, in: Johannes Goldenstein (Hrsg.), Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht?, 2009, S. 105 (108). 45  „Sie aber sprachen: Herr, siehe, hier sind die zwei Schwerter. Er aber sprach zu ihnen: Es ist genug.“, Lukas 22, 38, zitiert nach Mikat, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach der Lehre der katholischen Kirche, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 4, S. 111 (128). 46  s.  Mikat, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach der Lehre der katholischen Kirche, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 4, S. 111 (128). 47  s.  Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 24. 48  Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd.  3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1514, Rn. 2. 49  s.  Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 25. 50  s.  von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 9. 51  Vgl. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 54; Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1966, S. 41; Schlink, Vergewisserung, 2005, S. 98. 52  Vgl. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 54. 53  Vgl. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 54.



I. Der Säkularisationsprozess in Deutschland35

noch durch Krieg entschieden werden.54 Es stellte sich die Frage, ob ein Miteinander verschiedener Konfessionen in einer politischen Ordnung möglich ist oder ob die Glaubenseinheit notwendige Bedingung für das Zusammenleben ist.55 Erst die Erkenntnis, nicht mehr „Exekutions­beam­ten“56 der Geistlichkeit sein zu wollen, machte eine Befriedung des bis dahin chronisch gewordenen Glaubenskrieges, der politisch blutig ausgetragen wurde, möglich. Nunmehr sollte die Emanzipation der weltlichen Herrschschaft einen Frieden ermöglichen. Das Nebeneinander der verfeindeten Theologien wurde erst durch die Säkularisierung des Rechts möglich.57 Der Krieg um den wahren Glauben wurde rechtspolitisch zunächst mit dem Augsburger Religionsfrieden58 1555 durch die Konfessionalisierung („cuius regio, eius religio“, später „ius reformandi“) der Länder innerhalb des religionsneutralen Reiches befriedet.59 Diese aus der Not geborene Säkularisierung der nur formal-politischen, nicht aber geistig-inneren Reichseinheit durch das Zerreißen des theologischen Einheitsbandes brachte die mittelalterlich-dogmatische Vorstellung von der Einheit von Kirche, Reich und Recht unwiederbringlich zu Fall.60 Der Dreißigjährige Krieg führte zu einer Bestätigung und Weiterentwicklung der im Augsburger Religionsfrieden immanenten Konfessionalisierung der Territorialstaaten im Westfälischen Frieden 1648.61 Der Augsburger Religionsfrie54  s.  Heckel, Das Säkularisierungsproblem in der Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts, in: Gerhard Dilcher / Ilse Staff (Hrsg.), Christentum und modernes Recht, 1. Aufl. (1984), S. 35 (50). 55  s.  Hense, Das Verhältnis von Staat und Religion-eine katholische Betrachtung, in: Johannes Goldenstein (Hrsg.), Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht?, 2009, S. 105 (108). 56  Vgl. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 56. 57  Vgl. Heckel, Das Säkularisierungsproblem in der Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts, in: Gerhard Dilcher / Ilse Staff (Hrsg.), Christentum und modernes Recht, 1. Aufl. (1984), S. 35 (50). 58  Der Begriff Religionsfrieden täuscht darüber hinweg, dass es sich eigentlich nur um einen politischen Frieden gehandelt hat, wohingegen der Kampf um den wahren Glauben durch den „Religionsfrieden“ theologisch nicht besiegelt wurde, s.  Heckel, Vom Religionskonflikt zur Ausgleichsordnung, 2007, S. 13. 59  s.  Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 26; s. Heckel, Das Säkularisierungsproblem in der Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts, in: Gerhard Dilcher / Ilse Staff (Hrsg.), Christentum und modernes Recht, 1. Aufl. (1984), S. 35 (55); Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1514, 1515, Rn. 3. 60  Vgl. Heckel, Das Säkularisierungsproblem in der Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts, in: Gerhard Dilcher / Ilse Staff (Hrsg.), Christentum und modernes Recht, 1. Aufl. (1984), S. 35 (51). 61  s.  Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 27; von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 11, 12; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1515, Rn. 4.

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

de in seiner Weiterbildung durch den Westfälischen Frieden gilt als das wichtigste Verfassungsgesetz des Alten Reiches bis 1806 und „(…) schuf im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation eine – von den französischen Aufklärern beneidete – Ausgleichsordnung religiöser Freiheit und Gleichheit, indes die westlichen Nationalstaaten eine lange Phase des Absolutismus und des Religionszwangs durchliefen“.62 Das mit dem Westfälischen Frieden hervorgebrachte „Friedensinstrument von Osnabrück“ (Instrumentum Pacis Osnabrugense) führte die Parität beider Konfessionen der Art ein, „(…) dass das, was für den einen Teil Recht ist, auch für den anderen Teil Recht [ist]“.63 Darüber hinaus wurden ein Diskriminierungsverbot wegen des Bekenntnisses und eine paritätische Besetzung des Reichskammergerichts und des Reichshofrates festgeschrieben.64 d) 3. Stufe: Französische Revolution Den dritten Schritt markiert die Französische Revolution.65 Der Staat steht nach seiner mittelalterlichen Teilemanzipation als Folge der Religionskriege nicht mehr im Dienst der religiösen Wahrheit.66 Er will nicht nur nicht das Exekutivorgan des Religiösen sein, er will vielmehr überhaupt nicht religiös sein. Damit schließt er seinen im Mittelalter begonnenen Emanzipationsprozess ab und vervollständigt diesen durch seine Entkonfessionalisierung. Im 19. Jh. entwickelten sich die deutschen Nationalstaaten von einem Konfessionsstaat zu einem „(…) System allgemeiner religiöser Freiheit und Gleichheit (…)“.67 Seine Basis ist der religiös emanzipierte profane Mensch.68 Der religionsneutrale Staat besteht nur noch zur Sicherung und Erhaltung der Freiheiten, einschließlich der Religionsfreiheit.69 Diese Religionsblindheit des Staates bezweckt nicht die Auflösung der Re-

62  Heckel,

Vom Religionskonflikt zur Ausgleichsordnung, 2007, S. 10. in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1515, Rn. 4. 64  s.  Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1515, Rn. 4. 65  s.  Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 43 (64). 66  Vgl. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 43 (64). 67  Heckel, Vom Religionskonflikt zur Ausgleichsordnung, 2007, S. 43. 68  s.  Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 43 (64). 69  s.  Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 43 (64). 63  Morlok,



I. Der Säkularisationsprozess in Deutschland37

ligiosität des Einzelnen.70 Der Weg für die weltliche Wirksamkeit des Religiösen über die Vermittlung des religiösen Einzelnen blieb offen.71 4. Ausgewählte Religionen in Deutschland zum säkularen Staat a) Katholische Kirche Die katholische Kirche lehnte bis ins 20. Jh. die im Zuge des Säkularisationsprozesses hervorgebrachte Religionsfreiheit als Teil der staatlichen Rechtsordnung ab.72 Bis ins 19. Jahrhundert wurden die Ideen der Französischen Revolution durch die päpstliche Lehre verworfen.73 Der „Syllabus errorum“ bewertet die Trennung von Staat und Kirche ebenso wie die Idee der Religionsfreiheit als Irrlehre.74 Erst später wurde die Religionsfreiheit als ein zu tolerierendes Übel erklärt, das um höherer Güter willen akzeptiert werden könne:75 „Was nicht der Wahrheit und dem Sittengesetz entspricht, hat objektiv kein Recht auf Dasein, Propaganda und Aktion. Nicht durch staatliche Gesetze und Zwangsmaßnahmen einzugreifen, kann trotzdem im Interesse eines höheren und umfassenderen Gutes gerechtfertigt sein.“76

Im Rahmen des 2. Vatikanischen Konzils (11.10.1962–08.12.1965) mit seinen insgesamt 16 Dokumenten hat die katholische Kirche ihr bis heute gültiges ekklesiologisches Selbstverständnis grundlegend formuliert.77 70  s.  Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 43 (68). 71  s.  Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 43 (68, 69). 72  s.  Böckenförde, Der säkularisierte Staat, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 11 (21). 73  s.  Hense, Das Verhältnis von Staat und Religion-eine katholische Betrachtung, in: Johannes Goldenstein (Hrsg.), Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht?, 2009, S. 105 (108, 109). 74  s.  Hense, Das Verhältnis von Staat und Religion-eine katholische Betrachtung, in: Johannes Goldenstein (Hrsg.), Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht?, 2009, S. 105 (109); s. Listl, Kirche im freiheitlichen Staat, Bd. 2, 1996, S. 976. 75  s.  Böckenförde, Der säkularisierte Staat, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 11 (21). 76  Toleranzansprache von Papst Pius XII. von 1952, zitiert nach Hense, Das Verhältnis von Staat und Religion – eine katholische Betrachtung, in: Johannes Goldenstein (Hrsg.), Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht?, 2009, S. 105 (112). 77  s.  Listl, Kirche im freiheitlichen Staat, Bd. 2, 1996, S. 989.

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

Mit der Erklärung des 2. Vatikanischen Konzils zur Religionsfreiheit78 (Dignitatis humanae) erkannte die katholische Kirche die Religionsfreiheit als in der Freiheitsnatur und der Würde der menschlichen Person angelegtes Recht an.79 Mit dem Wahrheitsanspruch in Einklang gebracht wurde das Bekenntnis zur Religionsfreiheit durch die Annahme, dass das Bekenntnis zum staatlichen Grundrecht der Religionsfreiheit nicht zugleich ein Bekenntnis zur religiösen Indifferenz einschließe.80 Religionsfreiheit meint dem Konzilsdokument zufolge die individuelle Religionsfreiheit, auch Religionsausübungsfreiheit, sowie deren korporative Dimension.81 Daneben betont das 2. Vatikanische Konzil die Eigenständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat und die gegenseitige Unabhängigkeit von kirchlicher und staatlicher Gewalt und bekennt sich andererseits zu einer engen, sachorientierten und partnerschaftlichen Kooperation (Gaudium et Spes).82 Darin ist eine Abkehr von der Idee des konfessionellen Staates und zugleich ein Bekenntnis zum religiös neutralen Staat zu sehen.83 Die „(…) Diskussion um die Forderung nach Trennung von Kirche und Staat (…) [ist] heute auch innerhalb der katholischen Kirche von einer neuen theologischen und soziologischen Dimension bestimmt, in der es nicht mehr um ‚Einheit‘ und ‚Trennung‘, sondern um Kooperation und Einbeziehung der Kirche in den Kreis der öffentlichen Kräfte (…) geht“.84 Gleichwohl kann konstatiert werden, dass die katholische Kirche mit ihrer Dignitatis humanae keineswegs sämtliche innerkirchlichen Gruppen überzeugt hat.85 So gibt es mit der Lefebvre-Bewegung, namentlich der Pries78  2308 Ja-Stimmen bei 70 Nein-Stimmen, s. Hense, Das Verhältnis von Staat und Religion-eine katholische Betrachtung, in: Johannes Goldenstein (Hrsg.), Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht?, 2009, S. 105 (115). 79  Vgl. Hense, Das Verhältnis von Staat und Religion-eine katholische Betrachtung, in: Johannes Goldenstein (Hrsg.), Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht?, 2009, S. 105 (105); Böckenförde, Der säkularisierte Staat, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 11 (21); Mikat, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach der Lehre der katholischen Kirche, in: Joseph Listl  /  Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 4, S. 111 (136). 80  s.  Listl, Kirche im freiheitlichen Staat, Bd. 2, 1996, S. 979. 81  s.  Listl, Kirche im freiheitlichen Staat, Bd. 2, 1996, S. 972. 82  s.  Listl, Kirche im freiheitlichen Staat, Bd. 2, 1996, S. 955. 83  s.  Listl, Kirche im freiheitlichen Staat, Bd. 2, 1996, S. 974; Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (2008), S. 53. 84  Mikat, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach der Lehre der katholischen Kirche, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994, § 4, S. 111 (134); vgl. auch Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (2008), S. 52. 85  s.  Hense, Das Verhältnis von Staat und Religion-eine katholische Betrachtung, in: Johannes Goldenstein (Hrsg.), Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht?, 2009, S. 105 (105).



I. Der Säkularisationsprozess in Deutschland39

terbruderschaft St. Pius X., innerhalb des Katholizismus Strömungen, welche in dem Zweiten Vatikanum Verrat an der kirchlichen Tradition erblicken.86 Das Zweite Vatikanum wird mit Blick auf die päpstlichen Stellungnahmen des 19. Jahrhunderts zu einem unverbindlichen Pastoralkonzil abgewertet.87 Dabei war die Berufung auf die Religionsfreiheit, die erst durch die Dignitatis humanae theologisch anerkannt wurde, für Johannes Paul II. in einem „katholisch Land“88 „Angriffsparole“ gegen die den Atheismus predigende Staatlichkeit.89 Der Staat soll nach katholischem Verständnis, wie es in der Dignitatis humanae erklärt wird, nicht laizistisch-atheistisch sein, sondern die Religionen in ihrer Pluralität in die staatliche Ordnung integrieren.90 b) Evangelische Kirche Zur Frage von Kirche und Staat gibt es nicht „das“ evangelische Verständnis.91 Es fehlt insoweit an theologischer und politischer Einigkeit und man ist im Hinblick auf die Gegensätze über das Verhältnis von Kirche und Staat um einen Konsens bemüht.92 Über die Bejahung des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats durch den Protestantismus gab es sowohl in der Weimarer Epoche als auch unter dem Grundgesetz Zweifel.93 Erst die auf der Trierer EKD-Synode vom November 1985 angenommene Demokratie86  s.  Hense, Das Verhältnis von Staat und Religion-eine katholische Betrachtung, in: Johannes Goldenstein (Hrsg.), Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht?, 2009, S. 105 (105). 87  s.  Hense, Das Verhältnis von Staat und Religion-eine katholische Betrachtung, in: Johannes Goldenstein (Hrsg.), Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht?, 2009, S. 105 (105). 88  Mit „katholischem Land“ in diesem Zusammenhang dürfte Polen gemeint sein. 89  s.  Hense, Das Verhältnis von Staat und Religion-eine katholische Betrachtung, in: Johannes Goldenstein (Hrsg.), Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht?, 2009, S. 105 (106). 90  s.  Hense, Das Verhältnis von Staat und Religion-eine katholische Betrachtung, in: Johannes Goldenstein (Hrsg.), Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht?, 2009, S. 105 (114). 91  s.  Heckel, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach evangelischem Verständnis, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 5, S. 157 (158). 92  s.  Heckel, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach evangelischem Verständnis, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 5, S. 157 (158). 93  s.  Heckel, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach evangelischem Verständnis, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 5, S. 157 (163, 164).

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

Denkschrift94 brachte Klarheit und zeigt das evangelische Verständnis vom Verhältnis von Staat und Kirche.95 In ihrer Denkschrift bestätigt die evangelische Kirche die Trennung von Staat und Kirche, die Neutralität des Staates und die individuelle und kollektive Religionsfreiheit.96 Der freiheitliche und demokratische Verfassungsstaat wird bejaht.97 Die Prinzipien der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie weisen nach Auffassung der evangelischen Kirche in Deutschland eine große Nähe zum Menschenbild des Christentums auf.98 Der demokratische Staat nimmt dabei seine Funktion nicht als Obrigkeit, sondern durch eine Ordnung politischer Herrschaft, die von den Bürgern mitzugestalten ist, wahr.99 Religion ist daher nach Auffassung der evangelischen Kirche in Deutschland nicht Privatsache, vielmehr tragen Christen eine politische Mitverantwortung.100 c) Muslime in Deutschland Die Geschichte des Islams in Deutschland beginnt nicht erst mit der Anwerbung muslimischer Arbeitnehmer aus der Türkei und anderen Ländern, sondern geht zurück bis zu den sog. Türkenkriegen auf europäischem Boden im 16. und 17. Jahrhundert, in deren Folge muslimische Kriegsgefangene nach Deutschland kamen.101 Die Frage, wie sich Muslime in Deutschland zum säkularisierten deutschen Staat verhalten, ist ungeachtet dessen eine vergleichsweise junge, die erst im Zuge der Einwanderung muslimischer Gastarbeiter seit Ende des 20. Jahrhunderts praktische und rechtliche Relevanz gewann. Die in Deutschland lebenden Muslime kommen aus nahezu allen Teilen der islamischen Welt, weshalb der Islam in Deutschland kein 94  Die Denkschriften der EKD werden von ihren Kammern im Team von Theologen, Fachwissenschaftlern und Praktikern erarbeitet und dann vom Rat der EKD veröffentlicht, s. Heckel, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach evangelischem Verständnis, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 5, S. 157 (189, 190). 95  s.  Uhle, Staat – Kirche – Kultur, 2004, S. 40; Heckel, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach evangelischem Verständnis, in: Joseph Listl  /  Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 5, S. 157 (163, 164); Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (2008), S. 60. 96  s.  Uhle, Staat – Kirche – Kultur, 2004, S. 41; Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (2008), S. 60. 97  s.  Uhle, Staat – Kirche – Kultur, 2004, S. 40. 98  s.  Uhle, Staat – Kirche – Kultur, 2004, S. 40. 99  s.  Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (2008), S. 60. 100  s.  Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (2008), S. 60. 101  Ausführlich dazu Lemmen, Muslime in Deutschland, 2001, S. 17.



I. Der Säkularisationsprozess in Deutschland41

einheitliches Bild, sondern eine Vielzahl von islamischen Richtungen spiegelt.102 Im Zuge der Arbeitsmigration konnte ein nennenswerter Organisationsgrad verzeichnet werden.103 Zunächst fühlten sich weder der deutsche noch der türkische Staat für die religiösen Belange der immigrierten Muslime zuständig, was zur Folge hatte, dass sie eigenständige religiöse Strukturen zur Grundversorgung in Form von Moscheen und islamischen Vereinen schufen.104 Jedoch sind nur rund ein Fünftel der Muslime in Deutschland in muslimischen Gemeinden oder Vereinen organisiert.105 Erst in den 80er Jahren wurde der türkische Staat durch die Einrichtung der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB) Köln e.  V. aktiv.106 Die Rechtsform des eingetragenen Vereins, wie er in Art. 140 GG i.  V.  m. Art. 137 Abs. 4 WRV, § 21 BGB vorgesehen ist, ist die Organisationsform der Muslime in Deutschland.107 Dabei mussten sich Muslime auf formalorganisatorische Kriterien einlassen, die dem Wesen des Islams eher fremd sind.108 In der Regel bestehen die Aufgaben einer als eingetragener Verein organisierten muslimischen Gemeinschaft in der Ermöglichung der islamischen Religionsausübung für die Mitglieder.109 Gleichwohl richten sie ihr Angebot an alle Muslime.110 Die Zugehörigkeit zum Islam ist nicht an eine Vereinsmitgliedschaft bzw. Kirchenmitgliedschaft gekoppelt, sondern entsteht qua Geburt oder Bekenntnis.111 In vielen islamischen Vereinen sind nur wenige Muslime eingetragene Mitglieder, während weit mehr von ihnen am religiösen Vereinsleben teilnehmen.112 Grundsätzlich lassen sich daher nur schwer Angaben über die Zahl der „Mitglieder“ von islamischen Vereinen machen, solange nicht genau definiert ist, worauf sich der Begriff der Mitgliedschaft bezieht.113 Die einzelnen islamischen Vereine gehören in den 102  Die vier Hauptrichtungen in Deutschland bilden dabei die Sunniten, die Schiiten, die Aleviten und die Ahmadis, s. Lemmen, Muslime in Deutschland, 2001, S. 42. 103  s.  Lemmen, Muslime in Deutschland, 2001, S. 52. 104  s.  Lemmen, Muslime in Deutschland, 2001, S. 52, 53; Hennig, Muslimische Gemeinschaften im Religionsverfassungsrecht, 2010, S. 28. 105  s.  Hennig, Muslimische Gemeinschaften im Religionsverfassungsrecht, 2010, S. 32. 106  s.  Lemmen, Muslime in Deutschland, 2001, S. 53. 107  s.  Lemmen, Muslime in Deutschland, 2001, S. 53. 108  s.  Lemmen, Muslime in Deutschland, 2001, S. 54. 109  Dabei geht es etwa um die Schaffung von Gebetsstätten, die Durchführung von Koran- und Religionsunterricht, vgl. Lemmen, Muslime in Deutschland, 2001, S. 54. 110  s.  Lemmen, Muslime in Deutschland, 2001, S. 56. 111  s.  Lemmen, Muslime in Deutschland, 2001, S. 56. 112  s.  Lemmen, Muslime in Deutschland, 2001, S. 56. 113  s.  Lemmen, Muslime in Deutschland, 2001, S. 58.

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

allermeisten Fällen zu einem größeren islamischen Verband, der deutschlandweit oder europaweit organisiert ist.114 Zusätzlich zu den Vereinen und Verbänden haben sich in jüngerer Zeit muslimische Organisationen zu Spitzenverbänden zusammengeschlossen, um durch eine gemeinsame Interessenvertretung etwa die Einführung des islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen durchzusetzen.115 Insoweit wird vertreten, dass die Voraussetzungen zur Erlangung des öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus116 zu einer weiteren Konfessionalisierung der Muslime entlang der einzelnen Organisationen führen können.117 Die in Deutschland prominentesten Spitzenverbände sind gegenwärtig der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland und der Zentralrat der Muslime in Deutschland e. V.118 Keiner dieser Spitzenverbände kann jedoch die Repräsentierung der Gesamtheit aller Muslime in Deutschland für sich beanspruchen.119 Einerseits, weil nicht alle Muslime organisiert sind, andererseits, weil es kleinere und größere islamische Verbände gibt, die nicht dem Spitzenverband angehören.120 Beide Spitzenverbände äußern ihr Bekenntnis zum Grundgesetz.121 Einer Studie des Bundesinnenministeriums aus dem Jahre 2007 zufolge lässt sich bei ca. 10 % der in der Studie befragten Muslime eine ausgeprägte Distanz zu Grundprinzipien von Demokratie und Rechtsstaat erkennen. Sie formulieren aus einer moralischen Perspektive heraus Kritik an demokratischen Strukturen, befürworten Todes- und Körperstrafen sowie ein Primat der Religion vor Demokratie.122 5. Zwischenergebnis Die Entstehung des säkularen Staates in Deutschland stellt sich als ein säkularer Prozess dar, wenngleich der Säkularisationsvorgang durch den Streit um die sog. Laieninvestitur angestoßen wurde. Zwar führte das theologische Konstrukt von der Suprematie der geistlichen Herrschaft über die der weltli114  Dazu und zu den islamischen Organisationen im Einzelnen vgl. Lemmen, Muslime in Deutschland, 2001, S. 58 ff. 115  s.  Lemmen, Muslime in Deutschland, 2001, S. 120; Hennig, Muslimische Gemeinschaften im Religionsverfassungsrecht, 2010, S. 31 ff. 116  Wegen der sich überschneidenden Voraussetzungen auch zur Einstufung als Religionsgemeinschaft im Sinne des Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG. 117  s.  Lemmen, Muslime in Deutschland, 2001, S. 186. 118  s.  Lemmen, Muslime in Deutschland, 2001, S. 120 ff. 119  s.  Lemmen, Muslime in Deutschland, 2001, S. 121; Hennig, Muslimische Gemeinschaften im Religionsverfassungsrecht, 2010, S. 38. 120  s.  Lemmen, Muslime in Deutschland, 2001, S. 121. 121  s.  Lemmen, Muslime in Deutschland, 2001, S. 121, 123. 122  s.  Brettfeld / Wetzels, Muslime in Deutschland, 2007, S. 173.



I. Der Säkularisationsprozess in Deutschland43

chen im Rahmen des Investiturstreits eine theologische Trennung von Geistlichkeit und Weltlichkeit die religiös-politische Einheitswelt ein. Ziel dieses theologischen Konstruktes war jedoch nicht nur nicht die Trennung von Staat und Religion, vielmehr ging es um die Begründung der Autonomie und der Nichteinmischung des Staates in die Angelegenheiten der Religion. Die religiös-politische Einheitswelt sollte beibehlaten werden und zwar unter der Suprematie der Geistlichkeit. Die durch die bis dato von der Geistlichkeit und Weltlichkeit geteilte Herrschaft sollte nun in letzer Konsequenz allein der Geistlichkeit als Supremator zustehen. Der christliche Herrscher unterwirft sich dieser theologisch begründeten Suprematie der Geistlichkeit. Erst die Glaubensspaltung und die sich daran anschließenden Konfessionskriege führten zum eigentlichen weltlich begründeten Säkularisationsprozess im engene Sinne. Der Staat beginnt sich zunehmend, ausgelöst durch die unüberwindbaren Religionskonflikte, aus rationalen Beweggründen von seiner religiösen Identität zu lösen. Er begreift seine aus der Unfähigkeit erwachsene Unzuständigkeit zur Durchsetzung der religiösen Wahrheit, streift sein religiöses Gewand ab und gewinnt schließlich eine areligiöse Qualität. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob sich mit Blick auf die Konfessionskriege der Emanzipationsprozess der weltlichen Herrschaft von der geistlichen auch vollzogen hätte, ohne die Aufbrechung der religiös-politischen Einheitswelt im Zuge des Investiturstreits. Diese Frage könnte bejaht werden, wenn angenommen wird, dass die Begründung der Suprematie der Geistlichkeit über der Weltlichkeit zu einer Schwächung der weltlichen Herrschaft geführt hat und die Konfessionskriege gerade durch die weltliche Herrschaft zur Durchsetzung und im Auftrag der geistlichen Wahrheit geführt wurden. Auch ohne die oben beschriebene 1. Stufe der Säkularisation wären die Religionskriege wohl nicht ausgeblieben, deren Ursache die fehlende Toleranz und darüber hinaus die fehlende Religionsfreiheit war. Somit erscheint die 1. Stufe der Säkularisation nicht als eine notwendige Bedingung für die Entstehung des säkularen Staates in Deutschland. Vielmehr kann gesagt werden, dass sich der säkulare Staat in Deutschland trotz der Suprematie der Geistlicheit vollzogen hat. Der durch die Konfessionskriege ausgelöste Emanzipationsprozess der weltlichen Herrschaft mündet schließlich in der Gewähr säkular begründeter subjektiv-religiöser Freiheit. Die christliche Theologie folgt diesem säkular begründeten Säkularisationsprozess zunächst durch die Anerkennung der Toleranz und sodann der Religionsfreiheit und ist dem profanen Säkularisationsprozess nachgelagert. Für den Islam in Deutschland lässt sich etwas Ähnliches nicht bzw. noch nicht abschließend formulieren. Gegenwärtig gibt es schlicht keine Instanz mit entsprechender Autorität, die sich zum säkularen Staat im Namen aller Muslime und im Namen des Islam verhalten kann. Es kann somit nur auf Einzelmeinungen von Muslimen und islamischen Vereinen abgestellt werden.

44

B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

II. Das Religionsverfassungsrecht 1. Rechtsgeschichtliche Entwicklung im Überblick Der säkularisierte Staat in Deutschland entwickelte zunächst ein Staatskirchentum, in dem die Kirche als ein innerstaatlicher Verband erscheint, der nun seinerseits der staatlichen Herrschaft unterliegt.123 Nach dem Westfälischen Frieden fand die Fortentwicklung des Verhältnisses von Staat und Kirche nicht auf Reichsebene, sondern auf territorialer Ebene, differenziert nach evangelischen und katholischen Gebieten, statt.124 Landes- und Kirchenhoheit bildeten eine Einheit mit landesherrlichem Eingriffsrecht in kirchliche Angelegenheiten.125 In den evangelischen Gebieten nahmen die Landesherren infolge des Wegfalls der katholisch-universalistischen Kirchenverfassung als „Notbischöfe“ die Bischofsrechte wahr.126 Es entstand ein landesherrliches Kirchenregiment.127 Durch das Preußische Allgemeine Landrecht kommt es 1794 in Preußen zu einer umfassenden Kodifikation des Staatskirchenrechts.128 Im preußischen Staat bedeutete diese Hoheit über die Kirchen ein strenges Reglement nach dem Allgemeinen Preußischen Landrecht.129 So war etwa geduldeten Gesellschaften die freie private Ausübung des Gottesdiensts erlaubt, ohne staatliche Genehmigung konnten sie jedoch kein Eigentum an gottesdienstlichen Gebäuden erwerben, durften sich keiner Glocken bedienen und keine öffentlichen Feierlichkeiten veranstalten.130 In den katholischen Territorien entwickelte sich ein Spannungsverhältnis zwischen dem Territorialsystem und dem universalistischen Anspruch des Papsttums.131 In der Praxis kam es aber auch in den katholischen Gebieten zu vergleichbaren Ergebnissen wie in den evangelischen Gebieten.132 Nur in Anlehnung an die katholischen Fürsten konnte die katholische Kirche ihren verbliebenen Besitzstand wahren.133 Seinen Höhepunkt findet das aufgeklärte Staatskirchentum im Reichsdeputationshauptschluss von 1803.134 Er bedeutete die restlose AufheCzermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 2. Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 31. 125  s.  Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (2008), S. 33. 126  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 31. 127  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 31. 128  s.  Winter, Staatkirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2008, S. 34. 129  Vgl. Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 2. 130  s.  Winter, Staatkirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2008, S. 35. 131  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 32. 132  s.  von Campenhausen de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 20. 133  s.  von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 20. 134  s.  von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 23. 123  Vgl.

124  s.  Unruh,



II. Das Religionsverfassungsrecht45

bung kirchlicher Jurisdiktionsgewalt, die zunehmende Distanzierung von Staat und Kirche und schließlich die verfassungsrechtliche Anerkennung der individuellen Glaubensfreiheit.135 Der Reichsdeputationshauptschluss bedeutete eine grundlegende Umwälzung der staatskirchenrechtlichen Verhältnisse, wie sie in Deutschland über Jahrhunderte hinweg bestanden hatten.136 Das Eherecht, das Schulrecht sowie die Sozialfürsorge gingen auf den Staat über, die individuelle Glaubensfreiheit fand verfassungsrechtliche Anerkennung.137 Der durch den Reichsdeputationshauptschluss verursachte Vermögensverlust der Kirchen im Zuge der Säkularisation wirkt über Art. 140 GG i.  V. m. Art. 138 Abs. 1 WRV bis in das Grundgesetz nach.138 Der Reichsdeputationshauptschluss führte zum Verlust der konfessionellen Geschlossenheit der Territorien und erforderte die religionsverfassungsrechtliche Neuordnung.139 Die Neuordnung führte zur zunehmenden Trennung von Staat und Religion.140 Die Paulskirchenverfassung von 1849 brachte neben der Anerkennung der Glaubensfreiheit die Ablehnung der Staatskirche und die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus für Religionsgesellschaften.141 Mit der Monarchie fiel 1918 auch das landesherrliche Kirchenregiment weg.142 Die Weimarer Reichsverfassung begründete mit der religionsverfassungsrechtlichen Zentralnorm des Art. 137 Abs. 1 WRV wie schon die Paulskirchenverfassung die Trennung von Staat und Kirche.143 Die letzten Reste des landesherrlichen Kirchenregiments wurden beseitigt und die Wiedereinführung des Staatskirchentums untersagt.144 Anders als in Frankreich begründete das Weimarer Religionsverfassungsrecht keine laizistische Trennung von Staat und Religion, sondern eine freundlich-kooperative Trennung.145 So wurde zum gegenseitigen Vorteil der Staat von der Religion und die Religion vom Staat befreit.146 Der sich der Weimarer Zeit anschließende Nationalsozia­ 135  s.  von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 23; Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (2008), S. 35. 136  s.  Winter, Staatkirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2008, S. 35. 137  s.  von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 23. 138  s.  von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 24. 139  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 34; Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (2008), S. 35. 140  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 34. 141  s.  Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (2008), S. 37. 142  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 36. 143  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 36; Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (2008), S. 40. 144  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 36. 145  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 36; Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (2008), S. 40. 146  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 36.

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

lismus verfolgte gegenüber der evangelischen und der katholischen Kirche das Ziel der Vernichtung.147 Doppelmitgliedschaften in Kirche und nationalsozialistischen Zwangsorganisationen wurden verboten, christliche Jugendverbände wurden zwangsweise aufgelöst, bedeutende Caritasorganisationen und kirchliche Privatschulen und die Presse gingen verloren.148 Das öffent­ liche Leben wurde etwa durch die Entkonfessionalisierung der Bekennt­ nisschulen, der Verdrängung des Religionsunterrichts, der Abschaffung des Schulgottesdienstes und anderer kirchlicher Einrichtungen entkonfessionalisiert.149 Die so geschaffene Neuordnung des nationalsozialistischen Staatskirchenrechts fiel mit dem Ende des Regimes in sich zusammen.150 Das Grundgesetz knüpfte an die staatskirchenrechtlichen Vorschriften der Weimarer Reichsverfassung an und inkorporierte Teile von ihr in das Grundgesetz.151 2. Vom Staatskirchen- zum Religionsverfassungsrecht a) Rechtsquellen und Genealogie Das hergebrachte Weimarer Staatskirchenrecht, wie es über Art. 140 GG Eingang ins Grundgesetz gefunden hat, ist als „Reformationsfolgenrecht“ bezeichnet worden.152 Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass es sich um Normen handelt, welche zur Überwindung der konfessionellen Feindschaft dienen sollten.153 Die Entwicklung des Religionsverfassungsrechts bis zum heutigen Stand hat ihren Ausgangspunkt in der Verhältnisbestimmung zwischen weltlicher und kirchlicher Gewalt.154 Der Begriff Staatskirchenrecht ist damit traditionell die Bezeichnung für einen Normenkomplex, durch den der Staat seine Beziehung insbesondere zu den Kirchen regelt.155 Obgleich dieser kirchlichen Vorprägung bezeichnet das heutige Religionsverfassungsrecht die Gesamtheit der Normen, die das Verhältnis des Staates zur Religion insgesamt regeln.156 Seine Rechtsquellen ergeben sich aus dem GrundListl, Kirche im freiheitlichen Staat, Bd. 1, 1996, S. 289. Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 36. 149  s.  von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 36. 150  s.  von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 38. 151  s.  Jeand’Heur / Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, 2000, S. 48. 152  s. Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 23, 24. 153  s.  Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 24. 154  s.  von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 39. 155  Vgl. Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2.  Aufl. (2008), S. 9. 156  Vgl. Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 21; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1526, Rn. 27; so auch von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 39. 147  So

148  s.  von



II. Das Religionsverfassungsrecht47

gesetz, den Länderverfassungen, aus einfach gesetzlichen Regelungen, aus den Konkordaten bzw. Staatskirchenverträgen und aus dem Recht der Europäischen Union sowie der EMRK.157 Das Religionsverfassungsrecht im engeren Sinne meint dagegen diejenigen Normen des Grundgesetzes, „(…) die die individuellen Rechte in Bezug auf weltanschaulich-religiöse Fragen enthalten und das Verhältnis des Staates zu den Religionsgemeinschaften regeln“.158 Das Religionsverfassungsrecht wird zunächst und überwiegend aus der Gesamtschau von zwei verfassungsrechtlichen Regelungsbereichen geprägt:159 Einerseits den grundrechtlichen Garantien der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sowie dem Religionsunterricht und dem Gleichheitssatz aus Art. 7 Abs. 2 und 3, 3 S. 1, 33 Abs. 3 GG.160 Andererseits den institutionellen Gewährleistungen aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 136, 137, 138, 139 und 141 WRV.161 Art. 140 GG konkretisiert dabei die Religionsfreiheit durch institutionelle Festlegungen.162 Die Übernahme der Weimarer Kirchenartikel in das Grundgesetz fand jedoch vor einem ganz anderen Hintergrund statt als ihre Ausarbeitung zu Beginn der Weimarer Republik.163 Damals stand die Frage des „ob“ und „wie“ der Beendigung der engen Bindung von Staat und Kirche im Vordergrund.164 Die „hinkende Trennung“ der Weimarer Verfassung war ein Kompromiss, der eine strikt laizistische Trennung von Staat und Kirche vermied.165 Im Parlamentarischen Rat gestaltete sich der Rückgriff auf die Weimarer Kirchenartikel als ein rettender „Doppelter Kompromiss“ zwischen Privatisierung der Religion einerseits und freundlicher Nähe zur Religion andererseits.166 157  s.  von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 45–50; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1535 ff.; Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (2008), S. 13 ff.; Jeand’Heur / Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, 2000, S. 61 ff. 158  Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002, S. 12, Fn. 27; der vorliegenden Arbeit wird diese Bedeutung des Begriff zugrunde gelegt. 159  s.  Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, 3. Aufl. (2009), Bd. VII, S. 711 (724). 160  s.  Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, 3. Aufl. (2009), Bd. VII, S. 711 (724); Art. 33 Abs. 3 GG als grundrechtsgleiches Recht bzw. Grundrecht im weitesten Sinne, s. dazu Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 33, Rn. 25. 161  s.  Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, 3. Aufl. (2009), Bd. VII, S. 711 (724); Mückl nennt zusätzlich Art. 123 Abs. 2 GG wegen der damit geregelten Fortgeltung des Reichskonkordats, s.  ders., a. a. O. 162  s.  von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 40. 163  s.  Jeand’Heur / Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, 2000, S. 48. 164  s.  Jeand’Heur, Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, 2000, S. 48. 165  s.  Jeand’Heur, Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, 2000, S. 48. 166  s.  Jeand’Heur, Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, 2000, S. 49.

48

B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

Obgleich ihrer Inkorporierung und ihrer Stellung als Übergangs- und Schlussvorschrift stellen die Artikel der Weimarer Reichsverfassung kein nachrangiges Verfassungsrecht dar, vielmehr sind sie vollgültiges Verfassungsrecht und „(…) bilden mit dem Grundgesetz ein organisches Ganzes“167. Einzelne Artikel des Grundgesetzes müssen so ausgelegt werden, „(…) daß sie mit den elementaren Grundsätzen des Grundgesetzes, insbesondere den Grundrechten und seiner Werteordnung vereinbar sind (…)“.168 Das Wesen der Verfassung besteht in ihrer einheitlichen Ordnung des politischen und gesellschaftlichen Lebens der staatlichen Gemeinschaft.169 Das Interpretationsprinzip der einzelnen Verfassungsnormen muss deshalb „(…) die Einheit der Verfassung als logisch-teleologisches Sinngebilde (…)“170 sein. b) Vom gesellschaftlichen Struktur- zum normativen Bedeutungswandel Über die Bezeichnung der Gesamtheit der religionsrechtlichen staatlichen Normen herrscht, angestoßen in den 70er Jahren und in wachsendem Maße seit den 90er Jahren, in der Rechtswissenschaft Uneinigkeit.171 Ein Ende der Diskussion ist derzeit nicht absehbar, wenngleich sich zunehmend bei Autoren neuerer rechtswissenschaftlicher Veröffentlichungen eine Tendenz zum 167  In stRspr. BVerfGE 53, 366 (400); Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, 3. Aufl. (2009), Bd. VII, S. 711 (724); Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 22, S. 651 (657). 168  BVerfGE 19, 206 (220); 19, 226 (236). 169  s. BVerfGE 19, 206 (220). 170  BVerfGE 19, 206 (220). 171  Dazu vgl. Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, S. 2523, Rn. 5; Badura, Staatsrecht, 4. Aufl. (2010), S. 1003, Rn. 40; Goldenstein (Hrsg.), Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht? Ein Begriffsstreit und seine religionspolitischen Konsequenzen, 2009; Heinig / Walter (Hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht? Ein begriffspolitischer Grundsatzstreit, 2007; Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 21–26; Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee  /  Paul Kirchhof, HdbStR, 3. Aufl. (2009), Bd. VII, S. 711 (713, 714); Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 13, 14; Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 200; von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 2006, S. 39, 40; Hense, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht: mehr als ein Streit um Begriffe?, in: A. Haratsch  /  N. Janz / S.  Rademacher / St. Schmahl / N. Weiß (Hrsg.), Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 2001, S. 9 (10 ff.); Görisch, „Staatskirchenrecht“ am Ende?, in: NVwZ, 2001, S. 885–888; Czermak, Religionsverfassungsrecht im Wandel, in: NVwZ, 2000, S. 896–898; Czermak, Religions(verfassungs)recht oder Staatskirchenrecht?, in: NVwZ, 1999, S. 743 (743); Häberle, „Staatskirchenrecht“ als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft, in: DÖV, 1976, S. 73–80.



II. Das Religionsverfassungsrecht49

Begriff Religions(verfassungs)recht beobachten lässt.172 Der Streit, ob althergebracht vom Staatskirchenrecht173 oder Religionsverfassungsrecht174 zu sprechen ist, birgt bei genauerer Betrachtung einen Streit um die Frage des „ob“ und „wie“ eines Bedeutungswandels innerhalb des Normsystems mit religiösem Bezug.175 Dieser Streit folgt einer gesellschaftlichen Entwicklung, die durch eine zunehmende religiöse Vielfalt jenseits der christlichen Kirchen176 gekennzeichnet ist und die sich zugleich einer fortwährend säkularisierten Umgebung versieht (postsäkulare Gesellschaft)177.178 Mit dem Mitgliederschwund der Großkirchen in Deutschland ist zugleich ein Ab172  Vgl. Korioth, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, in: JZ, 2010, S. 828–834; Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 200; Unruh, Religionsverfassungsrecht, 2009, S. 21–26; Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 14; Hennig, Muslimische Gemeinschaften im Religionsverfassungsrecht, 2010; Kupke, Die Entwicklung des deutschen „Religionsverfassungsrechts“ nach der Wiedervereinigung, insbesondere in den Neuen Bundesländern, 2004; Weber, Religionsverfassungsrecht zwischen religiösem Fundamentalismus und staatlicher Neutralitätspflicht, in: RuP, 2010, S. 200–209; Rux, Religionsverfassungsrecht und säkulare Gesellschaft – Kritische Anmerkungen zur Abteilung Öffentliches Recht des Juristentages 2010, in: RW 2010, S. 447–453; Oebbecke, Der Islam und die Reform des Religionsverfassungsrechts, in: ZfP 2008, S. 49–63; Waldhoff dagegen verwendet die Bezeichnungen „Staatskirchenrecht“ und Religions(verfassungs-)recht gleichbedeutend, obgleich sich für die über Art. 140 GG inkorporierten Weimarer Artikel der Terminus „Staatskirchenrecht“ anböte und darüber hinaus bei einer übergreifenden Einbeziehung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG der Terminus „Religionsverfassungsrecht“ herangezogen werde, s. ders., Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 9, Fn. 1; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1526, Rn. 27. 173  Zur Begriffsgeschichte s. Hense, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht, in: A. Haratsch / N. Janz / S.  Rademacher / St. Schmahl / N. Weiß (Hrsg.), Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 2001, S. 9 (12 ff.); s. Czermak, Religions(verfassungs)recht oder Staatskirchenrecht?, in: NVwZ, 1999, S. 743 (743). 174  Daneben werden vorgeschlagen die Begriffe „Religionsrecht oder Bekenntnisverfassungsrecht“, vgl. Hense, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht: mehr als ein Streit um Begriffe?, in: A. Haratsch  /  N. Janz  /  S. Rademacher  /  St. Schmahl / N. Weiß (Hrsg.), Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 2001, S. 9 (10, 11); Czermak, Religions(verfassungs)recht oder Staatskirchenrecht?, in: NVwZ, 1999, S. 743 (744). 175  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 21; Hense, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht, in: A. Haratsch / N. Janz / S.  Rademacher / St. Schmahl / N. Weiß (Hrsg.), Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 2001, S.  9 (43 ff.). 176  Zum Mitgliederverlust der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland, s.  Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 16 ff. 177  Nach Habermas ist eine postsäkulare Gesellschaft eine, die sich durch ein „(…) Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung (…)“ auszeichnet, vgl. ders., Glaube und Wissen, 1. Aufl. (2001), S. 13. 178  s.  Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 607.

50

B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

schwung der institutionalisierten Form der Religiosität zu verzeichnen.179 Verbunden mit dieser Entwicklung ist die allgemeine Abnahme der gesellschaftlichen Religiosität, wobei damit nicht jede Religiosität verloren geht.180 Während die sozio-religiöse Struktur Deutschlands über Jahrzehnte durch die Zugehörigkeit zu einer der beiden großen christlichen Kirchen geprägt war, entwickelt sich, auch im Zuge der Einwanderung, eine zunehmende religiöse Pluralisierung und Individualisierung von Religion.181 Insbesondere die Einwanderung von Muslimen führte dazu, dass sich der Islam nach dem Christentum zur zweitgrößten Religion in Deutschland herausgebildet hat.182 Dies habe zur Folge, dass sich die Dogmatik der Religionsfreiheit und der inkorporierten Weimarer Artikel nicht mehr primär betreffs der Interessen der christlichen Kirchen und deren Angehörigen messen lassen muss, sondern zugleich der vielfältigen Inanspruchnahme durch Andersgläubige und andere Religionsgemeinschaften.183 Zentraler Diskussionspunkt dabei ist die Frage der Gewichtung der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG innerhalb der Gesamtheit dieses Normsystems und dessen Einfluss auf die inkorporierten Weimarer Artikel,184 während sich die übrigen Ausführungen für den Begriff „Staatskirchenrecht“ eher als Hilfsargumente darstellen, wie nun kurz skizziert wird: Der Ausgangspunkt für die Verwendung des Begriffs Staatskirchenrecht185 ist die Annahme, es bestünde obgleich des zweiten Grundpfeilers Art. 4 GG 179  s.  Waldhoff,

Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 20. Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 20. 181  Vgl. Classen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung, 2003, S. 1; s. Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 20, 21. 182  Wenn auch mit großem Abstand. Mitglieder der christlichen Konfession machen zusammen 63 % der Bevölkerung aus, wohingegen Muslime knapp 5 % der Bevölkerung in Deutschland ausmachen, s. Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 16. 183  Vgl. Classen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung, 2003, S. 1, 2, 5 ff. 184  Ausführlich dazu Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 537 ff. 185  Den Begriff „Staatskirchenrecht“ verwenden insbesondere Badura, Staatsrecht, 4. Aufl. (2010), S. 1003, Rn. 40; Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. 7, 2009, S. 711–793; Pirson, Die geschichtlichen Wurzeln des deutschen Staatskirchenrechtrechts, in: Josef Listl  /  Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 1994 (2. Aufl.), § 1, S. 3–46; Badura, Das Staatskirchenrecht als Gegenstand des Verfassungsrechts, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 1994 (2. Aufl.), § 6, S. 211–251; bei Classen wird der Begriff „Staatskirchenrecht“ zur Bezeichnung der inkorporierten Weimarer Artikel verwendet, während im Übrigen der Begriff „Religionsfreiheit“ gebraucht wird, s. Classen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung, 2003; mit dem Hinzutreten des Koautors hat das traditionsreiche 180  s.  Waldhoff,



II. Das Religionsverfassungsrecht51

neben dem Art. 140 GG186 ein Vorrang der institutionellen Seite gegenüber dieser (Vorrang-Argument) oder aber zumindest ein „staatsrechtlicher Überhang an institutioneller Absicherung“ (Überhang-Argument).187 Neben diesem Vorrang- bzw. Überhang-Argument wird von den Vertretern des Begriffs „Staatskirchenrecht“ hilfsweise dessen herkömmliche Gebräuchlichkeit angeführt, um so unter dem Gesichtspunkt des Pragmatismus die Begriffstradierung beizubehalten.188 Zusätzlich wird herausgestellt, es handele sich bei der dem Begriff zugrunde liegenden Rechtsmaterie um einen Teil der Rechtsordnung, von der nach wie vor vor allem die großen Volkskirchen betroffen seien.189 Die Befürworter des Begriffs „Religionsverfassungsrecht“ nehmen dagegen eine grundrechtszentrierte Sichtweise bei der Auslegung der Gesamtheit der religionsbezogenen Normen ein.190 Der Begriff „Staatskirchenrecht“ sei durch eine Schieflage zugunsten der Kirchen gekennzeichnet, der den Wirklichkeitsbereich nicht adäquat abbilde.191 Vielmehr wird Lehrbuch „von Campenhausen, Staatskirchenrecht“ in seiner 4. Aufl. nun in seinen Untertitel den Begriff Religionsverfassungsrecht aufgenommen, so die Einschätzung bei Morlok, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht, vorläufige Bilanz einer aktuellen Debatte, in: Johannes Goldenstein (Hrsg.), Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht, 2009, S. 7 (7). 186  s.  Czermak, Religions(verfassungs)recht oder Staatskirchenrecht?, in: NVwZ, 1999, S. 743 (744); Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 22, S. 651 (656). 187  Vgl. Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, 3. Aufl. (2009), S. 711 (713); Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 21. 188  s.  Hense, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht: mehr als ein Streit um Begriffe?, in: A. Haratsch / N. Janz / S.  Rademacher / St. Schmahl / N. Weiß (Hrsg.), Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 2001, S. 9 (36); Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 22. 189  s.  Hense, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht: mehr als ein Streit um Begriffe?, in: A. Haratsch / N. Janz / S.  Rademacher / St. Schmahl / N. Weiß (Hrsg.), Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 2001, S. 9 (36); Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 22; darüber hinaus wird auch die unterschiedliche Verortung der Weimarer Artikel und der Religionsfreiheit im Grundgesetz als Argument für eine institutionelle und gegen eine grundrechtliche Sicht herangezogen, s. Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 539. 190  Vgl. Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 22; Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 537 ff.; hinsichtlich der Bedeutung des Art. 4 GG auch Classen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung, 2003, S. 5 ff.; kritisch dazu Korioth, Zwischen Religionsfreiheit und institutioneller Sicherung, Zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, in: Johannes Goldenstein (Hrsg.), Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht? 2009, S. 31 (55 ff.). 191  So Hense, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht: mehr als ein Streit um Begriffe?, in: A. Haratsch / N. Janz / S.  Rademacher / St. Schmahl / N. Weiß (Hrsg.), Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 2001, S. 9 (42).

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

eine „Vergrundrechtlichung des Staatskirchenrechts im Religionsverfassungsrecht“ bzw. „grundrechtliche Aufladung“ ausgemacht.192 Das Grundrecht der Religionsfreiheit sei rechtspraktisch derart in das Zentrum der religionsrechtlichen Ausgleichsordnung gerückt, dass es für sich genommen die Bezeichnung Religionsverfassungsrecht rechtfertige.193 Stand nach 1949 noch die staatskirchenrechtliche Systemfrage im Vordergrund,194 so stehe gegenwärtig die Religionsfreiheit in ihrer individuellen und korporativen Dimension, die Bestimmung ihrer Schranken und die Frage der Gleichheit im Mittelpunkt der Rechtsanwendung.195 Wenngleich historisch die Weimarer Kirchenartikel traditionell mit Blick auf die christlichen Kirchen konzipiert wurden,196 sei es heute vielmehr so, dass das historische Verständnis der Art. 136 ff. WRV keine Rolle spielt, sondern diese im Lichte des Grundgesetzes, in das sie inkorporiert wurden, auszulegen sind.197 c) Zwischenergebnis Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass in Anbetracht der religiösen Pluralisierung und der damit einhergehenden grundrechtsorientierten Rechtsprechung insgesamt die Bezeichnung „Religionsverfassungsrecht“ den Vorzug verdient, da insoweit das Diktum vom institutionellen Vorrang bzw. Überhang widerlegt ist. Das Argument vom grundrechtsorientierten Verfassungsrecht ist in seiner Bedeutung derart durchschlagend, dass die vorgebrachten Hilfsargumente vom Begriffspragmatismus, der Historizität und die KirchenAusrichtung zugunsten des Begriffs „Staatskirchenrecht“ zwar nicht unberechtigt, gleichwohl aber nicht weiter ins Gewicht fallen.198 Die Inkorporation der Weimarer Artikel über Art. 140 GG hat, wie nun sichtbar wird, 192  s.  Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 607; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1528, Rn. 30; Morlok, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht, Vorläufige Bilanz einer aktuellen Debatte, in: Johannes Goldstein (Hrsg.), Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht?, 2009, S. 7 (16). 193  s.  Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 200. 194  s.  Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 13. 195  s.  Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 608. 196  s.  Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 546. 197  s.  Classen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung, 2003, S. 8, 11, 12; eine Aufzählung des Spektrums öffentlich-rechtlicher Körperschaften neben den beiden großen christlichen Kirchen nachzulesen bei Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 548. 198  Im Ergebnis auch Czermak, Religions(verfassungs)recht oder Staatskirchenrecht?, in: NVwZ, 1999, S. 743 (744); zu den Argumentationslinien im Detail s.  Hense, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht: mehr als ein Streit um Begriffe?, in: A. Haratsch / N. Janz / S.  Rademacher / St. Schmahl / N. Weiß (Hrsg.),



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ihnen ihre juristisch-relevante Historizität genommen und sie vom vollführten Säkularisierungsauftrag hinüber zum Freiheitsauftrag getragen. 3. Religionsverfassungsrechtliche Prinzipien a) Das Verbot der Staatskirche aa) Prinzipielle Trennung von Staat und Kirche Die noch bis 1918 bestehenden Reste des Staatskirchentums und des landesherrlichen Kirchenregiments sind mit der Inkorporation des Art. 137 Abs. 1 WRV durch Art. 140 GG endgültig abgeschafft worden.199 Art. 137 Abs. 1 WRV ist aus historischen, systematischen und teleologischen Gründen über den direkten Wortsinn des Verbots der Staatskirche hinaus zu verstehen.200 Mit der Inkorporation ist nicht nur das grundsätzliche201 Verbot einer Staatskirche und der Staatsreligion und -weltanschauung verfasst.202 Damit ist der Staat nicht nur in seiner rechtlichen Grundlegung ausschließlich säkular.203 Zugleich bedeutet Art. 137 Abs. 1 WRV auch das Verbot jeglicher staatsreligiöser bzw. staatsweltanschaulicher Rechtsform.204 Jede institutionelle Verbindung bzw. Verflechtung zwischen den Organen der öffentlichen Hand und der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ist verboten und damit auch eine „(…) gemeinsame Aufgabenerfüllung mit untrennbarer Verbindung von staatlichen und kirchlichen Aufgaben (…)“.205 Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 2001, S. 9 (36–47); Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 22–24. 199  s. BVerfGE 19, 206 (217); Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 87; Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2008, S. 161. 200  s.  Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003. S. 176. 201  Nach Mückl ist die Formulierung „grundsätzliche Trennung“ eine „unstatthafte petitio princpii“, s. ders., Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, 3. Aufl. (2009), Bd. VII, S. 711 (752), Rn. 64. 202  s.  Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), Bd. VII, S. 711 (752), Rn. 65; Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 177. 203  s.  Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, 3. Aufl. (2009), S. 711 (750). 204  In stRspr. BVerfGE 123, 148 (179); 108, 282 (299); 19, 206 (216); 24, 236 (246); 33, 23 (28); 93, 1 (17); Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 140, Rn. 2. 205  Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 78, 79; vgl. auch Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), S. 711 (751); Heinig, Öffentlich-rechtliche Reli­ gionsgesellschaften, 2003, S. 177.

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

Staat und Kirche sind voneinander unabhängig.206 Eine gegenseitige Einmischung ist unzulässig.207 Das Trennungsgebot208 sieht neben der organisatorisch-institutionellen auch die inhaltliche Trennung von Staat und Kirche vor.209 Aus diesem Grund ist das vom Lehrer angeordnete christliche Schulgebet, welches innerhalb der Unterrichtszeit vorgenommen wird, als ein Verstoß gegen das Gebot der inhaltlichen Trennung von Staat und Religion zu werten.210 Denn dieses Schulgebet stellt sich insoweit als eine dem Staat zuzurechnende Maßnahme dar, dessen Inhalt den Glauben erfasst, „(…) daß Gott das Erbetene gewähren kann“.211 Unter dem Gesichtspunkt der inhaltlichen Trennung von Staat und Religion erscheint die Annahme des Bundesverfassungsgerichts, die Einführung christlicher Bezüge bei der Gestaltung der öffentlichen Pflichtschule sei verfassungsrechtlich nicht schlechthin verboten,212 nicht überzeugend. Wenn das Bundesverfassungsgericht einschränkend ausführt, dass diese christlichen Bezüge nicht missionarisch und verbindlich sein dürfen,213 dann liegt im Umkehrschluss der Verdacht nahe, der Staat dürfe Glaubensinhalte vermitteln, was ihm aber wegen der Trennung von Staat und Religion nicht erlaubt sein dürfte. Sofern es sich um religionskundliche Bezüge handelt, ist diese Einschränkung ohnehin nicht notwendig. Ausnahmen214 zum oben beschriebenen Trennungsgebot sind nur auf verfassungsrechtlicher Grundlage möglich.215

206  In seiner Entscheidung zur „Überlegungsfrist beim Kirchenaustritt“ formuliert das Bundesverfassungsgericht: „(…) die ältere Verbindung von Staat und Kirche, in der solche Fürsorge für die Kirchen ihre Grundlage hatte, entspricht nicht mehr der vom Grundgesetz konstituierten staatskirchenrechtlichen Ordnung, die auf der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates einerseits, der Unabhängigkeit der Kirchen andererseits beruht.“, BVerfGE 44, 37 (52). 207  Vgl. Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), S. 711 (751). 208  Zum Verhältnis von Trennungsgebot und Neutralität vgl. Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002, S. 37. 209  So Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, Art. 137 WRV, S. 2536, Rn. 2; Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 177. 210  Das BVerfG geht in seiner Entscheidung zum Schulgebet auf diesen Punkt nicht ein, vgl. BVerfGE 52, 223 (240). 211  BVerfGE 52, 223 (240). 212  s. BVerfGE 41, 65 (78). 213  Vgl. BVerfGE 41, 65 (78). 214  Zur Kritik am Grundsatz-Ausnahme-Verhältnis s. Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee  /  Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, 3.  Aufl. (2009), S. 711 (752), Rn. 64. 215  s.  Jarass, in: Jarass  /  Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 137 WRV, Rn. 2; zur Frage des verfassungswidrigen Verfassungsrechts s. BVerfGE 84, 90



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bb) Kooperation zwischen Staat und Religionsgesellschaften Die in Art. 137 Abs. 1 WRV vorgesehene Trennung von Staat und Kirche bedeutet nicht zugleich auch eine Kontaktsperre zwischen Staat und Kirche.216 Das deutsche Verfassungsrecht sieht ausdrücklich Kooperationsgelegenheiten vor, namentlich durch die Regelungen zum schulischen Religionsunterricht (Art. 7 Abs. 3 GG), zur Anstaltsseelsorge (Art. 141 WRV), zur Einrichtung und Unterhaltung theologischer Fakultäten (Art. 140 WRV), zur Erhebung von Kirchensteuern (Art. 137 Abs. 6 WRV) sowie zum öffentlichrechtlichen Körperschaftsstatus von Religionsgemeinschaften (Art.  137 Abs. 5).217 Eine isolierte Betrachtung des Art. 137 Abs. 1 WRV in einer Weise, die verfassungsrechtlich vorgesehenen Kooperationsvorschriften seien verfassungswidriges Verfassungsrecht, ist mit der Verfassungsinterpretation als organisches Ganzes nicht in Einklang zu bringen.218 Das Besondere am deutschen verfassungsrechtlichen Trennungsmodell ist, dass es keinesfalls nicht nur nicht religionsfeindlich und laizistisch ist.219 Das Verbot der Staatskirche bedeutet nicht die distanzierende strikte Trennung von Staat und Kirche bzw. ihre Beziehungslosigkeit.220 Das deutsche Trennungsmodell verpflichtet vielmehr den Staat unter bestimmten Voraussetzungen zu einer Zusammenarbeit mit den Kirchen und anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und -gesellschaften (sog. Kooperationsmodell),221 (120, 121); Leisner, Verfassungswidriges Verfassungsrecht, Nach dem „Bodenreform-Urteil des BVerfG, in: DÖV, 1992, S. 432–439. 216  s.  Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), S. 711 (751); Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 178. 217  s.  Jarass, in: Jarass  / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 140, Rn. 2; Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, Art. 137 WRV, S. 2537, Rn. 2; Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), S. 711 (751); Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1534, 1535, Rn. 45; Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 178. 218  s.  Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), S. 711 (752). 219  s.  Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S.  79; Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2008, S. 163; s. Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, S. 2527, Rn. 9; Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 179. 220  s. BVerfGE, 108, 282, (300); Heckel, Der Rechtsstatus des Religionsunterrichts im pluralistischen Verfassungssystem, 2002, S. 31. 221  Vgl. Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 80; Classen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung, 2003, S. 10; Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), S. 711 (751, 752).

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

ohne dabei gegen den Grundsatz der institutionellen und inhaltlichen Trennung beider verstoßen zu dürfen.222 Die Kooperation muss daher allen Religionsgemeinschaften gleichermaßen offenstehen.223 Aufgrund dieser Kooperationspflicht wurde das deutsche Trennungsmodell früher als „hinkende“ Trennung bezeichnet.224 Häufiger finden sich nunmehr gefälligere Formulierungen wie „balancierte“ und „positive“ Trennung oder „freundschaftliche Partnerschaft“ und „offene“ Trennung.225 Diese verfassungsrechtlich vorgesehene Pflicht zur Zusammenarbeit verstößt nicht gegen das Trennungsgebot aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 1 WRV.226 Eine Abstufung zwischen ihnen im Sinne eines Vorrangs des Art. 137 Abs. 1 WRV gibt es nicht.227 Vielmehr sind Art. 137 Abs. 1 WRV und die „Ausnahmen“ im gegenseitigen Wechselspiel zu lesen. Daraus folgt, dass bei einer Gesamtschau des Religionsverfassungsrechts insgesamt ein Kooperationsmodell anzunehmen ist, welches zugleich auch ein Gewährleistungssystem zugunsten der positiven Religionsfreiheit beinhaltet, um die grundrechtliche Freiheit möglichst weitgehend verwirklichen zu können.228 Andernfalls müsste die Kooperationspflicht als verfassungswidriges Verfassungsrecht betrachtet werden, was aber wegen der bewussten Übernahme durch Art. 140 GG und der damaligen Ablehnung der strikten Trennung abzulehnen ist.229 222  s.  Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 81; beispielhaft zu nennen ist an dieser Stelle der in Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG vorgesehene Religionsunterricht, s. o., S. 34; kritisch gesehen bei Czermak ist dagegen die Kirchensteuer und die Militär- und Anstaltsseelsorge, die eine ausgesprochen staatskirchliche Form hätten, s. ders. Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 80. 223  s.  Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 179. 224  s.  Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2008, S. 162; Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 89. 225  s.  Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2008, S. 162; Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 90. 226  s.  Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2008, S. 162. 227  s.  Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 80; Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2008, S. 162; Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in Josef Isensee  /  Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd.  VII, 3. Aufl. (2009), S. 711 (752). 228  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 89; Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm. 6. Aufl. (2011), Art. 140, Art. 137 WRV, S. 2537, Rn. 2. 229  s.  Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2008, S. 163; Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 90; de Auffassungen, die den inkorporierten Art. 137 Abs. 1 WRV normativ als „strikte Trennung“ lesen und daher in den zahlreichen Kooperationspflichten verfassungswidriges Verfassungsrecht sehen, sind eher in der Minderheit, s. Zusammenfassung der Vertreter dieser Ansicht bei Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 89; die Verfassungswidrigkeit von Verfassungsrecht ist nicht schon deswegen ausgeschlossen, weil sie selbst Bestandteil der Verfassung ist. Vielmehr ist bei der Auslegung einzelner Verfassungsbestimmungen immer auch zu prüfen, ob sie im Einklag mit elementaren



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cc) Verstoß gegen das Trennungsmodell Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Kooperation von Staat und Kirche bei gleichzeitiger institutioneller Trennung beider Sphären führt bisweilen zu Unklarheiten über das „Wie“ der Zusammenarbeit.230 Tatsächlich gibt es Bereiche, deren Vereinbarkeit mit dem verfassungsrechtlichen Kooperationsmodell umstritten ist. Beispielhaft zu nennen ist der Bereich der staatlichen Eintreibung der Kirchensteuer, der Konkordatslehrstühle231 sowie der Anstaltsseelsorge.232 Zunehmend in den Blick gerät auch der Bereich im Zusammenhang mit dem Islam. In Ermangelung der „kirchlichen“ Verfasstheit islamischer Religionsgemeinschaften bzw. wegen fehlender Ansprechpartner gibt es in Politik und Verwaltung die Tendenzen, die Rolle des Kooperationspartners dem Staat zu übertragen.233 Damit bemächtigt sich der Staat jedoch zugleich der Religion, was ihm aber wegen der prinzipiellen Trennung nicht erlaubt ist.234 b) Die religionsverfassungsrechtliche Neutralität aa) Normative Herleitung und subjektive Verwirklichung Obgleich „Kernsatz des deutschen religionsverfassungsrechtlichen Systems“235, taucht der Begriff „Neutralität“ seinem Wortlaut nach kein einziges Mal in der Verfassung auf.236 Dessen ungeachtet kommt kaum eine Gerichtsentscheidung und kein wissenschaftlicher Beitrag zu Art. 4 Abs. 1 und 2 sowie Art. 140 i. V. m. den Weimarer Verfassungsartikeln ohne den Begriff der Verfassungsgrundsätzen und Grundentscheidungen ist, s. Fischer, Trennung von Staat und Kirche, 1964, S. 11. 230  Vgl. Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 81 ff. 231  Hierzu Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 91. 232  s.  Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 81, 82; ausführ­ lichere Abhandlung und zahlreiche Nachweise zur Kooperation des Staates mit den Kirchen bei Hollerbach, Freiheit kirchlichen Wirkens, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VI, 2. Aufl. 2001, S. 595 ff. 233  Vgl. Mückl, Grundordnung des Staatskirchenrechts, in: Isensee  /  Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), S. 711 (752, 753). 234  Nicht deutlich wird indessen bei Waldhoff, was mit Vor- oder Zwischenformen gemeint ist, s. ders., Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität – Erfordern weltanschauliche und religiöse Entwicklungen Antworten des Staates?, in: NJWBeil., 2010, S. 90 (91, 92, 93). 235  Korioth, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, in: JZ, 2010, S. 828 (829). 236  Vgl. Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002, S. 13.

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

weltanschaulich-religiösen Neutralität aus.237 Der Gedanke der weltanschaulich-religiösen Neutralität findet sich in einer Vielzahl von Verfassungsnormen, etwa Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 3 Abs. 3, 33 Abs. 3 GG und Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 1 WRV.238 In seiner frühen Rechtsprechung zu religionsverfassungsrechtlichen Normen war er sogar Referenzmaß ohne nähere Bestimmung und rechtliche Herleitung.239 Erst später führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass sich zahlreiche religionsverfassungsrechtliche Normen als Ausfluss des Neutralitätsgebotes darstellen: „Das Grundgesetz begründet für den Staat als Heimstatt aller Staatsbürger in Art. 4 Abs. 1, Art 3 Abs. 3, Art 33 Abs. 3 sowie durch Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität.“240 Umgekehrt ausgedrückt, die Gesamtschau dieser Artikel lässt auf den Grundkonsens des Verfassungsgebers über die weltanschaulich-reli­ giöse Neutralität des Religionsverfassungsrechts schließen.241 Dem Neutralitätsgebot wohnen zwei Ideen bei: Einerseits eine etatistische Erwartung, den Einfluss der Kirche auf den Staat zu unterbinden, andererseits die Idee, den Einfluss des Staates in religiösen Belangen zu unterbinden.242 Wenngleich sich der vollständige Bedeutungsgehalt der weltanschaulich-religiösen Neutralität aus der Gesamtschau der oben genannten Verfassungsnormen ergibt, so kann doch konstatiert werden, dass erst die umfassenden Gewährleistungen aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG die freiheitliche und offene Neutralität im weltanschaulich-religiösen Sinne sicherstellen,243 vielmehr sogar deren Bedeutungsgehalt dominiert. Neutralität bedeutet im Religionsverfassungsrecht die Unparteilichkeit im Sinne einer Nichtidentifikation244, Gleichbehandlung 237  Vgl. nur BVerfGE 12, 1 (4); Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002, S. 12, 13. 238  s.  Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 73. 239  s. BVerfGE 12, 1 (4); Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002, S. 13. 240  In stRspr. BVerfGE 123, 148 (178), 108, 282 (299); 19, 206 (216) vgl. auch Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 87; Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 59; Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Bd. VII, 3. Aufl. (2009), S. 711 (753). 241  s.  Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 87; Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Bd. VII, 3. Aufl. (2009), S. 711 (753). 242  s.  Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Isensee  / Kirchhof (Hrsg.), Bd. VII, 3. Aufl. (2009), S. 711 (753); Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 75. 243  So im Ergebnis auch Brenner, Staat und Religion, in: VVDStRL, 59 (2000), S. 265 (272). 244  s.  Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002, S. 35; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1532, Rn. 38; Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 75 f.



II. Das Religionsverfassungsrecht59

(Parität)245 aber auch eine Trennung246 des Staates im weltanschaulich-religiösen Bereich.247 Die Verpflichtung zur Neutralität bedeutet damit auch, dass das Recht säkular, also frei von weltanschaulich-religiöser Legitimation sein muss.248 Der weltanschaulich säkulare Staat legt seinem Handeln einen säkularen Maßstab zugrunde und interpretiert die verfassungsrechtlichen Begriffe nach allgemeingültigen, nicht konfessionellen oder weltanschaulichen Gesichtspunkten.249 Jedoch auch ein weltanschaulich-religiös neutraler Staat könne „(…) die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen nicht abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhang beruht (…)“.250 Obgleich ihres Wirkens wie eine Übernorm, ist die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates kein der Verfassung vorgelagertes Gebot bzw. keine Metanorm.251 Verfassungsprinzipien, welche den Gehalt von Verfassungsbestimmungen dogmatisch aufbereiten, dürfen sich nicht verselbständigen und sich vor bzw. über den Verfassungstext stellen, dem sie entstammen und auf den sie zurückzuführen sind.252 Dem Neutralitätsgebot können keine Leitlinien zur Auslegung der Verfassung entnommen werden.253 Ein „Neutralitätsverstoß“ ist daher möglich, ohne zugleich ein verfassungswidriges Verfassungsrecht annehmen zu können.254 Die Verfassungswidrigkeit von Verfassungsrecht kann lediglich bei Verstößen gegen 245  Ausführlich zur religionsrechtlichen Parität und Gleichbehandlung s. Heckel, Die religionsrechtliche Parität, in: Joseph Listl  /  Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 20, S. 589–622; ders., Das Gleichbehandlungsgebot im Hinblick auf die Religion, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 20, S. 623–650; Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002, S. 36; nach Morlok ist das Paritätsprinzip ein eigenständiges Prinzip, welches eine enge Beziehung zur Neutralität hat, s. ders., in: Horst Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1533, Rn. 40. 246  s.  Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1532, Rn. 38; zum Trennungsgebot s. Ausführungen S. 34, 35 ff. 247  s.  Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 86  ff.; Korioth, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, in: JZ 2010, S. 828 (829); BVerfGE 24, 236 (246). 248  s.  Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 90. 249  s. Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 80, 81. 250  BVerfGE 93, 1 (22). 251  s.  Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 42, 44; Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Isensee  /  Kirchhof (Hrsg.), Bd. VII, 3. Aufl. (2009), S. 711 (753); so auch Morlok in Bezug auf den Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche, s. ders., in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1529, Rn. 33. 252  s.  Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1529, Rn. 33. 253  s.  Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 45. 254  s.  Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 42, 44.

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

Verfassungsgrundsätze angenommen werden, „(…) die so elementar und so sehr Ausdruck eines auch der Verfassung vorausliegenden Rechts sind, daß sie den Verfassungsgeber selbst binden und daß andere Verfassungsbestimmungen, denen dieser Rang nicht zukommt, wegen ihres Verstoßen gegen sie nicht sein können“.255 Für die weltanschaulich-religiöse Neutralität im Sinne einer Übernorm mit normativer Wirkung aus sich heraus ist dieses jedoch abzulehnen.256 Unter elementaren Verfassungsgrundsätzen sind vor allem Grundrechte zu verstehen, insbesondere jene, die Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit sind, so auch das Grundrecht der Religionsfreiheit.257 Daraus folgt, „(…) daß andere Bestimmungen, denen dieser Vorrang nicht gebührt, so auszulegen sind, daß sie mit jener Grundentscheidung des Verfassungsgebers vereinbar sind“.258 Dem weltanschaulich-religiösen Neutralitätsgebot kann ein subjektives Recht nur vermittels der Religionsfreiheit entnommen werden.259 Insoweit kann festgehalten werden, dass das Neutralitätsprinzip aus sich heraus keine normative Wirkung entfaltet und lediglich über die Wertung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG Wirkung entfaltet. bb) Nichtidentifikation Der weltanschaulich-religiös neutrale Staat „(…) darf sich nicht mit einer bestimmten Weltanschauung [und Religion] identifizieren“.260 Er kann nur durch seine neutrale Haltung die friedliche Koexistenz von Anhängern unterschiedlicher Religionen und Bekenntnisse gewährleisten.261 Ein religiös oder weltanschaulich parteiischer Staat wird sich kaum einer Ungleichbehandlung und einer parteiischen Intervention entziehen können. In einer religiös und weltanschaulich-pluralen Gesellschaft ist die Nichtidentifikation des Staates Grundvoraussetzung für das Vertrauen des Einzelnen in seinen Staat als „Heimstatt aller Bürger“.262 Das bedeutet nicht, dass dem Staat 255  Bayerischer Verfassungsgerichtshof zitiert nach Fischer, Trennung von Staat und Kirche, 1964, S. 11. 256  Vgl. Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 44. 257  s.  Fischer, Trennung von Staat und Kirche, 1964, S. 11. 258  Fischer räumt der Religionsfreiheit aufgrund ihrer verfassungsrechtlichen Elementarstellung gegenüber den Weimarer Kirchenartikeln eine Vorrangstellung ein, vgl. ders., Trennung von Staat und Kirche, 1964, S. 12. 259  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 59. 260  BVerfGE 108, 282 (300), in stRspr. s. BVerfGE 30, 415 (422); 93, 1 (17). 261  s. BVerfGE 205, 279 (294); 93, 1 (16); ähnlich BVerfGE 108, 282 (300); Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 77. 262  So auch Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2.  Aufl. (2008), Art. 140, S. 1532, Rn. 37; wohl ähnlich s. Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 91.



II. Das Religionsverfassungsrecht61

jegliches Handeln im religiösen Bereich verwehrt ist und er in religiösen Belangen indifferent sein muss.263 Dort, wo er aber im religiösen Bereich tätig wird und mit Religionsgesellschaften zusammenarbeitet und sie fördert, „(…) darf dies nicht zu einer Identifikation mit bestimmten Religionsgemeinschaften oder zu einer Privilegierung bestimmter Bekenntnisse führen“.264. Im Falle der christlichen Gemeinschaftsschule kann eine Nicht­ identifikation nicht angenommen werden.265 Die dortige Bejahung des Christentums und davon abgeleitet der christlichen Toleranz stellt keine geeignete Basis für eine sachliche Auseinandersetzung mit allen Religionen und Weltanschauungen, einschließlich des Christentums, dar. Diese Bejahung birgt die Gefahr, andere weltanschaulich-religiösen Überzeugungen am christlichen Maßstab zu messen und zu bewerten. Darüber hinaus erscheint die Unterscheidung, die das Bundesverfassungsgericht zwischen Glaubensinhalten und Kultur- und Bildungsfaktoren vornimmt, schwierig. So kann der Toleranzgedanke, den das Bundesverfassungsgericht als Bildungsfaktor bewertet, durchaus auch als Glaubensinhalt verstanden werden. Ferner wirft die einseitige Bezugnahme auf das Christentum Fragen hinsichtlich des Gebots der Parität auf, nämlich, dass insoweit eine kritische Auseinandersetzung mit allen weltanschaulich-religiösen Auffassungen nicht erfolgt. Eine schulische Unterweisung mit christlichen „Vorzeichen“ ist aus diesen Gründen nicht mit dem Gebot der Nichtidentifikation in Einklang zu bringen.266 Der Staat, der die mit dem Tragen eines Kopftuches verbundene religiöse Aussage einer einzelnen Lehrerin hinnimmt, anders als das schulbehördlich angeordnete Kruzifix im Klassenraum,267 muss sich diese Aussage nicht allein schon dadurch zu eigen machen und muss sie sich auch nicht als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen.268 Anders verhält es sich beim vom Lehrer angeregten Schulgebet innerhalb der Unterrichtszeit.269 263  s.  Muckel,

Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 76. 123, 148 (178); 93, 1 (17); dies gilt infolge der Identifikation auch für das Verbot des Versuchs einer Indoktrinierung nicht nur hinsichtlich religiöser, sondern auch sonstiger Inhalte wie bspw. die Indoktrinierung in Fragen der Sexualerziehung, s. BVerfGE 47, 46 (77). 265  Anders BVerfGE 41, 65 (78, 79). 266  In seinem Beschluss zu Kruzifixen in Gerichtssälen lässt das BVerfG die Frage der weltanschaulich-religiösen Neutralität offen. Das Gericht bejaht lediglich einen Verstoß gegen Art. 4 GG, da sie entgegen der eigenen religiösen Überzeugung „unter dem Kreuz“ ein Rechtsstreit führen mussten, vgl. BVerfGE 35, 366 (375). 267  s. BVerfGE 93, 1 (18); ausführlich zu Kreuzen in der Schule s. Jakobs, Kreuze in der Schule Glaubensfreiheit und Benachteiligungsverbot, 2000. 268  s. BVerfGE 108, 282 (306). 269  Vgl. BVerfGE 52, 223 (240); zur Verfassungswidrigkeit eines vom Lehrer angeordneten Schulgebets während der Unterrichtszeit s. Rathke, Öffentliches Schulwesen und religiöse Vielfalt, 2005, S. 311 f. 264  BVerfGE

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

Wenngleich das Schulgebet nicht verbindlicher Teil des Unterrichts ist, stellt es sich doch als dem Staat zuzurechnende schulische Veranstaltung dar.270 In seinem Beschluss zur Frage der verfassungsrechtlichen Anforderungen bei der Gewährung staatlicher Mittel an Religionsgesellschaften führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass es ferner mit der weltanschaulich-reli­ giö­sen Neutralität des Staates nicht vereinbar ist, dass ein Grundrechtsträger aufgrund der Übertragung der Mittelvergabe durch den Staat an einen weiteren Grundrechtsträger in ein Verhältnis der Abhängigkeit zu diesem gebracht wird.271 Der Staat darf zwar die Glaubens- und Religionsinhalte nicht bewerten,272 es ist ihm aber nicht verwehrt, Handlungen von Gläubigen und Religionsgemeinschaften einer Bewertung am Maßstab der Rechtsordnung zu unterziehen.273 Dem Staat ist es in diesem Zusammenhang nicht erlaubt, eine religiöse oder weltanschauliche Gemeinschaft zu diffamieren, zu diskriminieren und verfälscht darzustellen.274 Zulässig sind jedoch Beurteilungen tatsächlicher Verhalten, seien diese auch religiös motiviert.275 Was im Einzelnen unter dem Begriff Identifikation zu verstehen ist, ist nicht präzise geklärt.276 Anerkannt ist jedoch, dass damit jedenfalls nicht eine Indifferenz gegenüber dem Religiösen gemeint ist.277 cc) Parität Eine eigene Paritätsnorm, wie sie die Paulskirchenverfassung enthielt, kennt das Grundgesetz nicht.278 Die verfassungsrechtliche Grundnorm, aus der sich die weltanschaulich-religiöse Parität des Staates ableitet, ist Art. 3 Abs.  1 GG (Allgemeiner Gleichheitssatz).279 Daneben enthalten Art.  3 270  s. BVerfGE

52, 223 (240). 123, 148 (184). 272  BVerfGE 108, 282 (300); 105, 279 (294); 33, 23 (29). 273  s.  Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 46. 274  s. BVerfGE 105, 279 (294). 275  s. BVerfGE 105, 279 (294). 276  s.  Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002, S. 35; Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Bd. VII, 3. Aufl. (2009), S. 711 (754). 277  s.  Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Bd. VII, 3. Aufl. (2009), S. 711 (755). 278  s.  Heckel, Die religionsrechtliche Parität, in: Joseph Listl  /  Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 20, S. 589 (590). 279  s.  Heckel, Die religionsrechtliche Parität, in: Joseph Listl  /  Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 20, S. 589 (589, 590); Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee  /  Paul Kirchhof (Hrsg.), 271  s. BVerfGE



II. Das Religionsverfassungsrecht63

Abs. 3 S. 1, 33 Abs. 3 GG, Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1 und 2, Art. 137 Abs. 1, 5 und 7 WRV besondere Paritätsmäßstäbe.280 Im Übrigen leitet sich die Pflicht zur weltanschaulich-religiösen Parität insbesondere aus den tatbestandlich generellen Gewährleistungen des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ab.281 Art. 3 Abs. 1 GG ist subjektiv-öffentliches und objektives Recht zugleich.282 Der weltanschaulich-religiös neutrale Staat „(…) hat auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten“.283 Das Paritätsprinzip bedeutet inhaltlich, dass alle Menschen und Religionsgemeinschaften ungeachtet ihrer religiösen Überzeugung rechtlich gleichbehandelt und gleichgestellt werden müssen.284 Dabei kommt es nicht auf eine schematische Gleichstellung an.285 Vielmehr ist „(…) wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln, außer ein sachlicher Grund rechtfertigt die (Un-)Gleichbehandlung“.286 So muss der Staat, sofern er christliche Inhalte und Werte bei der Gestaltung öffentlicher Schulen zulässt, diese religiöse Offenheit auch gegenüber anderen weltanschaulichen oder religiösen Inhalten und Werten zeigen.287 Eine differenzierte Ausgestaltung des Verhältnisses von Religionen zum Staat ist bei hinreichend tatsächlicher Verschiedenheit oder bei Vorliegen eines sachlichen Grundes zulässig.288 HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), S. 711 (755, 756); bei Unruh dagegen Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und Art. 137 Abs. 1, 3 und 5 WRV Art. 140 GG i. V. m., vgl. ders., Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 68; Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 82. 280  s.  Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), § 159, S. 711 (756); Heckel, Die reli­ gionsrechtliche Parität, in: Josef Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 20, S. 589 (590); Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 82. 281  s.  Heckel, Die religionsrechtliche Parität, in: Joseph Listl  /  Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 20, S. 589 (590). 282  s.  Heckel, Die religionsrechtliche Parität, in: Joseph Listl  /  Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 20, S. 589 (589, 591). 283  BVerfGE 108, 282 (299), in stRspr. s. BVerfGE 19, 1 (8); 19, 206 (216); 24, 236 (246); 93, 1 (17). 284  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 68; Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee  /  Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), S. 711 (756); Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 181. 285  s.  Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), S. 711 (756). 286  Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee  / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), S. 711 (756). 287  s. BVerfGE 108, 282 (300); 52, 223 (237). 288  s.  Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), S. 711 (756).

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

Der Umgang mit der weltanschaulich-religiösen Gleichbehandlung ist überaus diffizil.289 Eine zulässige Ungleichbehandlung liegt dagegen vor, „(…) wenn die Unterscheidung – im Sinne der Dogmatik zu Art. 3 Abs. 1 GG – durch sachlich, etwa durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG selbst indizierte Gründe geboten oder zumindest gerechtfertigt und verhältnismäßig ist“.290 Eine Differenzierung nach Inhalt und historischer Bedeutung einer Religion oder Religionsgemeinschaft, wie etwa im Falle der großen christlichen Kirchen, ist unzulässig.291 Dies gilt auch für den Inhalt eines Bekenntnisses oder dem bloßen Gesichtspunkt der Tradition eines Bekenntnisses.292 Es ist dem Staat aber wohl gestattet, eine differenzierte Behandlung nach den Kriterien Größe, soziale Bedeutung oder Grad an öffentlicher Wirksamkeit vorzunehmen.293 Parität als gleich offenes Angebot des Staates ermöglicht gerade faktische Differenz, wie es im besonderen Maße hinsichtlich der Bereitstellung des öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus für muslimische Religionsgesellschaften deutlich wird.294 Der Grundsatz der Parität verpflichtet den Staat nicht dazu, „(…) gänzlich neue, für eine einzelne Religionsgemeinschaft selbstverständnisadäquate Organisations- und Betätigungsformen zu kreieren, nur weil andere Religionsgesellschaften sich mit dem religionsrechtlichen Status quo besser arrangieren können“.295 Eine begründungsneutrale staatliche Regelung z. B. in Form einer Begünstigung unter bestimmten Voraussetzungen, kann in ihrer Wirkung unterschiedlich intensiv ausfallen und ggf. Religionen oder Weltanschauungen unterschiedlich stark begünstigen.296 Damit ist zugleich festzustellen, dass das Grundgesetz insoweit „(…) kulturell und damit auch in einem überkommenen Sinn religiös geprägt und fundiert ist (…)“, dass gewissermaßen natürlich überkommene religiöse Verhaltensweisen eher mit den Normen der Verfassung kompatibel 289  s.  Heinig,

Öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften, 2003, S. 181. Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 68. 291  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 68. 292  s.  Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), S. 711 (756). 293  s.  Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), S. 711 (756). 294  s.  Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften, 2003, S. 182. 295  Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften, 2003, S.  182; bei Waldhoff heißt es: „(…) keine Überzeugung und keine Lebensform [kann] einen Anspruch darauf haben (…), dass die politische und gesellschaftliche Ordnung in einer Weise eingerichtet wird, die ihren Bedürfnissen in besonderer Weise ent­ gegenkommt.“, ders., Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 48. 296  s.  Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 93; zu nennen ist der nach Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG vorgesehene Religionsunterricht der Religionsgemeinschaften. 290  Unruh,



II. Das Religionsverfassungsrecht65

sind als andere, ohne damit zugleich eine Diskriminierung letzterer zu begründen.297 dd) Offene Neutralität des Religionsverfassungsrechts Aufgrund der Religionsfreiheit kann die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates nicht als gleichmäßiger Ausschluss, sondern nur als neutrale Respektierung und Berücksichtigung der religiösen Besonderheiten entsprechend dem religiösen Selbstverständnis des Grundrechtsträgers verstanden werden.298 Die grundgesetzlich weltanschaulich-religiöse Neutralität ist als eine „(…) offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen“.299 So sind beispielsweise religiöse Bezüge in öffentlichen Schulen nicht grundsätzlich verboten.300 Jedoch darf die Schule dabei nicht missionarisch tätig sein und keine Verbindlichkeit der Glaubensinhalte beanspruchen.301 c) Zwischenergebnis Das deutsche Trennungsmodell ist kein laizistisches. Es sieht keine strikte Trennung von Staat und Religion vor. Es handelt sich vielmehr um ein religionsfreundliches Trennungsmodell, das der Religion Raum zur Entfaltung in der Öffentlichkeit gibt und in Teilbereichen eine Kooperationspflicht des Staates statuiert, ohne dabei eine Durchbrechung des Trennungsprinzips darzustellen. Die Kooperationspartner Staat und Religion sind unabhängig und autonom, eine Verflechtung institutioneller und inhaltlicher Art ist nicht zulässig. Flankiert wird diese offene Trennung durch das Prinzip der Parität. Alle Religionen werden gleichbehandelt, ohne dabei zugleich eine Wirkungsgleichheit zu garantieren. Dieses deutsche Trennungsmodell stellt sich insgesamt als Ausgleichsordnung dar, die sich bewährt zu haben scheint. Eine Veränderung hin zu einer laizistischen Trennung ist insoweit nicht angezeigt. 297  s.  Waldhoff,

47.

Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 46,

298  s.  Heckel, Der Rechtsstatur des Religionsunterrichts im pluralistischen Verfassungssystem, 2002, S. 28; BVerfGE 108, 282 (300). 299  BVerfGE 108, 282 (300). 300  s. stRspr. BVerfGE 108, 282, (300); 52, 223 (237); 41, 65 (78). 301  Das Bundesverfassungsgericht nennt in seiner hier zitierten Entscheidung zwar nur christliche Bezüge, wegen der Gleichstellung muss sich die Aussage jedoch auf alle Religionen und Weltanschauungen beziehen, vgl. BVerfGE 52, 223 (237).

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsstellung des Islam 1. Religions- und Weltanschauungsfreiheit a) Schutzbereich aa) Einleitung Im Wortlaut des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG werden die Begriffe „Religionsund Weltanschauungsfreiheit“ nicht ausdrücklich genannt. Gleichwohl handelt es sich bei Art. 4 Abs. 1 und 2 GG um ein „(…) umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht (…)“.302 Es gewährleistet die Glaubensfreiheit, die religiöse und weltanschauliche Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) sowie die Religionsausübungsfreiheit (Recht der ungestörten Reli­ gionsausübung, Art. 4 Abs. 2 GG).303 Die Religionsfreiheit aus Art. 4 GG bedeutet „(…) mehr als religiöse Toleranz[304], d. h. mehr als die bloße Duldung religiöser Bekenntnisse oder irreligiöser Überzeugungen“.305 Sie erstreckt sich über die innere Freiheit hinaus auch auf „(…) die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten (…)“306 und auf „(…) das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln“.307 Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ist ein klassisches Freiheitsgrundrecht, welches zugleich Bestandteil des Religionsverfassungsrechts ist.308

302  BVerfGE 108, 282 (297) in stRspr. s. BVerfGE 24, 236 (245 f.); 32, 98 (106); 44, 37 (49); 83, 341 (354). 303  s. BVerfGE 108, 282 (297); Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 67; von Campenhausen, Religionsfreiheit, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), § 157, S. 597 (620); Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 4, Rn. 1. 304  Zum Verhältnis von Neutralität und Toleranz vgl. Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002, S. 37. 305  BVerfGE, 12, 1 (3); 32, 98 (106); das BVerfG verwendet in seiner hier zitierten Entscheidung den Begriff „Glaubensfreiheit“, der zugleich in der Literatur synonym zur Religionsfreiheit verwendet wird, so auch hier, vgl. nur Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 359, 360, Fn. 31. 306  BVerfGE 108, 282 (297); stRspr. vgl. 24, 236 (245); 12, 1 (3,4). 307  BVerfGE 108, 282 (297); stRspr. seit BVerfGE 12, 1 (3); 32, 98 (106 f.); 33, 23 (28); 41, 29 (49). 308  s.  Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 66.



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts67

bb) Der sachliche Schutzbereich (1) Religion und Weltanschauung Zuvorderst kann angemerkt werden, dass eine endgültige und von allgemeiner Zustimmung getragene Definition des Begriffs „Religion“ bislang nicht gelungen ist.309 Nach der Definition des Bundesverwaltungsgerichts ist unter Religion oder Weltanschauung „(…) eine mit der Person des Menschen verbundene Gewissheit über bestimmte Aussagen zum Weltganzen sowie zur Herkunft und zum Ziel des menschlichen Lebens zu verstehen“.310. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG schützt nicht nur Gedankensysteme, die im herkömmlichen Sinne religiös sind, sondern auch Gedankensysteme, die keinen Gottesbezug aufweisen.311 Dem Staat ist es gestattet, die Begriffe Religion und Weltanschauung auszulegen.312 Dabei hat jeder Versuch einer inhaltlichen Bestimmung davon auszugehen, dass es dem weltanschaulich-religiös neutralen Staat untersagt ist, den Glauben oder Unglauben seiner Bürger zu bewerten.313 Erstmals in seinem sog. Lumpensammler-Beschluss aus dem Jahr 1968 verwendet das Bundesverfassungsgericht den Begriff „Selbstverständnis“ im Zusammenhang mit der Religionsfreiheit und konstatiert eine Berücksichtigungspflicht des Selbstverständnisses des Grundrechtsträgers durch den Rechtsanwender.314 Dabei ist die Frage umstritten, ob „(…) alleine die Behauptung und das Selbstverständnis, eine Gemeinschaft bekenne sich zu einer Reli­ 309  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1.  Aufl. (2009), S. 60; Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 388 ff.; Classen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung, 2003, S. 21. 310  BVerwGE 90, 112 (115); von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 55; Listl, Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: Joseph Listl  /  Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 14, S. 439 (453); Classen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung, 2003, S. 22. 311  s.  von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 55. 312  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstates, 2008, S. 234 (234). 313  s.  von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4.  Aufl. (2006), S. 56; Listl, Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 14, S. 439 (449). 314  Vgl. BVerfGE 24, 236 (247), „Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion und Weltanschauung zu betrachten ist, darf das Selbstverständnis der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft nicht außer Betracht bleiben.“, a. a. O.; zum „Eigenverständnis“ s. auch BVerfGE 53, 366 (401); Borowskis, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 253.

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

gion und sei eine Religionsgemeinschaft (…)“315, für sich genommen ausreicht, um sich auf die Gewährleistungen aus Art. 4 GG zu berufen.316 Sodann beschreitet das Bundesverfassungsgericht in seinem sog. Bahá’í-Beschluss aus dem Jahr 1991 einen Mittelweg, der zwar das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers maßgeblich berücksichtigt, gleichzeitig aber fordert, dass „(…) es sich auch tatsächlich, nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild[317], um eine Religion und Religionsgemeinschaft han­ del[n] (…)“318 muss.319 Hat der Grundrechtsträger substantiiert und nachvollziehbar die eigene Glaubensüberzeugung dargelegt, „(…) hat sich der Staat, der ein solches Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft nicht unberücksichtigt lassen darf, einer Bewertung dieses Glaubensbekenntnisses zu enthalten“.320. Es kann daher angenommen werden, dass das Bundesverfassungsgericht das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers nicht schrankenlos berücksichtigt.321 Die Vorteile, die diese Sichtweise zur Folge hat, sind wesentlich. Es verhindert einen konturlosen Schutzbereich und eröffnet die Möglichkeit der Bestimmung der „Religion“ durch nachvollziehbare Kriterien.322 Zudem erlaubt es den Anschluss an die allgemeine Grundrechtsdogmatik, in der die Eröffnung des Schutzbereichs durch materielle Kriterien bzw. Tatbestandsmerkmale überprüfbar ist.323 Schließlich ist diese Vorgehensweise auch mit der Dogmatik zum Religionsverfassungsrecht kompatibel, welches insgesamt als Rahmenrecht aufzufassen ist, „(…) das den rechtlich-säkularen Rahmen für die Entfaltung des Glaubens im religiösneutralen Staat liefert“.324 Die Prüfung dessen, ob nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild eine Religion oder Religionsgemeinschaft 315  BVerfGE

83, 341 (353); 24, 236 (247, 248). Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 255, 256; Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 60, 61; von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 55 ff. 317  Zur Frage, ob sich das Kriterium „äußere Erscheinungsbild“ auch auf die Religion als solche oder nur auf die Religionsgemeinschaft bezieht s. Classen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung, 2003, S. 22. 318  BVerfGE 83, 341 (353). 319  So auch in BVerfGE 74, 244 (252): „Dafür, wie dies zu geschehen hat, sind grundsätzlich die Vorstellungen der Kirchen über Inhalt und Ziel der Lehrveranstaltungen maßgeblich. Ändert sich deren Verständnis vom Religionsunterricht, muß der religiös neutrale Staat dies hinnehmen. Er ist jedoch nicht verpflichtet, jede denkbare Definition der Religionsgemeinschaft als verbindlich anzuerkennen.“ BVerfGE, a. a. O. 320  BVerfGE 104, 337 (355). 321  s.  Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 255. 322  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 61. 323  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 61. 324  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 61, 62. 316  Vgl.



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts69

vorliegt, „obliegt – als Anwendung einer Regelung der staatlichen Ordnung – den staatlichen Organen, letztlich den Gerichten (…)“.325 Dabei ist ohne ein Werturteil über den Wert des Prüfungsgegenstandes selbst allein darüber zu entscheiden, „ob“ überhaupt eine Religion im Sinne des Art. 4 GG vorliegt.326 „Eine Beurteilung der Religionsgemeinschaft, ihres Glaubens, ihres Bekenntnisses und ihrer Lehre nach dem sozialen Wert und der theologischen Qualität darf [dabei] nicht stattfinden“.327 Bereits in seinem Beschluss aus dem Jahre 1960 formulierte das Bundesverfassungsgericht: „Kann und darf der weltanschaulich neutrale Staat den Inhalt dieser Freiheit nicht näher bestimmen, weil er den Glauben oder Unglauben seiner Bürger nicht bewerten darf, so soll jedenfalls der Mißbrauch dieser Freiheit verhindert werden.“328

Bei der Prüfung, ob auch nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild eine Religion oder Religionsgemeinschaft vorliegt, müssen die staatlichen Organe „(…) den von der Verfassung gemeinten oder vorausgesetzten, dem Sinn und Zweck der grundrechtlichen Verbürgung entsprechenden Begriff der Religion zugrunde legen“.329 Das Bundesverwaltungsgericht kam in seinem Urteil aus dem Jahr 1992 dieser Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts nach und definierte Religion als „(…) eine mit der Person des Menschen verbundene Gewissheit über bestimmte Aussagen zum Weltganzen sowie zur Herkunft und zum Ziel des menschlichen Lebens; dabei lege die Religion eine den Menschen überschreitende und umgreifende („transzendente“) Wirklichkeit zugrunde (…)“.330 Eine Interpretation auf ein spezifisch christliches Verständnis, „(…) das den Islam als solchen oder islamische Glaubenspraktiken aus dem Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ausgrenzt, verbietet sich (…)“331 Dennoch war zunächst vielfach eine Bemühung zu beobachten, „(…) den Begriff Religion auf historisch überkommene oder kulturvölker- bzw. kulurkreistypische 325  BVerfGE

83, 342 (353). Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 61. 327  von Campenhausen, Religionsfreiheit, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), §, 157, S. 597 (624). 328  BVerfGE 12, 1 (4); ähnlich Listl, s. ders., Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 14, S. 439 (449). 329  BVerfGE 83, 341 (353). 330  BVerwGE 90, 112 (115); Weiterentwicklung der Definition des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1971 in Abgrenzung zur Meinungsfreiheit, „Demgegenüber hat die Glaubensfreiheit eine mit der Person des Menschen verknüpfte Gewissheit über den Bestand und den Inhalt bestimmter Wahrheiten zum Gegenstand.“, BVerfGE 32, 98 (107). 331  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (235). 326  Vgl.

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

Phänomene zu beschränken“.332 Hinsichtlich des Islams muss hier nicht näher auf die einzelnen Definitionsansätze eingegangen werden, da der Islam „(…) nach aktueller Lebenswirklichkeit, Kulturtradition und allgemeinem wie auch religionswissenschaftlichem Verständnis offenkundig [eine Religion] ist“.333 (2) Die Glaubensfreiheit Der Schutzbereich der inneren Glaubensfreiheit erfasst die Freiheit „(…) zu glauben oder nicht zu glauben, d. h. einen Glauben zu bekennen, zu verschweigen, sich von dem bisherigen Glauben loszusagen und einem anderen Glauben zuzuwenden (…)“.334 Der Staat darf weder einen Glauben oder Religion vorschreiben noch verbieten, dies liegt vielmehr in der Entscheidung des Einzelnen.335 Art. 4 Abs. 1 Alt. 1 GG gewährleistet das Bilden und Haben eines Glaubens, wie auch das Nichtbilden und Nichthaben eines Glaubens. Unter diesen Schutz fallen auch Vorstadien der Meinungsbildung, der Infor332  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstates, 2008, S. 234 (235); Gaudernack, Muslimische Kultstätten im öffentlichen Baurecht, 2011, S. 66 ff.; vgl. nur sog. Kulturvölker-Formel des BVerfG, s. BVerfGE 12, 1 (4); 24, 236 (246). 333  Zitat aus dem Beschluss des BVerfG zum Bahá’ì-Glauben, BVerfGE 83, 341 (353), Haupt, Verfassungsfragen zum muslimischen Kopftuch von Erzieherinnen in öffentlichen Kindergärten, 2010, S. 87; Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (235); zu den Definitionsansätzen in der Literatur s. v. Mangoldt / Klein / Starck, GG Komm., 6. Aufl. (2010), Art. 4 Abs. 1, 2, Rn. 33; Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 388 ff.; Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (2008), S. 113, Fn. 320; Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 62 ff.; problematisch ist dabei, inwieweit das Bestehen einer Gemeinschaft Voraussetzung für eine Religion bzw. Weltanschauung ist. Überwiegend wird die Auffassung vertreten, dass der Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG auch Überzeugungen erfasst, die individuell sind bzw. von den offiziellen Lehren der religiösen oder weltanschaulichen Vereinigung abweichen und nicht die Begründung einer Gemeinschaft anstreben, vgl. bejahend Classen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung, 2003, S. 22 ff.; a. A. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 427; Mager, in: v. Münch / Kunig, GG Komm., Bd. 1, 2012, Art. 4, Rn. 12 ff. Classen bejaht dies mit Blick auf die Abgrenzung zur Gewissensfreiheit; Borowski verneint dies, will durch Forderung eines objektiven umfassenden Systems als Voraussetzung einer Religion und Weltanschauung die Abgrenzung zur Meinungs- und Gewissensfreiheit ermöglichen, s. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 399. 334  BVerfGE 24, 236 (245). 335  s. BVerfGE 93, 1 (15).



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts71

mationsbeschaffung und die suchende Zuwendung zu einer Glaubensgemeinschaft.336 Sie verbietet staatliche Einflussnahme auf die Bildung von Glaubensüberzeugungen und jeden staatlichen Glaubenszwang.337 (3) Bekenntnisfreiheit Die Bekenntnisfreiheit meint die Freiheit, weltanschaulich-religiöse Überzeugungen zu äußern, dafür zu werben und das äußerliche Bekenntnis zu ändern.338 Dazu gehört auch das Recht, die Kirchenmitgliedschaft als Äußern der inneren Einstellung zu Glaube und Bekenntnis mit Wirkung für das staatliche Recht durch Austritt zu beenden.339 Es geht über die bloße innere Glaubensfreiheit hinaus.340 Geschützt ist das Recht, „(…) auszusprechen, was man glaubt oder nicht glaubt, oder dies auch zu verschweigen“.341 Die Gewährleistung der Bekenntnisfreiheit umfasst auch das Recht, seinen Glauben durch Symbole, künstlerische Gestaltung und Kleidung zum Ausdruck zu bringen.342 Die Gewährleistung der Bekenntnisfreiheit erstreckt sich ferner auf das Recht, Mission und Propaganda für den eigenen Glauben zu betreiben.343 Sie ist in privater oder öffentlicher Form und allein oder in Gemeinschaft gewährleistet.344 Obgleich bereits in Art. 4 Abs. 1 Alt. 3 GG enthalten, ist die negative Bekenntnisfreiheit selbständig in Art 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 3 S. 1 WRV geregelt.345 Danach ist niemand verpflichtet, seine religiöse 336  s.  von Campenhausen, Religionsfreiheit, in: Josef Isensee  /  Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), § 157, S. 597 (623); Czermak, Religionsund Weltanschauungsrecht, 2008, S. 62, Rn. 119; Starck, in: Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010) Art. 4 Abs. 1,2, Rn. 34. 337  Vgl. von Campenhausen, Religionsfreiheit, in: Josef Isensee  / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, VII, 3. Aufl. (2009), § 157, S. 597 (623). 338  s.  Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 64. 339  s. BVerfGE 44, 37 (49, 53); 30, 415, (423). 340  s.  von Campenhausen, Religionsfreiheit, in: Josef Isensee  /  Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), § 157, S. 597 (629). 341  s. von Campenhausen, Religionsfreiheit, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), § 157, S. 597 (629); BVerfGE 46, 266 (267). 342  s.  Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 64. 343  Hierzu und zu den zulässigen Mitteln s. von Campenhausen, Religionsfreiheit, in: Josef Isensee  /  Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), § 157, S. 597 (631). 344  s. BVerfGE 53, 366 (387); 52, 223 (240); von Campenhausen, Religionsfreiheit, in: Josef Isensee  /  Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), § 157, S 597 (631). 345  „Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren.“, Art. 136 Abs. 3, S. 1 WRV i. V. m. Art 140 GG; zur bloß deklaratorischen Wirkung s.  von Campenhausen, Religionsfreiheit, in: Josef Isensee  /  Paul Kirchhof (Hrsg.),

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

Überzeugung zu offenbaren.346 Die negative Bekenntnisfreiheit erfährt durch Art 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 3 S. 2 WRV eine Einschränkung, wonach die Behörden insoweit das Recht haben, „(…) nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft zu fragen, als davon Rechte und Pflichten abhängen oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung dies erfordert“.347 Aus der Beschränkung der negativen Religionsfreiheit durch Art. 140 GG i. V. m. Art 136 Abs. 3 S. 2 WRV folgt, dass nicht jede Frage nach der Religionszugehörigkeit ausgeschlossen ist.348 Diese Beschränkung der negativen Bekenntnisfreiheit erstreckt sich nicht auf die Möglichkeit einer Glaubensinhaltsbefragung, sondern nur auf die Möglichkeit einer Religionszugehörigkeitsbefragung (z. B. für die Einbehaltung der Kirchensteuer).349 Eine deklaratorische Konkretisierung erfährt die negative Bekenntnisfreiheit des Weiteren durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. IV Alt. 4 WRV, wonach niemand zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden darf.350 Die Frage, wann ein Bekenntnis im Sinne des Art. 4 Abs. 1 Alt. 3 GG und wann eine Religionsausübung im Sinne des Art. 4 Abs. 2 GG vorliegt, kann unter Umständen Abgrenzungsfragen zur positiven Religionsausübungsfreiheit aufwerfen, deren Lösung dahinstehen kann, da jedenfalls die gleichen Grundrechtsschranken angelegt werden müssen.351 (4) Die ungestörte Religionsausübung Geschichtlich geprägt ist die ungestörte Religionsausübung (Religionsausübungsfreiheit) durch die Kultfreiheit und wurde aus Art. 135 S. 2 WRV in das Grundgesetz übernommen.352 An sich ist die Religionsausübungsfreiheit HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), § 157, S. 597 (631); Listl, Glaubens-, Bekenntnisund Kirchenfreiheit, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 14, S. 439 (456). 346  Vgl. BVerfGE 44, 37 (49). 347  Art. 136 Abs. 3, S. 2 WRV i. V. m. Art. 140 GG. 348  s. BVerfGE 46, 266 (267). 349  s.  von Campenhausen, Religionsfreiheit, in: Josef Isensee  /  Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), § 157, S. 597 (632). 350  Darüber hinaus auch Art. 7 Abs. 2 und 3 S. 2 GG; in seinem sog. EidesformelBeschluss aus dem Jahre 1972 entscheidet das Bundesverfassungsgericht, dass nach der Vorstellung des Verfassungsgebers der ohne Anrufung Gottes geleistete Eid keinen oder in anderer Weise transzendenten Bezug hat und gleichwohl durch den Einzelnen unter Berufung auf Art. 4 Abs. 1 GG aus eigener Glaubensüberzeugung auch dieser Zeugeneid abgelehnt werden darf, s. BVerfGE 33, 23 (26 ff.). 351  s.  Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 64. 352  s.  Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 65; von Campenhausen, Religionsfreiheit, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), § 157, S. 597 (635).



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts73

begrifflich in der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit enthalten und geht mindestens seit der Weimarer Verfassung in der Bekenntnisfreiheit auf.353 Insoweit ist die Religionsausübungsfreiheit ein Bestandteil der dem Einzelnen wie der religiösen Vereinigung zustehenden Glaubens- und Bekenntnisfreiheit.354 Die selbständige Regelung in Art. 4 Abs. 2 GG „(…) erklärt sich historisch aus der Vorstellung eines besonderen exercitium religionis, insbesondere aber aus der Abwehrhaltung gegenüber den Störungen der Reli­ gionsausübung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“.355 Das Bundesverfassungsgericht legt die Religionsausübungsfreiheit extensiv356 aus, wonach jeder Einzelne in dem von staatlichen Eingriffen freien Rechtsraum sich die Lebensform zu geben vermag, die seiner Überzeugung entspricht.357 Dies hängt damit zusammen, dass Art. 4 GG, anders als Art. 135 WRV, nicht durch einen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt beschränkt ist und nicht mehr im Zusammenhang mit anderen Bestimmungen über das Verhältnis von Staat und Kirche steht, nicht nach Art. 18 GG verwirkt werden kann und durch verfassungsrechtliche Sonderregelungen geschützt ist (Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3, Art 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 3, S. 1 WRV; Art. 136 Abs. 4 WRV, Art. 7 Abs. 3, S. 3 GG; Art. 7 Abs. 2 GG).358 Zudem erstreckt sich die Religionsausübungsfreiheit aufgrund des Gebots der religiösen Neutralität und des Paritätsprinzips der Kirchen und Bekenntnisse nicht nur auf Kirchen, sondern auf alle Reli­ gionsgemeinschaften.359 Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gebietet auch in positivem Sinn, „den Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern“.360 Nicht einher geht damit ein Anspruch des Einzelnen darauf, der eigenen Glaubensüberzeugung mit staatlicher Unter353  s. BVerfGE

24, 236 (245). 24, 236 (245). 355  BVerfGE 24, 236 (245). 356  Zur Kritik der extensiven Auslegung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ein Meinungsspektrum bei Wiese, Lehrerinnen mit Kopftuch, 2008, S. 50 ff. 357  Vgl. BVerfGE 24, 236 (246); 32, 98 (106); 44, 37 (49); anders noch in seinem Beschluss aus dem Jahre 1960: „Das Grundgesetz hat nicht irgendeine, wie auch immer geartete freie Betätigung des Glaubens schützen wollen, sondern nur diejenige, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat.“, BVerfGE 12, 1 (4); bejahend Listl, vgl. ders., Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 14, S. 439 (440). 358  s. BVerfGE 24, 236 (246). 359  s. BVerfGE 24, 236 (246). 360  BVerfGE 108, 282 (300); ähnlich BVerfGE 93, 1 (16). 354  s. BVerfGE

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

stützung Ausdruck zu verleihen.361 Das gilt auch für Ansprüche auf bestimmte staatliche Leistungen.362 „Als grundrechtliche Verbürgung der Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität entfaltet Art. 4 GG aber bezogen auf die finanzielle Förderung von Religionsgesellschaften auch eine leistungsrechtliche Komponente, indem er die Teilhabe an etwaigen Leistungen verbürgt“.363 Vom Schutzbereich erfasst werden nicht nur kultische Handlungen364 und die Ausübung sowie Beachtung religiöser Gebräuche wie Gottesdienste, Sammlung kirchlicher Kollekte, Gebete, Empfang der Sakramente, Prozession, Zeigen von Kirchenfahnen, Tragen eines Kopftuches,365 religiöses Schächten,366 liturgisches Geläut, sondern auch die religiöse Erziehung,367 freireligiöse und atheistische Feiern sowie andere Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens.368 Das Gleiche gilt für die Errichtung religiöser Gebäude.369 Eine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten Religion oder Weltanschauung darf der Staat nicht betreiben.370 Darüber hinaus ist es dem Staat verwehrt, „(…) sich durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung [zu] identifizieren und dadurch den religiösen Frieden in einer Gesellschaft von sich aus [zu] gefährden“.371

361  s. BVerfGE

93, 1 (16). 123, 148 (178); zur Frage der leistungsrechtlichen Aspekte des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG s. Pagels, Schutz- und förderungsrechtliche Aspekte der Religionsfreiheit, 1999, S. 102 ff. 363  BVerfGE 123, 148 (178). 364  s. BVerfGE 93, 1 (15). 365  Sog. Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2003, in: BVerfGE 108, 283 ff. 366  s. BVerfGE 104, 337 (346, 347, 355). 367  s. BVerfGE 41, 88 (107), „Das Grundrecht [Art. 4 Abs. 1 GG] schließt das Recht der Eltern ein, ihrem Kind die von ihnen für richtig gehaltene religiöse oder weltanschauliche Erziehung zu vermitteln, und gewährt dem Kind einen Anspruch auf eine solche Erziehung.“, a. a. O.; verneinend Czermak: „Die Religionsfreiheit von Kindern wird überlagert durch das elterliche Erziehungsrecht, Art. 6 II 1 GG.“, ders., Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 57, 58, 65. 368  s. BVerfGE 24, 236 (246); Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 65. 369  s.  Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 65; Gaudernack, Muslimische Kultstätten im öffentlichen Baurecht, 2011, S. 77 ff. 370  s. BVerfGE 108, 282 (300). 371  BVerfGE 108, 282 (300). 362  s. BVerfGE



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts75

(5) K  eine Schutzbereichsbeschränkung bei islamischen Glaubenspraktiken Die extensive Schutzbereichsformel, wonach jegliches religiös motivierte Verhalten durch Art. 4 GG geschützt ist, führt zu verschiedentlichen Problemen, die sich insbesondere im Bereich sozialschädlicher und religionsneutraler Handlungen bemerkbar machen. Während das Bundesverfassungsgericht von seinem ersten Versuch der Schutzbereichsbeschränkung (sog. Kulturadäquanzformel)372 Abstand genommen hat,373 gibt es in der Literatur gleichwohl Versuche, den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG einzuengen.374 Danach erfasse die Religionsfreiheit aus Art. 4 GG nur jene Ausübungsmodalitäten, die den zur Entstehung des Grundgesetzes bekannten, in Deutschland praktizierten Religionen und Weltanschauungen vergleichbar oder tradiert sind.375 Insbesondere mit Blick auf muslimische Religionspraktiken wird dabei eine Schutzbereichsbegrenzung auf verfassungsrechtlich zulässige Praktiken versucht.376 Islamische Glaubenspraktiken wären entsprechend dieser Schutzbereichsbegrenzung von Art. 4 GG insoweit umfasst, als sie christlichen oder jüdischen Glaubensäußerungen vergleichbar sind.377 Diese Begrenzungsversuche sind abzulehnen. Sie widersprechen der Offenheit des Grundgesetzes gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen und der personalen Verknüpfung der Religionsfreiheit.378 Darüber hinaus ist die Bestimmbarkeit der Kulturadäquanz nicht verlässlich

372  s. BVerfGE

12, 1 (4). Rathke, Öffentliches Schulwesen und religiöse Vielfalt, 2005, S. 44. 374  So insbesondere Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Islam im säkularen Recht des Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (236 ff.); Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 14 ff.; vgl. auch eine Zusammenstellung des kritischen Meinungsspektrums bei Wiese, Lehrerinnen mit Kopftuch, 2008, S. 50 ff. 375  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (237–239); Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 149–153. 376  Vgl. Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (236 ff.); Rathke, Öffentliches Schulwesen und religiöse Vielfalt, 2005, S. 49. 377  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, 1997, S. 238. 378  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (239). 373  Vgl.

76

B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

und auch nicht geeignet, religionsspezifische Herausforderungen einer religiös-pluralen Gesellschaft zu lösen.379 (6) Die positive und negative Religionsfreiheit und ihr Ausgleich Art. 4 GG schützt nicht nur die positive, sondern auch die negative Religionsfreiheit.380 Daraus kann im Einzelfall, ohne einen generellen Anspruch auf Schutz vor religiösen Erscheinungen in der Öffentlichkeit zu begründen, auch die Freiheit von staatlich zu verantwortender Konfrontation mit religiö­ sen Inhalten oder Handlungen abgeleitet werden.381 Ausdrücklich geregelt ist die negative Religionsfreiheit in Art. 7 Abs. 3 S. 2 und Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 3 S. 1 und Abs. 4 WRV382. Alle Grundrechte haben einen positiven und negativen Gewährleistungsgehalt, damit stellt die Religionsfreiheit insoweit keine Besonderheit dar.383 Die negative Religionsfreiheit umfasst das Recht, kultischen Handlungen (z. B. christliches Schulgebet) eines nichtgeteilten Glaubens fern zu bleiben.384 Es ist Sache des Einzelnen, zu entscheiden, welche religiösen Symbole er ablehnt.385 Der Schutzgehalt der negativen Religionsfreiheit umfasst auch das Recht, den auch ohne Anrufung Gottes geleisteten Eid aus religiösen Gründen abzulehnen.386 Damit ist gleichwohl nicht das Recht verbunden, von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen generell verschont zu bleiben.387 Art. 4 Abs. 1 GG entfaltet vielmehr seine schützende Wirkung in besonderem Maße in Lebensbereichen, in denen der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten in einer vom Staat geschaffenen Lage entgegen der eigenen Überzeugung religiösen Einflüssen ausgesetzt wird.388 Das Verhältnis beider Gewährleistungen ist nicht durch eine Über- oder Un379  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (239). 380  s. stRspr. BVerfGE 108, 283 (301); Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 58. 381  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 58. 382  s. BVerfGE 46, 266 (276). 383  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 59. 384  s. BVerfGE 108, 282 (301); 52, 223 (238); zur Zusammenstellung der verschiedenen Ansichten zum Schulgebetsurteil des BVerfG s. Rathke, Öffentliches Schulwesen und religiöse Vielfalt, 2005, S. 116 ff. 385  s. BVerfGE 108, 282 (302); zu Kreuzen in der Schule s. Jakobs, Kreuze in der Schule – Glaubensfreiheit und Benachteiligungsverbot, 2000. 386  s. BVerfGE 79, 69 (76); 33, 23 (29, 30). 387  s. BVerfGE 108, 282 (302). 388  s. BVerfGE 93, 1 (16); über die religiöse Einflussnahme hinaus hat der Staat auch vom Versuch einer Indoktrinierung der Schüler mit dem Ziel, ein bestimmtes



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts77

terordnung bestimmt.389 Vielmehr sind beide Bereiche der Religionsfreiheit dogmatisch gleichwertig.390 Allein der schlichte Verweis auf die Schutzbereichsberührung der negativen Religionsfreiheit kann die positive Religionsfreiheit nicht beschränken.391 Mögliche Kollisionen sind im Wege der praktischen Konkordanz in Ausgleich zu bringen, ohne eine generelle Ordnung beider Bereiche zu begründen.392 Dies gilt in besonderem Maße für Lebensbereiche, „(…) die nicht der gesellschaftlichen Selbstorganisation überlassen, sondern vom Staat in Vorsorge genommen worden sind“.393 Bekräftigt wird dieser besondere Ausgleichsauftrag des Staates durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 4 WRV, wonach die Verpflichtung zur Teilnahme an religiösen Übungen verboten ist.394 In seiner Schulgebetsentscheidung stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass Art. 4 Abs. 1 und 2 GG Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung in Form eines Schulgebetes gibt.395 Er gibt damit der positiven Bekenntnisfreiheit in einem Bereich Raum, „(…) den er ganz in seine Vorsorge genommen hat und in welchem religiöse und weltanschauliche Vorstellungen von jeher relevant waren“.396 Es muss aber zugleich sichergestellt werden, dass dieser Raum zugunsten der positiven Religionsfreiheit von vornherein gegenüber der negativen Bekenntnisfreiheit ausgeglichen wird.397 Dieser Ausgleich wiederum erfolgt durch die grundsätzliche Garantie der Freiwilligkeit der Teilnahme.398 Obgleich dieser praktischen Konkordanz kann tendenziell eine Begünstigung der positiven Religionsfreiheit durch das deutsche Kooperationsmodell konstatiert werden.399 Sexualverhalten zu befürworten oder abzulehnen, zu unterlassen, s. BVerfGE 47, 46 (77). 389  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 59; Listl, Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 14, S. 439 (441). 390  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 59. 391  s.  Listl, Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 14, S. 439 (442). 392  s. BVerfGE 41, 88 (108); 41, 65 (78); Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 59. 393  BVerfGE 108, 282 (302); 41, 29 (49); zum Ausgleich der negativen und positiven Religionsfreiheit im Falle der Angabe der Konfessionszugehörigkeit bei der Aufnahme in ein städtisches Krankenhaus s. BVerfGE 46, 266 (267). 394  s. BVerfGE 108, 282 (302). 395  Vgl. BVerfGE 52, 223 (241). 396  BVerfGE 52, 223 (241); 41, 29 (49). 397  Vgl. BVerfGE 52, 223 (241). 398  Vgl. BVerfGE 52, 223 (241). 399  s.  Kokott, Laizismus und Religionsfreiheit im öffentlichen Raum, in: Der Staat, 44. Bd., 2005, S. 343 (351).

78

B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

cc) Der personelle Schutzbereich der Religionsfreiheit (1) Natürliche Personen als Grundrechtsträger Jeder Mensch kann sich auf die Religionsfreiheit aus Art. 4 GG berufen (sog. Jedermann-Grundrecht).400 Für natürliche Personen ergeben sich aus dem Schutzbereich des Art. 4 GG drei Dimensionen:401 Die individuelle Religionsfreiheit, die kollektive Religionsfreiheit sowie die Freiheit, sich zu religiösen Vereinigungen zusammenzuschließen.402 Das Recht des Einzelnen, seine Religion für sich auszuüben, wird durch das in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthaltene Recht zur individuellen Religionsfreiheit gewährleistet.403 Die kollektive Religionsfreiheit gewährleistet jedem das Recht, seine Religion in Gemeinschaft auszuüben.404 Über das Recht zur gemeinschaftlichen Religionsausübung hinaus wird in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG auch das Recht gewährleistet, sich zu einer religiösen Gemeinschaft, d. h. dauerhaft zu einer Organisation, zusammenzuschließen.405 Zwar ist die religiöse Vereinigungsfreiheit nicht ausdrücklich in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleistet, gleichwohl wird diese von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG i. V. m. den einschlägigen durch Art. 140 GG einbezogenen Weimarer Verfassungsartikeln gewährleistet.406 „Die durch den Zusammenschluss gebildete Vereinigung selbst genießt das Recht zu religiöser oder weltanschaulicher Betätigung, zur Verkündung des Glaubens, zur Verbreitung der Weltanschauung sowie zur Pflege und Förderung des jeweiligen Bekenntnisses.“407 Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ist insoweit zu Art. 140 i. V. m. Art. 137 Abs. 2 WRV lex generalis, der die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften ausdrücklich benennt.408 In den Beratungen des Parlamentarischen Rates zu Art. 4 GG 400  s.  von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 52; Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 49; Muckel / Tillmanns, Die reli­ gionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (234). 401  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 49. 402  s. BVerfGE 105, 279 (293); BVerfGE 83, 341 (354); Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 49; Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 163–181. 403  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 49. 404  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 49. 405  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 49. 406  s. BVerfGE 83, 341 (354); Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 49; Kokott, in: Micheal Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 4, Rn. 4. 407  BVerfGE 105, 279 (293, 294). 408  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 49; obgleich dieser Spezialität der Weimarer Verfassungsartikel, prüfte das Bundesverfassungsgericht



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts79

enthielt dieser zunächst ausdrücklich die Gewährleistung der religiösen Vereinigungsfreiheit und wurde erst später gestrichen, nachdem Art. 137 Abs. 2 WRV über Art. 140 GG ins Grundgesetz inkorporiert wurde.409 Daraus ergibt sich, dass nach dem Willen des Parlamentarischen Rates die religiöse Vereinigungsfreiheit verfassungsrechtlich gewährleistet sein sollte.410 So ist davon auszugehen, dass Art. 4 Abs. 1 und 2 GG den normativen Gehalt des Art. 137 Abs. 2 WRV mit umfasst.411 (2) Juristische Personen als Grundrechtsträger Das Grundrecht der Religionsfreiheit aus Art. 4 GG gilt unstreitig „(…) auch für inländische juristische Personen, wenn ihr Zweck die Pflege oder Förderung eines religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses ist“.412 Diskussionsgegenstand in der Literatur ist vielmehr die Ableitung der Grundrechtsträgerschaft von juristischen Personen.413 Einerseits wird, wie bei anderen Grundrechten auch, der personelle Schutzbereich rechtsdogmatisch durch Rückgriff auf Art. 19 Abs. 3 GG begründet.414 Andererseits wird die Grundrechtsträgerschaft juristischer Personen unmittelbar aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG abgeleitet, der insoweit als „Doppelgrundrecht“ betrachtet wird.415 b) Schranken der Religionsfreiheit Die Gewährleistungen des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sind, anders als noch in Art. 135 WRV,416 vorbehaltlos gewährleistet und können nicht durch oder bei Nichterfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV durch den Beschwerdeführer eine Verletzung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, vgl. BVerfGE 83, 341 (354 ff.). Für diese Vorgehensweise könnte sprechen, dass die Beschwerdeführer nicht die Erteilung eines Körperschaftsstatus beanspruchen, sondern nur eine sonstwie geartete Rechtsfähigkeit. Zudem kann keiner Religionsgesellschaft eine bestimmte Rechtsform, namentlich die des Körperschaftsstatus, vorgeschrieben werden. 409  s. BVerfGE 83, 341 (354). 410  s. BVerfGE 83, 341 (354). 411  s. BVerfGE 83, 341 (354). 412  BVerfGE 105, 279 (293); vgl. auch stRspr. BVerfGE 19, 129 (132), 24, 236 (246, 247); 46, 73 (83); 53, 366 (387); 70, 138 (161); 99, 100, (118); 42, 312 (322). 413  Vgl. Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 51. 414  So BVerfGE 53, 366 (386); im Einzelnen zu den Positionen s. Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 51. 415  Vgl. im Einzelnen zu den Positionen Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 51. 416  s. BVerfGE 24, 236 (246); 44, 37 (49).

80

B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

aufgrund eines Gesetzes begrenzt werden.417 Es handelt sich um ein sog. vorbehaltloses Grundrecht.418 Gleichwohl ist es, abgeleitet aus der allgemeinen Grundrechtsdogmatik, Konsens, dass auch die Religionsfreiheit nicht uneingeschränkt gewährleistet ist.419 Einschränkungen können sich nach dem Grundsatz der Einheit der Verfassung nur aus der Verfassung selbst ergeben.420 In Betracht kommen die Grundrechte Dritter und Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang.421 Problematisch ist indessen allein die Frage, woraus sich dogmatisch eine Beschränkung der Religionsfreiheit ergibt.422 Dabei stehen sich im Wesentlichen zwei Positionen gegenüber. Einerseits die Position, die sich für eine Übertragung der Schrankenregelung aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1 WRV ausspricht (sog. Schrankenübertragung, Schranken­ leihe).423 Andererseits die Position vom Bestehen verfassungsimmanenter Schranken, d. h. Grundrechte Dritter oder sonstiger Güter mit Verfassungsrang als Schranke.424 Mit dem Bundesverfassungsgericht425 und der herrschenden Meinung ist letzterer Lösungsansatz vorzugswürdig, weil der jüngere Art. 4 GG den Schrankenvorbehalt aus Art. 136 Abs. 1 WRV verdrängt und weil Art. 135 WRV, der Bezugspunkt des Art. 136 Abs. 1 WRV war, nicht über Art. 140 GG ins Grundgesetz übernommen wurde und damit das Grundrecht der Religionsfreiheit bewusst gestärkt wurde.426 417  s. BVerfGE

108, 282 (297); 44, 37 (49). Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 482. 419  Vgl. von Campenhausen, Religionsfreiheit, in: Josef Isensee  / Paul Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 3. Aufl. (2009), § 157, S. 597 (646); sehr vereinzelt verneinende Positionen zusammengestellt bei Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 482. 420  Ausführliche Besprechung bei BVerfGE 32, 98 (107, 108); vgl. auch BVerfGE 108, 282 (297); 44, 37 (49, 50); 33, 23 (29). 421  Vgl. BVerfGE 108, 282 (297); BVerfGE 41, 88 (107); das BVerfG verneint die Verfassungsmäßigkeit einer Beschränkung der Freiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG aus dem Grund, es sei Aufgabe des Staates, den Einzelnen vor einem übereilten Kirchenaustritt zu bewahren, s. BVerfGE 44, 37 (52). 422  Ausführlich zur „Schrankenfrage“ Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S.  513 ff.; Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S.  481 ff. 423  Vgl. Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 514; Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 77 ff.; Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 483; Coumont, Islam und Schule, in: Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 446. 424  s.  Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 516; Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 82; Weber, Änderungsbedarf im deutschen Religionsrecht?, in: NJW, 2010, S. 2475 (2478). 425  s. BVerfGE 33, 23 (30, 31). 426  s. Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 71, 72; Weber, Änderungsbedarf im deutschen Religionsrecht?, in: NJW, 2010, S. 2475 (2478). 418  Vgl.



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts81

c) Die Religionsfreiheit am Beispiel des islamischen Kopftuchs aa) Schutzbereich (1) Islam als Religion Für die Frage, ob das Tragen eines islamischen Kopftuchs in den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG fällt, ist zunächst entscheidend, ob der Islam eine Religion im Sinne des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ist und inwieweit das Tragen des islamischen Kopftuchs in dessen Gewährleistungsbereich fällt.427 Selbstredend ist, dass der Islam entgegen der vormals vereinzelten Bemühungen, den Begriff Religion auf historisch überkommene und kulturvölker- bzw. kulturkreistypische Erscheinungen zu beschränken,428 als Weltreligion eine Religion im Sinne des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ist.429 Das gilt sowohl für den sunnitischen und schiitischen Islam als auch für das Alevitentum430 und die Ahmadiyya-Bewegung.431 (2) Das Tragen eines Kopftuches Der Islam kennt keine zentrale Lehr- und Rechtsinstanz, die in religiösen und theologischen Fragen verbindlich entscheiden kann, weshalb es für die Beurteilung der Frage, ob für eine Handlung eine Glaubensvorschrift besteht, insoweit ausschließlich das religiöse Selbstverständnis der einzelnen Grundrechtsträger maßgeblich ist.432 Zur Existenz von Glaubensvorschriften 427  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, S. 234 (234). 428  Vgl. Hamel, Glaubens- und Gewissensfreiheit, in: Karl August Bettermann / Hans Carl Nipperdey / Ulrich Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 4, Halbbd. 1, 1960, S. 37 (79, 80, 82). 429  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, S. 234 (235); Wiese, Lehrerinnen mit Kopftuch, 2008, S. 71; Haupt, Verfassungsfragen zum muslimischen Kopftuch von Erzieherinnen in öffentlichen Kindergärten, 2010, S. 87. 430  Nach dem Gutachten der Turkologin Ursula Spuler-Stegemann handelt es sich beim Alevitentum um eine eigenständige Religion mit besonderem Bezug zum Islam, wohingegen die Aleviten sich selbst als Konfession innerhalb des Islams verstehen, s. Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 98. 431  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, S. 234 (235). 432  s.  Coumont, Islamische Glaubensvorschriften und öffentliche Schulen, in: ZAR, 2009, 9 (9).

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

werden zwar unterschiedliche Ansichten vertreten,433 diese sind jedoch wegen der Berücksichtigung des Selbstverständnisses des Einzelnen unerheblich.434 Für jede Berufung auf eine vermeintlich islamische Verhaltensregel gilt, dass sie der Plausibilitätskontrolle435 unterliegt, mithin „(…) der Nachweis erbracht werden muss, dass die betreffende Verhaltensvorschrift individualbezogen Geltung beansprucht und dass sie im eigenen alltäglichen Leben Beachtung findet“.436 Das Kopftuch fällt jedenfalls dann in den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, wenn es im Zusammenhang mit der Person, die es trägt, aus religiösen Gründen getragen wird, da es „(…) nicht aus sich heraus ein religiöses Symbol“437 ist. Die zahlreichen Deutungsmöglichkeiten und der objektive Empfängerhorizont hinsichtlich des Kopftuchs können nichts an einer möglicherweise anders lautenden Plausibilität der religionsbezogenen Begründung durch die Trägerin des Kopftuchs ändern und eine Berufung auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht verhindern.438 Die Ablehnung der Schutzbereichseröffnung wird auch in den Fällen mehrheitlich nicht abgelehnt, in denen die Kopftuchträgerin Beamtin ist.439 Somit fällt mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts das Tragen eines Kopftuchs in den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.440

433  s.  Coumont, Islamische Glaubensvorschriften und öffentliche Schulen, in: ZAR, 2009, 9 (9). 434  s.  Ganz, Das Tragen religiöser Symbole und Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland, Frankreich und England, 2009, S. 181; Wiese, Lehrerinnen mit Kopftuch, 2008, S. 72, 73. 435  Vgl. oben BVerfG S. 45. 436  Coumont, Islamische Glaubensvorschriften und öffentliche Schulen, in: ZAR, 2009, 9 (9); vgl. auch Ganz, Das Tragen religiöser Symbole und Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland, Frankreich und England, 2009, S. 182. 437  BVerfGE 108, 282 (304); hinsichtlich der Religionsausübungsfreiheit (nicht gänzlich hinsichtlich der Bekenntnisfreiheit) zustimmend auch Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (248). 438  s. BVerfGE 108, 282 (305). 439  Hierbei geht es um die Frage, ob in besonderen Gewaltverhältnissen Grundrechte Geltung beanspruchen, s. Ganz, Das Tragen religiöser Symbole und Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland, Frankreich und England, 2009, S. 183; ablehnend etwa Hillgruber, Der deutsche Kulturstaat und der muslimische Kulturimport, in: JZ, 1999, S. 538 (544). 440  s. BVerfGE 108, 282 (305); Coumont, Islam und Schule, in: Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 444, 445; Haupt, Verfassungsfragen zum muslimischen Kopftuch von Erzieherinnen in öffentlichen Kindergärten, 2010, S. 93.



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts83

bb) Schranke (1) Einleitung Die Religionsfreiheit der Lehrerin kann wegen der vorbehaltlosen Gewährleistung der Religionsfreiheit nur durch verfassungsimmanente Rechtsgüter, mithin durch Grundrechte Dritter und Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang, eine Begrenzung erfahren.441 Dabei kommen folgende als mit der Religionsfreiheit der Lehrerin kollidierende Güter in Betracht: die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates, die negative Religionsfreiheit der Schüler aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, das elterliche Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG sowie der in Art. 7 Abs. 1 GG verankerte staatliche Erziehungsauftrag.442 (2) Weltanschaulich-religiöse Neutralität Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts stellt das Tragen eines Kopftuchs durch eine Lehrerin keinen Verstoß gegen die weltanschaulichreligiöse Neutralität des Staates dar, da das Tragen dem Staat nicht zuzurechnen ist.443 Es handelt sich um eine Handlung, die nicht auf Veranlassung der Schule, sondern auf Veranlassung der Lehrkraft selbst vorgenommen wird.444 Das bloße Dulden kann einer staatlichen Anordnung nicht gleichgesetzt werden und er macht sich die mit dem Tragen des Kopftuchs verbunden Aussage auch nicht zu eigen.445

441  s. BVerfGE

108, 282 (297). 108, 283 (299–303). 443  s.  Ganz, Das Tragen religiöser Symbole und Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland, Frankreich und England, 2009, S. 207; Wiese, Lehrerinnen mit Kopftuch, 2008, S. 473 ff.; zustimmend Böckenförde, „Kopftuchstreit“ auf dem richtigen Weg?, in: NJW, 2001, S. 723 (726); Sacksofsky, Die Kopftuch-Entscheidung – von der religiösen zur föderalen Vielfalt, in: NJW, 2003, S. 3297 (3299); Czermak, Kopftuch, Neutralität und Ideologie – Das Kopftuch-Urteil des BVerfG im ideologischen Streit, in: NVwZ, 2004, S. 943 (944, 945); a. A. Profalla, Kopftuch ja – Kruzifix nein? – Zu den Widersprüchen der Rechtsprechung des BVerfG, in: NJW, 2004, 1218 (1219); Ipsen, Karlsruhe locuta, causa non finita – Das BVerfG im sogenannten „Kopftuch-Streit“, in: NJW, 2003, S. 1210, (1211); Hillgruber, Der deutsche Kulturstaat und der muslimische Kulturimport, in: JZ, 1999, S. 538 (544). 444  s. BVerfGE 108, 282 (305). 445  s. BVerfGE 108, 282 (305, 306). 442  s. BVerfGE

84

B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

(3) Negative Religionsfreiheit der Schüler Die positive Religionsfreiheit der Lehrerin trifft durch das Tragen des Kopftuchs in der Schule und im Unterricht auf die negative Religionsfreiheit der Schüler.446 Wenngleich der Einzelne nicht das Recht hat, von fremden Glaubensüberzeugungen verschont zu bleiben, so ist dies zu unterscheiden von einer vom Staat geschaffenen Lage ohne Ausweichmöglichkeit, in der der Einzelne dem Einfluss fremder Glaubensüberzeugungen ausgesetzt ist.447 Das Bundesverfassungsgericht kommt zu dem Schluss, dass sich die Befürchtung bestimmter Einflüsse des Kopftuchs auf die Schüler nicht auf gesicherte empirische Grundlagen stützen könne.448 Wäre dies konkret der Fall, könnte die negative Religionsfreiheit der Schüler die positive Reli­ gionsfreiheit der Lehrerin beschränken.449 Eine abstrakte Gefährdung der negativen Religionsfreiheit der Schüler reicht zur Beschränkung der positiven Religionsfreiheit der Lehrerin nicht aus.450 (4) Elterliches Erziehungsrecht Eltern haben das Recht zur Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht, Art. 6 Abs. 2 S. 1 i. V. m. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.451 Insoweit muss das Recht der Lehrerin auf Religionsfreiheit mit dem Recht der Eltern einer Abwägung im Sinne der praktischen Konkordanz unterzogen werden.452 Diese wiederum muss, weil die Eltern als Treuhänder ihrer Kinder auftreten, ähnlich erfolgen wie bei der Abwägung mit der negativen Religionsfreiheit der Schüler.453 Ein allgemeines präventives Kopftuchverbot zugunsten des Elternrechts genügt nicht zur Einschränkung des Rechts der Lehrerin, ein Kopftuch zu tragen.454

446  s. BVerfGE

108, 282 (301). 108, 282 (302). 448  s.  Ganz, Das Tragen religiöser Symbole und Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland, Frankreich und England, 2009, S. 210. 449  Vgl. etwa mit Bespielen Wiese, Lehrerinnen mit Kopftuch, 2008, S. 143. 450  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 464 ff., 468. 451  s. BVerfGE 108, 282 (301). 452  s.  Wiese, Lehrerinnen mit Kopftuch, 2008, S. 145. 453  s.  Wiese, Lehrerinnen mit Kopftuch, 2008, S. 145. 454  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 472; Wiese, Lehrerinnen mit Kopftuch, 2008, S. 145. 447  s. BVerfGE



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts85

(5) Abstrakte Gefährdung des Schulfriedens Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist es dem Landesgesetzgeber erlaubt, ein Kopftuchverbot aus einer abstrakten Gefährdung des Schulfriedens heraus zu begründen.455 Bereits das vorbeugende Verhindern der Beeinflussung von Schülern und Konflikten mit den Eltern können dabei zur Rechtfertigung herangezogen werden.456 Bei der Beurteilung der abstrakten Gefahr verfügt der Gesetzgeber nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts über eine Einschätzungsprärogative.457 Indessen ist ein Verbot des muslimischen Kopftuchs bedenklich, wenn zugleich Bekundungen anderer Bekenntnisse von einem Verbot ausgenommen werden, da insoweit ein Verstoß gegen die weltanschaulich-religiöse Parität des Staates angenommen werden kann, sofern jedenfalls kein sachlicher Grund für die unterschiedliche Behandlung gegeben ist.458 Eine dahingehende Regelung muss daher wegen des Anknüpfungsverbots am Islam alle Religionen umfassen.459 Religionsfreiheit meint immer auch die Freiheit der Minderheit. Auf das Kopftuch angewendet, bleibt jedoch die Gefahr, dass durch die Zuschreibung der Mehrheitsgesellschaft, das Kopftuch stelle eine Gefahr dar, also durch die Zuschreibung eines „überschießenden fundamentalistischen Moments“ eine Gefahr durch das Kopftuch konstruiert wird.460 cc) Islamisches Kopftuch einer Schülerin bzw. Studentin Hinsichtlich der Schutzbereichseröffnung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sind für das Kopftuch einer Schülerin und Studentin an öffentlichen Einrichtungen im Wesentlichen die Ausführungen zum Kopftuch einer Lehrerin zu übertragen. Dies gilt auch für die Beschränkbarkeit der Religionsfreiheit der Schülerin aus Gründen des Schulfriedens gem. Art. 7 Abs. 1 GG. Für ein Verbot des Kopftuchs von Studentinnen an Hochschulen kann indessen die Wahrung des Schulfriedens auf Grundlage des Art. 7 Abs. 1 GG nicht herangezogen werden, da es sich bei Hochschulen wegen Art. 5 Abs. 3 GG 455  s. BVerfGE 108, 282 (307, 309, 311); Coumont, Islam und Schule, in: Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 460 ff. 456  s. BVerfGE 108, 282 (307, 309). 457  s. BVerfGE 108, 282 (311). 458  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 450. 459  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 488. 460  So Sacksofsky, Religiöse Freiheit als Gefahr?, in: VVDStRL, Bd. 68, 2009, S. 7 (37).

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

nicht um Schulen im Sinne des Art. 7 Abs. 1 GG handelt.461 Ein Kopftuchverbot für Studentinnen kommt daher nur im Falle einer konkreten Beeinträchtigung der Grundrechte Dritter, namentlich der negativen Religionsfreiheit der anderen Studenten in Betracht. d) Zwischenergebnis Nach dem deutschen Religionsverfassungsrecht stellt das Tragen eines islamischen Kopftuches an Schulen keinen Verstoß gegen die Trennung von Staat und Kirche dar. Es verstößt nicht gegen die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates. Insbesondere das Kopftuch der Lehrerin kann nicht dem Staat zugerechnet werden. Einschränkungen der insoweit gewährleisteten Religionsfreiheit können sich nur zum Schutz andere Güter mit Verfassungsrang ergeben. So ist es von Verfassungs wegen zulässig, zur Wahrung des Schulfriedens ein Kopftuchverbot zu erlassen. Problematisch bleibt bei diesem Lösungsweg, dass die Religionsfreiheit als Minderheitenrecht dem Willen der Mehrheit ausgesetzt werden kann, weil sie als Mehrheit die Wahrung des Schulfriedens weitgehend beeinflussen kann. Notwendig erscheint zum Schutz der Religionsfreiheit als Minderheitenrecht daher, dass der Staat aktiv vorbeugende Maßnahmen ergreift, um religiöse Toleranz in der Gesellschaft zu fördern. Sofern aber der Staat die vom Bundesverfassungsgericht in Option gestellte Verbotsmöglichkeit in Anspruch nimmt, muss sich diese, um nicht gegen die weltanschaulich-religiöse Parität zu verstoßen, auf alle religiösen Symbole gleichermaßen beziehen. 2. Der Neuerwerb des Körperschaftsstatus a) Rechtsqualität und Auslegung der Weimarer Verfassungsartikel sowie ihr Verhältnis zur Religionsfreiheit Die Inkorporation der Weimarer Verfassungsartikel in das Grundgesetz durch Art. 140 GG ist das Ergebnis eines sog. doppelten462 Verfassungskompromisses.463 Notwendig wurde dieser Kompromiss, weil die aus der Mitte des Parlamentarischen Rates gemachten Vorschläge für eine Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche keine Mehrheit fanden.464 Die Tatsache, dass ein wesentlicher Teil des heute gültigen Religionsverfassungsrechts über 461  s.  Pieroth,

in: Jarass / Pieroth, GG Komm, 11. Aufl. (2011), Art. 7, Rn. 2a. Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1518, Rn. 11. 463  s. BVerfGE 19, 206 (218). 464  s. BVerfGE 19, 206 (218). 462  Vgl.



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts87

den Umweg der Inkorporation durch Art. 140 GG übernommen wurde, bedeutet nicht zugleich, dieser sei Verfassungsrecht niederen Ranges.465 Mit der Inkorporation wurden die Weimarer Artikel zum Teil des Verfassungstextes.466 Sie sind damit vollgültiges Verfassungsrecht, deren Auslegung mit Blick auf das Grundgesetz zu erfolgen hat.467 Die Einbettung in das Grundgesetz, insbesondere das Zusammentreffen mit dem vorbehaltlos gewährleisteten Art. 4 GG, der damit gegenüber der Weimarer Verfassung erheblich gestärkt wurde,468 gibt Ihnen einen anderen Sinngehalt, als es zu Zeiten der Weimarer Verfassung der Fall war.469 Ihre Bewertung hat daher nicht im Kontext der Weimarer Reichsverfassung zu erfolgen,470 sondern muss sich „(…) von den Wertungen des Grundgesetzes leiten (…) lassen (…)“.471 Die inkorporierten Artikel der Weimarer Reichsverfassung sind somit auch nicht isoliert zu betrachten, sondern „(…) in die Gesamtentscheidung der Verfassung, die nur als Einheit begriffen werden kann“472, einzubeziehen.473 Zwischen Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und Art. 136 ff. WRV gibt es Überschneidun465  Vgl. BVerfGE 19, 206 (219); Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 17, S. 521 (522); s. von Campenhausen / Unruh, in: v. Mangold / Klein / Starck, GG Komm, Bd. 3, 6. Aufl. (2010), Art. 140, S. 2127, Rn. 8. 466  s.  Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1527, Rn. 29. 467  s. BVerfGE 19, 206 (219); Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 17, S. 521 (522); Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1527, Rn. 29; s. Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, S. 2521, 2522, Rn. 2; s. von Campenhausen / Unruh, in: v. Mangold  /  Klein  /  Starck, GG Komm, Bd. 3, 6. Aufl. (2010), Art. 140, S. 2127, Rn. 8. 468  s. BVerfGE 102, 370 (387). 469  s.  Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, S. 2521, 2522, Rn. 2; zur Bewertung der Weimarer Kirchenartikel in der Weimarer Zeit s.  Könemann, Das Staatskirchenrecht in der wissenschaftlichen Diskussion der Weimarer Zeit, 2011. 470  s.  Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 140, S. 1528, Rn. 30. 471  BVerfGE 102, 370 (386, 387). 472  Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirche, in: Joseph Lists / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 17, S. 521 (530); Fischer, Trennung von Staat und Kirche, 1964, S. 11. 473  Nach Unruh liegt kein verfassungswidriges Verfassungsrecht vor, weil es sich beim Sonn- und Feiertagsschutz um eine verfassungsunmittelbar legitimierte Abweichung handele, s. ders., Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 301; diese Argumentation hätte für sich mit Hinweis auf die Verfassung die Unmöglichkeit verfassungswidrigen Verfassungsrecht zur Folge und überzeugt für sich genommen daher nicht.

88

B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

gen, sie sind gleichwohl nicht identisch.474 Art. 140 GG konkretisiert über die Inkorporation der Weimarer Verfassungsartikel Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.475 Soweit eine Überschneidung vorliegt, sind die inkorporierten Weimarer Verfassungsartikel als lex specialis anzusehen.476 Trotz dieser Einheitsbetrachtung, „(…) hat dies jedoch nichts mit der Bedeutung und dem inneren Gewicht der einzelnen Normen zu tun (…)“.477 Vielmehr ist das Verhältnis zwischen den inkorporierten Weimarer Verfassungsartikeln und „(…) anderen, im Grundgesetz unmittelbar getroffenen Regelungen (…) auch [aus] dem Zusammenhang der grundgesetzlichen Ordnung selbst zu bestimmen, wobei von Bedeutung ist, daß das Grundgesetz nicht alle Bestimmungen der Weimarer Verfassung über die Beziehung von Kirche und Staat, insbesondere Art. 135 WRV, übernommen hat“.478 Einzelne Artikel des Grundgesetzes müssen so ausgelegt werden, dass sie „(…) mit den elementaren Grundsätzen des Grundgesetzes, insbesondere den Grundrechten, [sic!] und seiner Werteordnung vereinbar sind (vgl. BVerfGE 1, 14 [32]; 7, 198 [205])“.479 Für das Bundesverfassungsgericht und auch nach überwiegender Ansicht in der Lehre, stellen sich die inkorporierten Weimarer Verfassungsartikel nicht als Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte dar.480 Der Grundrechtsschutz wird vielmehr über Art. 4 Abs. 1 und 2, 3 Abs. 3 oder 2 Abs. 1 GG hergeleitet.481 Dies folgt aus den Gewährleistungen der Weimarer Verfassungsartikel, die funktional auf die Inanspruchnahme und Verwirklichung der institutionellen Religionsfreiheit angelegt sind.482 Eine Berufung auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ist auch dann möglich, wenn Art. 140 GG über die Gewährleistungen des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG hinausgeht.483 Das Bundesverfassungsgericht sah im Falle einer Ablehnung des Antrags auf Verleihung des Körperschaftsstatus 474  s. Ehlers,

in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, S. 2522, Rn. 2. Campenhausen / Unruh, in: von Mangold  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm, Bd. 3, 6. Aufl. (2010), Art. 140, S. 2125, Rn. 2. 476  s.  Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, S. 2562, 2522, Rn. 2. 477  BVerfGE 19, 206 (219). 478  BVerfGE 19, 206 (219). 479  BVerfGE 19, 206 (220). 480  s. BVerfGE 19, 129 (135); Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, S. 2522, Rn. 3. 481  s. Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, S. 2522, Rn. 3. 482  s. BVerfGE 102, 370 (387); Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, S. 2522, Rn. 3; s.  Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 22, S. 651 (664). 483  s.  Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, S. 2522, Rn. 3. 475  s.  von



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts89

nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV zugleich des Grundrecht der Religionsfreiheit verletzt.484 b) Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus Unter Körperschaften des öffentlichen Rechts werden gemeinhin mitgliedschaftlich verfasste Hoheitsträger staatlichen Ursprungs verstanden.485 „Abweichend“ vom Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche können gemäß Art. 137 Abs. 5 WRV Religionsgesellschaften und Weltanschauungsgemeinschaften486 als öffentlich-rechtliche Körperschaften organisiert sein und dadurch gewisse Sonderrechte erlangen.487 Bei diesen öffentlich-rechtlichen Körperschaften handelt es sich indessen um Körperschaften besonderer Art (sui generis),488 welche weder dem Staat zuzurechnen sind, noch in derselben Weise wie staatliche Rechtsträger mitgliedschaftlich strukturiert sein müssen.489 „Sie nehmen keine Staatsaufgaben wahr, sind nicht in die Staatsorganisation eingebunden (…).“490 Der Körperschaftsstatus ermöglicht lediglich die Übertragung bestimmter hoheitlicher Befugnisse.491 Die Verleihung des Körperschaftsstatus hat nicht die Funktion der Eingliederung in die Staatsverwaltung.492 Damit soll die Entfaltung der Glaubens- bzw. Religionsfreiheit gefördert werden und sie stellt sich insoweit als ein zwangloses Angebot an die Religionsgesellschaften dar.493 Mit dem Körperschaftsstatus sind zahlreiche öffentlich-rechtliche Befugnisse und Vergünstigungen (sog. „Privile484  s. BVerfGE 102, 370 (383); dazu kritisch vgl. Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, S. 2522, Rn. 3. 485  s.  Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, Art. 137 WRV, S. 2548, Rn. 21. 486  Die Gleichstellung erfolgt durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 7 WRV. 487  s. BVerfGE 102, 370 (371); Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 140, Rn. 13. 488  s.  von Campenhausen / Unruh, in: v. Mangold / Klein / Starck, GG Komm, Bd. 3, 6. Aufl. (2010), Art. 137 WRV, S. 2287, Rn. 198. 489  s.  Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, Art. 137 WRV, S. 2548, Rn. 21. 490  BVerfGE 102, 370 (388). 491  s. BVerfGE 102, 370 (388). 492  s.  Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 22, S. 651 (657). 493  s.  Jarass, in: Jarass  / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 140, Rn. 13; s.  Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6.  Aufl. (2011), Art. 140, Art. 137, S. 2549, Rn. 21; von Campenhausen / Unruh, in: v. Mangold  /  Starck (Hrsg.), GG Komm, Bd. 3, 6. Aufl. (2010), Art. 137 WRV, S. 2285, Rn. 197; BVerfGE 102, 370 (387).

90

B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

gienbündel“) verbunden, welche den privatrechtlich organisierten Religionsgesellschaften versagt sind.494 Ihr Körperschaftsstatus hebt sie zugleich gegenüber den sonstigen Religionsgemeinschaften ab, da der Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts die Überzeugung des Staates von der besonderen Wirksamkeit dieser Religionsgesellschaften, von ihrer gewichtigen Stellung in der Gesellschaft und der sich daraus ergebenden Gewähr der Dauer zugrunde liegt.495 So können Religionsgesellschaften mit Körperschaftsstatus von ihren Mitgliedern Steuern erheben.496 Sie haben ferner das Recht, öffentlich-rechtliche Untergliederungen und andere Institutionen mit Rechtsfähigkeit zu bilden, eigenes Recht und durch Widmung kirchliche öffentliche Sachen zu schaffen sowie aufgrund des Parochialrechts die Zugehörigkeit eines Mitglieds zu einer Gemeinde allein von der Wohnsitznahme abhängig zu machen.497 Daneben treten Vergünstigungen steuerlicher Art, der Vollstreckungsschutz, bauplanungsrechtliche Rücksichtnahme auf die Erfordernisse der Religionsgesellschaft u. a.498 Religionsgesellschaften mit öffentlich-rechtlichem Körperschaftsstatus unterliegen nicht der staatlichen Aufsicht,499 da sie nicht in den Staat integriert sind, sondern gesellschaftliche Entität bleiben.500 Entsprechend der allgemeinen Grundrechtsdogmatik sind sie gegenüber dem Staat vielmehr Grundrechtsträger wie andere privatrechtliche Organisationen auch.501 Soweit Religionsgesellschaften bei Inkrafttreten der Weimarer Verfassung bereits Körperschaftsstatus hatten, behalten sie diesen Status (sog. geborene Körperschaften).502 Für alle anderen stellt Art. 137 Abs. 5 S. 1 WRV die Möglichkeit des Neuerwerbs anheim (sog. gekorene Körperschaften). Für den Neuerwerb des Körperschaftsstatus kommt 494  s. BVerfGE 102, 370 (371, 388); von Campenhausen / Unruh, in: v. Mangold  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm, Bd. 3, 6.  Aufl. (2010), Art. 137 WRV, S. 2286, Rn. 197. 495  s. BVerfGE 19, 129 (134); 66, 1 (20); Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 22, S. 651 (665). 496  s. Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 6 WRV. 497  s. BVerfGE 102, 370 (371). 498  s. BVerfGE 102, 370 (371, 371). 499  s. BVerfGE 102, 370 (388); von Campenhausen / Unruh, in: von Mangold  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm, Bd. 3, 6. Aufl. (2010), Art. 137, S. 2287, Rn. 198. 500  s. BVerfGE 102, 370 (387); Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, Art. 137, S. 2551, Rn. 25. 501  s. BVerfGE 102, 370 (387); Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, Art. 137, S. 2551, Rn. 25; Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 22, S. 651 (667). 502  s. Art. 137 Abs. 5 S. 1 WRV.



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts91

es nicht nur auf die tatbestandlichen Einzelmerkmale an, vielmehr muss eine Gesamtbewertung der Religionsgesellschaft erfolgen.503 c) Subjektives Recht Liegen die Voraussetzungen für die Verleihung des Körperschaftsstatus vor, erwirkt die Religionsgesellschaft einen subjektiven durchsetzbaren Anspruch darauf, der nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts im Wege einer Verfassungsbeschwerde unter Berufung auf Art. 4 Abs. 1 und 2 i. V. m. Art. 137 Abs. 5 S. 2 GG durchgesetzt werden kann.504 Anderer Ansicht zufolge kann der Anspruch auf Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV und Art. 3 GG gestützt werden.505 d) Voraussetzungen für den Erwerb des öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus aa) Ausdrückliche Tatbestandsvoraussetzungen (1) Religionsgesellschaften Der Neuerwerb des Körperschaftsstatus wird durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV grundsätzlich allen Religionsgesellschaften506 ermöglicht.507 Das Merkmal der Religionsgesellschaft ist bei jedem Zusammenschluss von Personen erfüllt, der innerhalb eines dem Geltungsbereich des Grundgesetzes gehörenden Gebietes, das Weltganze universell zu begreifen und die Stellung des Menschen in der Welt aus dieser umfassenden Weltsicht zu erkennen und zu bewerten sucht, sowie diese Übereinstimmung umfassend bezeugt und danach handeln will.508 Kurz, unter Re503  BVerfGE 102, 370 (385); Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, Art. 137, S. 2552, Rn. 27. 504  s. BVerfGE 102, 370 (383); 83, 341 (353); Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, Art. 137, S. 2554, Rn. 29; s. von Campenhausen / Unruh, in: von Mangold  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm, Bd. 3, 6. Aufl. (2010), Art. 137, S. 2291, Rn. 204. 505  s.  Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, Art. 137, S. 2554, Rn. 29. 506  Wegen Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 7 WRV auch Weltanschauungsgemeinschaften. 507  s.  Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 137 WRV, S. 1607, Rn. 101. 508  s.  Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 22, S. 651 (680).

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

ligionsgesellschaften werden Vereinigungen verstanden, die der umfassenden Pflege einer ihren Mitgliedern gemeinsamen Religion dienen.509 Vereinigungen, deren Wirken politischer, wirtschaftlicher oder nur ethischer Art ist und nicht in einem religiösen oder weltanschaulichen Selbstverständnis wurzelt, werden nicht erfasst.510 „Besondere Anforderungen an Homogenität und Konsistenz der Glaubensvorstellungen sind nicht zu stellen, weil anders die aus Paritätsgründen gebotene Offenheit des Begriffs für unterschiedliche religiöse Vorstellungen entfiele.“511 Daher können auch Dachverbände unter den Begriff der Religionsgesellschaft fallen, obgleich ihr Tätigkeitsfeld in der Regel nicht dem Totalitätsgebot entspricht.512 Die Religionsgesellschaft muss ferner nicht den Status eines eingetragenen Vereins haben.513 Das Fehlen eines Vereinsstatus ist ein Indiz neben anderen und kann als solches im Rahmen einer Gesamtbewertung in die Entscheidungsfindung einfließen.514 (2) Antrag der Religionsgesellschaft Der öffentlich-rechtliche Körperschaftsstatus für Religionsgesellschaften wird nur auf Antrag derselben erteilt.515 „Es ist den Religionsgesellschaften und hier insbesondere ihrem Selbstverständnis anheimgestellt, in welcher Rechtsform sie im weltlichen Bereich wirken wollen.“516 Der öffentlichrechtliche Körperschaftsstatus darf keiner Religionsgesellschaft aufgezwungen werden.517

509  s.  Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 137 WRV, S. 1567, Rn. 28. 510  s.  Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 22, S. 651 (682). 511  Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 137 WRV, S. 1567, Rn. 28. 512  Strittig s. Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 137 WRV, S. 1567, Rn. 28. 513  Vgl. BVerfGE 102, 370 (386). 514  s. BVerfGE 102, 370 (386). 515  Vgl. Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV. 516  Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 137 WRV, S. 1607, Rn. 101. 517  s.  Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 137 WRV, S. 1607, Rn. 101; Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 321.



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts93

(3) G  ewähr der Dauerhaftigkeit durch ihre Verfassung und Zahl ihrer Mitglieder Die Religionsgesellschaft muss durch ihre Verfassung und Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten.518 Grundlage für diese Einschätzung sind der gegenwärtige Mitgliederstand und die Verfassung der Religionsgesellschaft im Übrigen.519 Auf diese Weise soll verhindert werden, dass der Staat Hoheitsrechte an spontane und im „Gärungsstadium“ befindliche reli­ giöse Erweckungsbewegungen überträgt.520 Nach ganz überwiegender Meinung ist unter dem Merkmal der „Verfassung“ aus systematischen und teleologischen Gründen nicht nur das Organisationsstatut zu verstehen, sondern der Gesamtzustand der Vereinigung (extensive Auslegung), d. h. die Summe der Lebensbedingungen, denen die Religionsgesellschaft unterworfen ist.521 Nur der tatsächliche Gesamtzustand „(…) kann eine aussagekräftige Grundlage für die Einschätzung des künftigen Fortbestehens bieten, um das es nach Art. 140 GG i. V. m. 137 Abs. 5 Satz 1 WRV vor allem geht“.522 Die mit dem Bundesverfassungsgericht so verstandene „Verfassung“ in Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV würde die zusätzliche Erwähnung der „Zahl der Mitglieder“ überflüssig machen.523 Gleichwohl ist dem Bundesverfassungsgericht zuzustimmen, denn allein die Beurteilung der Satzung einer Organisation im Vergleich zu konkreten lebensweltlichen Merkmalen kann kein abschließendes aussagekräftiges Kriterium für die Dauerhaftigkeit eines Zusammenschlusses mehrerer Personen darstellen.524 Als Indizien für die Einschätzung der Dauerhaftigkeit werden eine ausreichende Finanzausstattung525, eine Mindestbestand518  s. Art. 137

Abs. 5 S. 2 WRV. 102, 370 (384). 520  Vgl. Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (253); Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 137 WRV, S. 1608, Rn. 101; Heinig, Öffentlichrechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 322. 521  BVerfGE 102, 370 (384, 385); Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, Art. 137, S. 2553, Rn. 27; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 137 WRV, S. 1607,1608, Rn. 101; Morlok / Heinig, Parität im Leistungsstaat – Körperschaftsstatus bei Staatsloyalität?, in: NVwZ, 1999, S. 697 (699); Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 322. 522  BVerfGE 102, 370 (385; s. Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: Joseph Listl  /  Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 22, S. 651 (685). 523  s.  Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 137 WRV, S. 1608, Rn. 101. 524  Vgl. Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 137 WRV, S. 1608, Rn. 101. 525  s.  Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 323, 324. 519  s. BVerfGE

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

zeit526 und die Intensität des religiösen Lebens genannt.527 So muss etwa die Finanzausstattung derart ausreichend sein, dass die Religionsgesellschaft ihren finanziellen Verpflichtungen auf Dauer nachkommen kann.528 Schließlich muss bereits ein gewisser zeitlicher Bestand der Religionsgesellschaft vorliegen.529 Nach anderer Ansicht ist die Gewähr der Dauer dann gegeben, wenn die Religionsgesellschaft „(…) als ein stetiger Rechtsträger mit klaren Organisationsformen, Willensbildungsverfahren und Organen bestimmt werden kann, die eine langfristige Fähigkeit zur Kooperation mit dem freiheitlich demokratischen Rechtsstaat gewährleistet“.530 Eine gewisse Organisationsstruktur wird gefordert, da diese die Verfahren und Organe der Willensbildung erkennen lässt und die Lehre und Ordnung der Gemeinschaft entscheidet.531 Verbreitet ist die Einschätzung 30 Jahre oder ein Generationenwechsel.532 Die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft muss eindeutig und zweifelsfrei bestimmt sein, um zu verhindern, dass eine Religionsgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts Hoheitsrechte gegenüber Nichtmitgliedern ausübt.533 Hinsichtlich der nötigen Mitgliederzahl gibt es keine feste 526  s.  Heinig,

Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 324. 102, 370 (385); Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 137 WRV, S. 1608, Rn. 101; s. Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, Art. 137, S. 2553, Rn. 27. 528  Vgl. Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 137 WRV, S. 1608, Rn. 101; Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: Joseph Listl  /  Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 22, S. 651 (680). 529  s.  Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 137 WRV, S. 1608, Rn. 101; BVerfGE 102, 370 (385); Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, Art. 137, S. 2553, Rn. 27. 530  Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 22, S. 651, (684); so auch Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 324, 325. 531  s.  Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 325. 532  s.  Korioth, in: Maunz  /  Dürig, GG Komm, Bd. 7, 2003, Art. 140, S. 211, Rn. 74; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 137 WRV, S. 1608, Rn. 101; Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, Art. 137, S. 2553, Rn. 27; Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (253); der EGMR hat in seiner Entscheidung über die Anerkennung der Zeugen Jehovas bereits eine zehnjährige Frist in Österreich als konventionswidrig erachtet, s. EGMR, Urt. v. 31.7.2008 – 40825 / 98 (Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas u. a. . / . Österreich), in: NVwZ 2009, S. 509–513. 533  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (254). 527  s. BVerfGE



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts95

Größe.534 Nach den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 1954 soll die Mitgliederzahl auf Landesebene so groß sein, „(…) daß aus ihr auf eine gewisse Bedeutung im öffentlichen Leben geschlossen werden kann“.535 In der Praxis wird es als ausreichend erachtet, wenn jeder tausendste Landeseinwohner Mitglied der gegenständlichen Religionsgesellschaft ist.536 „Die Staatsangehörigkeit der Mitglieder kann bei der Gesamtwürdigung der Dauerhaftigkeit berücksichtigt werden, ist jedoch kein eigenes Verleihungs­kriterium“.537 Jedoch dürfen die oben genannten Indizien nicht schematisch angewendet werden „(…) und die von Art. 140 GG i. V. m. Art 137 Abs. 5 S. 2 WRV geforderte Gesamteinschätzung nicht stören“.538 Beurteilungen, deren Bewertung dem weltanschaulich-religiös neutralen Staat nicht erlaubt, dürfen nicht in die Entscheidung einfließen.539 Dies gilt etwa für den eschatologischen Glauben einer Religionsgesellschaft.540 Wobei die Gewähr der Dauer jedenfalls dann fehlen dürfte, wenn die Religionsgesellschaft bereits nach eigenem Selbstverständnis nicht auf Dauer angelegt ist.541 Die Voraussetzungen, die eine Religionsgesellschaft zur Erlangung des Körperschaftsstatus erfüllen muss, dürfen ihrerseits nicht im Widerspruch zu den prinzipiellen Wertungen des Religionsverfassungsrechts stehen.542 Insbesondere darf nicht der Glaubensinhalt, sondern nur das Verhalten der Religionsgesellschaft bewertet und als Versagungsgrund herangezogen werden, auch 534  s.  Korioth, in: Maunz  /  Dürig, GG Komm., Bd. 7, 2003, Art. 140, S. 212, Rn. 75. 535  Korioth, in: Maunz  /  Dürig, GG Komm., Bd.  7, 2003, Art.  140, S.  213, Rn. 76. 536  Vgl. Korioth, in: Maunz  / Dürig, GG Komm., Bd. 7, 2003, Art. 140, S. 213, Rn. 76; Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (254); Heinig, Öffentlich-rechtliche Reli­ gionsgesellschaften, 2003, S. 326. 537  Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 22, S. 651 (685). 538  BVerfGE 102, 370 (385); Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 22, S. 651 (686). 539  s. BVerfGE 102, 370, (385). 540  s. BVerfGE 102, 370 (386); Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 22, S. 651 (685); Heinig, Öffentlichrechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 326. 541  s.  Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl. (1994), § 22, S. 651 (685). 542  s. BVerfGE 102, 370 (394).

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

wenn dieses letztlich religiös legitimiert wird.543 Der durch Anforderungen entstehende Konflikt mit dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften aus Art. 140 i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV ist durch eine verfassungssystematische Zuordnung beider Normen abzufedern.544 Danach sind die zur Verleihung des Körperschaftsstatus vorausgesetzten Anforderungen im Lichte des Selbstbestimmungsrechts auszulegen, sodass im Ergebnis eine möglichst schonende und allen Seiten gerecht werdende Ausgleichslösung gefunden wird.545 Den Religionsgesellschaften ist entsprechend ein weiter Ausgestaltungsspielraum zuzubilligen.546 Eine typisch kirchliche Verwaltungsstruktur ist nicht zu erwarten, sofern die Dauerhaftigkeit auch anderweitig gesichert ist.547 bb) Ungeschriebene Voraussetzungen (1) Grundgesetzliche Verantwortung des Staates als Rahmengesetz Umstritten ist, ob neben die ausdrücklich benannten Verleihungsvoraussetzungen auch ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzungen gestellt werden dürfen.548 Diese Frage wird im Ergebnis von der Literatur und dem Bundesverfassungsgericht bejaht.549 Etwa könne der Körperschaftsstatus grundsätzlich dann versagt werden, wenn die Voraussetzungen für ein Verbot einer privaten Vereinigung nach Art. 9 Abs. 2 GG vorlägen, da insoweit Körperschaften des öffentlichen Rechts nicht weniger festen Bindungen unterliegen dürfen als Vereinigungen nach Art. 9 GG.550 Aufgrund der mit den Vergünstigungen einhergehenden gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten durch die körperschaftliche Religionsgesellschaft muss bei der Verleihung des Körper543  s. BVerfGE 544  s.  Korioth,

102, 370 (394). in: Maunz  /  Dürig, GG Komm., Bd. 7, 2003, Art. 140, S. 212,

Rn. 75. 545  s.  Korioth, in: Maunz  /  Dürig, GG Komm., Bd. 7, 2003, Art. 140, S. 212, Rn. 75. 546  s.  Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 325. 547  s.  Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 325; Heinig sieht mit Blick auf den geforderten „Ansprechpartner“ die Gefahr, dass sich ein „(…) bestimmtes, auf ein besonderes Näheverhältnis und Kooperation abstellendes verfassungstheoretisches Verständnis des Körperschaftsstatus subkutan in die Auslegung des Art. 137 V 2 WRV einzuschleichen“ droht, ders., a. a. O. 548  Vgl. Korioth, in: Maunz  / Dürig, GG Komm., Bd. 7, 2003, Art. 140, S. 213, Rn. 77. 549  s. BVerfGE 102, 370 (386 ff., 389); Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (252). 550  s. BVerfGE 102, 370 (389).



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts97

schaftsstatus die Verantwortung des Staates zur Geltung gebracht werden, die ihm durch das Grundgesetz auferlegt wird.551 Etwa die Achtung und der Schutz der Grundrechte und Wahrung und Schutz der Grundwerte der Verfassung.552 Jedenfalls schließe der Wortlaut des Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 S. 1 WRV nicht aus, dass zusätzlich zu den oben genannten ausdrücklichen Tatbestandsvoraussetzungen weitere Einschränkungen aus dem Zusammenhang des Grundgesetzes hinzutreten können.553 Handlungsgrenzen für körperschaftliche Religionsgesellschaften ergeben sich aus den Grundwerten der Verfassung, namentlich aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, als dessen Verstärkung Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV zu verstehen ist, Art. 137 Abs. 1 WRV sowie das Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität und Parität des Staates.554 (2) Rechtstreue der Religionsgesellschaft Eine Religionsgesellschaft, die Körperschaft des öffentlichen Rechts werden will, muss rechtstreu sein, mithin die Gewähr dafür bieten, geltendes Recht, auch Verfassungsrecht, zu beachten.555 Das gilt in besonderem Maße für die Ausübung der ihr übertragenen Hoheitsgewalt.556 Dies folge aus Art. 20 Abs. 3 GG, wonach die öffentliche Gewalt an Gesetz, Recht und Verfassung gebunden ist.557 Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass körperschaftliche Religionsgesellschaften die Hoheitsgewalt nicht zur Erfüllung staatlicher, sondern eigener Zwecke einsetzen.558 Jedoch auch über den Bereich des hoheitlichen Handelns hinaus müssen sich öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften rechtstreu verhalten.559 Dabei ist nicht bei jedem Rechtsverstoß die Gewähr der Rechtstreue zu verneinen.560 Wo die Grenze verläuft, ist nicht eindeutig geklärt und dürfte schwerlich zu bestimmen sein. Es ist gerade in Anbetracht des Wahrheitsanspruchs der Religionen typisch, dass Konflikte zwischen Gesetzestreue einerseits und 551  s. BVerfGE

102, 370 (389). 102, 370 (389). 553  s. BVerfGE 102, 370 (389). 554  s. BVerfGE 102, 370 (390). 555  Vgl. BVerfGE 102, 370 (390); Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 327. 556  Vgl. BVerfGE 102, 370 (390); Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 327. 557  Vgl. BVerfGE 102, 370 (390); Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 137 WRV, S. 1609, Rn. 102. 558  Vgl. BVerfGE 102, 370 (390). 559  Vgl. BVerfGE 102, 370 (391). 560  Vgl. BVerfGE 102, 370 (391). 552  s. BVerfGE

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

Glaubenstreue andererseits auftreten können. Die Annahme der Gewähr der Rechtstreue kann in diesen Fällen nicht verneint werden, wenn jedenfalls die Religionsgemeinschaft „(…) im Grundsatz bereit ist, Recht und Gesetz zu achten und sich in die verfassungsmäßige Ordnung einzufügen“.561 Das Bundesverfassungsgericht verlangt von Religionsgesellschaften, die den öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus verlangen, dass sie die in Art. 79 Abs. 3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religionsverfassungsrechts nicht gefährden.562 Eine darüber hinaus gehende Loyalität kann nicht verlangt werden.563 Insbesondere die Ablehnung der staatlichen Wahlen durch eine Religionsgemeinschaft stellt keinen Versagungsgrund dar, da die Teilnahme an Wahlen keine bürgerliche Rechtspflicht ist.564 Dabei kommt es nicht auf Glaubensinhalte, sondern ausschließlich auf die Handlungen der Religionsgesellschaft an.565 Eine Verleihung des Körperschaftsstatus an eine Religionsgesellschaft kann versagt werden, wenn sie der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates aktiv kämpferisch begegnet oder auf die Verwirklichung einer Theokratie hinwirkt.566 Bei Ausübung der Vorhersage zum künftigen Verhalten der Religionsgemeinschaft müssen eine Vielzahl von Elementen zusammengestellt und geprüft werden.567 Bloße punktuelle Defizite reichen für eine negative Einschätzung nicht, vielmehr muss eine Gesamtbetrachtung und Gesamtwürdigung erfolgen.568 (3) Dogmatische Einordnung Dogmatisch werden die „ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale“ in Kongruenz mit der allgemeinen Grundrechtsdogmatik als Schranke behandelt.569 561  BVerfGE

102, 370 (392). 102, 370 (392 ff.); Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, Art. 137 WRV, S. 2554, Rn. 28; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 137 WRV, S. 1609, Rn. 102. 563  s. BVerfGE 102, 370 (392 ff.), entgegen BVerwGE 105, 117–127; Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, Art. 137, S. 2554, Rn. 28; Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 350. 564  s. BVerfGE 102, 370 (398). 565  BVerfGE 102, 370 (394, 397); Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, Art. 137, S. 2554, Rn. 28. 566  Vgl. BVerfGE 102, 370 (395); Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 137 WRV, S. 1609, Rn. 102. 567  Vgl. BVerfGE 102, 370 (396). 568  Vgl. BVerfGE 102, 370 (397). 569  Vgl. Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 137 WRV, S. 1609, Rn. 102; Korioth, in: Maunz  /  Dürig, GG Komm., Bd. 7, 2003, 562  s. BVerfGE



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts99

Damit kann die Versagung des Körperschaftsstatus mangels Gesetzesvorbehalt bei Übertragung der allgemeinen Grundrechtsdogmatik570 nur durch kollidierendes Verfassungsrecht gerechtfertigt werden.571 cc) Der Neuerwerb des öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus durch islamische Religionsgemeinschaften Die ersten Anträge muslimischer Gemeinschaften auf Verleihung des Körperschaftsstatus wurden in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gestellt.572 Bislang wurde keiner muslimischen Gemeinschaft dieser Status zuerkannt.573 Zugleich wird konstatiert, dass der Islam bis heute in seiner Gesamtheit weder auf Landes- noch auf Bundesebene verbandsmäßig organisiert ist, noch, dass es einen alle Muslime repräsentierenden Dachverband gibt.574 Stattdessen existiere eine Fülle von verschiedenen Organisationen, von denen keine für sich beanspruchen könne, den Islam in Deutschland zu repräsentieren.575 So täten sich muslimische Vereinigungen schwer, die Anforderungen an die Verleihung des Körperschaftsstatus zu erfüllen.576 Die Hauptschwierigkeit besteht dabei hinsichtlich der Frage, ob es sich bei der jeweiligen muslimischen Vereinigung um eine Religionsgemeinschaft im Sinne des Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV handelt oder bloß um einen religiösen VerArt. 140, S. 214, Rn. 79; Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 140, Art. 137, S. 2554, Rn. 28; Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 327 ff. 570  Zur Frage des Grundrechtscharakters des Art. 137 Abs. 5 WRV s. Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 338. 571  Vgl. Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 3, 2. Aufl. (2008), Art. 137 WRV, S. 1609, Rn. 102; Heinig, Öffentliche-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 341. 572  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (251). 573  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (251). 574  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (251, 252). 575  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (252). 576  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (253).

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ein mit nur partieller religiöser Zielsetzung.577 Darüber hinaus wird die Frage aufgeworfen, ob die jeweilige muslimische Gemeinschaft durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bietet.578 Erforderlich sei eine Organisationsstruktur, die das Verfahren der Willensbildung regelt, Organe erkennen lässt und Instanzen benennt, die dem Staat als Ansprechpartner zur Verfügung stehen und befugt seien, verbindlich über Lehre und Ordnung der Religionsgemeinschaften zu entscheiden.579 Damit aber tue sich der Islam schwer, weil diese strukturellen Anforderungen nicht seinem Selbstverständnis entsprächen, obgleich ihm eine entsprechende Organisa­ tionsstruktur nicht mehr ganz fremd sei.580 Hinzukommt, dass muslimische Vereinigungen keine festen und eindeutigen Mitgliedschaftsregelungen kennen und sich häufig nur eine Minderheit einer bestehenden Vereinigung mitgliedschaftlich anschließt, während die überwiegende Zahl nur Anhänger der Vereinigung sind oder lediglich deren Angebote wahrnimmt.581 3. Der Religionsunterricht a) Einleitung Art. 7 Abs. 2 und 3 GG enthält zentrale Aussagen über das Verhältnis von Schule und Religion.582 Der Religionsunterricht583 an öffentlichen Schulen ist keine Neuerung des bundesrepublikanischen Verfassungsrechts, sondern diesen hat es bereits nach Art. 149 WRV gegeben.584 Art. 149 WRV wurde 577  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (253). 578  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (253). 579  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (254). 580  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (254). 581  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (254). 582  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck, GG Komm., Bd. 1, 6.  Aufl. (2010), Art. 7, S. 762, Rn. 3. 583  Eine Rechtsprechungssammlung zu Religion und Schule zusammengestellt bei Groß / Weiß, Religion und Schule in der Rechtsprechung, 2005. 584  „Der Religionsunterricht ist ordentliches Lehrfach der Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien (weltlichen) Schulen. Seine Erteilung wird im Rahmen der



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts101

nicht ins Grundgesetz inkorporiert. Gleichwohl sind dessen wesentliche Teile in Art. 7 Abs. 2 und 3 GG übernommen. Der Religionsunterricht aus Art. 7 Abs. 2 und 3 GG ist in Fortführung der Regelung der Weimarer Reichsverfassung zu einem Bestandteil der Unterrichtsarbeit der staatlichen Schulorganisation erhoben worden.585 Auch wenn der Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 S. 1 und 2 GG historisch auf die beiden großen christ­ lichen Kirchen zugeschnitten ist, ist er kein Privileg allein dieser und stellt daher auch keinen Verstoß gegen die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates dar.586 Die in Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG vorgegebene Rechtsform ist „(…) keine Kreation der christlichen Ekklesiologie, sondern der Aufklä­ rung“.587 Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG stellt eine weltliche Rahmennorm des säkularen Staates dar, die allen Religionsgemeinschaften gleichermaßen zur Verfügung steht.588 Mit ihr sollen Konfessionskonflikte neutralisiert und überwunden werden. Seinem Inhalt nach bedeutet der Religionsunterricht vorwiegend die Vermittlung von Glaubens- und Bekenntnisinhalten einer bestimmten, nicht notwendig christlichen, Religionsgemeinschaft.589 Er geht über die schlichte Religionskunde hinaus und weist Elemente der Glaubensverkündung eines bestimmen Bekenntnisses auf.590 Der Religionsunterricht „(…) ist keine überkonfessionelle vergleichende Betrachtung religiöser Lehren, nicht bloß Morallehre, Sittenunterricht, historisierende und relativierende Religionskunde, Religions- oder Bibelgeschichte“.591 Art. 7 Abs. 2 Schulgesetzgebung geregelt. Der Religionsunterricht wird in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der betreffenden Religionsgesellschaft unbeschadet des Aufsichtsrechts des Staates erteilt. Die Erteilung religiösen Unterrichts und die Vornahme kirchlicher Verrichtungen bleibt der Willenserklärung der Lehrer, die Teilnahme an religiösen Unterrichtsfächern und an kirchlichen Feiern und Handlungen der Willenserklärung desjenigen überlassen, der über die religiöse Erziehung des Kindes zu bestimmen hat. Die theologischen Fakultäten an den Hochschulen bleiben erhalten.“, Art. 149 WRV. 585  s. BVerfGE 74, S. 244 (251); so auch BVerwGE 42, 346 (347, 348). 586  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (265, 266). 587  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (554). 588  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (554). 589  Vgl. BVerfGE 74, 244 (252). 590  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (264); Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (552). 591  BVerfGE 74, 244 (252).

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

und 3 sowie 141 GG stellen den bundesverfassungsrechtlichen Rahmen für den aufgrund der föderalen Zuständigkeiten nach Art. 70 ff. GG durch die Landesverfassungen und Landesschulgesetze auszufüllenden Religionsunterricht dar.592 b) Religionsunterricht als Teil des Religionsverfassungsrechts Die Organisation und Gestaltung des Schulwesens und der schulischen Bildung und Erziehung muss die Trennung von Staat und Religion sowie die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates beachten.593 Der so geregelte Religionsunterricht stellt sich als ein Ausgleichssystem der Art dar, dass er einerseits eine Trennung von Staat und Religion vollzieht, andererseits aber diese Trennung als eine offene, religionsfreundliche im Sinne des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ausgestaltet. Denn mit der Regelung zum Religionsunterricht in Art. 7 Abs. 2 und 3 S. 1 und 2 GG wird „(…) eine gebotene Verwirklichung der [positiven und negativen] Religionsfreiheit (…)“594 geregelt und in Ausgleich gebracht. Teilweise wird vertreten, dass eine Verlagerung des Religionsunterrichts ausschließlich in den privaten Bereich einen Widerspruch zur Neutralitätspflicht des Staates darstellen würde, weil dies mit einer Diskriminierung der Religion verbunden wäre.595 Dieser Argumentation kann insofern nicht zugestimmt werden, als dass bei einer entsprechenden verfassungsrechtlichen Regelung die staatliche Neutralitätspflicht als Ausfluss der in ihrer Gesamtheit zu würdigenden Verfassung selbst Maßstab sein muss und ihr nicht vorgelagert596 ist. Die gegenwärtige verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Religionsunterrichts als res mixta kann aber gerade wegen der Zuweisung der Glaubensinhalte an die Religionsgemeinschaft als Sicherung der weltanschaulich-religiösen Neutralität verstanden werden.597

592  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 238; Boysen, in: von Münch / Philip Kunig (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2012), Art. 7, Rn. 60 ff. 593  s.  Badura, in: Maunz / Dürig, GG Komm, Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 48, Rn. 69. 594  s.  Badura, in: Maunz / Dürig, GG Komm, Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 16, Rn. 15. 595  So Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 787, Rn. 116. 596  So oben S. 38. 597  So Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 90; Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (553); zur Frage der Systemwidrigkeit des Religionsunterrichts s. Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 239; von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. (2006), S. 219.



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts103

c) Recht der Erziehungsberechtigten beim Religionsunterricht aa) Rechtsqualität und Rechtsverhältnis zur Religionsfreiheit und zum elterlichen Erziehungsrecht Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, bis zum Eintritt des Kindes in die Religionsmündigkeit598 über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu entscheiden.599 Die nach Art. 7 Abs. 1 GG grundsätzlich bestehende Bestimmungsbefugnis des Staates über die Teilnahme am Schulunterricht wird im Ausnahmefall des Religionsunterrichts den Erziehungsberechtigten zugewiesen.600 Es handelt sich damit um ein gegenüber Art. 6 Abs. 2 spezielleres Mitwirkungsrecht (lex specialis) der Erziehungsberechtigten im schulischen Bereich und zugleich auch ein die elterliche Verantwortung aus Art. 6 Abs. 2 GG konkretisierendes und die Schulverantwortung begrenzendes Gestaltungsrecht.601 Art. 7 Abs. 2 und 3 GG liegt das Erziehungsrecht der Erziehungsberechtigten aus Art. 6 Abs. 2 GG und deren Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zugrunde.602 Zugleich ist Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG vorbehaltlich des Art. 7 GG gewährleistet.603 bb) Grundrechtsverpflichteter Adressat des Bestimmungsrechts ist nicht die den Religionsunterricht inhaltlich gestaltende Religionsgemeinschaft, sondern der Staat, dem die Schulaufsicht604 untersteht.605 Die Entscheidung über die Zulassung konfessionsfremder Schüler zum Religionsunterricht obliegt der jeweiligen Reli­ 598  Der religionsmündige Schüler kann vom Recht auf Abmeldung ohne die Mitwirkung der Erziehungsberechtigten Gebrauch machen, s. Badura, in: Maunz / Dürig, GG Komm, Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 17 (56), Rn. 84; die Religionsmündigkeit tritt in Deutschland nach § 5 Gesetz über die religiöse Kindererziehung vom 15. Juli 1921 mit der Vollendung des 14. Lebensjahres ein. 599  s. Art. 7 Abs. 2 GG. 600  s.  Gröschner, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 2. Aufl. (2004), Art. 7, S. 868, Rn. 86. 601  s.  Gröschner, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 2. Aufl. (2004), Art. 7, S. 868, Rn. 86. 602  s.  Badura, in: Maunz  /  Dürig, GG Komm., Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 17 (56), Rn. 83. 603  s. BVerfGE 52, 223 (235). 604  Zur Bedeutung des Begriffs „Schulaufsicht“ aus Art. 7 Abs. 1 GG s. Jakobs, Kreuze in der Schule – Glaubensfreiheit und Benachteiligungsverbot, 2000, S.  39 ff. 605  s. Art. 7 Abs. 1 GG.

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gionsgemeinschaft und nicht dem Staat, da insoweit die innere Gestaltung des Religionsunterrichts berührt ist.606 cc) Institutionelle Gewährleistung und subjektives Recht In erster Linie wird in Art. 7 Abs. 3 GG eine institutionelle Garantie des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen gesehen.607 Die Bundesländer sind danach verpflichtet, den Religionsunterricht in nicht bekenntnisfreien Schulen als ordentliches Lehrfach anzubieten.608 Nach weit überwiegender Ansicht gewährleistet Art. 7 Abs. 2 GG i. V. m. Art. 7 Abs. 3 S. 1 und 3 GG daneben ein (bedingtes)609 subjektives Recht der Erziehungsberechtigten und Schüler auf konfessionellen Religionsunterricht.610 Das Gleiche gilt für Religionsgemeinschaften aus Art. 7 Abs. 3 GG.611 Hier bezieht sich das Recht auf die Einrichtung und Erteilung des Unterrichts in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaft.612 Der Staat sei dazu verpflichtet, Raum für eine Betätigung des Glaubens zu schaffen und zu erhalten und dies umso mehr, wenn er über die Ausfüllung der Zeit seiner Bürger verfügt.613 Das subjektive Recht als Leistungsrecht steht unter dem 606  s. BVerfGE 74, 244 (253, 254); Gröschner, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 2. Aufl. (2004), Art. 7, S. 868, Rn. 87. 607  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 789, Rn. 123); Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (554). 608  s. BVerfGE 52, 223 (242). 609  Die Durchführung hängt vom Willen der Religionsgemeinschaft ab, die wiederum nicht dazu verpflichtet werden kann, s. Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (555). 610  s.  Badura, in: Maunz / Dürig, GG Komm., Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 56, Rn. 83; Robbers, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 789, Rn. 123; Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (554). Gröschner, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 2. Aufl. (2004), Art. 7, S. 867, Rn. 86; ablehnend Hillgruber, Der deutsche Kulturstaat und der muslimische Kulturimport, in: JZ 1999, S. 538 (545, 546). 611  s.  Badura, in: Maunz / Dürig, GG Komm, Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 57, Rn. 87); Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (554). 612  s.  Badura, in: Maunz  /  Dürig, GG Komm, Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 57, 58, Rn. 87. 613  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 789, Rn. 123.



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts105

Vorbehalt des Möglichen, d. h. es ist ein Leistungsrecht, soweit es vernünftigerweise vom Staat gefordert werden kann.614 dd) Grundrechtsgewährleistung Aus Art. 7 Abs. 3 GG folgt, dass der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen grundsätzlich zu den ordentlichen Lehrfächern zählt. Einer besonderen Anmeldung zum Religionsunterricht bedarf es nicht.615 Es ist damit kein Wahlfach.616 Daraus folgt für Art. 7 Abs. 2 GG, dass, sofern eine Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht nicht gewünscht ist, eine Abmeldung zu erfolgen hat, es sich mithin um ein Pflichtfach mit Abmeldemöglichkeit handelt.617 Diese Befreiungsmöglichkeit ist Ausfluss des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.618 Um den Charakter des Religionsunterrichts als Pflichtfach zu wahren, kann die Abmeldung an die Schriftform gekoppelt werden.619 Eine Erklärung über die Abmeldegründe darf nicht verlangt werden.620 Eine solche Forderung wäre eine Verpflichtung zur Offenbarung der religiösen Überzeugung, zu der aber gem. Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 3 S. 1 WRV niemand gezwungen werden darf.621 Problematisch an der Abmeldepflicht ist der Zwang, sich aktiv im Sinne einer Abwehrhandlung gegen die zunächst bestehende Teilnahmepflicht zur Wehr setzen zu müssen. „Art. 7 Abs. 2 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet die Schule dazu, im Rahmen ihrer Möglichkeiten Sorge dafür zu tragen, dass die Abmeldung vom Religionsunterricht für die Betroffenen nicht zu einer Diskriminierung in der Schule führt“.622 Der Vorschub der Wirksamkeit der Abmeldung auf den nächsten Zeugnistermin ist nur dann zulässig, wenn zwingende organi614  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 789, Rn. 123. 615  s.  Badura, in: Maunz / Dürig, GG Komm, Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 56, Rn. 83. 616  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 786, Rn. 110. 617  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 786, Rn. 110. 618  s.  Badura, in: Maunz  / Dürig, GG Komm, Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 56, Rn. 83; Robbers, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 792, Rn. 136. 619  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 786, Rn. 110. 620  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 787, Rn. 113. 621  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 787, Rn. 113. 622  Robbers, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 787, Rn. 112.

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satorische Gründe dies erfordern.623 Ein Recht auf Gestaltung des Unterrichtsinhalts ergibt sich i. V. m. Art. 4 Abs. 1 und 2 bzw. Art. 6 Abs. 2 GG weder für die Schüler noch für die Erziehungsberechtigten.624 Dies gilt auch für das Recht, zu einem Religionsunterricht seiner freien Wahl zugelassen zu werden.625 Das Bestimmungsrecht nach Art. 7 Abs. 2 GG findet seine Grenze im Rahmen des Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG (verfassungsunmittelbare Schranke),626 mithin im Rahmen der Bestimmungsbefugnis der Religionsgemeinschaften über die Grundsätze des Religionsunterrichts.627 d) Der Schutzbereich aa) Gewährleistung und Grundrechtsträger „Art. 7 Abs. 3 S. 1 und 2 GG garantieren den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach und seine Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften nicht nur institutionell, sondern auch nach Maßgabe zumindest zweier subjektiver öffentlicher Rechte.“628 Der Staat ist verpflichtet, Religionsunterricht anzubieten.629 Er ist jedoch auch eine objektive Gewährleistung und die Garantie einer öffentlich-rechtlichen Institu­ tion.630 Die Garantie ist ihrerseits Grundlage „subjektiver grundrechtlicher Rechte“.631 Damit wird die in der Religion begründete und selbstbestimmte Aufgabe der religiösen Erziehung der Kinder in der öffentlichen Schule gesichert.632 Es stellt sich die Frage, ob daneben auch Religionsgemeinschaften aus den Gewährleistungen des Art. 7 Abs. 3 S. 1 und 2 GG Rechte ableiten können. Gerichtet auf die Einrichtung des Religionsunterrichts in 623  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 787, Rn. 114. 624  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 786, Rn. 111. 625  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 786, Rn. 111. 626  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 786, Rn. 111. 627  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 786, Rn. 111. 628  Gröschner, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 2.  Aufl. (2004), Art. 7, S. 869, 870, Rn. 90. 629  s. BVerfGE 74, 244 (251). 630  s.  Badura, in: Maunz / Dürig, GG Komm, Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 48, Rn. 69. 631  s.  Badura, in: Maunz  / Dürig, GG Komm, Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 48, Rn. 69; ablehnend Czermak, s. ders., Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 157, m. w. N. 632  s.  Badura, in: Maunz / Dürig, GG Komm, Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 48, Rn. 69.



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts107

den öffentlichen Schulen nach Maßgabe von Art. 7 Abs. 3 S. 1 und 2 GG wird dies bejaht.633 Die Religionsgemeinschaften haben das Anliegen, ihre Glaubensgrundsätze im Schulunterricht zu vermitteln und die bereits bestehende konfessionelle Bindung zu vertiefen.634 Die Verpflichtung des Staates auf Einrichtung des Religionsunterrichts aus Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG liegt somit im Interesse der Religionsgemeinschaft und ist Mittel zur Grundrechtsverwirklichung aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zugunsten der Religionsgemeinschaften.635 Umgekehrt besteht weder gegenüber dem Staat noch gegenüber den Schülern und Erziehungsberechtigen eine Pflicht der Reli­ gionsgemeinschaften zur Mitarbeit bei der Ermöglichung des Religionsunterrichts.636 Ist ein Religionsunterricht nicht möglich, ist es dem Staat anheimgestellt, einen Religionskundeunterricht durchzuführen, der dann wegen der Neutralitätspflicht nicht auf die Vermittlung von Glaubenswahrheit abzielt, sondern lediglich Kenntnisse und Verständnis vermitteln darf.637 bb) Religionsgemeinschaft (1) Einleitung Der in Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG verwendete Ausdruck „Religionsgemeinschaften“, meint dasselbe wie der Ausdruck „Religionsgesellschaften“ in Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 WRV.638 Dabei nimmt Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG, anders als der Weimarer Artikel, der einen für die Betroffenen inadäquaten Vereinscharakter nahelegt, in positiver Weise das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften auf.639 Wenngleich der Begriff „Religionsgemeinschaft“ verschiedentlich definiert wird, so ist doch im Allgemeinen der Vorschlag von Gerhard Anschütz anerkannt.640 „Religionsgesellschaft“ ist 633  Vgl. BVerwGE 123, 49 (52); Badura, in: Maunz  / Dürig, GG Komm, Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 17 (57, 58), Rn. 87; Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S.  157, m. w. N. 634  s. BVerwGE 123, 49 (53). 635  s. BVerwGE 123, 49 (53). 636  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 796, Rn. 158, 159. 637  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 797, Rn. 160. 638  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck, GG Komm., Bd. 1, 6.  Aufl. (2010), Art. 7, S. 795, Rn. 149. 639  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck, GG Komm., Bd. 1, 6.  Aufl. (2010), Art. 7, S. 795, Rn. 149. 640  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (267); Coumont, Islam und Schule, in:

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

ein die Angehörigen eines und desselben Glaubensbekenntnisses (…) – oder mehrerer verwandter Glaubensbekenntnisse (…) – für ein Gebiet (…) zusammenfassender Verband (…) zu allseitiger Erfüllung der durch das gemeinsame Bekenntnis gestellten Aufgaben (…).“641 Bei der Bestimmung dessen, was eine Religionsgemeinschaft ist, muss das Selbstverständnis der Gemeinschaft ein wesentliches Gewicht besitzen, wobei umgekehrt nicht allein das Selbstbestimmungsrecht maßgeblich ist.642 Das Selbstverständnis der betreffenden Gemeinschaft muss berücksichtigt werden, sofern es um die Beurteilung dessen geht, ob die Gemeinschaft überhaupt eine Religion vertritt und nicht, ob es sich um eine Religionsgemeinschaft handelt.643 Weltanschauungsgemeinschaften sind gem. Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 7 WRV im Hinblick auf die Gewährleistungen des Art. 7 Abs. 3 GG den Religionsgemeinschaften gleichgestellt.644 Weil die Grundsätze der Religionsgemeinschaft für den Religionsunterricht bestimmend sind, müsse die Religionsgemeinschaft über eine Instanz verfügen, die gegenüber der Schulbehörde diese Grundsätze verbindlich feststellen kann.645 Die Religionsgemeinschaft muss dabei nicht den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft besitzen.646 Es kann daher auch nicht darauf ankommen, dass die Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (557). 641  Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, 14. Aufl. (1933), Art. 137, S. 633; so auch BVerwGE 123, 49 (54), m. w. N. 642  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 795, Rn. 150; Badura, in: Maunz  /  Dürig, GG Komm, Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 59, Rn. 88; Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 77. 643  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (556). 644  s.  Badura, in: Maunz  / Dürig, GG Komm, Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 58, Rn. 88; Robbers, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 795, Rn. 152; a. A. Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 107. 645  So Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein (Hrsg.)Starck, GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 795, Rn. 150. 646  s. BVerwGE 123, 49 (70); Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 78; Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 795, Rn. 151; Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (266); Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (556); a. A. Hillgruber, Der deutsche Kulturstaat und der muslimische Kulturimport, in: JZ. 1999, S. 538 (546); für den islamischen Religionsunterricht soll der öffentlich-rechtliche Körperschaftsstatus gefordert werden s. Jeand’Heur / Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrecht, 2000, S. 222, Rn. 324; Korioth, Islamischer Religionsunterricht und



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts109

Religionsgemeinschaft die materiell-rechtlichen Voraussetzungen erfüllt, die für die Verleihung des Körperschaftsstatus notwendig sind.647 Dies entspricht dem Wortlaut sowie Sinn und Zweck des Art. 7 Abs. 3 GG.648 Vielmehr reicht eine zivilrechtliche Rechtsfähigkeit aus,649 da auch in diesem Fall eine verlässliche und angemessene Zusammenarbeit des Staates mit der Religionsgemeinschaft möglich ist.650 Andernfalls würde der Staat entgegen seiner Neutralitätspflicht und dem Sinn der grundgesetzlichen Regelung zum Religionsunterricht den Religionsgemeinschaften bestimmte Strukturen aufzwingen.651 Selbstredend dürfte sein, dass sich die grundgesetzliche Gewährleistung des Religionsunterrichts nicht nur auf die Erteilung eines christlichen Religionsunterrichts beschränkt ist.652 (2) Religiöser Konsens Religionsgemeinschaften müssen über ein Mindestmaß an festliegenden Glaubensinhalten in einem gemeinsamen Bekenntnis verfügen.653 Alle Mitglieder müssen sich also zu den religiösen Überzeugungen bekennen, auf denen die Gemeinschaft beruht, wobei eine Einigkeit in allen einzelnen Glaubensfragen nicht notwendig ist.654

Art. 7 III GG Zu den Voraussetzungen religiöser Vielfalt in der öffentlichen Pflichtschule, in: NVwZ, 1997, S. 1040 (1047). 647  Vgl. Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (556). 648  Vgl. Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 91. 649  s.  Badura, in: Maunz  / Dürig, GG Komm, Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 58, Rn. 88; Robbers, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 795, Rn. 151. 650  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck, GG Komm., Bd. 1, 6.  Aufl. (2010), Art. 7, S. 795, Rn. 151. 651  s.  Badura, in: Maunz  / Dürig, GG Komm, Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 58; Rn. 88; Robbers, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 795, Rn. 151. 652  s.  Badura, in: Maunz / Dürig, GG Komm, Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 59, Rn. 89. 653  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 795, Rn. 150; Badura, in: Maunz  /  Dürig, GG Komm, Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 58, Rn. 88; Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (267); Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (557). 654  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (557).

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

(3) Umfassende Pflege der Religion Für die Annahme einer Religionsgemeinschaft bedarf es einer umfassenden und nicht nur in einzelnen Aspekten betriebenen Pflege des Glaubens. Dies grenzt die Religionsgemeinschaft von „religiösen Vereinen“ nach Art. 140 GG i. V. m. 138 Abs. 2 WRV ab, welche hinsichtlich der Pflege des religiösen Lebens ihrer Mitglieder nur eine partielle Zielsetzung aufweisen.655 (4) Religionspflege als Zweck Weiterhin ist für die Annahme einer Religionsgemeinschaft notwendig, dass das Religiöse im Zentrum aller Aktivitäten steht.656 Ein religiöser Verein, der sich gründet, um eine Schule zu betreiben und Religionsunterricht an öffentlichen Schulen anzubieten, handelt daher nur partiell religiös und kann daher nicht als Religionsgemeinschaft betrachtet werden.657 Ist ein religiöser Verein zum Zweck der Religionspflege gegründet, vermag an dessen Einstufung als Religionsgemeinschaft auch eine politische oder gesellschaftliche Betätigung nichts zu ändern.658 Es muss aber bei Betätigungen jenseits der Religionspflege immer erkennbar sein, dass sie im Zusammenhang mit religiöser Zielsetzung erfolgt und dieser dient.659 Bei Organisationen des politischen Islams wird diese verneint, weshalb es sich bei diesen nicht um Reli­ gionsgemeinschaften im Sinne des Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG handelt.660 (5) Eindeutige Mitgliedschaft Die Annahme einer Religionsgemeinschaft setzt ferner voraus, dass die betreffende Gemeinschaft eine bestimmte Mitgliederzahl aufweist, die ver655  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (267); Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (557). 656  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (558). 657  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (557, 558). 658  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (558). 659  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (559). 660  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (559).



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lässlich und nachvollziehbar bestimmt werden kann.661 Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass die zuständigen staatlichen Stellen ohne Weiteres erkennen können, welche Schüler im Rahmen der Schulpflicht zur Teilnahme verpflichtet sind.662 (6) Kooperationsbereitschaft und Ansprechpartner Für die Einrichtung eines Religionsunterrichts ist der Staat auf die Mitwirkung der Religionsgemeinschaft angewiesen.663 Infolgedessen muss die Religionsgemeinschaft in der Lage und willens sein, mit dem Staat zu kooperieren, um die Grundsätze des Unterrichts verbindlich festzulegen.664 (7) Persönliches Substrat Notwendig für das Vorliegen einer Religionsgemeinschaft ist nach überwiegender Ansicht, dass die Religionsgemeinschaft ein „gewisses persön­ liches Substrat“ besitzt und sich nicht bloß als ein Zusammenschluss von juristischen Personen darstellt.665 Wobei es auf die Größe der Gemeinschaft nicht ankommt, mithin also schon der Zusammenschluss von zwei Personen für die Bejahung des Vorliegens einer Religionsgemeinschaft reicht.666 Bei 661  s.  Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 91; Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (268); Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (559). 662  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (268). 663  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (266). 664  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (266); Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (560). 665  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (268, 269); Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (560). 666  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (560).

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

Dachverbänden, die nur aus juristischen Personen bestehen, mithin also kein persönliches Substrat aufweisen, wird die Annahme einer Religionsgemeinschaft nach überwiegender Ansicht abgelehnt.667 Vom zu prüfenden Einzelfall hängt es ab, ob ein Dachverband, der auch aus natürlichen Personen besteht, die zugleich auch Mitglieder der Unterverbände sind, als Religionsgemeinschaft angesehen werden kann.668 Es bedarf dabei einer gelebten Gemeinschaft der natürlichen Personen auf Dachverbandsebene und nicht ausschließlich auf Unterverbandsebene.669 Eine andernfalls vorliegende rechtlich-formale Mitgliedschaft genügt den Anforderungen einer Religionsgemeinschaft nicht.670 Je intensiver die religiöse Gemeinschaft in den angeschlossenen Vereinen gelebt werde, umso höhere Anforderungen müsse an das Gemeinschaftsleben im Dachverband gestellt werden und umgekehrt.671 Es wird also eine gewisse Kongruenz im Gemeinschaftsleben der unterschiedlichen Ebenen verlangt. Entscheidend sei jedenfalls die notwendige Homogenität der Mitgliedsverbände.672

667  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (561); Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (269). 668  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (562); Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (269); bejahend für die Zusammenfassung von Moscheegemeinden in islamischen Dachverbänden von Campenhausen / Unruh, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm. Bd. 3, 6. Aufl. (2010), Art. 137 WRV, S. 2293, Rn. 209. 669  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (562); Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (269). 670  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (562); Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (269). 671  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (269). 672  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (270).



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cc) Die Gleichstellung des Religionsunterrichts Aus der Stellung des Religionsunterrichts als ordentliches Unterrichtsfach nach Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG ergibt sich dessen Wesen als integraler Bestandteil der öffentlichen Schule und nicht als kirchliche Verkündung.673 Es handelt sich damit um eine staatliche Aufgabe mit der Pflicht zur Gleichbehandlung mit allen anderen Unterrichtsfächern im Rahmen der Schulorganisation.674 Er muss aufgrund dieser Gleichstellung innerhalb der üblichen Schulstunden stattfinden, darf nicht generell auf Randstunden gelegt werden und muss mit einer angemessenen Wochenstundenzahl ausgestattet werden.675 Folglich ist der Staat auch für die Finanzierung des Religionsunterrichts verantwortlich.676 Dies gilt nicht nur für Sachkosten, sondern auch für Personalkosten, unabhängig davon, ob der Unterricht von kirchlichen Bediensteten erteilt wird.677 Deshalb ist der Staat auch dazu verpflichtet, für kompetentes Lehrpersonal zu sorgen.678 Daraus wiederum folgt, dass der Staat mit Beteiligung der jeweiligen Religionsgemeinschaft Vorsorge für geeignete Ausbildungsstätten trifft, etwa durch Einrichtungen an Hochschulen.679 In Entsprechung zu den anderen Unterrichtsfächern ist auch der Besuch des Konfessionsunterrichts für Schüler mit der jeweiligen Konfes­ sion Pflicht.680 Ein Recht zur Abmeldung ergibt sich einerseits aus dem 673  s. BVerfGE 74, 244 (251); Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (2008), S. 128; Robbers, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 791, Rn. 130. 674  s. BVerfGE 74, 244 (251); Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (2008), S. 128; Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (265). 675  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 791, Rn. 130, S. 793, Rn. 141; Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (2008), S. 128; Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (265). 676  s.  Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (2008), S. 128. 677  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 792, Rn. 132, 133; Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (2008), S. 128, 129. 678  Vgl. Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 792, Rn. 135. 679  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 792, Rn. 135. 680  s.  Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (2008), S. 129.

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

elterlichen Erziehungsrecht nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG und der Religionsfreiheit nach Art. 4 GG.681 Darüber hinaus bestimmt Art. 7 Abs. 2 GG ausdrücklich, dass Erziehungsberechtigte über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht entscheiden können und gewährleistet insofern ein echtes subjektives öffentliches Recht.682 Gleichwohl macht dieses Recht auf Befreiung den Religionsunterricht nicht zu einem Wahlfach.683 dd) Sog. Übereinstimmungsklausel und das staatliche Aufsichtsrecht Der Religionsunterricht wird unbeschadet der staatlichen Aufsicht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt (sog. Übereinstimmungsklausel).684 Durch diese verfassungsrechtliche Übereinstimmungsklausel erfährt der Religionsunterricht neben dem Abmeldungsrecht eine weitere Sonderstellung gegenüber anderen obligatorischen Unterrichtsfächern.685 Der Staat kann in Anbetracht seiner Neutralitätspflicht keinen Wahrheitsanspruch behaupten. Aus diesem Grund kann er keine verbindlichen Vorgaben zu den religiösen Inhalten des Religionsunterrichts machen.686 Dies kann nur die jeweilige Religionsgemeinschaft. Infolgedessen modifiziert und begrenzt sich auch sein Aufsichtsrecht.687 Es umfasst die Organisation im Lehrplan, die Sicherstellung der Mittel, die Disziplinierung der Schüler und die Dienstaufsicht über das Lehrpersonal, soweit damit keine Entscheidung über Glaubensinhalte einhergeht.688 Über Inhalt und Ziel des Religionsunterrichts sind deshalb grundsätzlich die Vorstellungen der Kirchen maßgeblich, sodass der religiös neutrale Staat Änderungen im Verständnis vom Religionsunterricht grundsätzlich hinnehmen muss.689 Der Religi681  s.  Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (2008), S. 129. 682  s.  Boysen, in: von Münch / Kunig (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2012), Art. 7, S. 663, Rn. 70 ff. 683  s. BVerfGE 74, 244 (251, 252). 684  s. Art. 7 Abs. 3, S. 1 GG; BVerfGE 74, 244 (251). 685  s. BVerfGE 74, 244 (252). 686  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (264); Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (553). 687  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 794, Rn. 146. 688  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 794, Rn. 146. 689  s. BVerfGE 74, 244 (252).



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts115

onsunterricht ist in „(…) „konfessioneller Positivität und Gebundenheit“ zu erteilen (…)“.690. Für die Entscheidung über Curriculum und Unterrichtsmaterialien entscheiden der Staat und die Religionsgemeinschaft einvernehmlich, soweit nicht Glaubensfragen betroffen sind, über die allein die Religionsgemeinschaft entscheidet.691 Die Zusammensetzung des Teilnehmerkreises hat unmittelbare Rückwirkung auf die Unterrichtsgestaltung, weshalb die Entscheidung über die Teilnahme von Schülern entsprechend dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaft obliegt.692 Die Grenze ist durch den Verfassungsbegriff „Religionsunterricht“ gezogen, wonach sich eine Veränderung des Faches in seiner besonderen Prägung, also in seinem verfassungsrechtlich bestimmten Kern, verbietet.693 Der als allgemeine Konfes­ sionskunde gestaltete „Religionsunterricht“ wäre daher vom verfassungsrechtlichen Begriff des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG nicht mehr gedeckt und fiele daher auch nicht unter dessen institutionelle Garantie.694 Die Ausrichtung an den Glaubenssätzen der jeweiligen Konfession ist der unveränderliche Rahmen des Religionsunterrichts, innerhalb dessen eine pädagogische Gestaltung über Ziel und Inhalt möglich ist.695 Das staatliche Aufsichtsrecht erfährt seine verfassungsimmanenten Grenzen aus der Religionsfreiheit und dem Selbstbestimmungsrecht der Religionen.696 Dieses überschreitet er, „(…) wenn er nach eigener politischer Bewertung über die Stellung des Religionsunterrichts derart befinden will, dass er durch eine allein staatlich bestimmte Religionskunde zu ersetzten sei“.697 ee) Gemeinsame Angelegenheit (res mixta) Der Religionsunterricht gehört zu den sog. gemeinsamen Angelegenheiten (res mixtae) von Staat und Kirche, „(…) bei denen die Verantwortungsbereiche beider Institutionen eng miteinander verknüpft sind“.698 Auf diese Weise wird die Konfessionsgebundenheit des Religionsunterrichts durch 690  BVerfGE

74, 244 (252). in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 794, Rn. 146. 692  s. BVerfGE 74, 244 (254). 693  s. BVerfGE 74, 244 (252). 694  s. BVerfGE 74, 244 (252); Badura, in: Maunz  /  Dürig, GG Komm, Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 17 (48), Rn. 70. 695  s. BVerfGE 74, 244 (252). 696  s.  Badura, in: Maunz / Dürig, GG Komm., Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 47, Rn. 67. 697  Badura, in: Maunz / Dürig, GG Komm., Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 17 (49), Rn. 71. 698  BVerfGE 74, 244 (252); vgl. auch Badura, in: Maunz  / Dürig, GG Komm., Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 47, Rn. 67; Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 90. 691  s.  Robbers,

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

inhaltliche Ausfüllung durch die Religionsgemeinschaften sichergestellt.699 Ungeachtet dieser Zusammenarbeit zwischen Staat und Religionsgemeinschaft „(…) müssen die jeweiligen Zuständigkeiten streng voneinander geschieden werden“.700 ff) Beschränkungen Wegen der besonderen Verantwortung des Staates, in dessen Obhut die schulische Unterweisung von Minderjährigen stattfindet, wird verlangt, dass den Religionsgemeinschaften, denen der Religionsunterricht aus formalen Gründen grundsätzlich erlaubt werden könnte, an weiten Maßstäben gemessen werden müsse, die denjenigen entsprechen, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Zeugen-Jehovas-Urteil701 entwickelt hat.702 Mangels eines ausdrücklichen Gesetzesvorbehalts in Art. 7 GG kommen als Schranke703 ausschließlich verfassungsimmanente Schranken in Betracht.704 Wegen der Vergleichbarkeit werden die Beschränkungen parallel wie bei öffentlichrechtlichen Körperschaften formuliert.705 Danach müssen Religionsgemeinschaften, die die Einführung ihres Religionsunterrichts einfordern, gewährleisten, „(…) dass ihr künftiges Verhalten die in Art. 79 Abs. 3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die dem staatlichen Schutz anvertrauter Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staatskirchenrechts des Grundgesetzes nicht gefährden“.706 Hierbei handelt es sich um Maßstäbe, die an einer bestehenden Religionsgemeinschaft angelegt werden und wo es im Ergebnis infolge einer Interessenabwägung zur Ablehnung des Gesuchs auf Erteilung des 699  s.  Unruh,

Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 249. 74, 244 (251). 701  BVerfG 102, 370–400. 702  s.  Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 92; Gröschner, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 2004, Art. 7, S. 871, Rn. 93. 703  Uneinheitlich ist der dogmatische Umgang mit den „Schranken“. In der Literatur werden die eingrenzenden Merkmale auch auf Tatbestandsebene behandelt, Vgl. Badura, in: Maunz / Dürig, GG Komm., Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 59, Rn. 89, S. 60, Rn. 91. 704  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 257. 705  s.  Badura, in: Maunz / Dürig, GG Komm., Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 59, Rn. 89, S. 60, Rn. 91; Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 257; BVerfGE 102, 370 (392); Gröschner, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 2004, Art. 7, S. 871, Rn. 93. 706  BVerfGE 102, 370 (392); vgl. Badura, in: Maunz / Dürig, GG Komm., Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 59, Rn. 89; Gröschner, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 2004, Art. 7, S. 871, Rn. 93; Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 91, 92. 700  BVerfGE



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts117

Religionsunterrichts kommen kann.707 So müsse die Religionsgemeinschaft wie jene, die die Erlangung des öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV begehren, die Gewähr einer gewissen Dauer und Verfasstheit bieten, die einen geordneten Schulbetrieb, die Ausbildung der Lehrer und die erforderliche Zusammenarbeit mit dem Staat möglich macht.708 Insoweit lässt sich das staatliche Aufsichtsrecht im Sinne des Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG heranziehen, da es sich beim Religionsunterricht um eine staatliche Veranstaltung handelt.709 Darüber hinaus muss die Gewähr der Beachtung der (landes-)verfassungsrechtlich bzw. gesetzlich konkretisierten Erziehungsziele sichergestellt sein.710 In dieser Schrankenformulierung wird eine Bewertung der Glaubensinhalte nach ihrer Verfassungskonformität gesehen, die aber zulässig sei und damit keinen Verstoß gegen die staatliche Neutralität darstelle.711 Der Staat müsse bereits präventiv712 prüfen, ob die ihm vorgelegten Unterrichtsinhalte der Religionsgemeinschaft mit seinem Verfassungsrecht und seinen Erziehungszielen vereinbar sind.713 Dieser Auffassung kann insoweit gefolgt werden, als dass nicht die Glaubensinhalte, sondern vielmehr das Verhalten, also die Lehre verfassungsfeindlicher Inhalte, Anknüpfungspunkt für eine Bewertung sein können. In Bezug auf einen islamischen Religionsunterricht ist die Vereinbarkeit der Grundsätze des Islams mit den Verfassungswerten Diskussionsgegenstand.714 Es sollte dem Staat ferner möglich sein, aus organisatorischen Gründen im Sinne einer ordnungsgemäßen Durchführung des Religions­ 707  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (564). 708  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 795, Rn. 151; Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 91; Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (268); Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (564). 709  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 257; Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (564). 710  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 258. 711  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 258. 712  Zur strittigen Frage, ob die Prüfung auch repressiv stattfinden muss und ob ggf. verfassungswidrige Unterrichtsinhalte aus den Lehrplan genommen werden (sog. Reduktionsthese), im Übrigen aber die Religionsgemeinschaft unterrichten darf, s. Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 258, 259. 713  s.  Unruh, Religionsverfassungsrecht, 1. Aufl. (2009), S. 258. 714  s.  Badura, in: Maunz / Dürig, GG Komm., Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 59, Rn. 89; Gröschner, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 2. Aufl. (2004), Art. 7, S. 871, Rn. 92.

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

unterrichts Mindestschülerzahlen des betreffenden Bekenntnisses festzulegen.715 Dabei wird je nach Bundesland eine Mindestschülerzahl zwischen 5 und 12 verlangt.716 Ähnliche Mindestzahlen werden auch für die Einrichtung von Lehrstühlen zur Ausbildung von Religionslehrern gefordert, da sich andernfalls der finanzielle Aufwand nicht lohne.717 e) Der Religionsunterricht am Beispiel des islamischen Religionsunterrichts aa) Einleitung Bislang wird in keinem Bundesland ein ordentlicher islamischer Reli­ gionsunterricht im Sinne des Art. 7 Abs. 3 S. 1 und 2 GG angeboten,718 obgleich prinzipiell auch muslimischen Gemeinschaften das Recht zusteht, einen entsprechenden Religionsunterricht zu erteilen.719 Die in einigen Bundesländern eingeführten Modellversuche, deren Inhalte durch den Staat festgelegt werden, stellen sich im Hinblick auf die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates als verfassungswidriges Handeln dar, das nicht von Art. 7 Abs. 2 und 3 GG gedeckt ist.720 Die Deutsche Islamkonferenz hat beschlossen, darauf hinzuwirken, einen islamischen Religionsunterricht flächendeckend einzuführen721 und die Voraussetzungen für die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts zu klären.722 Dieser diene dem Integrationsinteresse des Staates.723 Dabei stellen sich im Zusammenhang mit dem islamischen Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG zwei Pro715  s.  Waldhoff,

Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 91,

716  s.  Waldhoff,

Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 91,

92. 92.

717  Kritisch zu finanziellen Erwägungen Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 91, 92. 718  s.  Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 93; Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (265). 719  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (265). 720  s.  Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 93. 721  s.  Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 92. 722  s.  Hermani, Die Deutsche Islamkonferenz 2006–2009, 2010, S. 122. 723  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (265).



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts119

blemschwerpunkte: Die Vereinbarkeit der Grundsätze des Islams mit den Verfassungswerten724 und darüber hinaus die Schwierigkeit, auf Seiten der islamischen Gemeinschaft einen Ansprechpartner mit tragfähigem Mandat für den Staat zu ermitteln, um die Unterrichtsinhalte verbindlich zu bestimmen.725 Der Islam, so scheint es, kennt eine solche Mandatierung nicht.726 bb) Fehlen einer Religionsgemeinschaft Das BVerwG entschied zuletzt, dass ein Dachverband eine Religionsgemeinschaft im Sinne des Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG sein kann, wenn es sich tatsächlich um eine Gemeinschaft handelt, welche „(…) sich als Teil eines gemeinsamen, alle diese Gläubigen umfassenden Glaubensvollzugs darstellt“727 und nicht um einen Verein, der religiöse Aufgaben nur partiell erfüllt oder nur die Vertretung der Interessen nach außen oder Koordinierungsaufgaben erfüllt.728 Gemeinschaften, die gegründet werden, um Reli­ gionsunterricht an öffentlichen Schulen anzubieten, seien religiöse Vereine und nicht Religionsgemeinschaften im Sinne des Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG, da ihnen insoweit die Zielsetzung zum umfassenden Glaubensvollzug fehle.729 Dies gilt insoweit auch für Organisationen des politischen Islams, deren Zielsetzung darauf gerichtet ist, das politische System zu ändern, ungeachtet der religiösen Motivation für die Zielsetzung.730 In Bezug auf die Forderung nach „persönlichem Substrat“ offenbaren sich hinsichtlich islamischer 724  s.  Badura, in: Maunz / Dürig, GG Komm., Bd. 2, 2006, Art. 7, S. 59, Rn. 89; Gröschner, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 2. Aufl. (2004), Art. 7, S. 871, Rn. 92; Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 93. 725  s.  Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 107; Robbers, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 796, Rn. 154; Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffent­ lichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (266). 726  s.  Robbers, in: von Mangoldt  /  Klein  /  Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 796, Rn. 154. 727  BVerwGE 123, 49 (60). 728  s.  Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 97. 729  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (267); Poscher, Totalität – Homogenität – Zentralität – Konsistenz, Zum Verfassungsrechtlichen Begriff der Religionsgemeinschaft, in: Der Staat, 39 (2000), S. 49 (60); a. A. Heimann, Alternative Organisationsformen islamischen Religionsunterrichts, in: DÖV, 2003, 238 (242). 730  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (268).

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

Dachverbände Zweifel, da diese aus dem Zusammenschluss verschiedener muslimischer Gemeinden und Vereinen entstehen.731 Wegen des fehlenden persönlichen Substrats wird in diesen Fällen das Vorliegen einer Religionsgemeinschaft im Sinne des Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG abgelehnt.732 Die Abgrenzung bei gleichzeitigem Vorliegen eines persönlichen Substrats ist dagegen schwieriger.733 Jedenfalls aber reicht eine entsprechende Bestimmung in der Satzung nicht aus, um auf der Ebene des Dachverbandes ein persönliches Substrat anzunehmen.734 Eine lediglich formal-juristische Mitgliedschaft natürlicher Personen im Dachverband genügt nicht.735 Vielmehr brauche es eine gelebte Gemeinschaft natürlicher Personen auf Dachverbandsebene, wobei es immer auf den Einzelfall ankomme.736 Die Zusammenfassung von Moscheegemeinden zu Dachverbänden genüge jedoch für die Annahme einer Religionsgemeinschaft.737 „Wird in den Vereinen eine instensive reli­ giöse Gemeinschaft gepflegt, ist für den Dachverband Vergleichbares zu fordern“.738 Je intensiver die religiöse Gemeinschaft in den angeschlossenen Vereinen gelebt werde, umso höhere Anforderungen müsse an das Gemeinschaftsleben im Dachverband gestellt werden und umgekehrt.739 Es wird 731  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (269). 732  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (269); Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (563). 733  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (269). 734  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (269). 735  So bei Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (269). 736  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (269). 737  s.  von Campenhausen / Unruh, in: von Mangoldt  / Klein / Starck (Hrsg.), Bd. 2, 6. Aufl. (2010), Art. 137 WRV, S. 2293, Rn. 209. 738  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (269). 739  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (269).



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts121

insofern eine gewisse Kongruenz im Gemeinschaftsleben der Vereins- und Dachverbandsebene gefordert. cc) Beschränkungen Zwar wurde bislang keine islamische Vereinigung als Religionsgemeinschaft im Sinne des Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG anerkannt, gleichwohl ist insbesondere die Zulässigkeit eines muslimischen Religionsunterrichts mit der Frage von verfassungswidrigen Unterrichtsinhalten und der Gewähr der Dauer verbunden.740 Wegen der Bindung der Religionsgemeinschaft an die staatlichen Bildungs- und Erziehungsziele gemäß Art. 7 Abs. 3 S. 1 und 2 GG ist ein Religionsunterricht, der diesen Zielen zuwiderläuft, verfassungswidrig.741 Ein etwaiger Unterricht, der die Errichtung eines „islamischen Staates“ nach saudi-arabischem Vorbild oder die Forderung nach Einführung von Körperstrafen wegen des Abfalls vom Glauben (Apostasie) anstrebt, wäre verfassungswidrig.742 dd) Alternative Lösungsversuche (1) Religionsunterricht durch den deutschen Staat Sofern der Staat, wie es im Falle von Nordrhein-Westfalen743 geschieht, einen Religionsunterricht anbietet, der nicht gem. Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaft durchgeführt wird, steht dieser im Widerspruch zu der grundgesetzlichen Konzep­ tion des Verhältnisses von Staat und Religion. Er stellt einen Verstoß gegen das Trennungsgebot aus Art 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 1 WRV sowie 740  s.  Muckel / Tillmanns ohne entsprechende Beispiele aus der Praxis, s. ders., Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (270, 271); Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (564). 741  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (270). 742  s.  Muckel / Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234 (271); Gröschner, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 2004, Art. 7, S. 871, Rn. 93. 743  Vgl. Gesetz zur Einführung von islamischem Religionsunterricht als ordent­ liches Lehrfach (7. Schulrechtsänderungsgesetz) v. 22. Dezember 2011, verkündet in: GV. NRW., Ausgabe 2011, Nr. 34 v. 30.12.2011, S. 725–732.

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

gegen die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates dar.744 Gesellschaftliche Zwänge und eine etwaige Zustimmung der islamischen Gemeinden und Muslime vermag diesen Verfassungsverstoß nicht zu beheben.745 Gleichwohl gibt es Versuche, diesen staatlichen Religionsunterricht übergangsweise zu tolerieren, da eine Kassation dessen der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde.746 Dabei wird letztlich nicht überzeugend in erster Linie auf Art. 7 Abs. 3 GG abgestellt, wonach sich das Grundgesetz eindeutig zur Abhaltung eines ordentlichen Religionsunterrichts bekannt habe und dass das Religiöse ein wichtiger Bestandteil der Persönlichkeitsentwicklung der Schüler darstelle.747 Darüber hinaus wird kaum überzeugend auch das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG bemüht.748 Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, aus Gründen der Staatsräson zu verhindern, dass die Schüler ihre islamisch-religiöse Unterweisung außerhalb der Schule an „obskuren Koranschulen“749 erhalten. Dies allein vermag aber eine Tolerierung des staatlichen Religionsunterrichts nicht zu legitimieren, wenngleich dieses Ziel politisch nachvollziehbar ist. Das Religionsverfassungsrecht ist als Ausgleichsordnung konzipiert und sieht gerade keine Einmischung in religiöse Angelegenheiten vor. Unklar ist darüber hinaus, worin im Einzelnen der Mehrwert dieses neutralitätswidrigen Modells für die langfristige Realisierung eines islamischen Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 S. 1 und 2 GG ist.750 Vielmehr kann befürchtet werden, dass die Strukturen des staatlichen Religionsunterrichts bestärkt werden und sich der deutsche Staat seinen (Staats-)Islam schafft.751

744  So auch Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (568). 745  s.  Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 94. 746  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (569); Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 94. 747  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (569). 748  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (570). 749  s.  Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (569). 750  Vgl. etwa Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, 2010, S. 94. 751  Die Verneinung der Staatsreligion beinhaltet nicht nur das Identifikationsverbot, sondern auch das Verbot an den Staat der Kreierung einer eigenen Staatsreli­ gion, s. Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 177.



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts123

(2) Religionsunterricht durch einen ausländischen Staat Für ausländische Regierungen gilt im Ergebnis nichts anderes als für den vom deutschen Staat erteilten Religionsunterricht. Es fehlt insoweit schon nach dem Wortlaut des Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG an einer Religionsgemeinschaft.752 Die Zulassung eines Religionsunterrichts, dessen Inhalt von einem ausländischen Staat bestimmt wird, ist verfassungsrechtlich nicht zulässig. f) Zwischenergebnis Der Religionsunterricht, wie er in der Verfassung statuiert ist, versteht sich angesichts seiner kooperativen Ausgestaltung als Ausgleichsordnung zwischen Religionsfreiheit und weltanschaulich-religiöser Neutralität des Staates. Der Religionsunterricht steht zwar allen Religionen gleichermaßen offen, einen islamischen Religionsunterricht konnte es bislang aber wegen des Nichtvorliegens der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen nicht geben. Eine Pflicht des Staates zur Ermöglichung des islamischen Religionsunterrichts gibt es jedoch nicht. Gleichwohl stellt sich rechtspolitisch die Frage, ob nicht eine Verfassungsänderung sinnvoll wäre, um auch einen muslimischen Religionsunterricht einführen zu können. Der derzeit in den verschiedenen Bundesländern durchgeführte islamische Religionsunterricht ist verfassungsrechtlich unzulässig. Andererseits gerät die Frage in den Blick, ob und wie sich muslimische Gemeinschaften an den gegebenen Verfassungsrahmen anpassen können, um ohne die Herbeiführung einer Verfassungsänderung den bekenntnisgebundenen Religionsunterricht erteilen zu können. Die gänzliche Abschaffung des Religionsunterrichts, um Auswirkungsgleichheit für alle Religionen zu erreichen, würde eine religionsverfassungsrechtliche Zäsur herbeiführen. Eine befriedende Lösung des Problems kann darin nicht gesehen werden. Weder die christlichen Kirchen noch Muslime stellen eine derartige Forderung auf. Die christlichen Kirchen würden einen Rechtsverlust erleiden, der dem Islam bzw. den Muslimen zugeschrieben werden könnte. Darüber hinaus würde die Abschaffung des Religionsunterrichts zugleich eine Ausstrahlungskraft auf andere religionsverfassungsrechtliche Gewährleistungen zur Folge haben, sodass letztlich ein Wandel von der kooperativen Trennung hin zum Laizismus nicht ausgeschlossen werden könnte. Dies ist aber abzulehnen, da sich das Kooperationsmodell in Deutschland bewährt hat. Vorzugswürdiger erscheint daher eine Reflexion des Kooperationsmodells mit dem Ziel, religiösen Neuerscheinungen die Teilhabe an den Angeboten der Ausgleichsordnung zu ermöglichen. 752  Robbers, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 7, S. 796, Rn. 154.

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

4. Die Gleichbehandlung im Glauben a) Rechtsnatur und -verhältnis zu anderen religionsverfassungsrechtlichen Normen Anders als anderen Grundrechten kommt dem Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG ein zweifaches Wesen zu. Einerseits enthält es ein Grundrecht als subjektives öffentliches Abwehrrecht und andererseits formuliert es zugleich eine objektive Wertentscheidung mit Ausstrahlungskraft auf die gesamte Rechtsordnung.753 Das Grundgesetz legt dem Staat durch Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG die Verpflichtung zur weltanschaulich-religiösen Neutralität auf.754 Art. 3 Abs. 3 GG ist gegenüber Art. 3 Abs. 1 GG bezogen auf die dort genannten Merkmale die Spezialnorm.755 Unmittelbare Überschneidungen finden sich zu den speziellen Gleichheits- und Freiheitsrechten Art. 4, 5, 33 GG und 140 GG i. V. m. 136 ff. WRV.756 Deren Verhältnis zu Art. 3 Abs. 3 GG gilt jedoch als ungeklärt, was in besonderem Maße für die inkorporierten Weimarer Kirchenartikel gilt.757 Art. 33 Abs. 3 genießt im Verhältnis zu Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG Vorrang.758 Soweit eine Ungleichbehandlung wegen religiöser Anschauung vorliegt, verstärkt Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG die Glaubensfreiheit aus Art. 4 GG.759 Vielfach werden in diesem Fall allein die Freiheitsgrundrechte angewandt, ohne dass die Relevanz des Art. 3 Abs. 3 GG behandelt wird, weshalb das Verhältnis zu Art. 4 GG als ungeklärt gilt.760 Teilweise wird eine Parallelanwendung vertreten, sofern nicht der Schwerpunkt eindeutig beim Freiheits- oder Gleichheitsrecht liegt.761 Soweit die Verfassung selbst Unterscheidungen „wegen“ der Religion zulässt, wie insbesondere in den Art. 136 ff. WRV, kann die grundsätzliche Aussage des Art. 3 Abs. 3 S. 1 753  s.  Jarass, in: Jarass  / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 114; Osterloh, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 233. 754  s.  Gubelt, in: Ingo von Münch  /  Philip Kunig (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 101. 755  s.  Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 2, 116. 756  s.  Osterloh, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6 Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 301. 757  s.  Osterloh, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG Komm, 6. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 301; dazu ausführlich Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 298 ff. 758  s.  Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 116. 759  s.  Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 116. 760  s.  Jarass, in: Jarass  / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 116; Osterloh, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG Komm, 6. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 301. 761  s.  Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 116.



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts125

GG durch den interpretatorischen Grundsatz der Einheit der Verfassung modifiziert und verdrängt werden.762 b) Rechtsberechtigte und -verpflichtete Das Wort „niemand“ in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG korreliert insoweit mit den Begriffen „alle Menschen“ in Art. 3 Abs. 1 GG, dessen Gewährleistungen allen natürlichen Personen zustehen.763 Juristische Personen und Personenvereinigungen können bei der Diskriminierung wegen des Glaubens oder religiö­ ser und politischer Anschauung Grundrechtsträger sein.764 Grundrechtsverpflichtete des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG sind alle Träger öffentlicher Gewalt.765 c) Ungleichbehandlung aa) Einführung „Niemand darf wegen (…) seines Glaubens, seiner religiösen (…) Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden.“766 Vorausgesetzt wird eine unterschiedliche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte durch die gleiche Stelle.767 Dieses wiederum muss in Abhängigkeit der Merkmale des im Falle des Art. 3 Abs. 3 S. 1 Alt. 7 und 8 GG geschehen, also in Anknüpfung an das Merkmal „Glaube“ und „religiöse Anschauung“.768 bb) Benachteiligung oder Bevorzugung Eine einschränkende Auslegung der Begriffe „Benachteiligung“ und „Bevorzugung“ wird überwiegend abgelehnt.769 Eine Beeinträchtigung im Sinne 762  s.  Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 705. 763  s.  Osterloh, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 238; Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 117; Gubelt, in: Ingo von Münch  /  Philip Kunig (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 94a. 764  s.  Jarass, in: Jarass  / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 117; Osterloh, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 238. 765  s.  Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 115. 766  Art. 3 Abs. 3 S. 1 Alt. 7 und 8 GG. 767  s.  Jarass, in: Jarass  /  Pieroth, GG Komm. 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 118; Pieroth / Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 27. Aufl. (2011), S. 109, Rn. 463. 768  s.  Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 118. 769  s.  Osterloh, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 251.

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG liegt vor, wenn dem Grundrechtsträger ein Nachteil zugefügt wird.770 Die Benachteiligung setzt nicht die Beeinträchtigung eines subjektiven Rechts des Betroffenen voraus, vielmehr reicht schon eine bloße Interessenbeeinträchtigung.771 Soweit Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG von Bevorzugung spricht, ist damit nicht eine Grundrechtsbeeinträchtigung des Begünstigten gemeint, sondern auf die mittelbare Wirkung der Bevorzugung für denjenigen abgehoben, der sich in einer vergleichbaren Situation befindet und die Bevorzugung nicht erhält.772 Dabei können auch ideelle oder emotionale Nachteile genügen.773 cc) Glaube und religiöse Anschauung Durch die Erwähnung des Wortes „Glaube“ werden auch areligiöse und antireligiöse Anschauungen geschützt und nicht nur das Religionsbekenntnis, das speziell nochmals begrifflich von der „religiösen Anschauung“ erfasst wird.774 Art. 3 Abs. 3 S. 1 Var. 7 und 8 GG meinen damit das Gleiche.775 Nach allgemeiner Meinung werden begrifflich sowohl die innere religiöse Überzeugung als auch die äußere Manifestation dieser Überzeugung erfasst.776 Geschützt werden durch den Glauben bedingte Eigenschaften bzw. Tätigkeiten.777 dd) Anknüpfungsverbot (1) Unmittelbares und mittelbares Anknüpfungsverbot Die Beeinträchtigung des Art. 3 Abs. 3 GG setzt eine Ungleichbehandlung, mithin eine unterschiedliche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte vor770  s.  Jarass,

in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 88, 130. in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, 88, 130; Gubelt, in: Ingo von Münch  /  Philip Kunig (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 103. 772  s.  Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 11, 130. 773  s.  Jarass, in: Jarass  / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 130; Gubelt, in: Ingo von Münch  /  Philip Kunig (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 103. 774  s.  Gubelt, in: Ingo von Münch  /  Philip Kunig (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 101. 775  s.  Gubelt, in: Ingo von Münch  /  Philip Kunig (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 6. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 101. 776  s.  Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 705. 777  s.  Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 128. 771  s.  Jarass,



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts127

aus.778 Dabei muss die Ungleichbehandlung in Abhängigkeit von bestimmten Merkmalen des Grundrechtsinhabers erfolgen.779 Eine unmittelbare Ungleichbehandlung liegt vor, wenn die staatliche Maßnahme rechtlich auf das Merkmal abhebt.780 Entscheidend dabei ist allein, ob der Rechtsverpflichtete auf das Merkmal abstellt, nicht ob das Merkmal tatsächlich vorliegt.781 Eine indirekte Anknüpfung liegt dagegen in den Fällen vor, in denen zwar nicht an das verbotene Merkmal angeknüpft wird, das ersatzweise verwendete Kriterium im Ergebnis aber oder in den meisten Fällen auf eine Verwendung des Merkmals hinausläuft.782 Dem ist zu folgen, da andernfalls eine Umgehung des Anknüpfungsverbots zu befürchten ist.783 Dem materiellen Verständnis des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG entspricht es eher, wenn auch typische indirekte Unterscheidungswirkungen mit einbezogen werden, dann allerdings mit abgeschwächten Rechtfertigungsanforderungen an solche Wirkungen.784 (2) Kausalität ohne Finalität Der Nachteil muss eine ursächliche Folge des Abstellens auf die religiöse Anschauung sein.785 Zweifelhaft ist dagegen, ob die Benachteiligung und Bevorzugung bezweckt sein muss, es also auf den Willen des Staats ankommt.786 Ausgangspunkt für diese Zweifelsfrage ist die Formulierung „wegen“ in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG. Während das Bundesverfassungsgericht in früherer Rechtsprechung787 die Finalität einer Maßnahme für einen Verstoß 778  s.  Jarass,

in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 118. in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 118. 780  s.  Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 119. 781  s.  Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 119. 782  s.  Jarass, in: Jarass  / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 119, m. w. N.; BVerfGE 121, 241 (254). 783  Vgl. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 706. 784  s.  Osterloh, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6.  Aufl. (2011), GG Komm., Art. 3, Rn. 256. 785  s.  Jarass, in: Jarass  / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 131; Gubelt, in: Ingo von Münch  /  Philip Kunig (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 103. 786  s.  Gubelt, in: Ingo von Münch  /  Philip Kunig (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 103. 787  „Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 GG liegt mithin nur dann vor, wenn eine Sonderbehandlung ihre Ursache in den durch dieses besondere Grundrecht bezeichneten Gründen hat, wenn also ein kausaler Zusammenhang zwischen einem der aufgeführten Gründe und der Benachteiligung oder Bevorzugung besteht (vgl. BVerfGE 2, 266 [286]; 59, 128 [157]; 63, 266 [303] abweichende Meinung). Das Verbot des Art. 3 Abs. 3 GG gilt mithin nicht absolut; es verbietet, wie sich schon aus seinem Wortlaut ergibt („wegen“), nur die bezweckte Benachteiligung oder Be779  s.  Jarass,

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

gegen Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG voraussetzte, nimmt es nunmehr in ständiger Rechtsprechung an, dass „(…) auch dann, wenn eine Regelung nicht auf eine nach Art. 3 Abs. 3 GG verbotene Ungleichbehandlung angelegt ist, sondern in erster Linie andere Ziele verfolgt (vgl. BVerfGE 85, 191 [206]; 97, 35 [43]; 97, 186 [197])“788, eine unzulässige Anknüpfung an die in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG genannten Merkmale vorliegt.789 Entsprechend wird vertreten, dass auch eine begründungsneutrale Maßnahme den Tatbestand einer kausalen Beeinträchtigung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG nicht einengen kann, da ebenso wie Zwecke auch Gründe einer Maßnahme austauschbar sind.790 Dem ist zuzustimmen, zumal die Begründung einer Maßnahme immer auch die Stütze seiner Finalität ist (Deckungsgleichheit). Zwischen Ihnen besteht also ein Abhängigkeitsverhältnis. Andernfalls wäre die Maßnahme ohnehin sachlich nicht gerechtfertigt, mithin willkürlich. (3) Absolutes oder relatives Anknüpfungsverbot Die Frage, ob Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG ein absolutes oder relatives Anknüpfungsverbot (Begründungsverbot)791 enthält, ist umstritten.792 Für ein absolutes Anknüpfungsverbot spricht das Interesse größtmöglicher Effektivität des Schutzzwecks. Auf diese Weise sollen die verbotenen Merkmale relativierender Abwägung zugunsten auch nur vorgeschobener Sachgründe entzogen werden.793 Für das relative Anknüpfungsverbot dagegen spricht die damit einhergehende Möglichkeit einer sachgerechten Berücksichtigung des Merkmals.794 Die sachgerechte Berücksichtigung des problematischen Merkmals muss jedoch zur Lösung des Problems zwingend notwendig sein vorzugung, nicht aber einen Nachteil oder einen Vorteil, der die Folge einer ganz anders intendierten Regelung ist.“, BVerfGE 75, 49 (70). 788  BVerfGE 114, 357 (364); 121, 241 (254); 85, 191 (206). 789  Zustimmend Osterloh, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 252; a. A. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl. (2010), S. 176. 790  s.  Osterloh, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 252. 791  Dazu Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 191 f. 792  Für letzteres so das BVerfGE 97, 35 (43 f.); zustimmend Gubelt, in: Ingo von Münch / Philip Kunig (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 103; Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 119; Osterloh, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 255; ausführlich dazu Borowski, Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 706, 707; Michael / Morlok, Grundrechte, 2. Aufl. (2010), S. 381, Rn. 809; ablehnend Heun, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG Komm., Bd. 1, 2. Aufl. (2004), Art. 3, Rn. 124. 793  Vgl. Osterloh, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 240. 794  Vgl. Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 135.



III. Teilbereiche des Religionsverfassungsrechts129

und ihrer Natur nach nur bei Person der einen Gruppe auftreten können.795 Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts enthält Art. 3 Abs. 1 S. 1 GG ein grundsätzliches Anknüpfungsverbot.796 Zwar stellt das absolute Anknüpfungsverbot ein geeignetes Instrument gegen eine Umgehung des Diskriminierungsschutzes dar. Es lässt wegen seiner Absolutheit allerdings keine sachgerechte ausgewogene Lösung von kollidierenden Verfassungsgütern zu. Einer beliebigen Relativierung des Diskriminierungsschutzes sind bei strenger Rechtfertigungsprüfung Grenzen gesetzt.797 d) Rechtfertigung Eine Rechtfertigung von Beeinträchtigungen ist durch kollidierendes Verfassungsrecht möglich.798 Insoweit entspricht Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG anderen vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten.799 Das Abstellen auf die in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG genannten Merkmale ist zulässig, wenn dies zur Lösung des Problems zwingend notwendig ist, die ihrer Natur nach nur bei einer Personen der einen Gruppe auftreten können.800 Dabei muss die zulässige Diskriminierung zwingend erforderlich sein, wobei eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung stattfinden muss.801 Im Falle einer indirekten Diskriminierung ist der Verhältnismäßigkeitsmaßstab vergleichsweise weniger streng.802 Bei konkurrierenden Verfassungsgütern ist ein sachgerechter Ausgleich zu treffen.803 Dabei muss die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Ungleichbehandlung für die Erreichung eines legitimen Zwecks begründet werden, ohne dass die Merkmale des Art. 3 Abs. 3 GG als Kriterien eine Rolle spielen.804 Gelingt diese Begründung, ist die Ungleichbehandlung 795  s.  Jarass, in: Jarass  / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 135; BVerfGE 85, 191 (207). 796  s.  Jarass, in: Jarass  / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 118; BVerfGE 85, 191 (206); 121, 241 (254). 797  s.  Osterloh, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 254. 798  s.  Jarass, in: Jarass  / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 134; Osterloh, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 254; BVerfGE 121, 241 (257 ff.). 799  s.  Osterloh, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG Komm., 6. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 254. 800  s.  Jarass, in: Jarass  / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 135; BVerfGE 85, 191 (207). 801  s.  Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 135. 802  s.  Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 135. 803  s.  Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG Komm., 11. Aufl. (2011), Art. 3, Rn. 135. 804  s.  Pieroth / Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 27.  Aufl. (2011), S.  116, Rn. 488.

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B. Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland

gerechtfertigt, selbst wenn sie zu einer verschiedenen rechtlichen Behandlung von unterschiedlichen religiösen Überzeugungen führt.805 5. Ergebnis Angemerkt werden kann, dass sich bis zum Auftreten des Islams in Deutschland das deutsche Religionsverfassungsrecht bewährt zu haben schien. Mit Blick auf die großen christlichen Kirchen in Deutschland hat sich eine Ausgleichsordnung entwickelt, die es erlaubt, den Kirchen Raum zur öffentlichen Entfaltung zu geben und darüber hinaus sogar eine Partnerschaft von Staat und Kirche ermöglicht. Diese Ausgleichsordnung schließt alle Religionen ein und gilt dem Grunde nach auch für den Islam. Dies vermag aber nicht über die Tatsache hinweg zu täuschen, dass die Parameter der staatskirchlichen Ausgleichs- und Partizipationsordnung derart auf den Leib der christlichen Kirchen zugeschnitten sind, dass faktisch der gegenwärtige Islam in Deutschland diese Parameter ohne eine Verkirchlichung seiner selbst nicht erfüllt. Bisweilen ist zugleich die Tendenz zu beobachten, den Islam aus dem öffentlichen-Raum herauszuhalten. Das gilt sowohl für das Kopftuch als auch für die Erteilung des Religionsunterrichts und des öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus. Es wird sich wohl erst mittel- bis langfristig zeigen, ob und inwieweit sich der Islam in Deutschland an den religionsverfassungsrechtlich vorgegebenen Rahmen anpassen wird und welche Veränderungen damit für den Islam in Deutschland verbunden sein werden. Denkbar ist es, dass sich der Islam in Deutschland eine staatlich anerkannte kirchliche Verfasstheit geben wird und er sich im Zuge dessen zunehmend konfessionalisiert oder möglicherweise in Teilen auch durch den Zusammenschluss von Gemeinschaften homogenisiert.

805  s.  Pieroth / Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 27.  Aufl. (2011), S.  116, Rn. 488.

C. Staat und Religion im Osmanischen Reich I. Einführung Im Anschluss an die Ausführungen zum Verhältnis von Staat und Reli­ gion in Deutschland, soll in diesem Kapitel das Verhältnis von Staat und Religion im Osmanischen Reich dargestellt werden. Bis zu ihrer Islamisierung im 9. Jh. waren die Türken überwiegend Angehörige des Schamanismus, daneben auch des Buddhismus.1 Der geistliche Führer Kam mischte sich in staatliche Angelegenheiten nicht ein.2 Zu den ersten Turkstaaten zählen der Hunnenstaat3, der Göktürkenstaat (Himmelstürken) und der Uigurenstaat.4 Der politische Führer wurde Kağan, Yabgu, Hakan oder Han genannt.5 Der Herrscher leitete seine Herrschaftsgewalt von Gott ab, galt aber selbst nicht als geheiligte Person.6 Der türkische Herrscher Satuk Buğra Han nahm im Jahre 920 den islamischen Glauben an und nannte sich fortan Abdulkerim.7 Mit dem Übertritt zum Islam wurde im Zuge der Islamisierung auch das islamische Recht eingeführt.8 Die Eroberung Manzi1  So Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 23; Cin / Akyılmaz, Türk Hukuk Tarihi (Türkische Rechtsgeschichte), 2003 S. 30. 2  s.  Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 23; Cin / Akyılmaz, Türk Hukuk Tarihi (Türkische Rechtsgeschichte), 2003 S. 30. 3  Darüber ob die Hunnen ein Turkvolk sind herrscht in der Wissenschaft Uneinigkeit. Bejahend unter Hinweis auf die Gemeinsamkeiten in der Sprache s.  Cin / Akyılmaz, Türk Hukuk Tarihi (Türkische Rechtsgeschichte), 2003, S. 27 ff.; Koca, The Great Hun State in: The Turks, Bd. 1, 2002, S. 197 (197). 4  s.  Çin / Akyılmaz, Türk Hukuk Tarihi (Türkische Rechtsgeschichte), 2003, S. 27– 30; Koca, The Great Hun State in: The Turks, 2002, S. 197 (197). 5  Vgl. Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 23. 6  s.  Çin / Akyılmaz, Türk Hukuk Tarihi (Türkische Rechtsgeschichte), 2003, S. 37. 7  s.  Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 23; der Name Abdulkerim wurde aus dem Arabischen übernommen und bedeutet übersetzt „Diener des Gütigen, Großmütigen bzw. Gnädigen“; ausführlich zur Islamisierung der Türken s. auch Busse, Grundzüge der islamischen Theologie und der Geschichte des islamischen Raumes, in: Ende / Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, 5. Aufl. (2005), S. 21 (41 ff.). 8  s.  Cin / Akyılmaz, Türk Hukuk Tarihi (Türkische Rechtsgeschichte), 2003, S. 51.

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

kerts  /  Malazgirt (Armenien) im Jahre 1071 durch den Seldschuken9 Alp Arslan symbolisiert die Türkisierung und Islamisierung Anatoliens.10 Die Herrscher des seldschukischen Reiches trugen den Titel Sultan11 und strebten nach ihrer Thronbesteigung stets die Bestätigung ihrer Herrschaft durch den Kalifen12 an.13 „Die politische Landschaft Anatoliens Ende des 13. Jahrhunderts war so unübersichtlich, dass man von verschiedenen, sich teilweise überlagernden Schichten von Herrschaft gesprochen hat.“14 Die turkmenischen Kleinfürstentümer (beylik) im fragmentierten Anatolien waren nach dem Zusammenbruch des seldschukisch-mongolischen Systems ab 1298 und dem entstandenen Machtvakuum dafür verantwortlich, dass sich ein türkisch-islamisches Herrschaftsgebilde etablieren konnte und dass die Grundlagen der seldschukischen Staatsverwaltung mit den wichtigsten isla9  Die Seldschuken sind eine türkische Dynastie, die ihren politischen Höhepunkt im 11. und 12. Jh. erreichte, s. Bosworth, „Saldjūkids“, in: The Encyclopaedia of Islam, Bd. VIII, 1995, S. 936 ff. 10  s.  Kreiser, Der Osmanische Staat 1300 bis 1922, 2. Aufl. (2008), S. 4. 11  Arab. Macht, Herrschaft, zunächst ein dem Kalifen verliehener Titel, später bezeichnet er den Herrscher, der unter offizieller Anerkennung der Oberherrschaft des jeweiligen Kalifen, der den Sultan in sein Amt einsetzt, de facto in seinem Bereich über eine ebenso unumschränkte Machtposition verfügte wie dieser. Als Inhaber der weltlichen Macht wird seine Herrschaft in religiöser Hinsicht nur mit der Anerkennung seiner Person durch die religiösen Autoritäten legitimiert, Schirrmacher, „Islam von A–Z“, in: Harenberg Lexikon der Religionen, 2002, S. 468 (535). 12  Türk. halife, arab. halifa, Nachfolger, Stellvertreter. Im Koran wird der Begriff Kalif wenige Male (2,30; 38,26) in dem Sinn erwähnt, dass der Mensch ein von Gott eingesetzter Kalif auf Erden ist (6, 165); es wird damit offensichtlich in beiden Fällen keine Leitungsart der muslimischen Gemeinde benannt. Nach Muhammads Tod 632 werden mit dem Titel Kalif die Nachfolger Muhammads bezeichnet, insbesondere die vier rechtgeleiteten Kalifen Abu Bakr (reg. 632–634), Umar (reg. 643–644), Uthman (reg. 644–656) und Ali (reg. 656–661). Im 11 Jh. entwickeln sich die vielen Kalifate und Sultanate. 1258 markiert das vorläufige Ende des Kalifats. Von da an bestand noch das „Schattenkalifat“ der Abbasiden in Kairo (1261–1517). Offiziell wurde das Kalifat mit der Eroberung Ägyptens durch die Osmanen 1517 abgeschafft. Der Titel Kalif war ab dieser Zeit nur noch eine Ehrenbezeichnung des osmanischen Sultans, bis er 1924 im Zuge der Säkularisierung der Türkei abgeschafft wurde, vgl. Schirrmacher, „Islam von A–Z“, in: Harenberg Lexikon der Religionen, 2002, S. 468 (508). 13  s.  Cin / Akyılmaz, Türk Hukuk Tarihi (Türkische Rechtsgeschichte), 2003, S. 105. Nach der Eroberung Bagdads durch den seldschukischen Sultan Tuğrul, soll dieser mit dem abbasidischen Kalifen Kaim Biemrillah eine Vereinbarung getroffen haben, wonach es dem Kalifen erlaubt sein sollte in religiösen Angelegenheiten tätig zu sein, sofern er die Herrschaft des Sultans anerkennt und sich nicht in die staat­ lichen Angelegenheiten einmischt. Dies soll insoweit die erste laizistische Regelung in der Geschichte der islamisierten Türken gewesen sein, so Cevizoğlu, Neden Laiklik? (Warum Laizismus?), 1999, S. 90. 14  Kreiser, Der Osmanische Staat 1300–1922, 2. Aufl. (2008), S. 6.



II. Die Theokratisierung des Osmanischen Reiches133

mischen Institutionen (Kadi-Amt, Stiftungswesen, Medressen) bewahrt wurden.15 „Der Name Osman war im späten 13. Jh. bis ins 14. Jh. hinein ein Attribut, welches das von ihm begründete beylik von den benachbarten kleinasiatischen Fürstentümern unterschied.“16 Der Name Osmanlı (Osmane) wurde erst später zur Eigenbezeichnung für die muslimisch-türkische Elite.17 Die Zugehörigkeit zu dieser Elite war an das Bekenntnis zur hanafitischen Richtung des sunnitischen Islams gebunden.18 Erst am Ende des Osmanischen Reiches im Zuge der Reformen galten auch Nichtmuslime (Zimmi) als Osmanlı.19 Das Haus Osman (Al-i Osman) zählt 36 Herrscher von Osman I. (1299–1326) bis Mehmed VI. Vahideddin (1918–1922).20 „Die ersten wichtigen Eroberungen Osmans fanden vermutlich zwischen 1298 und 1301 statt.“21 Die osmanische Dynastie fand ihren vorläufigen Höhepunkt in der Eroberung Konstantinopels 1453 durch Fatih Sultan Mehmed II. (Mehmet der Eroberer) und leitete „das Osmanische Jahrhundert“ (1453–1566) ein.22 Ende des 16. Jh. begann eine Phase mühsamer Erfolge und Rückschläge (1600–1774).23 Die schweren Niederlagen veranlasste die osmanische Führung zu ersten Reformen und zur Einführung westlicher Technik.24 Dieser Ende des 18. Jh. eingeleitete Reformprozess setzte sich bis zum Zerfall des Reiches 1923 fort („Das längste Jahrhundert des Reiches“).25

II. Die Theokratisierung des Osmanischen Reiches 1. Einleitung Die Rechtsordnung des Osmanischen Reiches ergab sich aus dem Islam, die Herrschaft leitete sich von der Souveränität Gottes ab.26 Die unterschied15  s.  Kreiser,

Der Osmanische Staat 1300–1922, 2. Aufl. (2008), S. 4, 5. Der Osmanische Staat 1300–1299, 2. Aufl. (2008), S. 1. 17  s.  Kreiser, Der Osmanische Staat 1300–1922, 2. Aufl. (2008), S. 1. 18  s.  Kreiser, Der Osmanische Staat 1300–1922, 2. Aufl. (2008), S. 1. 19  s.  Kreiser, Der Osmanische Staat 1300–1922, 2. Aufl. (2008), S. 1. 20  s.  Kreiser, Der Osmanische Staat 1300–1922, 2. Aufl. (2008), S. 1; Faroqhi, Die Geschichte des Osmanischen Reiches, 4. Aufl. (2006), S. 16. 21  Kreiser, Der Osmanische Staat 1300–1299, 2. Aufl. (2008), S. 7. 22  Vgl. Faroqhi, Die Geschichte des Osmanischen Reiches, 4.  Aufl. (2006), S. 18; Kreiser, Der Osmanische Staat 1300–1922, 2. Aufl. (2008), S. 24. 23  s.  Faroqhi, Die Geschichte des Osmanischen Reiches, 4. Aufl. (2006), S. 58. 24  s.  Faroqhi, Die Geschichte des Osmanischen Reiches, 4. Aufl. (2006), S. 84. 25  Faroqhi, Die Geschichte des Osmanischen Reiches, 4. Aufl. (2006). S. 84. 26  s.  Okandan, Âmme Hukukumuzun Anahtarları (Die Schlüssel unseres Staatsrechts), 1977, S. 15, 23; Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die 16  Kreiser,

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

lichen Ethnien im osmanischen Vielvölkerstaat wurden entlang ihrer religiösen Zugehörigkeit aufgeteilt.27 Die muslimische Bevölkerung des osmanischen Reiches bildete in Folge seiner islamischen Prägung eine Umma28.29 Das Volk war dem Herrscher zum Gehorsam verpflichtet, im Gegenzug oblag dem Herrscher die Pflicht, sich an die islamischen Prinzipien zu halten und war in seiner Herrschaftsmacht durch das islamische Recht an einer despotischen Herrschaft gehindert.30 Die Gründung des Osmanischen Reiches fällt in die scholastische Zeit des Islams (islamische Scholastik)31.32 Die Blütezeit der islamischen Kultur und Wissenschaft war beendet.33 Die Doktrin „das Tor der Rechtsfindung ist verschlossen“ klassifiziert die Zeit als Übertragung Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 23 ff.; Başgil, Din ve Laiklik (Religion und Laizismus), 8.  Aufl. (2007), S. 180; Özlü, Osmanlı Devletin’de Adli Mekanizmanın Analizi (Die Analyse des Justizmechanismus des osmanischen Staat), 2007, S. 12; Tunaya, Türkiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri (Verwestlichungsbewegungen im politischen Leben der Türkei), 1996, S. 7; Özek, Türkiye’de Laiklik (Laizismus in der Türkei), 1962, S. 13.; a. A. Berkes, Türkiye’de Cağdaşlaşma (Modernisierung in der Türkei), S. 22; eine Zusammenfassung der verschiedenen Ansichten über das osmanische Staatswesen s. Dinçkol, 1982 Anayasası Çerçevesinde ve Anayasa Mahkemesi Kararlarında Laiklik (Laizismus im Rahmen der Verfassung von 1982 und den Entscheidungen des Verfassungsgerichts), 1991, S. 24, Fn. 119. 27  s.  Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 11. 28  Umma ist der koranische Ausdruck für eine ethnische oder religiöse Gemeinschaft (Volk, Nation). In Bezug auf den Islam bedeutet Umma die Gemeinschaft aller Muslime, zu der jeder gehört, der das Glaubensbekenntnis spricht und für wahr hält, s. Schirrmacher, „Islam von A–Z“, in: Harenberg Lexikon der Religionen, 2002, S. 468 (540). 29  s.  Özek, Türkiye’de Laiklik (Laizismus in der Türkei), 1962, S. 13. 30  So Okandan, Âmme Hukukumuzun Anahtarları (Die Schlüssel unseren Staatsrechts), 1977, S. 25; Özek, Türkiye’de Lâiklik (Laizismus in der Türkei), 1962, 12. 31  Ende 9. und Anfang des 10 Jh. bildete sich die Überzeugung, dass die wesentlichen Rechtsfragen geklärt seien und dass eigentlich nur die Gelehrten der ersten Jahrhunderte des Islam die erforderlichen Qualifikationen zur eigenständigen Urteilsfindung besessen hätten, so dass das „Tor der Rechtsfindung“ (arab. idjtihad) als geschlossen galt. Seitdem tritt der taqlid, die scholastische Nachahmung, an die Stelle des idjtihad. In der sunnitisch-islamischen Rechtswissenschaft wird die selbständige Rechtsfindung nicht mehr erlaubt und der Rückgriff auf die frühen Autoritäten der Rechtswissenschaft und deren Rechtsentscheidungen von der Mehrheit der Theologen als verpflichtend erachtet, vgl. Schirrmacher, „Islam von A–Z, in: Harenberg Lexikon der Religionen, 2002, S. 468 (502, 537); Calder bezeichnet diesen Zustand mit „The scholastic format“, s. Calder, „Taklīd“, in: The Encyclopaedia of Islam, Bd. X, 2000, S. 137 (138). 32  s.  Üçok / Mumcu / Bozkurt, Türk Hukuk Tarihi, 12. Aufl. (2007), S. 197. 33  Tunaya spricht in diesem Zusammenhang von dem Ende der Aufklärung und des Rationalismus im Islam, vgl. ders., Tükiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri (Verwestlichungsbewegungen im politischen Leben der Türkei), 1976, S. 53.



II. Die Theokratisierung des Osmanischen Reiches135

und Wiederholung des Alten.34 Diese Scholastik prägte wesentlich den Geist des Osmanischen Reiches. Die sich außerhalb der Scharia bewegende Wissenschaft galt als Ketzerei.35 Grund für die Misserfolge des Osmanischen Reiches waren nach diesem Verständnis die Entfernung und die mangelhafte Umsetzung des Alten, der Scharia.36 2. Die Legitimation der Herrschaftsgewalt des Sultans Der Sultan war als höchste politische Instanz und Kalif der direkte Repräsentant Gottes oder „shadow of God“ auf Erden.37 Diese Eigenschaft wurde dem Sultan durch die Ernennung als Kalif zugewiesen; der Sultan selbst war keine geheiligte Person.38 Sultan Yavuz Selim I. erhielt 1517 als erster osmanischer Herrscher den Titel Kalif.39 Während sich in Europa Kaiser und Papst die Macht in der „religiös-politischen Einheitswelt“ teilten bzw. diese als gleichberechtigte Partner repräsentierten, lag im Osmanischen Reich die politische und geistliche Führung in einer Hand (Cäsaropapismus).40 3. Das Rechts- und Justizwesen Die Gesetzgebung im Osmanischen Reich war eine doppelte, nämlich die unabänderliche, auf dem Koran gegründete geistliche Gesetzgebung 34  So Tunaya, Tükiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri (Verwestlichungsbewegungen im politischen Leben der Türkei), 1976, S. 53. 35  s.  Tunaya, Tükiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri (Verwestlichungsbewegungen im politischen Leben der Türkei), 1976, S. 54. 36  s.  Tunaya, Tükiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri (Verwestlichungsbewegungen im politischen Leben der Türkei), 1976, S. 56. 37  s.  Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 13. 38  s.  Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 15. 39  Arab. halifa; offiziell wurde das Kalifat mit der Eroberung Ägyptens durch die Osmanen 1517 abgeschafft. Der Titel Kalif war ab dieser Zeit nur noch eine Ehrenbezeichnung des osmanischen Sultans, bis er 1924 im Zuge der Säkularisierung der Türkei abgeschafft wurde. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jh. haben die Osmanen den Gedanken eines universalen Kalifats, welches ihnen gebühre, aus außenpolitischen Gründen zu beleben begonnen. Dieser Anspruch und die später daraus entwickelte panislamische Propaganda Sultan Abdülhamids II (reg. 1876– 1909) stützte sich auf die Behauptung, die Kalifenwürde sei den Osmanen vom letzten der in Kairo residierenden abbasidischen Schattenkalifen nach der osmanischen Eroberung 1517 übertragen worden. Hierbei handelt es sich erwiesener Maßen um eine Fiktion; vgl. Schirrmacher, „Islam von A–Z“, in: Harenberg Lexikon der Religionen, 2002, S. 468 (508); Ende, „Kalifat“, in: Lexikon der islamischen Welt, 1992, S. 148 (150). 40  Vgl. Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 13.

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

(Scharia), welche nur neu kodifiziert und erläutert, aber nicht fortgesetzt werden kann,41 und die ergänzende, fortlaufende und der Willkür des Sultans anheim gegebene weltliche Gesetzgebung (kānūnnāme)42, welche nur der Beschränkung unterliegt, dass sie mit der Scharia nicht offen im Widerspruch stehen darf.43 Das kanonische Recht, die Scharia, stützte sich auf die Hauptwerke der hanafitischen Gelehrten.44 Der Sultan war befugt, dort wo es in der Scharia eine Regelungslücke gab und ohne Verstoß gegen die Scharia, Gesetze nach eigenem Willen (irade) zu erlassen (örf)45.46 Sultan Süleyman I. trägt aufgrund seiner zahlreichen Gesetzgebung den Beinamen Kanuni (der Gesetzgeber).47 Den wesentlichen Bestandteil des osmanischen Rechts- und Justizwesens bildete der Stand der Ulema48.49 Zur Ulema gehörten nur islamische Rechtsgelehrte, die ihre Ausbildung in den staatlichen Medressen erhalten haben.50 Absolventen dieses IlmiyeSystems wurden offiziell als Imam, Mufti (Rechtsgutachter) oder Kadi (Richter) im osmanischen Staatsapparat beschäftigt.51 Die geistliche Macht im Staat repräsentierte der Mufti.52 Zu den Aufgaben des Muftis gehörte die Erstellung von Rechtsgutachten (Fatwa)53, die auf Anfrage des Sultans, 41  Zur

islamischen Scholastik, s. o., S. 94. osmanischen Gebrauch bezeichnen kānūnnāme Dekrete des Sultans zu bestimmten Bereichen. Einzelne Dekrete wurden fermān oder berāt genannt. Kānūnnāmes erfassen den Bereich des öffentlichen Rechts, Staatsorganisationsrechts, Verwaltungsrecht, Steuerrechts und Strafrechts, s. Inalcik, „Kānūnnāme“, in: The Encyclopaedia of Islam, Bd. IV, 1978, S. 562 (562, 563). 43  s.  von Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1919, S. 1, Fn. 1; Peri, Christianity under Islam in Jerusalem, 2001, S. 54–56. 44  s.  Kreiser, Der osmanische Staat 1300–1922, 2. Aufl. (2008), S. 64. 45  s.  Peri, Christianity under the Islam in Jerusalem, 2001, S. 55. 46  s.  Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 14; Üçok / Mumcu / Bozkurt, Türk Hukuk Tarihi (Türkische Rechtsgeschichte), 12. Aufl. (2007), S. 226. 47  s.  Kreiser, Der Osmanische Staat 1300–1922, 2. Aufl. (2008), S. 64. 48  Sing. alim von arab. ’ilm; Bezeichnung für Gelehrte des Islam; ein im Osmanischen Reich formalisierter Stand innerhalb des osmanischen Staatsapparates seit Mehmet II. (1451–81), vgl. Repp, „Ulamā“, in: Encyclopaedia of Islam, Bd. X, 2000, S. 801 (805). 49  Ausführlicher zum Osmanischen Recht vgl. Gerber, State, Society, and Law in Islam, Ottoman Law in Comperative Perspective, New York, 1994, State University of New York Press.  50  s.  Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 15. 51  s.  Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 15. 52  s.  Spuler-Stegemann, Türkei, in: Ende  /  Steinbach (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart, 5. Aufl. (2005), S. 229 (231). 53  Zum Begriff s. Heine, „Fatwa“, in: Islam-Lexikon A–Z, Geschichte – Ideen – Gestalten, Khoury / Hagemann / Heine (Hrsg.), Freiburg i. Br., 2006, Herder Verlag, S. 196–197. 42  Im



II. Die Theokratisierung des Osmanischen Reiches137

der Bevölkerung und der Kadis angefertigt wurden.54 Der höchste Mufti nannte sich Scheich ul Islam55 und wurde vom Sultan, der zugleich Kalif war, ernannt.56 Der Scheich ul Islam nahm in religiösen Angelegenheiten eine beratende Funktion ohne exekutive Kompetenz wahr, die Durchsetzung der Ge- oder Verbote lag nicht in dessen Macht.57 Die Einholung religiöser Gutachten diente der Legitimierung aller Regierungsgeschäfte.58 Die Gutachten des Scheich ul Islam betrafen Fragen wie die der Kriegsführung, der Beziehungen zu Nichtmuslimen, der Besteuerung und der Neueinführung von Gegenständen wie Tabak, Kaffee oder Buchdruck.59 Gleichzeitig war der Einfluss der Ulema und des Scheich ul Islam so bedeutend, dass ohne deren Unterstützung der Sultan seinen Herrschaftsanspruch nicht durchsetzen konnte.60 Es war möglich, dass der Scheich ul Islam eine Fatwa über die Absetzung des Sultans erlassen konnte.61 Die erfolgreiche Herrschaft des Sultans ging daher mit der Kooperation der Ulema einher. Vom christlichen Klerus unterscheidet sich die Ulema in ihrer Natur, Funktion und Organisation.62 Im Islam seien alle Muslime gleichgestellt, weshalb die Ulema kein privilegierter geistlicher Stand sei.63 Religiöse Angelegenheiten wurden durch den Staat mithilfe der Ulema als staatlicher und weltlicher Institution geregelt.64

54  s.  Karal, Osmanlı Tarihi (Osmanische Geschichte), Bd. VI, 6. Aufl. (2000), S. 139. 55  Ausführlicher zum Begriff mit weiterführender Literatur s. Repp, „Shaykh AlIslam“, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Bd. IX, 1997, S. 399–402. 56  Das Amt des Scheich ul Islam wurde im Osmanischen Reich 1453 geschaffen. Die Tätigkeit des Amtes beschränkte sich auf eine Beratung. Auf Anfrage des Sultans erstellte der Scheich ul Islam Gutachten über die Vereinbarkeit verschiedener Vorhaben des Sultans mit dem Islam. Da der Sultan den Scheich ul Islam ernannte und aus dem Amt entheben konnte, kam es vor, das falsche Gutachten erstellt wurden, vgl. Başgil, Din ve Laiklik (Religion und Laizismus), 2007, S. 180; Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 26; Cin / Akyılmaz, Türk Hukuk Tarihi, 2003, S. 151, 152; Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 15. 57  s.  Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 16. 58  Diese Kompetenz führte sogar dazu, dass der Scheich ul Islam dem Sultan widersprechen konnte und so erheblichen Einfluss auf die Regierungsgeschäfte gewann, vgl. Okandan, Âmme Hukukumuzun Anahtarları (Die Schlüssel unseren Staatsrechts), 1977, S. 36. 59  s.  Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 15. 60  s.  Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 16. 61  s.  Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 16. 62  s.  Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 16. 63  s.  Karal, Osmanlı Tarihi, Bd. VI., 6. Aufl. (2000), S. 139. 64  s.  Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 16.

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

III. Die Rechtsstellung der Nichtmuslime im Osmanischen Reich 1. Einleitung Die Bevölkerung des Osmanischen Reiches setzte sich aus vielen unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gruppen zusammen.65 Wie alle mittelalterlichen Gesellschaften war auch die osmanische Gesellschaft religiös durchdrungen; die Wahrnehmung des „anderen“ war immer eine religiöse.66 Es gab danach nur Muslime, Christen67, Juden68, Götzendiener oder Ketzer.69 In dem mehrheitlich muslimisch geprägten Reich bildeten die griechisch-orthodoxen Christen die größte nichtmuslimische Minderheit, gefolgt von den Katholiken und Evangelikalen.70 Das Osmanische Reich stand vor der Herausforderung, die verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen friedlich nebeneinander leben zu lassen.71 Obgleich der vielen unterschiedlichen Ethnien im Reich organisierte das Osmanische Reich seine Gesellschaft nach ihrer Religionszugehörigkeit.72 Das Osmanische Reich war nach islamischen Prinzipien organisiert.73 Diese Prinzipien sind verkörpert in der Scharia, welche das Verhältnis des islamischen Staates und seiner nichtmuslimische Bevölkerung nach der Dhimma-Regelung ausgestaltet.74 Der Umgang des Osmanischen Staates 65  Zu diesen Hauptgruppen zählten Christen und Juden; vgl. ausführlich zu den Gruppen im einzelnen Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 11. 66  s.  Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 9. 67  Zur Situation der Christen im Osmanischen Reich s. Baum, Die Türkei und ihre christlichen Minderheiten, Geschichte – Völkermord – Gegenwart, Ein Beitrag zur EU-Erweiterungs-Debatte, Klagenfurt, Wien, 2005, Kitab Verlag; Peri, Christianity unter Islam in Jerusalem, The Question of the Holy Sites in Early Ottoman Times, The Ottoman Empire and ist Heritage, Politics, Society and Economy, Bd. 23, Inalcık, Halil / Faroqhi, Suraiya (Hrsg.), Leiden, Boston, Köln, 2001, Brill Verlag. 68  Zur Situation der Juden im Osmanischen Reich s. Shaw, The Jews of the Ottoman Empire and the Turkish Republic, New York, 1991, New York University Press; Lewis, Die Juden der islamischen Welt, Vom frühen Mittelalter bis in 20. Jahrhundert, 1987, C.H. Beck Verlag. 69  s.  Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 9. 70  Vgl. Faroqhi, Die Geschichte des Osmanischen Reiches, 4.  Aufl. (2006), S. 48. 71  So Ortaylı, Ottoman Studies, 2. Aufl. (2007), S. 15. 72  s.  Hanioˇglu, Late Ottoman Empire, 2008, S. 25. 73  s.  Sonyel, Minorities and the Destruction of the Ottoman Empire, 1993, S. 3. 74  s.  Sonyel, Minorities and the Destruction of the Ottoman Empire, 1993, S. 3, 4; Peri, Christianity under Islam in Jerusalem, 2001, S. 51.



III.  Die Rechtsstellung der Nichtmuslime im Osmanischen Reich139

mit der nichtmuslimischen Minderheit war eine kollektive, in der die unterschiedlichen nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften unter die Bezeichnung Millet subsumiert war.75 2. Dhimmi-Status der Nichtmuslime76 Als islamisch-sunnitische Theokratie kategorisierte der osmanische Staat seine Bevölkerung nicht nach seiner ethnischen Herkunft, sondern nach seiner Religionszugehörigkeit.77 Grundlage hierfür bildete die islamische Dhimma-Regelung.78 „Die Dhimma ist der das Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen, (…), regelnder Vertrag bzw. das diesbezügliche Vertragsverhältnis.“79 Dhimmis mussten nicht zum Islam konvertieren und behielten theoretisch ihre religiöse Autonomie, ihren Besitz, ihr Bleibe- und Handelsrecht und die Möglichkeit, zivilrechtliche Belange nach den Gesetzen ihrer Religionsgemeinschaft zu regeln, wenn sie in Anerkennung der muslimischen Herrschaft die sog. Kopfsteuer80 und teilweise auch die sog. Grundsteuer81 entrichteten.82 Der Schutz erstreckt sich zeitlich so lange, wie die Dhimmis im islamischen Herrschaftsgebiet (Dar al-Islam)83 wohnen und alle Auflagen erfüllen.84 Mit dieser Anerkennung galt ein jeder fortan als

5.

75  s.  Sonyel,

Minorities and the Destruction of the Ottoman Empire, 1993, S. 4,

76  Zur Situation der Dhimmis im Osmanischen Reich s. Jennings, Studies on ottoman social History in the sixteenth and seventeenth Centuries, Women, Zimmis and Sharia Courts in Kayseri, Cyprus and Trabzon, Istanbul, 1999, The Isis Press.  77  Vgl. Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 1, 9. 78  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 7. 79  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 1. 80  Arab. dhizya, s. Schirrmacher, „Islam von A–Z“, in: Harenberg Lexikon der Religionen, 2002, S. 468 (510). 81  Arab. haradj auch kharadj, eine Steuer, die auf Landbesitz erhoben wurde, vgl. Heine, „Abgabe (gesetzliche)“, in: Islam-Lexikon A–Z, 2006, S. 21 (24). 82  Vgl. Schirrmacher, „Islam von A–Z“, in: Harenberg Lexikon der Religionen, 2002, S. 468 (532). 83  Deutsch Haus des Islam, außerhalb der islamischen Herrschaft liegende Gebiete werden als Dar al-Harb (Haus des Krieges) bezeichnet, vgl. Schirrmacher, „Islam von A–Z“, in: Harenberg Lexikon der Religionen, 2002, S. 468 (480, 481). 84  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 27.

140

C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

Dhimmi und wurde im islamischen Herrschaftsgebiet toleriert85.86 Durch vertragswidriges Verhalten des Dhimmi ging er der Dhimma (Vertragsverhältnis) verlustig.87 3. Osmanisches Millet-System Im Osmanischen Reich bildete jede Religionsgemeinschaften ein Volk (Millet).88 So gab es die muslimische Millet, die christliche Millet89 und die jüdische Millet.90 Das nach dem Vorbild der Dhimmi-Regel angewendete Millet-System erlaubte es den religiösen Minderheiten in eigenen inneren Angelegenheiten weitgehend nach eigenem religiösem Recht zu handeln.91 Damit schaffte das Osmanische Reich „(…) a place for non-Muslim communities in its medieval structure, without segregating them into ghettos or resorting to expulsion or extermination, by according right of jurisdiction to their respective ecclesiastical authorities“.92 Jede Religionsgemeinschaft bestimmte einen Führer, der für die Ordnung der eigenen Religionsgemein85  Kritisch zu den Begriffen „Toleranz“ und „Duldung“ äußert sich Binswanger, s.  ders., Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 9. 86  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 8. 87  Durch Waffengebrauch gegen Muslime, Verweigerung der Unterwerfung, Verweigerung der Kopfsteuer, Blasphemie gegen Gott, Tötung eines Muslims u. a., vgl. Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 37. 88  Im Sprachgebrauch der heutigen Türkei wird der Begriff „Millet“ im Sinne einer „Nation“ verstanden. Vgl. Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 1; Dinçkol, 1982 Anayasası Çerçevesinde ve Anayasa Mahkemesi Kararlarında Laiklik (Laizismus im Lichte der Verfassung von 1982 und den Entscheidungen des Verfassungsgerichts), 1991, S. 26; Ortaylı, Ottoman Studies, 2007, S. 18; Cagaptay, Islam, Secularism, and Nationalism in Modern Turkey, 2006, S. 5. 89  Die Christliche Bevölkerung unterschied sich ihrerseits in verschieden Millets wie römisch-orthodox, katholisch, protestantisch. Eine Aufzählung weiterer findet sich bei Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 11. 90  s.  Dinçkol, 1982 Anayasası Çerçevesinde ve Anayasa Mahkemesi Kararlarında Laiklik (Laizismus im Lichte der Verfassung von 1982 und den Entscheidungen des Verfassungsgerichts), 1991, S. 26; Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 9. 91  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 10. 92  Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 11, 12.



III.  Die Rechtsstellung der Nichtmuslime im Osmanischen Reich141

schaft und gegenüber dem Sultan verantwortlich war.93 So habe es im Osmanischen Reich einen „Staat im Staate“ gegeben, der den Juden und Christen im erheblichen Umfang Rechtsautonomie gewährt habe.94 Als Folge des aus der Dhimmi-Regelung abgeleiteten Millet-Systems im Osmanischen Reich, waren Dhimmis gegenüber der muslimischen Bevölkerung rechtlich nicht gleichgestellt und benachteiligt.95 Zahlreiche diskriminierende Maßnahmen sollten den Dhimmis ihre Minderwertigkeit bewusst machen.96 Wenngleich häufig die Dhimma als Zeichen der islamischen Toleranz gewertet wird97 habe die Ungleichbehandlung vereinzelt auch zu Privilegien der Dhimmis geführt.98 Im Folgenden soll eine nach Rechtsgebieten gegliederte Darstellung ihrer Rechtsstellung im Osmanischen Reich erfolgen: a) Familien- und Erbrecht In Fragen des Familien- und Erbrechts durften die Dhimmis ihre Angelegenheiten nach eigenem religiösen Recht regeln, da nach osmanischem Verständnis diese Angelegenheiten als religiöse Angelegenheiten galten.99 Die Eheschließung zwischen einem muslimischen Mann und einer nichtmuslimischen Frau erfolgte stets nach islamischem Recht. Die nichtmuslimische Frau durfte dabei ihren Glauben behalten.100 Kinder, die aus dieser 93  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 11. 94  So Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 11; a. A. Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 149. 95  s.  Faroqhi, Die Geschichte des Osmanischen Reiches, 4. Aufl. 2006, S. 49; Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 14. 96  So Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 160. 97  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 14; Kritisches zur sog. islamischen Toleranz bemerkt Binswanger, s. ders., Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 9. 98  So Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 14: „Durch das Millet-System wurde die Macht des Patriarchen gegenüber der vormals autokephalen Kirche enorm gesteigert, was nicht dem kanonischen Recht entsprach.“, Baum, Die Türkei und ihre christlichen Minderheiten, 2005, S. 23. 99  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 14 ff. 100  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 15.

142

C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

Ehe hervorgingen, galten als Muslime.101 Umgekehrt war eine Eheschließung zwischen einer muslimischen Frau und einem nichtmuslimischen Mann nicht möglich.102 Das Auseinanderfallen von Religionszugehörigkeit und Staatsreligion verhinderte eine religionsübergreifende Erbschaft. Dhimmis und Muslime konnten sich gegenseitig nicht beerben.103 Das muslimische Kind aus einer Ehe zwischen einem muslimischen Mann und einer nichtmuslimischen Frau konnte die Mutter nicht beerben, wohl aber den Vater.104 Diese Einschränkungen fanden auf Testamente keine Anwendung. So konnten sich Muslime und Nichtmuslime gegenseitig testamentarisch beerben.105 Denn hier findet nicht die Erbfolge nach islamischem Recht Anwendung, sondern die freiwillige Verfügung. Zeitlich unterschiedlich wurde die Frage der Erbfolge beim Ableben von nichtmuslimischen geist­ lichen Oberhäuptern behandelt. Während unter Selim I. und Süleyman I. die Religionsgemeinschaft das Vermögen des Geistlichen beerbte, wurde unter Mehmet VI. (1649) geregelt, dass ein Teil des Vermögens an den osmanischen Staat und der Rest der Religionsgemeinschaft zukommen sollten.106 b) Vertrags- und Handelsrecht Dhimmis konnten untereinander uneingeschränkt Verträge schließen; dies galt nicht für den Handel mit Wein.107 Der Konsum war für Dhimmis nicht verboten.108 Muslime und Dhimmis konnten miteinander Verträge eingehen und Gesellschaften gründen.109 Ein Vertragsverbot zwischen Muslimen und 101  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 15. 102  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 14, 15. 103  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 15. 104  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 15. 105  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 15. 106  So habe ein nichtmuslimischer Geistlicher testamentarisch sein Vermögen einem Kloster in Jerusalem vermacht. Der Sohn, der hiergegen vor dem Kadi klagte, erlag im Rechtsstreit, vgl. Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 15. 107  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 17, 18. 108  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 16. 109  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 17.



III.  Die Rechtsstellung der Nichtmuslime im Osmanischen Reich143

Dhimmis galt für Waren wie Alkohol und Schweinefleisch.110 Daneben galt bei Verträgen zwischen Muslimen und Dhimmis ein Zinsverbot.111 Streitigkeiten aus Vertragsverhältnissen zwischen Muslimen und Dhimmis wurden vor dem Kadi entschieden.112 Dagegen konnten Streitigkeiten aus Verträgen zwischen Dhimmis vor dem Kadi nach islamischem Recht entschieden werden, eine Pflicht dazu gab es aber nicht.113 c) Aufenthaltsrecht Im Osmanischen Reich kam es durch staatliche Maßnahmen zur Bildung konfessionell definierter Stadtviertel (türk. Mahalle).114 Wenngleich es ein ausdrückliches staatliches Verbot in Bezug auf gemischte Mahalles nicht gab, so wird aus der Praxis deutlich, dass von Dhimmis und Muslimen zugleich bewohnte Viertel nicht erwünscht waren.115 Dhimmis war es verboten, in heiligen Stätten von Muslimen und in der Nähe von Moscheen zu wohnen.116 Sie wohnten in der Regel in eigenen Stadtvierteln oder Dörfern am Stadtrand.117 Die Errichtung einer Moschee in einem mehrheitlich 110  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 16. 111  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 16. 112  So musste ein Dhimmi, der von einem Muslim Geld lieh, diesem auf seine Klage hin keine Zahlung leisten, nachdem der Dhimmi vor Gericht mit zwei muslimischen Zeugen bewies, dass er bereits geleistet hatte; vgl. Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 17. 113  Vgl. Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 17. 114  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 42. 115  S Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 18; Binswanger, der im Zusammenhang mit den staatlichen Maßnahmen von „bewusst Dhimmifeindlichen Vorgängen“ durch „Einpflanzung eines islamischen nucleus“ als einen dem Sürgün (Verbannung) analogen Vorgang spricht, s. Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 50. 116  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 18; Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 44, 45, 46. 117  Von Nichtmuslimen bewohnte Stadtviertel in Istanbul waren Fener, Balat, Samatya, Kumkapi, s. Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 18.

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

von Dhimmis bewohnten Stadtviertel entzog den dort ansässigen Dhimmis das Wohnrecht, da diese in Moscheenähe nicht geduldet wurden.118 Eine Mahalle war auch dann muslimisch sortiert, wenn die dortige Moschee keine Gemeinde hatte, da in solch einem Fall Muslime angesiedelt werden mussten, der Zuzug von Dhimmis war nicht statthaft.119 Auf Beschwerden von Muslimen beim Scheich ul Islam über die Störung durch Andachten der nichtmuslimischen Nachbarn habe dieser mit einer Fatwa (Rechtsgutachten) ihnen geraten, den Islam anzunehmen, sofern sie dies nicht täten, ihre Häuser an Muslime zu verkaufen.120 Im Jahre 1636 befahl Murat IV., gestützt auf eine Fatwa, die Häuser einer Mahalle, welche überwiegend christlich geworden war, zwangsweise an Muslime zu verkaufen.121 1729 wurde für ganz Istanbul verboten, dass Muslime ihre Häuser an Christen verkaufen.122 Juden wurde 1743 verboten ihre Häuser nahe der Ortaköy Moschee in Istanbul zurückzukaufen.123 Neben der oben beschriebenen Niederlassungsbeschränkung gab es auch Vorgaben bezüglich der Gestaltung der von Dhimmis bewohnten Häuser. Diese durften nicht höher sein als die Häuser der Muslime.124 Unter Selim III. wurde verkündet, dass die von Dhimmis bewohnten Häuser eine schwarze Fassade haben müssen, damit sie sich von den von Muslimen bewohnten Häusern unterscheiden und sie durften keine Fenster auf der von Muslimen bewohnten Grundstücksseite haben.125 d) Kleidungsvorschriften Für Nichtmuslime gab es von Zeit zu Zeit nach Art und Intensität unterschiedliche Kleidungsvorschriften, die sich nach Farbe und Art unterschie118  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 44, 50. 119  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 45. 120  Zum „stereotypen Ablauf der Praxis der Vertreibung von Dhimmis“ s. Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977. 121  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 60, 61. 122  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 62. 123  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 62. 124  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 19. 125  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger),1989, S. 19.



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den. Zwar gab es bis 1568 keinen sultanischen Befehl, der die Kleiderordnung regelt.126 Gleichwohl wird berichtet, dass um das 14. und 15. Jahr­ hundert in Anatolien Christen blaue und Juden gelbe Kopfbedeckungen ­trugen.127 In Jerusalem sollen im 16. Jh. Muslime weiße und Christen buntscheckige Turbane getragen haben.128 In der dem sultanischen Befehl von 1568 zugrunde liegenden Fatwa heißt es, dass es Dhimmis, die unter Muslimen wohnen, verboten ist, hohe aufgeputzte Häuser zu bauen, in der Stadt auf dem Pferd zu reiten, in kostbaren und wertvollen Kleidern umherzugehen, Kaftane, feinen Batist, Pelze und Turbane zu tragen.129 Dieses Verhalten begründe der Fatwa zufolge eine Herabsetzung der Muslime und eine Heraufstufung der Dhimmis.130 Nachdem gleiche Kleidung auch eine Gleichstellung von Muslimen und Dhimmis bedeuten würde und somit eine Heraufstufung des Dhimmis, sei klar, dass die Kleidervorschriften nicht wertneutral-normativ sind, sondern eine Wertung implizierten.131 Einem aus dem Jahre 1580 stammenden Erlass zufolge war es Christen verboten, einen Turban zu tragen und Juden durften keine Kleidung aus Leinen tragen.132 1568 wurde es Christen durch Erlass verboten, Kaftan mit Kragen, Kleidung aus kostbaren Stoffen wie Seide und Pelz zu tragen.133 So sei es nicht nur Ziel gewesen, Muslime von Dhimmis durch die äußere Erscheinung unterscheidbar zu machen, sondern Einfluss auf die Preispolitik der Stoffe zu nehmen.134 Dhimmis durften in den Badehäusern nicht die gleichen Badetücher verwenden wie die Muslime und sie durften keine 126  So Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 166. 127  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 165. 128  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 165. 129  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 166. 130  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 166. 131  So Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 168. 132  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 19. 133  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 20. 134  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 20; kritisch gegenüber der Begründung Einfluss auf die Preispolitik nehmen zu wollen Binswanger, s.  ders., Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 171.

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Holzbadeschuhe (Takunya) tragen.135 In Istanbul gab es 1594 einen Erlass, wonach es nicht gestattet war, sich in die Kleidung von Juden einzumischen, sofern sie sich rechtmäßig kleideten. Ferner legte ein Erlass aus dem Jahre 1630 fest, dass nichtmuslimischen Frauen nicht wie muslimische Frauen gekleidet sein durften und es war ihnen verboten, ein Kopftuch zu tragen.136 Ähnliche Erlasse gab es auch im Jahre 1766.137 Ausnahmsweise war es nichtmuslimischen Geistlichen erlaubt, auf Reisen durch gefährliche Gegenden ihre Kleidung zu wechseln und Waffen zu tragen, um sich zu schützen; insoweit waren sie Muslimen rechtlich gleichgestellt.138 e) Religionsfreiheit Nichtmuslime durften im Osmanischen Reich ihren Glauben ausüben, sofern dadurch die öffentliche Ordnung und die Befindlichkeiten der Muslime nicht gestört wurden.139 Zwar durften Dhimmis eigene Gotteshäuser und andere religiöse Einrichtungen haben,140 aber tatsächlich könne man der Staatsmacht eine Kirchenpolitik nachweisen, die das Ziel gehabt habe, die Kirchenzahl zu reduzieren.141 Der Kirchenneubau war verboten.142 Lediglich die Reparatur bereits bestehender Kultgebäude war zulässig und bedurfte einer ausdrücklichen Reparaturerlaubnis, die teuer erkauft werden musste.143 So sei im Jahre 1729 die Sanierung der Panaya Kirche im Istanbuler 135  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 20; Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 193, 197. 136  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 20. 137  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 20. 138  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 20. 139  s.  Dinçkol, 1982 Anayasası Çerçevesinde ve Anayasa Mahkemesi Kararlarında Laiklik (Laizismus im Lichte der Verfassung von 1982 und den Entscheidungen des Verfassungsgerichts), 1991, S. 25. 140  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 21. 141  So Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 64. 142  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 64; s. Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu, 1989, S. 22. 143  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 66; s. Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu, 1989, S. 22.



III.  Die Rechtsstellung der Nichtmuslime im Osmanischen Reich147

Stadtteil Beşiktas genehmigt worden.144 1783 sei nach einem Brand die Sanierung der römisch-katholischen Kirche Fener erlaubt worden.145 Der innere Umbau von Kultgebäuden bedurfte keiner Erlaubnis, anders aber Anbaumaßnahmen, sofern sich diese direkt an das Kultgebäude anschlossen.146 Bei Zuwiderhandlung konnte die Kirche geschlossen werden.147 „Den Dhimmis wurde eine gewisse Besitzstandwahrung an ihren Kultgebäuden zugestanden, und die islamische Staatsmacht hinderte sie lediglich an ihrer Ausbreitung.“148 Die den Dhimmis belassenen Kirchen durften nicht prachtvoll gestaltet sein.149 Auch die Umwandlung von Kirchen in Moscheen oder Profanbauten war keine Seltenheit.150 So stünde die Umwandlung von Kirchen bzw. die Verwendung der aus ihnen gewonnen Steine mit dem Mangel an Baumaterial in Zusammenhang.151 Aus dem so gewonnenen Material entstanden Bäder, Lagerhäuser, Munitionsdepots, Ställe und Wohnbauten.152 Kirchen, die Befindlichkeiten von Muslimen störten, wurden geschlossen. So sei im 15. Jh. eine Kirche in Istanbul auf Wunsch der Muslime geschlossen worden, weil sie zu nahe an einer neu errichteten Moschee stand. An gleicher Stelle soll eine Tiermenagerie entstanden sein.153 Gottesdienste in Privathäusern waren nicht zulässig, da eine solche Praxis dem verbotenen Neubau gleich käme.154 Dhimmis, die zum Islam konvertierten, durften den Islam nicht mehr verlassen.155 Eine 144  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 22. 145  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 22. 146  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 67, 68. 147  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 95. 148  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 68. 149  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 73. 150  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 70 ff., 99 ff., 100 ff. 151  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 99. 152  Vgl. Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 99. 153  Vgl. Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 99. 154  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 116. 155  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 21; Binswanger,

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

Zwangsbekehrung im engen Sinne gab es nicht. Gleichwohl kann angenommen werden, dass Dhimmis infolge der diskriminierenden Maßnahmen den Islam annahmen, um zum Beispiel einer Strafverfolgung zu entgehen.156 Auch im Verhältnis der verschiedenen nichtmuslimischen Konfessionen untereinander gab es Beschränkungen der Glaubensfreiheit. Gemäß dem Erlass aus dem Jahre 1702 wurden vier Armenier zu Strafen verurteilt, weil sie die Missionierung armenischer und aramäischer Christen durch katholische Priester unterstützt haben sollen.157 Ähnliche Erlasse gab es in den Jahren 1725 und 1746.158 Schließlich wurde unter Mahmut II. erlassen, dass Christen ihre Konfession nicht ändern durften.159 Das liturgische Glockengeläut war verboten, sofern es für die Muslime ein Ärgernis darstellte.160 In überwiegend von Muslimen bewohnten Städten durfte nicht öffentlich zum Gottesdienst gerufen werden.161 Nennenswert ist daneben die Aufforderung, „stille“ Messen durchzuführen, damit kein Schall aus der Kirche dringe.162 f) Steuerrecht und Militärdienst Das Osmanische Reich besteuerte Dhimmis nach islamischem Recht.163 In Angelegenheiten der Steuer und des Militärdienstes wurden Muslime und Dhimmis unterschiedlich behandelt. Dhimmis mussten eine sog. Kopfsteuer164 Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 272. 156  Hat ein Dhimmi einen Glaubensbruder erschlagen und gab es für den Sachverhalt keine Zeugen, konnte er der Bestrafung durch Annahme des Islam entgehen, s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 273. 157  So Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 21. 158  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 22. 159  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 22. 160  Vgl. Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 118. 161  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 119. 162  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 120. 163  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 26. 164  Türk. cizye, arab. djizya, jizya oder g ˇ izyas, vgl. Schirrmacher, „Islam von A–Z“, in: Harenberg Lexikon der Religionen, 2002, S. 468 (510); Papoulia, „Kopfsteuer“, in: Lexikon der Islamischen Welt, 1992, S. 158; Heine, „Abgabe (gesetz­ liche)“, in: Islam-Lexikon A–Z, 2006, S. 21 (23).



III.  Die Rechtsstellung der Nichtmuslime im Osmanischen Reich149

entrichten und wurden mit dieser Zahlung vom Militärdienst befreit.165 Von dieser Zahlungsplicht waren Frauen, Kinder, ältere und kranke Menschen, Bedürftige und Geistliche befreit.166 Die Kopfsteuer ist eine Abgabe, die die Schriftbesitzer (Juden, Christen, Sabier und Zoroastrier) in islamisch eroberten Gebieten in Anerkennung der islamischen Oberherrschaft als Schutzbefohlene entrichten mussten.167 Sie wurde in Anlehnung an Sure 9,29 als „Tribut der Erniedrigten“ festgelegt und war Zeichen der Unterwerfung unter den Islam und Kennzeichen des Zwei-Klassen-Systems der Bürger unterschiedlicher Religionszugehörigkeit im islamischen Staat.168 Die Schutzbefohlenen behielten dafür Bleibe-, Besitz- und Autonomierechte und leisteten keinen Militärdienst und nahmen meist nicht am Djihad169 teil.170 Der Militär- und Staatsdienst war Muslimen vorbehalten.171 Bei Übertritt zum Islam erlosch die Zahlungspflicht.172 So kam es im Osmanischen Reich häufig vor, dass die sog. Woynuqs, die militärische Dienste leisteten, von der Kopfsteuer befreit waren.173 Aber auch Dhimmis, die in der Gewinnung von Salz und Rohstoffen tätig wurden, waren von der Zahlung der Kopfsteuer befreit.174 Neben den oben genannten Abgaben waren Dhimmis auch verpflichtet, Steuern nach sultanischem Recht (örfi hukuk) zu zahlen.175 Häufig wurden Dhimmis höher besteuert als Muslime.176 Was den Militärdienst angeht, seien Nicht165  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 23. 166  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S.  23; Papoulia, „Kopfsteuer“, in: Lexikon der Islamischen Welt, 1992, S. 158. 167  s.  Schirrmacher, „Islam von A–Z“, in: Harenberg Lexikon der Religionen, 2002, S. 468 (510). 168  s.  Schirrmacher, „Islam von A–Z“, in: Harenberg Lexikon der Religionen, 2002, S. 468 (510). 169  deutsch Heiliger Krieg, vgl. Khoury, „Heiliger Krieg“, in: Islam-Lexikon A–Z, 2006. S. 273–281. 170  s.  Schirrmacher, „Islam von A–Z“, in: Harenberg Lexikon der Religionen, 2002, S. 468 (510). 171  s.  Dinçkol, 1982 Anayasası Çerçevesinde ve Anayasa Mahkemesi Kararlarında Laiklik (Laizismus im Lichte der Verfassung von 1982 und den Entscheidungen des Verfassungsgerichts), 1991, S. 25. 172  s.  Schirrmacher, „Islam von A–Z“, in: Harenberg Lexikon der Religionen, 2002, S. 468 (510). 173  Vgl. Papoulia, „Kopfsteuer“, in: Lexikon der Islamischen Welt, 1992, S. 158. 174  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 27. 175  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 26, 27. 176  Zoll und die Steuer auf Kaffee seien hier beispielhaft genannt, vgl. Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 29.

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

muslime gegenüber den Muslimen privilegiert gewesen, da ihnen der Mili­ tärdienst erspart geblieben sei und sie ihren Geschäften nachgehen konnten.177 Ab dem 15. Jh. wurden mit der Einführung des Sammel-System (Devşirme)178 islamisierte Kinder christlicher Eltern in den Militärdienst aufgenommen.179 g) Gerichtsbarkeit und Verfahrensrecht Den Dhimmis war eine eigene Gerichtsbarkeit belassen, die sich auf zivilrechtliche Belange mit religiösem Gehalt und auf freiwillige Gerichtsbarkeit beschränkte.180 Hinsichtlich jener Sachverhalte, die nur den Muslimen verboten waren, unterstanden Dhimmis nicht der islamischen Gerichtsbarkeit.181 Anders verhielt es sich im Strafrecht, denn hier hatten die Dhimmis keine eigene Strafgerichtsbarkeit und wurden nach islamischem Recht bestraft.182 Die Schariagerichtsbarkeit war ferner zuständig, wenn eine der Parteien ein Muslim war, die prozessierenden Dhimmis nicht der gleichen Konfession angehörten oder eine Partei den Fall vor dem Kadi verhandeln wollte.183 Somit hatten die Gerichte der Dhimmis auch in jenen Streitsachen, denen „religiöse Bedeutung zukommt“ zwar die „volle“, nicht aber die ausschließliche Zuständigkeit.184 Die Urteile der Dhimmi-Gerichte hatten keine Rechtsverbindlichkeit.185 Die Vollstreckung der Entscheidungen der einzelnen Religionsgemeinschaften war Aufgabe des osmanischen Staates. Die Religionsgemeinschaften konnten ihre Entscheidungen nur mithilfe 177  So Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 23. 178  Nach der Eroberung christlicher Gebiete wurden die Kinder der eroberten Gebiete eingesammelt und für den Militär- und Staatsdienst ausgebildet. 179  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 23. 180  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 158. 181  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 150, 151. 182  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 151; s. Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Durumu Durumu (Die Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 25. 183  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 151, 152. 184  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 153. 185  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 159.



IV. Der Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches151

des Staates durchsetzen.186 So wurde etwa nach Anrufung des Istanbuler Patriarchats in den Jahren 1602 und 1608 durch Erlass die Verbannung von Priestern nach Rhodos angeordnet.187 Dhimmis durften vor Gericht nicht gegen Muslime als Zeugen aussagen, wohingegen Dhimmis unterschied­ licher Konfessionen gegeneinander als Zeugen aussagen konnten.188 Zeugnisse von Dhimmis bei zivilrechtlichen Streitigkeiten waren gleichwohl möglich.189 Schließlich war es möglich, Dhimmis vor dem Kadi nach eigenem Glaubensbekenntnis zu vereidigen, sofern urkundliche Beweismittel nicht vorhanden waren.190 4. Zwischenergebnis Das Osmanische Reich versah sich als islamische Theokratie einer mulitreligiösen Gesellschaft und ordnete diese nach ihrer Religionszugörigkeit. Es etablierte nach islamischem Recht ein plurales Rechtssystem, wonach Dhimmis toleriert und relative Autonomie in eigenen Angelegenheiten genossen. Die osmansiche Toleranz bestand noch vor dem Eintritt des Reiches in den Säkularisationsprozess. Dieses Rechtssystem führte zu Diskriminierungen innerhalb der multireligiösen Gesellschaft, wenngleich damit zugleich vereinzelt Privilegien einhergingen. Die Stellung der religiösen Minderheiten in der religiös-politischen Einheitswelt Deutschlands war dagegen eine andere. Nach der Glaubensspaltung und den Konfessionskriegen entstand innerhalb des religionsneutralen Reiches zunächst eine Herrschaftsteilung entlang der Konfessionszugehörigkeit.

IV. Der Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches 1. Einleitung Der Kontakt des Osmanischen Reiches mit dem Westen war bis zu Beginn des 18. Jh. von dem Empfinden der eigenen Überlegenheit gegenüber 186  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 24. 187  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 24. 188  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 24. 189  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 24. 190  s.  Bozkurt, Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukuki Rechtsstellung nichtmuslimischer osmanischer Bürger), 1989, S. 24,

Durumu (Die Durumu (Die Durumu (Die Durumu (Die Durumu (Die 25.

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

dem Westen geprägt.191 Das Osmanische Reich zeigte in der ersten Hälfte des 17. Jh. Reformbestrebungen.192 Dabei galt noch Anfang des 18. Jh. die alte Ordnung als das Ideal.193 Nach dieser traditionellen Denkweise war nur mit der Rückkehr zur alten islamischen Ordnung eine Verbesserung möglich.194 Die islamischen Prinzipien verloren mit der Zeit an Beachtung, Ungleichheit und Korruption waren an der Tagesordnung.195 Die Säkularisation des Osmanischen Reiches vollzog sich dreistufig und hatte stets die Modernisierung des Reiches zum Ziel. Die erste Stufe bildet die sog. „Entdeckung des neuen Westen“. Das Osmanische Reich erkennt, dass es seine Vorherrschaft an den Westen verloren hat und beginnt zunehmend westliche Ideen zu übernehmen. Die zweite Stufe der Säkularisation beginnt mit der Rezeption europäischen Rechts. Dieser Prozess findet schließlich seinen Höhepunkt in der ersten osmanischen Verfassung, der die dritte Stufe der Säkularisation markiert. 2. Die „Entdeckung des neuen Westen“ als erste Stufe der Säkularisation Das Osmanische Reich war im 17. und 18. Jh. wirtschaftlichen, sozialen, militärischen und politischen Problemen ausgesetzt.196 In Anbetracht der militärischen Erfolge des Westens über das Osmanische Reich stellte sich ein Sichtwandel bei den Osmanen über den Westen ein.197 Mit der Niederlage im Krieg gegen Österreich und Russland erkannte das Osmanische 191  s.  Mardin, Türk Modernleşmesi (Türkische Modernisierung), 1991, S. 12; Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 24; Berkes, Türkiye’de Çağdaşlaşma (Modernisierung in der Türkei), 1978, S. 36. 192  s.  Karal, Tanzimattan Evvel Garplaşma Hareketleri (Verwestlichungsbewegungen vor dem Tanzimat), 1940, S. 15; bei Scheinhardt findet eine erste Säkularisation des Rechts bereits im 15. und 16. Jahrhundert statt, s. dies., Die religiöse Lage in der Türkei, 1986, S. 31. 193  s.  Berkes, Türkiye’de Çağdaşlaşma (Modernisierung in der Türkei), 1978, S. 38, 39. 194  s.  Berkes, Türkiye’de Çağdaşlaşma (Modernisierung in der Türkei), 1978, S. 39; erster Absatz Gülhane Hatt-ı Humayun, in: Scheben, Verwaltungsreformen der frühen Tanzimatzeit, 1919, S. 255. 195  So Okandan, Âmme Hukukumuzun Anahtarları (Die Schlüssel unsern Staatsrechts), 1977, S. 47. 196  Vgl. Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 24; einen historischen Abriss der Probleme des Osmanischen Reiches in den Bereichen Militär, Politik, Bürokratie findet sich bei Herzog, Geschichte und Ideologie, 1996, S.  72 ff.; Jung, Die Rache der Janitscharen, in: Orient, 1999, Heft 2, S. 211 (216 ff.); Sonyel, Minorities and the Destruction of the Ottoman Empire, 1993, S. 61 ff. 197  Vgl. Hayta / Ünal, Osmanlı Devletin’de Yenileşme Hareketleri (Erneuerungsbewegungen im osmanischen Staat), 2005, S. 19.



IV. Der Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches153

Reich, dass es seine Überlegenheit an den Westen verloren hat.198 Um seinen völligen Niedergang zu verhindern, musste das Reich den militärischen, technischen, kulturellen und wirtschaftlichen Fortschritt des Westens annehmen; gleichzeitig wies die Staatsführung die Forderung zurück, sich auf die eigenen Wurzeln des „goldenen Zeitalters“ zu besinnen.199 Das islamische Erbe würde zwar die Traditionen aufrechterhalten, konnte jedoch den drängenden Nöten unter den neuen Umständen keine Lösung bieten.200 Gegen die Reformen nach westlichem Vorbild traten in erster Linie die Ulema201 und die Janitscharen (Jeniçeri) ein.202 Infolge des Machtverlustes der Zentralgewalt entwickelten sich die Pluralität des Rechtswesens und die Willkür in der Justiz zunehmend zum Problem.203 Die Notwendigkeit der Verbesserung des Rechtswesens wurde verschiedentlich empfohlen.204 Die Übernahme westlicher Kriegstechnik stellte sich Anfang des 18. Jh. als eine der wichtigsten Staatsaufgaben dar, die es zu lösen galt.205 198  s.  Hayta / Ünal, Osmanlı Devletin’de Yenileşme Hareketleri (Erneuerungsbewegungen im osmanischen Reich), 2005, S. 25. 199  s.  Hayta / Ünal, Osmanlı Devletin’de Yenileşme Hareketleri (Erneuerungsbewegungen im osmanischen Staat), 2005, S. 25; Okumuş, Klasik Dönem Osmanlı Devletin’de Din-Devlet Ilişkisi (Das Verhältnis von Religion-Staat in den klassischen Zeit des osmanischen Staates), 2005, S. 164; Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 25. 200  So Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 25. 201  Sing. Alim, „jemand, der ’ilm, Wissen Besitzt, s. Klein, Die Osmanische Ulema des 17. Jahrhunderts, 2007, S. 30. 202  Grund hierfür waren der drohende Verlust der Privilegien s.  Tunaya, Türkiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri(Verwestlichungsbewegungen im politischen Leben der Türkei), 1996, S. 20; Jung, Die Rache der Janitscharen, in: Orient, 1999, Heft 2, S. 211 (215); s. etwa den Begriff „Janitscharenplage“ (Jeniçeri illeti) bei Herzog, Geschichte und Ideologie, 1996, S. 55; zu den Privilegien der Ulema im Einzelnen s. Klein, Die osmanische Ulema des 17. Jahrhunderts, 2007, S. 86. 203  So Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 29; Bozkurt, Batı Hukukunun Türkiye’de Benimsenmesi (Die Aneignung des westlichen Rechts in der Türkei), 1996, S. 40. 204  s.  Tunaya, Türkiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri (Verwestlichungsbewegungen im politischen Leben der Türkei), 1996, S. 21; Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 29; Okumuş, Klasik Dönem Osmanlı Devletin’de Din-Devlet ilişkisi (Das Verhältnis von Religion-Staat in den klassischen Zeit des osmanischen Staates), 2005, S. 170; Bozkurt, Batı Hukukunun Türkiye’de Benimsenmesi (Die Aneignung des westlichen Rechts in der Türkei), 1996, S. 40. 205  s.  Mardin, Türk modernleşmesi (Türkische Modernisierung), 1991, S. 12; Bozkurt, Batı Hukukunun Türkiye’de Benimsenmesi (Die Aneignung des westlichen Rechts in der Türkei), 1996, S. 40.

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

a) Westliches Lebensgefühl in der Tulpenzeit 206 Die ersten Momente der Einflussnahme des westlichen Lebensgefühls fallen in die Tulpenzeit (1718–1730).207 Der Botschafter Mehmet Faizi (28 Çelebi Mehmet Efendi) berichtete als erster vom neuen Lebensgefühl im Westen.208 Nach seiner Parisreise 1721 am Hofe Louis XV. berichtete er Ahmet III. von den Errungenschaften und der Überlegenheit des Westens.209 Das Osmanische Reich wurde in dieser Zeit verstärkt durch die französische Kultur beeinflusst.210 Paläste wurden mit Tulpen geschmückt, die diplomatischen Kontakte mit dem Westen gestärkt, westliche Bücher übersetzt, Bibliotheken und Schulen errichtet, westliche Mode und Architektur eingeführt und der Buchdruck wurde intensiviert.211 Dieser europäische Geist äußerte sich auch in der osmanischen Literatur, welche E. J. W. Gibb als Umwandlung vom Persianismus zum Westernismus bezeichnet hat.212 Die Veränderungen im Land erreichten jedoch nicht alle Schichten der Gesellschaft. Die Istanbuler Unter- und Mittelschicht verstand diesen Lebenswandel als ein Lale Devri. Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 25; Otacı, Hukukun Laikleşme Serüveni (Das Laizisierungsabenteuer des Rechts), 2004, S. 148; Hayta / Ünal, Osmanlı Devletin’de Yenileşme Hareketleri (Erneuerungsbewegungen im osmanischen Staat), 2005, S. 25, 27; Okumuş, Klasik Dönem Osmanlı Devletin’de Din-Devlet ilişkisi (Das Verhältnis von Religion-Staat in der klassischen Zeit des osmanischen Staates), 2005, S. 164; Karal, Tanzimattan Evvel Garplaşma Harekatleri (Verwestlichungsbewegungen vor dem Tanzimat), 1940, 19; Scheinhardt, Die religiöse Lage in der Türkei, 1986, S. 31. 208  s.  Karal, Tanzimattan Evvel Garplaşma Hareketleri (Verwestlichungsbewegungen vor dem Tanzimat), 1940, S. 19. 209  Vgl. Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 33; Karal, Tanzimattan Evvel Garplaşma Hareketleri, 1940 (Verwestlichungsbewegungen vor dem Tanzimat), S. 57, 58. 210  Frankreich teilte in dieser Periode mit dem Osmanischen Reich die Feindschaft mit Österreich und Russland und war insoweit ein politischer und wirtschaftlicher Verbündeter des Osmanischen Reiches. s. Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 25; Lewis, The Emergence of Modern Turkey, 1961, S. 46. 211  Vgl. Otacı, Hukukun Laikleşme Serüveni (Das Laizisierungsabenteuer des Rechts), 2004, S. 148; Hayta / Ünal, Osmanlı Devletin’de Yenileşme Hareketleri (Erneuerungsbewegungen im osmanischen Staat), 2005, S. 25, 27; Okumuş, Klasik Dönem Osmanlı Devletin’de Din-Devlet ilişkisi (Das Verhältnis von Religion-Staat in der klassischen Zeit des osmanischen Staates), 2005, S. 164; Berkes, The Devel­ opment of Secularism in Turkey, 1998, S. 26, 27; für weitere Ausführungen über den Buchdruck im 18. Jh. s. Karal, Tanzimattan Evvel Garplaşma Hareketleri (Verwestlichungsbewegungen vor dem Tanzimat), 1940, S. 58 ff. 212  s.  Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 26; mit Verweis in Fn. 3 auf E.J.W. Gibb, A History of Ottoman Poetry, 1905, IV, 4, S. 12–13. 206  Türk. 207  Vgl.



IV. Der Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches155

verschwenderisches Privileg der Oberschicht. Unter dem Eindruck der Missstände im Land, führten diese Verhältnisse zu einem Volksaufstand. Mithilfe der Janitscharen und der Ulema wurde die Tulpenzeit und damit die Öffnung des Osmanischen Reiches zum Westen als Ketzerei (Küfr) 1730 gewaltsam durch einen Aufstand beendet (Patrona Halil Isyanı).213 Infolge dieses Aufstandes gegen den westlichen Einfluss konnten auf staatlicher Ebene lediglich einige militärische Veränderungen durchgesetzt werden.214 Der Aufstand markiert den ersten Konflikt im Zusammenhang mit der Europäisierung des Osmanischen Reichs.215 Die Erkenntnis der technischen und militärischen Überlegenheit Europas,216 die anschließende kulturelle Öffnung des Reiches nach Europa in der ersten Hälfte 18. Jh. können als Auslöser des Säkularisationsprozesses des Osmanischen Reiches bezeichnet werden.217 b) Anstoß des Reformprozesses unter Selim III. Die Gedanken der französischen Menschen- und Bürgerrechteerklärung von 1789 strahlte in das Osmanische Reich ein.218 Selim III., der im Jahr der Französischen Revolution 1789 sein Amt antrat, entschloss sich als erster Sultan mit Blick auf die Französische Revolution eine neue Ord­ nung aufzustellen (Nizam-i Cedit).219 So soll sich Selim III. geheim mit 213  s.  Mardin, Türk modernleşmesi (Türkische Modernisierung), 1991, S. 13; Karal, Tanzimattan Evvel Garplaşma Hareketleri (Verwestlichungsbewegungen vor dem Tanzimat), 1940, S. 20; Bozkurt, Batı Hukukunun Türkiye’de Benimsenmesi (Die Aneignung des westlichen Rechts in der Türkei), 1996, S. 40. „Die Religion im Osmanischen Reich war damals noch mächtig genug, fast alle Reformversuche als ungläubige Neuerungen abzuweisen.“, Scheinhardt, Die religiöse Lage in der Türkei, 1986, S. 31. 214  Mahmut I., Mustafa III. und Abdülhamid I. (1730–1789) beschäftigten sich mit Reformen beim Militär, s. Karal, Tanzimattan Evvel Garplaşma Hareketleri (Verwestlichungsbewegungen vor dem Tanzimat), 1940, S. 20; Tunaya, Türkiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri (Modernisierungsbewegungen im politischen Leben der Türkei), 1996, S. 21. 215  s.  Mardin, Türk Modernleşmesi (Türkische Modernisierung), 1991, S. 13. 216  s.  Shaw, „Ottoman Empire“, in: Modern Islamic World, 1995, S. 269 (274). 217  Vgl. Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 26, 51; Berkes, Türkiye’de Çagdaslasma (Modernisierung in der Türkei), 1978, S. 98. 218  So Okumuş, Klasik Dönem Osmanlı Devletin’de Din-Devlet ilişkisi (Das Verhältnis von Religion-Staat in der klassischen Zeit des osmanischen Staates), 2005, S. 170, 171. 219  Selim III. herrschte von 1789–1807; s. Jung, Die Rache der Janitscharen, in: Orient, 1999, Heft 2, S. 211 (215); Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004,

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

Louis XVI. über Briefe verständigt haben.220 Die Staatsführung wollte die im Reich herrschende Willkür durch die politische Elite unterbinden und wieder zu einem Machtzentrum erstarken, zugleich baute Selim III. die diplomatischen Kontakte mit dem Westen aus.221 Er beabsichtigte, entgegen einiger Vorschläge, nicht das vorhandene Recht zu verbessern und umzusetzen, sondern Gesetze aus dem Westen zu übernehmen sowie demokratische Elemente einzuführen, ferner den Stand der Ulema sowie die Janitscharen abzuschaffen.222 Er entsandte 1793 den Diplomaten Ebu Bekir Ratip Efendi nach Österreich, um die dortigen staatlichen Einrichtungen zu analysieren.223 Ratip Efendi kommt in seinem angefertigten Reisebericht zu der Feststellung, dass es in Österreich außer der kirchlichen Trauung kein religiöses Recht gibt.224 Selim III. gab daneben die Begutachtung der eigenen Staatsordnung in Auftrag. Ermutigt durch die liberale Geisteshaltung des Sultans stellten einige der Gutachter fest, dass die bisherigen Gesetze „verwesen“ sind und den Bedürfnissen des Reichs entsprechend auf neuer Grundlage geändert werden müssen.225 In diesem Zusammenhang taucht der S. 29; Otacı, Hukukun Laikleşme Serüveni (Das Laizisierungsabenteuer des Rechts), 2004, S. 149; Tunaya, Türkiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri (Verwestlichungsbewegungen im politischen Leben der Türkei), 1996, S. 22; Bozkurt, Batı Hukukunun Türkiye’de Benimsenmesi (Die Aneignung des westlichen Rechts in der Türkei), 1996, S. 42. 220  s.  Lewis, The Emergence of Modern Turkey, 1961, S. 56; Tunaya, Türkiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri (Verwestlichungsbewegungen im politischen Leben der Türkei), 1996, S. 22. 221  Selim III. brachte seinen Unmut über den Zustand des Landes wie folgt zum Ausdruck: Das Land ist durch die Fülle an Grausamkeiten verwüstet. Keine Grausamkeit, die die Kadis, die Staatsvertreter, die Verwaltung, die Landesherren und die Steuereintreiber auslassen. Es wurden ständige Botschaften in Wien, Berlin, Paris und London errichtet, vgl. Tunaya, Türkiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri (Verwestlichungsbewegungen im politischen Leben der Türkei), 1996, S. 24; Otacı, Hukukun Laikleşme Serüveni (Das Laizisierungsabenteuer des Rechts), 2004, S. 151. 222  s.  Jung, Die Rache der Janitscharen, in: Orient, 1999, Heft 2, S. 211 (215); Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S.  29; Bozkurt, Batı Hukukunun Türkiye’de Benimsenmesi (Die Aneignung des westlichen Rechts in der Türkei), 1996, 40; Otacı, Hukukun Laikleşme Serüveni (Das Laizisierungsabenteuer des Rechts), S. 150; Tunaya, Türkiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri (Verwestlichungsbewegungen im politischen Leben der Türkei), 1996, S. 22. 223  s.  Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtsystems in der Türkei), 2004, S. 29. 224  Der Bericht umfasste 500 Seiten, vgl. Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtsystems in der Türkei), 2004, S. 30. 225  s.  Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtsystems in der Türkei), 2004, S. 31.



IV. Der Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches157

in türkischer Sprache bis dato unbekannte Begriff des „Rechtsstaates“ auf.226 In der Zeit Selim III. wurde erstmals über das Verhältnis von Staat und Religion gesprochen.227 Die in diesem Zusammenhang diskutierte Kritik am französischen Staat richtete sich in erster Linie gegen dessen Laizismus.228 Kritiker Selim III. waren allen voran die von den Reformen in ihren Interessen betroffenen und im Staat verwurzelten Ulema, Landesherren, Bürokraten und Janitscharen.229 Mit dem Vorwand, die Reformen seien unislamisch, mobilisierten sich die Gegner Selim III: „Die Religion im Osmanischen Reich war damals noch mächtig genug, fast alle Reformversuche als ungläubige Neuerungen abzuweisen.“230 Die Ulema erstellte eine Fatwa, nach der es islamisch sei, Selim III. zu töten.231 Noch bevor Selim III. seine Reformvorhaben umsetzten konnte, wurde er, legalisiert durch den Großmufti von Istanbul,232 gestürzt und später getötet.233 Selim III. fehlte das zur Umsetzung notwendige Personal.234 Der Widerstand der Janitscharen und der Ulema gegen die Reformen waren erheblich. Der Scheich ul Islam erstellte die Fatwa, wonach die Reformvorhaben Selim III. gegen die Scharia verstoßen. Selim III. wurde im Zuge der Auseinandersetzung mit den Aufständischen, unter Führung des Kabakcı Mustafa, ertrunken aufgefunden.235 226  So Bozkurt, Batı Hukukunun Türkiye’de Benimsenmesi (Die Aneignung des westlichen Rechts in der Türkei), 1996, 40. 227  So Okumuş, Klasik Dönem Osmanlı Devletin’de Din-Devlet Ilişkisi (Das Verhältnis von Religion-Staat in der klassischen Zeit des osmanischen Staates), 2005, S. 180. 228  So Okumuş, Klasik Dönem Osmanlı Devletin’de Din-Devlet Ilişkisi (Das Verhältnis von Religion-Staat in der klassischen Zeit des osmanischen Staates), 2005, S. 180. 229  Vgl. Jung, Die Rache der Janitscharen, in: Orient,1999, Heft 2, S. 211 (215); Otacı, Hukukun Laikleşme Serüveni (Das Laizisierungsabenteuer des Rechts), 2004, S. 153; Tanör, Osmanlı-Türk Anayasal Gelişmeleri (Osmanisch-türkische Verfassungsentwicklungen), 16. Aufl. (2007), S. 38. 230  Scheinhardt, Die religiöse Lage in der Türkei, 1986, S. 32. 231  s.  Tunaya, Türkiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri (Verwest­ lichungsbewegungen im politischen Leben der Türkei), 1996, S. 24. 232  s.  Jung, Die Rache der Janitscharen, in: Orient, 1999, Heft 2, S. 211 (215). 233  Vgl. Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 30; Tanör, Osmanlı-Türk Anayasal Gelişmeleri (Osmanisch-türkische Verfassungsentwicklungen), 16. Aufl. (2007), S. 39; Bozkurt, Batı Hukukunun Türkiye’de Benimsenmesi (Die Aneignung des westlichen Rechts in der Türkei), 1996, S. 44. 234  s.  Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 30. 235  Vgl. Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 30; Tanör, Osmanlı-Türk Anayasal Gelişmeleri (Osmanisch-türkische Verfassungsentwicklungen), 16. Aufl. (2007),

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

c) Erste militärische Reformen und Bündnisse unter Mahmut II. Mahmut II. konnte auf die Erfahrungen und Arbeiten Selim III. zurückgreifen und setzte anders als Selim III. wichtige und breit angelegte Reformen durch.236 Die moderne Verfassungsentwicklung in der Türkei wird daher auf die Zeit unter Mahmut II. datiert.237 Er war der erste Sultan, der seine Herrschaftsmacht einschränkte und staatlichen Einrichtungen übertrug (Autolimitation), denn anders als in Europa, gab es keinen Volksaufstand gegen die Herrschaft des Sultans.238 Mahmut II. beschränkte Teile seiner Gesetzgebungskompetenz und übertrug diese Kompetenzen hierzu errichteten Einrichtungen.239 Das Amt des Scheich ul Islam wurde von der Regierungsverwaltung getrennt.240 Eindrucksvoll ist, dass die Übernahme west­ licher Kriegstechnik mit einer Fatwa des Scheich ul Islam als islamisch legitimiert wurde.241 Eine zusätzliche Beschränkung der allumfassenden Eingriffsmacht fand durch die Unterzeichnung des „Bündnisvertrages“ 1808 (Sened-i Ittifak242) mit den Landesherren statt.243 Mahmut II. brachte erstS. 39; Bozkurt, Batı Hukukunun Türkiye’de Benimsenmesi (Die Aneignung des westlichen Rechts in der Türkei), 1996, S. 44. 236  Unter Mahmut II. (1808–1839) wurden Pass- und Kleidungsvorschriften eingeführt, die erste amtliche Zeitung wurde eingeführt, Änderungen im Bereich der staatlichen Verwaltung wurde durchgeführt und die Grundschulpflicht eingeführt; s. Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 30; Bozkurt, Batı Hukukunun Türkiye’de Benimsenmesi (Die Aneignung des westlichen Rechts in der Türkei), 1996, S. 44. 237  Mahmut II. herrschte von 1808–1839; s. Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 30, Fn. 108; Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, 1996, S. 37. 238  Vgl. Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laiszistischen Rechtssystems in der Türkei, 2004, S. 31, 32; Tunaya, Türkiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri (Verwestlichungsbewegungen im politischen Leben der Türkei), 1996, S. 28. 239  Das Amt des Dar-i Suray-i Babiali, Meclis-i Valy-i Ahkam und Dar-i Suray-i Askeri. s. Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des lazistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 31; Otacı, Hukukun Laikleşme Serüveni (Laizisierungsabenteuer des Rechts), 2004, S. 152; Bozkurt, Batı Hukukunun Türkiye’de Benimsenmesi (Die Aneignung des westlichen Rechts in der Türkei), 1996, S. 45. 240  So Otacı, Hukukun Laikleşme Serüveni (Laizisierungsabenteuer des Rechts), 2004, S. 152. 241  s.  Tunaya, Türkiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri (Verwest­ lichungsbewegungen im politischen Leben der Türkei), 1996, S. 22. 242  Weiterführende Literaturnachweise bei Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 27. 243  Mit diesem Vertrag wurde der Wille des Sultans Beschränkungen unterworfen und musste sich verfahrensrechtlichen Vorgaben beugen. Umstritten ist der Ver-



IV. Der Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches159

mals das Gleichheitsprinzip mit den Worten „(…) Moslems fortan nur noch in der Moschee, Christen in der Kirche, Juden in der Synagoge (…) zu erkennen“244, zum Ausdruck. Ähnlich wie auch die reformistischen Bestrebungen zuvor, begegnete Mahmut II. dem Widerstand der Ulema und der Janitscharen.245 „Die mittelalterliche Theokratie mit ihrer Identität von Staat und Religion geriet erst 1826 mit der Vernichtung der Janitscharen durch das neue, reformierte Militär Sultan Mahmuds II. ins Wanken.“246 Durch das Bündnis des Sultans mit der Ulema gelang es, die Janitscharen, legitimiert durch eine Fatwa, 1826 aufzulösen und somit einen der stärksten Gegner der Modernisierung des Osmanischen Reiches abzuschaffen247. Der noch verbliebene Modernisierungsgegner war somit einzig die Ulema.248 3. Die Kodifikationsbewegung als zweite Stufe der Säkularisation a) Einleitung Der Einzug des säkularen Rechts beginnt im Osmanischen Reich mit der Kodifikationsbewegung im Jahre 1839 (Tanzimat249).250 Diese ist zugleich gleich des Bündnisvertrages mit der Magna Charta und die Annahme, dieser Vertrag sei der erste Schritt in Richtung Rechtsstaat, vgl. Özbudun, The Constitutional System of Turkey, 2011, S. 2; Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 30, Fn. 108; Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, 1996, S. 37; Tanör, Osmanlı-Türk Anayasal Gelişmeleri (Osmanisch-türkische Verfassungsentwicklungen), 1996, S. 30, 40,41; Bozkurt, Batı Hukukunun Türkiye’de Benimsenmesi (Die Annahme des westlichen Rechts in der Türkei), 1996, S. 44; Tunaya, Türkiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri (Verwestlichungsbewegungen im politischen Leben der Türkei), 1996, S. 26. 244  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 196, Fn. 4. 245  s.  Tunaya, Türkiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri (Verwest­ lichungsbestrebungen im politischen Leben der Türkei), 1996, S. 26, 27. 246  Scheinhardt, Die religiöse Lage in der Türkei, 1986, S. 32. 247  So kam es im Jahre 1826 zum sog. „Janitscharenmassaker“, s. Jung, Die Rache der Janitscharen, in: Orient, 1999, Heft 2, S. 211 (215, 216). 248  Vgl. Tunaya, Türkiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri (Verwestlichungsbewegungen im politischen Leben der Türkei), 1996, S. 27, 28. 249  Deutsch. Regulierung, Ordnung; Tanzimat bezeichnet die Epoche (1839 bis ca. 1876) der sozialen und politischen Reformen des Osmanische Reiches nach vorwiegend westlichem Vorbild, s. Mardin, „Tanzimat“, in: Modern Islamic World, Bd. 4, 1995, S. 183 (183). 250  s.  Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 32; Bozkurt, Batı Hukukunun Türkiye’de Benimsenmesi (Die Aneignung des westlichen Rechts in der Türkei), 1996, S 48; Özbudun, The Constitutional System of Turkey, 2011, S. 2.

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

die Fortsetzung des Anfang des 18. Jahrhunderts begonnenen Säkularisa­ tionskurses.251 Mit der Kodifikationsbewegung trennte sich das Osmanische Reich langsam vom islamischen Recht. Es fand erstmals westliches und somit säkulares Recht Eingang in das osmanische Rechtssystem.252 Entscheidendes Charakteristikum der Reformperiode des Osmanischen Reiches ist der Dualismus im Rechtswesen.253 Das althergebrachte kanonische Recht und übernommenes westeuropäisches Recht fanden parallel Anwendung.254 Die Kodifikationsbewegung stand unter erheblichem Druck des Westens, der darauf drängte, die nichtmuslimische Bevölkerung der muslimischen gleichzustellen.255 b) Erstes Reformedikt von 1839  256 Am 03.11.1839 erlässt Sultan Abdülmecid das erste Reformedikt (Hatt-ı Şerif257 von Gülhane258). Hierbei handelt es sich um ein für das türkische Staatswesen grundlegendes Schreiben, das inhaltlich darauf abzielt, das Osmanische Reich aus der alten Form einer asiatisch-mittelalterlichen, auf militärisch-theokratischer Grundlage aufgebauten Staatsform, in eine modern-europäische zu transformieren.259 Diese Erklärung ist vom Geist der französischen Bürgerrechtserklärung von 1789 getragen und hat den Cha251  s.  Mardin,

„Tanzimat“, in: Modern Islamic World, Bd. 4, 1995, S. 183 (184). Bozkurt, Batı Hukukunun Türkiye’de Benimsenmesi (Die Annahme des westlichen Rechts in der Türkei), 1996, S 48; Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 53. 253  Vgl. Bandak, Die Rezeption des schweizerischen Zivilgesetzbuches in der Türkei, 2008, S. 30. 254  Vgl. Bandak, Die Rezeption des schweizerischen Zivilgesetzbuches in der Türkei, 2008, S. 30. 255  s.  Dinçkol, 1982 Anayasası Çerçevesinde ve Anayasa Mahkemesi Kararlarında Laiklik (Der Laizismus im Rahmen der Verfassung und der Entscheidungen des Verfassungsgerichts), 1991, S. 28. 256  In arabischen Schriftzeichen abgedruckt in: Düstur, Serie I, Bd. 1, S. 4  ff., zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1919, S. 15, Rn. 1; sofern im Folgenden das Reformedikt v. 1839 in deutscher Übersetzung zitiert wird, folgt dieses der Übersetzung bei Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1909, S. 11–16. 257  Deutsch. erhabenes kaiserliches Handschreiben, vgl. Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1919, S. 1, Fn. 2. 258  Ist der Name eines kaiserlichen Pavillons in der Nähe des alten Serails von Topkapı, s.  Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1919, S. 1, Fn. 3. 259  s. von Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1919, S. 1. 252  So



IV. Der Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches161

rakter von Grundrechten.260 Das Reformedikt von 1839 war eine Charta, die keinerlei Verbindlichkeit beanspruchte.261 Dessen Ziel war nicht die Trennung von Staat und Religion. Vielmehr wird konstatiert: „Wie allgemein bekannt, wurden in den ersten Zeiten Unseres ruhmvollen Reiches die erhabenen Bestimmungen des Koran und die gesetzlichen Vorschriften genau beobachtet. Unsere Herrschaft nahm daher an Macht und Kraft zu und alle Untertanen gelangten zum höchsten Grade von Wohlstand und Glück. Seit 150 Jahren aber waren eine Kette von unglücklichen Ereignissen und verschiedener anderer Umstände der Grund, daß man abließ, die erhabenen Vorschriften der Scheriat- und Kanungesetze (…) zu befolgen, weshalb sich die frühere Macht und der einstige Wohlstand in das Gegenteil, nämlich in Schwäche und Armut, verwandelten. Denn es ist eine feststehende Tatsache, dass ein Reich, welches nicht nach gesetzlichen Vorschriften verwaltet wird, keinen Bestand haben kann.“262

Um dem Reich wieder zu Wohlstand und Stärke zu verhelfen wird ausgeführt, dass neue Gesetze erlassen werden sollen: „Somit halten Wir im vollen Vertrauen auf die Hilfe des gnädigen Schöpfers und gestützt auf den geistigen Beistand des Propheten die Schaffung einiger neuer Gesetze für wichtig und notwendig, um in Zukunft Unserem ruhmvollen Reiche und seinen wohlbehüteten Ländern die Wohltaten einer guten Verwaltung zuteil werden zu lassen.“263

So heißt es weiter: „Die Grundbestimmungen dieser notwendigen Gesetze beziehen sich auf die Sicherheit des Lebens, den Schutz der Ehre und des Vermögens, die Fixierung der Steuern, die Art und Weise der Aushebung der nötigen Truppen und die Dauer ihrer Dienstzeit.“264.

In Bezug auf das Leben und die Ehre wird festgestellt: „Da es auf der Welt nichts kostbareres als das Leben und die Ehre gibt, so ist es klar, daß jedermann, sobald er diese Güter in Gefahr sieht, selbst wenn seine natürliche Charakterlage nicht zu Gewalttaten neigt, zu solchen in mancherlei 260  Vgl. Cin / Akyılmaz, Türk Hukuk tarihi (Türkische Rechtsgeschichte), 2003, S. 461; Scheben, Verwaltungsreformen der frühen Tanzimatzeit, 1991, S. 30. 261  „Allgemein als konstitutionelle Charta der Türkei angesehen“, KraelitzGreifenhorst, die Verfassungsgesetze der Osmanischen Reiches, 1919, S. 2; Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 33. 262  Abs. 1 Hatt-ı Şerif von Gülhane, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1909, S. 11. 263  Abs. 3 S. 1 Hatt-ı Şerif von Gülhane, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1909, S. 12. 264  Abs. 3 S. 2 Hatt-ı Şerif von Gülhane, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1909, S. 12.

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

Form zum Schutze jener Güter greifen wird, was für Reich und Land vom Nachteil zu sein pflegt.“265

In Bezug auf den Vermögensschutz wird formuliert: „Und wenn keine Sicherheit für das Vermögen besteht, so wird niemand für seinen Staat und seine Mitbürger Liebe empfinden, noch auf den Fortschritt des Wohlstandes des Staates bedacht sein können, sondern jedermann wird in ständiger Angst und Unruhe leben.“266 „Niemandem ist es erlaubt, die Ehre oder den guten Ruf einer anderen Person zu verletzen, und jedermann kann sein bewegliches und unbewegliches Vermögen mit voller Freiheit besitzen und darüber schalten und walten, ohne daß von irgendeiner Seite eine Einmengung gestattet wäre.“267

Deutlich wird, dass der Erlass verkündet, Bürgerrechte für Jedermann zu schaffen, sofern es um den Schutz des Lebens, der Ehre und des Vermögens geht. Obgleich zu Beginn Jedermann Adressat dieser Bürgerrechte werden soll, werden expressis verbis Muslime und Nichtmuslime gleichgestellt. Eine Gleichstellung in Angelegenheiten des Militärdienstes und der Steuer ist nicht vorgesehen. Die Gleichstellung der Nichtmuslime erfolgt gemäß den Bestimmungen der Scharia: „Damit nun dieser Unserer Begünstigungen alle Unsere Untertanen, Mohammedaner und Anhänger der übrigen Religionsgemeinschaften, ohne Ausnahme teilhaftig werden, wurde von Uns eine vollkommene Sicherheit des Lebens, der Ehre und des Vermögens der Bevölkerung aller Unserer wohlbehüteter Länder gemäß den Bestimmungen der Scheriatgesetze gewährleistet.“268

Die beabsichtigen Reformgesetze wurden „(…) einzig und allein zu dem Zwecke erlassen, um die Religion, den Staat, das Land und das Volk mit neuen Kräften zu erfüllen (…)“.269 Deshalb verpflichtet sich der Sultan „(…) nichts zu unternehmen, was mit ihnen im Widerspruche steht.“270 Dieses wird der Sultan „(…) in Gegenwart der Ulemas und der Minis­ ter im Saale, in welchem der heilige Mantel des Propheten aufbewahrt ist, beschwören und auch die Ulemas und Minister darüber in Eid 265  Abs. 4 S. 1 Hatt-ı Şerif von Gülhane, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1909, S. 12. 266  Abs. 5 S. 1 Hatt-ı Şerif von Gülhane, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1909, S. 12. 267  Abs. 11 S. 1 Hatt-ı Şerif von Gülhane, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1909, S. 14. 268  Abs. 12 Hatt-ı Şerif von Gülhane, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1909, S. 14. 269  Abs. 16 Hs.  1 Hatt-ı Şerif von Gülhane, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1909, S. 15. 270  Abs. 16 Hs.  2 Hatt-ı Şerif von Gülhane, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1909, S. 15.



IV. Der Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches163

nehmen.“271 Klar zum Ausdruck kommt, dass die Reformen nicht die Absicht haben, die Scharia abzuschaffen. Vielmehr muss jedes Reformgesetz schariakonform sein und es soll sogar den Zweck haben, die Religion zu stärken. Schwieriger als die Verkündung von Reformgesetzen war deren Umsetzung. Der Konflikt zwischen der Loyalität gegenüber dem Sultan und seinen Erlassen und dem wohlverstandenen Eigeninteresse der meisten Funktionäre wurde zumeist zugunsten der Letzteren gelöst.272 Im Zuge des Kodifikationsprozesses wurden nahezu alle Bereiche des Rechts reformiert. So wurde 1850 nach westlichem Vorbild das neue Handelsgesetzbuch erlassen.273 Es folgte die Rezeption des schweizerischen Zivilgesetzbuches, welches Mecelle bezeichnet wurde.274 In den Jahren 1840 ff. wurde das Strafrecht reformiert.275 Die Reformen der Gerichtsbarkeit erfolgten nach französischem Vorbild.276 In der Folge dieses Prozesses entstanden zwischen den nach westlichem Vorbild errichteten weltlichen Gerichten und den Schariagerichten Kompetenzstreitigkeiten.277 Diese fanden 1914 mit der Verkündung des Gesetzes über die Kompetenz der Schariagerichte ein Ende.278 c) Erneuerungserlass von 1856  279 Mit dem Erneuerungserlass vom 18.02.1856 (Hatt-ı humajun) unter Sultan Abdülmecid werden zunächst die Bestimmungen des Hatt-ı Şerif von Gülhane bekräftigt. Zudem geht Abdülmecid dabei in der Modernisierung 271  Abs. 16 S. 2 Hatt-ı Şerif von Gülhane, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1909, S. 15. 272  s.  Scheben, Verwaltungsreform der frühen Tanzimatzeit, 1991, S. 30. 273  s.  Cin / Akyılmaz, Türk Hukuk tarihi (Türkische Rechtsgeschichte), 2003, S. 480. 274  Vgl. Bandak, Die Rezeption des schweizerischen Zivilgesetzbuches in der Türkei, 2008, S. 45 ff. 275  s.  Cin / Akyılmaz, Türk Hukuk tarihi (Türkische Rechtsgeschichte), 2003, S. 473. 276  Vgl. Cin / Akyılmaz, Türk Hukuk tarihi (Türkische Rechtsgeschichte), 2003, S. 162. 277  Vgl. Cin / Akyılmaz, Türk Hukuk tarihi (Türkische Rechtsgeschichte), 2003, S. 163. 278  s.  Cin / Akyılmaz, Türk Hukuk tarihi (Türkische Rechtsgeschichte), 2003, S. 163. 279  In arabischen Schriftzeichen abgedruckt in: Düstur, Serie I, Bd. 1, S. 7  ff., zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1919, S. 19, Fn. 1; sofern im Folgenden der Erneuerungserlass v. 1856 in deutscher Übersetzung zitiert wird, folgt dieses der Übersetzung bei Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1909, S. 17–27.

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

des osmanischen Staatswesens einen Schritt weiter.280 Die Zielrichtung des aus 24 Ziffern bestehenden Hatt-ı humajun bleibt, wie beim Hatt-ı Şerif von Gülhane, die Wiederherstellung der Stärke des Reiches durch Einführung der Gleichstellung aller Untertanen ohne Unterschied der Religion. Die strenge Unterteilung der Gesellschaft zwischen Muslimen und Nichtmuslimen und die damit verbundene Privilegierung der Muslime wird dem Grunde nach beseitigt.281 Anders als das Hatt-i Serif von Gülhane 1839 entstand der Hatt-ı humajun unter dem Druck der nach dem Krim-Krieg im Pariser Kongress vertretenen westlichen Staaten.282 Er hatte in erster Linie die Gleichstellung von Nichtmuslimen zum Gegenstand283 und hat das Verhältnis zwischen Staat und Islam in seiner Wurzel verändert.284 Mit dem Hatt-ı humajun beendete das Osmanische Reich jedwede religiöse Unterscheidung seiner Staatsbürger und er wird daher als säkularer Rechtsakt betrachtet,285 obgleich nach wie vor im Hatt-ı Humajun ein Gottbezug zu verzeichnen ist: Gott, der Schöpfer, habe die Untertanen der starken Hand des Sultans anvertraut.286 „Wenn auch der Wohlstand und Reichtum Unseres Landes und Volkes stetig in Zunahme begriffen ist, so ist es doch Unser gerechter Wunsch, die neuen nützlichen Reformen, die Wir bisher erlassen und verkündet haben, von neuem zu be280  s.  Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1919, S. 2. 281  s.  Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1919, S. 2. 282  Diese Staaten waren Frankreich und England; s. Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 34; Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, 1996, S. 40; Hayta / Ünal, Osmanlı Devletin’de Yenileşme Hareketleri (Erneuerungsbewegungen im osmanischen Staat), 2005, S. 128; Jung, Die Rache der Janitscharen, in: Orient, 1999, Heft 2, S. 211 (219). 283  s.  Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 34; Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, 1996, S. 40; Jung, Die Rache der Janitscharen, in: Orient, 1999, Heft 2, S. 211 (219); Hayta / Ünal, Osmanlı Devletin’de Yenileşme Hareketleri (Erneuerungsbewegungen im osmanischen Staat), 2005, S.  128; Mardin, Türk modernleşmesi (Türkische Modernisierung), 1991, S. 16; diese Gleichstellung aller erfreute nicht alle Gruppen im Land, namentlich die Griechen, da mit der Gleichstellung der Verlust bestimmter Privilegien einherging, s.  Mardin, Türk modernleşmesi (Türkische Modernisierung), 1991, S. 16. 284  So Hayta / Ünal, Osmanlı Devletin’de Yenileşme Hareketleri (Erneuerungsbewegungen im osmanischen Staat), 2005, S. 133. 285  So Hayta / Ünal, Osmanlı Devletin’de Yenileşme Hareketleri (Erneuerungsbewegungen im osmanischen Staat), 2005, S. 133. Gleichwohl gibt es einen Gottesbezug in der Präambel, vgl. Abs. 2, S. 1 Erneuerungserlass v. 1856. 286  Vgl. Abs. 2 Hs.  1 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1909, S. 17.



IV. Der Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches165 kräftigen und zu vermehren, damit Unser ruhmvolles Reich zu jeder Vollkommenheit gelange, welche seinem Glanze und seiner hervorragenden Stellung unter den zivilisierten Staaten gebührt.“287 „Die Garantien, welche alle Unseren Untertanen ohne Unterschied der Religion und Sekte, durch den Hatt von Gülhane und die Tanzimat-i hairije[288] zur Sicherheit ihres Lebens und Vermögens und zum Schutze ihrer Ehre von Uns versprochen und gewährt worden sind, werden hiermit erneuert und bekräftigt; es werden wirksame Maßregeln ergriffen werden, damit diese Garantien ihre volle und ganze Wirksamkeit äußern“289

Im Folgenden werden der Übersicht halber jene Regelungen des Hatt-ı humajun skizziert, die einen Bezug auf die Religionsgemeinschaften implizieren. aa) Privilegien nichtmuslimischer Religionsgemeinschaften Die Privilegien der nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften werden bestätigt: „Sämtliche kirchlichen Privilegien und Immunitäten, welche den christlichen und übrigen nichtmohammedanischen Religionsgemeinschaften, die sich unter dem Schutze Unseres kaiserlichen Wohlwollens in Unseren wohl behüteten Ländern befinden, von Unseren erlauchten Vorfahren und in den letzten Jahren verliehen worden sind, werden bekräftigt und bleiben aufrecht.“290 „Die Machtbefugnisse, die von dem in Gott ruhenden Sultan Ab-ul-Fath Mohammed II. und seinen erlauchten Nachfolgern den Patriarchen und christlichen Bischöfen eingeräumt wurden, werden mit der neuen Lage und Stellung, die Unsere hochherzigen Intentionen diesen Religionsgemeinschaften zusichern, in Einklang gebracht.“291

287  Abs. 2 S. 2 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1909, S. 18. 288  Bei Kraelitz-Greifenhorst Fn. 3, Tanzimat-i hairije bezeichnet nützliche Reformen; mit diesem Ausdruck wird die moderne Gesetzgebung des Reiches seit 1839 bezeichnet, Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1909, S. 18. 289  Nr. 1 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 18–19. 290  Nr. 2 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 19. 291  Nr. 3 S. 2 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 19.

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

bb) Mitwirkungspflicht der nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften bei Reformen „Jede christliche und andere nichtmohammedanische Religionsgemeinschaft wird innerhalb eines festfixierten Termines an die Prüfung und Durchsicht der gegenwärtigen Privilegien und Immunitäten schreiten müssen; sie hat auch in speziell zu diesem Zwecke in den Patriarchatsgebäuden zusammentretenden Ratsversammlungen mit Unserer kaiserlichen Genehmigung und unter Aufsicht Unserer hohen Pforte über die Reformen zu beraten, die diesbezüglich durch die Zeit, durch den Fortschritt der Zivilisation und auf Grund der gewonnenen Erfahrungen notwendig geworden sind.“292

cc) Investitur nichtmuslimischer Geistlicher „Die Art und Weise der Ernennung der Patriarchen auf Lebenszeit wird nach erfolgter Verbesserung des gegenwärtig geltenden Wahlsystems vollkommen genau nach dem Inhalte des Patriarchatsberates1[sic!] erfolgen. Die anlässlich ihrer Ernennung vorzunehmende Beeidigung der Patriarchen, Metropoliten, Erzbischöfe, Bischöfe und Rabbiner wird in jener Form vor sich gehen, die zwischen Unserer Hohen Pforte und den Häuptern der verschiedenen Religionsgemeinschaften festgestellt worden ist.“293

dd) Einkommen, Vermögen und Verwaltung weltlicher Angelegenheiten nichtmuslimischer Religionsgemeinschaften Das Hatt-ı humajun sichert Geistlichen nichtmuslimischer Religionsgemeinschaften ein feststehendes Einkommen zu. Gleichzeitig werden Einkünfte und Schenkungen an den Klerus rückgängig gemacht und erklärt, dass das Vermögen des christlichen Klerus (nicht das der übrigen Religionsgemeinschaften) nicht angetastet wird: „Die Einkünfte des Klerus und die Schenkungen, die gegenwärtig unter welchem Namen und in welcher Form immer an ihn im Zuge sind, werden rückgängig gemacht. Dafür wird den Patriarchen und Vorstehern der Religionsgemeinschaften ein fixes Einkommen zugesichert. Auch den übrigen Mitgliedern des Klerus wird auf Grund einer späteren Entscheidung gemäß der Bedeutung ihres Ranges und 292  Nr. 3 S. 1 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 19. 293  Nr. 3 S. 3 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1919, S. 21, Fn. 1; zum Begriff „Berat“ bezeichnet dabei ein „(…) kaiserliches Diplom, in welchem dem Inhaber gewisse Rechte und Privilegien zugesichert werden. Mittels eines solchen erfolgt auch die Investitur der Patriarchen.“, Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1919, S. 21, Fn. 1.



IV. Der Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches167 ihrer Würde in gerechter Weise ein Gehalt ausgesetzt, doch wird das bewegliche und unbewegliche Vermögen des christlichen Klerus in keiner Weise angetastet.“294

Ein vom Klerus und den Laien der betreffenden Religionsgemeinschaft bestimmtes Kollegium soll die Verwaltung der weltlichen Angelegenheiten der nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften übernehmen: „Die Administration der weltlichen Angelegenheiten der christlichen und übrigen nichtmohammedanischen Religionsgemeinschaften wird einem Ratskollegium anvertraut, dessen Mitglieder aus dem Klerus und den Laien der betreffenden Religionsgemeinschaften gewählt werden.“295

ee) Ausbesserung, Wiederherstellung von Kultstätten Die Ausbesserung und Wiederherstellung dem Kultus gewidmeter Gebäude, gleich welcher Religionsgemeinschaft, bedarf keiner vorherigen staat­ lichen Erlaubnis. Die Ausbesserung und Wiederherstellung muss aber die bisherige Gestalt und Form des Gebäudes wahren. Dies gilt für alle Reli­ gionsgemeinschaften gleichermaßen. Eine Privilegierung des Islams ist nicht vorgesehen: „Die Ausbesserung und Restaurierung der der Ausübung des Kultus gewidmeten Gebäude sowie anderer Stätten, wie Schulen, Krankenhäuser, Friedhöfe wird unter Beibehaltung der bisherigen Gestalt und Form in Städten, Märkten und Diözesen, deren Bevölkerung sich zur selben Religion bekennt, in keiner Weise gehindert.“296

In von verschiedenen Religionsgemeinschaften bewohnten Gebieten dürfen dem Kultus gewidmete Gebäude in ihrer bisherigen Gestalt und Form nur ausgebessert und wiederhergestellt werden, sofern diese in von der jeweiligen Religionsgemeinschaft bewohnten Stadtvierteln stehen. „In Städten, Märkten und Dörfern, deren Bevölkerung verschiedenen Religionen angehört, kann jede Religionsgemeinschaft für sich, in jenem Stadtviertel, wo sie ansässig ist, unter Beobachtung der oben erwähnten Grundsätze ihre Kirchen, Krankenhäuser, Schulen und Friedhöfe renovieren und restaurieren.“297

294  Nr. 4 S. 1, 2 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 20. 295  Nr. 4 S. 3 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 20. 296  Nr. 5 S. 1 Hatt­-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 20. 297  Nr. 6 S. 2 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 20, 21.

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

ff) Neubau von Kultstätten Anders als die Ausbesserung und Wiederherstellung von dem Kultus gewidmeten Gebäuden bedarf der Neubau selbiger immer einer staat­ lichen Genehmigung. Dabei spielt es für den Neubau in einem Gebiet keine Rolle, ob dessen Bevölkerung derselben oder einer anderen Reli­ gion zugehört. Dies gilt dem Wortlaut nach für alle Religionsgemeinschaften gleichermaßen. Gleichwohl kann angenommen werden, dass sich die Neubauregelung hauptsächlich auf nichtmuslimische Religionsgemeinschaften bezieht, da der Neubau vom Patriarchen oder dem religiösen Oberhaupt der Religionsgemeinschaft genehmigt werden muss. So heißt es in Nr. 5 des Erlasses: „Wird aber der Neubau derartiger Gebäude notwendig, so müssen die Pläne und die Gestalten derselben, falls sie vom Patriarchen oder dem religiösen Haupte der Religionsgemeinschaft genehmigt sind, ein für allemal Unserer hohen Pforte vorgelegt werden, welche die unterbreiteten Pläne akzeptiert und auf Grund Unseres bezüglichen Iradé, die notwendigen Weisungen erteilt oder innerhalb eines bestimmten Zeitraums ihre Einwendungen dagegen bekannt gibt.“298 „Wenn aber der Neubau solcher Gebäude notwendig wird, so haben die Patriarchen oder Metropoliten von Unserer hohen Pforte die Genehmigung dazu zu erbitten, und Unsere kaiserliche Sanktion wird für den Fall erteilt, als dagegen seitens Unserer Regierung keinerlei administrative Bedenken vorliegen (…).“299

Geprüft wird, ob sich der Neubau nicht in unmittelbarer Nähe der Kultstätten einer anderen Religionsgemeinschaft, nicht notwendig einer muslimischen, befindet und nicht das militärische Interesse verletzt.300 Erwähnenswert ist, dass das Genehmigungsverfahren unentgeltlich ist. Dies erscheint umso wichtiger, da in der Vergangenheit die Genehmigung von Neubauten nichtmuslimischer Kultstätten nur gegen sehr hohe Gebühren erteilt wurde. Dies wiederum hatte zum Rückgang des Kirchenbestandes im Osmanischen Reich geführt, da viele Gemeinden nicht in der Lage waren, die Kosten für eine Genehmigung zu tragen.301

298  Nr. 5 S. 2 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 20. 299  Nr. 6 S. 3 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 21. 300  Vgl. Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1919, S. 22, Fn. 1. 301  s.  Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977, S. 67.



IV. Der Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches169

gg) Freiheit des religiösen Kultus und des Glaubens Die Religionsausübung aller Religionsgemeinschaften im öffentlichen Raum ist in Gebieten, in denen die Bevölkerung derselben Religion angehört, nicht eingeschränkt: „Wenn sich an einem Orte bloß eine Religionsgemeinschaft befindet, ohne mit anderen vermengt zu sein, so wird daselbst der öffentlichen Ausübung des Kultus keinerlei Hindernis in den Weg gelegt.“302

Diese Freiheit des Kultus gilt im Umkehrschluss nicht für Gebiete, in denen die Bevölkerung nicht derselben Religion angehört. „Da der Kultus jeder Religionsgemeinschaft und Sekte, die in Unseren wohlbehüteten Ländern vorhanden sind, frei ausgeübt wird, kann niemand Unserer Untertanen an der Ausübung jeder Religion, der er angehört, gehindert oder wegen dieser Ausübung bedrückt oder verfolgt werden.“303 „Niemand wird gezwungen, seine Religion oder seinen Glauben zu wechseln.“304

Zwar darf danach der Wechsel der Religion nicht erzwungen werden. Demgegenüber gilt aber, dass der freiwillige Religionswechsel eingeschränkt werden kann. Dies muss insbesondere für den Austritt aus dem Islam gelten. Denn: „Conversion was possible only for non Muslims millet, one had to stay there“.305 hh) Verbot der diskriminierenden Sprache „Alle Ausdrücke, Worte und Unterscheidungen, welche die Geringschätzung einer Untertanenklasse Unseres erhabenen Reiches wegen ihrer Religion, Sprache oder Nationalität beinhalten, werden für immer aus den administrativen Protokollen gestrichen. Auch ist der Gebrauch aller verschiedenen Bezeichnungen, die jemandem Schande und Schmach bringen oder seine Ehre verletzen können, sowohl Privatpersonen als auch Beamten gesetzlich verboten.“306

302  Nr. 6 S. 1 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 20. 303  Nr. 8 S. 1 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 22. 304  Nr. 8 S. 2 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 22. 305  Shaw, The Jews of the Ottoman Empire and the Turkish Republic, 1991, S. 77, 78. 306  Nr. 7 S. 1 und 2 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 21.

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

ii) Besuch von Zivil- und Militärschulen Ohne Ansehen der Religion wird allen Bürger des Osmanischen Reiches Zugang zu Zivil- und Militärschulen gewährt: „Alle Unsere Untertanen werden ohne Unterschied und Ausnahme in die Zivilund Militärschule Unseres ruhmvollen Reiches aufgenommen, sobald sie die Bedingungen erfüllt haben, die in Betreff des Alters und der Vorbildung (Prüfung) in den bestehenden Gesetzen über Unsere Schulen festgelegt sind.“307

jj) Gründung von öffentlichen Schulen durch Religionsgemeinschaften Jeder Religionsgemeinschaft wird das Recht gewährt, öffentlich Schulen für Wissenschaft, Kunst und Gewerbe zu gründen. Die Gewährleistung bezieht sich auf öffentliche Schulen, weshalb der Bereich der Schule auf Wissenschaft, Kunst und Gewerbe beschränkt sein dürfte. „Außerdem ist jede Religionsgemeinschaft berechtigt, öffentliche Schulen für Wissenschaften, Künste und Gewerbe zu gründen; nur die Unterrichtsmethode und die Wahl der Lehrer stehen in derartigen Schulen unter der Aufsicht und Kontrolle einer gemischten Unterrichtskommission, deren Mitglieder vom Uns ernannt werden.“308

kk) Gerichtsprozesse zwischen Muslimen und Nichtmuslimen „Alle Handels- und Strafprozesse zwischen Mohammedanern, Christen und anderen nichtmohammedanischen Untertanen, oder zwischen Christen und Anhängern der verschiedenen christlichen, nichtmohammedanischen Sekten, werden gemischten Tribunalen zugewiesen (…).“309 „Die Zeugen, welche diese vorführen, werden ihre Aussagen mit einem Eide bekräftigen, welcher immer gemäß der Religion und dem Kultus des Betreffenden geleistet werden wird.“310

Zivilrechtliche Prozesse zwischen Muslimen und Nichtmuslimen können vor dem Kadi nach islamischem Recht entschieden werden. Unklar ist, welche Partei die Zuständigkeit des Kadis, mithin auch über die Anwendung des islamischen Rechts, bestimmt: 307  Nr. 10 S. 1 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, sungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 22. 308  Nr. 10 S. 2 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, sungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 22. 309  Nr. 11 S. 1 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, sungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 22. 310  Nr. 11 S. 3 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, sungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 23.

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IV. Der Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches171 „Prozesse, welche sich auf das bürgerliche Recht gründen, werden in den gemischten Verwaltungsräten (medschlis) der Wilajets (Provinzen), Liwas (Bezirke) in Gegenwart des Wali (Gouverneur) oder Kadi (Richter) nach den Bestimmungen der Scheriat- oder der weltlichen Gesetze geführt.“311 „Spezielle Prozesse, wie solche über Erbschaftsstreitigkeiten zwischen zwei Christen oder anderen nichtmohammedanischen Untertanen werden, wenn es die Prozeßparteien begehren, den Patriarchen, Vorstehern der Religionsgenossenschaften oder deren Verwaltungsräten behuts [sic!] Entscheidung überwiesen.“312

Damit wird klar, dass Erbschaftsstreitigkeiten zwischen Muslimen und Christen vor dem Kadi nach islamischem Recht entschieden werden können. Eine umfassende Gleichstellung der verschiedenen Religionen ist ausgeblieben, da der Islam prozessrechtlich privilegiert wird. ll) Militärdienst für Nichtmuslime „Wie die Gleichheit der Steuer eine Gleichheit der übrigen Lasten im Gefolge hat, so rufen gleiche Rechte auch gleiche Pflichten hervor. Daher werden die Christen und die übrigen nichtmohammedanischen Untertanen ebenso wie die mohammedanische Bevölkerung sich jenen Bestimmungen unterwerfen müssen, die in der letzten Zeit über die Beteiligung am Militärdienste erlassen worden sind.“313 „Die notwendigen Vorschriften über die Art und Weise der Zulassung der nichtmohammedanischen Untertanen zum Militärdienste werden zusammengestellt und innerhalb eines möglichst kurzen Zeitraumes veröffentlicht werden.“314

Die Nichtmuslime wurden durch das Gesetz vom 07.08.1909 zum Militärdienst verpflichtet.315 mm) Religiöse Öffnung der Verwaltung und Justiz Das Osmanische Reich bemüht sich um eine gleichberechtigte religiöse Öffnung seiner Verwaltungen in den Provinzen und Bezirken. Künftig sollen auch Nichtmuslime in die Verwaltungsräte gewählt werden. So heißt es in Nr. 16 des Erlasses: 311  Nr. 11 S. 4 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 23. 312  Nr. 11 S. 6 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 23. 313  Nr. 15 S. 1 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 24. 314  Nr. 15 S. 3 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 24. 315  s.  Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1919, S. 25, Fn. 1.

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

„Es wird an die Reform der Vorschriften geschritten, die über die Art und Weise der Bildung und Zusammensetzung der Verwaltungsräte in den Provinzen und Bezirken in Geltung sind, um die Wahl der Mitglieder dieser Räte aus den mohammedanischen, den christlichen und den übrigen Untertanen zu regeln und die Freiheit der Abstimmung zu sichern.“316

Neben der religiösen Öffnung der Verwaltung ist auch die gleichgestellte Präsenz aller Religionsgemeinschaften im Justizrat vorgesehen: „Die Vorsteher und ein von uns ernannter Delegierter aus jeder Religionsgemeinschaft ernannter Vertreter werden von Unserem Großwesir zusammenberufen, um an den Verhandlungen des obersten Justizrates in Angelegenheiten, die das Interesse aller Unserer Untertanen berühren, teilzunehmen.“317

Um die freie und unabhängige Meinungsäußerung im Justizrat zu gewährleisten, wird im Erlass verkündet: „Die Mitglieder des obersten Justizrates geben sowohl in den ordentlichen als auch außerordentlichen Sitzungen ihre Stimmen und Meinungen frei und unabhängig ab und werden deswegen niemals verfolgt.“318

nn) Steuerrecht Die im Osmanischen Reich vollzogene Unterscheidung der Gesellschaft nach muslimisch und nichtmuslimisch durchzog auch das Steuerrecht. Deutlich zum Ausdruck kommt dieses Zwei-Klassen-System am Beispiel der sog. Kopfsteuer (djizje). Der Hatt-ı humajun versucht die Abschaffung des Zwei-Klassen-Systems auch auf dem wichtigen Gebiet der Staatsfinanzen. So heißt es im Erlass: „Die allen Unseren Untertanen aufzuerlegenden Steuern und Abgaben werden auf Grund desselben Titels ohne Rücksicht auf die Klasse und Religion eingehoben.“319

d) Zwischenergebnis Beeindruckt von den europäischen Fortschritten und der eigenen Schwäche wendet das Osmanische Reich auf der Suche nach Lösungsmöglichkeiten seinen Blick nach Europa. Die Französische Revolution spielte beim 316  Nr. 16 S. 1 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, sungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 24. 317  Nr. 21 S. 1 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, sungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 26. 318  Nr. 21 S. 3 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, sungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 26. 319  Nr. 18 S. 1 Hatt-ı humajun, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, sungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 25.

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IV. Der Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches173

Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches, wie für den deutschen Säkularisationsprozess auch, eine maßgebliche Rolle. Zwar kam es auch im Osmanischen Reich zu einem Konflikt zwischen dem weltlichen Herrscher, dem Sultan, und der Ulema. Dieser Konflikt ist anders als der Konflikt zwischen Papst und Kaiser keine um die Übermacht zwischen weltlicher und geistlicher Herrschaft, war doch der Sultan nach wie vor unstreitig zugleich Kalif. Das Osmanische Reich wendet sich von seiner alten nach islamischem Vorbild gegründeten Ordnung (Millet-System) ab. Die bisherige Unterscheidung der Gesellschaft nach ihrer Religionszugehörigkeit wird abgeschafft ohne dabei die islamische Staatsreligion abzuschaffen. Es versucht sich damit von der bisherigen islamisch begründeten Toleranz zu trennen, geht einen Schritt weiter und etabliert eine erweiterte Toleranz und Gleichstellung ohne Ansehen der Religionszugehörigkeit, bleibt jedoch als Reich an die religiöse Wahrheit gebunden. Da dem Osmanischen Reich die Idee der Toleranz, wenn auch religiös, nicht fremd war, kann angenommen werden, dass die Etablierung der neuen erweiterten Toleranz weniger als Bruch mit der alten Ordnung verstanden wurde, sondern vielmehr als deren Fortentwicklung. Die Abkehr vom Millet-System bot zwar die Grundlage für eine umfassende Gleichstellung und Religionsfreiheit, wurde jedoch in dem Maße nicht verwirklicht und stellt sich als Zwischenstufe hin zur vollständigen Gleichstellung und Religionsfreiheit dar. 4. Das konstitutionelle Zeitalter als dritte Stufe der Säkularisation a) Einleitung Der in der ersten Hälfte des 19. Jh. eingeschlagene Prozess der Rezeption säkular-europäischen Rechts fand Ende des 19. Jh. seinen Niederschlag auf der Verfassungsebene. Dieses sog. konstitutionelle Zeitalter (türk. Meşrutiyet Dönemi) wird unterteilt in: I. Meşrutiyet (1876–1878), Istibdat Devri320 (1878–1909) und II. Meşrutiyet (1909–1923). b) Die erste osmanische Verfassung von 1876  321 Mit der ersten osmanischen Verfassung vom 23.12.1876 (Kânûn-i Esâsî) im Sinne eines europäischen + wurde die theokratische Legitimation des 320  Istibdat Devri bezeichnet die Ära der absolutistischen Herrschaft durch Abdülhamid II. 321  Im Folgenden OVerf v. 1876, in arabischen Schriftzeichen abgedruckt in: Düstur, Serie I, Bd. 4, S. 2–20, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungs-

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Sultans durch ein demokratisches Legitimationselement relativiert, ohne dieses dabei zu ersetzen (I. Meşrutiyet).322 Verfasst wurde die OVerf v. 1876 nach dem Muster der belgischen Verfassung.323 So dienten auch die preußische und polnische Verfassung als Vorbild.324 Es sind auch solche Bestimmungen übernommen worden, die demokratisch „aufgeputzt“ aussehen, sich aber in den Verfassungserfahrungen Westeuropas nur als sog. theoretische Ur-Titel erwiesen und das Papier „geziert“ haben.325 Die Verkündung der Verfassung erfolgte unter dem Einfluss und Druck der JungOsmanen gegen die Herrschaft des Sultans Abdülaziz, sowie dem Druck der Westmächte, war aber zugleich ein Akt der Verständigung zwischen den konservativen und den reformistischen Kräften im Land.326 Die Konservativen wollten die Herrschaft des Sultans erhalten, wohingegen die Reformer demokratische Wahlen einführen wollten.327 Ziel des Kânûn-i Esâsî ist, wie auch der Reformerlasse zuvor, die Wiederherstellung der Stärke des Reiches. So heißt es in der Präambel zur Verfassung: „Unser höchstes Ziel ist darauf gerichtet, daß die Fesseln, die bisher Unser Land und Volk gehindert haben, aus ihren natürlichen Reichtümern und Fähigkeiten Nutzen zu ziehen, beseitigt werden und alle Klassen der Untertanen auf dem gesetze des Osmanischen Reiches, 1919, S. 30, Fn. 1; sofern im Folgenden die OVerf v. 1876 in deutscher Übersetzung zitiert wird, folgt dieses der Übersetzung bei Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1909, S. 28–53; die Hatt-ı humajun v. 1. August 1908 und 6. August 1908 sind eine Novelle der Verfassung von 1876 und brachten im Hinblick auf die Säkularisierung keine Neuerungen, beide Novellen sind in deutscher Übersetzung abgedruckt bei Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1909, S. 54–58. 322  Vgl. Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, 1996, S. 41; Özbudun, The Constitutional System of Turkey, 2011, S. 3, 4. 323  s.  Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1909, S. 6. 324  So Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 55; Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, 1996, S. 41; Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 28. 325  So Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1919, S. 2. 326  s.  Jung, Die Rache der Janitscharen, in: Orient, 1999, Heft 2, S. 211 (220); Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 55; Tunaya, Tükiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri (Verwestlichungsbewegungen im politischen Leben der Türkei), 1976, S. 44; Dinçkol, 1982 Anayasası Çerçevesinde ve Anayasa Mahkemesi Kararlarında Laiklik (Der Laizismus im Rahmen der Verfassung von 1982 und der Entscheidungen des Verfassungsgerichts), 1991, S. 30, 31. 327  s.  Tunaya, Tükiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri (Verwest­ lichungsbewegungen im politischen Leben der Türkei), 1976, S. 44.



IV. Der Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches175 Wege des Fortschritts in Eintracht und gegenseitiger Unterstützung weiter­schrei­ ten.“328

Das Kânûn-i Esâsî besteht aus insgesamt 12 Abschnitten: Das osmanische Reich in Art. 1–7, Die allgemeinen Rechte der osmanischen Untertanen in Art. 8–26, die Minister in Art. 27–38, die Beamten in Art. 39–41, das Parlament in Art. 42–59, der Senat in Art. 60–64, das Abgeordnetenhaus in Art. 65–80, die Gerichte in Art. 81–91, Der oberste Gerichtshof in Art. 92– 95, die Finanzen in Art. 96–107, die Provinzen in Art. 108–112, Verschiedene Bestimmungen in Art. 113–119. Im Folgenden werden zuvörderst Bestimmungen des Kânûn-i Esâsî vorgestellt, die eine Durchbrechung des Säkularisationsprinzips anzeigen, da eine vollumfängliche Besprechung den hier zur Verfügung stehenden Rahmen sprengen würde. Die übrigen Bestimmungen zur Gleichbehandlung werden kurz vorgestellt. aa) Geheiligter Sultan als Kalif und Beschützer des Islams Wenngleich die Verfassung nach europäischem Vorbild entstanden ist, so bleibt der Sultan als Kalif der Beschützer der islamischen Religion, sowie Herrscher und Kaiser aller osmanischen Untertanen.329 Er gilt als geheiligt und ist als solcher niemandem gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet: „Die Herrscherwürde im osmanischen Reiche, welche auch das hohe islamische Kalifat in sich vereinigt, geht nach einem seit Alter Zeit geltenden Gesetze auf den ältesten Prinzen der Dynastie Osman über.“330 „Die Person des Sultans ist geheiligt, er selbst unverantwortlich.“331 „Die Hoheitsrechte des Sultans sind: (…) die Erwähnung seines Namens im öffentlichen Gebete, (…) die Ausübung der Gerichtsbarkeit nach den Scheriat- und Kanungesetzen (…).“332

328  Präambel Abs. 2 S. 2 OVerf v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 29. 329  Art. 4 OVerf v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 31. 330  Art. 4 OVerf v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 31. 331  Art. 5 OVerf v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 23. 332  Art. 7 OVerf v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 31, 32.

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bb) Gleichheitsgrundsatz und Religionsfreiheit unter Wahrung des Islams Der Grundrechtsteil der OVerf v. 1876 folgt in der Systematik der Verfassung den Artikeln über die Herrschaftsrechte des Sultans und indiziert somit deren Nachrangigkeit hinter der Stellung des Sultans. Er umfasst 19 Artikel (Art. 8–26) über die „allgemeinen Rechte der osmanischen Untertanen“. Danach gilt: „Alle Untertanen des osmanischen Reiches, welcher Religion oder Sekte sie auch angehören mögen, heißen ohne Ausnahme ‚Osmanen‘.“333

Der allgemeinen Gleichheitsformel folgt: „Sämtliche Osmanen genießen die persönliche Freiheit und sind verpflichtet, die Freiheitsrechte anderer nicht zu verletzen.“334

Zunächst verwundert es, dass dem freiheitlichen Geist der zuvor genannten Artikel die Formulierung über die islamische Staatsreligion folgt: „Die Staatsreligion des osmanischen Reiches ist der ‚Islam‘.“335

Der unmittelbar folgende Absatz macht dem Leser die Intention des Verfassungsgebers schließlich deutlich. Dort heißt es: „Unter Wahrung dieses Grundsatzes wird allen in den osmanischen Ländern anerkannten Religionen freie Übung gewährt unter der Bedingung, daß sie nicht gegen die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit verstoßen; auch die bisher den verschiedenen Religionsgemeinschaften verliehenen kirchlichen Privilegien behalten ihre Gültigkeit.“336

Der Islam ist Staatsreligion und damit zugleich auch Staatsgrundsatz. Dies bedeutet, dass zwar grundsätzlich alle Osmanen, unabhängig ihrer jeweiligen Religion, persönliche Freiheit genießen, dies gilt nicht für die Religionsfreiheit. Diese ist nur für die anerkannten Religionen und nur unter Wahrung des islamischen Staatsgrundsatzes gewährleistet. cc) Scheich ul Islam Nach dem oben Gesagten verwundert es nicht, dass die Verfassung auch dem Amt des Scheich ul Islam, dem Wächter der Religion, Verfassungsrang 333  Art. 8 S. 1 OVerf v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 32. 334  Art. 9 OVerf v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 32. 335  Art. 11 Abs. 1 OVerf v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 32. 336  Art. 11 Abs. 2 OVerf v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 32.



IV. Der Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches177

beimisst. Er steht im gleichen Rang mit dem Großwesir337, der nach dem Sultan mächtigster Mann im Reich ist. Großwesir und Scheich ul Islam werden vom Sultan ernannt.338 dd) Gleichstellung in anderen Bereichen Der im Grundrechtsteil verfasste Art. 8 OVerf v. 1876, der alle Untertanen gleichermaßen zu Osmanen erklärt, findet als Gleichheitsgrundsatz, mit Ausnahme der Religionsfreiheit, Eingang in alle Freiheitsrechte, die nicht unter dem Vorbehalt der Wahrung des Islams stehen. Somit gilt die Gleichstellung für die Steuererhebung339, für den Staatsdienst340, für die Unterrichtsfreiheit341, für die Erteilung öffentlichen oder privaten Unterrichts342, für die Pressefreiheit343 und für die Vereinsgründung344, für das Petitionsrecht345, für den Schutz der Wohnung346 und für den Schutz des Vermögens347. Nennenswert ist ferner die Gleichstellung aller Osmanen im Wahlrecht. Nichtmuslime besitzen das aktive und passive Wahlrecht.348 Von den 130 Parlamentariern des osmanischen Parlaments waren 80 Muslime und 50 Nichtmuslime.349 337  „Since the Unity of the sultan’s authority was the paramount principle of Ottoman government, state powers were to be exercised directly or exclusively by the first wezir, (…)“, Inalcık, „Wazir“, in: Encyclodaedia of Islam, Bd. XI, S. 196, Sp. 1. 338  Vgl. Art. 27 Abs. 1 OVerf v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 34. 339  Vgl. Art. 20 OVerf v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 33. 340  Vgl. Art. 18 19 OVerf v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 33. 341  Vgl. Art. 15, Abs. 1 OVerf v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 33. 342  Vgl. Art. 15, Abs. 2 OVerf v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 33. 343  Vgl. Art. 12 OVerf v. 1876 v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 33. 344  Vgl. Art. 13 OVerf v. 1876 v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 33. 345  Vgl. Art. 14 OVerf v. 1876 v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 33. 346  Vgl. Art. 22 OVerf v. 1876 v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 34. 347  Vgl. Art. 21 OVerf v. 1876 v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 34. 348  Vgl. Art. 66 und 68 OVerf v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1909, S. 42, 43. 349  s.  Tunaya, Tükiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri (Verwest­ lichungsbewegungen im politischen Leben der Türkei), 1976, S. 45.

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Die parlamentarische Regierung litt indessen unter erheblichen Systemdefiziten. So hatte der Sultan die Befugnis, das Parlament auflösen und die Dauer der Parlamentssitzungen zu verkürzen: „Die Hoheitsrechte des Sultans sind: (…) Die Berufung, die Vertagung und erforderlichen Falles die Auflösung des Parlaments, (…).“350 Das Parlament wurde 1878 faktisch durch Abdülhamid II. mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes außer Kraft gesetzt und konnte seine Arbeit nach dreißigjähriger Unterbrechung erst 1908 fortsetzen (Istinbat devri).351 c) Die Verfassungsänderungen von 1909  352 1909 wurde die erste und umfangreichste Verfassungsänderung durchgesetzt.353 Die 1908354 durchgesetzte faktische Wiederinkraftsetzung der OVerf v. 1876 und die durchgeführten Verfassungsänderungen ab 1909 (II. Meşrutiyet355) stärkten den demokratischen und freiheitlichen Charakter der OVerf v. 1876 und vertieften den Modernisierungskurs des Osmanischen Reiches.356 Trotz dieser Demokratisierungsansätze blieb der theokratischabsolutistische Charakter des Reiches bis 1920 erhalten.357 Geändert wurde Art. 3 OVerf, dem ein Satz 2 angehängt wurde: „(…) Se. Majestät der Sultan schwört bei der Thronbesteigung im Parlamente und, falls es nicht versammelt ist, in der ersten Sitzung, daß er die Bestimmungen 350  Art. 7

OVerf v. 1876. Tükiye’nin Siyasi Hayatında Batılılaşma Hareketleri (Verwest­ lichungsbewegungen im politischen Leben der Türkei), 1976, S. 45; Scheinhardt, Die religiöse Lage in der Türkei, 1986, S. 32; Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 28. 352  Sofern im Folgenden die OVerf v. 1876 in seiner 1909 geänderten Fassung in deutscher Übersetzung zitiert wird, folgt dies der deutschen Übersetzung bei Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1919, S. 54–62. 353  Vgl. Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1919, S. 5. 354  Hatt-ı humajun v. 1. August 1908 und 6. August 1908 sind eine Novelle der OVerf v. 1876, s. Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1919, S. 50–54. 355  Sog. 2. Konstitution, vgl. Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 28. 356  s.  Hayta / Ünal, Osmanlı Devletin’de Yenileşme Hareketleri (Erneuerungsbewegungen im osmanischen Staat), 2005, S. 201; Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 28; eine Zusammenstellung der Verfassungsänderungen ab 1909 findet sich bei Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1919, S. 54–62. 357  So Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 28. 351  s.  Tunaya,



IV. Der Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches179 des kanonischen Rechtes (šer’- i šerīf) und der Verfassung achten, sowie dem Vaterlande und der Nation treu bleiben werde.“358

Gemäß Art. 7 OVerf v. 1876 wurden die Hoheitsrechte des Sultans nicht nur in ihrer Reihenfolge geändert. An erster Stelle steht nunmehr das Recht auf Namensnennung im öffentlichen Gebet, an vierter das Recht zur Ernennung des Scheich ul Islam: „Die Hoheitsrechte des Sultans sind: Die Nennung seines Namens im öffentlichen Gebet (hutbe); die Münzprägung; die Verleihung von Würden, Ämtern und Orden ˙ besonderen Gesetze; die Wahl und Ernennung des Großwesirs und gemäß ˘dem Scheich-ül-Islam.“359

Neu gefasst wurde auch das Recht des Sultans zur Ausübung der Gerichtsbarkeit nach den Scheriats- und Kanungesetzen. Die Verfassungsänderung lautete: „Die Hoheitsrechte des Sultans sind: (…) der Schutz und Vollzug der Bestimmungen des kanonischen und bürgerlichen Rechtes.“360

Geändert wurde auch Art. 118 OVerf v. 1876, der in seiner Fassung von 1876 lautete: „Die gegenwärtig geltenden Gesetze, Gewohnheiten und Gebräuche werden, so lange sie nicht durch die künftig zu erlassenden Gesetze und Vorschriften abgeändert oder aufgehoben werden, in Gültigkeit verbleiben.“361

Diesem wurde ein zweiter Absatz hinzugefügt und lautet nunmehr: „Die gegenwärtig geltenden Gesetze, Gewohnheiten und Gebräuche werden, so lange sie nicht durch die künftig zu erlassenden Gesetze und Vorschriften abgeändert oder aufgehoben werden, in Gültigkeit verbleiben. Bei der Ausarbeitung der Gesetze und Vorschriften werden die Bestimmungen des religiösen und bürgerlichen Rechts in voller Übereinstimmung mit den Gebräuchen der Bevölkerung und den Bedürfnissen der Zeit, sowie die Gewohnheiten und guten Sitten zur Grundlage genommen werden.“362

Damit wird das religiöse Recht doppelt geschützt. Einmal über Art. 11 OVerf v. 1876 durch das Hoheitsrecht des Sultans über den Schutz und Vollzug des religiösen Rechts und über Art. 118 Abs. 1 OVerf v. 1876 über 358  Art. 3 OVerf v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1919, S. 54, 55. 359  Art. 7 OVerf v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1919, S. 55. 360  Art. 7 OVerf v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1919, S. 55. 361  Art. 118 OVerf in der Fassung v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, 1919, S. 50. 362  Art. 118 OVerf v. 1876, zitiert nach Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches, 1919, S. 61.

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

die Ausarbeitung von Gesetzen und Vorschriften, die in voller Übereinstimmung mit dem religiösen Recht stehen müssen. Keine Änderungen gab es zu Art. 11 OVerf v. 1876 über die Religionsausübungsfreiheit. Ebenso unangetastet blieben die Artikel zur Kalifenwürde des Sultans (Art. 3 und 4 OVerf v. 1876) und zur Staatsreligion (Art. 11, Abs. 1 OVerf v. 1876). d) Die zweite osmanische Verfassung von 1921  363 Das Osmanische Reich brach am Ende des ersten Weltkrieges zusammen und wurde von den Siegermächten, mit Ausnahme des Anatolischen Kernlandes, Istanbul mit dem Hinterland, besetzt.364 Die Hauptstadt war und blieb zunächst Istanbul, wo der Sultan, die Regierung und das Parlament auch weiterhin, wenn auch unter dem Druck und der Kontrolle der Siegermächte, notdürftig die Regierungs- und Verwaltungsgeschäfte für den nicht besetzten Teil des Reiches zu führen versuchten.365 Der General Mustafa Kemal (später Atatürk) wurde von der Istanbuler Regierung zum Inspektor des Heeres für die östlichen Provinzen des Reiches ernannt, um dort die Demobilisierung entsprechend dem Waffenstillstandsvertrag von Mudros durchzusetzen.366 Entgegen diesem Auftrag, setzte sich 1919 Mustafa Kemal an die Spitze der bis dato zerstreuten Widerstandsbewegung, um die besatzungsfreundliche Politik des Sultans zu beenden und die Rechte der Türkei zu verteidigen.367 Die Führer der „anatolischen Bewegung“ beschlossen die Einberufung eines neu zu wählenden Parlaments; die neue Versammlung trat am 23.04.1920 in Ankara als „Türkische Große Nationalversammlung“ zusammen und verabschiedete am 20.01.1921 die zweite Verfassung des Osmanischen Reiches.368 Gegen die seither tagende Große Nationalversammlung entwickelte sich eine Opposition, die sich vor allem aus Mitgliedern des mohammedanischen „Klerus“, aus Monarchisten und einigen mit Mustafa Kemal rivalisierenden Generälen zusammensetzte.369 363  s.  Gesetz Nr. 85 Teşkilatı Esasiye Kanunu in: Düstur, Serie III, Bd. 1, 2. Aufl. (1953), Nr. 208, S. 138–140; sofern im Folgenden die Verf. v. 1921 zitiert wird, folgt dies der deutschen Übersetzung bei Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 206–208. 364  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 25. 365  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 25. 366  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 25. 367  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 25. 368  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 26; die Republik Türkei wurde formell am 29.10.1923 ausgerufen, s. Özbudun, The Constitutional System of Turkey, 2011, S. 6; Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 27, 29. Sodass es sich formell um die OVerf v. 1921 handelt. 369  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 29.



IV. Der Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches181

Mit der Verfassung von 1921 beginnt noch im Osmanischen Reich eine neue Verfassungsära. Sie besteht aus nur 7 Abschnitten (Grundlegende Bestimmungen, Verwaltung, Die Provinzen, Der Kreis, Die Gemeinde, Generalinspektionen, Besondere Artikel), 23 Artikeln und enthält keinen Grundrechtsteil. Diese sehr kurz gefasste Verfassung von 1921 war nur vorläufig gedacht.370 Formell hob sie die Verfassung von 1876 nicht auf und wurde faktisch zum „toten Buchstaben“.371 Denn entgegen seiner Bestimmungen zur politischen Macht bestand noch die Istanbuler Regierung im Namen des Sultans.372 Trotz dieser Konkurrenzsituation wird mit der OVerf v. 1921 ein neues Regime gegründet, das nicht auf theokratischer Grundlage, sondern auf der Volkssouveränität beruht: „Die Souveränität steht ohne Einschränkung und Bedingung der Nation zu. Die Staatsverwaltung beruht auf dem Grundsatz, daß das Volk seine Geschicke selbst und tatsächlich lenkt.“373

Anders als noch in Art. 7 OVerf v. 1876 stehen die Souveränitätsrechte, zu denen die Inkraftsetzung der Scheriatsvorschriften gehört, dem Parlament zu: „Souveränitätsrechte wie Inkraftsetzung von Scheriatsvorschriften, (…) stehen der Großen Nationalversammlung zu.“374

Es handelt sich um eine revolutionäre375 Verfassung, die auf dem Territorium des wenn auch kranken, aber gleichwohl existierenden Osmanischen Reiches, vom „Türkischen Staat“ spricht: „Der Türkische Staat wird von der Großen Nationalversammlung geleitet und ihre Regierung trägt den Titel: ‚Regierung der Großen Nationalversammlung‘.“376

Die OVerf v. 1876 erklärte noch in ihrem Art. 3, dass die Herrscherwürde im Reich, die auch das Kalifat in sich vereinige und dem Hause Osman zustehe, und dass der Sultan die Bestimmungen des kanonischen Rechts achten werde.377 370  s.  Hirsch,

Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 26. Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 26. 372  Vgl. Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 26. 373  Art. 1 OVerf v. 1921, zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 206. 374  Art. 7 OVerf v. 1921, zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 206. 375  So Tanör, Osmanlı-türk anayasal gelişmeleri (Osmanisch-türkische Verfassungsentwicklungen), 16. Aufl. (2007), S. 253. 376  Art. 3 OVerf v. 1921, zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 206. 377  Vgl. Art. 3 OVerf v. 1876 in seiner zuletzt geänderten Fassung von 1909. 371  s.  Hirsch,

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

e) Zwischenergebnis Die 3. Stufe des Säkularistionsprozesses brachte im Hinblick auf die Rechtsstellung der verschiedenen Religion nichts Neues. Vielmehr wurden die vorangegagenen Reformen auf die Verfassungsebene getragen. Eine Trennung von Staat und Religion fand nicht statt.

V. Ergebnis Der Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches weist im Vergleich zum Säkularisationsprozess in Deutschland Unterschiede auf. Wenngleich sich der osmanische Säkularisationsprozess als ein dreistufiger darstellen lässt, so ist er nach Ziel und Inhalt doch unterschiedlicher Art. Er ist ein Modernisierungsprozess des Reiches, dessen Gegenstand die Erneuerung des Staatswesens war, um dem Reich wieder zu seiner alten Größe zu verhelfen. Anders als in Deutschland setzte die Säkularisation des Osmanischen Reiches nicht aus einem Machtkampf zwischen weltlicher und geistlicher Herrschaft heraus ein. In der osmanischen „religiös-politischen Einheitswelt“ war der Sultan-Kalif Träger der höchsten islamischen Würde. Er hielt sowohl das Schwert der weltlichen Herrschaft, als auch das der geistlichen in seiner Hand. Einen Streit um die Laieninvestitur, der die „religiös-politische Einheitswelt in ihren Fundamenten erschütterte“,378 konnte es im Osmanischen Reich nicht geben. In Deutschland standen sich Kaiser und Papst gegenüber. Der Kaiser als weltlicher, der Papst als geistlicher Herrscher auf Erden. Beide konkurrierten um die Suprematie ihrer Herrschaft. Der SultanKalif dagegen musste um seine Suprematie nicht fürchten. Es gab keinen konkurrierenden Klerus, der ihm hätte das Schwert der geistlichen Herrschaft aus der Hand reißen können. Keine Kirche, die den Sultan in die Weltlichkeit entlassen konnte. Als Kalif besaß der Sultan wie selbstverständlich die Befugnis, den Scheich ul Islam zu ernennen. Dieser besaß zwar aufgrund seiner Gelehrsamkeit die höchste religiöse Autorität im Reich. Er war aber gleichwohl kein Klerus, sondern lediglich Berater des Sultan-Kalifen und wachte über die Einhaltung der Religion. Nur die Personen, die das Amt des Sultan-Kalif besetzten, waren austauschbar. Das Amt und die Einheit von Sultan und Kalif wurden nicht hinterfragt. Maßgeblich für den Eintritt in den Säkularisationsprozess war vielmehr der Machtverlust des Reiches ab dem 16. Jahrhundert. Das Osmanische Reich verlor seine Suprematie zunehmend an den Westen. Diese Erkenntnis ließ 378  So Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2007, S. 43 (47).



V. Ergebnis183

den Blick der Osmanen von sich weg nach Westen wandern, wo sich zu dieser Zeit der Säkularisationsprozess bereits an der Schwelle zur dritten Stufe befand. In Frankreich tobte zeitgleich ein Freiheitskampf, der schließlich in der Französischen Revolution mündete. Die Rezeption dieser vornehmlich französischen Kultur und Ideenwelt erreichte zunächst die gesellschaftliche Elite des Osmanischen Reiches. Die folgende institutionelle Erneuerung beschränkte sich auf militärische Einrichtungen. Während in Deutschland der Ausbruch der Religionskriege die zweite Stufe der Säkularisation markiert und zur Entwicklung einer staatlichen Toleranzidee im Interesse des Friedens führte, stellt sich die zweite Stufe im Osmanischen Reich bereits als eine dar, die nicht nur die Toleranz des Staates, sondern die Neutralität desselben markiert. Alle Osmanen werden gleichgestellt, ohne Ansehen ihrer Religion. Dies mag zwei Gründe haben: Das Osmanische Reich war historisch bedingt ein gesellschaftlich multireligiöser Staat, in dem nicht nur Muslime unterschiedlicher Konfessionen, sondern auch Christen und Juden unterschiedlicher Konfessionen lebten. Der Osmanische Staat verstand sich, als Ausprägung der islamischen Dhimmi-Regel, ohnehin als ein toleranter. Sein Defizit lag vielmehr in seiner mangelnden Neutralität. Die Idee der Neutralität des Staates fand schließlich nach der Französischen Revolution in das Osmanische Reich Eingang und äußerte sich in der Kodifikationsbewegung. Dieser islamischosmanische Staat unternahm den Versuch, alle seine Bürger gleich zu behandeln und musste damit aber scheitern. Denn eine Neutralität in einer islamischen Theokratie, wie sie der Osmanische Staat blieb, konnte es nicht geben. Daran ändert auch die erste Verfassung von 1876 nichts. Auch diese stellt sich als ein Versuch einer islamischen Theokratie dar, die alle ihre Bürger gleich behandeln will. Sie selbst aber durchbricht diesen Grundsatz in der so entscheidenden Frage der Religionsausübungsfreiheit, die sie unter den Vorbehalt der Wahrung der Staatsreligion stellt. Deutlich wird, dass das Osmanische Reich die dritte Stufe der Säkularisation im europäischen Sinne nie wirklich erreichte. Denn anders als in Europa gab das Osmanische Reich seine Staatsreligion nie auf. Dies musste aber geschehen, wenn es neutral sein wollte. Der Osmanische Staat war obgleich seiner Toleranzidee immer an die religiöse Wahrheit gebunden. Seine Toleranz war ein Teil dieser religiösen Wahrheit. Dies ist wohl der entscheidende Unterschied zur Toleranz, wie sie sich aus den konfessionellen Bürgerkriegen Europas ergab. Die europäische Toleranz war jedenfalls zunächst eine weltliche, die osmanische eine religiöse. So war es für den politischen Staat in Deutschland möglich, aus der weltlichen Toleranz eine Neutralität zu entwickeln, die dem Maß seiner Weltlichkeit entsprach. Der Osmanische Staat hat sich von seiner religiös-politischen Einheitswelt nie gelöst. Er brauchte er es auch nicht, lebten doch alle religiös toleriert ne-

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

beneinander. Aber ein religiöser Staat, dessen Toleranz ebenfalls eine religiöse und keine weltliche ist, kann keine Neutralität entwickeln. Denn das Maß seiner Weltlichkeit bestimmt das Maß seiner Neutralität, letzteres wiederum das Maß der Religionsfreiheit. Der Osmanische Staat hat aber das Stadium der Weltlichkeit nicht erreicht, was auch das Maß seiner Neutralität, mithin auch seiner Religionsfreiheit, bestimmte.

VI. Exkurs: Die politischen Bewegungen und ihre Theorien im Osmanischen Reich 1. Einleitung Die Ideen Platons und Aristoteles’ fanden früh Eingang in die Staatsidee des Osmanischen Reiches.379 Farabi380 bemühte sich in seinem el-Medinetü’lFazıla (Stadt der Tugend) Platons Ideen mit denen des Islams zu vereinen.381 Auf zwei Ebenen fanden die über Farabi vermittelten Platon’schen Ideen Einzug in das Osmanische Reich: Einerseits die Ebene, dass die Gesellschaft einen weisen Herrscher braucht und andererseits, dass das Herzstück dieser Herrschaft die Gerechtigkeit sei.382 Für die Osmanen galten Religion und Staat wie Zwillinge; wobei der Zwilling Staat, anders als bis dato in anderen islamischen Staaten, für die Osmanen eine herausragende Rolle hatte.383 Der Einfluss der westlichen Staatsphilosophie fand in das Osmanische Reich Einzug über den Kameralismus384: Damit wird der aufgeklärte Absolutismus  /  Despotismus im Westen bezeichnet, der die Kontrolle und Stärkung der Zentralgewalt durch die Förderung des Wohlstandes in der 379  So Mardin, Türk Modernleşmesi (Türkische Modernisierung), 18. Aufl. (1991), S. 81. 380  Einer der herausragenden islamischer Philosophen. Bekannt als „second teacher“. Als erster galt Aristoteles, s. Walzer, „Al-Fārābi“, in: The Encyclopaedia of Islam, 1983, S. 778 (778, 780). 381  So Mardin, Türk Modernleşmesi (Türkische Modernisierung), 18. Aufl. (1991), S. 81. 382  s.  Mardin, Türk Modernleşmesi, 18. Aufl. (1991), S. 82. 383  Daher hätten die Araber den Osmanen vorgeworfen, sie würden den wahren islamischen Staat umgehen und eine Art mongolische Herrschaft begründen. s. Mardin, Türk Modernleşmesi, 18. Aufl. (1991), S. 82. 384  Kameralismus ist eine alle Bereiche der öffentlichen Verwaltung umfassende praktische Lehre in der Zeit des Absolutismus (17. und 18 Jh.) unter besonderer Berücksichtigung des landesfürstlichen Finanzwirtschaft. Der Kameralismus, der als deutsche Richtung des Merkantilismus bezeichnet werden kann, erstrebte hohe Staatseinkünfte und Autarkie vor allem indirekt durch planmäßige Förderung der Wirtschaft, s. o. V. „Kameralismus“, in: Brockhaus Enzyclopädie, Bd. 14, 21. Aufl. (2006), S. 341, Sp. 1.



VI. Exkurs: Politische Bewegungen und Theorien im Osmanischen Reich  185

Gesellschaft zum Ziel hatte.385 Diese Idee schien die passende Antwort auf die Probleme des Osmanischen Reiches.386 Der anfangs pragmatische Ideen­ austausch mit dem Westen, der zunächst mit der Rezeption des Kameralismus dominierte, gewann mit Şinasi (1826–1871) und dem verstärkten Buchdruck zunehmend an freiheitlicher Prägung.387 Şinasi verstand es, die westlichen Ideen in ihrer Tiefe zu ergründen und gilt damit als der erste Denker, der den Laizismus verstand.388 Als Hauptströmungen der politischen Bewegungen des Osmanischen Reiches gelten die Jung-Osmanen, Jung-Türken und Islamisten.  VI. Exkurs: Politische Bewegungen und Theorien im Osmanischen Reich 

2. Die Jung-Osmanen Die sich gegen 1865 formierende jung-osmanische Bewegung war die erste Bewegung im Osmanischen Reich, welche die Errungenschaften der europäischen Aufklärung in die osmanische Öffentlichkeit trug und diese mit dem Islam vereinigte.389 Zu den bedeutendsten Personen dieser Bewegung gehörten Ali Paşa, Fuad Paşa, Mehmet Namik (1840–1888), Kemal, Ziya Paşa and Ali Suavi (1839–1878).390 Sie gilt als Bewegung des Liberalismus und entwickelte daraus die erste konstitutionelle Idee im Osmanischen Reich.391 Ihr Einfluss reichte von 1860–1876.392 Die Jung-Osmanen vertraten die soziale, politische und rechtliche Gleichstellung aller Osmanen.393 Ihnen gingen die in der Tanzimat-Periode auf den Weg gebrachten Reformen institutioneller Art nicht weit genug.394 Sie forderten politische und soziale Reformen.395 Die Ausarbeitung der ersten osmanischen VerfasMardin, Türk Modernleşmesi, 18. Aufl. (1991), S. 83. Mardin, Türk Modernleşmesi, 18. Aufl. (1991), S. 83, 84. 387  s.  Mardin, Türk Modernleşmesi, 18. Aufl. (1991), S. 84. 388  So Mardin, Türk Modernleşmesi, 18. Aufl. (1991), S. 84. 389  s.  Mardin, The Genesis of Young Ottoman Thought, 2000, S. 4. 390  Vgl. Mardin, „Young Ottomans“, in: Modern Islamic World, Bd. 4, 1995, S. 357. 391  s.  Mardin, „Young Ottomans“, in: Modern Islamic World, Bd.  4, 1995, S. 357. 392  s.  Mardin, „Young Ottomans“, in: Modern Islamic World, Bd.  4, 1995, S. 357. 393  s.  Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtsystems in der Türkei), 2004, S. 70; Mardin, 19. yy’da Düşünce Akımları ve Osmanlı Devleti (Gedankenströme im 19.  Jh. und der Osmanische Staat), in: Tanzimat’tan Cumhuriyete Türkiye Ansiklopedisi, Bd. 2, 1985, S. 344. 394  s.  Shaw, „Ottoman Empire“, in: The Muslim World, Bd. 3, 1995, S. 269 (275). 395  s.  Shaw, „Ottoman Empire“, in: The Muslim World, Bd. 3, 1995, S. 269 (275). 385  So 386  So

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

sung von 1876 geht in Teilen auch auf die Jung-Osmanen zurück.396 Sie verbündeten sich mit Sultan Abdülhamid II. und stürzten Sultan Abdülaziz, der dann 1876 die erste osmanische Verfassung im Sinne eines modernen Konstitutionalismus verkündete. Sultan Abdülhamid II. verstand den Islam als Basis sozialer und politischer Solidarität.397 Obgleich er nicht die Abschaffung des Gleichheitsprinzips anstrebte, verweigerte er weitere Zugeständnisse für die Christen im Reich.398 Dies führte dazu, dass die erste osmanische Verfassung von 1876 neben dem Einfluss der Jung-Osmanen stark unter dem Einfluss des Islams stand.399 Abdülhamid II. setzte 1878 die Verfassung außer Kraft und löste die Jung-Osmanen auf, die dann in den Untergrund und ins Exil gingen.400 Gleichwohl bildeten die Jung-Osmanen keine homogene Gruppe. Die Ideen Namık Kemals und Ziya Paşas unterschieden sich von denen Ali Suavis, was schließlich dazu führte, dass er die Jung-Osmanen verließ.401 Namık Kemal und Ziya Paşa vertraten demokratische Ideale wie die der Souveränität des Volkes,402 wohingegen Ali Suavi konservativ ein islamisches Konzept der Politik vertrat und den Parlamentarismus mit Skepsis betrachtete.403 Der Liberalismus und Patriotismus Namık Kemals stand unter großem Einfluss der europäischen Romantik und inspirierte seinerseits die Jung-Türken.404 Namik Kemal meinte, dass im Zuge des aufkommenden Nationalismus bei den europäischen Völkern, der Zerfall des Osmanischen Reiches mit dem der Begründung des osmanischen Bürgers abgewendet werden könne.405 Seine Ideen waren ein Mix aus traditionell islamischen Konzepten und liberalen Theorien Europas.406

396  s.  Mardin, „Young Ottomans“, in: Modern Islamic World, Bd.  4, 1995, S. 357. 397  s.  Akarlı, „Abdülhamid II“, in: Modern Islamic World, Bd. 1, 1995, S. 12 (13). 398  s.  Akarlı, „Abdülhamid II“, in: Modern Islamic World, Bd. 1, 1995, S. 12 (13). 399  s.  Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechssystems in der Türkei), 2004, S. 70, 71. 400  s.  Ahmad, „Young Turks“, in: Modern Islamic World, Bd. 4, 1995, S. 357 (358). 401  s.  Mardin, „Suavi, Ali“, in: Modern Islamic World, Bd. 4, 1995, S. 97 (98). 402  s.  Mardin, „Young Ottomans“, in: Modern Islamic World, Bd.  4, 1995, S. 357; s.  Mardin, „Suavi, Ali“, in: Modern Islamic World, Bd. 4, 1995, S. 97 (98). 403  s.  Mardin, „Suavi, Ali“, in: Modern Islamic World, Bd. 4, 1995, S. 97 (98). 404  s.  Mardin, „Young Ottomans“, in: Modern Islamic World, Bd.  4, 1995, S. 357. 405  Vgl. Mardin, Türk Modernleşmesi, 1991, S. 94. 406  s.  Mardin, „Kemal, Mehmet Namik“, in: Modern Islamic World, Bd. 2, 1995, S. 409 (410).



VI. Exkurs: Politische Bewegungen und Theorien im Osmanischen Reich  187

3. Die Jung-Türken Die Jung-Türken verstanden sich als eine Bewegung von Oppositionellen gegen Abdülhamid II. (reg. 1876–1908).407 Sie gelten als Nachfolger der Jung-Osmanen und setzten die Verfassung von 1876 am 23.07.1908 wieder in Kraft.408 Die Bewegung beherrschte das Osmanische Reich bis zu seinem Niedergang 1918.409 1889 formierte sich eine Gruppe, die sich fortan Committee of Ottoman Union and Progress (CUP, türk. İttihat ve Terakki Cemiyeti) nannte.410 Die Gruppe bestand aus Mitgliedern unterschiedlichster ethnischer und religiöser Hintergründe (Türken, Araber, Kurden, Albaner, Armenier und Griechen).411 Sie alle vereinigten sich unter der Idee des Osmanismus.412 Das Committee of Ottoman Union and Progress verbündete sich mit der Ottoman Freedom Society, die sich 1906 als eine Vereinigung einiger Funktionäre und Offiziere gründete, und nannte sich fortan Committee of Ottoman Union and Progress.413 Gleichwohl war es die Gruppe um Ottoman Freedom Society, welche die Revolution und die Inkraftsetzung der Verfassung von 1876 erzwang.414 Die Jung-Türken zerfielen ab 1908 in zwei Fraktionen: Unionisten und Liberale.415 Während die Unionisten einen starken Zentralstaat forderten, wollten die Liberalen die Einheit des Staates durch eine dezentrale Staatsstruktur mit Autonomie für nichttürkische und nichtmuslimische Teile der Gesellschaft erreichen.416 Beide Fraktionen bemühten sich fern von Reli-

407  s.  Ahmad,

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408  s.  Ahmad,

„Young Turks“, in: Modern Islamic World, Bd. 4, 1995, S. 357

409  s.  Ahmad,

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(357). (357). (357).

410  s.  Ahmad, „Young Turks“, in: Modern Islamic World, Bd. 4, 1995, S. 357 (358); ausführlich zum CUP s. Hanioˇglu, Late Ottoman Empire, 2008, S. 150 ff.; Ramsaur, The Young Turks, Prelude to the Revolution of 1908, 1957. 411  s.  Ahmad, „Young Turks“, in: Modern Islamic World, Bd. 4, 1995, S. 357 (358). 412  s.  Ahmad, „Young Turks“, in: Modern Islamic World, Bd. 4, 1995, S. 357 (358). 413  s.  Ahmad, „Young Turks“, in: Modern Islamic World, Bd. 4, 1995, S. 357 (358); Ramsaur, The Young Turks, 1957, S. 122, 123. 414  s.  Ahmad, „Young Turks“, in: Modern Islamic World, Bd. 4, 1995, S. 357 (358). 415  s.  Ahmad, „Young Turks“, in: Modern Islamic World, Bd. 4, 1995, S. 357 (358). 416  s.  Ahmad, „Young Turks“, in: Modern Islamic World, Bd. 4, 1995, S. 357 (358).

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

gion zu handeln.417 Das Ziel der Jung-Türken, nämlich die Einheit des Osmanischen Reiches mit seiner religiösen und ethnischen Vielfalt zu erhalten, zwang sie zur Annahme des dynastiebasierten Osmanismus.418 Nationalismus und Religion wurden abgelehnt, obgleich unter den Jung-Türken Nationalisten (Ziya Gökalp) und Islamisten (Said Halim Paşa) vertreten waren.419 Die Unionisten versuchten eine Nähe zur Religion zu vermeiden, zeigten infolge der starken islamistischen Opposition gleichwohl eine Bereitschaft, den Islam als politisches Mittel zu verwenden.420 Die politischen Lager innerhalb der jung-türkischen Bewegung kämpften schließlich gegenseitig um die politische Macht, wobei am Ende die Unionisten 1913 als Sieger hervorgingen.421 Der Osmanismus näherte sich zunehmend dem Islam an, der sich schließlich zur Ideologie der JungTürken etablierte.422 Gleichwohl ist der Islamismus der Jung-Türken inhaltlich zu unterscheiden, von dem der Islamisten.423 Nach Auffassung der Jung-Türken ist der Nationalismus mit dem Islam vereinbar und vervollständige diesen.424 Die Religion müsse sich den Bedürfnissen des alltäglichen Lebens anpassen („Ein religiöses Leben und eine lebende ­ Religion“).425 Der Islam müsse, um weiterhin von Bedeutung zu sein, unter Berücksichtigung der neuen Umstände, denen sich Muslime ausgesetzt sehen, interpretiert werden.426 So wurde auch die Trennung von Staat und Religion gefordert, da nur so der Islam gelebter Teil des Alltags sein könne.427 Für die Reform der Religion sei es notwendig, die 417  s.  Ahmad,

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418  s.  Ahmad,

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419  s.  Ahmad,

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420  s.  Ahmad,

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421  s.  Ahmad,

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422  s.  Ahmad,

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423  s.  Ahmad,

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424  s.  Ahmad,

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425  s.  Ahmad,

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426  s.  Ahmad,

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427  s.  Ahmad,

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(358). (358). (358). (358). (358). (359). (359). (359). (359). (359). (359).



VI. Exkurs: Politische Bewegungen und Theorien im Osmanischen Reich  189

Religion als eine Angelegenheit des Gewissens zu betrachten und die rechtlichen Aspekte des Islams der säkularen Gesetzgebung unterzuordnen.428 Ersteres sei die Aufgabe der Religion, letzteres die des Staates.429 Diese Idee bildete die Grundlage der atatürk’schen Idee der Säkularisation der türkischen Republik.430 4. Die Islamisten Bereits 1840 waren Islamisten vereinzelt und verstreut im Hintergrund als eine Art muslimische Reaktion aktiv.431 Nach dem Auseinanderfallen der jung-osmanischen Bewegung begann sich ab 1870 in Istanbul und im gesamten Osmanischen Reich die islamisch-traditionalistische Bewegung zu formieren und durchzusetzen432, zu deren Führungspersonen Cevdet Paşa und Şirvanizade Rüşdü Paşa gehörten.433 Der durch Reformen herbeigeführte Wandel brachte die Konservativen im Land in Alarmbereitschaft.434 Sie lehnten den Machtverlust des Sultan / Kalifen und die Schwächung der Scharia ab.435 Im Jahre 1909 gründete eine Gruppe die Ittihad-i Muhammadi Cemiyeti (Muhammadan Union)436. Diese Vereinigung hatte das Ziel, die Organisation der jung-osmanischen Bewegung, den Committee of Union and Progress, zu zerstören.437 Gefördert wurde diese islamistische Bewegung durch den aufkommenden Nationalismus der Minderheiten im Osmanischen Reich; die Etablierung eines osmanischen Bürgerstandes gleich welcher Religion und Ethnie schien zunehmen unrealistisch. Die territorialen Verluste in den westlichen Gebieten verlagerten den Blick auf den Islam, der noch immer ein starkes Band zwischen allen Muslimen bildete und den 428  s.  Ahmad,

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429  s.  Ahmad,

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430  s.  Ahmad,

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(359). (359). (359).

431  s.  Mardin,

Türk Modernleşmesi, 1991, S. 92. Türk Modernleşmesi, 18. Aufl. (1991), S. 91. 433  Vgl. Mardin, Türk Modernleşmesi, 18. Aufl. (1991), S. 91. 434  s.  Ahmad, „Ittihad-i Muhammdi Cemiyeti“, in: Modern Islamic World, Bd. 2, S. 349 (349). 435  s.  Ahmad, „Ittihad-i Muhammdi Cemiyeti“, in: Modern Islamic World, Bd. 2, S. 349 (349). 436  Vgl. Ahmad, „Ittihad-i Muhammdi Cemiyeti“, in: Modern Islamic World, Bd. 2, S. 349 (349). 437  s.  Ahmad, „Ittihad-i Muhammdi Cemiyeti“, in: Modern Islamic World, Bd. 2, S. 349 (349). 432  s.  Mardin,

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C. Staat und Religion im Osmanischen Reich

ethnischen Nationalismus ersetzen sollte.438 Die Hauptkritik der Islamisten richtete sich gegen den drohenden Verlust der eigenen kulturellen Identität, welche nach dieser Auffassung mit der Kodifikationsbewegung im Jahre 1839 begann.439 Dieses Szenario sollte durch die Wiedereinführung islamischer Werte gebannt werden.440 Eine Reform durch Übernahme westlicher Errungenschaften durfte sich nur auf technische Errungenschaften beschränken, denn westliche Sitten und die Sozialisierung seien denen des Islams unterlegen und führten zu einem Verfall des Reiches.441 Der Islam sei kein Fortschrittshindernis, vielmehr sei gerade die Abwendung von islamischen Prinzipien Schuld an der Misere, weshalb nur eine Rückkehr zum Alten dem Land zur Wiederherstellung seiner Stärke verhelfen werde.442 Die Trennung von Staat und Religion sei nach Ansicht der Islamisten im Westen notwendig geworden, weil die Bibel nicht auf weltliche Angelegenheiten zu antworten gewusst habe und deshalb nicht den Bedürfnissen der Europäer entsprechen konnte.443 Die Scharia dagegen kümmere sich nicht nur um das Jenseits, sondern regelt auch weltliche Angelegenheiten, folglich sei die Religion untrennbar das Recht des Staates.444 Die Reformen müssen stets mit dem islamischen Recht vereinbar sein. Den Befreiungskrieg gegen die christlich-westlichen Besatzungsmächte betrachteten die Islamisten als eine Befreiung des Islams und des Kalifats, mit dessen Erfolg der Islam wieder aufblühen werde.445 Die Gründung einer Republik war nicht das Ziel der Islamisten.446 Um in Zeiten des Krieges den Einfluss und die Unterstützung der Islamisten für den Befreiungskrieg nicht zu verlieren, verschwiegen die Jung-Türken ihre wahre Absicht zur Aufhebung des Sultanats, des Kalifats und der Einführung des Laizismus.447

Mardin, Türk Modernleşmesi, 18. Aufl. (1991), S. 94, 95. Mardin, Türk Modernleşmesi, 18. Aufl. (1991), S. 91. 440  Vgl. Mardin, Türk Modernleşmesi, 18. Aufl. (1991), S. 91. 441  Vgl. Özek, Türkiye’de Laiklik, 1962, S. 14. 442  s.  Özek, Türkiye’de Laiklik, 1962, S.  13; Mardin, Türk Modernleşmesi, 18. Aufl. (1991), S. 93. 443  s.  Özek, Türkiye’de Laiklik, 1962, S. 14. 444  Vgl. Özek, Türkiye’de Laiklik, 1962, S. 14; Tuğrul, Türkiye’de Laik Hukuk Sisteminin Kuruluşu (Die Gründung des laizistischen Rechtssystems in der Türkei), 2004, S. 70. 445  Vgl. Özek, Türkiye’de Laiklik, 1962, S. 19. 446  Vgl. Özek, Türkiye’de Laiklik, 1962, S. 20. 447  s.  Özek, Türkiye’de Laiklik, 1962, S. 20. 438  Vgl. 439  Vgl.

D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei I. Trennungsmodelle in der heutigen Türkei 1. Der Begriff Laizismus Laizismus ist ein mehrdeutiger Begriff.1 In kirchenamtlichen Erklärungen und in der katholischen Publizistik bezeichnet Laizismus die Theorie und Praxis, welche die Stellung der Kirche und den Einfluss des Christentums im öffentlichen Leben ausschalten oder auf ein Minimum zurückdrängen will.2 Er kennzeichnet in diesem Zusammenhang die Bestimmungen zum Verhältnis von Kirche und Staat und allgemein von Kirche und Gesellschaft im nachrevolutionären Frankreich.3 Er stellt so das Gegenstück zum Klerikalismus dar, der das Ziel hat, „(…) der Kirche entscheidenden Einfluss auf das gesamte öffentliche Leben, insbesondere des Staates, zu verschaffen“.4 Laizismus wird daher auch als Antiklerikalismus ver­standen,5 der sich als Opponent zum Klerikalismus bildete.6 „Allgemein wird Laizismus im Sinne einer gewissen Religionsfreiheit, einer Religionsferne des Staates verstanden.“7 „Er kann verstanden werden im Sinne des neutralen Staates, der allen die Kultusfreiheit garantiert und die Religionsgesellschaften zwingt, ihm in diesem Punkt zu folgen.“8 Er „(…) kann aber auch im Sinne der Trennung von ziviler und religiöser Gesellschaft ausgelegt werden, Trennung, die impliziert, dass der Staat keinerlei religiöse Macht und 1  Vgl. Kokott, Laizismus und Religionsfreiheit im öffentlichen Raum, in: Der Staat, 2005, Bd. 44, S. 343 (344). 2  Vgl. Köhler, „Laizismus“, in: Staatslexikon, 7.  Aufl., 1987, Bd. 3, S. 814 (814), Sp. 2. 3  Vgl. Köhler, „Laizismus“, in: Staatslexikon, 7. Aufl., 1987, Bd. 3, S. 814 (814), Sp. 2. 4  s. Creifelds, „Klerikalismus“, in: Creifelds Rechtswörterbuch, 20. Aufl. (2010) S. 694, Sp. 2. 5  s.  Kokott, Laizismus und Religionsfreiheit im öffentlichen Raum, in: Der Staat, 2005, Bd. 44, S. 343 (344). 6  s.  Gatz, „Klerikalismus“, in: Staatslexikon, 7.  Aufl., 1987, Bd.  3, S.  546 (547), Sp. 1. 7  Kokott, Laizismus und Religionsfreiheit im öffentlichen Raum, in: Der Staat, 2005, Bd. 44, S. 343 (344). 8  Kokott, Laizismus und Religionsfreiheit im öffentlichen Raum, in: Der Staat, 2005, Bd. 44, S. 343 (344).

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

die Religionsgesellschaften keinerlei politische Macht ausüben“.9 In den westlichen Demokratien haben sich drei Grundmodelle herausgebildet: das Staatskirchenmodell, das Trennungsmodell und das Kooperationsmodell.10 Während in Großbritannien das Staatskirchenmodell etabliert wurde,11 ist in Frankreich12 das Trennungsmodell und in Deutschland das Kooperationsmodell Teil des Verfassungssystems.13 Das Staatskirchenmodell bezeichnet dabei das Bestehen einer Staatskirche, also das System des Staatskirchentums.14 Das Trennungsmodell wie auch das Kooperationsmodell bezwecken die Förderung der Religionsfreiheit,15 nicht die Unterstützung von Atheismus.16 Gleichwohl fördert das Trennungsmodell die negative Religionsfreiheit, während das Kooperationsmodell die positive Religionsfreiheit begünstigt.17 Wenngleich im Trennungsmodell, im Vergleich zum Kooperationsmodell, eine stärkere Tendenz zur Schaffung neutraler, religionsfreier öffent­ licher Räume besteht, so ist darin gleichwohl keine Religionsfeindlichkeit zu sehen, sondern ein Modell zur friedlichen Koexistenz unterschiedlicher Religionen.18 Das Kooperationsmodell setzt implizit das Vorhandensein von Kooperationspartnern voraus, welche in Deutschland allen voran die christlichen Kirchen sind.19 9  Kokott, Laizismus und Religionsfreiheit im öffentlichen Raum, in: Der Staat, 2005, Bd. 44, S. 343 (344). 10  Vgl. Kokott, Laizismus und Religionsfreiheit im öffentlichen Raum, in: Der Staat, 2005, Bd. 44, S. 343 (344). 11  Zum Staatskirchenrecht in Großbritannien s. McClean, Staat und Kirche im Vereinigten Königreich, in: Staat und Kirche in der Europäischen Union, Gerhard Robbers (Hrsg.), 1995, S, 333–350. 12  Zum französischen Trennungsmodell vgl. Basdevant-Gaudemet, Staat und Kirche in Frankreich, in: Staat und Kirche in der Europäischen Union, Gerhard Robbers (Hrsg.), 1995, S.  127–158; Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S.  69 ff., 162 ff. 13  s. Kokott, Laizismus und Religionsfreiheit im öffentlichen Raum, in: Der Staat, 2005, Bd. 44, S. 343 (346); zum deutschen Trennungsmodell s. o., Kapitel A., S. 33 ff. 14  s.  Creifelds, „Staatskirche“, in: Creifelds Rechtswörterbuch, 20. Aufl. (2010), S. 1117, Sp. 1. 15  Zum rechtlichen Behandlung des islamischen Kopftuch in Deutschland s.  Sicko, Das Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Umsetzung durch die Landesgesetzgeber, 2008; Mann, Das Kopftuch der muslimischen Lehramtsanwärterin als Eignungsmangel im Beamtenrecht, 2004. 16  s.  Kokott, Laizismus und Religionsfreiheit im öffentlichen Raum, in: Der Staat, 2005, Bd. 44, S. 343 (349). 17  Vgl. Kokott, Laizismus und Religionsfreiheit im öffentlichen Raum, in: Der Staat, 2005, Bd. 44, S. 343 (352). 18  s.  Kokott, Laizismus und Religionsfreiheit im öffentlichen Raum, in: Der Staat, 2005, Bd. 44, S. 343 (349). 19  Zur Situation der islamischen Gemeinschaften im Deutschen Religionsverfassungsrecht s. Hennig, Muslimische Gemeinschaften im Religionsverfassungsrecht,



I. Trennungsmodelle in der heutigen Türkei193

Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei ist geprägt durch die Begriffe laiklik und laik. Ausgangspunkt hierfür ist die Verankerung beider Begriffe in der türkischen Verfassung.20 Das sich aus diesen Verfassungsbegriffen ableitende Laizismusprinzip (laiklik ilkesi) ist neben dem Nationalismus der wichtigste Leitgrundsatz der türkischen Verfassungsordnung.21 Gleichwohl wird in der englischsprachigen Literatur für den türkischen Laizismus der Begriff secularism verwendet.22 Indessen hat sich die deutschsprachige Türkeiforschung auf den etymologisch näher liegenden Begriff Laizismus verständigt.23 Bei Hirsch leitet sich der Begriff laik aus dem französischen laique ab.24 Nach Rumpf leitet sich laiklik zwar vom französischen laicité ab.25 Gleichwohl sei die Verwendung des Begriffs Laizismus und nicht Laizität von seinem Bedeutungsgehalt her treffender.26 Er bringe die ideologische Komponente des in der Türkei geltenden Laizismus zum Ausdruck.27 Auch Gözaydın verwendet in englischsprachiger Literatur den Begriff laic zur Bezeichnung der Trennung von Staat und Religion in der Türkei und nicht den Begriff secularism, da letzterer eine Trennung von Staat und Religion impliziere, in der Türkei aber eine staatliche Kontrolle der Religion bestehe.28 Zuletzt haben sich als Folge der sozio-politischen Transformation drei Formen 2010; Salama, Muslimische Gemeinschaften in Deutschland, 2010; Muckel, Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008; Spriewald, Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Einführung von islamischem Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an deutschen Schulen, 2003. 20  Vgl. nur Präambel TVerf v. 1982: „(…) und entsprechend dem Prinzip des Laizismus heilige religiöse Gefühle nicht mit staatlichen Angelegenheiten und mit der Politik verknüpft werden dürfen. (…)“ und Art. 2 TVerf v. 1982: „Die türkische Republik ist ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat (…)“, deutsche Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik vom 9. November 1982, in: JöR, 1983, S. 507 (552, 553). 21  s.  Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, 1996, S. 104. 22  s.  Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, 1996, S. 106; beispielhaft s. nur Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998; Özbudun, The Constitu­ tional System of Turkey, 2011, S. 27 ff. 23  s.  Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, 1996, S. 106. 24  Vgl. Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Nr. 3, S. 106 (106). 25  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, S. 179 (182). 26  s.  Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, 1996, S. 106; ders., Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, S. 179 (182). 27  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, S. 179 (182). 28  Vgl. Gözaydın, Diyanet and Politics, in: The Muslim World, 2008, Vol. 98, Nr. 2 / 3, S. 216 (224), Fn. 1.

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

von Modellen herauskristallisiert: das militante, das türkisch-muslimische sowie das liberale Laizismusmodell.29 Alle drei Modelle werden im Folgenden kurz vorgestellt. 2. Das militante Laizismusmodell Das kemalistisch-laizistische Modell des militanten Laizismus versteht unter Laizismus nicht nur die Befreiung des Staates von der Religion („Freedom from religion“),30 sondern darüber hinaus die Kontrolle der Religion durch den Staat31, anfangs sogar die Befreiung des Einzelnen von den traditionellen islamischen Vorstellungen, soweit sie das soziale Leben und seine Struktur betrafen.32 Dieses Modell lehnt sich an das anti­ klerikale jakobinische Modell an.33 Es steht „(…) contrary to the spirit of secularism as understood in the West (…)“.34 Mithin sei die Türkei ein „semi-secular state“35. Die Vertreter dieser Ideologie, oft als Laizisten bzw. Kemalisten36 bezeichnet, sehen sich als Erben der türkischen Aufklärung und als türkische Elite in europäischer Tradition als Hüter des Laizismus.37 Sie lehnen den Einfluss des Islams und des Osmanischen Reiches im Yavuz, Secularism and Muslim Democracy in Turkey, 2009, S. 153. Yavuz, Secularism and Muslim Democracy in Turkey, 2009, S. 154. 31  Vgl. Seufert, Politischer Islam in der Türkei, 1997, S. 166. 32  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (184). 33  s.  Toprak, Islam and Democracy in Turkey, in: Political Islam, Rubin (Hrsg.), 2007, S. 323 (327); Yavuz / Esposito, in: Turkish Islam and the secular state, Yavuz / Esposito (Hrsg.), 2003, S. xvi; Seufert, Politischer Islam in der Türkei, 1997, S. 268; Yildiz, Der neue türkische Verfassungsentwurf und die daraus resultierenden Einflüsse auf die demokratische Entwicklung der Türkei, in: JöR, 2010, Bd. 58, S. 353 (355). 34  Tank, Political Islam in Turkey, A state of controlled secularity, in: Political Islam, Rubin (Hrsg.), 2007, S. 285 (287). 35  s.  Tank, Political Islam in Turkey, A state of controlled secularity, in: Political Islam, Rubin (Hrsg.), 2007, S. 285 (287). 36  Als Kemalisten werden die Anhänger des Kemalismus bezeichnet; Kemalismus bezeichnet die Ideen und Prinzipien Mustafa Kemals (Atatürk) und ist zugleich bis heute (leicht modifiziert) die offizielle Staatsideologie. Der Kemalismus umfasst die sechs Prinzipien Republikanismus, Etatismus, Populismus, Laizismus, Nationalismus und Reformismus. Zusammen representieren sie eine Art Jacobinismus, die von Mustafa Kemal als eine Methode des „political despotism in order to break down the social despotism prevalent among the traditionally minded Turkish-Muslim population, for which he blamed foremost the bigotry of the men of relgion“ definiert wurde, Tuncay, „Kemalism“, in: Modern Islamic World, 1995, Bd. 2, S. 410 (410, 411); Yavuz, Islamic Political Identity in Turkey, 2003, S. 31. 37  So Yavuz, Secularism and Muslim Democracy in Turkey, 2009, S. 154. 29  So 30  So



I. Trennungsmodelle in der heutigen Türkei195

Hinblick auf die türkische Identität ab.38 Die Modernisierung der Türkei nach europäischem Vorbild hängt danach zwingend davon ab, dass der Islam vollständig aus dem öffentlichen Leben entfernt wird.39 Der Islam ist nach diesem Verständnis eine politische Religion, weshalb der türkische Laizismus anders ist als es in christlich geprägten Gesellschaften der Fall ist.40 Der Laizismus nahm zunehmend Züge einer Ersatzreligion als Instrument gegen die Religion der Mehrheit, den Islam, an.41 Legitimes Mittel ist dabei nicht nur die staatliche Instrumentalisierung des Islams im Sinne des kemalistischen Staatsdogmas,42 sondern auch der Einsatz von Gewalt43. „Die regelmäßige Einschränkung der effektiven Regierungsgewalt gewählter Repräsentanten durch das Militär ist das gravierendste Defizit des politischen Systems der Türkei und gemäß der Demokratietheorie Kennzeichen einer Enklavendemokratie.“44 Zwar wolle das Militär nicht dauerhaft die Yavuz, Secularism and Muslim Democracy in Turkey, 2009, S. 154. Yavuz, Secularism and Muslim Democracy in Turkey, 2009, S. 154; Tank, Political Islam in Turkey, A state of controlled secularity, in: Political Islam, Rubin (Hrsg.), 2007, S. 285 (286); unterdessen erscheint es für den westlichen Beobachter paradox, dass insbesondere das Militär den EU-Integrationsprozess nicht begrüßt. Diese Paradoxie erklärt sich durch den mit dem EU-Integrationsprozess einhergehenden Machtverlust des Militärs, vgl. hierzu Sezer, Das türkische Militär und der EU-Beitritt der Türkei, in: APuZ, 2007, Heft 43, S. 27 (30); Bilir, Der politische Wandlungsprozess der Türkei, in: Orient, 2007, Heft 4, S. 31 (36); Mudhoon, Die türkische AKP als Vorbild für die arabische Welt, in: APuZ, 2009, Heft 39–40, S. 27–32; nach Dietz dagegen begrüßt das Militär den EU-Beitritt. Die Motivlage sei dabei ein andere als die der AKP, s. ders., Der weite Weg nach Westen, in: DöV, 2010, Heft 15, S. 638 (645). 40  s.  Yavuz, Secularism and Muslim Democracy in Turkey, 2009, S. 154. 41  s.  Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, 1996, S. 108. 42  s.  Karakas, Türkei: Islam und Laizismus zwischen Staats-, Politik- und Gesellschaftsinteressen, 2007, S. 3. 43  Vgl. statt vieler Bilir, Der politische Wandlungsprozess der Türkei, in: Orient, 2007, Heft 4, S. 31 (34, 35); Schlötzer, Republikwächter mit Panzern und Gewähren v. 30.04.2007, in: sueddeutsche.de, abrufbar im Internet unter: http: /  / www.sueddeut sche.de / politik / tuerkische-armee-republikwaechter-mit-panzern-und-gewehren-1. 870971 (zuletzt aufgerufen am 29.04.2012). 44  Söyler, Der demokratische Reformprozess in der Türkei, in: APuZ, 2009, Heft 39–40, S. 3 (3); das vorhandene defizitäre Demokratieverständnis zeigte sich nicht zuletzt 1997 am sog. „weichen“ Staatsstreich gegen den damaligen islamisch geprägten Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan, dem „nahe gelegt“ wurde zurückzutreten, vgl. Sezer, Das türkische Militär und der EU-Beitritt der Türkei, in: APuZ, 2007, Heft 43, S. 27 (28, 29, 32); Alpay, Die politische Rolle des Militärs in der Türkei, in: APuZ, 2009, Heft 39–40, S. 9–15; so auch Karakas, Türkei: Islam und Laizismus zwischen Staats-, Politik- und Gesellschaftsinteressen, 2007, S. 3. Differenzierter dagegen Toprak im Hinblick auf die Rolle des Militärs für den Machtverlust Erbakans. Nach Toprak wird dabei übersehen, dass der Machtverlust auch eine Folge der inneren Logik der Demokratie ist, vgl. dies., Islam and Demo38  So 39  So

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

Regierung übernehmen, wohl aber seinen Einfluss auf die Tagespolitik erhalten.45 In dieser Tradition treten insbesondere die Justiz, das Militär46 und die Bürokratie auf.47 cracy in Turkey, in: Political Islam, Rubin (Hrsg.), 2007, S. 323 (329, 335 ff.); zur aktuellen Lage der „zivilen“ Aufsicht über das türkischen Militärs vgl. Commission Staff Working Document, Turkey 2010 Progress Report v. 09.11.2010, SEC  /  2010 / 1327, S.  10–12, im Internet unter: http: /  / ec.europa.eu / enlargement / pdf / key_ documents / 2010 / package / tr_rapport_2010_en.pdf (zuletzt aufgerufen am 12.04. 2012). 45  s.  Dietz, Der weite Weg nach Westen, in: DöV, 2010, Heft 15, S. 638 (640). 46  Die 2007 als verdeckte Putschandrohung verstandene Äußerung des Generalstabschefs über dessen Besorgnis wegen einer angeblichen Aufweichung der Trennung von Staat und Religion ist letztes Beispiel für das Einmischen des Militärs in rein zivile Vorgänge. Grund für die Besorgnis war die Präsidentschaftskandidatur des AKP-Mitglieds Abdullah Gül, s. Commission Staff Working Document, Turkey 2007 Progress Report v. 06.11.2007 (SEC / 2007 / 1436), S. 7, 9, im Internet unter: http: /  / ec.europa.eu / enlargement / pdf / key_documents / 2007 / nov / turkey_progress_reports_en.pdf, (zuletzt aufgerufen am 12.04.2012); Dietz, Der weite Weg nach Westen, in: DöV, 2010, Heft 15, S. 638 (641); im Jahre 2009 monierte die Europäische Kommission in ihrem Fortschrittsbericht zur Türkei aus dem Jahr 2009, dass sich das Miltiär unzulässig in politische Angelegenheiten eingemischt hat, s. Commission Staff Working Document, Turkey 2009 progress report v. 14.10.2009 (SEC / 2009 / 1334 final), S.  11, im Internet unter: http: /  / ec.europa.eu / enlargement / pdf / key_documents  /  2009  /  tr_rapport_2009_en.pdf (zuletzt aufgerufen am 12.04.2012); das am 07.06.1997 zwischen Militär und Innenministerium unterzeichnete Geheimprotokoll (EMASYA, Emniyet-Asayiş-Yardımlaşma, deutsch. Zusammenarbeit öffentliche Sicherheit und Ordnung), welches dem Militär erlaubte, in einzelnen Provinzen der Türkei die Macht zu übernehmen, ohne dass es dazu von der Landräten oder von Gouverneuren ermächtigt werden musste, wurde am 04.02.2010 aufgehoben, s. Commission Staff Working Document, Turkey 1010 Progress Report v. 09.11.2010 (SEC / 2010 / 1327 final), S.  10, im Internet unter: http: /  / ec.europa.eu / enlargement / pdf / key_documents / 2010 / package / tr_rapport_2010_en.pdf (zuletzt aufgerufen am 12.04.2012); Seufert, Etappensieg für die türkische Demokratie Online v. 06.02.2010, in: Zeit Online, im Internet unter: http: /  / www.zeit.de / politik / ausland / 2010-02 / tuerkei-emasya-erdogan (zuletzt aufgerufen am 12.04.2012); trotz der Kritik durch die EU-Kommission ist es nach wie vor gemäß § 35 Gesetz Nr. 211 (Türk sılahlı Kuvvetleri Iç hizmetler Kanunu, Innendienstgesetz der türkischen Streitkräfte) v. 04.01.1961 und § 85 Abs. 1 VO über die Inneren Dienste des türkischen Militär (Türk sılahlı kuvveltleri Iç Hizmet Yönetmeliği, Verordnung über das Dienstrecht der türkischen Streitkräfte) Aufgabe des Militärs die türkische Heimat zu schützen und zu verteidigen ohne vorherige Anordnung durch eine zivile Behörde, s. § 35 Gesetz Nr. 211, verkündet in: RG v. 10.01.1961, Nr. 10703 und § 85 VO über das Dienstrecht der Streitkräfte, verkündet in: RG v. 06.09.1961 Nr. 10899; Commission Staff Working Document, Turkey 2010 Progress Report v. 09.11.2010, (SEC / 2010 / 1327 final), S.  10, im Internet unter: http: /  / ec.europa.eu / enlargement / pdf / key_documents / 2010 / package / tr_rapport_2010_en.pdf (zuletzt aufgerufen am 12.04.2012); beide Vorschriften sind bekannt als die sog. Putschparagraphen, welche das Militär zur Legitimierung ihrer Putsche heranzog, vgl. Tank, Political Islam in Turkey, A state of controlled secularity, in: Political Islam, Rubin (Hrsg.),



I. Trennungsmodelle in der heutigen Türkei197

3. Das türkisch-muslimische Laizismusmodell Diametral zum militant-kemalistischen Laizismusmodell steht das türkisch-muslimische Laizismusmodell. Diesem liegt das militant-kemalistische Laizismusmodell zugrunde und interpretiert dieses als Religionsfeindlichkeit. Es stellt sich daher nicht als ein genuin eigenständiges Modell, sondern als Kehrseite des militant-kemalistischen Laizismusmodells dar.48 Zwischen dem kemalistisch-militanten und dem islamistischen Laizismusmodell besteht ein Ursache-Wirkung-Verhältnis.49 Dabei wird angenommen, dass der Laizismus die Grundprinzipien des Islams missachtet, die Religionsfreiheit verletzt und, dass das türkische Verfassungsgericht und die Europäische Gerichtsbarkeit dem Islam gewisse christliche Betrachtungen, wie die Beschränkung der islamischen Rituale nach Zeit und Ort, aufzwingen.50 ­ Diesem Modell zufolge sind Islam und Laizismus unvereinbar.51 „Damit ist weniger die Absicht verknüpft, die Türkei in einen islamischen Staat zu verwandeln, sondern das kemalistische Interpretationsmonopol über den Islam aufzubrechen, anti-westliche Ressentiments zu bedienen, Wählerstimmen aus dem kurdischen Milieu zu gewinnen sowie Einschränkungen in der Religionsfreiheit zu beenden.“52 Der Islam verlange eine politische Parti47

2007, S. 285 (291); Sezer, Das türkische Militär und der EU-Beitritt der Türkei, in: APuZ, 2007, Heft 43, S. 27–32. Zum historischen Kontext der Militärputschs in der Türkei s. Hoffmann / Balkan, Militär und Demokratie in der Türkei, 1985. 47  Zum Kemalismus und zu weiteren kemalistischen Akteuren s.  Karakas, Türkei: Islam und Laizismus zwischen Staats-, Politik- und Gesellschaftsinteressen, 2007, S. 5, 6; Dietz, Der weite Weg nach Westen, in: DöV, 2010, Heft 15, S. 638 (645). 48  So auch Karakas, Türkei: Islam und Laizismus zwischen Staats-, Politik- und Gesellschaftsinteressen, 2007, S. 3; Yavuz, Islamic Political Identity in Turkey, 2003, S. 31. 49  So im Ergebnis auch Rumpf / Akartürk: Ein Verbot der AKP hätte zur Stärkung der fundamentalistischen Kräfte geführt, vgl. Rump / Akartürk, Die rechtlichen Auswirkungen des Verbotsverfahrens der AKPartei, 2008, S. 16, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / parteiverbot_akp_dt.pdf (zuletzt aufgerufen am 12.04.2012); Tank, Political Islam in Turkey, A state of controlled secularity, in: Political Islam, Rubin (Hrsg.), 2007, S. 285 (289). 50  Vgl. Yavuz, Secularism and Muslim Democracy in Turkey, 2009, S. 157; die islamistische FP nahm ihre Beschwerde vor dem EGMR mit den Worten zurück: „(…) da die Urteile in den Fällen Refah Partisi und Leyla Sahin zeigen, dass der Gerichtshof Vorurteile gegenüber den muslimischen Gemeinschaften hat. Wir sind der Überzeugung, dass man der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs nicht vertrauen kann. (…)“, EGMR, Urt. v. 27.04.2006 (Rs. 1444 / 02), Fazilet Partisi u. Kutan / Türkei, in deutscher Sprache zitiert nach: NVWZ, 2007, Heft 4, S. 429 (430). 51  Vgl. Oehring, Die Türkei im Spannungsfeld extremer Ideologien, 1984, S. 216. 52  Karakas, Türkei: Islam und Laizismus zwischen Staats-, Politik- und Gesellschaftsinteressen, 2007, S. 3.

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

zipation der Gläubigen, um die religiösen Ansichten in den öffentlichen Raum hineinzutragen.53 Dieses türkisch-muslimische Laizismusmodell hat gegenwärtig keinen relevanten politischen Einfluss.54 4. Das liberale Laizismusmodell Vertreter des liberalen Laizismusmodells fordern eine Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Religion im Sinne einer Trennung beider Spären voneinander, wobei sich der Schwerpunkt der Forderungen auf die Befreiung der Politik von der Religion bezieht.55 Nach diesem Verständnis soll sich der Staat aus den Angelegenheiten der Religion heraushalten.56 Insbesondere die Aleviten fordern die Gewährleistung der Religionsfreiheit und die Unterbindung der sunnitischen Hegemonie.57

II. Die verfassungsrechtliche Entwicklung des Laizismus in der Türkei 1. Einleitung Der Laizismus als staatsideologischer und verfassungsrechtlicher Grundsatz der Türkei bedeutet die nicht-religiöse Legitimierung und Ordnung der staatlichen Herrschaftsgewalt, die Nichteinmischung des Staates in religiöse Angelegenheiten, soweit ihm das im Interesse des Bestandes seiner politischen, sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Grundordnung zuzumuten ist und die Fernhaltung religiöser Einflüsse aus den Angelegenheiten des Staates.58 Die Debatte um den Laizismus ist in der Türkei seit Republiksgründung fester Bestandteil der politischen Tagesordnung. Auf der einen Seite steht der staatliche Wunsch, die Religion aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen, nach dessen kemalistischer Idee des Laizismus nicht nur der 53  s.  Yavuz,

Secularism and Muslim Democracy in Turkey, 2009, S. 157. Karakas, Türkei: Islam und Laizismus zwischen Staats-, Politik- und Gesellschaftsinteressen, 2007, S. 28; der geringe Einfluss erklärt sich auch mit der Zufriedenheit der Bevölkerung, auch der säkularen Bevölkerungsteile, an der Regierung der als islamisch-konservativ bezeichneten AKP. Die AKP als Partei des gemäßigten Islam, scheint ein Gegengewicht, eine Alternative zum Islamismus zu bilden. 55  „This approach stresses the freedom of politics more than the freedom of religion. [Hervorhebungen im Original]“, Yavuz, Secularism and Muslim Democracy in Turkey, 2009, S. 158. 56  s.  Yavuz, Secularism and Muslim Democracy in Turkey, 2009, S. 158. 57  s.  Yavuz, Secularism and Muslim Democracy in Turkey, 2009, S. 158. 58  So Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (183). 54  Vgl.



II. Die verfassungsrechtliche Entwicklung 199

Staat von der Religion getrennt, sondern auch der Einzelne von den tradi­ tionellen islamischen Vorstellungen, soweit sie das soziale Leben und seine Struktur betreffen, befreit werden soll.59 Auf der anderen Seite findet sich der Wunsch der religiösen Gesellschaft, mit der Religion auch im öffent­ lichen Raum sichtbar zu sein. Ein „unausgekochter“60 Gegensatz, dessen Lösung nur zu Lasten der einen oder anderen Seite denkbar ist. 2. Die Entwicklung des Laizismus nach Verkündung der Republik und unter der TVerf v. 1924 a) Einleitung Nach dem verlorenen ersten Weltkrieg 1918 war das Osmanische Reich durch die Siegermächte besetzt.61 Gegen die Besatzung formierten sich landesweit zunächst dezentralisiert Widerstandskämpfer. Um diesen Aufstand der Bevölkerung zu beenden, entsandte Sultan Mehmet IV. auf Druck der Siegermächte den General Mustafa Kemal62 1919 nach Samsun.63 Wider Erwarten schloss sich dieser dem Widerstand gegen die Besatzung an und übernahm die politische und militärische Führung gegen die Besatzung.64 Dem sich nunmehr landesweit formierenden Widerstand schlossen sich verschiedene Ethnien muslimischen Glaubens an. Der gemeinsame islamische Glaube vereinigte die unterschiedlichen Ethnien gegen die „ungläubigen“ Besatzer.65 Im Jahre 1920 initiierte Mustafa Kemal ein Parlament in Ankara (Türkische Große Nationalversammlung), welche seine Tätigkeit in Konkurrenz zur noch offiziell existierenden Regierung des Sultans in Istanbul aufnahm.66 „Es standen sich damit zwei Regierungen 59  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (184). 60  Nach Rumpf ist das Verhältnis von Kirche und Staat in Frankreich, anders als in der Türkei, längst ausgekocht, vgl. ders., Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, S. 179 (182, 183). 61  Vgl. Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 25. 62  Geb 1881, gest. 1930, ist Gründer und erster Präsident der Republik, später auch Atatürk (Vater der Türken) genannt, vgl. Mantran, „Atatürk“, in: The Encyclopaedia of Islam, 1979, Bd. 1, S. 734 (734), Sp. 1. 63  Vgl. Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 26. 64  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 25. 65  So habe Mustafa Kemal 1920 gesagt: „the nation whose preservation and defense we have undertaken is composed not only of one ethnic element. It is composed of various Islamic elements.“, zitiert nach Ahmad, „Turkey“, in: Modern Islamic World, 1995, Bd. 4, S. 241 (242), Sp. 1; zur Bedeutung des Islam für den Unabhängigkeitskrieg s. Seufert, Politischer Islam in der Türkei, 1997, S. 166, 167. 66  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 26.

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

gegenüber, die beide für sich das Recht in Anspruch nahmen, allein legitimierte Sprecherin für die Türkei zu sein, und zwar die Istanbuler Regierung im Namen des Sultans, die Regierung in Ankara im Namen der Türkischen Nation.“67 Die Unterzeichnung des Friedensvertrags von Sèvres vom 10. August 1920 durch die Istanbuler Regierung, der die Aufteilung des Reiches unter die Besatzungsmächte vorsah, wurde als Vaterlandsverrat aufgefasst und führte schließlich zur, von der Regierung in Ankara und Mustafa Kemal organisierten, Verteidigung Anatoliens gegen die Besatzung. Der Freiheitskrieg führte zum Zusammenbruch der griechischen Front und zur Befreiung Anatoliens und schließlich am 11.10.1922 zum Waffenstillstandsprotokoll in Mudania.68 Im Anschluss überschlugen sich die politischen Ereignisse. Die Einladung zur Friedenskonferenz in Lausanne erging sowohl an die Istanbuler als auch an die Ankaraner Regierung.69 Die Regierung in Ankara fasste daraufhin am 13.10.1922 folgenden Beschluss:70 „Das Osmanische Reich ist untergegangen, und die Große Nationalversammlung der Türkei hat sich konstituiert; die neue Regierung der Türkei ist an die Stelle des Osmanischen Reichs getreten und innerhalb seiner nationalen Grenzen sein neuer Erbe geworden; da durch das Verfassungsgesetz (sc. von 1921)[71] der Nation selbst das Herrschaftsrecht gegeben worden ist, ist das Sultanat in Istanbul nicht mehr vorhanden und gehört der Geschichte an; in Istanbul befindet sich keine legitime Regierung; Istanbul und seine Umgebung gehören der Großen Nationalversammlung; deshalb werden die dortigen Verwaltungsgeschäfte den Beamten der Großen Nationalversammlung anvertraut; das Amt des Kalifen, das zu den legitimen Rechten der türkischen Regierung gehört, wird aus den Händen der Ausländer, in deren Macht es sich befindet, befreit werden.“72

Kurz im Anschluss an den oben zitierten Beschluss erließ die Regierung in Ankara das Gesetz vom 01. / 02.11.1922, dessen wesentliche Teile folgendermaßen lauten:73 „1. Dadurch, daß das türkische Volk mit dem Verfassungsgesetz (sc. von 1921) beschlossen hat, daß seine Souveränitäts- und Herrschaftsrechte unverzichtbar, unteilbar und unübertragbar in der juristischen Persönlichkeit seiner echten Reprä67  Hirsch,

Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 26. Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 26. 69  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 26. 70  Vgl. Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 26; amtlicher Text in: Düstur, Serie III, Bd. 3, S. 149, zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 26. Fn. 8. 71  Gemeint ist Verfassungsgesetz Nr. 85 v. 20.01.1921, in arabischen Schriftzeichen veröffentlicht in: RG v. 07.02.1921, Nr. 1; Düstur, Serie III, Bd. 1, 2. Aufl. (1953), Nr. 208, S. 138–140. 72  Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 27. 73  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 27. 68  s.  Hirsch,



II. Die verfassungsrechtliche Entwicklung 201 sentantin, der Türkischen Großen Nationalversammlung, ihre Trägerschaft (wörtlich: Repräsentation) und ihre tatsächliche Ausübung finden und daß es keine Macht und keinen Ausschuß anerkennt, der nicht dem auf dem Willen der Nation beruht, erkennt es innerhalb der Grenzen des Nationalpaktes keine andere Regierungsform an, als die Regierung der Großen Türkischen Nationalversammlung. Deswegen hat das türkische Volk die auf die Souveränität einer Person gegründete Regierungsform in Istanbul seit dem 16. März 1336 (1920)10[74] als für immer der Geschichte angehörend betrachtet. 2. Das Kalifat steht der Dynastie des Hauses Osman zu. Zum Amt des Kalifen wird das an Wissen und Charakter stärkste und beste Mitglied der Dynastie von der Türkischen Großen Nationalversammlung gewählt. Der türkische Staat ist die Stütze des Kalifats.“75

Nach diesen Rechtsakten der Ankaraner Regierung trat die Regierung in Istanbul zurück, Sultan Mehmed VI. flüchtete am 17.11.1922 an Bord eines englischen Kriegsschiffs, was dazu führte, dass nunmehr die Große Türkische Nationalversammlung in Ankara die international anerkannte alleinige legitime Repräsentantin des türkischen Staates war.76 Auf der Friedenskonferenz in Lausanne war die Ankaraner Regierung alleiniger Verhandlungspartner und konnte den Friedensvertrag von Lausanne vom 23.07.1923 zu Gunsten der Türkei entscheiden.77 Die formelle Verkündung der Republik Türkei erfolgte erst im Anschluss an die Unterzeichnung des Friedensvertrages von Lausanne am 29.10.1923 durch das „Gesetz betreffend die Änderung einiger Bestimmungen des Verfassungsgesetzes [Gemeint ist die OVerf v. 1921] erläuterungshalber“.78

74  An diesem Tag wurden der Sultan und seine Regierung durch die Besetzung Istanbuls faktisch zum Gefangenen. Die Regierung leitete die Regierungsgeschäfte zwar äußerlich im Namen des Sultans, tatsächlich war sie eine Marionette der Besatzungsmächte, so Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 27, Fn. 10. 75  Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 27; amtlicher Text in: Düstur, Serie III, Bd. 3, S. 152, 153, zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 27, Fn. 9. 76  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 27. 77  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 27, 29. 78  Vgl. Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 29; Gesetz Nr. 364 v. 29.10.1923, amtlicher Text in lateinischen Schriftzeichen in: Düstur, Serie III, Bd. 5, 2. Aufl. (1948), Nr. 32, S. 158; Übersetzung des Gesetz Nr. 364 nachzulesen bei Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 208; Berkes, The Development of Secularism in Turkey, 1998, S. 432–346; Faroqhi, Geschichte des Osmanischen Reiches, 2006, S. 101; Rumpf, Einführung in das türkische Recht, 2004, S. 25, Rn. 5; Scheinhardt, Die religiöse Lage in der Türkei, 1986, S. 35; Jung, Die Rache der Janitscharen, Orient, 1999, Heft 2, S. 211 (221 ff.).

202

D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

b) Die Entwicklung des Laizismus nach Verkündung der Republik Nach formeller Verkündung der Republik wurde damit begonnen, eine den neuen Bedingungen entsprechende Verfassung vorzubereiten.79 Die Gründung eines neuen, nicht auf theokratisch-dynastischer Grundlage, sondern auf der Volkssouveränität ruhenden Regimes außerhalb der Kader der theokratischen Monarchie wurde zu einer Notwendigkeit.80 Gleichwohl wurde zunächst im verfassungsändernden Gesetz vom 29.10.1923 eingeführt: „Die Religion des Türkischen Staates ist der Islam.“81

In Vorbereitung auf die neue Verfassung wurde im März und April des Jahres 1924 ein Bündel von Reformgesetzen erlassen: Das seit 1920 bestehende Ministerium für Religions- und Stiftungsangelegenheiten (Şer’iye ve Evkaf Vekâleti) wurde per §§ 1, 2 Gesetz Nr. 429 vom 03.03.1924 aufgelöst.82 An seiner Statt wurde das Direktorium für Religionsangelegenheiten (Diyanet İşleri Reisliği) gegründet.83 Durch Gesetz Nr. 430 vom 03.03.1924 wurden sämtliche religiöse Bildungseinrichtungen einheitlich dem Bildungsministerium zugeordnet (Vereinheitlichung des Unterrichtswesens).84 Schließlich wurden durch Gesetz Nr. 431 vom 03.03.1924 das Kalifat85 und durch Gesetz Nr. 469 vom 04.04.1924 die Schariagerichte86 abgeschafft. 79  s.  Hirsch,

Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 29, 30. Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 28. 81  Art. 2 S. 1 Gesetz Nr. 364, amtlicher Text in lateinischen Schriftzeichen in: Düstur, Serie III, Bd. 5, 2. Aufl. (1948), Nr. 32, S. 158, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 208; sofern im Folgenden Gesetz Nr. 364 in deutscher Übersetzung zitiert wird, folgt dies der Übersetzung bei Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 208. 82  Gesetz Nr. 429 v. 03.03.1924, amtlicher Text in arabischen Schriftzeichen in: RG v. 06.03.1924, Nr. 63, amtlicher Text in lateinischen Schriftzeichen in: Düstur, Serie III, Bd. 5, 2. Aufl. (1948), Nr. 146, S. 320–321. 83  Vgl. §§ 1, 2 Gesetz Nr. 429 v. 03.03.1924, amtlicher Text in lateinischen Schriftzeichen in: Düstur, Serie III, Bd. 5, 2. Aufl. (1948), Nr. 146, S. 320–321. Neun Jahre später folgt die Revision der Struktur und Aufgaben des Direktoriums für Religionsangelegenheiten, vgl. Gesetz Nr. 2800 v. 14 Juli 1935, amtlicher Text in lateinischen Schriftzeichen in: Düstur, Serie III, Bd. 16, 1935, Nr. 270, S. 1501–1504. 84  Vgl. Gesetz Nr. 430 über die Vereinheitlichung des Bildungswesens, amt­licher Text in arabischen Schriftzeichen in: RG v. 06.03.1924, Nr. 63, amtlicher Text in lateinischen Schriftzeichen in: Düstur, Serie III, Bd. 5, 2. Aufl. (1948), Nr. 147, S. 322. 85  Vgl. Gesetz Nr. 431 über die Auflösung des Kalifat, amtlicher Text arabischen Schriftzeichen verkündet in: RG v. 06.03.1924, Nr. 63, in lateinischen Schriftzeichen veröffentlicht in: Düstur, Serie III, Bd. 5, 2. Aufl. (1948), Nr. 148, S. 323– 324. 86  Vgl. Gesetz Nr. 469 über die Auflösung der Scheriatsgerichte und die Ordnung der Gerichtsbarkeit, amtlicher Text in arabischen Schriftzeichen in: RG 80  s.  Hirsch,



II. Die verfassungsrechtliche Entwicklung 203

c) Die Entwicklung des Laizismus unter der TVerf v. 1924  87 Durch Gesetz Nr. 49188 vom 20.04.1924 wurde die erste neue Verfassung der Republik Türkei verkündet, dessen Geist als demokratisch gilt.89 Sie besteht aus 6 Abschnitten (Grundbestimmungen, Gesetzgebung, Die Executive, Die rechtsprechende Gewalt, Die Grundrechte der Türken, verschiedene Bestimmungen) und insgesamt 105 Artikeln. Sie hob die OVerf v. 1876 und die OVerf v. 1921 gem. Art. 104 TVerf v. 1924 auf.90 Die neue Verfassung sollte die Mängel und Lücken der OVerf v. 1921 beseitigen, einige durch frühere Beschlüsse der Großen Nationalversammlung getroffenen Entscheidungen zum Verfassungstext erheben und aus der OVerf v. 1876 den Abschnitt über die Grundrechte in einer den neuen Verhältnissen entsprechenden Form übernehmen.91 Gemäß Art. 2 blieb der Islam auch unter der TVerf v. 1924 zunächst Staatsreligion des türkischen Staates: „Die Religion des Türkischen Staates ist der Islam.“92 26.04.1924, Nr. 69, amtlicher Text in lateinischen Schriftzeichen in: Düstur, Serie III, Bd. 5, 2. Aufl. (1948), Nr. 189, S. 403–404. 87  Sofern im Folgenden die TVerf v. 1924 zitiert wird, folgt dies der Übersetzung bei Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 209–219. 88  Gesetz Nr. 491 über die Verfassung v. 20.04.1924, amtlicher Text in arabischen Schriftzeichen in: RG v. 24.05.1924, Nr. 71, amtlicher Text in seiner zuletzt geänderten Fassung in lateinischer Schrift in: Düstur, Serie III, Bd. 5, 2. Aufl. (1948), Nr. 215, S. 576–858; Abänderungsgesetz Nr. 1222 v. 10.04.1928, amtlicher Text in arabischen Schriftzeichen in: RG v. 14.04.1928, Nr. 863, amtlicher Text in lateinischen Schriftzeichen in: Düstur, Serie III, Bd. 9, 1931, S. 273; Abänderungsgesetz Nr. 1893 v. 10.12.1931, amtlicher Text in: RG v. 15.12.1931, Nr. 1976, veröffentlicht in: Düstur, Serie III, Bd. 13, 1932, S. 25; Abänderungsgesetz Nr. 2599 v. 05.12.1934, verkündet in: RG v. 11.12.1934, Nr. 2877, S. 4521, veröffentlicht in: Düstur, Serie III, Bd. 16, 1938, S. 36; Abänderungsgesetz Nr. 3115 v. 05.02.1937, verkündet in: RG v. 13.02.1937, Nr. 3533, veröffentlicht in: Düstur, Serie III, Bd. 18, 1937, S. 307; Abänderungsgesetz Nr. 3272 v. 29.11.1937, verkündet in: RG v. 01.12.1937, Nr. 3773, S. 9019, veröffentlicht in: Düstur, Serie III, Bd. 19, 1938, S. 38; Gesetz Nr. 4695, v. 10.01.1945, verkündet in: RG v. 15.01.1945, Nr. 59205; Gesetz Nr. 5997 v. 24.12.1952, verkündet in: RG v. 31.12.1952, Nr. 8297; vgl. auch Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 209. 89  So Özbudun, The Constitutional System of Turkey, 2011, S. 8. 90  „Das Grundgesetz von 1293 (1876) mit seinen Abänderungen und das Verfassungsgesetz vom 20. Januar 1337 (1921) und seine Abänderungen und Ergänzungen sind aufgehoben.“, Art. 104 TVerf v. 1924, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 219. 91  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 30. 92  Art. 2 S. 1 TVerf v. 1924 a.  F., amtlicher Text in: Düstur, Serie III, Bd. 5, 2. Aufl. (1948), Nr. 215, S. 576 (576), Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 209, Fn. 2.

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

Die Abgeordneten und der Staatspräsident wurden religiös mit „bei Gott“ (vallahi) vereidigt.93 Das aktive und passive Wahlrecht stand ausschließlich Männern zu.94 Und das Parlament war noch immer für die Inkraftsetzung der Scharia zuständig.95 Ungeachtet der islamischen Staatsreligion waren nach Art. 69 TVerf v. 1924 alle Türken vor dem Gesetz gleichgestellt und genossen gem. Art. 70 TVerf v. 1924 Gewissensfreiheit: „Die Türken sind vor dem Gesetz gleich und ohne Ausnahme verpflichtet, das Gesetz zu befolgen. Alle Vorrechte von Gruppen, Klassen, Familien und Personen sind abgeschafft und verboten.“96 „Unverletzlichkeit der Person, die Gewissens-, Gedanken-, Rede-, Meinungs-, Reise-, Vertrags-, Betätigungs-, Eigentumserwerbs-, Verfügungs-, Versammlungs-, Vereins- und Vereinigungsrechte und- freiheiten sind natürliche Rechte der Türken.“97

Die Gewährleistung der Religionsfreiheit erfolgte gem. Art. 75 TVerf v. 1924, der folgendermaßen lautet: „Niemandem dürfen wegen seiner weltanschaulichen Überzeugung, wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Religion, [einem Orden98] oder einer Konfession Vorhaltungen gemacht werden. Die Ausübung des Gottesdienstes jeder Art ist frei, soweit sie nicht gegen die öffentliche Ordnung, die guten Sitten und die gesetzlichen Vorschriften verstößt.“99

Eine weitere Gleichstellung erfolgt nach Art. 88 Abs. 1 TVerf v. 1924. Nach dieser Regelung sind die Einwohner der Türkei ohne Ansehung der Religion Türken im Sinne der Staatsangehörigkeit: 93  s. Art. 16, 38 TVerf v. 1924 a. F., amtlicher Text in: Düstur, Serie III, Bd. 5, 2. Aufl. (1948), Nr. 215, S. 576 (577, 579), Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 210, Fn. 6, S. 212, Fn. 8. 94  s. Art. 10, 11 TVerf v. 1924 a. F., amtlicher Text in: Düstur, Serie III, Bd. 5, 2. Aufl. (1948), Nr. 215, S. 576 (576), Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 210, Fn. 3. 95  Vgl. Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 211, Fn. 7. 96  Art. 69 TVerf v. 1924, amtlicher Text in: Düstur, Serie III, Bd. 5, 2. Aufl. (1948), Nr. 215, S. 576 (582), Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 216. 97  Art. 70 TVerf v. 1924, amtlicher Text in: Düstur, Serie III, Bd. 5, 2. Aufl. (1948), Nr. 215, S. 576 (582), Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 216. 98  Orden wurden später durch Gesetz Nr. 677 v. 30.11.1925 aufgelöst und verboten, die Zugehörigkeit zu diesen wurde in Folge dessen aus dem Schutzbereich des Art. 75 TVerf v. 1924 durch Gesetz Nr. 3115 herausgenommen, vgl. Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 219 mit Fn. 17. 99  Art. 75 TVerf v. 1924 n.  F., zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 216.



II. Die verfassungsrechtliche Entwicklung 205 „Die Einwohner der Türkei heißen ohne Ansehung der Religion und Rasse „Türken“ im Sinne der Staatsangehörigkeit.“100

Diese oben skizzierte verfassungsimmanente Spannung zwischen Staatsreligion und Säkularisation erklärt sich durch den Zwiespalt, auf der einen Seite Staat und Religion trennen zu wollen, auf der anderen Seite mithilfe der Staatsreligion die nationale Einheit sicherstellen zu wollen.101 Mustafa Kemal habe erkannt, dass dem Islam im Zuge der Bildung des Nationalstaates eine einheitsstiftende Wirkung gegen die Invasoren zukomme und appellierte an die gemeinsame religiöse Identität.102 Unter Beibehaltung der islamischen Staatsreligion gem. Art. 2 TVerf v. 1924 kommt es in den folgenden Jahren zu einer staatlich verordneten Abkehr von der islamisch geprägten Kultur (Kulturrevolution). 1925 wurde der „westliche“ Hut gesetzlich zur öffent­ lichen Kopfbekleidung erklärt (sog. Hutgesetz).103 Religiöse Orden, Kloster und Sekten und damit einhergehend auch das Scheichtum, Derwischtum, Jüngertum, Mönchtum, Kalifentum, die Wahrsagerei, die Hexerei usw. wurden 1925 verboten.104 Im selben Jahr wurde die bis dahin angewandte islamische Zeitrechnung durch den gregorianischen Kalender ersetzt.105 1926 wurde mit der Einführung des neuen Zivilrechts das traditionell-religiöse Recht durch das säkulare Zivilrecht ersetzt.106 Dies führte insbesondere zur Stär100  Art. 88 Abs. 1 TVerf v. 1924, amtlicher Text in: Düstur, Serie III, Bd. 5, 2. Aufl. (1948), Nr. 215, S. 576 (584), Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 217. 101  Vgl. Dinçkol, 1982 Anayasası Çerçevesinde ve Anayasa Mahkemesi Kararlarında Laiklik (Der Laizismus im Rahmen der Verfassung von 1982 und den Entscheidungen des Verfassungsgerichts), 1991, S. 35. 102  s.  Tank, Political Islam in Turkey, A state of controlled secularity, in: Rubin (Hrsg.), Political Islam, 2007, S. 285 (287, 288). 103  Vgl. § 1 Gesetz Nr. 671 v. 25.11.1925, amtlicher Text in arabischen Schriftzeichen in: RG v. 28.11.1929, Nr. 230, veröffentlicht in lateinische Schriftzeichen in: Düstur, Serie III, Bd. 7, 2. Aufl. (1944), Nr. 31, S. 108 (108); ein Verstoß wurde unter Strafe gestellt, vgl. § 526 Abs. 2 Gesetz Nr. 4055 v. 02.06.1941, verkündet in: RG v. 06.06.1941, Nr. 4827, S. 1125–1126, veröffentlicht in: Düstur, Serie III, Bd. 22, 1941, Nr. 270, S. 1296 (1298). 104  Vgl. § 1 Gesetz Nr. 677 v. 30.11.1925, verkündet in arabischen Schriftzeichen in: RG v. 13.12.1952, Nr. 243, veröffentlicht in lateinischen Schriftzeichen in: Düstur, Serie III, Bd. 7, 2. Aufl. (1944), Nr. 42, S. 113 (113). 105  Im Wortlaut des Gesetzes ist nicht vom gregorianischen Kalender, sondern vom „internationalen“ Kalender die Rede, vgl. § 1 Gesetz Nr. 698 v. 26.12.1925, verkündet in arabischen Schriftzeichen in: RG v. 02.01,1926, Nr. 260, veröffentlicht in lateinischen Schriftzeichen in: Düstur, Serie III, Bd. 7, 2. Aufl. (1944), Nr. 75, S. 159 (159). 106  s. Gesetz Nr. 743 v. 17.02.1926, verkündet in: RG v. 04.04.1926, Nr. 339, veröffentlicht in: Düstur, Serie III, Bd. 7, 2. Aufl. (1944), S. 237–403, aufgehoben durch § 1028 Gesetz Nr. 4721 (türkisches Zivilgesetzbuch) v. 22.11.2001, RG v. 08.12.2001, Nr. 24607.

206

D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

kung und zum Schutz der Frauenrechte.107 Die regelmäßige Ehefähigkeit von Mädchen wurde auf 17, das von Jungen auf 18 Jahre festgesetzt.108 Die der standesamtlichen Ehe vorgelagerte religiöse Eheschließung wurde verboten109 und das neue Handels- und Strafgesetz eingeführt.110 Zwecks Durchführung einer vollständigen Säkularisierung wurde schließlich die TVerf v. 1924 abgeändert.111 Die Staatsreligion wurde abgeschafft. Der Art. 2 TVerf v. 1924 lautet nunmehr: „Die Amtssprache des türkischen Staates ist Türkisch; seine Hauptstadt ist die Stadt Ankara.“112

Mit der Abänderung des Art. 26 TVerf v. 1924 wurde die Zuständigkeit des Parlaments zur Inkraftsetzung des Schariatsbestimmungen abgeschafft.113 Die Parlamentarier sowie der Staatspräsident wurden nicht mehr religiös mit „vallahi“ (bei Gott) vereidigt, sondern mit: „Ich schwöre bei meiner Ehre, daß (…).“114

Über die Verfassungsänderung hinaus gab es weitere einfachgesetzliche Reformen, die sich als eine Abkehr von der islamisch geprägten Tradition darstellen: Das arabische Alphabet wurde durch das lateinische ersetzt,115 107  Vgl. Dinçkol, 1982 Anayasası Çerçevesinde ve Anayasa Mahkemesi Kararlarında Laiklik (Der Laizismus im Rahmen der Verfassung von 1982 und den Entscheidungen des Verfassungsgerichts), 1992, S. 35, Fn. 187. 108  Vgl. § 88 Gesetz Nr. 743 in seiner zuletzt geänderten Fassung durch Gesetz Nr. 3453 v. 15.06.1938, verkündet in: RG v. 28.06.1938, Nr. 3945, S. 10112, veröffentlicht in: Düstur, Serie III, Bd. 7, 2. Aufl. (1944), Nr. 137, S. 237 (250). 109  s. § 110 S. 2 Gesetz Nr. 743, in: Düstur, Serie III, Bd. 7, 2. Aufl. (1944), Nr. 137, S. 237 (254). Dieses Verbot gilt bis heute und wird als sog. Reformgesetz in Art. 174 der TVerf v. 1982 von der Ewigkeitsklausel erfasst. 110  Vgl. Gesetz Nr. 765 in: Düstur, Serie III, Bd. 7, 2. Aufl. (1944), S. 519; Gesetz Nr. 865 in: Düstur, Serie III, Bd. 7, 2. Aufl. (1944), S. 1217. 111  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 30. 112  Art. 2 TVerf v. 1924 in seiner durch Gesetz Nr. 1222 v. 10.04.1928 geänderten Fassung, verkündet in arabischen Schriftzeichen in: RG v. 14.04.1928, Nr. 863, veröffentlicht in lateinischen Schriftzeichen in: Düstur, Serie III, Bd. 9, 1931, Nr. 90, S. 273 (273), Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 209. 113  Vgl. § 1, 2 Gesetz Nr. 1222 v. 10.04.1928, verkündet in arabischen Schriftzeichen in: RG v. 14.04.1928, Nr. 863, veröffentlicht in lateinischen Schriftzeichen in: Düstur, Serie III, Bd. 9, 1931, Nr. 90, S. 273 (273). 114  Art. 16 und 38 TVerf v. 1924 n. F., geändert durch § 1 Gesetz Nr. 1222 v. 10.04.1928, verkündet in arabischen Schriftzeichen in: RG v. 14.04.1928, Nr. 863, veröffentlicht in lateinischen Schriftzeichen in: Düstur, Serie III, Bd. 9, 2. Aufl. (1948), Nr. 73, S. 141 (141), Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 210, 212. 115  Vgl. Gesetz Nr. 1353 v. 01.11.1928, verkündet in arabischen Schriftzeichen in: RG 03.01.1928, Nr. 1030, veröffentlicht in lateinischen Schriftzeichen in: Düstur, Serie III, Bd. 10, 1934, Nr. 1, S. 3–6.



II. Die verfassungsrechtliche Entwicklung 207

1934 wurde das aktive und passive Wahlrecht für Frauen eingeführt,116 statt des Freitags war nunmehr der Sonntag allgemeiner Ruhetag,117 der Gebetsruf in arabischer Sprache wurde verboten und unter Strafe gestellt.118 Es folgte die Umwidmung der Hagia Sophia zu einen Museum.119 Seinen vorerst abschließenden Höhepunkt fand dieser Säkularisationsprozess schließlich im Jahre 1937 als der Artikel über die Staatsprinzipien geändert wurde: „Der türkische Staat ist republikanisch, nationalistisch, volksverbunden, interventionistisch, laizistisch und revolutionär. Seine Amtssprache ist Türkisch. Seine Hauptstadt ist Ankara.“120

Die Aufnahme des Laizismus in Art. 2 S. 1 TVerf v. 1924 erfolgte aus sozialen und historischen Gründen.121 Der Laizismus als Prinzip sei für die Türkei keine theoretische Formel oder Produkt abstrakter geistiger Spekulation, sondern ein aus der Praxis abgeleiteter Grundsatz, dessen günstige Auswirkung durch Beobachtung und Erfahrung gewonnen sei.122 d) Die Entwicklung des Laizismus nach 1945 bis 1961 Mit dem Übergang zum Mehrparteiensystem im Jahre 1945 fand infolge der Vervielfältigung der politischen Landschaft eine erste Lockerung gegenüber dem Islam statt.123 Nach Jahren der „Verbannung“ des Islams aus dem 116  Vgl. Gesetz Nr. 2599 über die Änderung der Artikel 10 und 11 der Verfassung v. 05.12.1934, verkündet in: RG v. 08.12.1934, Nr. 2877, veröffentlicht in: Düstur, Serie III, Bd. 16, Nr. 15, S. 36 (36). 117  Vgl. § 3 S. 1 Gesetz Nr. 2739 über die nationalen Feiertage und die allgemeinen Ferien v. 27.05.1935, verkündet in: RG v. 01.06.1935, Nr. 3017, veröffentlicht in: Düstur, Serie III, Bd. 16, 1935, Nr. 207, S. 1171 (1171). 118  Vgl.§  526 Abs. 2 Gesetz Nr. 4055 v. 02.06.1941, verkündet in: RG v. 06.06.1941, Nr. 4827, S. 1125–1126, veröffentlicht in: Düstur, Serie III, Bd. 22, 1941, Nr. 270, S. 1296 (1298). 119  Vgl. Kabinettsbeschluss v. 24.11.1934, zitiert nach Jäschke, Die Türkei in den Jahren 1935–1941, 1943, S. 2. 120  Art. 2 TVerf v. 1924 in seiner durch § 1 Gesetz Nr. 3115 v. 05.02.1937 geänderten Fassung, verkündet in: RG v. 13.02.1937, Nr. 3533, S. 7659, veröffentlicht in: Düstur, Serie III, Bd. 18, 2. Aufl. (1956), Nr. 67, S. 95 (95), Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 209. 121  So Abadan, Die Entstehung der Türkei und ihre verfassungsrechtliche Entwicklung bis 1960, in: JöR, 1960, Bd. 9, S. 353 (379, 380). 122  s.  Abadan, Die Entstehung der Türkei und ihre verfassungsrechtliche Entwicklung bis 1960, in: JöR, 1960, Bd. 9, S. 353 (380). 123  Vgl. Dinçkol, 1982 Anayasası Çerçevesinde ve Anayasa Mahkemesi Kararlarında Laiklik (Der Laizismus im Rahmen der Verfassung von 1982 und den Entscheidungen des Verfassungsgerichts), 1991, S. 37; Tank, Political Islam in Tur-

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öffentlichen Raum kam es zur „islamischen Renaissance“.124 Von den insgesamt 24 Parteien machten sich acht den Islam zum politischen Thema.125 Die bislang allein regierende CHP sah sich politisch gezwungen, ihre streng laizistische Haltung in Teilen aufzugeben und beschloss auf ihrem 7. Parteikongress eine Liberalisierung ihres Laizismus.126 Es stellte sich die Erkenntnis ein, dass infolge der zahlreichen Verbote der Bedarf an gut ausgebildeten Religionsgelehrten und Imamen nicht gedeckt werden könne127 und in diesem religiösen „Vakuum“ die Zahl der schlechten „illegalen“ Prediger zunahm.128 Mit dem Ziel der Verbesserung der religiösen Lage wurde die Höhe der Belegschaft für die Theologische Fakultät gesetzlich geregelt129 und der freiwillige Religionsunterricht eingeführt130. Die Todesstrafe für religiös motivierte Handlungen, die sich gegen die laizistische Staatsordnung richten, wurde durch Änderung des Strafgesetzbuches in eine Freiheitsstrafe umgewandelt.131 Die 1925 angeordnete Schließung religiöser Grabmäler wurde gelockert: der Zutritt für die Allgemeinheit wurde nunkey, A state of controlled secularity in: Rubin (Hrsg.), Political Islam, 2007, S. 285 (289); Seufert, Politischer Islam in der Türkei, 1997, S. 267. 124  s.  Spuler-Stegemann, Die Türkei, in: Ende / Steinbach (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart, 5. Aufl. (2005), S. 229 (234). 125  s.  Toprak, Islam and Democracy in Turkey, in: Rubin (Hrsg.), Political Islam, 2007, S. 323 (328). 126  s.  Tarhanlı, Müslüman Toplum Laik Devlet (Muslimische Gesellschaft laizistischer Staat), 1993, S. 23; Dinçkol, 1982 Anayasası Çerçevesinde ve Anayasa Mahkemesi Kararlarında Laiklik (Der Laizismus im Rahmen der Verfassung von 1982 und der Entscheidungen des Verfassungsgerichts), 1991, S. 37; ausführlich zur politischen Einordnung der CHP s. Oehring, Die Türkei im Spannungsfeld extremer Ideologien, 1984, S. 121–131. 127  s.  Dinçkol, 1982 Anayasası Çerçevesinde ve Anayasa Mahkemesi Kararlarında Laiklik (Der Laizismus im Rahmen der Verfassung von 1982 und den Entscheidungen des Verfassungsgerichts), 1991, S. 37, Fn. 198. So sprach der Abgeordnete M. Tuncer in diesem Zusammenhang: „Wir müssen kundige und zugleich patriotische Geistliche heranbilden.“ Der Abgeordnete Fenik äußerte sich in ähnlicher Weise: „Wir müssen die Religion in geordnete Bahnen lenken.“, zitiert nach Jäschke, Die Türkei in den Jahren 1942–1951, 1955, S. 82. 128  s.  Prätor, Türkische Freitagspredigten, 1985, S. 6. 129  s. Gesetz Nr. 5424 v. 04.06.1949, in: Düstur, Serie III, Bd. 30, 1949, Nr. 222, S. 1205–1208: „Die Theologische Fakultät kann niemals eine Einrichtung zur religiösen Beeinflussung sein, sondern nur ein Lehrinstitut, das in objektiver Weise die historische, soziologische und gedankliche Entwicklung aller Religionen erforscht.“ So Yavuz Abadan, zitiert nach Jäschke Die Türkei in den Jahren 1941–1951, 1955, S. 104. 130  Zitiert nach Tarhanlı, Müslüman Toplum Laik Devlet (Muslimische Gesellschaft laizistischer Staat), 1993, S. 23. 131  s. § 1 Nr. 5435 v. 10.06.1949, verkündet in: RG v. 16.06.1949, Nr. 7234, S. 16382, veröffentlicht in: Düstur, Serie III, Bd. 30, 1949, Nr. 234, S. 1431 (1434).



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mehr vom Bildungsministerium erlaubt, sofern es sich um kulturell bedeutsame Grabmäler von türkischen Persönlichkeiten handelte.132 Ungeachtet dieser Liberalisierungsinitiativen verlor die CHP die Wahlen. Wahlsieger 1950 war die unter Führung von Celal Bayar und Adnan Menderes durch Abspaltung von der CHP entstandene DP.133 Die DP versprach die restlose Verwirklichung der Demokratie nach westlichem Vorbild und eine Milderung des starren Laizismus durch Förderung der islamischen Religionseinrichtungen.134 Mit der Regierungsübernahme durch die DP kam es zu weiteren Lockerungen in der Islampolitik.135 Der neue Ministerpräsident Adnan Menderes sprach nach der gewonnen Wahl v. 14.05.1950: „Kemal Atatürk beseitigte im Kampf gegen den Fanatismus den arabischen Gebetsruf. Dieses Verbot ist nicht mehr nötig. Im Gegenteil, es widerspricht der Gewissensfreiheit. (…) Die Freiheit der Türkei begann mit der Revolution vom 14.05. [gemeint ist der Wahlsieg der DP] über die das Volk außer einer sehr kleinen Minderheit glücklich ist.“136

Die DP ermutigte und förderte unter dem „Deckmantel“ der Religion die Bestrebungen und Bewegungen, die auf eine Beseitigung der sog. laizistischen Reformen gerichtet waren.137 Es wurde versucht, die große Sprachreform Mustafa Kemals (Einführung des lateinischen Alphabets) rückgängig zu machen und, als äußeres Zeichen dieser reaktionären Entwicklung, den ursprünglich in arabischen Schriftzeichen gefassten Text der TVerf v. 1924 im Jahre 1952 wieder herzustellen.138 Das strafrechtliche Verbot des arabischen Gebetsrufes wurde aufgehoben.139 Der freiwillige Religionsunterricht an staatlichen Schulen wurde obligatorisch, sofern keine Befreiung beantragt wurde.140 In dem entsprechenden Ministerratsbeschluss heißt es: 132  Vgl. § 1 Gesetz Nr. 5566 v. 01.03.1950, veröffentlich in: RG v. 04.03.1950, Nr. 7448, veröffentlich in: Düstur, Serie III, Bd. 31, 1950, Nr. 157, S. 1612–1613. 133  s.  Scheinhardt, Die religiöse Lage in der Türkei, 1986, S. 54; Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 31; ausführlich zur politischen Einordnung der DP s. Oehring, Die Türkei im Spannungsfeld extremer Ideologien, 1984, S. 187–189. 134  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 31. 135  s.  Prätor, Türkische Freitagspredigten, 1985, S. 7. 136  Zitiert nach Jäschke, Die Türkei in den Jahren 1942–1951, 1955, S. 122, 131. 137  So Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 31. 138  Vgl. Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 31; § 1 Gesetz Nr. 5997 über die Wiederinkraftsetzung des Gesetz Nr. 491 über die Verfassung v. 24.12.1952, verkündet in RG v. 31.12.1952, Nr. 8297, S. 5217. 139  s.  § 1 Gesetz Nr. 5665 v. 16.06.1950, verkündet in: RG v. 17.06.1950, Nr. 7535, S. 18633, veröffentlicht in: Düstur, Serie III, Bd. 31, 1950, Nr. 291, S. 2116. 140  Vgl. Ministerratsbeschluss Nr. 3  / 12018 v. 04.11.1950, verkündet in: RG v. 25.12.1950, Nr. 7691, S. 285.

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„Kinder, deren Eltern gegenüber der Schulverwaltung zu Beginn des Jahres mitteilen, dass sie ihre Kinder nicht am Religionsunterricht teilnehmen lassen möchte, werden von diesem Unterricht und den Prüfungen freigestellt.“141

Obgleich der oben beschriebenen Islampolitik stieg die Anzahl religiöser Vereinigungen, politischer Parteien und religiös motivierter Ausschreitungen.142 Die Zuspitzung der Gesamtsituation, die Verhängung des Ausnahmezustands und die Erschießung protestierender Studenten führten schließlich am 27.05.1960 zum Putsch des Militärs.143 Das Militär löste das Parlament auf, verhaftete Minister und sämtliche Abgeordnete der Regierungspartei.144 Das am 12.06.1960 eingerichtete Komitee der Nationalen Einheit übernahm die gesamte Regierungsgewalt bis zur Annahme der neuen Verfassung und des Wahlgesetzes und der Machtübertragung an die Türkische Große Nationalversammlung.145 Der Bildung des Komitees der Nationalen Einheit schloss sich die Bildung der „Verfassungsgebenden Versammlung“ an.146 Gemäß Art. 18 Abs. 1 Gesetz Nr. 157 besteht die Hauptaufgabe der Verfassungsgebenden Versammlung darin, „(…) entsprechend den im fünften und sechsten Teil enthaltenen Grundsätzen die zur Volksabstimmung zu stellende neue Verfassung zu beraten und anzunehmen (…).“147 141  s. Ziffer 5 Ministerratsbeschluss Nr. 3  /  12018 v. 04.11.1950, verkündet in: RG v. 25.12.1950, Nr. 7691, S. 285, Übersetzung der Verfasserin. 142  s.  Dinçkol, 1982 Anayasası Çerçevesinde ve Anayasa Mahkemesi Kararlarında Laiklik (Der Laizismus im Rahmen der Verfassung von 1982 und der Entscheidungen des Verfassungsgerichts), 1991, S. 38; Tarhanlı, Müslüman Toplum Laik Devlet (Muslimische Gesellschaft laizistischer Staat), 1993, S. 28, 29. 143  Vgl. Özbudun, The Constitutional System of Turkey, 2011, S. 9; Dinçkol, 1982 Anayasası Çerçevesinde ve Anayasa Mahkemesi Kararlarında Laiklik (Der Laizismus im Rahmen der Verfassung von 1982 und der Entscheidungen des Verfassungsgerichts), 1991, S. 38; Scheinhardt, Die religiöse Lage in der Türkei, 1986, S. 54; Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 31. 144  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 32. 145  Vgl. „Vorläufiges „Gesetz Nr. 1 über die Aufhebung und Abänderung einiger Bestimmungen des Verfassungsgesetzes Nr. 491 von 1924 v. 12.06.1960, verkündet in RG v. 14.06.1960, Nr. 10252, S. 1533–1534, veröffentlicht in: Düstur, Serie IV, Bd. 1 / 1, 1961, Nr. 11, S. 36–41. 146  Gesetz Nr. 157 v. 13.12.1960 über die Bildung der Verfassungsgebenden Versammlung als Ergänzung des vorläufigen Gesetzes Nr. 1 vom 14.06.1960 über die Aufhebung und Abänderung einiger Bestimmungen des Verfassungsgesetzes Nr. 491 von 1924 v. 13.12.1960, verkündet in: RG v. 16.12.1960, Nr. 10682, S. 2766–2770, veröffentlicht in: Düstur, Serie IV, Bd. 1 / 1, 1961, Nr. 209, S. 741– 754; eine Übersetzung des Gesetzes Nr. 157 in deutscher Sprache findet sich bei Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 224–234; vgl. auch Özbudun, The Constitutional System of Turkey, 2011, S. 9, 10. 147  Art. 18, Abs. 1 Gesetz Nr. 157, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 228.



II. Die verfassungsrechtliche Entwicklung 211 „Die von der Verfassungsgebenden Versammlung angenommene Verfassung nebst Wahlgesetz wird unverzüglich vom Staatspräsidenten verkündet. Den Beschluß über den Zeitpunkt, zu welchem die Verfassung zur Volksabstimmung gestellt und den politischen Parteien Propagandafreiheit hinsichtlich der Verfassung gewährt wird, faßt das Komitee der Nationalen Einheit.“148 „Die Verfassungsgebende Versammlung hat die Verfassung nebst dem Wahlgesetz bis spätestens zum 27. Mai 1961 fertigzustellen.“149

Die Durchführungsregeln zur oben zitierten und gesetzlich vorgesehenen Volksabstimmung ergeben sich aus Gesetz Nr. 283.150 Schließlich legte das Komitee der Nationalen Einheit gem. Gesetz Nr. 56 fest, dass ab dem 22.06.1961 Maßnahmen ergriffen werden können, um den Verfassungsentwurf der Bevölkerung bekannt zu machen und die Akzeptanz zu fördern und, dass der Verfassungsentwurf am 09.07.1961 zur Volksabstimmung gestellt werde.151 Die Verfassung wurde schließlich am 09.07.1961 bei einer Beteiligung von etwa 81 % der Stimmberechtigten mit einer Mehrheit von rund 62 % der Abstimmenden und einer nicht ganz 50 % betragenden Minderheit der Stimmberechtigten angenommen.152 „Nach Art. 157 der zur Volksabstimmung gestellten Verfassung wird diese, sobald sie durch die Volksabstimmung angenommen ist, zur Verfassung der Türkischen Republik und ist gemeinsam mit den Ergebnissen der Volksabstimmung unverzüglich im Amtsblatt zu veröffentlichen.“153 3. Die Entwicklung des Laizismus unter der TVerf v. 1961 a) Einleitung Die TVerf v. 1961 besteht aus der Präambel, 6 Teilen und insgesamt 157 Artikeln. Anders als noch in der TVerf v. 1924 ist der Grundrechts- und 148  Art. 32 Abs. 1 und 2 Gesetz Nr. 157, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 231. 149  Art. 34, Abs. 1, S. 1 Gesetz Nr. 157, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 232. 150  Gesetz Nr. 283 über die Volksabstimmung der Verfassung v. 28.03.1961, verkündet in RG v. 01.04.1961, Nr. 10771, S. 3749. 151  Vgl. Gesetz Nr. 56 über die Volksabstimmung der Verfassung der Republik Türkei und über das Anfangsdatum für Maßnahmen zur Bekanntmachung und Akzeptanz der Verfassung v. 20.06.1961, verkündet in RG v. 23.07.1961, Nr. 10836, S. 4433. 152  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 43. 153  Ziffer 3 Beschluss Nr. 106 des Hohen Wahlausschusses v. 19.07.1961, verkündet in RG v. 20.07.1961, Nr. 10859, S. 4654–4655, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 79,80, Fn. 3.

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Grundpflichtenteil dem Staatsorganisationsrechtlichen Teil vorgelagert.154 Dies entspricht der OVerf v. 1876 (Die allgemeinen Rechte der osmanischen Untertanen Art. 8–26). Grund für diese Vorlagerung des Grundrechtsteils liegt in der Rückbesinnung darauf, dass der Herrschaftsausübung eines Sultans oder eines Parlaments verfassungsrechtliche Schranken gesetzt werden müssen, deren Verlauf durch die Grundrechte der Bürger bestimmt werden.155 An die Stelle einer lediglich formalen Rechtsstaatlichkeit ist die materielle Rechtstaatlichkeit dahingehend getreten,156 dass Grundrechte durch einfaches Gesetz nur in einer dem Wortlaut und Geist der Verfassung entsprechenden Weise eingeschränkt werden, ohne dabei gem. Art. 11 TVerf v. 1961 den Kern (Wesensgehalt) anzutasten.157 Die Errichtung eines detaillierten Grundrechtssystems und dessen Festigung durch institutionelle Garantien war das evidenteste Merkmal der TVerf v. 1961.158 Erstmals in der osmanisch-türkischen Verfassungsgeschichte enthält der Verfassungstext eine Präambel. Wenngleich der Laizismus in der TVerf v. 1961 an Bedeutung gewann, so sei sich doch um einen Ausgleich zwischen säkularen Staatszielen und den religiösen Individualinteressen bemüht worden.159 Umstrittenster Punkt des erarbeiteten Verfassungstextes war die Formulierung zur Religionsfreiheit.160 Die Verfassungskommission legte den Laizismus streng im Sinne der kemalistischen Staatsideologie161 154  Gesetz Nr.  334 TVerf v. 09.07.1961, verkündet in RG v. 20.07.1961, Nr. 10859, S. 4641–4654, veröffentlicht in: Düstur, Serie IV, Bd. 1 / 3, 1961, Nr. 437, S. 2930–2972; sofern im Folgenden die TVerf v. 1961 a. F. in deutscher Übersetzung zitiert wird, folgt dieses der Übersetzung bei Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 79–192; sofern im Folgenden die TVerf v. 1961, geändert durch Gesetz Nr. 1488 v. 20.09.1971 in deutscher Übersetzung zitiert wird, folgt dieses der Übersetzung bei Hirsch, Verfassungsänderung in der Türkei 1971, 1973. 155  So Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 44. 156  So Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 47. 157  „Die Grundrechte und -freiheiten dürfen allein durch Gesetz und nur nach Maßgabe des Wortlautes und Sinnes der Verfassung eingeschränkt werden. Ein Gesetz darf ein Recht oder eine Freiheit in ihrem Kern nicht antasten, selbst nicht im Hinblick auf das öffentliche Wohl, die allgemeinen Sitten, die öffentliche Ordnung, die soziale Gerechtigkeit, die nationale Sicherheit oder aus ähnlichen Gründen.“, Art. 11 Abs. 1 u. 2 TVerf v. 1961, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 91. 158  s.  Sabuncu, Grundrechte und -freiheiten in der türkischen Verfassung, in: ZfTS, 1989, 2. Jahrg. Heft 1, S. 35 (36). 159  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (185). 160  So Tarhanlı, Müslüman Toplum Laik Devlet (Muslimische Gesellschaft laizistischer Staat), 1993, S. 29. 161  Die Ideen und Prinzipien Mustafa Kemals werden unter dem Begriff Kemalismus zusammengefasst und ist zugleich die offizielle Staatsideologie der Türkei,



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aus, wohingegen die Konservativen im Parlament eine strikte Trennung von Staat und Religion nach westlichem Vorbild (ohne die Einmischung des Staates in die Religion, wohl aber eine strukturelle Unterstützung für die Religion) forderten.162 Im Folgenden werden die verfassungsrechtlichen Normen mit Berührungspunkten zum Laizismus kurz skizziert, um den verfassungsrechtlichen Entwicklungsprozess des Laizismus nachzeichnen zu können.163 b) Präambel Die Präambel enthält in Abs. 4 TVerf v. 1961 außer den auch in den Präambeln anderer Staaten üblichen Hinweisen auf die Grundsätze des Friedens und der Volkssouveränität das ausdrückliche Bekenntnis zu den auf die Verwestlichung des Landes gerichteten inneren Reformen Atatürks, die ihren Ausdruck vor allem in den in Art. 153 TVerf v. 1961 aufgezählten Revolutionsgesetzen gefunden haben:164 „(…) durchdrungen von dem Grundsatz „Frieden im Land und Frieden in der Welt“, vom Geiste des nationalen Freiheitskrieges, von der Volkssouveränität und von der Bindung an die Reformen Atatürks (…).“165

Gem. Art. 2 TVerf v. 1961 kommen die Grundprinzipien, auf denen die Republik Türkei ruht, in der Präambel zum Ausdruck: „Die Türkische Republik ist ein auf den Menschenrechten und den in der Präambel zum Ausdruck kommenden Grundprinzipien ruhender nationaler, demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat.“166

zu denen folgende sechs Prinzipien gehören: Republikanismus, Etatismus, Populismus, Laizismus, Nationalismus und Reformismus. Zusammen repräsentieren sie eine Art Jakobinismus, der nach Mustafa Kemal als eine Methode zur Benutzung des poltischen Despotismus definiert ist, um den sozialen Despotismus der traditionellen muslimischen Bevölkerung zu beenden, s. Tunçay, „Kemalism“, in: Modern Islamic World, 1995, S. 410 (410, Sp. 2, 411, Sp. 1). 162  Tarhanlı sieht in diesem Verhalten der Konservativen eine gewisse Paradoxie, da einerseits alles was aus dem Westen kommt verworfen, andererseits der Laizismus nach westlichem Vorbild eingefordert wurde, s. dies., Müslüman Toplum Laik Devlet (Muslimische Gesellschaft laizistischer Staat), 1993, S. 29, 30. 163  Sofern im Folgenden die TVerf v. 1961 in deutscher Sprache zitiert wird folgt dies der Übersetzung bei Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 79–192. 164  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 81. 165  Präambel Abs. 4 TVerf v. 1961, zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 80. 166  Art. 2 TVerf v. 1961, zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 82.

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

Die Präambel der TVerf v. 1961 gehört gem. Art. 156 Abs. 1 TVerf v. 1961 zum Text der Verfassung.167 Sie entfaltet als aller Staatsgewalt und dem übrigen Verfassungstext übergeordneter Verfassungstext selbst normative Bindungswirkung.168 „Durch die ausdrückliche Verweisung auf die in der Präambel zum Ausdruck kommenden Prinzipien als Grundlage des Rechtsstaates in Art. 2 und 156 Abs. 1, wird klargestellt, daß es sich hierbei nicht bloß um Deklamationen politischer Art, sondern um rechtlich relevante Grundwertentscheidungen handelt, die sowohl der Auslegung des Verfassungstextes selbst und – mittelbar – der übrigen Gesetze dienen, als es sich um die zur Ausführung der Verfassung notwendigen Gesetze handelt. Auch die Ausübung der Staatsgewalt ist an die in der Verfassung festgelegten Prinzipien gebunden (…).“169

Die Ermittlung des Wesensgehalts der Grundrechte nach Art. 11 Abs. 2 TVerf v. 1961 erfolgt unter Berücksichtigung der in der Präambel enthaltenen Grundwerteentscheidungen.170 Der Rückgriff auf die Präambel erfolgt über Art. 2 und 156 Abs. 1 TVerf v. 1961.171 Dort, wo der Kern eines Grundrechts nicht berührt wird, ist die Einschränkung eines Grundrechts gem. Art. 11 Abs. 1 TVerf v. 1961 nur zulässig nach Maßgabe des Sinnes der Verfassung, der wiederum über den Umweg des Art. 156 Abs. 1 und 2 TVerf v. 1961 aus der Präambel ermittelt wird.172 c) Laizismus als Wesensmerkmal der Republik Der türkische Staat ist eine Republik.173 Seine Wesensmerkmale bestimmen sich nach Art. 2 TVerf v. 1961. Danach ist die „Türkische Republik ein auf Menschenrechten und den in der Präambel zum Ausdruck kommenden Grundprinzipien ruhender laizistischer Rechtsstaat.174 Das laizistische Wesensmerkmal der Republik ist gem. Art. 9 TVerf v. 1961 unabänderlich.175 Das Merkmal „laizistisch“ war bereits in Art. 2 S. 1 TVerf v. 1924 enthal167  „Die Präambel, welche die der Verfassung zugrundeliegenden Hauptgesichtspunkte und Prinzipien klarlegt, gehört zum Text der Verfassung.“, Art. 156 Abs. 1 TVerf v. 1961, zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 191. 168  Vgl. Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 81, 82. 169  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 82. 170  So Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 92. 171  Vgl. Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 82. 172  So auch Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 91. 173  Vgl. Art. 1 TVerf v. 1961. 174  Vgl. Art. 2 TVerf v. 1961. 175  Die Verfassungsbestimmungen über die Republik als Staatsform darf nicht geändert werden, ein Vorschlag auf Abänderung nicht eingebracht werden.“, Art. 9



II. Die verfassungsrechtliche Entwicklung 215

ten.176 Es wurde aber aus machtpolitischen Gründen von dem durch das Militär 1960 gestürzten Regime wenig beachtet.177 Der Laizismus gewann mit der TVerf v. 1961 indessen an Bedeutung und ist gegenüber der TVerf v. 1924 erheblich gestärkt worden.178 Er bedeutet in Art. 2 TVerf v. 1961 indessen nicht Atheismus oder politische Kampfstellung des Staates gegen die Religion.179 Für dieses Verständnis spricht das 1963 durch Gesetz Nr. 221180 implizit aufrechterhaltene Gesetz Nr. 2739181 aus dem Jahre 1953 über den Nationalfeiertag und die sonstigen allgemeinen Feiertage, zu denen die beiden großen islamischen Feste (Opferfest und Zuckerfest) gehören, sowie Gesetz Nr. 633 (früher Gesetz Nr. 2800)182 über die Aufgaben des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten.183 Vielmehr meint Laizismus die Nichteinmischung des Klerus und sonstiger religiöser Kreise in die Politik, insbesondere die Verhinderung des Missbrauchs der Religion im politischen Leben.184 Dies komme im Art. 153 (Schutz der Reformgesetze), Art. 19 Abs. 5 (Verbot des Missbrauchs der Religion zu politischen Zwecken), Art. 12 (Gleichheitsgrundsatz), Art. 77 (Eid auf die Treue zur laizistischen Republik), 154 (Präsidium für religiöse Angelegenheiten), Art. 21 (Freiheit von Wissenschaft und Kunst) und aus dem vierten Absatz der Präambel der TVerf v. 1961 zum Ausdruck.185

TVerf v. 1961, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 89. 176  Vgl. Art. 2 S. 1 TVerf v. 1924 in seiner durch Gesetz Nr. 1222 v. 10.04.1928 geänderten Fassung, s. o., Kapitel D., S. 150. 177  So Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 47. 178  So Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (185); Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 84. 179  So Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 84. 180  Ergänzungsgesetz Nr. 221 zu Gesetz Nr. 2739 über die Nationalfeiertage und die allgemeinen Ferien v. 09.04.1963, verkündet in: RG v. 13.04.1963, Nr. 11381, S. 1. 181  Gesetz Nr. 2739 über die Nationalfeiertage und die allgemeinen Ferien v. 27.05.1935, verkündet in: RG v. 01.06.1935, Nr. 3017, S. 5262. 182  Gesetz Nr. 633 über die Organisation und Aufgaben des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten v. 22.06.1935, in seiner ursprünglichen Fassung verkündet in: RG v. 02.07.1965, Nr. 12038, S. 1–7; zuletzt geändert durch Gesetz Nr. 6002 v. 01.07.2010, verkündet in: RG v. 13.07.2010, Nr. 26640. 183  So Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 84. 184  So Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 84. 185  Vgl. Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 84.

216

D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

d) Gleichheitssatz Der in Art. 12 TVerf v. 1961 enthaltene Gleichheitssatz ist als solcher kein selbständiges besonderes Grundrecht, sondern als allgemeines, den einzelnen Grundrechten immanentes Prinzip zu verstehen:186 „Alle sind vor dem Gesetz gleich, ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit von Sprache, Rasse, Geschlecht, politischer Anschauung, philosophischer Überzeugung, Religion oder Konfession.“187 „Keiner Person, Familie, Gruppe oder Klasse darf ein Vorrecht eingeräumt werden.“188

e) Religionsfreiheit Die Gewährleistung der Religionsfreiheit, wie sie in Art. 19 Abs. 1, 2 und 3 S. 2 TVerf v. 1961 erfolgt, fand sich bereits im Wesentlichen in Art. 70 und 75 TVerf. v. 1924.189 In Art. 19 TVerf v. 1961 heißt es: „Jedermann besitzt die Freiheit des Gewissens, des religiösen Glaubens und der religiösen Überzeugung.“190 „Andachtsübungen, religiöse Zeremonien und Feiern sind frei, soweit sie nicht gegen die öffentliche Ordnung, die allgemeinen Sitten oder gegen die zu deren Aufrechterhaltung erlassenen Gesetze verstoßen.“191 „Niemand darf zur Teilnahme an Andachtsübungen, religiösen Zeremonien und Feiern, zur Offenbarung seines religiösen Glaubens und seiner religiösen Überzeugung gezwungen werden.“192 „Niemandem darf sein religiöser Glaube und seine religiöse Überzeugung zum Vorwurf gemacht werden.“193 „Religiöse Erziehung und Religionsunterricht sind allein an den eigenen Wunsch und bei Minderjährigen an den Wunsch ihrer gesetzlichen Vertreter gebunden.“194 186  s.  Hirsch,

Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 93. Abs. 2, S. 1 TVerf v. 1961, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 92. 188  Art. 12 Abs. 2, S. 2 TVerf v. 1961, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 92. 189  s. o., Kapitel D., S. 147, 148. 190  Art. 19 Abs. 1 TVerf v. 1961, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 98. 191  Art. 19 Abs. 2 TVerf v. 1961, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 98. 192  Art. 19 Abs. 3 S. 1 TVerf v. 1961, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 98. 193  Art. 19 Abs. 3 S. 2 TVerf v. 1961, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 98. 194  Art. 19 Abs. 4 TVerf v. 1961, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 98. 187  Art. 12



II. Die verfassungsrechtliche Entwicklung 217 „Niemand darf in der Absicht, die soziale, wirtschaftliche, politische oder recht­ liche Grundordnung des Staates, sei es auch nur teilweise, auf religiöse Normen zu stützen oder sich einen politischen oder persönlichen Vorteil oder Einfluss zu sichern, auf welche Weise es auch immer sei, die Religion oder religiöse Gefühle oder religiös für heilig gehaltene Dinge ausbeuten oder mißbrauchen. Auf natürliche oder juristische Personen, welche diesem Verbot zuwiderhandeln oder andere dazu aufhetzen, werden die diesbezüglichen gesetzlichen Vorschriften angewandt; politische Parteien werden durch das Verfassungsgericht für immer verboten.“195

Auch wenn die Bestimmung über die negative Religionsfreiheit in Art. 19 Abs. 3 S. 1 TVerf v. 1961 eine natürliche Folge der Gewissensfreiheit ist, so sei das ausdrückliche Zwangsverbot in Anbetracht der durch Herkommen und Mentalität eines großen Teils der Bevölkerung geprägten besonderen türkischen Lebensverhältnisse eine keineswegs überflüssige Bestimmung, die vor allem für die richtige Abgrenzung des Kerns dieses Grundrechts gemäß Art. 11 Abs. 2 TVerf v. 1961 (Wesensgehalt) unentbehrlich sei.196 Durch den Ministerratsbeschluss aus dem Jahre 04.11.1950 waren Eltern, die ihre Kinder am Religionsunterricht nicht teilnehmen lassen wollten, gezwungen, dies der Schulverwaltung zu Beginn des Jahres mitzuteilen.197 Der Art. 19 Abs. 4 TVerf v. 1961 sei eingeführt worden, um Eltern vom moralischen Zwang zu befreien, ihre Kinder am Religionsunterricht teilnehmen zu lassen.198 Denn dieser habe dazu geführt, dass die durch den Grundsatz des Laizismus garantierte Regel der Freiheit vom Religionsunterricht zur Ausnahme wurde.199 Der Staatsrat hatte eine Nichtigkeitsbeschwerde, die von dem Inhaber des verfassungsrechtlichen Lehrstuhls der Juristischen 195  Art. 19 Abs. 5 TVerf v. 1961, geändert durch Gesetz Nr. 1488 v. 20.09.1971, verkündet in: RG v. 22.09.1971, Nr. 13964, S. 1–6; Übersetzung zitiert nach Hirsch, Verfassungsänderung in der Türkei 1971, 1973, S. 14; Art. 19 Abs. 5 TVerf v. 1961 a. F. lautete: „Niemand darf in der Absicht, die soziale, wirtschaftliche, politische oder rechtliche Grundordnung des Staates, sei es auch nur teilweise, auf religiöse Normen zu stützen oder sich einen politischen oder persönlichen Vorteil oder Einfluß zu sichern, auf welche Weise es auch immer sei, die Religion oder religiöse Gefühle oder religiöse für heilig gehaltene Dinge ausbeuten oder mißbrauchen. Wer diesem Verbot zuwiderhandelt oder andere dazu aufhetzt, wird nach Maßgabe des Gesetzes bestraft; Vereine werden durch das zuständige Gericht, politische Parteien durch das Verfassungsgericht für immer verboten.“, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 98. 196  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 98. 197  s. o., Kapitel D., S. 152. 198  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 98; Izgi / Gören, Türkiye Cumhuriyeti Anayasasının Yorumu (Verfassungskommentar der Republik Türkei), 2002, Bd. 1, S. 47. 199  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 98.

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

Fakultät Ankara als Vater zweier schulpflichtiger Kinder angestrengt worden war, abgewiesen.200 In der Begründung zu Art. 19 Abs. 5 TVerf v. 1961 heißt es, er drücke aus, dass die Gewissensfreiheit nicht missbraucht und nicht zu einer Quelle der Ausbeutung werden darf.201 Das Ziel der Anerkennung der Religionsund Gewissensfreiheit könne nicht darin bestehen, die Möglichkeit dafür zu schaffen, religiöse Gefühle auf politischem Gebiet zu einem Mittel zu machen, zu täuschen oder sich täuschen zu lassen und die Religion durch Religionskrämer in den Dreck ziehen zu lassen.202 Daher stünde das Missbrauchsverbot nicht im Widerspruch zur Religionsfreiheit, sondern diene vielmehr ihrem Schutz und ihrer Garantie.203 f) Schutz der Reformgesetze Der Schutz der für die Säkularisierung der Türkei wesentlichen Gesetze erfolgt gem. Art. 153 TVerf v. 1961: „Keine Bestimmung dieser Verfassung darf in einer Weise verstanden und ausgelegt werden, dass die zur Zeit der durch Volksabstimmung erfolgten Annahme dieser Verfassung in Geltung befindlichen Vorschriften der unten aufgezählten Reformgesetze, welche das Ziel haben, die türkische Gesellschaft auf die Höhe der zeitgenössischen Zivilisation zu heben und den laizistischen Charakter der Türkischen Republik zu schützen, als verfassungswidrig angesehen werden: (…).“204

Danach darf keines der folgenden und in der Verfassung enumerativ aufgezählten Gesetze als verfassungswidrig verstanden werden: „1.  Gesetz Nr. 430 vom 3 März 1340 (1924) über die Vereinheitlichung des Unterrichts; 2.  Gesetz Nr. 671 vom 25. November 1341 (1925) über das Huttragen; 3. Gesetz Nr. 677 vom 30. November 1341 (1925) über das Verbot und die Schließung der Derwischorden, der Klöster und Mausoleen, über das Verbot des Berufs der Mausoleenwächter und der Führung und Verleihung einiger Titel; 4.  der durch das Türkische Zivilgesetzbuch Nr. 743 vom 17. Februar 1926 angenommene Grundsatz der Eheschließung vor dem Standesbeamten und die Bestimmung des Art. 110 des gleichen Gesetzes; 5. Gesetz Nr. 1288 vom 20. Mai 1928 über die Annahme der international üblichen Ziffern; Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 98. Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 98. 202  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 98. 203  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 98. 204  Art. 153 TVerf v. 1961, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 187. 200  Vgl.

201  s.  Hirsch,



II. Die verfassungsrechtliche Entwicklung 219 6. Gesetz Nr. 1353 vom 1. November 1928 über die Annahme und Anwendung des türkischen Alphabets; 7.  Gesetz Nr. 2590 vom 26. November 1934 über die Aufhebung der Anreden und Titel „Efendi“, „Bey“, „Pascha“, u. dgl.; 8.  Gesetz Nr. 2596 vom 3. Dezember 1934 über das Verbot, bestimmte Trachten zu tragen.“205

g) Präsidium der religiöse Angelegenheiten Erstmals seit Gründung der Republik erhält das Präsidium für religiöse Angelegenheiten mit Art. 154 TVerf v. 1961 Verfassungsrang: „Das in die allgemeine Verwaltung übernommene Präsidium der religiösen Angelegenheiten hat die in einem Sondergesetz aufgezählten Aufgaben zu erfüllen.“206

Diese Regelung schwäche nicht den Laizismus, sondern diene dessen Schutz, da auf diese Weise ein Konflikt, der durch die Erstarkung autonomreligiöser Organisationen entstehen könnte, vermieden würde.207 Die Aufgaben des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten wurden durch Gesetz Nr. 633 im Jahre 1965 konkretisiert.208 4. Die Entwicklung des Laizismus unter der TVerf v. 1982209 a) Einleitung Die Entstehungsgeschichte der TVerf v. 1982 teilt mit der TVerf v. 1961 das Schicksal, dass auch ihr ein Militärputsch vorausging.210 Der Militär205  Art. 153 TVerf v. 1961, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 187. 206  Art. 154 TVerf v. 1961, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 187. 207  s.  Izgi / Gören, Türkiye Cumhuriyeti Anayasasının yorumu (Verfassungskommentar der Republik Türkei), 2002, Bd. 1, S. 47. 208  Vgl. Gesetz Nr. 633 v. 22.06.1965, verkündet in RG v. 02.07.1965, Nr. 12038, S. 1–7; zuletzt geändert durch Gesetz Nr. 6002 v. 01.07.2010, verkündet in: RG v. 13.07.2010, Nr. 27640. 209  Zur TVerf. v. 1982 s. Gesetz Nr. 2709 v. 18.10.1982, verkündet in: RG v. 20.10.1982, Nr. 17844; Verkündung nach dem Volksentscheid v. 07.11.1982 in: RG v. 09.11.1982, Nr. 17863; sofern im Folgenden die TVerf v. 1982 n. F. in deutscher Sprache zitiert wird, folgt dies der Übersetzung bei Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S.  6–52, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012); Eine deutscher Übersetzung der TVerf v. 1982 a. F. ist nachzulesen bei Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik vom 9. November 1982, in: JöR, 1983, Bd. 32, S. 507 (552–594). 210  Vgl. Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, 1996, S. 87; Özbudun, The Constitutional System of Turkey, 2011, S. 15.

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

putsch in der Nacht vom 11. zum 12. September 1982 beendete einen bürgerkriegsähnlichen Zustand, der durch blutige Ausbrüche von Gewalt zwischen faschistischen und linken Gruppierungen gekennzeichnet war.211 „Staatschef“ war nunmehr Generalstabschef Kenan Evren, der die Funktion des Präsidenten, des Parlamentspräsidenten und des Vorsitzenden des Natio­ nalen Sicherheitsrates in seiner Person vereinigte.212 Das Parlament wurde aufgelöst, die Regierung ihrer Ämter enthoben, jegliche parteipolitische und gewerkschaftliche Betätigung verboten und der Ausnahmezustand ausgerufen.213 Das Militär beabsichtigte nicht bloß die Änderung der TVerf v. 1961, sondern die Ausarbeitung eines neuen Verfassungsgesetzes, welches in seinen geistigen, ideologischen und politischen Grundsätzen eine völlige Kehrtwendung von dem Geist und dem Charakter der TVerf. v. 1961 bildete.214 Zwar wurde ein detailliertes Grundrechtssystem errichtet, dabei ging es aber weniger um den Ausbau einer positiven Gewährleistung von Grundrechten und -freiheiten als um die Normierung eines umfangreichen Instrumentariums zur Beschränkung der Grundrechte und -freiheiten.215 „Es waren dieses Mal keine idealistisch gesinnten jüngeren Stabsoffiziere und keine ideologisch gebundenen Professoren, die nach Entmachtung eines abgewirtschafteten politischen Systems den Text eines neuen Verfassungsgesetzes entwarfen, sondern die erfahrene und abgeklärte Gruppe der Generalität und sachlich denkender Bürger, die unter dem Schock der durchlebten Ereignisse zwar die Grundregeln der Demokratie nicht abschaffen und zerstören wollten, aber über die Freiheitsrechte des einzelnen die Erfordernisse und Eigenheiten der nationalen Struktur in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellten.“216

Besondere Bedeutung kam dabei der Ausfüllung der Lücken bei den Grundrechten und Freiheiten zu,217 „(…) das heißt deren Zurückführung auf den angemessenen, den Bestand des Staats nicht tangierenden Umfang“.218. Anders als beim Entwurf der TVerf v. 1961 war man sich bei der TVerf v. 1982 bewusst, dass die Verfassung an den besonderen Gege211  s.  Rumpf,

Das türkische Verfassungssystem, 1996, S. 87. Das türkische Verfassungssystem, 1996, S. 89. 213  Vgl. Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, 1996, S. 89. 214  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik vom 9. November 1982, in: JöR, 1983, S. 507 (511, 512). 215  s.  Sabuncu, Grundrechte und -freiheiten in der türkischen Verfassung, in: ZfTS, 1989, 2. Jahrg. Heft 1, S. 35 (36), Fn. 3. 216  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik vom 9. November 1982, in: JöR, 1983, S. 507 (512); Vgl. auch Özbudun, The Constitutional System of Turkey, 2011, S.  19 ff. 217  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik vom 9. November 1982, in: JöR, 1983, Bd. 32, S. 507 (512). 218  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik vom 9. November 1982, in: JöR, 1983, Bd. 32, S. 507 (512). 212  s.  Rumpf,



II. Die verfassungsrechtliche Entwicklung 221

benheiten der Türkei ausgerichtet sein müsse und nicht wie bei der TVerf v. 1961 an westeuropäischen Demokratien wie Deutschland und Italien.219 Demokratie und Parlament wurden nur in den Grenzen und Schranken akzeptiert, die sich die Türkei angesichts des Niveaus ihrer Bevölkerung erlauben könne, wenn sie nicht die Integrität ihres Staatsgebietes und der Nationen, die Existenz des Staates und der nationalen Souveränität, die öffentliche Ordnung und den inneren Frieden aufs Spiel setzen wollte.220 Im Jahre 1980 wurde unter der Führung Kenan Evrens die TVerf v. 1961 rückwirkend mit Verkündung der künftigen Verfassung außer Kraft gesetzt.221 Sämtliche Regelungen in Verlautbarungen und Entscheidungen des Nationalen Sicherheitsrates, die gegen die TVerf v. 1961 verstoßen, gelten gem. § 6 Gesetz Nr. 2324 als Verfassungsänderung.222 Im Juni 1982 wurde die Gründung einer Verfassunggebenden Versammlung beschlossen,223 deren Aufgabe es war, eine Verfassung und die Gesetze über die Volksabstimmung zur neuen Verfassung zu erarbeiten.224 Der Verfassungsentwurf der Verfassunggebenden Versammlung wurde am 20.10.1982 bekanntgegeben225 und schließlich der 07.11.1982 als Zeitpunkt für den Volksentscheid festgesetzt.226 Die Teilnahme am Volksentscheid war verpflichtend.227 Jegliche Kritik an der Verfassung, wie sie durch den Staatschef durch die öffentlich-rechtlichen Medien der Bevölkerung vorgestellt wird, war verboten.228 Die Nichtteilnahme ohne das Vorliegen juristischer oder tatsächlicher Gründe führte zum Verlust des aktiven und passi219  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik vom 9. November 1982, in: JöR, 1983, Bd. 32, S. 507 (512). 220  s.  Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik vom 9. November 1982, in: JöR, 1983, Bd. 32, S. 507 (512). 221  s. §§ 1 u. 7 Gesetz Nr. 2324 über die Verfassungsordnung v. 27.10.1980, verkündet in: RG v. 28.10,1980, Nr. 17145, S. 1–2. 222  Vgl. § 6 Gesetz Nr. 2324 über die Verfassungsordnung v. 27.10.1980, verkündet in: RG v. 28.10,1980, Nr. 17145, S. 1–2. 223  Vgl. § 1 Gesetz Nr. 2428 v. 29.06.1982, verkündet in: RG v. 30.06.1982, Nr. 17386, S. 1. 224  Vgl. § 2 Gesetz Nr. 2428 v. 29.06.1982, verkündet in: RG v. 30.06.1982, Nr. 17386, S. 1–8; gem. § 1 Gesetz Nr. 2485 besteht die Verfassunggebende Versammlung aus dem Nationalen Sicherheitsrat und der Beratenden Versammlung, dessen 160 Mitglieder wiederum gem. § 3 Gesetz Nr. 2485 durch den Nationalen Sicherheitsrat bestimmt werden; vgl. §§ 1 und 3 Gesetz Nr. 2485. 225  s. Gesetz Nr. 2709 v. 18.10.1982, verkündet in: RG v. 20.10.1982, Nr. 17844. 226  Vgl. §  2 Gesetz Nr.  2707 über das Volksentscheid zur Verfassung v. 24.09.1982, verkündet in: RG v. 25.09.1982, Nr. 17823, S. 1–3. 227  Vgl. § 12 Abs. 2 Gesetz Nr. 2707 über das Volksentscheid zur Verfassung v. 24.09.1982, verkündet in: RG v. 25.09.1982, Nr. 17823, S. 1–3. 228  Vgl. Ziffer 2 Abs. 2 Beschluss des Nationalen Sicherheitsrates Nr. 71, verkündet in: RG v. 21.10.1982, Nr. 17845.

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

ven Wahlrechts.229 Die TVerf v. 1982 wurde schließlich mit 91,37 % der Stimmen angenommen und ist bis heute gültig.230 Anders als in den Verfassungen zuvor, zieht sich der Laizismus wie ein roter Faden durch die gesamte TVerf v. 1982. Im Folgenden wird eine relevante Auswahl von Verfassungsbestimmungen der TVerf v. 1982 mit einem Berührungspunkt zum Laizismus kurz skizziert, um einen Überblick über die Entwicklung des verfassungsrechtlichen Laizismus zu ermöglichen und seinen Charakter bestimmen zu können.231 b) Präambel Anders als die TVerf v. 1961 enthält bereits die Präambel der TVerf v. 1982 eine erste ausdrückliche Bezugnahme auf den Laizismus: „(…) dass keinerlei Aktivität gegenüber den türkischen nationalen Interessen, der türkischen Existenz, dem Grundsatz der Unteilbarkeit von Staatsgebiet und Staatsvolk, den geschichtlichen und ideellen Werten des Türkentums und dem Nationalismus, den Prinzipien und Reformen sowie dem Zivilisationismus Atatürks geschützt wird und heilige religiöse Gefühle, wie es das Prinzip des Laizismus erfordert, auf keine Weise mit den Angelegenheiten und der Politik des Staates vermischt werden, (…).“232 229  s.  Rumpf,

Das türkische Verfassungssystem, 1996, S. 92. Ergebnis des Volksentscheides vgl. Entsch. Nr. 458, verkündet in: RG v. 20.11.1982, Nr. 17874, S. 11–13 (13); Seit dem Inkrafttreten der TVerf v. 1982 wurde sie insgesamt 18-mal geändert. Verfassungsändernde Gesetzgebung chronologisch: Gesetz Nr. 3361 v. 17.05.1987, verkündet in: RG v. 18.05.1987, Nr. 19464; Gesetz Nr. 3913 v. 08.07.1993, verkündet in: RG v. 10.07.1993, Nr. 21633; Gesetz Nr. 4121 v. 23.07.1995, verkündet in: RG v. 26.07.1995, Nr. 22355; Gesetz Nr. 4388 v. 18.06.1999, verkündet in: RG v. 18.06.1999, Nr. 23729; Gesetz Nr. 4446 v. 13.08.1999, verkündet in: RG v. 14.08.1999, Nr. 23786; Gesetz Nr. 4709 v. 03.10.2001, verkündet in: RG v. 17.10.2001, Nr. 24556; Gesetz Nr. 4720 v. 21.11.2001, verkündet in: RG v. 01.12.2001, Nr. 24600; Gesetz Nr. 4777 v. 27.12.2002, verkündet in: RG v. 31.12.2002, Nr. 24980; Gesetz Nr. 5170 v. 07.05.2004, verkündet in: RG v. 22.5.2004, Nr. 25469; Gesetz Nr. 5370 v. 21.06.2005, verkündet in: RG v. 23.06.2005, Nr. 25854; Gesetz Nr. 5428 v. 29.10.2005, verkündet in: RG v. 09.11.2005, Nr. 25988; Gesetz Nr. 5551 v. 13.10.2006, verkündet in: RG v. 17.10.2006, Nr. 26322; Gesetz Nr. 5659 v. 10.05.2007, verkündet in: RG v. 18.05.2007, Nr. 26526; Gesetz Nr. 5678 v. 31.05.2007, verkündet in: RG v. 16.06.2007, Nr. 26554; Gesetz Nr. 5697 v. 16.10.2007, verkündet in: RG v. 17.10.2007, Nr. 26673; Gesetz Nr. 5735 v. 09.02.2008, verkündet in: RG v. 23.02.2008, Nr. 26796; Gesetz Nr. 5982 v. 07.05.2010, verkündet in: RG v. 13.05.2010, Nr. 27580; Gesetz Nr. 6214 v. 17.03.2011, verkündet in: RG v. 29.03.2011, Nr. 27889. 231  Weitere Verfassungsartikel mit Bezug zum Laizismus sind: Art. 15 Abs. 2, Art. 42 Abs. 3, Art. 51 TVerf v. 1982. 232  Präambel, Abs.  5 TVerf. v. 1982, geändert durch Gesetz Nr.  4709 v. 03.10.2001, verkündet in: RG v. 17.10.2001, Nr. 24556, Übersetzung zitiert nach 230  Zum



II. Die verfassungsrechtliche Entwicklung 223

Der Laizismus wird in einem Satz mit den „Prinzipien und Reformen sowie dem Zivilisationismus Atatürks“ genannt, wodurch deutlich werde, dass der Laizismus ohne die Prinzipien und Reformen Atatürks nicht zu denken sei.233 Die Präambel sei trotz der im Zuge des EU-Beitrittsprozesses vorgenommenen Veränderungen ein Manifest des ideologisch und obrigkeitlich tendierenden Herrschaftssystems.234 Wie auch in der TVerf v. 1961 ist die Präambel Teil des Verfassungstextes.235 c) Laizismus als Wesensmerkmal der Republik Die Türkei ist ein laizistischer Rechtsstaat.236 Dieses Staatsprinzip war bereits in Art. 2 TVerf v. 1961 enthalten und wurde übernommen. Der Laizismus des Art. 2 TVerf v. 1982 hat zwei Bereiche: die Religionsfreiheit und die Trennung von Staat und Religion.237 Die Änderung und der Vorschlag zur Änderung der in Art. 2 TVerf v. 1982 enthaltenen Prinzipien ist unzulässig.238 In der TVerf v. 1961 bezog sich die Unabänderlichkeitsklausel expressis verbis nur auf die Staatsform Republik.239 Jedoch stellte das Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012 S. 6, im Internet unter: http: /  / www. tuerkei-recht.de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 233  So Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, 1996, S. 109, 110. 234  So Yildiz, Der neue türkische Verfassungsentwurf und die daraus resultierenden Einflüsse auf die demokratische Entwicklung in der Türkei, in: JöR, 2010, Bd. 58, S. 353 (357). 235  „Die Präambel, welche die Grundansichten und -prinzipien bestimmt, auf denen die Verfassung beruht, ist Bestandteil des Verfassungstextes.“, Art. 176 Abs. 1 TVerf v. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S.  51, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / verfassung. pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 236  „(…) ein im Geiste des Friedens der Gemeinschaft, der nationalen Solidarität und der Gerechtigkeit die Menschenrechte achtender, dem Nationalismus Atatürks verbundener und auf den in der Präambel verkündeten Grundprinzipien beruhender demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat.“, Art. 2 TVerf v. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S. 6, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 237  So Özbudun, Türk Anayasa Hukuku (Türkisches Verfassungsrecht), 12. Aufl. (2011), S. 79, 80. 238  „(…)sowie die Vorschriften über die Prinzipien der Republik in Artikel 2 (…) sind unabänderlich, das Einbringen eines Änderungsvorschlages ist unzulässig.“, Art. 4 TVerf v. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S.  6, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / down loads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 239  „Die Verfassungsbestimmung über die Republik als Staatsform kann nicht geändert, ein Vorschlag auf Abänderung nicht eingebracht werden.“, Art. 9 TVerf v.

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

TVerfG in seinem Urteil aus dem Jahre 1970 fest, dass sich die Unabänderlichkeitsklausel in Art. 9 TVerf v. 1961 dazu auf den Laizismus als Merkmal der Republik beziehe.240 Diese Unabänderlichkeitsklausel in Art. 4 TVerf v. 1982 sei vergleichbar mit Art. 79 Abs. 3 GG (Ewigkeitsklausel).241 Der Unterschied besteht aber darin, dass die Ewigkeitsklausel des deutschen Grundgesetzes die Prädominanz des Bürgers und seine freiheitliche Autonomie schütze, während die Unabänderlichkeitsklausel der türkischen Verfassung die Prinzipien der Republik und die Staatsform schütze.242 d) Gleichheitssatz Der Gleichheitsgrundsatz ist geregelt in Art. 10 TVerf v. 1982 und enthält in seinem Abs. 1 keine abschließende Aufzählung möglicher Diskriminierungsmerkmale („und ähnlichem“): „Jedermann ist ohne Rücksicht auf Unterschiede aufgrund von Sprache, Rasse, Farbe, Geschlecht, politischer Ansicht, Weltanschauung, Religion, Bekenntnis und ähnlichem vor dem Gesetz gleich. Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Der Staat ist verpflichtet, die Gleichheit zu verwirklichen. Maßnahmen, die zu diesem Zweck ergriffen werden, dürfen nicht als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz ausgelegt werden. Maßnahmen zum Schutz von Kindern, Alten, Behinderten, Witwen und Waisen von Gefallenen oder im Dienst Verstorbenen sowie von Invaliden und Veteranen gelten nicht als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz. Weder einer Person noch einer Familie, Gruppe oder Klasse darf ein Vorrecht eingeräumt werden. Die Staatsorgane und Verwaltungsbehörden haben bei all ihren Akten und im Hinblick auf die Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen aller Art gemäß dem Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz zu handeln.“243 1961, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 89. 240  Vgl. TVerfG, Urt. v. 16.09.1970, E. 1970 / 1, K. 1970 / 31, in: AMKD, Bd. 8, S. 323. 241  So Yildiz, Der neue türkische Verfassungsentwurf und die daraus resultierenden Einflüsse auf die demokratische Entwicklung der Türkei, in: JöR, 2010, Bd. 58, S. 353 (361). 242  So Yildiz, Der neue türkische Verfassungsentwurf und die daraus resultierenden Einflüsse auf die demokratische Entwicklung der Türkei, in: JöR, 2010, Bd. 58, S. 353 (361). 243  Art. 10 TVerf v. 1982, geändert durch: Gesetz Nr. 5170 v. 07.05.2004 verkündet in: RG v. 22.05.2004, Nr. 25469; Gesetz Nr. 5735 v. 09.02.2008, verkündet in: RG v. 23.02.2008, Nr. 26796; Gesetz Nr. 5982 v. 07.05.2010, verkündet in: RG v. 13.05.2010, Nr. 27580, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Re-



II. Die verfassungsrechtliche Entwicklung 225

In seinem Urteil aus dem Jahre 1986 entschied das TVerfG, dass eine strafrechtliche Regelung gegen den Laizismus verstößt, sofern diese nur solche Handlungen bestraft, die sich ausschließlich gegen eine der Buch­ religionen (Judentum, Christentum, Islam) richtet, nicht aber gegen andere Religionen.244 Der Staat darf, so das Gericht, bei Ausübung seines Strafmonopols die Menschen nicht aufgrund ihres religiösen Bekenntnisses unterschiedlich behandeln. Zwar bedeute Gleichheit vor dem Gesetz, dass unterschiedliche Sachverhalte auch ungleich behandelt werden können.245 Der Gesetzgeber müsse aber vergleichbare Sachverhalte mit vergleichbaren Lösungen regeln.246 Eine Regelung, die eine Bestrafung nur dann vorsieht, wenn sich die Handlung gegen eine monotheistische Religion richtet, erfülle diese Voraussetzungen nicht und stellt eine Diskriminierung der nichtmonotheistischen Religionen dar und verstoße daher gegen das Gleichheitsgebot aus Art. 10 TVerf v. 1985.247 e) Missbrauchsverbot der Grundrechte zur Beseitigung des Laizismus Die Grundrechte und -freiheiten der Verfassung dürfen nicht zur Beseitigung des Laizismus gebraucht werden: „Von den Grundrechten und -freiheiten dieser Verfassung darf keines gebraucht werden, um Aktivitäten mit dem Ziel zu entfalten, die unteilbare Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk zu zerstören und die auf den Menschenrechten beruhende demokratische und laizistische Republik zu beseitigen.“248

publik Türkei, 2012, S.  7, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / down loads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 244  Vgl. TVerfG, Urt. v. 04.11.1986, E. 1986 / 11, K. 1986 / 26, in: AMKD, Bd. 22, S. 298–323. 245  s. TVerfG, Urt. v. 04.11.1986, E. 1986  / 11, K. 1986 / 26, in: AMKD, Bd. 22, S. 198 (315). 246  s. TVerfG, Urt. v. 04.11.1986, E. 1986  / 11, K. 1986 / 26, in: AMKD, Bd. 22, S. 198 (315). 247  Vgl. TVerfG, Urt. v. 04.11.1986, E. 1986 / 11, K. 1986 / 26, in: AMKD, Bd. 22, S. 298 (315, 316). 248  Art. 14 Abs. 1 TVerf v. 1982, zuletzt geändert durch § 3 Gesetz Nr. 4709 v. 03.10.2001, verkündet in: RG v. 17.11.2001, Nr. 24556, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S.  8, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05. 2012).

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

f) Religionsfreiheit Das Grundrecht auf Religionsfreiheit ist in Art. 24 TVerf v. 1982 geregelt und besteht aus insgesamt fünf Absätzen. Er gehört zu den Artikeln, die seit ihrem Inkrafttreten nicht geändert wurden: „Jedermann genießt die Freiheit des Gewissens, der religiösen Anschauung und Überzeugung.“249 „Soweit nicht gegen die Vorschriften des Artikels 14 verstoßen wird, sind Gottesdienste, religiöse Zeremonien und Feiern frei.“250 „Niemand darf gezwungen werden, an Gottesdiensten, religiösen Zeremonien und Feiern teilzunehmen, seine religiöse Anschauung und seine religiösen Überzeugungen zu offenbaren; niemand darf wegen seiner religiösen Anschauungen und Überzeugungen gerügt oder einem Schuldvorwurf ausgesetzt werden.“251 „Die Religions- und Sittenerziehung und -lehre wird unter der Aufsicht und Kontrolle des Staates durchgeführt. Religiöse Kultur und Sittenlehre gehören in den Primar- und Sekundarschulanstalten zu den Pflichtfächern. Darüber hinaus ist religiöse Erziehung und Lehre vom eigenen Wunsch der Bürger, bei Minderjährigen vom Verlangen der gesetzlichen Vertreter abhängig.“252 „Niemand darf, um die soziale, wirtschaftliche, politische oder rechtliche Ordnung des Staates auch nur zum Teil auf religiöse Regeln zu stützen oder politischen oder persönlichen Gewinn oder Nutzen zu erzielen, in welcher Weise auch immer, Religion oder religiöse Gefühle oder einer Religion als heilig geltende Gegenstände ausnutzen oder missbrauchen.“253

In Art. 24 TVerf v. 1982 komme deutlich die Problematik des Laizismus zum Ausdruck.254 Die Religionsfreiheit sei eine wichtige Funktion des Laizismus und stehe mit ihm zugleich in einem Spannungsverhältnis.255 Es 249  Art 24 Abs. 1 TVerf v. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S. 10, im Internet unter: http:  /   /  www.tuerkei-recht. de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 250  Art. 24 Abs. 2 TVerf v. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012. S. 10, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht. de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 251  Art. 24 Abs. 3 TVerf v. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S. 10, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht. de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 252  Art. 24 Abs. 4 TVerf v. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S. 10, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht. de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 253  Art 24 Abs. 5 TVerf. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S. 10, im Internet unter: http:  /   /  www.tuerkei-recht. de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 254  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 178 (192). 255  s.  Rumpf, Das türkische Verfassungssystem. 1996, S. 110.



II. Die verfassungsrechtliche Entwicklung 227

komme die Notwendigkeit eines Kompromisses zwischen dem Erfordernis säkularer Gleichheit und den religiösen Bedürfnissen der Menschen zum Tragen.256 Durch die Einführung der staatlichen Kontrolle und Aufsicht über die religiöse Erziehung in Art. 24 Abs. 4 S. 1 TVerf v. 1982 „(…) ist eine Bestimmung eingefügt worden, welche für die Beurteilung des laizistischen Elements im Sozialleben einer vom Islam geprägten Bevölkerung sehr instruktiv ist: Laizismus bedeutet die Fernhaltung der Religion von staatlichen Angelegenheiten, aber keinesfalls die Fernhaltung des Staates vom religiösen Leben.“257 Die Aufsichtspflicht des Staates über die religiöse Erziehung führt in der Praxis zum staatlich-islamischen Religionsunterricht.258 Die Einführung des obligatorischen Unterrichtsfaches „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ stellt eine Kehrtwendung um 180 Grad gegenüber des Art. 19 Abs. 4 TVerf v. 1961 dar.259 Die in Art. 24 Abs. 1 TVerf v. 1982 gewährleistete Religions- und Gewissensfreiheit ist nicht grenzenlos gewährleistet.260 Dies sei ein Erfordernis der in der Verfassung begründeten laizistischen Ordnung und Grundsätze, welche auf den Erfahrungen des Landes beruhen und ihre Wurzel im Anspruch des Islams haben, als Universalreligion auch die weltliche Herrschaft des Staates zu besetzen.261 „(…) das besondere Verhältnis des Islams zum Staat („Der Islam bringt den Staat mit“) [bedurfte] auch besonderer Aufmerksamkeit, das Laizismus-Prinzip als konstitutionelles ideologisches Element des Staatswesens besonderen, verfassungsrechtlich zu verankernden Schutzes.“262

Das Missbrauchsverbot in Art. 24 Abs. 5 TVerf v. 1982 impliziere mittelbar auch, dass sich der Staat nicht auf religiöse Wahrheiten stützen darf.263 Dies bedeute gleichwohl nicht die gegenseitige Nichteinmischung oder strikte Trennung von Staat und Religion.264 Der Schrankenkomplex des Art. 24 TVerf v. 1982 produziere in der Praxis die Gefahr einer Aushöh256  s.  Rumpf,

Das türkische Verfassungssystem. 1996, S. 110. Die Verfassung der Türkischen Republik vom 9. November 1982, in: JöR, 1983, Bd. 32, S. 507 (530). 258  s.  Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, 1996, S. 108, 109. 259  Vgl. Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik vom 9. November 1982, in: JöR, 1983, Bd. 32, S. 507 (530). 260  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 178 (192). 261  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 178 (192). 262  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 178 (192). 263  s.  Tanör / Yüzbaşoğlu, Türk Anayasa Hukuku (Türkischer Verfassungsrecht), 10. Aufl. (2011), S. 94. 264  s.  Tanör / Yüzbaşoğlu, Türk Anayasa Hukuku (Türkischer Verfassungsrecht), 10. Aufl. (2011), S. 94, 98 f. 257  Hirsch,

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

lung.265 Dies gelte vor allem für Art. 24 Abs. 4 TVerf v. 1982, da diese Vorschrift so gefasst sei, dass sogar ihr Schrankencharakter zweifelhaft sei.266 Denn die Aufnahme von „Religiöser Kultur und Sittenlehre“ als Pflichtfach an den Schulen habe nicht zwingend mit der Kanalisierung der Ausübung der Religions- und Gewissensfreiheit zu tun.267 Vielmehr sei diese Regelung ihrem Wortlaut nach neutral und im Lichte der Grundrechtsgewährleistung des Art. 24 Abs. 1 TVerf v. 1982 so auszulegen, dass dem Staat aufgegeben sei, einen Religionskundeunterricht im Sinne einer Aufklärung über Religionen und Sittengesetze anzubieten.268 Die Umsetzung des Unterrichtsfaches „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ entspricht allerdings einem obligatorischen Religionsunterricht, der von Lehrern erteilt wird, die auf den Hohen IslamInstituten bzw. Theologischen Fakultäten zu Vorbetern (Imam) und Predigern bzw. islamischen Theologen ausgebildet werden, der Lehrplan ist auf die Mehrheit der muslimischen Schüler zugeschnitten, nichts anderes gilt im Wesentlichen für das Lehrmaterial.269 Damit verletze die türkische Praxis, entgegen Art. 24 Abs. 4 TVerf v. 1982, das Laizismus-Prinzip.270 Im ursprünglichen Verfassungsentwurf sei zunächst das Unterrichtsfach „Reli­ gions- und Sittenerziehung“ obligatorisch vorgesehen gewesen.271 Der Nationale Sicherheitsrat habe diesen Passus in die oben zitierte Fassung gebracht, da ein Zwang in der religiösen Erziehung nicht beabsichtigt gewesen sei.272 265  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, S. 179 (198). 266  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, S. 179 (198). 267  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, S. 179 (198). 268  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, S. 179 (198). 269  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, S. 179 (198); Tanör / Yüzbaşoğlu, 1982 Anayasasına Göre Türk Anayasa Hukuku (Verfassungsrecht nach der Verfassung von 1982), 2001, S. 166–167, zitiert nach: Izgi / Gören, Türkiye Cumhuriyetinin Anayasasının Yorumu (Verfassungskommentar der Republik Türkei), 2002, Bd. 1, S. 296, 301, m. w. N. 270  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, S. 179 (198); Tanör / Yüzbaşoğlu, 1982 Anayasasına Göre Türk Anayasa Hukuku (Verfassungsrecht nach der Verfassung von 1982), 2001, S. 166–167, zitiert nach: Izgi / Gören, Türkiye Cumhuriyetinin Anayasasının Yorumu (Verfassungskommentar der Republik Türkei), 2002, Bd. 1, S. 296. 271  s.  Izgi / Gören, Türkiye Cumhuriyetinin Anayasasının Yorumu (Verfassungskommentar der Republik Türkei), 2002, Bd. 1, S. 47; Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, S. 179 (199). 272  s.  Izgi / Gören, Türkiye Cumhuriyetinin Anayasasının Yorumu (Verfassungskommentar der Republik Türkei), 2002, Bd. 1, S. 47; Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, S. 179 (199).



II. Die verfassungsrechtliche Entwicklung 229

Entgegen Art. 24 Abs. 4 TVerf v. 1982 enthält Art. 24 Abs. 5 TVerf v. 1982 eine echte besondere Schranke gegenüber Art. 13 TVerf v. 1982, da dieser auf den Anwendungsbereich der Religionsfreiheit beschränkt ist.273 Mit Blick auf den Islam bedeute Art. 24 Abs. 5 TVerf v. 1982, dass die Gewährleistung der Religions- und Gewissensfreiheit durch denjenigen öffentlichen Bereich definiert werde, in den vor allem der Islam traditionell einzudringen neige, mithin die soziale, wirtschaftliche, politische und rechtliche Ordnung des Staates.274 Die Religions- und Gewissensfreiheit höre dort auf, wo der Staat Regelungs- und Handlungsbefugnisse habe oder die private Religions- und Gewissensfreiheit hat dort ihre Grenze, wo ihre Ausübung in die Ordnung der Staatsangelegenheiten eingreift.275 Zu dieser Ordnung gehört auch der Laizismus.276 Es handelt sich daher nicht um eine freiheitlich orientierte, sondern um eine Laizismus-orientierte Lesart. g) Laizismus und politische Parteien Gem. Art. 68 Abs. 4 TVerf v. 1982 dürfen Satzungen und Programme der Parteien der laizistischen Republik nicht entgegen stehen: „Die Satzungen und Programme der Parteien dürfen der Unabhängigkeit des Staates, der unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk, den Menschenrechten, den Prinzipien der Gleichheit und des Rechtsstaats, der nationalen Souveränität und den Prinzipien der demokratischen und laizistischen Republik nicht entgegenstehen; sie dürfen nicht die Diktatur einer Klasse oder Gruppe oder irgendeine andere Form der Diktatur verteidigen oder das Ziel ihrer Errichtung verfolgen; sie dürfen nicht zu Straftaten auffordern.“277

h) Treue der Abgeordneten und des Präsidenten zum Laizismus Erstmalig müssen die Abgeordneten und der Präsident ihren Eid zur Treue zur laizistischen Republik ablegen. Das Bekenntnis zur laizistischen 273  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, S. 179 (199). 274  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, S. 179 (200). 275  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, S. 179 (200). 276  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, S. 179 (200). 277  Art. 68 Abs. 4 TVerf v. 1982, zuletzt geändert durch § 6 Gesetz Nr. 4121, v. 23.07.1995, verkündet in: RG v. 26.07.1995, Nr. 22355, S. 4–5, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S. 19, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05. 2012).

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

Republik ist obligatorisch. Eine religiöse Eidformel ist von der Verfassung nicht vorgesehen: „(…) Ich schwöre vor der großen Türkischen Nation bei meiner Ehre und Würde, (…) dass ich dem Primat des Rechts, der demokratischen und laizistischen Republik und den Prinzipien und Reformen Atatürks verbunden bleiben werde; (…).“278 „(…) Ich schwöre vor der großen Türkischen Nation und vor der Geschichte bei meiner Ehre und Würde, (…) dass ich (…) dem Primat des Rechts, der Demokratie, den Prinzipien und Reformen Atatürks sowie dem Prinzip der laizistischen Republik verbunden bleiben werde, (…).“279

i) Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten Im türkischen Verfassungsleben spielt das Präsidium für religiöse Angelegenheiten eine wesentliche Rolle.280 Es nimmt als religiöse Behörde mit Verfassungsrang eine überraschende Stellung in der nach Art. 2 TVerf v. 1982 laizistischen Republik ein, deren Ziel es ist, entsprechend dem Laizismus die Solidarität und Integration der Nation herzustellen: „Das Präsidium für Religionsangelegenheiten erfüllt als Bestandteil der allgemeinen Verwaltung im Sinne des laizistischen Prinzips außerhalb aller politischen Ansichten und Auffassungen sowie gerichtet auf die nationale Solidarität und Integration die in einem besonderen Gesetz vorgesehenen Aufgaben.“281

Der Status des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten stellt sich als eine Ausnahme zur Trennung von Staat und Religion dar.282 Es ist selbstverständlich, dass Art. 136 TVerf v. 1982, wie auch Art. 154 TVerf v. 1961, ein Präsidium für islamische Religionsangelegenheiten meint.283 Dies hängt mit der Tradition zusammen, wonach im Osmanischen Reich die nichtmus278  Art. 81 TVerf v. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S.  23, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / down loads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 279  Art. 103 TVerf v. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, S.  29, 2012, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / down loads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 280  Vgl. Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (186). 281  Art. 136 TVerf v. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S. 38, 39, im Internet unter: http:  /   /  www.tuerkei-recht. de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 282  Hierzu und zur Rechtfertigung des Bestehens des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten s. Tanör / Yüzbaşoğlu, Türk Anayasa Hukuku (Türkisches Verfassungsrecht), 10. Aufl. (2011), S. 99. 283  Vgl. Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (188).



II. Die verfassungsrechtliche Entwicklung 231

limischen Religionsgemeinschaften ihre Religionsangelegenheiten selbständig regelten.284 Gleichwohl ist festzustellen, dass auch aus Rücksicht auf den Laizismus das Wort „islamisch“ im Verfassungstext nicht auftaucht.285 Wegen Art. 10 TVerf v. 1982 kann jedenfalls im Wege der Auslegung bzw. Normenkonkretisierung das Wort „islamisch“ in den Art. 136 TVerf v. 1982 nicht hinein gelesen werden.286 j) Schutz der Reformgesetze Wie schon in der TVerf v. 1961 genießen die sog. Reformgesetze, die maßgeblich zur Säkularisierung der türkischen Gesellschaft beigetragen haben, besonderen Schutz. Sie haben unmittelbar und mittelbar einen Bezug zum Laizismus.287 Die Behauptung ihrer Verfassungswidrigkeit ist unzulässig:288 „Keine Vorschrift der Verfassung darf in der Weise verstanden und ausgelegt werden, dass die am Tage der Annahme der Verfassung durch Volksabstimmung in Kraft befindlichen Vorschriften der nachstehenden Reformgesetze, welche das Ziel haben, die türkische Gesellschaft über den modernen Zivilisationsstandard hinauszuheben und den laizistischen Charakter der Republik zu schützen, verfassungswidrig seien: 1.  Gesetz Nr. 430 vom 3. März 134018 über die Vereinheitlichung des Unterrichts; 2. Gesetz Nr. 671 vom 25. November 134182 über das Tragen westlicher Kopfbedeckungen; 3.  Gesetz Nr. 677 vom 30. November 1341 über Verbot und Schließung der Derwischorden, der Klöster und Mausoleen, über das Verbot des Berufs der Mausoleenwächter und der Führung und Verleihung einiger Titel; 284  Vgl. Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (188). 285  Vgl. Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (188). 286  So Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (188); Zur Einführung des Wort „islamisch“ durch Verfassungsänderung und in diesem Zusammenhang der Problematik des verfassungswidrigen Verfassungstextes s.  m. w. N. Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (188). 287  s.  Tanör / Yüzbaşoğlu, Türk Anayasa Hukuku (Türkisches Verfassungsrecht), 10. Aufl. (2011), S. 95. 288  s.  Tanör / Yüzbaşoğlu, Türk Anayasa Hukuku (Türkisches Verfassungsrecht), 10. Aufl. (2011), S. 95; dem Wortlaut nach ist zwar eine Gesetzesänderung der Reformgesetze nicht verboten, im Falle eines Normenkontrollverfahrens würde das Verfassungsgericht diese Gesetzesänderung aber wohl für verfassungswidrig erklären, vgl. Özbudun, Türk Anayasa Hukuku (Türkisches Verfassungsrecht), 12. Aufl. (2011), S. 84.

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

4.  Der durch das Türkische Zivilgesetzbuch Nr. 743 vom 17. Februar 1926 angenommene Grundsatz der Eheschließung vor dem Standesbeamten und die Bestimmung des Artikels 110 des gleichen Gesetzes; 5. Gesetz Nr. 1288 vom 20. Mai 1928 über die Annahme der international üblichen Ziffern; 6. Gesetz Nr. 1353 vom 1. November 1928 über die Annahme und Anwendung des türkischen Alphabets; 7.  Gesetz Nr. 2590 vom 26. November 1934 über die Aufhebung der Anreden und Titel Efendi, Bey, Pascha und dergleichen; 8.  Gesetz Nr. 2596 vom 3. Dezember 1934 über das Verbot, bestimmte Trachten zu tragen.“289

Die oben zitierten Gesetze wurden im Laufe der Zeit weitgehend durchgesetzt, soweit sie das religiöse Leben mittelbar betreffen.290 Die Reformgesetze sind gem. Art. 174 TVerf v. 1982 unabänderlicher Teil der Verfassung. Ohne diese Privilegierung unterlägen sie nicht nur der freien Disposition des einfachen Gesetzgebers, sondern gerade im Hinblick auf die Religionsfreiheit größten verfassungsrechtlichen Bedenken, da sie tief in den Bereich der Religionsfreiheit eingreifen (Reformgesetz als Schranke).291 Ohne diesen besonderen Schutz wären die Reformgesetze disponibel. Es ließe sich sogar die Rechtsauffassung vertreten, dass die Reformgesetze nicht einmal mit der für eine Verfassungsänderung erforderlichen Mehrheit aufgehoben werden können, da möglicherweise Art. 174 TVerf v. 1985 den wesentlichen Inhalt der Reformgesetze implizit zu einem Bestandteil des Laizismus erklärt.292 Auch ohne diesen besonderen Schutz der Reformgesetze durch die Verfassung sei gleichwohl kein Verstoß gegen die Religionsfreiheit zu sehen, da verfassungstechnisch der Kernbereich (Wesensgehalt) der Religionsfreiheit nicht berührt werde.293 Die in Art. 174 TVerf v. 1982 aufgezählten Reformgesetze konnten praktisch nur insoweit durchgesetzt werden, als sie das religiöse Leben nicht unmittelbar betreffen.294 Trotz des 289  Art. 174 TVerf v. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S. 49, 50, im Internet unter: http:  /   /  www.tuerkei-recht. de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 290  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in. JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (203). 291  So Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in. JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (204). 292  So Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (203). 293  So Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (204), m. w. N. 294  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (203).



II. Die verfassungsrechtliche Entwicklung

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Verbots gibt es nach wie vor illegale religiöse Orden und Koranschulen, und die verbotenen Anreden wie Bey und Pascha sind im alltäglichen Umgang keine Seltenheit, wenn auch ohne ihre sozial klassifizierende Bedeutung.295 5. Zwischenergebnis Die verfassungsrechtliche Entwicklung des Laizismus stellt sich in der Türkei gegenwärtig als ein Prozess dar, der mit der Befreiung des Staates von der Religion ihren Anfang nimmt und schließlich in der staatlichen Einverleibung der Religion durch das Präsidium für religiöse Angelegenheiten und die Aufsicht und Kontrolle der religiösen Erziehung endet. Den Höhepunkt der Befreiung des Staates vom Islam markiert die TVerf v. 1924 durch die, wenngleich verzögert, Abschaffung der Staatsreligion und der formalen Einführung des Laizismus als Staatsprinzip. Es ging zunächst darum, das islamisch-osmanische Erbe aus der Verfassung zu entfernen und eine Verfassung zu entwerfen, die dem säkularen europäisch-freiheitlichen Geist entsprach. Die verfassungsrechtliche Trennung von Staat und Religion wurde erstmals unter der TVerf v. 1961 durch die Einführung des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten aufgeweicht. Dieser Prozess der Aufweichung setzte sich in der TVerf v. 1982 verfassungsrechtlich durch die Einführung der Aufsicht und Kontrolle des Staates über die religiöse Erziehung zunehmend fort. Damit kann festgehalten werden, dass die TVerf v. 1924 in ihrer letzten Fassung diejenige TVerf war, die die Trennung von Staat und Religion vollzog. Der Laizismus in der TVerf v. 1982 entpuppt sich organisationsrechtlich gerade nicht als eine Trennung des Staates von der Religion. Die Religion darf sich zwar nicht in staatliche Angelegenheiten einmischen, wohl aber der Staat in religiöse Angelegenheiten. Es kann daher nicht als Trennungsmodell spezifiziert werden. Ebensowenig kann anhand des Verfassungssystems ein Kooperationsmodell angenommen werden, da es insoweit an einem Kooperationspartner fehlt. Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten ist keine außerstaatliche Religionsgesellschaft, sondern der Staat selbst. Der Verfassungstext ist, sofern er vom „Präsidium für religiöse Angelegenheiten“ spricht, neutral formuliert, sodass Bedenken hinsichtlich der staatlichen Neutralität nicht entstehen.296

295  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (203, 204). 296  Wenngleich die Umsetzung ein Präsidium für islamische Angelegenheiten zur Folge hat.

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

III. Ein Sonderfall des türkischen Laizismus: Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten297 1. Entstehungsgeschichte und Rechtsgrundlage Das Präsidium lässt sich als Institution bis in das Osmanische Reich zurückverfolgen.298 Zu Beginn der Reformen im 19. Jh. lag die Betreuung der religiösen Angelegenheiten in den Händen der traditionsgemäß nicht organisierten islamischen Geistlichen und wurde finanziell vor allem durch unabhängige religiöse Stiftungen getragen.299 Dem Sultan stand der Scheich ul Islam zur Seite, der diesen vor allem im Zusammenhang mit Fragen der Übereinstimmung gesetzgeberischen Handelns mit den Grundsätzen des Islams beriet und so durch seine Rechtsgutachten (Fetwa) erheblichen Einfluss auf die Gesetzgebung hatte.300 Mit dem Einsetzen der Modernisierungsreformen begann auch die zunehmende Integration religiöser Angelegenheiten in die Staatsverwaltung.301 In der Türkei wird der Islam nunmehr seit 1924 zunächst durch das Direktorium, später durch das Präsidium für religiöse Angelegenheiten verwaltet.302 Vorgänger des Präsidiums war zunächst die als Direktorium für religiöse Angelegenheiten bezeichnete Verwaltungseinheit, deren Gründung mit der Abrogation des Ministeriums für Religion und Stiftungswesen (Şer’iye ve Evkaf Vekâleti) einherging.303 Seine organisatorische Struktur wurde durch das Gesetz Nr. 2800 v. 14.06.1935 geregelt.304 297  Im

Folgenden Präsidium. Rumpf, Das Präsidium für Religionsangelegenheiten, in: ZfTS, 1989, Heft 1, S. 21 (22). 299  s.  Rumpf, Das Präsidium für Religionsangelegenheiten, in: ZfTS, 1989, Heft 1, S. 21 (22). 300  s.  Rumpf, Das Präsidium für Religionsangelegenheiten, in: ZfTS, 1989, Heft 1, S. 21 (22). 301  s.  Rumpf, Das Präsidium für Religionsangelegenheiten, in: ZfTS, 1989, Heft 1, S. 21 (22). 302  Eine Aufsatzsammlung zum Präsidium für religiöse Angelegenheiten findet sich in: The Muslim World, 2008, Vol. 98, Nr. 2 / 3. 303  s. Gesetz Nr. 429 v. 03.03.1924, verkündet in arabischen Schriftzeichen in: RG v. 06.03.1924, Nr. 63, veröffentlicht in lateinischen Schriftzeichen in: Düstur, Serie III, Bd. 5, 1948, Nr. 146, S. 320. 304  s. Gesetz Nr. 2800 v. 22.06.1935, verkündet in: RG v. 22.06.1935, Nr. 3035; Düstur, Serie III, Bd. 16, 1935, S. 1501–1504, geändert durch: Gesetz Nr. 3665 v. 05.07.1939, verkündet in: RG 11.07.1939, Nr. 4255, S. 12207; Gesetz Nr. 3960 v. 30.12.1940, verkündet in: RG v. 04.01.1941, Nr. 7403, S. 267; Gesetz Nr. 4135 v. 01.12.1941, verkündet in: RG v. 06.12.1941, Nr. 4977, S. 1990; Gesetz Nr. 4631 v. 02.08.1944, verkündet in: RG v. 08.08.1944, Nr. 5777, S. 7446; Gesetz Nr. 5634 v. 23.03.1950, verkündet in: RG v. 29.03.1950, Nr. 7469, S. 18202; Gesetz Nr. 6465 v. 11.02.1955, verkündet in: RG v. 19.02.1955, Nr. 8935, S. 11069. 298  Vgl.



III. Sonderfall: Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten235

Die Aufgaben des Direktoriums waren im Einzelnen durch Verordnung geregelt.305 Die Umwandlung vom Ministerium hin zu einem Direktorium für religiöse Angelegenheiten und die Neuregelung der Zuständigkeiten bedeutete insgesamt eine Herabstufung.306 Erst mit der TVerf v. 1961 wurde aus dem Direktorium das Präsidium mit Verfassungsrang.307 Dieser Rang wurde in Art. 136 TVerf. v. 1982 übernommen.308 Zwar gelte es weithin als selbstverständlich, dass Art. 154 TVerf v. 1961 und Art. 136 TVerf v. 1982 ein Präsidium für islamische Religionsangelegenheiten meine, was mit der osmanischen Tradition zusammenhänge und Ausdruck des Respekts des Islams und seiner osmanischen Verwalter sei, den nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften zu gestatten, ihre Religionsangelegenheiten selbst zu regeln.309 Gleichwohl sei festzustellen, dass vielleicht aus Rücksicht auf das Laizismus-Prinzip das Wort islamisch im Verfassungstext nicht auftaucht.310 Eine Verfassungslücke kann nicht angenommen werden.311 Der Verfassungsgeber hat es bewusst unterlassen, das Wort islamisch in den Verfassungstext aufzunehmen, obwohl das Urteil über die Frage der Verbeamtung der Mitarbeiter des Präsidiums zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der TVerf v. 1982 bereits mehr als ein Jahrzehnt zurücklag.312 Dies geschah vielleicht, um der Frage nach verfassungswidrigem Verfassungstext zu entgehen.313 Die osmanisch-islamische Tradition könne in einem säkularisierten Staat keine Geltung beanspruchen, wenn sie mit dem Gleichheitsgebot kollidiert.314 Die Erhebung des Präsidiums auf Verfassungsebene bedeutet zwar eine Aufwertung des Präsidiums.315 Andererseits erscheint diese Aufwertung nicht zu305  Vgl. Entscheidung Nr. 2  /  7647 v. 11.11.1937 über die Verordnung zu den Aufgaben des Direktoriums für religiöse Angelegenheiten, verkündet in: RG v. 16.11.1937, Nr. 3760, S. 8968–8970. 306  Vgl. Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (187). 307  Vgl. Art. 154 TVerf v. 1961. 308  Vgl. Art. 136 TVerf v. 1982. 309  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (188). 310  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (188). 311  So auch s. Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (188). 312  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (188). 313  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (188) m. w. N. 314  s.  Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (188). 315  So Rumpf, Das Präsidium für Religionsangelegenheiten, in: ZfTS, 1989, Heft 1, S. 21 (23).

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

gleich als eine Aufwertung des Islams um des Islams willen, sondern vielmehr erfolgt die Aufwertung der staatlichen Aufgabe, die Religion zu beaufsichtigen und zu kontrollieren, um durch diese Religionspolitik die „nationale Integrität“ sicherzustellen.316 Die Religion wird staatliches Mittel zum Zweck. Denn das Präsidium soll als Einrichtung der allgemeinen Verwaltung der nationalen Solidarität und Integration dienen.317 Die Verwaltung des Islams durch das Präsidium geht einher mit der Kontrolle und Aufsicht des Islams. Die Kontrolle und Aufsicht des Islams schließt gleichwohl das Konstatieren einer islamischen Staatsreligion nicht aus.318 Damit kann aber nicht zugleich angenommen werden, die Türkei sei eine Theokratie, da die Herrschaft nicht göttlich sondern säkular legitimiert wird. So paradox es ist, die Türkei erscheint als ein säkular legitimierter Staat mit einer Staats­ religion im Dienste des Laizismus. Die Struktur und die Aufgaben des Prä­ sidiums wurden durch Gesetz Nr. 633319 im Jahre 1965 umfassend und unter Aufhebung der früheren Gesetze über die Aufgaben des Direktoriums geregelt.320 316  In diesem Zusammenhang ist auch die von Karakas besprochene TürkischIslamische-Synthese und die Re-Politisierung des Islam „von oben“ zu sehen, vgl. ders., Türkei: Islam und Laizismus zwischen Staats-, Politik- und Gesellschaftsinteressen, 2007, S. 16 ff.; anders Rumpf, der in der Erhebung auf Verfassungsrang insgesamt eine Aufwertung sieht, vgl. ders., Das Präsidium für Religionsangelegenheiten, in: ZfTS, 1989, Heft 1, S. 21 (23). 317  „Das Präsidium für Religionsangelegenheiten erfüllt als Bestandteil der allgemeinen Verwaltung im Sinne des laizistischen Prinzips außerhalb aller politischen Ansichten und Auffassungen sowie gerichtet auf die nationale Solidarität und Integration die in einem besonderen Gesetz vorgesehenen Aufgaben.“, Art. 136 TVerf v. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, S. 38, 39, 2011, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 318  Nach Rumpf verliert das Argument, das Präsidium diene dazu, den Islam und seine Funktionäre unter staatliche Kontrolle zu bringen, an Durchschlagskraft, wenn das Präsidium für religiöse Angelegenheiten eben doch Verwaltungsorgan einer Staatsreligion wird, vgl. Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, Ss. 179 (189). 319  Gesetz Nr. 633 v. 22.06.1965, verkündet in: RG v. 02.07.1965, Nr. 12038, S. 1–7; zuletzt geändert durch: Gesetz Nr. 2088 v. 24.03.1977, verkündet in: RG 04.04.1977, Nr. 15999, S. 1–2; Gesetz Nr. 1982 v. 26.04.1976, verkündet in: RG v. 30.04.1979, Nr. 16624, S. 2–8; Gesetz Nr. 3745 v. 29.05.1991, verkündet in: RG v. 05.06.1991, Nr. 20892, S. 2; Gesetz Nr. 4379 v. 31.07.1998, verkündet in: RG v. 02.08.1998, Nr. 23421, S. 6; Gesetz Nr. 4415 v. 22.07.1999, verkündet in: RG v. 05.08.1999, Nr. 23777, S. 1; Gesetz Nr. 4724 v. 07.12.2001, verkündet in: RG v. 25.12.2001, Nr.  24621; Gesetz Nr.  5338 v. 27.04.2005, verkündet in: RG v. 03.05.2005, Nr.  25804; Gesetz Nr.  5676 v. 30.05.2007, verkündet in: RG v. 06.06.2007, Nr.  26544; Gesetz Nr.  6002 v. 01.07.2010, verkündet in: RG v. 13.07.2010, Nr. 27640. 320  Zur Aufhebung der früheren Gesetzgebung vgl. § 41 Gesetz Nr. 633.



III. Sonderfall: Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten237

2. Struktur und Aufgaben des Präsidiums Die Aufgaben und die strukturelle Organisation des Präsidiums wurden 1965 neu geregelt.321 Gemäß § 1 Gesetz Nr. 633 ist das Präsidium ausschließlich für die Betreuung der islamischen Religionsangelegenheiten zuständig: „Zur Durchführung des Glaubens, des Gottesdienstes und zur Ethik der islamischen Religion, zur Aufklärung der Bevölkerung in religiösen Belangen und zur Leitung der Gotteshäuser wurde, angesiedelt beim Ministerpräsidenten, das Präsidium für religiöse Angelegenheiten gegründet.“322

Diese ausschließliche Zuständigkeit für die islamische Religion deckt sich nicht mit dem Wortlaut des Art. 154 TVerf v. 1982, wonach das Präsidium für die Religion zuständig ist.323 Der Status des Präsidiums stellt sich als eine Ausnahme zur Trennung von Staat und Religion dar.324 Darüber hinaus wird eine Privilegierung des Islams gegenüber anderen Religionen deutlich.325 Diese Privilegierung ist im Hinblick auf den Gleichheitssatz in Art. 10 TVerf v. 1982 zumindest bedenklich.326 Den Mitarbeitern des Präsidiums ist es verboten, innerhalb oder außerhalb des Dienstes eine politische Partei „zu loben oder zu kritisieren“,327 ein Verstoß führt zu einer Aufkündigung des Arbeitsverhältnisses.328 „Das Verbot politischer Stellungnahmen bedeutet insbesondere,

321  s. Gesetz Nr. 633 v. 22.06.1965, verkündet in: RG v. 02.07.1965, Nr. 12038, S. 1–7. 322  § 1 Gesetz Nr. 633 über die Gründung und Aufgaben des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten v. 22.06.1965, verkündet in: RG v. 02.07.1965, Nr. 12038, Übersetzung der Verfasserin; zuletzt geändert durch Gesetz Nr. 6002 v. 01.07.2010, verkündet in: RG v. 13.07.2010, Nr. 27640. 323  „Das Präsidium für Religionsangelegenheiten erfüllt als Bestandteil der allgemeinen Verwaltung im Sinne des laizistischen Prinzips außerhalb aller politischen Ansichten und Auffassungen sowie gerichtet auf die nationale Solidarität und Integration die in einem besonderen Gesetz vorgesehenen Aufgaben.“, Art. 136 TVerf v. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S.  38, 39, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 29.04.2012). 324  s.  Tanör / Yüzbaşoğlu, Türk Anayasa Hukuku (Türkisches Verfassungsrecht), 10. Aufl. (2011), S. 99. 325  So auch Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (187). 326  Vgl. Rumpf, Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 179 (187, 188). 327  Vgl. § 25 Abs. 1 Gesetz Nr. 633. 328  Vgl. § 25 Abs. 2 Gesetz Nr. 633.

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

dass das DIB[329] weder die Verfassung noch die staatliche Gesetzgebung vom islamischen Recht her öffentlich kritisieren darf.“330 Moscheen dürfen nur mit Erlaubnis des Präsidiums zum Gebet geöffnet werden und werden vom Präsidium geleitet.331 Durch natürliche oder juristische Personen mit oder ohne Erlaubnis gegründete Moscheen, werden innerhalb von drei Monaten dem Präsidium übertragen.332 Das Präsidium besteht aus drei großen Verwaltungseinheiten: Der Zentral-, der Provinz- und der Auslandsverwaltung, die im Folgenden kurz vorgestellt werden. a) Zentralverwaltung Die Zentralverwaltung des Präsidiums besteht aus vier Einheiten: Dem Präsidenten, dem Hohen Rat für Religionsangelegenheiten, dem Kontrollrat und dem Rechtsbeirat. aa) Präsident Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten wird geleitet durch den Präsidenten333, der die gesamten Angelegenheiten der Zentraleinrichtung regelt, leitet und beaufsichtigt.334 Unterstützung erhält der Präsident durch Assistenten, welche die ihnen durch den Präsidenten übertragenen Aufgaben regeln und leiten.335 bb) Hoher Rat für Religionsangelegenheiten Neben dem Präsidenten besteht die Zentralverwaltung aus einem aus 16 Personen bestehenden Hohen Rat für Religionsangelegenheiten, dessen Mit329  Türk.

Diyanet Işleri Başkanlıˇgı (Präsidium für religiöse Angelegenheiten). Die Türkei, in: Der Islam in der Gegenwart, Ende / Steinbach (Hrsg.), 5. Aufl. (2005), S. 229 (240). 331  s. § 35 S. 1 Gesetz Nr. 633. 332  Vgl. § 35 S. 2 Gesetz Nr. 633. 333  Präsident des Präsidiums ist seit dem 11.11.2010 Mehmet Görmez, vgl. Ministerratsbeschluss v. 09.11.2010, Nr. 2010 / 1086, verkündet in: RG v. 11.11.2010, Nr. 27756; spekuliert wird, dass der Vorgänger Ali Bardakoğlu, der seit 2002 Vorgänger Görmez’ war, abberufen wurde, weil Bardakoğlu sich gegen Reformen gestellt habe, vgl. Lerch, Anwalt Aller Muslime der Welt, v. 14.11.2010, in: FAZ.Net, im Internet abrufbar unter: http: /  / www.faz.net / s / RubDDBDABB9457A437BAA85A 49C26FB23A0 / Doc~EEC94D4F2E2E44C53B869DE1275A08264~ATpl~Ecommon ~Scontent.html (zuletzt abgerufen am 13.04.2012). 334  Vgl. § 3 Abs. 1 Gesetz Nr. 633. 335  Vgl. § 4 Gesetz Nr. 633. 330  Spuler-Stegemann,



III. Sonderfall: Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten239

glieder vom Präsidenten bestimmt und vom Ministerrat ernannt werden. Er ist das höchste Entscheidungs- und Beratungsorgan des Präsidiums.336 Zu den Aufgaben des Hohen Rates für Religionsangelegenheiten gehören u. a. die wissenschaftliche Forschung zu religiösen Themen, die Ermittlung und Beratung über die kurz- und langfristige Hauptdienstleistungspolitik des Präsidiums, die Übersetzung und Erstellung religiöser Werke, das Entwerfen der Moschee-Predigten337. Er prüft und entscheidet über die Veröffent­ lichung von Werken, die das Präsidium veröffentlichen möchte, beantwortet religiöse Anfragen, verfolgt und bewertet die im In- und Ausland stattfindenden religiösen Veröffentlichungen und religiöse Propaganda, prüft und nimmt im Auftrag des Präsidiums Entwürfe zu Rechtsvorschriften Stellung, trifft Vorbereitungen für den Glaubensrat und fertigt die dem Glaubensrat vorzulegenden Gutachten und Stellungnahmen des Präsidiums an.338 cc) Kontrollrat Die Zentraleinrichtung besteht daneben aus einem Kontrollrat, der im Auftrag des Präsidenten die Zentraleinrichtung beaufsichtigt und damit betraut ist, die religiösen Dienste zu kontrollieren und Untersuchungen einzuleiten.339 dd) Rechtsbeirat Juristische Unterstützung erhält das Präsidium durch den Rechtsbeirat. Zu seinen Aufgaben gehört die Prüfung von Vertragsentwürfen, das Abgeben von Stellungnahmen zu Streitigkeiten zwischen dem Präsidium und Dritten, die Durchführung der aus Beamtenrecht folgenden Untersuchungen, die Unterstützung und Vertretung des Präsidiums bei Verwaltungs- und Gerichtsverfahren.340

336  Vgl.

§ 5 Abs. 1 und 2 Gesetz Nr. 633. Hermann hat sich das geändert, wonach seit dem 9.06.2006 das Präsidium die Freitagsprädigten nicht mehr zentral für alle Moscheen im Lande vorgebe, s.  ders.; Wohin geht die türkische Gesellschaft, S. 162; eine Untersuchung der Inhalte der türkischen Freitagspredigten findet sich bei Prätor, Türkische Freitagspredigten, Studien zum Islam in der heutigen Türkei, Islamkundliche Untersuchungen, 1985. 338  Vgl. § 5 Abs. 7 Gesetz Nr. 633. 339  Vgl. § 9 Abs. 1 Gesetz Nr. 633. 340  Vgl. § 10 Gesetz Nr. 633. 337  Bei

240

D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

ee) Direktorium für Ausstattung Schließlich besteht die Zentralverwaltung aus einem Direktorium für Ausstattung, zu dessen Aufgaben es gehört, Moscheen, Waschräume und die Provinzverwaltungen zu pflegen und zu schützen, die Kleidung der Reli­ gionsbediensteten zu regeln und Beschwerden in Bezug auf die religiösen Dienste entgegenzunehmen.341 b) Provinzverwaltung Neben der Zentralverwaltung besteht das Präsidium aus einer Provinzverwaltung.342 Vorsitzender jeder Provinzverwaltung (Müftülük) ist ein Mufti343, welcher jeweils in seinem Zuständigkeitsgebiet das Präsidium vertritt, für die Leitung der religiösen Dienste zuständig ist und die Dienste der Beschäftigten regelt und kontrolliert.344 Neben dem Mufti und dem ihm unterstellten Bezirksmufti gibt es den Prediger, der für die Abhaltung der Predigten in Moscheen und anderen Gebetshäusern zuständig ist; die Gebietszuteilung der Provinzverwaltungen erfolgt durch das Präsidium.345 Die Erfüllung der Aufgaben durch Moscheemitarbeiter wird durch Verordnung geregelt.346 c) Auslandsverwaltung Neben der Zentral- und Provinzverwaltung besteht das Präsidium formalgesetzlich erst seit 2007 aus einer Auslandsverwaltung.347 Die vor Einführung des § 18 A Gesetz Nr. 633 bestandenen Auslandseinrichtungen gelten als nach Gesetz Nr. 633 gegründet.348 Die Mitarbeiter des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten werden regelmäßig für jeweils drei Jahre ins Ausland entsendet.349 Voraussetzung für eine Entsendung ist, dass eine mindestens vierjährige Hochschulausbildung absolviert wurde oder mindestens 341  Vgl.

§ 14 Gesetz Nr. 633. §§ 16–18 Gesetz Nr. 633. 343  Müftülük und Mufti sind am ehesten vergleichbar mit den Bistümern und seinen Bischöfen, vgl. Hermann, Wohin geht die türkische Gesellschaft, 2008, S. 162. 344  Vgl. § 16 Gesetz Nr. 633. 345  Vgl. § 17 Gesetz Nr. 633. 346  Vgl. § 18 Gesetz Nr. 633. 347  Vgl. §  18 A Gesetz Nr.  633, eingefügt durch §  1 Gesetz Nr.  5676 v. 30.05.2007, verkündet in: RG v. 06.06.2007, Nr. 26544. 348  s. vorübergehender § 12 Gesetz Nr. 633, eingefügt durch § 2 Gesetz Nr. 5676 v. 30.05.2007, verkündet in: RG v. 06.06.2007, Nr. 26544. 349  s. § 18 A Abs. 2 S. 1 Gesetz Nr. 633. 342  Vgl.



III. Sonderfall: Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten241

eine dreijährige Tätigkeit beim Präsidium oder eine Lehrtätigkeit an einer theologischen Fakultät geleistet wurde. Zusätzlich müssen entweder die Kenntnisse der jeweiligen Landessprache oder Englisch-, Französisch- oder Deutschkenntnisse nachgewiesen werden.350 Das Engagement des Präsidiums in Europa und mithin in Deutschland entstand erst Mitte der 80er Jahre.351 Der türkische Staat beschloss 1984, als bereits eine Reihe von nichtstaatlichen türkisch-muslimischen Organisationen in Deutschland entstanden waren, durch die Einrichtung der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion Köln e. V. (DITIB)352 in den hiesigen Gruppenbildungsprozess einzugreifen.353 Ziel der DITIB sei es, einer Verbreitung von in der Türkei verbotenen nichtstaatlichen islamischen Vereinigungen in Deutschland entgegenzuwirken, die türkischen Migranten von antilaizistischen islamischen Vereinigungen fernzuhalten, die türkischen Muslime zu kontrollieren354 und die in Deutschland lebende türkischstämmige Minderheit dauerhaft an die Türkei zu binden.355 In Übereinstimmung mit dem Ziel des Präsidiums, der nationalen Solidarität und Integration zu dienen, werde die 350  Vgl.

§ 18 A Abs. 3 S. 1 Gesetz Nr. 633. Die Türkisch-Islamische Union der türkischen Religionsbehörde, in: Türkischer Islam und Europa, 1999, S. 261 (261); Lemmen, Muslime in Deutschland, 2001, S. 88. 352  Zur organisatorischen Struktur, Rechtsnatur und Einflußnahmemöglichkeit der türkischen Politik auf DITIB s. Lemmen, Muslime in Deutschland, 2001, S. 88 ff. und Seufert, Die Türkisch-Islamische Union der türkischen Religionsbehörde, in: Türkischer Islam und Europa, 1999, S. 261 (263) ff. 353  „An die Behörde für religiöse Angelegenheiten der Republik Türkei, welche die religiöse Betreuung der Türkei vorsieht, wurde die Bitte um Entsendung von qualifizierten Religionsbediensteten mit pädagogischem Format gerichtet, um so zu erreichen, dass die Betreuung frei von abweichlerischen Tendenzen einen gesunden Verlauf nehmen kann.“, Lemmen, Muslime in Deutschland, S. 53 (Fn. 4), 88; Hermann, Wohin geht die türkische Gesellschaft, 2008, S. 164; Heimbach, Die Entwicklung der islamischen Gemeinschaften in Deutschland seit 1961, 2001, S. 123. 354  „Es wird uns mit der Zeit gelingen, hier in Köln, dem Hauptzentrum aller extremistischen Strömungen religiöser Prägung, noch bessere Resultate zu erzielen.“, Seufert, Die Türkisch-Islamische Union der türkischen Religionsbehörde, in: Türkischer Islam und Europa, 1999, S. 261 (262, 263); Marschke, Religionsunterricht und interkulturelle Erziehung, 2003, S. 223; nach Aussagen des türkischen Staatsministers Mehmet Aydın sind die Ziele der Diyanet in Europa dreierlei: „Diyanet’s interest in the European question has three major dimensions. The first is directly related to the position of Islam in the West, and the second is the condition of Muslim living in the West. The third is Turkey’s relation with the EU as a negotiating country. Needless to say, Diyanet’s fits and foremost concern in this context is its own duty toward the Muslim Turks living abroad.“, ders., Diyanet’s Global Vision, in: The Muslim World, 2008, Vol. 98, Nr. 2 / 3, S. 164 (167). 355  Vgl. Hennig, Muslimische Gemeinschaften im Religionsverfassungsrecht, 2010, S. 29; Heimbach, Die Entwicklung der islamischen Gemeinschaften in Deutschland seit 1961, 2001, S. 125. 351  s.  Seufert,

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

DITIB als Garant dafür betrachtet, dass in den ihr angeschlossenen Moscheevereinen die klassische atatürksche Religionsauffassung, nach welcher der Religion keine gesellschaftspolitische Funktion zukommt, gewährt wird.356 Der in den vergangenen Jahren von der regierenden AKP eingeschlagene Reformprozess, wirkte sich nicht zuletzt auch auf die Arbeit des Präsidiums aus.357 So betrachte das Präsidium die „Auslandstürken“358 nicht wie bisher als „fünfte Kolonne Ankaras“, sondern soll über die ins Ausland entsendeten Imame, deren Qualifikation verbessert wurde,359 zur Integration beitragen.360 Um enger mit den religiösen europäischen Einrichtungen zusammenzuarbeiten, gibt es eine Initiative des Präsidiums, einen Sitz in Brüssel einzurichten.361 Daneben soll eine Brüsseler Agentur und ein Forschungszentrum gegründet werden, welches sich unter dem Fokus Religion und Kultur mit dem Türkei-EU-Verhältnis befassen soll.362 3. Das Laizismus-Prinzip in der Rechtsprechung des TVerfG zum Präsidium für religiöse Angelegenheiten a) Einleitung Erstmals in seiner Geschichte erläutert das TVerfG in seinem wegweisenden Grundsatzurteil aus dem Jahr 1971363 die Bedeutung und den Umfang des Laizismus, wie er sich aus der Verfassung ergebe.364 Gegenstand war 356  s. Hennig, Muslimische Gemeinschaften im Religionsverfassungsrecht, 2010, S. 29, 30; zu den Problemen der fehlenden staatsfreundlichen Gesinnung innerhalb der DITIB s. Marschke, Religionsunterricht und interkulturelle Erziehung, 2003, S. 225. 357  s.  Hermann, Wohin geht die türkische Gesellschaft, 2008, S. 161 ff. 358  Viele von den sog. Auslandstürken sind bereits in Deutschland geboren bzw. sind eingebürgerte Deutsche. 359  Zu § 18 A Abs. 3 S. 2 Gesetz Nr. 633 s. o., Kapitel D., S. 176. 360  Vgl. Hermann, Wohin geht die türkische Gesellschaft, 2008, S. 164. 361  s.  Aydın, Diyanet’s Global Vision, in: The Muslim World, 2008, Vol. 98, Nr.  2 / 3, S.  164 (169). 362  s.  Aydın, Diyanet’s Global Vision, in: The Muslim World, 2008, Vol. 98, Nr.  2 / 3, S.  164 (169). 363  s. TVerfG Urt. v. 21.10.1971, E. 1970  /  53, K. 1971  /  76, abgedruckt in: AMKD, Bd. 10, S. 52–79; sofern im Folgenden das Urt. v. 21.10.1971 in deutscher Sprache zitiert wird, folgt dies der Übersetzung bei Hirsch, Laizismus (Layilik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106–112; eine kurze Besprechung des Urteils nachzulesen bei Rumpf, Das türkische Verfassungsgericht und die Grundzüge seiner Rechtsprechung, in: EuGRZ, 1990, S. 129 (143–144). 364  s.  Rumpf, Das türkische Verfassungsgericht und die Grundzüge seiner Rechtsprechung, in: EuGRZ, 1990, S. 129 (143); Zur Verfassungsgerichtsbarkeit in der



III. Sonderfall: Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten243

die Frage, ob die Einführung der Beamtengruppe Religionsdienste durch Änderung des Gesetzes Nr. 657 über die Staatsbeamten mit der Verfassung vereinbar ist.365 Das Gericht bejahte die Frage und sah in dem Gesetz keinen Verstoß gegen den Laizismus.366 b) Sachverhalt In § 36 Nr. VI Gesetz Nr. 657 über die Staatsbeamten wurde durch § 9 Gesetz Nr. 1327 die Beamtengruppe Religionsdienste eingeführt.367 Die BP368 beantragte im Wege einer abstrakten Normenkontrolle die Aufhebung des § 9 Gesetz Nr. 1327. Die Antragstellerin sah in der zur Prüfung vorgelegten Gesetzänderung einen Verstoß gegen Art. 2369, 4370, 19371, 117372 und Türkei s. Azrak, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Türkei, in: JöR, 1962, Bd. 11, S. 73–92. 365  Gesetz Nr. 657 über die Staatsbeamten v. 14.07.1965, verkündet in: RG v. 23.07.1965, Nr. 12056. S. 1–19; Änderungsgesetz Nr. 1327 v. 31.07.1970, verkündet in: RG v. 14.08.1970, Nr. 13579, S. 5–18. 366  Ein Urteil des EGMR über die Vereinbarkeit des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten mit dem Konventionsrecht gibt es nicht. In der Rs. ÖZDEP / Türkei stellte der EGMR jedoch fest, dass die Forderung der Auflösung des Präsidiums nach Konventionsrecht kein Parteiverbot rechtfertigen kann: „It is of the essence of democracy to allow diverse political projects to be proposed and debated, even those that call into question the way a State is currently organised, provided that they do not harm democracy itself (…). The same applies, too, to ÖZDEP’s proposals for the abolition of the Religious Affairs Department.“, EGMR Urt. v. 08.12.1999, ÖZDEP . / . Türkei (Rs.  23885 / 94), Rn.  41, im Internet unter: http: /  / cmiskp.echr.coe. int / tkp197 / view.asp?item=1&portal=hbkm&action=html&highlight= %D6zdep&sessi onid=95374190&skin=hudoc-en (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012); Gleichwohl bedeutet dieses Urteil des EGMR nicht zugleich, dass das Bestehen des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten gegen die Konvention verstößt. Die EMRK verlangt von den Konventionsstaaten kein bestimmtes staatskirchenrechtliches System, s. Pabel, Islamisches Kopftuch und Prinzip des Laizismus, in: EuGRZ, 2005, S. 12 (15). 367  Gesetz Nr. 657 über die Staatsbeamten v. 14.07.1965, verkündet in: RG v. 23.07.1965, Nr. 12056. S. 1–19; Änderungsgesetz Nr. 1327 v. 31.07.1970, verkündet in: RG v. 14.08.1970, Nr. 13579, S. 5–18. 368  Im Folgenden Antragstellerin. 369  „Die Türkische Republik ist ein auf Menschenrechten und den in der Präambel zum Ausdruck kommenden Grundprinzipien ruhender laizistischer Rechtsstaat.“, Art. 2 TVerf v. 1961; Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 82. 370  „Die Staatsgewalt steht uneingeschränkt und unbedingt der türkischen Nation zu. Die Nation übt ihre Staatsgewalt nach Maßgabe der in der Verfassung festgelegten Grundsätze mittels der zuständigen Organe aus. Die Ausübung der Staatsgewalt darf in keiner Weise einer bestimmten Einzelperson, Gruppe oder Klasse überlassen werden. Keine Person und kein Organ darf eine Funktion des Staates wahrnehmen,

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

154373 TVerf v. 1961. Die Antragstellerin stützt ihren Normenkontrollantrag im Wesentlichen auf die folgende Begründung: 371372373

„Nach der Bestimmung von Art. 2 TV ist die Türkische Republik ein laizistischer (‚lâik‘) Staat. Laizismus (‚Lâiklik‘) bedeutet nach klassischer Auffassung die Trennung der religiösen und staatlichen Angelegenheit. Nach unserer Auffassung sind die religiösen und staatlichen Angelegenheiten voneinander getrennt. Da religiöse Dienste nicht die Eigenschaft des ‚öffentlichen Dienstes‘ haben, entspricht es nicht den Prinzipien des laizistischen Staates, die Geistlichen zu den Beamten zu rechnen. Es widerspricht der Bestimmung von Art. 117 TV, Geistliche in das Staatsbeamtengesetz einzubeziehen. Dadurch, daß die den Gegenstand des Rechtsstreits bildende Bestimmung eine besondere Gruppe der Religionsdienste schafft, wird der Staat den Charakter eines theokratischen, sich um geistliche Angelegenheiten kümmernden Staates erwerben. Dies aber bedeutet in des Wortes vollster Bedeutung die Leugnung der Reformen Atatürks und der Reformverfassung von 1961; es ist unvereinbar mit dem in der Verfassung andie nicht ihre Quelle in der Verfassung findet“, Art 4 TVerf v. 1961, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 86. 371  „Jedermann besitzt die Freiheit des Gewissens, des religiösen Glaubens und der religiösen Überzeugung. Andachtsübungen, religiöse Zeremonien und Feiern sind frei, soweit sie nicht gegen die öffentliche Ordnung, die allgemeine Sitten oder gegen die zu deren Aufrechterhaltung erlassenen Gesetze verstoßen. Niemand darf zur Teilnahme an Andachtsübungen, religiösen Zeremonien und Feiern, zur Offenbarung seines religiösen Glaubens und seiner religiösen Überzeugung gezwungen werden. Niemandem darf sein religiöser Glaube und seine religiöse Überzeugung zum Vorwurf gemacht werden. Religiöse Erziehung und Religionsunterricht sind allein an den eigenen Wunsch und bei Minderjährigen an den Wunsch ihrer gesetzlichen Vertreter gebunden. Niemand darf in der Absicht, die soziale, wirtschaftliche, politische oder rechtliche Grundordnung des Staates, sei es auch nur teilweise, auf religiöse Normen zu stützen oder sich einen politischen oder persönlichen Vorteil oder Einfluss zu sichern, auf welche Weise es auch immer sei, die Religion oder religiöse Gefühle oder religiös für heilig gehaltene Dinge ausbeuten oder missbrauchen. Auf natürliche oder juristische Personen, welche diesem Verbot zuwiderhandeln oder andere dazu aufhetzen, werden die diesbezüglichen gesetzlichen Vorschriften angewandt; politische Parteien werden durch das Verfassungsgericht für immer verboten.“, Art. 19 TVerf v. 1961, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 98. 372  „Die durch öffentliche Dienste bedingten Haupt- und Daueraufgaben des Staates und der anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts, die sie nach allgemeinen Verwaltungsgrundsätzen zu erfüllen verpflichtet sind, werden durch Beamten erledigt. Die Eigenschaften, Ernennung, Amtspflichten, Befugnisse, Rechte, Verpflichtungen, Gehälter, Entschädigungen und andere Personalangelegenheiten sind durch Gesetz zu regeln.“, Art. 117 TVerf v. 1961, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 158. 373  „Das in die allgemeine Verwaltung übernommene Präsidium der religiösen Angelegenheiten hat die in einem Sondergesetz aufgezählten Aufgaben zu erfüllen.“, Art. 154 TVerf v. 1961 Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 187.



III. Sonderfall: Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten245 genommenen Prinzip des Laizismus und demgemäß mit den Art. 2, 4, 19, 117 und 154 der Verfassung.“374

Darüber hinaus führte die Antragstellerin aus, dass nach der Verfassung die religiöse Erziehung und der Religionsunterricht Privatsache sei, es aber dieser widerspreche, „(…) wenn der Staat die Leitung der Religionsangelegenheiten übernehme und zur Realisierung eine besondere Beamtengruppe schaffe, zumal es verschiedene Glaubensgemeinschaften gebe.“375 Ferner verstoße die Schaffung der Beamtengruppe Religionsdienste gegen Art. 154 TVerf v. 1961, da das Präsidium Teil der allgemeinen Verwaltung ist, deren Aufgaben sich aus Spezialgesetz ergeben.376 Zwar sei der Verfassungsstatus des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten nach Art. 154 TVerf v. 1961 wissenschaftlich für sich eine Verfassungswidrigkeit, sei aber aus den historischen Umständen zu erklären.377 Schließlich schaffe die Einführung der Beamtengruppe der Religionsdienste einen Klerus, obwohl der Islam einen solchen nicht kenne.378 c) Entscheidung Im Rahmen der materiellen Prüfung erläutert das Gericht vorab ausführlich die Entwicklung, und die Bedeutung des Laizismus für die Türkei und in Europa: „Die Beantwortung der Frage, ob die angefochtene Bestimmung mit der Verfassung vereinbar ist oder nicht, hängt vor allem von der Untersuchung und Feststellung dessen ab, welcher Art das charakteristische Merkmal des als Laizismus bezeichneten Prinzips ist und welcher Sinn ihm in unserer Verfassung zu­ kommt.“379

Das Gericht leitet sodann auf den Begriff des Laizismus über. Es hebt zunächst allgemein hervor, dass der Laizismus als Prinzip zur Ordnung des Verhältnis von Staat und Religion bei „(…) unterschiedlichen Bedingungen 374  TVerfG, Urt. v. 21.10.1971, E. 1970 / 53, K. 1971 / 76, abgedruckt in: AMKD, Bd. 10, S. 52 (52, 53, 54), Übersetzung zitiert nach Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Nr. 3, S. 106 (107). 375  Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (107). 376  Vgl. AMKD, Bd. 10, S. 52 (53). 377  Vgl. AMKD, Bd. 10, S. 52 (53). 378  Vgl. AMKD, Bd. 10, S. 52 (54). 379  TVerfG, Urt. v. 21.10.1971, E. 1970 / 53, K. 1971 / 76, abgedruckt in: AMKD, Bd. 10, S. 52 (60), Übersetzung zitiert nach Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (107).

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

innerhalb eines jeden Staates (…)“380 und durch „(…) die Unterschiede zwischen den die Struktur einer jeden Religion bestimmenden Bedingungen notwendigerweise auch Unterschiede hinsichtlich der Bedeutung des Begriffs Laizismus zur Folge haben.“381 Sodann konkretisiert das Gericht die oben zitierte allgemeine These und kommt zu dem Ergebnis, dass juristisch Laizismus nach klassischer Auffassung die Trennung von Religion und Staat in dem Sinne bedeute, dass sich die Religion und Staat sich gegenseitig nicht in die Angelegenheiten des jeweils anderen einmischen, weshalb die Kirche vom Staat unabhängig ist.382 Dieser Zustand sei das Ergebnis historischer Umstände, Notwendigkeiten und Zwänge der christlichen Nationen in deren Folge die Kirche eine religiöse Institution ist, ferner es im Christentum einen Klerus gibt und, dass die Existenz religiöser Dienste und der Papst als ein geweihtes religiö­ ses Oberhaupt anerkannt wurden.383 Nach seinen Ausführungen zum Westen und zum Christentum leitet das Gericht über zum Islam. Im Islam, so das Gericht, gebe es keinen Klerus und die in den muslimischen Gotteshäusern tätigen Personen seien auch nicht geweiht.384 Folglich stimmten die Bedingungen des Christentums und des Islams nicht überein, und auch die Ergebnisse, welche die Vorstellung einer Unabhängigkeit oder Autonomie der in religiösen Angelegenheiten tätigen Personen sowohl in der Türkei als auch in den westlichen Staaten gezeigt haben, seien nicht die gleichen.385 Nach dieser Klarstellung kommt das Gericht zur Schlussfolgerung: „Da aus den eben erörterten Gründen in den Nationen, die entweder dem Christentum oder dem Islam anhängen, über die Bedeutung des Begriffs Laizismus notwendigerweise keine Übereinstimmung besteht, kann der Umstand, daß die in 380  TVerfG, Urt. v. 21.10.1971, E. 1970 / 53, K. 1971 / 76, abgedruckt in: AMKD, Bd. 10, S. 52–79, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (107). 381  TVerfG, Urt. v. 21.10.1971, E. 1970 / 53, K. 1971 / 76, abgedruckt in: AMKD, Bd. 10, S. 52–79, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (107). 382  s. TVerfG, Urt. v. 21.10.1971, E. 1970  /  53, K. 1971  /  76, abgedruckt in: AMKD, Bd. 10, S. 52 (61). 383  Vgl. TVerfG, Urt. v. 21.10.1971, E. 1970  / 53, K. 1971 / 76, abgedruckt in: AMKD, Bd. 10, S. 52 (61), Übersetzung bei Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (107). 384  s. AMKD, Bd. 10, S. 52 (61). 385  Vgl. Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (108).



III. Sonderfall: Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten247 den Gotteshäusern und mit geistlichen Aufgaben beschäftigten Personen vom Staat völlig frei und unabhängig sind, als ein dem Laizismus sozusagen immanentes Prinzip nur für diejenigen Staaten in Betracht kommen, in denen die christliche Religion angenommen worden ist.“386

Der Laizismus in der Türkei müsse daher aufgrund der Unterschiede im Islam anders verstanden werden als im Westen und könne nicht als allgemeines Prinzip extensiv gedeutet werden.387 Dieses gelte erst recht vor dem Hintergrund, dass es sogar in einigen westlichen Ländern unterschiedliche Laizismus-Verständnisse gebe.388 Sodann steigt das Gericht schließlich in die Ausführungen zur Bedeutung des Laizismus in der TVerf v. 1961 ein.389 Das Gericht konstatiert zunächst, dass in der Verfassung keine Rechte und Freiheiten anerkannt worden sind, welche die Erreichung der Hauptziele („unsere Nation ständig zu erhöhen“ und „die türkische Gesellschaft auf die Höhe der zeitgenössischen Zivilisation zu erheben“) verhindern oder erschweren könnten und, dass die in die Verfassung aufgenommenen Vorschriften, die sich auf die laizistische Ordnung beziehen, nur in einem Sinne ausgelegt werden dürfen, welche zur Verwirklichung des Hauptziels führen.390 Dieses Hauptziel sei der Grund für die zahlreichen notwendigen Beschränkungen und sogar der beherrschende Gedanke für alle in der Verfassung enthaltenen Prinzipien.391 Dieses Hauptziel sei daher der erste Grundpfeiler, auf den sich der Laizismus in der türkischen Verfassung stützt.392 Das Gericht wendet diese entwickelten Grundsätze zum Laizismus in der türkischen Verfassung sodann auf Art. 19 TVerf v. 1961 (Religionsfreiheit) an. In Art. 19 Abs. 1 TVerf v. 1961 seien 386  TVerfG Urt. v. 21.10.1971, E. 1970  / 53, K. 1971 / 76, in deutscher Sprache zitiert nach Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (108). 387  Das Verfassungsgericht hat diese Aussage in ständiger Rechtsprechung bestätigt, vgl. nur Kopftuch-Urteil aus dem Jahre 1989 über die Verfassungsmäßigkeit der Erlaubnis von Kopftüchern an Hochschuleinrichtungen s. TVerfG, Urt. v. 07.03.1989, E. 1989 / 1, K. 1989 / 12, in: AMKD, Bd. 25, S. 133 (145 ff.), Eine Übersetzung der Kopftuch-Entscheidung findet sich in EuGRZ, 1990, S. 146–155 (149): „Gesetzliche Erlaubnis zum Tragen ‚islamischer Kopftücher‘ an staatlichen Hochschulen ist verfassungswidrig.“ 388  Vgl. AMKD, Bd. 10, S. 52 (62). 389  Vgl. Übersetzung bei Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (108). 390  s. Übersetzung bei Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (108). 391  Vgl. Übersetzung bei Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (108). 392  Vgl. Übersetzung bei Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (108).

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

die Grundlagen des Laizismus festgelegt. Ferner werde der Bereich des religiösen Glaubens, soweit er sich auf das sittliche Leben des Menschen bezieht, unbegrenzt und ohne Unterschiede der Religion gewährleistet.393 Dies gelte auch für Art. 19 Abs. 3 und 4 TVerf v. 1961 zum Schutze der negativen Religionsfreiheit und zum freiwilligen Religionsunterricht.394 Diese oben beschriebene unbegrenzte Freiheit gelte aber nicht für den Bereich der Religionsausübungsfreiheit. Der Staat müsse in den Bereichen, welche auf das gesellschaftliche Leben von Einfluss sind, die Interessen der Nation und den öffentlichen Frieden schützen und der Gefahr vorbeugen, dass die aus der Religionsfreiheit entspringenden Rechte aus der seelischen Sphäre der Individuen in den Bereich des sozialen Lebens übergreifen und sich in Tätigkeiten und Verhaltensweisen umsetzten, welche den öffentlichen Frieden und die Interessen der Gesellschaft bedrohen.395 Aus diesem Grund seien der Religionsfreiheit in diesem Bereich Grenzen zu setzen: Art. 19 Abs. 2 (Beschränkung der religiösen Andacht) und 5 (Missbrauchsverbot) TVerf v. 1961 seien solch eine Beschränkung der Religionsfreiheit.396 Darüber hinaus leite sich aus dem Missbrauchsverbot des Art. 19 Abs. 5 TVerf v. 1961 ab, dass der Laizismus in der Türkei bedeute, dass sich die Religion nicht in die staatlichen Angelegenheiten einmischen darf.397 Der Laizismus habe also nicht den Sinn, dass die in den Gotteshäusern beschäftigten Personen autonom oder unabhängig sind.398 Eine schrankenlose und aufsichtsfreie Religionsfreiheit in der Form von Autonomie oder Unabhängigkeit der in den Gotteshäusern und mit religiösen Aufgaben beschäftigten Personen sei mit der in die Verfassung aufgenommenen laizistischen Ordnung und den Prinzipien des Laizismus unvereinbar.399 Die türkische Verfassung habe bei der Feststellung der wechselseitigen Beziehungen zwischen Religion und Staat für diejenigen Bereiche der Religionsfreiheit, die keine Beziehung zu dem seelischen Leben der Individuen haben, eine Anzahl von Grenzen gezogen und Sanktionen zum Schutz der laizisti393  s. Übersetzung bei Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (108). 394  Vgl. Übersetzung bei Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (108). 395  Vgl. Übersetzung bei Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (108). 396  Vgl. Übersetzung bei Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (108). 397  Vgl. Übersetzung bei Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (109). 398  Vgl. Übersetzung bei Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (109). 399  s. Übersetzung bei Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (109).



III. Sonderfall: Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten249

schen Ordnung festgelegt, mit der Folge, dass der Staat ein Aufsichtsrecht über die Religionsfreiheit hat, um auf diesem Wege das Hauptziel („die Erhebung der türkischen Gesellschaft auf die Höhe der zeitgenössischen Zivilisation“) zu verwirklichen.400 Zusammengefasst bedeute der Laizismus der türkischen Verfassung insbesondere: (1.) „die Aneignung des Grundsatzes, daß die Religion die staatlichen Angelegenheiten nicht beherrscht und beeinflußt.“401 (2.) „die verfassungsmäßige Garantie der Religion durch Anerkennung einer unbeschränkten Religionsfreiheit im Bereich der religiösen Überzeugung [„ohne Berücksichtigung von Unterschieden zwischen ihnen“402] hinsichtlich des seelischen Lebens der Individuen.“403 (3.) „die Hinnahme von Beschränkungen und das Verbot des Mißbrauchs und der Ausbeutung der Religion in der Absicht, die öffentliche Ordnung und Sicherheit und die öffentlichen Belange in denjenigen Bereichen der Religion zu schützen, welche das seelische Leben des Individuums überschreiten und das Wirken und Verhalten im gesellschaftlichen Leben beeinflussen.“404 (4.) „die Zuerkennung der Aufsichtsbefugnis des Staates in seiner Eigenschaft als Hüter der öffentlichen Ordnung und des öffentlichen Rechts über die religiösen Rechte und Freiheiten.“405

Im Anschluss an die Ausführungen zur Bedeutung des Laizismus in der türkischen Verfassung geht das Gericht auf die Frage der verfassungsrecht400  s. Übersetzung bei Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (109). 401  TVerfG, Urt. v. 21.10.1971, E. 1970  /  53, K. 1971  /  76, veröffentlicht in: AMKD, Bd. 10, S. 52 (66), Übersetzung zitiert nach Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (109). 402  Übersetzung der Verfasserin; dieser Halbsatz fehlt bei der Übersetzung Hirschs ist aber im Hinblick auf die Beachtung des Gleichheitsgebotes und der Neutralität des Staates von Bedeutung, vgl. ders., Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (109). 403  TVerfG, Urt. v. 21.10.1971, E. 1970  /  53, K. 1971  /  76, veröffentlicht in: AMKD, Bd. 10, S. 52 (66), Übersetzung zitiert nach Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (109). 404  TVerfG, Urt. v. 21.10.1971, E. 1970  /  53, K. 1971  /  76, veröffentlicht in: AMKD, Bd. 10, S. 52 (66), Übersetzung zitiert nach Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (109). 405  TVerfG, Urt. v. 21.10.1971, E. 1970  /  53, K. 1971  /  76, veröffentlicht in: AMKD, Bd. 10, S. 52 (66), Übersetzung zitiert nach Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (109).

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

lichen Zulässigkeit der Schaffung einer Beamtengruppe Religionsdienste über:406 „Die Verankerung des Präsidiums der religiösen Angelegenheiten in der Verfassung und die Anerkennung der Beamteneigenschaft seiner Angehörigen sind zweifellos die Folgen der oben klargelegten historischen Ursachen und Gegebenheiten, der Bedingungen des Landes und seiner Bedürfnisse (…).“407

Die Beaufsichtigung der Religion, die Verhütung des religiösen Fanatismus durch Ausbildung der mit Religionsangelegenheiten Beschäftigter, sei die Garantie dafür, dass die Religion für die Gesellschaft eine seelische Sphäre ist, die Verwirklichung des Hauptziels (Erhöhung der türkischen Nation) und die Tatsache, dass Muslime die Mehrheit der Bevölkerung sind, bilden die Gründe dafür, dass in der Türkei die zur Befriedigung der religiö­ sen Bedürfnisse tätigen Religionsdiener, die Gotteshäuser und deren weiteren materielle Bedürfnisse gesichert sind und für sie durch Unterstützung gesorgt werde.408 Es stehe nicht im Widerspruch zum verfassungsrecht­lichen Laizismus, wenn „(…) der Staat ebenso, wie er für jede andere soziale Einrichtung sorgt, auch diejenigen sozialen Institutionen unterstützt, welche den religiösen Bedürfnissen der Gesellschaft dient (…)“.409 Es stehe daher auch nicht im Widerspruch zum Laizismus, „(…) daß aus den oben geschilderten Gründen das Präsidium der religiösen Angelegenheiten in der Verfassung verankert worden ist“.410 Die staatlichen Hilfen und die Anerkennung der Beamteneigenschaft der Mitarbeiter des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten habe aus denselben Gründen nicht die Bedeutung, dass der Staat Angelegenheiten der Religion erledige.411 Vielmehr ginge es darum, 406  s. AMKD,

Bd. 10, S. 52 (67–70). Urt. v. 21.10.1971, E. 1970  /  53, K. 1971  /  76, veröffentlicht in: AMKD, Bd. 10, S. 52 (67), Übersetzung zitiert nach Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (109). 408  s. deutscher Übersetzung bei Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (109). 409  TVerfG Urt. v. 21.10.1971, E. 1970  /  53, K. 1971  /  76, veröffentlicht in: AMKD, Bd. 10, S. 52 (68), Übersetzung zitiert nach Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (109, 110). 410  TVerfG, Urt. v. 21.10.1971, E. 1970  /  53, K. 1971  /  76, veröffentlicht in: AMKD, Bd. 10, S. 52 (68), Übersetzung zitiert nach Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (110). 411  s. TVerfG Urt. v. 21.10.1971, E. 1970  /  53, K. 1971  /  76, veröffentlicht in: AMKD, Bd. 10, S. 52 (68), Übersetzung bei Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (110). 407  TVerfG,



III. Sonderfall: Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten251

den durch die Bedingungen notwendig gewordenen Bedürfnissen gerecht zu werden.412 Die Verbeamtung der Mitarbeiter des Präsidiums bedeute nicht, dass „(…) eine unabhängige oder autonome Religionskaste bzw. eine religiöse Organisation gegründet worden ist (…)“.413 Aus oben genannten Gründen verneint das Gericht einen Verstoß gegen den Laizismus und stellt die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzesänderung fest.414 d) Stellungnahme Zuvörderst wird angemerkt, dass der Laizismus zunächst als ein Prinzip zu verstehen sei, welches das Verhältnis von Staat und Religion regelt. Im Westen habe sich dies im Sinne einer wechselseitigen Nichteinmischung von Staat und Religion entwickelt. In der türkischen Verfassungsordnung dagegen bedeute Laizismus keine Korrelation im Sinne von Staat und Religion halten sich gegenseitig aus den Angelegenheiten des jeweils anderen heraus.415 Der türkische Laizismus bestimmt das Verhältnis von Staat und Religion dergestalt, dass er keine wechselseitige, sondern eine einseitige Trennung zu Lasten der Religion bzw. einseitige Einmischung zu Gunsten des Staates meint. Die verfassungsrechtliche Stellung des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten ist insoweit mit dem türkischen Laizismus kongruent. Die einfachgesetzliche Bevorzugung der islamischen Religion durch das Präsidium für religiöse Angelegenheiten ist in der Urteilsbegründung nicht besprochen. Dies stellt aber gleichwohl unter dem Gesichtspunkt des Gleichbehandlungsgebotes und der Neutralität des Staates ein Problem dar. Wäre das Gericht auf diese Fragestellung eingegangen, käme es möglicherweise gleichwohl nicht zur Feststellung einer Laizismuswidrigkeit, wenn sich das Gleichheitsgebot, mithin das Neutralitätsprinzip, nur auf den Schutz 412  s. TVerfG, Urt. v. 21.10.1971, E. 1970  /  53, K. 1971  /  76, veröffentlicht in: AMKD, Bd. 10, S. 52 (68), Übersetzung zitiert nach Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (110). 413  TVerfG, Urt. v. 21.10.1971, E. 1970  /  53, K. 1971  /  76, veröffentlicht in: AMKD, Bd. 10, S. 52 (69), Übersetzung zitiert nach Hirsch, Laizismus (Layiklik) als verfassungsrechtlicher Begriff in der Türkischen Republik, in: Orient, 1974, Heft 3, S. 106 (109, 110). 414  s. TVerfG, Urt. v. 21.10.1971, E. 1970  /  53, K. 1971  /  76, veröffentlicht in: AMKD, Bd. 10, S. 52 (70). 415  Rumpf stellt fest: „Wie später im „Kopftuch-Urteil“ versuchte das Gericht eine umständliche Beschreibung der Entwicklung und des Inhalts des Laizismus-Prinzips, wobei es u. a. den eigenen Weg der türkischen Entwicklung gegenüber demjenigen der westeuropäischen Staaten deutlich machte.“, Rumpf, Das türkische Verfassungsgericht und die Grundzüge seiner Rechtsprechung, in: EuGRZ, 1990, S. 129 (144).

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

des Forum Internum und der negativen Religionsfreiheit beschränkt. So jedenfalls versteht sich die Urteilsbegründung. Aus den oben skizzierten Urteilsgründen wird darüber hinaus deutlich, dass die Religionsfreiheit nur insoweit gewährleistet ist, wie es der Laizismus erlaubt, dessen Zweck es ist, das Ziel der Erhöhung der türkischen Nation zu verwirklichen. Die Religionsfreiheit ist nur insoweit anerkannt, wie sie dieses Ziel nicht verhindert oder erschwert. Konstatiert werden kann also, dass die türkische Verfassung eine laizismuszentrierte Lesart der Religionsfreiheit gewährleistet. Das heißt, Religionsfreiheit wird geschützt, soweit sie mit dem Laizismus vereinbar ist. Im Lichte der Urteilsbegründung erscheint es daher schlüssig und als mit den vom Gericht entwickelten Grundsätzen zum Laizismus der türkischen Verfassung vereinbar, wenn das Gericht konstatiert, dass durch die Verbeamtung der Mitarbeiter des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten gerade keine autonome Religionskaste bzw. religiöse Organisation geschaffen wurde. Zusammengefasst kann hier festgestellt werden: (1) Staatsorganisationsrechtlich gibt es im türkischen Verfassungssystem keine Trennung von Staat und Religion. (2) Das Gleichheitsgebot gilt für den Bereich der Religion nur für das Forum Internum und für den Schutz der negativen Religionsfreiheit. (3) Die Religionsfreiheit ist begrenzt durch den Laizismus.  IV. Sonderfall: Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“

IV. Ein Sonderfall des türkischen Laizismus: Obligatorisches Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ 1. Entstehung und Rechtsgrundlage Gemäß Art. 24 Abs. 4 S. 2 TVerf v. 1982 gehört die „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ in den Primar- und Sekundarschulanstalten zu den Pflichtfächern.416 Darüber hinaus ist die „religiöse Erziehung und Lehre“417 gem. 416  „Religiöse Kultur und Sittenlehre gehören in den Primar- und Sekundarschulanstalten zu den Pflichtfächern.“, Art. 24 Abs. 4 S. 2 TVerf v. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S. 10, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 29.04.2012); Im von der Verfassungskommission und der Beratenden Versammlung erarbeiteten Entwurf waren Nichtmuslime vom obligatorischen Religionsunterricht ausgenommen. Der Nationale Sicherheitsrat strich diese Ausnahmeregelung und legte im Verfassungsentwurf das Unterrichtsfach für alle Schüler fest, vgl. hierzu Dinçkol, 1982 Anayasası Çerçevesinde ve Anayasa Mahkemesi Kararlarında Laiklik (Laizismus im Rahmen der Verfassung von 1982 und der Entscheidungen des Verfassungsgerichts), 1991, S. 73, Fn. 51; ausführlicher zum verfassungsgebenden Verfahren s. Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik vom 9. November 1982, in: JöR, Bd. 32, S. 506 (514 ff.).



IV. Sonderfall: Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“253

Art. 24 Abs. 4 S. 3 TVerf v. 1982 vom eigenen Wunsch der Bürger, bei Minderjährigen vom Verlangen der gesetzlichen Vertreter abhängig.418 Diese Verfassungsregelung ist ein Novum; weder die TVerf v. 1924419 noch die von 1961420 enthielten eine vergleichbare Vorschrift. Damit hat der Verfassungsgeber eine Kehrtwendung um 180 Grad vollzogen.421 Die einfachgesetzliche Konkretisierung des verfassungsrechtlich vorgesehenen freiwilligen Religionsunterrichts nach Art. 19 Abs. 4 TVerf v. 1961 erfolgte durch § 12 des Nationalen Erziehungsgesetzes. In seiner ersten Fassung lautete dieser wie folgt: 417

„Die religiöse Erziehung und Lehre erfolgt nur auf eigenen Wunsch der Person, bei Minderjährigen auf Wunsch des Vertreters. Dieser Wunsch ist bei der Einschulung durch die Erziehungsberechtigten gegenüber der Schulverwaltung schriftlich mitzuteilen.“422

Nach der Einführung des obligatorischen Unterrichtsfaches „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ durch die TVerf v. 1982 wurde das Nationale Erziehungsgesetz an die Verfassungslage angepasst und lautet bis heute wie folgt: „Fundament der Nationalen Türkischen Erziehung ist der Laizismus. Religiöse Kultur und Sittenlehre gehören in den Grund- und Oberschulen sowie an den Gymnasien zum Pflichtunterricht.“423 417  Zur religiösen Erziehung in der Türkei s. Scheinhardt, Die religiöse Lage in der Türkei, 1986, m. w. N. 418  „Darüber hinaus ist religiöse Erziehung und Lehre vom eigenen Wunsch der Bürger, bei Minderjährigen vom Verlangen der gesetzlichen Vertreter abhängig.“, Art. 24 Abs. 4 S. 3 TVerf v. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S. 10, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de /  downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 419  „Niemandem dürfen wegen seiner weltanschaulichen Überzeugung, wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Religion oder einer Konfession Vorhaltungen gemacht werden, Die Ausübung des Gottesdienstes jeder Art ist frei, soweit sie nicht gegen die öffentliche Ordnung, die guten Sitten und die gesetzlichen Vorschriften verstößt.“, Art. 75 TVerf v. 1924 in der Fassung des Gesetzes Nr. 3115 v. 05.02.1937, verkündet in: RG v. 13.02.1937, Nr. 3533, S. 7659, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 216. 420  „Religiöse Erziehung und Religionsunterricht sind allein an den eigenen Wunsch und bei Minderjährigen an den Wunsch ihrer gesetzlichen Vertreter gebunden“, Art. 19 Abs. 4 TVerf v. 1961, Übersetzung zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 98. 421  s.  Hirsch, Die Verfassung der türkischen Republik vom 9. November 1982, in: JöR, 1983, Bd. 32, S. 530. 422  § 12 Gesetz Nr. 1739 v. 14.06.1973, verkündet in: RG v. 24.06.1973, Nr. 14574, S. 1 (2), Übersetzung der Verfasserin. 423  § 4 Gesetz Nr. 2842 über die Änderung mancher Bestimmungen des Nationalen Erziehungsgesetzes vom 14.6.1973, Nr. 1739 v. 16.06.1983, verkündet in: RG v. 18.06.1983, Nr. 18081, S. 4 (5); Übersetzung der Verfasserin.

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

Eine Befreiungsmöglichkeit vom Pflichtfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ sieht das Gesetz nicht vor. Erst in einer Entscheidung aus dem Jahre 1986 hob der Hohe Bildungsrat (Eğitim ve Öğretim Yüksek Kurulu) für christliche und jüdische Schüler zunächst die Pflicht auf, im Fach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ islamische Bekenntnisse und Gebete auswendig zu lernen.424 In einem nächsten Schritt ordnete das Bildungsministerium 1990 durch ein Rundschreiben (Genelge) die Möglichkeit der Befreiung für christliche und jüdische Schüler vom Fach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ an, sofern diese Schüler ihre entsprechende Religionszugehörigkeit nachweisen können.425 Eine Befreiung für muslimische Schüler oder für Schüler einer anderen als der christlichen oder jüdischen Religionszugehörigkeit oder Weltanschauung ist nicht vorgesehen. 2. Das Laizismus-Prinzip in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum obligatorischen Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ a) Der Staatsrat zum obligatorischen Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ aa) Einleitung Der Staatsrat (Danıştay)426 befasste sich in seiner Entscheidung aus dem Jahr 1987 mit der Frage, ob die Anordnung eines fünftägigen Schulverbots gegen einen Schüler alevitischen Glaubens wegen der verweigerten Teilnahme am Fach „Religiöse Kultur und Ethiklehre“ rechtmäßig ist. Der Staatsrat sah in dem Schulverbot keinen Verstoß gegen geltendes türkisches Recht und wies die Klage ab.427 424  Zitiert nach Özenç Avrupa Insan Hakları Sözleşmesi ve Inanç Özgürlüğü (Europäische Menschenrechtskonvention und Glaubensfreiheit), 2006, S. 123, 124. 425  „Following the proposal by the Ministry of Education, pupils of Turkish nationality who belong to the Christian or Jewish religions and who attend primary and secondary schools, with the exception of schools for minorities, are not obliged to follow the classes in religious culture and ethics, provided they affirm their adherence to those religions. If, however, such pupils wish to attend such classes, they must submit a written request from their legal representative.“, EGMR Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs. 1448 / 04), S. 4, Rn. 18, im Internet unter: http: /  / cmiskp. echr.coe.int / tkp197 / view.asp?item=2&portal=hbkm&action=html&highlight=Zengin& sessionid=95374874&skin=hudoc-en (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 426  Zur türkischen Verwaltungsgerichtsbarkeit und zum Staatsrat s. Rumpf, Einführung in das türkische Recht, 2004, S. 57 ff. 427  s. Staatsrat, Urt. v. 10.02.1987, Sekizinci Daire (8. Kammer) E. 518, K. 54, in: DD, Nr. 68–69, im Internet unter dem Stichwort „din kültürü“: http: /  / www.da nistay.gov.tr / kerisim / KelimeArama.jsp (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012).



IV. Sonderfall: Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“255

bb) Sachverhalt Der Kläger ist gesetzlicher Vertreter des minderjährigen schulpflichtigen Schülers der 2. Klassenstufe einer Oberschule. Der Sohn des Klägers verweigerte die Teilnahme am Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“. Daraufhin erließ die Schulverwaltung auf Entscheidung des Disziplinarrates der Schule gegen den Schüler ein fünftägiges Schulverbot. Der Kläger wehrte sich zunächst im Wege der Anfechtungsklage beim Verwaltungsgericht gegen die Anordnung des Schulverbots. Das Verwaltungsgericht sah in der Entscheidung der Schulverwaltung keinen Rechtsverstoß und wies die Klage ab. Das Verwaltungsgericht begründete seine Entscheidung damit, dass gem. Art. 24 TVerf v. 1982 das Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ obligatorisch sei, dass die Teilnahmepflicht für alle Schüler ohne Ansehen ihrer religiösen Überzeugung gelte und daher nicht verfassungswidrig sei. Die Teilnahmepflicht ergebe sich zudem aus § 12 Gesetz Nr. 1739 (Nationales Erziehungsgesetz). Der Staat beabsichtige, so das Gericht, mit der Kontrolle und Aufsicht des Unterrichtsfaches „Religiöse Kultur und Sittenlehre“, Bürger entsprechend den Grundprinzipien der Republik Türkei zu erziehen. Zudem beabsichtige der Staat mit der Kontrolle und Aufsicht dem Missbrauch der Religion vorzubeugen. Das Ministerium für Erziehung, Jugend und Sport habe gem. Art. 24 TVerf v. 1982 verkündet, dass die Teilnahme am streitgegenständlichen Unterrichtsfach verpflichtend sei. Zudem sehe § 5 der Schüler-Disziplinarordnung vor, dass Schüler im Falle des Zuspätkommens, Fernbleibens oder frühzeitigen Entfernens vom Unterricht, von Zeremonien, Studien, schriftlichen und mündlichen Prüfungen, Werkstätten und praktischen Arbeiten eine kurzzeitige Entfernungsstrafe von einem bis fünf Tagen zu erlassen sei. Aus den oben genannten Gründen verstoße das fünftägige Schulverbot gegen den Sohn des Klägers weder gegen das Gesetz noch gegen die Verordnung. Der Kläger legte gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Revision beim Staatsrat ein. cc) Entscheidung Mit einer sehr knapp gehaltenen Urteilsbegründung wies der Staatsrat die Revision des Klägers zurück.428 Gem. Art. 24 TVerf v. 1982 und gem. § 12 des durch Gesetz Nr. 2842 geänderten Gesetzes Nr. 1739 (Nationales Erziehungsgesetz) sei das Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ 428  Die Urteilsbegründung umfasst eine ½ DIN A4 Seite, vgl. Staatsrat, Urt. v. 10.02.1987, Sekizinci Daire (8. Kammer), E. 518, K. 54, in: DD, Nr. 68–69, im Internet unter dem Stichwort „din kültürü“: http: /  / www.danistay.gov.tr / kerisim /  KelimeArama.jsp (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012).

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

obligatorisch, weshalb jeder Schüler verpflichtet sei, an diesem Unterricht teilzunehmen. Der Erlass eines fünftägigen Schulverbots gem. SchülerDisziplinarordnung gegen einen Schüler, der sich weigert am Pflichtunterricht teilzunehmen, verstoße weder gegen das Gesetz noch gegen die Verordnung. Das Gleiche gelte für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts.  Es bestünden keine Zweifel, dass die betroffenen Personen, sofern der Lernstoff des Unterrichtsfachs „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ über den Rahmen der „religiösen Kultur“ hinausgehe, den Rechtsweg beschreiten können. Aus den oben genannten Gründen entspreche das Urteil des Verwaltungsgerichts in seiner Begründung der Rechtslage. Die Revision des Klägers wurde als unbegründet abgewiesen. dd) Stellungnahme In seinem oben dargestellten Urteil prüft der Staatsrat ausschließlich die Frage, ob die Anordnung des Schulverbots der formalen Rechtslage entspricht. Eine darüber hinausgehende Prüfung zur Frage, ob der Lehrplan und der konkrete Unterrichtsinhalt rechtmäßig sind, geht der Staatsrat nicht ein. Diese Sachlage wäre aber zu prüfen gewesen, zumal der Schüler dem Unterricht fernblieb, weil er darin, anders als im Verfassungs- und Gesetzestext vorgesehen, einen Bekenntnisunterricht sah und sich in seiner negativen Religionsfreiheit verletzt fühlte. Somit blieb die Hauptfrage, ob das Fach „Religiöse Erziehung und Sittenlehre“ wie von Verfassungs wegen vorgesehen ein Religionskundeunterricht oder doch ein sunnitisch-islamischer Bekenntnisunterricht ist, vom Staatsrat ungeklärt. Folglich blieb durch das Gericht auch die Frage ungeklärt, ob der obligatorische Religionsunterricht gegen den Laizismus der türkischen Verfassung, mithin gegen die negative Religionsfreiheit und das Gleichheits- und Neutralitätsgebot, verstößt. b) EGMR zum obligatorischen Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ aa) Einleitung In seiner Entscheidung aus dem Jahr 2007 setze sich der EGMR mit der Frage auseinander, ob die obligatorische Teilnahme eines Schülers mit alevitischem Glauben am Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ gegen das Vertragsrecht verstößt. Der EGMR bejahte einen Verstoß gegen Art. 2 Zusatzprotokoll zur EMRK und gab der Beschwerde statt.429 429  s. EGMR Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs.  1448 / 04); in deutscher Übersetzung abgedruckt in: NVwZ, 2008, Heft 12, S. 1327–1329.



IV. Sonderfall: Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“257

bb) Sachverhalt Die Bf. (Hasan und Eylem Zengin)430 sind türkische Staatsangehörige. Bf. zu 1 ist Vater der zum Zeitpunkt der Beschwerdeeinreichung beim EGMR im Jahre 2004 noch minderjährigen schulpflichtigen Bf. zu 2 und legte die Beschwerde zugleich im Namen der Bf. zu 2 ein. Beide Bf. sind Angehörige des alevitischen Glaubens. Der alevitische Glaube wird im Allgemeinen als eine Richtung des Islams angesehen, der sich hauptsächlich in der Türkei entwickelte, der insbesondere vom Sufismus und von einigen vorislamischen Glaubensrichtungen beeinflusst wurde.431 Er ist nach dem hanafitischen Islam der am meisten verbreitete Glaube.432 Der alevitische Glaube unterscheidet sich vom sunnitisch-hanafitischen Islam in den Glaubensinhalten und in der Religionsausübung.433 Im Jahre 2001 beantragte der Bf. zu 1 bei der zuständigen Schulbehörde die Befreiung der Bf. zu 2 vom Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“.434 Der Antrag des Bf. zu 1 wurde abgelehnt; die gegen die Ablehnungsentscheidung erhobene Anfechtungsklage beim zuständigen Verwaltungsgericht begründete der Bf. zu 1 damit, der Unterrichtsinhalt des streitgegenständlichen Faches würde im Wesentlichen die Grundlagen des hanafitischen Islams lehren, nicht dagegen die des alevitischen Glaubens. Zugleich rügt er die Pflicht zur Teilnahme am Unterrichtsfach.435 Das Verwaltungsgericht wies die Klage der Bf. am 28.12.2001 ab. Die hiergegen eingelegte Revision beim Staatsrat hatte keinen Erfolg.436 Der Staatsrat wies

430  Im

Folgenden Bf. zu 1 und 2. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs. 1448 / 04), in: NVwZ, 2008, Heft 12, S. 1327. 432  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs. 1448 / 04), in: NVwZ, 2008, Heft 12, S. 1327. 433  „Die Aleviten lehnen die Charia und die Sunna ab und verteidigen die Religionsfreiheit, die Menschenrechte und die Achtung der Frau, den Humanismus und die Demokratie, Rationalismus, Modernismus, Universalismus, Toleranz und Laizismus. Die Aleviten beten nicht in der Art der Sunniten und kennen insbesondere nicht das Gebot der fünf täglichen Gebete. Sie üben ihre Religion in religiösen Gesängen und Tänzen aus. Sie besuchen keine Moscheen, sondern treffen sich regelmäßig an Versammlungsstätten, den cemevi, zu rituellen Zeremonien. Die Aleviten glauben, dass Allah nicht im Himmel und nicht im Paradies wohnt, sondern in jedem Menschen.“; EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs. 1448 / 04), Übersetzung zitiert nach NVwZ, 2008, Heft 12, S. 1327. 434  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs. 1448 / 04), in: VwZ, 2008, Heft 12, S. 1327. 435  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs. 1448 / 04), in: NVwZ, 2008, Heft 12, S. 1327. 436  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs. 1448 / 04), in: NVwZ, 2008, Heft 12, S. 1327. 431  Vgl.

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

die Revision am 14.04.2003 zurück.437 Am 2.1.2004 legten die Bf. beim EGMR Beschwerde ein und machten die Verletzung von Art. 2 Zusatzprotokoll zur EMRK und Art. 9 EMRK geltend.438 cc) Entscheidung Der Gerichtshof prüft die Verletzung des Art. 2 Zusatzprotokoll zur ­ MRK und wiederholt zunächst Grundsätze, die er in ständiger RechtspreE chung zu Art. 2 Zusatzprotokoll zur EMRK entwickelt hat. Diese sind: (1) „Art. 2 S. 2 Zusatzprotokoll zur EMRK hindert den Staat nicht daran, in Unterricht oder Erziehung Informationen oder Kenntnisse zu vermitteln, die direkt oder indirekt religiöser oder weltanschaulicher Art sind. Viele Unterrichtsfächer in der Schule hätten mehr oder weniger eine Färbung oder Prägung philosophischer Art. Das gilt auch für die Prägung durch die Religion, wenn man Konfessionen in Betracht ziehe, die eine sehr umfangreiche dogmatische und moralische Einheit darstellten und die Antworten auf alle Fragen philosophischer, kosmologischer oder ethischer Art geben oder geben können.“439 (2) „Art. 2 S. 2 Zusatzprotokoll zur EMRK verlangt aber andererseits, dass der Staat bei der Erfüllung der von ihm in Erziehung und Unterricht übernommenen Aufgaben darauf achtet, dass Informationen oder Kenntnisse nach dem Lehrplan auf objektive, kritische und pluralistische Weise vermittelt werden, damit die Schüler ein kritisches Verständnis der Religionen entwickeln können.“440 Dies solle in einer entspannten Atmosphäre, die jede unzeitgemäße Missionierung ausschließt, geschehen.441 (3) Wenngleich die Konventionsorgane einen Unterricht, der Kenntnisse über Religionen vermittelt, nicht als Konventionsverletzung ansehen, so muss doch geprüft werden, ob die Schüler an einer Form religiösen Kults teilnehmen müssen oder irgendeiner religiösen Indoktrinierung ausgesetzt sind.442 Dabei sind die Voraussetzungen einer Befreiung zu berücksichtigende Elemente.443 437  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin .  /  . Türkei (Rs. 1448 / 04), in: NVwZ, 2008, Heft 12, S. 1327. 438  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs. 1448 / 04), in: NVwZ, 2008, Heft 12, S. 1327. 439  EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs.  1448 / 04), Rn. 5, Übersetzung zitiert nach NVwZ, 2008, S. 1327 (1328). 440  EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs.  1448 / 04), Rn. 52, Übersetzung zitiert nach NVwZ, 2008, S. 1327 (1328). 441  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs. 1448 / 04), Rn. 52, in: NVwZ, 2008, S. 1327 (1328). 442  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs. 1448 / 04), Rn. 53, in: NVwZ, 2008, S. 1327 (1328). 443  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs. 1448 / 04), Rn. 53, in: NVwZ, 2008, S. 1327 (1328).



IV. Sonderfall: Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“259 (4) Die Pflicht des Staates zur Unparteilichkeit und Neutralität gegenüber den verschiedenen Religionen, Kulten und Glaubensrichtungen schließt die Befugnis aus, über die Berechtigung religiöser Glaubensüberzeugungen oder ihrer Bekenntnisformen zu urteilen.444 „Der Staat braucht auch keine Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Religionsgemeinschaften unter einheitlicher Leitung bleiben oder unter einheitliche Leitung gebracht werden.“445

In einem zweiten Schritt wendet der Gerichtshof die oben in ständiger Rechtsprechung entwickelten Prinzipien auf den Fall des türkischen Unterrichtsfaches „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ an. Zunächst prüft der Gerichtshof, ob der Unterrichtsinhalt im Fach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ objektiv, kritisch und pluralistisch ist. Sodann prüft er, ob es im türkischen Unterrichtssystem probate Möglichkeiten gibt, die die Achtung der elterlichen Überzeugung ausreichend sicherstellen. (1) Objektiver, kritischer und pluralistischer Unterrichtsinhalt Der Gerichtshof stellt fest, dass der Lehrplan des Unterrichtsfaches „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ das Ziel hat, die Schüler damit vertraut zu machen, dass „Kulthandlungen nicht nur die Bezeugung von Liebe, Achtung und Dankbarkeit gegenüber Allah sind, sondern auch Einzelpersonen ermöglicht, sich in Liebe und Achtung zusammenzuschließen, sich zu helfen und solidarisch füreinander einzustehen“ und „durch verschiedene Beispiele zu erklären, dass der Islam eine rationale und universelle Religion ist und durchaus kein Mythos“.446 Zudem umfasse der Unterricht auch das Studium der Handlungen des Propheten Mohammed und des Korans.447 Der Lehrplan für die 7. Klasse sehe die Lehre der grundsätzlichen Aspekte des Islams, wie „die Pilgerreise und die Mildtätigkeit“, Kenntnisse über „die Engel und andere unsichtbare Wesen“ und „den Glauben an eine andere Welt“ vor.448 Auch eine Prüfung der im Unterricht verwendeten Schulbücher zeige, dass sie sich nicht auf die Vermittlung von Kenntnissen über Religionen im Allgemeinen beschränken, sondern auch Texte enthalten, die darauf abzielen, Schülern die 444  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs. 1448 / 04), Rn. 54, in: NVwZ, 2008, S. 1327 (1328). 445  EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs.  1448 / 04), Rn. 54, Übersetung zitiert nach NVwZ, 2008, S. 1327 (1328). 446  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs. 1448 / 04), Rn. 60, in: NVwZ, 2008, S. 1327 (1328). 447  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin .  /  . Türkei (Rs. 1448 / 04), Rn. 60, in: NVwZ, 2008, S. 1327 (1328). 448  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin .  /  . Türkei (Rs. 1448 / 04), Rn. 60, in: NVwZ, 2008, S. 1327 (1328).

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

allgemeinen Grundsätze des Islams nachdrücklich zu lehren und einen allgemeinen Überblick über die religiösen Gebräuche zu geben.449 „Außerdem sollen die Schüler mehrere Suren des Korans auswendig lernen, mit Hilfe von bildlichen Darstellungen die täglichen Gebete studieren (…) und nach Abschluss der Studien schriftliche Prüfungen ablegen.“450 In der Folge kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass der Lehrplan für die Grundund Oberschulen und die Schulbücher der Kenntnis des Islams größeren Raum einräumen als der Kenntnis anderer Religionen und Weltanschauungen.451 Dies allein begründe jedoch unter Berücksichtigung der Mehrheit der muslimischen Bevölkerung trotz des Laizismus in der Türkei keinen Verstoß gegen die Grundsätze des Pluralismus und der Objektivität, der als Indoktrinierung angesehen werden könnte.452 Nach der Feststellung des Vorrangs des Islams im Lehrplan und Lernstoff des Unterrichtsfaches „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ geht der Gerichtshof der Frage nach, ob dieser in den nach Art. 2 Zusatzprotokoll zur EMRK zulässigen Grenze bleibt. Der Gerichtshof prüft, ob die im Lehrplan vorgesehenen Informationen und Kenntnisse auf objektive, kritische und pluralistische Weise vermittelt werden.453 Dies verneint der Gerichthof, denn die Schüler erhalten insbesondere keinen Unterricht über die Besonderheiten des Bekenntnisses und der Riten der Aleviten, obwohl die diesem Bekenntnis angehörende Bevölkerung einen bedeutsamen Teil der türkischen Gesellschaft darstelle.454 Der Unterrichtsinhalt für die 1. und 2. Klassenstufe, sowie der Unterrichtsstoff für die 9. Klassenstufe belegten die inhaltlich-pluralistischen Lücken des Faches „Religiöse Kultur und Sittenlehre“.455 Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass der im Fach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ erteilte Unterricht nicht den Anforderungen an Objektivität und Pluralismus entspricht und nicht die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen des Bf. zu 1 achtet.456 449  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin .  /  . Türkei (Rs. 1448 / 04), Rn. 61, in: NVwZ, 2008, S. 1327 (1328). 450  EGMR, Urt. v. 09.10.2007 Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs.  1448 / 04), Rn. 62, Übersetzung zitiert nach NVWZ, 2008, S. 1327 (1328). 451  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs. 1448 / 04), Rn. 63, in: NVwZ, 2008, S. 1327 (1328). 452  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs. 1448 / 04), Rn. 63, in: NVwZ, 2008, S. 1327 (1328). 453  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin .  /  . Türkei (Rs. 1448 / 04), Rn. 64, in: NVwZ, 2008, S. 1327 (1328). 454  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs. 1448 / 04), Rn. 67, in: NVwZ, 2008, S. 1327 (1329). 455  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs. 1448 / 04), Rn. 67, in: NVwZ, 2008, S. 1327 (1329). 456  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs. 1448 / 04), Rn. 70, in: NVwZ, 2008, S. 1327 (1329).



IV. Sonderfall: Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“261

(2) A  ngemessenes Mittel zur Sicherstellung der elterlichen Überzeugung Gemäß Art. 2 S. 2 Zusatzprotokoll zur EMRK, der den Eltern ein Recht auf Achtung ihrer religiösen und weltanschaulichen Überzeugung im Religionsunterricht gibt, folgert der Gerichtshof die positive Pflicht der Konventionsstaaten, es soweit wie möglich zu vermeiden, dass Schüler in Konfliktsituationen zwischen dem in der Schule erteilten Religionsunterricht und den religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern geraten.457 Der Gerichtshof führt aus, dass nach Art. 24 TVerf v. 1982 das Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ zu den Pflichtfächern gehört. Die in Folge der Entscheidung des Hohen Erziehungsrats vom 9.7.1990 eingeräumte Möglichkeit zur Befreiung vom Unterricht gelte aber nur für Kinder „türkischer Nationalität, die der christlichen oder jüdischen Religion angehören. Eine Befreiung setze zudem voraus, dass die religiöse Überzeugung der zuständigen Verwaltung bekannt gemacht wird. Nach Ansicht des Gerichtshofs wirft das türkische Befreiungsverfahren, welches voraussetzt, die christliche und jüdische Überzeugung bekannt zu geben, Fragen nach Art. 9 EMRK und nach Art. 24 Abs. 3 S. 1 TVerf v. 1982458 auf.459 Der Umstand, dass lediglich christlichen und jüdischen Schülern eine Befreiungsmöglichkeit eingeräumt wird, erweckt nach Ansicht des Gerichtshofes den Eindruck, „dass der im Fach ‚Religiöse Kultur und Sittenlehre‘ erteilte Unterricht diese Schüler in Konflikt bringen kann zwischen der religiösen Erziehung in der Schule und den religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen ihrer Eltern.“460. Denn, so der Gerichtshof, „wenn es sich wirklich um einen Unterricht über verschiedene Religionen handelt, macht es keinen Sinn, den zwingenden Charakter des Unterrichts auf islamische Kinder zu beschrän­ ken“.461 „Wenn dagegen der Unterricht im Wesentlichen den Islam lehren soll, also der Unterricht über eine besondere Religion erfolgt, dürfte es 457  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs. 1448 / 04), Rn. 71, in: NVwZ, 2008, S. 1327 (1329). 458  „Niemand darf gezwungen werden, an Gottesdiensten, religiösen Zeremonien und Feiern teilzunehmen, seine religiöse Anschauung und seine religiösen Überzeugungen zu offenbaren;“, Art. 24 Abs. 3 S. 1 TVerf v. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Verfassung der Republik Türkei, S. 10, im Internet unter: http: /  / www.tuer kei-recht.de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 459  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei (Rs. 1448  /  04), Rn. 73, in deutscher Sprache zitiert nach NVwZ, 2008, S. 1327 (1329). 460  EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem .  /  . Türkei (Rs.  1448 / 04), Rn. 74, Übersetzung zitiert nach NVwZ, 2008, S. 1327 (1329). 461  EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem .  /  . Türkei (Rs.  1448 / 04), Rn. 74, Übersetzung zitiert nach NVwZ, 2008, S. 1327 (1329).

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zwingend geboten sein, die Religionsfreiheit der Kinder und ihrer Eltern zu achten.“462 Das Gericht kommt schließlich zu dem Ergebnis, dass das türkische Befreiungsverfahren kein angemessenes Mittel ist und Eltern keinen ausreichenden Schutz biete.463 dd) Stellungnahme Der EGMR bewertet im Rahmen seiner Urteilsbegründung nicht das Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei schlechthin, sondern geht nur der Frage nach, ob das von den Bf. gerügte Unterrichtsfach eine Verletzung des Konventionsrechts bedeutet. Dabei stellt der EGMR fest, dass entgegen des verfassungsrechtlichen und des einfachgesetzlichen Wortlautes, es sich bei der Umsetzung des Unterrichtsfachs „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ an den staatlichen Schulen der Türkei nicht um einen Religionskundeunterricht, sondern um einen Bekenntnisunterricht des hanafitisch-sunnitischen Islams handelt. Das Gericht kommt zum zustimmungswürdigen Ergebnis, dass die gesetzliche Pflicht zur Teilnahme am Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ gegen die negative Religionsfreiheit für Schüler anderer religiöser Überzeugung verstößt. Nichts anderes gilt für die Befreiungsmöglichkeit für christliche und jüdische Schüler, wenn diese die Bekanntgabe der religiösen Überzeugung gegenüber der Schulverwaltung voraussetzt. Dies entsprach der Intention des Verfassungsgebers, als der frei­ willige Religionsunterricht in Art. 19 Abs. 4 TVerf v. 1961 aufgenommen wurde und auch der Intention des Verfassungsgebers, der ausdrücklich die „Religiöse Kultur“ und nicht „die religiöse Erziehung“ in Art. 24 Abs. 4 TVerf v. 1982 aufnahm. c) Der Staatsrat zum obligatorischen Unterrichtsfach „Religiöse Erziehung und Sittenlehre“ aa) Einleitung Im Anschluss an die Entscheidung des EGMR464 im Fall Hasan und ­Eylem Zengin . / . Türkei zum Fach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ be462  EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem .  /  . Türkei (Rs.  1448 / 04), Rn. 74, Übersetzung zitiert nach NVwZ, 2008, S. 1327 (1329). 463  Vgl. EGMR, Urt. v. 09.10.2007, Hasan und Eylem . / . Türkei (Rs.  1448 / 04), Rn. 75, in: NVwZ, 2008, Heft 12, S. 1327 (1329). 464  Zur Anerkennung der Rechtsprechung des EGMR und zur höchstrichterlichen Anwendung von Menschenrechtsverträgen im türkischen Recht s. Rumpf, Die Anerkennung der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gem. Art. 46 EMRK durch die Türkei, in: EuGRZ, 1990, Heft 3 / 4, S. 53–56; Rumpf,



IV. Sonderfall: Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“263

fasste sich der Staatsrat ein weiteres Mal mit der Rechtmäßigkeit des obligatorischen Unterrichtsfaches „Religiöse Kultur und Sittenlehre“. Anders als in seiner Entscheidung aus dem Jahr 1987 kommt der Staatsrat in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2007 nun zu dem Ergebnis, dass das obligatorische Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ rechtswidrig ist und gab der Klage statt.465 bb) Sachverhalt Der Kläger ist Vater eines schulpflichtigen Kindes der 7. Klassenstufe. Beide sind alevitischen Glaubens. Der Vater beantragte am 16.02.2005 die Befreiung seines Kindes vom Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“. Mit Bescheid vom 08.03.2005 lehnte das Nationale Erziehungsdirektorium der Provinz Istanbul (Istanbul Valiliˇgi Il Milli Eˇgitim Müdürlüˇgü) den Antrag des Klägers auf Befreiung ab. Mit seiner Anfechtungsklage gegen diese Entscheidung des Erziehungsdirektoriums begehrte der Kläger die Aufhebung des ablehnenden Bescheides. Das 6. Istanbuler Verwaltungsgericht wies in seiner Entscheidung vom 30.12.2005466 die Klage als unbegründet zurück. Das Istanbuler Verwaltungsgericht begründet die Klageabweisung mit der Pflicht zur Teilnahme nach Art. 24 TVerf v. 1982 und Gesetz Nr. 1739.467 Eine Befreiung sei nur für Schüler möglich, die keinen islamischen Glauben haben.468 Der Kläger ging gegen die Entscheidung des Istanbuler Verwaltungsgerichts in Revision und behauptet einen Verstoß gegen Art. 9 EMRK und Art. 2 Zusatzprotokoll 1 zur EMRK.469 Höchstrichterliche Anwendung von Menschenrechtsverträgen im türkischen Recht, in: EuGRZ, 1995, Heft 7–8, S. 147–151. 465  Vgl. Staatsrat, Urt. v. 28.12.2007, Sekizinci Daire (8. Kammer), E. 4107, K. 7481, in: DD, Nr. 118, im Internet unter dem Stichwort „din kültürü“: http: /  / www. danistay.gov.tr / kerisim / KelimeArama.jsp (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 466  Urteil des 6. Istanbuler Verwaltungsgerichts, E: 2005  / 1153, K: 2005 / 2726, zitiert nach DD, Bd. 118. 467  s. Staatsrat, Urt. v. 28.12.2007, Sekizinci Daire (8. Kammer), E. 4107, K. 7481, in: DD, Nr. 118, im Internet unter dem Stichwort „din kültürü“: http: /  / www. danistay.gov.tr / kerisim / KelimeArama.jsp (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 468  Vgl. Staatsrat, Urt. v. 28.12.2007, Sekizinci Daire (8. Kammer), E. 4107, K. 7481, in: DD, Nr. 118, im Internet unter dem Stichwort „din kültürü“: http: /  / www. danistay.gov.tr / kerisim / KelimeArama.jsp (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 469  Zur Wirkung des Völkerrechts in der türkischen Rechtsordnung s. Art. 90 Abs. 5 TVerf v. 1982: „Die verfahrensgemäß in Kraft gesetzten völkerrechtlichen Verträge haben Gesetzeskraft. Gegen sie kann das Verfassungsgericht mit der Behauptung der Verfassungswidrigkeit nicht angerufen werden. Soweit Grundrechte und -freiheiten regelnde Vorschriften verfahrensgemäß in Kraft gesetzter völkerrechtlicher Verträge mit nationalen Bestimmungen mit gleichem Regelungsgehalt nicht übereinstimmen, finden die Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge

264

D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

cc) Entscheidung In seiner Entscheidungsbegründung zitiert der Staatsrat das Urteil des TVerfG aus dem Jahre 1998, wonach ein laizistischer Staat naturgemäß keine offizielle Religion haben und keiner Religion Überlegenheit zuerkennen darf.470 Gesetze und sonstige Verwaltungsvorgänge müssen den Notwendigkeiten des laizistischen Staates Geltung verschaffen.471 In diesem Zusammenhang dürfe in einem laizistischen Staat ein bestimmter Religionsunterricht nicht verpflichtend sein.472 Das in Art. 24 Abs. 4 S. 2 TVerf v. 1982 vorgesehene Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ sei, anders als die darüber hinausgehende religiöse Erziehung nach Art. 24 Abs. 4 S. 3 TVerf v. 1982, verpflichtend, um den Missbrauch der Religionserziehung und -lehre zu verhindern.473 Das Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ sei verpflichtend eingeführt worden, um objektives Wissen über die Religionen zu erteilen.474 Die Unterscheidung des Art. 24 Abs. 4 S. 2 und 3 TVerf v. 1982 sei ein Beleg für diese Absicht.475 Daher sei zunächst festzustellen, ob es sich bei dem streitgegenständlichen Unterrichtsfach um „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ oder um einen Bekenntnisunterricht handelt.476 Der Staatsrat verweist in diesem Zusammenhang auf die Feststellungen und Schlussfolgerungen des EGMR zum Unterrichtsvorrangig Anwendung (Abs. 5).“, Art. 90 TVerf v. 1985; Art. 90 Abs. 5 S. 3 würde hinzugefügt durch § 7 Gesetz Nr. 5170, v. 07.05.2004, verkündet in: RG v. 22.05.2004, Nr. 25469. 470  Vgl. Staatsrat, Urt. v. 28.12.2007, Sekizinci Daire (8. Kammer), E. 4107, K.  7481, in: DD, Nr. 118, im Internet unter dem Stichwort „din kültürü“: http: /  / www. danistay.gov.tr / kerisim / KelimeArama.jsp (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 471  Vgl. Staatsrat, Urt. v. 28.12.2007, Sekizinci Daire (8. Kammer), E. 4107, K.  7481, in: DD, Nr. 118, im Internet unter dem Stichwort „din kültürü“: http: /  / www. danistay.gov.tr / kerisim / KelimeArama.jsp (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 472  Vgl. Staatsrat, Urt. v. 28.12.2007, Sekizinci Daire (8. Kammer), E. 4107, K.  7481, in: DD, Nr. 118, im Internet unter dem Stichwort „din kültürü“: http: /  / www. danistay.gov.tr / kerisim / KelimeArama.jsp (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 473  Vgl. S Staatsrat, Urt. v. 28.12.2007, Sekizinci Daire (8. Kammer), E. 4107, K.  7481, in: DD, Nr. 118, im Internet unter dem Stichwort „din kültürü“: http: /  / www. danistay.gov.tr / kerisim / KelimeArama.jsp (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 474  Vgl. Staatsrat, Urt. v. 28.12.2007, Sekizinci Daire (8. Kammer), E. 4107, K.  7481, in: DD, Nr. 118, im Internet unter dem Stichwort „din kültürü“: http: /  / www. danistay.gov.tr / kerisim / KelimeArama.jsp (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 475  Vgl. Staatsrat, Urt. v. 28.12.2007, Sekizinci Daire (8. Kammer), E. 4107, K. 7481, in: DD, Nr. 118, im Internet unter dem Stichwort „in kültürü“: http: /  / www. danistay.gov.tr / kerisim / KelimeArama.jsp (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 476  Vgl. Staatsrat, Urt. v. 28.12.2007, Sekizinci Daire (8. Kammer), E. 4107, K.  7481, in: DD, Nr. 118, im Internet unter dem Stichwort „din kültürü“: http: /  / www. danistay.gov.tr / kerisim / KelimeArama.jsp (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012).



IV. Sonderfall: Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“265

fach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ aus den Urteilsgründen zum Rs. Hasan u. Eylem Zengin . / . Türkei. Auf Basis der Entscheidung des EGMR in der Sache Hasan u. Eylem Zengin . / . Türkei führt der Staatsrat aus, dass zwar zweifelsohne gem. Art. 24 TVerf v. 1982 das Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ obligatorisch sei. Gleichwohl müssten die Lehrpläne des Unterrichts verfassungsgemäß, sachlich und pluralistisch sein.477 Es dürfe keine Diskriminierung und Ungleichbehandlung stattfinden und der Staat müsse allen Religionen gegenüber neutral bleiben sowie alle Religionen gleichwertig betrachten.478 Ein Unterricht, dessen Lehrplan eine bestimmte Religion zum Unterrichtsgegenstand macht, sei kein Religionskundeunterricht, sondern ein Bekenntnisunterricht.479 Infolge der Feststellungen des EGMR werde in der Türkei das Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ nicht pluralistisch, sachlich und rational unterrichtet. Daher handele es sich beim Fach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ inhaltlich nicht um einen Religionskundeunterricht.480 Da der Bekenntnisunterricht nur freiwillig erfolgen darf, sei der verpflichtende Unterricht in „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ rechtswidrig und das Urteil des Istanbuler Verwaltungsgerichts fehlerhaft.481 dd) Stellungnahme Anders als in seiner Entscheidung aus dem Jahr 1987 geht der Staatsrat diesmal der Frage des Wesens des streitgegenständlichen Unterrichtsfaches nach. Er beschränkte sich bei seiner selbständigen Rechtsprüfung auf einen Verstoß gegen Art. 24 Abs. 4 S. 2 TVerf v. 1982 und legt zur Rechtsfindung die Feststellungen des EGMR über den Lehrplan zugrunde. Im Ergebnis richtig stellt der Staatsrat mit dem EGMR fest, dass das Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ verfassungswidrig ist. Faktisch handelt 477  Vgl. Staatsrat, Urt. v. 28.12.2007, Sekizinci Daire (8. Kammer), E. 4107, K.  7481, in: DD, Nr. 118, im Internet unter dem Stichwort „din kültürü“: http: /  / www. danistay.gov.tr / kerisim / KelimeArama.jsp (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 478  Vgl. tsrat, Urt. v. 28.12.2007, Sekizinci Daire (8. Kammer), E. 4107, K. 7481, in: DD, Nr. 118, im Internet unter dem Stichwort „din kültürü“: http: /  / www.danis tay.gov.tr / kerisim / KelimeArama.jsp (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 479  Vgl. tsrat, Urt. v. 28.12.2007, Sekizinci Daire (8. Kammer), E. 4107, K. 7481, in: DD, Nr. 118, im Internet unter dem Stichwort „din kültürü“: http: /  / www.danis tay.gov.tr / kerisim / KelimeArama.jsp (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 480  Vgl. tsrat, Urt. v. 28.12.2007, Sekizinci Daire (8. Kammer), E. 4107, K. 7481, in: DD, Nr. 118, im Internet unter dem Stichwort „din kültürü“: http: /  / www.danis tay.gov.tr / kerisim / KelimeArama.jsp (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 481  Vgl. tsrat, Urt. v. 28.12.2007, Sekizinci Daire (8. Kammer), E. 4107, K. 7481, in: DD, Nr. 118, im Internet unter dem Stichwort „din kültürü“: http: /  / www.danis tay.gov.tr / kerisim / KelimeArama.jsp (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012).

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

es sich beim obligatorischen, als Religionskundeunterricht etikettierten Fach, um einen verpflichtenden sunnitisch-islamischen Religionsunterricht, der gegen Art. 24 Abs. 4 S. 3 TVerf v. 1982 verstößt. Gem. Art. 24 Abs. 4 S. 3 TVerf v. 1982 darf ein Religionsunterricht nur auf Wunsch der betroffenen Person bzw. auf Wunsch der gesetzlichen Vertreter erfolgen. Auf die Frage, ob es eine angemessene Möglichkeit gibt, von diesem Bekenntnisunterricht befreit zu werden, musste der Staatsrat, anders als der EGMR, in seiner Entscheidung nicht eingehen. Denn gemäß Art. 24 Abs. 4 S. 3 TVerf v. 1982 erfolgt der Bekenntnisunterricht nur auf Wunsch der Eltern und ist gerade nicht obligatorisch. Ausführungen zum Laizismus machte das Gericht angesichts der eindeutigen Verfassungslage nicht. Würde die Verfassung allerdings, wie ursprünglich im Verfassungsentwurf vorgesehen, einen obligatorischen Bekenntnisunterricht vorsehen, müsste zum Schutze der negativen Religionsfreiheit auch eine zumutbare Befreiungsmöglichkeit geregelt werden. Auch mit Blick auf die vom TVerfG entwickelten Grundsätze zum Laizismus im Urteil zur Verbeamtung der Mitarbeiter des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten erscheint die Urteilsbegründung schlüssig und widerspruchsfrei. Denn der Schutz der negativen Religionsfreiheit aus Art. 24 Abs. 4 S. 3 TVerf v. 1982 beim freiwilligen Religionsunterricht ist eine Grundlage des türkischen Laizismus, gegen den der obligatorische Religionsunterricht „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ einen Verstoß darstellt.  V. Sonderfall: Das Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen

V. Ein Sonderfall des türkischen Laizismus: Das Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen 1. Rechtsgrundlage des Kopftuchverbotes Das Kopftuchproblem482 an Universitäten der Türkei entstand im Laufe der 80er Jahre.483 Die Frage des Umgangs des türkischen Staates mit dem islamischen Kopftuch im öffentlichen Raum ist nach wie vor ein gesamtgesellschaftlich und politisch streitiges Thema. Eine befriedigende Lösung der Frage ist bislang nicht gelungen.

482  Zur Geschichte des Umgangs mit dem islamischen Kopftuch in der osmanisch-türkischen Geschichte s.  Aksoy, Başörtüsü – Türban, Batılılaşma-Modernleşme, Laiklik ve Örtünme (Kopftuch – Türban, Verwestlichung-Modernisierung, Laizismus und Bedeckung), 2005. 483  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Şahin . / . Türkei, Rs. 44774  / 98, Rn. 35, im Internet unter: http: /  / cmiskp.echr.coe.int / tkp197 / view.asp?item=3&portal=hbkm&act ion=html&highlight=Sahin&sessionid=95385926&skin=hudoc-en (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012).



V. Sonderfall: Das Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen267

a) Kopftuchverbot an Schulen aa) Einleitung Für Mitarbeiter an Schulen und Schüler gilt seit 1981 eine strengere Kleiderordnung. Diese richtet sich nach der VO über die Bekleidung von Mitarbeitern und Schülern in den Schulen484 aus dem Jahre 1981.485 Diese VO wurde 1982 durch einen Ministerratsbeschluss geändert.486 Aus dieser Änderung ergeben sich die im Folgenden skizzierten Bekleidungsvorschriften für öffentliche und private487 Schulen: bb) Kopftuchverbot für Mitarbeiterinnen Gemäß § 6 VO über Kleidung an Schulen müssen sich die dort genannten Mitarbeiter schlicht, sauber und dem Dienst angemessen kleiden.488 Darüber hinaus gelten gem. § 7 VO über Kleidung an Schulen für die in § 6 VO über Kleidung an Schulen genannten Personen die Kleidungsvorschriften der VO über die Kleidung des in öffentlichen Einrichtungen beschäftigen Personals.489 Gemäß § 5 a VO über die Kleidung des in öffentlichen Einrichtungen beschäftigen Personals490 müssen Frauen ihre Haare während der Dienstzeit offen (d. h. ohne Kopftuch) tragen.491

484  Im

Folgenden: VO über Kleidung an Schulen. VO über Kleidung an Schulen, Erlassen durch Ministerratsbeschluss Nr. 8 / 3349 v. 22.07.1981, Nr. 8 / 3349, verkündet in: RG v. 7.12.1981, Nr. 17537, in: Düstur, Serie V (1984), Bd.  21 / 1 / 1, S.  498. 486  Vgl. Ministerratsbeschluss Nr. 8  /  5663 v. 26.11.1982, verkündet in: RG v. 24.12.1982, Nr. 17908, S. 16–17. 487  Vgl. § 2 VO über Kleidung an Schulen, in seiner ersten Fassung verkündet in: RG v. 7.12.1981, Nr. 17537, in: Düstur, Serie V (1984), Bd. 21 / 1 / 1, S. 498. 488  Vgl. § 6 VO über die Bekleidung an Schulen in seiner durch Ministerratsbeschluss Nr. 8 / 5663 v. 26.11.1982 geänderten Fassung, verkündet in: RG v. 24.12.1982, Nr. 17908, S. 16–17. 489  s. Ministerratsbeschluss v. 16.07.1982, Nr.  8  /  5105, verkündet in: RG v. 25.10.1985, Nr. 17849; in der ursprünglichen Fassung des § 7 a S. 2 VO über Kleidung an Schulen war es Leiterinnen, Lehrerinnen, Beauftragten zur Erziehungshilfe und Beamten verboten, in der Schule ein Kopftuch zu tragen, vgl. § 7 a S. 2 VO über Kleidung an Schulen, verkündet in: RG v. 7.12.1981, Nr. 17537, in: Düstur, Serie V (1984), Bd.  21 / 1 / 1, S.  498. 490  Im Folgenden: VO über Kleidung an öffentlichen Einrichtungen. 491  Vgl. § 5 a VO über die Kleidung an öffentlichen Einrichtungen, zuletzt geändert durch § 1 Ministerratsbeschluss v. 10.12.2001, Nr. 2001 / 3459, verkündet in: RG v. 03.01.2002, Nr. 24629. 485  Vgl.

268

D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

cc) Kopftuchverbot für Schülerinnen der Grund- und Oberstufe Gemäß der VO über Kleidung an Schulen müssen Schülerinnen der Grundschule in der Schule ihr Haar offen tragen.492 Das Gleiche gilt für Schülerinnen der Oberstufe.493 Für Schülerinnen der Imam-Hatip Schulen gilt die Ausnahme, dass sie während des Koranunterrichts ein Kopftuch tragen dürfen.494 dd) Kopftuchverbot für Studentinnen Für Schülerinnen an Hochschulen (Yüksek Okul) gelten gem. § 13 a VO über Kleidung an Schulen die Regelungen nach § 7 a VO über Kleidung an Schulen.495 § 7 VO über die Kleidung an Schulen wurde gem. Ministerratsbeschluss Nr. 8  /  5663 v. 26.11.1982 umfassend geändert. § 7 dieser VO enthält nunmehr keinen Buchstaben a. Einen Verweis auf den neu gefassten § 7 liegt nicht vor, sodass aus der VO über die Bekleidung von Mitarbeitern und Schülern in den Schulen ein Kopftuchverbot für Schülerinnen an Hochschulen nicht abgeleitet werden kann. b) Kopftuchverbot für Beamtinnen Auch für Staatsbeamte gilt seit 1982 eine strenge Kleiderordnung. Gemäß § 5 a S. 2 VO über Kleidung an öffentlichen Einrichtungen müssen Mitarbeiterinnen ihre Haare während des Dienstes stets offen tragen.496 Ein Verstoß gegen die Kleiderordnung wird gem. § 125 Abs. A, Buchst. g Staatsbeamtengesetz mit einer Abmahnung sanktioniert.497 492  Vgl. § 10 a S. 2 VO über die Bekleidung an Schulen, verkündet in: RG v. 7.12.1981, Nr. 17537, in: Düstur, Serie V (1984), Bd. 21 / 1 / 1, S. 498. 493  Vgl. § 12 a S. 3 VO über die Bekleidung an Schulen, verkündet in: RG v. 7.12.1981, Nr. 17537, in: Düstur, Serie V (1984), Bd. 21 / 1 / 1, S. 498. 494  Vgl. § 12 c Nr. 3 VO über die Bekleidung an Schulen, verkündet in: RG v. 7.12.1981, Nr. 17537, in: Düstur, Serie V (1984), Bd. 21 / 1 / 1, S. 498. 495  Vgl. § 13 a VO über die Bekleidung an Schulen, erlassen durch Ministerratsbeschluss v. 22.07.1981, Nr. 8 / 3349, verkündet in: RG v. 07.12.1981, Nr. 17537. 496  Vgl. § 5 a S. 1 VO über die Kleidung an öffentlichen Einrichtungen, in seiner zuletzt geänderten Fassung durch Ministerratsbeschluss v. 10.12.2001, Nr. 2001 / 3459, verkündet in: RG v. 03.01.2002, Nr. 24629; in seiner ersten Fassung erlassen durch Ministerratsbeschluss v. 17.07.1982, Nr. 8 / 5105, verkündet in: RG v. 25.10.1982, Nr. 17849. 497  „Die Disziplinarmaßnahmen und Handlungen und Umstände, welche zur Erteilung einer Disziplinarmaßnahme gegen den Staatsbeamten führen sind folgende: A – Ermahnung: schriftliche Bekanntgabe an den Beamten, dass er bei seinen



V. Sonderfall: Das Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen269

c) Kopftuchverbot an Hochschulen Dem Hochschulgesetz aus dem Jahre 1981 wurde 1988 durch eine Gesetzesänderung der Zusatz § 16 S. 2 eingefügt, wonach das Tragen eines religiösen Kopftuches an Hochschulen erlaubt ist.498 Diese Gesetzesänderung zugunsten der Kopftucherlaubnis an Hochschulen wurde 1989 vom Verfassungsgericht kassiert.499 In dem 1990 durch § 12 Gesetz Nr. 3670 eingefügten Zusatz in § 17 Hochschulgesetz Nr. 2547 wurde geregelt, dass unter der Voraussetzung, dass nicht gegen geltendes Recht verstoßen wird, die Kleidung frei ist.500 Die höchstrichterliche Rechtsprechung vertrat in mehreren Urteilen die Auffassung, dass das Tragen eines religiösen Kopftuchs mit dem Laizismus unvereinbar sei. Dieses wurde in der Türkei als „Verbot“ aufgefasst, obgleich es kein ausdrückliches gesetzliches Kopftuchverbot gab. Dies hatte zur Folge, dass die Hochschulleitungen das „Verbot“ des Verfassungsgerichts umsetzten.501 Die durch die regierende AKP im Jahre 2008 durchgesetzte Verfassungsänderung wollte Abhilfe schaffen und Studentinnen den Zugang zu den Hochschulen mit Kopftuch erlauben. Zu diesem Zweck wurde der Art. 10 Abs. 5 TVerf v. 1982 geändert. Es wurde nach der Formulierung „bei all ihren Akten“ die Formulierung „und bei der Nutzung aller öffentlichen Dienste“ eingeschoben.502 Art. 42 Abs. 6 TVerf v. 1982 wurde um folgenden Satz ergänzt:

Aufgaben und Handlungen noch vorsichtiger sein muss. Folgende Handlungen und Umstände begründen eine Ermahnung: (…) g) Kleidervorschriften zuwider handeln.“, § 125 Buchst. A Buchst. g Staatsbeamtengesetz Nr. 657, eingeführt durch § 31 Gesetz Nr. 2670 v. 12.05.1982 über die Änderung, Aufhebung und Ergänzung des Staatsbeamtengesetzes 657, verkündet in: RG v. 16.05.1982, Nr. 17696, Übersetzung der Verfasserin; Staatsbeamtengesetz Nr. 657 v. 14.07.1965, in seiner ursprünglichen Fassung verkündet in: RG v. 23.07.1965, Nr. 12056; das Staatsbeamtengesetz in seiner zuletzt geänderter Fassung veröffentlicht in: Düstur, Serie V (1965), Bd.  4 / 3, S.  3044–3103. 498  Vgl. § 2 Gesetz Nr. 3511 über die Änderung des § 44 des Hochschulgesetzes Nr. 2547 und über die Hinzufügung eines Zusatz und vier vorläufige Paragraphen v. 10.12.1988, verkündet in: RG v. 27.12.1988, Nr. 2232, S. 2; Hochschulgesetz Nr. 2547 v. 04.11.1981, verkündet in: RG v. 06.11.1981, Nr. 17506. 499  Vgl. TVerfG, Urt. v. 07.03.1989, E. 1989 / 1, K. 1989, 12, in: AMKD, Bd. 25, S. 133–165. 500  Vgl. § 12 Gesetz Nr. 3670 v. 25.10.1990, verkündet in: RG v. 28.10.1990, Nr. 20679, S. 4. 501  Vgl. Özenç, Avrupa Insan Hakları Sözleşmesi ve Inanç Özgürlüğü (Europäische Menschenrechtskonventin und Religionsfreiheit), 2006, S. 107 und S. 165, Fn. 13. 502  Vgl. § 1 Gesetz Nr. 5735 v. 09.02.2008, verkündet in: RG v. 23.02.2008, Nr. 26796.

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

„Niemandem darf aus irgendeinem Grund, der nicht offen und schriftlich durch Gesetz festgelegt ist, das Recht auf Hochschulbildung verweigert werden. Die Gebrauchsgrenzen dieses Rechts werden durch Gesetz bestimmt.“503

Es ist allgemein bekannt, dass die Verfassungsänderung eingeführt wurde, um Studentinnen mit Kopftuch den Zugang zu Hochschulen zu ermöglichen.504 Die bisherige kopftuchfeindliche Interpretation der an sich objektiv gehaltenen Gesetze durch die Gerichte sollte dadurch verhindert werden, dass ein ausdrückliches gesetzliches Kopftuchverbot an den Bildungseinrichtungen verlangt wird.505 Solange aber die AKP die Türkei regiert, hätte sich kein Gesetzgeber gefunden, der ein solches Verbot ausspricht, und die Gerichte hätten vergebens nach einem solchen Verbot gesucht und neue Anstrengungen unternehmen müssen, um den Laizismus doch wieder irgendwie durchschlagen zu lassen.506 Der Versuch der AKP erwies sich als erfolglos. Beide Regelungen hob das Verfassungsgericht wegen Verstoßes gegen Art. 2, 4 und 148 TVerf v. 1985 auf.507 Das TVerfG begründet sein Urteil damit, dass durch die verfassungsändernde Gesetzgebung Art. 2 TVerf v. 1982508 mittelbar verändert und funktionsunfähig gemacht werde, dies aber wegen Art. 4 TVerf v. 1982509 unzulässig sei.510 503  § 2 Gesetz Nr. 5735 v. 09.02.2008, verkündet in: RG v. 23.02.2008, Nr. 26796, Übersetzung der Verfasserin. 504  Vgl. Rumpf, Kopftuch, 2008, S. 3, im Internet unter: http:  /   /  www.tuerkeirecht.de / downloads / kopftuch-urteil.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.04.2012). 505  Vgl. Rumpf, Kopftuch, 2008, S. 3, im Internet unter: http:  /   /  www.tuerkeirecht.de / downloads / kopftuch-urteil.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.04.2012). 506  s.  Rumpf, Kopftuch, 2008, S. 3, im Internet unter: http:  /  / www.tuerkei-recht. de / downloads / kopftuch-urteil.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.04.2012). 507  Vgl. TVerfG, Urt. v. 05.06.2008, E. 2008 / 16, K. 2008 / 116, RG v. 22.10.2008, Nr. 27032, in: AMKD, 45 / 2, S. 1195 (1240). 508  „Die Republik Türkei ist ein im Geiste des Friedens der Gemeinschaft, der nationalen Solidarität und der Gerechtigkeit die Menschenrechte achtender, dem Nationalismus Atatürks verbundener und auf den in der Präambel verkündeten Grundprinzipien beruhender demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat.“, Art. 2 TVerf v. 1985, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Verfassung der Republik Türkei, 2012, S.  6, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / verfas sung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 509  „Die Vorschrift des Artikels 1 der Verfassung über die Republik als Staatsform sowie die Vorschriften über die Prinzipien der Republik in Artikel 2 und diejenigen des Artikels 3 sind unabänderlich, das Einbringen eines Änderungsvorschlages ist unzulässig.“, Art. 4 TVerf v. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S. 6, im Internet unter: http: /  / www.tuerkeirecht.de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 15.05.2012). 510  Vgl. TVerfG, Urt. v. 05.06.2008, E. 2008 / 16, K. 2008 / 116, RG v. 22.10.2008, Nr. 27032, in: AMKD, 45 / 2, S. 1195 (1239); Die Kopftuchproblematik hat seit der Regierungsübernahme durch die AKP eine neue Dimension hinzubekommen. Teile der Staatselite weigerten sich in Anwesenheit der kopftuchtragenden Ehefrauen der



V. Sonderfall: Das Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen271

2. Das Laizismus-Prinzip in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Kopftuchverbot in der Türkei a) Gesetzliche Kopftucherlaubnis in der Rechtsprechung des TVerfG aa) Einleitung In seinem Urteil aus dem Jahre 1989 befasst sich das TVerfG im Rahmen eines abstrakten Normenkontrollverfahrens mit der Frage, ob eine Gesetzesänderung, die ausdrücklich das Tragen eines religiösen Kopftuches an Hochschuleinrichtungen gestattet, verfassungsmäßig ist. Das TVerfG verneinte diese Frage und sah in der Gesetzesänderung einen Verstoß gegen den Laizismus.511 bb) Sachverhalt Durch § 2 Gesetz Nr. 3511512 wurde dem Hochschulgesetz Nr. 2547513 der Zusatz § 16 hinzugefügt. Der nach § 2 Gesetz Nr. 3511 hinzugefügte Zusatz § 16 Hochschulgesetz lautete: „In Hochschuleinrichtungen, Unterrichtsräumen, Laboren, Kliniken, Polikliniken und Korridoren muss moderne Kleidung getragen werden. Das Bedecken von Hals und Haaren durch ein Kopftuch aus Glaubensgründen ist frei.“514

Der damalige Präsident der Republik Türkei Kenan Evren515 beantragte im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle vor dem TVerfG die Aufhebung des § 2 Gesetz Nr. 3511 und behauptet einen Verstoß gegen Art. 2, 10, 24 und 174 TVerf v. 1982.516 Der Antragsteller begründete seinen Antrag damit, Regierungsmitglieder an den Zeremonien teilzunehmen, vgl. Tank, Political Islam in Turkey, A state of controlled secularity, in: Political Islam, Rubin (Hrsg.), 2007, S. 285 (296). 511  s. TVerfG, Urt. v. 07.03.1989, E. 1989  / 1, K. 1989 / 12, in: AMKD, Bd. 25, S. 133–165; eine leicht gekürzte Übersetzung des Urteils findet sich in: EuGRZ, 1990, S. 146–155; eine Besprechung des Urteils findet sich bei Rumpf, Das türkische Verfassungsgericht und die Grundzüge seiner Rechtsprechung, in: EuGRZ, 1990, S. 129 (144, 145). 512  Gesetz Nr. 3511 v. 10.12.1988, verkündet in: RG v. 27.12.1988, Nr. 20032. 513  Hochschulgesetz Nr.  2547 v. 4.11.1981, verkündet in: RG v. 6.11.1981, Nr. 17506; veröffentlicht in: Düstur, Serie V, Bd. 21, S. 3. 514  § 2 Änderungsgesetz Nr. 3511 v. 10.12.1988, verkündet in: RG v. 27.12.1988, Nr. 20032, S. 1 (2), Übersetzung der Verfasserin. 515  Im Folgenden Antragsteller. 516  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (146, 147).

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

„(…) daß im Rahmen der strengen Bekleidungsvorschriften für die Hochschule die streng muslimischen Frauen privilegiert würden. Dies verstoße auch gegen die Prinzipien Atatürks – darunter Laizismus, die auch eine zeitgemäße Bekleidung forderten. Andernfalls würde die Jugend gereizt, sich theokratischem Gedankengut hinzugeben. Damit würde das Ziel gefährdet, die Jugend auf den Weg der zeitgemäßen Zivilisation zu führen.“517

cc) Entscheidung Das Gericht prüft in chronologischer Reihenfolge einen Verstoß gegen die Präambel, Art. 2, 10, 24 und 174 TVerf v. 1982.518 Das Gericht konzentriert sich auf die Fragestellung, „(…) ob eine gesetzliche Regelung an religiöse Regeln und Glaubensvorschriften angeknüpft oder von deren Bedingungen abhängig gemacht werden darf“.519 Bereits vor dem Einstieg in die Rechtsprüfung stellt das Gericht fest, „(…) dass die neue [zur Normenkontrolle vorgelegte] Regelung (…) einer auf Religion begründeten Regelung zur Geltung verhilft (…)“.520 Im Rahmen der ersten Rechtsprüfung zur Präambel TVerf v. 1982 führt das Gericht aus, dass die Verfassung in Treue zu dem im Laizismus ausgedrückten Verbot des Einwirkens der Religion auf den Staat ausgelegt werden muss und, dass der Laizismus das wichtigste atatürksche Prinzip ist.521 Der Laizismus habe hinsichtlich seiner Wirksamkeit durch die Einführung der islamischen Staatsreligion 1923 und dessen Übernahme in die TVerf v. 1924, obwohl zunächst in der OVerf v. 1921 nicht enthalten, nichts eingebüßt.522 Die Reformgesetzgebung in der Gründungszeit der Republik zeige, dass bereits vor der expressis verbis Aufnahme des Laizismus in die TVerf v. 1923 im Jahre 1937 und trotz der deklarierten islamischen Staatsreligion in der TVerf v. 1924 die laizistische Praxis fortgeführt wurde, „(…) ohne jemals Zwang auf den religiösen Bereich auszuüben, andererseits nach der offenen Annahme des Laizismus-Prinzips ein Eingriff in die religiösen Überzeugungen der Bürger nie stattgefunden hat und eine Beschränkung religiöser Übung nie erfolgt ist.“523 517  TVerfG, Urt. v. 07.03.1989, E. 1989  /  1, nach EuGRZ, 1990, S. 146 (146, 147). 518  Vgl. AMKD, Bd. 25, S. 133 (142–158). 519  TVerfG, Urt. v. 07.03.1989, E. 1989  /  1, nach EuGRZ, 1990, S. 146 (147). 520  TVerfG, Urt. v. 07.03.1989, E. 1989  /  1, nach EuGRZ, 1990, S. 146 (147). 521  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (147). 522  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (148). 523  TVerfG, Urt. v. 07.03.1989, E. 1989  /  1, nach EuGRZ, 1990, S. 146 (148).

K. 1989  /  121, Übersetzung zitiert K. 1989  /  121, Übersetzung zitiert K. 1989  /  121, Übersetzung zitiert

K. 1989  /  121, Übersetzung zitiert



V. Sonderfall: Das Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen273

Durch die Abschaffung der Regel über die islamische Staatsreligion habe der Staat seine neutrale Haltung gegenüber allen Religionen und die laizistische Struktur des Staates betont.524 Obgleich der Laizismus im engen Sinne die Trennung von Staat und Religion bedeute und es darüber hinaus verschiedene Interpretationen und Definitionen gebe, sei doch im Allgemeinen anerkannt, „(…) dass es sich beim Laizismus um die letzte Stufe von geistigen und strukturellen Entwicklungen der Gesellschaften handelt“.525 In einer laizistischen Ordnung werde die Religion von der Politisierung befreit, als Führungsinstrument entfernt und durch die Positionierung an den richtigen und ehrenvollen Platz in die Gewissen der Bürger entlassen.526 In einer laizistischen Ordnung dürfen Regelungen des Staates nicht auf religiöse Inhalte zugeschnitten sein, die Religion sei keine Quelle normativer Regelungen.527 Die Gewissens- und Religionsfreiheit werde durch die Trennung religiöser und weltlicher Angelegenheiten umrissen und geschützt.528 Die Umsetzung des Laizismus sei in der Türkei anders als in manchen westlichen Staaten, da dieser unter den jeweiligen Bedingungen eines jeden Staates von den Besonderheiten der dort vorherrschenden Religionen beeinflusst werde.529 Der Laizismus sei in der Türkei besonders geschützt und in einer anderen Struktur als im Westen übernommen worden. Das Gericht verweist sodann auf die Ausführungen in seinem Urteil zur Verfassungsmäßigkeit des Beamtenstatus der Mitarbeiter des Präsidiums und wiederholt insoweit, dass der Laizismus die Grundlage verschiedener verfassungsrechtlicher Schranken und ein Gedanke sei, der alle Verfassungsprinzipien beherrsche.530 Der moderne Staat, so das Gericht, biete den an die verschiedenen Religionen und Konfessionen Glaubenden und den dazugehörigen Einrichtungen innerhalb seiner Strukturen Platz und treffe zwischen den Individuen keine an ihre Glaubensvorstellung anknüpfende Unterscheidungen.531 Jedem sei es „(…) in den Grenzen der anerkannten Gewissens- und Religionsfreiheit unbenommen, seinen Glauben zu wählen und seine religiösen Vorstellungen zum Ausdruck zu bringen“532. In einer laizistischen Gesellschaft liege „(…) der Besitz der ge524  Vgl. AMKD, Bd. 25, S. 133 (143, 144), Übersetzung der Verfasserin; vgl. unwesentlich anders lautende deutsche Übersetzung in: EuGRZ, 1990, S. 146 (148). 525  Deutsche Übersetzung zitiert nach EuGRZ, 1990, S. 146 (148). 526  s. TVerfG, Urt. v. 07.03.1989, E. 1989  / 1, K. 1989 / 121, in: AMKD, Bd. 25, S. 133 (145), Übersetzung in EuGRZ, 1990, S. 146 (149). 527  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (149). 528  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (149). 529  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (149). 530  s. EuGRZ, 1990, S. 146 (149). 531  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (149). 532  TVerfG, Urt. v. 07.03.1989, E. 1989  /  1, K. 1989  /  121, Übersetzung zitiert nach EuGRZ, 1990, S. 146 (149).

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

wünschten Religion und des gewünschten Glaubens außerhalb der Zugriffsmöglichkeit des Gesetzgebers“533, so das Gericht. Die Privilegierung einer Religion durch den Staat stehe dem Grundsatz der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz entgegen.534 Der türkische Staat habe sich den wissenschaftlichen Erfordernissen gemäß institutionalisiert, sich durch das Recht Strukturen gegeben und der Laizismus hat zur gegenseitigen Achtung, Toleranz und gegenseitigem Verständnis beigetragen und somit die nationale Einheit sichergestellt.535 Mit Blick auf die Worte Atatürks zur Religion bedeute die Umsetzung des türkischen Laizismus nicht Religionsfeindlichkeit.536 Der Laizismus habe die Zweigleisigkeit des Rechts und die Privilegien und Ungleichheiten aufgehoben.537 Laizistische Lehre und Ausbildung können nicht als Hindernis für die Freiheit des Glaubens verstanden werden.538 Die Aufsicht und Kontrolle des Staates über die Religion führe nicht zu einer den Erfordernissen einer demokratischen Gesellschaft widersprechenden Beschränkung der Religions- und Gewissensfreiheit.539 Im laizistischen Staat dürften Gesetze nicht an religiösen Notwendigkeiten und Denkweisen ausgerichtet werden, sondern seien auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse an den Bedürfnissen der Bürger und der Gesellschaft auszurichten.540 Sodann kommt das Gericht zur Schlussfolgerung: „Indem die hier in Frage stehende Vorschrift die Bekleidung von Frauen in Hochschulkörperschaften regelt, (…) erkennt sie die Möglichkeit des Kopftuchtragens aus Glaubensgründen an, unabhängig davon, ob dies auch religiösen Notwendigkeiten entspricht. Es widerspricht damit dem Laizismus-Prinzip, weil es auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts eine Regelung trifft, die auf religiösen Grundsätzen beruht. Im laizistischen Staat, der von religiösen Normen befreit ist, der auf Vernunft und Wissenschaft beruht und religiöse Glaubensvorstellungen allein dem Gewissen der Brüger überläßt, kann die Erhaltung der Rechtsordnung auf der Grundlage religiöser Erfordernisse nicht akzeptiert werden.“541

Zudem fördere es die religiöse Spaltung und religiös motivierte Handlungen an Hochschulen, wenn äußere Anzeichen die unterschiedlichen Glaubensvorstellungen demonstrieren.542 Sodann konstatiert das Gericht: 533  TVerfG, Urt. v. 07.03.1989, E. 1989  /  1, K. 1989  /  121, Übersetzung zitiert nach EuGRZ, 1990, S. 146 (149). 534  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (149). 535  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (149, 150). 536  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (150). 537  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (150). 538  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (150). 539  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (150). 540  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (150). 541  TVerfG, Urt. v. 07.03.1989, E. 1989  /  1, K. 1989  /  121, Übersetzung zitiert nach EuGRZ, 1990, S. 146 (150, 151). 542  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (151).



V. Sonderfall: Das Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen275 „Die Freiheiten finden ihre Grenzen in der Verfassung. Es wäre verfehlt zu behaupten, gegen das Laizismus-Prinzip der Verfassung und gegen den Grundsatz der laizistischen Erziehung gerichtete Verhaltensweisen stellten ein demokratisches Recht dar. Das Laizismus-Prinzip mit seiner von Verfassungs wegen hervorgehobenen Stellung verstößt selbst nicht gegen das Demokratie-Prinzip, vielmehr sind alle Rechte und Freiheiten im Lichte des Laizismus-Prinzips zu bewerten.“543

Aus oben genannten Gründen stellt das Gericht einen Verstoß gegen die Präambel, Art. 2 TVerf v. 1982 fest.544 Im Rahmen der Prüfung zu Art. 10 TVerf v. 1982 stellt das Gericht fest, dass hier die Gleichheit vor dem Gesetz, mithin die rechtliche Gleichheit gemeint ist.545 Ziel des Art. 10 TVerf v. 1982 sei es, Menschen in gleicher Lage gesetzlich gleich zu behandeln und zu verhindern, dass gegenüber dem Gesetz u. a. die Weltanschauung, Religion und Konfession zu Unterscheidungen zwischen den Bürgern führen.546 Dagegen verstoße die Ungleichbehandlung in ungleicher Lage nicht zu einem Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz.547 Das Gericht stellt schließlich fest: „(…), kann die Religion kein verfassungsrechtlicher Grund für den Besitz bestimmter Rechte sein. Sowohl die Angehörigen verschiedener Religionen als auch solche Menschen, die nicht glauben, sind im Rahmen der einschlägigen Schranken der Gewissens- und Religionsfreiheit frei, ihren Glauben offenzulegen. Im laizistischen Staat, der im Zusammenhang mit der Religion alle Bürger ohne Rücksicht auf ihren Glauben gleichbehandelt, können Unterschiede in Religion und Konfession keinerlei Anlaß für Unterscheidungen unter den verschiedenen Menschen sein.“548

Daher verstoße die Vorschrift, weil sie das islamische Kopftuch privilegiert, gegen den Gleichheitssatz aus Art. 10 TVerf v. 1982.549 Ein Verstoß sei auch deswegen nicht zu verneinen, weil die Vorschrift theoretisch auch Kopftuchgebote anderer Religionen mit erfasse.550 Im Rahmen der Prüfung des Art. 24 TVerf v. 1982 könne die Kopftuch­ erlaubnis an Hochschulen nach Ansicht des Gerichts zu Spaltungen und Ausgrenzungsprozessen führen und so die Zerstörung der Einheit von Staat und Nation bewirken.551 543  TVerfG, Urt. v. 07.03.1989, E. 1989  /  1, K. 1989  /  121, Übersetzung zitiert nach EuGRZ, 1990, S. 146 (151). 544  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (151, 152); AMKD, Bd. 25, S. 133 (150, 151). 545  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (152); AMKD, Bd. 25, S. 133 (152). 546  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (153); AMKD, Bd. 25, S. 133 (152, 153). 547  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (153); AMKD, Bd. 25, S. 133 (153). 548  TVerfG, Urt. v. 07.03.1989, E. 1989  /  1, K. 1989  /  121, Übersetzung zitiert nach EuGRZ, 1990, S. 146 (153). 549  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (153); AMKD, Bd. 25, S. 133 (153). 550  s. EuGRZ, 1990, S. 146 (153); AMKD, Bd. 25, S. 133 (153). 551  s. EuGRZ, 1990, S. 146 (153); AMKD, Bd. 25, S. 133 (153).

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

„Auf diese Weise würde der Religion erlaubt, aus dem ideellen Individualbereich herauszutreten und Einfluss auf die Aktivitäten zu nehmen, die sich auf das gesellschaftliche Leben auswirken.“552

Dadurch würden die verfassungsmäßigen Grenzen der Religionsfreiheit aufgehoben.553 „Das Tragen von Kopftüchern (…) in Hochschulanstalten ist nicht zeitgemäß“554, so das Gericht. Die Gewissensfreiheit beinhalte zwar die Glaubensfreiheit, daraus könne aber eine religiöse Bekleidungsfreiheit, die Laizismus und Gewissensfreiheit in einen Konflikt versetzt, nicht abgeleitet werden.555 Zwar sei die Frage der Bekleidung durch die Türkische Revolution begrenzt, dies gelte aber nicht für die Gewissensfreiheit, so das Gericht.556 Die zur Prüfung vorgelegte Vorschrift stelle einen Zugriff auf die von der Religion befreite Staatsordnung dar und habe damit die Religion in den Bereich der Politik gezogen und zum politischen Instrument gemacht.557 Es sei hinsichtlich der Religionsfreiheit die Neutralität des Staates als grundsätzlich politische und rechtliche Institution verletzt.558 Aus oben genannten Gründen stellt das Gericht einen Verstoß gegen Art. 24 TVerf v. 1982 (Religionsfreiheit) fest.559 Im Rahmen der Ausführungen zu Art. 174 TVerf v. 1982 (Schutz der Reformgesetze) vertritt das Gericht die Ansicht, dass Kleidungsvorschriften, die gegen die Reformgesetze verstoßen nicht akzeptabel seien, insbesondere dann, wenn die Kleidungsvorschrift gegen den Laizismus verstoße.560

552  TVerfG, Urt. v. 07.03.1989, E. 1989  /  1, K. 1989  /  121, Übersetzung zitiert nach: EuGRZ, 1990, S. 146 (153). 553  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (153); AMKD, Bd. 25, S. 133 (153). 554  TVerfG, Urt. v. 07.03.1989, E. 1989  /  1, K. 1989  /  121, Übersetzung zitiert nach EuGRZ, 1990, S. 146 (153). 555  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (153); AMKD, Bd. 25, S. 133 (154). 556  TVerfG, Urt. v. 07.03.1989, E. 1989  /  1, K. 1989  /  121, Übersetzung zitiert nach EuGRZ, 1990, S. 146 (153). 557  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (153); AMKD, Bd. 25, S. 133 (154). 558  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (153); AMKD, Bd. 25, S. 133 (154). 559  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (153); AMKD, Bd. 25, S. 133 (154). 560  Vgl. EuGRZ, 1990, S. 146 (154); Die übrigen Ausführungen zu Art. 174 TVerf v. 1982 beziehen sich auf die Bedeutung der einzelnen Reformgesetze und stellen im Wesentlichen eine Wiederholung der oben skizzierten Urteilsgründe zum Laizismus dar bzw. liefern keinen neuartigen Gesichtspunkt zum Laizismus, sodass an dieser Stelle auf eine weitere Darstellung verzichtet wird.



V. Sonderfall: Das Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen277

dd) Stellungnahme561 Die Erläuterungen des Gerichts zum Laizismus decken sich mit denen, die das Gericht im Zusammenhang mit der Religionsfreiheit in seinem Urteil zur Verbeamtung der Mitarbeiter des Präsidiums entwickelte.562 Neu dagegen sind die Ausführungen zur Frage, ob in einer laizistischen Ordnung Gesetze auf religiöse Vorgaben gestützt werden dürfen. Das Gericht verneint diese Möglichkeit zu Recht. Der Begründung des Gerichts, das zur Prüfung vorgelegte Gesetz beruhe auf religiösen Vorgaben, kann dagegen nicht zugestimmt werden. Das Gericht differenziert in seinen Urteilsgründen nicht zwischen der Regelung eines religiösen Gegenstandes auf der einen, und der religiösen Legitimierung einer Regelung auf der anderen Seite. Ersteres verstößt nicht gegen die Trennung von Staat und Religion, solange die Legitimation der Regelung auf säkularen Gründen beruht. Dies kann im Fall der zur Prüfung vorgelegten Regelung angenommen werden, wenn der türkische Gesetzgeber die Erlaubnis zum Tragen eines religiösen Kopftuchs nicht unter Berufung auf religiöse Vorgaben legitimiert, sondern Legitimationsgrundlage vielmehr profane und grundrechtliche Beweggründe sind, wie zum Beispiel die Gewährleistung der positiven Religionsfreiheit. Nicht der Wille Gottes, sondern der Wille des Einzelnen könnte dabei im Vordergrund gestanden haben und Ziel der Regelung sein. Unklar bleiben die Kriterien, nach denen das Gericht das Vorliegen eines solchen Gesetzes begründet. Der bloß religiöse Gegenstand einer Regelung, wie es sich bei dem zur Prüfung vorgelegten Gesetz darstellt, reicht indessen, anders als das Gericht meint, für solch eine Annahme nicht.563 Der Laizismus in der türkischen Verfassung sieht eine Neutralitätspflicht für die Gewährleistung subjektiver Rechte vor. Da die Erlaubnis, ein religiö­ ses Kopftuch zu tragen diejenigen Religionen bevorzugt, die ein Kopftuchgebot vorsehen, ist darin mit dem Gericht zu Recht eine Privilegierung derjenigen Religionen zu sehen, die ein Gebot zum Tragen eines Kopftuchs kennen und eine Benachteiligung der übrigen Religionen zu sehen. Im Er561  Wegen der insgesamt methodischen und dogmatischen Schwächen der Urteilsbegründung wird auf Rumpf verwiesen, „(…), das sich weithin leider in methodisch und juridisch [sic] überflüssigen und zweifelhaften Passagen verliert, auch wenn es im Ergebnis [durch den Verfasser kursiv hervorgehoben] hinsichtlich der angegriffenen und für nichtig erklärten gesetzlichen Vorschrift aus verfassungsrechtlicher Sicht Zustimmung verdient.“, Rumpf, Das türkische Verfassungsgericht und die Grundzüge seiner Rechtsprechung, in: EuGRZ, 1990, S. 129 (144). 562  Um insoweit Wiederholungen zu vermeiden, wird auf die Stellungnahme zum TVerfG Urt. v. 21.10.1971 auf S. 166 ff. (Kapitel D.) verwiesen. 563  Vgl. auch Rumpf, Das Laizmusprinzip in der Rechtsordnung der Republik Türkei, in: JöR, 1987, Bd. 36, S. 178 (201).

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

gebnis kann daher vor diesem Hintergrund mit dem TVerfG eine Ungleichbehandlung angenommen werden. Im Rahmen der Gewährleistungen der Religionsfreiheit stellt das Gericht fest, dass das Tragen eines religiösen Kopftuches gegen den Laizismus verstößt und daher durch die Religionsfreiheit nicht geschützt wird.564 Zu einer Abwägung zwischen der positiven und negativen Religionsfreiheit kommt es daher wohl nicht mehr. Zusammengefasst kann angemerkt werden, dass das Urteil den vom TVerfG entwickelten Inhalten des Laizismus der Verfassung entspricht: Eine Trennung von Religion und Staat im öffentlichen Bereich, soweit es die grundrecht­ liche Sphäre des Einzelnen betrifft.565 b) Gesetzliche Kleidungsfreiheit in der Rechtsprechung des TVerfG aa) Einleitung Kurz im Anschluss an sein oben skizziertes Urteil aus dem Jahr 1989 zur Kopftucherlaubnis aus religiösen Gründen hatte sich das TVerfG in dem im Folgenden besprochenen Urteil mit der Frage zu befassen, ob eine Gesetzesänderung, die alle Formen von Bekleidung an Hochschulen erlaubt, mit der Verfassung vereinbar ist. Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, dass die Gesetzesänderung verfassungsmäßig ist. In seiner Urteilsbegründung führt es gleichwohl aus, dass es von Verfassungs wegen nicht erlaubt sei, an Hochschulen ein religiöses Kopftuch zu tragen.566 bb) Sachverhalt Gemäß § 12 Gesetz Nr. 3670 wurde in Gesetz Nr. 2547567 ein Zusatz § 17 eingefügt. Dessen Inhalt lautet: 564  Ob es sich dogmatisch um eine durch den Laizismus umrissene Verengung des Schutzbereiches der Religionsfreiheit oder eine Schranke der selbigen handelt, wird aus den Urteilsgründen nicht deutlich. 565  Nach Rumpf trat das Gericht im Urteil über die Verbeamtung der Mitarbeiter des Präsidiums als Verfechter eines „modifizierten Laizismus“ auf, wohingegen er in der hier besprochenen Entscheidung zur Kopftucherlaubnis die Position des „strengen Laizismus“ vertrat, vgl. Rumpf, Das türkische Verfassungsgericht und die Grundzüge seiner Rechtsprechung, in: EuGRZ, 1990, S. 129 (144). 566  s. TVerfG, Urt. v. 09.04.1991, E. 1990  / 36, K. 1991 / 8, in: AMKD, Bd. 27, Heft 1, S. 285–323. 567  s. Gesetz Nr. 2547 v. 04.11.1981, verkündet in: RG v. 06.11.1981, Nr. 17506, S. 1–30.



V. Sonderfall: Das Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen279 „Solange es nicht gegen geltendes Recht verstößt, ist die Kleidung an Hochschul­ einrichtungen frei.“568

Ferner wurde gemäß dem vorläufigen § 1 Gesetz Nr. 3670 geregelt: „Jede Art von Disziplinarmaßnahmen, die in Angelegenheit von Kleidung vor in Kraft treten dieses Gesetzes erlassen wurde, ist in ihrer Rechtsfolge aufgehoben.“569

Die Oppositionspartei SHP beantragte vor dem Verfassungsgericht im Rahmen eines abstrakten Normenkontrollverfahrens die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Gesetzesänderung und sah darin einen Verstoß gegen den Laizismus, im Besonderen gegen Art. 2, 7, 9, 10, 24, 153 und 174 TVerf v. 1982. cc) Entscheidung In seiner Urteilsbegründung prüft das Gericht, ob die Gesetzesänderung gegen das Urteil des TVerfG v. 07.03.1989570 verstößt, da gem. § 153 TVerf v. 1985 die Gesetzgebung an die Urteile des TVerfG gebunden sei.571 Betrachtet man allein § 12 Gesetz Nr. 3670 (zur Prüfung vorgelegtes Gesetz) so das Gericht, kommt man zu der Schlussfolgerung, dass auch das Tragen eines religiösen Kopftuches zulässig ist, obwohl das TVerfG in seiner oben genannten Entscheidung zu dem Ergebnis kam, dass die gesetzliche Erlaubnis, ein religiöses Kopftuch zu tragen, verfassungswidrig ist.572 Die in § 12 Gesetz Nr. 3670 gefasste Formulierung „Solange es nicht gegen geltendes Recht verstößt (…)“ umfasse auch die Einhaltung der Verfassung.573 Da aber das TVerfG bereits feststellte, dass es verfassungswidrig ist, an Hochschulen ein religiöses Kopftuch zu tragen, umfasse die Kleidungsfreiheit nicht die Freiheit ein religiöses Kopftuch zu tragen, da dies gegen geltendes Recht, nämlich die Verfassung, verstoßen würde.574 § 12 Gesetz Nr. 3670 habe daher die Kleidungsfreiheit selbst verfassungskonform beschränkt. Ein Verstoß gegen die Verfassung lehnt das Gericht daher ab und weist den Antrag zur Aufhebung des Gesetzes zurück.575

568  §  12 Gesetz Nr.  3670 v. 25.10.1990, verkündet in: RG v. 28.10.1990, Nr. 20679, S. 1 (4), Übersetzung der Verfasserin. 569  Vorläufiges § 1 Gesetz Nr. 3670 v. 25.10.1990, verkündet in: RG v. 28.10. 1990, Nr. 20679, S. 1 (4), Übersetzung der Verfasserin. 570  Zum Urteil s. o., D. V. 2. a). 571  s. AMKD, Bd. 27, Heft. 1, S. 285 (302). 572  s. AMKD, Bd. 27, Heft. 1, S. 285 (302). 573  s. AMKD, Bd. 27, Heft. 1, S. 285 (303). 574  s. AMKD, Bd. 27, Heft. 1, S. 285 (305). 575  s. AMKD, Bd. 27, Heft. 1, S. 285 (309).

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

dd) Stellungnahme Im Ergebnis handelt es sich um eine der Linie der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts entsprechende Entscheidung. Bereits in seinem Urteil aus dem Jahre 1989 stellte das Gericht fest, dass das Tragen eines religiösen Kopftuchs gegen den Laizismus verstößt und daher von Verfassungs wegen nicht erlaubt ist. Wegen der Beurteilung der Bedeutung des Laizismus wird auf die obigen Ausführungen verwiesen, da die Urteilsbegründung insoweit keine neuen Erkenntnisse liefert. c) EGMR zum Kopftuchverbot an türkischen Hochschulen aa) Einleitung In der Rechtssache Leyla Şahin . / . Türkei befasste sich der EGMR mit der Frage, ob das Kopftuchverbot für Studentinnen an türkischen Universitäten mit dem Vertragsrecht vereinbar ist. Das Gericht bejaht diese Frage. Es sah in dem türkischen Kopftuchverbot für Studentinnen keinen Verstoß gegen Art. 9 EMRK und Art. 2 Zusatzprotokoll der EMRK und weist die Beschwerde der Beschwerdeführerin ab.576 bb) Sachverhalt Die 1973 geborene Bf. Leyla Şahin ist muslimischen Glaubens und trug aus religiöser Überzeugung das islamische Kopftuch.577 Sie ist Medizinstudentin und wechselte 1997 im fünften Studienjahr von der Universität Bursa an die medizinische Fakultät der Universität Istanbul.578 Sie trug nach eigenen Angaben während der gesamten Zeit ihres Studiums das islamische Kopftuch.579 Am 23.02.1998 erließ der Rektor der Universität Istanbul einen Runderlass, wonach Studentinnen mit islamischem Kopftuch 576  EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), abgedruckt in deutscher Sprache in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389–1396; mit Anmerkungen v. Weber s. DVBl., 2006, S. 167–174; eine Besprechung des Urteils in: Pabel, Islamisches Kopftuch und Prinzip des Laizismus, EuGRZ, 2005, S. 12–15. 577  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1389). 578  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1389). 579  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1389).



V. Sonderfall: Das Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen281

nicht mehr in Vorlesungen, Kursen und Übungen zugelassen werden.580 In dem Runderlass heißt es: „By virtue of the Constitution, the law and regulations, and in accordance with the case-law of the Supreme Administrative Court and the European Commission of Human Rights and the resolutions adopted by the university administrative boards, students whose ‚heads are covered‘ (who wear the Islamic headscarf) and students (including overseas students) with beards must not be admitted to lectures, courses or tutorials. Consequently, the name and number of any student with a beard or wearing the Islamic headscarf must not be added to the lists of registered students.“581

Auf Grundlage dieses Runderlasses wurde die Bf. wiederholt nicht zu schriftlichen Prüfungen und zur Teilnahme an Vorlesungen zugelassen.582 Die Bf. klagte vor dem Istanbuler Verwaltungsgericht. Das Gericht wies die Klage der Bf. mit Urteil vom 19.03.1999 ab.583 Gemäß § 13 b Hochschulgesetz Nr. 2547 könne der Rektor der Universität als Exekutivorgan die Kleidung der Studenten zum Schutz der Ordnung regeln.584 Diese Regelung müsse mit dem Gesetz und der höchstrichterlichen Rechtsprechung übereinstimmen. Weder das Kopftuchverbot noch die Maßnahmen gegen die Bf. seien rechtswidrig ergangen.585 Das Rechtsmittel gegen das Urteil des Istanbuler Verwaltungsgerichts blieb erfolglos.586 Mit der beim EGMR eingelegten Beschwerde rügt die Bf. die Verletzung der Art. 8, 9, 10, 14 sowie die Verletzung des Art. 2 Zusatzprotokoll der EMRK (Recht auf Bildung).

580  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1389). 581  EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), Rn.  16, im Internet unter: http: /  / cmiskp.echr.coe.int / tkp197 / view.asp?item=3&portal=hbkm& action=html&highlight=Sahin&sessionid=95385926&skin=hudoc-en (zuletzt aufgerufem am 13.05.2012). 582  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1389). 583  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1389). 584  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1389). 585  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1389). 586  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1389).

282

D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

cc) Entscheidung Der EGMR prüft in seiner Entscheidung im Rahmen des Art. 9 EMRK, ob ein Eingriff vorliegt und bejahendenfalls, ob dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen und ein berechtigtes Ziel nach Art. 9 EMRK verfolgt. (1) Eingriff in Art. 9 Abs. 1 EMRK Der EGMR nimmt in seinem Urteil einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 9 EMRK an. Ohne damit zugleich zu erklären, dass er damit annehme, jedes „islamisch“ getragene Kopftuch beruhe in jedem Fall auf einer religiösen Motivation.587 (2) Rechtlich vorgesehen nach Art. 9 Abs. 2 EMRK Nach der Feststellung des Eingriffs prüft das Gericht, ob dieser Eingriff „gesetzlich vorgesehen“ war. „Gesetzlich vorgesehen“ bedeute nach Rechtsprechung des Gerichtshofes, dass die staatliche Maßnahme auf Grundlage nationalen Rechts ergangen sein muss und, dass dieses Recht der Kenntnisnahme zugänglich sein muss und ausreichend präzise formuliert sein muss, damit Rechtsfolgen vorhersehbar sind und das Verhalten an das Recht angepasst werden kann.588 Das Gericht geht der Frage nach, ob der vorläufige § 17 Hochschulgesetz Nr. 2547 eine geeignete Rechtsgrundlage für das Kopftuchverbot per Runderlass sein kann.589 Sodann führt das Gericht aus, dass die nationale Rechtsprechung die Rechtmäßigkeit des Runderlasses annahm und sich dabei auf die höchstrichterliche Rechtsprechung der Türkei berief.590 Der Gerichtshof merkt an, dass „gesetzlich vorgesehen“ nicht zwingend formales Recht, sondern auch materielles Recht meint.591 Das Verfassungsgericht, so der Gerichtshof, habe bereits festgestellt, dass die im vorläufigen § 17 Gesetz Nr. 2547 enthaltene Freiheit der Kleidung nicht absolut gelte, sondern durch geltendes Gesetz beschränkt 587  Vgl. Rn. 78, in: 588  Vgl. Rn. 84, in: 589  Vgl. Rn. 87, in: 590  Vgl. Rn. 87, in: 591  Vgl. Rn. 88, in:

EGMR, Urt. NVwZ, 2006, EGMR, Urt. NVwZ, 2006, EGMR, Urt. NVwZ, 2006, EGMR, Urt. NVwZ, 2006, EGMR, Urt. NVwZ, 2006,

v. 10.11.2005, Leyla Şahin Heft 12, S. 1389 (1390). v. 10.11.2005, Leyla Sahin Heft 12, S. 1389 (1390). v. 10.11.2005, Leyla Şahin Heft 12, S. 1389 (1390). v. 10.11.2005, Leyla Şahin Heft 12, S. 1389 (1390). v. 10.11.2005, Leyla Şahin Heft 12, S. 1389 (1390).

. / . Türkei (Rs.  44774 / 98), .  /  . Türkei (Rs.  44774 / 98), . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), . / . Türkei (Rs.  44774 / 98),



V. Sonderfall: Das Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen283

sei und dass dieses Gesetz auch die Verfassung sei.592 Die Entscheidung, so der Gerichtshof, sei bindend und im Amtsblatt verkündet.593 Das Verfassungsgericht habe, so der Gerichtshof, mehrfach festgestellt, dass das islamische Kopftuch an Hochschulen nicht vereinbar mit den Staatsprinzipien sei.594 Es sei ohne Zweifel, dass das Kopftuchverbot an der Universität Istanbul existierte.595 Der Gerichtshof nimmt an, dass der Eingriff in Art. 9 EMRK auf Grundlage des vorläufigen § 17 Hochschulgesetz Nr. 2547 im Lichte der Entscheidungen der nationalen Rechtsprechung ergangen ist.596 (3) Berechtigtes Ziel nach Art. 9 Abs. 2 EMRK Nachdem der Gerichtshof einen rechtlich vorgesehen Eingriff angenommen hat, prüft er die Frage, ob der Eingriff ein nach Art. 9 EMRK zulässiges Ziel verfolgt. Der Gerichtshof nimmt zunächst an, dass das Kopftuchverbot zum Schutze der negativen Religionsfreiheit und der öffentlichen Ordnung ein legitimes Ziel ist.597 Dabei berücksichtigt das Gericht den Druck des islamischen Kopftuchs als Symbol, den es auf solche haben kann, die kein Kopftuch tragen und weist auf den signifikant bestehenden politischen Islam in der Türkei hin, der versuche, der Gesellschaft seine religiöse Ordnung aufzudrängen.598 Der Vertragsstaat könne daher Haltung gegen den politischen Islam einnehmen.599 Die Begrenzung der Religionsfreiheit könne daher als Begegnung eines „pressing social need“ zur Erreichung des legitimen Ziels (Schutze der negativen Religionsfreiheit und der öffentlichen Ordnung) gesehen werden.600 Es sei daher nachvollziehbar, 592  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin Rn. 89, in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1391). 593  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin Rn. 93, in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1391). 594  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin Rn. 93, in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1391). 595  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin Rn. 97, in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1391). 596  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin Rn. 98, in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1391). 597  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin Rn. 115, in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1393). 598  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin Rn. 115, in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1393). 599  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin Rn. 115, in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1393). 600  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin Rn. 115, in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1393).

. / . Türkei (Rs.  44774 / 98), . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), . / . Türkei (Rs.  44774 / 98),

284

D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

dass die relevanten Einrichtungen ihre säkulare Natur schützen wollen und daher über die Erlaubnis religiöser Kleidung, mithin das Kopftuch, nachdenken.601 Der Gerichtshof prüft darüber hinaus, ob das Kopftuchverbot verhältnismäßig ist.602 Er konstatiert, dass im Übrigen nach nationalstaatlichem Recht die Religionsausübung an den Universitäten im Rahmen der Grenzen der Bildungseinrichtungen erlaubt sei und, dass das Rundschreiben eine vielfältige Religionsausübung erlaube.603 Art. 9 EMRK schütze nicht immer das Recht, sich nach den Regeln der Religion zu verhalten und gewährt Personen nicht das Recht gegen Regeln zu verstoßen, die gerechtfertigt sind.604 Aus oben genannten Gründen räumt der Gerichtshof dem Vertragsstaat einen Beurteilungsspielraum ein und kommt zum Ergebnis, dass der Eingriff dem Grunde nach gerechtfertigt und verhältnismäßig ist.605 Ein Verstoß gegen Art. 9 EMRK läge daher nicht vor.606 dd) Stellungnahme Eine Beurteilung des türkischen Laizismus am Maßstab des Konventionsrechts nimmt der EGMR nicht vor.607 Unbefriedigend bzw. gar nicht behandelt ist die Frage, wie es zu bewerten ist, dass das Verbot ungleich viele Studentinnen, die aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen, vom Studium ausgrenzt. Das Kopftuchverbot verursacht im Hinblick auf die Anzahl dieser Studentinnen ebenfalls ein „pressing social need“608, wie es die Türkei über Jahrzehnte prägt und nach wie vor politisch zu lösen versucht. Das Kopftuchverbot ist in Anbetracht der Anzahl der betroffenen Studentinnen seinerseits geeignet, eine Gefahr für den gesellschaftlichen 601  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), Rn. 116, in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1393). 602  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), Rn. 117, in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1393). 603  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), Rn. 118, in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1393). 604  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), Rn. 121, in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1393). 605  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), Rn. 122, in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1393). 606  Vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Şahin . / . Türkei (Rs.  44774 / 98), Rn. 123, in: NVwZ, 2006, Heft 12, S. 1389 (1393). 607  Vgl. auch Pabel Islamisches Kopftuch und Prinzip des Laizismus, in: EuGRZ, 2005, S. 12 (15). 608  Vgl. Wiater, Kulturpluralismus als Herausforderung für Rechtstheorie und Rechtspraxis, 2009, S. 383.



V. Sonderfall: Das Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen285

Frieden darzustellen.609 Der Gerichtshof übernimmt bei der Bewertung des Kopftuches den landesspezifischen Kontext als Ausdruck der staatlichen „margin of appreciation“.610 Der Gerichtshof stellt zum Nachweis des „dringenden sozialen Bedürfnisses“ auf die Beurteilung des Vertragsstaates ab, wonach das Kopftuch in der Türkei Zeichen des religiösen Zwanges und der Geschlechterunterdrückung sei und zudem ein politisches Symbol darstelle. Dass die Bf. ihr Kopftuch aber freiwillig trägt und darin keine Unterdrückung oder ein politisches Symbol sieht, bleibt unberücksichtigt. Auf eine Interessenabwägung zwischen der positiven Religionsausübungsfreiheit611 und der gesellschaftlichen Spannung, die das Kopftuchverbot in der Türkei auslöst auf der einen, und dem Schutz der Rechte Dritter, mithin der negativen Religionsfreiheit, und dem Schutz der öffentlichen Ordnung auf der anderen Seite, geht der Gerichtshof nicht ein. Ein anderes Abwägungsergebnis ist denkbar, wenngleich nicht zwingend. d) Aufhebung des Kopftuchverbotes in der Rechtsprechung des TVerfG aa) Einleitung In seinem Urteil aus dem Jahre 2008 befasste sich das TVerfG mit Frage, ob die Verfassungsänderung durch Gesetz Nr. 5735, welches das Tragen eines Kopftuches an Hochschulen erlaubte, mit der Verfassung vereinbar ist. Das Gericht sieht in der Verfassungsänderung einen Verstoß gegen die Verfassung und hebt die verfassungsändernde Gesetzgebung auf.612 609  In diesem Zusammenhang passend Wiater: „Staatliche Autoritäten fungieren – so die ständige Rechtsprechung des EGMR – aufgrund ihrer „besonderen Nähebeziehung zu den betroffenen Gesellschaften“ als Sprachrohr bei der europäischen Artikulation gesellschaftlicher Bedürfnisse. Die ethnologisch postulierte Differenzierung zwischen staatlicher und pluralistisch-gesellschaftlicher Normativität und Kultur sowie die kritische Auseinandersetzung mit der empirischen Beschaffenheit der betroffenen Gesellschaft und der Repräsentationswirkung in staatlicher Legalität gegenüber jener pluralistischen Gesellschaft bleibt im Verfahren vor dem EGMR weitgehend ungehört.“, dies., Kulturpluralismus als Herausforderung für die Rechtstheorie und Rechtspraxis, 2009, S. 383. 610  Vgl. Wiater, Kulturpluralismus als Herausforderung für Rechtstheorie und Rechtspraxis, 2009, S. 296. 611  Nach Pabel geht der EGMR auf die Bedeutung die das Tragen des Kopftuchs für die Bf. bzw. für gläubige Muslime gar nicht ein, weshalb eine tatsächliche Güterabwägung durch den EGMR nicht stattgefunden hat, vgl. Pabel, Islamisches Kopftuch und Prinzip des Laizismus, in: EuGRZ, 2005, S. 12 (14). 612  Vgl. TVerfG, Urt. v. 2008, E. 2008 / 16, K. 2008 / 116, in: RG v. 22.10.2008, Nr.  27032, AMKD, 45 / 2, S.  1195–1253.

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

bb) Sachverhalt Im Jahre 2008 wurden durch die §§ 1, 2 Gesetz Nr. 5735 v. 09.02.2008 die Art. 10 und 42 TVerf v. 1982 geändert.613 In Art. 10 Abs. 5 TVerf v. 1982 wurde durch das verfassungsändernde Gesetz nach der Formulierung „bei all ihren Akten“ die Formulierung „und bei der Nutzung aller öffent­ lichen Dienste“ eingeschoben.614 Art. 46 Abs. 6 TVerf v. 1985 wurde um folgenden Satz ergänzt: „Niemandem darf aus irgendeinem Grund, der nicht offen und schriftlich durch Gesetz festgelegt ist, das Recht auf Hochschulbildung verweigert werden. Die Gebrauchsgrenzen dieses Rechts werden durch Gesetz bestimmt.“615

Die antragstellenden Abgeordneten der Großen Nationalversammlung behaupteten, die Verfassungsänderung verstoße gegen die Präambel, Art. 1, 2, 3, 4, 6, 7, 8, 9, 24, 138, 135 und 174 TVerf v. 1982 und beantragten im Wege einer abstrakten Normenkontrolle, das Gericht möge erklären, dass das Gesetz gegenstandslos ist oder aufzuheben ist oder bis zur Entscheidung des Gerichts keine Rechtswirkung entfaltet.616 cc) Entscheidung In seiner Entscheidungsbegründung geht das Gericht schwerpunktmäßig der Frage nach, ob das zur Prüfung vorgelegte Gesetz aufzuheben ist, weil die Verfassungsänderung unzulässig war.617 Zunächst stellt das Gericht fest, dass gem. Art. 4 TVerf v. 1982 die Vorschrift des Art. 1 TVerf v. 1982 über die Republik als Staatsform sowie die Vorschriften über die Prinzipien der Republik in Art. 2 TVerf v. 1982 und diejenigen des Art. 3 TVerf v. 1982 unabänderlich sind und, dass aus diesem Grund das Einbringen eines Än613  s. §§ 1, 2 Gesetz Nr. 5735 v. 09.02.2008, verkündet in: RG v. 23.02.2008, Nr. 26796. 614  § 1 Gesetz Nr. 5735 v. 09.02.2008, verkündet in: RG v. 23.02.2008, Nr. 26796: „Die Staatsorgane und Verwaltungsbehörden haben bei all ihren Akten gemäß dem Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz zu handeln.“ Art. 10 Abs. 5 TVerf v. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Verfassung der Republik Türkei, 2012, S. 7, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 615  § 2 Gesetz Nr. 5735 v. 09.02.2008, verkündet in: RG v. 23.02.2008, Nr. 26796, Übersetzung der Verfasserin. 616  s. TVerfG, Urt. v. 05.06.2008, E. 2008 / 16, K. 2008 / 116, in: RG v. 22.10.2008, Nr. 27032, AMKD, Bd. 45 / 2, S. 1195 (1195). 617  s. TVerfG, Urt. v. 05.06.2008, E. 2008 / 16, K. 2008 / 116, in: RG v. 22.10.2008, Nr. 27032, AMKD, Bd. 45 / 2, S. 1195 (1230 ff.).



V. Sonderfall: Das Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen287

derungsvorschlages unzulässig ist.618 Sodann geht das Gericht auf Art. 148 Abs. 1 S. 2 TVerf v. 1982 ein.619 Dort heißt es: „Die Überprüfung der Gesetze hinsichtlich der Form ist auf die Frage, ob die letzte Abstimmung mit der vorgesehenen Mehrheit erfolgte, und bei den Verfassungsänderungen auf die Frage begrenzt, ob der Mehrheit für Vorschlag und Abstimmung sowie der Bedingung, dass nicht im Eilverfahren verhandelt wird, entsprochen wurde.“620

Das Gericht kommt zur Auffassung, dass die Prüfung der formellen Verfassungsmäßigkeit nach Art. 148 Abs. 2 TVerf v. 1982, auch die Prüfung beinhalte, ob der „Vorschlag“ überhaupt zulässig war.621 Da das Einbringen eines Vorschlags zur Änderung der Art. 1, 2 und 3 TVerf v. 1982 gem. Art. 4 TVerf v. 1982 unzulässig ist, kommt das Gericht zu der Schlussfolgerung, dass ein verfassungsänderndes Gesetz, welches Art. 1, 2 und 3 TVerf v. 1982 ändert, gem. Art. 148 Abs. 2 TVerf v. 1982 ein Formfehler ist, der gem. Art. 148 Abs. 2 S. 2 TVerf v. 1982 vom Verfassungsgericht überprüft werden kann.622 Die Prüfung erstrecke sich dann auf die Frage, ob eine Verfassungsänderung eine Änderung der in Art. 4 TVerf v. 1982 genannten unabänderbaren Artikel nach sich zieht623. Mithin geht das Gericht der Frage nach, ob durch die gegenständliche Verfassungsänderung die Prinzipien nach Art. 2 TVerf v. 1982 geändert werden.624 Aus der Gesetzesbegründung leitet das Gericht ab, dass das zur Prüfung vorgelegte Gesetz die Erlaubnis des religiösen Kopftuches an Hochschulen bezwecke.625 In ständiger Rechtsprechung wiederholt sodann das Gericht, dass das religiöse Kopftuch an Hochschulen zum Schutze der negativen Reli­ gionsfreiheit und öffentlichen Ordnung mit dem Laizismus nicht vereinbar 618  s. TVerfG, Urt. v. 05.06.2008, E. 2008 / 16, K. 2008 / 116, in: RG v. 22.10.2008, Nr. 27032, AMKD, Bd. 45 / 2, S. 1195 (1232). 619  s. TVerfG, Urt. v. 05.06.2008, E. 2008 / 16, K. 2008 / 116, in: RG v. 22.10.2008, Nr. 27032, AMKD, Bd. 45 / 2, S. 1195 (1233). 620  Art. 148 Abs. 2 S. 1 und 2 TVerf v. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S. 42, im Internet unter: http:  /   /  www. tuerkei-recht.de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 621  s. TVerfG, Urt. v. 05.06.2008, E. 2008 / 16, K. 2008 / 116, in: RG v. 22.10.2008, Nr. 27032, AMKD, Bd. 45 / 2, S. 1195 (1233). 622  s. TVerfG, Urt. v. 05.06.2008, E. 2008 / 16, K. 2008 / 116, in: RG v. 22.10.2008, Nr. 27032, AMKD, Bd. 45 / 2, S. 1195 (1233 ff.). 623  s. TVerfG, Urt. v. 05.06.2008, E. 2008 / 16, K. 2008 / 116, in: RG v. 22.10.2008, Nr. 27032, AMKD, Bd. 45 / 2, S. 1195 (1233, 1234). 624  s. TVerfG, Urt. v. 05.06.2008, E. 2008 / 16, K. 2008 / 116, in: RG v. 22.10.2008, Nr. 27032, AMKD, Bd. 45 / 2, S. 1195 (1234). 625  s. TVerfG, Urt. v. 05.06.2008, E. 2008 / 16, K. 2008 / 116, in: RG v. 22.10.2008, Nr. 27032, AMKD, Bd. 45 / 2, S. 1195 (1236).

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

ist.626 Dabei berücksichtigt das Gericht bei seiner Entscheidung auch die Rechtsprechung des EGMR in der Rechtsache Leyla Sahin .  /  . Türkei, Dahlab . / . Schweiz sowie Refah Partisi . / . Türkei.627 Die gegenständliche Verfassungsänderung eröffne aber den Weg zum Missbrauch der Religion für politische Zwecke, zur Verletzung der Rechte Dritter und zur Störung der öffentlichen Ordnung und verstoße aus diesem Grund gegen den Laizismus.628 Da der Laizismus als Staatsprinzip in Art. 2 TVerf v. 1982 gem. Art. 4 TVerf v. 1982 Bestandsgarantie besitzt und eine Abänderung unzulässig ist, liegt nach Ansicht des Gerichts kein nach Art. 148 Abs. 2 TVerf v. 1985 zulässiger „Vorschlag“ vor.629 Mithin verstoße die Verfassungsänderung gegen Art. 2, 4 und 148 TVerf v. 1982.630 Folglich hob das Gericht §§ 1 und 2 Gesetz Nr. 5735 auf.631  dd) Stellungnahme In Anbetracht der ständigen Rechtsprechung zum Laizismus in der Türkei handelt es sich um ein im Ergebnis der Linie der Rechtsprechung entsprechendes Urteil. Insoweit wird auf die oben besprochenen Entscheidungen des TVerfG zum Kopftuchverbot und zum Präsidium für religiöse Angelegenheiten verwiesen.632 Verfassungsrechtlich streitig ist die Frage, ob das Verfassungsgericht überhaupt in die materielle Prüfung des Gesetzes einsteigen durfte. Nach Özbudun hat jedenfalls diese Lesart des Verfassungsgerichts zur Folge, dass jede Verfassungsänderung auch materiell geprüft werden darf, obwohl Art. 148 TVerf v. 1982 nur die Prüfung von Formfehlern vorsieht. Damit überschreite das Verfassungsgericht seine Kompetenz und jede Verfassungsänderung hängt vom positiven Votum des Verfassungsgerichts ab, dies aber greife in die Souveränität des Volkes und die Demokratie ein.633 626  s. TVerfG, Urt. v. 05.06.2008, E. 2008 / 16, K. 2008 / 116, in: RG v. 22.10.2008, Nr. 27032, AMKD, Bd. 45 / 2, S. 1195 (1238). 627  s. TVerfG, Urt. v. 05.06.2008, E. 2008 / 16, K. 2008 / 116, in: RG v. 22.10.2008, Nr. 27032, AMKD, Bd. 45 / 2, S. 1195 (1238, 1239). 628  s. TVerfG, Urt. v. 05.06.2008, E. 2008 / 16, K. 2008 / 116, in: RG v. 22.10.2008, Nr. 27032, AMKD, Bd. 45 / 2, S. 1195 (1239). 629  s. TVerfG, Urt. v. 05.06.2008, E. 2008 / 16, K. 2008 / 116, in: RG v. 22.10.2008, Nr. 27032, AMKD, Bd. 45 / 2, S. 1195 (1239). 630  s. TVerfG, Urt. v. 05.06.2008, E. 2008 / 16, K. 2008 / 116, in: RG v. 22.10.2008, Nr. 27032, AMKD, Bd. 45 / 2, S. 1195 (1239). 631  s. TVerfG, Urt. v. 05.06.2008, E. 2008 / 16, K. 2008 / 116, in: RG v. 22.10.2008, Nr. 27032, AMKD, Bd. 45 / 2, S. 1195 (1240). 632  s. o. D. III. 3. und D. V. 2. a). 633  Vgl. Özbudun, Türk Anayasa Hukuku (Türkisches Verfassungsgericht), 12. Aufl. (2011), S. 181, 182.



VI. Sonderfall: Das Verbot islamischer Parteien289

VI. Ein Sonderfall des türkischen Laizismus: Das Verbot islamischer Parteien 1. Geschichtliche Entwicklung der Parteiverbote In der Türkei wurden insgesamt seit 1925 mehr als 60 Parteien verboten.634 Bis auf die CHP635 wurden alle Parteien damit irgendwann vom Staat wegen Verfassungsfeindlichkeit, nicht jedoch wegen des Versuchs der Beseitigung der „freiheitlichen Demokratie“, verboten.636 Historisch-soziologische Erkenntnisse in der Türkei legen vielmehr den Schluss nahe, dass die Parteiverbote regelmäßig nicht zum Schutze der Demokratie, sondern zum Schutze einer Machtstruktur ohne demokratische Legitimation ergingen.637 Politische Parteien waren lange Zeit kein Gegenstand türkischer Gesetzgebung, obschon die ersten politischen Vereinigungen, die als Vorgänger der späteren politischen Parteien bezeichnet werden können, bereits zu Zeiten des Osmanischen Reiches gegründet wurden.638 Die im 19. Jh. im Osmanischen Reich gegründeten politischen Vereinigungen strebten als revolutionäre Untergrundvereinigungen die nationale Unabhängigkeit an.639 Die erste dieser politischen Vereinigungen im Osmanischen Reiche war die Fedailer Cemiyeti.640 Nachdem bekannt wurde, dass sie einen Putsch und einen Anschlag gegen den Sultan plante, wurden die Mitglieder 1859 bestraft.641 Der Fedailer Cemiyeti folgte 1865 eine Vereinigung, die sich Jung-Osmanen (Genç Osmanlılar) nannte, aus der sich dann die Jung-Türken (Jön Türkler) entwickelten, die später den Kern der Osmanischen Einheits- und Fortschrittspartei (Osmanlı Ittihat ve Terakki Cemiyeti) bilde634  s.  Can, Parteiverbote in der Türkei, Instrument einer wehrhaften Demokratie?, in: JöR, Bd. 59, 2011, S. 635 (638). 635  Im Einzelnen zur CHP s. Oehring, Die Türkei im Spannungsfeld extremer Ideologien, 1984, S. 121–131. 636  s.  Can, Parteiverbote in der Türkei, Instrument einer wehrhaften Demokratie?, in: JöR, Bd. 59, 2011, S. 635 (638). 637  So Can, Parteiverbote in der Türkei, Instrument einer wehrhaften Demokratie?, in: JöR, Bd. 59, 2011, S. 635 (638). 638  Vgl. Emek, Parteiverbote und Europäische Menschenrechtskonvention, 2007, S. 67. 639  Diese Vereinigungen waren keine politischen Parteien im engeren Sinne, da es zu diesem Zeitpunkt an einen Wahlsystem und einem Parlament fehlte; s. Akartürk, Türk Hukukunda Siyasal Parti Yasakları (Verbot politischer Parteien im türkischen Recht), 2008, S. 105. 640  s.  Akartürk, Türk Hukukunda Siyasal Parti Yasakları (Verbot politischer Parteien im türkischen Recht), 2008, S. 105. 641  s.  Akartürk, Türk Hukukunda Siyasal Parti Yasakları (Verbot politischer Parteien im türkischen Recht), 2008, S. 105.

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

ten.642 Die Einheits- und Fortschrittspartei spaltete sich nach 1902.643 Im Jahre 1908 kam die Einheits- und Fortschrittspartei (Ittihat ve Terakki Cemiyeti) der Jung-Türken an die Macht.644 Nach den Verfassungsänderungen im Jahre 1909 bekamen politische Parteien die verfassungsrechtliche Stellung der Vereine.645 Die unter dem politischen Druck verkündete zweite Verfassung unter Sultan Abdülhamid II. führte erstmals zum Erlass eines Vereinsgesetzes mit einem Vereinsgründungsrecht.646 Es folgte die Gründung von zahlreichen Vereinigungen und politischen Parteien.647 Neben der Partei der Jung-Türken wurden liberale, sozialistische und diverse radikale politische Parteien gegründet.648 Die Gründung von politischen Vereinen stand gem. § 4 Abs. 3 Gesetz Nr. 3512 unter Erlaubnisvorbehalt.649 Insgesamt hatte die Rechtslage nach Gesetz Nr. 3512 bis 1945 ein Einparteiensystem zur Folge.650 Zwei Jahre nach Gründung der Republik wurde die erste demokratische, anti-autoritär und im Wesentlichen liberal gesinnte Progressive Republikanische Partei (Terakkiperver Cumhuriyet Firkasi) durch einen Kabinettsbeschluss verboten.651 Das war der Beginn der Etablierung des Einparteiensystems in der Türkei.652 Nach dem Verbot der zunächst zugelassenen Freien Republikanischen Partei (Serbest Cumhuriyet Firkasi) wurden bis zum Ende des zweiten Weltkrieges keine weiteren Par-

642  s.  Akartürk, Türk Hukukunda Siyasal Parti Yasakları (Verbot politischer Parteien im türkischen Recht), 2008, S. 106. 643  s.  Akartürk, Türk Hukukunda Siyasal Parti Yasakları (Verbot politischer Parteien im türkischen Recht), 2008, S. 106. 644  s.  Can, Parteiverbote in der Türkei, Instrument einer wehrhaften Demokratie?, in: JöR, Bd. 59, 2011, S. 635 (639). 645  s.  Can, Parteiverbote in der Türkei, Instrument einer wehrhaften Demokratie?, in: JöR, Bd. 59, 2011, S. 635 (639). 646  Das Vereinsgesetz von 1909 erlaubte die Gründung von Vereinen unter dem Vorbehalt der Verfassungsmäßigkeit. s. Akartürk, Türk Hukukunda Siyasal Parti Yasakları (Verbot politischer Parteien im türkischen Recht), 2008, S. 107; Emek, Parteiverbote und Europäische Menschenrechtskonvention, 2007, S. 69. 647  Vgl. Akartürk, Türk Hukukunda Siyasal Parti Yasakları (Verbot politischer Parteien im türkischen Recht), 2008, S. 108. 648  s.  Can, Parteiverbote in der Türkei, Instrument einer wehrhaften Demokratie?, in: JöR, Bd. 59, 2011, S. 635 (639). 649  Vgl. Gesetz Nr.  3512 v. 28.06.1938, verkündet in: RG v. 14.07.1938, Nr. 3959, S. 10272. 650  Vgl. Emek, Parteiverbote und Europäische Menschenrechtskonvention, 2007, S. 70. 651  s.  Can, Parteiverbote in der Türkei, Instrument einer wehrhaften Demokratie?, in: JöR, Bd. 59, 2011, S. 635 (640). 652  s.  Can, Parteiverbote in der Türkei, Instrument einer wehrhaften Demokratie?, in: JöR, Bd. 59, 2011, S. 635 (640).



VI. Sonderfall: Das Verbot islamischer Parteien291

teien erlaubt.653 Im Jahre 1946 wurde durch eine Änderung des Vereinsgesetzes die Gründung politischer Vereine ohne Erlaubnisvorbehalt zugelassen.654 Diese Änderung der Rechtslage markiert den Übergang vom Einzum Mehrparteiensystem. „Die erste eigenständige, positiv-rechtliche Anerkennung der politischen Parteien im türkischen Verfassungsrecht geht auf die Änderung der Geschäftsordnung der Großen Nationalversammlung zurück; im Rahmen dieser Änderung vom 18.06.1947 wurden die Fraktionen gem. Art. 22 Abs. 2 der GO zur türkischen Nationalversammlung ausdrücklich als ständige Organe der türkischen Nationalversammlung anerkannt.“655 Die 1946 gegründete DP656 gewann die ersten Wahlen im Jahre 1950.657 Im Jahre 1954 wurde die Volkspartei (Millet Partei) wegen Anlehnung an religiöse Vorgaben durch das 4. Strafgericht Ankara verboten.658 1960 folgte das Verbot der DP wegen Missbrauchs der Religion.659 Erst mit der TVerf v. 1961 gewannen politische Parteien Verfassungsrang.660 Im Jahre 1965 wurde schließlich das erste TPartG beschlossen.661 Fortan konnten politische Parteien nur durch das Verfassungsgericht verboten werden.662 Seit Inkrafttreten der TVerf v. 1961 wurden insgesamt 26663 653  s.  Can, Parteiverbote in der Türkei, Instrument einer wehrhaften Demokratie?, in: JöR, Bd. 59, 2011, S. 635 (640). 654  Vgl. § 4 Gesetz Nr. 4919 v. 05.06.1946, verkündet in: RG v. 10.06.1946, Nr. 6329, S. 10730; Akartürk, Türk Hukukunda Siyasal Parti Yasakları (Verbot politischer Parteien im türkischen Recht), 2008, S. 111. 655  Emek, Parteiverbote und Europäische Menschenrechtskonvention, 2007, S. 70. 656  Im Einzelnen zur DP s. Oehring, Die Türkei im Spannungsfeld extremer Ideologien, 1984, S. 187–189. 657  s.  Can, Parteiverbote in der Türkei, Instrument einer wehrhaften Demokratie?, in: JöR, Bd. 59, 2011, S. 635 (642). 658  s.  Akartürk, Türk Hukukunda Siyasal Parti Yasakları (Verbot politischer Parteien im türkischen Recht), 2008, S. 113; zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine Verfassungsgerichtsbarkeit. Diese wurde erst mit der TVerf v. 1961 eingeführt. 659  s.  Akartürk, Türk Hukukunda Siyasal Parti Yasakları (Verbot politischer Parteien im türkischen Recht), 2008, S 174; s. Can, Parteiverbote in der Türkei, Instrument einer wehrhaften Demokratie?, in: JöR, Bd. 59, 2011, S. 635 (642). 660  Vgl. Art. 56, 57 TVerf v. 1961, Gesetz Nr. 334 v. 09.07.1961, verkündet in: RG v. 20.07.1961, Nr. 10859, S. 4644; Can, Parteiverbote in der Türkei, Instrument einer wehrhaften Demokratie?, in: JöR, Bd. 59, 2011, S. 635 (646). 661  Vgl. Gesetz Nr. 648 v. 13.07.1965, verkündet in: RG v. 16.07.1965, Nr. 12050, S. 3–15. 662  „Prozesse über das Verbot politischer Parteien werden vor dem Verfassungsgericht geführt, und die Entscheidungen über ein Verbot kann allein von diesem Gericht gefällt werden.“, Art. 57 Abs. 4 TVerf v. 1961, in deutscher Sprache zitiert nach Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, 1966, S. 124. 663  Bei Can sind es dagegen 25 Parteiverbote, s. Can, Parteiverbote in der Türkei, Instrument einer wehrhaften Demokratie?, in: JöR, Bd. 59, 2011, S. 635 (645).

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

Parteien durch das Verfassungsgericht verboten, 20 davon nach dem Militärputsch 1980.664 Dabei seien Verbote immer auf das ethnonationalistischkemalistische Verständnis unitaristischer Staatlichkeit und den Laizismus gestützt.665 Zu bedenken sei dabei aber, dass ein erheblicher Teil, wenn nicht die Mehrheit der Verbote, darauf zurückgeht, dass immer dieselben politischen Protagonisten mit Nachfolgeparteien wiederholte Verbotsverfahren ausgelöst haben.666 Ferner verfüge die Türkei über ein strikt rechtsstaatliches Parteienregime, was dazu führt, dass der Einleitung von Verbotsverfahren keine politischen Entscheidungen politischer Organe zugrunde liegen, sondern ein dem Strafprozess ähnliches Verfahren, dass durch die Staatsanwaltschaft beim Kassationshof eingeleitet wird.667 Grund für die hohe Zahl der Parteiverbote ist die exzessive Verankerung des Modells der streitbaren Demokratie.668 Wegen Verstoßes gegen den Laizismus wurde erstmals 1971 die Milli Nizam Partisi (MNP, Partei der Nationalen Ordnung) im Wege eines Verbotsverfahrens vor dem Verfassungsgericht verboten.669 Nach dem Putsch 1980 wurden alle politischen Parteien, die bis zum 12.09.1980 gegründet wurden, aufgelöst.670 Die vom Militär nach 664  s.  Rumpf / Akartürk, Die rechtlichen Auswirkungen des Verbotsverfahren der AKPartei, 2008, S.  5, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / par teiverbot_akp_dt.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.04.2012). 665  s.  Can, Parteiverbote in der Türkei, Instrument einer wehrhaften Demokratie?, in: JöR, Bd. 59, 2011, S. 635 (645). 666  s.  Rumpf / Akartürk, Die rechtlichen Auswirkungen des Verbotsverfahren der AKPartei, 2008, S.  5, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / par teiverbot_akp_dt.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.04.2012). 667  s.  Rumpf / Akartürk, Die rechtlichen Auswirkungen des Verbotsverfahren der AKPartei, 2008, S.  5, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / par teiverbot_akp_dt.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.04.2012). 668  So Emek, Parteiverbote und Europäische Menschenrechtskonvention, 2007, S. 275. 669  TVerfG, Urt. v. 20.05.1971, E: 1971 / 1, K: 1971 / 1, veröffentlicht in: AMKD, Bd. 9, S. 3–71 und RG v. 14.01.1972, Nr. 14072; nachfolge Partei der MNP war die MSP (Milli Selamet Partisi, Nationale Heilspartei), hierzu s. Oehring, Die Türkei im Spannungsfeld extremer Ideologien, 1984, S. 145–167; unter der TVerf v. 1961 wurde Parteiverbote überwiegend wegen kommunistischer Bestätigung eingeleitet: 1967 wurde die Türkiye Işçi ve Ciftçi Partisi (TICP, Arbeiter und Bauernpartei der Türkei) verboten, veröffentlicht in: AMKD, Bd. 6, S. 234–245 und RG v. 30.12.1968, Nr. 13088; 1971 folgte das Verbot der Türkiye Ileri ve Ülkü Partisi (TIÜP, Fortschritts und Heimat Partei), veröffentlicht in: AMKD, Bd. 9, S. 71–79; das Verbot der Türkiye Işçi Partisi (TIP, Arbeiter Partei der Türkei), veröffentlicht in: AMKD, Bd. 9, S. 80– 131; 1980 wurde die Türkiye Emekci Partisi (TEP, Arbeiterpartei der Türkei) verboten, veröffentlich in: AMKD, Bd. 18, S. 3–45; vgl. Tank, Political Islam in Turkey, A state of controlled secularity in: Rubin (Hrsg.), Political Islam, 2007, S. 285 (291). 670  „Sämtliche Zentralen, Landes- und Kreisverbände und andere Zweigstellen, Frauen- und Jugendorganisationen, Vertretungen, lokale und unter sonstigem Namen



VI. Sonderfall: Das Verbot islamischer Parteien293

dem Putsch 1980 in Auftrag gegebene Verfassung stellt eine Kehrtwendung vom liberalen Geist und Charakter der TVerf v. 1961 dar.671 Bis 1995 war die aktive politische Partizipation durch die Verfassung erheblich erschwert. Die Mitgliedschaft in einer politischen Partei für Personen unter 21 Jahren war gem. Art. 68 Abs. 1 S. 2 TVerf v. 1982 verboten.672 Ein Parteiverbot galt gem. Art. 68 Abs. 7 TVerf v. 1982 auch für Studenten, Hochschullehrer, Richter, Staatsanwälte, Angehörige der Streitkräfte u. a.673 Erst die Verfassungsänderungen von 1995 und 2001 brachten schließlich einzelne politische Freiheiten.674 2. Rechtsgrundlage für Parteiverbote unter der TVerf v. 1982 Die Rechtstellung der Parteien ist in Art. 68, 69 TVerf v. 1982 und im TPartG675 geregelt.676 Die Stellung der politischen Parteien zeichnet sich durch die durch den Kemalismus als ideologischem Bedingungsrahmen gezogenen Grenzen und durch zahlreiche begleitende Verbote (Art. 78 ff. TPartG) aus, die ihre Wurzel im Putsch vom 12. September 1980 haben.677 gegründete Hilfseinrichtungen aller Parteien, die bis zum 12. September 1980 gegründet und deren Aktivitäten durch die Bekanntmachung Nr. 7 des Nationale Sicherheitsrates verboten wurden, werden aufgelöst.“, §  1 Gesetz Nr.  2533 v. 16.10.1981, verkündet in: RG v. 16.10.1981, Nr. 17486, S. 1, Übersetzung der Verfasserin; aufgehoben durch § 1 Gesetz Nr. 3821 v. 19.06.1992, verkündet in: RG v. 03.07.1992, Nr. 21273, S. 17. 671  Vgl. Emek, Parteiverbote und Europäische Menschenrechtskonvention, 2007, S. 71. 672  Vgl. Art. 68 Abs. 1 S. 2 TVerf v. 1982, Gesetz Nr. 2709 v. 18.10.1982, verkündet in: RG v. 20.10.1982, Nr. 17844, S. 1–57. 673  Vgl. Art. 68 Abs. 7 TVerf v. 1982, Gesetz Nr. 2709 v. 18.10.1982, verkündet in: RG v. 20.10.1982, Nr. 17844, S. 1–57. 674  Vgl. zur Verfassungsänderung Gesetz Nr.  4121 v. 23.07.1995, RG v. 26.07.1995, Nr. 22355, S. 1–10 und Gesetz Nr. 4709 v. 03.10.2001, RG v. 17.10.2001, Nr. 24556. 675  Vgl Gesetz Nr.  2820 v. 22.04.1983, verkündet in: RG v. 24.04.1983, Nr. 18027, S. 1–27. 676  Zu den Verfassungsänderung in Bezug auf Parteien und zu den Änderungen des TPartG s. Verfassungsänderung durch: Gesetz Nr. 4121 v. 23.07.1995, verkündet in: RG v. 26.07.1995, Nr. 22355; Gesetz Nr. 4709 v. 03.10.2001, verkündet in: RG v. 17.10.2001, Nr. 24556; zur entsprechenden Anpassung des TPartG s. Gesetz Nr. 4445 v. 12.08.1999, verkündet in: RG v. 14.08.1999, Nr. 23786; § 5 Gesetz Nr. 4748 v. 26.03.2002, verkündet in: RG v. 09.04.2002, Nr. 24721; §§ 6–13 Gesetz Nr. 4777 v. 02.01.2003, verkündet in: RG v. 11.01.2003, Nr. 24990. 677  s.  Rumpf / Akartürk, Die rechtlichen Auswirkungen des Verbotsverfahren der AK Partei, 2008, S.  6, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / par teiverbot_akp_dt.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.04.2012).

294

D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

Dieses Konzept wurde im Parteiengesetz von 1983 festgeschrieben und ging zum Teil über die durch die Verfassung vorgegebenen Restriktionen hinaus, wobei gewisse Milderungen die Verfassungsänderung von 1995 brachte, die erst 1999 durch Gesetz umgesetzt wurde.678 „Das Parteiverbotsverfahren ähnelt einem Strafprozess, das durch die Staatsanwaltschaft beim Kassa­ tionshof, dem obersten Zivil- und Strafgericht, eingeleitet wird, wobei das Legalitätsprinzip gilt.“679 Es basiert auf der Strafprozessordnung, die auf deutschem Vorbild beruht.680 Die Vergleichbarkeit mit dem Strafverfahren rechtfertigt nicht, das Parteiverbotsverfahren als eine Art Strafverfahren zu sehen, da ihm wesentliche Grundsätze des Strafverfahrens, die die Besserung des Angeklagten zum Ziel haben, sowie bewusst auch auf Prävention setzen, fehlen und das Verbotsverfahren dagegen im Wesentlichen auf die Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes gerichtet ist.681 Gem. Art. 68 Abs. 4 TVerf v. 1982 dürfen Satzungen und Programme der Parteien den Prinzipien der laizistischen Republik nicht entgegenstehen: „Die Satzungen und Programme der Parteien dürfen der Unabhängigkeit des Staates, der unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk, den Menschenrechten, den Prinzipien der Gleichheit und des Rechtsstaats, der nationalen Souveränität und den Prinzipien der demokratischen und laizistischen Republik nicht entgegenstehen; sie dürfen nicht die Diktatur einer Klasse oder Gruppe oder irgendeine andere Form der Diktatur verteidigen oder das Ziel ihrer Errichtung verfolgen; sie dürfen nicht zu Straftaten auffordern.“682

Nach Can können diese Normen und Verbote, als Ganzes betrachtet, fast auf jedes Parteiprogramm angewendet werden, welches eine Änderung des verfassungsmäßigen Modells bezwecke, ohne Rücksicht darauf, ob diese Änderung durch friedliche demokratische Mittel angestrebt wird.683 Ein 678  s.  Rumpf / Akartürk, Die rechtlichen Auswirkungen des Verbotsverfahren der AK Partei, 2008, S.  6, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / par teiverbot_akp_dt.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.04.2012). 679  s.  Rumpf / Akartürk, Die rechtlichen Auswirkungen des Verbotsverfahren der AK Partei, 2008, S.  5, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / par teiverbot_akp_dt.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.04.2012). 680  s.  Rumpf / Akartürk, Die rechtlichen Auswirkungen des Verbotsverfahren der AK Partei, 2008, S.  12, im Internet unter: http:  /   /  www.tuerkei-recht.de  /  down loads / parteiverbot_akp_dt.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.04.2012). 681  s.  Rumpf / Akartürk, Die rechtlichen Auswirkungen des Verbotsverfahren der AKPartei, 2008, S.  12, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / par teiverbot_akp_dt.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.04.2012). 682  Art. 68 Abs. 4 TVerf v. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S. 19, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht. de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 25.06.2011). 683  s.  Can, Parteiverbote in der Türkei, Instrument einer wehrhaften Demokratie?, in: JöR, Bd. 59, 2011, S. 635 (652, 653, Fn. 79).



VI. Sonderfall: Das Verbot islamischer Parteien295

Parteiverbot kann auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft nur vom Verfassungsgericht angeordnet werden: „Die Schließung der politischen Parteien erfolgt durch Entscheidung des Verfassungsgerichts aufgrund einer Klage, die von der Generalstaatsanwaltschaft der Republik zu erheben ist.“684

Gemäß Art. 69 Abs. 5 TVerf v. 1982 müssen Parteien verboten werden, deren Satzungen oder Programme gegen Art. 68 Abs. 4 TVerf v. 1982 verstoßen. Dort heißt es: „Wird ein Verstoß der Satzung und des Programms einer Partei gegen die Bestimmungen des Art. 68 Abs. 4 festgestellt, ergeht die Entscheidung auf endgültige Schließung.“685

Voraussetzung für ein Parteiverbot ist eine Handlung, die einen Verstoß gegen die in Art. 68 Abs. 4 S. 1 TVerf v. 1982 aufgezählten Rechtsgüter darstellt und, dass kumulativ die Partei zu einem Brennpunkt solcher Aktivitäten wird: „Eine Entscheidung auf endgültige Schließung einer Partei, die wegen gegen die Bestimmungen des Art. 68 Abs. 4 verstoßender Betätigung ausgesprochen wird, erfolgt nur, wenn das Verfassungsgericht feststellt, dass diese Art von Betätigung zu einem Brennpunkt der Aktivitäten wird.“686

Gemäß Art. 69 Abs. 6 S. 2 TVerf v. 1982 wird eine Partei Brennpunkt der verbotenen Aktivitäten, wenn diese von Parteimitgliedern in großem Umfang begangen und diese von den Parteigremien hingenommen bzw. gebilligt werden: „Eine politische Partei wird zum Brennpunkt solcher Aktivitäten, wenn entsprechende Taten von Parteimitgliedern in großem Umfang begangen werden und dies vom Großen Kongress oder dem Vorsitzenden oder von Entscheidungs- und Verwaltungsorganen der Parteizentrale oder der Hauptversammlung oder der Führung der Parlamentsfraktion stillschweigend oder ausdrücklich gebilligt oder solche Taten von den genannten Parteiorganen selbst bewusst und gewollt begangen werden.“687 684  Art. 69 Abs. 4 TVerf v. 1982, Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S. 20, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht. de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 685  Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S.  20, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 686  Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S.  20, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 687  Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S.  20, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012).

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

Anstelle einer Schließung kann das Verfassungsgericht gem. Art. 69 Abs. 7 TVerf v. 1982 die Versagung staatlicher Unterstützung anordnen: „Das Verfassungsgericht kann anstelle der Schließung nach vorstehenden Vorschriften je nach Schwere der Verstöße auch die teilweise oder vollständige Versagung staatlicher Unterstützung anordnen.“688

Das TPartG hat die verfassungsrechtlichen Vorschriften zum Parteienverbot in den §§ 98–108 TPartG konkretisiert.689 Als solche finden sich in § 101 TPartG eine Reihe aufgezählter Parteiverbotsgründe: „Das Verfassungsgericht ordnet ein Parteiverbot an, wenn a)  Die Satzung und das Programm der politischen Partei der Unabhängigkeit des Staates, der Unteilbarkeit des Landes und des Volkes, den Menschenrechten, der Gleichheit und der Rechtsstaatsprinzipien, der Herrschaft des Volkes, der Prinzipien der demokratischen und laizistischen Republik widerspricht, eine Diktatur einer Klasse oder sonstige Diktatur fordert und zu etablieren anstrebt, zu Straftaten aufruft. b)  das Verfassungsgericht feststellt, dass eine politische Partei Handlungen verübt, die gegen Art. 68 Abs. 4 TVerf v. 1982 verstoßen, und zu einem Brennpunkt geworden sind. c) eine politische Partei von fremden Staaten, internationalen Einrichtungen und natürlichen und juristischen Personen nicht türkischer Herkunft materielle Hilfe annimmt.“690

Gemäß § 84 TPartG v. 1983 dürfen politische Parteien keine Ziele verfolgen, die den Reformgesetzen zum Schutze des Laizismus widersprechen: „Politische Parteien dürfen keine Ziele verfolgen und Handlungen verüben, die den Reformgesetzen a.  Gesetz Nr. 430 vom 3. März 1340 über die Vereinheitlichung des Unterrichts; b. Gesetz Nr. 671 vom 25. November 1341 über das Tragen westlicher Kopfbedeckungen; c.  Gesetz Nr. 677 vom 30. November 1341 über Verbot und Schließung der Derwischorden, der Klöster und Mausoleen, über das Verbot des Berufs der Mausoleenwächter und der Führung und Verleihung einiger Titel; d.  Der durch das Türkische Zivilgesetzbuch Nr. 743 vom 17. Februar 1926 angenommene Grundsatz der Eheschließung vor dem Standesbeamten und die Bestimmung des Artikels 110 des gleichen Gesetzes; 688  Übersetzung zitiert nach Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, 2012, S.  20, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 689  Vgl. §§ 98–108 Gesetz Nr. 2820 v. 22.04.1983, in seiner zuletzt geänderten Fassung durch Gesetz Nr. 5341 v. 29.04.2005, RG v. 07.05.2005, Nr. 25808. in: Düstur, Serie V (1984), Bd.  22 / 1 / 1, S.  290–315. 690  § 101 TPartG v. 1983, Übersetzung der Verfasserin.



VI. Sonderfall: Das Verbot islamischer Parteien297 e. Gesetz Nr. 1288 vom 20. Mai 1928 über die Annahme der international üblichen Ziffern; f. Gesetz Nr. 1353 vom 1. November 1928 über die Annahme und Anwendung des türkischen Alphabets; g.  Gesetz Nr. 2590 vom 26. November 1934 über die Aufhebung der Anreden und Titel Efendi, Bey, Pascha und dergleichen; h.  Gesetz Nr. 2596 vom 3. Dezember 1934 über das Verbot, bestimmte Trachten zu tragen, die das Ziel haben die türkische Gesellschaft zu einer modernen Zivilisation zu erheben und den Laizismus der Republik Türkei zu schützen, widersprechen.“691

Aus § 85 TPartG v. 1983 ergibt sich, dass politische Parteien die Person, die Handlungen und das Andenken Mustafa Kemals nicht verunglimpfen dürfen: „Politische Parteien, dürfen nicht das Ziel verfolgen und keine Handlungen vornehmen, die geeignet sind, die Person und die Handlungen oder das Andenken Atatürks, den Retter des türkischen Volkes, den Gründer der Republik Türkei, schlecht zu machen oder herabzuwürdigen. Die Partei darf im Namen und im Emblem den Namen oder das Bildnis Atatürks nicht verwenden.“692

Gemäß Art. 86 TPartG v. 1983 ist es verboten, die Auswechslung des Laizismus und die Wiedereinführung des Kalifats zu fordern: „Politische Parteien dürfen nicht das Ziel verfolgen oder Handlungen mit diesem Ziel vornehmen, die die Auswechslung des Laizismus der Republik Türkei und die Wiedereinführung des Kalifats zum Gegenstand haben.“693

Aus § 87 TPartG v. 1983 ergibt sich, dass Parteien nicht das Ziel verfolgen dürfen, die staatliche Ordnung auf religiöse Vorgaben anzupassen, um daraus einen Vorteil zu ziehen: „Politische Parteien dürfen nicht das Ziel verfolgen, die soziale oder wirtschaft­ liche oder politische oder rechtliche Grundordnung des Staates, auch nur teilweise, den religiösen Grundlagen oder dem Glauben anzupassen oder um politische Ziele oder politische Vorteile zu erreichen, die Religion oder religiöse Gefühle oder religiös geheiligte Dinge zu missbrauchen oder damit Propaganda ma­ chen.“694

Gemäß § 88 Abs. 1 TPartG v. 1983 dürfen politische Parteien nicht an religiösen Feiern und Zeremonien teilnehmen: 691  § 84 TPartG v. 1983, Übersetzung der Verfasserin, die Buchstaben a–h entsprechen der Übersetzung zu Art. 174 Nr. 1–8 TVerf v. 1982 bei Rumpf, Verfassung der Republik Türkei, 2012, S. 50, im Internet unter: http://www.tuerkei-recht.de/ downloads/verfassung.pdf (zuletzt aufgerufen am 31.08.2013). 692  § 85 TPartG v. 1983, Übersetzung der Verfasserin. 693  § 86 TPartG v. 1983, Übersetzung der Verfasserin. 694  § 87 TPartG v. 1983, Übersetzung der Verfasserin.

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

„Politische Parteien dürfen in keiner Weise religiöse Zeremonien veranstalten und oder als Partei an Zeremonien diese Art teilnehmen.“695

In § 88 Abs. 2 TPartG v. 1983 heiß es: „Politische Parteien dürfen religiöse Feste, Zeremonien, Bestattungen nicht zum Anlass für Parteikundgebungen und Propaganda nehmen.“696

Gemäß Art. 89 TPartG v. 1983 ist es den politischen Parteien mit Maßgabe des Laizismus nicht erlaubt, Ziele zu verfolgen, die dem Art. 136 TVerf v. 1982 über die Stellung des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten als Teil der allgemeinen Verwaltung zuwiderlaufen.697 Dieses Verbot überschreite aber den verfassungsrechtlichen Verbotsrahmen zum Schutze des Laizismus, da das Präsidium für religiöse Angelegenheiten nach dem Laizismus nicht notwendig Teil der allgemeinen Verwaltung sein muss.698 Darüber hinaus ist es Parteien verboten, sich eine religiöse oder konfessionelle Bezeichnung zu geben: „Eine Partei kann nicht mit den Namen Kommunist, Anarchist, Faschist, Theokratisch, National, Sozialist, nach Religion, Sprache, Rasse, Konfession und Gebietsnamen gegründet werden. Diese Bezeichnungen können nicht im Namen der Partei verwenden werden. Das gilt auch für Bezeichnungen mit gleicher Bedeutung.“699

Will man die Stellung der Parteien im türkischen Rechtssystem in die Kurzform einer ideologischen oder staatsrechtlichen Begründung gießen, so kann man sagen, dass es sich bei diesem System mit seinen Verbotsmechanismen um ein Element der streitbaren, wehrhaften Demokratie700 (militan demokrasi) handelt.701

695  § 88

Abs. 1 TPartG v. 1983, Übersetzung der Verfasserin. Abs. 2 TPartG v. 1983, Übersetzung der Verfasserin. 697  Der EGMR stellte in der Rs. ÖZDEP . / . Türkei fest, dass die Forderung der Auflösung des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten ein Parteiverbot nach Konventionsrecht nicht rechtfertigen kann, s. EGMR Urt. v. 08.12.1999, ÖZDEP . / . Türkei (Rs.  23885 / 94), Rn.  41, im Internet unter: http: /  / cmiskp.echr.coe.int /  tkp197 / view.asp?item=1&portal=hbkm&action=html&highlight=  %D6zdep&sessioni d=95391962&skin=hudoc-en (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 698  s.  Özbudun, Türk Anayasa Hukuku (Türkisches Verfassungsrecht), 12. Aufl. (2011), S. 95. 699  § 96 Abs. 3 TPartG v. 1983, Übersetzung der Verfasserin. 700  Bedenken hinsichtlich der Einstufung des Parteienverbotssystems als „wehrhafte Demokratie“ äußert Can, für den es sich vielmehr um ein System zum Machterhalt handelt, s. Can, Parteiverbote in der Türkei, Instrument einer wehrhaften Demokratie?, in: JöR, 2011, Bd. 59, S. 635 (661 ff.). 701  s.  Rumpf / Akartürk, Die rechtlichen Auswirkungen des Verbotsverfahren der AKPartei, 2008, S.  8, im Internet unter: http: /  / www.tuerkei-recht.de / downloads / par teiverbot_akp_dt.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.04.2012). 696  § 88



VI. Sonderfall: Das Verbot islamischer Parteien299

3. Das Laizismus-Prinzip in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Verbot islamischer Parteien a) TVerfG zum Verbot der Refah Partei aa) Einleitung Das Gericht prüfte in dem Verbotsverfahren gegen die RP die Frage, ob diese ein Herd antilaizistischer Bestrebungen und deswegen zu verbieten ist.702 Das Gericht bejahte diese Frage und ordnete ein Verbot der RP an.703 bb) Sachverhalt Im Jahre 1997 beantragte der Generalstaatsanwalt der Republik beim Verfassungsgericht das Verbot der RP. Der Generalstaatsanwalt stützte seinen Antrag auf einen Verstoß gegen Art. 96 Abs. 69 i. V. m. 68 Abs. 2 TVerf v. 1982 mit der Behauptung, die RP sei ein Herd anitlaizistischer Bestrebungen.704 cc) Entscheidung Eine tragende Rolle spielte in den Urteilsgründen der Laizismus. Das Gericht knüpft insoweit an die Ausführungen in seinem Urteil über die Verfassungswidrigkeit der Einführung der Beamtengruppe Religionsdienste an. Der Laizismus mache einige der in der Verfassung vorgesehenen Beschränkungen notwendig, damit die türkische Nation erhöht wird und er beherrsche als solcher alle Verfassungsprinzipien.705 Ein demokratischer und laizistischer Staat könne die Menschen nicht nach ihrer Religion unterscheiden.706 Jeder sei, so das Gericht, im Rahmen der Religionsfreiheit darin frei, einen Glauben zu wählen und seinen Glauben zu bekennen.707 In einer laizistischen Gesellschaft liege die Wahl des Glaubens des Einzelnen 702  s. AMKD,

Bd. 34 / 2, S. 762 (762). Urt. v. 16.01.1998, E. 1997 / 1, K. 1998 / 1, in: AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762–1145; eine Besprechung des Urteils findet sich bei Rumpf, Das Verbot der Wohlfahrtspartei: Verteidigung des Laizismusprinzips durch das türkische Verfassungsgericht, in: ZfTS, 1998, S. 285–293; eine Studie zur RP findet sich bei Yürüsen / Yayla, Die Türkische Wohlfahrtspartei, 1997. 704  s. AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762 (765). 705  s. AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762 (1027, 1028). 706  s. AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762 (1028). 707  s. AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762 (1028). 703  s. TVerfG,

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

außerhalb des Einflusses des Gesetzgebers.708 Die Bevorzugung einer Religion durch den Staat begründe eine Ungleichheit vor dem Gesetz derer, die einer anderen Religion angehören.709 Der Laizismus als Prinzip der Republik Türkei, der die Modernisierung beschleunige, bezwecke die Institutionalisierung des Staates nach Verstand und Wissenschaft.710 Der Laizismus leiste einen Beitrag zu gegenseitigem Respekt, Toleranz und Verständnis und habe das Fundament für die Nationale Einheit begründet.711 Er öffne die Tür zu Respekt gegenüber der Religion, zu dem Verständnis, die Religion an ihrem Ort zu halten, zu Verstand, Wissenschaft, Kunst, zur modernen Regierungsführung und allen zivilisierten Notwendigkeiten.712 Der Laizismus als Zeichen der Moderne sei in der Türkei auch die treibende Kraft für den Übergang von der islamischen Gemeinschaft („Ümmet“) zur Nation geworden.713 Durch die Annahme des Laizismus sei der Dogmatismus durch Verstand und Wissenschaft abgelöst worden.714 Die religiösen Gefühle haben, so das Gericht, ihren unantastbaren Platz in den Gewissen gefunden.715 Menschen unterschiedlichen Glaubens haben das Miteinander angenommen und haben durch die Gleichbehandlung des Staates Vertrauen geschöpft, so das Gericht.716 Die Bürger seien durch Sicherstellung des inneren Friedens mit Nationalbewusstsein Individuen der türkischen Nation geworden.717 Der Rechtsstaat und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit habe seine Kraft aus dem Laizismus gewonnen; der Nationalismus sei mit den Laizismus vervollständigt; die türkische Revolution habe erst mit dem Laizismus eine Bedeutung bekommen.718 Der laizistische Staat habe verhindert, dass die Religion den Platz der Wissenschaft in seinen Handlungen einnimmt und habe so die Modernisierung beschleunigt.719 Der Laizismus könne nicht bloß auf die Trennung von Staat und Religion reduziert werden.720 Die Dimension des Laizismus sei größer, das Feld erfasse eine noch breitere Zivilisation, Freiheit und Moderne.721 Der Laizismus sei die Modernisie708  s. AMKD, 709  s. AMKD, 710  s. AMKD, 711  s. AMKD,

712  s. AMKD, 713  s. AMKD, 714  s. AMKD, 715  s. AMKD, 716  s. AMKD, 717  s. AMKD, 718  s. AMKD, 719  s. AMKD, 720  s. AMKD, 721  s. AMKD,

Bd. 34 / 2, Bd. 34 / 2, Bd. 34 / 2, Bd. 34 / 2, Bd. 34 / 2, Bd. 34 / 2, Bd. 34 / 2, Bd. 34 / 2, Bd. 34 / 2, Bd. 34 / 2, Bd. 34 / 2, Bd. 34 / 2, Bd. 34 / 2, Bd. 34 / 2,

S. 762 S. 762 S. 762 S. 762 S. 762 S. 762 S. 762 S. 762 S. 762 S. 762 S. 762 S. 762 S. 762 S. 762

(1028). (1028). (1028). (1028). (1028). (1028). (1028). (1028). (1028). (1028). (1028). (1028). (1028, 1029). (1029).



VI. Sonderfall: Das Verbot islamischer Parteien301

rungsphilosophie der Türkei, sei menschliches Leben, menschliches Ideal.722 Die Religion könne als originär-soziale Einrichtung nicht über staatliche Einrichtungen und die Regierung herrschen, sondern nur der Verstand und die Wissenschaft.723 Die Religion habe ihren Platz in den Gewissen und sei eine Angelegenheit zwischen Gott und der Person.724 Sie könne nicht Quelle oder Stütze von gesetzlichen Regelungen sein.725 Das Kontroll- und Aufsichtsrecht des Staates in religiösen Angelegenheiten könne nicht als Widerspruch zur Religionsfreiheit und zur demokratischen Ordnung verstanden werden.726 Die durch die Einheit von Staat und Religion verursachten Schäden seien mit dem Laizismus verhindert worden und der Weg zur modernen Zivilisation sei durch den Laizismus geebnet worden.727 In einem laizistischen Staat können sich heilige religiöse Gefühle nicht in die Politik, in weltliche Angelegenheiten und in rechtliche Regelungen einmischen.728 Diese Art von Regelungen wird nur, so das Gericht, durch die Nutzung der Wissenschaft mit Blick auf die Bedürfnisse des Einzelnen und der Gesellschaft gemacht.729 Nach diesen allgemeinen Ausführungen zum Laizismus prüft das Gericht einzelne Handlungen der Parteimitglieder der RP. Darunter die Handlungen des damaligen Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden der RP Necmettin Erbakan.730 Gegenstand der Untersuchung sind im Wesentlichen Aussagen Erbakans zur Aufhebung des Kopftuchverbotes, zur Einführung eines plural-religiösen Rechtssystems, zur Einführung der „gerechten“ Ordnung (adil düzen) und das Treffen religiöser Führer. In Bezug auf die Kopftuch­ erlaubnis werden folgende Aussagen Erbakans der Entscheidung zugrunde gelegt: „(…) In unserer Zeit könne von so etwas wie der Kopftuch-Qual nicht die Rede sein. (…) Ich gebe euch noch eine gute Nachricht. Die Kopftuch-Qual wird aufgehoben. Ab jetzt wird es an den Schulen keine Kopftuch-Qual mehr geben.“731

Sodann führt das Gericht aus, dass in einer laizistischen Erziehung eine Unterscheidung nach Religionszugehörigkeit unzulässig ist. Die Erlaubnis des religiösen Kopftuchs an Hochschulen könne eine Umgebung erzeugen, 722  s. AMKD,

Bd. 34 / 2, S. 762 (1029). Bd. 34 / 2, S. 762 (1029). 724  s. AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762 (1029). 725  s. AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762 (1029). 726  s. AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762 (1029). 727  s. AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762 (1029). 728  s. AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762 (1029). 729  s. AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762 (1029). 730  s. AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762 (1029–1037). 731  AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762 (1030), Übersetzung der Verfasserin. 723  s. AMKD,

302

D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

die zu Konflikten in der Studentenschaft führt.732 Die Kopftuchfreiheit führe zu einer Beeinflussung und zu einem Zwang, dies sei aber mit dem Laizismus unvereinbar.733 Die Erlaubnis des Kopftuches an öffentlichen Einrichtungen sei jenseits der Privilegierung ein Mittel zur Unterscheidung.734 Regelungen mit religiöser Quelle seien mit dem Laizismus unvereinbar.735 Aus den oben genannten Gründen erkennt das Gericht in den Aussagen zur Kopftucherlaubnis einen Verstoß gegen den Laizismus.736 In einem nächsten Schritt bewertet das Gericht die Aussage Erbakans zur Einführung eines religiös-pluralen Rechtssystems: „Wir möchten die Dominanz, du musst so leben wie ich es glaube, aufheben. Es sollte ein plurales Rechtssystem geben. Der Bürger soll innerhalb der allgemeinen Prinzipien das von ihm gewünschte Recht selbst aussuchen. Das war auch in unserer Geschichte so. Jeder hat nach dem Recht seiner Konfession gelebt und alle haben in Frieden gelebt. Warum soll ich gezwungen sein nach der Schablone anderer zu leben? Die Wahl des Rechts ist ein untrennbarer Teil der Religionsfreiheit. (…) Wir werden allen Menschenrechte geben, jedem das Recht nach seinem Glauben zu leben, jedem die Wahl des Rechts geben, wir werden die Regierung von Zentralismus befreien. Der von euch gegründete Staat ist kein Dienstleistungsstaat sondern ein Zwangsstaat. Ihr gebt nicht die Freiheit der Wahl des Rechts. Wenn wir kommen, können Muslime ihre Ehe vor dem Mufti und die Christen in der Kirche schließen.“737

Sodann konstatiert das Gericht, dass eine Trennung des Rechts nach Religionen die Verbindung der Menschen miteinander erschweren und die nationale Einheit zerstören würde.738 Es läge auf der Hand, dass ein plurales Rechtssystem zur Diskriminierung und zur Erschütterung der laizistischen Ordnung führen würde.739 Das Gericht wertet diese Aussagen als Verstoß gegen den Laizismus.740 Im Rahmen der Prüfung zur Aussage über die Einführung einer „gerechten Ordnung“ zitiert das Gericht folgende Aussagen Necmettin Erbakans: „Jetzt ein zweiter wichtiger Punkt. Die Refah Partei kommt an die Regierung, die „gerechte“ Ordnung wird gegründet. Wo ist das Problem? Wird der Übergang hart, weich oder blutig sein? (…).“741 732  s. AMKD,

Bd. 34 / 2, S. 762 (1030). Bd. 34 / 2, S. 762 (1030). 734  s. AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762 (1031). 735  s. AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762 (1031). 736  s. AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762 (1032). 737  AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762 (1033), Übersetzung der Verfasserin. 738  s. AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762 (1034). 739  s. AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762 (1034). 740  s. AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762 (1034). 741  AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762 (1035), Übersetzung der Verfasserin. 733  s. AMKD,



VI. Sonderfall: Das Verbot islamischer Parteien303

Das Gericht wertet die Aussage über die Einführung einer „gerechten“ Ordnung als den Wunsch, eine religiöse Ordnung einführen zu wollen.742 Schließlich stellt das Gericht fest, dass ein Treffen Erbakans mit religiösen Personen, die nach den Reformgesetzen verbotene Trachten tragen, im Amtssitz des Ministerpräsidenten ein Verstoß gegen den Laizismus ist.743 Abschließend kommt das Gericht zum Ergebnis, dass die Mitglieder der RP Handlungen an den Tag gelegt haben, die mit dem Laizismus unvereinbar sind. Das Gericht ordnet nach Art. 103 TVerf v. 1982 und §§ 68, 69 TPartG v. 1983 aus den oben genannten Gründen ein Parteiverbot gegen die RP an.744 dd) Stellungnahme Die in der Urteilsbegründung vorgenommenen Ausführungen zum Laizismusbegriff entsprechen der in den früheren Entscheidungen entwickelten Linie und sind insoweit stimmig.745 Die Forderungen der RP zur Erlaubnis des islamischen Kopftuches, der Einführung eines pluralen Rechtssystems sowie der Einführung der „gerechten Ordnung“ stellen einen Verstoß gegen den Laizismus dar.746 Soweit das Gericht in der Forderung nach der Einführung eines pluralen Rechtssystems einen Verstoß gegen den Laizismus versteht, ist dies im Hinblick auf die von ihm entwickelte Bedeutung des Laizismus schlüssig, da nach der Rechtsprechung des türkischen Verfassungsgerichts staatliche Regeln nicht auf religiöse Vorgaben gestützt werden dürfen. Dies gilt erst recht, wenn die Einführung des pluralen Rechtssystems seinerseits religiös legitimiert wird. Dies wäre aber die Folge eines pluralreligiösen Rechtssystems und bedeutet zudem die Aufgabe des Gleichheitssatzes. Die Bürger würden staatlich nach der Religionszugehörigkeit eingeteilt. Dies ist im Hinblick auf die negative Religionsfreiheit bedenklich, wenngleich damit nicht zwingend der Verlust der staatlichen Neutralität einhergehen muss. Für die Einführung der „gerechten Ordnung“ im Sinne der Einführung der Scharia kann dies jedoch nicht behauptet werden.

742  s. AMKD,

Bd. 34 / 2, S. 762 (1035). Bd. 34 / 2, S. 762 (1036). 744  s. AMKD, Bd. 34 / 2, S. 762 (1053, 1054). 745  So auch Rumpf, Das Verbot der Wohlfahrtspartei, Verteidigung des Laizismusprinzips durch das türkische Verfassungsgericht in: ZfTS, 1998, Heft 2, S. 285 (287, 292). 746  Zum Kopftuchurteil des TVerfG s. o., D. V. 2. a). 743  s. AMKD,

304

D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

b) Der EGMR zum Verbot der Refah Partei aa) Einleitung In seinem Urteil aus dem Jahr 2003 bestätigte die Große Kammer das Urteil der Kammer v. 31.07.2001. Die Große Kammer hatte darüber zu urteilen, ob das Verbot der türkischen RP durch die Türkei gegen Art. 9, 10, 11, 14, 17, 18 EMRK verstößt. Der Gerichtshof verneinte eine Verletzung des Art. 11 EMRK und wies die Beschwerde der RP als unbegründet zurück.747 bb) Sachverhalt Im Jahr 1998 wurde auf Antrag des Generalstaatsanwaltes die RP durch Urteil des Verfassungsgerichts der Türkei verboten.748 Hiergegen legten die Beschwerdeführer (RP und drei ihrer führenden Mitglieder Necmettin Erbakan, Sevket Kazan und Ahmet Tekdal) Beschwerde beim EGMR ein. Mit ihrer Beschwerde vor dem EGMR rügten sie die Verletzung der Menschenrechtskonvention, insbesondere der Art. 9 (Religionsfreiheit) und Art. 11 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit). cc) Entscheidung (1) Einleitung Der Gerichtshof legt seinen Prüfungsschwerpunkt auf die Frage der Verletzung des Rechts auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit nach Art. 11 EMRK und in diesem Zusammenhang wiederum auf die Frage, ob der gesetzlich vorgesehene Eingriff ein berechtigtes Ziel verfolgt, welches notwendig ist in einer demokratischen Gesellschaft.749 Das Gericht stellt zunächst fest, dass das gegen die RP ausgesprochene Parteiverbot das nach 747  s. EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Refah Partisi u. a. . / . Türkei (Rs.  41340 / 98, 41342 / 98, 41343 / 98 und 41344 / 98), abgedruckt in deutscher Sprache: in NVwZ, 2003, Heft 12, S. 1489–1496; eine Besprechung des Urt. findet sich bei Eiffler, Die wehrhafte Demokratie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, KJ, Jahrg. 36, 2003, S. 218–225; Kugelmann, Die streitbare Demokratie nach der EMRK, EuGRZ, 2003, S. 533–544; Rumpf, Das Verbot der Wohlfahrtspartei: Verteidigung des Laizismusprinzips durch das türkische Verfassungsgericht, in: ZfTS, 1998, 11 Jahrg., Heft 2, S. 285–293. 748  Besprechung des Verbotsurteils des TVerfG s. o. D. VI. 3. a). 749  Vgl. Vgl. EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Refah Partisi u.  a. . / . Türkei (Rs. 41340 / 98, 41342 / 98, 41343 / 98 und 41344 / 98), in deutscher Sprache abgedruckt in: NVwZ, 2003, Heft 12, S. 1489 (1490), Rn. 36–84.



VI. Sonderfall: Das Verbot islamischer Parteien305

Art. 11 EMRK zulässige Ziel, Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Sicherheit, Vorbeugung von Chaos und Straftaten und Schutz der Religionsfreiheit anderer verfolgt.750 Abschließend prüft der Gerichtshof, ob der Eingriff „notwendig im Sinne einer demokratischen Gesellschaft“ war. In seinen Ausführungen zum Stellenwert der Religion im System der Konvention erklärt der Gerichtshof, dass Art. 9 EMRK (Gedanken- Gewissens- und Religionsfreiheit) eines ihrer Grundpfeiler ist und nennt insbesondere auch das Recht, keine Religion zu haben. Die demokratische Gesellschaft hänge von dem Pluralismus ab. So könne es in einer pluralen Demokratie notwendig sein, die Religionsfreiheit einzuschränken, um einen Interessenausgleich zu gewährleisten und die Achtung der Überzeugungen eines jeden zu sichern.751 Der türkische Laizismus sei ein Pfeiler, auf dem die Türkei gegründet ist und der mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte und der Demokratie im Einklang stehe. Eine Missachtung der genannten Grundsätze sei nicht notwendig ein Teil der von Art. 9 EMRK geschützten Freiheit.752 Der Gerichtshof räumt folglich dem Staat die Möglichkeit ein, in Art. 9 und 11 EMRK einzugreifen, sofern die Vereinigung mit ihren Tätigkeiten staatliche Institutionen gefährdet. Eine politische Partei dürfe aber nicht allein deshalb behindert werden, weil sie öffentlich über das Schicksal eines Teils der Bevölkerung diskutiert und sich politisch einmischt, und unter Achtung der demokratischen Spielregeln (im Dialog und ohne Gewalt) Lösungen sucht.753 Parteien können sich auf den Schutz der Konvention nur dann berufen, wenn Gesetzes- oder Verfassungsänderungen mit rechtmäßigen und demokratischen Mitteln durchgesetzt werden sowie, wenn die Änderung ihrerseits mit den demokratischen Prinzipien vereinbar ist; niemand könne sich auf die Konvention berufen, um die demokratische Gesellschaft zu zerstören.754 „Eine politische Partei, die sich auf die moralischen, von einer Religion geforderten 750  Vgl. Vgl. EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Refah Partisi u.  a. . / . Türkei (Rs. 41340 / 98, 41342 / 98, 41343 / 98 und 41344 / 98), in deutscher Sprache abgedruckt in: NVwZ, 2003, Heft 12, S. 1489 (1490), Rn. 42. 751  Vgl. EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Refah Partisi u. a. . / . Türkei (Rs.  41340 / 98, 41342 / 98, 41343 / 98 und 41344 / 98), in deutscher Sprache abgedruckt in: NVwZ, 2003, Heft 12, S. 1489 (1491), Rn. 90, 91. 752  Vgl. EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Refah Partisi u. a. . / . Türkei (Rs.  41340 / 98, 41342 / 98, 41343 / 98 und 41344 / 98), in deutscher Sprache abgedruckt in: NVwZ, 2003, Heft 12, S. 1489 (1492), Rn. 93. 753  Vgl. EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Refah Partisi u. a. . / . Türkei (Rs.  41340 / 98, 41342 / 98, 41343 / 98 und 41344 / 98), in deutscher Sprache abgedruckt in: NVwZ, 2003, Heft 12, S. 1489 (1492), Rn. 97. 754  Vgl. EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Refah Partisi u. a. . / . Türkei (Rs.  41340 / 98, 41342  /  98, 41343  /  98 und 41344  /  98)in deutscher Sprache abgedruckt in: NVwZ, 2003, Heft 12, S. 1489 (1492), Rn. 98, 99.

306

D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

Wertvorstellungen stützt, vorausgesetzt sie erfüllt die genannten Voraussetzungen (Friedlichkeit und keine Zerstörung der Demokratie), kann nicht von vornherein als eine Gruppierung verstanden werden, die gegen die fundamentalen Grundsätze der Demokratie verstößt, wie sie sich aus der Konvention ergeben.“755 Nach den Allgemeinen Erläuterungen prüft der Gerichtshof, ob die Ziele der RP (Einführung eines plural-religiösen Rechtssystems und Einführung der Scharia) mit der Konvention vereinbar sind. (2) Einführung eines pluralen Rechtssystems Die Einführung einer religiös-pluralen Rechtsordnung würde nach Auffassung des Gerichtshofes „in allen Rechtsbeziehungen eine Unterscheidung zwischen den Bürgern nach ihrer Religionszugehörigkeit einführen, die Menschen nach ihrer Religion und Gruppen aufteilen und ihnen die Rechte und Freiheiten nicht als Einzelperson, sondern nach ihrer Zugehörigkeit zu einer religiösen Bewegung zuerkennen.“756 Dieses aber sei mit der Konvention nicht vereinbar, denn der Staat könnte nicht mehr die Rechte und Freiheiten des Einzelnen gewährleisten, nicht mehr unparteiisch die Ausübung der verschiedenen Weltanschauungen und Religionen in einer demokratischen Gesellschaft ermöglichen; der Einzelne sei gezwungen, den „unverrückbaren“ Regeln der betreffenden Religion zu gehorchen.757 Neben dem Verstoß gegen das staatliche Neutralitätsprinzip verstoße die Einführung einer religiös-pluralen Rechtsordnung auch gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung, denn eine unterschiedliche Behandlung der Menschen nach ihrer Religion könne keinen gerechten Ausgleich zwischen den Forderungen der religiösen Gruppen und dem Interesse der Gesellschaft, die sich auf Frieden und Toleranz zwischen den Religionen und Weltanschauungen gründen muss, gewährleisten.758

755  EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Refah Partisi u.  a. . / . Türkei (Rs.  41340 / 98, 41342 / 98, 41343 / 98 und 41344 / 98), in deutscher Sprache abgedruckt in: NVwZ, 2003, Heft 12, S. 1489 (1492), Rn. 100. 756  EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Refah Partisi u.  a. . / . Türkei (Rs.  41340 / 98, 41342 / 98, 41343 / 98 und 41344 / 98), in deutscher Sprache abgedruckt in: NVwZ, 2003, Herft 12, S. 1489 (1494), Rn. 119. 757  Vgl. EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Refah Partisi u. a. . / . Türkei (Rs.  41340 / 98, 41342 / 98, 41343 / 98 und 41344 / 98), in deutscher Sprache abgedruckt in: NVwZ, 2003, Heft 12, S. 1489 (1494), Rn. 119. 758  Vgl. EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Refah Partisi u. a. . / . Türkei (Rs.  41340 / 98, 41342 / 98, 41343 / 98 und 41344 / 98), in deutscher Sprache abgedruckt in: NVwZ, 2003, Heft 12, S. 1489 (1494), Rn. 119.



VI. Sonderfall: Das Verbot islamischer Parteien307

(3) Einführung der Scharia Zur Einführung der Scharia führt der Gerichthof aus, dass die Einführung eines auf der Scharia beruhenden Herrschaftssystems in einem Konventionsstaat ebenfalls nicht zulässig ist. Der Gerichtshof teilt daher die Auffassung der Kammer zur Unvereinbarkeit der Scharia mit den grundlegenden Prinzipien der Demokratie, wie sie sich aus der Konvention ergeben: „Wie der VerfGH erkennt der Gerichtshof an, dass die Scharia, welche die Dogmen und göttlichen Vorschriften der Religion getreu wiedergibt, fest und unverrückbar ist. Grundsätze wie der Pluralismus im politischen Leben oder die ständige Entwicklung der Grundfreiheiten sind ihr fremd. Zusammengenommen sind die fraglichen Erklärungen, die sich ausdrücklich auf die Einführung der Scharia beziehen, schwerlich vereinbar mit den grundlegenden Prinzipien der Demokratie, wie sie sich aus der Konvention insgesamt ergeben. Es ist schwierig, sich zur Demokratie und zu den Menschenrechten zu bekennen und gleichzeitig für ein auf der Scharia gründendes Regime einzutreten, das sich eindeutig von den Wertvorstellungen der Konvention absetzt, insbesondere im Hinblick auf seine strafrechtlichen und strafprozessualen Vorschriften, auf die Stellung, die es den Frauen in der Rechtsverordnung einräumt, und auf das Eingreifen in alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens entsprechend den religiösen Vorschriften. (…) Eine politische Partei, deren Aktionen auf die Einführung der Scharia in einem Konventionsstaat gerichtet zu sein scheinen, kann schwerlich als eine Vereinigung angesehen werden, die dem der Konvention insgesamt zu Grunde liegenden Ideal einer demokratischen Gesellschaft entspricht.“759

Sodann geht das Gericht auf den Einwand der Beschwerdeführer ein, der Gerichtshof würde sich selbst wiedersprechen, wenn es die Einführung eines pluralen Rechtssystems und zugleich die Einführung der Scharia annehme. Das Gericht folgt insoweit den Ausführungen des TVerfG der Art, dass die Scharia die Pluralität von Rechtssystemen kenne, um nichtislamischen Gemeinschaften zu gestatten, in einer von der Scharia beherrschten Gesellschaft zu leben.760 Eine Diskriminierung der Muslime durch den türkischen Laizismus verneinte der Gerichtshof, weil die Einführung eines pluralistischen Rechtsystems auf dem Gebiet des Privatrechts die Organisation und das Funktionieren der Gesellschaft insgesamt betreffe.761 Schließlich bejaht 759  EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Refah Partisi u.  a. . / . Türkei (Rs.  41340 / 98, 41342 / 98, 41343 / 98 und 41344 / 98), in deutscher Sprache abgedruckt in: NVwZ, 2003, Heft 12, S. 1489 (1494), Rn. 123. 760  Vgl. EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Refah Partisi u. a. . / . Türkei (Rs.  41340 / 98, 41342 / 98, 41343 / 98 und 41344 / 98), in deutscher Sprache abgedruckt in: NVwZ, 2003, Heft 12, S. 1489 (1495), Rn. 126. 761  Vgl. EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Refah Partisi u. a. . / . Türkei (Rs.  41340 / 98, 41342 / 98, 41343 / 98 und 41344 / 98), in deutscher Sprache abgedruckt in: NVwZ, 2003, Heft 12, S. 1489 (1495), Rn, 128.

308

D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

der Gerichtshof auch die Frage der Gewaltbereitschaft der Beschwerdeführer und stützt dieses auf die Verwendung des Begriffs Dschihad, dessen primäre Bedeutung „der Heilige Krieg und der Kampf bis zur totalen Herrschaft des Islam in der Gesellschaft“762 sei. dd) Stellungnahme Im Ergebnis ist dem Urteil des EGMR hinsichtlich des Parteiverbots gegen die RP zuzustimmen. Gleichwohl stellt sich die Entscheidungsbegründung an einem Punkt nicht stichhaltig dar. Der Gerichtshof stellt zunächst zu Recht fest, dass die Einführung eines plural-religiösen Rechtssystems mit der Konvention unvereinbar ist, weil dieses System nicht die notwendige staatliche Neutralität gegenüber allen bieten kann und weil solch ein System gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung verstoßen würde. Dieser richtigen Einschätzung des Gerichtshofes können auch theoretische Modelle nicht entgegengehalten werden, da historische Erfahrungswerte die Annahmen des Gerichtshofes bestätigen.763 Beispielhaft sei an dieser Stelle das religiös-plurale Rechtssystem des Osmanischen Reiches zu nennen. Zwar war das Rechtssystem des Osmanischen Reiches plural, Christen und Juden konnten in Teilbereichen ihre Angelegenheiten nach eigenem religiösem Recht regeln,764 darüber hinaus aber galt das islamische Recht. Wenngleich die osmanisch-islamische „Toleranz“ für ihre Zeit als teilweise fortschrittlich betrachtet werden kann, so führte sie doch zur Ungleichheit und gewährte gerade keine Religionsfreiheit, sondern lediglich eine religiöse Toleranz. Bedenken erwecken gleichwohl die Ausführungen des Gerichthofes zum Punkt „Scharia“.765 Der Gerichtshof konstatiert, die Scharia sei mit der 762  Vgl. EGMR, Urt. v. 13.02.2003, Refah Partisi u. a. . / . Türkei (Rs.  41340 / 98, 41342 / 98, 41343 / 98 und 41344 / 98), in deutscher Sprache abgedruckt in: NVwZ, 2003, Heft 12, S. 1489 (1495), Rn. 130. 763  „Die dritte Ansicht schließlich, dass die Trennung von Staat und Religion in einer Weise funktionieren könnte, dass einerseits die Religionsfreiheit für alle Religionen und Konfessionen in der Türkei vollkommen gewährleistet wird, ohne dass eine Religion hierüber das politische Tagesgeschehen bestimmt, erscheint fast als Utopie.“, Rumpf, Das Verbot der Wohlfahrtspartei: Verteidigung des Laizismusprinzips durch das türkische Verfassungsgericht in: ZfTS, 1998, Heft 2, S. 285 (286). 764  s. o., C. III. 765  Keine Bedenken sehen Eiffler und Kugelmann. Letzterer hält die Ausführungen des Gerichtshofes sogar für wegweisend, vgl. Eiffler, Die wehrhafte Demokratie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, in: KJ, Jahrg. 36, 2003, S. 218 (225); Kugelmann, Die streitbare Demokratie nach der EMRK, in: EuGRZ, 2003, S. 533 (536); Emek, Parteiverbote und Europäische Menschenrechtskonvention, 2007, S. 235.



VI. Sonderfall: Das Verbot islamischer Parteien309

Konvention nicht vereinbar, deshalb sei eine Partei, welche die Scharia einführen möchte, ebenso wenig eine Vereinigung, deren Werte sich mit der Konvention decken.766 Richtig an diesem Gedankengang des EGMR ist, dass die Einführung der Scharia mit der EMRK unvereinbar ist. Dies jedoch, weil die Einführung einer religiösen Ordnung schlechthin unvereinbar mit der Konvention ist. Die Einführung der Scharia ist also mit der Konvention unvereinbar, weil die Einführung jeglichen religiösen Rechts mit der Konvention unvereinbar ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Werte und Glaubensinhalte der Religion mit den Werten der Konvention vereinbar ist oder nicht. Dies ergibt sich auch aus einem Erst-Recht-Schluss im Hinblick auf die Unvereinbarkeit der Einführung eines pluralen Rechtssystem. Denn wenn schon ein plurales Rechtssystem mit der Konvention unvereinbar ist, muss dies erst recht für die Einführung einer religiösen Ordnung schlechthin gelten. Wie stellt sich die Situation also dar, wenn eine Partei eine religiöse Ordnung einführen möchte, die ihrerseits mit der Konvention vereinbar ist? Die Argumentation des EGMR führt, konsequent angewandt, dazu, dass die Einführung einer religiösen Ordnung, die ihrerseits mit der Konvention vereinbar ist, nicht gegen die Konvention verstößt. Mithin wären die Werte einer politischen Partei, die jene religiöse Ordnung einführen will, mit der Konvention vereinbar. Es dürfte aber klar sein, dass die Einführung jeglicher religiösen Ordnung mit der Konvention unvereinbar ist. Eine Staatlichkeit, die eine religiöse Rechtsordnung hat, kann nicht die notwendige Neutralität gewährleisten, welche die Konvention zur Aufrechterhaltung und zum Schutz der Demokratie fordert. Deswegen kann keinem Bürger eines Konventionsstaates zugemutet werden, unter einer religiösen Ordnung zu leben. Erst recht nicht, wenn er einer anderen Glaubensgemeinschaft angehört. Mögen die Werte der einzuführenden religiösen Ordnung noch so demokratisch und pluralistisch sein. Das Vertrauen der allermeisten Menschen in den Konventionsstaaten in die Kompatibilität der Einheit von Staat und Religion mit den Konventionswerten dürfte in Anbetracht der historischen Erfahrungen nachhaltig gestört sein. Aus diesem Grund bedurfte es keiner Prüfung der Vereinbarkeit der Werte und Glaubensinhalte der Scharia mit den Konventionswerten. Es bedurfte dieser Prüfung nicht, weil es gerade nicht um die Prüfung der Verletzung der Religionsfreiheit aus Art. 9 EMRK ging, sondern sich die Fragestellung auf das Wesen der staatlichen Ordnung bezog.

766  So auch Emek, Parteiverbote und Europäische Menschenrechtskonvention, S. 2007, 235.

310

D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

c) TVerfG zum Verbot der Fazilet Partei aa) Einleitung Im Anschluss an die Anordnung des Parteiverbots gegen die RP befasst sich das TVerfG in seinem Urteil aus dem Jahre 2001 wiederum mit einem Verbotsantrag, diesmal gegen die FP aufgrund der §§ 78, 86 und 87 TPartG.767 bb) Sachverhalt Der Generalstaatsanwalt beantragte beim TVerfG das Verbot der FP aufgrund der Art. 2, 24 Abs. 5, 68, 69 TVerf v. 1985 und §§ 78, 86, 87 TPartG v. 1983 das Verbot der FP.768 cc) Entscheidung Zur Entscheidungsfindung geht das Gericht insbesondere der Frage nach, ob die FP ein Herd antilaizistischer Bestrebungen ist.769 Erneut wiederholt das Gericht in Übereinstimmung mit seiner ständigen Rechtsprechung, dass der Laizismus eng verstanden die Trennung von Staat und Religion meint, er sei in Wirklichkeit die letzte denkbare und organisatorische Etappe der Gesellschaften.770 Der Laizismus sei ein auf die nationale Souveränität, auf Demokratie, Freiheit und Wissenschaft gestützter moderner Ordner des politischen, sozialen und kulturellen Lebens.771 Er sei ein Prinzip, das dem Einzelnen Persönlichkeit und Gedankenfreiheit ermöglicht und auf diesem Wege die Trennung von Politik und Religion notwendig macht und Religionsfreiheit gewährt.772 In einer laizistischen Ordnung werde die Religion von der Politisierung befreit und sei kein Mittel zum Regieren; die Religion werde an ihren wahren respektvollen Platz, in den Gewissen, gehalten.773 Die modernen Demokratien stützen sich darauf, dass die weltlichen Angelegenheiten nach laizistischem Recht und religiöse Angelegenheiten nach eigenem Recht geführt werden.774 Es ist undenkbar, dass öffentliche Rege767  s. TVerfG, Urt. v. 22.06.2001, E. 1999 /  2, K. 2001 / 2, in: RG v. 05.01.2002, Nr. 24631 und AMKD, Bd. 37 / 2, S. 922–1552. 768  s. AMKD, Bd. 37 / 2, S. 922 (922). 769  s. AMKD, Bd. 37 / 2, S. 922 (1471). 770  s. AMKD, Bd. 37 / 2, S. 922 (1478). 771  s. AMKD, Bd. 37 / 2, S. 922 (1478). 772  s. AMKD, Bd. 37 / 2, S. 922 (1478). 773  s. AMKD, Bd. 37 / 2, S. 922 (1478). 774  s. AMKD, Bd. 37 / 2, S. 922 (1478).



VI. Sonderfall: Das Verbot islamischer Parteien311

lungen nach religiösen Vorgaben gemacht werden.775 Ein demokratischer und laizistischer Staat könne die Einzelnen nicht nach ihrer Religion unterscheiden. Jeder ist in der Religionswahl und in der Bekundung seiner Religion innerhalb der Religionsfreiheit frei.776 Es verstoße gegen die Gleichheit vor dem Gesetz, wenn der Staat in laizistischen Gesellschaften eine Reli­ gion bevorzuge.777 Der Laizismus in der Türkei ist anders als in manchen westlichen Ländern, dies hänge natürlich mit den unterschiedlichen Umständen und religiösen Eigenschaften, insbesondere mit den Unterschieden des Islams und des Christentums, zusammen.778 Der Laizismus sei ein in der Türkei von der Verfassung geschütztes Prinzip.779 Der Laizismus beschleunige die Modernisierung und bezwecke als Prinzip der Republik die Institutionalisierung des Staates nach den Regeln des Verstandes und der Wissenschaft.780 Der Laizismus müsse mit Sorgfalt geschützt werden und sei es auch im Hinblick auf die Erhöhung der türkischen Nation ein Grund, dass manche verfassungsrechtliche Beschränkungen notwendig werden und, dass der Laizismus alle Verfassungsprinzipien dominiert.781 Das Verfassungsgericht erkennt insbesondere in den Äußerungen einiger Parteimitglieder im Zusammenhang mit der Kritik am Kopftuchverbot an Hochschulen ein Verstoß gegen den Laizismus.782 Die Kopftucherlaubnis an Hochschulen würde aber als starkes religiöses Symbol an Hochschulen zu Konflikten führen und die öffentliche Ordnung gefährden und die negative Religionsfreiheit anderer verletzen.783 Es führe dazu, das Dritte dem Zwang ausgesetzt werden, ein Kopftuch zu tragen und dazu, dass eine Spaltung zwischen den Religionen und Konfessionen entstehen würde.784 Das Recht, ein Kopftuch zu tragen und das Recht der anderen, nicht dem Kopftuchzwang ausgesetzt zu werden, sei von der Verfassung nicht gleichermaßen geschützt.785 Das Kopftuch habe eine trennende Eigenschaft. Die Verfassung toleriere aber diese Art von religiösen Symbolen und Handlungen, die eine religiösgesellschaftliche Ordnung schaffen wollen, nicht.786 Das Gericht sah in den kritischen Aussagen im Zusammenhang mit dem Kopftuchverbot einen 775  s. AMKD, 776  s. AMKD, 777  s. AMKD, 778  s. AMKD, 779  s. AMKD, 780  s. AMKD, 781  s. AMKD, 782  s. AMKD, 783  s. AMKD, 784  s. AMKD, 785  s. AMKD, 786  s. AMKD,

Bd. 37 / 2, Bd. 37 / 2, Bd. 37 / 2, Bd. 37 / 2, Bd. 37 / 2, Bd. 37 / 2, Bd. 37 / 2, Bd. 37 / 2, Bd. 37 / 2, Bd. 37 / 2, Bd. 37 / 2, Bd. 37 / 2,

S. 922 S. 922 S. 922 S. 922 S. 922 S. 922 S. 922 S. 922 S. 922 S. 922 S. 922 S. 922

(1478). (1478, 1479). (1479). (1479). (1479). (1479). (1480). (1480–1491). (1494). (1494). (1494). (1494).

312

D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

Verstoß gegen den Laizismus und ordnet gem. Art. 68, 69 TVerf v. 1985 und §§ 101, 103 TPartG das Verbot der FP an.787 dd) Stellungnahme Eine im Ergebnis der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zum Laizismus entwickelten Grundsätze entsprechende Entscheidung. Das Gericht stellte im Zusammenhang mit der gesetzlichen Kopftucherlaubnis und der gesetzlichen Kleidungsfreiheit in anderen Entscheidungen fest, dass das religiöse Kopftuch an Hochschulen mit dem Laizismus unvereinbar ist.788 Dieser Auslegung der Verfassung bleibt das Gericht treu und verbietet die FP. d) Der EGMR zum Verbot der Fazilet Partei aa) Einleitung In dem Beschwerdeverfahren aus dem Jahre 2006 befasst sich das Gericht mit der Frage, ob das Verbot der FP durch das TVerfG mit der Konvention vereinbar ist. Das Gericht erklärte die Beschwerde zunächst für zulässig. Nachdem die Beschwerdeführer ihre Beschwerde zurückzogen, mit der Begründung sie hätten kein Vertrauen in die Rechtsprechung des EGMR, hielt der EGMR eine weitere Prüfung für nicht gerechtfertigt und strich die Beschwerde aus dem Register.789 bb) Sachverhalt Die FP wurde 2001 vom TVerfG im Rahmen eines Parteiverbotsverfahrens verboten.790 Mit ihrer Beschwerde beim EGMR rügten die Beschwerdeführer einen Verstoß gegen das Konventionsrecht, insbesondere die Verletzung von Art. 11 und 9 EMRK.791 Nachdem das Gericht mit seiner Entscheidung vom 06.04.2005 und 30.06.2005 die Beschwerde teilweise für zulässig erklärte 787  s. AMKD,

Bd. 37 / 2, S. 922 (1501). Urt. v. 07.03.1989, E. 1989 / 1, K. 1989, 12, in: AMKD, Bd. 25, S. 133–165 und TVerfG, Urt. v. 09.04.1991, E. 1990 / 36, K. 1991 / 8, in: AMKD, Bd. 27 / 1, S. 285–323, Besprechung s. o. D. V. 2. 789  s.  EGMR, Urt. v. 27.04.2006, Fazilet Partisi u. Kutan . / . Turkei (Rs.  1444 / 02), abgedruckt in deutscher Sprache in: NVwZ, 2007, S. 429–430. 790  Urteilsbesprechung s. o. D. VI. 3. c). 791  EGMR, Urt. v. 27.04.2006, Fazilet Partisi u. Kutan . / . Türkei, Rs.  1444 / 02, in deutscher Sprache abgedruckt in: NVwZ, 2007, S. 429 (429). 788  s. TVerfG,



VI. Sonderfall: Das Verbot islamischer Parteien313

und am 13.10.2005 mündlich über die Begründetheit verhandelte, nahmen die Beschwerdeführer mit Schreiben vom 02.12.2005 ihre Beschwerde zurück.792 Die Beschwerdeführer begründeten das Zurückziehen ihrer Beschwerde mit einer fehlenden Unparteilichkeit des Gerichtshofes: „Der Gerichtshof weist ständig die von Muslimen eingelegten Beschwerden zurück und seine Praxis, mit zweierlei Maß zu messen, zeigt eindeutig, dass er kein faires Gericht ist. Anstatt die Muslime Europas in Ausübung ihres Rechts auf Gewissens- und Religionsfreiheit zu unterstützten, verhindert er die Ausübung dieses Rechts. Der Gerichtshof hat gegenüber dem Islam – einer Weltreligion – Vorurteile. Das geht so weit, dass er unter überzogener Überschreitung seines Beurteilungsspielraums, den ihm die Konvention zuerkennt, Kritik an einer Weltreligion übt, über die er nichts weiß. Er hat sogar die Verwegenheit besessen, über den Islam zu urteilen (…).“793

cc) Entscheidung Aufgrund der Rücknahme der Beschwerde stieg der Gerichtshof nicht in die Prüfung des Falles ein. dd) Stellungnahme Mit Blick auf die Urteilsgründe in der Rechtssache Refah Partisi . / . Türkei ist es denkbar, dass der EGMR, anders als im Fall der RP,794 das Parteiverbot der FP als mit dem Konventionsrecht für unvereinbar erklärt hätte. Denn anders als im Falle der RP gab es gegen die FP weder den Vorwurf, sie wolle eine religiös-plurale Rechtsordnung einrichten, noch den Vorwurf, sie wolle eine „gerechte Ordnung“ einführen. Die Forderung einer Kopftuch­ erlaubnis an Hochschulen hätte wohl nach Konventionsrecht nicht ausgereicht, um ein Parteiverbot zu rechtfertigen, zumal sich die Beschwerdeführer dabei auch auf die Religionsfreiheit beriefen und die Forderung nach Kopftuchfreiheit kaum als eine Forderung betrachtet werden kann, die mit den Werten der Konvention unvereinbar ist. Dass der EGMR im Falle Leyla Şahin . / . Türkei im Ergebnis das Kopftuchverbot als mit der Konvention vereinbar erklärte, war das Ergebnis einer Interessenabwägung und lag zudem daran, dass das Konventionsrecht dem Staat bei der Beurteilung des Sachlage einen Beurteilungsspielraum zusprach. Insoweit kann man sagen, dass die Rücknahme der Beschwerde voreilig war. Das vom EGMR im 792  EGMR, Urt. v. 27.04.2006, Fazilet Partisi u. Kutan . / . Türkei, Rs.  1444 / 02, Rn. 9, in deutscher Sprache abgedruckt in: NVwZ, 2007, S. 429 (429). 793  EGMR, Urt. v. 27.04.2006, Fazilet Partisi u. Kutan . / . Türkei, Rs.  1444 / 02, Rn. 2, 3, 4, in deutscher Sprache abgedruckt in: NVwZ, 2007, S. 429 (430). 794  s. o. D. VI. 3. a).

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

Falle Refah Partisi . / . Türkei konstatierte theologische Postulat über die Scharia bot eine unnötige Vorlage für die Vorwürfe gegenüber dem EGMR, die sich in den Gründen für die Rücknahme der Beschwerde finden. e) TVerfG zum Verbot AKP aa) Einleitung In seinem Urteil aus dem Jahre 2008 befasste sich das Verfassungsgericht mit der Frage, ob die AKP zu einem Herd antilaizistischer Bestrebungen geworden ist und wegen Verstoßes gegen die Verfassung und das Parteiengesetz verboten werden muss. Das Gericht bejahte die Frage und ordnete gleichwohl kein Parteiverbot gegen die AKP an.795 bb) Sachverhalt Der Generalstaatsanwalt beantragte 2008 beim TVerfG das Verbot der regierenden AKP und behauptete in der Antragsbegründung, einen Verstoß gegen den Laizismus, Art. 68 Abs. 4 i. V. m. Art. 69 Abs. 6 und § 101 Abs. 1 b und 103 Abs. 2 TPartG.796 Der Generalstaatsanwalt warf der AKP vor, sie sei ein Brennpunkt antilaizistischer Aktivitäten. cc) Entscheidung Das Laizismus-Prinzip aus Art. 2 TVerf v. 1982 bedeute, dass die Souveränität der Nation gehört, mithin dass außer der Souveränität des Volkes kein Dogma der politischen Ordnung die Richtung geben könne.797 Das Recht werde nicht durch die Religion, sondern auf Basis der nationalen Forderungen und nach Maßgabe von Verstand und Wissenschaft angenommen.798 Ohne Ansehen der Religion gewähre der Laizismus allen Religionsfreiheit, soweit es die Verfassung vorsieht.799 Er verhindere den Missbrauch der Reli­ 795  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, Nr. 27034; AMKD, Bd. 45 / 4, S. 2159–2685 und Forts. in Bd. 45 / 5, S. 2689–3194. 796  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, Nr. 27034 und AMKD, Bd. 45 / 4, S. 2158 (2158). 797  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3175). 798  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3175). 799  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3176).



VI. Sonderfall: Das Verbot islamischer Parteien315

gion und stelle sicher, dass der Staat bei seinen Handlungen alle Religionen gleich behandelt und, dass der Staat gegenüber allen Religionen neutral ist.800 Das Gericht wiederholt in ständiger Rechtsprechung, dass der Laizismus modern und gestützt auf die nationale Souveränität, Demokratie, Freiheit und Wissenschaft das soziale und kulturelle Leben ordnet.801 Der Laizismus gebe dem Einzelnen Persönlichkeit und Gedankenfreiheit und sichere durch die Trennung von Politik und Religion die Religionsfreiheit.802 In einer laizistischen Ordnung sei die Religion von der Politisierung befreit, kein Mittel zum Regieren und werde in die Gewissen gelegt.803 Weltliche Angelegenheiten werden nach laizistischem Recht und religiöse Angelegenheiten nach eigenem Recht geregelt, dies sei das Fundament moderner Demokratien.804 Auf diese Weise sichere der Laizismus gesellschaftlichen und politischen Frieden.805 Sobald die Religion Herrschaft über die Politik bekommt oder Legitimationsgrundlage für das Recht werde, sei ein gesellschaftlicher und politischer Frieden nicht möglich.806 Sobald das Recht auf die Religion gestützt werde, können die Freiheit des Einzelnen und die Demokratie nicht funktionieren.807 Sobald Dogmen die politische Ordnung beherrschen, verschwinden Freiheiten und aus diesem Grund lehnen moderne Demokratien absolute Wahrheitsbehauptungen / Ansprüche ab.808 Dogmen begegnet der moderne Staat mit Verstand, schaffe die gesellschaftliche und gedankliche Grundlage dafür, die Welt mit weltlichem Wissen zu erklären, trenne religiöse und weltliche Angelegenheiten und verhindere so die Politisierung der Religion.809 Das Gericht zitiert die Entscheidung des EGMR im Fall Refah Partisi . / . Türkei, wonach Ordnungen, die den Laizismus ablehnen, nicht demokratisch 800  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3176). 801  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3175). 802  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3176). 803  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3176). 804  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3176). 805  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3176). 806  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3176). 807  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3176). 808  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3176). 809  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3176).

K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008,

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

sein können.810 Das Prinzip der nationalen Souveränität sei eine Notwendigkeit des Laizismus.811 Systeme, die den Laizismus ablehnen, diskriminieren Religionen und führen zu Privilegien, sie verhindern die gleichberechtigte Teilnahme aller an der Herrschaft und aus diesem Grund könne auch nicht von einer Demokratie gesprochen werden.812 Demokratie und Laizismus bedingen einander, weshalb die Verfassung beide Prinzipien als unveränderlich schütze.813 Der Verfassungsgeber habe gem. Art. 24 Abs. 5 TVerf v. 1982 den politischen Missbrauch der Religion vor dem Hintergrund der Umstände des Landes und zum Schutze des Laizismus verboten und er fasse dies nicht in den Schutzbereich der politischen Meinungs- und Handlungsfreiheit.814 Da die Religion eine soziale Einrichtung sei und damit auch religiöse Bedürfnisse entstehen, kann es notwendig sein, dass politische Parteien in diesen Angelegenheiten Politik machen.815 Gleichwohl dürfen die Parteien gem. Art. 24 Abs. 5 TVerf v. 1982 die Religion oder religiöse Gefühle und religiös geheiligte Dinge nicht zum politischen Machkampf instrumentalisieren und auf diese Weise die Gesellschaft spalten, denn dies begründe einen Verstoß gegen den Laizismus.816 Die AKP habe in seinem politischen Kampf im Hinblick auf das Kopftuchverbot, auf die Altersbeschränkung für Korankurse, auf die Imam-Hatip-Schulen nicht dem verfassungsrechtlich vorgesehenen Laizismus entsprochen.817 Denn diese Probleme seien in der Weise zum politischen Grundproblem gemacht worden, dass sie das Niveau einer Spaltung und Spannung in der Gesellschaft erreicht haben. Die religiöse Sensibilität der Gesellschaft sei, nur um einen politischen Vorteil zu erzielen, instrumentalisiert worden und ökonomische, soziale und kulturelle Grundprobleme der Gesellschaft hätten es schwer auf die politische Agenda zu kommen.818 Es 810  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3176). 811  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008  / 1, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3176). 812  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3177). 813  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3177). 814  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3177). 815  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3177). 816  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3177). 817  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3178). 818  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3178).

K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008,



VI. Sonderfall: Das Verbot islamischer Parteien317

könne nicht geleugnet werden, dass die laizismuswidrigen Handlungen der AKP, welche die Religion und religiöse Gefühle ausnutzte, die Gesellschaft, Staat und Politik entfremden und somit dazu führen können, den demokratischen Prozess zu behindern und letztlich die Legitimation der Verfassungsordnung angezweifelt werde.819 Zu diesen laizismuswidrigen Handlungen zählt das Gericht auch die Verfassungsänderung zur Aufhebung des Kopftuchverbotes.820 Obgleich der Annahme antilaizistischer Handlungen durch die AKP vollzieht das Gericht zur Feststellung, ob die Partei ein Herd antilaizistischer Bestrebungen ist, eine Gesamtwürdigung der Partei und deren Handlungen.821 Zwar enthielten die Satzung und das Programm der Partei keine antilaizistischen Inhalte, gleichwohl könne die Partei andere als die erklärten Absichten verfolgen, weshalb die Handlungen und Forderungen der Partei berücksichtigt werden müssen.822 Das Gericht hält der AKP zugute, dass sie unter anderem den europäischen Integrationsprozess vorangetrieben habe, dass sie nach der Aufhebung der Verfassungsänderung zur Kopftuchfreiheit an Hochschulen durch das Verfassungsgericht nicht zu Protesten und Gewalt aufgerufen hat.823 Aus oben genannten Gründen lehnt das Gericht ein Verbot der AKP ab.824 dd) Stellungnahme Das Verfassungsgericht bleibt auch in dieser Entscheidung seinen bereits entwickelten Ausführungen zum Laizismus treu, entsprechend seiner Entscheidungen zur Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Kopftucherlaubnis und der gesetzlichen Kleidungsfreiheit. Folglich ist auch eine durch die AKP eingeleitete Verfassungsänderung, welche das Ziel verfolgte, das Tragen eines religiösen Kopftuches an Hochschulen zu erlauben, mit dem Laizismus der türkischen Verfassung unvereinbar und verstößt daher gegen die Verfassung.825 819  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3178). 820  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3178, 3179). 821  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3179 ff.). 822  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3179). 823  s. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 /  1, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (31780, 3181). 824  Statt dessen Urteilt das TVerfG, der AKP die Leistung von staatlichen Hilfen zu versagen, vgl. TVerfG, Urt. v. 30.07.2008, E. 2008 / 1, K. 2008 / 2, in: RG v. 24.10.2008, Nr. 27034, AMKD, Bd. 45 / 5, S. 2689 (3182). 825  s. TVerfG, Urt. v. 07.03.1989, E. 1989  / 1, K. 1989, 12, in: AMKD, Bd. 25, S. 133–165.

318

D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

VII. Ergebnis Angemerkt wird, dass der türkische Laizismus alle Staatsprinzipien und die Grundrechte der türkischen Verfassung dominiert. Im Lichte der Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts stellt sich der Laizismus als eine staatliche Ideologie826 dar, die nicht nur eine laizismusorientierte Lesart der gesamten Verfassung bewirkt, sondern darüber hinaus eine eigene normative Wirkung bei der Prüfung von Rechtsfragen zukommt. Zur weiteren Beurteilung des Inhalts des türkischen Laizismus ist zunächst zwischen Verfassungstext und der Verfassungswirklichkeit zu unterscheiden, da in Teilen ein Auseinanderfallen beider Bereiche zu beobachten ist und somit eine undifferenzierte Betrachtung eine Beurteilung verfälschen würde. Wie bereits oben festgestellt, handelt es sich beim verfassungsrechtlichen Laizismusmodell mit Blick auf das Präsidium für religiöse Angelegenheiten weder um ein Kooperationsmodell noch um ein Trennungsmodell.827 Staat und Religion sind von Verfassungs wegen strukturell verflochten, ohne eine Kooperation darzustellen. Unter Berücksichtigung der einfachgesetzlich geregelten ausschließlichen Zuständigkeit des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten ist das Präsidium für die Betreuung des Islams zuständig, sodass unterhalb der Verfassungsebene zusätzlich das Element der „Bevorzugung“828 der islamischen Religion hinzukommt. Es handelt sich daher organisationsrechtlich um ein Modell der islamischen Staatsreligion. Im Lichte der Rechtsprechung des türkischen Verfassungsgerichts ist, so kann wohl angenommen werden, diese Privilegierung des Islams eine vom türkischen Laizismus gedeckte Besonderheit und verstößt daher nicht gegen den Gleichheitssatz bzw. ist der Gleichheitssatz auf diesen organisationsrechtlichen Bereich überhaupt nicht anzuwenden. Damit kann konstatiert werden, dass der türkische Staat einen Staatsislam etabliert hat, ohne damit zugleich den Islam als Legitimationsgrundlage für die Herrschaft heranzuziehen. Das oben gezeichnete organisationsrechtliche Verhältnis von Staat und Religion ist zu unterscheiden von der Gestaltung der Religionsfreiheit. Mit Blick auf die Religionsfreiheit, unter Berücksichtigung der obigen Rechtsprechung zum strikten Kopftuchverbot, lässt sich sagen, dass das türkische 826  Der Begriff Ideologie bedeutet ursprünglich die Wissenschaft von den Ideen und wurde später das Denksystem einer politischen Bewegung, z. B. Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus, s. Weber-Fas, Lexikon Politik und Recht, 2008, S. 123. 827  s. o. D. III. 3. d). 828  Wobei „Bevorzugung“ nicht ausschließlich im positiven Sinne zugunsten des Islams meint, da damit auch die Kontrolle und Aufsicht des Staates gegenüber dem Islam einhergeht.



VII. Ergebnis319

Verfassungssystem die negative Religionsfreiheit im Vergleich zur positiven Religionsfreiheit begünstigt und die positive Religionsausübungsfreiheit nur gewährt, solange diese dem Laizismus nicht zuwiderläuft. Der öffentliche Raum bleibt, sofern es um die Religionsausübung geht, frei von religiösen Symbolen.829 Es kann daher festgestellt werden, dass im Rahmen der Gewährleistung der Religionsfreiheit der türkische Laizismus als ein Trennungsmodell in Erscheinung tritt. Es ist daher auch schlüssig, wenn das türkische Verfassungsgericht den obligatorischen Religionsunterricht für verfassungswidrig erklärte, weil er die negative Religionsfreiheit verletzt.830 Die besprochenen Parteiverbote wegen Verstoßes gegen den Laizismus stellen insoweit lediglich eine Verteidigung des etablierten Trennungs- und Staatsreligionsmodells dar. Zusammenfassend kann daher konstatiert werden, dass der türkische Laizismus eine Mischung aus Trennungs- und Staatsreligionsmodell (Staats­ islam) ist. Versteht man allgemein unter Laizismus die Trennung von Staat und Religion der Art, dass sich Staat und Religion in die Angelegenheiten des jeweils anderen nicht einmischen, so kommt man zu dem Ergebnis, dass die Türkei eine Trennung von Staat und Religion nicht vollzogen hat. Zwar werden die staatliche Herrschaft und die Religionsfreiheit, anders als noch im Osmanischen Reich, nicht religiös legitimiert, weshalb die Türkei keine Theokratie ist. Während aber im Osmanischen Reich der Islam die staat­ liche Herrschaft kontrollierte, kontrolliert in der Türkei nunmehr der Staat den Islam. Das Verhältnis hat sich lediglich umgekehrt, eine vollständige Trennung hat nicht stattgefunden. Zweck dieser Verknüpfung mit dem Islam ist die Sicherung der säkular legitimierten Herrschaft, der Rechtsordnung und die Gewährleistung der Religionsfreiheit. Diese Verknüpfung stellt sich als antagonistischer Homogenisierungsversuch dar, durch Religionsstiftung (Staatsislam) zur Sicherung der Weltlichkeit der Herrschaftsordnung beizutragen, die er aber mit Böckenförde831 als freiheitlich, säkularisierter Staat nicht garantieren kann.

829  Anders sieht es beim Präsidium für religiöse Angelegenheiten aus, welches gerade den Islam in den öffentlichen Raum hereinholt. 830  Das Urteil fiel erst im Anschluss an das Urteil des EGMR in der Rs. Hasan u. Eylem Zengin . / . Türkei; dass das Urteil des EGMR und des TVerfG nach wie vor nicht umgesetzt wurde, ist für die Einordnung im Rahmen der Religionsverfassungsrechtlichen Modelle unerheblich und stellt einen Rechtsverstoß dar. 831  „Der freiheitlich, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Dies ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“, Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Der säkularisierte Staat, 2006, S. 43 (71).

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

VIII. Ausblick: Neue türkische Verfassung Wenngleich die regierende AKP832 ihre Wurzeln im politischen Islam hat, kann die AKP als „post-islamistische“833 Partei betrachtet werden.834 Sie entstand infolge der Regierungs- und Demokratieerfahrungen islamistischer Parteien in der Türkei.835 Der Postislamismus versucht „(…) eine Synthese des Islams mit Wahlrechten und Freiheit, mit Demokratie und Modernität (…)“.836 Nach den Parteiverboten der 90er Jahre spaltete sich die islamistische FP in zwei Lager: Die alte traditionalistisch-islamistische Elite gründete die SP, die „young reformist generation“ gründete die AKP.837 Anders als die alte islamistische Elite erkannte die „reformist young generation“, dass mit einer, die Gesellschaft in „secularist – islamist“ spaltenden, islamistischen Politik in der Türkei keine erfolgreiche Politik gemacht werden kann.838 Der Grund für diesen Veränderungsprozess liegt in der Erkenntnis, dass der Westen und die westlichen Werte der Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit notwendig sind, um die Macht der Kemalisten zu brechen.839 Am 08.06.2007 beauftragte die amtierende Regierungspartei AKP eine akademische Kommission mit dem Entwurf einer neuen Verfassung.840 Yildiz konstatiert dieser Vorgehensweise, dass zwar eine gewisse objektive Rah832  Offiziell gegründet am 14.08.2001, s. Dagi, Transformation of Islamic Political Identity in Turkey, in: Rubin (Hrsg), Political Islam, 2007, S. 304 (314). 833  Zum Begriff Postislamismus s. Schiffauer, Nach dem Islamismus, 2010, S.  11, m. w. N. 834  s.  Dagi, Transformation of Islamic Political Identity in Turkey, in: Rubin (Hrsg), Political Islam, 2007, S. 305 (314); Atacan, Explaining Religious Politcs at the Crossroad, in: Rubin (Hrsg), Political Islam, 2007, S. 346 ff.; Ein Vergleich mit den Christdemokratischen Parteien findet sich bei Hale, Christian Democracy and the AKP, in: Rubin (Hrsg), Political Islam, 2007, S. 360–379. 835  s.  Toprak, Islam and Democracy in Turkey, in: Rubin (Hrsg), Political Islam, 2007, S. 328–335. 836  Schiffauer, Nach dem Islamismus, 2010, S. 17, 18. 837  s.  Toprak, Islam and Democracy in Turkey, in: Rubin (Hrsg), Political Islam, 2007, S. 323 (335); Spuler-Stegemann, Die Türkei in: Ende / Steinbach (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart, 5. Aufl. (2005), S. 229 (235). 838  s.  Toprak, Islam and Democracy in Turkey, in: Rubin (Hrsg), Political Islam, 2007, S. 323 (329, 335). 839  s.  Dagi, Transformation of Islamic Political Identity in Turkey, in: Rubin (Hrsg.), Political Islam, 2007, S. 305 (316); Anders als bei der RP 1997 verhinderte der starke demokratische Rückhalt der AKP 2007 ihren Sturz durch das Militär, als das AKP-Mitglied Abdullah Gül für das Amt des Staatspräsidenten kandidierte, s.  Dietz, Der weite Weg nach Westen, in: DöV, 2010, Heft 15, S. 638 (643). 840  s.  Yildiz, Der neue türkische Verfassungsentwurf und die daraus resultierenden Einflüsse auf die demokratische Entwicklung der Türkei, in: JöR, 2010, Bd. 58, S. 353 (370); Can, Parteiverbote in der Türkei: Instrument einer wehrhaften Demokratie?, in: JöR, 2011, Bd. 59, S. 635 (636).



VIII. Ausblick: Neue türkische Verfassung321

menbedingung für die Erarbeitung einer Verfassung geschaffen wurde, es gleichwohl daran mangelt, dass in den Erarbeitungsprozess weitere bedeutende politische und gesellschaftliche Akteure nicht involviert wurden, „(…) um dem legitimierenden sozialpolitischen und soziokulturellen Konsensusfaktor einer in der Praxis funktionierenden Verfassung gerecht zu werden“.841 Die Kommission schloss ihre Arbeit ab und legte den erarbeiteten Verfassungsentwurf dem Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan vor.842 Das Vorhaben scheiterte schließlich am Widerstand der Oppositionspartei CHP, der hohen Richter, der Universitäten und des Militärs, sowie am mangelnden Willen der Regierungspartei AKP.843 Stattdessen ließ sich die regierende AKP zunächst darauf ein, nur das durch die Rechtsprechung des TVerfG ausgesprochene Kopftuchverbot durch eine punktuelle Verfassungsänderung aufzuheben.844 Im Mai 2010 verabschiedete das Parlament ein Gesetz zur Änderung der TVerf v. 1982, das 26 Veränderungen im Verfassungstext vorsah, die insbesondere die Reform des Justizsystems betrafen.845 Nachdem die Opposition im Parlament gegen die Verfassungsänderung erfolglos einen Normenkontrollantrag beim Verfassungsgericht einreichte,846 kam es am 12. Septem841  Yildiz, Der neue türkische Verfassungsentwurf und die daraus resultierenden Einflüsse auf die demokratische Entwicklung der Türkei, in: JöR, 2010, Bd. 58, S. 353 (370). 842  Nach Can ist der neue Verfassungsentwurf unzureichend, „(…) da er die Systematik der gültigen, vom Militär oktroyierten Verfassung als Basis genommen und insbesondere deren Eigenschaft als Legitimationsgrundlage für die Bevormundung der Politik durch das Militär unangetastet gelassen (…)“ habe, Can, Parteiverbote in der Türkei: Instrument einer wehrhaften Demokratie?, in: JöR, 2011, Bd. 59, S. 635 (636), Fn. 3; nach Yildiz sahen sich die Verfasser des Entwurfs gezwungen, den internen laizistisch-nationalistischen Kräften bei der Ausarbeitung Rechnung zu tragen, so sei die „Entmilitarisierung“ nicht vollständig gelungen. Gleichwohl sei es gelungen umfangreich zu entidiologisieren, die Grundrechte auf die Menschenwürde zu gründen, was die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Teilnahme der Bürger am Meinungs- und Willensbildungsprozess fördere, vgl. Yildiz, Der neue türkische Verfassungsentwurf und die daraus resultierenden Einflüsse auf die demokratische Entwicklung der Türkei, in: JöR, 2010, Bd. 58, S. 353 (384); Zur ausführlicheren Besprechung des Verfassungsentwurfes s. Yildiz, Der neue türkische Verfassungsentwurf und die daraus resultierenden Einflüsse auf die demokratische Entwicklung der Türkei, in: JöR, 2010, Bd. 58, S. 353 (370–383). 843  So Can, Parteiverbote in der Türkei: Instrument einer wehrhaften Demokratie?, in: JöR, 2011, Bd. 59, S. 635 (636). 844  Vgl. Can, Parteiverbote in der Türkei: Instrument einer wehrhaften Demokratie?, in: JöR, 2011, Bd. 59, S. 635 (636); Zur Verfassungsänderung und zum Urteil des TVerfG s. o., Kapitel D., S. 211 ff. 845  s. §§ 15–22 Gesetz Nr. 5982 v. 07.05.2010, verkündet in: RG v. 13.05.2010, Nr. 27580. 846  Vgl. TVerfG Urt. v. 07.07.2010, E: 2010  / 49, K: 2010 / 87, veröffentlicht in: RG v. 01.08.2010, Nr. 27659.

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D. Die Trennung von Staat und Religion in der Türkei

ber 2010 zu einem Verfassungsreferendum,847 an dessen Ende bei einer Wahlbeteiligung von 73,71 % eine Mehrheit von 57,88 % für die Verfassungsänderung stimmte.848 Diese Verfassungsänderungen reichen bei Weitem nicht aus, um vor allem die Suprematie des Laizismus über die Grundrechte zu beenden, da die durch Volksabstimmung angenommene Verfassungsänderung das ideologische Fundament der Verfassung nicht antastete. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoˇgan kündigte bereits vor den Parlamentswahlen am 12.06.2011 an, er werde einen neuen Anlauf nehmen, „(…) um dem Land eine komplett neue, demokratische Verfassung zu geben.“849 Es bleibt abzuwarten, wie der neue Verfassungsentwurf mit dem Status des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten umgehen wird. In Betracht kommt eine Beibehaltung des verfassungsrechtlichen Status oder aber eine Übertragung auf die Religionsgemeinschaften, wie es vielfach gefordert wird. In jedem Fall muss aber das Prinzip der staatlichen Neutralität beachtet werden, will die Türkei ihrem Anspruch, ein laizistischer Staat sein zu wollen, gerecht werden. Auch bleibt es abzuwarten, ob das Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ weiterhin obligatorisch sein wird. Sofern die Praxis der Verfassungslage angepasst wird, dürfte dies unproblematisch sein. Die Frage des Umgangs mit dem religiösen Kopftuch hängt eng mit der Frage zusammen, ob der Laizismus als Staatsideologie seine Suprematie über die Religionsfreiheit erhalten wird.850 Mit Blick auf die Motivationslage der AKP ist dies eher unwahrscheinlich, wenngleich die Kraft der oppositionellen Kemalisten nicht unterschätzt werden sollte.

847  Gem. Gesetz über die Volksabstimmung von Verfassungsänderungen Nr. 3376 v. 23.05.1987, verkündet in: RG v. 28.05.1987, Nr. 19473, S. 6–7. 848  s. Beschluss des Hohen Wahlrats Nr. 846 v. 22.09.2010, veröffentlich in: RG v. 23.09.2010, Nr. 27708. 849  Martens, Weitere Korrekturen nötig, in: FAZ.Net v. 13.09.2011, im Internet unter: http: /  / www.faz.net / -01hrzt (zuletzt aufgerufen am 13.04.2012). 850  Das Kopftuchverbot an Hochschulen wurde im Okorber 2010 durch einen Runderlass des Hochschulrates aufgehoben, hat jedoch als solches keinen Einfluss auf die oben skizzierte Verfassungslage, vgl. Trenkamp, Sümeyra legt das Kopftuch ab, in: SpiegelOnline, v. 20.10.2010, im Internet unter: http: /  / www.spiegel.de / unispie gel / studium / 0,1518,723590,00.html (zuletzt aufgerufen am 13.05. 2012).

E. Der zeitgenössische türkisch-islamische Diskurs zum Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei I. Einleitung Der Islam in der Türkei hat sich infolge sozialer Einflüsse unterschied­ licher entwickelt als in anderen muslimisch geprägten Regionen der Welt.1 In der Literatur wird das durch die Begriffe „Turkish Islam“ oder „Turkish Muslimness“ zum Ausdruck gebracht.2 Wenngleich damit nicht ein gänzlich homogener Islam in der Türkei angenommen werden kann, so wird doch ein „Average Turkish Muslimness“ angenommen.3 Neben der mehrheitlich hanafitisch-sunnitischen Bevölkerung gibt es eine alevitische und schiitische Minderheit.4 Insgesamt stellt sich der Islam in der Türkei in drei Varianten dar:5 Staatsislam, Volksislam sowie politischer Islam (Islamismus).6 Der Staatsislam ist der von den staatlichen Einrichtungen „gepredigte“ sunnitisch-hanafitische Islam. Zu diesen staatlichen Einrichtungen gehört das Präsidium für religiöse Angelegenheiten.7 Der überwiegend von den einfachen Gläubigen und von Orden und Bruderschaften praktizierte Islam stellt in der Türkei den Volksislam dar.8 Unter dem politischen Islam (Islamismus) lassen sich politische Parteien erfassen, die

1  s.  Okumuş, Turkey-Religiosity and the PRA, in: The Muslim World, Vol. 98 (2008), Nr. 2 / 3, 2008, S. 345 (349). 2  Zum Begriff „Turkish Islam“ und „Turkish Muslimness“ s. Okumuş, TurkeyReligiosity and the PRA, in: The Muslim World, Vol. 98 (2008), Nr. 2 / 3, 2008, S.  345 (347 ff.). 3  Vgl. Okumuş, Turkey-Religiosity and the PRA, in: The Muslim World, Vol. 98 (2008), Nr. 2 / 3, 2008, S. 345 (347, 349). 4  Dabei ist der türkische Staat bemüht, diese religiösen Minderheiten der Mehrheit der Sunniten anzugleichen, in dem auch in alevitischen Siedlungsgebieten statt Cem-Einrichtungen Moscheen errichtet und orthodoxe Imame entsendet werden, s. Scheinhardt, Die religiöse Lage in der Türkei, 1986, S. 62. 5  Vgl. Steinbach, Islam in der Türkei, in: Informationen zur politischen Bildung, 2002, Heft 277, S. 25. 6  Vgl. Steinbach, Islam in der Türkei, in: Informationen zur politischen Bildung, 2002, Heft 277, S. 25. 7  Ausführlich besprochen, s. o., Kapitel D., S. 171 ff. 8  s. Steinbach, Islam in der Türkei, in: Informationen zur politischen Bildung, 2002, Heft 277, S. 26.

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

den Islam politisch „von oben“ implementieren wollen.9 Nicht ohne Weiteres und nicht in Gänze dem Staatsislam zuzuordnen ist die türkisch-islamische Theologie an den universitären Fakultäten. Zwar sind die Fakultäten als staatliche Einrichtung dem Hochschulrat (Yükseköğeretim Kurulu, YÖK) unterstellt.10 Gleichwohl hat sich die universitäre türkisch-islamische Theologie im Zuge ihrer Entwicklung als wissenschaftlich unabhängige anspruchsvolle Theologie mit eigener Tradition entwickelt und etabliert.11 Mit dem Ziel, den theologischen Diskurs in der Türkei zum türkischen Laizismus zu erfassen, sollen hier die Ansichten einzelner gesellschaftlich bedeutender Theologen und islamischer Intellektuellen in der Türkei sowie des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten, der Abant-Plattform und der Ankaraner Schule vorgestellt werden. Die Auswahl erfolgt nach dem Grad ihrer gesellschaftlichen sowie akademischen Akzeptanz12 in der Gegenwarts­ 9  s. Steinbach, Islam in der Türkei, in: Informationen zur politischen Bildung, 2002, Heft 277, S. 26. 10  Die Aufsicht über die Theologischen Fakultäten erfolgt durch den Hochschulkontrollrat (Yükseköğretim Denetleme Kurulu), nicht aber dem Präsidium für religiöse Angelegenheiten, vgl. § 9 Gesetz Nr. 2547 a. F. v. 04.11.1981, verkündet in: RG v. 06.11.1981, Nr. 17506, veröffentlicht in: Düstur, Serie V, Bd. 21, S. 3, geändert durch Gesetz Nr. 5947 v. 21.01.2010, verkündet in: RG v. 31.01.2010, Nr. 27478; das türkische Hochschulgesetz wurde nach dem Militärputsch 1980 neu geregelt. Im Zuge dieser Neuregelung wurde die ursprünglich den Universitäten zuerkannte Autonomie beseitigt. „Die Universitäten sind staatlich reglementiert, regiert und kontrolliert. (…) sind zu Ausbildungsstätten für das Menschenmaterial (= ‚insan gücü‘) geworden. (…)“, Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik vom 9. November 1982, in: JöR, 1983, Bd. 32, S. 507 (543); vgl. vertiefend zum türkischen Hochschulgesetz und Hochschulwesen Hirsch, Das neue türkische Hochschulgesetz, in: Wissenschaftsrecht, 1982, Bd. 15, S. 97–120 und Spuler-Stegemann, Die Türkei, in: Ende / Steinbach (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart, 5. Aufl. (2005), S. 239 (239). 11  Beispielhaft hierfür ist die Ankaraner Schule, ähnlich Körner, Alter Text – neuer Kontext, 2006, S. 13; anders Ucar: „(…) auch theologische Fakultäten werden inhaltlich vom Staat bestimmt, kontrolliert und finanziert. Faktisch ist von einem Staats­ islam zu sprechen. Wenn es in Deutschland so weitergeht, bewegen wir uns im Bereich des Islam in dieselbe Richtung, und das kann niemand wollen. Ich glaube, dass der weltanschaulich neutrale Staat sich aus diesem Bereich heraushalten muss. Deshalb brauchen wir unbedingt ein Mitspracherecht der Religionsgemeinschaften bei der Berufung von Hochschullehrern und Lehrkräften für die Schule“, ders., im Interview durch Qantara.de, Furcht vor einem verordneten Staatsislam, v. 05.05.2009, im Internet unter: http: /  / de.qantara.de / webcom / show_article.php?wc_c=469&wc_id= 1025 (zuletzt aufgerufen am 14.04.2012); ähnlich Hirsch in seinem Artikel aus dem Jahre 1982: „Von einer Freiheit der Wissenschaft oder von wissenschaftlicher Autonomie an einer Universität kann somit keine Rede sein, (…).“, ders., Das neue türkische Hochschulgesetz, in: Wissenschaftsrecht, 1982, Bd. 15, S. 97 (113). 12  Denn „(…) nur derjenige, der es schafft, dass seine Auffassung, etwa über den Islam, als korrekt anerkennt wird, wird in der Regel auch als Sprecher akzeptiert. Und umgekehrt: Wer es schafft, sich als Sprecher durchzusetzen, hat gute



II. Hayreddin Karaman325

türkei, soweit sie sich zum Verhältnis Staat-Islam-Laizismus in der Türkei eingelassen haben. Die Diskursanalyse erhebt dabei nicht den Anspruch, sämtliche Texte der jeweils vorgestellten Personen und Einrichtungen vorzustellen. Vielmehr soll ein Ein- und Überblick über den Diskurs in der Türkei zum türkischen Laizismus verschafft werden.

II. Hayreddin Karaman13 1. Person und Bedeutung Karaman gehört zu den „inoffiziellen“ Autoritäten des Islams in der Türkei.14 Er wurde 1934 geboren und absolvierte 1959 die Prediger-Schule (Imam hatip Okulu).15 Im Anschluss studierte er am Hohen Islam Institut Istanbul (Istanbul Yüksek Islam Enstitüsü) und schloss sein Studium 1963 ab.16 Nach zwei Jahren Lehrtätigkeit an einer Prediger-Schule wurde er Assistent für islamische Rechtswissenschaft (Fıkıh17) am Hohen Islam Institut Istanbul.18 1971 verfasste er eine Arbeit mit dem Titel „Rechtsfortbildung im islamischen Recht vom Anfang bis zum vierten Jahrhundert“ (Başlangıçtan Dördüncü Asra Kadar Islam Hukukunda Ictihad), mit der er die Lehrbefugnis für die islamische Rechtswissenschaft erhielt und an das Hohe Islam Institut Izmir versetzt wurde.19 1975 kehrte er an das Hohe Chancen, dass seine Position als wahr anerkannt wird.“, Ucar, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft, 2005, S. 24. 13  In der Literatur auch oft Hayrettin Karaman. Im Folgenden Karaman. 14  Ucar bezeichnet ihn als „anerkannte Koryphäe“ und als einen der anerkanntesten und renommiertesten Theologen, s. Ucar, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft, 2005, S. 24, 25; s. auch Howe, Turkey Today, 2000, S. 40; Şentürk, Islamic Reformist Discourses and Intellectuals in Turkey, in: Shireen T. Hunter (Hrsg.), Reformist Voices of Islam, 2009, S. 227 (233); Ein deutschsprachiger Aufsatz von Karaman findet sich bei Karaman, Klassisches sunnitisches Fiqh (fıkıh) für Muslime in der europäischen Diaspora, in: Seufert / Waardenburg (Hrsg.), Turkish Islam and Europe, 1999, S. 37–46. 15  s.  Kara, Türkiye’de Islamcılık Düşüncesi III (Islamisches Denken in der Türkei), 1994, S. 483; Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Tagesordnung in der Türkei und der islamischen Welt), 2009, S. 4. 16  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Tagesordnung in der Türkei und der islamischen Welt), 2009, S. 4. 17  Zum Begriff fıkıh s. Karaman, Klassisches sunnitisches Fiqh (fıkıh) für Muslime in der europäischen Diaspora, in: Seufert / Waardenburg (Hrsg.), Turkish Islam and Europe, 1999, S. 37 (37). 18  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Tagesordnung in der Türkei und der islamischen Welt), 2009, S. 4. 19  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Tagesordnung in der Türkei und der islamischen Welt), 2009, S. 4.

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Islam Institut Istanbul zurück, wo er nach dessen Umwandlung in eine theologische Fakultät zunächst promovierte, Dozent und schließlich Professor wurde.20 Zwischen 1976 und 1980 war er Mitherausgeber der Zeitschrift Nesil (Generation).21 2001 kündigte er seinen Lehrauftrag an der theologischen Fakultät der Marmara Universität, weil er nach eigenen Angaben den Druck zur Durchsetzung des Kopftuchverbots an der Universität nicht mehr ertragen konnte und weil ihm unter diesen Umständen eine freie Arbeit nicht möglich war.22 Gegenwärtig schreibt er regelmäßig Kolumnen für die Tageszeitung Yeni Şafak (Neuer Tagesanbruch), sowie für die Zeitschrift Gerçek Hayat (Das wahre Leben).23 2. Rechtsauffassungen zum Verhältnis von Staat und Religion a) Auffassung zu Demokratie und Laizismus aa) Laizismus Die Religion fordere einen Staat, weil dieser eine Notwendigkeit sei, so Karaman.24 Nur, wenn das Wesen, die unverzichtbaren Forderungen der Religion, gleich unter welcher Herrschaft, erfüllt würden, gäbe es die Forderung nach einem Staat nicht.25 Die Geschichte habe gezeigt, dass ohne die politische Herrschaft der Muslime, diese ihren religiösen, sozialen, moralischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Pflichten, die sich auch aus 20  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Tagesordnung in der Türkei und der islamischen Welt), 2009, S. 4. 21  Ziel Karamans war es mitunter, seinen Kritikern zu begegnen; die Zeitschrift wurde nach 1980 nicht mehr veröffentlicht, s. Kara, Türkiye’de Islamcılık Düşüncesi III (Islamisches Denken in der Türkei), 1994, S. 483. 22  Karaman berichtet, dass der Rektor der Marmara Universität die dortige theologische Fakultät aufgesucht habe, um die Verlautbarung (Tebliğ) des Kopftuchverbotes mitzuteilen; als der Dekan der Fakultät dem Rektor erklärte, dass im Falle einer Dursetzung des Kopftuchverbotes viele Hochschullehrer kündigen und vielerlei Ereignisse stattfinden würden und die Fakultät geschlossen werden könnte, habe der Rektor mit „Wir nehmen alles in Kauf“ geantwortet, s. Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Den Glauben leben in einer laizitären Ordnung), Bd. 3, 2. Aufl. (2002), S. 168; Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 4. 23  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 4. 24  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 60. 25  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 60.



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dem Islam ergeben, nicht nachkommen könnten.26 Der Koran bürde den Muslimen auch eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung auf.27 Der Koran verlange von den Muslimen, Menschen, gleich welcher Religion, Sprache, Hautfarbe und wirtschaftlicher Stellung, vor Grausamkeit und Ungerechtigkeit zu schützen.28 Dieser Verantwortung könnten Muslime ohne einen entsprechenden Staat nicht gerecht werden.29 Wäre es ohne Staat möglich, diesem Anspruch gerecht zu werden, gäbe es keine Forderung des Islam nach einem Staat.30 Das, was Gott von den Muslimen aber erwarte, liege auch im Kompetenzbereich des Staates.31 Deswegen gäbe es einen Konflikt mit dem Laizismus.32 Denn der Laizismus bedeute, dass sich die Religion nicht in die Angelegenheiten des Staates einmischen darf.33 Dieser Konflikt sei aber lösbar.34 So wie in laizistisch-demokratischen Staaten, in denen Muslime ihren individuellen und gesellschaftlichen Pflichten weitestgehend unter Wahrung der Rechte anderer nachkommen können.35 Die Trennung von Staat und Religion im Sinne eines „Laiklik“ (Laizismus) sei keine Bedingung für die Demokratie.36 Anderenfalls sei die Demokratie mit dem Islam nicht vereinbar.37 „Laiklik“ sei zwar verwandt mit der 26  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem, (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 60. 27  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem, (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 60. 28  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem, (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 60. 29  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem, (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 60. 30  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem, (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 61. 31  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem, (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 61. 32  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem, (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 61. 33  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem, (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 61. 34  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem, (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 61. 35  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem, (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 61. 36  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem, (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 21; Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer laizistischen Ordnung), Bd. 2, 5. Aufl. (2006), S. 92, 93; Karaman widerspricht damit der These, dass es ohne „laiklik“ Demokratie nicht geben kann. 37  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem, (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 21.

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Demokratie und diene dem Schutze der Religionsfreiheit.38 Der radikale Laizismus in der Türkei führe aber einerseits dazu, dass sich die Religion nicht in staatliche Angelegenheiten einmischt.39 Andererseits mische sich der Staat aber in die Angelegenheiten der Religion derart ein, dass er sich anmaße, die Religion mit Hilfe von Einrichtungen40 zu reformieren.41 Soweit der Laizismus als Voraussetzung für die Demokratie es nicht zulasse, dass der Islam politisch und sozial wegweisend, zumindest jedoch rahmengebend eine Rolle spielen darf, sei der Islam mit der Demokratie unvereinbar.42 Der türkische Staat spalte die Religion in staatlich Erlaubtes und nicht Erlaubtes.43 Er schreibe neue religiöse Regeln vor, die nicht dem Selbstverständnis der Religion entsprechen würden.44 Dieses türkische Modell der Trennung von Staat und Religion verstoße gegen die Menschenrechte, insbesondere gegen die Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit und Gewissensfreiheit.45 In diesem Fall sei Demokratie nur dort möglich, wo es keinen Laizismus gibt.46 Karaman fordert eine Definition des Laizismus in der Türkei, um die Willkür des türkischen Staates „zum Schutze des Laizismus“ gegenüber den Muslimen zu beenden.47 In der Türkei müsse die Religionsfreiheit gewährleistet und geschützt werden und es dürfe den Menschen im Namen des Laizismus nichts aufgezwungen werden.48 Der Laizismus dürfe nicht bedeuten, dass sich der Staat der Religion bemächtigt und dürfe nicht zur Säkularisierung der Gesellschaft genutzt werden.49 Laizismus müsse als Gewährleistung der Religions38  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem, (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 25. 39  s.  Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer laizistischen Ordnung), Bd. 2, 5. Aufl. (2006), S. 21, 25, 93. 40  Gemeint ist wohl das Präsidium für religiöse Angelegenheiten. 41  s.  Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer laizistischen Ordnung), Bd. 2, 5. Aufl. (2006), S. 93. 42  s.  Karaman, Türkiye ve Islam dünyasında Gündem, (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 21. 43  s.  Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer laizistischen Ordnung), Bd. 2, 5. Aufl. (2006), S. 93. 44  s.  Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer laizistischen Ordnung), Bd. 2, 5. Aufl. (2006), S. 93. 45  s.  Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer laizistischen Ordnung), Bd. 2, 5. Aufl. (2006), S. 93. 46  s.  Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer laizistischen Ordnung), Bd. 2, 5. Aufl. (2006), S. 93. 47  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem, (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 38, 39. 48  s.  Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer laizistischen Ordnung), Bd. 2, 5. Aufl. (2006), S. 93. 49  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 29.



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und Gewissensfreiheit zumindest in dem Maße, wie er in westlichen Staaten umgesetzt wird, verstanden werden.50 Ein Laizismus, wonach die Religion ausschließlich ins Private gehört, führe zu einem Verstoß gegen die Religionsfreiheit und die Menschenrechte.51 Eben jenes geschehe in der Türkei.52 Ein religiöser Mensch könne nicht zuhause religiös und außerhalb seiner vier Wände areligiös bzw. säkular sein.53 bb) Demokratie Die Demokratie sei gegenwärtig das beste Staatsmodell, gleichwohl müsse es ohne Tabus erlaubt sein, auch dieses zu hinterfragen.54 Das nach dem Vorbild der Verfassung von Medina entwickelte medinensische Staatsmodell55, welches von einigen Islamisten vertreten werde, sei zwar nicht ausgereift, gleichwohl könne dieses Modell durchaus bei seiner Fortentwicklung ein Alternativmmodell zur Demokratie sein.56 Dieses Modell unterstütze, mit wenigen notwendigen Ausnahmen, ein pluralistisches Rechtssystem.57 Karaman begrüßt ein pluralistisches Rechtssystem, in dem religiöse Gemeinschaften nach eigenem Recht behandelt werden und erwähnt beispielhaft die Einführung der Scharia-Gerichte in Großbritan­nien.58 Laizismus und Demokratie bedeuten nach Karaman, dass die, die es möchten, nach der Scharia und die, 50  s.  Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer laizistischen Ordnung, Bd. 3, 2. Aufl. (2002), S. 191, 192. 51  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 80. 52  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 81. 53  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 81. 54  s.  Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer laizistischen Ordnung), Bd. 2, 5. Aufl. (2006), S. 92. 55  Mohammed regelte die politischen Probleme Medinas mit der Zustimmung der Bewohner Medinas für das Dokument, dass als Verfassung von Medina bezeichnet wird, s. Peters, „Medina“, in: Modern Islamic World, Vol. 3, 1995, S. 92 (92), Sp. 1; eine Übersetzung der Verfassung von Medina in deutscher Sprache ist abgedruckt bei Daghles, Die Kompatibilität islamischer Staatsauffassungen mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung, 2010, S. 251–256. 56  s.  Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer laizistischen Ordnung), Bd. 2, 5. Aufl. (2006), S. 92. 57  s.  Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer laizistischen Ordnung), Bd. 2, 5. Aufl. (2006), S. 92; ein Verfechter dieses Modells ist allen voran Ali Bulaç, s. dazu ders., Islam’dan Korkmalımıyız? (Müssen wir Angst vor dem Islam haben?), 2009, S. 52 ff. 58  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem, (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 68–70.

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die es nicht möchten, säkular leben könnten.59 Man könne aber wohl von einer Art islamischer Demokratie sprechen, deren Referenz der Koran ist.60 Nichtmuslime könnten in diesem islamischen Herrschaftsgebiet nach ihren eigenen Regeln leben.61 Muslimen hingegen sei es im öffentlichen Raum nicht erlaubt, gegen islamische Gebote zu verstoßen. Dies entspreche der islamischen „allgemeinen Moral“ und „öffentlichen Ordnung“.62 In einer Demokratie müsse es für den, der es will, möglich sein, in der Schule ein Kopftuch zu tragen oder nicht, zu beten oder nicht, sein Geld auf der Bank zu verzinsen oder nicht, die eigenen Kinder auf entsprechenden Schulen religiös zu erziehen, gemischte Badeanstalten zu besuchen oder nicht.63 Dies widerspreche nicht einer laizistischen Demokratie, sondern entspreche ihr vielmehr.64 Die Einschränkung einer dieser Optionen zugunsten der anderen verstoße gegen die Demokratie, den Laizismus und die Religionsfreiheit.65 Er begrüßt die Forderung des CDU Generalsekretärs Ronald Pofalla, an Schulen und öffentlichen Gebäuden Kreuze anzubringen.66 Im Gegenzug könnte für Muslime das Anbringen des muslimischen Glaubensbekenntnisses ermöglicht werden.67 Nach Karaman könnten Muslime in zweierlei Staatssystemen ihrem Glauben gerecht werden:68 Einerseits in einem System, das den „richtig verstandenen“ Islam zur Grundlage hat.69 Zum anderen in einer auf Recht und Freiheit basierenden Demokratie.70 Dabei sei Ersteres für Muslime vor59  s.  Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer laizistischen Ordnung), Bd. 2, 5. Aufl. (2006), S. 123. 60  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 59. 61  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 59. 62  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 59. 63  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 81. 64  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 81. 65  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 81. 66  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 97. 67  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 97. 68  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 26. 69  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 26. 70  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 26.



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zugswürdiger.71 Die ethischen Werte beider Systeme seien unterschiedlich, wenngleich auch im „richtig verstandenen“ islamischen System maximale Freiheiten auch für Nichtmuslime gewährleistet seien.72 Im islamischen System könnten Muslime ihr Leben eher islamisch ausrichten, da in einer auf Recht und Freiheit basierten Demokratie die islamische Lebensweise der Muslime durch unislamische Verhaltensweisen von Nichtmuslimen im öffentlichen Raum beeinträchtigt werde.73 b) Präsidium für religiöse Angelegenheiten Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten sei gegründet worden, um die Religion durch den Staat zu kontrollieren, so Karaman.74 Darin sei ein Verstoß gegen den Laizismus zu erkennen.75 Der Staat habe sich in den islamischen Gebetsruf, in die Sprache der Gottesdienste (Ibadet), in die Gründung von religiösen Vereinen, in die Kleidung, in die Pilgerfahrt, in das Opferfest und in die Orden eingemischt.76 Wenngleich Karaman einerseits theologische Stellungnahmen des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten in einigen Angelegenheiten begrüßt,77 so kritisiert er gleichwohl die Politisierung des Präsidiums und sieht dieses als von der Politik gefesselt.78 71  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 26. 72  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 26. 73  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 26. 74  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 77; ders., Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer laizistischen Ordnung), Bd. 3, 2. Aufl. (2002), S. 191. 75  s.  Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer laizistischen Ordnung), Bd. 2, 5. Aufl. (2006), S. 311. 76  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 77. 77  Nach Karaman gelinge es dem Präsidium für religiöse Angelegenheiten nicht, die Religion in vollem Maße zu kontrollieren. Denn das Präsidium für reli­ giöse Angelegenheiten verändere nicht die Religion, sondern diene zum richtigen Verständnis und zur richtigen Anwendung der Religion. Die Einstufung des „Flirtens“ u. ä. als unislamisch durch das Präsidiums für religiöse Angelegenheiten stößt auf Karamans Zustimmung, wohingegen die Laizisten eben jene Gutachten des Präsi­ diums als nicht zeitgemäß kritisierten, s. Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 78, 79. 78  s.  Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer Laizitären Ordnung), Bd. 3, 2. Aufl. (2002), S. 47.

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Eine derart politisierte Behörde könne aber in Fragen des Glaubens und der Bildung und Erziehung keine unabhängigen Entscheidungen treffen und schon gar nicht umsetzen.79 Er möchte nicht, dass sich der Staat in den Glauben einmischt.80 Karaman fordert die Befreiung des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten von dieser „Vormundschaft“ durch eine gesetz­ liche Neuregelung.81 Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten müsse eine unabhängige, eigenständige Einrichtung werden.82 c) Religionsunterricht Karaman befürwortet das von der Verfassung vorgesehene obligatorische Unterrichtsfach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ und ist für dessen Beibehaltung.83 Das Fach verstoße als bloßer Religionskundeunterricht nicht gegen den Laizismus.84 Anders wäre es, wenn es sich um einen islamischen Religionsunterricht handeln würde.85 Ein für alle obligatorischer Religionsunterricht sei nicht denkbar.86 Dieser müsse freiwillig sein und den Schülern müsse eine Befreiung durch entsprechende Willensbekundung im Rahmen der Anmeldung ermöglicht werden.87 Gleichzeitig kritisiert Karaman, dass es einen freiwilligen Religionsunterricht, wie er von der Verfassung vorgesehen sei, in der Türkei nicht gebe.88 Der obligatorische Unterricht im Fach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ sei ein Religionskundeunterricht, der das Ziel hat, das Miteinander von Menschen unterschiedlicher Glaubens- und Weltan79  s.  Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer Laizitären Ordnung), Bd. 3, 2. Aufl. (2002), S. 47. 80  s.  Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer Laizitären Ordnung), Bd. 3, 2. Aufl. (2002), S. 47. 81  s.  Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer Laizitären Ordnung), Bd. 3, 2. Aufl. (2002), S. 47. 82  s.  Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer Laizitären Ordnung), Bd. 3, 2. Aufl. (2002), S. 47. 83  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 103, 108; ders., Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer laizistischen Ordnung) Bd. 3, 2. Aufl. (2002), S. 232. 84  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 108. 85  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 108. 86  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 108. 87  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 108. 88  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 103.



II. Hayreddin Karaman333

schauungen zu fördern.89 Karaman erkennt an, dass es das demokratische Recht der Aleviten sei, nicht einer sunnitischen Indoktrination ausgesetzt zu werden.90 Gleichzeitig sei es aber für ein friedliches Zusammenleben zwingende Voraussetzung, Kenntnisse über das Sunnitentum zu haben.91 Ein Verstoß gegen die EMRK92 liege bei dieser Art von Religionskundeunterricht nicht vor.93 Zwar sei es nach Karaman richtig, dass die alevitische Glaubensrichtung im Religionskundeunterricht nicht ausreichend berücksichtigt wurde, dieses werde aber nunmehr geändert, sodass auch nichtsunnitische Glaubensrichtungen Unterrichtsgegenstand würden.94 Der Religionsunterricht, welcher es den unterschiedlichen Religionsgemeinschaften und Konfessionen erlaubt, die eigene Religion zu lehren, müsse in der Türkei nach westlichem Vorbild noch eingerichtet werden95 und der Staat müsse hierfür Raum und finanzielle Mittel zur Verfügung stellen.96 d) Kopftuchverbot Nach Karaman müssen sich Frauen nach islamischem Recht, mit Ausnahme von Händen, Gesicht und Füßen, verschleiern.97 Muslimische Frauen 89  s.  Karaman, Din dersinde Sünni olmayan mezhepler (Nicht-sunnitische Konfessionen im Religionsunterricht) v. 16.12.2010, in: Yeni Şafak.com.tr, im Internet unter: http: /  / yenisafak.com.tr / Yazarlar / ?i=25328&y=HayrettinKaraman (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 90  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 114. 91  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 114. 92  Karaman nennt keine konkrete Norm und spricht allgemein von der EMKR, meint aber wohl Art. 9 EMRK, so auch im Folgenden. 93  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 113. 94  s.  Karaman, Din dersinde Sünni olmayan mezhepler (Nicht-sunnitische Konfessionen im Religionsunterricht) v. 16.12.2010, in: Yeni Şafak.com.tr, im Internet unter: http: /  / yenisafak.com.tr / Yazarlar / ?i=25328&y=HayrettinKaraman (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012); ders.  Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer laizistischen Ordnung, Bd. 3, 2. Aufl. (2002), S. 232. 95  Vorbildlich erscheint Karaman der islamische Religionsunterricht in Deutschland, s. Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 116. 96  s.  Karaman, Din dersinde Sünni olmayan mezhepler (Nicht-sunnitische Konfessionen im Religionsunterricht) v. 16.12.2010, in: Yeni Şafak.com.tr, im Internet unter: http: /  / yenisafak.com.tr / Yazarlar / ?i=25328&y=HayrettinKaraman (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012); Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 107, 108. 97  Karaman verweist auf Koran, Sure 24, Vers 30–31, s. Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer laizistischen Ordnung), Bd. 2,

334

E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

hätten bereits nach Verkündung der Verse über die Bedeckung der Frau in Sure 24 ein Kopftuch getragen.98 Seither habe kein Gelehrter dieses Gebot in Zweifel gezogen.99 Lediglich in den letzten Jahrzehnten habe der Orientalismus, Kolonialismus sowie die kulturelle Invasion manche Muslime verwirrt und diese dazu verleitet, ihre eigenen universellen Werte anzuzweifeln.100 Um die eigenen Werte diesem Druck anzupassen, versuchten sie nun, über nicht zulässige Verfahren und in abwegiger Weise, Rechtsfortbildung zu betreiben (ictihad) und das Kopftuchgebot mit aller Gewalt wegzudeuten.101 Karaman ist Kritiker des türkischen Kopftuchverbotes im öffentlichen Raum und dessen Geltung insbesondere für Studentinnen.102 Er sieht in dem Kopftuchverbot einen Verstoß gegen die EMRK, da die Türkei verpflichtet sei, für Studentinnen mit Kopftuch Möglichkeiten zu schaffen, damit auch diese von ihrem Recht auf Bildung Gebrauch machen können.103 Andernfalls liege in dem Verbot ein Verstoß gegen die EMRK, nämlich der Religionsfreiheit und dem Recht auf Bildung, vor.104 Die ablehnende Entscheidung des EGMR in der Rechtssache Leyla Şahin . / . Türkei führt Karaman darauf zurück, dass die Situation in der Türkei dem Gericht nicht ausreichend geschildert wurde und dass das türkische Mitglied des Gerichtshofs befangen gewesen sei.105 Es dürfe keinen Zwang (negativ 5. Aufl. (2006), S. 30; nach Karaman ist eine Verneinung des koranischen Kopftuchgebotes der Versuch, die Muslime zu verwirren und die Regelung den eigenen Wünschen unterzuordnen, ebda; Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 153. 98  s.  Karaman, Hayatımızdaki Islam (Der Islam in unserem Leben), Bd. 1, 4. Aufl. (2006), S. 91. 99  s.  Karaman, Hayatımızdaki Islam (Der Islam in unserem Leben), Bd. 1, 4. Aufl. (2006), S. 91. 100  s.  Karaman, Hayatımızdaki Islam (Der Islam in unserem Leben), Bd. 1, 4. Aufl. (2006), S. 91. 101  s.  Karaman, Hayatımızdaki Islam (Der Islam in unserem Leben), Bd. 1, 4. Aufl. (2006), S. 91, 92; so kritisiert Karaman in einem Artikel Hüseyin Atay (Ankaraner Schule), der eine Erneuerung des Islams und eine Abkehr vom MedressenIslam gefordert haben soll, und wirft ihm vor, er setze den Verstand vor die Offenbarung und begehe damit einen methodologischen Fehler, s. Karaman, Laik Düzende Dini Yaşamak (Die Religion leben in einer laizistischen Ordnung), Bd. 2, 5. Aufl. (2006), S. 285–288. 102  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 23, 174 ff. 103  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 23, 24. 104  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 181. 105  s.  Karaman, Türkiye ve Islam Dünyasında Gündem (Die Tagesordnung in der Türkei und in der islamischen Welt), 2009, S. 23.



II. Hayreddin Karaman335

wie positiv) im Hinblick auf das islamische Kopftuch geben.106 Zu den islamischen Rechtsfortbildungen, wonach ein Kopftuch im Islam nicht zwingend vorgeschrieben sei, erklärt er, dass dies zwar vertreten werden könne.107 Gleichwohl könne man, theologisch betrachtet, andere nicht dazu zwingen, nach dieser Rechtsfortbildung zu leben, sofern es nicht ihrem Glauben entspricht.108 Andererseits verstoße das Kopftuchverbot gegen das Recht auf Religionsfreiheit und gegen das Laizismus-Prinzip.109 3. Zwischenergebnis Insgesamt lässt sich bei Karaman eine islamfreundliche Haltung erkennen. Karaman ist ein Kritiker des türkischen Laizismus. Für Ihn ist die Trennung von Staat und Religion nach westlichem Vorbild, in der religiöse Symbole im öffentlichen Raum erlaubt sind, Staat und Religion strukturell getrennt sind und an Schulen der Religionsunterricht durch die Religionsgemeinschaften selbst durchgeführt wird, die bessere Alternative zum türkischen Laizismus. Seine Forderungen entsprechen insoweit am ehesten dem Konzept des deutschen Kooperationsmodells. Sofern Karaman die These der Unvereinbarkeit von Islam und Laizismus vertritt, bezieht sie sich stets auf den türkischen Laizismus und nicht auf eine grundsätzliche Unvereinbarkeit mit der Trennung von Staat und Religion. Denn nach Karaman ist der Islam mit dem Laizismus vereinbar, soweit es Muslimen ermöglicht werde, den Vorschriften ihres Glaubens gerecht zu werden. Beim türkischen Laizismus sei dieses aber gerade nicht der Fall. Am Maßstab des deutschen Trennungsmodells, kann daher gesagt werde, dass die Forderung das Kopftuch im öffentlichen Raum zuzulassen nicht in Widerspruch zur Trennung von Staat und Religion stehen. Das deutsche Trennungsmodell erlaubt anders als der türkische Laizismus religiöse Symbole im öffentlichen Raum. Die These der Vereinbarkeit von Laizismus und Islam bedeutet für Karaman nicht, dass er das Konzept der Demokratie als der Weisheit letzter Schluss verstanden wissen will. Karaman bevorzugt einen auf islamischen Prinzipien ruhenden Staat, der es Muslimen optimal ermöglicht, ungestört 106  s.  Karaman, Laik zitären Ordnung), Bd. 3, 107  s.  Karaman, Laik zitären Ordnung), Bd. 3, 108  s.  Karaman, Laik zitären Ordnung), Bd. 3, 109  s.  Karaman, Laik zitären Ordnung), Bd. 3,

Düzende Dini Yaşamak (Die 2. Aufl. (2002), S. 92, 97. Düzende Dini Yaşamak (Die 2. Aufl. (2002), S. 170. Düzende Dini Yaşamak (Die 2. Aufl. (2002), S. 170. Düzende Dini Yaşamak (Die 2. Aufl. (2002), S. 170.

Religion leben in einer LaiReligion leben in einer LaiReligion leben in einer LaiReligion leben in einer Lai-

336

E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

durch alles Unislamische, ihr Leben religiös auszurichten. Zwar erkennt er eine Glaubensfreiheit für Nichtmuslime an. Ob diese auch eine Religionsfreiheit bedeutet, erscheint jedoch zweifelhaft. Denn für Karaman scheint es selbstverständlich, dass Nichtmuslime dort, wo Muslime in ihrer religiösen Lebensführung gestört würden, gewisse Einschränkungen hinzunehmen hätten. Die Einschränkung der Religionsfreiheit im öffentlichen Raum zur Aufrechterhaltung der „Allgemeinen Moral“ gilt nach Karaman auch für Muslime. Die Einführung eines pluralen Rechtssystems bedeutet für ihn die optimale Verwirklichung der Religionsfreiheit. In diesem System werde jeder nach seiner Religion behandelt und müsse sich nicht nach säkularem Recht richten. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR in der Rechtssache Refah Partisi . / . Türkei110 ist aber ein plurales Rechtssystem geeignet, Menschen aufgrund ihrer Religionszugehörigekeit zu diskriminieren, da in ihm die Trennung der Bevölkerung nach ihrer Religionszugehörigkeit immanent ist. So wurden etwa Nichtmuslime im Osmanischen Reich trotz oder gerade wegen des religiös begründeten pluralen Rechtssystems diskriminiert. Dieses und der Umgang mit Menschen ohne Religionszugehörigkeit bleibt bei Karaman unberücksichtigt. Berechtigt ist die Kritik Karamans dagegen am Präsidium für religiöse Angelegenheiten, die sich auf dessen strukturelle Verflechtung mit dem Staat und mit der damit einhergehenden Einmischung des Staates in die Religion bezieht. Am Maßstab des säkularen Staat wie er sich in Deutschland darstellt, darf sich der Staat nicht in die Angelegenheit der Religion einmischen. Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten tut dieses jedoch und ist überdies einzig für den sunnitisch-hanafitischen Islam zuständig und stellt insoweit auch ein Verstoß gegen die staatliche Neutralität dar. Vielmehr verlangt er eine Unabhängigkeit dieser Behörde. Die Forderung nach einer Ausweitung der Zuständigkeiten des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten auch auf andere Religionen neben dem Islam erfolgt durch Karaman nicht. Dies ist insoweit nachvollziehbar, als er die Entstaatlichung des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten fordert. Die islamfreundliche Argumentation Karamans tritt in Angelegenheit des obligatorischen Unterrichtsfachs „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ deutlich hervor, wenn er die Feststellung des EGMR, dass es sich bei diesem Fach um einen sunnitischen Religionsunterricht handelt,111 verschweigt. Vielmehr wird das Fach „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ bei ihm wie ein Religionskundeunterricht behandelt, der lediglich um das Alevitentum erweitert werden müsse. Die bloße Ergänzung des Lehrstoffs um den alevitischen 110  s. o.

D. VI. 3. b). Urteil des EGMR in der Rechtssache Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei s. o., Kapitel D., S. 188 ff. 111  Zum



III. Fethullah Gülen337

Glauben wird an dessen Eigenschaft als Religionsunterricht nichts ändern, sofern nicht der gesamte Unterrichtsstoff religionskundlich ausgerichtet wird.

III. Fethullah Gülen112 1. Person und Bedeutung Gülen gilt als einer der einflussreichsten türkisch-islamischen Denker der Gegenwartstürkei und wirkt über diese hinaus.113 Er hat schätzungsweise acht bis zehn Millionen Anhänger weltweit und ist Namensgeber der glo­ balen Gülen-Bewegung.114 Internationale Beachtung erhielt er 1998 bei sei112  Im Folgenden Gülen; eine Auswahl an aktuellerer deutsch- sowie englischsprachiger Presse zu Gülen und seine Bewegung: Spiewak, Die Streber Allahs v. 25.02.2010, in: Zeit Online, im Internet unter: http: /  / www.zeit.de / 2010 / 08 / DeutschTuerkische-Privatschulen?page=all&print=true (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012); Wiedemann, Republik contra Religion v. 06.09.2006, in: Zeit Online, im Internet unter: http: /  / www.zeit.de / 2006 / 33 / Tuerkei?page=all&print=true (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012); Lerch, Prediger, Dichter, Seelenführer v. 09.08.2010, in: F.A.Z.net, im Internet unter: http: /  / www.faz.net / artikel / C30525 / prediger-dichter-seelenfuehrer-30296736.html (zuletzt aufgerufen am 15.04.20012); Müller, Die Macht der „Fethullaci“ v. 01.07.2008, in: Süddeutsche.de, im Internet unter: http: /  / www.sued deutsche.de / kultur / ranking-der-wichtigsten-intellektuellen-die-macht-der-fethullaci1.212808 (zuletzt aufgerufen am105.04.2012); Bax, Ein Prediger der weint v. 10.07.2008, in: taz.de, im Internet unter: http: /  / www.taz.de / 1 / archiv / digitaz / artikel /  ?ressort=tz&dig=2008 / 07 / 10 / a0135&cHash=41239a927f (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012); Knowlton, Turks Who Leads a Movement has Advocates and Critics v. 11.06.2010, in: The New York Times, im Internet unter: http: /  / www.nytimes.com /  2010 / 06 / 12 / us / 12iht-gulen.html?_r=1&sq=fethullah&st=cse&scp=1&pagewa (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012); Turgut, Muslim Missionary: The Preacher and His Teachers v. 26.04.2010, in: Time, im Internet unter: http: /  / www.time.com / time / print out / 0,8816,1969290,00.htm (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012); Eine weitere Zusammenstellung englischsprachiger Literatur findet sich bei Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 3. 113  s.  Abu Rabi‘, Editor’s Introduction, in: Sevindi, Contemporary Islamic Conversations, 2008, S. vii; Agai, Fethullah Gülen, Die größte türkisch-islamische Bildungsbewegung, in: Amirpur / Amman (Hrsg.), Der Islam am Wendepunkt, 2006, S. 55 (55); Howe, Turkey Today, 2000, S. 37; Hermann, Fethullah Gülen-eine muslimische Alternative zur Refah-Partei?, in: Orient, 1996, Heft 4, S. 619 (619); ­Hermann, Die drei Visionen des politischen Islam in der Türkei, in: Orient, 1996, Heft 1, S. 35 (37); Kamrava, Introduction: Reformist Islam in Comparative Perspective, in: Mehran Kamrava (Hrsg.), The New Voices of Islam, 2006, Kapitel 1, S. 1 (2), Hermann, Wohin geht die türkische Gesellschaft, 2008, S. 170. 114  Seine Anhänger werden auch Nurcu genannt, da Gülen auf die Bewegung von „Bediuzzaman“ (Einzigartiger der Zeit) Said Nursi (islamischer Gelehrter, 1879–1960) zurückgreift. Wobei sich die Nurcu-Bewegung nach dem Tod des Namensgebers Said Nursi stark pluralisierte. Dabei stellt die Gülen-Bewegung nur eine

338

E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

nem Papstbesuch.115 Inspiriert durch ihn gibt es hunderte von Schulen in mehr als hundert Ländern, so auch in Deutschland116, sechs private Hospitäler, eine der größten Zeitungen der Türkei Zaman117 (Zeit), die größte islamische Bank der Türkei Asya Bank, den türkischsprachigen Fernsehsender Samanyolu118 (Milchstraße), die Hilfsorganisation Kimse Yok mu? (Ist da jemand?), die jährlich 16 Millionen Dollar sammelt, die Gazeteci ve Yazarlar Vakfı119 (Journalisten und Autoren Stiftung) sowie die Fatih Üniversitesi.120 Strömung von vielen dar, dazu s. Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S.  65, 130 ff.; Yavuz, Islam in Public Sphere, in: Yavuz / Esposito (Hrsg.), Turkish Islam and the Secular State, 2003, Kapitel 1, S. 15; Ucar, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft, 2005, S. 208; Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 65; die von Nichtanhängern verwendete Gruppenbezeichnung „Fethullahci“ (Fethullahist) zeige die Bedeutung Gülens, da diese seinen Name als elementaren Bestandteil der Gruppenbezeichnung sehen, s. Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 18; Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 4. 115  Zum Fastenmonat erhielt Gülen eine Botschaft von Johannes Paul II., den er in der Folge in Rom besuchte. Neben Johannes Paul II. traf Gülen in Istanbul den geistlichen Führer der sephardischen Juden, den Oberrabbiner Eliyahu Bakshi Doron und den Ökumenischen Patriachen Bartholomäus, das Oberhaupt der orthodoxen Christen, s. Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 161; Hermann, Wohin geht die türkische Gesellschaft, 2008, S. 171. 116  Eine ausführliche Besprechung des gülenschen Bildungsnetzwerks findet sich bei Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, EB-Verlag. 117  Die Zeitung Zaman kam erstmals 1986 auf den Markt und wurde ab 1988 zum Sprachrohr für die Anhänger Gülens; daneben erscheinen zahlreiche Zeitschriften wie Sızıntı, Aksiyon, Yeni Ümit und den Radio Sender Burc FM s. Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 168 ff. 118  Der Fernsehsender wurde 1993 gegründet und lehnt sich in der Programmatik an die Lehren von Said Nursi, s. Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S, 170 ff. 119  Die Stiftung wurde 1994 mit Gülen als Ehrenvorsitzendem gegründet und organisiert zahlreiche Aktivitäten im kulturellen und gesellschaftlichen Bereich. Dabei versucht die Stiftung Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und religiösen Kreisen zusammenzubringen, wie das Oberhaupt der Katholiken von Istanbul Lui Pelatre, den griechisch-orthodoxen Patriarchen von Fener Bartholomeus, den 2001 ermordeten jüdischen Geschäftsmann Üzeyir Garih u. a. Eine der bis heute bedeutendsten Organisationen ist die jährlich in Abant stattfindende Konferenz (Abant-Plattform), auf der Intellektuelle aus unterschiedlichen politischen Lagern über aktuelle politische Themen der Türkei diskutieren, s. Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 172, 173. 120  s.  Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 83 ff.; Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 167–178. Zur Frage, ob diese nur von Gülen inspiriert oder doch von ihm organisiert seien s. Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 18 ff.; Gülen: „Ich habe zu ihnen weder eine organisatorische noch materielle Verbindung. An weltlichen Gütern besitze ich außer dem Anzug und der Wäsche, die ich trage, nichts. Die Bücher, die ich seit meiner Jugend gekauft habe, habe ich gestiftet. Früher nannte ich außer Büchern keinen Besitz mein Eigen. Jetzt gehören sogar die Bücher nicht einmal mehr mir, und ich habe vor, bis ans Ende meines



III. Fethullah Gülen339

In seinen Lehren vereint er Religion und Wissenschaft sowie Tradition und Moderne.121 Von einigen wird er als toleranter Modernist verstanden, als Schöpfer eines moderaten Islams, der sich für die Einführung einer zeitgemäßen, sich ständig erneuernden und im Leben stehenden Religionspraxis bemüht und ist eine Art Hauptfigur des „islamischen Protestantismus“.122 Andere sehen ihn als einen Reaktionär der seine wahren Absichten hinter schönen Worten verschleiere.123 Seine wahren Absichten seien rückwärtsgewandt und er strebe vielmehr die Errichtung eines islamischen Staates an.124 Darüber hinaus sei er ein Agent der USA, betreibe eine Art Gehirnwäsche und sei ein Menschenfänger der Armen und Ungebildeten. Die Gülen-Bewegung sei eine Sekte, autoritär, intransparent, rückschrittlich sowie gewaltbereit.125 Gülen wurde 1941126 in dem ostanatolischen Dorf Korucuk bei Erzurum geboren.127 Mit fünf Jahren soll er den Koran beherrscht haben und im Alter Daseins so zu leben.“, Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 157; Hermann, Wohin geht die türkische Gesellschaft, 2008, S. 173, 174. 121  s.  Yavuz, The Gülen Movement, in: Yavuz  / Esposito (Hrsg.), Turkish Islam and the Secular State, 2003, Kapitel 2, S. 19 (20). 122  s.  Ucar, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft, 2005, S. 201; Ebaugh fragt „Is he a Gandhi?“ oder ein „Khomeini?“, s. ders., The Gülen Movement, 2010, S. 5, 6; für Esposito ist er ein Dalai Lama, zitiert nach Knowlton, Turk Who Leads a Movement Has Advocates and Critics v. 11.06.2010, in: The New York Times im Internet unter: http: /  / www.nytimes.com / 2010 / 06 / 12 / us / 12ihtgulen.html?_r=1&sq=fethullah&st=cse&scp=1&pagewa …, (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 123  Eine Zusammenstellung der kritischen Stimmen finden sich bei:Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 115 ff.; Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 18, 19; Ucar, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft, 2005, S. 201; tendenziell skeptisch auch Spuler-Stegemann, Die Türkei, in: Ende / Steinbach (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart, 5. Aufl. (2005), S. 236, 237. 124  s.  Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 115 ff. 125  Ebaugh setzt sich mit den Vorwürfen gegen Gülen und die Gülen-Bewegung auseinander und kommt dabei zu einem gegenteiligen Ergebnis, s. Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 115 ff. 126  In Presse und Literatur gibt es unterschiedliche Angaben zum Geburtsjahr: Die F.A.Z. nennt 1941 oder 1938 als Geburtsjahr, s. Lerch, Wolfgang Günter; Prediger, Dichter, Seelenführer v. 09.08.2010, in: F.A.Z.net, im Internet unter: http: /  / www.faz. net / artikel / C30525 / prediger-dichter-seelenfuehrer-30296736.html (zuletzt aufgerufen am 15.04.20012); Ebenso Müller, Die Macht der „Fethullaci“ v. 01.07.2008, in: Süddeutsche.de, im Internet abrufbar unter: http: /  / www.sueddeutsche.de / kultur / rankingder-wichtigsten-intellektuellen-die-macht-der-fethullaci-1.212808 (zuletzt aufgerufen am 15.04.20012); Dagegen 1938 bei: Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 12; Yavuz, The Gülen Movement, in: Yavuz / Esposito (Hrsg.), Turkish Islam and the Secular State, 2003, Kapitel 2, S. 19 (20); Balcı, Fethullah Gülen Okulları (Die Schulen Fethullah Gülens), 2005, S. 130; Ünal / Willams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 1;

340

E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

von 14 Jahren begonnen haben, erstmals zu predigen.128 Die Grundschule besuchte er drei Jahre.129 Als sein Vater, ein Imam und Gelehrter, an eine Moschee in eine Stadt abgeordnet wurde, in der es keine Oberstufe gab, erhielt er seine Erziehung privat, vornehmlich durch seine Eltern und Großeltern.130 Von seinem Vater erlernte er die Grundlagen des Islams und Arabisch sowie Persisch.131 Von seiner Mutter lernte er den Koran.132 Daneben befasste er sich mit den modernen Wissenschaften, der Philosophie, Literatur und Geschichte.133 Mit den Schriften von Said Nursi134, den Risale-i Nur (Sendschreiben an das Licht135, the epistles of light136), macht er ab den 50er Jah127

Hermann, Fethullah Gülen Gülen – eine muslimische Alternative zur Refah-Partei?, in: Orient, 1996, Heft 40, S. 619 (619, 621); Gülen, A Comparative Approach to Islam and Democracy, in: Mehran Kamrava (Hrsg.), The New Voices of Islam, 2006, S. 99 (99); Mertek, Wanderungen zum Horizont mit Fethullah Gülen, 1998, S. 13. 127  s. Gülen, Aufsätze – Perspektiven – Meinungen, 2004, S. 5; Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S, 2; Ucar, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft, 2005, S. 201; Sevindi, Contemporary Islamic Conversations, 2008, S. 15. 128  s.  Knowlton, Turk Who Leads a Movement Has Advocates and Critics, v. 11.06.2010, in: The New York Times im Internet abrufbar unter: http: /  / www.ny times.com / 2010 / 06 / 12 / us / 12iht-gulen.html?_r=1&sq=fethullah&st=cse&scp=1&pag ewa … (zuletzt aufgerufen am 12.04.2012); Balci gibt in diesem Zusammenhang das Jahr 1953 als Beginn der Predigerkarriere Gülens an, s. ders., Fethullah Gülen Okulları (Die Schulen Fethullah Gülens), 2005, S. 135; Hermann eher skeptisch gegenüber der von Gülen autorisierten Biografie Küçük Dünyam (Mein kleine Welt), s.  ders., Fethullah Gülen – eine muslimische Alternative zur Refah-Partei?, in: ­Orient, 1999, Heft 4, S. 619 (620). 129  s.  Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 23; bei Hermann zwei Jahre, s.  ders., Fethullah Gülen – eine muslimische Alternative zur Refah-Partei?, in: ­Orient, 1996, Heft 4, S. 619 (623). 130  s.  Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 23, 26; Balcı, Fethullah Gülen Okulları (Die Schulen Fethullah Gülens), 2005, S. 133. 131  s.  Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 24; Ünal / Williamsen, Advocate of Dialogue, 2000, S. 11. 132  s.  Balcı, Fethullah Gülen Okulları (Die Schulen Fethullah Gülens), 2005, S. 133; Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 24. 133  Neben anderen befasste er sich mit den Werken von Camus, Sartre, Rousseau, Dostojewski, Pushkin, Darwin, und Tolstoi, s. Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 25; Gülen, Aufsätze – Perspektiven – Meinungen, 2004, S. 5; Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 16 28. 134  Zum Leben, den Werken und das Wirken Said Nursi’ s.  Yavuz, Islam in the Public Sphere, in: Yavuz / Esposito (Hrsg.), Turkish Islam and the Secular State, 2003, Kapitel 1, S. 3; Vahide, Bediuzzaman Said Nursi’s Approach to Religious Renewal and its Impact on Aspects of Contemporary Turkish Society, in: Abu-Rabi’ (Hrsg.), Contemporary Islamic Thought, 2006, S. 55–74. 135  Übersetzung von Hermann, in: ders., Die drei Versionen des politischen Islam in der Türkei, in: Orient, 1996, Heft 1, S. 35 (38). 136  Übersetzung von Yavuz, in: ders., Islam in the Public Sphere, in: Yavuz  /  Esposito (Hrsg.), Turkish Islam and the Secular State, 2003, Kapitel 1, S. 3.



III. Fethullah Gülen341

ren nach dem Beginn der politischen Liberalisierungsprozesse Bekanntschaft.137 Im Jahre 1959 bestand er die staatliche Prüfung und durfte als Imam in Moscheen predigen.138 In den 60er, 70er und 80er Jahren predigte er in der gesamten Türkei und gewann eine weite Anhängerschaft.139 1980 kündigte er seine Stellung als staatlicher Prediger, um „frei“ predigen zu können.140 Nach eigenen Angaben wurde Gülen 1986 verhaftet und auf Anweisung des damaligen Premierministers Turgut Özal141 freigelassen.142 „In den 90er Jahren wurde er, angesichts eines wachsenden Einflusses islamistischer Tendenzen in der politischen Landschaft der Türkei, vor allem durch die bürgerlich-konservativen Parteien zu einem „Vorzeigemuslim“ stilisiert, der eine Synthese zwischen islamischen Werten und der vom Kemalismus vorgegebenen Trennung von Islam und Politik anbot.“143 „Im Jahr 1999 schließlich wurde er selbst zum Opfer einer staatlichen Kampagne, die ihn als islamistische Gefahr titulierte.“144 Im Jahr 2000 wurde ihm vom Staatsanwalt Nuh 137  s.  Balcı, Fethullah Gülen Okulları (Die Schulen Fethullah Gülens), 2005, S. 134; Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 25. 138  s.  Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 26; Gülen, Aufsätze – Perspektiven – Meinungen, 2004, S. 5. 139  Die wohl bedeutendste Station Gülens war seine Zeit als Imam und Lehrer an der Moschee in Izmir, Kestanepazarı, s. Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 137, 138; Yavuz, The Gülen Movement, in: Yavuz / Esposito (Hrsg.), Turkish Islam and the Secular State, 2003, S. 19 (31). 140  Nach dem zweiten Militärputsch 1970 wurde Gülen inhaftiert und nach sechs Monaten freigelassen. Nach dem dritten Militärputsch 1980 wurde Gülen mit Haftbefehl gesucht. Zu einer Vollstreckung kam es nicht, nach offiziellen Angaben, weil er nicht auffindbar gewesen sei. In beiden Fällen wurde ihm vorgeworfen, er betreibe religiöse Propaganda. Agai beschreibt dabei Gülen als vom Staat geförderten und verfolgten zugleich, da der Staat neben der Entislamisierung der Politik zugleich die Etablierung der TIS (Türk Islam Sentezi / Türkisch Islamischen Synthese) anstrebte. Diese Doppelsituation zeige, dass die TIS zwar von Kreisen im Sicherheitsapparat propagiert wurde, aber keineswegs auf allen Ebenen des Staates etabliert sei. TIS ist dabei der Versuch des Staates, durch die Integration religiöser Komponenten einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen und Antipode zum Kommunismus zu schaffen. Hierzu und zur Bedeutung der TIS s. Çınar / Kadıoğlu, An Islamic critique of modernity in Turkey, in: Orient, 1999, Heft 1, S. 53 (53); Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 87 ff. 143 ff., 153 ff.; Balcı, Fethullah Gülen Okulları (Die Schulen Fethullah Gülens), 2005, S. 136–138; Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 28; Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 21. 141  Turgut Özal war von 1983 bis 1989 Ministerpräsident und von 1989 bis 1993 Präsident der Türkei. 142  s.  Sevindi, Contemporary Islamic Conversations, 2008, S. 49; Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 155. 143  Agai, Ein moderner türkisch-islamischer Reformdenker? v. 30.12.2004, in: Qantara.de, im Internet unter: http: /  / de.qantara.de / wcsite.php?wc_c=3257 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 144  Agai, Ein moderner türkisch-islamischer Reformdenker? v. 30.12.2004, in: Qantara.de, im Internet unter: http: /  / de.qantara.de / wcsite.php?wc_c=3257 (zuletzt

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

Mete Yüksel am Staatssicherheitsgericht vorgeworfen, Gülen organisiere eine Bewegung zur Abschaffung der säkularen Staatsordnung, um eine Theokratie zu errichten.145 1999 ging er in die USA und lebt seither dort von der Öffentlichkeit zurückgezogen.146 Der Prozess kam 2003 ohne Freispruch und Verurteilung zu einem vorläufigen Abschluss, in dem vorbehalten wurde, das Verfahren innerhalb einer Frist von sechs Jahren weiterzuführen, sofern neue Erkenntnisse vorliegen.147 Im Jahr 2006 wurden die Anschuldigungen gegen Gülen fallen gelassen.148 2. Auffassungen zum Verhältnis von Staat und Religion a) Einführung Die Wissenschaftler, die sich mit Gülen und der Gülen-Bewegung befassen, tun dies mehrheitlich, um das Verhältnis zum Laizismus (Laiklik) zu analysieren.149 Grundhaltung und gewissermaßen Kern von Gülens Überzeugung sei seine positive Positionierung zu Toleranz und interreligiösem Dialog, die Förderung säkularer Bildung, die Vereinbarkeit des säkularen Staates und der Moderne mit dem Islam.150 Für Gülen gebe es einen Islam, der sich auf den Koran und die Sunna stützt, gleichzeitig anerkenne er aber aufgerufen am 15.04.2012); Es wurden im Fernsehen Tonbandaufnahmen von Gülen aus den 80er Jahren abgespielt, die Gülen als „geheimen Islamisten“ enttarnen sollten, s. Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 162; Ucar, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft, 2005, S. 205. 145  s.  Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 5; Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 165. 146  Gülen gibt an, wegen einer medizinischen Behandlung in die USA gereist zu sein, s. Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 162; Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 2. 147  s.  Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 165. 148  s.  Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 5, m. w. N.; Agai, Ein moderner türkisch-islamischer Reformdenker? v. 30.12.2004, in: Qantara.de, im Internet unter: http: /  / de.qantara.de / wcsite.php?wc_c=3257 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 149  s.  Balcı, Fethullah Gülen Okulları (Fethullah Gülens Schulen), 2005, S. 149; Balic verwendet den türk. Begriff Laiklik, der sich mit Laizismus übersetzt. 150  s.  Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 33  ff.; Balcı, Fethullah Gülen Okulları (Die Schulen Fethullah Gülens), 2005, S. 138; in Teilen eine eher skeptische Einschätzung von Ucar, s. ders., Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft, 2005, S. 201, 202; in Teilen skeptisch wohl auch Agai, wenn er schreibt: „Ein Merkmal des „Gülen-Diskurses“ ist die Mehrdeutigkeit seiner Aussagen, die unterschiedliche „Verpackung“ seiner Ideen je nach Adressat.“, ders., Ein moderner türkisch-islamischer Reformdenker? v. 30.12.2004, in: Qantara.de, im ­Internet unter: http: /  / de.qantara.de / wcsite.php?wc_c=3257 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012).



III. Fethullah Gülen343

die unterschiedlichen historischen, kulturellen und sozialen Interpretationen des Islams in der modernen Welt.151 Er vertrete einen fortschrittlichen Islam, der Muslime in die Lage versetzt, sich an Wissenschaft und Bildung zu beteiligen.152 Er strebe nicht die Errichtung eines islamischen Staates an und lehre seinen Anhängern, sich nicht in Politik zu verstricken.153 Er sei dagegen, den Islam gänzlich aus dem öffentlichen Raum zu verweisen und nur dem privaten Bereich zuzuordnen.154 In den gegenwärtigen islamischen Gesellschaften vertrete Gülen eine Trennung von Religion und Politik.155 Seiner Ansicht nach schade die Dominanz der Religion im Staat dem Islam und der Islam müsse von der staatlichen Kontrolle befreit werden.156 Die Gülen-Bewegung sei eine der ersten gesellschaftlichen Gruppen gewesen, welche die Legitimität des säkularen Staats anerkannten und gleichzeitig religiöse Freiheiten forderten.157 b) Vereinbarkeit des Islams mit dem Laizismus und der Demokratie aa) Vereinbarkeit des Islams mit der Demokratie Für Gülen ist der Islam kein politisches Projekt, das umgesetzt werden müsste, sondern eine Quelle des Wissens und er diene der Entwicklung einer gerechten und moralischen Gesellschaft.158 Der Islam sei keine politische Ideologie.159 Er habe mit der Theokratie nichts zu tun.160 Es handele sich bei der Theokratie in gewisser Hinsicht um eine Herrschaftsform, welche von den Interpretationen der Kirchenväter hervorgebracht sei.161 Im Islam existiere weder eine klerikale Hierarchie noch überhaupt ein klerikales System.162 Die Herrschaft des Volkes steht nach Gülen 151  s.  Ebaugh,

The Gülen Movement, 2010, S. 33. The Gülen Movement, 2010, S. 33. 153  s.  Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 41. 154  s.  Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 41. 155  s.  Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 41. 156  s.  Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 41. 157  s.  Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 41. 158  s.  Ebaugh, The Gülen Movement, 2010, S. 42. 159  s.  Gülen, Aufsätze – Perspektiven – Meinungen, 2004, S. 15; Sevindi, Contemporary Islamic Conversations, 2008, S. 63. 160  s.  Gülen, Aufsätze – Perspektiven – Meinungen, 2004, S. 109; Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 65. 161  s.  Gülen, Aufsätze – Perspektiven – Meinungen, 2004, S. 109; Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 65. 162  s.  Gülen, Aufsätze – Perspektiven – Meinungen, 2004, S. 109; Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 65. 152  s.  Ebaugh,

344

E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

auch nicht als Alternative zur Herrschaft Gottes.163 Vielmehr will er die Herrschaft des Volkes als Alternative zur Monarchie verstanden wissen.164 Der Islam gebe keine bestimmte Regierungsform vor.165 Er gebe lediglich Grundprinzipien vor, die dem Staatsgebilde einen gewissen Spielraum lasse.166 Innerhalb dieser Grundprinzipien könnten die Staatsstruktur und die Regierungsform variiert werden.167 Der Vergleich mit der Demokratie müsse sich daher auf den Vergleich mit den Grundprinzipien des Islams beschränken.168 Zuvörderst nennt Gülen das Prinzip der Gleichheit.169 Der Islam kenne keine Diskriminierung.170 Alle Menschen seien hinsichtlich ihres Menschseins und vor dem Gesetz gleich „wie die Kammzacken“.171 Dem Islam zufolge seien Macht und die Abstammung von einer bestimmten Familie oder eine frühere Geburt nicht mit dem Anspruch verknüpft, über andere gebieten zu dürfen.172 Im Islam habe das Recht absolute Priorität und Gerechtigkeit und Gesetz seien grundlegend.173 Jedes Individuum habe unveräußerliche Rechte (u.  a. Glaube und Glaubensfreiheit, Vernunft, d.  h. ein Recht auf eine gesunde Seele und einen gesunden Geist, Leben, Eigentum, Familie), welche unter besonderem Schutz stünden.174 Der Islam betrachte den Menschen als Motor der Geschichte, in dem der Mensch durch seinen freien Willen die Welt beeinflussen kann.175 Dieses Menschenbild, also der Mensch, der durch seinen freien Willen seine eigene Zukunft und die Gesellschaft gestalten kann, begründe die Übertragung der Regierungsverantwortung auf das Volk.176 So wende sich Gott zur Vermittlung seiner Prinzipien an das ganze Volk: „O ihr Menschen, o ihr, die glaubt!“177 Auf Basis dieser islamischen Prinzipien kommt Gülen zu dem Urteil, dass zwar die Prinzipien nicht identisch 163  s.  Gündem,

S. 93.

Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005,

164  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 S. 93, 94. 165  s.  Gülen, Aufsätze – Perspektiven 166  s.  Gülen, Aufsätze – Perspektiven 167  s.  Gülen, Aufsätze – Perspektiven 168  s.  Gülen, Aufsätze – Perspektiven 169  s.  Gülen, Aufsätze – Perspektiven 170  s.  Gülen, Aufsätze – Perspektiven 171  s.  Gülen, Aufsätze – Perspektiven 172  s.  Gülen, Aufsätze – Perspektiven 173  s.  Gülen, Aufsätze – Perspektiven 174  s.  Gülen, Aufsätze – Perspektiven 175  s.  Gülen, Aufsätze – Perspektiven 176  s.  Gülen, Aufsätze – Perspektiven 177  s.  Gülen, Aufsätze – Perspektiven

Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, – – – – – – – – – – – – –

Meinungen, Meinungen, Meinungen, Meinungen, Meinungen, Meinungen, Meinungen, Meinungen, Meinungen, Meinungen, Meinungen, Meinungen, Meinungen,

2004, 2004, 2004, 2004, 2004, 2004, 2004, 2004, 2004, 2004, 2004, 2004, 2004,

S. 19, 93. S. 19, 93. S. 19. S. 19. S. 20. S. 20. S. 20. S. 20. S. 20. S. 20. S. 21. S. 21. S. 21.



III. Fethullah Gülen345

seien, wohl aber doch zum gleichen Ziel führen, mithin also zur Selbstherrschaft des Volkes.178 „Democracy and Islam are compatible. Ninety-five percent of Islamic rules deal with private life and the family. Only five percent deals with matters of the state, and this could be arranged only within the context of democracy. If some people are thinking something else, such as an Islamic state, this country’s history and social conditions do not allow it … Democratization is an irreversible process in Turkey.“179 „The main aim of Islam and its unchangeable dimensions affect its rules governing the changeable aspects of our lives. Islam does not propose a certain unchangeable form of government or attempt to shape it. Instead, Islam establishes fundamental principles that orient a government’s general character, leaving it to the people to chose the type and form of government according to time and circumstances.“180

Für Gülen haben die Muslime dringend das Lernen des Islams nötig.181 So müssten sie lernen, dass es keinen Zwang in der Religion gebe, dass das soziale und politische Leben von Muslimen davon abhänge, ob sie sich im Recht oder Unrecht befinden und davon, wie hoch der Grad ihrer Aufrichtigkeit beim Verstehen und Praktizieren des Islams ist.182 Dies ergebe sich aus dem Koran, wonach gilt: „… Fürwahr, Allah ändert nicht die Lage eines Volkes, ehe es sie nicht selbst ändert …“ und nach dem Ausspruch Mohammeds „Ihr werdet entsprechend, wie ihr (im Glauben, Verständnis, Verhalten, usw.) seid, geleitet.“183 Hierin sei die Essenz der Demokratie begründet.184 Der Islam erlaube keine Theokratie, da es dem Islam zufolge keine Vermittlerklasse, mithin im sunnitischen Islam keinen formalen Klerus zwischen Gott und den Menschen gebe.185 Es gebe Christdemokraten, Sozialdemokraten, Freidemokraten, warum solle es also nicht eine Demokratie geben, die ihre Öffnung aus dem Islam zieht, die Platz für islamische Gefühle und Gedanken gibt.186 Wenn es eine humane Demokratie geben soll, 178  s.  Gülen,

Aufsätze – Perspektiven – Meinungen, 2004, S. 21. zitiert nach Yavuz, The Gülen Movement, in: Yavuz / Esposito (Hrsg.), Turkish Islam and the secular state, The Gülen Movement, 2003, Kapitel 2, S. 19 (28). 180  Gülen zitiert nach Yavuz, The Gülen Movement, in: Yavuz / Esposito (Hrsg.), Turkish Islam and the secular state, The Gülen Movement, 2003, Kapitel 2, S. 19 (28). 181  s.  Mertek, Wanderungen zum Horizont mit Fethullah Gülen, 1998, S. 126. 182  s.  Mertek, Wanderungen zum Horizont mit Fethullah Gülen, 1998, S. 126. 183  s.  Mertek, Wanderungen zum Horizont mit Fethullah Gülen, 1998, S. 127. 184  s.  Mertek, Wanderungen zum Horizont mit Fethullah Gülen, 1998, S. 127. 185  s.  Mertek, Wanderungen zum Horizont mit Fethullah Gülen, 1998, S. 127. 186  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 102. 179  Gülen

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

müsse diese so gestaltet werden, dass auch den Bedürfnissen der Muslime nachgekommen wird.187 In einer entwickelten Demokratie müsse es sowohl säkularisierten als auch gläubigen Menschen ermöglicht werden, den eigenen Vorstellungen entsprechend zu leben.188 Die Demokratie befindet sich insgesamt in einem Prozess, so auch die türkische Demokratie, aber auch die europäische.189 bb) Vereinbarkeit des Islams mit dem Laizismus Nach Gülen sind säkulare Staaten nach westlichem Vorbild und der Islam miteinander vereinbar.190 Sofern es bei einigen Muslimen Unbehagen in Bezug auf den Laizismus und demokratische Praktiken gebe, läge das daran, dass es keine etablierte Definition des Laizismus gebe.191 Diese Muslime hätten das Laizismus- und Demokratieverständis der in der Türkei regierenden Minderheit übernommen und diesen Laizismus als antiislamisch, reli­ gionsfeindlich und freiheitsfeindlich abgelehnt.192 Nach Ansicht Gülens ist dieses Unbehagen einiger Muslime in Bezug auf den Laizismus somit auf die konkrete Regierungsführung zurückzuführen und nicht auf die Bedeutung des Laizismus an sich.193 „Secularism“ dürfe nicht verstanden werden als ein „non-Muslim way of Life“.194 Nach Gülen habe die ungleiche Verteilung des Wohlstandes in der Türkei mit zum Anstieg von Extremismus oder Fundamentalismus beigetragen.195 Dieses zu verhindern und die Achtung demokratischer Rechte und Grundfreiheiten setze auch die Lösung wirtschaftlicher Probleme voraus.196 Jeder Mensch habe das Recht zu glauben und nach seinem Glauben zu leben.197 Dieses Recht sei zwar zur 187  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 102. 188  Gülen verweist hier auf die Kopenhagener Kriterien, s. Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 103. 189  Gülen verweist hier auf die Kopenhagener Kriterien, s. Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 103. 190  s.  Yilmaz, Ijtihad and Tajdid by Conduct, in: Yavuz / Esposito (Hrsg.), Turkish Islam and the Secular State, 2003, S. 208 (224). 191  s.  Mertek, Wanderungen zum Horizont mit Fethullah Gülen, 1998, S. 127. 192  s.  Mertek, Wanderungen zum Horizont mit Fethullah Gülen, 1998, S. 127, 128. 193  s.  Mertek, Wanderungen zum Horizont mit Fethullah Gülen, 1998, S. 128. 194  s.  Yilmaz, Ijtihad and Tajdid by Conduct, in: Yavuz / Esposito (Hrsg.), Turkish Islam and the Secular State, 2003, S. 208 (224). 195  s.  Mertek, Wanderungen zum Horizont mit Fethullah Gülen, 1998, S. 131. 196  s.  Mertek, Wanderungen zum Horizont mit Fethullah Gülen, 1998, S. 131. 197  s.  Sevindi, Contemporary Islamic Conversations, 2008, S. 47.



III. Fethullah Gülen347

Etablierung der Demokratie in der türkischen Geschichte eingeschränkt worden.198 Aber anders als noch vor Jahren sei das System der Demokratie in der heutigen Türkei angenommen und verinnerlicht worden.199 Die türkische Demokratie sei aber noch nicht vollendet.200 Dabei sei das größte Problem in der Türkei der Umgang mit der Freiheit.201 Es sei aber möglich, innerhalb eines demokratischen Verständnisses Lösungen zu finden.202 Zur Auffassung, der Islam umfasse alle Lebensbereiche und sei daher mit dem Laizismus nicht vereinbar, erklärt Gülen erstens, dass die Grundwahrheiten des Glaubens Priorität haben und diese nicht disponibel seien.203 Zweitens müsse es Muslimen ermöglicht werden, ihr Leben so zu gestalten, wie es der Koran und die Sunna nach ihrem Verständnis gebieten.204 Gülen fordert einen gemäßigten Laizismus, der nicht versucht, den Islam aus dem öffentlichen Raum auszuschließen.205 Gülen erkennt einen dogmatischen Kampf zwischen den Vertretern des Laizismus und denen des Islamismus.206 Muslime müssten Primäres, also Wesentliches (z. B. Gebete, Fasten, Almosen, Verbot der üblen Nachrede) vom Nachrangigen unterscheiden.207 Diese primären Verhaltensregeln könnten individuell und familiär gelebt werden.208 Es sei widersprüchlich, wenn Muslime primäre Gebote des Islams nicht einhalten, gleichzeitig aber den säkularen Staat wegen Unvereinbarkeit mit dem Islam ablehnten, weil sie angeblich ihren Glaubensregeln nicht nachkommen könnten.209 Muslime sollten daher zunächst ihr individuelles und familiäres Leben, die Erziehung ihrer Kinder, ihr Gedankenleben umfänglich nach dem Glauben richten.210 Solange Muslime Defizite in der 198  s.  Sevindi,

Contemporary Islamic Conversations, 2008, S. 47. Contemporary Islamic Conversations, 2008, S. 47. 200  s.  Sevindi, Contemporary Islamic Conversations, 2008, S. 47. 201  s.  Sevindi, Contemporary Islamic Conversations, 2008, S. 70. 202  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 100. 203  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 100. 204  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 100. 205  s.  Mertek, Wanderungen zum Horizont mit Fethullah Gülen, 1998, S. 77. 206  s.  Mertek, Wanderungen zum Horizont mit Fethullah Gülen, 1998, S. 78. 207  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 100, 101. 208  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 100, 101. 209  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 100, 101. 210  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 101. 199  s.  Sevindi,

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

eigenen Umsetzung des Glaubens haben (Große Sünden), sollten sie nicht in einen Streit mit anderen treten.211 Erst bei vollständiger Erfüllung eigener Glaubenspflichten könnten Muslime bei Gewissenskonflikten nach Lösungen gegen staatliche Verbote suchen.212 c) Toleranz und Menschenrechte Die Begriffe Toleranz und Dialog haben für Gülen eine herausragende Rolle. Für Gülen ist der Islam eine Religion der Sicherheit, des Schutzes und des Friedens.213 Der Islam sei eine Religion der Vergebung und Toleranz und nicht die des Terrors und des Fanatismus.214 Den Dschihad versteht Gülen als das Recht zur Selbstverteidigung zum Schutz der Grundrechte und der Religionsfreiheit.215 Dieses Recht, welches im Koran für bestimmte Situationen vorgesehen sei, werde von einigen unislamisch und unzulässig verallgemeinert.216 Toleranz ist für Gülen ein Gebot des Islams und ergebe sich aus Koran Sure 109, Vers 6: „Your religion is for you; my religion is for me.“217 Menschenrechte seien im Islam ausgewogen und so universell wie möglich gewährleistet.218 Beispielhaft nennt Gülen Koran Sure 5, Vers 32, wonach, wer immer eine Peron ungerecht tötet, sich so verhält, als hätte er die gesamte Menschheit getötet.219 Der Schutz der Religion (Religionsfreiheit), des Lebens, der Gedanken und des Eigentums seien islamische Gebote.220 Gülen sieht Verschiedenheit und Pluralismus als natürliche Tatsachen an.221 Er hebt dabei besonders die Bedeutung des „türkischen Islams“ hervor.222 Die Türken haben für Gülen im Laufe ihrer Geschichte zwar nicht die universellen Werte, so doch die interpretierbaren 211  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 101. 212  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 102. 213  s.  Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 193. 214  s.  Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 194. 215  s.  Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 194, 195. 216  s.  Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 194, 195, 196. 217  s.  Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 249. 218  s.  Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 133. 219  s.  Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 133. 220  s.  Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 134. 221  s.  Yilmaz, Ijtihad and Tajdid by Conduct, in: Yavuz / Esposito (Hrsg.), Turkish Islam and the Secular State, 2003, S. 208 (223). 222  s.  Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 56; Yilmaz, Ijtihad and Tajdid by Conduct, in: Yavuz / Esposito (Hrsg.), Turkish Islam and the Secular State, 2003, S. 208 (223).



III. Fethullah Gülen349

Details des Islams gut ausgelegt.223 Besondere Bedeutung misst Gülen dabei der Toleranz im Osmanischen Reich zu und hält diese für eine Grundlage für einen interreligiösen Dialog.224 d) Präsidium für religiöse Angelegenheiten Gülen lehnt es ab, Auseinandersetzungen zu bestimmten Themen über das Präsidium für religiöse Angelegenheiten öffentlich zu diskutieren.225 Es sei eine Pflicht, das Ansehen der Behörde zu schützen.226 Denn das Präsidium für religiöse Angelegenheiten repräsentiere auf eine Art das Ansehen der Religion.227 Obgleich er die Muslime bei religiösen Anfragen auf das Präsidium für religiöse Angelegenheiten verweist, erklärt er, dass das Präsidium für religiöse Angelegenheiten nicht die Autorität hat, verbindliche Regelungen für die Gesellschaft zu treffen.228 e) Religionsunterricht Damit Menschen ihren Glauben leben können, müsse der Staat schützend und dienend wirken.229 Gleichzeitig sei der Staat auf die unbesiegbare Kraft des Glaubens angewiesen, der Individuen anpasst (Kivam), die Familie und Gesellschaft ordnet, über das Gewissen die Herzen öffnet und auf diese Weise Böses verhindert.230 Mit einem guten Religionsunterricht kann der Staat diese Kraft für sich nutzen.231 Denn der Mensch sei nicht nur ein 223  s.  Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 56; Yilmaz, Ijtihad and Tajdid by Conduct, in: Yavuz / Esposito (Hrsg.), Turkish Islam and the Secular State, 2003, S. 208 (223). 224  s.  Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 56; „In our history, a synagogue, a church, and a mosque stood side by side in many places“, Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 69. 225  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 180. 226  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 180. 227  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 180. 228  s.  Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 65. 229  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 104. 230  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 104. 231  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 104, 105.

350

E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

säkulares Wesen, sondern habe auch eine Jenseitsbezogenheit (Uhrevi).232 Allein mit Gesetzen könne man Missständen, wie der Drogenproblematik und dem Terror, nicht erfolgreich begegnen.233 Wichtiger sei die Bildung.234 Die Einführung des obligatorischen Religionsunterrichts statt des freiwilligen, sei nützlich gewesen.235 f) Kopftuchverbot und Kopftuchzwang Gülens ist gegen ein Kopftuchverbot im öffentlichen Raum.236 Der Vorschlag, das Kopftuch ab dem 18ten Lebensjahr an Schulen zuzulassen, sei ein Schritt in die richtige Richtung,237 obgleich es im Islam nur das Gebot gebe, sich zu bedecken.238 Vorgaben hinsichtlich der Art und Weise der Bedeckung gebe es nicht.239 Ein Beharren auf einer bestimmen Art der Bedeckung würde, so Gülen, den Islam zu einem Verkleidungsglauben (Kostüm dini) machen.240 Der Islam schlage bei jeder Angelegenheit einen „Mittelweg“ ein und wahre ein vernünftiges Mittelmaß.241 Das Kopftuch sei weder eine Wesentlichkeit des Glaubens noch des Islams.242 Es sei 232  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 104, 105. 233  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 104, 105. 234  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 104. 235  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 104, 105. 236  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 178, 179. 237  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 178, 179. 238  s.  Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, s. 140; Gülen, Başörtüsü ve Türban (Kopftuch und Schleier) v. 16.11.2001, im Internet unter: http: /  / tr.fgulen. com / content / view / 2257 / 141 /  (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 239  Gülen, Başörtüsü ve Türban (Kopftuch und Schleier) v. 16.11.2001, im Internet unter: http: /  / tr.fgulen.com / content / view / 2257 / 141 /  (zuletzt aufgerufen am 15.04. 2012). 240  s.  Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 140. 241  s.  Mertek, Wanderungen zum Horizont mit Fethullah Gülen, 1998, S. 141; Kuru, Fethullah Gülen’s Search for a Middle Way between Modernity and Muslim Tradition, in: Yavuz / Esposito (Hrsg.), Turkish Islam and the secular State, 2003, S. 116–119. 242  s.  Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 62, 63, 140; Yavuz, The Gülen Movement, in: Yavuz / Esposito (Hrsg.), Turkish Islam and the Secular State 2003, Kapitel 2, S. 19 (29).



III. Fethullah Gülen351

keine Glaubensbedingung, sondern vielmehr ein Detail.243 Den Frauen den Glauben abzusprechen, weil sie kein Kopftuch tragen, widerspreche dem Geist des Glaubens und sei Übermaß und Zwang zugleich und führe sogar zum Hass.244 Die Frage, wie sich eine Person verhalten soll, die sich aufgrund des Kopftuchverbots zwischen Bildung und Kopftuch entscheiden muss, verknüpft Gülen mit der Frage, ob es sich bei dem Kopftuch um eine Glaubensangelegenheit ersten Ranges handelt und welche der beiden Alternativen für das Land und das Volk nützlicher ist.245 Gleichwohl müsse der Einzelne in dieser Angelegenheit nach seiner inneren Überzeugung handeln.246 Nach Gülens persönlicher Einschätzung ist im Falle eines Kopftuchverbotes die Bildung und nicht das Kopftuch vorzuziehen,247 denn das Kopftuch zähle nicht zu den primären Pflichten des Glaubens sondern sei nachrangig.248 Der Umgang mit diesem Problem bleibe gleichwohl eine individuelle Entscheidung.249 Nach Gülens Vorstellung wäre es aber zu begrüßen, dass Menschen alle religiösen Pflichten, mithin auch die nachrangigen wie das Tragen eines Kopftuches, ohne Verbote ausüben könnten.250 243  s.  Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 62, 63, 140; Yavuz, The Gülen Movement, in: Yavuz / Esposito (Hrsg.), Turkish Islam and the Secular State, 2003, Kapitel 2, S. 19 (29). 244  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 178; Yavuz, The Gülen Movement, in: Yavuz / Esposito (Hrsg.), Turkish Islam and the Secular State, 2003, Kapitel 2, S. 19 (29). 245  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 178; Yavuz, The Gülen Movement, in: Yavuz / Esposito (Hrsg.), Turkish Islam and the Secular State, 2003, Kapitel 2, S. 19 (29). 246  s.  Yavuz, The Gülen Movement, in: Yavuz  / Esposito (Hrsg.), Turkish Islam and the Secular State, 2003, Kapitel 2, S. 19 (29); Gülen, Başörtüsü ve Türban (Kopftuch und Schleier) v. 16.11.2001, im Internet unter: http: /  / tr.fgulen.com / con tent / view / 2257 / 141 /  (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012); So trat Gülen vor Studentinnen auf, die gegen das Kopftuchverbot an Universitäten demonstrierten und kritisierte ihr Verhalten mit Verweis auf den hohen islamischen Wert der staatlichen Ordnung, s. Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 154, 161. 247  s.  Yavuz, The Gülen Movement, in: Yavuz  / Esposito (Hrsg.), Turkish Islam and the Secular State, 2003, Kapitel 2, S. 19 (29); s. Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 178, 179; Gülen, Başörtüsü ve Türban (Kopftuch und Schleier) v. 16.11.2001, im Internet unter: http: /  / tr.fgulen.com / con tent / view / 2257 / 141 /  (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012); So trat Gülen vor Studentinnen auf, die gegen das Kopftuchverbot an Universitäten demonstrierten und kritisierte ihr Verhalten mit Verweis auf den hohen islamischen Wert der staatlichen Ordnung, s. Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 154, 161. 248  s.  Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 158, 159. 249  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 178. 250  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 179.

352

E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

Sofern die Art und Weise des Kopftuches als Symbol einer Bewegung verstanden wird, sollte aber nicht darauf beharrt werden.251 Nach Ansicht Gülens ist die Existenz eines Staates notwendig, weshalb der Staat nicht überstrapaziert werden sollte.252 Denn sogar der schlechteste Staat sei besser als Anarchie.253 g) Verbot religiöser Parteien und die Politisierung des Islams Einen politischen Islam gebe es nicht.254 Es gebe eine Politisierung des Islams, die Gülen nicht befürwortet.255 Der Islam sei auch keine politische Ideologie.256 Wenn diejenigen, die den Islam als politische Ideologie einsetzen und die wahre Bedeutung und Funktion der Religion vernachlässigen, ihre „pseudo-islamischen“ Aktivitäten und Standpunkte noch einmal überdenken, dann werden sie, so Gülen, entdecken, dass sie zumeist aus persönlichen, nationalen und ähnlich anderen Motiven heraus handeln.257 Der Islam werde gegenwärtig sowohl von Muslimen als auch von Nicht-Muslimen instrumentalisiert.258 Gülen ist kein Befürworter von islamischen Parteien, wie sie in der Vergangenheit von Necmettin Erbakan als RP gegründet wurden.259 Gülen begrüßt das Parteiverbot gegen die RP.260 Die zwangsweise Implementierung der islamischen Vorschriften mit Geltungskraft für alle Bürger eines Staates beruht nach Ansicht von Gülen auf mangelndem Wissen über die islamischen Prinzipien.261 Diese Zwangsislamisierung stünde 251  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 179. 252  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 80. 253  s.  Gündem, Fethullah Gülen’le 11 Gün (11 Tage mit Fethullah Gülen), 2005, S. 80. 254  Dies warf er auch der Refah Partisi vor, s. Hermann, Fethullah Gülen – eine muslimische Alternative zur Refah-Partei?, in: Orient, 1996, Heft 4, S. 619 (641). 255  s.  Sevindi, Contemporary Islamic Conversations, 2008, S. 63; der Refah Partisi warf Gülen eben jene Politisierung des Islams vor, s. Hermann, Fethullah Gülen – eine muslimische Alternative zur Refah-Partei?, in: Orient, 1996, Heft 4, S. 619 (641). 256  s.  Sevindi, Contemporary Islamic Conversations, 2008, S. 63; Gülen, Aufsätze- Perspektiven – Meinungen, 2004, S. 15. 257  s.  Gülen, Aufsätze- Perspektiven – Meinungen, 2004, S. 40. 258  s.  Gülen, Aufsätze- Perspektiven – Meinungen, 2004, S. 40. 259  s.  Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 65, 66; Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 157. 260  s.  Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 160. 261  s.  Ünal / Williams, Advocate of Dialogue, 2000, S. 64.



III. Fethullah Gülen353

im Widerspruch zum Islam,262 denn an die Regeln des Islams seien nur Muslime gebunden.263 Die AKP sei nach Gülen eine konservative politische Partei und keine moderate islamische Partei.264 Die Bezeichnung moderatislamisch impliziere zugleich einen politischen Islam, für den es im Islam gerade keine Vorgaben gebe.265 Die AKP sei kein anderer Verbund als die christlich demokratischen Parteien.266 3. Zwischenergebnis Gülen lässt einen Konflikt des Islams mit dem Laizismus nicht gelten. Anders als Karaman nimmt er eine religiös begründete staatsfreundliche Haltung ein. Für ihn gilt: Jeder Staat ist besser als Anarchie. Er begrüßt zwar die Gewährleistung von mehr Religionsfreiheit. Er will aber auch die Stabilität des Staates nicht gefährden. Er unternimmt den Versuch, die Interessen des Staates und der Gesamtgesellschaft mit den religiösen Pflichten des Einzelnen in Einklang zu bringen. Er vollzieht gewissermaßen eine islamische Abwägung zwischen religiösen Geboten auf der einen und staat­ lichen und gesamtgesellschaftlichen Interessen auf der anderen Seite. In Angelegenheit des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten lässt er sich nicht kritisch ein, weil er das Ansehen der Behörde nicht beschädigen möchte. Die Einmischung des Staates in religiöse Angelegenheiten wird durch ihn jedenfalls nicht moniert. Andererseits kritisiert er die Versuche, sich durch die Politisierung des Islams in staatliche Angelegenheiten einzumischen. Ähnlich wie auch beim türkischen Laizismus ist bei Gülen das Trennungsmodell nicht kongruent. Er lehnt zwar Einmischung der Religion in staatliche Angelegenheiten ab, nicht aber umgekehrt die Einmischung des Staates in religiöse Angelegenheiten. Keine Kritik übt Gülen hinsichtlich des obligatorischen Religionsunterrichts „Religiöse Kultur und Sittenlehre“. In der Frage des Kopftuchverbotes tritt Gülen als Vermittler auf und sucht den islamischen Mittelweg. Obgleich er das Kopftuchverbot in der Türkei ablehnt, kommt er im Rahmen einer Abwägung zu dem Ergebnis, dass die Bildung gewichtiger ist als das Festhalten am Kopftuch, welches er lediglich als ein nachrangiges religiöses Gebot betrachtet.

262  s.  Ünal / Williams,

Advocate of Dialogue, 2000, S. 64. Advocate of Dialogue, 2000, S. 64. 264  s.  Sevindi, Contemporary Islamic Conversations, 2008, S. 74. 265  s.  Sevindi, Contemporary Islamic Conversations, 2008, S. 74. 266  s.  Sevindi, Contemporary Islamic Conversations, 2008, S. 74. 263  s.  Ünal / Williams,

354

E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

IV. Yaşar Nuri Öztürk267 1. Person und Bedeutung Öztürk gehört zu den bekanntesten und populärsten türkischen Theologen mit einem großen Einfluss auf breite Schichten in der Türkei.268 Er gehört zur großen zeitgenössischen türkischen Szene, die sich hermeneutisch mit dem Koran auseinander setzt.269 Öztürk genießt viel Aufmerksamkeit und tritt regelmäßig im Fernsehen zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen zum Islam auf.270 „Die Popularität Öztürks beruht darauf, dass er vielen gläubigen Angehörigen der Mittelschichten einen Weg ebnete, ihre modernen Lebensformen mit dem islamischen Glauben zu vereinbaren.“271 Öztürk wurde 1945 geboren.272 Er erhielt eine traditionell-islamische Ausbildung in der Familie und studierte Rechtswissenschaften und islamische Theologie.273 Nachdem er bis 1976 als Rechtsanwalt arbeitete, promovierte er 1980 in islamischer Philosophie.274 1993 wurde er Professor und Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Istanbul.275 Öztürk arbeitete an der Universität von Grenoble und war in New York Gastprofessor für islamische Philosophie und Mystik.276 Er hat zahlreiche auflagenstarke Bücher zum Islam publiziert und erhielt für seine Arbeiten 1978 und 1982 Auszeichnungen der Nationalen Türkischen Kulturstiftung.277 2002 ging er zunächst als Mitglied der CHP und später mit der 2005 von ihm gegründeten HYP, dessen Vorsitzender er war, in die Politik.278 2009 Folgenden Öztürk. Alter Text – neuer Kontext, 2006, S. 237, 238; Howe, Turkey Today, 2000, S. 42; Öztürk, Der verfälschte Islam, 2007, S. 191. 269  s.  Körner, Alter Text – neuer Kontext, 2006, S. 237, 238. 270  s.  Erzeren, Verbindung von Religion und Politik v. 01.11.2006, in: Qantara. de, im Internet unter: http: /  / de.qantara.de / webcom / show_article.php?wc_c=468&wc_ id=628 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 271  Erzeren nennt beispielhaft, dass nach Öztürk der Koran kein Kopftuchgebot und auch nicht die Pflicht enthalte, fünfmal täglich zu beten, ders., Verbindung von Religion und Politik v. 01.11.2006, in: Qantara.de, im Internet unter: http: /  / de.qantara.de / web com / show_article.php?wc_c=468&wc_id=628 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 272  s.  Körner, Alter Text – neuer Kontext, 2006, S. 238. 273  s.  Körner, Alter Text – neuer Kontext, 2006, S. 238. 274  s.  Öztürk, Der verfälschte Islam, 2007, S. 191; Körner, Alter Text – neuer Kontext, 2006, S. 238. 275  s.  Howe, Turkey Today, 2000, S. 42; Körner, Alter Text – neuer Kontext, 2006, S. 238. 276  s.  Öztürk, Der verfälschte Islam, 2007, S. 191. 277  s.  Öztürk, Der verfälschte Islam, 2007, S. 191. 278  s.  Öztürk, Der verfälschte Islam, 2007, S. 191; Körner, Alter Text – neuer Kontext, 2006, S. 238. 267  Im

268  s.  Körner,



IV. Yaşar Nuri Öztürk355

trat er vom Parteivorsitz der HYP zurück.279 Sich selbst bezeichnet er als einen „modern Islamic follower of Atatürk“.280 Kennzeichnend für die Gesamtheit der Werke Öztürks ist sein nach eigenen Angaben pro-koranisches Verständnis vom Islam.281 Öztürk will „(…) die nach-koranische islamische Tradition hinter sich lassen und allein vom Koran den authentischen und modernen Islam lernen“.282 Öztürk fordert für die Türkei eine „Koranization, embracing modernity in the sence of religion“283. Zugleich beobachtet er eine „(…) Arabization of the masses, using political arguments and money (…)“.284 2. Rechtsauffassungen zum Verhältnis von Staat und Religion a) Laizismus aa) Bedeutung und Abgrenzung zur Säkularisation Der Laizismus bedeutet für Öztürk, dass der Staat und das Rechtssystem von religiösen Vorgaben, der Autorität und dem Druck der religiösen Klasse fern gehalten werden.285 Der Staat und das Rechtssystem sollen auf diese Weise, den Anforderungen der Zeit entsprechend, objektiv, modern und auf Vernunft basierend gestaltet werden.286 Laizismus bedeute nicht, dass sich der Staat in die „Innenwelt“ des Einzelnen oder gar in das Ver279  Nach eigenen Angaben, weil er sich verstärkt in der Forschung engagieren wolle, vgl. A. A., Yaşar Nuri Öztürk, Halkın Yükselişi Partisi (HYP) Genel Başkanlığı’ndan istifa etti (Yaşar Nuri Öztürk ist von der HYP zurückgetreten) v. 19.10.2009, in: Hürriyet, im Internet unter: http: /  / www.hurriyet.com.tr / gundem /  12726505.asp (zuletzt aufgerufen am 28.05.2012). 280  Howe, Turkey Today, 2000, S. 42. 281  Nach Körner ist die Methodik Öztürks eine „Selbstpositionierung mit illustrierenden Koranzitaten, nicht die der Argumentation aus dem Koran“. Darüber hinaus enthalten nach Körner seine Ausführungen Plausibilitätsmängel. Beispielhaft nennt Körner, dass Öztürk einerseits behauptet, die Demokratie sei die einzig zulässige Staatsform nach dem Koran, da mit dem Ende der Prophetie die Theokratie zu Ende sei. Andererseits führe er dann aber in Widerspruch dazu aus, dass sogar der Prophet selbst auf Ratsversammlungen und damit auf Mitbestimmung verwiesen worden sei, s. Körner, Alter Text – neuer Kontext, 2006, S. 240, Fn. 6. 282  Körner, Alter Text – neuer Kontext, 2006, S. 243. 283  Howe, Turkey Today, 2000, S. 42. 284  Howe, Turkey Today, 2000, S. 43. 285  s.  Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 7. 286  s.  Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 7.

356

E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

hältnis des Einzelnen zu seinen privaten Beziehungen einmischen darf.287 Nach Öztürk könne der Einzelne beruflich und in seinen öffentlich geregelten Beziehungen „laik“ (säkular) und gleichzeitig im Privaten religiös sein.288 Der Laizismus regele nur den öffentlichen Bereich.289 Der religiöspolitische Diskurs erkläre den Laizismus dagegen als unislamisch.290 Es sei falsch und gefährlich „Laiklik“ als Trennung von religiösen und weltlichen Angelegenheiten zu betrachten.291 Dieses Verständnis entspreche nicht den Tatsachen und sei unwissenschaftlich.292 Laizismus sei ein Staatsprinzip und keine Ideologie und keine Religion.293 Dieser falsch verstandene Laizismus habe sogar dazu geführt, ihn als islamfeindlich zu verstehen.294 Dies sei dann von Seiten der religiösen Politik gegen den Laizismus in dem Maße verwendet worden, dass die Menschen vor dem Zwiespalt – entweder Laizismus oder Islam – standen.295 Laizismus sei die staatliche Neutralität gegenüber der religiösen Überzeugung auf der einen und der Gewährleistung der Meinungs- und Religionsfreiheit auf der anderen Seite.296 „Laik“ in Bezug auf Menschen bezeichne vielmehr Menschen, die nicht zu den kirchlichen Würdenträgern gehören und nicht die Areligiösität der Menschen und der Gesellschaft.297 Säkularität im Sinne von Verwelt­ lichung werde vom Islam nicht abgelehnt.298 Vielmehr werde der Säkularismus, der die Weltlichkeit zum ausschließlichen Lebensziel erkläre, abge287  s.  Öztürk, ben des Koran), 288  s.  Öztürk, ben des Koran), 289  s.  Öztürk, ben des Koran), 290  s.  Öztürk, ben des Koran), 291  s.  Öztürk, ben des Koran), 292  s.  Öztürk, ben des Koran), 293  s.  Öztürk, ben des Koran), 294  s.  Öztürk, ben des Koran), 295  s.  Öztürk, ben des Koran), 296  s.  Öztürk, ben des Koran), 297  s.  Öztürk, ben des Koran), 298  s.  Öztürk, ben des Koran),

Kuran verileri açısından Laiklik 3. Aufl. (2003), S. 7. Kuran verileri açısından Laiklik 3. Aufl. (2003), S. 7. Kuran verileri açısından Laiklik 3. Aufl. (2003), S. 7. Kuran verileri açısından Laiklik 3. Aufl. (2003), S. 7. Kuran verileri açısından Laiklik 3. Aufl. (2003), S. 9. Kuran verileri açısından Laiklik 3. Aufl. (2003), S. 9. Kuran verileri açısından Laiklik 3. Aufl. (2003), S. 9. Kuran verileri açısından Laiklik 3. Aufl. (2003), S. 9. Kuran verileri açısından Laiklik 3. Aufl. (2003), S. 9. Kuran verileri açısından Laiklik 3. Aufl. (2003), S. 10. Kuran verileri açısından Laiklik 3. Aufl. (2003), S. 10, 11. Kuran verileri açısından Laiklik 3. Aufl. (2003), S. 14.

(Der Laizismus nach den Herga(Der Laizismus nach den Herga(Der Laizismus nach den Herga(Der Laizismus nach den Herga(Der Laizismus nach den Herga(Der Laizismus nach den Herga(Der Laizismus nach den Herga(Der Laizismus nach den Herga(Der Laizismus nach den Herga(Der Laizismus nach den Herga(Der Laizismus nach den Herga(Der Laizismus nach den Herga-



IV. Yaşar Nuri Öztürk357

lehnt.299 Im Islam bildeten Seele und Materie, Welt und Jenseits, Materie und Sinn eine Einheit.300 Die Körperlichkeit und die sich daraus ergebenden Bedürfnisse seien nichts Schlechtes.301 Schlecht sei es nur, dieses zum einzigen Lebensziel zu machen.302 Gebete und andere religiöse Handlungen dienen nach Öztürk auch dem weltlichen Leben, so das Gebet für ein besseres Leben auf Erden.303 bb) Vereinbarkeit von Islam und Laizismus Es sei eine Propaganda der westlichen Orientalisten zu behaupten, der Islam kenne keine Weltlichkeit, seine Inhalte seien gänzlich als religiöse Regel bestimmt und eine Unterscheidung zwischen religiös und weltlich sei eine Ablehnung Allahs und zudem unislamisch.304 Der Laizismus verstoße nicht gegen die islamische Offenbarung.305 Vielmehr schütze der Laizismus sogar die Werte der islamischen Offenbarung,306 denn der Islam möchte die Welt vor der Hegemonie und Despotie durch geistliche und religiöse Führer befreien und verhindern, dass die Religion durch Institutionalisierung zu einer amtlichen Herrschaft wird.307 Beispielhaft hierfür sei die Islamisierung der politischen Ideologien im Nahen Osten, wo zur Bewahrung der eigenen Despotie die Traditionen zum Schutze der eigenen Unantastbarkeit im Namen des Islams aufrechterhalten werden.308 Die 299  s.  Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 14. 300  s.  Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 112. 301  s.  Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 12. 302  s.  Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 12. 303  s.  Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 12, 13. 304  Öztürk verweist an diese Stelle beispielhaft auf den Text von Schimmel, Islam, State University of New York Press, 1992, S. 17, vgl. Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 14. 305  s.  Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 17. 306  s.  Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 17. 307  s.  Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 17. 308  s.  Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik(Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 18.

358

E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

­Umayyaden309 seien die ersten gewesen, die im Zusammenhang mit dem Laizismus den Herrschaftsbegriff durch die Politisierung der Religion missbrauchten.310 Nach Öztürk kommen Herrschaftsrechte in erster Linie den Propheten zu.311 Da aber das Prophetentum nach dem Koran abgeschlossen, d. h. Mohammed der letzte Prophet war, sei mit dem Ableben Mohammeds auch das Ende der Theokratie erklärt worden.312 Anderen, außer den Propheten, kämen Herrschaftsrechte nur zu, sofern die Herrschaft gerecht und gemäß den von Gott offenbarten Prinzipien erfolge.313 Der Mensch übe zwar die Herrschaft aus, müsse aber nach Gott richten, mithin nach den unverzichtbaren universellen Prinzipien.314 Dies sei der Beleg dafür, dass Gott dem Menschen Herrschaftsrechte zugestehe.315 Diese seien, anders als die Herrschaft Gottes, nicht grenzenlos.316 Die Absolute und ontologische Herrschaft gehöre Gott.317 Diese Herrschaft sei zu unterscheiden von der politischen Herrschaft der Menschen, weshalb die absolute und ontologische Herrschaft Gottes keinen Widerspruch dazu darstelle.318 Vielmehr sei es ein Widerspruch, die Größe Gottes gegen seine Vorgaben, mithin auch gegen die Vorgabe, dem Menschen Herrschaftsrechte zu gewähren, zu verwenden.319 Die Betonung der Herrschaft Gottes diene lediglich dazu, der absolutistischen Herrschaft durch Menschen Grenzen 309  Erste Dynastie, die nach dem Tod des vierten Kalifen Ali ibn Abi Talib die Herrschaft übernahm und sich das Kalifat als erbliche Würde zu sichern vermochte (661–750), vgl. Schirrmacher, „Islam von A–Z“, in: Harenberg Lexikon der Reli­ gionen, S. 540, Sp. 1. 310  Öztürk erwähnt den Befehl zur Sicherung der Herrschaft, den Koran an die Spitze ihrer Schwerter zu hängen, s. Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 20. 311  s.  Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 24. 312  s.  Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 56. 313  s.  Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik(Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 24, 25. 314  Sure 10, s. Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 25. 315  s.  Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 25. 316  s.  Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik(Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 25. 317  s.  Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 26. 318  s.  Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 26. 319  s.  Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 26.



IV. Yaşar Nuri Öztürk359

zu setzen.320 Der Koran beziehe sich in diesem Zusammenhang auf das alte Ägypten unter der Herrschaft der Pharaonen, die zu den Ägyptern sprachen: „Ich bin euer größter Gott.“321 Auch Nimrod322 habe zu Abraham in gleicher Weise gesprochen: „Ich kann wiederbeleben, ich kann töten.“323 Der Koran kritisiere diese Herrschaft, die sich für göttlich erkläre und möchte nicht die Abschaffung der Herrschaftsrechte des Menschen, wohl aber die Abschaffung deren Göttlicherklärung.324 b) Präsidium für religiöse Angelegenheiten und Religionsunterricht Nach Öztürk müsse das Präsidium für religiöse Angelegenheiten grundsätzlich erhalten bleiben, denn dieses sei zum Vorteil des Landes.325 Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten müsse jedoch reformiert werden und alle „umarmen“ und nicht nur das Präsidium einer Konfession, sondern das des Islams, sein.326 Der Religionsunterricht dürfe zwar nicht aufgehoben werden, indessen auch nicht obligatorisch sein.327 Insoweit müsse der Lehrplan geändert 320  s.  Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 26. 321  Naziat 24, s. Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 27. 322  Nimrod in der Bibel, auch Namrūd, Nimrūd; in muslimischer Legende erwähnt im Zusammenhang mit der Kindheit Abrahams. Der Koran erwähnt Nimrod nicht namentlich, die Kenntnis der Legende um Nimrod ergibt sich aus folgenden Versen: „Do you not see how he disputet with Ibrahim about the Lord who had granted him dominion? When Ibrahim said: It is my Lord who gives life and death, the other replied: I give life and I slay. When Ibrahim said: God makes the sun rise in the east; do you make it rise in the west; then the liar was humbled.“, vgl. Heller, „Namrūd“, in: The Encyclopaedia of Islam, Vol.  VII, 1993, S. 952, Sp. 2. 323  Bakara 258, s. Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 27, 33. 324  s.  Öztürk, Kuran verileri açısından Laiklik (Der Laizismus nach den Hergaben des Koran), 3. Aufl. (2003), S. 27. 325  s. Yaşar Nuri Öztürk Diyanetle ilgili Yorumları, Video Sek. 3.10–3.23, in: Vindir, im Internet unter: http: /  / www.vindir.net / yasar-nuri-ozturk-diyanetle-ilgiliyorumlar-hq--414246.html (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 326  s. Yaşar Nuri Öztürk Diyanetle ilgili Yorumları, Video Sek. 3.24–3.38, in: Vindir, im Internet unter: http: /  / www.vindir.net / yasar-nuri-ozturk-diyanetle-ilgiliyorumlar-hq--414246.html (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 327  s. Yaşar Nuri Öztürk Diyanetle ilgili Yorumları, Video Sek. 2.29–2.36, in: Vindir, im Internet unter: http: /  / www.vindir.net / yasar-nuri-ozturk-diyanetle-ilgiliyorumlar-hq--414246.html (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012).

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

werden.328 Denn ein obligatorischer Religionsunterricht widerspreche der Natur des Glaubens.329 c) Kopftuchverbot Anders als nach Karaman und Gülen gebe es im Koran kein Kopftuchgebot, sondern lediglich ein Verhüllungsgebot.330 Das Kopftuchgebot sei keine koranische Vorschrift, sondern vielmehr eine Konvention der traditionellen islamischen Rechtswissenschaft und bloß eine profane Sitte zur Bestimmung des sozialen Status der Frau zur Unterscheidung von Sklavinnen und „freien“ Frauen.331 Das Verhüllungsgebot im Koran, welches sich an alle Frauen gleich ob Sklavinnen oder „Freie“ richtet, beziehe sich lediglich auf die Körperteile, die nicht der rituellen Reinigung zu unterziehen sind (d. h. Hände, Arme bis zu den Ellenbogen, Füße bis zum Fußgelenk und der Kopf müssen nicht bedeckt werden).332 Das Kopftuch werde seit den 60er Jahren politisch instrumentalisiert.333 Kräfte von außen wie von innen versuchten, die Türkei durch die Förderung des politischen Islams zu destabilisieren.334 Ungeachtet dessen lehnt Öztürk das Kopftuchverbot an Universitäten der Türkei ab, da es den politischen Islam begünstige.335

328  s. Yaşar Nuri Öztürk Diyanetle ilgili Yorumları, Video Sek. 2.39–2.45, in: Vindir, im Internet unter: http: /  / www.vindir.net / yasar-nuri-ozturk-diyanetle-ilgiliyorumlar-hq--414246.html (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 329  s. Yaşar Nuri Öztürk Diyanetle ilgili Yorumları, Video Sek. 2.46–2.50, in: Vindir, im Internet unter: http: /  / www.vindir.net / yasar-nuri-ozturk-diyanetle-ilgiliyorumlar-hq--414246.html (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 330  s.  Öztürk, Der verfälschte Islam, 2007, S. 111; Howe, Turkey Today, 2000, S. 42; Öztürk, Allah ile Aldatmak (Täuschen mit Gott), 2010, S. 187. 331  Nach seiner Auffassung gebe es in der traditionellen islamischen Rechtswissenschaft zwei Gruppen von Frauen: privilegierte freie Frauen (pers. serbest, dabei stünde das „ser“ für Kopf, und „best“ für gebunden) und Sklavinnen. Danach sei es Sklavinnen verboten gewesen, sich zu verhüllen, um diese den sexuellen Begierden der Männer gefügig zum machen. Wohingegen die privilegierten freien Frauen ihr Haupt zu verhüllen hatten, vgl. Öztürk, Der verfälschte Islam, 2007, S. 111, 112; Öztürk, Allah ile Aldatmak (Täuschen mit Gott), 2010, S. 186 ff. 332  s.  Öztürk, Der verfälschte Islam, 2007, S. 112, 113, 114; Öztürk, Allah ile Aldatmak (Täuschen mit Gott), 2010, S. 188. 333  s.  Öztürk, Allah ile Aldatmak (Täuschen mit Gott), 2010, S. 198. 334  Zu diesen Kräften zählt Öztürk die muslimischen Anrainerstaaten, sowie einige nicht-muslimische Staaten wie die USA; Griechenland und Russland, s. Howe, Turkey Today, 2000, S. 42; Öztürk, Allah ile Aldatmak (Täuschen mit Gott), 2010, S.  198 ff. 335  s.  Howe, Turkey Today, 2000, S. 42.



V. Ali Bulaç361

3. Zwischenergebnis Nach Öztürk ist der Islam mit dem Laizismus vereinbar und grenzt diesen schwerpunktmäßig zur Theokratie ab. Der Laizismus möchte in Übereinstimmung mit dem Islam die Despotie im Namen Gottes verhindern. Öztürks Vorstellungen vom Laizismus entsprechen nicht dem des türkischen Laizismus. Vielmehr fordert er mehr Raum für das Kopftuch im öffentlichen Raum, Neutralität und Gleichbehandlung hinsichtlich der Gestaltung des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten.

V. Ali Bulaç336 1. Person und Bedeutung Bulaç ist einer der einflussreichsten islamischen Intellektuellen der Türkei.337 Er wurde 1951 in Mardin geboren, wo er zugleich die Grund- und Oberschule besuchte.338 Als Kind einfacher und frommer Eltern erhielt er seine erste religiöse Unterweisung durch inoffizielle Korankurse und später in den staatlichen Prediger-Schulen (Imam Hatip Okulu).339 1975 absolvierte er sein Studium am Hohen Istanbuler Islam Institut und 1980 sein Studium der Sozialwissenschaften an der Philosophischen Fakultät der Universität Istanbul.340 Zwischen 1976 und 1980 brachte er die Zeitschrift Düşünce (Überlegung) heraus; 1984 war er Redaktionsleiter bei Insan Yayınevi (Mensch Verlag); 1986 war er Mitgründer der Zeitung Zaman (Zeit), für die er bis heute regelmäßig Kolumnen schreibt. Er war Redak­ tionsleiter der Zeitschriften Kitap (Buch), Bilgi ve Hikmet (Wissen und Weisheit) und der Folgenden Bulaç. ausdrücklich Ucar, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft, 2005, S. 235; Çınar / Kadıoğlu, An Islamic critique of modernity in Turkey, in: Orient, 1999, Heft 1, S. 53 (54); Yıldız, Transformation of Islamic Thought in Turkey, in: Abu Rabi (Hrsg.), The Blackwell companion to Contemporary Islamic Thought, 2006, S. 39 (46); Wiedemann, Republik Contra Religion v. 06.09.2006, in: Zeit Online, im Internet unter: http: /  / www.zeit.de / 2006 / 33 / Tuerkei (zuletzt aufgerufen am 25.04.2012); Seufert, Jenseits von Konservatismus und Nationalismus v. 16.02.2007, in: Qantara.de, im Internet unter: http: /  / www.qantara.de / webcom / show_ article.php?wc_c=578&wc_id=17&wc_p=1 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 338  s.  Bulaç, Islam’dan korkmalımıyız? (Müssen wir Angst vor dem Islam haben?), 2009, S. 4. 339  Vgl. Seufert, Jenseits von Konservatismus und Nationalismus v. 16.02.2007, in: Qantara.de, im Internet unter: http: /  / www.qantara.de / webcom / show_article.php ?wc_c=578&wc_id=17&wc_p=1 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 340  Ebd. 336  Im 337  So

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

Bilgi ve Düşünce (Wissen und Überlegung).341 In seinem ersten politischen Werk „Cağdaş kavramlar ve Düzenler“ (Moderne Begriffe und Systeme) bemühte er sich um eine Abrechnung mit konkurrierenden politischen Ideologien wie dem Liberalismus, Marxismus, Sozialismus und Faschismus.342 „Das Buch entwarf ein Bild des Islams jenseits von Konservatismus und Nationalismus und zeichnete die Religion als Mittel zur Lösung von Klassenkonflikten und als Antidot gegen den Imperialismus. Es wurde zum Manifest der jungen islamistischen Bewegung der Türkei und über 500.000 Mal verkauft.“343 2. Rechtsauffassungen zum Verhältnis von Staat und Religion a) Laizismus in der Türkei Nach Bulaç liegen die Probleme im Umgang mit dem Laizismus nicht in der Tatsache, dass die Türkei ein laizistischer Staat ist, sondern vielmehr darin, dass dieses laizistische Staatsprinzip nicht umgesetzt werde.344 Auf dem Papier werden zwar weitgehende Rechte und Freiheiten gewährleistet, aber tatsächlich nicht umgesetzt.345 Dies gelte insbesondere für das Verbot, sich im öffentlichen Raum frei nach eigenem Wunsch zu kleiden.346 Bulaç kritisiert die Einmischung des Staates in die Angelegenheiten der Religion unter dem Deckmantel des Laizismus und dessen Versuch, die Religion zu reformieren.347 Er konstatiert der Türkei, wie dem Osmani341  Ebd.

342  So Seufert, Jenseits von Konservatismus und Nationalismus v. 16.02.2007, in: Qantara.de, im Internet unter: http: /  / de.qantara.de / webcom / show_article.php / _c578 / _nr-17 / _p-1 / i.html (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 343  Seufert, Jenseits von Konservatismus und Nationalismus v. 16.07.2011, in: Qantara.de, im Internet unter: http: /  / de.qantara.de / webcom / show_article. php / _c-578 / _nr-17 / _p-1 / i.html (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 344  s.  Bulaç, Laiklik ve başörtüsü (Laizismus und Kopftuch) v. 09.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=649645 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 345  s.  Bulaç, Laiklik ve başörtüsü (Laizismus und Kopftuch) v. 09.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=649645 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 346  Gemeint ist das Tragen eines Kopftuches im öffentlichen Raum, s. Bulaç, Laiklik ve başörtüsü (Laizismus und Kopftuch) v. 09.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=649645 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 347  s.  Bulaç, Tutum olarak laiklik (Laizismus als Haltung) v. 10.09.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=736320 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012).



V. Ali Bulaç363

schen Reich auch, eine an den Staat gebundene Religion.348 In der türkischen Republik gebe es eine sunnitisch-hanafitische Staatsreligion, welche beim Präsidium für religiöse Angelegenheiten angesiedelt sei.349 Anders als das Osmanische Reich erhebe die Türkei aber den Anspruch, ein laizistischer Staat zu sein und begebe sich damit in eine Widersprüchlichkeit.350 Der in der Türkei verteidigte Laizismus entspreche nicht dem europäischen Maßstab.351 Dies sei kein Laizismus, sondern Byzantinismus, in dessen Namen die Religionsfreiheit eingeschränkt werde.352 Die Trennung von Staat und Religion meine in Europa eigentlich die Trennung von Staat und Kirche.353 Da es aber im Islam keine Kirche und auch keinen Klerus gebe, habe man354 den Islam als den „anderen“ ausgemacht.355 Im Islam seien die Muslime bereits „laikus“, die Moscheen seien keine Kirchen und die Mitarbeiter des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten seien kein Klerus, sondern Beamte.356 Alles, was in der europäischen Geschichte mit dem Laizismus errungen wurde, habe es bereits juristisch durch den Islam gegeben.357 Jeder könne seine Religion frei wählen, niemand könne zur Annahme eines Glaubens gezwungen werden, die Moscheen seien keine Kirche, einen Machtkampf zwischen Moschee und Staat habe es nicht gegeben, der Staat handle aufgrund von Recht und nicht auf Referenz des Klerus, die Religionsausübung und religiöse Erziehung seien frei, innerhalb des Islams seien unterschiedliche Auslegungen und Rechtsfortbildun348  s.  Bulaç, Islam’dan korkmalımıyız? (Müssen wir Angst vor dem Islam haben?), 2009, S. 86. 349  s.  Bulaç, Islam’dan korkmalımıyız? (Müssen wir Angst vor dem Islam haben?), 2009, S. 86. 350  s.  Bulaç, Islam’dan korkmalımıyız? (Müssen wir Angst vor dem Islam haben?), 2009, S. 87. 351  s.  Bulaç, Islam’dan korkmalımıyız? (Müssen wir Angst vor dem Islam haben?), 2009, S. 87. 352  s.  Bulaç, Islam’dan korkmalımıyız? (Müssen wir Angst vor dem Islam haben?), 2009, S. 87. 353  s.  Bulaç, Tutum olarak laiklik (Laizismus als Haltung) v. 10.09.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=736320 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 354  Gemeint sind die Laizisten in der Türkei. 355  s.  Bulaç, Tutum olarak laiklik (Laizismus als Haltung) v. 10.09.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=736320 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 356  s.  Bulaç, Tutum olarak laiklik (Laizismus als Haltung) v. 10.09.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=736320 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 357  s.  Bulaç, Tutum olarak laiklik (Laizismus als Haltung) v. 10.09.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=736320 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012).

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

gen, anders als beim päpstlichen Wahrheitsanspruch, möglich, und der Staat müsse gegenüber ideologischen und philosophischen Überzeugungen ähnlich handeln.358 Sofern Laizismus die oben genannten Prinzipien meine, sei dies mit dem Islam vereinbar.359 Ein darüber hinausgehender Laizismus ist eine Einmischung in den Islam und von Muslimen nicht akzeptabel.360 Um zu verstehen, dass der Laizismus nicht der einzige Garant für Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit ist, reiche ein Blick auf faschistische und kommunistische Regime.361 Die Demokratie entstand im Westen in erster Linie als Gegenentwurf zu autoritären Regimen und nicht gegen die Theokratie oder gegen die Religion.362 Die Auseinandersetzung mit dem Laizismus in der Türkei werde im Ausland oft falsch dargestellt.363 Die Forderung von Muslimen, ihre Religion der eigenen Überzeugung entsprechend leben zu können, werde als Gefahr für das laizistische Regime dargestellt.364 Jene, die die innere Struktur der Türkei nicht kennen, würden auf diese Weise irregeführt und bekämen den Eindruck, die gläubigen Muslime würden das Lebensrecht der anderen nicht respektieren und die Türkei ins Mittelalter bringen wollen.365 Man würde dieses sogar der Religion selbst zuschreiben.366 Die Wahrheit sei vielmehr, dass sich die Gläu358  s.  Bulaç, Tutum olarak laiklik (Laizismus als Haltung) v. 10.09.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=736320 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 359  s.  Bulaç, Tutum olarak laiklik (Laizismus als Haltung) v. 10.09.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=736320 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 360  s.  Bulaç, Tutum olarak laiklik (Laizismus als Haltung) v. 10.09.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=736320 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 361  s.  Bulaç, Laiklik ve Demokrasi (Laizismus und Demokratie) v. 28.05.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do? yazino=694916 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 362  s.  Bulaç, Laiklik ve Demokrasi (Laizismus und Demokratie) v. 28.05.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do? yazino=694916 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 363  s.  Bulaç, Laiklik ve Demokrasi (Laizismus und Demokratie) v. 28.05.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do? yazino=694916 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 364  s.  Bulaç, Laiklik ve Demokrasi (Laizismus und Demokratie) v. 28.05.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do? yazino=694916 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 365  s.  Bulaç, Laiklik ve Demokrasi (Laizismus und Demokratie) v. 28.05.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do? yazino=694916 (zuletzt aufgerufen 15.04.2012). 366  s.  Bulaç, Laiklik ve Demokrasi (Laizismus und Demokratie) v. 28.05.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do? yazino=694916 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012).



V. Ali Bulaç365

bigen nicht im Kampf mit dem Laizismus befinden.367 Sie wollen keine Abstriche von ihrem Glauben machen, diesen nicht verstecken müssen, sie fordern den Schutz der Religionsfreiheit für jeden und lehnten die Privilegierung einer Religion durch den Staat ab.368 Die islamische Geschichte belege den Schutz der Religionsfreiheit für Nichtmuslime.369 Das areligiöse, positivistische und materialistische Weltbild verurteile alles Religiöse als schlecht und mach das Leben nicht lebenswert, was für die Türkei insbesondere den Muslimen gilt.370 Der Staat müsse seine Hände von der Religion nehmen und die Religion „zivilisieren“.371 b) Präsidium für religiöse Angelegenheiten Nach Bulaç müsse das Präsidium für religiöse Angelegenheiten langfristig abgeschafft werden.372 Mittel- und kurzfristig werde das Präsidium für religiöse Angelegenheiten im Hinblick auf den EU-Beitrittsprozess, den Laizismus und hinsichtlich der Forderungen der Aleviten im besten Fall als eine unabhängige Einrichtung fortbestehen können.373 Bulaç kritisiert den Kathechismus (standart ilmihal bilgileri), die bürokratisch-mechanische Haltung, die beratend-diplomatische Sprache und die originären traditionell-republikanischen Reflexe der Zentralverwaltung des Präsidiums für reli­giöse Angelegenheiten.374 367  s.  Bulaç, Laiklik ve Demokrasi (Laizismus und Demokratie) v. 28.05.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do? yazino=694916 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 368  s.  Bulaç, Laiklik ve Demokrasi (Laizismus und Demokratie) v. 28.05.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do? yazino=694916 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 369  s.  Bulaç, Laiklik ve Demokrasi (Laizismus und Demokratie) v. 28.05.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do? yazino=694916 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 370  s.  Bulaç, Laiklik ve Demokrasi (Laizismus und Demokratie) v. 28.05.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do? yazino=694916 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 371  s.  Bulaç, Islam’dan korkmalımıyız? (Müssen wir Angst vor dem Islam haben?), 2009, S. 88. 372  s.  Bulaç, Islam’dan korkmalımıyız? (Müssen wir Angst vor dem Islam haben?), 2009, S. 87; Bulaç, Diyanet’te yeni dönem (Neue Phase beim Diyanet) v. 15.11.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar. do?yazino=1053076 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 373  s.  Bulaç, Diyanet’te yeni dönem (Neue Phase beim Diyanet) v. 15.11.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do? yazino=1053076 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 374  s.  Bulaç, Diyanet’te yeni dönem (Neue Phase beim Diyanet) v. 15.11.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar. do?yazino=1053076 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012).

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten sei eine Fortsetzung der Beziehung zwischen Staat und Religion, wie sie im Prinzip auch im Osmanischen Reich bestanden habe.375 Auch hier habe es sich um eine an den Staat gebundene Staatsreligion gehandelt.376 Der sunnitisch-hanafitische Islam des Osmanischen Reiches sei durch das Präsidium für religiöse Angelegenheiten übernommen und fortgesetzt worden.377 Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten sei ein Beispiel für den Zwang und die Einmischung des Staates in die Religion.378 Die Imame seien verpflichtet, die aus Ankara kommenden offiziellen Freitagspredigten zu verlesen, die den Vorstellungen des Staates und der Regierung entsprechen, was nichts anderes als die Instrumentalisierung der Religion durch die Politik sei.379 Diese Instrumentalisierung wiederum erfolge durch säkulare Personen und im Namen des Laizismus.380 Der Staat wolle so die Religion kontrollieren.381 c) Religionsunterricht Jedes Kind werde zunächst als Muslim geboren.382 Daraus folge, dass der Islam die Natur (Fitrat) sei.383 Ein Kind, welches als Muslim geboren wird, werde erst nachträglich durch seine nichtmuslimischen Eltern und das so­ ziale Umfeld einer anderen Religion zugeordnet.384 Dies sei die Ausübung 375  s.  Bulaç, Islam’dan korkmalımıyız? (Müssen wir Angst vor dem Islam haben?), 2009, S. 86. 376  s.  Bulaç, Islam’dan korkmalımıyız? (Müssen wir Angst vor dem Islam haben?), 2009, S. 86. 377  Ebd. 378  s.  Bulaç, Islam’dan korkmalımıyız? (Müssen wir Angst vor dem Islam haben?), 2009, S. 88. 379  s.  Bulaç, Islam’dan korkmalımıyız? (Müssen wir Angst vor dem Islam haben?), 2009, S. 88. 380  s.  Bulaç, Islam’dan korkmalımıyız? (Müssen wir Angst vor dem Islam haben?), 2009, S. 88. 381  s.  Bulaç, Islam’dan korkmalımıyız? (Müssen wir Angst vor dem Islam haben?), 2009, S. 89. 382  s.  Bulaç, Özgür ve Sivil eˇ gitim (Freie und zivile Erziehung) v. 13.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=651211 &keyfield=64696E206BC3BC6C74C3BC72C3BC2076652061686C616B206269 6C67697369 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 383  s.  Bulaç, Özgür ve Sivil eˇ gitim (Freie und zivile Erziehung) v. 13.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=651211 &keyfield=64696E206BC3BC6C74C3BC72C3BC2076652061686C616B206269 6C67697369 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 384  s.  Bulaç, Özgür ve Sivil eˇ gitim (Freie und zivile Erziehung) v. 13.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=65121



V. Ali Bulaç367

der natürlichen Freiheit und aufgrund dieser Freiheit auch ein Recht.385 Daher gebe es bei der Wahl der Religion keinen Zwang und jeder könne nach seiner Religion leben.386 Als Folge der Religionsfreiheit dürften die Eltern ihr Kind nach ihrer eigenen Religion erziehen.387 Daher dürfe der Religionsunterricht nicht einzig in staatlicher Hand liegen, da die Eltern ein Mitspracherecht über Wesen und Inhalte der Erziehung haben müssten.388 Der Staat müsse darauf verzichten, an Schulen Religionsunterricht zu erteilen.389 Vielmehr soll der Religionsunterricht privat erfolgen, der Bevölkerung soll es erlaubt sein, Einrichtungen für den Religionsunterricht zu gründen.390 Sofern der Staat notwendigerweise die Erziehung übernimmt, müsse die demokratische Teilnahme am Religionsunterricht gewährleistet werden.391 Wäre der Religionsunterricht eine staatliche Angelegenheit, hätte der Prophet Mohammed den christlichen und jüdischen Eltern nicht erlaubt, ihr Kind nach ihrer Religion zu erziehen und er hätte dies als Abfall vom Islam gewertet.392 Die religiöse Erziehung sei eine „zivile“ (private) Ange1&keyfield=64696E206BC3BC6C74C3BC72C3BC2076652061686C616B206269 6C67697369 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 385  s.  Bulaç, Özgür ve Sivil eˇ gitim (Freie und zivile Erziehung) v. 13.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=651211 &keyfield=64696E206BC3BC6C74C3BC72C3BC2076652061686C616B206269 6C67697369 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 386  s.  Bulaç, Özgür ve Sivil eˇ gitim (Freie und zivile Erziehung) v. 13.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=651211 &keyfield=64696E206BC3BC6C74C3BC72C3BC2076652061686C616B206269 6C67697369 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 387  s.  Bulaç, Özgür ve Sivil eˇ gitim (Freie und zivile Erziehung) v. 13.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=651211 &keyfield=64696E206BC3BC6C74C3BC72C3BC2076652061686C616B206269 6C67697369 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 388  s.  Bulaç, Özgür ve Sivil eˇ gitim (Freie und zivile Erziehung) v. 13.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=651211 &keyfield=64696E206BC3BC6C74C3BC72C3BC2076652061686C616B206269 6C67697369 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 389  s.  Bulaç, Islam’dan korkmalımıyız? (Müssen wir Angst vor dem Islam haben?), 2009, S. 87. 390  s.  Bulaç, Islam’dan korkmalımıyız? (Müssen wir Angst vor dem Islam haben?), 2009, S. 88. 391  s.  Bulaç, Özgür ve Sivil eˇ gitim (Freie und zivile Erziehung) v. 13.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=651211 &keyfield=64696E206BC3BC6C74C3BC72C3BC2076652061686C616B206269 6C67697369 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 392  s.  Bulaç, Özgür ve Sivil eˇ gitim (Freie und zivile Erziehung) v. 13.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=651211 &keyfield=64696E206BC3BC6C74C3BC72C3BC2076652061686C616B206269 6C67697369 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012).

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

legenheit und jede Religion müsse ihre eigene Erziehung erteilen können.393 Insoweit sei die Beschwerde vor dem EGMR in der Rechtssache Hasan und Eylem Zengin . / . Türkei berechtigt gewesen.394 Der Staat müsse zumindest zuverlässige und ausreichende Inhalte zum Alevitentum anbieten.395 Zwar könne der Staat bei der Erziehung eine regelnde und beaufsichtigende Rolle übernehmen, könne aber nicht den Inhalt des Religionsunterrichts bestimmen und keine offizielle Ideologie indoktrinieren.396 Solange nicht Hass und die Verletzung der Rechte anderer propagiert werde, sollte das Wesen des Religionsunterrichts durch die Zugehörigen der Religion selbst bestimmt werden.397 Obgleich nach Bulaç es nicht ausreichend ist, den türkischen Religionsunterricht „Religiöse Kultur und Sittenlehre“ seinem Inhalt nach um das Alevitentum zu erweitern, so sieht er darin doch eine Entwicklung in die richtige Richtung.398

393  s.  Bulaç, Özgür ve Sivil eˇ gitim (Freie und zivile Erziehung) v. 13.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=651211 &keyfield=64696E206BC3BC6C74C3BC72C3BC2076652061686C616B206269 6C67697369 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 394  s.  Bulaç, Özgür ve Sivil eˇ gitim (Freie und zivile Erziehung) v. 13.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=651211 &keyfield=64696E206BC3BC6C74C3BC72C3BC2076652061686C616B206269 6C67697369 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 395  s.  Bulaç, Özgür ve Sivil eˇ gitim (Freie und zivile Erziehung) v. 13.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=651211 &keyfield=64696E206BC3BC6C74C3BC72C3BC2076652061686C616B206269 6C67697369 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 396  s.  Bulaç, Özgür ve Sivil eˇ gitim (Freie und zivile Erziehung) v. 13.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=651211 &keyfield=64696E206BC3BC6C74C3BC72C3BC2076652061686C616B206269 6C67697369 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 397  s.  Bulaç, Özgür ve Sivil eˇ gitim (Freie und zivile Erziehung) v. 13.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=651211 &keyfield=64696E206BC3BC6C74C3BC72C3BC2076652061686C616B206269 6C67697369 (zuletzt aufgerufen 15.04.2012); ders.; Din Dersi ve Alevilik (Reli­ gionsunterricht und Alevitentum) v. 17.01.2011, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1079960&keyfield=64696E206BC3BC6 C74C3BC72C3BC2076652061686C616B2062696C67697369 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 398  s.  Bulaç, Din Dersi ve Alevilik (Religionsunterricht und Alevitentum) v. 17.01.2011, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do ?yazino=1079960&keyfield=64696E206BC3BC6C74C3BC72C3BC2076652061686 C616B2062696C67697369 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012).



V. Ali Bulaç369

d) Kopftuchverbot Das Kopftuch sei für jede Muslima, die ihre Religion ernst nehme, eine religiöse Pflicht.399 Diese Pflicht beginne mit der Pubertät.400 Für Kinder gelte diese Pflicht zwar nicht, gleichwohl sei es das Recht der Eltern, ihre Kinder schon früh mit dem Kopftuch vertraut zu machen und es müsse ihnen als Ausübung eines Grundrechts erlaubt sein, dass das eigene Kind die Grundschule mit einem Kopftuch besuchen darf.401 Der Wunsch einer Muslima, sich dem Gottesgebot entsprechend, mit Ausnahme von Gesicht, Händen und Füßen, zu bedecken, sei unzweifelhaft ihr natürliches und unverzichtbares Recht, über das es keine Kompromisse geben könne.402 Prinzipiell dürfen sich weder der Staat noch internationale Organisationen, auch der EGMR, in diese Entscheidung einmischen.403 Der EGMR habe mit 399  s.  Bulaç, Başörtüsü, yaklaşımlar (Kopftuch, Annäherungen) v. 18.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do? yazino=1041479 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012); ders., Başörtüsünde çerçeve (Ein Umriss beim Kopftuch) v. 13.11.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1052354&keyfield=4261C59FC3B67274 C3BC73C3BC (zuletzt aufgerufen am 01.08.2011); Koran Sure 24 Vers 31: „Uns das den gläubigen Frauen, sie sollen (statt jemanden anzustarren, lieber) ihre Augen niederschlagen, und sie sollen darauf achten, daß ihre Scham bedeckt ist (…), den Schmuck, den sie (am Körper) tragen, nicht offen zeigen, soweit er nicht (normalerweise) sichtbar ist, ihren Schal sich über den (vom Halsausschnitt nach vorne heruntergehend) Schlitz (des Kleides) ziehen und den Schmuck, den sie (am Körper) tragen, niemand (…) offen zeigen, außer ihrem Mann, ihrem Vater, ihrem Schwiegervater, ihren Söhnen, ihren Stiefsöhnen, ihren Brüdern, den Söhnen ihrer Brüder und ihrer Schwester, ihren Frauen (d. h. den Frauen mit denen sie Umgang pflegen?), ihren Sklavinnen (…), den männlichen Bediensteten (…), die keinen (Geschlechts)trieb (mehr) haben, und den Kindern, die noch nichts von weiblichen Geschlechtsteilen wissen.(…).“, Paret, Der Koran, 2007, S. 246; Koran Sure 33 Vers 59: „Prophet! Sag deinen Gattinnen und Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen (wenn sie austreten) sich etwas von ihrem Gewand (über den Kopf) herunterziehen. So ist es am ehesten gewährleistet, daß sie (als ehrbare Frauen) erkannt und daraufhin nicht belästigt werden. Gott aber ist barmherzig und bereit zu vergeben.“, Paret, Der Koran, 10. Aufl. (2007), S. 297. 400  s. Bulaç, Başörtüsünde çerçeve (Ein Umriss beim Kopftuch) v. 13.11.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=105235 4&keyfield=4261C59FC3B67274C3BC73C3BC (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 401  s. Bulaç, Başörtüsünde çerçeve (Ein Umriss beim Kopftuch) v. 13.11.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=105235 4&keyfield=4261C59FC3B67274C3BC73C3BC (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 402  s. Bulaç, Başörtüsü, yaklaşımlar (Kopftuch, Annäherungen) v. 18.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1041479 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 403  s. Bulaç, Başörtüsünde çerçeve (Ein Umriss beim Kopftuch) v. 13.11.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=105235 4&keyfield=4261C59FC3B67274C3BC73C3BC (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012);

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

seinen Urteilen in der Rechtssache Leyla Şahin . / . Türkei und Dahlab . / . Schweiz gezeigt, dass er, sobald es um Beschwerden von Muslimen geht, mit zweierlei Maß messe.404 Richtig sei es vielmehr, dass sich jeder entsprechend den Grundsätzen seines Glaubens kleiden dürfe, solange darin kein Eingriff in die Rechte Dritter vorliegt.405 Dies gelte für das Kopftuch wie für das Nonnenhabit.406 Das Problem sei, dass das Kopftuchgebot unter Berufung auf den Laizismus verboten werde, im öffentlichen Raum nicht sichtbar gemacht werden dürfe oder der Frau, die im öffentlichen Dienst arbeiten möchte, ihr Kopftuch als Grund für eine Rechtsverweigerung herangezogen werde.407 Die Behauptung, das Kopftuch verstoße gegen den Laizismus, sei eine willkürliche Auslegung.408 Vielmehr schütze der Laizismus das Tragen eines Kopftuches.409 Aus islamischer Perspektive ist der Koran und die Sunna offen für Auslegung und Rechtsfortbildung und jeder könne nach seiner Konfes­ ­ sion  leben, auch könne, wer wolle, seine Konfession wechseln, und wer keinen Glauben habe, könne frei nach seiner Vorstellung leben und werde nicht zum Glauben und zur entsprechend religiösen Lebensweise gezwungen.410 Dies ergebe sich aus dem Grundsatz „Es gibt keinen Zwang im Zur Kritik am mangelnden Einsatz der EU gegen das Kopftuchverbot in der Türkei, s. Bulaç, AB, başörtüsü ve diyanet (EU, Kopftuch und Diyanet) v. 14.04.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=676830 &keyfield=4261C59FC3B67274C3BC73C3BC (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 404  Vgl. nur Bulaç, AIHM’ye son nokta (der letze Punkt beim EGMR) v. 06.12.2005, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do ?yazino=235436&keyfield=4261C59FC3B67274C3BC73C3BC (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 405  s. Bulaç, Başörtüsünde çerçeve (Ein Umriss beim Kopftuch) v. 13.11.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=105235 4&keyfield=4261C59FC3B67274C3BC73C3BC (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 406  s.  Bulaç, Başörtüsünde Çerçeve (Ein Umriss beim Kopftuch) v. 13.11.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=105 2354&keyfield=4261C59FC3B67274C3BC73C3BC (zuletzt aufgerufen am 15.04. 2012). 407  s.  Bulaç, Başörtüsü, yaklaşımlar (Kopftuch, Annäherungen) v. 18.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1041479 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 408  s.  Bulaç, Laiklik ve başörtüsü (Laizismus und Kopftuch) v. 09.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=649645 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 409  s.  Bulaç, Laiklik ve başörtüsü (Laizismus und Kopftuch) v. 09.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=649645 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 410  s.  Bulaç, Laiklik ve başörtüsü (Laizismus und Kopftuch) v. 09.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=649645 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012).



V. Ali Bulaç371

Glauben“.411 Wenn dem so ist, müsse sich der Staat gegenüber allen Religionen, Konfessionen, Glauben und Weltanschauungen neutral verhalten und dürfe keine der anderen gegenüber bevorzugen, keine zur offiziellen Religion oder Ideologie erklären und müsse die Unterdrückung der einen durch die anderen verhindern.412 Dies entspreche dem Islam.413 Es gebe daher keine Grundlage im Laizismus, wonach in dessen Namen das Kopftuch verboten werden könnte.414 Diese Auslegung entspreche auch dem Laizismus in der türkischen Verfassung, welche gerade nicht das Verbot enthalte, den Laizismus zugunsten der Freiheiten auszuweiten.415 Aus der Perspektive der liberal-demokratischen Prinzipien ergeben sich nach Bulaç zwei problematische Aspekte:416 Erstens das Prinzip, dass in einer liberalen Demokratie die Rechte und Freiheiten der Minderheit vor dem „Zwang“ der Mehrheit geschützt werden.417 Bulaç stellt die rhetorische Frage, warum die kopftuch­ tragende Mehrheit gegenüber der nichtkopftuchtragenden Minderheit Zwang ausüben sollte.418 Bulaç beantwortet seine Frage damit, dass in einem solchen Fall nicht durch Zwang des Staates der Mehrheit die Ausübung religiöser Handlungen verboten werden dürfe, sondern im Einzelnen juristisch gegen Personen vorgegangen werden müsse, die Zwang ausübten.419 Sodann 411  s.  Bulaç, Laiklik ve başörtüsü (Laizismus und Kopftuch) v. 09.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=649645 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 412  s.  Bulaç, Laiklik ve başörtüsü (Laizismus und Kopftuch) v. 09.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=649645 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 413  s.  Bulaç, Laiklik ve başörtüsü (Laizismus und Kopftuch) v. 09.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=649645 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 414  s.  Bulaç, Laiklik ve başörtüsü (Laizismus und Kopftuch) v. 09.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=649645 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 415  s.  Bulaç, Laiklik ve başörtüsü (Laizismus und Kopftuch) v. 09.02.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=649645 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 416  s.  Bulaç, Başörtüsü, yaklaşımlar (Kopftuch, Annäherungen) v. 18.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1041479 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 417  So Bulaç, Başörtüsü, yaklaşımlar (Kopftuch, Annäherungen) v. 18.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino= 1041479 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 418  So Bulaç, Başörtüsü, yaklaşımlar (Kopftuch, Annäherungen) v. 18.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino= 1041479 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 419  s.  Bulaç, Başörtüsü, yaklaşımlar (Kopftuch, Annäherungen) v. 18.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1041479 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012).

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

erkennt Bulaç ein Problem hinsichtlich des Prinzips des Kompromisses und der Verhandlung.420 Unveränderliches421 sei nicht verhandelbar, sondern es müsse vielmehr diskutiert werden, wie eine pluralistische Ordnung gegründet werden könne.422 Die Verhandlung über religiöse Hauptpflichten sei nichts anderes als die kemalistische Übung.423 Bulaç kritisiert daneben die Behauptung, dass das Kopftuch ein politisches Symbol sei.424 Keine gläubige Muslima trage vor, das Kopftuch sei für sie ein politisches Symbol.425 Diese Behauptung werde lediglich von Laizisten und Gegnern des Kopftuches vorgetragen.426 Es sei respektlos und ein Eingriff in das Recht der Muslima, das Selbstverständnis der kopftuchtragenden Muslime zu ignorieren und sie nach der Fremdzuschreibung zu beurteilen.427 Bulaç kritisiert das iranische, türkische und französische Modell im Umgang mit dem Kopftuch.428 Der Kopftuchzwang im Iran sei die Folge eines modern-nationalstaatlichen Reflexes und unislamisch.429 Das Kopftuchgebot sei eine zivile Angelegenheit und die freie Entscheidung des Einzelnen, es zu tragen.430 420  s.  Bulaç, Başörtüsü, yaklaşımlar (Kopftuch, Annäherungen) v. 18.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino= 1041479 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 421  Also Rechte, wie das der Religionsfreiheit. 422  s.  Bulaç, Başörtüsü, yaklaşımlar (Kopftuch, Annäherungen) v. 18.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino= 1041479 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 423  s.  Bulaç, Başörtüsü, yaklaşımlar (Kopftuch, Annäherungen) v. 18.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino= 1041479 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 424  s.  Bulaç, Başörtüsü neyin simgesi (1) (Was symbolisiert das Kopftuch) v. 28.01.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar. do?yazino=643779 (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 425  s.  Bulaç, Başörtüsü neyin simgesi (1) (Was symbolisiert das Kopftuch) v. 28.01.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar. do?yazino=643779 (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 426  s.  Bulaç, Başörtüsü neyin simgesi (1) (Was symbolisiert das Kopftuch) v. 28.01.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar. do?yazino=643779 (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 427  s.  Bulaç, Başörtüsü neyin simgesi (1) (Was symbolisiert das Kopftuch) v. 28.01.2008, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar. do?yazino=643779 (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 428  s.  Bulaç, Başörtüsü, modeller (Kopftuch, Modelle) v. 20.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1042487 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 429  s.  Bulaç, Başörtüsü, modeller (Kopftuch, Modelle) v. 20.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1042487 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 430  s.  Bulaç, Başörtüsü, modeller (Kopftuch, Modelle) v. 20.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1042487 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012).



V. Ali Bulaç373

Weder im Koran noch in der Sunna gebe es eine materielle bzw. weltliche Strafe für das Nichttragen des Kopftuches.431 Die Rechtfertigung erfolge ausschließlich vor Gott.432 Anders als der Iran verbiete die Türkei dagegen das Kopftuch im öffentlichen Raum und verkürze so die öffentlichen Rechte der kopftuchtragenden Frauen.433 Frankreich verbiete das Kopftuch an staatlichen Schulen, wohingegen das Kopftuch an privaten Schulen erlaubt sei.434 Alle drei Modelle hätten eine Gemeinsamkeit:435 Den Gedanken, dass die staatliche Autorität über den öffentlichen Raum herrscht.436 Beim iranischen Kopftuchzwang, dem türkischen und dem französischen Kopftuchverbot versichere sich der Staat seiner Herrschaft.437 Das Kopftuchverbot setze den Staat in das Zentrum und sei eine Einmischung in die Religion und widerspreche dem soziokulturellen Pluralismus.438 Bulaç erkennt darin die Verkürzung der Rechte der Mehrheit (positive Religionsfreiheit) zum Schutze der Rechte der Minderheit (negative Religions­ freiheit).439 Dieses mache aus der Demokratie ein Minderheitenregime.440 431  s.  Bulaç, Başörtüsü, modeller (Kopftuch, Modelle) v. 20.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1042487 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 432  s.  Bulaç, Başörtüsü, modeller (Kopftuch, Modelle) v. 20.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1042487 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 433  s.  Bulaç, Başörtüsü, modeller (Kopftuch, Modelle) v. 20.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1042487 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 434  s.  Bulaç, Başörtüsü, modeller (Kopftuch, Modelle) v. 20.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1042487 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 435  s.  Bulaç, Başörtüsü, modeller (Kopftuch, Modelle) v. 20.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1042487 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 436  s.  Bulaç, Başörtüsü, modeller (Kopftuch, Modelle) v. 20.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1042487 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 437  s.  Bulaç, Başörtüsü, modeller (Kopftuch, Modelle) v. 20.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1042487 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 438  s.  Bulaç, Başörtüsü, modeller (Kopftuch, Modelle) v. 20.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1042487 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 439  s.  Bulaç, Başörtüsü, modeller (Kopftuch, Modelle) v. 20.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1042487 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 440  s.  Bulaç, Başörtüsü, modeller (Kopftuch, Modelle) v. 20.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1042487 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012).

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

Nach dem islamischen Modell dagegen könne jeder, gleich welcher Religionszugehörigkeit oder Weltanschauung, frei über die eigene Bekleidung entscheiden.441 Der Staat und die öffentlichen Einrichtungen mischen sich im islamischen Modell in diese Angelegenheit nicht ein.442 Islamisch sei es, wenn der Staat einen Kopftuchzwang nicht vorschreibt, da so das Recht jener geschützt werde, die kein Kopftuch tragen möchten.443 Das religiöse Bekenntnis und seine äußere Ausdrucksform sind kein Kriterium für den öffentlichen Dienst.444 Hier komme es ausschließlich auf Geeignetheit an.445 e) Verbot islamischer Parteien Bulaç kritisiert das Parteiverbot gegen die FP durch das TVerfG und das Urteil des EGMR in der Rechtssache Refah Parisi . / . Türkei.446 Die FP habe weder Gewalt angewendet noch habe sie dazu aufgerufen und sei nur wegen der Forderung zur Aufhebung des Kopftuchverbotes verboten worden.447 Ausgehend vom Laizismus werde eine Ideologie durch die Gesetze geschützt.448 Dieser ideologische Schutz widerspreche dem sonst angenom441  s.  Bulaç, Başörtüsü, modeller (Kopftuch, Modelle) v. 20.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1042487 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 442  s.  Bulaç, Başörtüsü, modeller (Kopftuch, Modelle) v. 20.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1042487 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 443  s.  Bulaç, Başörtüsü, modeller (Kopftuch, Modelle) v. 20.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1042487 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 444  s.  Bulaç, Başörtüsü, modeller (Kopftuch, Modelle) v. 20.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1042487 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 445  s.  Bulaç, Başörtüsü, modeller (Kopftuch, Modelle) v. 20.10.2010, in: Zaman Online, im Internet unter: http: /  / www.zaman.com.tr / yazar.do?yazino=1042487 (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 446  s.  Bulaç, Son kapatma (Letzte Schließung) v. 26.06.2001, in: Zaman, im Internet unter: http: /  / arsiv.zaman.com.tr / 2001 / 06 / 26 / yazarlar / AliBULAC.htm (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012); ders., Malul karar (Invalide Entscheidung) v. 08.08.2001, in: Zaman, im Internet unter: http: /  / arsiv.zaman.com.tr / 2001 / 08 / 08 /  yazarlar / AliBULAC.htm (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 447  s.  Bulaç, Son kapatma (Letzte Schließung) v. 26.06.2001, in: Zaman, im Internet unter: http: /  / arsiv.zaman.com.tr / 2001 / 06 / 26 / yazarlar / AliBULAC.htm (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 448  s.  Bulaç, Son kapatma (Letzte Schließung) v. 26.06.2001, in: Zaman, im Internet unter: http: /  / arsiv.zaman.com.tr / 2001 / 06 / 26 / yazarlar / AliBULAC.htm (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012).



V. Ali Bulaç375

menen Rechtsverständnis und werde wie eine Barriere vor dem Grundsatz des Vorrangs des Rechts verwendet.449 Die Kopftuchfreiheit verstoße eigentlich gar nicht gegen nationales Recht,450 denn die EMRK sei Teil des natio­ nalen Rechts.451 Das TVerfG hätte hier in seiner Urteilsfindung die EMRK anwenden und ein Parteiverbot ablehnen können.452 Der EGMR habe das Verbot gegen die RP bestätigt, weil aus Sicht des EGMR der RP zwar nicht nachgewiesen werden konnte, dass sie Gewalt angewendet habe, wohl aber der Verdacht dafür bestanden habe.453 Dabei sei der Verdacht nicht einmal dazu geeignet, ein Indiz, geschweige denn ein Beweis zu sein.454 Der EGMR messe mit zweierlei Maß, wenn er christliche Parteien wie die CDU, die sich in ihren Parteiprogrammen auf die Bibel stütze und für eine größere Akzeptanz ihrer Werte in der gesellschaftlichen Ordnung würbe, akzeptiere, im Gegensatz dazu aber nur der islamisch-pluralistische Vorschlag der RP der Verbotsgrund für diese sei.455 Der EGMR habe eine falsche Entscheidung getroffen, weil er den Islam und die Muslime nicht in das demokratische System einbinden wolle und diese als absolut schlecht und schädlich betrachtet.456 Wenn der EGMR das Islamverständnis der RP zum Gegenstand seines Urteils gemacht hätte, wäre das nachvollziehbar gewesen.457 449  s.  Bulaç, Son kapatma (Letzte Schließung) v. 26.06.2001, in: Zaman, im Internet unter: http: /  / arsiv.zaman.com.tr / 2001 / 06 / 26 / yazarlar / AliBULAC.htm (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 450  s.  Bulaç, Son kapatma (Letzte Schließung) v. 26.06.2001, in: Zaman, im Internet unter: http: /  / arsiv.zaman.com.tr / 2001 / 06 / 26 / yazarlar / AliBULAC.htm (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 451  s.  Bulaç, Son kapatma (Letzte Schließung) v. 26.06.2001, in: Zaman, im Internet unter: http: /  / arsiv.zaman.com.tr / 2001 / 06 / 26 / yazarlar / AliBULAC.htm (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 452  s.  Bulaç, Son kapatma (Letzte Schließung) v. 26.06.2001, in: Zaman, im Internet unter: http: /  / arsiv.zaman.com.tr / 2001 / 06 / 26 / yazarlar / AliBULAC.htm (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 453  s.  Bulaç, Malul karar (Invalide Entscheidung) v. 08.08.2001, in: Zaman, im Internet unter: http: /  / arsiv.zaman.com.tr / 2001 / 08 / 08 / yazarlar / AliBULAC.htm (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 454  s.  Bulaç, Malul karar (Invalide Entscheidung) v. 08.08.2001, in: Zaman, im Internet unter: http: /  / arsiv.zaman.com.tr / 2001 / 08 / 08 / yazarlar / AliBULAC.htm (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 455  s.  Bulaç, Malul karar (Invalide Entscheidung) v. 08.08.2001, in: Zaman, im Internet unter: http: /  / arsiv.zaman.com.tr / 2001 / 08 / 08 / yazarlar / AliBULAC.htm (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 456  s.  Bulaç, Malul karar (Invalide Entscheidung) v. 08.08.2001, in: Zaman, im Internet unter: http: /  / arsiv.zaman.com.tr / 2001 / 08 / 08 / yazarlar / AliBULAC.htm (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 457  s.  Bulaç, Malul karar (Invalide Entscheidung) v. 08.08.2001, in: Zaman, im Internet unter: http: /  / arsiv.zaman.com.tr / 2001 / 08 / 08 / yazarlar / AliBULAC.htm (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012).

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

Aber der Bezug auf den Islam als solches und seine rechtlichen Errungenschaften seien eine Überschreitung der Kompetenzen des EGMR.458 3. Zwischenergebnis Bulaçs Gedanken zum Laizismus entsprechen nicht dem des türkischen, sondern wohl eher dem des deutschen Trennungsmodells, wobei bei Bulaç der Schutz der negativen Religionsfreiheit keinen Vorrang vor dem Schutz der positiven Religionsfreiheit hat. Nach Bulaç ist der Islam mit dem Laizismus vereinbar, sofern sich der Staat nicht in religiöse Angelegenheiten einmischt und die öffentliche Religionsausübung nicht verboten wird. Er fordert daher die Abschaffung des Kopftuchverbotes, die Einführung eines den Religionsgemeinschaften übertragenen privaten Religionsunterrichts und langfristig die Ausgliederung des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten aus dem Staatswesen. Ähnlich wie für Karaman ist für Bulaç ein plurales Rechtssystem gerechter, mithin besser geeignet, um den Bedürfnissen einer pluralen Gesellschaft gerecht zu werden. Die Feststellung, dass sich das Verhältnis von Staat und Religion im Osmanischen Reich und in der Türkei verkehrt hat, ist zutreffend.459 Verklärt wirken dagegen die Ausführungen zum Umgang mit den Minderheiten im Osmanischen Reich und die daraus abgeleitete Forderung nach einem pluralen Rechtssystem.460 Einen obligatorischen Religionsunterricht, wie er in der Türkei stattfindet, hält Bulaç mit der Religionsfreiheit unvereinbar und fordert eine Korrektur des Lehrplans. Zugleich befürwortet er einen freiwilligen außerstaatlichen Religionsunterricht. Das Kopftuchverbot zum Schutz der nichtmuslimischen Minderheit betrachtet Bulaç als den Zwang eines Minderheitenregimes. In der Tat fällt auf, dass in der Entscheidung des EGMR in der Rechtssache Leyla Şahin . / . Türkei das religiöse Selbstverständnis der Beschwerdeführerin in den Abwägungsprozess nicht eingeflossen ist. Gleichwohl ist bei entsprechender Berücksichtigung in Anbetracht der Politisierung des Kopftuches im Allgemeinen eine Abwägung zugunsten der Bf. nicht zwangsläufig. Unberück458  s.  Bulaç, Malul karar (Invalide Entscheidung) v. 08.08.2001, in: Zaman, im Internet unter: http: /  / arsiv.zaman.com.tr / 2001 / 08 / 08 / yazarlar / AliBULAC.htm (zuletzt aufgerufen am 15.04.2012). 459  s. o. D. VI. 3. e) dd). 460  Zur Diskriminierung von Nichtmuslimen im pluralen Rechtssystem des Osmanischen Reiches s. o. C. III.



VI. Ismail Kara377

sichtigt bleibt bei Bulaç der Schutz der Kinderrechte, wenn er Eltern das Recht zuerkennt, das eigene Kind schon früh an das Kopftuch zu gewöhnen. Richtig ist die Einschätzung Bulaç’s hinsichtlich des Parteiverbots durch das TVerfG gegenüber der FP. Allein die Forderung der FP zur Aufhebung des Kopftuchverbotes dürfte gegen die EMRK und gegen die Trennung von Staat und Religion nicht verstoßen.

VI. Ismail Kara461 1. Person und Bedeutung Kara wurde 1955 geboren und absolvierte 1973 die İstanbul İmam-Hatip Schule (Istanbuler Prediger Schule).462 1977 besuchte er das Hohe Istanbuler Islaminstitut (İstanbul Yüksek İslâm Enstitüsü) und schloss 1986 sein Studium an der Philosophischen Fakultät, Abteilung für Geschichte, der Universität Istanbul ab.463 1987 macht er seinen Master am sozialwissenschaftlichen Institut der Universität Istanbul, wo er 1993 zum Thema „İslâmcılara Göre Meşrutiyet idaresi (1908–1914)“ (Die konstitutionelle Monarchie nach Ansicht der Islamisten 1908–1914) promovierte.464 1995 wurde er zunächst Lehrkraft, 2000 Dozent und schließlich 2006 Professor an der Theologischen Fakultät, Abteilung für islamische Philosopie, der Marmara Universität in Istanbul.465 2. Rechtsauffassung zum Säkularisationsprozess des Osmanischen Reiches und der Republik Türkei Nach der Überzeugung Karas habe sich der türkische Modernisierungskurs statt gegen den politischen Islam (Islamismus) immer gegen den Islam Folgenden Kara. im Internetauftritt der Marmara Universität, im Internet unter: http: /  / ilahiyat.marmara.edu.tr / sayfa / 5493 / akademik / akademik (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 463  s. Vorstellung Kara im Internetauftritt der Marmara Universität, im Internet unter: http: /  / ilahiyat.marmara.edu.tr / sayfa / 5493 / akademik / akademik (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 464  s. Vorstellung Kara im Internetauftritt der Marmara Universität, im Internet unter: http: /  / ilahiyat.marmara.edu.tr / sayfa / 5493 / akademik / akademik (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 465  s. Vorstellung Kara im Internetauftritt der Marmara Universität, im Internet unter: http: /  / ilahiyat.marmara.edu.tr / sayfa / 5493 / akademik / akademik (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 461  Im

462  s. Vorstellung

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

und gegen die Muslime gerichtet.466 Die republikanische Religionspolitik nach 1923 sei, anders als die osmanische Politik, darauf beschränkt gewesen, die Religion zur Legitimation der politischen Ziele sowie zur Beeinflussung der Bevölkerung zu nutzen.467 Grund für diese Religionspolitik sei nicht nur die innenpolitische Situation, sondern vielmehr die Außenpolitische Stärkung der Republik gewesen.468 So sei das Motto „der Islam behindere den Fortschritt“ plötzlich nach den Vertragsverhandlungen von Lausanne aufgetaucht, obgleich Mustafa Kemal kurz zuvor sich hinter den Koran, den Propheten und das Kalifat gestellt habe.469 Die Erklärung, die ausschlaggebenden Akteure hätten nur günstige Umstände zur Verwirk­ lichung eines von vornherein gefassten Reformplans abgewartet, hält Kara zumindest für unvollständig, wenn nicht für naiv.470 Diese religionspolitischen Maßnahmen zur Stärkung der Republik hätten sich im Verlauf als untauglich für die Etablierung von Werten und Normen herausgestellt, welche ihrerseits von den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen

466  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde Bir Mesele Olarak Islam (Der Islam als Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 17. 467  s.  Kara, Eine Behörde im Spannungsfeld von Religion und Staat: Das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, in: Seufert / Waardenburg (Hrsg.), Türkischer Islam und Europa, 1999, S. 209 (212). Im Osmanischen Reich habe das Bestreben zu einer Neuinterpretation der Religion und die Umwälzung des religiösen Verständnisses und der religiösen Praxis nur eine nachrangige Rolle gespielt. Die Änderung der Religion sei, anders als in der Republik, kein Ziel, sondern vielmehr als notwendiges Übel akzeptiert worden, um das Reich zu modernisieren. Vielmehr wurde der Versuch unternommen, den Islam mit der Moderne zu vereinbaren. Wesentlich sei gewesen, dass das Osmanische Reich im Rahmen seines Verwestlichungsprozesses stets darauf geachtet habe, Maßnahmen religiös nachvollziehbar und verständlich zu machen. Der dabei entstandene Abstand zwischen modernisierter und traditioneller religiöser Gesellschaft wurde nicht als Gefahr wahrgenommen. Die mit der Modernisierung beabsichtigte Neubelebung religiösen Denkens habe schließlich die bisweilen als islamische Moderne und Islamismus bezeichnete Strömung hervorgebracht, s. Kara, Eine Behörde im Spannungsfeld von Religion und Staat: Das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, in: Seufert / Waardenburg (Hrsg.), Türkischer Islam und Europa, 1999, S. 209 (210, 211); ders., Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir mesele Olarak Islam, 2. Aufl. (2008), S. 27. 468  s.  Kara, Eine Behörde im Spannungsfeld von Religion und Staat: Das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, in: Seufert / Waardenburg (Hrsg.), Türkischer Islam und Europa, 1999, S. 209 (212). 469  s.  Kara, Eine Behörde im Spannungsfeld von Religion und Staat: Das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, in: Seufert / Waardenburg (Hrsg.), Türkischer Islam und Europa, 1999, S. 209 (213). 470  s.  Kara, Eine Behörde im Spannungsfeld von Religion und Staat: Das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, in: Seufert / Waardenburg (Hrsg.), Türkischer Islam und Europa, 1999, S. 209 (212).



VI. Ismail Kara379

gleichwohl hätten geteilt werden können.471 So sei die Trennung von Sultanat und Kalifat und die Reduzierung des Kalifats auf „ein Amt ohne tatsächliche Kompetenz“472, die Auflösung der Ersten Nationalversammlung sowie die Aufnahme von Artikeln in den Vertrag von Lausanne übereilt und ohne Abwägung von Vor- und Nachteilen vollzogen worden.473 Das Os­ manische Reich habe eine Modernisierung als muslimischer Staat in Ver­ antwortung für die islamische Welt zu vollziehen versucht, dessen Akteure sich gleichzeitig als Muslime verstanden.474 Die republikanische Ideologie dagegen habe den Islam bei ihrem Modernisierungskurs außen vor ge­ lassen.475 Sie habe, gleich was sie unter Laizismus verstand und gleich wie sie das Trennungsmodell umsetzte, oftmals den Konflikt mit dem Islam in Kauf genommen und mithilfe dieses Konfliktes versucht, eine Identität zu stiften.476 3. Rechtsauffassung zum Präsidium für religiöse Angelegenheiten Für Kara beruht die Errichtung des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten weniger auf einer Kontinuität denn auf einem Bruch mit seinen Vorgängerinstitutionen, nämlich des Scheich ul Islam und des Scheriats- und Stiftungsministeriums.477 Denn anders als die Vorgängerinstitutionen habe das Präsidium für religiöse Angelegenheiten seine Unabhängigkeit in religiösen 471  s.  Kara, Eine Behörde im Spannungsfeld von Religion und Staat: Das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, in: Seufert / Waardenburg (Hrsg.), Türkischer Islam und Europa, 1999, S. 209 (212). 472  Die Aufhebung des Kalifats habe zugleich die Abschaffung des Scharniers bedeutet, welches die neue Türkei mit dem Rest der islamischen Welt verband. Die Türkei habe es seither weder vermocht noch versucht, tragfähige Beziehungen mit der islamischen Welt aufzubauen, dessen geopolitischer, geokultureller und strategischer Teil sie sei und auf dessen Unterstützung sie im Grunde angewiesen sei, s.  Kara, Eine Behörde im Spannungsfeld von Religion und Staat: Das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, in: Seufert / Waardenburg (Hrsg.), Türkischer Islam und Europa, 1999, S. 209 (215). 473  s.  Kara, Eine Behörde im Spannungsfeld von Religion und Staat: Das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, in: Seufert / Waardenburg (Hrsg.), Türkischer Islam und Europa, 1999, S. 209 (212, 213). 474  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir mesele Olarak Islam (Der Islam als Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 28. 475  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir mesele Olarak Islam (Der Islam als Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 28. 476  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir mesele Olarak Islam (Der Islam als Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 28. 477  s.  Kara, Eine Behörde im Spannungsfeld von Religion und Staat: Das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, in: Seufert / Waardenburg (Hrsg.), Türkischer Islam und Europa, 1999, S. 209 (221).

380

E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

Fragen verloren.478 Kara kritisiert insoweit diesen Kompetenzverlust, der das Präsidium für religiöse Angelegenheiten lediglich zu einer Verwaltungseinheit mache und dessen Einfluss über die Fassung der Moscheepredigten, der Beantwortung von Anfragen aus der Bevölkerung und über Veröffentlichungen nicht hinausgehe.479 Kritik übt Kara zudem daran, dass die türkische Politik bei Maßnahmen, die den religiösen Kult betrafen, entweder die Meinung des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten nicht einholte, oder sich über eine negative Stellungnahme hinwegsetzte.480 So ist für Kara klar, dass die republikanische Ideologie keine Trennung von Staat und Religion nach westlichem Vorbild vorsah, vielmehr dieses Modell als gefährlich erachtet habe.481 Stattdessen ging und gehe es nach wie vor darum, die Religion zu säkularisieren und diese aus ihren Aufgaben und Forderungen im öffentlichen Raum zu verdrängen.482 In sich sei diese Vorgehensweise im Sinne des türkischen Laizismus gleichwohl schlüssig gewesen:483 Der Staat gewann an religiöser Kompetenz, um die Religion dem Staat zu unterwerfen und den ­Bereich der Religion einzugrenzen.484 Die Religion sei zum Objekt der Politik geworden, denn die Religion war entweder eine Bedrohung für den gesellschaftlichen Frieden oder aber sie war Mittel politischer Legitimation in einer säkular und national-türkischen Version.485 So kommt Kara zu der ­ 478  s.  Kara, Eine Behörde im Spannungsfeld von Religion und Staat: Das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, in: Seufert / Waardenburg (Hrsg.), Türkischer Islam und Europa, 1999, S. 209 (221) ff. 479  s.  Kara, Eine Behörde im Spannungsfeld von Religion und Staat: Das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, in: Seufert / Waardenburg (Hrsg.), Türkischer Islam und Europa, 1999, S. 209 (227, 228). 480  Namentlich bei der Einführung des türkischen Gebets (Gebetsruf, Totenruf, Ritualgebet und Bekenntnisformel) und der türkischen Freitagspredigt sowie bei der Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee, s. Kara, Eine Behörde im Spannungsfeld von Religion und Staat: Das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, in: Seufert / Waardenburg (Hrsg.), Türkischer Islam und Europa, 1999, S. 209 (229). 481  s.  Kara, Eine Behörde im Spannungsfeld von Religion und Staat: Das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, in: Seufert / Waardenburg (Hrsg.), Türkischer Islam und Europa, 1999, S. 209 (230); ders., Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Islam, 2. Aufl. (2008), S. 77. 482  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Islam (Der Islam als Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 80. 483  s.  Kara, Eine Behörde im Spannungsfeld von Religion und Staat: Das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, in: Seufert / Waardenburg (Hrsg.), Türkischer Islam und Europa, 1999, S. 209 (230). 484  s.  Kara, Eine Behörde im Spannungsfeld von Religion und Staat: Das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, in: Seufert / Waardenburg (Hrsg.), Türkischer Islam und Europa, 1999, S. 209 (230). 485  s.  Kara, Eine Behörde im Spannungsfeld von Religion und Staat: Das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, in: Seufert / Waardenburg (Hrsg.), Türkischer Islam und Europa, 1999, S. 209 (230).



VI. Ismail Kara381

Schlussfolgerung, dass das Präsidium für religiöse Angelegenheiten sich mehr der Religion des Staates als der Religion der Muslime angenommen habe und dessen Interpretation von Religion sich freiwillig oder gezwungenermaßen staatlichen Tendenzen angepasst habe und bestrebt sei, das Religionsverständnis des Volkes umzuwälzen.486 Trotz dieser staatlichen Fesseln habe die Politik versucht, in der Bevölkerung das Ansehen und die Akzeptanz des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten zu fördern, indem Persönlichkeiten mit hoher Reputation an seine Spitze berufen wurden.487 Die Frage der Übertragung der Aufgaben des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten auf religiöse Gemeinschaften sowie die Frage der Repräsentation der Aleviten durch das Präsidium für religiöse Angelegenheiten sei potentiell bereits 1924 und tatsächlich mit dem Übergang zum Mehrparteiensystem entstanden.488 Neu sei es allerdings, dass diese Fragestellungen schließlich im Lichte der Demokratisierung und der Freiheitlichkeit und auch im Zuge des EU-Beitrittsprozesses eingebracht worden seien.489 Der seit den 80er Jahren begonnene Diskurs leide nach Kara daran, dass der Islam die Muslime und der Laizismus von allen Beteiligten, auch von den Islamisten (Islamcılar), lediglich theoretisch im Zusammenhang mit der Demokratisierung und den Menschenrechten diskutiert werde und dabei die sozio-politische Bedeutung vernachlässigt werde.490 Verstünde man den Laizismus als Trennung von Staat und Religion, gebe es in der Türkei in diesem Sinne keinen Laizismus.491 Zwar gebe es in der Türkei keinen direkten Einfluss der Religion auf den Staat.492 Der Staat übe aber durch die Einbettung des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten in den staatlichen Corpus direkten Einfluss auf die Religion aus.493 Der Staat lege die Religion nicht nur aus, er schließe sich auch beste486  s.  Kara, Eine Behörde im Spannungsfeld von Religion und Staat: Das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, in: Seufert / Waardenburg (Hrsg.), Türkischer Islam und Europa, 1999, S. 209 (232). 487  s.  Kara, Eine Behörde im Spannungsfeld von Religion und Staat: Das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, in: Seufert / Waardenburg (Hrsg.), Türkischer Islam und Europa, 1999, S. 209 (232). 488  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Islam (Der Islam als Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 93. 489  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Islam (Der Islam als Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 93. 490  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Islam (Der Islam als Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 93. 491  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Islam (Der Islam als Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 94. 492  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Islam (Der Islam als Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 94. 493  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Islam (Der Islam als Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 94.

382

E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

henden religiösen Auslegungen an.494 Es sei sogar möglich zu konstatieren, der türkische Staat habe über die Zeit eine bestimmte unveränderte religiöse Auffassung entwickelt.495 Die staatliche Auslegung der Religion gebe dem Staat, wenn auch verdeckt, eine religiöse Identität.496 Das sich Anschließen an eine vorhandene religiöse Auffassung führe zu einer Wahl zwischen den verschiedenen religiösen Auffassungen der Bürger.497 Problematisch sei es zudem, dass das Präsidium für religiöse Angelegenheiten zwar nicht allen Bürgern dient, gleichwohl aber durch allgemeine Steuern aller Bürger (Nichtmuslime, Atheisten, Aleviten, und nicht religiös praktizierende Bürger) finanziert werde.498 Darin sieht Kara einen Verstoß gegen den aus dem staatlichen Neutralitätsgebot erwachsenden Gleichheitsgrundsatz.499 Der Staat wahre nicht zu allen seinen Bürgern den gleichen Abstand.500 Dieser „hinkende“ (aksak) Laizismus müsse durch die Übertragung der Aufgaben des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten an die religiösen Gemeinden und an zivile Einrichtungen beendet werden.501 Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten sei keine repräsentierende Institution, d. h. weder der Islam, noch eine bestimmte Auslegung des Islams oder eine Konfession werden durch dieses vertreten.502 Es kennzeichne vielmehr eine republikanische Politik, welche sich in Anbetracht 494  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Islam (Der Islam als Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 94. 495  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Islam (Der Islam als Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 94. 496  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Islam (Der Islam als Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 94. 497  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Islam (Der Islam als Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 94. 498  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Islam (Der Islam als Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 94. 499  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Islam (Der Islam als Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 94. 500  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Islam (Der Islam als Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 94. 501  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Islam (Der Islam als Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 94. Kara geht in diesem Zusammenhang auf den Begriff der religiösen Gemeinschaften (cemaat) näher ein. So existierten in der Türkei rechtlich neben den christlichen und jüdischen Gemeinschaften, die sich aus dem Vertrag von Lausanne ergeben, keine religiösen Gemeinschaften. Mithin könne auf die gleichwohl tatsächlich bestehenden muslimischen Gemeinschaften, die, um eine Illegalität zu umgehen, als Stiftungen und Vereine organisiert seien, auch keine Übertragung des Präsidiums stattfinden, s. ders., Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Islam (Der Islam als Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 96. 502  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Islam (Der Islam als Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 97, 98.



VI. Ismail Kara383

der verschiedenen Konfessionen bemühe, die Religion zu vereinheitlichen.503 Die Aleviten seien vor diesem Hintergrund, weil sie zumeist in dörflichen Regionen angesiedelt waren und keine religiös motivierte politische Gefahr bedeuteten, von der Religionspolitik außen vor gelassen.504 Dies sei der Grund dafür, dass sich das Präsidium für religiöse Angelegen­heiten ausschließlich mit dem sunnitischen Islam befasse.505 Es sei darum gegangen, den sunnitischen Islam für das System zu gewinnen und zu verändern.506 Die alevitischen Forderungen sollten unter Berücksichtigung der historischen Erfahrung und unter Einbeziehung aller durch die Religionspolitik betroffenen Religionsgemeinschaften diskutiert werden.507 4. Zwischenergebnis Kara konstatiert zu Recht, dass es in der Türkei einen „hinkenden“ Laizismus gibt. Tatsächlich sei die Türkei kein laizistischer Staat im Sinne einer Trennung von Staat und Religion. Die Türkei habe über das Präsidium für religiöse Angelegenheiten eine staatliche Religion etabliert und damit zugleich auch seine aus dem Gleichheitsgebot erwachsende Neutralität nicht gewahrt. Er fordert mit Karaman und Bulaç die Übertragung der Aufgaben des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten auf die Religionsgemeinschaften. Ausgehend von der Neutralitätspflicht des Staates gegenüber allen Religionen kann der Rückschluss gezogen werden, dass Kara grundsätzlich die Trennung von Staat und Religion nicht ablehnt.

503  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 98. 504  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 98. 505  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 98. 506  s.  Kara, Cumhuriyet Türkiyesi’nde bir Mesele Olarak Problem der republikanischen Türkei), 2. Aufl. (2008), S. 98. 507  Ebd.

Islam (Der Islam als Islam (Der Islam als Islam (Der Islam als Islam (Der Islam als

384

E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

VII. Präsidium für religiöse Angelegenheiten 1. Bedeutung508 Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten hat einen großen Einfluss auf die Religiosität der Muslime in der Türkei.509 Es macht seinen Einfluss in besonderem Maße über die Moscheen und Koranschulen geltend.510 Daneben übt das Präsidium für religiöse Angelegenheiten durch Publikationen und die Beantwortung von Anfragen durch die muslimische Bevölkerung Einfluss aus.511 Die Mehrheit der türkischen Bevölkerung betrachtet die Existenz des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten als eine Notwendigkeit, wenngleich eine Gruppe von Eliten und Intellektuellen gegen die Existenz des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten ist und dessen Abschaffung fordert.512 Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten genießt trotz aller Kritik das Vertrauen der Mehrheit der Bevölkerung, welche das Präsidium für religiöse Angelegenheiten als eine theologische Autorität betrachtet.513 Die Mehrheit der Muslime in der Türkei vertraut den Erklärungen des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten.514 Sie ist der Ansicht, den Entscheidungen des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten solle gefolgt werden und es stünde nicht unter politischem Einfluss.515 Zudem ist die Mehrheit der Ansicht, das Präsidium für religiöse Angelegenheiten vereinige die Gesellschaft durch seine Tätigkeiten und verhindere extremistische und gefährliche Interpretationen der Religion.516 Darüber hinaus ist die Mehrheit 508  Zu den Aufgaben und der Struktur des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten s. o., Kapitel D., S. 171 ff. 509  s.  Okumuş, Turkey-Religiosity and the PRA, in: The Muslim World, Vol. 98 (2008), S. 345 (353 ff.). 510  s.  Okumuş, Turkey-Religiosity and the PRA, in: The Muslim World, Vol. 98 (2008), S. 345 (353). 511  s.  Okumuş, Turkey-Religiosity and the PRA, in: The Muslim World, Vol. 98 (2008), S. 345 (353 ff.); Zu den religiösen Diensten des Präsidiums s. Er, Religious Services of the PRA, in: The Muslim World, Vol. 98 (2008), S. 271–281. 512  s.  Okumuş, Turkey-Religiosity and the PRA, in: The Muslim World, Vol. 98 (2008), S. 345 (349). 513  Auch die Mehrheit der Aleviten unterstützen prinzipiell die Existenz des Präsidiums, s. Ucar, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft, 2005, S. 227; Howe, Turkey Today, 2000, S. 39. 514  Vgl. Taş, The Social Status of the PRA in Turkey and its Overall Assessment: Common Public Opinion, in: The Muslim World, Vol. 98 (2008), S. 363, (364). 515  Vgl. Taş, The Social Status of the PRA in Turkey and its Overall Assessment: Common Public Opinion, in: The Muslim World, Vol. 98 (2008), S. 363, (365). 516  Vgl. Taş, The Social Status of the PRA in Turkey and its Overall Assessment: Common Public Opinion, in: The Muslim World, Vol. 98 (2008), S. 363, (367).



VII. Präsidium für religiöse Angelegenheiten385

der Bevölkerung der Ansicht, die Existenz des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten vertrage sich mit dem „secularism principle“.517 2. Rechtsauffassungen zum Verhältnis von Staat und Religion a) Bedeutung des Laizismus Der vom 23.–27.11.1998 tagende II. Religionsrat518 des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten befasste sich mit den Themen „Aufklärung der Gesellschaft in religiösen Themen und Probleme auf Grund der anderen Auslegung der Religion und Lösungswege“, „Religiöse Erziehung“ und „Interreligiöser Dialog“.519 Den Abschluss der Tagung des II. Religionsrates markiert die 39 Punkte umfassende Abschlusserklärung.520 In seinem Abschlussbericht konstatiert das Präsidium für religiöse Angelegenheiten, dass das Verhältnis von Religion und Staat in der Geschichte der Menschheit nicht sehr positiv verlaufen sei.521 Insbesondere in Europa habe der Streit zwischen Kirche und Regierenden zur Entstehung laizistischer Regime geführt.522 Der Laizismus ersetze dabei nicht die Religion der Art, dass nun der Laizismus ein Dogma-System etabliere und zum ideologischen Zwangsmittel werde und die Menschen zum „Glauben“ zwinge.523 Laizismus bringe vielmehr zum Ausdruck, dass der Mensch die Quelle der Herrschaft sei.524 Laizismus bedeute nicht Religionslosigkeit, sondern sei vielmehr die Garantie für Religionsfreiheit.525 Aus diesem Grund könne der 517  Vgl. Taş, The Social Status of the PRA in Turkey and its Overall Assessment: Common Public Opinion, in: The Muslim World, Vol. 98 (2008), S. 363, (367). 518  Satzung des Religionsrates erlassen auf Grund §  19 Gesetz Nr. 633 v. 22.06.1965, in: RG v. 02.07.1965, Nr. 12038, S. 2, durch Ministerratsbeschluss v. 16.02.1993, Nr. 93 / 4257, in: RG v. 30.04.1993, Nr. 21567, S. 1–4; zuletzt geändert durch Ministerratsbeschluss v. 24.07.1998, in: RG v. 17.08.1998, Nr. 23436, S. 1–2. 519  Vgl. II. Din Şurası Kararları (Entscheidungen des II. Religionsrates), 1998, S. 3, 6 u. 8 (auch in englischer Sprache). 520  Vgl. II. Din Şurası Kararları (Entscheidungen des II. Religionsrates), 1998, S. 3–10 (auch in englischer Sprache). 521  Vgl. Ziffer 4, II. Din Şurası Kararları (Entscheidungen des II. Religionsrates), 1998, S. 4 (auch in englischer Sprache). 522  Vgl. Ziffer 4, II. Din Şurası Kararları (Entscheidungen des II. Religionsrates), 1998, S. 4 (auch in englischer Sprache). 523  Vgl. Ziffer 4, II. Din Şurası Kararları (Entscheidungen des II. Religionsrates), 1998, S. 4 (auch in englischer Sprache). 524  Vgl. Ziffer 4, II. Din Şurası Kararları (Entscheidungen des II. Religionsrates), 1998, S. 4 (auch in englischer Sprache). 525  Vgl. Ziffer 4, II. Din Şurası Kararları (Entscheidungen des II. Religionsrates), 1998, S. 4 (auch in englischer Sprache).

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

Laizismus nicht als Zwangsmittel gegen die Religionsfreiheit des Einzelnen verwendet werden.526 Nicht zuletzt sei der Laizismus kein Ziel, sondern ein Mittel zum friedlichen Zusammenleben der Gesellschaft.527 b) Vereinbarkeit von Islam und Demokratie Die Werte und die Kultur der Demokratie und des Islams stünden nicht im Widerspruch, vielmehr seien Demokratie und Islam miteinander vereinbar.528 Der Islam verbiete es, andere Meinungen im Namen Gottes zu unterdrücken.529 Er rufe, wie die Demokratie auch, zur politischen Teilnahme, zu Integration und zu Gerechtigkeit und Gleichheit auf.530 Muslimische Gelehrte sollten autoritäre Regime und politische Diskriminierung nicht unterstützen und ihre Regime nicht religiös rechtfertigen.531 Die Existenz verschiedener Religionen und religiöser Gruppierungen in der islamischen Gesellschaft stünden nicht im Widerspruch zueinander.532 Eine Angst vor Zwangskonvertierung zum Islam oder die Islamisierung von Nichtmuslimen dürfe es nicht geben.533 Der Islam garantiere jedem Menschen Religionsfreiheit.534 Der Islam in der Türkei sei moderat, wozu die Demokratie mit ihren Werten beigetragen habe und das zeige sich daran, dass in der Türkei andere Glaubensgemeinschaften Religionsfreiheit genössen.535 Im Islam genieße der interreligiöse Dialog höchste Priorität.536 Die Demokratie wie526  Vgl. Ziffer 4, II. Din Şurası Kararları (Entscheidungen des II. Religionsrates), 1998, S. 4 (auch in englischer Sprache). 527  Vgl. Ziffer 4, II. Din Şurası Kararları (Entscheidungen des II. Religionsrates), 1998, S. 4 (auch in englischer Sprache). 528  s.  Bardakoğlu, Die gemässigte Interpretation des Islam und das Türkische Modell der Diyanet, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 25 (38); ders., Islam und Demokratie in der Türkei, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 103 (116). 529  s.  Bardakoğlu, Islam und Demokratie in der Türkei, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 103 (113). 530  s.  Bardakoğlu, Islam und Demokratie in der Türkei, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 103 (113). 531  s.  Bardakoğlu, Die gemässigte Interpretation des Islam und das Türkische Modell der Diyanet, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 25 (39); ders., Islam und Demokratie in der Türkei, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 103 (116). 532  s.  Bardakoğlu, Die gemässigte Interpretation des Islam und das Türkische Modell der Diyanet, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 25 (39). 533  s.  Bardakoğlu, Die gemässigte Interpretation des Islam und das Türkische Modell der Diyanet, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 25 (39). 534  s.  Bardakoğlu, Die gemässigte Interpretation des Islam und das Türkische Modell der Diyanet, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 25 (39). 535  s.  Bardakoğlu, Die gemässigte Interpretation des Islam und das Türkische Modell der Diyanet, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 25 (40, 41).



VII. Präsidium für religiöse Angelegenheiten387

derum sei Grundvoraussetzung für ein friedliches Zusammenleben in interreligiöser Atmosphäre.537 536

c) Religionsfreiheit im Islam und in der Türkei Es gebe im Islam Grundprinzipien, die die Religionsfreiheit garantieren.538 Eines sei der Ausspruch des Propheten, dass „religiöse Handlungen nach den ihnen zugrundeliegenden Absichten beurteilt werden“.539 Ein Glaube, der auf unlauteren und unaufrichtigen Absichten beruhe, werde (von Gott) nicht akzeptiert.540 Aus dem Koran ergebe sich, dass es keinen Zwang in der Religion gebe.541 Das Wort Religion in dem Vers542 zeige den umfassenden Gültigkeitsbereich dieses allgemeinen Verbots, eine Person zum Glauben zu zwingen.543 Theologisch erkläre sich dieses Zwangsverbot damit, dass Recht und Unrecht ebenso wie Wahrheit und Lüge offenkundig seien und jeder Mensch selbst darüber entscheide, seine geistigen Fähigkeiten zu nutzen, um den Glauben zu wählen.544 Wo es aber eine Alternative nicht gäbe, bleibe auch die Aufrichtigkeit der Entscheidung des Einzelnen fragwürdig.545 Ein weiteres sich aus dem Koran ergebendes 536  s.  Bardakoğlu, Dialog und Toleranz, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 83 (84). 537  s.  Bardakoğlu, Dialog und Toleranz, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 83 (84). 538  s.  Bardakoğlu, Freiheit mit Religion: Die „Türkische Erfahrung“ Menschenrechte und Religionsfreiheit, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 51 (53). 539  s.  Bardakoğlu, Freiheit mit Religion: Die „Türkische Erfahrung“ Menschenrechte und Religionsfreiheit, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 51 (53). 540  s.  Bardakoğlu, Freiheit mit Religion: Die „Türkische Erfahrung“ Menschenrechte und Religionsfreiheit, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 51 (53). 541  s.  Bardakoğlu, Freiheit mit Religion: Die „Türkische Erfahrung“ Menschenrechte und Religionsfreiheit, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 51 (54). 542  Gemeint ist Sure 2, Vers 256: „In der Religion gibt es keinen Zwang (d. h. man kann niemand zum (rechten) Glauben zwingen). Der rechte Weg (des Glaubens) ist (durch die Verkündung des Islam) klar geworden (so daß er sich) vor der Verirrung (des heidnischen Unglaubens deutlich abhebt). Wer nun an die Götzen nicht [Hervorhebung im Original] glaubt, an Gott aber glaubt, der hält sich (damit) an der festesten Handhabe, bei der es kein Reißen gibt. Und Gott hört und weiß (alles)“, Paret, Der Koran, 2007, S. 38. 543  s.  Bardakoğlu, Freiheit mit Religion: Die „Türkische Erfahrung“ Menschenrechte und Religionsfreiheit, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 51 (54). 544  s.  Bardakoğlu, Freiheit mit Religion: Die „Türkische Erfahrung“ Menschenrechte und Religionsfreiheit, in: Ali Bardakoğlu, Religion und Gesellschaft, 2008, S. 51 (54). 545  s.  Bardakoğlu, Freiheit mit Religion: Die „Türkische Erfahrung“ Menschenrechte und Religionsfreiheit, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 51 (54).

388

E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

Prinzip sei es, dass Gott die gesamte Menschheit nicht unter einer einzigen Religion zu versammeln beabsichtige, denn „(…) wenn dein Herr gewollt hätte, so würden alle auf der Erde insgesamt gläubig werden. Willst du (Mohammed) die Leute zwingen, gläubig zu werden?“546 Auch ein anderer Vers hebe die Entscheidungsfreiheit hervor, wenn es heißt: „(…) wer will, der glaube, und wer will, der glaube nicht“.547 Der Koran messe dem Willen des Einzelnen hohe Priorität zu, obgleich er den Unglauben nicht gutheiße.548 Darüber hinaus gelte im Koran für die Religionsfreiheit das Prinzip der Gegenseitigkeit.549 Gott habe den Propheten Mohammed in Angesicht der Anfeindungen gebeten, wie folgt auf diese zu antworten: „Euch euer Glaube und mir mein Glaube.“550 Dieses Prinzip der Gegenseitigkeit verbiete Muslimen andere Religionen zu verunglimpfen (Blasphemieverbot).551 Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Religionsfreiheit und das Laizismus-Prinzip kennzeichne die Türkei als einen säkularen Staat ohne einen Bezug zum Islam, weshalb sie sogar säkularer sei als jene europäischen Länder, die das Christentum als Staatsreligion akzeptierten.552 Zwar werde manchmal die Stabilität des Säkularismus in der Türkei infrage gestellt, dieser sei aber fest in der türkischen Gesellschaft verankert und die Muslime in der Türkei hätten die Modernisierung verinnerlicht, sodass dieser unumkehrbar sei.553 d) Präsidium für religiöse Angelegenheiten Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten zeichne sich durch drei Merkmale aus: seinen öffentlichen, freiheitlichen und zivilen Charakter.554 546  s.  Bardakoğlu, Freiheit mit Religion: Die „Türkische Erfahrung“ Menschenrechte und Religionsfreiheit, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 51 (54). 547  s.  Bardakoğlu, Freiheit mit Religion: Die „Türkische Erfahrung“ Menschenrechte und Religionsfreiheit, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 51 (54). 548  s.  Bardakoğlu, Freiheit mit Religion: Die „Türkische Erfahrung“ Menschenrechte und Religionsfreiheit, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 51 (54). 549  s.  Bardakoğlu, Freiheit mit Religion: Die „Türkische Erfahrung“ Menschenrechte und Religionsfreiheit, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 51 (55). 550  s.  Bardakoğlu, Freiheit mit Religion: Die „Türkische Erfahrung“ Menschenrechte und Religionsfreiheit, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 51 (55). 551  s.  Bardakoğlu, Freiheit mit Religion: Die „Türkische Erfahrung“ Menschenrechte und Religionsfreiheit, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 51 (55). 552  s.  Bardakoğlu, Freiheit mit Religion: Die „Türkische Erfahrung“ Menschenrechte und Religionsfreiheit, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 51 (62). 553  s.  Bardakoğlu, Freiheit mit Religion: Die „Türkische Erfahrung“ Menschenrechte und Religionsfreiheit, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 51 (62). 554  s.  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (12); ders., Staat



VII. Präsidium für religiöse Angelegenheiten389

Diese ließen das „Minenfeld“ erkennen, in dem es sich bewege, und zudem definierten die Merkmale heute Struktur und Funktion des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten.555 aa) Öffentlicher Charakter des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten Öffentlich bedeute, dass das Präsidium eine öffentliche Institution, mithin Teil des Staates und des bürokratischen Systems sei.556 Der öffentliche Charakter des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten bedeute mit dem TVerfG keinen Verstoß gegen den Säkularismus in der Türkei.557 Denn Säkularismus bedeute, „(…) dass der Staat die Religion respektiere und dass sich diese aus staatlichen Belangen [heraushalte]“.558 Dies komme nicht einer völligen Trennung von Staat und Religion gleich.559 Säkularismus erfordere weder eine vollständige Unabhängigkeit noch die Existenz zweier voneinander getrennter Bereiche.560 Vielmehr handele es sich um eine „(…) Beziehung basierend auf gegenseitigem Respekt und wechselseitiger Balance“.561 Auf diese Weise werde die „(…) Dominanz verhindert, aber Kommunikation, Solidarität und Kooperation ermöglicht, was wiederum die gesellschaftliche Entwicklung [vorantreibe]“.562 „Der öffentliche Charakter des Präsidiums ist auf organisatorische Aspekte zurückzuführen.“563 „Es komm[e] darauf an, und Religion in der Modernen Türkei, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 119 (126 ff.). 555  s.  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (18). 556  s.  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (12, 13); ders., Die Gemässigte Interpretation des Islam und das Türkische Modell der Diyanet, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 25 (29). 557  s.  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (13). 558  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (13). 559  s.  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (13). 560  s.  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (13). 561  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (13). 562  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (13). 563  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (14).

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

welche religiösen Dienste das Präsidium anbiet[e] und welche Informationen es dabei zur Verfügung stell[e].“564 „Die persönliche [Hervorhebung durch Verfasserin] Meinung, die das Präsidium bei der öffentlichen Informationsvergabe vertritt, hat nichts [Hervorhebung durch Verfasserin] mit seinem staatlichen Charakter zu tun.“565 Die persönliche Meinung des Präsidiums werde dann zu einer öffentlichen, wenn „(…) die Organisation [gemeint ist das Präsidium für religiöse Angelegenheiten] von staatlicher Seite benötigt wird, oder um die Öffentlichkeit mit religiösen Dienstleistungen zu versorgen, und auch, um eine Gleichgewicht zwischen anderen Ansprüchen und Freiheiten herzustellen“.566 Die Existenz des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten bedeute keine Einmischung der Religion in staatliche Angelegenheiten und sei zugleich notwendig zur Sicherung und Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bei gleichzeitiger Gewährleistung der Religionsfreiheit.567 Wichtigstes Ziel des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten sei es deshalb, fundiertes religiöses Wissen zu vermitteln und die religiösen Angelegenheiten zu verwalten.568 Die Existenz des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten verstoße auch nicht gegen säkulare Staatsprinzipien.569 Es sei nicht der Staat, der entscheide, wie der Islam der Bevölkerung vermittelt werde, sondern das Präsidium für religiöse Angelegenheiten, welches unabhängig und eigenverantwortlich darüber befinde.570 Anderenfalls käme dies einem Verstoß gegen säkulare Prinzipien gleich, da in einem weltlichen System der Staat die Religion weder definieren noch interpretieren darf.571 Zwar sei das Präsidium für religiöse Angelegenheiten als öffentliche Einrichtung gegründet, was die jeweilige Entscheidung aber anbelangt, also auf welche Informationen es bei der Arbeit zurückgreife, sei das Präsidium für religiöse Angelegenheiten gänzlich frei.572 Säkularismus bedeute nicht, dass der Staat 564  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (14). 565  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (14). 566  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (14). 567  s.  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (13, 14). 568  s.  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (14). 569  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (160, 161). 570  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (161). 571  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (161). 572  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (161).



VII. Präsidium für religiöse Angelegenheiten391

die Religion ignoriert und ausblendet, sondern, dass der Staat von der Religion unabhängig ist, nicht vom Klerus, sondern vom Staatsmann regiert wird und seine Politik auf seinen eigenen Grundwerten (Vernunft) basiert.573 Eine private Verwaltung der religiösen Dienstleistungen sei nicht sinnvoll, solange keine Verbesserung im Bereich der Religion stattgefunden habe und solange das Risiko des Missbrauchs der Religion für persönliche Interessen nicht nachgelassen hat.574 Andernfalls führe dies zu schwerwiegenden Problemen und Zusammenstößen.575 bb) Freiheitlichkeit und Unabhängigkeit des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten Der türkische Staat dürfe sich nicht in die Interpretation der Religion einmischen.576 Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten genieße bei der Wahl seiner wissenschaftlichen und religiösen Aussagen völlige Freiheit.577 Es agiere selbständig und arbeite stets auf Grundlage fundierten Wissens und eigener wissenschaftlicher Kompetenz.578 Das Präsidium arbeite mit größter Sorgfalt und ohne Druck von außen und versuche, unter allen vorhandenen Interpretationen die zuverlässigste, möglichst original­ getreue, Auslegung zu wählen.579 Dabei achte es bei der Beantwortung der Fragen aus der Bevölkerung darauf, „(…) eine möglichst akkurate, verständliche und vernünftige Interpretation zu wählen und versuch[e] dabei zugleich Unabhängigkeit und Ursprünglichkeit zu wahren“.580 Auch der 573  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (161). 574  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (162). 575  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (162). 576  s.  Bardakoğlu, Die gemässigte Interpretation des Islam und das Türkische Modell der Diyanet, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 25 (31). 577  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (14); ders., Die gemässigte Interpretation des Islam und das Türkische Modell der Diyanet, in: Ali Bardakoğlu, Religion und Gesellschaft, 2008, S. 25 (30). 578  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (14); ders., Die gemässigte Interpretation des Islam und das Türkische Modell der Diyanet, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 25 (30). 579  s.  Bardakoğlu, Die gemässigte Interpretation des Islam und das Türkische Modell der Diyanet, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 25 (31). 580  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (15).

392

E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

Säkularismus müsse so verstanden werden.581 „Denn ein säkularer Staat leistet nicht einer bestimmten Interpretation von Religion Vorschub, sondern räumt sowohl seinen Bürgern als auch gesellschaftlichen Organisationen Religionsfreiheit ein.“582 „Eine staatliche Definition von Religion würde dem Säkularismus eindeutig widersprechen.“583 Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten betrachtet die Religion als „(…) soziologisches Phänomen, als eine Erfahrung, in der sich das alltägliche Leben widerspiegelt; etwas, das Menschen leben und erleben und das dem öffentlichen Interesse dient“.584 In Erinnerung an die religiöse Tradition und historisch-religiöse Erfahrungen, dass der Freiheit Grenzen gesetzt sind, verzichtet das Präsidium bei der Aufklärung der Öffentlichkeit in religiösen Belangen auf extreme oder paradoxe Erklärungen.585 Diese Grenzen hätten nichts mit dem öffentlichen Charakter der Religion, wie sie vom Präsidium für religiöse Angelegenheiten erklärt wird, zu tun.586 Die zurückhaltende Interpretation der Religion und die Einhaltung des „Mainstream“ durch das Präsidium liege nicht an seinem öffentlichen Charakter, sondern an der islamischen Methodologie und der Konsistenz religiöser Wissenserzeugung.587 cc) „Ziviler“ Charakter des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten sei eine „zivile“ Institution, welches sich von der Demokratie ableite.588 Damit die Mehrheit der Mus­ lime in der Türkei in die Lage versetzt wird, ihre religiösen Bedürfnisse befriedigen und ihren Glauben freiheitlich praktizieren zu können, benötigten sie glaubwürdige und korrekte Informationen, welche sie durch das 581  Vgl. Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (15). 582  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (15). 583  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (15). 584  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (16). 585  Vgl. Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (16). 586  s.  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (16). 587  s.  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (16, 17). 588  s.  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (17); ders., Die Gemässigte Interpretation des Islam und das Türkische Modell der Diyanet, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 25 (32).



VII. Präsidium für religiöse Angelegenheiten393

Präsidium für religiöse Angelegenheiten bekommen.589 Das Präsidium sei weder hierarchisch gegliedert, noch vom realen religiösen Leben bzw. den spirituellen Bedürfnissen der Menschen entfremdet.590 Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten ziehe, was den Islam angehe, die Erfahrungen, Bedürfnisse und die Vorlieben der Bevölkerung in Betracht.591 Das Präsi­ dium für religiöse Angelegenheiten sei weder eine Einrichtung, die Menschen benachteilige, beleidige oder religiöse Erfahrungen und Präferenzen verurteile, noch zwinge sie Menschen eine bestimmte Form der Religiosität auf.592 Dies sei der zivile Aspekt des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten.593 dd) Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten ist kein Klerus Das Konzept des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten widerspreche nicht der Annahme, dass es im Islam keinen Klerus gebe.594 Das Fehlen eines Klerus bedeute, dass es weder eine spezielle Gruppe noch eine gesellschaftliche Klasse gibt, die über spirituelle Kompetenzen verfügt, um im Namen Gottes oder der Religion zu sprechen.595 Gleichwohl habe es schon zu Zeiten Mohammeds Imame und religiöse Würdenträger gegeben, die spirituelle Handlungen durchführten und das religiöse Leben der Gesellschaft leiteten.596 Somit sei das Fehlen eines Klerus ein theologisches Konstrukt, welches sich auf den Ursprung der Theologie und auf die Botschaft, die der Glaube der Menschheit vermittelt, bezog.597 Auch das Prä589  s.  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (17). 590  s.  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (17). 591  s.  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (17). 592  s.  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (18). 593  s.  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (18). 594  s.  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für ­Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (12, 18); ders., Die Gemässigte Interpretation des Islam und das Türkische Modell der Diyanet, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 25 (28). 595  s.  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (12). 596  s.  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (12). 597  s.  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (12).

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

sidium für religiöse Angelegenheiten sei weder ein Klerus noch eine Geistlichkeit, sondern beschreibe eine „(…) sozio-strukturelle Organisation religiöser Beamter und Dienstleistungen sowie die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Stabilität und Stärke“.598 Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten sei als Antwort auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse entstanden, um die Nachfrage nach religiösen Dienstleistungen zu befriedigen und verschiedene Belange des Glaubens zu organisieren und zu verwalten.599 ee) Private Verwaltung der religiösen Angelegenheiten Die private Verwaltung der Religion könnte in der Türkei zu Problemen führen, solange keine Verbesserungen im Bereich der Religion bzw. der religiösen Erziehung stattgefunden haben.600 Erst, wenn Verbesserungen eintreten und das Risiko des Missbrauchs der Religion für persönliche Interessen nachlasse, käme eine Übertragung der Verwaltung religiöser Angelegenheiten auf die Glaubensgemeinschaft in Betracht.601 ff) Umgang des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten mit nichtsunnitischen Religionen Seinem Verständnis nach umfasse das Präsidium für religiöse Angelegenheiten prinzipiell alle Glaubensrichtungen.602 Als öffentlich-rechtliche Einrichtung müsse das Präsidium für religiöse Angelegenheiten neutral sein.603 Es versuche, mit seiner Arbeit und seinem Angebot die gesamte Bevölkerung ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu einer anderen Religion zu erreichen.604 Damit auch die Aleviten, da diese auch eine religiöse Glaubensgruppe inner598  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (12). 599  s.  Bardakoğlu, Die Gemässigte Interpretation des Islam und das Türkische Modell der Diyanet, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 25 (28). 600  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (162). 601  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (162). 602  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (164). 603  Vgl. Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (19). 604  s.  Bardakoğlu, Struktur, Auftrag und soziale Funktion des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 9 (22).



VII. Präsidium für religiöse Angelegenheiten395

halb des Islams seien.605 Allerdings müsse die aktuelle Repräsentation im Hinblick auf die Aleviten ausgebaut werden.606 Gleichwohl sei es falsch zu behaupten, das Präsidium für religiöse Angelegenheiten befasse sich nur mit dem sunnitischen Islam und sei eine sunnitische Einrichtung.607 Es sei eine Einrichtung, die sich bemühe, jeden zu berücksichtigen und über den Islam aufzuklären.608 Daher gebe es auch keinen Grund, eine eigenständige alevitische Religionsbehörde zu schaffen, da es eine solche für andere religiöse Gruppen auch nicht gebe.609 Die Verwaltung auch nichtmuslimischer Religionen durch das Präsidium für religiöse Angelegenheiten sei zwar denkbar, widerspreche aber dem Minderheitenstatus aus dem Vertrag von Lausanne.610 Im Übrigen wären diese nicht einverstanden, sich der Autorität des Präsi­ diums für religiöse Angelegenheiten zu unterstellen.611 Diese seien mit der aktuellen Regelung der Selbstverwaltung ihrer religiösen Angelegenheiten zufrieden.612 e) Religionsunterricht Im Abschlussbericht der II. Religionsratstagung fordert das Präsidium für religiöse Angelegenheiten die Einrichtung eines freiwilligen Faches zum Unterricht des Korans in der 6., 7. und 8. Klassenstufe.613 In Anbetracht des der aktuellen Lage („gelinen nokta“) solle der Lehrplan für das Unterrichtsfach Religiöse Kultur und Sittenlehre überprüft werden.614 Insbesondere an den 605  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (164). 606  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (164). 607  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (164, 165); ders., Freiheit mit Religion: Die „Türkische Erfahrung“ Menschenrechte und Religionsfreiheit, in: Religion und Gesellschaft, S. 51 (64). 608  s.  Bardakoğlu, Freiheit mit Religion: Die „Türkische Erfahrung“ Menschenrechte und Religionsfreiheit, in: Religion und Gesellschaft, S. 51 (64). 609  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (165). 610  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (163). 611  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (163). 612  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (163). 613  Vgl. Ziffer 15, II. Din Şurası Kararları (Entscheidungen des II. Religionsrates), 1998, S. 7 (auch in englischer Übersetzung). 614  Vgl. Ziffer 17, II. Din Şurası Kararları (Entscheidungen des II. Religionsrates), 1998, S. 7 (auch in englischer Übersetzung).

396

E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

Bildungseinrichtungen und in den Unterrichtsbüchern sollen klare und zuverlässige Informationen über unterschiedliche Religionen vermittelt werden.615 f) Kopftuchverbot Eine politische oder juristische Einlassung des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten zum Kopftuchverbot an öffentlichen Einrichtungen gibt es nicht.616 Es sei nicht Angelegenheit des Präsidiums, sich in den staatlichen Umgang mit dem Kopftuch einzumischen, dies sei die Angelegenheit der Politik.617 Aufgabe des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten sei es, religiöse Aspekte einer Angelegenheit zu beleuchten.618 Gleichwohl erkennt das Präsidium für religiöse Angelegenheiten an, dass für die Mehrheit der Muslime das Kopftuch ein religiöses Gebot ist.619 Zwar gebe es wenige, die der Ansicht sind, im Islam gebe es kein Kopftuchgebot.620 Diese Annahme trage zur Lösung des Problems aber nicht bei, solange die Mehrheit anderer Ansicht ist.621 3. Zwischenergebnis Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten übt keine offene Kritik am türkischen Laizismus. Lediglich anhand der Abschlussberichte lässt sich durch wenige abstrakt formulierte Aussagen zu mehr Religionsfreiheit mittelbar eine Kritik am türkischen Laizismus, mithin auch am Kopftuchverbot, ableiten. Die Einlassungen zur eigenen Rechtsnatur fallen durch ihre Staatskonformität auf und sind in argumentativ nicht stichhaltig. Es überzeugt nicht, wenn das Präsidium für religiöse Angelegenheiten zwischen der eigenen Einrichtung auf der einen und dem Staat auf der anderen Seite eine künst615  Vgl. Ziffer 31, II. Din Şurası Kararları (Entscheidungen des II. Religionsrates), 1998, S. 9 (auch in englischer Übersetzung). 616  So Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (165). 617  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (166). 618  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (166). 619  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (165). 620  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in: Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (165). 621  s.  Bardakoğlu, Interview mit Turkish Daily News (Fatma Demirelli) v. 10.05.2004, in:, Religion und Gesellschaft, 2008, S. 149 (165).



VIII. Abant-Plattform397

liche Unterscheidung herbeizuführen versucht. Denn das Präsidium ein Teil des Staates, der die sunnitisch-islamische Religion verwaltet. Insbesondere die Feststellung des Präsidiums, die Türkei sei säkularer als einige europäi­ sche Staaten, die eine Staatsreligion hätten, ist abzulehnen. Zwar hat die Türkei keine Staatsreligion im klassichen Sinne. Gleichwohl sucht der Staat durch Einmischung in die Angelegenheiten der Religion den Islam in der Türkei zu kontrollieren und einen homogenen türkischen Islam zu schaffen. In einer säkularen Staatlichen Ordnung halten sich jedoch Staat und Religion gegenseitig aus den Angelegenheiten des jeweils anderen heraus. Das Präsidium versucht sich als Behörde für alle Religionen zu gerieren, obwohl sie einfachgesetzlich ausschließlich für den Islam zuständig ist. Ist einmal konstatiert, dass es sich bei dem Präsidium für religiöse Angelegenheiten um eine staatliche Einrichtung handelt, ist es nicht nachvollziehbar, was mit „zivilem“ Charakter des Präsidiums gemeint ist. Widersprüchlich erscheint es andererseits zu behaupten, das Präsidium biete freiwillige Dienstleistungen an, wenn zugleich erklärt wird, dass Nichtmuslime sich aufgrund des Friedensvertrages von Lausanne nicht der „Autorität“ des Präsidiums unterwerfen müssten. Anders als man erwarten könnte, vertritt das Präsidium für religiöse Angelegenheiten zur Unterstützung des staatlichen Kopftuchverbotes nicht die These, der Islam kenne kein Kopftuchgebot. Vielmehr respektiert das Präsidium die Überzeugung der Mehrheit der Muslime, das Kopftuch sei ein religiöses Gebot. Darüber hinaus lässt sich aus der Ziffer 4 der Entscheidungen des II. Religionsrates die Aufhebung des Kopftuchverbotes als Gewährleistung der Religionsfreiheit ableiten. Dies mag daran liegen, dass das Präsidium für religiöse Angelegenheiten mit der These, im Islam gebe es kein Kopftuchgebot, die eigene Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung aufs Spiel setzen und damit den Rückhalt der Bevölkerung verlieren würde. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Bedenken des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten hinsichtlich der Vereinbarkeit von Islam und der Trennung von Staat und Religion nicht geäußert werden. Vielmehr wird die Gewährleistung von Religionsfreiheit und friedlicher Koexistenz verschiedener Religionen durch das Präsidium für religiöse Angelegenheiten begrüßt.

VIII. Abant-Plattform 1. Wesen und Bedeutung Die Abant-Plattform ist eine jährliche Zusammenkunft einer Gruppe von Wissenschaftlern und Intellektuellen in der Türkei, die zu wichtigen The-

398

E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

men des Landes in Abant622 diskutieren und ihre Diskussionsergebnisse der Öffentlichkeit präsentieren.623 Initiiert wurde die Abant-Tagung durch die Journalisten- und Autoren- Stiftung (Gazeteciler ve Yazarlar Vakfı).624 Die erste Tagung fand 1998 zum Thema „Islam und Laizismus“ (Islam ve Laiklik) statt.625 Die zweite Tagung fand 1999 zum Thema „Religion – Staat und Gesellschaft“ (Din-Devlet ve Toplum) statt.626 Die vorläufig letzte (26.) Tagung fand im März 2012 mit dem Titel „Der Rahmen der neuen Verfassung“ statt.627 Ziel der Zusammenkunft in Abant ist die Auseinandersetzung mit Grundsatzproblemen des Islams.628 Den Abschluss der Konferenz markiert eine gemeinsame Abschlusserklärung der Konferenzteilnehmer. Die gesellschaftliche Bedeutung der Abant-Konferenz und seiner Abschlusserklärung ergibt sich aus der Zusammensetzung der Teilnehmer, die ihrerseits bedeutende Wissenschaftler und Intellektuelle in der Türkei sind. Die im Folgenden besprochenen Abschlusserklärungen der ersten, zweiten und lezten Abant-Konferenz geben den Konsens in der streitigen Frage zum Verhältnis Islam und Staat wieder.

622  Abant

ist ein Ort nahe der Stadt Bolu im Westen der Türkei. Aramaˇgan, Din – Devlet ve Toplum (Religion, Staat und Gesellschaft), Abant Platformu – 2, 2000, S. 313; Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs, 2004, S. 173. 624  Internetauftritt der Abant-Platfomr im Internet unter: http:  /   /  www.abantplat form.org /  (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 625  Zu den Teilnehmern der ersten Abant-Konferenz gehörten in der Kommission 1 (Din – Devlet, Din – Dünya ilişkisi, Religion – Staat, Religion – Welt Verhältnis) Ilhami Güler und der Kommission 2 (Islam’da akıl-vahiy ilişkisi ve hakimiyet konusu, Das Verhältnis von Verstand und Offenbarung und Herrschaft im Islam) Hayreddin Karaman, Yaşar Nuri Öztürk, Mehmet Paçacı, Ömer Özsoy; für ausführliche Wiedergabe der einzelnen Kommissionen, Teilnehmer und Stellungnahmen der ersten Abant-Konferenz s. Gündem, Islam ve Laiklik (Islam und Laizismus), 1998. 626  Teilnehmer der zweiten Abant-Konferenz waren u.  a. Hayreddin Karaman, Mehmet Paçaci, Ali Bardakoğlu, Ali Bulaç; für ausführliche Informationen zur zweiten Konferenz s. Aramaˇgan, Din – Devlet ve Toplum (Religion – Staat und Gesellschaft), 2000. 627  Eine Übersicht zu den einzelnen Tagungen in englischer Sprache ist nachzulesen im Internet unter: http: /  / www.abantplatform.org / Haberler / Detay / 1993 /  %20 26 %20Abant %20Toplant %C4 %B1s %C4 %B1 %20Ba %C5 %9Flad %C4 %B1 (zuletzt aufgerufen am 13.05.2012). 628  s.  Ucar, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft, 2005, S. 207. 623  Vgl.



VIII. Abant-Plattform399

2. Rechtsauffassung zum Verhältnis von Staat und Religion a) Abschlusserklärung der 1. Abant-Konferenz aa) Gegenstand der 1. Abant-Konferenz In ihrer ersten gemeinsamen Abschlusserklärung der Abant-Konferenz im Jahr 1998 zum Thema „Islam und Laizismus“ haben die Konferenzteilnehmer folgende, für das Thema dieser Arbeit relevanten, Ziffern beschlossen:629 bb) Der Herrschaftsbegriff, Ziffer 3 der 1. Abschlusserklärung Die politische Herrschaft sei von der Herrschaft Gottes zu unterscheiden.630 Dem Koran zufolge sei die Herrschaft Gottes über die Welt im Hinblick auf sein Wissen, seinen Willen, seine Gnade, seine Gerechtigkeit und seine Kraft zweifelsohne absolut.631 Jedes Wesen sei dieser Allmacht untergeben.632 Etwas anderes dagegen meine der Begriff „Herrschaft des Volkes“.633 Dieser Begriff drücke lediglich aus, dass die Herrschaft nicht qua natürlichem oder göttlichem Recht einer Person, einer Klasse oder einer Gruppe zukommt.634 Politisch bedeute es vielmehr, dass der Wille des Volkes zur Grundlage genommen werden muss und darüber hinaus keine andere Kraft anerkannt wird.635 cc) Bedeutung und Aufgabe des Staates, Ziffer 4 der 1. Abschlusserklärung Der Staat sei eine weltliche Einrichtung ohne eine eigene Heiligkeit.636 Die Aufgabe des Staates sei es, dem Einzelnen, seinen Interessen und Bedürfnissen zu dienen.637 Zu den grundlegendsten und natürlichsten Interessen gehörten Leben, Sicherheit, Gerechtigkeit und Freiheit.638 Der Staat Gündem, Islam ve Laiklik, 1998, S. 269–272. Islam ve Laiklik, 1998, S. 270. 631  s.  Gündem, Islam ve Laiklik, 1998, S. 270. 632  s.  Gündem, Islam ve Laiklik, 1998, S. 270. 633  s.  Gündem, Islam ve Laiklik, 1998, S. 270. 634  s.  Gündem, Islam ve Laiklik, 1998, S. 270. 635  s.  Gündem, Islam ve Laiklik, 1998, S. 270. 636  s.  Gündem, Islam ve Laiklik, 1998, S. 270. 637  s.  Gündem, Islam ve Laiklik, 1998, S. 270. 638  s.  Gündem, Islam ve Laiklik, 1998, S. 270. 629  Vgl.

630  s.  Gündem,

400

E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

müsse zu jeder Ideologie, Religion und Philosophie gleichen Abstand wahren und dürfe keine totalitäre, autoritäre, harte und unterdrückende Staatsideologie haben.639 Werte und Forderungen wie Demokratie, Menschenrechte und das Leben in Freiheit und Frieden seien keine Bestandteile einer Ideologie.640 Der Staat müsse die Hindernisse für alle Religionen und Glaubensrichtungen aufheben und die Religionsfreiheit aller garantieren.641 dd) Der Staat im Islam, Ziffer 5 der 1. Abschlusserklärung Mit Ausnahme der universellen Grundwerte des demokratischen Rechtsstaates habe der Islam die Gestaltung der Einzelheiten des politischen Regimes der Gesellschaft überlassen.642 ee) Religionsfreiheit und Laizismus, Ziffer 6 der 1. Abschlusserklärung Der Staat müsse sich im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit gegenüber religiösen Bekenntnissen und philosophischen Überzeugungen neutral verhalten.643 Er müsse die positive wie die negative Religionsfreiheit schützen und Hindernisse für die Religionsausübung abschaffen.644 Der Laizismus sei ein Staatsprinzip und bezeichne keine Staatsreligion und bedeute auch nicht das Betreiben einer staatlichen Religionspolitik.645 Der Laizismus dürfe nicht als Prinzip zur Begrenzung der Grund- und Freiheitsrechte herangezogen werden.646 ff) Bedeutung des Laizismus, Ziffer 7 der 1. Abschlusserklärung Der Laizismus sei keine Religionsfeindlichkeit und dürfe auch nicht als das Einmischen in die Lebensführung der Menschen verstanden werden.647 Der Laizismus müsse den Freiheitsraum der Menschen erweitern.648 Insbe639  s.  Gündem, 640  s.  Gündem, 641  s.  Gündem, 642  s.  Gündem, 643  s.  Gündem, 644  s.  Gündem, 645  s.  Gündem, 646  s.  Gündem, 647  s.  Gündem, 648  s.  Gündem,

Islam Islam Islam Islam Islam Islam Islam Islam Islam Islam

ve ve ve ve ve ve ve ve ve ve

Laiklik, Laiklik, Laiklik, Laiklik, Laiklik, Laiklik, Laiklik, Laiklik, Laiklik, Laiklik,

1998, 1998, 1998, 1998, 1998, 1998, 1998, 1998, 1998, 1998,

S. 270. S. 270. S. 270. S. 270, 271. S. 271. S. 271. S. 271. S. 271. S. 271. S. 271.



VIII. Abant-Plattform401

sondere dürfe der Laizismus nicht zur Diskriminierung der Frau, namentlich zur Verkürzung ihrer Rechte im öffentlichen Raum, führen.649 gg) Forderungen, Ziffer 8 und 9 der 1. Abschlusserklärung Zur Überwindung der Konflikte in der Türkei müsse die freiheitliche Demokratie vertieft, die Zivilgesellschaft gestärkt und Hindernisse beseitigt werden.650 Die Bürger müssten aufhören, alles vom Staat zur erwarten und der Staat müsse seinerseits aufhören, den Bürger als Mündel zu betrachten.651 Solange es keine freiheitliche und auf Rechtsstaatlichkeit beruhende Regelung gibt, dürfe niemand bestraft, vom öffentlichen Dienst suspendiert, von der Bildung und sonstigen öffentlichen Leistungen ausgeschlossen werden.652 Das Prinzip des Laizismus müsse verfassungsrechtlich definiert werden als Gleichheit in den Menschenrechten, Gleichheit im Gerechtigkeitsprinzip und Zugeständnisfreiheit gleich welcher Religion oder Philosophie gegenüber.653 Sodann müsse der gesamte Rechtsstand vor dem Hintergrund dieses Laizismus reformiert werden, um die Ängste und Nöte der Bürger zu beenden.654 b) Abschlusserklärung der 2. Abant-Konferenz aa) Gegenstand der 2. Abant-Konferenz In ihrer zweiten gemeinsamen Abschlusserklärung der Abant-Konferenz im Jahr 1999 zum Thema „Din – Devlet ve Toplum“ (Religion – Staat und Gesellschaft) haben die Konferenzteilnehmer unter anderem folgende Ziffern beschlossen:655 bb) Laizismus im Christentum und Islam, Ziffer 7 der 2. Abschlusserklärung Das Verhältnis von Staat und Religion und dessen Ergebnis, der „laic­ism“, seien im Westen nach langer Auseinandersetzung und Zerrissenheit relativ 649  s.  Gündem, Islam ve Laiklik, 1998, S. 271; hier dürfte das Kopftuchverbot im öffentlichen Raum gemeint sein. 650  s.  Gündem, Islam ve Laiklik, 1998, S. 271. 651  s.  Gündem, Islam ve Laiklik, 1998, S. 271. 652  s.  Gündem, Islam ve Laiklik, 1998, S. 271. 653  s.  Gündem, Islam ve Laiklik, 1998, S. 271. 654  s.  Gündem, Islam ve Laiklik, 1998, S. 271, 272. 655  Vgl. in türkischer Sprache Armağan, Din – Devlet ve Toplum, 2000, S. 303– 312; in englischer Sprache ders., Din – Devlet ve Toplum, 2000, S. 313–317.

402

E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

fundiert etabliert.656 Dieses Ergebnis lasse aber nicht den Rückschluss zu, das Christentum sei für Demokratie und Laizismus zugänglich, wohingegen der Islam dies nicht sei.657 Der Konflikt zwischen Staat und Kirche sei im Westen historisch bedingt, dies resultiere zu großen Teilen aus sozialen Strukturen und wirtschaftlichen Entwicklungen.658 Das im Westen dominierende theokratische System von der Erklärung des Christentums zur Staatsreligion bis zur bürgerlichen Revolution zeige vielmehr, dass das Christentum für „laicism“ nicht so zugänglich ist wie angenommen.659 Mit ein oder zwei Ausnahmen gebe es im Westen nach wie vor Bezüge zur Religion in den Verfassungen.660 Gleichzeitig wurden Staat und Religion auf ein „laic foundation“ gestützt.661 Modernisierungsbestrebungen, die im 19. Jahrhundert in der osmanischen Gesellschaft ansetzten und mit Atatürk große Fortschritte machten, richteten sich nicht gegen den Kern der Religion, sondern gegen Tradi­ tionen, Erscheinungen und veraltete Institutionen, die als Religion verstanden wurden.662 Es sei natürlich, dass Schwierigkeiten und Spannungen, so wie es sie auch im Westen gab, zu Tage traten.663 Trotz der zunehmenden Religiosität und Spiritualität seit Ende des 20. Jahrhunderts und einer anfänglichen Anstrengung hin zu historischen und traditionellen Strukturen seien sich die gesellschaftlichen Teile, welche eine Rückkehr zur Religiosität erfahren, darüber bewusst, dass die demokratischen und freiheitlichen Ziele sowie die wirtschaftliche Dynamik der modernen Republik mit den im Kern des Islams enthaltenen Werten vereinbar sind.664 cc) Berücksichtigung der Umstände der Türkei, Ziffer 8 der 2. Abschlusserklärung Um das Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei auf stabilen Boden errichten zu können, dürfe nicht allein ein westlicher Staat als Vorbild genommen werden.665 Vielmehr müsse unter Zugrundelegung der eigenen gesellschaftlichen und historischen Bedingungen von den demokratisch-rechtsstaatlichen Anwendungen Nutzen gezogen werden.666 656  s.  Armağan, 657  s.  Armağan, 658  s.  Armağan, 659  s.  Armağan, 660  s.  Armağan, 661  s.  Armağan, 662  s.  Armağan, 663  s.  Armağan, 664  s.  Armağan, 665  s.  Armağan, 666  s.  Armağan,

Din Din Din Din Din Din Din Din Din Din Din

– – – – – – – – – – –

Devlet Devlet Devlet Devlet Devlet Devlet Devlet Devlet Devlet Devlet Devlet

ve ve ve ve ve ve ve ve ve ve ve

Toplum, Toplum, Toplum, Toplum, Toplum, Toplum, Toplum, Toplum, Toplum, Toplum, Toplum,

2000, 2000, 2000, 2000, 2000, 2000, 2000, 2000, 2000, 2000, 2000,

S. 314. S. 314. S. 314. S. 315. S. 315. S. 315. S. 315. S. 315. S. 315. S. 315. S. 315.



VIII. Abant-Plattform403

dd) Der zeitgemäße Staat, Ziffer 9 der 2. Abschlusserklärung Im Verhältnis von Staat und Religion solle die soziale, rechtliche und politische Strukturierung nach Maßgabe der zeitgemäßen Demokratie erfolgen.667 In diesem Zusammenhang müssen die völkerrechtlichen Verträge, denen die Türkei beigetreten ist, im Hinblick auf Menschenrechte erfüllt und insbesondere die Meinungs- und Religionsfreiheit geschützt werden.668 Im Vordergrund müsse ein Rechtsstaat stehen, der Demokratie, Gleichheit und Gerechtigkeit vor Augen hat und auf der Legitimationsgrundlage von Grundrechten und -freiheiten sowie auf den universalen moralischen Prinzipien beruht.669 Der zeitgemäße Staat müsse gegenüber politischen Ansichten und religiösen Überzeugungen unparteiisch sein und dem Individuum ohne Vorurteile begegnen.670 ee) Religionsfreiheit, Ziffer 13 und 14 der 2. Abschlusserklärung Der Staat sollte die Ausübung der Gedanken- und Religionsfreiheit nicht unterdrücken.671 Dies führe zur Entfremdung innerhalb der Gesellschaft und zu einer Vermehrung von verärgerten Gruppen.672 Die Aufgabe des heutigen Sozialstaates ist es, Möglichkeiten zu schaffen und Wege zu eröffnen, um den Menschen die Entwicklung der wirtschaft­ lichen und sozialen Rechte und der Meinungs- und Religionsfreiheit zu gewährleisten.673 ff) Lösungsweg, Ziffer 15 und 16 der 2. Abschlusserklärung Die Schwierigkeiten der Türkei im Verhältnis von Staat und Religion beruhten auf mangelnder Kommunikation, Missverständnissen und fehlendem Vertrauen zwischen den Individuen, welche Grundrechte einfordern, und den Staatsvertretern.674 So könne die Eruierung des Problems auf dieser Ebene zur Lösung des problematischen Verhältnisses von Staat und Reli­ gion in der Türkei beitragen.675 Zur Schaffung einer Gesellschaft, die auf 667  s.  Armağan, 668  s.  Armağan, 669  s.  Armağan, 670  s.  Armağan, 671  s.  Armağan, 672  s.  Armağan, 673  s.  Armağan, 674  s.  Armağan, 675  s.  Armağan,

Din Din Din Din Din Din Din Din Din

– – – – – – – – –

Devlet Devlet Devlet Devlet Devlet Devlet Devlet Devlet Devlet

ve ve ve ve ve ve ve ve ve

Toplum, Toplum, Toplum, Toplum, Toplum, Toplum, Toplum, Toplum, Toplum,

2000, 2000, 2000, 2000, 2000, 2000, 2000, 2000, 2000,

S. 315. S. 315, 316. S. 515, 316. S. 316. S. 316. S. 316. S. 316. S. 317. S. 317.

404

E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

Frieden, Freiheit, moderner Demokratie, Toleranz und Dialog beruht, kommen dem Staat, der Zivilgesellschaft, den Intellektuellen und den Medien Verantwortung zu.676 Auf diese Weise könne das Verhältnis von Staat und Religion auf eine rationale und humane Basis gestützt werden.677 c) Abschlusserklärung der 26. Abant-Konferenz aa) Gegenstand der 26. Abant-Konferenz Gegenstand der 26. Abant-Konferenz war die Frage der Ausgestaltung der neuen Verfassung für die Türkei.678 In Bezug auf das Verhältnis von Staat und Religion wurden für den Entwurf einer neuen Verfassung folgende Punkte im Rahmen der 26. Abschlusserklärung beschlossen: bb) Religionsfreiheit Zur Frage der Neuregelung der Religionsfreiheit für die neue Verfassung wurde beschlossen: „No one shall be subjected to discrimination in education, work and ­public sphere on the basis of religious belief and expression.“679 cc) Präsidium für religiöse Angelegenheiten Zur Frage der Neuregelung des Status des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten wurden folgende drei Vorschläge mehrheitlich beschlossen: 1. „The Office of Religious Affairs should be made a completely independent foundation and other faith groups should be allowed to set up similar foundations with financial contribution from the state.“680 676  s.  Armağan,

Din – Devlet ve Toplum, 2000, S. 317. Din – Devlet ve Toplum, 2000, S. 317. 678  Näheres dazu s.  im Internet unter http: /  / www.abantplatform.org / Haberler /  Detay / 1993 /  %2026 %20Abant %20Toplant %C4 %B1s %C4 %B1 %20Ba %C5 %9 Flad %C4 %B1 (zuletzt aufgerufen am 03.06.2012). 679  Abschlusserklärung der 26. Abant-Konferenz, 2012, im Internet unter: http: /  / www.abantplatform.org / Haberler / Detay / 2006 / Final %20Declaration %20of % 20the %2026th %20Abant %20Meeting %20Announced (zuletzt aufgerufen am 13.05. 2012). 680  Abschlusserkärung der 26 Abant-Konferenz, 2012, im Internet unter: http: /  / www.abantplatform.org / Haberler / Detay / 2006 / Final %20Declaration %20of % 20the %2026th %20Abant %20Meeting %20Announced (zuletzt aufgerufen am 13.05. 2012). 677  s.  Armağan,



VIII. Abant-Plattform405 2. „The Office of Religious Affairs should be funded by voluntary faith tax. Similar institutions should be established for different faith groups.“681 3. „The current status of the Office of Religious Affairs should be maintained and it should serve other faith groups as well.“682

dd) Religionsunterricht Zur Frage der Neuregelung des Religionsunterrichts wurde beschlossen: 1. „The Constitution should not have any provision about this.“683 2. „Objective and pluralistic ‚Religious Culture and Morality‘ classes should be mandatory. Religious education classes should be elective.“684 3. „Alternative and elective ‚Religious Culture and Morality‘ classes promoting critical thinking and pluralism should be offered.“685

3. Zwischenergebnis Es kann hinsichtlich der Erklärungen der Abant-Konferenz konstatiert werden, dass eine Unvereinbarkeit von Islam und Laizismus nicht vertreten wird. Die Kritik richtet sich gegen den türkischen Laizismus, der sich als Verstoß gegen die Trennung von Staat und Religion und die religiöse Neutralität darstellt. Dies gilt mit Blick auf den obligatorischen sunnitischhanfitischen Religionsunterricht und auch für das Präsidium für religiöse Angelegenheiten. Die Teilnehmer der Abant-Konferenz fordern eine Tren681  Abschlusserkärung der 26 Abant-Konferenz, 2012, im Internet unter: http: /  / www.abantplatform.org / Haberler / Detay / 2006 / Final %20Declaration %20of % 20the %2026th %20Abant %20Meeting %20Announced (zuletzt aufgerufen am 13.05. 2012). 682  Abschlusserkärung der 26 Abant-Konferenz, 2012, im Internet unter: http: /  / www.abantplatform.org / Haberler / Detay / 2006 / Final %20Declaration %20of % 20the %2026th %20Abant %20Meeting %20Announced (zuletzt aufgerufen am 13.05. 2012). 683  Abschlusserkärung der 26 Abant-Konferenz, 2012, im Internet unter: http: /  / www.abantplatform.org / Haberler / Detay / 2006 / Final %20Declaration %20of % 20the %2026th %20Abant %20Meeting %20Announced (zuletzt aufgerufen am 13.05. 2012). 684  Abschlusserkärung der 26 Abant-Konferenz, 2012, im Internet unter: http: /  / www.abantplatform.org / Haberler / Detay / 2006 / Final %20Declaration %20of % 20the %2026th %20Abant %20Meeting %20Announced (zuletzt aufgerufen am 13.05. 2012). 685  Abschlusserkärung der 26 Abant-Konferenz, 2012, im Internet unter: http: /  / www.abantplatform.org / Haberler / Detay / 2006 / Final %20Declaration %20of % 20the %2026th %20Abant %20Meeting %20Announced (zuletzt aufgerufen am 13.05. 2012).

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

nung von Staat und Religion als auch die Gewährleistung der Religionsfreiheit auch im öffentlichen Raum, namentlich für das Kopftuch. Diese Vorstellung von staatlicher Säkularität entspricht am ehesten dem deutschen Trennungsmodell. Für die Türkei wird ein Religionsverfassungsrecht gefordert dessen Lesart wie in Deutschland grundrechtszentriert ist. Die Behauptung, der Islam sei mit der Demokratie und dem Laizismus unvereinbar, wird zurückgewiesen. Vielmehr wird die Gewährleistung der Religionsfreiheit, die Wahrung der staatlichen Neutralität und der Gleichbehandlung ohne Ansehen der Religion gefordert. Im Zusammenhang mit der Religionsfreiheit liegt der Schwerpunkt der Forderungen in der Abkehr von Restriktionen. Die Trennung von Staat und Religion soll nicht als Einschränkung, sondern als Gewährleistung der Religionsfreiheit verstanden werden.

IX. Ankaraner Schule 1. Wesen und Bedeutung 1949 wird an der Universität Ankara die erste Theologische Fakultät „modern-wissenschaftlichen Zuschnitts“ nach westlichem Vorbild gegründet.686 In der deutschen Islamwissenschaft sowie in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbekannt, avancierte die türkisch-islamische Theologie der Theologischen Fakultät der Universität Ankara zu einem Geheimtipp der Islamwissenschaft.687 Hier werden neuerdings wissenschaftlich-kritische Ansätze zur Koran-Exegese veröffentlicht, die aufhorchen lassen und bis686  s.  Körner, Alter Text – neuer Kontext, 2006, S. 11; „Wir brauchen eine Theologie wie im Westen“ lautete die Forderung 1948 im türkischen Parlament, zitiert nach Körner, Alter Text – neuer Kontext, 2006, S. 11; ausführlich zu den theologischen Fakultäten in der Türkei s. Pacacı / Aktay, 75 Years of Higher Religious Education in Modern Turkey, in: Contemporary Islamic Thought, 2006, Kapitel 7, S. 122–144; Koştaş, Ankara Üniversitesi Ilahiyat Fakültesi (Theologische Fakultät der Universität Ankara), in: AÜIFD, Heft 31, S. 1–27; wenngleich die Tradition der Ankaraner Schule als „islamic modernism“ bezeichnet wird, so lehnen die Angehörigen dieser Schule die Bezeichnung „islamische Modernisten“ für sich ab, s.  Pacacı / Aktay, 75 Years of Higher Religious Education in Modern Turkey, in: Contemporary Islamic Thought, 2006, Kapitel 7, S. 122 (140); Körner, Alter Text – neuer Kontext, 2006, S. 13; Hermann, Wohin geht die türkische Gesellschaft, 2008, S. 165. 687  In der Literatur auch „Mutterfakultät“ oder „Werkstätte der türkischen Reformtheologen“ genannt, s. Hermann, Wohin geht die türkische Gesellschaft, 2008, S. 164, 165; Körner gehört zu den ersten in der deutschsprachigen Literatur, der dies erkannt hat und in seinem Werk einen Überblick über die Ankaraner Schule, vgl. ders., Alter Text – neuer Kontext, 2006.



IX. Ankaraner Schule407

lang in der islamischen Welt kaum denkbar waren.688 Sie gilt daher in manchen Gebieten als „Avantgarde“ in der islamischen Theologie.689 Erstmals wird hier islamische Theologie im Kontext mit den kritisch-modernen Wissenschaften wie Psychologie, Soziologie und Geschichte betrieben.690 Die gesellschaftliche Relevanz der Ankaraner Schule ergibt sich aus dem Umstand, dass die Ankaraner Schule aus Hochschullehrern besteht, die ihrerseits zuständig sind für die Ausbildung der künftigen Verantwortungsträger des türkischen Islams.691 Sie ziehen Vorbeter und Imame sowie die neue Gelehrtenschicht in der Türkei heran.692 An der Ankaraner Fakultät werden jährlich rund 100 Studenten ausgebildet, die künftigen Religionslehrer, Imame und Beamte im Staatsapparat (etwa Präsidium für religiöse Angelegenheiten).693 „Sie schreiben Lehrbücher und beraten Politiker.“694 Über ihre wissenschaftlichen Publikationen (Zeitschrift AÜIFD, Zeitschrift Islami Araştırmalar695, Zeitschrift İslâmiyât, Buchreihe Kitâbiyât) erreichen die Autoren der Ankaraner Schule ein breites Publikum auch außerhalb der Fachwelt.696 Den denkerischen Aufbruch markierten zwei heute emeritierte Professoren der Fakultät, die zur ersten Generation der Ankaraner Schule 688  So Spuler-Stegemann, Die Türkei, in: Ende  / Steinbach (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart, 5. Aufl. (2005), S. 239. 689  s.  Körner, Alter Text – neuer Kontext, 2006, S. 11. 690  So Körner, Alter Text – neuer Kontext, 2006, S. 11; im Jahr 1959 wurde das Hohe Islam Institut (Yüksek Islam Enstitüsü) an der Universität Istanbul und 1971 die Fakultät für Islamwissenschaften in Erzurum gegründet. 1982 wurden diese vom Hochschulrat (Yüksek Öğretim Kurulu) in eine Theologische Fakultät umgewandelt. Bis 1980 gab es neun Theologische Fakultäten, diese Zahl beträgt gegenwärtig 23, s.  Pacacı / Aktay, 75 Years of Higher Religious Education in Turkey, in: Contemporary Islamic Thought, 2006, Kapitel 7, S. 122 (131, 132). 691  Sechs von neun Theologischen Fakultäten rekrutierten 1993 Dekane, die ihre Ausbildung an der Theologischen Fakultät in Ankara erhielten. Heute seien nahezu alle Dekane der 23 Theologischen Fakultäten Absolventen der Ankaraner Fakultät, hierzu s. Pacacı / Aktay, 75 Years of Higher Religious Education in Turkey, in: Contemporary Islamic Thought, 2006, Kapitel 7, S. 122 (134, 136, 139); Körner, Alter Text – neuer Kontext, 2006, S. 237; Hermann, Wohin geht die türkische Gesellschaft, 2008, S. 165. 692  s.  Ucar, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Recht, 2005, S. 24. 693  s.  Pacacı / Aktay, 75 Years of Higher Religious Education in Turkey, in: Contemporary Islamic Thought, 2006, Kapitel 7, S. 122 (136, 139); Körner, Alter Text – neuer Kontext, 2006, S. 13. 694  Körner, Alter Text – neuer Kontext, 2006, S. 237. 695  „For the last 10 years, this Journal has been known for its critical view of traditionalism and its rather modernist approach towards religious issues. Some special issues, such as on women in Islam (…) created something of a furor, Pacacı / Aktay, 75 Years of Higher Religious Education in Turkey, in: Contemporary Islamic Thought, 2006, Kapitel 7, S. 122 (140). 696  Vgl. Körner, Alter Text – neuer Kontext, 2006, S. 237.

408

E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

gehören: Mehmet Said Hatiboğlu und Hüseyin Atay.697 Zur zweiten Generation gehören neben anderen die Theologen Ilhami Güler, Mehmet Pacaci, Adil Çiftçi, Ömer Özsoy.698 Neben den männlichen Theologen gehören u. a. Esra Gözeler zum Kreis der Theologinnen der Ankaraner Schule.699 Im Folgenden werden Hüseyin Atay und Ilhami Güler sowie ihre Auffassungen zum türkischen Laizismus vorgestellt. 2. Hüseyin Atay700 a) Zur Person Atay wurde 1930 geboren und absolvierte seine Grund- und Oberschulbildung in Istanbul.701 Im Jahre 1948 ging er nach Bagdad und absolvierte dort das Gymnasium und 1954 sein Theologiestudium an der theologischen Fakultät in Bagdad.702 An der Theologischen Fakultät der Universität Ankara wurde er 1956 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für islamische Philosophie.703 1960 promovierte er zum Thema der Feststellung und Rechtfertigung von Glaubensprinzipien nach dem Koran („Kur’an’na Göre Iman Esaslarının Tespiti ve Müdafası“).704 Von 1962–1964 arbeitete er an der Jerusalem- Universität zur hebräischen und jüdischen Philosophie.705 Von 1965–1967 forschte er an der Universität Chicago zur islamischen Philosophie und wurde 1986 Dozent für islamische Philosophie.706 1974 habilitierte er sich und forschte von 1974–1975 an der Harvard University 697  s.  Körner, Alter Text – neuer Kontext, 2006, S. 12; Hermann, Wohin geht die türkische Gesellschaft, 2008, S. 165; Kamrava, Introduction: Reformist Islam in Comparative Perspective, in: Mehran Kamrava (Hrsg.), The New Voices of Islam, 2006, S. 2. 698  s. Hermann, Wohin geht die türkische Gesellschaft, S. 165. 699  s.  Hermann, Wohin geht die türkische Gesellschaft, 2008, S. 176. 700  Im Folgenden Atay; eine Nachlese Atay’s Schriften findet sich bei Ucar, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft, S. 191–195. 701  s.  Atay, Kur’ana Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), 2. Aufl. (1997), S. 2. 702  s.  Atay, Kur’ana Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), 2. Aufl. (1997), S. 2. 703  s.  Atay, Kur’ana Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), 2. Aufl. (1997), S. 2. 704  s.  Atay, Kur’ana Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), 2. Aufl. (1997), S. 2. 705  s.  Atay, Kur’ana Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), 2. Aufl. (1997), S. 2. 706  s.  Atay, Kur’ana Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), 2. Aufl. (1997), S. 2.



IX. Ankaraner Schule409

zu den Themen Familienplanung, Ethik und Rechtsphilosophie.707 Von 1975–1976 leitete er an der Universität Chicago das Seminar „Die Stellung des Islams in Anbetracht der Veränderung der Gesellschaft“.708 Von 1980– 1982 war er Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Ankara und lehrte von 1985–1989 an der König-Fahad-Universität für Erdöl und Mineralien in Saudi Arabien.709 Seit 1997 ist er emeritierter Professor der Ankaraner Universität. b) Rechtsauffassung zum Verhältnis von Islam und Staat aa) Laizismus Atay kritisiert den türkischen Laizismus. Dieser sei kein Prinzip, welches Religionsfreiheit gewährt, sondern es zeige sich vielmehr als Feind des Islams.710 Obwohl Nichtmuslime volle Religionsfreiheit genössen, werde es den Muslimen gesetzlich verboten, ihren religiösen Pflichten nachzukommen.711 Es sei verboten, das tägliche Gebet zu verrichten, das Gleiche gelte für das Freitagsgebet.712 Beamten sei es nicht erlaubt, am Freitagsgebet teilzunehmen,713 obgleich gerade das Freitagsgebet Symbol der Befreiung und Volksherrschaft sei.714 bb) Religionsfreiheit Die im Koran gewährleistete Religionsfreiheit sei weitreichender als die Religionsfreiheit eines beliebigen Laizismus und auch weiter als das Ver707  s.  Atay, Kur’ana Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), 2. Aufl. (1997), S. 2. 708  s.  Atay, Kur’ana Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), 2. Aufl. (1997), S. 2. 709  s.  Atay, Kur’ana Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), 2. Aufl. (1997), S. 2. 710  s.  Atay, Kur’ana Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), 2. Aufl. (1997), S. 43. 711  s.  Atay, Kur’ana Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), 2. Aufl. (1997), S. 43. 712  s.  Atay, Kur’ana Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), 2. Aufl. (1997), S. 43. 713  s.  Atay, Kur’ana Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), 2. Aufl. (1997), S. 43. 714  Während der Befreiungskriege sei doch gerade der Spruch „Türk bayrağının dalgalanmadığı yerde Cuma namazı kılınmaz“ (Wo die türkische Fahne nicht weht, kann kein Freitagsgebet verrichtet werden.) die Philosophie die Antriebskraft der Befreiung gewesen, vgl. Atay, Kur’ana Göre Araştırmalar I–III, 2. Aufl. (1997), S. 43.

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

ständnis von Religionsfreiheit islamischer Konfessionen, welches eine ideologische Religionsfreiheit ohne Freiheit sei.715 Insoweit sei die laizistische Religionsfreiheit lediglich weitreichender als die Religionsfreiheit wie sie von islamischen Konfessionen vertreten werde nicht jedoch weitreichender als die koranische Religionsfreiheit.716 In den islamischen Gesellschaften dominiere jedoch dieses enge konfessionelle Verständnis von Religionsfreiheit.717 cc) Kopftuchverbot Auch das Kopftuchverbot an öffentlichen Einrichtungen findet die Kritik Atays.718 Dies sei Laizismus (Laikcilik) und nicht Laizität (Laik). Laizitär sein bedeute Religionsfreiheit für sich selbst und für andere.719 Der Staat dürfe nicht den Inhalt der Religion bestimmen.720 Der Laizismus könne nach islamischem Verständnis als Religionsfreiheit verstanden und nach islamischen Prinzipien gelöst werden.721 Gleichwohl zeigt Atay Verständnis für diejenigen, die den Laizismus als Islamfeindlichkeit umsetzten,722 denn die Angst vor dem religiösen Zwang durch traditionalistische Muslime im Falle ihrer Erstarkung sei nicht unbegründet.723 In diesem Fall würde die Religionsfreiheit, die sich die Laizisten gewährten, also die Freiheit, kein Kopftuch tragen zu müssen, nicht beten zu müssen usw., aufgehoben und in Zwang und Absolutismus verkehrt.724 Dieses traditionalistische islamische Denken sei bei allen religiösen Gruppen in der Türkei, einschließlich der 715  s.  Atay, Kur’ana 2. Aufl. (1997), S. 45. 716  s.  Atay, Kur’ana 2. Aufl. (1997), S. 45. 717  s.  Atay, Kur’ana 2. Aufl. (1997), S. 45. 718  s.  Atay, Kur’ana 2. Aufl. (1997), S. 43. 719  s.  Atay, Kur’ana 2. Aufl. (1997), S. 43. 720  s.  Atay, Kur’ana 2. Aufl. (1997), S. 44. 721  s.  Atay, Kur’ana 2. Aufl. (1997), S. 44. 722  s.  Atay, Kur’ana 2. Aufl. (1997), S. 44. 723  s.  Atay, Kur’ana 2. Aufl. (1997), S. 44. 724  s.  Atay, Kur’ana 2. Aufl. (1997), S. 44.

Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran),



IX. Ankaraner Schule411

Religionsbehörde, vorhanden.725 Diese traditionalistische Sicht habe ihren Ursprung in den Medresen des 16. Jahrhunderts, welche im Widerspruch zum koranischen Glaubensverständnis und zum Verständnis zur Religionsfreiheit stünden.726 Der Glaube müsse koran- und zeitgemäß interpretiert werden.727 Auf diese Weise hätte der gläubige Muslim keine Konflikte mit dem Laizismus und der Laizist hätte keine Angst vor dem Islam.728 Nach Atay müsse der Staat aus einer Notwendigkeit heraus die Gedankenfreiheit auch für Gelehrte zulassen, um zu einem neuen Glaubensverständnis zu kommen.729 c) Zwischenergebnis Nach Atays Verständnis ist der Islam mit dem Laizismus grundsätzlich vereinbar. Er konstatiert dem Koran die Anerkennung weitreichender Religionsfreiheit. Atay stellt einerseits polemisch eine umfassende Religionsfreiheit für Nichtmuslime in der Türkei fest, während andererseits die Reli­ gionsfreiheit der Muslime zahlreichen Einschränkungen unterliege. Das Kopftuchverbot in der Türkei lehnt er ab und sieht darin einen Verstoß gegen die Religionsfreiheit. Am Maßstab der Gewährleistungen der Reli­ gionsfreiheit nach der deutschen Verfassung ist Atays Kritik nicht unberechtigt. Denn die Trennung von Staat und Religion muss nicht zwingend ein Kopftuchverbot an Schulen zur Folge haben. Das türkische Laizismusmodell sieht anders als das deutsche Trennungsmodell eine Überlagerung der Religionsfreiheit durch den Laizismus vor und führt dadurch zu einer Verengung der Religionsfreiheit, die einen Interessenausgleich und eine Güterabwägung jeseits dessen nicht ermöglicht.

725  s.  Atay, Kur’ana 2. Aufl. (1997), S. 44. 726  s.  Atay, Kur’ana 2. Aufl. (1997), S. 44. 727  s.  Atay, Kur’ana 2. Aufl. (1997), S. 44. 728  s.  Atay, Kur’ana 2. Aufl. (1997), S. 44. 729  s.  Atay, Kur’ana 2. Aufl. (1997), S. 44.

Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran), Göre Araştırmalar I–III (Abhandlungen nach dem Koran),

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

3. Ilhami Güler a) Zur Person Ilhami Güler730 wurde 1959 geboren.731 Von 1980–1985 studierte er an der Theologischen Fakultät der Universität Ankara.732 1987 begann er eine Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Universität Ankara.733 Von 1985–1991 fertigte er am Sozialwissenschaftlichen Institut der Universität Ankara eine Doktorarbeit an.734 1992– 1993 folgte ein Sprach- und Forschungsaufenthalt in Ägypten.735 2004 habilitierte er sich und ist seither Inhaber eines Lehrstuhls an der Theologischen Fakultät der Universität Ankara.736 b) Rechtsauffassung zum Verhältnis von Islam und Staat aa) Die Säkularisation aus islamischer Sicht Der Begriff Säkularisation bedeutet nach Güler „weltlich“ und sei einerseits eine philosophische, ideologische und politische Theorie und andererseits ein historischer Prozess.737 Als philosophische, ideologische und ­politische Theorie beschreibe Säkularisation den Verlust der religiösen Inhalte in Kultur, Philosophie und Literatur und beeinflusse zuvörderst, wie auch an dem weltweiten Aufsteigen der Wissenschaft zur eigenständigen und vollständig säkularisierten Methode zu beobachten sei, das gesamte kulturelle und geistige Leben.738 Auf individueller Ebene bedeute Säkularisation die zahlenmäßige Zunahme der Menschen im Westen, die die Welt und ihr eigenes Leben ohne religiösen Bezug deuten.739 Dieses beinhalte das Herausfiltern der Mystik, Metaphysik, Religion und jeglichen DualisFolgenden nur noch Güler. Güler, Direniş teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 1. 732  Vgl. Güler, Direniş teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 1. 733  Vgl. Güler, Direniş teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 1. 734  Vgl. Güler, Direniş teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 1. 735  Vgl. Güler, Direniş teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 1. 736  Vgl. Güler, Direniş teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 1. 737  Daneben als zeitlich (zamansal) und alt (eski), s. Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (141). 738  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (141). 739  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (141). 730  Im

731  Vgl.



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mus (zwei Welten) aus dieser Welt und bedeute schließlich einzig das Ernstnehmen der Welt.740 In Bezug auf das Christentum betrachtet Güler die Religionsfeindlichkeit der Aufklärung, der Renaissance, des Reformismus und des Humanismus redensartlich als eine Haltung, nach der das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird.741 Gleichwohl sei die Kritik an der katholischen Kirche und an deren religiöser Doktrin (die Ablehnung der Welt, den Klerus, Inquisition, die Unterdrückung der Freiheit und Ratio, Fanatismus, Rückwärtsgewandtheit, Gewalt u.  a.) richtig gewesen.742 Gleichwohl seien die Bestrebungen der philosophischen Säkularisation durch die Verwerfung Gottes und des Glaubens aus dem individuellen Bewusstsein an das Jenseits und der religiösen Ethik aus dem gesellschaft­ lichen Leben, mithin also die Verwerfung des Kerns der Religion mit der Folge, die Religion selbst wertlos zu machen, aus islamischer Perspektive abzulehnen.743 Aus koranischer Sicht sei das Vergessen bzw. die Ablehnung Gottes und des Jenseits und die Verweltlichung im Sinne eines Fixierens auf die Welt stets als Gefahr betrachtet worden, auf die der Koran in verschiedenen Suren hinweise.744 Sofern der Koran von der Geschichte spreche, beschreibe er die Verweltlichungsverirrung der ägyptischen Pharaonen, der Juden und der ungläubigen Araber.745 Jede Art von Unmoral und die Bevorzugung des weltlichen Lebens stünden in einem Ursache-Wirkung-Verhältnis zueinander.746 Diejenigen, die Gott und das Jenseits leugneten und sich dem weltlichen Leben zuwenden, hätten das weltliche Leben um den Preis des Jenseits gekauft, sich am weltlichen Leben erfreut und dieses dem Jenseits vorgezogen.747 Der Teufel habe das weltliche Le740  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (141, 142). 741  Er bezieht sich dabei auf das deutsche Sprichwort „Das Kind mit dem Bade ausschütten“, vgl. Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (144). 742  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (144). 743  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (144). 744  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (144). 745  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (145). 746  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (145); Koran Sure 79 Vers 37–38: „wenn dann einer (in seinem Erdenleben) aufsässig gewesen ist“, „und das diesseitige Leben (dem Jenseits) vorgezogen hat,“. 747  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (145).

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

ben geschmückt und das weltliche Leben habe diese Menschen getäuscht.748 Diese Art von Menschen würde nur essen, trinken und sich amüsieren, die Begierde würde sie ablenken.749 Zusammenfassend bedeutet die Verwelt­ lichung nach dem Koran ein Leben, als ob es keinen Gott und kein Jenseits gebe, es sei eine Art Ziererei und Hochmut.750 Nach dem Koran sei es für diese Menschen schwer, ihre moralische Verantwortung für ihre Mitmenschen zu erkennen.751 Gleichwohl bedeute dies nicht, dass säkulare Menschen zwingend unmoralisch sind, vielmehr gebe es säkulare Menschen, die den göttlichen Werten entsprechend gerecht, ehrlich, solidarisch, hilfsbereit u. ä. seien.752 bb) Der Laizismus aus islamischer Sicht Den Begriff Laizismus beschreibt Güler als einen juristischen Begriff, demzufolge die Legitimationsgrundlage des Rechts nicht die Religion, sondern die Ratio und die gesellschaftlichen Bedürfnisse seien.753 Politisch bedeute der Begriff die Neutralität des Staates gegenüber allen Religionen.754 Der Staat dürfe keine Religion privilegieren oder ihr gegenüber feindselig sein.755 In der Geschichte der islamischen Gesellschaften habe es eine Institution wie die Kirche nicht gegeben, deshalb habe die islamische Gesellschaft nicht die schlechten Erfahrungen gemacht, wie sie in Europa mit der Kirche gemacht wurden.756 Die Entstehung des Islams in den Jahren 610–632 n. Chr. fiel zusammen mit der Entstehung der islamischen Gesellschaft und des Staates, weshalb eine Trennung der politisch-juristischen 748  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (145). 749  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (145). 750  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (145). 751  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (145). 752  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (145). 753  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (146). 754  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (146). 755  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (146). 756  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (146).

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Bereiche von der Religion nicht stattgefunden habe.757 Deshalb könne gesagt werden, dass die historischen Erfahrungen der islamischen Gesellschaft sich als Einheit von Religion-Staat-Volk gezeigt haben.758 Obgleich die Staaten in islamischen Gesellschaften ideologisch dem Islam verbunden waren, so hätten die Staaten doch auch auf institutioneller Ebene, wie auch in der orthodoxen Welt (Byzanz), die Religion an den Staat gebunden (Kalifat, Scheich ul-Islam).759 Dies habe sich insbesondere bei der institutionellen Trennung und Bindung nach der Zeit der Abbasiden760 gezeigt.761 Das Osmanische Reich sei ein Beispiel hierfür.762 Mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches und der Gründung der Republik Türkei sei ein Staat nach westlichem Vorbild (Frankreich) gegründet worden, dessen Rechtsordnung und politische Ordnung laizistisch sei.763 Gleichzeitig sei dieser Staat aber der byzantinisch-osmanischen Tradition treu geblieben und habe die Reli­ gion in die Verantwortung des Staates gelegt.764 Dies sollte die Übernahme der Angelegenheiten des Volkes auf dem Gebiet des Glaubens und der Andacht bedeuten.765 Im Übrigen sei der Staat aber rechtlich und politisch streng laizistisch geordnet.766 Mit Blick auf die durch die Kirche im Mittelalter verursachten Probleme für die Menschen und die Gesellschaften sei das Erringen inneren und gesellschaftlichen Friedens, der Freiheit, die Nutzung des Verstandes, der Gewissensfreiheit und die Aufhebung der Vermittlung zwischen Gott und dem Menschen u. a. durch den Laizismus und die 757  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (146, 147). 758  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (147). 759  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (147). 760  „Nach den Umayyaden die zweite Herrscherdynastie der islamischen Geschichte (750–1258). Im 8. und 9. Jh. verselbstständigten sich lokale einflussreiche Dynastien, sodass die Macht der abbasidischen Kalifen mehr und mehr zerfiel.“, Schirrmacher, „Islam von A–Z“, in: Harenberg Lexikon der Religionen, S. 486 (486), Sp. 1. 761  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (147). 762  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (147). 763  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (147). 764  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (147). 765  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (147). 766  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (147).

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

Säkularisation ohnehin vom Islam verteidigt und in islamischen Gesellschaften nicht zu ernsthaften Problemen geworden.767 Während die katholische Kirche im Mittelalter jede Doktrin, die nicht der eigenen entsprach, kein Lebensrecht zusprach (Inquisition), hätten in islamischen Gesellschaften Nichtmuslime als Dhimmi768 Schutz genossen.769 Das Problem der Politisierung der Religion fasst Güler wie folgt zusammen:770 1. Gesellschaften, in denen die Religion Teil der Politik ist, sei das moralische Grundproblem der Missbrauch der Religion.771 2. Die Deklarierung einer religiösen Auslegung durch die Politik als die wahre führe zu einer Unterdrückung und Illegitimerung der anderen Auslegungen und die Gegner der offiziellen Ideologie würden als Ungläubige, Verräter u. ä. gelten, wie in islamischen Gesellschaften zu beobachten gewesen sei.772 Eine gesellschaftliche Veränderung und Erneuerung ist in diesen Gesellschaften schwer und problematisch.773 3. Gesellschaften seien keine modernen, wenn, wie im Mittelalter, die Religion über die Gesellschaft herrsche.774 Durch die Industrialisierung, Urbanisierung und die Erhöhung des Verkehrs und der Kommunikation seien die modernen Gesellschaften pluralistische Gesellschaften geworden.775 Aus den oben genannten Gründen sei die Trennung von Staat und Religion vernünftig.776 Es sei für den gläubigen Einzelnen aber möglich, sich bei seiner politischen Arbeit oder der Arbeit im öffentlichen Dienst moralisch auf seinen subjektiven Glauben zu stützen.777 In einer Demokratie könnten sich gemeinsame immaterielle und religiöse Werte im öffentlichen Bereich auswirken, wie sich am Beispiel der christlich-demokratischen Par767  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (147). 768  Zur Bedeutung des Begriffs „Dhimmi“ s. o., Kapitel C., S. 97 ff. 769  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (147). 770  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (148). 771  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (148). 772  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (148). 773  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (148). 774  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (148). 775  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (147, 148). 776  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (148). 777  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (148).

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teien in Europa zeige.778 Auch werde anhand der religiösen Feiertage, die in der Türkei gesetzliche Feiertage sind, und anhand der Gründung konservativer Parteien deutlich, dass Laizismus nicht kategorisch Religionslosigkeit oder Religionsfeindlichkeit bedeute.779 Da für einen religiösen Muslim die Politik und das Recht die Umsetzung der Gerechtigkeit seien, betrachte er diese Bereiche nicht als außerhalb der Religion, folglich habe jede diesbezügliche Handlung aus religiöser Sicht einen Wert.780 In einem demokratisch-laizistischen Staat könnten religiöse Individuen zivilgesellschaftlich und parteipolitisch (konservativ) mit ihrem Glauben vereinbar aktiv werden, müssen dabei aber nicht offen auf religiöse Symbole und Begriffe (Allah, Muhammed, Koran, Sunna, Scharia etc.) hinweisen.781 Die Religion könne in der Gesellschaft durch Einrichtungen, Gemeinschaften, private Schulen, Moscheen, Medien und Wissenschaft aktiv leben und einen mittelbaren Einfluss im Sinne einer politischen Ethik („siyasi ethik“) auf den Staat und die Politik haben.782 cc) Präsidium für religiöse Angelegenheiten Die türkische Gesellschaft sei mit der Religion verbunden, mithin nicht säkularisiert.783 Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten sei daher nicht vom Staat getrennt worden und zeige, dass der türkische Staat nicht vollständig laizisiert werden konnte.784 Bis auf diese Ausnahme sei der Staat im öffentlichen Bereich und institutionell von der Religion unabhängig.785 Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten sei gegründet worden, 778  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (148, 149). 779  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (149). 780  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (149). 781  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (149). 782  s.  Güler, Sekülerizm ve Laiklik (Säkularismus und Laizismus), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 141 (149). 783  s.  Güler, Dünyanın başına gelen „Derin Sapkınlık“: Dünyevileşme (Die ­„tiefe Irrtum“ die der Welt widerfuhr: Verweltlichung), in: Politik Teoloji Yazıları (Politisch theologische Schriften), Ilhami Güler, 2002, S. 9 (35). 784  s.  Güler, Dünyanın başına gelen „Derin Sapkınlık“: Dünyevileşme (Der ­„tiefe Irrtum“, der der Welt widerfuhr: Verweltlichung), in: Politik Teoloji Yazıları (Politisch theologische Schriften), Ilhami Güler, 2002, S. 9 (35). 785  s.  Güler, Dünyanın başına gelen „Derin Sapkınlık“: Dünyevileşme (Der ­„tiefe Irrtum“ der der Welt widerfuhr: Verweltlichung), in: Politik Teoloji Yazıları (Politisch theologische Schriften), Ilhami Güler, 2002, S. 9 (35).

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

um den religiösen Bedürfnissen des Volkes nachzukommen. Die Mitarbeiter des Präsidiums könnten nicht mit dem Islam gleichgesetzt werden.786 dd) Kopftuchverbot Ethnologisch und anthropologisch sei die Verhüllung der Frau durch den Schleier (der Gesichtsschleier zum Schutze vor dem Wüstensand) in den Regionen, in denen der Islam entstand, zurückzuführen auf die vorislamische Zeit.787 Es sei aber ein Ausdruck von Ignoranz und mangelndem ästhetischen Gefühl, dass heute diese fortgesetzte regionale, kulturelle und traditionelle Verschleierung dem Islam als eine Glaubensvorschrift zugeschrieben werde, ja sogar religiös mit dem Schutz der Frau legitimiert werde.788 Der Gesichtsschleier zum sog. Schutz der Reinheit und der Ehre sei ein Verbrechen und primitiv.789 Ein politischer Zwang sei aber nicht möglich.790 Selbst Mustafa Kemal habe sich trotz der Kleidungsrevolution nicht in die Kleidung der Frauen eingemischt.791 Eigentlich sei eine Kleidungsrevolution etwas, was rational nicht nachvollziehbar sei.792 Zwar könne man durch politische Handlungen kulturell der Gesellschaft neue Perspektiven bieten, aber die Kulturrevolution sei ein durch ein Minderwertigkeitsgefühl verursachter Fehler.793 786  s.  Güler, Türkiye’de Askeri Bürokrasisinin Tasarruflarının Eleştirilemeyişinin Teolojik Kökleri (Die theologischen Wurzeln über die Unfähigkeit der Kritik an den Verfügungen der militärischen Bürokratie), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 113 (116). 787  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und Ganzkörperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 121 (121). 788  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und Ganzkörperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 121 (121). 789  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und Ganzkörperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 121 (122). 790  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und Ganzkörperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 121 (121). 791  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und Ganzkörperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 121 (121). 792  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und Ganzkörperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 121 (121). 793  s. Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und Ganzkörperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 121 (121).



IX. Ankaraner Schule419

Eine Veränderung könne nur aus sich heraus und freiwillig geschehen.794 Daher sei der Hut-Zwang795 oder das Kopftuchverbot ähnlich totalitär wie der Kopftuch- und Verschleierungszwang.796 Aus diesem Grund sei das Kopftuchverbot für Studentinnen nicht rational (akıl tutulması).797 Gleichwohl könne man die Verhüllung der Frau nicht als schlicht religiöse Auslegung betrachten, da diese ernsthafte ästhetische und ethische Dimensionen habe.798 Die Verschleierung des gesamten Körpers der Frau sei ein schwerer Verstoß gegen ihre Würde und zugleich ein Ausdruck ihrer Erniedrigung.799 Der Gesichtsschleier und die Verschleierung des übrigen Körpers sei eine Leugnung von Gesicht und Körper der Frau.800 Beides zusammen mache die Frau zu einer merkwürdigen Kreatur.801 Mit dem Ganzkörperschleier verschwänden Gesicht und Körper.802 Das Gesicht aber symbolisiere im Arabischen („vech“), im Türkischen und in anderen Sprachen die Würde, den Wert und die Ehre des Menschen.803 Dies drücke sich in den Redewendungen „yüzsüs“ (gesichtslos), „iki yüzlü“ (zwei Gesichter), „yüzu yerde“ (Gesichtsverlust), „yüzü kizarmak“ (rot werden), „yüzünün akiyla cikmak (mit erhobenem Haupt)

794  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und körperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), S. 121 (121). 795  Zur Kulturrevolution und dem sog. Hutgesetz s. o., Kapitel D., S. 148. 796  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und körperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), S. 121 (121). 797  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und körperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), S. 121 (121). 798  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und körperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), S. 121 (122). 799  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und körperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), S. 121 (122). 800  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und körperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), S. 121 (122). 801  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und körperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), S. 121 (122). 802  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und körperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), S. 121 (122). 803  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und körperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), S. 121 (122).

Ganz2010, Ganz2010, Ganz2010, Ganz2010, Ganz2010, Ganz2010, Ganz2010, Ganz2010, Ganz2010,

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

u. a. aus.804 Der Islam schreibe lediglich die Verhüllung des Bereiches vom Hals bis zu den Füßen, vor.805 Dieses sei aber nicht als Freiheitsbeschränkung zu verstehen, sondern diene dazu, die Frau als Person wahrzunehmen und nicht vordergründig als Weiblichkeit.806 Die Haare von Mann (auch Bart) und Frau seien ein Zeichen ihrer „schönen Schöpfung“ (ahsen-i takvim).807 Der Vers „Sie sollen ihre Kopftücher über ihre Brust ziehen“ („Başörtülerini göˇgüslerine örtsünler“) bedeute, dass die Frauen, die bereits zur Zeit der Offenbarung ein Kopftuch trugen, dieses über ihre Brust ziehen sollen, nicht aber, dass sie auch ihr Haar bedecken sollen.808 Die Bezugnahme auf das Kopftuch, dass damals gängig gewesen sei, belege, dass Gott die vernünftigen Traditionen achte.809 Zusammenfassend könne daher gesagt werde, dass Reinheit eine islamische Tugend sei und dass das Bedeckungsgebot eine Umsetzung dieser Tugend sei.810 Das Kopftuchgebot sei eine herrschende Ausle-

804  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und Ganzkörperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 121 (122). 805  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und Ganzkörperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 121 (123). 806  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und Ganzkörperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 121 (123). 807  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und Ganzkörperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 121 (123). 808  Güler Zitiert aus Koran Sure 24 Vers 31, s. Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und Ganzkörperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 121 (123); Koran Sure 24 Vers 31: „Und sag den gläubigen Frauen, sie sollen (statt jemanden anzustarren, lieber) ihre Augen niederschlagen, und sie sollen darauf achten, daß ihre Scham bedeckt ist (…), den Schmuck, den sie (am Körper) tragen, nicht offen zeigen, soweit er nicht (normalerweise) sichtbar ist, ihren Schal sich über den (vom Halsausschnitt nach vorne heruntergehenden) Schlitz (des Kleides) ziehen und den Schmuck, den sie (am Körper) tragen, niemand (…) offen zeigen, außer ihrem Mann, ihrem Vater, ihrem Schwiegervater, ihren Söhnen, ihren Stiefsöhnen, ihren Brüdern, den Söhnen ihrer Brüder und ihrer Schwestern, ihren Frauen (…). Und sie sollen nicht mit ihren Beinen (aneinander)schlagen und damit auf den Schmuck aufmerksam machen, den sie (durch die Kleidung) verborgen (an ihnen) tragen (…). Vielleicht wird es euch (dann) wohl ergehen.“, Paret, Der Koran, 10. Aufl. (2010), S. 246. 809  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und Ganzkörperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 121 (123). 810  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und Ganzkörperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), 2010, S. 121 (123).



X. Ergebnis421

gung des Korans.811 Diejenigen, die ihre Haare aus diesem Grund bedecken, tun eine gute Tat, diejenigen, die ihr Haar nicht bedecken, sündigten aber auch nicht.812 c) Zwischenergebnis Güler befürwortet die Trennung von Staat und Religion. Er sieht in der Verbindung von Staat und Religion die Gefahr des Missbrauchs der Religion. Zudem bestünde die Gefahr des Verlustes der staatlichen Neutralität und der Diskriminierung anderer Religionen. Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten hält er für systemwidrig. Wenngleich nach Güler das Kopftuch nicht als religiöse Pflicht betrachtet werden könne, sieht er in dem Kopftuchverbot, ähnlich wie beim Kopftuchzwang, eine totalitäre Handlung. Beides lehnt er ab.

X. Ergebnis Für alle hier vorgestellten Positionen kann zusammenfassend konstatiert werden, dass sie den türkischen Laizismus nicht für geeignet halten, den Bedürfnissen der türkisch-muslimischen Gesellschaft gerecht zu werden. Vielmehr kann festgehalten werden, dass eine Trennung von Staat und Religion nach deutschem Vorbild bevorzugt wird. Danach sollten sich Staat und Religion gegenseitig aus den Angelegenheiten des jeweils anderen heraushalten, wobei die freiheitliche Lesart des Modells, insbesondere der Religionsfreiheit, unter anderem zur Folge hat, dass das Kopftuch der Studentinnen nicht grundsätzlich gegen die Trennung von Staat und Religion verstößt. Mithin kann also die Bevorzugung eines offenen Trennungsmodells gegenüber dem laizistischen Trennungsmodell festgehalten werden. Wenngleich sich die Ansichten hinsichtlich der religiösen Gebote und der Vorstellungen über das säkulare Staatskonzept im einzelnen unterscheiden mögen, so kann gleichwohl festgestellt werden, dass sämtliche hier vorgestellten Meinungen den türkischen Laizismus mehr oder weniger kritisieren und den Islam grundsätzlich mit einer Trennung von Staat und Religion für vereinbar halten. Solange sich der Staat nicht in die Angelegenheit der Re811  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und körperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), S. 121 (123). 812  s.  Güler, Peçe ve Çarşaf neyi örtüyor? (Was bedecken Kopftuch und körperschleier?), in: Ilhami Güler, Direniş Teolojisi (Widerstandstheologie), S. 121 (123).

Ganz2010, Ganz2010,

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E. Verhältnis von Staat und Religion in der Türkei

ligion einmischt und die Religionsfreiheit in dem Maße gewährleistet ist, dass Muslime ihren religiösen Pflichten nachkommen können, ist der Islam nach einhelliger Aufassung mit der Trennung von Staat und Religion vereinbar. Dies gilt im besonderen Maße für die Forderung nach der Abschaffung des Kopftuchverbotes für Studentinnen. Die Errichtung einer Theokratie als Gegenentwurf zum säkularen Staat wird indessen von keiner der hier vorgestellten Ansichten gefordert. Obgleich für wenige (Karaman und Bulaç) ein islamisches Staatskonzept und / oder ein pluralistisches Rechtssystem vorzugswürdiger ist, so ist die Errichtung eines islamischen Staates nicht zwingend. Entscheidend ist vielmehr die Gewähr einer islamischen Lebensführung für den Einzelnen, welche in einer freiheitlich- säkularen Demokratie grundsätzlich möglich ist. Nach dem türkischen Laizismuskonzept ist dieses aber gerade nicht in allen Bereichen möglich.

F. Zusammenfassende Thesen 1.  Die Entstehung des säkularen Staates in Deutschland wurde ausgelöst durch profane Gründe. Die Anerkennung der Religionsfreiheit durch die katholische und evangelische Kirche folgt diesem profanen Säkularisationsprozess. 2.  Das traditionelle Staatskirchenrecht hat sich in Anbetracht der religiösen Pluralisierung und der damit einhergehenden grundrechtsorientierten Rechtsprechung insgesamt zum „Religionsverfassungsrecht“ entwickelt. Die Inkorporation der Weimarer Kirchenartikel hat deren Schwerpunkt hin vom Säkularisierungsauftrag zum Freiheitsauftrag verschoben. 3. Das deutsche Religionsverfassungsrecht sieht keine laizistische Trennung von Staat und Religion vor. Vielmehr wurde in Deutschland ein religionsfreundliches kooperatives Trennungsmodell etabliert. Dieses Modell ermöglicht nicht nur die Entfaltung der Religion im öffentlichen Raum. Es sieht darüber hinaus sogar eine Kooperationspflicht des Staates mit der Religion vor, ohne zugleich ein Verstoß gegen die Trennung von Staat und Religion darzustellen. 4. Das Tragen eines islamischen Kopftuches an Schulen ist mit dem deutschen Trennungsmodell vereinbar. Es verstößt nicht gegen die staatliche Neutralität, weil es als solches nicht dem Staat zugerechnet werden kann. Einschränkungen der Religionsfreiheit können sich nur zum Schutz anderer Verfassungsgüter ergeben. So ist ein Kopftuchverbot von der Verfassung dann gedeckt, wenn es der Wahrung des Schulfriedens dient. 5. Das deutsche Religionsverfassungsrecht gewährleistet den konfessionellen Religionsunterricht durch die jeweilige Religionsgemeinschaft. Eine Teilnahmepflicht besteht lediglich für Konfessionsangehörige. Die Gewährleistung des Religionsunterrichts gilt wegen der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates für alle Religionen gleichermaßen, sodass auch ein islamischer Religionsunterricht bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen gewährleistet ist. 6.  Die Parameter der staatskirchenrechtlichen Ausgleichs- und Partizipationsordnung sind derart auf den Leib der christlichen Kirchen zugeschnitten, dass faktisch der Islam in Deutschland gegenwärtig diese Parameter ohne eine Verkirchlichung seiner selbst nicht erfüllt. Mittel- bis langfristig wird sich zeigen, ob und inwieweit der Islam in Deutschland den religions-

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F. Zusammenfassende Thesen

verfassungsrechtlich vorgegebenen Rahmen annehmen wird und welche Veränderungen damit für den Islam in Deutschland verbunden sein werden. Dabei sind zwei Richtungen denkbar: Der Islam in Deutschland wird sich eine staatlich anerkannte kirchliche Verfasstheit geben und sich im Zuge dessen zunehmend konfessionalisieren oder möglicherweise in Teilen auch durch den Zusammenschluss von Gemeinschaften homogenisieren. In beiden Fällen kann die Entwicklung eines deutschen Islam erwartet werden. 7.  Das Osmanische Reich übte vor seinem Eintritt in den Säkularisationsprozess gegenüber Nichtmuslimen Toleranz aus. In Deutschland entwickelte sich die Toleranz gegenüber der jeweils anderen Konfession im Zuge des Säkularisationsprozesses. Beide Toleranzideen unterscheiden sich aufgrund dessen fundamental voneinander: Während die in Deutschland im Zuge der Säkularisation entwickelte Toleranz profan begründet wurde, war die osmanische Toleranzidee eine islamisch-religiöse. 8. Im Zuge des Säkularisationsprozesses wendet sich das Osmanische Reich von seiner alten nach islamischem Vorbild gegründeten Ordnung (Millet-System) ab. Damit versucht es sich von der bis dato islamisch begründeten Toleranz zu trennen, geht einen Schritt weiter, etabliert eine erweiterte Toleranz und Gleichstellung ohne Ansehen der Religionszugehörigkeit und bleibt dabei als Reich an die religiöse Wahrheit gebunden. 9.  Festgestellt werden kann, dass die Auslöser des Säkularisationsprozesses in Deutschland und im Osmanischen Reich unterschiedlicher Art waren und zudem die Prozesse mit unterschiedlicher Zielsetzung erfolgten. Im Osmanischen Reich konnte es keinen Streit um die Laieninvestitur geben, da es insoweit an einer Papst-Kaiser-Konstellation fehlte. Anders als der deutsche Säkularisationsprozess stellt sich der osmanische als ein Prozess zur Modernisierung des Reiches dar. In Deutschland dagegen diente die Säkularisation zur Herstellung des Konfessionsfriedens. 10. Das Osmanische Reich hat die dritte Stufe der Säkularisation, also die Trennung von Staat und Religion, nie erreicht. Es gab seine Staatsreligion zu keinem Zeitpunkt auf. Es konnte folglich nie eine Neutralität entwickeln, war stets an die religiöse Wahrheit gebunden. Aber ein religiöser Staat, dessen Toleranz ebenfalls eine religiöse und keine weltliche ist, kann keine Neutralität entwickeln. Denn das Maß seiner Weltlichkeit bestimmt das Maß seiner Neutralität, letzteres wiederum das Maß der Religionsfreiheit. Der Osmanische Staat hat aber das Stadium der Weltlichkeit nicht erreicht, was auch das Maß seiner Neutralität, mithin auch seiner Religionsfreiheit, bestimmte. 11. Anders als das deutsche Religionsverfassungsrecht wurde mit der Gründung der Republik Türkei dem Wortlaut nach verfassungsrechtlich ein Laizismus etabliert. Parallel zum deutschen Säkularisationsprozess stellt



F. Zusammenfassende Thesen425

sich dieser als ein Prozess zur Befreiung des Staates von der Religion dar. Anders als das deutsche Religionsverfassungsrecht entwickelt die Türkei jedoch mit der TVerf. v. 1962 und 1982 ein Religionsverfassungsrecht, in dem der Islam durch den Staat kontrolliert wird. Der Laizismus, wie er sich in der TVerf v. 1982 darstellt, zeigt sich staatsorganisationsrechtlich nicht als eine Trennung des Staates von der Religion. Zwar darf sich die Religion nicht in staatliche Angelegenheiten einmischen, wohl aber der Staat in die Angelegenheiten der Religion. Das türkische Religionsverfassungsrecht stellt weder ein Trennungs- noch ein Kooperationsmodell dar. Der türkische Laizismus etabliert keine wechselseitige, sondern eine einseitige Trennung zulasten der Religion bzw. einseitige Einmischung zugunsten des Staates. 12.  Die türkische Verfassung gewährleistet eine laizismuszentrierte Lesart der Religionsfreiheit. Die Religionsfreiheit wird geschützt, soweit sie mit dem Laizismus vereinbar ist. Das deutsche Religionsverfassungsrecht ist dagegen grundrechtszentriert. Das Gleichheitsgebot gilt für den Bereich der Religion nur für das Forum Internum und für den Schutz der negativen Religionsfreiheit. 13. Anders als nach deutschem Religionsverfassungsrecht gewährleistet die TVerf. v. 1982 keinen Religionsunterricht sondern vielmehr einen Religionskundeunterricht an staatlichen Schulen. Tatsächlich jedoch stellt sich der von Verfassungs wegen zulässige Religionskundeunterricht als ein obligatorischer sunnitisch-islamischer Religionsunterricht, ohne Befreiungsmöglichkeit für nichtsunnitische Schüler, dar. 14.  Während in Deutschland das Kopftuch einer Lehrerin nicht dem Staat zugerechnet werden kann und damit keinen Verstoß gegen die weltanschaulich-religiöse Neutralität darstellt, stellt nach türkischem Verfassungsrecht das Kopftuch einer Studentin einen Verstoß gegen den Lazismus dar. Eine ausdrückliche gesetzliche Kopftucherlaubnis stellt insoweit eine Bevorzugung jener Religionen dar, die ein Kopftuchgebot kennen. Darüber hinaus ist aber nach türkischem Verfassungsrecht das Tragen eines Kopftuches in öffentlichen Einrichtungen nicht von der Religionsfreiheit wegen dessen laizismusorientierter Lesart gewährleistet. 15.  Der türkische Laizismus dominiert die übrigen Staatsprinzipien sowie die Grundrechte der türkischen Verfassung. Der Laizismus stellt sich als eine staatliche Ideologie dar, die nicht nur eine laizismusorientierte Lesart der gesamten Verfassung bewirkt, sondern der darüber hinaus eine eigene normative Wirkung bei der Prüfung von Rechtsfragen zukommt. Das Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutraltität ist nach deutschem Verfassungsrecht dagegen kein der Verfassung vorgelagertes Prinzip mit eigenständiger normativer Wirkung.

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F. Zusammenfassende Thesen

16.  In der Türkei ist ein Auseinanderfallen von Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit zu beobachten. Das türkische Laizismusmodell ist mit Blick auf das Präsidium für religiöse Angelegenheiten weder ein Kooperationsmodell noch ein Trennungsmodell. Staat und Religion sind von Verfassungs wegen strukturell verflochten. Vielmehr handelt es sich organisationsrechtlich um ein Modell der islamischen Staatsreligion. Der türkische Staat hat einen Staatsislam etabliert, ohne damit zugleich den Islam als Legitimationsgrundlage für die Herrschaft heranzuziehen. Hinsichtlich der Religionsfreiheit, wie sie in der TVerf verankert ist, kann eine Begünstigung der negativen vor der positiven festgestellt werden. Die positive Religionsausübungsfreiheit ist nur gewährt, solange diese dem Laizismus nicht zuwiderläuft. Es kann daher festgestellt werden, dass im Rahmen der Gewährleistung der Religionsfreiheit der türkische Laizismus als ein Trennungsmodell in Erscheinung tritt. Insgesamt betrachtet erscheint der türkische Laizismus daher als eine Mischung von Trennungs- und Staatsreligionsmodell. Versteht man allgemein unter Laizismus die Trennung von Staat und Religion der Art, dass sich Staat und Religion in die Angelegenheiten des jeweils anderen nicht einmischen, so kommt man zu dem Ergebnis, dass die Türkei eine Trennung von Staat und Religion nicht vollzogen hat. 17. Für den türkisch-islamischen Diskurs kann konstatiert werden, dass der Islam mit der Trennung von Staat vereinbar ist. Ausschlaggebend ist, dass Muslime in der säkularen Staatsordnung ihren religiösen Pflichten nachkommen dürfen. Der türkische Laizismus ist danach jedoch nicht geeignet, den Bedürfnissen der türkisch-muslimischen Gesellschaft gerecht zu werden, da das islamische Kopftuch im öffentlichen Raum verboten ist und zudem der Islam von Staat kontrolliert wird. Vielmehr kann festgehalten werden, dass eine Trennung von Staat und Religion nach deutschem Vorbild bevorzugt wird, wonach sich Staat und Religion sich nicht in die Angelegenheiten des jeweils anderen einmischen, und das Kopftuch an Schulen und Hochschulen verfassungsrechtlich zulässig ist, ohne zugleich einen Verstoß gegen die Trennung von Staat und Religion darzustellen.

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430 Quellenverzeichnis 4. BVerwGE BVerwGE 42, 346–353; BVerwG VII C 36.71 (Urteil des Siebten Senats vom 6. Juli 1973). BVerwGE 79, 298–309; BVerwG 7 C 89.86 (Urteil des Siebten Senats vom 3. Mai 1988). BVerwGE 90, 112–127; BVerwG 7 C 21.90 (Urteil des Siebten Senats vom 27. März 1992). BVerwGE 105, 117–127; BVerwG 7 C 11.96 (Urteil des 7. Senats vom 26. Juni 1997). BVerwGE 123, 49–75; BVerwG 6 C 2.04 (Urteil des 6. Senats vom 23. Februar 2005). II. Amtliche Gesetzessammlung der Republik Türkei Düstur, Serie III (Üçüncü Tertip), Band 1 (Cilt), Kanunlar, Tefsirler ve T.B.M. Meclisi Kararlarını, Nizamname ve Muahede ve umumi hizmetlere ait mukavelatı muhtevidir, 23 Nisan 1336–28 Şubat 1337, 2. Auflage, Ankara, 1953, Başvekalet Ankara, 1944, Devlet Matbaası. Düstur, Serie III (Üçüncü Tertip), Band 5 (Cilt), Kanunları, Yorumları ve T.B.M. Meclisi kararları, Tüzük ve Antlaşmalarla Genel hizmetlere ait Sözleşmeleri muhtevidir, 11 Ağustos 1339–30 Ekim 1340, 2. Auflage, Ankara, 1948, Başbakanlık Devlet Matbaası. Düstur, Serie III (Üçüncü Tertip), Band 7 (Cilt), Kanunlar, Tefsirler ve T.B. Meclisi Kararlarını, Nizamname ve Muahedelerle Umumi hizmetlere aid Mukaveleleri muhtevidir, Teşrinisani 1341–Teşrinievvel 1926, 2. Auflage, Ankara, 1944, Devlet Matbaası. Düstur, Serie III (Üçüncü Tertip), Band 9 (Cilt), Kanunlar, Yorumları ve T.B.M. Meclisi kararlarını, Tüzük ve Antlaşmalarla Genel hizmetlere ait Sözleşmeleri muhtevidir, Kasim 1927–Ekim1928, 2. Auflage, Ankara, 1948, Devlet Matbaası. Düstur; Serie III (Üçüncü Tertip), Band 10 (Cilt), Kanunları, Tefsirleri ve B.M. Meclisi Kararlarını; Nizamname ve Muahede ve Umumi hizmetlere ait Mukavelati muhtevidir, Teşrinisani 1928–Teşrinievvel 1929, Ankara 1934, Başvekalet Matbaası. Düstur, Serie III (Üçüncü Tertip), Band 13 (Cilt), Kanunlar, Tefsirler ve B.M.M.si Kararlarını; Nizamname ve Muahedelerle Umuma ait Mukavelati muhtevidir, Teşrinisani 1931–Teşrinievvel 1932, Ankara, 1932, Başvekalet Müdevvenat Maatbaası. Düstur, Serie III (Üçüncü Tertip), Band 16 (Cilt), Kanunlar, Tefsirler ve B.M. Meclisi Kararlarını, Nizamname ve Muahedelerle Umumi hizmetlere aid Mukaveleleri muhtevidir, Teşrinisani 1934–Teşrinievvel 1935, Ankara, 1935, Başvekalet Matbaası.

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Sachwortverzeichnis 2. Vatikanisches Konzil  27, 37 Abmeldegründe  105 AKP  198, 242, 269–270, 314, 316– 317, 320, 353 Aleviten  198, 260, 333, 365, 381, 394 Anerkennung  31, 218, 249–250, 291, 411, 423 Anknüpfungsverbot  85, 126 Antiklerikalismus  191 Apostasie  121 Atatürk  180, 199, 209, 355, 402 Aufklärung  194, 228, 237, 385, 392, 413 Aufstand  199 Augsburger Religionsfrieden  35 Ausgleichsordnung  36, 52, 122 Ausgrenzungsprozess  275 Bahá’í-Beschluss  68 Bedeutungswandel  49 Begründungsverbot  128 Bekenntnisfreiheit  66, 71 Bekenntnisunterricht  256, 262, 264, 266 Buddhismus  131 Bürgerrechte  162 Cäsaropapismus  135 Christentum  30, 32, 225, 246, 388, 401–402, 413 Dachverband  99, 112, 119 Dar al-Islam  139

Demokratie  195–196, 209, 220–221, 230, 275, 288–289, 298, 305, 307, 309–310, 315, 320, 326–327, 329, 335, 343–345, 347, 364, 371, 386, 392, 400–404, 416, 422 Demokratie-Denkschrift  27, 40 Deutsche Islamkonferenz  25, 118 Dhimma  138–139 Dhimmi  139, 416 Diskriminierung  102, 225, 265, 302, 307, 344, 386, 401, 421 DITIB  41, 241–242 Doppelgrundrecht  79 Doppelter Kompromiss  47 Doppelter Verfassungskompromiss  86 Dualismus  160, 413 Eheschließung  141, 206, 218, 232, 296 Eidesform  72 Ekklesiologie  101 Emanzipation  34 Enklavendemokratie  195 Entscheidungsfreiheit  388 Erziehungsrecht  84, 103 Europa  186, 313 evangelische Kirche  27, 39, 423 Ewigkeitsklausel  206, 224 Fatwa  136, 144 Finalität  127 französische Kultur  154 Französische Revolution  32, 36, 155 Frauenrechte  206 Freiheitsauftrag  53 Freiheitsgrundrecht  66

460 Sachwortverzeichnis Freitagspredigt  208–209, 239, 366 Friedensvertrag von Lausanne  201 Friedensvertrag von Sèvres  200 Fundamentalismus  346 fundamentalistisch  85, 197 Glaubensfreiheit  70, 276, 336, 344 Glaubensspaltung  34 Glaubenswahrheit  107 Gleichbehandlung  58, 124, 300, 361, 406 Gott  204, 206, 301, 327, 344–345, 358, 373, 387, 413, 415, 420 Grundrechte  203, 212, 214, 220, 225, 318, 322, 348, 364, 403 Grundrechtsdogmatik  68, 80, 90 Grundrechtsträger  78 grundrechtszentriert  51 Gülen-Bewegung  337, 339, 342 hinkende Trennung  56 Historizität  52 Homogenität  92, 112, 119 Hutgesetz  205 Ilmiye-System  136 Imam  136, 228, 268, 316, 325, 340, 361 individuelle Religionsfreiheit  78 Inkorporation  52, 53, 86 Inkorporierung  48 Investiturstreit  32, 33 Islam  81, 101, 104, 112–113, 118–120, 139–140, 148, 176, 193–199, 202–203, 205, 207–208, 225, 227–228, 233–234, 236, 238–239, 241, 245–246, 257, 259, 261, 283, 308, 313, 318–320, 325, 327, 330, 335–336, 341–343, 345–346, 348, 350, 352, 354, 356–357, 360–361, 363, 366, 371, 375–377, 379, 386–387, 390, 393, 395–402, 405, 409, 411–412, 415, 418, 421 Islamisierung  26, 131, 357, 386

Islamismus  188, 198, 323, 347, 377 Islamisten  188–189, 329, 377, 381 Islampolitik  209–210 Islamwissenschaft  26, 406 Janitscharen  153, 156, 159, 201 Jedermann-Grundrecht  78 Juden  138, 144–145, 149, 183, 308, 413 Jung-Osmanen  174, 185, 289 Jung-Türken  187 Kadi  136 Kalif  132, 135, 175, 200–201 Kalifat  190, 201, 297, 379 Kameralismus  184 katholische Kirche  27, 37, 416 Kemalisten  194, 320 kemalistisch  195, 197, 212 Kirchenneubau  146 Kirchenpolitik  146 Kirchensteuer  57, 72 Kleiderordnung  145, 267–268 Klerus  215, 245–246, 345, 363, 391, 393, 413 Kodifikationsbewegung  159 kollektive Religionsfreiheit  78 Konfession  113, 115, 148, 150, 204, 216, 275, 298, 302, 359, 370, 382 Konfessionalisierung  35, 42 Konfessionskriege  34 Konstantinische Wende  31 Konstantinopel  133 Konstitutionalismus  173, 186 konstitutionelles Zeitalter  173 Kooperation  55, 318, 389 Kooperationsmodell  55, 57, 77, 192, 233, 318 Kooperationspartner  57, 233 Kooperationspflicht  56 Kopfsteuer  139, 148, 172

Sachwortverzeichnis461 Kopftuch  61, 74, 81, 269, 271, 277–280, 283, 285, 287, 301–303, 317, 351–352, 370, 372–373, 376 Kopftuchverbot  266–271, 280–284, 288, 311, 313, 316, 318, 321, 333–334, 350, 353, 360, 369, 373, 376, 396, 410–411, 418–419, 421 Kopftuchzwang  311, 350, 372, 421 Koran  327, 330, 339, 342, 345, 347–348, 354, 358, 370, 378, 387, 399, 406, 408–409, 411, 413, 417 Körperschaftsstatus  86 Körperstrafen  42, 121 Kruzifix  61 Kulturadäquanzformel  75 Kulturrevolution  205, 418 Laieninvestitur  34 Laizismus  190–195, 197–199, 205–208, 210–215, 217, 219, 222–223, 225–237, 242–252, 254, 256, 260, 266, 269, 270–277, 279–280, 284, 287–289, 292, 296–298, 301–303, 305, 307, 310, 312, 314, 317–319, 322, 324, 326,–327, 329, 331–332, 335, 342–343, 346, 353, 355, 357, 361–362, 365, 370–371, 374, 376, 379–380, 383, 385, 388, 398–402, 405, 408–411, 414, 421 Laizismusmodell  194, 197–198, 318, 411 Laizismusprinzip  193 Laizisten  194, 372, 410 laizistisch  157, 159, 194, 208–209, 214–215, 218, 225, 227, 229–231, 236–237, 244, 247–249, 264, 272–275, 277, 294, 296, 299–302, 310–311, 315, 330, 362, 364, 410, 417, 421 Legitimation  173, 277, 289, 317, 378, 380 Leistungsrecht  104 lex specialis  88, 103 Lumpensammler-Beschluss  67

Mahalle  143 Militärdienst  148, 171 Militärputsch  219, 292 Millet  139, 140, 291 Millet-System  140 Minderheitenrecht  86 Ministeriums für Religion und Stiftungswesen  234 Missionierung  148, 258 Modernisierung  152, 155, 195, 300, 311, 379, 388 Modernisierungskurs  178, 377 Monarchie  202, 344, 377 Moscheegemeinde  120 Mufti  136 Muslime  25, 40, 99, 144, 164, 238, 241, 250, 302, 307, 313, 326, 330, 334, 336, 343, 345–346, 349, 353, 363, 372, 375, 378, 381, 384, 388, 392, 396–397, 410–411, 422 Neutralität  57, 65, 73, 83, 102, 108, 233, 251, 259, 276, 303, 308–309, 322, 336, 356, 361, 383, 405, 414, 421 Neutralitätsgebot  58, 256, 382 Neutralitätspflicht  107, 109, 277, 383 Neutralitätsprinzip  60, 251, 306 neutralitätswidrig  122 Nichtidentifikation  58, 60 Nichtmuslime  139, 331, 386 Niederlassungsbeschränkung  144 offene Trennung  56 osmanische Verfassung  173, 180, 186 Osmanisches Jahrhundert  133 Osmanisches Reich  131, 148, 159, 230, 289, 319, 336, 349, 363, 366, 376 Parameter  130 Parität  36, 59, 62 Paritätsprinzip  63 Parlamentarischer Rat  47

462 Sachwortverzeichnis Parteiverbot  243, 289, 293, 295–296, 303–304, 313–314, 352, 374 Parteiverbotsverfahren  294 Paulskirchenverfassung  45, 62 Pluralität  39, 153, 307 politische Ideologie  343, 352 postsäkular  49 Präsidium für religiöse Angelegenheiten  215, 219, 230, 233–234, 236–238, 242, 251, 288, 298, 318, 323, 331, 336, 349, 359, 363, 365, 379, 383–385, 388, 390–397, 404–405, 417, 421 Privilegien  165, 176, 274, 316 Privilegienbündel  90 Rechtsstaat  193, 213–214, 223, 243, 300, 403 Rechtstreue  97 Reform  153, 157, 206, 209, 213, 222–223, 230, 234, 238, 244 Reformationsfolgenrecht  46 Reformbestrebung  152 Reformgesetze  215, 218, 231–232, 276 Reformprozess  155 Reichsdeputationshauptschluss  44 Religion  100, 176, 193–194, 196, 198, 202–205, 208–209, 213, 215–218, 223–227, 230, 233–234, 237, 241, 244–251, 255, 258–259, 261–262, 264, 272–273, 275–278, 284, 288, 291, 297–299, 305–307, 309–310, 314, 318–319, 326–327, 331, 333, 335–336, 339, 343, 345, 348–349, 352–353, 355–357, 362, 366, 369, 371, 376–378, 380, 383–385, 387, 389, 391, 393–394, 397–405, 410–412, 414, 417, 421 Religionsausübung  66, 72, 257, 284, 319, 363, 376, 400 Religionsausübungsfreiheit  66, 72, 248, 285, 319 Religionsfreiheit  66, 176, 191–192, 197–198, 204, 212, 216–218, 223,

226, 229, 232, 247, 249, 252, 256, 262, 266, 273, 275–278, 283, 285, 287, 299, 302–305, 308–310, 313–314, 318–319, 322, 328, 330, 334, 336, 348, 353, 356, 363, 367, 373, 376, 385–387, 390, 392, 396–397, 400, 403–404, 406, 409, 410–411, 421, 423 Religionsgemeinschaft  111, 231, 235, 259, 322, 333, 335, 376, 383 Religionsgesellschaft  55, 89, 91, 233 Religionskriege  32, 36 Religionskunde  115 Religionskundeunterricht  228, 256, 262, 265–266, 332, 336 religionsneutral  36 Religionspflege  110 Religionspolitik  236, 378, 383, 400 Religionsunterricht  100, 193, 208–210, 216–217, 227–228, 241, 244–245, 248, 256, 261–262, 264, 266, 319, 332, 335–336, 349, 359, 366–367, 376, 395, 405 Religionsverfassungsrecht  46, 192, 241, 242, 406 Religionswechsel  169 religiös-politische Einheitswelt  33 religiöse Erziehung  74, 226–227, 233, 245, 252–253, 262, 264, 363, 367 Religiöse Kultur und Sittenlehre  226–228, 252–257, 259, 261–265, 322, 332, 336, 353, 368, 395 religiöse Symbole  76 religiöse Vielfalt  49 Religiöser Konsens  109 religiöses Recht  156 res mixta  102, 115 Rezeption  152, 163, 173 Römische Reich  30 säkular  104, 193, 198, 212, 233, 277, 336, 342–343, 347, 388, 397, 422–423

Sachwortverzeichnis463 Säkularisation  29, 152, 205, 355, 412, 416 Säkularisationsprozess  32, 151, 207, 377, 423 Säkularisierung  29, 206, 218, 231, 328 Säkularisierungsauftrag  53 Säkularität  356, 406 Sammel-System  150 Schamanismus  131 Scharia  135–136, 204, 303, 306–308, 314, 329, 417 Schariagericht  163 Schariagerichtsbarkeit  150 Scheich ul Islam  137 Scholastik  134 Schrankenleihe  80 Schrankenübertragung  80 Schulfrieden  85 Schulgebet  54, 61, 76 Schulgebetsentscheidung  77 Schutzbereich  204, 282, 316 Schutzbereichsbeschränkung  75 Selbstbestimmungsrecht  96, 108, 115 Selbstverständnis  37, 65, 67, 81, 92, 95, 100, 328, 372, 376 seldschukisches Reich  132 Souveränitätsrechte  181 Spitzenverbänden  42 Staatsform  214, 223, 286 Staatsgrundsatz  176 Staatskirche  31, 53, 192 Staatskirchenmodell  192 Staatskirchenrecht  46, 52 Staatskirchentum  44 Staatsorganisationsrecht  252 Staatsreligion  31, 53, 176, 180, 203–205, 233, 236, 272–273, 318, 363, 366, 388, 397, 400, 402 stille Messe  148 Strafrecht  150 Sultan  132, 135, 186, 199, 201, 234, 289 Sultanat  190

Sunnitentum  333 Suprematie  32, 33, 322 Symbol  82, 283, 285, 311, 352, 372, 409 Teilnahmepflicht  105, 255 Theokratie  236, 319, 342–343, 345, 358, 361, 364, 422 theokratisch  202 Theokratisierung  133 Theologie  324, 354, 393, 406 Toleranz  66, 274, 300, 306, 308, 342, 348 Toleranzedikt  31 Toleranzgedanke  61 Tor der Rechtsfindung  134 Trennung  193, 196, 198, 213, 223, 227, 230, 233, 237, 244, 246, 251, 273, 277–278, 300, 302, 310, 315, 319, 327, 335–336, 341, 343, 356, 363, 377, 379–380, 383–389, 397, 405, 411, 414, 421 Trennungsmodell  57, 192, 233, 318–319, 335, 353, 379, 406, 411, 421 Tulpenzeit  154 Türkeiforschung  193 Türkische Große Nationalversammlung  180, 199, 210 Turkish Islam  194, 323 Turkstaaten  131 Übereinstimmungsklausel  114 Überhang-Argument  51 Übernorm  59 Ulema  136, 156, 159, 173 Umma  134 Umwandlung  235, 326 Unabänderlichkeitsklausel  223 Ungleichbehandlung  60, 124–126, 265, 275, 278 Unterrichtsinhalt  117 Vereinigungsfreiheit  78, 304 Verfassungsentwicklung  158

464 Sachwortverzeichnis Verfassungsprinzip  59, 273, 299, 311 Verfassungsrang  219, 230, 235–236, 291 Vergrundrechtlichung  52 Verhüllung  418 Verhüllungsgebot  360 Vertragsverbot  142 Vielvölkerstaat  134 Volksabstimmung  210–211, 218, 221, 231, 322 Volkssouveränität  181, 202, 213 Wahlrecht  177, 204, 207 Wahrheit  34, 36–37, 364, 387

Wahrheitsanspruch  38, 97, 114, 364 Weimarer Kirchenartikel  47, 52 Weimarer Reichsverfassung  45, 48, 87 Weimarer Staatskirchenrecht  46 Westen  152, 195–197, 213, 246–247, 251, 273, 320, 364, 401, 412 Westfälischer Frieden  29, 35, 44 Wirkungsgleichheit  65 Wormser Konkordat  34 Zeugen-Jehovas-Urteil  116 Zuschreibung  85 Zwangsbekehrung  148 Zwei-Schwerter-Lehre  34