Die Kantische Theorie der Naturwissenschaft: Eine Strukturanalyse ihrer Möglichkeit, ihres Umfangs und ihrer Grenzen 9783110861235, 9783110065695

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Die Kantische Theorie der Naturwissenschaft: Eine Strukturanalyse ihrer Möglichkeit, ihres Umfangs und ihrer Grenzen
 9783110861235, 9783110065695

Table of contents :
Einleitung
§ 1 Die Frage nach Möglichkeit, Umfang und Grenzen einer a priori begründbaren Naturwissenschaft
I. Kapitel: Die Unterscheidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese
§ 2 Notwendigkeit - Zufälligkeit
§ 3 Allgemeinheit - Beschränktheit
§ 4 Objektivität - Subjektivität
§ 5 Die Kriterien als Wechselbegriffe
II. Kapitel: Die Möglichkeit einer Begründung a priori von Naturgesetzen
A. Die Grundlagen der metaphysischen Deduktion
§ 6 Der formale Charakter der Bedingungen
§ 7 Der apriorische Charakter der Bedingungen
B. Die Aspekte der transzendentalen Deduktion
§ 8 Der finale Aspekt
§ 9 Der kausale Aspekt
§ 10 Der instrumentale Aspekt
§ 11 Der modale Aspekt
III. Kapitel: Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen
A. Raum und Zeit
§ 12 Die Interdependenz von Raum und Zeit
§ 13 Riehls These einer Dependenz des Raumes von der Zeit
§ 14 Die Eine Erfahrung
B. Bewegung
§ 15 Bewegung als abgeleitete Anschauungsform („zur Sinnlichkeit gehöriger Begriff“)
§ 16 Bewegung als abgeleitete formale Anschauung
§ 17 Bewegung als abgeleiteter reiner Verstandesbegriff des Typs „sinnlich bedingter Begriff a priori“
IV. Kapitel: Das System der Naturwissenschaft
§ 18 Abgrenzung der eigentlichen Naturwissenschaft von der uneigentlichen und der Naturlehre
§ 19 Der Inhalt des Wissenschaftssystems
§ 20 Probleme der Einteilung des Systems
Literaturverzeichnis
Register

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Κ. Gloy · Die Kantische Theorie der Naturwissenschaft

Karen Gloy

Die Kantische Theorie der Naturwissenschaft Eine Strukturanalyse ihrer Möglichkeit, ihres Umfangs und ihrer Grenzen

w DE

G 1976

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forsdiungsgemeinsdiaft

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Gloy, Karen Die Kantische Theorie der Naturwissenschaft : e. Strukturanalyse ihrer Möglichkeit, ihres Umfangs u. ihrer Grenzen. - Berlin, New Y o r k : de Gruyter, 1976. ISBN 3 - 1 1 - 0 0 6 5 6 9 - X

© 1976 by Walter de Gruyter & Co., vormals G . J . Göschen'sdie Verlagshandlung · J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl. J . Trübner · Veit 8c Comp., Berlin 30, Genthiner Str. 13 Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Obersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanisdiem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Hofmann-Druck K G , Augsburg Buöhbindearbeit: Lüderitz Sc Bauer, Berlin

Nadi dem Geiste zu erklären ist man wohl genöthigt, wenn es mit der Erklärung nach dem Buchstaben nicht recht fortwill. Fichte, 2. Einl. i. d. Wiss.-Lehre

Vorwort Das vorliegende Buch enthält meine Dissertation, wie sie im Sommersemester 1973 der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Heidelberg eingereicht wurde. Die Arbeit ist keine und will keine historisch-philologische Auslegung Kantischer Texte sein, sondern eine selbständige, denkende Auseinandersetzung mit den Grundtheoremen der Kantischen Philosophie. Vorbild für diese Art zu philosophieren waren mir Vorlesungen und Seminare von Herrn Prof. Dr. D. Henrich, Heidelberg. Für Kritik bin ich Herrn Prof. Dr. E. Tugendhat verpflichtet. Die Thematik der Arbeit selbst geht auf eine Anregung meines ersten Philosophielehrers, Herrn Prof. Dr. C. F. v. Weizsäcker, zurück. Heidelberg, im Frühjahr 1974 Karen Gloy

Inhaltsverzeichnis Einleitung §

1 Die Frage nach Möglichkeit, Umfang und Grenzen einer a priori begründbaren Naturwissenschaft

1

I. Kapitel: Die Unterscheidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese 5 § § §

2 3 4 5

Notwendigkeit - Zufälligkeit Allgemeinheit - Beschränktheit Objektivität — Subjektivität Die Kriterien als Wechselbegriffe

19 31 42 60

II. Kapitel: Die Möglichkeit einer Begründung a priori von Naturgesetzen A. Die Grundlagen der metaphysischen Deduktion § 6 Der formale Charakter der Bedingungen § 7 Der apriorische Charakter der Bedingungen B. Die Aspekte der transzendentalen Deduktion § 8 Der finale Aspekt § 9 Der kausale Aspekt § 10 Der instrumentale Aspekt § 11 Der modale Aspekt

63 63 79 84 84 90 94 101

III. Kapitel: Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen A. Raum § 12 § 13 § 14

und Zeit Die Interdependenz von Raum und Zeit Riehls These einer Dependenz des Raumes von der Z e i t . . . Die Eine Erfahrung

121 121 137 140

Inhaltsverzeichnis

Β. Bewegung § 15 Bewegung als abgeleitete Anschauungsform („zur Sinnlichkeit gehöriger Begriff") § 16 Bewegung als abgeleitete formale Anschauung § 17 Bewegung als abgeleiteter reiner Verstandesbegriff des Typs „sinnlich bedingter Begriff a priori"

143 143 148 153

a) Prädikabilien 153; b) Bewegung als Prädikabile 163. IV. Kapitel: Das System der Naturwissenschaft § 18

Abgrenzung der eigentlichen Naturwissenschaft von der uneigentlichen und der Naturlehre

175

§ 19 § 20

Der Inhalt des Wissenschaftssystems . -. - . -r. * Probleme der Einteilung des Systems

191 200

Literaturverzeichnis Register

219 ·.-

.223

Benutzte Abkürzungen und Zitierweise Schätzung d. leb. K r . Unters, üb. d. Deutl. Diss. KdrV Prol. MA KdpV KdU MdS Anthr. Rez. Herder Best. d. Begr. Teleol. Prinz. Streitsdir.

Log. Refl. Fortschr.

Op.p. Pölitz

Gedanken von der wahren Sdiätzung der lebendigen Kräfte... Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis Kritik der reinen Vernunft Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft Kritik der praktischen Vernunft Kritik der Urteilskraft Die Metaphysik der Sitten Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Rezensionen von I. G. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie Uber eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll Logik, hrsg. v. Gottlob Benjamin Jäsdie Reflexionen Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik Opus postumum Immanuel Kants Vorlesungen über die Metaphysik, hrsg. v. Pölitz

Kants Werke werden nach der Akademie-Ausgabe zitiert unter Angabe des Bandes, der Seite, gegebenenfalls der Zeile. Für die 1. und 2. Aufl. der K d r V und für die K d p V gilt die in der Kant-Literatur übliche Originalpaginierung. Bei einigen Schriften, u. a. Diss., Prol., K d U , Log. wird lediglich auf Paragraph oder Kapitel verwiesen. Die Angabe der Belegstellen des Op. p. erfolgt chronologisch. Auf die übrige Literatur wird in der Regel nur mit Verfassernamen hingewiesen. Sind mehrere Schriften eines Verfassers vorhanden, so bezeichnet die Zahl hinter dem Namen die gemeinte Abhandlung.

Einleitung § 1 Die Frage nadi Möglichkeit, Umfang und Grenzen einer a priori begründbaren Naturwissenschaft Kants letztes, fragmentarisch gebliebenes Werk, das als Opus postumum bekannt ist, sollte den Titel eines Übergangs von der Metaphysik der Natur zur Physik tragen. In ihm sollte ein Uberschritt vom reinen, metaphysischen zum empirisch-physikalischen Teil der Naturwissenschaft vollzogen und damit eine noch vorhandene „Lücke im System der reinen Naturwissenschaft (philosophia naturalis pura) ausgefüllt und der Kreis alles dessen, was zum Erkenntnis a priori der Natur gehört, geschlossen" werden (Op. p., XXI, 640,4 '). Was Kant mit der „Metaphysik der Sitten" für die praktische Philosophie bereits geleistet hatte, nämlich nicht allein eine systematische Exposition der reinen moralischen Prinzipien, sondern auch eine ihrer Anwendung auf Erfahrung, mithin einen „Uberschritt" von der Metaphysik der Sitten zur empirischen Praxis „nach Regeln" 2, und was er mit dem Gegenstück zu jener Schrift, den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft", für die theoretische Philosophie ansatzweise schon gezeigt hatte, nämlidi nach der Exposition des Systems der reinen Naturprinzipien Beispiele einer regelgeleiteten Anwendung auf Erfahrungsfälle 3 , mithin „einige Schritte" im Felde des Ubergangs (Op. p., XXI, 408, 6), das beabsichtigte er im Op. p. fortzuführen und zum Abschluß zu bringen. Wie der genaue Titel des postumen Werks ankündigt — er lautet „Ubergang von den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik" 4 —, sollte der Ubersdiritt von Seiten jenes Metaphysikteils erfolgen, den Kant in der Schrift von 1786 mit dem Namen 1 2 3 4

Vgl. audi Op. p., XXI, 626, 8. Vgl. MdS, VI, 205 f., 468 f. Vgl. vor allem die Allgemeine Anmerkung zur Dynamik. Op. p., XXI, 373,1; 174,16; XXII, 226, 7; 239,21; XXI, 606, 2; XXII, 456,27; 467, 14; 492, 16; 496, 11 usw. (s. Übersdirift).

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Einleitung

„Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft" abgehandelt hatte. Die dort gewonnenen Ergebnisse bilden also das bereits gesicherte Fundament. Ging es in den MA darum, das System von Bestimmungen a priori der Materie überhaupt ausfindig zu machen, so geht es im Op. p., das eine Anwendung desselben auf die Mannigfaltigkeit der Erfahrungsfälle ist, darum, das System derjenigen „Momente" aufzufinden, worauf sich die „spezifische Verschiedenheit" der Materie „insgesamt... bringen . . . lassen muß" (ΜΑ, IV, 525), also um das System der Grundunterschiede der Materie. Da es sich hier jedoch nidit mehr um reine Metaphysik, sondern um den Ubergang vom Metaphysischen zum Empirischen handelt, welcher an beidem teilhat 5 , kann ein solches System nur noch a priori entworfen, nicht mehr aber ausgewiesen werden. Verweist das Op. p. auf die MA, so verweisen die MA ihrerseits auf die KdrV; denn, wie Kant in der Vorrede der ΜΑ (IV, 470) erklärt, gründen diese nicht in sich selbst, sondern wenden „transzendentale Prinzipien" auf die eine der beiden „Gattungen der Gegenstände unserer Sinne", und zwar auf die Gattung der äußeren Sinnesgegenstände, auf Materie also, an. Mit den transzendentalen Prinzipien aber ist nichts anderes gemeint als das System der apriorischen Verstandesmomente, wie es in der KdrV dargestellt wird: in der Analytik der Begriffe in seiner völligen Reinheit und in den anschließenden, durch die Transzendentale Deduktion eingeleiteten Abschnitten, Schematismus- und Grundsatzkapitel, in seiner Restriktion auf Sinnlich-Materielles überhaupt noch vor der Differenzierung nach äußerem und innerem. So besteht ein durchgängig systematischer Zusammenhang zwischen KdrV, MA und Op. p., indem zunächst in der KdrV das reine System der Verstandesbegriffe auf das der Sinnlichkeit überhaupt Gegebene angewandt wird in der Absicht, dadurch eine Wissenschaft a priori von der Natur in allgemeinster Bedeutung zu begründen, sodann in den MA das gewonnene System auf das den äußeren Sinnen Gegebene, um dadurch eine Wissenschaft a priori speziell von der äußeren Natur zu begründen, und schließlich im Op. p. das auf diese Weise entstandene System auf das den äußeren Sinnen gegebene Besondere, um mit dem Wissenschaftsentwurf a priori von den grundsätzlichen Besonderheiten der äußeren Natur den Ubergang vom a priori Wißbaren zum nicht mehr a priori Wißbaren zu vollziehen. In den genannten Schriften verwirklicht sich damit einer der Hauptstränge des Kantischen Metaphysiksy5

Vgl. Op. p., XXI, 617,25, ebenso 475, 3; 487,9 usw.

Frage nadi einer apriorischen Naturwissenschaft

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stems, jener nämlich, der der Grundlegung einer aufs Äußere gerichteten Naturwissenschaft a priori einschließlich ihres Übergangs dient. Aufgabe der vorliegenden Arbeit ist es, Möglichkeit, Umfang und Grenzen dieser Naturwissenschaft a priori aufzuzeigen. Dies geschieht in der Absicht, den Anspruch zu legitimieren, den Kant in und mit dem im Op. p. vollzogenen Übergang von der Naturmetaphysik zur Physik geltend macht, nämlich b i s zu diesem Übergang echte Metaphysik im Sinne eines streng a priori entwerfbaren und ausweisbaren Wissens von der Natur geliefert zu haben, weil nur von einem solchen Wissen aus sinnvollerweise zu einem andersgearteten übergegangen werden kann. Diese Rechtfertigung steht bis heute aus. Die Gründe liegen weniger in Fehldeutungen der KdrV, als vielmehr in solchen der MA. Für die Ratlosigkeit gegenüber dieser Schrift ist ζ. B. symptomatisch, daß die Interpreten des Op. p., für die gerade das Verständnis dieser Schrift als Metaphysik die unumgängliche Voraussetzung des Verständnisses vom Ubergang bildet, sie entweder mit Stillschweigen übergehen 6 oder sich mit ihrer bloßen Erwähnung und einem allgemeinen Hinweis auf einen Ausgang des Op. p. von ihr begnügen, ohne sie aber konkret für die Problemlage heranzuziehen 7 , oder sie mit Ausnahme des 1. Hauptstüdes für „verfehlt" erklären 8 und so den im Op. p. vollzogenen Ubergang als einen nicht von den MA, sondern von der KdrV betrachten, als direkte Fortsetzung und Erweiterung von Transzendentaler Deduktion und Schematismus9. Die MA entziehen sich solange einer Deutung als Metaphysik, wie man ihnen einen empirischen Ansatz unterstellt, wie dies vorwiegend in älteren Arbeiten geschehen ist 10 , aber auch noch jüngst in der Arbeit von Hoppe n . Der vermeintlich empirische Ansatz betrifft die Grundbestimmung der Materie, auf die laut Aufgabendefinition (vgl. ΜΑ, IV, 470) in den Μ Α die transzendentalen Prinzipien anzuwenden sind. „Grundbestimmung eines Etwas, das ein Gegenstand äußerer Sinne" ist (MA, 6 7

8 9

10 11

Vgl. Kaulbadi (4). Lehmann (1), 752, (2), 307, (3), 60 f., (8), 493 ff. erwähnt in seiner chronologisch-genetischen Betrachtung des Op. p. die MA lediglich als Ausgangspunkt neben der K d U ; Albrecht (2), 61 sieht den Übergang von den MA zur Physik im Verlaufe des Op. p. an Interesse verlieren und auf seine Kosten das Thema der Einen Erfahrung sich durdisetzen. Vgl. Hoppe, 85 f. Vgl. Adickes (1), 235 ff., Lehmann (3), 63, 66 ff., (6), 152 f., (8), 498 f., Albrecht (2), 58, Mathieu, 271 f., Hoppe, 120 f., 148 f. 179 ff. Vgl. Schwab, 2 ff., Stadler, 4 ff., Höfler (1), 640. Vgl. Hoppe, 54 ff., 79 ff.

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Einleitung

IV, 476), ist nach Kant „Bewegung". Für Hoppe und die übrigen Interpreten äußert sich die Empirizität darin, daß Bewegung aus der Erfahrung stammt (vgl. 82 ff.). Die Herleitung dieses Begriffs lasse sich nicht anders plausibel machen als nach jener alten mechanistischen Theorie einer Wechselbeziehung zwischen Erkenntnisobjekt und Erkenntnissubjekt, derzufolge äußere bewegende Gegenstände die Sinnesorgane des Menschen affizieren, dadurch Wahrnehmungen hervorrufen, die dann untereinander gemäß den logischen Akten der Begriffsbildung: Komparation, Reflexion, Abstraktion auf einen gemeinsamen Merkmalskomplex verglichen werden. „In Wahrheit", sagt Hoppe (83) mit Bezug auf diese Sinnesaffektion, „handelt es sich hier eben gar nicht um ein Resultat der Kritik, sondern vielmehr um ein von der Transzendentalphilosophie nicht bewältigtes Residuum der Tradition." Während davon „in der Kritik bloß eine nicht näher bestimmbare, nur denkbare Affektion durch das Ding an sich übrig" bleibe, „ein .notwendiger Gedanke der Transzendentalphilosophie' (W. Bröcker, Kants Lehre von der äußeren Affektion, 154)", werde dieser „in den MAGr in seiner unkritischen Form wieder aufgenommen" (84). Ist Bewegung als erfahrungsdependenter Begriff zu betraditen, so teilt er notwendig alle Mängel und Schwächen solcher Begriffe, beispielsweise Kontingenz, Variabilität, beschränkte Ausgewiesenheit, subjektive Gültigkeit usw.; denn wie alle derartigen Begriffe geht er immer nur aus einer größeren oder kleineren Anzahl von Erfahrungsfällen hervor, die bis zu einem gewissen Zeitpunkt mehr oder weniger zufällig von diesem oder jenem Subjekt konstatiert wurden. Ob mit ihm das Grundkonstituens der Materie aufgefunden ist, das uneingeschränkt für die gesamte Materie gilt, gleichgültig, ob diese gegeben ist oder nicht, bleibt fraglich; nachweisen wenigstens läßt es sich nicht; im Gegenteil, selbst wenn uns bis zum heutigen Tage ausnahmslos bewegliche Materie vorgekommen sein sollte, müßte für die Zukunft mit der Möglichkeit unbeweglicher Materie gerechnet werden. Die gleiche Vorläufigkeit kennzeichnet auch die Inhaltskriterien des Bewegungsbegriffs sowie die auf ihnen basierenden Aussagen. Als vorfindlich können sie niemals mehr als eine bloße Ansammlung kontingenter, beschränkter Bestimmungen und Regeln sein, die sich beliebig vermehren oder vermindern läßt. Dies widerstreitet jedoch entschieden dem Charakter einer Metaphysik, deren Anspruch einerseits in der Notwendigkeit, Allgemeinheit und Objektivität der Begriffe und Urteile, andererseits in der Vollständigkeit des Systems besteht. Nach der obigen Auslegung müßten die MA mit

Frage nach einer apriorischen Naturwissenschaft

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Hoppe (84) zu Recht „von Anfang an als unsicher und korrekturbedürftig" bezeichnet werden. Hinzu kommt, daß angesichts eines empirischen Begriffs methodisch nichts weiter übrigbleibt als eine Begriffsanalyse (vgl. Hoppe, 46, 55, 75). Damit aber würde sich metaphysisches Verfahren, von Kant stets als „synthetisches Vernunftserkenntnis" beschrieben (KdrV, A 722 Β 750), das zu einem System synthetischer Sätze a priori führt, auf ein rein analytisches Verfahren reduzieren, wie es für die formale Logik charakteristisch ist. Hieran vermag auch die Anwendung des Kategoriensystems, das bei der Einteilung zusätzlich zum Prinzip des auszuschließenden Widerspruchs herangezogen wird, nichts zu ändern, wie Hoppe (75 f.) meint; denn es kann hier nur als heuristisches Prinzip fungieren, um Vollständigkeit und Ordnung des empirisch vorgefundenen Materials anzustreben. Daß sich überhaupt auf einen ursprünglich aus der Erfahrung stammenden Begriff ein ganz andersartiges, nämlich im reinen Verstand wurzelndes Prinzip anwenden läßt, muß dieser Theorie als reiner Zufall erscheinen oder als prästabilierte Harmonie, von der aber Kant in eben den M A sagt, daß sie ein Rettungsmittel sei, „weit schlimmer . . . als das Übel, dawider es helfen soll" (ΜΑ, IV, 476 Anm.). Zur Rechtfertigung der Übereinstimmung genügt nicht, einfach vorauszusetzen (vgl. Hoppe, 55 f.) oder für selbstverständlich zu halten (vgl. Hoppe, 46), daß das Kategoriensystem, genauso wie es in der K d r V eine Natur überhaupt bestimmt, so auch in den MA eine ausgedehnte, materielle Natur bestimmt; denn die Frage ist nicht, d a ß , sondern w i e es dies tue. Alles, was sich, kritisch betrachtet, bei Annahme eines empirischen Ansatzes mit metaphysischer Methode erreichen ließe, wäre ein philosophischer Überbau, der mit der Gesichertheit des Ansatzes stände und fiele. Metaphysik wäre hier als bloße Überhöhung einer empirischen Wissenschaft mit empirischen Grundbegriffen zu verstehen. Ihr käme lediglich die Aufgabe zu, einerseits empirische Sachverhalte zu verallgemeinern, andererseits das verstreut Aufgefundene zu sichten, zu ordnen, zu systematisieren. Die Tatsache, daß sich der aus der Erfahrung abstrahierte Bewegungsbegriff als Fundamentalprädikat der Materie erweist — zum einen kennen wir kein Gegenbeispiel, zum anderen reduzieren wir in der Physik alle übrigen Eigenschaften der Materie auf ihn —, und weiter die Tatsache, daß er sich vollständig nach dem Kategoriensystem zerlegen, mithin in den vier Hauptstücken der MA unter die vier Kategorientitel

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Einleitung

bringen läßt — was für die obige Theorie lauter Zufallserscheinungen sind —, deuten darauf, daß hierfür nicht nur ein empirisch-zufälliger Grund verantwortlich sein könne, sondern ein a priori-notwendiger. Der Begriff läßt sich nur deshalb in dieser Verfassung aus der Erfahrung ziehen, weil er zuvor — selbstverständlich nicht in einem temporalen Sinne — so hineingelegt wurde. Auf dieser Einsicht beruht die Arbeit Schäfers. Aufgabe der Metaphysik muß es dann sein, sich gegenüber dem empirisch vorfindlichen Begriff in ein solches Verhältnis zu setzen, daß dadurch „ihr Bedingendsein für die Empirie" (30) sichtbar wird. Ansatz wie Methode sind nicht einfach der Empirie zu überlassen, sondern einer metaphysischen Notwendigkeit folgend auszuweisen n . Das bedeutet konkret für den Ansatz, daß die sinnesphysiologische Erklärung des Affektionsprozesses, die in einem Affiziertwerden des Subjekts durch äußere bewegende Gegenstände besteht und nur zu einem empirischen Bewegungsbegriff berechtigt, durch eine metaphysische Erklärung zu ersetzen ist, die in einem vorgängigen Sich-offen-Halten des Subjekts für die affizierenden Gegenstände besteht. Um von einem bestimmten Gegenstand mit bestimmten Eigenschaften überhaupt affiziert werden zu können, muß das Subjekt sich zuvor prinzipiell auf diesen eingestellt haben; andernfalls könnte der Gegenstand in seiner spezifischen Beschaffenheit gar nicht aufgenommen werden. Daher folgert Schäfer: „ S o f e r n das Vernehmen allgemein auf Bewegung ausgerichtet ist, m u ß die Grundbestimmung eines Etwas, das affizieren soll, durch Bewegung bestimmt sein" (28). Da diese Feststellung jedoch nicht allein für Bewegung, sondern auch für die übrigen Materieeigenschaften, Farbe, Härte, Glätte usw., gilt, ist insoweit nur eine Selbstverständlichkeit ausgesagt. Die eigentlich relevante Frage ist die, was gerade die Zuwendung zur Bewegung vor irgendeiner anderen auszeichnet. Ist sie zufällig, ein willkürlicher Akt des Subjekts, oder notwendig? Hierauf gibt Schäfer folgende Antwort: Die Einstellung auf Bewegung ist mit der Einstellung auf Natur gegeben. Natur ist das in Raum und Zeit Erscheinende, folglich das durch Raum- und Zeitstruktur Bestimmte. „Wenn das Mannigfaltige, das im naturalen Erfassen in der Sinnlichkeit begegnet, nicht sowohl Raum- als auch Zeitbestimmtheit tragen soll, sondern gerade durch die Einheit von beiden zu kennzeichnen ist, dann gehört dem Vernehmen ein Ausblick auf die Einheit von Raum und Zeit zu" (28), d. h. auf Bewegung. 12

Vgl. Schäfer, 25 ff. und 30 f f .

Frage nach einer apriorischen Naturwissenschaft

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In ihrer Allgemeinheit ist die Antwort zwar richtig, aber nichtssagend. Sie verdeckt die vielfältigen Probleme, die sich von einem expliziten, differenzierten Problembewußtsein her stellen. Schon die K d r V handelt von einer Natur, die in Raum und Zeit erscheint, folglich durch Raum- und Zeitstruktur bestimmt ist. Warum thematisiert nicht schon sie Bewegung? Ist die Betrachtung der Natur unter dieser oder jener Form, entweder unter Raum oder Zeit oder unter der Einheit beider, Bewegung, beliebig? Der oben zitierte Satz, der durch die Konjunktion „wenn" eingeleitet wird, einem Ausdruck, der zur Bezeichnung einer Annahme oder Voraussetzung, nicht aber einer Notwendigkeit dient, und der zudem das Modalverb „sollen" enthält, das Standardausdruck eines mehr oder weniger willkürlichen Postulats ist, könnte dies zumindest nahelegen. Wer oder was bestimmt eine spezifische Strukturierung der Natur? Zumal, da es Raum-Zeitfunktionen gibt — gemeint sind die, auf denen die mathematisch-naturwissenschaftlichen Hypothesen basieren —, deren Anwendbarkeit auf Natur wegen ihrer freien Entworfenheit a priori problematisch ist, allenfalls a posteriori bestätigt werden kann, bedarf die Frage nach der realen Gültigkeit der Bewegungsstruktur, ihrer Notwendigkeit oder Zufälligkeit, einer eingehenden Erörterung, ja überhaupt erst einer angemessenen Stellung. Zugleich weist die Frage auf eine andere, noch vorgängig zu behandelnde, nämlich auf die nach der inhaltlichen Beschaffenheit desjenigen, um dessen Realmöglichkeit es geht. Daß Bewegung inhaltlich Raum- und Zeitbestimmung vereinigt, ist zwar eine richtige Behauptung Schäfers, aber eben nur eine Behauptung, die es zu begründen gilt. Es dürfte einleuchten, daß sich das überaus schwierige und komplexe Problem erst dann einer angemessenen Lösung wird zuführen lassen, wenn man es differenzierter, und zwar im Hinblick auf die Frage nach Inhalt und Realmöglichkeit der Bewegung betrachtet. Was die Methode der Metaphysik betrifft, folgt aus der Schäfersdien Grundkonzeption, daß sich die Metaphysik „nicht nur begrifflich und formal ins Verhältnis zu den Erfahrungsbegriffen zu setzen hat, um diese zu analysieren oder kritisch zu reflektieren, sondern daß sie diese im Bereich des Aufnehmens der Gegenstände selbst (Anschauung) treffen muß" (30), um so ihre Fundierungsfunktion gegenüber den Erfahrungsbegriffen auszuweisen. Sie verfährt also sowohl analytisch wie synthetisch; sie besteht zum einen in einer vollständigen Zergliederung des empirisch vorgefundenen Bewegungsbegriffs nach dem Kategoriensystem, zum anderen in einer Beziehung der zergliederten Wesensmerk-

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Einleitung

male auf die reinen Formen der Anschauung (vgl. 31) 13 . Den letzteren Vorgang charakterisiert Sdiäfer näher als „metaphysische Konstruktion" (30 ff.), wobei er einen Terminus verwendet, den er aus ΜΑ, IV, 473 herausliest: „Um deswillen habe ich für nötig gehalten, von dem reinen Teile der Naturwissenschaft (physica generalis), wo metaphysische und mathematische Konstruktionen durcheinander zu laufen pflegen, die ersteren und mit ihnen zugleich die Prinzipien der Konstruktion dieser Begriffe, also der Möglichkeit einer mathematischen Naturlehre selbst, in einem System darzustellen." Schon Hoppe (73 f.) hat zu Recht darauf hingewiesen, daß im Text hinter „metaphysische" wahrscheinlich versehentlich ein Ausdruck wie „Begriffe" oder „Prinzipien" ausgelassen wurde. Zwei Gründe sprechen dafür: 1. Ohne eine entsprechende Ergänzung fehlte syntaktisch ein Bezugswort für die an späterer Stelle des Satzes vorkommenden „Begriffe", die offensichtlich (s. das Demonstrativum) vorangegangene metaphysische Begriffe wiederaufnehmen. 2. Wären tatsächlich metaphysische Konstruktionen gemeint, so daß nebeneinanderher metaphysische und mathematische Konstruktionen beständen, so wäre die Wendung „Konstruktion dieser Begriffe", die ohne jegliches erläuternde Attribut auftritt, nicht ohne weiteres als mathematische Konstruktion verständlich, als die sie die nachfolgende Apposition bestätigt. Doch wenden wir uns von solchen terminologischen Fragen dem mit ihnen verbundenen Sinn zu! Die metaphysische Konstruktion nimmt für Schäfer eine Mittelstellung zwischen transzendentaler Synthesis und mathematischer Konstruktion ein. Mit der ersteren stimmt sie darin überein, daß sie sich auf e m p i r i s c h e Anschauung bezieht im Gegensatz zur mathematischen Konstruktion, deren Bereich die r e i η e Anschauung ist, mit der letzteren darin, daß sie ihre Begriffe i η der Anschauung darstellt, also Einheit i η dieser hervorbringt im Gegensatz zur transzendentalen Synthesis, die eine Einigung des Verstandes m i t der Sinnlichkeit vollzieht, folglich Einheit m i t der Anschauung hervorbringt. Sehen wir einmal ab von dem Widerspruch, in den sich Schäfer infolge seiner schon kritisierten unscharfen Bewegungsdeduktion verwikkelt, indem er Bewegung i η der Anschauung konstruierbar denkt (vgl. 13

Streng genommen berechtigt Schäfers Konzeption nur zu einer synthetischen Methode für die Metaphysik, da nur sie zur Fundierung der Erfahrung beiträgt; die analytische Methode dagegen gehört dem empirischen Bereich an.

Frage nadi einer apriorischen Naturwissensdiafl

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36 f.), während er sie zuvor als „Einheit von Raum und Zeit" (28) definiert hatte, und beschränken uns auf die Frage, ob die metaphysische Konstruktion das leistet, was sie laut Grundkonzeption leisten soll und muß! Laut Grundkonzeption hat sich die Metaphysik in ein solches Verhältnis zu den Erfahrungsbegriffen zu bringen, „daß sie diese im Bereich des Aufnehmens der Gegenstände selbst (Anschauung)" trifft (30), d. h. sie hat den Anwendungsvorgang der reinen Verstandesbegriffe und -gesetze auf das Anschauungsmannigfaltige sichtbar zu machen, den Synthesis V o l l z u g selbst zu zeigen. Tatsächlich aber stellt bei Schäfer die metaphysische Konstruktion Begriffe anschaulich dar, die, aus der Analysis eines empirischen Begriffs stammend, schon v o l l z o g e n e Synthesen des Anschauungsmannigfaltigen in sich enthalten (genau wie mathematische Begriffe). Ihre anschauliche Exposition bereitet deshalb keinerlei Schwierigkeit mehr. Was eigentlich erst Aufgabe wäre, nämlich die Applikabilität der reinen Verstandesbegriffe auf das jeweilige Anschauungsmannigfaltige nachzuweisen, wird hier als bereits gelöst vorausgesetzt. So sehen wir überall bei Schäfer zwar ein richtiges Programm entworfen, dasselbe aber noch in keiner befriedigenden Weise durchgeführt. Es ist das Verdienst von Piaass, erstmals die Problematik der MA bezüglich Ansatz und Methode in ihrer ganzen Komplexität und Differenziertheit entfaltet zu haben, welche allein zu einer angemessenen Lösung berechtigen kann. Wenn auch nicht allen Ergebnissen zugestimmt werden kann, so sind doch die von Piaass eingeschlagenen Wege grundsätzlich fortzuführen und auszubauen. Piaass unterscheidet erstmals zwischen einer den Inhalt und einer die Realmöglichkeit der Bewegung betreffenden Deduktion und führt damit eine Betrachtungsweise ein, die aus der neueren Kant-Forschung nicht mehr wegzudenken ist. Um die vielfältigen, auf den ersten Blick oft widersprüchlichen Aussagen Kants über Bewegung, in denen teils von einem apriorischen, teils von einem empirischen Charakter die Rede ist, in Einklang zu bringen, hält Piaass die Inhaltsableitung für a priori möglich, den Realitätsbeweis dagegen nur für a posteriori (vgl. 84 ff. und 95 ff.). Die Argumentation läuft folgendermaßen: Soll Bewegung die Grundbestimmung äußerer Sinnesgegenstände sein, so muß ihr Inhalt den Bedingungen genügen, die solche Gegenstände stellen. Gegenstände äußerer Sinne sind keine Dinge an sich, sondern Erscheinungen. Als äußere Erscheinungen unterstehen sie der Anschauungsform des Raumes, als Erscheinungen überhaupt der Anschauungsform der Zeit;

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Einleitung

folglich enthalten sie beide Formen in sich vereinigt. Bewegung aber ist bezüglich Raum und Zeit gerade derjenige Begriff, welcher laut K d rV, A 41 Β 58 „beide Stücke vereinigt" (vgl. 98 f.). — Daß hingegen dieser inhaltlich a priori deduzierbare Begriff tatsächlich auf Erfahrung applikabel ist, soll sich nur empirisch anhand von Beispielen in der Wahrnehmung belegen lassen (vgl. 95 f.). Diese letzte These hat nun freilich schwerwiegende Konsequenzen für den Status der MA als Metaphysik. Denn wenn sich die reale Gültigkeit der Bewegung ausschließlich empirisch sichern läßt, könnte man auf der Suche nach Beispielen irgendwann und -wo auf unbewegliche Materie treffen, wodurch zwar nicht der exakt festgelegte Inhalt, wohl aber die uneingeschränkte Anwendbarkeit der Bewegung in Frage gestellt würde. Der Grundbegriff der M A könnte dann lediglich Anspruch auf einen conceptus factitius machen, d. h. auf einen mehr oder weniger willkürlich entworfenen Begriff, der sich a priori zwar widerspruchsfrei denken, nicht aber real garantieren läßt; und ebenso könnte das auf einem solchen Begriff errichtete System von Aussagen lediglich Anspruch auf ein System von Hypothesen mit nur postulierter, nicht legitimierter notwendiger, allgemeiner Gültigkeit machen. Genau dies ist auch Piaass' Meinung; denn in der Frage der Existenzvoraussetzung von Urteilen unterstellt er Kant, daß dieser genau wie Frege nicht so denke, „daß die Behauptung der Existenz in der Behauptung der Wahrheit des Satzes impliziert sei, sondern so, daß sie Voraussetzung dafür ist, daß man überhaupt etwas behaupten kann" (89). „Um die Wahrheit der Sätze der reinen Physik zu beweisen", habe man die Beihilfe der Erfahrungsprinzipien nicht nötig, „sondern um überhaupt die M ö g l i c h k e i t i h r e r W a h r h e i t (oder Falschheit) zu garantieren . . . , also sich zu versichern, daß es sich überhaupt um Erkenntnis handelt" (ib.). In der Kantischen Schrift findet sich jedoch keine einzige Stelle, an der von einem hypothetischen Charakter des Bewegungsbegriffs oder der Bewegungsgesetze die Rede wäre, und die beiden Passagen (ΜΑ, IV, 523 ff. und 532 ff.), in denen von Hypothesen, Postulaten, von a priori widerspruchsfrei Denkbarem, wenngleich nicht real Beweisbarem u. ä. die Rede ist, stehen wohlgemerkt nicht im Hauptstück „Dynamik", sondern in der „Allgemeinen Anmerkung zur Dynamik". Sie beziehen sich auch nicht, wie eine genaue Textanalyse bestätigt, auf die im Hauptstück vorgetragenen Bestimmungen der Materie ü b e r h a u p t , sondern auf die in der Anmerkung erörterten der s p e z i f i s c h e n Ver-

Frage nach einer apriorischen Naturwissenschaft

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sdiiedenheit der Materie, insbesondere auf die beiden alternativen Erklärungsweisen unterschiedlicher Raumerfüllung: Atomismus und Dynamismus. Die Bestimmungen der spezifischen Verschiedenheit der Materie aber bilden das Thema des im Op. p. behandelten Ubergangs von den MA zur Physik, dessen Ursprung die Allgemeine Anmerkung zur Dynamik ist; sie stehen daher auf prinzipiell anderem Niveau als die Prinzipien der MA. Wo Kant auf den Status der letzteren reflektiert — was allerdings in den MA selbst selten geschieht, wahrscheinlich wegen der Selbstverständlichkeit der Einstufung, die ihm ein näheres Eingehen überflüssig erscheinen ließ —, läßt er keinen Zweifel an der in jeder Beziehung bestehenden Apriorität. So nimmt er in ΜΑ, IV, 472 für sich in Anspruch, die Bestimmungen der Bewegung, weldie die früheren Naturphilosophen, zwar wissend um die »apodiktische Gewißheit* derselben, dodi unkundig ihrer „Quellen a priori", nur zu postulieren vermochten, a priori beweisen zu können; in ΜΑ, IV, 468 erklärt er von der eigentlich so genannten Naturwissenschaft, daß sie im Unterschied zur uneigentlich so genannten „ihren Gegenstand gänzlich nach Prinzipien a priori" behandle, oder in ΜΑ, IV, 470, daß sie „auf Erkenntnis der Naturdinge a priori" beruhe. Unterstützt werden diese Belege durch zahlreiche Äußerungen im Op. p., die die gänzliche Apriorität des Ansatzes der MA einschließlich des darauf basierenden Aussagensystems bestätigen und der Empirizität des Ansatzes der Physik gegenüberstellen 14: „Unter dem Worte N a t u r w i s s e n s c h a f t , Scientia naturalis, versteht man das System der Gesetze der Materie (des Beweglichen im Raum), weldies, wenn es bloß die Prinzipien derselben a priori enthält, die metaphysischen Anfangsgründe derselben ausmacht; enthält es aber auch die empirischen, die P h y s i k genannt wird" (Op. p., XX, 474, 2, vgl. ferner 176, 9; XXII, 164,11; 166, 5 usw.).

Dies ist der eine Punkt, in dem uns Plaass' Lösungsvorschlag korrekturbedürftig erscheint. Mit den MA wollte Kant eine wirkliche Metaphysik der äußeren Natur, d. h. ein System nicht nur hypothetisch notwendiger, allgemeiner, sondern apodiktisch gewisser Naturgesetze lie14

Allerdings lassen sich diese Äußerungen nur bedingt heranziehen, da zwischen dem Op. p. und den MA ein Zeitraum von mehr als 10 Jahren liegt, in dem Kant prinzipiell sein Urteil über die MA revidiert haben könnte, wie solches auch gelegentlich behauptet wird. Faktisdi jedoch ist dies unwahrscheinlich, da das Op. p. gerade von der Allgemeinen Anmerkung zur Dynamik seinen Ausgang nimmt.

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fern. Soll dieser Anspruch zu Recht bestehen, muß es möglich sein, den Grundbegriff der MA nicht allein dem Inhalte, sondern auch der Realmöglichkeit nach a priori zu deduzieren. Der zweite korrekturbedürftige Punkt betrifft das Verständnis der Methode. Mit Recht hat Piaass (73 f.) darauf hingewiesen, daß das Verfahren der MA in einer Anwendung transzendentaler Prinzipien auf die durch Bewegung zu charakterisierenden Gegenstände äußerer Sinne besteht; nur fragt sich, was dies konkret besagt. Wie Schäfer bezeichnet auch Piaass (74 ff.) das Verfahren als „metaphysische Konstruktion", doch anders als jener orientiert er es an der mathematischen Konstruktion. Wie in der mathematischen Konstruktion eine dem Inhalt des zu konstruierenden Begriffs entsprechende reine Anschauung erzeugt wird, derart, daß der Inhalt in dem, was Bedingung des Anschauens von Gegenständen ist, also in den Formen von Raum und Zeit, dargestellt wird, so werden in der metaphysischen Konstruktion dem Inhalt des zu konstruierenden Begriffs — hier des Bewegungsbegriffs — entsprechende reine Begriffe erzeugt, derart, daß der Inhalt in dem, was Bedingung des Denkens von Gegenständen ist, also im Kategoriensystem, dargestellt wird. Wird im ersten Fall die leere, unbestimmte Anschauungsform gemäß dem vorgelegten Begriffsinhalt zu einer bestimmten formalen Anschauung bestimmt, so im zweiten die leere, unbestimmte Denkform zu bestimmten diskursiven Vorstellungen. Hierdurch gewinnt man nach Piaass (78) einen „reicheren Begriff" von Bewegung, weldier alle Bestimmungen aufweist, die zwar im ursprünglichen nicht enthalten waren, wohl aber zu seiner Natur unumgänglich gehören. Doch die analoge Entwicklung der metaphysischen Konstruktion zur mathematischen ist abwegig, da sie bei genauer Analyse dessen, was mathematische Konstruktion bedeutet, zu dem entgegengesetzten Ergebnis als dem von Piaass vermeinten führt. In der mathematischen Konstruktion wird nämlich nicht etwas völlig Neues — die formale Anschauung — aus der Anschauungsform und dem Begriff erzeugt, vielmehr etwas im Begriff Impliziertes expliziert. Mathematische Begriffe lassen sich gerade deswegen anschaulich darstellen, weil sie eine bestimmte Synthesis des Anschauungsmannigfaltigen, d. h. eine bestimmte formale Anschaung bereits in sich enthalten im Gegensatz zu transzendentalen Begriffen, die erst auf das Anschauungsmannigfaltige zu beziehen sind, also formale Anschauung erst herzustellen haben. Mathematische Begriffe setzen die Theorie der formalen Anschauung, welche ein Bestandteil der Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandes-

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begriffe ist, schon voraus; ihre Konstruktion kommt daher einer anschaulichen Explikation gleich. Entsprechend diesem Sachverhalt würde dann metaphysische Konstruktion nicht Erzeugung neuer Begriffe aus Denkform und vorgegebenem Begriff bedeuten, sondern Explikation — hier nicht anschauliche, sondern begriffliche — der Inhaltsmomente des Begriffs und somit Analysis statt Synthesis. Aber auch wenn man die Parallelität weniger strapaziert und das Verfahren lediglich als Anwendung transzendentaler Prinzipien auf einen B e w e g u n g s b e g r i f f im strikten Sinne einer Allgemeinvorstellung, unter die eo ipso jeder Gegenstand äußerer Sinne fällt, beschreibt, erhält man nicht das Gewünschte. Denn qua Begriff untersteht Bewegung wie alle anderen Begriffe der synthetischen Einheit der Apperzeption, ist doch diese als analytische ein Merkmal aller ihr subordinierten Begriffe. Anwendung transzendentaler Prinzipien hieße dann aber nichts weiter als systematische Entfaltung des im Bewegungsbegriff bereits Enthaltenen. Das konsequente Durchdenken der methodischen Vorschläge zwingt zu dem Schluß, daß ein synthetisches Verfahren, welches zur Aufstellung eines Systems synthetischer Sätze führt, nur zustande kommen kann, wenn eine Vorstellung von Bewegung angesetzt wird, die nicht begrifflicher, sondern anschaulicher Art ist, die also eine nicht schon synthetisierte, sondern noch unsynthetisierte Anschauungsform ist, mag sie auch von anderer Beschaffenheit sein als Raum und Zeit, nämlich nicht einfach wie jene, sondern zusammengesetzt. Zugegeben, die Kantische Ausdrucksweise ist oft mehr dazu angetan, den Sachverhalt zu verdecken als zu erhellen. Nicht nur ist von einem zugrunde gelegten „Begriff einer Materie" die Rede (ΜΑ, IV, 470, vgl. K d r V A 848 Β 876), sondern sogar von einem zugrunde gelegten „ O b j e k t . . . des äußeren . . . Sinnes" (KdrV, A 848 Β 876, vgl. auch ΜΑ, IV, 470), was eher die Vorstellung eines bereits auf Begriffe gebrachten Anschauungsmannigfaltigen und somit fertigen Objekts als eines erst auf Begriffe zu bringenden nahelegt. Doch Sachzwang nötigt uns, hierin einen untechnisdien Gebrauch zu sehen. Textlich gibt es hierfür zumindest zwei Stützen: In den zeitlich späteren Fortschr. ( X X , 285) beschreibt Kant das Verfahren von rationaler Körperlehre ( = MA) und Seelenlehre (dem Pendant zur ersteren) als Anwednung der „Prinzipien der Möglichkeit einer Erfahrung überhaupt auf eine zwiefache Art W a h r n e h m u n g e n " (gesp. v. Verf.), also auf eine zwiefache Art sinnlicher Gegebenheiten. Und in den M A selbst (ΜΑ, IV, 543) weist er für den Begriff eines

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„denkenden Wesens" (entsprechendes gilt für den Korrelatsbegriff »Materie") ausdrücklich darauf hin: „Der Gedanke Ich ist dagegen gar k e i n B e g r i f f , sondern nur i n n e r e W a h r n e h m u n g 1 5 , aus ihm kann also auch gar nichts (außer der gänzliche Unterschied eines Gegenstandes des inneren Sinnes v o n dem, was bloß als Gegenstand äußerer Sinne gedacht w i r d ) . . . gefolgert werden."

Damit erhalten wir als Ergebnis unserer Analyse, daß sich die MA als Metaphysik nur dann rechtfertigen lassen, wenn es gelingt, 1. ihren Fundamentalbegriff „Bewegung" als Anschauungsform auszuweisen und 2. diesen nicht nur dem Inhalte, sondern auch der realen Möglichkeit nadi a priori zu deduzieren. Die Tatsache, daß dies der Kant-Forschung bisher nicht gelungen ist, muß schwerwiegende Konsequenzen für die Interpretation des Op. p., sowohl seiner Thematik wie seiner Lösung, haben. Wenn eben die Schrift, von der zum empirischen Teil der Naturwissenschaft übergegangen werden soll, als metaphysische nicht verstanden ist, infolgedessen einfach ignoriert wird, wie könnte da die Aufgabenbestimmung anders als willkürlich ausfallen? Das Op. p. wird dann nicht, wie es sein sollte, aus dem systematischen Zusammenhang mit KdrV und MA heraus als weitere Stufe des Abstiegs und der Spezifikation der Naturerkenntnis 16 verstanden, nämlich nach der Aufstellung eines Systems von Bestimmungen der Materie überhaupt in den MA nun auch zur Aufstellung eines Systems der grundsätzlichen Unterschiede der Materie zu gelangen, sondern, herausgelöst aus dem Kontext, als Wiederaufnahme von Problemen des regulativen Gebrauchs der Ideen aus der Dialektik der KdrV bzw. des Gebrauchs der reflektierenden Urteilskraft aus den beiden Fassungen der Einleitung zur KdU. Systematisierung aller Besonderheiten der Materie insgesamt, aller besonderen Gesetze, Systematisierung der spezifischen Natur schlechthin, das ist nach Ansicht der Interpreten Thema des Op. p. In Wahrheit handelt es sich beim letzteren jedoch um das Thema der Physik, zu der der Ubergang erst erfolgen soll. Daß entsprechend dieser weitergefaßten Problematik auch die 15 16

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Gesp. v. Verf. Spezifikation braucht nidit eo ipso Besonderung in sensu stricto zu heißen, sondern kann auch Anwendung bedeuten, und zwar Aufweis eines Falles, an dem man zeigt, was etwas überhaupt ist; Näheres vgl. § 20, 200 ff. Vgl. Lehmann (3), 60, 66 f., (6), 153, (8), 499, Albrecht (2), 60 ff., Mathieu, 145, 271 f., Hoppe, 5, 89 ff. 181 ff.

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Lösung eine andere sein muß als die von Kant vorgetragene, leuchtet ein. So wird denn die Frage der Realisierbarkeit des a priori konzipierbaren Systems aller Besonderheiten auch nicht mit immanent phänomenologischen Mitteln zu lösen versucht, sondern mit transzendenten, mit prästabilierter Harmonie 1 8 und psycho-physischer Wechselbeziehung w . Einen adäquaten Zugang zum Problem des Übergangs wird man sich erst dann verschaffen können, wenn man die Frage der Metaphysik selbst befriedigend gelöst hat, wenn man sowohl ihre Möglichkeit aufgezeigt wie ihr Ausmaß und ihre Grenzen sicher bestimmt hat. Welche Aufgaben hierbei konkret zu bewältigen sind, hat die voranstehende Analyse deutlich werden lassen. Um im Gesamtsystem apriorischer N a turwissenschaft nach der K d r V auch die MA als echte Metaphysik auszuweisen, ist eine Bewegungsdeduktion a priori erforderlich, die nicht allein den Inhalt, sondern auch die Realmöglichkeit zu umfassen hat. Nur wenn Bewegung als wirkliche Anschauungsform a priori ausgewiesen wird, läßt sich verstehen, daß die Anwendung transzendentaler Prinzipien auf sie zu einem echten Bewegungsschematismus a priori und weiter zu einem echten System synthetischer und apriorischer Bewegungsgesetze führt. D a Bewegung als Komponenten Raum- und Zeitform in sich enthält, gründet die Bewegungsdeduktion in einer Untersuchung über das Verhältnis von Raum und Zeit. In dieser muß eine notwendige wechselseitige Angewiesenheit der beiden aufeinander nachgewiesen werden, wenn begreiflich werden soll, daß die aus beiden zusammengesetzte Anschauungsform „Bewegung" ein ebenso geeignetes Substrat für Schematismus und Gesetzesbegründung a priori abgibt wie die einfachen Anschauungsformen „ R a u m " und „Zeit" allein. Die Theorie der zusammengesetzten Anschauungsform weist somit notwendig auf die Theorie der einfachen Formen. Mit der Untersuchung über Zahl und Art der Anschauungsformen, die dem System der reinen Verstandesbegriffe untergelegt werden können, wird der ganze Umfang apriorischer Naturerkenntnis ausgemessen. Bevor jedoch an eine Bestimmung des Umfangs gedacht werden kann, muß die Möglichkeit selbst hinreichend geklärt sein; denn da die Bedingungen und Erfordernisse der Begründung apriorischer Naturerkenntnis auf jeder Stufe die gleichen sind, müssen sie zur Beurteilung ihrer Erfülltheit oder Nichterfülltheit bekannt sein. Die Begründung » 19

Vgl. Albrecht (2), 61 f f . Vgl. Lehmann (3), 66 f., (6), 146 ff., 153, (8), 499 ff., 504 ff., Hübner (1), 81, (2), 205 ff., 215 ff., Mathieu, 286 ff., 321 ff., Hoppe, 166 ff.

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besteht generell in dem Nachweis einer Anwendung des Verstandes auf die Sinnlichkeit. Folglich wird nach den Voraussetzungen sowohl seitens des Verstandes wie seitens der Sinnlichkeit sowie nach der Möglichkeit der Verbindung dieser beiden heterogenen Prinzipien zu fragen sein. Konkret geht es darum, eine Strukturanalogie zwischen Verstand und Sinnlichkeit aufzuzeigen, die eine Verbindung beider in Form einer Interdependenz erlaubt. So wird neben dem Nachweis einer Interdependenz der Anschauungsformen (Raum und Zeit) untereinander das zweite Zentralthema dieser Arbeit der Nachweis einer Interdependenz von Verstand und Sinnlichkeit sein. Wie die kritische Analyse der Interpretationen zu den MA zeigte, versteht jeder Interpret unter Metaphysik etwas anderes: ein System kontingenter, beschränkt gültiger empirischer Regeln, das sich aus der Analyse eines empirisch vorfindlichen Begriffs ergibt, ein System von Hypothesen, das sich a priori zwar projektieren, nicht aber beweisen läßt und somit nur hypothetische Notwendigkeit und Allgemeinheit beanspruchen kann, oder — wie wir meinen — ein System a priori projektierbarer und beweisbarer Gesetze mit apodiktisch gewisser Notwendigkeit, Allgemeinheit usw. Bei dieser Sachlage ist es vordringliche Aufgabe, den Inhalt der Kantischen Metaphysik eindeutig zu fixieren, also genau den Gesetzestyp zu bestimmen, den Kant a priori begründet wissen will, und ihn gegen andere, ähnliche und unähnliche Arten abzugrenzen. Welches sind die Kriterien, an denen Naturgesetze im strengen Sinne sicher erkannt werden? Diese Kriterien sind es ja letztlich, die es in dem ganzen Beweisverfahren zu begründen gilt und die sich daher auch in den Begründungsfaktoren von Verstand und Sinnlichkeit auf spezifische Weise widerspiegeln müssen. Damit ist der Weg unserer Untersuchung vorgezeichnet. Wurde er hier in den Präliminarien als Regreß skizziert, der an der Grenze der Metaphysik — dem Uberschritt zur Empirie — ansetzte und von dort immer weiter zurückging auf Bedingungen und Voraussetzungen derselben, zunächst auf den Umfang der Metaphysik, sodann auf die Möglichkeit derselben und zuletzt auf die Wesensbestimmung, so wird er in der Arbeit selbst als Progreß dargestellt werden. Zuvor allerdings gilt es, einen Blick auf die zu wählende Methode zu werfen. Wie jedes Vorhaben verlangt auch das unsrige eine angemessene Darstellungsweise. Da eine Untersuchung, die das Ganze a priori begründbarer Naturerkenntnis im Rahmen der Kantischen Theorie der

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Naturwissenschaft zu entfalten beabsichtigt, von einem systematischen Interesse geleitet ist, kann sie nicht anders als systematisch verfahren. Sie steht unter einer Idee, eben jener, die aus der Aufgabenstellung selbst resultiert. Selbstverständlich wird diese Idee nicht willkürlich an den Kantischen Text herangetragen, sondern ergibt sich aus einer exakten Einzelanalyse einerseits, einer zusammenfassenden Überschau und Einsicht in das Ganze andererseits. Die Betrachtung der Kantischen Schriften unter einer Idee, ihre Überprüfung auf deren Integration hin muß auf eine Rekonstruktion Kantischer Gedankengänge, gegebenenfalls, wenn diese den Ansprüchen nicht genügen sollten, auf eine selbständige Konstruktion hinauslaufen, dies freilich auf dem Boden der gegebenen Prämissen im Sinne einer konsequenten Entwicklung derselben. Selbst bei einem so systematischen und integrativen Denker wie Kant kann nicht erwartet werden, daß alle Theoreme bis in die letzten Konsequenzen hinein durchdacht und untereinander in Ubereinstimmung gebracht wären. Es bleibt manches, selbst solches von außerordentlicher Relevanz, im Ansatz stecken. Das gilt audi und besonders von den beiden zentralen Problemkomplexen dieser Arbeit: der Interdependenz von Verstand und Sinnlichkeit und der Interdependenz von Raum und Zeit, für die sich zwar die Grundlagen und richtungsweisenden Perspektiven finden, nicht jedoch die Ausführung. Diese zu liefern, wird dann unsere Aufgabe sein. Die systematische Methode bietet den Vorteil, daß sie Kants Denken völlig kongruent ist. Denn sein Begriff von Philosophie zielt auf die Aufhellung des inneren Aufbaus unseres vernünftigen Denkens ab; die Architektonik der reinen Vernunft aber verkörpert ein System, in dem alles aus obersten Prinzipien ableitbar ist 20 21. Zudem hat Kant die systematische Methode als Interpretationsmaxime ausdrücklich gebilligt und auch selbst gegenüber anderen Philosophen angewandt. Am Ende der Streitschr. (VIII, 251) weist er entschieden jedes Verfahren zurück, das 20 21

Vgl. Henrich (6), 56. Wie symptomatisch diese Denkstruktur für Kant ist, wie sehr sie sich in all seinen Schriften bis ins hohe Alter hinein widerspiegelt, hat Mathieu (237 ff.) durch eine interessante Beobachtung erhärten können. Er weist selbst für die innere Organisation des fragmentarisch gebliebenen Op. p. Zellenstruktur nach. Nahezu jedes Blatt des Originals bildet einen geschlossenen Gedankenkreis, eine sog. Zelle, in dem ein Gedanke dominiert, während andere, mehr oder weniger ausformulierte sidi um ihn gruppieren, oft sdion am Schriftbild, an Marginalien, Verweisen, Anmerkungen usw. sichtbar. Dieses Ordnungssdiema diente Kant nicht allein dazu, sich selbst noch die entlegensten Themen der Schrift präsent zu halten, sondern vor allem die Integrationsfähigkeit eines Gedankens zu überprüfen.

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sich in bloßer Wortexegese erschöpft, ohne zum Sinn vorzudringen. „Uber dem Wortforschen dessen, was jene [die zu interpretierenden Philosophen] gesagt haben", darf nicht dasjenige vergessen werden, „was sie haben sagen wollen." Gegebenenfalls gilt es daher, einen Philosophen „besser zu verstehen, als er sich selbst verstand" (KdrV, A 314 Β 370), dann nämlich, wenn er, aus welchen Gründen audi immer, „seinen Begriff nicht genugsam bestimmte und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete oder auch dachte."

1. Kapitel Die Unterscheidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese §2

Notwendigkeit — Zufälligkeit

Als sich Kant in der Einleitung zur KdrV (A 1 f., Β 3 f.) die Frage vorlegt, welches die sicheren Unterscheidungskriterien von Erkenntnissen a priori und a posteriori (Gesetzen und Regeln) 1 seien, nennt er als erstes das Gegensatzpaar: Notwendigkeit — Zufälligkeit. Hiervon soll Notwendigkeit Gesetze auszeichnen, Zufälligkeit Merkmal der Regeln sein. Daß es sich hierbei keineswegs um eine einmalige Kennzeichnung, sondern um eine durchgehend im Kantischen Werk wiederkehrende handelt, mögen folgende Beispiele zeigen: 1

Da Kants Terminologie hinsichtlich dieses Sachbereichs außerordentlich vielschichtig ist, infolgedessen oft schwankt, manchmal sogar innerhalb desselben Passus (vgl. KdrV, A 126), ist es notwendig, zur Vermeidung hieraus resultierender Schwierigkeiten und zur Bewahrung eines konsistenten Sprachgebrauchs in der Arbeit einige klärende Bemerkungen vorauszuschicken. Als Oberbegriff der verschiedenen Arten von Aussagen über konstante Zustände und Abläufe in der Natur, mögen sie ihrem Ursprung nach a priori oder a posteriori, ihrer Allgemeinheitsstufe nach universell oder generell sein usw., verwendet Kant gleichberechtigt nebeneinander die Begriffe „Gesetz" (ζ. B. Prol., § 36) und „Regel" (ζ. B. KdrV, A 126). Abgesehen hiervon, sind beide für je spezielle Aufgaben prädeterminiert: der Begriff „Gesetz" zur Bezeichnung a priori erkennbarer, im eigentlichen Sinne gesetzmäßig zu nennender Zusammenhänge, der Begriff „Regel" zur Bezeichnung ausschließlich empirisch erkennbarer, im uneigentlichen Sinne gesetzmäßig zu nennender Zusammenhänge (KdrV, A 113). An diese Distinktion wird sich die vorliegende Arbeit halten. Kant selbst hat sie nicht streng beachtet: bei ihm taucht sowohl der Begriff „empirisches Gesetz" (ζ. B. Prof., § 36) wie der „Regel a priori" (ζ. B. Prol., § 23) auf. Sprachlich sind solche Ausdrücke dann als Spezifikationen des Oberbegriffs „Gesetz" bzw. „Regel" aufzufassen. Außer einer Sprachschicht, die am objektiven Naturbereich orientiert ist (ζ. B. „Naturgesetz" — „Naturregel"), gibt es bei Kant eine andere, die der Erkenntnissphäre des Subjekts angehört (ζ. B. „Erkenntnis a priori" — „a posteriori", „Erfahrungsurteil" — „Wahrnehmungsurteil", „Urteil a priori" — „a posteriori" usw.). Diese Doppelschichtigkeit erklärt sich aus dem spezifischen erkenntnistheoretischen Ansatz Kants, der sog. kopernikanischen Wende, derzufolge nicht die Erkenntnis sich nach der Natur, sondern umgekehrt die N a t u r sich nach den Erkenntnisbedingungen des Subjekts richtet, folglich die in der N a t u r vorfindlichen

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Unterscheidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese

Notwendigkeit „Empirisch kann man wohl Regeln herausbringen, aber nicht Gesetze; . . . denn zu den letzteren gehört Notwendigkeit, mithin, daß sie a priori erkannt werden" (Reil. 5414).

und, wenn es so gesetzt werden m u ß , ein G e s e t z " (KdrV, A 113). „Regeln, sofern sie . . . der Erkenntnis des Gegenstandes notwendig anhängen, heißen Gesetze" (KdrV, A 126). „Regeln, sofern sie die Vereinigung [gegebener Vorstellungen] als notwendig vorstellen, sind Regeln a priori" (Prol., § 23). Der „Begriff von Gesetzen... f ü h r t . . . den Begriff der N o t w e n d i g k e i t aller Bestimmungen eines Dinges, die zu seinem Dasein gehören, bei sich" (ΜΑ, IV, 468, vgl. 469).

Zufälligkeit

„Nun heißt aber die Vorstellung einer allgemeinen Bedingung, nach welcher ein gewisses Mannigfaltige (mithin auf einerlei Art) gesetzt werden k a n n , eine R e g e l ,

„Erfahrung als Erkenntnis a posteriori [kann] bloß zufällige Urteile geben also ist der Erfahrungssatz . . . allemal zufällig" (Prol., § 22 Anm.). Von „zufälligen Gesetzen, die bloß Erfahrung gelehrt hat, [kann man] keine Gründe a priori anführen" (ΜΑ, IV, 469).

Verbindungen nichts anderes als Verknüpfungsgesetze des Subjekts sind. Auf G r u n d der sachlichen Identität, die Kant immer wieder hervorhebt, ζ. B. in Prol., § 23: „Die Grundsätze möglicher E r f a h r u n g sind . . . zugleich allgemeine Gesetze der N a t u r " , sind beide Bereiche völlig äquivalent. T r o t z der Äquivalenz von objektivem und subjektivem Sprachkomplex bevorzugt Kant den letzteren, da dieser sein e m philosophischen Ansatz mehr entgegenkommt. Stehen daher ζ. B. bezüglich des Kausalsatzes die Formulierungen zur W a h l : „Ohne das Gesetz, daß, wenn eine Begebenheit wahrgenommen wird, sie jederzeit auf etwas, was vorhergeht, bezogen werde, worauf sie nach einer allgemeinen Regel folgt, kann niemals ein W a h r nehmungsurteil f ü r E r f a h r u n g gelten" oder „Alles, wovon die E r f a h r u n g lehrt, daß es geschieht, muß eine Ursache haben" (Prol., § 17), so fällt die Entscheidung f ü r die erstere aus.

Notwendigkeit - Zufälligkeit

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Was bedeutet dieser Gegensatz? Notwendigkeit und Zufälligkeit gehören zu den Modalkategorien, deren Eigentümlichkeit es ist, den Komplex inhaltlicher Bestimmungen eines Objekts nicht zu erweitern, sondern nur in seiner Beziehung zum Erkenntnisvermögen des Subjekts zu betrachten und die Art derselben zu bestimmen. Versucht man, Notwendigkeit und Zufälligkeit in dieser Funktion zu definieren, so sieht man sich freilich wie bei der Definition aller reinen Kategorien der Schwierigkeit konfrontiert, daß die zu denkende und zu bestimmende Kategorie als definiendum sich selbst im Denken und Bestimmen als definiens vorsetzt. Man gelangt daher niemals über Tautologien hinaus, etwa, daß notwendig das sei, was „so . . . sein müsse", wie es ist (KdrV, A 1), also das, was sich unabänderlich, unumgänglich, zwangsläufig in einer bestimmten Weise verhält, und zufällig das, was nicht so zu sein brauche, wie es ist, was also willkürlich, beliebig in dieser oder jener Weise auftritt. Neben diesem Definitionsversuch begegnet bei Kant ein anderer, obzwar ebenfalls tautologischer, der in Anlehnung an die metaphysische Tradition 2 auf der Opposition von Notwendigkeit und Zufälligkeit beruht. Hiernach ist notwendig das, was nicht zufällig bzw. „wovon das Gegenteil unmöglich ist" (Pölitz, 28), und zufällig das, was nicht notwendig, bzw. das, „dessen kontradiktorisches Gegenteil möglich ist" (KdrV, A 458 Β 486, vgl. Β 290, Log., Einl., Kap. IX), und zwar „ a n s e i n e r s t a t t " (Reil. 5803), d. h. unter genau denselben Bedingungen, wie es auch in Refl. 5371 heißt: „Darum heißt etwas Zufall, weil audi sein Gegenteil in eben den (generisch identischen) Umständen geschieht" 3. Es ist historisch nicht uninteressant, daß Kants erkenntnistheoretisdier Ansatz der ursprünglichen Bedeutung von „Gesetz" in besonderem Maße gerecht wird. „Gesetz", das dem Wortfeld: Setzung, Satzung, Satz, setzen, festsetzen, ansetzen usw. angehört und etymologisch eine Ableitung des Kausativum „setzen" (got. satjan, ahd. sezzen, mhd. setzen) = zum Sitzen bringen, festsetzen, anordnen, bestimmen, Recht setzen ist, meint das seitens des Subjekts Gesetzte, Festgesetzte, Angeordnete, ähnlich wie gr. φέσις· Ein deutliches Bewußtsein hiervon hat sich nodi bei Kant in dem Wortspiel zwischen „Gesetz" und „gesetzt" in KdrV, A 113 erhalten: „Nun heißt aber die Vorstellung einer allgemeinen Bedingung, nach welcher ein gewisses Mannigfaltige (mithin auf einerlei Art) gesetzt w e r d e n . . . m u ß , ein

Gesetz." 2 3

Vgl. Baumgarten, §§ 101 ff. Verdient gemacht um die begriffliche Klärung der Kantischen Modalfaktoren hat sich die Arbeit von G. Schneeberger „Kants Konzeption der Modalbegriffe", die auf S. 80 ff. eine monographische Darstellung von Notwendigkeit und Zufälligkeit bringt. Die Arbeit bezieht das gesamte Kantische Quellenmaterial ein, vor allem auch die Reflexionen und Metaphysiknachschriften.

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Unterscheidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese

Gegenüber der ersten, paraphrasierenden Definition besitzt die zweite, zirkuläre den Vorteil, daß sie das Verhältnis von Notwendigkeit und Zufälligkeit im Sinne eines Verhältnisses deutet, wie es zwischen Ganzem und Teil besteht. Audi im letzteren ist das eine nicht ohne das andere denkbar: das Ganze nicht ohne den Teil und der Teil nicht ohne das Ganze, weil das Ganze eben ein Ganzes von Teilen und der Teil eben Teil eines Ganzen ist. In der Bedeutung von „Unmöglichkeit des Gegenteils" stellt Notwendigkeit nichts anderes vor als ein Ganzes, das als solches selbstverständlich keinen Teil außer sich zuläßt, wie Zufälligkeit in der Bedeutung von „Möglichkeit des Gegenteils" nichts anderes vorstellt als einen Teil, der als soldier selbstverständlich einen anderen, gegenteiligen, außer sich hat. Damit erweist sich das besondere Verhältnis von Notwendigkeit und Zufälligkeit auf das ganz allgemeine von Ganzem und Teil reduzierbar. Es legt dies in spezifisch modaler Weise aus, nämlich in der von Vollkommenheit — Unvollkommenheit, Suisuffizienz — Insuisuffizienz, Zulänglichkeit — Unzulänglichkeit u. ä. Die Auslegung wird verständlich, wenn man bedenkt, daß ein Ganzes deswegen, weil es keinen Teil außer sich hat, welcher es zu einem anderen seiner selbst, nämlich zu einem Unvollständigen, machen würde, als ein Vollkommenes erscheint und ein Teil deswegen, weil er einen anderen, zum Ganzen zu ergänzenden außer sich hat, als ein Unvollkommenes auftritt. Da reine Begriffe erst dann einen wirklichen Sinn ( = Bedeutung) haben, wenn sie auf den Sinn ( = Sinnlichkeit) bezogen sind, so ist nach dem transzendentalen Schema von Notwendigkeit und Zufälligkeit zu fragen. Als Schema, genauer als Zeitschema der Notwendigkeit gibt Kant die Formel an: „Dasein 4 eines Gegenstandes zu aller Zeit" (KdrV, A 145 Β 184). Reale Notwendigkeit liegt dann vor, wenn etwas „jederzeit" (KdrV, A 193 Β 238, A 200 Β 246), also immer gegeben ist. Was immer gegeben ist, das nennen wir ewig; denn „ewig (sempernitus)" ist der 4

Hier wie im folgenden bezeichnet „Dasein" — scholastisch gesprochen — nidit die Existenz, sondern die Essenz eines Gegenstandes. Gemeint ist der Gesamtkomplex b e g r i f f l i c h e r Bestimmungen, der zur Konstitution des Daseins oder, wie man auch sagen kann, der Natur eines Gegenstandes erforderlich ist (vgl. etwa ΜΑ, IV, 469: „Prinzipien der Notwendigkeit dessen, was zum D a s e i n eines Dinges gehört, beschäftigen sich mit einem Begriffe", ferner 467, 468). Eine vorzügliche Analyse dieses Sachverhalts findet sich bei Piaass, 62 ff. und 68 ff. An der ersteren Stelle geht Piaass insbesondere auch auf die Uneigentlichkeit der Kantischen Ausdrucks•weise ein.

Notwendigkeit - Zufälligkeit

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Bedeutung nach nichts anderes als: „mit aller Zeit zugleich (omni tempori simultaneus)" (Diss., § 29). Folglich ist „aeternitas" das Indiz der „necessitas phaenomenon" (KdrV, A 146 Β 186). Läßt sich der hier angesprochene Zeitbegriff noch näher bestimmen? Für die Modalschemata in genere ist kennzeichnend, daß sie auf die „Zeit selbst" (KdrV, A 145 Β 184), die Zeit im ganzen und als Ganzes, rekurrieren, indem sie sie der Bestimmung, ο b und w i e ein Gegenstand zu ihr gehöre, als Substrat zugrunde legen. Ihr Thema ist der „ Z e i t i n b e g r i f f " (KdrV, A 145 Β 185), etwa im Unterschied zur „ Z e i t r e i h e " , die Thema der Quantitätsschemata ist. Da das Notwendigkeitsschema speziell das Dasein des Gegenstandes als eines in der gesamten Zeit bestimmt, hebt es katexochen das Zeitganze hervor, jene Vorstellung von der Zeit, in der diese als „Allbegriff" (Refl. 4318), d. h. als allumfassendes, all-einiges und insofern auch vollkommenes Ganzes aufgefaßt wird. Der begrifflichen Notwendigkeit, die sich als Ausdruck eines vollkommenen Ganzen, das kein Gegenteil kennt, erwies, entspricht somit anschaulich eine Zeitvorstellung, in der sich ebenfalls auf Grund ihres Universalitätscharakters ein vollkommenes Ganzes, das kein Gegenteil zuläßt, bekundet. Mehr kann an dieser Stelle allerdings noch nicht gesagt werden 5 6. Da Zufälligkeit das negative Korrelat der Notwendigkeit ist, erwartet man für ihr Schema formal die Umkehrung des Notwendigkeitsschemas, nämlich: Dasein eines Gegenstandes, das „nicht jederzeit ist" (Refl. 4979). Was nicht jederzeit ist, das hat entweder einmal nicht bestanden oder wird einmal nidit bestehen, so daß man folgerichtig auch muß sagen können, zufällig ist das, „was irgendeinmal nicht gewesen ist (quicquid aliquando non fuit)" (Diss., § 29, vgl. Refl. 5948). Kann man jedoch mit dieser rein formal gewonnenen Bestimmung einen echten Sinn verbinden? 5 6

Näheres ξ 6, 73 f f . Ein dem Zeitschema entsprechendes Raumschema der Notwendigkeit findet sich bei Kant nicht — dies gilt übrigens auch für die anderen Kategorien. Es läßt sich aber leicht in Analogie zum Zeitschema ergänzen und müßte lauten: Dasein eines Gegenstandes im ganzen Raum. Sein Fehlen resultiert nicht aus der Natur der Sache, sondern aus der Entwicklung der Kantischen Theorie; denn selbst unsere Alltagssprache kennt neben dem zeitlichen das räumliche Implikat: so nennen wir notwendig das, was immer u n d überall gilt. Allerdings hat Kant in der 2. Aufl. der KdrV in einem Zusatz (B 288 ff.) prinzipiell und an einigen Beispielen auch konkret auf die Notwendigkeit einer Restriktion der Kategorien auf den Raum neben der auf die Zeit hingewiesen.

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Untersdieidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese

Wie hat man sich konkret eine Versinnlichung des Zufälligkeitsbegriffs, der laut Definition den Gedanken der Möglichkeit des Gegenteils einschließt, anhand der Zeit vorzustellen? Ein solches Vorhaben muß darauf hinauslaufen, die universelle Zeit selbst als zufällig zu interpretieren. Erreicht wird dies durch Annahme einer anderen, entgegengesetzten Anschauungsform, die zusammen mit der ersten Teil und Gegenteil ergibt. Bei dieser anderen Anschauungsform müßte es sich freilich um eine außermenschliche, uns zwar zu denken, nicht aber zu erkennen mögliche handeln. Da die bloße Denkmöglichkeit einer andersgearteten Form, die prinzipiell an die Stelle der unsrigen treten kann, bei weitem noch kein Beweis der realen Zufälligkeit der unsrigen ist, kommt diesem Versinnlichungsversuch allenfalls der Status eines gedanklichen Analogons zu einem sinnlichen Schema, nicht aber der eines echten Schemas zu. Wäre nicht möglich, den Begriff der Zufälligkeit und mit ihm den der Möglichkeit des Gegenteils nur unter Zuhilfenahme der menschlichen Anschauungsform bei Absehung von der außermenschlichen zu versinnlichen? Wie aber sollte man sich dies vorstellen? Etwa als Widerspruch der Zeit mit sich selbst, derart, daß ihr sowohl das Prädikat des Nacheinander ihrer Teile (als der eine Teil des Ganzen) wie auch das gegenteilige des Nicht-Nacheinander (als der andere Teil des Ganzen) zukäme? Abgesehen davon, daß sich ein solcher Versuch selber ad absurdum führte, so wäre doch auch Widersprüchlichkeit, welche das Kennzeichen der Kategorie der Unmöglichkeit ist, nicht mit Zufälligkeit identisch; denn jene bedeutet die Prädikation kontradiktorischer Bestimmungen, diese die Prädikation der kontradiktorischen Bestimmung anstelle der anderen. Hier würden also offensichtlich Kategorien vertauscht. Zu erwägen bliebe noch, ob sich der Gedanke der Zufälligkeit nicht am Nacheinander der Zeitteile und dem, was in diesem Nacheinander an veränderlichem Material gegeben ist, demonstrieren ließe, wird doch Veränderung, jener Wechsel der Zustände einer Substanz vom Sein zum Nichtsein und vom Nichtsein zum Sein (jeweils Teil und Gegenteil verkörpernd), von Kant selbst als „Verbindung kontradiktorisch einander entgegengesetzter Bestimmungen im Dasein eines und desselben Dinges" definiert (KdrV, Β 291). Hiergegen spricht jedoch, daß die Aufeinanderfolge gegenteiliger Bestimmungen in der Zeit noch kein Beweis einer realen Opposition derselben zu demselben Zeitpunkt ist. Denn um eine solche zu beweisen, müßte gezeigt werden, daß a n s t a t t des Zustandes A, beispielsweise Bewegung, der gegenteilige non A, Ruhe, möglich

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wäre, nicht, daß er darauf folgt. Kant faßt diese Erkenntnis in dem Satz zusammen: „Aus der Sukzession läßt sich noch nicht auf die Kontingenz schließen; denn der darauf folgende Zustand ist kein contradictorie oppositum vom vorigen, folglich daraus nicht zu erkennen, daß dessen Gegenteil möglich sei" (Reil. 4181) 7 . Die Veränderlichkeit besitzt bestenfalls Modellcharakter für die Zufälligkeit; und obzwar wir ohne sie in einer rein statischen Welt niemals auf den Gedanken der Zufälligkeit gekommen wären (vgl. Diss., § 29), so ist sie doch kein Beweis der realen Gültigkeit derselben. Wie die Untersuchungen zeigen, gibt es kein e c h t e s Schema der Zufälligkeit 8 . Hier liegt auch der Grund für sein Fehlen im Schematismuskapitel der KdrV. Zwischen Notwendigkeit und Zufälligkeit besteht also eine prinzipielle Differenz in der Erkennbarkeit ihres Sachgehalts. Während Notwendigkeit verständlich, begreiflich ist — sie will „durchaus eingesehen sein", sagt Kant ΜΑ, IV, 469 —, trifft dies auf Zufälligkeit nicht zu: sie „ist für die Vernunft unbegreiflich" (Reil. 4036). Allenfalls denken läßt sie sich, nicht jedoch erkennen. Hierfür gibt es bei Kant eine Anzahl von Belegen 9 ; ζ. B. heißt es in der KdrV (A 228 Β 280): Alle Notwendigkeit in der Natur ist „verständliche Notwendigkeit", oder umgekehrt: „Keine Notwendigkeit in der Natur ist blinde . . . Notwendigkeit". „Blind" bedeutet nach Kants Erläuterungen in seinen Metaphysikvorlesungen (Pölitz, 52) entweder „wenn man selbst nicht sehen kann; aber auch das, wodurch man nichts sehen kann. Blinde Notwendigkeit ist also, vermittelst welcher wir durch den Verstand nicht sehen können." Blinde Notwendigkeit (Schicksal, fatum) ebenso wie blindes Ohngefähr (Zufälligkeit, casus) sind qualitates occultae und damit der verständlichen Notwendigkeit entgegengesetzt. Kann ein real Zufälliges auf eine uns einsichtige Art nicht nachgewiesen werden, muß es sich dann nicht bei dem gewöhnlich als zufällig Vermeinten und Bezeichneten im Grunde um ein Notwendiges handeln, allerdings eines, das sich nur hypothetisch annehmen, nicht aber realiter ausweisen läßt (necessitas hypothetica) und deswegen auf uns den Eindruck eines Zufälligen macht? Diese Vermutung findet in der Kantischen Theorie selbst eine Stütze. Das, was wir zufällig zu nennen pfle7

Zu diesem Komplex vgl. KdrV, Β 290 u. Anm., A 458 ff. Β 486 ff., Reil. 4115, 5266, 5788 ff. 8 Übrigens auch keines der anderen Modalopposita. ' Die man im einzelnen bei Schneeberger, 87 ff. nachlesen möge.

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gen, ist die veränderliche Materie. Aus Gründen einer durchgängigen Bestimmung und Systematik aller Dinge, welche Kant der Idee nach annimmt, fällt Materie mit der Totalität unveränderlicher und insofern notwendiger Formen zusammen. Während sich jedoch Materie als Moment, das die Wirklichkeit der Gegenstände anzeigt, durch Empfindung konstatieren läßt, entzieht sich der Gesamtkomplex von Formen, der die vollständige Möglichkeit der Gegenstände ausmacht, welche ihrer Wirklichkeit gleichkommt, der Einsicht; er stellt eine bloße Idee dar. Freilich bietet er den Vorteil zu sagen, das, was mit ihm übereinstimme, sei an sich notwendig, wenngleich wegen der Schranken unserer Erkenntnis nur hypothetisch notwendig. D a der Komplex gleichzeitig als Materie konstatierbar bleibt, bleibt er faktisch dennoch für uns zufällig. Nach der Klärung des Inhalts der beiden Modalitäten steht jetzt noch die ihrer Funkion aus. Wie eingangs gesagt wurde, dienen Kant Notwendigkeit und Zufälligkeit zur unterscheidenden Kennzeichnung gesetz- und regelhafter Aussagen, was immer deren Inhalt auch sein mag. D a Modalitäten im Gesamtsystem möglicher Bestimmungen eines Objekts selbst nur spezielle Momente darstellen — modale eben —, muß sich die Frage aufdrängen, ob sich mittels ihrer überhaupt eine generelle Kennzeichnung von Aussagen vornehmen lasse, gleichgültig, welchen inhaltlichen Aspekt des Objekts diese auch ausdrücken mögen, ob einen quantitativen, qualitativen oder relationalen. Es wurde bereits erwähnt, daß sich die Modalkategorien dadurch von anderen Kategorien unterscheiden, daß sie den eigentlichen Komplex inhaltlicher Bestimmungen eines Objekts nicht vermehren, sondern nur sein Verhältnis zum Erkenntnisvermögen betrachten, folglich für alle Aussagen, gleich welchen Inhalts, gelten. Zeigt einer der beiden Modalfaktoren den Gesetzes- oder Regelcharakter einer Aussage an, so muß dieser selbstverständlich seinem Bedeutungsgehalt entsprechen. Jede gesetzmäßige Aussage, ob sie der formalen Logik, der reinen Mathematik oder der Naturwissenschaft angehört, muß sich daher in die Form eines apodiktischen Urteils kleiden lassen, welche unter den Urteilsformen die Unabänderlichkeit, Zwangsläufigkeit einer Verbindung 10 exponiert: S muß Ρ sein u . Berücksichtigt man die vollständige Definition der Notwendigkeit, die das Oppositum

Wir beschränken uns hier und im folgenden auf die Grundverbindung von Subjekt und Prädikat. » Vgl. L o g , § 30. 10

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einbezieht, und zwar in Form des Ausschlusses, so ist die Aussage noch durch die: S kann nicht non Ρ sein, zu ergänzen. Da Notwendigkeit bei sachhaltiger Bestimmung ein bestimmtes Verhältnis zur Zeit impliziert, nämlich eines zur gesamten Zeit, müssen gesetzmäßige Aussagen außerhalb der formalen Logik, wie mathematische und naturale, audi diesen Zeitbezug zum Ausdruck bringen können, der ihre immerwährende Gültigkeit, ihre Ewigkeit betont: S ist immer (jederzeit) P. Zwischen den Gesetzen der Mathematik und denen der Naturwissenschaft besteht noch insofern ein Unterschied, als jene unbedingt, diese bedingt notwendig gelten. „Unbedingt" und „bedingt notwendig" sind hier allerdings relativ zu nehmen; denn letzteres besagt nichts weiter als: notwendig unter der Bedingung des Empirischen und ersteres relativ dazu: notwendig ohne diese Bedingung. Die Distinktion bezieht sidi auf die prinzipielle Differenz zwischen reinen Erkenntnissen, „denen gar nichts Empirisches b e i g e m i s c h t ist" (Teleol. Prinz., VIII, 183 f.), und solchen, die zwar „von nichts Empirischem a b h ä n g i g " (ib.), jedoch in ihrer Anwendung auf Empirisches bezogen sind. Da mathematische Gesetze ausschließlich auf formalen, im Subjekt selbst liegenden Bedingungen beruhen bei Abstraktion aller materialen, außerhalb des Subjekts liegenden — sie berücksichtigen, was die Erscheinung betrifft, nur „die Form der Anschauung (Raum und Zeit), die völlig a priori erkannt und bestimmt werden kann" (KdrV, A 723 Β 751) —, so kann die ihnen zugeschriebene Notwendigkeit in gewissem Sinne absolut genannt werden. Die Notwendigkeit bzw. Ewigkeit mathematischer Gesetze läßt sich durch einen willkürlichen Konstruktionsakt des Subjekts jederzeit nachweisen. Naturgesetze hingegen bilden nur zu einem Teil Produkte des Subjekts, zu einem anderen bleiben sie an das empirische Material gebunden, das vom Wollen und Tun des Subjekts unabhängig ist. Da sie „die Materie (das Physische)" der Anschauung mitzuberücksichtigen haben, den „Gehalt, welcher ein Etwas bedeutet, das im Räume und der Zeit angetroffen wird, mithin ein Dasein enthält und der Empfindung korrespondiert" (ib.), stellen sie ,bloße Regeln der Synthesis desjenigen, was die Wahrnehmung a posteriori geben mag', dar (KdrV, A 720 Β 748). Obwohl Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, bleiben sie in ihrem Gebrauch auf Erfahrung angewiesen, und in diesem Sinne ist audi ihre Notwendigkeit eine bedingte. Naturgesetze also gelten notwendig bzw. immer, jedoch nur, wenn die Bedingung ihrer Anwendung

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erfüllt ist. Daher stellt der Konditionalsatz: wenn . . . dann ihre adäquate Form dar. Im übertragenen Sinne gebraucht Kant diese Distinktion innerhalb des Systems der Naturgesetze selbst. Er grenzt hier die Gruppe der sog. mathematischen Gesetze als „unbedingt notwendig" von der Gruppe der sog. dynamischen als notwendig „nur unter der Bedingung des empirischen Denkens in einer Erfahrung" ab (KdrV, A 160 Β 199 f.), weil jene die Anschauung, diese die Existenz der Gegenstände bestimmt (vgl. KdrV, Β 110, A 160 Β 199). Nimmt man die Kennzeichnung der Regeln durch die Modalität Zufälligkeit ernst, so bedeutet das, daß man sie in eine Urteilsform muß bringen können, die der apodiktischen opponiert ist und daher Willkür, Beliebigkeit ausdrückt: S muß nicht Ρ sein. Sie ist noch durch die Formel: S kann auch non Ρ sein, zu vervollständigen, wenn man den ganzen Aussagegehalt der Zufälligkeitsdefinition berücksichtigt, der das Zugeständnis der Möglichkeit des Gegenteils einschließt n . Da Zufälligkeit auf den ersten Blick ein bestimmtes Zeitverhältnis zu enthalten scheint, und zwar eines, das dem Zeitverhältnis der Notwendigkeit diametral entgegengesetzt ist, so muß dies bei der Abfassung der Regeln in Form von: S ist nicht immer (nicht jederzeit) P, zum Ausdruck kommen. Überspitzt formuliert, heißt das, daß eine Regel vorliegt, wenn sich ein Sachverhalt, sei es ein Zustand oder ein Vorgang, manchmal so, manchmal so, einmal in dieser, einmal in jener Weise verhält. Nun muß man allerdings gestehen, daß so formulierte Regeln keine Regeln mehr sind, weil ihnen gerade die Regelmäßigkeit, die beliebige Reproduzibilität, die sie erst zu Regeln macht, fehlt. „Würde der Zinnober bald rot, bald schwarz, bald leicht, bald schwer sein, ein Mensch bald in diese, bald in jene tierische Gestalt verändert werden, am längsten Tage bald das Land mit Früchten, bald mit Eis und Schnee bedeckt sein, so könnte meine empirische Einbildungskraft nicht einmal Gelegenheit bekommen, bei der Vorstellung der roten Farbe den schweren Zinnober in die Gedanken zu bekommen; . . . [und es] könnte keine empirische Synthesis der Reproduktion stattfinden" (KdrV, A 100 f.). Auch von Regeln also verlangen wir eine gewisse Regelmäßigkeit, die 12

Die zufällige Urteilsform ebenso wie die unmögliche und unwirkliche kommen in der Urteilstafel nicht vor, und zwar deswegen, weil sie als Opposita von logischer Notwendigkeit, Möglichkeit und Wirklichkeit gerade die auszuschließenden Prinzipien darstellen; ζ. B. sagt man: Satz des auszuschließenden Widerspruchs.

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auf einer Konstanz des Naturverhaltens beruht. Ein selbstverständliches Vertrauen hierauf" kennzeichnet nicht nur unser Alltagsleben, etwa wenn wir erwarten, daß morgen und übermorgen und so beliebig fort ebenso ein Tag anbrechen wird wie heute, sondern audi die Praxis des Naturwissenschaftlers, wenn er Prognosen aufstellt und Experimente durchführt. Daher sagt Kant völlig zu Recht in KdrV, A 159 Β 198: „Selbst Naturgesetze, wenn sie als Grundsätze des empirischen Verstandesgebrauchs betrachtet werden, führen zugleich einen Ausdruck der Notwendigkeit, mithin wenigstens die Vermutung einer Bestimmung aus Gründen, die a priori und vor aller Erfahrung gültig sind, bei sich",

und ähnlich in Reil. 5414: „Empirisch kann man wohl Regeln herausbringen, aber nicht Gesetze; . . . denn zu den letzteren gehört Notwendigkeit, mithin, daß sie a priori erkannt werden. Doch nimmt man von Regeln der Natur immer an, daß sie notwendig seien, denn darum ist es Natur, und daß sie können a priori eingesehen werden; daher man sie anticipando Gesetze nennt."

Läßt sich dieses Aufdrängen einer Notwendigkeit auch bei Regeln noch präziser fassen? Unsere Untersuchung hatte ergeben, daß sidi zu jeder Sache das kontradiktorische Gegenteil zwar logisch denken, niemals jedoch real nachweisen läßt. Ein Zufälligkeitsschema, das mehr als ein bloßer Ersatz (Analogon oder Modell) sein soll, erwies sich als unhaltbare Annahme. So wurde der Gedanke unausweichlich, daß das, was wir gewöhnlich zufällig nennen, in Wahrheit ein Notwendiges ist, freilich ein für unser Erkennen hypothetisch Notwendiges, das faktisch als Zufälliges konstatierbar bleibt. Aussagen nun, die hypothetisch notwendig, jedoch hinsichtlich ihrer realen Gültigkeit zufällig sind, heißen H y pothesen. Sie stellen Entwürfe, Pläne dar, die postulativen Charakter haben; in ihnen werden Behauptungen aufgestellt, etwa: der Zinnober muß rot sein, der Mensch muß diese bestimmte Gestalt haben usw., Behauptungen, deren Notwendigkeit a priori nicht einzusehen ist und daher empirisdi festgestellt werden muß, und zwar in einem Verfahren, das Kant „Observation und Experiment" 14 nennt. Da sich postulierte

13 M

Popper, 199 spridit von einem „metaphysischen Glauben". Vgl. KdrV, Β XII ff., Op. p., XXII, 136,18; 297,25; 298,9; 299,1; 318, 3; 319,16; 320,31; 329,32; 331,20 usw.

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Unterscheidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese

Notwendigkeit empirisch nur durch eine unendliche Beobachtungs- und Versuchsreihe bestätigen läßt, eine solche aber wegen ihres Totalitätsdiarakters unabschließbar ist, behält die Notwendigkeit stets problematischen Charakter. Alles, was von ihr tatsächlich bekannt werden kann, weist immer nur das Merkmal der Kontingenz auf; denn solange das Prüfungsverfahren noch fortgesetzt werden kann, muß prinzipiell mit der Möglichkeit des Gegenteils gerechnet werden. Dieser Ansatz eröffnet eine ganz neue Interpretation der Regeln, eine, die gegenüber der ersten nicht nur den Vorteil besitzt, das Regelbzw. Gesetzmäßige ernst zu nehmen, also die empirischen Regeln als empirische Gesetze, d. h. als Hypothesen oder, wie Kant audi sagt, als „Regeln der B e o b a c h t u n g " (Prol., § 17), aufzufassen, sondern darüber hinaus auch den, sie mit den strikten Gesetzen zu einem einheitlichen Gesamtsystem zusammenzufassen. Die Hypothesen-Theorie hat von Anfang an ihren Platz in der kritischen Philosophie Kants doch erst seit der 2. Aufl. der KdrV 1 6 tritt sie mehr und mehr in den Vordergrund, was damit zusammenhängen dürfte, daß Kant nach der Grundlegung der allgemeinen Naturgesetze den Blick freibekommt für die besonderen, die empirisch sind. So heißt es in der KdU (Einl., Kap. IV): „Allein es sind so mannigfaltige Formen der Natur, gleichsam so viele Modifikationen der allgemeinen transzendentalen Naturbegriffe, die durch jene Gesetze, welche der reine Verstand a priori gibt, weil dieselben nur auf die Möglichkeit einer Natur (als Gegenstandes der Sinne) überhaupt gehen, unbestimmt gelassen werden, daß dafür doch auch Gesetze sein müssen, die zwar als empirische nach u n s e r e r Verstandeseinsicht zufällig sein mögen, die aber doch, wenn sie Gesetze heißen sollen (wie es auch der Begriff einer Natur erfordert), aus einem, wenngleich uns unbekannten, Prinzip der Einheit des Mannigfaltigen als notwendig angesehen werden müssen."

Bei der Rechtfertigung dieser Behauptung hat man von folgender Überlegung auszugehen. Ζ. B. steht alles Naturgeschehen unter dem all15 16

Vgl. KdrV, A 642ff. Β 670 ff., A 769 ff. Β 797 ff. Vgl. die beiden Fassungen der Einleitung zur K d U (1. Fass., besonders Kap. II, IV, V, 2. Fass., besonders Kap. IV u. V), deren Thema, der Gebrauch der reflektierenden Urteilskraft, eine Fortsetzung des hypothetisch-regulativen Vernunftgebrauchs der KdrV, A 642 ff. Β 670 ff. ist; weitere wichtige Stellen sind: Best. d. Begr., VIII, 96 f., 104, KdrV, Β X I I ff., KdU, § 90, Log., Einl., Kap. X (dazu die Refl. 2673 ff.), das gesamte Op. p.

Allgemeinheit - Beschränktheit

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gemeinen und als notwendig anerkannten Kausalgesetz. Darüber hinaus aber sind spezifisch verschiedene Vorgänge noch auf unendlich mannigfache Art kausal bestimmt. Da nun alles Naturgeschehen nach dem allgemeinen notwendigen Kausalgesetz erfolgt, erwartet man, daß auch jeder dieser besonderen Vorgänge seine Regel hat, „die Gesetz ist, mithin Notwendigkeit bei sich führt: ob wir gleich nach der Beschaffenheit und den Schranken unserer Erkenntnisvermögen diese Notwendigkeit gar nicht einsehen" (KdU, Einl., Kap. V). Um Mißverständnisse auszuschließen: Kant meint hier nicht, daß die besonderen Ereignisse, sofern sie zum Naturgeschehen überhaupt gehören, eine Ursache überhaupt haben, sondern daß sie, sofern sie besondere Ereignisse sind, auch besondere Ursachen haben ( und dies in beliebigen Abstraktionsgraden). Den Hintergrund für diese Argumentation bildet die Idee der durchgängigen Determination aller Dinge, verbunden mit der durchgängigen Systematik aller Gesetze, derzufolge die besonderen Naturgesetze Spezifikationen der allgemeinen darstellen.

§3

Allgemeinheit — Beschränktheit

Neben Notwendigkeit und Zufälligkeit nennt Kant an der besagten Stelle der Einleitung der KdrV (A 1 f., Β 3 f.) als weiteres unverkennbares Unterscheidungsmerkmal von Gesetzen und Regeln Allgemeinheit 17 und Beschränktheit. Nicht nur hier, auch andernorts, und zwar so häufig gebraucht er Notwendigkeit und Allgemeinheit gemeinsam zur Kennzeichnung von Gesetzen, Zufälligkeit und Beschränktheit zur Kennzeichnung von Regeln, daß sie fast schon zu einer stehenden Redewendung werden. 17

Statt des Terminus „Allgemeinheit" steht gelegentlich — semantisch völlig gleichwertig — der Ausdruck „Allgemeingültigkeit" (vgl. KdrV, A 48 Β 65, A 205 Β 251, Log., § 7), „Gemeingültigkeit" (vgl. KdrV, A 71 Β 96) u. ä. D a jedoch „Allgemeingültigkeit" in Prol., §§ 18 ff. speziell auf die Bedeutung: Gültigkeit für alle Erkenntnissubjekte (intersubjektive Gültigkeit) festgelegt ist, soll hier zur Bezeichnung einer Gültigkeit für alle Objekte einer Klasse (interobjektive Gültigkeit) der Ausdruck „Allgemeinheit" beibehalten werden. U m von vornherein Mißverständnisse auszuschließen, sei darauf aufmerksam gemacht, daß der Gegensatz: Allgemeinheit — Beschränktheit nicht den Umfangsunterschied der Gegenstandsklassen innerhalb ihres Stufensystems meint, sondern ausschließlich den der Aussagengültigkeit innerhalb einer jeden Klasse. Ein Mißverständnis könnte aus dem Grunde leicht entstehen, weil wir auch von allgemeinen, besonderen, spezifischen Gesetzen oder Regeln mit Bezug auf ihre Allgemeinheitsstufe sprechen.

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Untersdieidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese

Allgemeinheit

Beschränktheit

„Wird . . . ein Urteil in strenger Allgemeinheit gedacht, d. i. so, daß gar keine Ausnahme als möglich verstattet wird, so ist es nicht von der Erfahrung abgeleitet, sondern schlechterdings a priori gültig . . . ; wo . . . strenge Allgemeinheit zu einem Urteile wesentlich gehört, da zeigt diese auf einen besonderen Erfahrungsquell desselben, nämlidi ein Vermögen des Erkenntnisses a priori. Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit sind also sichere Kennzeichen einer Erkenntnis a priori und gehören auch unzertrennlich zueinander. Weil es aber im Gebrauche derselben bisweilen leichter ist, die empirische Beschränktheit derselben, als die Zufälligkeit in den Urteilen . . . zu zeigen, so ist es ratsam, sich gedachter beider Kriterien, deren jedes für sich unfehlbar ist, abgesondert zu bedienen" (KdrV, Β 4)· „Gesetze haben Allgemeingültigkeit, Regeln können eine bloße Gemeingültigkeit haben" (Reil. 5226). „Erscheinungen geben gar wohl Fälle an die Hand, aus denen eine Regel möglich ist, nach der etwas gewöhnlichermaßen geschieht, aber niemals, daß der Erfolg n o t w e n d i g s e i . . . Die strenge Allgemeinheit der Regel 18 ist audi gar 18

= Gesetz.

Allgemeinheit - Beschränktheit

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keine Eigenschaft empirischer Regeln" (KdrV, A 91 Β 124 [vgl. A 112]). „Regeln . . . a posteriori sind nie ohne Exzeption" (Reil. 4812). Mit den Merkmalen: Allgemeinheit und Beschränktheit verwendet Kant Quantitätsmomente zur Charakteristik von Gesetzen und Regeln, und zwar solche, die aus allgemeiner und besonderer (partikulärer 19 ) Urteilsform resultieren. Damit ist ein Hinweis auf die Interpretation ihres Inhalts gegeben. Allgemeines und besonderes (partikuläres) Urteil bilden in der formalen Logik die Alternativen in der Bestimmung des Verhältnisses der Umfangssphäre des Subjektbegriffs zu der des Prädikatsbegriffs. Während im allgemeinen Urteil die Sphäre des Subjekts gänzlich in die Sphäre des Prädikats eingeschlossen ist, so daß das Prädikat ausnahmslos und uneingeschränkt für den gesamten Subjektbereich gilt, ist sie im besonderen (partikulären) Urteil teilweise ein-, teilweise ausgeschlossen, so daß das Prädikat nur beschränkt auf den Subjektbereich zutrifft, nämlich nur auf den einen Teil desselben, auf den anderen nicht 20 . Allgemeines und besonderes (partikuläres) Urteil stehen genau genommen im Verhältnis negativer Korrelation, d. h. wechselseitiger Opposition, wie notwendiges und zufälliges Urteil auch. Denn wenn das allgemeine Urteil besagt, daß die ganze Subjektsphäre der Prädikatsnotion untersteht, so schließt das eo ipso ein, daß kein Teil ausgenommen ist wie im besonderen (partikulären) Urteil, also nimmt es indirekt Bezug auf jenes, und zwar in Form der Negation; und wenn das besondere (partikuläre) Urteil ausdrückt, daß das Prädikat nur von einem Teil der Gesamtsphäre des Subjekts aussagbar ist, vom restlichen nicht, wie dies im allgemeinen Urteil der Fall ist, so bezieht auch es sidi indirekt auf jenes, und zwar wiederum in Form der Negation. Man erkennt unschwer, daß sich in dem Verhältnis von Allgemeinheit und Beschränktheit das Verhältnis von Ganzem und Teil widerspiegelt, dem wir bereits bei der Diskussion des Verhältnisses von Notwendigkeit und Zufälligkeit begegneten, nur daß es hier in spezifisch quantitativer Auslegung erscheint. Das Ganze, wie es im allgemeinen Urteil begegnet, meint hier den Inbegriff, die Gesamtheit möglicher 19

Das iudicium particulare ist als echtes besonderes Urteil von dem iudicium plurale oder plurativum als einem unechten wohl zu unterscheiden; Näheres vgl. § 3, 36 f. Μ Vgl. Log., § 21.

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Unterscheidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese

Teile, die Totalsumme, die eine zusammenfassende Einheit des Vielen bildet, und der Teil, wie er im besonderen (partikulären) Urteil begegnet, bezeichnet den Ausschnitt aus dem Ganzen, der ein Teil unter möglichen anderen ist und erst zusammen mit diesen das Ganze ergibt. Will man diesen rein logischen Quantitätsbestimmungen Sinn und Bedeutung verschaffen, so muß man ein sinnliches Kriterium angeben, an dem sie sicher erkannt werden können. Ein solches wäre für das logische Moment der Allgemeinheit, in dem man zweifelsohne die Kategorie der Allheit wiedererkennen wird, zeitliche Unbegrenztheit, Geltung für alle Zeitpunkte bzw. alle Zeitabschnitte 21 . Demnach schließt reale Allgemeinheit ein bestimmtes Verhältnis zur Zeit ein, und zwar eines zur Allheit der Zeit. Hatte sich nicht bereits als ein solches das der realen Notwendigkeit erwiesen? Sind beide identisch22 oder besteht eine Differenz und welcher Art ist sie? Als transzendentales Zeitschema des Größenbegriffs im allgemeinen nennt Kant die Zahl und als solches des Allheitsbegriffs im besonderen die potentiell unendliche Zahlenreihe. Was bedeutet Zahl? Zahl verkörpert für uns das Urbild der Zusammensetzung gleichartiger Elemente, sog. Einheiten. Als Produkt der Zusammensetzung stellt sie die Einheit vieler solcher dar. Bei Eins beginnend, schreitet sie durch Hinzufügung jeweils einer Einheit nach und nach zu jeder beliebigen Größe voran, ohne hierbei je an ein Ende zu gelangen. Da dieses Fortschreiten von Einheit zu Einheit ein sukzessiver Vorgang ist, liegt der unendlich fortsetzbaren Zahlenreihe die unendlich fortlaufende Zeit zugrunde. Auf ihr entsprechen den absolut gleichartigen Einheiten, die beim Zählen Einheit um Einheit addiert werden, absolut gleichartige Zeitteile, die unterdessen Schritt für Schritt durchlaufen werden; kurzum, der Zahlenreihe korrespondiert die Zeitreihe, die sich aus einer potentiell unendlichen Vielheit gleicher Teile aufbaut, in welche die Zahlelemente sie zerlegen. Fraglos begegnen wir hier einer Zeitvorstellung, die genau wie die des Notwendigkeitsschemas die Zeit als Ganzes ins Auge faßt, wenngleich nicht als Zeitinbegriff, sondern als Zeitreihe. Wichtiger aber ist, daß die spezifische Zeitstruktur, die hier die potentiell unendliche Setzung und Zusammensetzung gleichartiger, durch die Einheiten der Zah21

22

Bzw., was das Raumkriterium betrifft, räumliche Unbesdiränktheit, Geltung für alle Raumpunkte und -abschnitte. Für das Raumschema gilt das in § 2, 23 Anm. 6 Gesagte. Wie Schneeberger, 90 f. meint, der das Sdiema der Notwendigkeit durch das der Allgemeinheit schlicht ersetzt sieht.

Allgemeinheit - Beschränktheit

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lenreihe markierter Teile ermöglicht, die vollkommene Gleichartigkeit ist; und dies ist ein wesentlich anderer Zeitcharakter als der im vorigen Paragraphen behandelte der Universalität Als sinnliches Kriterium der logischen Beschränktheit erwartet man zeitliche Beschränktheit, Begrenzung auf gewisse Zeitpunkte bzw. -gebiete im genauen Gegensatz zu zeitlicher Unbeschränktheit, die das sinnliche Kriterium der logischen Allgemeinheit ist. Was meint diese Zeitbestimmung, was kann sie überhaupt meinen; denn insoweit ist sie nur formal aus der Opposition gewonnen. Es lassen sich zwei Möglichkeiten zur Versinnlichung der logischen Beschränktheit mit Hilfe der Zeit denken, entweder mit Hilfe ihrer als Ganzes oder mit Hilfe ihrer Teile. Die erste zwingt zu einer Auffassung der Zeit als einer an sich begrenzten. „Zeitliche Beschränkung" hieße hier „Beschränkung der Zeit selbst". Diese Interpretation basiert auf der Annahme einer Anschauungsform neben der Zeitform, die zusammen mit dieser den einen und den anderen Teil eines zusammengesetzten Ganzen ausmacht und dadurch imstande ist, die Endlichkeit der Zeitform verständlich zu machen. Allerdings müßte es sich bei dieser Anschauungsform um eine außermenschliche handeln, die wir zwar denken, nicht aber imaginieren können. D a die bloße Denkmöglichkeit verschiedener Anschauungsweisen einschließlich ihrer Begrenztheit noch kein Beweis ihrer Realmöglichkeit ist, so erweist sich dieser Schematisierungsversuch, genau wie der entsprechende der Zufälligkeit, als ein bloß gedankliches Analogon zu einem Schema. Die zweite Möglichkeit, die Beschränktheit mittels der Zeitteile darzustellen, aber ist zum Scheitern verurteilt, weil die Zeitteile absolut homogen und ununterscheidbar, folglich in keiner Weise gegeneinander abgegrenzt sind. Die Darstellung wäre nur möglich unter der Voraussetzung inhomogener, verschiedenartiger Teile, die sich auf Grund ihrer Verschiedenartigkeit gegenseitig begrenzten, wie dies im oben diskutierten Beispiel menschliche und außermenschliche Anschauungsform tun. Die Überlegungen zwingen uns zu der Einsicht, daß es keine echte reale Beschränktheit gibt, sowenig wie es eine echte reale Zufälligkeit gibt. Wie aber ist dann die Beschränkung auf gewisse Zeitpunkte bzw. gewisse Zeitgebiete zu verstehen? Wenn nicht als solche, die im Wesen der Zeitteile gründet, dann offensichtlich als solche, die durch einen willkürlichen Akt des Subjekts hervorgerufen wird, dadurch nämlich, daß 23

Näheres hierzu § 6, 75 f.

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Unterscheidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese

dieses den ins Unendliche fortsetzbaren Zählprozeß nach Belieben abbricht und so begrenzt. Da selbstgewählte zeitliche Begrenzung, die sich immer weiter hinausschieben läßt, nicht in Opposition zu zeitlicher Unbegrenztheit steht, bedarf es einer grundsätzlich anderen Interpretation des ihr zugrunde liegenden Quantitätsmoments. In § 21 Anm. 5 der Log. 24 weist Kant auf eine Differenz unter den besonderen Urteilen hin. Besondere Urteile können zum einen ihren Grund darin haben, daß der Subjektbegriff umfangmäßig weiter ist als der Prädikatsbegriff, infolgedessen von diesem niemals völlig eingeschlossen, sondern immer zu einem gewissen Teil ausgeschlossen wird, zum anderen darin, daß der Subjektbegriff umfangmäßig enger ist als der Prädikatsbegriff, somit prinzipiell von diesem eingeschlossen werden kann, nur faktisch nicht eingeschlossen ist. Während die Beschränktheit im ersten Fall definitiv und notwendig ist, ist sie im zweiten vorläufig und zufällig und daher grundsätzlich in Allgemeinheit überführbar 75 . Die beiden Urteilsvarianten werden von Kant als „iudicia particularia" und „iudicia plurativa" bezeichnet (Prol., § 20 u. Anm. 2, vgl. dazu audi Reil. 3080), wobei der Name andeuten soll, daß die einen von Natur aus den Gedanken von Ausnahmen involvieren (pars et altera pars), die anderen dagegen nur den einer Pluralität von Teilen, ohne jedoch Ausnahmen behaupten zu wollen. Wie das iudicium particulare steht auch das iudicium plurativum in einem bestimmten Verhältnis zum allgemeinen Urteil, allerdings nicht in dem der Opposition, sondern in dem des Nodi-nicht-erreicht-Habens, also in dem der Unzulänglichkeit. Der Allsatz ist in ihm antizipatorisch, hypothetisch präsent; er bildet das Ziel, das es im Ausgang vom singulären Urteil über das plurative anzustreben gilt. Während das partikuläre Urteil dank der Tatsache, daß es von beiden Urteilsformen allein die rational verständliche, dem Verstand einsichtige Form darstellt, von Relevanz für die formale Logik ist, ist das plurative dank der Tatsache, daß es von beiden allein die Grundlage zu einer Kategorie, nämlich zu der der Vielheit, abgibt, von Bedeutung für die transzendentale Logik. Kategorien verlangen als objektkonstituierende Begriffe, daß sie miteinander verträglich sind; denn erst in ihrer 24 25

Bzw. in Refl. 3036, die als Vorlage diente. Kant fand diese Unterscheidung in Meiers Auszug aus der Vernunftlehre vor, w o in § 301 ,bloß besondere Urteile (iudicia tantum particularia)' .nicht bloß besonderen, sondern zugleich allgemein wahren (iudicia non tantum particularia)' gegenübergestellt werden.

Allgemeinheit - Beschränktheit

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Gesamtheit machen sie die Gegenständlichkeit eines Gegenstandes aus. „Jedes Objekt" muß, wie es in Reil. 5932 heißt, „als b e s t i m m t in Ansehung n i c h t a l l e i n e i n e r , s o n d e r n a l l e r l o g i s c h e n F u n k t i o n e n in Urteilen" vorgestellt werden. Dies aber ist nur möglich, wenn sich eine Urteilsform findet, die einen Begriff von Beschränktheit entläßt, der der Allheitskategorie nicht opponiert ist, letztere also nicht ausschließt. Dies vermag ausschließlich das plurative Urteil. Die aus ihm hervorgehende Vielheitskategorie stellt einer durchgängig quantitativen Auslegung des Gegenstandes nichts in den Weg, was diesen nicht zugleich als Vielheit, bestehend aus einer Anzahl von Maßeinheiten, als Allheit, bestehend in der Einheit und Ganzheit des Vielen seinem Sogroßsein nach, und als Einheit, nämlich als Ausgang einer neuen Maßeinheit, die zusammen mit ihresgleichen wieder Vielheit ergibt, interpretierbar machte Für die Kategorie der Vielheit läßt sich selbstverständlich ein Zeitsdiema nachweisen. Es besteht in einer beliebig angebbaren Zahl der potentiell unendlichen Zahlenreihe bzw. in einem beliebig angebbaren Zeitabschnitt der potentiell unendlichen Zeitreihe. Nach dieser Bedeutungsanalyse der Quantitätsmomente: Allgemeinheit und Beschränktheit, von denen das letzte sowohl Partikularität wie Pluralität meinen kann, stehen uns jetzt die Mittel für ein exaktes Verständnis der Kennzeichnung der Gesetze und Regeln durch jene Quantitäten zur Verfügung. Zunächst aber stellt sich eine Frage grundsätzlicher Art: Können Quantitäten, die im System der Bestimmungen eines Gegenstandes ganz spezielle Inhaltskriterien ausmachen, überhaupt als Formalkriterien zu einer generellen Kennzeichnung gegenstandsbezogener Aussagen, gleichgültig welchen Inhalt diese haben mögen, herangezogen werden, und wie können sie es? Ein solcher Gebrauch führt ja dazu, daß eine Aussage nicht nur der für ihren spezifischen Inhalt zuständigen Bestimmung untersteht, sondern darüber hinaus noch einer Quantitätsbestimmung, beispielsweise der Satz: alle Veränderungen haben eine Ursache, nicht nur der Kausal-, sondern auch der Allheitskategorie. Die Möglichkeit eines solchen Gebrauchs beruht auf der durch26

Die Tatsache, daß sich allein das iudicium plurativum zur Grundlegung einer Kategorie qualifiziert, zeigt an, wie problematisch im Grunde nicht nur die Beziehung zwischen Urteils- und Kategorientafel, sondern auch die Vollständigkeit beider ist, die Kant schlichtweg behauptet. Es besteht kein Zweifel, daß die Urteilstafel im Vorblick auf die Kategorientafel konzipiert, selektiert und modifiziert wurde. „Dieses ist nötig, wenn die logisdien Momente den reinen Verstandesbegriffen untergelegt werde sollen", heißt es Prol., § 20 Anm. 2.

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Unterscheidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese

gängigen Verschränkung der Kategorien untereinander, und diese hat ihren Grund darin, daß die Kategorien als Konstituentien der Gegenständlichkeit eines Gegenstandes zusammen erst die Gegenständlichkeit ergeben. Die Vereinigung zweier Kategorien in einer Aussage darf jedoch zwei Bedingungen n i c h t erfüllen: 1. sie darf zu keiner neuen Kategorie führen, etwa nach Art der Bildung der dritten Kategorie jeder Klasse aus der Verbindung der beiden ersten, und 2. sie darf keine Spezifikation ergeben nach Art der Ableitung speziellerer Begriffe aus allgemeineren gemäß genus proximum und differentia specifica, was aber schon deshalb ausgeschlossen ist, weil Kategorien als gleichwertige oberste Gattungsprinzipien sich gegenseitig nicht spezifizieren können. Die Vereinigung stellt eine bloße Überlagerung der Kategorien dar; wir werden später 27 noch eine Begriffsart kennenlernen, die Prädikabilien nämlich, die auf einer solchen Bildungsweise beruht. Wird nun die Gesetzmäßigkeit einer Aussage, mag diese nun der reinen Logik, der reinen Mathematik oder der erfahrungsbezogenen Naturwissenschaft angehören, durch das Quantitätsmoment Allgemeinheit indiziert, so wird dadurch zum Ausdruck gebracht, daß sie als Allsatz aufzufassen und zu formulieren ist: Alle S sind P. Der Allsatz oder das allgemeine Urteil zeigt unter den Urteilsformen an, daß eine Aussage für die Gesamtheit der Elemente einer bestimmten Klasse, die durch den Subjektbegriff bezeichnet wird, gültig ist. Da der Totalitätsanspruch naturgemäß den Anspruch auf Ausnahmslosigkeit einschließt und damit in ausdrücklichem Gegensatz zum Partikularitätsansprudi des besonderen (partikulären) Urteils steht, muß dies bei vollständiger Formulierung mitberücksichtigt werden. Die vollständige Formel lautet daher: Alle S sind P, kein S ist non P. Gesetze der Mathematik und Naturwissenschaft enthalten darüber hinaus einen bestimmten Zeitbezug, der sprachlich durch: S ist jederzeit, d. h. für alle Zeitpunkte bzw. -abschnitte P, wiedergegeben wird. Obwohl von der reinen Formulierung her keine oder kaum eine Differenz zwischen allgemeinem und notwendigem Satz zu bemerken ist, insofern beide sich in etwa derselben Zeitvokabeln bedienen: jederzeit, zu jeder Zeit, allemal, immer usw., stellte doch unsere vorausgegangene Untersuchung einen zwar feinen, aber beachtenswerten Unterschied im Zeitverständnis beider fest, der darin besteht, daß im einen Fall mehr der modale Aspekt der Zeit, ihr Charakter als allumfassendes, vollkomme27

§ 17, 153 ff.

Allgemeinheit - Beschränktheit

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nes Ganzes, im anderen mehr der quantitative, ihr Charakter als potentiell unendliche Reihe gleichartiger Teile, hervorgehoben wird. Folglich muß es Aufgabe des allgemeinen Satzes sein, die Gültigkeit und Richtigkeit einer Aussage für jeden beliebigen Zeitabschnitt der unendlich zu denkenden Zeit auszudrücken — meist allerdings bleibt es nur bei dieser Aufgabenstellung, ohne in der Formulierung selbst einen Niederschlag zu finden. Unabhängig davon, wieviel Anwendungsfälle bis zu einem gewissen Zeitpunkt tatsächlich erfahren wurden, beansprucht der allgemeine Satz, nicht nur für alle Fälle der Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch für alle der Zukunft, selbst der noch so fernen, zu gelten; er verdiente seinen Namen nicht, wenn es sich nicht so verhielte. Hierauf basieren auch Prognosen. Hat eine Aussage lediglich den Status einer Regel und wird dieser durch die Quantitätsbestimmung Beschränktheit bezeichnet, so muß, wenn die Quantitätsbestimmung in sensu stricto genommen wird, die Aussage die logische Form eines besonderen (partikulären) Urteils annehmen können: Einige S sind P. Da Beschränktheit im Sinne von Partikularität stets mit dem Gedanken von Ausnahmen verbunden ist, im genauen Gegensatz zur Ausnahmslosigkeit der Allgemeinheit, muß bei vollständiger Explikation seines Gehalts das Urteil lauten: Einige S sind P, die anderen sind non P. Für die Zeitgestaltung des besonderen Urteils würde man das Oppositum zu der des allgemeinen Urteils erwarten, also: S ist nicht zu jeder Zeit P, d. h. S ist nur für gewisse Zeitpunkte und -bereiche P, oder, noch pointierter formuliert, S ist zu einiger Zeit P, zu anderer non P. Hiernach würde eine als Regel zu klassifizierende Aussage lediglich beanspruchen, für gewisse endliche Zeitabschnitte gültig zu sein. Man wird kaum behaupten wollen, daß solche Formulierungen auch nur im entferntesten dazu angetan sind, dem zu adäquatem Ausdruck zu verhelfen, was man unter Regeln, selbst wenn es sich um bloße Regeln handelt, versteht. Sie werden dem Sinn jener so wenig gerecht, daß sie vielmehr gerade zu Bewußtsein bringen, daß jene so niemals formuliert werden können und dürfen; denn als reproduzible, „regelmäßige" Aussagen erheben Regeln selbstverständlich Anspruch auf Allgemeinheit. Zudem ergab die Analyse der realen Beschränktheit, daß sich eine echte Beschränktheit, die im Wesen der Zeit selbst ihren Grund hat, nicht nachweisen läßt. Vielmehr beruht alle Beschränktheit auf der Willkür des Subjekts, indem dieses die an sich potentiell unendliche Reihe der Zeitteile beliebig begrenzt. Damit steht der Weg zu einer grundsätzlich

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Unterscheidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese

andersartigen Deutung „beschränkter" Regeln offen: nicht als von Natur aus beschränkter, sondern als von Natur aus unbeschränkter, allgemeiner Sätze, die allerdings, was den Beweis ihrer realen Gültigkeit anlangt, immer nur in beschränktem Umfang ausgewiesen vorliegen und daher nur Anspruch auf hypothetische Allsätze machen können. Ihre Beschränktheit ist also nicht im Sinne partikulärer Urteile zu verstehen als: Einige S sind P, die anderen sind non P, sondern im Sinne plurativer, denen Allsätze zugrunde liegen, allerdings mit der Einschränkung eines nur mutmaßlichen Zugrundeliegens: Einige S sind P, die anderen sind vermutlich ebenfalls P. Entsprechendes gilt für ihr Zeitverhältnis: S ist für gewisse Zeitbereiche P, bedeutet nicht, daß S für andere non Ρ ist, sondern daß S vermutlich auch für die übrigen Ρ ist. Damit ändert sich das Verhältnis zur Ausnahme grundlegend. Während bei partikulär gedeuteten Aussagen Ausnahmen bereits in die Voraussetzung mit eingehen, werden sie bei plurativ gedeuteten nur noch in dem Sinne zugelassen, in dem prinzipiell die Möglichkeit einer Falsifikation bestehen bleibt, nämlich solange der Verifikationsprozeß nicht abgeschlossen ist. Dies entspricht genau den Bedingungen, unter denen in den empirischen Wissenschaften tatsächlich Hypothesen (hypothetische Allsätze) aufgestellt und verworfen werden. Etwas wird nicht dann als Hypothese akzeptiert, wenn einiges davon in der Vergangenheit diese oder jene bestimmte Beschaffenheit zeigte, anderes dagegen nicht, sondern erst dann, wenn ausnahmslos alles bisher Konstatierte diese oder jene bestimmte Beschaffenheit aufwies und man sagen kann: „Soviel wir bisher wahrgenommen haben, findet sich von dieser oder jener Regel keine Ausnahme" (KdrV, Β 3 f.). In diesem Fall besteht berechtigter Anlaß zu der Vermutung, daß es sich auch in Zukunft so verhalten werde. Hypothesen, die sich nicht mehr bestätigen, verlieren, sofern sie nicht modifiziert oder durch Hilfshypothesen gestützt werden können, ihren Sinn und müssen aufgegeben werden. Wenngleich Regeln grundsätzlich als Allsätze interpretierbar sind, darf doch nicht übersehen werden, daß sidi ihre Allgemeinheit wesentlich von derjenigen der Gesetze unterscheidet. Denn während die letztere sowohl ihrer logischen wie realen Möglichkeit nach a priori ausgewiesen werden kann und deswegen zu Recht den Namen einer ,wahren oder strengen' Allgemeinheit (KdrV, Β 3, vgl. KdpV, 24, Fortschr. XX, 323) verdient, bleibt die erstere eine bloß ,logische P r ä s u m t i o n ' (Log., § 84 Anm. 2), die keines apriorischen, nur eines aposteriorischen Realitätsbeweises fähig ist. Da empirisch eine Verifikation nur über eine

Allgemeinheit - Beschränktheit

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unendliche Reihe von Erfahrungsfällen möglich ist, die insgesamt in Einklang mit der Regel stehen müssen — eine solche aber undurchführbar ist, es sei denn in Form zunehmender Approximation —, so kommt der Allgemeinheit der Regeln lediglich ein Wahrheitsgrad von größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit, niemals aber von apodiktischer Gewißheit zu, wie sie die Allgemeinheit der Gesetze auszeichnet. Wahrscheinlichkeit ist eine bloße „Annäherung zur Gewißheit" (Log., Einl., K a p . X ) , deren Koinzidenz mit jener im unerreichbar Unendlichen liegt. Mehr läßt sich empirisch nicht ausmachen. „ E r f a h r u n g als Beweisgrund der Wahrheit empirischer Urteile ist niemals mehr als asymptotische A n n ä h e r u n g zur Vollständigkeit möglicher Wahrnehmungen, welche sie ausmachen. Ist nie G e w i ß h e i t " , heißt es im O p . p. ( X X I , 6 1 , 1 1 ) . Die den Regeln durch Induktionsschluß zugeschriebene allgemeine Realgültigkeit stellt eine reine „Annahme" (vgl. K d r V , Β 3) oder, wie es andernorts (vgl. K d r V , A 196 Β 241) schärfer heißt, „Andichtung" dar; denn sie geht auf „eine willkürliche Steigerung der Gültigkeit von der, welche in den meisten Fällen, zu der, die in allen gilt" ( K d r V , Β 4), zurück. Induktion nämlich ist jene Schlußart, die vom gegebenen Besonderen auf das noch nicht gegebene Allgemeine folgert nach dem Prinzip der Verallgemeinerung: Was vielen Dingen einer Gattung zukommt, das kommt auch den übrigen zu (eines in vielen, also in allen) (vgl. Log., § 84 Anm. 1). Wie jedoch aus dem Vorangehenden einleuchten dürfte, können induktive Schlüsse nur als Wahrscheinlichkeitsschlüsse auftreten, d. h. als Schlüsse, die auf einen gewissen G r a d von Sicherheit, auf „ausgebreitete Brauchbarkeit" ( K d r V , A 92 Β 124), nicht aber auf strikte Gewißheit Anspruch machen können. Mit der prinzipiellen Differenz zwischen der Allgemeinheit der Gesetze und derjenigen der Regeln hängt auch zusammen, daß Gesetze „nachweislich" durch alle Quantitätskategorien bestimmt sind, sowohl durch die der Allheit wie durch die der Vielheit; denn als allgemeine Sätze müssen sie selbstverständlich auch besondere (iudicia plurativa) sein, Regeln dagegen „nachweislich" nur durch die der Vielheit; die Allheitskategorie liegt ihnen nur „mutmaßlich" zugrunde. Zur Abgrenzung der strengen Allgemeinheit der Gesetze von der hypothetischen der Regeln führt K a n t die Terme: Universalität und Generalität ein (vgl. Log., §§ 21 Anm. 2, 84 Anm. 2, O p . p., X X I , 629, 25). Unter universalen Sätzen versteht er solche, die „von einem Gegenstande etwas allgemein behaupten", unter generalen solche, „die bloß etwas von dem Allgemeinen gewisser Gegenstände und folglich

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Unterscheidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese

nicht hinreichende Bedingungen der Subsumtion enthalten" (Log., § 21 Anm. 2). Das will sagen: die einen behaupten begründetermaßen die Allgemeinheit, indem sie mit der logischen u n d realen Beweisbarkeit derselben sowohl die notwendigen wie hinreichenden Bedingungen anzugeben vermögen, die anderen dagegen postulieren sie lediglich, indem sie mit einer ausschließlich logisdien Beweisbarkeit nur die notwendigen, nicht auch die hinreichenden Bedingungen namhaft machen können. Daher ist „ein Satz, der im Allgemeinen (generaliter), nicht allgemein (universaliter) gilt, folglich dessen Gegenteil nur als Ausnahme von der Regel gedacht wird, . . . allemal ein zwar nicht der logischen Form, doch dem Inhalte nach hypothetischer Satz" (Op. p., XXI, 629, 25).

§4

Objektivität — Subjektivität

An etlichen Stellen der Kantischen Schriften begegnet ein drittes Kriterium zur Unterscheidung von Gesetzen und Regeln, der Gegensatz: Objektivität — Subjektivität. Im folgenden seien einige der markantesten Stellen angeführt. Objektivität

Subjektivität „Urteile [sind] entweder bloß subjektiv, wenn Vorstellungen auf ein Bewußtsein in einem Subjekt allein bezogen und in ihm vereinigt werden;

oder sie sind objektiv, wenn sie in einem Bewußtsein überhaupt, d. i. darin notwendig, vereinigt werden" (Prol., § 22, vgl. § 20). „ E m p i r i s c h e U r t e i l e , sof e r n sie o b j e k t i v e G ü l t i g k e i t h a b e n , sind E r fahrungsurteile; die aber, s o n u r s u b j e k t i v g ü l t i g sind, nenne ich bloße Wahrnehmungsurteile" (Prol., § 18).

Objektivität - Subjektivität

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„Wenn ich . . . die Beziehung gegebener Erkenntnisse in jedem Urteile genauer untersuche und sie als dem Verstände angehörige von dem Verhältnisse nach Gesetzen der reproduktiven Einbildungskraft (welches nur subjektive Gültigkeit hat) unterscheide, so finde ich, daß ein Urteil nichts andres sei, als die Art, gegebene Erkenntnisse zur o b j e k t i v e n Einheit der Apperzeption zu bringen. . . . e i n U r t e i 1, d. i [das ist] ein Verhältnis, das o b j e k t i v g ü l t i g ist und sich von dem Verhältnisse eben derselben Vorstellungen, worin bloß subjektive Gültigkeit wäre, ζ. B. nach Gesetzen der Assoziation, hinreichend unterscheidet" (KdrV, Β 141 f.). Die Reproduktion der Vorstellungen muß „eine Regel haben, nach welcher eine Vorstellung vielmehr mit dieser, als einer andern in der Einbildungskraft in Verbindung tritt. Diesen subjektiven und e m p i r i s c h e n Grund der Reproduktion nach Regeln nennt man die A s s o z i a t i o n der Vorstellungen" (KdrV, A 121). Das Gesetz, die Erscheinungen „durchgängig als solche Data der Sinne anzusehen, welche an sich assoziabel und allgemeinen Regeln einer durchgängigen Verknüpfung in der Reproduktion unterworfen sind", muß ,einen objektiven, d. i.

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Unterscheidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese

vor allen empirischen Gesetzen der Einbildungskraft a priori einzusehenden, Grund' haben — Affinität genannt (KdrV, A 122). Hatten wir es bei den bisher erörterten Merkmalen mit Einzelkategorien (Bewußtseinsmomenten) zu tun, die sich allerdings auf Grund der durchgängigen Verschränkung der Kategorien untereinander eines interkategorialen Gebrauchs fähig erwiesen, so wird hier mit Objektivität und Subjektivität der Grund aller Einzelkategorien, das Bewußtsein selbst, zur Kennzeichnung verwendet. Dabei steht Objektivität für das, was im strikten Sinne Grund der Kategorien ist; Kategorien sind ja nichts anderes als Auslegungsweisen von Objektivität oder, anders ausgedrückt, Konstitutionsmomente von Objektivität. Da Subjektivität das Oppositum zu Objektivität ist, kann sie im strikten Sinne nicht Grund der Kategorien sein; was aber ist sie dann? Hierauf gibt die „Stufenleiter" aller Vorstellungsarten in der KdrV (A 320 Β 376 f.) Auskunft, in der sämtliche Vorstellungsarten eingeteilt und systematisiert werden. Hier findet sich auch eine Einteilung, die die Vorstellung mit Bewußtsein (perceptio) in eine objektive, Erkenntnis (cognitio) genannt, und eine subjektive, Empfindung (sensatio) genannt, spezifiziert. Demnach also repräsentiert Empfindung das subjektive Bewußtsein; denn unter den möglichen Vorstellungsarten ist sie es, „die sich lediglich auf das Subjekt als die Modifikation seines Zustandes bezieht" (ib.). Wenn Objektivität Grund der Kategorien ist, so ist Subjektivität Grund der Empfindungen. In dieser ihrer Eigenschaft als Grund von etwas weisen beide Merkmale Übereinstimmung mit den Formalkriterien von KdrV, Β 113 ff. und Β 131 auf, etwa der ,qualitativen Einheit' (KdrV, Β 131), die in der Bedeutung: Einheit des Bewußtseins der Synthesis eines Mannigfaltigen ein Wesenszug aller Kategorien und damit auch ein Grund aller ist. Da jene Formalkriterien von Hause aus Materialkriterien, Einzelkategorien, darstellen — die qualitative Einheit oder Bewußtseinseinheit beispielsweise eine Quantitätskategorie —, liegt die Vermutung nahe, welche jedoch erst später bestätigt werden kann, daß auch objektives und subjektives Bewußtsein ursprünglich auf Einzelmomente zurückgehen. Damit wäre allerdings erst die Vorstellungsart beider Merkmale geklärt, noch nicht ihr Inhalt. Zu fragen ist daher im folgenden sowohl

Objektivität - Subjektivität

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nach der Bedeutungsdifferenz wie nach der gemeinsamen Bedeutungsgrundlage, in Beziehung auf welche die Differenz zustande kommt. Da Empfindungen genau besehen „Wirkungen der b e s o n d e r n Organisation" der Sinnlichkeit eines Subjekts sind (KdrV, A 29, gesp. v. Verf.), abhängig von der individuellen Konstitution des Subjekts, den jeweiligen Umständen, der Lage zu den wahrgenommenen Dingen, der Zeit u. dgl., folglich bei verschiedenen Subjekten verschieden ausfallen, und zwar so verschieden, daß sie rechtmäßig mit Index zu versehen wären, so ist mit Subjektivität Privatsubjektivität gemeint, d. h. eine Gültigkeit, die ausschließlich für ein einzelnes Individuum Bedeutung hat. Aus dem Gegensatz heraus würde Objektivität als Intersubjektivität, d. h. als Gültigkeit für alle Subjekte ohne Rücksicht auf die jeweilige Konstitution, Situation usw. zu verstehen sein. Dies entspräche auch der ursprünglichen Wortbedeutung, insofern, als Objektivität sich von obicere = entgegenwerfen, gegenüberstellen herleitet; das aber, was man sich gegenüberstellen kann, ist das vom eignen Subjekt Ablösbare, und was für das letztere gilt, gilt unabhängig vom Einzelsubjekt. In der Tat definiert Kant daher auch in den § § 1 8 und 19 der Prol. „objektive Gültigkeit" als „Allgemeingültigkeit", d. h. als Gültigkeit „für jedermann" (Prol., § 19). Die Möglichkeit, die Begriffe: Objektivität — Subjektivität durch Intersubjektivität — Privatsubjektivität bzw. Allgemeingültigkeit — Individualgültigkeit zu ersetzen, bietet den Vorteil, die gemeinsame Bedeutungsbasis sichtbar zu machen, nämlich die Gültigkeit für das Subjekt bzw. für das Bewußtsein, bezüglich deren sich die Begriffe unterscheiden, im einen Fall als Gültigkeit für alle Subjekte bzw. für das Bewußtsein überhaupt, im anderen als Gültigkeit für ein einzelnes Subjekt bzw. für ein Einzelbewußtsein. Versucht man herauszufinden, was es mit diesem Gegensatz auf sich habe, so wird man zu folgendem Ergebnis gelangen: Das, worin alle Subjekte übereinstimmen, ist ein allen Gemeinsames, Gleichartiges, Selbiges, das hingegen, worin jeweils nur ein einziges Subjekt übereinstimmt, ist für alle ein Anderes, Verschiedenes, Ungleichartiges. Der Gegensatz führt somit auf die Begriffe: Identität und Verschiedenheit bzw., was Kant geläufiger ist, Einfachheit (Unzusammengesetztheit) und Vielheit (Zusammengesetztheit) Hinter ihnen verbergen sich die Qualitätsbegriffe: Realität und Negation; denn Identität meint nichts anderes als „Etwas-Bestimmtes-Sein-und-mit-diesem-Bestimmten-gleich-Sein", 28

Vgl. KdrV, A 351 ff., Β 407 f.

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Unterscheidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese

also „Ein-und-dasselbe-Sein", und Verschiedenheit als negatives Korrelat: „Nicht-dieses-Bestimmte-Sein-und-nicht-mit-diesem-Bestimmtengleich-Sein", sondern „Etwas-anderes-Sein-und-mit-diesem-anderengleich-Sein". Genau wie die früher erörterten Kriterien lassen sich auch die jetzigen exakt nur korrelativ definieren, nämlich so, daß Identität zugleich das Anderssein ausschließt — sie ist ein „So-und-nicht-andersSein" — und Verschiedenheit, die auf dem Gedanken der Andersheit beruht, Identität ausschließt — sie ist ein „Nicht-so-, sondern-andersSein". Es liegt auf der Hand, auch diesen Gegensatz auf das Grundverhältnis von Ganzem und Teil zu reduzieren, verkörpert doch Identität (Einfachheit), die kein Anderssein enthält, ein Ganzes und Verschiedenheit (Vielfältigkeit), die ein Anderssein enthält, den einen oder anderen Teil des Ganzen. Identität und Verschiedenheit bilden die qualitativen Aspekte dieses Verhältnisses. So wie sich von den früher erörterten Merkmalen ein sinnvoller Gebrauch erst respektiv auf ein sinnliches Substrat machen ließ, so läßt sich auch von den jetzt erörterten des objektiven und subjektiven Bewußtseins ein solcher erst respektiv auf ein sinnliches Substrat machen. Allerdings unterscheiden sidi die Einzelkategorien (Bewußtseinsmomente) und das Bewußtsein als Ganzes darin, daß jene ein Einzelschema besitzen, freilich eines, welches auf Grund des interkategorialen Gebrauchs der Kategorien in allen Schemata wiederkehrt, dieses hingegen ein Gesamtschema, hinter dem aber doch, genau wie hinter dem reinen Bewußtsein, ein einzelner Aspekt steht. Welches ist dieser? Da sich als Grundbestandteil der Identität (des identischen Bewußtseins) die Qualitätskategorie Realität herausgestellt hat, muß das gesuchte Zeitschema29 die Zeiterfüllung sein, die von Null, der Zeitleere, bis Unendlich, der absoluten Zeiterfüllung, jeden beliebigen Grad der kontinuierlich anwachsenden bzw. abnehmenden Skala von Graden annehmen kann. Als Zeitschema dient hier das intensive quantum continuum, das in potentiell unendlich viele Zwischenstufen zerlegbar ist, „deren Unterschied voneinander immer kleiner ist, als der Unterschied zwischen der gegebenen und dem Zero oder der gänzlichen Negation" (KdrV, A 168 Β 210). Die spezifische Zeitstruktur, die eine solche Zerlegung ermöglicht, ist die Kontinuität oder Stetigkeit M . 29 30

Für das Raumsdiema gilt das in § 2, 23 Anm. 6 Bemerkte. Mehr kann an dieser Stelle nodi nidit gesagt werden, da es hier zunächst einmal um die Konstatierung des Sachverhalts geht. Eine Erklärung der Beziehung zwischen Identität (Einfachheit) und Kontinuität gibt § 6, 76 ff.

Objektivität - Subjektivität

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Ist Stetigkeit das sinnliche Kriterium der Identität, so erwartet man als das der Verschiedenheit natürlich Unstetigkeit, Diskretheit. Läßt sich diese Erwartung bestätigen? Versucht man, den Gedanken der Verschiedenheit, der den des Andersseins einschließt, anhand der Zeit selbst auszudrücken, so daß diese den einen Teil der Verschiedenheit ausmacht, so ist zur Darstellung des anderen eine zweite, davon absolut verschiedene Anschauungsform erforderlich. Beide zusammen ergeben erst ein Diskretum. Freilich müßte die zweite Form eine außermenschliche sein, weil die uns bekannte durchgängig stetig ist. Da jedoch die bloße Denkmöglichkeit einer anderen Anschauungsform weder ein Beweis der Realmöglichkeit derselben noch ein Beweis der tatsächlichen Unstetigkeit der unsrigen ist, kommt diesem Versinnlichungsversuch genau wie in den vorausgegangenen Fällen lediglich der Status eines gedanklichen Analogons zu. Versucht man, den Gedanken der Verschiedenheit anhand der Zeitteile zu demonstrieren, am Früher und Später derselben, so mißlingt dies, da solche Einteilungen relativ sind: was in einer Hinsicht, nämlich in der auf ein Später, ein Früher ist, ist in anderer, nämlich in der auf ein Früher, selbst ein Später. Die Zeiteinteilungen, die beliebig vorgenommen werden können, sind kein Indiz tatsächlicher Diskretheit der Zeit; sie sind potentielle, nicht aktuale Einteilungen. Da es außer diesen beiden Versinnlichungsversuchen, entweder anhand der Zeit selbst oder ihrer Teile, keine dritte Alternative gibt, ist mit ihnen ein Vollkommenheits- und Ausschließlichkeitsanspruch verbunden. So steht denn unumstößlich fest, daß ein real Verschiedenes, ein Diskretes, nicht nachweisbar ist. Widerspricht dem nicht aber die Tatsache, daß in den ständig wechselnden, veränderlichen Empfindungen ein konkret aufzeigbares Verschiedenes, Disparates vorliegt, das an bestimmte Zeiten gebunden ist? Wenn der obige Beweis richtig ist, zwingt er zu einer anderen Deutung der Empfindungen: er verlangt, sie als an sich Identisches und damit intersubjektiv Gültiges, Objektives, aufzufassen, allerdings als etwas, was sich nur hypothetisch annehmen, nicht real beweisen läßt und deswegen faktisch von uns als Verschiedenes konstatiert wird. Auf den ersten Blick scheint es sich hier um ein Paradoxon zu handeln, und so hat es Kant auch selbst empfunden; denn im Op. p., das in der Frage nach der Möglichkeit der Objektivierung des Subjektiven zentriert, äußert er immer wieder sein Befremden: »Nun ist es befremdlich in der Anmaßung — es scheint gar unmöglich —, durch Antizipation der Sinnenvorstellungen, die nach

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Unterscheidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese

Verschiedenheit des Subjekts sehr verschieden sein können, v o r der E r f a h r u n g das Objekt derselben, die Materie, nach dem Begriffe von ihr als dem Beweglichen im R ä u m e a priori und das Spezifische desselben angeben zu wollen" (Op. p., X X I I , 3 6 2 , 1 0 )

oder ausführlicher: „Es ist befremdlich; es scheint gar unmöglich zu sein, das, was auf Wahrnehmungen (empirischen Vorstellungen mit Bewußtsein derselben) beruht, a priori darstellen zu wollen, ζ. B. den Schall, das Licht, die Wärme etc., welche insgesamt das Subjektive der Wahrnehmung, d. i. der empirischen Vorstellung mit Bewußtsein ist, mithin kein Erkenntnis eines Objekts bei sich f ü h r t ; und doch ist dieser A k t des Vorstellungsvermögens notwendig. Denn wenn diesem nicht ein Gegenakt des Objekts korrespondierte, so würde jenes keine Wahrnehmung des Gegenstandes durch die bewegende K r a f t desselben erhalten, welche doch hier vorausgesetzt w i r d " (Op. p., X X I I , 493, 4) \

Wie ist die Objektivation zu denken? Die Grundprämisse der Kantischen Philosophie besteht in der Unterscheidung zweier Auffassungsweisen des Objekts, einer als Ding an sich und einer als Erscheinung. Gemeint ist damit keine Zwei-WeltenTheorie, im Gegenteil, es ist ein und dasselbe Objekt, das auf verschiedene Weise vorgestellt wird, im einen Fall als Etwas überhaupt durch das reine Denken, allerdings als ein Etwas, das hinsichtlich seines Soseins und Daseins unerkannt bleibt, im anderen Fall als erkennbares Erscheinungsobjekt durch das anschauungsbezogene Denken. Wie Kant im Op. p. immer wieder betont, ist „der Unterschied der Begriffe von einem Dinge an sich und dem in der Erscheinung . . . nicht objektiv, sondern bloß subjektiv [d. h. nicht im Objekt selbst, sondern in der Vorstellungsart des Subjekts begründet]. Das Ding an sich (ens per se) ist nicht ein Anderes Objekt, sondern eine andere Beziehung (respectus) der Vorstellung auf dasselbe Objekt" (Op. p., X X I I , 26, 26, vgl. 44,19). Damit das Objekt dem Subjekt e r s c h e i n e n kann, müssen Bedingungen der Rezeption in diesem vorhanden sein, unter denen jenes aufgenommen und vorgestellt werden kann. Zu solchen gehören nicht allein die konstanten, invarianten Anschauungsformen: Raum und Zeit, sondern auch die inkonstanten, variablen Empfindungen: visuelle, auditive, taktile usw.; denn letztere stimmen „darin mit der Vorstellung des Raumes [zu ergänzen: der Zeit] ü b e r e i n . . d a ß sie bloß zur subjek31

Vgl. ferner Op. p., X X I I , 348,10; 371,15; 397,19 usw.

Objektivität - Subjektivität

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tiven Beschaffenheit der Sinnesart gehören" (KdrV, Β 44). D. h. sie sind nicht Bestimmungen des Objekts an sich, sondern solche der Vorstellungsart des Subjekts. Trotz dieser Gemeinsamkeit besteht ein fundamentaler Unterschied. „Wir unterscheiden . . . unter Erscheinungen das, was der Anschauung derselben wesentlich anhängt und für jeden menschlichen Sinn überhaupt gilt, von demjenigen, was derselben nur zufälligerweise zukommt, indem es nicht auf die Beziehung der Sinnlichkeit überhaupt, sondern nur auf eine besondre Stellung oder Organisation dieses oder jenes Sinnes gültig ist" (KdrV, A 45 Β 62). In seinem Spätwerk sieht sich Kant sogar genötigt, diese Differenz zwischen sog. primären und sekundären Sinnesqualitäten eigens in einer Erscheinungsstufung bzw. -doppelung auszudrücken. Dabei stützt er sich auf folgenden Argumentationsgang: Genauso wie vom metaphysischen Standpunkt aus zwischen Ding an sich und Erscheinung unterschieden werden kann, so kann audi vom physikalischen 32 zwisdien Ding an sich und Erscheinung unterschieden werden. Dem Physiker gilt ein Objekt, ζ. B. eine Rose 33 , ein Regentropfen 34 hinsichtlich der konstanten, für alle Subjekte gleichen Eigenschaften, der Größe, Gestalt, Lage usw., als Ding an sich, dagegen hinsichtlich der variablen, für verschiedene Subjekte verschiedenen, ider Farbe, des Geruchs, der Tastqualitäten usw., als Erscheinung. „So werden wir zwar den Regenbogen eine bloße Erscheinung bei einem Sonnenregen nennen, diesen Regen aber die Sache an sich selbst, welches auch richtig ist, sofern wir den letztern Begriff nur physisch verstehen, als das, was in der allgemeinen Erfahrung unter allen verschiedenen Lagen zu den Sinnen, doch in der Anschauung so und nicht anders bestimmt ist" (KdrV, A 45 Β 63). Metaphysische und physikalische Ebene existieren nicht getrennt voneinander, sondern verbunden. Ihre Verbindung wird hergestellt durch jenes Glied, das im physikalischen Verstände als Ding an sich aufgefaßt wird, im metaphysischen aber bereits als Erscheinung festgelegt ist. Ist das, was aus physikalischer Sicht ein Ding an sich darstellt, aus metaphysischer eine Erscheinung, so folgt zwangsläufig, daß das, was aus physikalischer Sicht eine Erscheinung des Dings an sich ist, aus metaphysischer eine Erscheinung der Erscheinung ist. Demnach hat der Komplex aus Raum- und Zeitbestimmungen als Erscheinung erster Ordnung und der 32 33 34

Vgl. dazu KdrV, A 29 f., Β 45, A 45 f. Β 62 f., Op. p., XXII, 320, 3. KdrV, A 29 f. Β 45. KdrV, A 45 £. Β 63.

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Untersdieidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese

Empfindungskomplex als Erscheinung zweiter Ordnung oder Erscheinung der Erscheinung zu gelten. Selbstverständlich kann mit dieser Erscheinungspotenzierung keine reale gemeint sein; denn zum einen sind die Erscheinung (der Komplex aus Anschauungsformen) und die Erscheinung der Erscheinung (der Komplex aus Empfindungen) gleichursprüngliche Erscheinungsweisen des uns unbekannten Dings an sich, unterschieden einzig und allein durdi die Art der Rezeptionsbedignungen: konstante Formen im einen Fall, variable Empfindungen im anderen, zum zweiten bildet die Erscheinung (der Komplex aus Anschauungsformen) kein selbständiges, für sich existenzfähiges Objekt, von dem es sinnvoll wäre zu sagen, daß es dem Subjekt nochmals erschiene; denn herausgelöst aus dem Gesamtkomplex von Rezeptionsbedingungen, zu dem audi die Empfindungen, die die Wirklichkeit eines Objekts anzeigen, gehören, stellt es einen nicht-wirklichen, nur möglichen Komplex rein formaler Bestimmungen dar. Es handelt sich, wie schon Lehmann 3 5 erwogen hat, ausschließlich um eine methodische Doppelung, die dazu dient, die verschiedenen Reflexions- und Konstitutionsstufen des Objekts deutlich voneinander abzuheben. Das gilt auch und besonders für folgenden Sachverhalt. Mit dem Terminus „Erscheinung der Erscheinung", der ausnahmslos dem X . Konv. des Op. p. angehört, bezeichnet Kant weniger die subjektiven Empfindungen als vielmehr ihr objektives Korrelat, die Materie und die sie konstituierenden Kräfte, also das Etwas in Raum und Zeit. Für objektiv bzw. intersubjektiv verständlich kann Materie aber nur gelten, wenn sie durch Raum- und Zeitform bestimmt gedacht wird, und zwar bestimmt nicht nur als ein Seiendes i η der Anschauung, sondern als ein Seiendes, das selbst Anschauung ist im Sinne eines physikalischen Konstrukts. „Erscheinung von einer Erscheinung ist das, wodurch das Subj e k t i v e 3 6 objektiv gemacht wird, weil es a priori vorgestellt wird. U m das Empirische gleichwohl doch nach Prinzipien a priori, als einem System gehörend, aufzustellen und zu klassifizieren, müssen die Sinnengegenstände zuerst als in der Erscheinung nach dem Subjektiven der F o r m ihrer in R a u m und Zeit zusammenzustellenden Vorstellungen (phaenomena) gedacht w e r d e n 3 7 ; denn nur die F o r m der empirischen Anschauung kann a priori gegeben werden. D a ist aber die V e r k n ü p f u n g des Mannigfaltigen der Wahrneh35 36 37

Lehmann (6), 140. = Die Empfindungen. = Erscheinung 1. Ordnung.

Objektivität - Subjektivität

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mung 38 selbst wiederum dem Subjekt bloß Erscheinung, dem Objekte nach aber Erscheinung von der Erscheinung und darum der Erfahrungsgegenstand selbst" (Op. p., XXII, 363, 24).

Den Empfindungen korrespondiert somit eine durchgängig formale Konstruktion. Da es allerdings unmöglich ist, die Totalität der formalen Bestimmungen anzugeben, die das Konstrukt als ein v o l l s t ä n d i g m ö g l i c h e s ausweisen und damit den w i r k l i c h e n Empfindungen gleichstellen würde, bleibt es eine reine Idee. Damit darf als bewiesen gelten, daß subjektive Empfindung und objektives physikalisches Konstrukt der Sache nach identisch sind, verschieden nur hinsichtlich der Betrachtungsweise. Im folgenden müssen nun die bisher gewonnenen Ergebnisse fruchtbar gemacht werden für das Verständnis der Kennzeichnung der Gesetze und Regeln durch Objektivität und Subjektivität. Soll eine Aussage Gesetzescharakter haben, folglich als objektiv beschrieben werden können, so muß sie den Anforderungen genügen, die mit einem solchen Prädikat gestellt sind. Das bedeutet in logischer Hinsicht, daß sie in einer Urteilsform aussagbar sein muß, die eine Beziehung auf das objektive Bewußtsein hat. Eine solche Beziehung aber haben alle in der Urteilstafel aufgeführten. Seit 1786 39 definiert Kant die Form dieser Urteile, die ihm als Urteile im eigentlichen Sinne gelten und daher von ihm meist kurzerhand „Urteile" genannt werden, geradezu als die „Art, gegebene Erkenntnisse zur o b j e k t i v e n Einheit der Apperzeption zu bringen" (KdrV, Β 141). Da Urteile verschiedener Subjekte, wenn sie mit der objektiven Einheit der Apperzeption, d. h. dem Objekt übereinstimmen, auch untereinander übereinstimmen, so sind sie zugleich intersubjektiv gültig, also für alle Subjekte einheitlich, wie auch umgekehrt Urteile, die untereinander übereinstimmen, mit dem Objekt übereinstimmen, weil sonst kein Grund der Ubereinstimmung vorhanden wäre (vgl. Prol., § 18). Das bedeutet ferner in anschaulicher Hinsicht, daß die Aussage ein 38

39

„Verknüpfung des Mannigfaltigen der Wahrnehmung" meint genauso wie „Zusammensetzung des Empirischen" nach dem „formalen Prinzip" in dem ähnlichen Beleg Op. p., X X I I , 319, 24 die formale Konstruktion. Die im folgenden zitierte Urteilsdefinition der KdrV von 1787 geht zurück auf die der MA von 1786, in der erstmals das „Urteil überhaupt" bestimmt wird als „Handlung, durch die gegebene Vorstellungen zuerst Erkenntnisse eines Objekts werden" (ΜΑ, IV, 475 Anm.). Sie unterscheidet sich durch ihren engeren Urteilsbegriff, der nur das objektive Urteil umfaßt, von dem weiteren der Prol., der objektives u n d subjektives Urteil umfaßt.

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Unterscheidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese

Zeitverständnis widerspiegeln muß, das eines durchgängiger Stetigkeit ist. Wie immer audi die besondere Zeitbestimmung nach der jeweiligen Urteilsform bzw. der aus ihr hervorgehenden Kategorie aussehen mag, so muß in allen die Kontinuität durchblicken, die der Identität der Bewußtseinsform überhaupt entspricht. Wenn Kant daher vom objektiven Urteil verlangt, daß es „für uns jederzeit und ebenso für jedermann gültig sein solle" (Prol., § 18, vgl. § 19), so verbirgt sich dahinter nichts anderes als die Forderung nach einer Gültigkeit für jeden beliebigen Abschnitt des unendlich teilbaren Zeitkontinuums, obwohl der Terminus „jederzeit" dies keineswegs adäquat auszudrücken vermag und die bereits aus anderen Fällen bekannte Ausdrucksnot hinreichender Zeitdifferenzierung widerspiegelt. Soll eine Aussage dagegen lediglich den Status einer Regel haben, folglich nur als subjektiv angesprochen werden können, so darf sie auch nur in einer logischen Form exponierbar sein, die eine Beziehung auf ein Einzelbewußtsein, nicht aber auf ein Bewußtsein überhaupt hat. Damit steht fest, daß sich ihr Inhalt nicht nach jenen Formen, die sich in der Urteilstafel finden, folglich auch nicht nach den Kategorien, bestimmen läßt. Er stellt vielmehr eine bloße Verknüpfung von Empfindungen dar, die jeweils nur einem einzigen Subjekt zugehört und daher bei verschiedenen Subjekten verschieden ist. Da Empfindungen bzw. deren Verknüpfungen zu Empfindungskomplexen streng zeit-, orts- und situationsgebunden sind, kann eine Aussage, die nichts weiter als solche enthält, nur eine Gültigkeit für bestimmte Zeitmomente oder -abschnitte (desgleichen für bestimmte Raumpunkte oder -abschnitte) beanspruchen. Bei präziser Wiedergabe müßte dies in sog. Protokollsätzen durch entsprechende Angaben spezifisch indiziert werden, im Falle einer einmaligen Empfindung etwa durch das Demonstrativpronomen „dieses" oder durch Zeit-, Orts-, Umstandsangaben wie: jetzt und hier, „in meinem diesmaligen Zustande" oder „damaligen" (Prol., § 19), im Falle einer oft oder ständig wiederholten Empfindung durch Ausdrücke wie: so oft, immer wenn, gewöhnlich. Kant hat diese Art von Aussagen unter dem Namen „Wahrnehmungsurteile" an verschiedenen Stellen seiner veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften eingehender erörtert. Obwohl Name und zusammenhängende Theorie erstmals in den Prol. (§§ 18 ff.) auftreten, später in der 2. Aufl. der KdrV (§§ 18 und 19) und in zwei Reflexionen der 90er Jahre (Refl. 3145 f.), die von Jäsche als Vorlage des § 40 der Log. benutzt wurden, weitergeführt und ausgebaut werden, reicht

Objektivität - Subjektivität

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der Ursprung der Unterscheidung von Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen bis in die frühen 50er Jahre zurück auf Überlegungen, die Kant im Anschluß an Meiers Unterscheidung anschauender und Nachurteile (iudicia intuitiva und discursiva) 4 0 anstellt (Reil. 3138 ff.). Diese Tatsache, die in der Literatur bisher vollkommen übersehen wurde 4 1 , eröffnet einen leichten und sicheren Zugang zum Verständnis der Wahrnehmungsurteile und wirft darüber hinaus auch Licht auf Sachverhalte, die bislang völlig dunkel und rätselhaft bleiben mußten; denn nicht allein, daß Kant einen Teil der Beispiele von Meier übernimmt, er gibt auch ganze Passagen sinngetreu wieder. Im Rahmen unserer Problemstellung müssen wir uns mit einem Abriß der Theorie begnügen. Wie schon der N a m e sagt, ist das Wahrnehmungsurteil ein Urteil aus bloßen Wahrnehmungen. Zustande kommt es dadurch, „daß ich meine Vorstellung als Wahrnehmung aussage" (Reil. 3145). Das heißt: alle das Urteil konstituierenden Bestandteile wie Subjekt, Prädikat, Objekt usw., auf die sich mein Vorstellen bezieht, müssen als Wahrnehmung bzw. Empfindung formuliert werden, d. h. als empirische Anschauung, die als E i n z e l Vorstellung einen u n m i t t e l b a r e n Erfahrungsbezug enthält. Anders herum gesagt: keiner der Bestandteile darf durch einen abgesonderten Begriff' (Reil. 3138) ausgedrückt werden, der als A l l g e m e i n Vorstellung, die vom jeweils Besonderen ablösbar und intersubjektiv kommunikabel ist, lediglich einen m i t t e l b a r e n Erfahrungsbezug aufweist. Für dieses Verständnis von Wahrnehmungsurteil gab Meiers Definition des anschauenden Urteils 4 2 das Vorbild ab; denn in der Vernunftlehre, § 353 heißt es: „ E i n anschauendes Urteil ist eine unmittelbare E r f a h r u n g , u n d es muß aus lauter E m p f i n d u n g e n zusammengesetzt sein, oder das Subjekt, das Prädikat und der Verbindungsbegriff eines anschauenden Urteils m u ß eine E m p f i n d u n g sein; z u m E x e m p e l : ich denke, ich bin w a r m , ich bin kalt, dieser Wein schmeckt süße. So o f t e also in einem Urteile ein abgesonderter Begriff v o r k o m m t , oder ein Begriff, v o n dem m a n sonst zeigen kann, daß er keine E m p f i n d u n g

40 41

Meier, A u s z u g aus der Vernunftlehre, §§ 319 f f . und Meier, Vernunftlehre, §§ 353 f f . G r u n d d a f ü r d ü r f t e sein, d a ß der von Adickes edierte L o g i k - B a n d der A k a d e m i e A u s g a b e ( X V I ) die fraglichen Reflexionen unter verschiedenen Titeln a u f f ü h r t , die Refl. 3138 f f . unter dem „ I u d i c i a intuitiva — d i s c u r s i v a " u n d die Reil. 3144 f f . unter dem „Wahrnehmungs- und E r f a h r u n g s u r t e i l e " . D e r Terminus „Wahrnehmungsurteil" ist nur ein Substitut des Terminus „anschauendes U r t e i l " ; denn Wahrnehmung u n d empirische Anschauung sind gleichbedeutend.

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Untersdieidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese sei: so o f t e k ö n n e n w i r versichert sein, daß das U r t e i l k e i n anschauendes U r t e i l sei, s o n d e r n es ist ein Nachurteil."

Und was die Bildungsregeln des anschauenden Urteils betrifft, gibt Meier in § 354 genauere Anweisung: „ W e n n m a n ein anschauendes U r t e i l finden w i l l : so 1) n e h m e m a n die Sache, die m a n sieht, h ö r t , m i t e i n e m W o r t e , die m a n e m p findet, als das Subjekt an; 2) m a n d e n k e derselben nach, o d e r m a n mache die E m p f i n d u n g dieser Sache deutlich . . . , alsdenn sieht, h ö r t , e m p f i n d e t m a n viele M e r k m a l e , viel Mannigfaltiges in der e m p f u n d e n e n Sache. U n d 3) bejahe m a n , diese in der Sache e m p f u n d e n e n M e r k m a l e , v o n der g a n z e n Sache. D a n u n alsdenn das Subjekt, das Prädikat u n d der Verbindungsbegriff solcher U r t e i l e eine E m p f i n d u n g ist, so sind die dergestalt e m p f u n d e n e n U r t e i l e anschauende Urteile."

Ausgehend von dem sdion bei Meier zu findenden Beispiel: „Ich bin kalt (warm)" in der frühen Reil. 3138, gibt Kant im Laufe seiner Schriften als Beispiele für Wahrnehmungsurteile u. a. an: „Wenn ich einen Körper trage, so fühle ich einen Druck der Schwere" (KdrV, Β 142), „Ich, der ich einen Turm wahrnehme, nehme an ihm die rote Farbe wahr", „Bei der Berührung des Steins empfinde ich Wärme" (im spätesten Beleg, Reil. 3145). In all diesen Fällen ist aufs genaueste den Anforderungen entsprochen, die ein Wahrnehmungsurteil stellt, indem sämtliche Satzglieder 43 als Wahrnehmungen formuliert sind, nicht allein das Prädikat, das die Beziehung zwischen urteilendem Subjekt (ich) und Kernurteil herstellt (als fühlen, wahrnehmen, empfinden), sondern auch das Subjekt und Prädikatsnomen im Kernurteil (als getragener, mithin unmittelbar erfahrener Körper, wahrgenommener Turm, berührter Stein bzw. als Druckempfindung der Schwere, Farbempfindung rot, Wärmegefühl). Daher können audi die zweifellos umständlich wirkenden Um43

Welche Funktion die Satzglieder bedeutungsmäßig und nicht nur grammatikalisch haben, läßt sich am einfachsten den entsprechenden Erfahrungsurteilen entnehmen (der Körper ist schwer, der Turm ist rot, der Stein ist warm), aber natürlich auch den Wahrnehmungsurteilen selbst, sofern man nur berücksichtigt, daß das „ich nehme wahr bzw. empfinde" mit der Variante „ich fühle" im Wahrnehmungsurteil genauso alle meine Vorstellungen muß begleiten können, wie das Pendant „ich denke" im Erfahrungsurteil sie begleitet. Folglich korrespondiert dem objektiven Satz: „ich denke, der Körper ist schwer" der subjektive: „ich fühle, der getragene Körper ist schwer". (Die Kopula „ist" im letzten Satz darf nicht überbewertet werden, da sie als gewöhnliches Ausdrucksmittel eines objektiven Sachverhalts durch die subjektive Wahrnehmung „ich fühle" relativiert wird.) Erfahrungs- und Wahrnehmungsurteil gliedern sich somit in ein Kernurteil aus Subjekt, Prädikat, Objekt usw. und ein übergeordnetes Urteil, das das Kernurteil auf das urteilende Subjekt (ich) bezieht.

Objektivität - Subjektivität

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Schreibungen von der Art eines Konditionalsatzes (wenn ich einen Körper trage), Relativsatzes (der ich einen Turm wahrnehme) oder einer Umstandsangabe (bei der Berührung des Steins) m. E. nicht als „ganz überflüssige Zusätze" (Prauss, 190) angesehen werden, die die Adäquatheit des Wahrnehmungsurteils beeinträchtigten, weil sie in den zugehörigen Erfahrungsurteilen keine Entsprechung fänden; im Gegenteil, sie sind ganz unumgängliche Zusätze, weil sie den unmittelbaren Erfahrungsbezug des betreffenden Satzgliedes garantieren. Neben diesen vollkommen adäquat formulierten Beispielen finden sich weniger adäquat formulierte, insofern in ihnen nicht alle Vorstellungen als Wahrnehmungen ausdrücklich gemacht sind. Hierdurch entsteht leicht der Eindruck eines objektiven Erfahrungsurteils, wie ζ. B. bei den Sätzen: „Das Zimmer [ist] warm, der Zucker süß, der Wermut widrig" (Prol., § 19) oder: „Die Luft ist elastisch" (ib.), „Wenn die Sonne den Stein bescheint, so wird er warm" (Prol., § 20 Anm.l). Daß Kant diese Sätze gleichwohl als Wahrnehmungsurteile verstanden wissen will, geht aus dem Kontext hervor, in dem er sie entweder als solche p o s t u l i e r t : „Sie . . . sollen . . . nicht vom Objekte gelten" (Prol., § 19) oder k o m m e n t i e r t , ζ. B. „Wenn ich sage, die Luft ist elastisch, so ist dieses Urteil zunächst nur ein Wahrnehmungsurteil, ich beziehe zwei Empfindungen in meinen Sinnen nur aufeinander" (ib.). Freilich können weder Postulat noch Begleitkommentar über eine gewisse Laxheit der Formulierungen hinwegtäuschen, doch braucht sich hierin noch keine grundsätzliche Unfähigkeit zu adäquater Formulierung von Wahrnehmungsurteilen zu bekunden 44 . In der Tat resultiert die Inadäquatheit nicht aus der Unfähigkeit, sondern aus der Selbstverständlichkeit, mit der diese Urteile jedermann als Wahrnehmungsurteile einleuchten, wie die ersten drei: „Dieses Zimmer fühlt sich für midi warm an, dieser Zukker schmeckt mir süß, dieser Wermut schmeckt mir widrig", oder doch wenigstens Kant als solche einleuchten, wie das Beispiel: „Die Luft ist elastisch". Aus Gründen dieser Selbstverständlichkeit braucht der unmittelbare Erfahrungsbezug nicht eigens bei jeder Vorstellung angegeben zu werden. Schon bei Meier hatte es geheißen: Man „läßt zwar bei gewöhnlichen und leichten Erfahrungen diesen Beweis [sc. für die anschauenden Urteile] aus; allein deswe44

Wie Prauss, 188 meint, indem er von einer „Ausdrucksnot" spricht, „in weldie Kant immer wieder gerät, wenn er Wahrnehmungsurteile adäquat zu formulieren versucht."

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Unterscheidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese

gen ist ein Urteil nicht unerweislich, weil man seinen Beweis, seiner Kürze und Leichtigkeit wegen, wegläßt. Wenn ich urteile: ich denke, das Feuer brennt; so habe ich nicht nötig, den einzeln Fall anzuführen, durch welchen ich zu diesen Urteilen veranlaßt worden" (Vernunftlehre, § 353),

und etwas weiter: „Eben darum, weil diese [sc. die anschauenden] Urteile so leicht zu machen sind, gibt man sich bei ihnen keine Mühe, sondern man fället sie mit einer großen Nachlässigkeit" (§ 354).

Mag die Selbstverständlichkeit, mit der die obigen Beispiele als Wahrnehmungsurteile einleuchten, schon ein hinreichender Grund sein, sie als solche zu akzeptieren, so gibt es darüber hinaus auch noch Argumente, die dartun, daß sie umgekehrt keine Erfahrungsurteile sein können, entweder prinzipiell oder zumindest primär keine. Im Beispiel: „Der Wermut ist widrig" prädiziert Kant eine Vorstellung vom Wermut, die in seinem System unter „Gefühle" fällt. Gefühle, seien es solche der Lust oder Unlust, aber sind „Wirkungen von Empfindungen" (vgl. KdrV, A 29) und damit, wenn man sich dies am Modell der Erscheinungspotenzierung verdeutlicht: Ding an sich — Erscheinung — Erscheinung der Erscheinung (Empfindung) — Erscheinung der Erscheinung der Erscheinung (Gefühl), etwas noch „Subjektiveres" als die ohnehin schon subjektiven Empfindungen, und zwar in dem Sinne, daß sie ausschließlich dem Einzelsubjekt, „niemals dem Objekt beigelegt werden" dürfen (Prol., § 19 Anm.), wie dies in gewisser Weise die Empfindungen dürfen. Denn letztere geben dank der Tatsache, daß sie in Materie ein objektives Korrelat besitzen (die objektive Form der Erscheinung der Erscheinung), immerhin objektive Erkenntnisstücke ab (vgl. KdU, Einl., Kap. VII und § 3). Urteile, in denen Gefühle prädiziert werden, aber sind absolut subjektiv und können auch niemals objektiv werden. Möglicherweise hat Kant auch die beiden Beispiele, die zusammen mit dem obigen genannt werden: „Das Zimmer ist warm" und „Der Zucker ist süß", als „Gefühls"-Urteile aufgefaßt, als solche, in denen es ihm primär nicht auf die Empfindungen: Wärme und Süße, sondern auf das damit verbundene Gefühl des Angenehmen ankam; denn in der Anm. zu § 19 der Prol. beschreibt er sie als Urteile, die „sich bloß aufs Gefühl, welches jedermann als bloß

Objektivität - Subjektivität

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subjektiv erkennt", beziehen und deswegen niemals objektive Erfahrungsurteile werden können 4S . Auch Urteile, die sich in objektive Erfahrungsurteile transformieren lassen, wie diejenigen, die auf Empfindungen basieren, gestatten nicht ohne weiteres, die Empfindungen vom Gegenstand zu prädizieren. Denn Empfindungsqualitäten wie Wärme, Elastizität usw. kommen dem Objekt niemals direkt zu, sondern immer nur „in Verhältnis auf die Sinne" des besonderen Subjekts (KdrV, Β 70 Anm.), genauso wie auf einer anderen Reflexionsebene die Anschauungsformen Raum und Zeit dem Objekt nur in Verhältnis auf die Sinne des Subjekts überhaupt zukommen. Dies zu berücksichtigen ist von größter Wichtigkeit, um Fehlleistungen bei der Transformation zu vermeiden, etwa wenn es zu entscheiden gilt, ob die hellen Punkte, die man bei der Wahrnehmung des Mondes sieht, objektiv dem Mond zukommen oder der Luft als dem Medium der Übertragung oder dem Auge des Wahrnehmenden (vgl. Refl. 3145). Die Rückbeziehung auf das Subjekt zeigt, daß jedes Urteil, das Empfindungen prädiziert, selbst dann, wenn es sich in ein objektives Erfahrungsurteil umformen läßt, z u n ä c h s t ein Wahrnehmungsurteil darstellt. Daher ist auch ein Urteil von der Art: „Die Luft ist elastisch", was immer sonst noch es sein mag, zunächst als Wahrnehmungsurteil zu betrachten. Da Wahrnehmungsurteile, selbst wenn sie noch so oft wiederholte Wahrnehmungen, die ich oder irgend jemand sonst gehabt haben mag, ausdrücken, wie das Urteil: „Sooft ich einen Körper trage, fühle ich einen Druck der Schwere", privat-subjektiv bleiben, bezogen auf das jeweils konstatierende Subjekt zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, in einer bestimmten Verfassung, ein solcher Charakter aber dem widerstreitet, was man normalerweise unter empirischen Regeln versteht, geht das Bestreben dahin, die bloß subjektiven Wahrnehmungsurteile in objektive Erfahrungsurteile umzuwandeln, im vorliegenden Fall in einen Satz von der Art: „Die Körper sind schwer" (KdrV, Β 142). Hierzu muß alles, „was bloß in meinem Subjekt ist" (Refl. 3145), weggelassen und ausschließlich das ins Auge gefaßt werden, was für alle Subjekte gilt. Heißt das, daß das Urteil nur insofern und insoweit für objektiv zu halten ist, wie sich sein besonderer Inhalt dem Bewußtsein überhaupt und dessen Momenten, den Kategorien, unterwerfen läßt, also in unserem Falle nur insoweit, wie sich den Körpern qua Substanzen in einem 45

Vgl. hierzu die ausgezeichnete und ausführliche Darlegung bei Prauss, 184 ff.

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Untersdieidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese

kategorischen Urteil die Schwere qua Akzidens oder in einem bejahenden Urteil die Sdiwere qua Qualität usw. zusprechen läßt? Zweifellos ist dies die naheliegendste Interpretation; denn Kant geht an allen Stellen direkt nur auf die objektive Einheit der Apperzeption überhaupt und deren Momente ein, also auf den Grund aller Objektivität, nicht auf die Anwendungsfälle; zudem hält er ausdrücklich an dem Unterschied zwischen der Notwendigkeit des Grundes und der Zufälligkeit des besonderen Inhalts fest. Und nicht zuletzt findet sich für dieses Verständnis ein Vorbild in Meier, beschreibt doch dieser die Herleitung des allgemeinen anschauenden Urteils ( = Nachurteil) aus dem einzelnen wie folgt: a) Man suche „den höhern Begriff, unter welchen das Subjekt g e h ö r t . . . b) Man suche die Bedingung des anschauenden Urteils, c) Man untersuche, ob sie in dem höhern Begriffe schlechterdings notwendig oder zufällig sei. In dem letzten Falle verbinde man sie mit dem Subjekte, und alsdenn kann man in beiden Fällen das Prädikat allgemein von dem höhern Begriffe bejahen . . . " (Auszug aus der Vernunftlehre, § 322, vgl. audi Vernunftlehre, § 356).

Es fragt sich jedoch, ob dies die einzige Interpretation ist. Schon Meier führt als zweite Möglichkeit der Herleitung des allgemeinen ( = Nach-) Urteils aus dem anschauenden die an, daß „man von allen Dingen einer Art . . . ein anschauendes Urteil fället, und alsdenn schließt, daß das Prädikat von der ganzen Art allgemein bejahet werden könne" (ib.). Auf Kant und sein Beispiel übertragen, heißt das, daß das Urteil: „Die Körper sind schwer" auch in der Beziehung als objektiv betrachtet werden kann, wie den Körpern qua Körpern die Schwere qua Schwere zugesprochen wird. Objektivität bezieht sich hier nicht nur auf den allgemeinen formalen Grund aller Bestimmung, sondern audi auf den besonderen materialen Inhalt. Da Objektivation des Wahrnehmungs- bzw. Empfindungskomplexes nichts geringeres verlangt als Darstellung desselben nicht allein i η der reinen Anschauung, sondern a l s reine Anschauung im Sinne eines physikalischen Konstrukts, wird im vorliegenden Fall für die subjektive Druckempfindung der Schwere (subjektive Form der Erscheinung der Erscheinung) ein objektives Pendant (objektive Form der Erscheinung der Erscheinung) verlangt, wenn der obige Anspruch zu Recht bestehen soll. Wie aus den naturphilosophischen Schriften Kants bekannt ist, handelt es sich bei diesem objektiven Pendant um die Dichte oder das spezifische Gewicht der Körper. Denn das, was s u b j e k t i v als relative

Objektivität - Subjektivität

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Schwere oder Leichtigkeit der Körper empfunden wird, ist ο b j e k t i ν nichts anderes als der Grad materieller Raumerfüllung, der bei verschiedenen Körpern verschieden ist und in Wägversuchen als deren Gewicht gemessen wird. Erfreulicherweise hat Kant selbst im Zusammenhang seiner Wahrnehmungstheorie auf die Korrelation zwischen subjektiver Schwere und objektiver Dichte hingewiesen, wenngleich an einem anderen Beispiel. Wenn er in Reil. 3142 sagt: „Ich erfahre nicht, daß das Gold dichter sei als Eisen, sondern daß es schwerer sei", so heißt das nichts anderes als: Ich erfahre unmittelbar (nehme wahr), daß Gold schwerer ist als Eisen, ich erfahre mittelbar (durch Schluß), daß es dichter ist. Der Forderung nach apriorischer Darstellung der Dichte ist Kant in den MA und im Op. p. nachgekommen. Nachdem er im 2. Hauptstüdc der MA die Möglichkeit einer apriorischen Konstruktion von Raumerfüllung überhaupt aufgezeigt hat durch Reduktion der diese konstituierenden bewegenden (repulsierenden und attrahierenden) Kräfte auf entsprechende Bewegungen, also Raum-, Zeitbestimmungen, geht er in der Allgemeinen Anmerkung zur Dynamik und so auch im Op. p. zum Nachweis einer apriorischen Konstruktion unterschiedlicher Raumerfüllung durch Reduktion der verschiedenen Grade der bewegenden Kräfte auf entsprechende Grade von Bewegungen über. Da allerdings die Konstruktion spezifischer Raumerfüllung im Unterschied zu der von Raumerfüllung überhaupt hinsichtlich ihrer objektiven Realität nicht a priori beweisbar ist bleibt das Urteil: „Die Körper sind dicht" ein hypothetisch objektives Erfahrungsurteil, das eines empirischen Beweises durch das Urteil: „Die Körper sind schwer" bedarf. Entsprechendes ließe sich auch vom Urteil: „Die Luft ist elastisch" (Prol., §§ 19, 20) zeigen; denn Elastizität ist nicht nur eine subjektive Wahrnehmung, wie man sie etwa bei einer Handbewegung gegen einen Luftstrom machen kann, sondern auch eine objektive Materieeigenschaft, und zwar die, „ihre durch eine andere bewegende Kraft veränderte Größe oder Gestalt bei Nachlassung derselben wiederum anzunehmen" (ΜΑ, IV, 529 47 ). Als eine Form von Repulsionskraft stellt sie ein objektives physikalisches Konstrukt dar 48 . Wir würden, sagt Kant im Op. p. (XXII, 341, 3), „kein Bewußtsein von einem harten oder weichen, warmen oder kalten etc. Körper a l s e i n e m s o l c h e n haben, 46

Vgl. ΜΑ, IV, 525. Gesp. v. Kant. « Vgl. ΜΑ, IV, 529 f. 47

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Unterscheidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese

wenn wir nidit vorher uns den Begriff von diesen bewegenden Kräften der Materie (der Anziehung und Abstoßung oder der diesen untergeordneten der Ausdehnung oder des Zusammenhängens) gemacht hätten und nun sagen könnten, daß eine oder die andere derselben unter diesen Begriff gehöre." Nicht zufällig finden wir daher das obige Beispiel zusammen mit einer Reihe anderer („Die Wärme dehnt die Körper aus" (Reil. 3141), „Alle Körper werden durch die Kälte dichter" (Reil. 3143) usw.), die Kant als solche Wahrnehmungsurteile auffaßt, die zu Erfahrungsurteilen werden können, in seinen naturwissenschaftlichen Schriften wieder. Von hier läßt sich auch erklären, warum bei der Transformation der Wahrnehmungs- in Erfahrungsurteile, etwa in den Sätzen: „Die Luft ist elastisch" oder: „Wenn ich einen Körper trage, so fühle ich einen Druck der Schwere", die Wahrnehmungen „Luft" und „Körper" durch den Begriff der Ursache und die von „Elastizität" und „Schwere" durch den der Wirkung bestimmt zu denken sind 49 . Eigenschaften wie „Elastizität", „Schwere" u. dgl. sind „Wirkungen" 50 jener Kräfte, die die Materie, sei es die flüssige (Luft) oder die feste (Körper), konstituieren; „Kraft" selbst aber ist nichts anderes als die „Kausalität einer Substanz" (KdrV, A 648 Β 676). Also müssen „Luft" und „Körper" als Kräfteprodukte unter den Begriff der Ursache und „Elastizität" und „Schwere" als Produziertes unter den der Wirkung fallen. „Die Luft ist durch ihre bewegenden Kräfte Ursache der Elastizität" ist sachlich gleichbedeutend mit: „Die Luft ist elastisch".

§5

Die Kriterien als Wechselbegriffe

Mit dem modalen Gegensatz: Notwendigkeit — Zufälligkeit, dem quantitativen: Allgemeinheit — Beschränktheit und dem qualitativen: Identität — Verschiedenheit, der dem von Objektivität — Subjektivität zugrunde liegt, sind die gesamten Kriterien namhaft gemacht, die Kant zur Abgrenzung der Gesetze und Regeln gegeneinander verwendet. Mit ihnen sind aber auch die gesamten Kriterien aufgeführt, die überhaupt zur Abgrenzung verwendet werden können. Denn ein relationaler Ge49

Die hypothetische Formulierung »wenn — dann" des letzten Beispiels ist irrelevant, da sich Wahrnehmungsurteile auch anders wiedergeben lassen, etwa durch Relativsätze oder Umstandsbestimmungen.

50

Vgl. KdrV, A 648 f. Β 676 f.

Die Kriterien als Wediselbegriffe

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gensatz wäre widersinnig, da relationale Bestimmungen zwar auf einer Relation bzw. Korrelation beruhen, aber gerade nicht auf einer Opposition S1, wie sie hier verlangt wird. Und andere quantitative, qualitative und modale Bestimmungen als die genannten scheiden deswegen aus, weil Allgemeinheit und Beschränktheit (Partikularität), ebenso Identität (Realität) und Verschiedenheit (Negation) die einzig denkbaren, formallogisch möglichen quantitativen und qualitativen Alternativen darstellen 52 und Notwendigkeit und Zufälligkeit, welche schon ihrer Klasse nach Opposita sind, auf Grund der Tatsache, daß sie die dritte Kategorie ihrer Klasse bilden, die hier wie in anderen Fällen aus der Verbindung der beiden ersten resultiert 53 , jene beiden ersten bereits in sich aufgenommen haben. Mit den genannten Merkmalen verwendet Kant Vorstellungen, die von Hause aus Kategorien oder, um einen Terminus zu gebrauchen, der auch die nichtschematisierbaren Opposita abdeckt, logische Formen sind. Obwohl ihrer ursprünglichen Funktion nach transzendentale Prädikate, d. h. Konstitutionsmomente der Gegenständlichkeit des Gegenstandes, werden sie hier zu einer generellen Kennzeichnung von Gesetzen und Regeln gebraucht, was immer deren besonderer Aussagegehalt bezüglich des Gegenstandes auch sein mag. Ihre ursprünglich materiale Verwendungsweise ist somit in eine formale transformiert. Hierin stimmen sie grundsätzlich überein mit jenen in KdrV, Β 113 ff. genannten Kriterien — dort sind es die Quantitätskategorien: Einheit, Vielheit, Allheit —, die, ebenfalls ihrer Herkunft nach Materialkriterien, als Formalkriterien, d. h. als „logische Erfordernisse und Kriterien aller E r k e n n t n i s der D i n g e überhaupt" (KdrV, Β 114) verwendet werden 54 . Die Möglichkeit eines solchen Gebrauchs wurde im vorhergehenden aufgezeigt. Für die Merkmale: Notwendigkeit — Zufälligkeit, Allgemeinheit — Beschränktheit ergibt sie sich aus der durchgängigen Verschränkung der Kategorien bzw. logischen Momente untereinander und für die Merkmale: Objektivität — Subjektivität aus ihrem Wesen als Grund aller Einzelkategorien bzw. logischen Momente. Nicht allein für die begriffliche Seite der Merkmale ist die aufgezeigte Verwendungsmöglichkeit konstitutiv, sondern auch für die anschauliche, sofern diese nachge51 52

53 54

Vgl. Prol., § 39 Anm. 3. Die dritte Bestimmung beider Klassen ist aus rein transzendentallogisdien Erwägungen eingeführt, vgl. KdrV, A 71 ff. Β 96 ff. Vgl. KdrV, Β 110 f. Mit den Formalkriterien schneidet Kant ein Problem an, das er selbst im Rahmen seiner Theorie nicht voll durchdiskutiert.

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Untersdieidungskriterien von Gesetz, Regel, Hypothese

wiesen werden kann. Wenn die einzelnen schematischen Bestimmungen wegen des interkategorialen Gebrauchs der ihnen zugrunde liegenden Kategorien in allen Einzelschemata wiederkehren, muß es sich bei ihnen um ganz allgemeine Bestimmungen der Sinnlichkeit handeln; in ihnen müssen Strukturen der Sinnlichkeit überhaupt ans Licht treten. Hierauf wird später noch ausführlich einzugehen sein. Jedes der Gegensatzpaare ist für sich allein notwendig, aber audi hinreichend zur Unterscheidung von Gesetzen und Regeln. Folglich kann eines stellvertretend für das andere einspringen, ebenso umgekehrt eines aus dem anderen gefolgert werden. So ist eine notwendige Aussage immer auch eine allgemeine und als eine notwendige und allgemeine selbstverständlich auch eine intersubjektive, genau wie eine zufällige Aussage immer auch eine beschränkte und subjektive ist. Kurzum, die Gegensatzpaare bilden „Wechselbegriffe" (Prol., § 19). Ihre gegenseitige Verweisung erklärt sich daraus, daß sie Auslegungsmodi eines und desselben Grundverhältnisses sind, jenes Verhältnisses von Ganzem und Teil nämlich. Ist daher einer der Auslegungsmodi gegeben, so lassen sich auch die übrigen aus ihm über das gemeinsame Grundverhältnis ableiten. Freilich darf dieser Vorgang nicht mit einer bloßen Begriffsanalyse verwechselt werden, bei der lediglich diejenigen Momente, die den spezifischen Inhalt des zugrunde gelegten Begriffs ausmachen, herausgestellt werden. Jener Vorgang ist gerade keine Explikation des zugrunde gelegten Begriffs als eines solchen, sondern eine der von ihm verschiedenen, selbständigen Begriffe; er ist paradoxerweise eine synthetische Explikation. Das allen gemeinsame Verhältnis von Ganzem und Teil aber verkörpert nichts anderes als die Struktur des Urteils selbst, besteht doch diese in einer Vereinigung mannigfaltiger Vorstellungen (der Teile) in Einem Bewußtsein (dem Ganzen). In dem Verhältnis selbst repräsentiert das Ganze, das sein Gegenteil ausschließt, das gesetzmäßige Urteil, der Teil, der sein Gegenteil zuläßt, das regelhafte.

II. Kapitel die Möglichkeit einer Begründung a priori von Naturgesetzen A. Die Grundlagen der metaphysischen §6

Deduktion

Der formale Charakter der Bedingungen

Nadi der Bestandsaufnahme der verschiedenen Arten reproduzibler Aussagen, die in Kants Theorie der Naturwissenschaft vorkommen, und der Analyse ihrer Unterscheidungskriterien sind wir nunmehr in der Lage, Rückschlüsse auf die Anforderungen eines Vorhabens zu ziehen, das der Begründung strenger, im eigentlichen Sinne so genannter Naturgesetze dient, und gleichzeitig damit den Maßstab zu setzen, an dem Begründungsart und -grad der davon unterschiedenen, nicht mehr gleicherweise streng zu nennenden Naturgesetze gemessen werden kann. Sprechen wir generell von Begründung, so meinen wir damit einen Ausweis von etwas aus etwas. Wir bezeichnen mit diesem Begriff ein Verfahren, das durch Angabe von Gründen eine Sache zu erklären und dadurch gleichzeitig auch zu legitimieren sucht. Erfordert wird ein solches, wenn die Sache nicht aus sich selbst verständlich ist. In diesem Falle bedarf es des Rückgangs auf anderes und, sollte dieses andere nicht für sich verständlich sein, des noch weiteren Rückgangs und so fort, bis man an ein für sich Verständliches gelangt, aus dem das Zu-Verstehende herleitbar ist. Begründung ist somit grundsätzlich relational bestimmt; sie basiert auf einem Verhältnis zwischen einem Bedingten und seiner Bedingung bzw. seinem Bedingungskomplex. Die Unausweichlichkeit speziell einer Begründung der Naturgesetze ergibt sich für Kant daraus, daß diese, in genauem Sinne dasjenige, was an ihnen das Gesetzmäßige ausmacht, nämlich die im vorigen Kapitel zusammengestellten Kriterien der Notwendigkeit, Allgemeinheit und Intersubjektivität, nicht aus sich selbst begreiflich sind. Sie sind begreiflich allein aus der Ubereinstimmung mit entsprechenden notwendigen,

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Möglichkeit einer Begründung a priori von Naturgesetzen

allgemeinen, intersubjektiven Bedingungen Folglich sind sie respektiv, d. h. in Hinblick, in Bezug auf besagte Bedingungen zu betrachten; als Bedingtes erlangen sie erst von diesen her ihren Sinn. Allerdings sind auch die notwendigen, allgemeinen, intersubjektiven Bedingungen nicht aus sich selbst verständlich; denn sonst wären sie ein Absolutes, für das das Fehlen jeder angebbaren Bedingung konstitutiv ist, deswegen, weil es alle Bedingungen außerhalb seiner in sich hineinnimmt, mithin selbst den ganzen Umfang der Bedingungen ausmacht. Vielmehr lassen sich die fraglichen Bedingungen selbst nur relational charakterisieren, und zwar in Beziehung auf das Bedingte, so daß sich ein zirkulärer, interdependenter Verweisungs- und Ausweisungszusammenhang ergibt. Die Gesetze werden im Rückgang auf das bewiesen, was selbst nur im Rückgang auf sie beweisbar ist 2 . Für Kant liegt in einem solchen Kreisgang das Wesen unserer Erkenntnis, wir werden ihm daher in allen Grundverhältnissen wiederbegegnen. Ist wechselseitige Bezogenheit die Grundstruktur der Gesetzesbegründung, so wird man, um dem Problem gerecht zu werden, zum einen auf die B e d i n g u n g e n im Ausgang vom Bedingten, zum anderen auf die B e z i e h u n g der Bedingungen zum Bedingten rekurrieren müssen. In der ersten Untersuchung gilt es, die Voraussetzungen zu klären, die erfüllt sein müssen, damit die Bedingungen geeignete Repräsentanten der Notwendigkeit, Allgemeinheit und Intersubjektivität der Gesetze abgeben. Zu diesem Zweck sind Beschaffenheit und Ursprung derselben zu klären. In der zweiten gilt es zu ermitteln, inwiefern die Notwendigkeit, Allgemeinheit und Intersubjektivität der Bedingungen zugleich eine des Bedingten sein kann. Das Problem ist hier das der möglichen Geltung der Bedingungen bezüglich des Bedingten. In diesen beiden Untersuchungsrichtungen wird man leicht die Aufgabenstellungen von metaphysischer und transzendentaler Deduktion 3 wiedererkennen. Beide sollen im folgenden gesondert ins Auge gefaßt und auf ihre Grundprobleme hin entfaltet werden. 1

2

3

Hieraus erklärt sich übrigens der ambivalente Gebrauch der Kriterien, indem sie sowohl zur Bezeichnung des Bedingten wie zu der des Bedingenden verwendet werden. Vgl. KdrV, A 737 Β 765, dazu Heidegger (2), 187 f., der zuerst nachdrücklich hierauf hingewiesen hat. Zur Terminologie: Die scharfe terminologische Unterscheidung von metaphysischer und transzendentaler Deduktion („Deduktion" bedeutet nach Kant „Rechtfertigung" im juristischen Sinne [vgl. KdrV, A 84 Β 116]) findet sich erst in der 2. Aufl. der KdrV, wenngleich sie sachlich schon in der 1. vorliegt. Genau genommen deckt der Terminus „metaphysische Deduktion" nur die metaphysische Rechtfertigung der be-

Der formale Charakter der Bedingungen

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Während die metaphysische Deduktion im corpus der KdrV als eine Deduktion einzelner Bedingungen teils begrifflicher, teils anschaulicher Art auftritt, der Kategorien einerseits, des Raumes und der Zeit andererseits, und das Ziel hat, durch Reduktion derselben auf je ein gemeinsames Prinzip: auf die apriorische Form intellektueller Spontaneität überhaupt bzw. auf die apriorische Form sinnlicher Rezeptivität überhaupt den formalen, apriorischen Charakter der Bedingungen aufzuzeigen, ist hier die Absicht, noch einen Schritt darüber hinaus den formalen, apriorischen Charakter der Prinzipien selbst zu rechtfertigen. Allerdings kann dies nicht durch eine Reduktion auf ein noch ursprünglicheres Prinzip als Verstandes- und Sinnlichkeitsform überhaupt, quasi auf eine gemeinsame Wurzel beider, geschehen. Denn Verstandes- und Sinnlichkeitsform sind das letzte uns Erreichbare; jeder Legitimationsversuch vollzieht sich bereits in ihrem Rahmen. Wie läßt sich unter diesen Umständen überhaupt eine Rechtfertigung denken? grifflidien Bedingungen (Kategorien) (vgl. K d r V , Β 159), während für die der anschaulichen (Raum und Zeit) der Terminus „metaphysische Erörterung" steht (vgl. K d r V , Β 37, Β 46). Der Ausdruck „transzendentale Deduktion" hingegen — der bereits der 1. Aufl. angehört — wird sowohl für die entsprechende Rechtfertigung begrifflicher wie anschaulicher Bedingungen verwendet (vgl. für beide gemeinsam: K d r V , A 84 Β 116 Überschrift, A 85 Β 117; speziell für die ersteren: A 88 Β 120, Β 129 Überschrift, Β 159 usw.; speziell für die letzteren: A 87 Β 119 f., A 88 Β 120, A 88 Β 121, Prol., § 12). Allerdings reserviert K a n t diesen Begriff in der 2. Aufl. zumeist für die Kategorien, während er für Raum und Zeit den Begriff „transzendentale Erörterung" einführt (vgl. K d r V , Β 40, Β 48). D i e Tatsache, daß diese Termini nur im Zusammenhang ursprünglicher Bedingungen, nicht audi in dem abgeleiteter, ζ. B. der Prädikabilien oder der Bewegung auftreten, ist kein Indiz dafür, daß von den letzteren Deduktionen unmöglich wären. Das Fehlen soldier dürfte so zu erklären sein: In der K r i t i k und den in ihren U m kreis gehörigen Sdiriften beabsichtigt K a n t zunächst nur die Grundlegung seines philosophischen Systems, die Explikation der Prinzipien desselben (Kategorien, Raum, Zeit), noch nicht den Ausbau, also nodi nicht die Explikation der abgeleiteten Bedingungen. Infolgedessen wird man hier vergeblich nadi Deduktionen der letzteren suchen. D a ß sich jedoch auch in den M A und im Op. p. keine finden — ein Umstand, der Interpreten und Kommentatoren immer wieder zu eignen Versuchen veranlaßt — , resultiert daraus, daß die hier thematisierten abgeleiteten Bedingungen Zusammensetzungen ursprünglicher sind, und zwar von der Art, daß mit der Zusammensetzung zugleich eine analytische Übertragung der Ergebnisse von metaphysischer und transzendentaler Deduktion stattfindet (vgl. § 15, 143 ff.), die eigne Deduktionen prinzipiell erübrigt. D e r in Μ Α , I V , 481 gebrauchte Terminus „metaphysische Erklärung", der sich dort auf die durch Bewegung charakterisierte Materie bezieht, hat nichts zu tun mit der hier vorliegenden Unterscheidung. E r dient der Abhebung einer Erklärungsart, die bewegliche Materie im „Verhältnis zum Erkenntnisvermögen" betrachtet (metaphysisch), von einer, die sie als „ O b j e k t " , d. h. hier Ding an sich nimmt (transzendent).

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Möglichkeit einer Begründung a priori von Naturgesetzen

In der gegenwärtigen philosophischen Diskussion besteht die Tendenz, sidi in der Frage der Letztbegründung auf die Sprache zu berufen und damit auf ein intuitives, nicht weiter hintergehbares, nur durch Sprachbeherrschung vergewisserbares Verständnis von Anwendungs- und Bedeutungsregeln der Wörter, das jedem zugestanden werden muß, der in einer Sprache heimisch ist und sich in ihr sinnvoll zu bewegen vermag. In der rationalistischen Philosophie Kants hingegen, die einer solchen linguistischen Position grundsätzlich entgegensteht, fungiert als oberstes Prinzip die Vernunft, das Erkenntnis- oder Einsichtsvermögen, das jeder Mensch, sofern er sich als animal rationale versteht, besitzt. Jedes Theorem, letztlich die ganze Theorie bemißt sich danach, ob sie für ein v e r n ü n f t i g e s , e i n s i c h t i g e s Wesen die größtmögliche Plausibilität aufweist. Dieser Maßstab ist auch bei der Lösung der Grundprobleme der metaphysischen Deduktion, bei der Erklärung von Formalität und Apriorität der Verstandes- und Sinnlichkeitsform, zugrunde zu legen. So stellt die menschliche Erkenntnis selbst diejenige Bedingung dar, von der her jene Charaktere ihre Legitimation erhalten müssen. Daraus bestimmt sich konkret unsere Aufgabe: 1. Es gilt zu zeigen, von welcher Beschaffenheit die gesetzesbegründenden Bedingungen sein müssen, um im Rahmen menschlicher Erkenntnismöglichkeit überhaupt als Kandidaten notwendiger, allgemeiner, intersubjektiver Bedingungen in Frage zu kommen. 2. Es gilt zu zeigen, von welchem Ursprung die Bedingungen sein müssen, um von uns tatsächlich als Repräsentanten von Notwendigkeit, Allgemeinheit und Intersubjektivität eingesehen werden zu können. Einer alten Tradition zufolge unterscheidet Kant zwei Arten von Bedingungen: formale und materiale. Es handelt sich hierbei um Arten, die sich reziprok verhalten. So macht es nur Sinn, von Form relativ auf ein Ungeformtes, aber Formbares zu sprechen, für das die Form formgebend ist, wie es umgekehrt auch nur Sinn macht, von Materie relativ auf eine Form zu sprechen, für die die Materie das amorphe, freilich formbare Material darstellt. Die Form ist in dieser Relation das Bestimmende oder, wie Kant in KdrV, A 266 Β 322 sagt, die „Bestimmung", mag sie nun als äußere Gestalt, Figur, Umriß oder als innere Struktur, Gliederung, Ordnung auftreten, die Materie das „Bestimmbare" (ib.), das je nach Bereich als Stoff, Inhalt oder Gehalt begegnet. Was nun unsere Frage nadi der Qualifikation der beiden Bedingungsarten als Kandidaten notwendiger, allgemeiner, intersubjektiver Bedingungen betrifft, so würde aus der Korrelation und der mit ihr verbun-

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denen Gleichrangigkeit, wenn nur diese und keine weitere Bedingung ausschlaggebend wäre, folgen, daß sich grundsätzlich beide Bedingungsarten eigneten. Welche von ihnen gewählt würde, hinge allein vom Ausgangspunkt ab. Es gibt gute Gründe, von der Form auszugehen, wie dies folgende Beispiele demonstrieren mögen. Wenn der Handwerker in eine Gußform einmal geschmolzenes Eisen, ein andermal geschmolzenes Kupfer, ein drittes Mal Gold füllt, wenn der Bildhauer eine bestimmte Gestalt seiner Phantasie einmal dem Marmor, ein andermal dem Sandstein, dann dem Granit aufprägt, wenn der Dichter in Epigrammen einmal lehrreichen, einmal persiflierenden Inhalt ausdrückt oder das Erkenntnisvermögen in die Zeitform einmal diese, einmal jene Eindrücke aufnimmt, dann erweist sich in all diesen Fällen die Form als konstant, die Materie als variabel. Die Form ist Eine für eine Vielzahl von Stoffen, ein Singular gegenüber einer Pluralität, ein für alle Gültiges; sie ist zugleich auf Grund dieser Allgemeinheit ein Notwendiges, eines, das wegen seiner umfassenden Kompetenz gar nicht anders sein kann, als es ist; und sie ist zum weiteren in Anbetracht ihrer Gültigkeit für diverse Stoffe ein Einfaches, Gleichartiges, folglich für alle Subjekte Gleichverbindliches. Demgegenüber können die austauschbaren Stoffe nur für Partikuläres, Kontingentes und Differentes ( = Subjektives) gelten. Doch mit gleichem Recht läßt sich die entgegengesetzte These vertreten. Man könnte ζ. B. argumentieren, daß sich in denselben Marmorblock ebensowohl diese wie jene Gestalt meißeln lasse, daß sich der Inhalt der Goetheschen Iphigenie ebensowohl in Prosa wie in Versen wiedergeben lasse, daß sich ein bestimmtes logisches Begriffsmaterial ebensowohl in kategorischer wie hypothetischer Urteilsform verknüpfen lasse. Hier ist die Materie, sofern sie die Möglichkeit zu vielfältiger Formgebung enthält, das Allgemeine, allen Formen zugrunde liegende Eine, die Formen hingegen das Partikuläre; hier ist die Materie, sofern sie die Möglichkeit zu diverser Formgebung enthält, das selbst Einheitliche, folglich auch allen Subjekten gleichartig Zugängliche, die Formen hingegen das Differente, verschiedenen Subjekten auch verschiedenartig Zugängliche; und hier ist die Materie, sofern sie die Möglichkeit zur gesamten diversen Formgebung enthält, das Notwendige, die Formen hingegen das Kontingente. Daß sich Kant der grundsätzlichen Möglichkeit, formale wie materiale Bedingungen als Träger von Notwendigkeit, Allgemeinheit und Intersubjektivität zu betrachten, sehr wohl bewußt war, bezeugen meh-

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rere Stellen seines Werks; man vergleiche etwa KdrV,A266 ff. Β 322 ff., A 617 f. Β 645 f. Wenn er dennoch die einen den anderen vorzieht, müssen hierfür externe Gründe verantwortlich sein; denn interne können es, wie wir sahen, nicht, weil wegen des reziproken Verhältnisses absolute Gleichrangigkeit besteht. Ein solch externer Grund ist das eingangs erwähnte Prinzip der menschlichen Erkenntnisfähigkeit. Berufen wir uns auf das menschliche Erkenntnisvermögen, so berufen wir uns auf den Standpunkt eines endlichen, begrenzten Erkenntniswesens im Gegensatz zu dem eines intellectus infinitus. Endlichkeit, Begrenztheit ist das Spezifikum unserer Erkenntnisverfassung. Dieser Struktur muß natürlich gemäß sein, was wirklich erkannt werden will; denn was nützen Bedingungen, die zwar an sich notwendig, allgemein und intersubjektiv sein mögen, doch von uns niemals als solche erkannt werden können. Resultiert nicht aus dieser Forderung ein Widerspruch? Einerseits sollen und müssen die Bedingungen Unendlichkeitscharakter aufweisen, um dem Merkmal der Allgemeinheit und den übrigen damit verbundenen Eigenschaften zu genügen, andererseits sollen sie Endlichkeitscharakter haben, um einem endlichen Erkenntniswesen zugänglich zu sein. In der Tat wäre dies der Fall, wenn unter Unendlichkeit ausschließlich die aktuale zu verstehen wäre. Dann nämlich müßten die Bedingungen als Substrate ungeheurer Größe angenommen werden, um die Gesamtheit der Dinge in sich befassen zu können, wodurch sie freilich für uns unausmeßbar würden. Doch hindert uns nichts an einer potentiellen Unendlichkeitsauffassung. Da diese sich auf die Annahme einer bloßen Möglichkeit unbegrenzter Anwendung von an sich begrenzten Bedingungen beschränkt, ist sie nicht allein mit der Endlichkeitsforderung verträglich, sondern ihr auch vorzüglich angemessen. Wir haben zu prüfen, ob die beiden als grundsätzlich notwendig, allgemein und intersubjektiv interpretierbaren Bedingungsarten diesem Kriterium standhalten und unserer Erkenntnissituation entsprechend als endlich und dennoch zugleich potentiell unendlich aufgefaßt werden können. In der Geschichte der Naturphilosophie hat es weder an Versuchen gefehlt, die Form als aktual unendlich zu deuten, als riesigen Behälter oder riesiges Gefäß, geeignet, das gesamte materielle Universum aufzunehmen — man denke nur an Newtons absoluten Raum und absolute Zeit, welche nichts anderes als solche riesigen Weltschachteln waren 4 —, noch an Versuchen, die Form ihrer Beschaffenheit nach als endlich, ihrer 4

Vgl. Diss., § 15, Refl. 4673 (gegen Ende).

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Applikabilität nach als unendlich zu deuten. Voraussetzung der letzteren Auffassung ist ein bestimmtes Verständnis von Form, nicht als Behälter oder Gefäß für einen Inhalt, sondern als Art und Weise der Strukturierung eines Stoffs, als „Wie" seiner Verarbeitung. Allererst hiermit eröffnet sich die Möglichkeit, die Form als ein bestimmtes, eingrenzbares, endliches Prinzip zu interpretieren, das sich beliebig am Stoff zu wiederholen vermag. Den Unterschied beider Fassungen kann man sich am einfachsten an folgendem Beispiel verdeutlichen: Spricht man vom Raum als Behältnis des Universums, so denkt man sich ihn als ein unendlich großes Gefäß von der Art der Newtonschen Weltschachtel, spricht man dagegen vom Raum als Art und Weise der Strukturierung des Universums, so denkt man sich ihn als ein in sich endliches Ordnungsschema, das sich unendlichfach iteriert. In dieser Fassung ist die Form vergleichbar mit einer Gebrauchsanweisung, einer Konstruktionsvorschrift u. ä. Form also ist eine bestimmte endliche Weise mit einer unendlichen Möglichkeit, in Kants Terminologie: sie ist die Bedingung der Möglichkeit, so wie beispielsweise die Raumform die Bedingung der „Möglichkeit des Beisammenseins" ist (KdrV, A 374, vgl. Refl. 4512, 4515). Mit ihrer Endlichkeit hängt weiter zusammen, daß sie isoliert vom materiellen Universum, für sich, betrachtet werden kann. Versucht man, in Analogie hierzu auch Materie als endliches Prinzip mit einer unendlichen Möglichkeit zu interpretieren, so gerät man in Widerspruch mit ihrer Wesensbeschaffenheit, derzufolge sie das Bestimmbare, der Stoff, das „Was" der Verarbeitung ist, das als solches jede bestimmte endliche Form als Art der Verarbeitung schon überstiegen hat. Materie läßt sich daher nur als aktual Unendliches ansetzen, mit Kants Worten, als „unbegrenzte Realität" (KdrV, A 266 Β 322). Da einem solchen Prinzip nur eine Totalerfahrung angemessen ist, diese für ein endliches Erkenntniswesen zwar ein anstrebbares, jedoch nie erreichbares Ziel darstellt, gibt es für ein solches Wesen keine Möglichkeit, Materie als notwendige, allgemeine, intersubjektive Bedingung zu erkennen. Alles, was von ihr bekannt werden kann, sind Ausschnitte, die als endliche, begrenzte audi zufällig und unterschiedlich und somit für verschiedene Subjekte verschieden sind. Man wird einwenden wollen, daß Kant durchaus eine potentielle Unendlichkeitsauffassung der Materie kenne und damit auch die Möglichkeit zu einem Notwendigkeits-, Allgemeinheits- und Intersubjektivitätsverständnis der Materie im Rahmen menschlicher Erkenntnisfähigkeit besitze; denn was vor allem im Op. p. (Ubergang 1—14) unter dem

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Namen „Ätherdeduktion" abgehandelt wird, stellt nichts anderes als einen diesbezüglichen Legitimationsversuch dar. Faßt man die mannigfaltigen Skizzen, Ausführungen, häufig auch nur Gedankenfetzen in ihrem Kern zusammen, so geht es in ihnen darum, Materie als Pendant der Form als notwendige, allgemeine, intersubjektive Bedingung der Erfahrung auszuweisen. Wie ist das möglich? Nicht auf direktem "Wege, indem man von der tatsächlich angestellten Erfahrung, von dem, was in dieser auf Sinnesdaten beruht, auf Materie als Ursache schließt. Denn da jeder Schluß von einer Wirkung auf eine bestimmte Ursache unzuverlässig ist 5 , gelangt man auf diese Weise zu nie mehr als einem ,hypothetischen Stoff, den ich aus aller meiner Vorstellung herausvernünfteln kann* (Op. p., XXI, 230, 14). Der Beweis muß indirekt erfolgen, derart, daß nicht aus der Erfahrungswirklidikeit, sondern aus der Erfahrungsmöglichkeit, d. h. aus dem Begriff der Erfahrung, und zwar analytisch nach dem Identitätsprinzip auf Materie als Implikat geschlossen wird 6 . Allein auf diesem Wege läßt sich Materie als ein ebenso unumgänglicher Ermöglichungsgrund der Erfahrung ausmachen wie Form, als einer, bei dessen Ausbleiben Erfahrung sowenig zustande kommt wie beim Ausbleiben der Form. Als ein zwar nicht formaler, sondern materialer Ermöglichungsgrund berechtigt er zu der Aussage: Wo immer Erfahrung stattfindet, existiert audi Materie. Ob allerdings immer Erfahrung stattfindet, ist eine Frage, die zu entscheiden nicht im Vermögen eines endlichen Erkennniswesens steht. Für die Materie hat dies zur Konsequenz, daß sie sich zwar als notwendige, allgemeine, intersubjektive Bedingung interpretieren läßt, jedoch nur in regulativem Sinne, d. h. als Postulat einer unendlichen Erfahrungskontinuierung. Materie hat demnach den Status einer Idee, eines Leitfadens zur Totalität. Zweifellos ist sie damit als ein endliches Prinzip von unendlicher Potenzierung zu betrachten. Man muß sich aber kritisch fragen, ob Materie selbst ein solches Prinzip verkörpert oder nur durch ein solches aufgefaßt wird. Die Frage beantwortet sich von selbst; denn Materie ist nicht selbst eine Idee, d. h. ein Vernunftbegriff, der als Form stets ein endliches Prinzip, wenngleich von unendlicher Anwendbarkeit ist, sondern nur der Inhalt eines solchen. Hieraus erhellt, daß Materie samt ihren Eigenschaften Notwendigkeit, Allgemeinheit, InterSubjektivität immer nur mittels einer endlichen

5 6

Vgl. dazu KdrV, Β 276, KdpV, 256, Refl. 2679. Vgl. Op.p., XXI, 229,15; 233,5; 538,22; 542,26; 548,14; 559,5; 573,6; 600,23 usw.

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Form faßbar ist, ohne deren Vermittlung aber für sich nicht vorgestellt werden kann. Als Quintessenz ergibt sich aus unseren Überlegungen, daß Materie an sich genauso wie Form als notwendige, allgemeine, intersubjektive Bedingung fungieren könnte, jedoch unter dem Gesichtspunkt der Faßlichkeit für ein endliches Erkenntniswesen ausscheidet. In betreff dieses Kriteriums bleibt nur die Form als Kandidat übrig. Von einer endlichen Erkenntnisart, der wir als Menschen nicht zu entrinnen vermögen, aber ist im ganzen Kantischen Werk nur die Rede. Bekanntlich unterscheidet Kant zwei Formarten, von denen die eine ihrem Wesen nach eine Einheitsform 7 , die andere eine Mannigfaltigkeitsform 8 ist 9 1 0 . Der Unterschied ist grundsätzlicher Natur: beide Formarten sind vollkommen unabhängig voneinander und selbständig bestimmt und daher audi nicht aufeinander reduzierbar. Aus diesem Grunde stellt die Mannigfaltigkeitsform nicht einfach eine Multiplikation der Einheitsform dar, wozu der Ausdruck „Mannigfaltigkeit" oder „Mannigfaltiges", mit dem Kant diese Form charakterisiert, verleiten könnte. Denn solcherart wäre sie nicht nur keine eigenständige, sondern auch keine singulare Form, also nicht Eine, sondern eine Pluralität von Formen, und zwar ein Komplex absolut isolierter, diskreter, obzwar nachträglich untereinander beziehbarer Einheitsformen von gerade der Struktur, von der Leibniz sich die Anschauung denkt, die für ihn ein bloßes Derivat der Verstandeseinheit ist. Der Ausdruck „Mannigfaltigkeit", „Mannigfaltiges" bezeichnet also nicht eine punktuelle, atomare, sondern eine extensionale Struktur, die man sich als Ausdehnung, Ausspannung, Erstreckung, Distanz u. ä. vorzustellen hat. Genauigkeitshalber sollten daher beide Formen besser als Einheits- und Extensionalitätsform gegeneinander abgegrenzt werden. Bei dieser Konzeption ist es ausgeschlossen, die Einheitsform als Kontraktion der Extensionalitätsform oder die Extensionalitätsform als Expansion der Einheitsform zu deuten, etwa wie man sich in der Geo7 8

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Vgl. KdrV, Β 131 ff. Vgl. KdrV, Β 160 Anm.: „Die F o r m d e r A n s c h a u u n g [gibt] b l o ß Mannigfaltiges", ferner A 99. Auf die sachlichen Motive dieser Unterscheidung kann im Rahmen dieser Arbeit nidit mehr eingegangen werden; vgl. hierzu Reich (2), X I V ff. In gegenwärtiger Exposition des Problems muß von der Frage des Ursprungs der Formen, ob im Subjekt (Verstand und Sinnlichkeit) oder Objekt, noch völlig abstrahiert werden. Die Formen bezeichnen hier nur die Arten und Weisen, in denen wir etwas gedanklidi oder anschaulich erfassen.

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metrie die Gerade als Erweiterung des Punktes, die Ebene als Erweiterung der Geraden (Punktmannigfaltigkeit) usw. denkt. Denn was sind Kontraktion und Expansion anderes als Bewegungen? Das ontologische Verständnis von Bewegung aber setzt zum einen einen fixierten Anfangsund Endpunkt voraus, worin das exakte begriffliche Denken sich bekundet, zum anderen sowohl einen zwischen Anfangs- und Endpunkt sich erstreckenden Raum, den es zu durchlaufen gilt, als audi eine zum Durchlaufen benötigte Zeit, worin das extensionale Anschauen sich bekundet, so daß die Komponenten, die aus Bewegung hatten erklärt werden sollen, in ihr insgesamt bereits vorausgesetzt sind. Die Tatsache, daß Punktualität und Extensionalität in jeder konkreten Erkenntnis verbunden auftreten, daß die eine nicht ohne die andere definitiv vorgestellt werden kann, darf uns nicht hindern, beide in abstracto zu separieren. Einen präzisen Begriff von Extensionalität vermag man selbstverständlich nur zu geben, wenn man sie als Relationssystem 11 denkt. Denn da Relation ein Verhältnis zwischen R e 1 a t a meint, selbst wenn es sich bei diesen um bloße Leerstellen für mögliche Entitäten handelt — in einem Verhältnis verhält sich stets e t w a s zueinander —, läßt sich das, was zwischen den Relata liegt, exakt als Abstand, Spanne usw. derselben fassen. Der exakte Begriff von Extensionalität ist daher ein Gefüge von Beziehungen und Zuordnungen i m a g i n ä r e r P u n k t e . Ebenso läßt sich auch Einheit genau nur als punktuelles Element einer E x t e n s i o n verstehen, nicht als Absolutum ohne jeglichen Extensionalitätsbezug. Von einem Punkt zu sprechen macht nur Sinn, wenn man damit ein Element auf einer Linie, einer Fläche, in einem Zeitverlauf, einem Bewegungsvollzug usw. meint, kurzum eine herausgehobene Markierung einer E x t e n s i o n . Um aber überhaupt exakte Begriffe bilden zu können, bedarf es zunächst einer ausdrücklichen Unterscheidung und Abgrenzung der Elemente. Sind Einheits- und Extensionalitätsform die beiden möglichen, spezifisch verschiedenen Formen, so müssen sie audi Notwendigkeit, Allgemeinheit und Intersubjektivität auf spezifisch verschiedene, ihrer jeweiligen Eigenart angepaßten Weise verkörpern. Beim Versuch, die Spezifiktion nachzuvollziehen, sieht man sich allerdings der Schwierigkeit konfrontiert, daß sich eine generische Notwendigkeit, Allgemeinheit und Intersubjektivität nicht mehr angeben läßt, obwohl Kant mit ziemlicher 11

Vgl. KdrV, Β 67: „Die Form der Anschauung" enthält „nichts als bloß Verhältnisse", außerdem A 22 f. Β 37, Β 66 f., Refl. 4512, 4515, 4673.

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Unbekümmertheit obige Merkmale gemeinsam für Einheits- und Extensionalitätsform verwendet. Sobald Notwendigkeit, Allgemeinheit und Intersubjektivität auftreten, treten sie in spezifischer Modifikation auf. Die einzig angebbare gemeinsame Bedingung, unter der sie selbstverständlich stehen müssen, ist die Bedingung ihrer Erkennbarkeit. Wie können wir uns nichtsdestoweniger zumindest vorläufig eine Auffächerung plausibel machen? Hier ist nun daran zu erinnern, daß wir im 1. Kapitel der Arbeit bei der Analyse der in Frage stehenden Merkmale und ihrer Gegensätze auf einen allen gemeinsamen Grund stießen, und zwar auf den Gegensatz von Ganzem und Teil. Er erwies sich als offen sowohl gegenüber einer begrifflichen wie anschaulichen Interpretation. Von ihm müssen wir daher beim gegenwärtigen Stand der Erörterung ausgehen. Die genaue Bestimmung seines Erkenntnisstatus sowie die Klärung der Beziehung zwischen begrifflicher und anschaulicher Interpretation muß späterer Untersuchung vorbehalten bleiben 12. In bezug auf jenen Gegensatz waren Notwendigkeit und Zufälligkeit als die modalen Aspekte desselben bestimmt worden. Der Notwendigkeit — nur diese interessiert uns im folgenden — kam es dabei zu, gemäß ihrer Definition als „Unmöglichkeit des kontradiktorischen Gegenteils" das Ganze zu repräsentieren und dies im Sinne eines Vollkommenen, Suisuffizienten zu deuten. Denn das nennen wir eben vollkommen und suisuffizient, was auf Grund eines gewissen Totalitäts- und Geschlossenheitscharakters nur mit sidi selbst übereinstimmt und nur in sich selbst Genüge findet. Hinzuweisen ist noch darauf, daß das Vollkommene, da es sein Gegenteil ausschließt, weil es sonst ein Unvollkommenes wäre, in der Verfassung, in der es existiert, unabänderlich existiert; seine Verfassung ist also wesenskonstitutiv. Daher sind Vollkommenheit, Selbstgenügsamkeit und Wesenseigentümlichkeit zwei untrennbare Interpretamente von Notwendigkeit. Unsere Frage geht nun dahin, wie ein solcher Charakter sich in einer Einheitsform und wie in einer Extensionalitätsform manifestiert. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß eine Einheitsform Vollkommenheit gar nicht anders ausdrücken kann als in und durch ihre Einheit. Das Eine ist hier zugleich das Ganze, welches Totalitäts- und damit auch Vollkommenheitscharakter aufweist. Anders herum gesagt: das Ganze tritt hier in Form des Einen-Ganzen, des εν και πάν, auf. Es kann dies auch, weil das kontradiktorische Gegenteil der Einheit, nämlich " § 11, 101 ff.

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Mannigfaltigkeit, anstelle der Einheit nicht denkbar, mithin logisch unmöglich ist; denn wäre es denkbar, logisch möglich, so wäre die Einheitsform nicht nur unzulänglich, nidit nur kein letztes und höchstes, ursprüngliches Prinzip unserer Erkenntnis, sondern sie wäre überhaupt nicht das, was sie ihrem Wesen, ihrem So-und-nicht-anders-sein-Können nach ist, nämlich Einheitsform. Naturgemäß muß eine Extensionalitätsform Vollkommenheit anders wiedergeben als eine Einheitsform, und zwar ihrer Eigenart entsprechend als Unendlichkeit, Unbegrenztheit, Schrankenlosigkeit. Erstrekkung kann nur dann für umfassend und vollkommen gelten, wenn sie sich ohne Anfang und Ende, ohne Erstes und Letztes erstreckt. Also nicht in Gestalt des Einen-Ganzen, sondern in der des Unendlichen-Ganzen präsentiert sich hier das Ganze. Die infinite Struktur ist der Extension insofern wesenhaft, als das kontradiktorische Gegenteil, nämlich endliche, limitierte Struktur, gar nicht angeschaut werden kann, ohne daß damit das Wesen der Extension aufgehoben würde. Die Möglichkeit, endliche, begrenzte Extension anzuschauen, hieße daher nicht nur Aufgabe des Vollkommenheitscharakters dieser Form, in welchem ihre Auszeichnung als zweites ursprüngliches Erkenntnisprinzip neben der Einheitsform besteht, sondern auch Aufgabe der Wesenseigentümlichkeit als Extensionalitätsform. Hierfür findet sich bei Kant ein Beleg13. In einem Entwurf zur Transzendentalen Ästhetik der KdrV (Reil. 4673) benutzt Kant an mehreren Stellen 14 ein Argument zur Begründung der Unendlichkeit der extensionalen Form — hier speziell von Raum und Zeit —, das besagt, daß die Fähigkeit, auf bestimmte Weise zu empfangen, keine Schranken haben könne. Allerdings ist das Argument zunächst mehrdeutig. Meint Kant, die Unendlichkeit des Raumes und der Zeit begründe sich aus der F ä h i g k e i t , dem V e r m ö g e n , etwas zu tun oder zu erleiden 1S, oder aus der R e z e p t i v i t ä t als einer besonderen Weise der Verarbeitung des Erkenntnisstoffs 16 oder aus der S t r u k t u r der Rezeptivität 17 ? Als Spezifikum der Unendlichkeitsbegründung 13

14 15 16 17

Den Hinweis auf die folgende Textstelle sowie das in ihr enthaltene Argument verdanke idi D. Henrich, der in einer Vorlesung über Kants Erkenntnistheorie im Winter 1970/71 darauf aufmerksam machte. XVII, 637, 638, 641. So könnte XVII, 638 gelesen werden. Vgl. besonders XVII, 641 (möglicherweise auch 638). Vgl. insbesondere XVII, 637.

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extensionaler Formen scheidet die F ä h i g k e i t aus; denn jede Fähigkeit bzw. jedes Vermögen, ob zu rezeptivem oder spontanem Verhalten, impliziert eine gewisse Unendlichkeit, nämlidi eine im Sinne unendlicher Ausübungs- oder Anwendungsmöglichkeit. In dieser Beziehung ist die Einheitsform des Denkvermögens genauso unendlich zu nennen wie die Extensionalitätsform des Anschauungsvermögens. Aber audi die Rezeptivität oder Empfänglichkeit selbst als h i n n e h m e n d e , a u f n e h m e n d e Weise der Verarbeitung eines Stoffs kann nicht gemeint sein; denn bloße Aufnahmefähigkeit verhält sich indifferent gegenüber einer spezifisdien Struktur. Sie könnte ebensowohl eine endliche, begrenzte Einheit aufnehmen, wie sie bei unserer Sinnesverfassung ein unendliches, unbegrenztes Mannigfaltiges aufnimmt. Offensichtlich eignet sich nur die S t r u k t u r der Rezeptivität, die Art der Aufnahme eines Mannigfaltigen qua Mannigfaltigen, sei es in der kopräsenten oder sukzessiven Form, wie denn auch Kant in XVII, 637 in bezug auf die Zeit ausdrücklich argumentiert: „Sie [die Zeit] ist unendlich, ohne Erstes und Letztes. Denn sie ist die Β e d i η g u η g der K o o r d i n a t i o n durch den inneren Sinn" (gesp. v. Verf.). Würde die Struktur der Rezeptivität, welche ihrem Grundzug nach Extensionalität — kopräsente oder sukzessive — ist, Endlichkeitscharakter aufweisen, so würde sie das Artspezifische, welches sie zu einer So-und-nicht-anders-Seienden macht, aufgeben. Sie kann sich selbst also keine Grenzen setzen, ohne sich nicht zugleich in ihr Gegenteil, Nicht-Extensionalität, zu verkehren. Für die Extension ist daher Unendlichkeit konstitutiv 18 . Im Unterschied zu Notwendigkeit und Zufälligkeit stellten Allgemeinheit und Beschränktheit die quantitativen Aspekte des Verhältnisses von Ganzem und Teil dar. Allgemeinheit (nur diese interessiert uns wieder), die die Geltung von etwas für die Gesamtheit möglicher Teile einer Sphäre ohne jede Ausnahme, ohne jede Einschränkung bedeutete, verkörperte dabei das Ganze im Sinne eines allen Gemeinsamen. Es liegt in diesem Charakter des Einen für Alles, Einen in Allem eine gewisse Doppelnatur, die auf der einen Seite Singularität, auf der anderen Totalität beansprucht: auf der einen Seite soll etwas sich in allem und gegen18

D a ß Kant diese Argumentationsskizze nidit in die Reinschrift der KdrV übernimmt, erklärt sich daraus, daß das hier von ihm angestrebte Ziel, »verschiedene Prädikate des Raumes [und der Zeit] . . . , die man sonst als objektive ansahe, . . . in Ansehung ihres Ursprungs" zu erklären (XVII, 641), nicht erreicht wird. Denn wie sich herausgestellt hat, ist es tatsächlich nicht der Ursprung im Subjekt, sondern die Wesensbesdiaffenheit der Extension, die das Prädikat der Unendlichkeit erklärt.

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Möglichkeit einer Begründung a priori von Naturgesetzen

über allem als ein und dasselbe bewahren, auf der anderen soll es auf alles anwendbar, mithin umfassend gültig sein. Je nachdem nun, ob Kant dieses Merkmal für die Einheits- oder Extensionalitätsform in Anspruch nimmt, begegnet es als numerische Identität oder Homogenität. Identität, entstanden aus lat. idem = ein und dasselbe, meint Ein-heit und Selbigkeit. Sinnvoll läßt sich von einer solchen nur sprechen angesichts einer Pluralität differenter Entitäten, der gegenüber sich etwas als ein und dasselbe durchzuhalten vermag. Was speziell die quantitative oder numerische Identität betrifft, von der hier die Rede ist, so bezeichnet sie diejenige Gleichheit, die in allen möglichen Fällen eines bestimmten Bereiches, etwa einer Klasse vorliegt. Durch diesen Begriff läßt sich die Allgemeinheit der Einheitsform völlig adäquat beschreiben, meint doch diese nichts anderes, als daß Eine Form ausnahmslos und uneingeschränkt für alles gedanklich Faßbare gilt, folglich auch in allem als eine und dieselbe wiederkehrt. Denn selbstverständlich muß, wenn nur ein einziger, nidit multiplizierbarer, nicht variierbarer Strukturtyp, wie im vorliegenden Fall Einheit, für jedwedes gedanklich Zugängliche maßgebend ist, dieser auch in jedwedem mit sich selbst absolut übereinstimmen. Was besagt Homogenität? Das gr. Adjektiv ,,όμογενές" ist zu übersetzen mit: aus gleichem Geschlecht stammend, von gleicher Abkunft, von gleicher Art, folglich bei Substantivierung mit: Gleichartigkeit, Gleichförmigkeit u. ä. Homogenität bezeichnet, angewandt auf die Extensionalitätsform, die eine und selbe Weise, in der wir alles, was uns anschaulich gegeben werden mag, erfassen. Gleiche Struktur ist fundiert in singulärer Struktur, welche im vorliegenden Fall Extensionalität ist. Gilt eine einzige Form insgesamt für alles Anschauliche, so muß dieses vollkommen einheitlich strukturiert sein. Es muß ein unterschiedsloses Einerlei ausmachen. Interne Variabilität des extensionalen Mannigfaltigen, wie immer man sich diese vorstellen mag, ob als regelmäßigen oder unregelmäßigen Distanzzusammenfall oder als intervallartige Distanzverdichtung und -Verdünnung, würde auf Inhomogenität deuten und damit nicht auf die universelle Geltung Einer Form, sondern auf die partiale mehrerer. Was Intersubjektivität und Subjektivität anlangt, die der Sache nach auf Identität und Verschiedenheit zurückzuführen waren, so hatten sie sich als die qualitativen Auslegungen des Grundverhältnisses von Ganzem und Teil ergeben. Das Ganze konnte insofern in qualitativem Sinne

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als Identisches, sich selber Gleiches aufgefaßt werden, als es sich gegenüber den in Unterschiede auseinanderfallenden Teilen als Einfaches (Eingestal tiges), Unzusammengesetztes, folglich auch Unauflösliches, mit anderen Worten als ατομον είδος erwies. Einfachheit und Unauflöslichkeit, beide die Gestalt betreffend, sind Indizien derselben Sache: der Identität. Wie diese Beschaffenheit in einer Form, deren Wesen Einheit ist, auftreten muß, ist klar, nämlich als Einfachheit und Unauflösbarkeit der Einheit. Da diese Merkmale analytisch im Begriff der Einheit ( = Einsheit) liegen; denn Einheit ( = Einsheit) ist immer einfach, unzusammengesetzt und somit unauflösbar, stellt die Einheitsform den Fall katexodien für Identität dar. Dagegen erscheint die Identität in einer Form, deren Wesen Extensionalität ist, als Kontinuität. Diese Behauptung rechtfertigt sich aus einer Bedeutungsanalyse von Kontinuität. Rein sprachlich leitet sich der Begriff vom lat. Stamm „contin-" ab, wie er ζ. B. in dem Verb „continere" mit dem Partizip Präsens „continens" oder in dem Adjektiv „continuum" vorliegt. Sein Sinn ist: zusammenhängen, zusammenhalten. Zusammenhängen kann nur dasjenige, was zunächst getrennt war, was aus Teilen besteht. Von etwas, woran sich keine Teile unterscheiden lassen, kann man nicht sinnvoll sagen, es hänge zusammen; denn man fragt, womit eigentlich. Als Grundbedeutung stellt sich damit eine relationale heraus: es wird eine Aussage über die Beziehung zweier oder mehrerer ursprünglich gesonderter Elemente gemacht. Freilich ist die Art der Beziehung eine besondere und von anderen Beziehungsarten wohl zu unterscheidende. Mit ihrem Vergleich hat sich vor allem Aristoteles in Physik Ε 3, 226b, 18 ff. und Ζ 1, 231a, 21 ff. beschäftigt. Da sein Kontinuitätsbegriff für die Tradition bestimmend war, kann ein Blick auf das bei ihm Erörterte uns audi zu einem tieferen Verständnis des Kantischen Kontinuitätsbegriffs verhelfen 19. An den angegebenen Stellen hebt Aristoteles das Kontinuierliche (συνεχές) einerseits vom Berührenden (άπτόμενον), andererseits vom Benachbarten (εφεξής) ab. Während beim Kontinuierlichen die Grenzen des zu Verknüpfenden zusammenfallen, also eine einzige ausmachen (ών τά έσχατα εν), treffen sie beim Berührenden zwar aufeinander, bleiben jedoch als selbständige, gleichzeitige (ών αμα) bestehen; beim

19

Zum Aristotelischen Kontinuitätsbegriff vgl. Wieland, 278 ff.

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Benachbarten kommen sie weder in der einen noch in der anderen Weise zusammen (ών μηδέν μεταξύ συγγενές), sondern bleiben, wie man den Sachverhalt positiv formulieren würde, durch einen Zwischenraum getrennt. Wenn Kontiguität, die Eigenschaft des άπτόμενον (welche uns hier allein zu interessieren braucht), bloße Anreihung oder Angrenzung prinzipiell gesondert existierender und insofern audi besonderer Teile meint, also bloßes Nebeneinander an sich selbständiger, differenter Elemente, so meint Kontinuität demgegenüber Aufhebung der Trennung und Besonderung, Überschreitung scheidender und unterscheidender Grenzen durch völliges Zusammenwachsen der differenten Teile zu einem einheitlichen Ganzen. Stetiger Zusammenhang der Teile heißt vollkommenes Einssein der Teile, und zwar in qualitativem Sinne, und das bedeutet absolutes Durchdrungensein des Vielfachen mit Einfachem. Im Kontinuum ist nur eine einzige, insofern einfache, unauflösliche Gestalt präsent. Daher tritt es als ein einziger Gestaltzug auf oder, wie Kaulbach 20 es treffend charakterisiert hat, als „einfaches . . . Band". Hier muß sich natürlich die Frage stellen, wie mit dieser Kennzeichnung die Teilbarkeit des Kontinuums in Einklang zu bringen ist. Aus der bisherigen Erörterung dürfte jedoch soviel deutlich geworden sein, daß die Teilbarkeit niemals die Struktur des Kontinuums selbst, d. h. den ontologischen Charakter desselben, betreffen kann, sondern ausschließlich die rationale Interpretation der Struktur 21 . Die Grenzen, die das Kontinuum in Teile zerlegen, sind keine echten, immanenten Grenzen des Kontinuums, sondern nachträgliche, äußerliche Anbringungen des Verstandes; mit ihnen wird ein anderes Strukturmoment eingeschaltet. Das Kontinuum selbst ist über diese Trennwände immer schon zu einem einzigen Ganzen zusammengewachsen. Es hängt lückenlos, ohne Unterbrechung zusammen. Daher wird das Denken auf jeder Stufe, so oft es seine Einteilung auch iterieren mag, auf dieselbe irreduzible, einfache Gestaltung treffen. Wenn Kant Kontinuität beschreibt, wählt er mit Vorliebe die Metapher des Fließens, Verfließens (vgl. Diss., § 14, KdrV, A 170 Β 211 f.). Nichts ist besser geeignet als diese, einen innerlich ungebrochenen Zusammenhang wiederzugeben, in dem sich Eine Gestalt äußert. Gerade der Fluß ist kraft des Durchfließens aller möglichen Stationen seines We-

20 21

KaulbaA (4), 95. Näheres hierzu vgl. § 11, 116 f.

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ges, wodurch diese zu einer einzigen Gestalt kontinuiert werden, Sinnbild des einfachen Bandes. Da die reine Ausdehnung, zumal wenn sie als ein Sich-Ausdehnen aufgefaßt wird, nichts anderes als ein Fließen ist, muß die Eigenschaft der Kontinuität konstitutiv für sie sein. In dieser muß dann audi ihre Einfachheit und Unauflösbarkeit zum Ausdruck kommen. Die Probe aufs Exempel kann man dadurch anstellen, daß man eine diskontinuierliche, sprunghaft verlaufende, löcherige Extension auf ihre Strukturierung hin befragt. Aus intermittierenden, disparaten Bestandteilen bestehend, stellt sie ein Aggregat dar, unter dem Kant (vgl. KdrV, A 170 f. Β 212) eine Ansammlung oder Anhäufung absolut gegeneinander abgegrenzter Elemente versteht. Ein solches Aggregat läßt sich nidit auf eine einzige, einfache, unauflösliche Gestalt zurückführen, sondern nur auf einen Komplex differenter Gestalttypen, der selbstverständlich auflösbar ist.

§ 7

Der apriorische Charakter der Bedingungen

Wenn im Vorhergehenden die Forderung nach einem f o r m a l e n Charakter derjenigen Bedingungen erhoben wurde, die im Rahmen der menschlichen Erkenntnissituation als notwendig, allgemein und intersubjektiv akzeptierbar sein sollen, und in Einheits- und Mannigfaltigkeitsform die beiden Spielarten von Form aufgezeigt wurden, so ist dies zwar eine unumgängliche, aber noch keine hinreichende Forderung, um zu garantieren, daß die Bedingungen dem Erkenntnisvermögen auch wirklich als notwendig, allgemein und intersubjektiv einsichtig sind. Dies wird deutlich, wenn man sich die verschiedenen Ursprungsmöglichkeiten notwendiger, allgemeiner, intersubjektiver Bedingungen und die Zugangsweisen des Erkenntnisvermögens zu ihnen vergegenwärtigt. Bekanntlich hat die Erkenntnistheorie in ihrer Geschichte drei charakteristische Lösungen zum Problem der Beziehung zwischen der Erkenntnis als Akt des Subjekts und dem Erkannten oder Zu-Erkennenden als Gegenstand des Akts entwickelt. Selbstverständlich waren Kant diese Vorschläge bekannt; er selbst diskutiert sie auf Vor- und Nachteile, die sie in der Frage des Einblicks in die Notwendigkeit, Allgemeinheit und Intersubjektivität der Formen bieten. Dies geschieht zumeist an Stellen der E x -

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position seines eignen erkenntnistheoretischen Standpunktes oder der nachträglichen Reflexion und Rechtfertigung n . Nach der Theorie des Realismus, die audi die des common sense ist, existiert die Welt unabhängig vom erkennenden Subjekt. Sie hat für sich Bestand, selbst gesetzt den Fall, daß nie ein Wesen sie erkennen würde. Die Dinge in ihr sind das, was sie sind, an sich. Folglich müssen auch die Formen, die deren Sosein bestimmen und deren Zusammenhang untereinander regeln, diesen an sich zukommen, sei es als subsistierende oder inhärierende Bestimmungen. Kurz, sie müssen zur Naturbeschaffenheit der Gegenstände gehören. Für die Erkenntnis folgt aus der Annahme einer subjektunabhängigen Ding-an-sich-Welt Angewiesenheit auf diese. Das erkennende Subjekt ist an das Vorfindliche gebunden; es kann dies lediglich in schlichtem Hinnehmen erfassen. Ist eine prinzipielle Abhängigkeit der Erkenntnis vom Erkannten bzw. Zu-Erkennenden diarakteristisdi für die Theorie des Realismus, so weist sie sich damit zugleich als Theorie des Empirismus, d. h. der aposteriorischen Erkenntnis aus. Welche Konsequenzen hat dies in der Frage der Erkennbarkeit von Notwendigkeit, Allgemeinheit und Intersubjektivität? Muß die Erkenntnis auf Grund einseitiger Orientierung an vorfindlichen Sachverhalten diese erst durchlaufen, um sie in ihren Besitz zu bringen, so kann sie nur dasjenige aufweisen, was sie bis zu einem gewissen Zeitpunkt anhand endlich vieler, zufällig angetroffener Erfahrungsfälle in individueller Erkenntnis aktualiter erfahren hat. Mit Kants Worten, sie kann nur aufweisen, „was da sei, und wie es sei, niemals aber, daß es notwendigerweise so und nicht anders sein müsse" (Prol., § 14 23). Ihre Einsichten über den Formenbestand der Welt kommen über kontingente, partikuläre, subjektive nicht hinaus. Selbst wenn den Formen Notwendigkeit, Allgemeinheit und Intersubjektivität konzediert würde, müßte dies doch so lange eine hypothetische Annahme bleiben, bis eine Totalerfahrung sie erwiesen hätte. Da eine Totalerfahrung jedoch Idee bleibt, sind alle tatsächlichen Erkenntnisse immer nur zufällig, beschränkt und subjektiv. Die Theorie der prästabilierten Harmonie beruht auf dem Gedanken 22

23

Vgl. KdrV, Β X V I ff., A 92 Β 124 f. (allgemeine Erörterung), A 23 Β 37 f., A 26 Β 42, A 32 f. Β 49 (speziell auf Raum und Zeit bezogen), A 114, A 128 f. Β 166 ff. (speziell auf Verstandesgesetze bezogen), ferner Prol., §§ 14, 36 und Anm., Hd. zu Brief an Sömmering, XIII, 405 f. Vgl. audi KdrV, A 1, Rez. Herder, VIII, 57.

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einer Parallelität von Ding-an-sidi- und Erkenntniswelt, von erkanntem bzw. zu erkennendem Objekt und erkennendem Subjekt. Ihre Voraussetzung ist eine dualistische Weltschau, derzufolge die Welt in zwei verschiedene Sphären zerfällt, die getrennt voneinander bestehen. Das gleiche gilt von den Formen, die getrennt nach Sphären als Daseinsformen (in der objektiven Natur) oder als Erkenntnisformen (im Subjekt) auftreten. Obwohl völlig verschieden und unabhängig voneinander, harmonisieren bzw. korrespondieren beide Bereiche miteinander auf Grund vollkommener Gleichschaltung. Es handelt sich um eine Entsprechung, wohlgemerkt nicht durch Interdependenz, sondern durch absolut independentes paralleles Verhalten. Die Bereiche existieren nicht durch-, sondern nebeneinander. Wenn 1. die Prämisse gilt, daß das Subjekt einen privilegierten, exklusiven Zugang zu den eignen Erkenntnisformen besitzt, folglich auch einen entsprechenden Einblick in deren Notwendigkeit, Allgemeinheit und Intersubjektivität, und 2. die Prämisse, daß zwischen subjektiven und objektiven Formen strenge Parallelität herrscht, dann folgt zwingend, daß die subjektiven, dem Subjekt in ihrer Notwendigkeit, Allgemeinheit und Intersubjektivität verständlichen Formen zugleich objektiv gültig sind. Doch diesen Schluß zieht Kant nicht, und zwar deswegen, weil für ihn die zweite Prämisse inakzeptabel ist. Während die Philosophen der ihm vorausliegenden Epoche die Parallelität durch die Vermittlung eines vollkommenen, nicht trügenden Gottes gewährleistet sahen, Leibniz ζ. Β. so, daß Gott ein einziges Mal bei der Erschaffung der Welt eingreift, indem er Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt präformiert, d. h. beiden die Anlage zukünftiger Übereinstimmung ihrer Gesetze einpflanzt, die Okkasionalisten so, daß Gott permanent assistiert, sich jedesmal auf Anlaß einer Erkenntnis (occasio = Gelegenheit, Anlaß) regulierend einschaltet, so ist dies für Kant nur noch metaphysische Spekulation, die jeder ausweisbaren Grundlage entbehrt und daher in einer kritischen Philosophie keinen Platz hat 2 4 . Gerade die Fakten sprechen gegen die behauptete Untrüglichkeit, etwa das allen bekannte Phänomen der Täuschung und des Irrtums (vgl. Prol., § 36 Anm.). Entfällt die Garantie der Übereinstimmung, dann gibt es keine Möglichkeit zur Uberprüfung einer Aussage über die objektive Welt. Denn das Subjekt, das an die ihm immanenten Formen gebunden ist, vermag weder, diese auf ganz andersartige hin zu transzendieren — es müßte denn mit 24

Zur Kritik vgl. KdrV, A 388 ff.

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Möglichkeit einer Begründüng a priori von Naturgesetzen

solchen identisch werden oder selbst die Stelle Gottes, in dem beide Formarten koinzidieren, einnehmen —, noch Einfluß auf die objektive Welt auszuüben. So sagt Kant zu Recht: „Nehmen wir sie [die Begriffe (Formen)] aus uns selbst, so kann das, was bloß in uns ist, die Beschaffenheit eines von unsern Vorstellungen unterschiedenen Gegenstandes nicht bestimmen, d. i. ein Grund sein, warum es ein Ding geben solle, dem so etwas, als wir in Gedanken haben, zukomme, und nicht vielmehr alle diese Vorstellung leer sei" (KdrV, A 129). Selbst wenn eine objektive Welt in genauer Entsprechung zur subjektiven existieren sollte, müßte sie doch immer unzugänglich bleiben. Die Theorie der prästabilierten Harmonie entpuppt sich aus kritischer Sicht als Theorie des Indifferentismus gegenüber der objektiven Welt. Damit taucht die Gefahr eines Solipzismus auf; denn prinzipiell könnte jetzt jedes Subjekt seine eigne, von anderen Subjekten unbestreitbare Privatwelt haben, so daß eine allgemeine Kommunikation unmöglich wäre (vgl. KdrV, Β 168). Doch abgesehen davon, liegt das Unzureichende der Theorie darin, daß die dem Subjekt allein zugänglichen und vertrauten Formen nur als subjektiv notwendig, allgemein und intersubjektiv betrachtet werden können, nicht gleichzeitig auch als objektiv gültig. Wenn der Realismus die These vertritt, daß die Erkenntnis sich nach den Gegenständen richtet, so nimmt der formale Idealismus das genaue Gegenteil an, nämlich daß die Gegenstände sich nach der Erkenntnis, speziell nach den Erkenntnisformen richten. Das bedeutet: die Formen, in denen Maß und Ordnung der Dinge besteht, in denen die Gesetzlichkeit der Prozesse derselben sich spiegelt, sind im Grunde nichts anderes als Erkenntnisformen und somit zur „Naturbeschaffenheit des Subjekts" (Fortschr., XX, 267) gehörig. Sie sind Fähigkeiten des Subjekts, gemäß seiner eignen Natur Gegenstände vorzustellen. Da dies entsprechend den beiden Stämmen des Erkenntnisvermögens, Verstand und Sinnlichkeit, entweder auf gedankliche oder anschauliche Weise geschieht, so stellt sich nach dieser Theorie das, was bisher als Einheits- und Mannigfaltigkeitsform beschrieben wurde, als Verfassung des Denkens und Anschauens selbst heraus. Jene Formen sind mithin Verstandes- und Anschauungsform. Da die Formen auschließlich Erkenntnisformen des Subjekts und nicht noch darüber hinaus Aufbauformen einer subjektunabhängigen Welt sind, muß alles, was erkannt werden soll, mit ihnen übereinstim-

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men. Die subjektiven Formen erweisen sich damit zugleich als Bedingungen und Bestimmungsgründe der Objekte und ihrer Gesetze, so wie es an jener bekannten Stelle der KdrV (A 158 Β 197) heißt: „Die Bedingungen der M ö g l i c h k e i t d e r E r f a h r u n g überhaupt sind zugleich Bedingungen der M ö g l i c h k e i t d e r G e g e n s t ä n d e d e r E r f a h r u n g " . Trotz subjektiven Ursprungs haben sie objektkonstituierende Funktion. Wegen der Abhängigkeit des Erkannten bzw. ZuErkennenden vom Erkennenden pflegt man zu sagen, jenes werde, wenngleich nur der Form nach, selbsttätig vom Subjekt produziert. Daher lautet eine im 10. und 11. Konv. des Op. p. stereotyp wiederkehrende Formel: „Erfahrung wird nicht (empirisch) gegeben, sondern Gemacht" (Op. p., XXII, 392,19). „Wir [ m a c h e n ] die Erfahrung . . . selbst . . . , von der wir wähnen, durch Observation und Experiment gelernet zu haben" (Op. p., XXII, 362, 2 d . h. wir sind selbst, zumindest in formaler Hinsicht, Urheber der Naturgegenstände und -gesetze. Welchen Vorteil bietet diese Theorie gegenüber den beiden anderen? Im Vergleich zur ersten vermag sie die Einsicht in die Notwendigkeit, Allgemeinheit und Intersubjektivität der Formen zu erklären. Gehören nämlich die Formen ursprünglich dem Subjekt an, so muß dieses auch ein ursprüngliches Verhältnis zu ihnen haben. Die Formen müssen ihm jederzeit verfügbar, die Einsichtnahme in ihre Charaktere jederzeit möglich sein. Die Theorie des formalen Subjektivismus ist gleichzeitig eine Theorie des Apriorismus, d. h. einer von Erfahrungstatsachen unabhängigen Erkenntnis. Gegenüber dem zweiten Ansatz bietet der gegenwärtige den Vorteil, die objektive Gültigkeit der subjektiven, dem Subjekt in ihrer Notwendigkeit, Allgemeinheit und Intersubjektivität auch verständlichen Formen erklären zu können. Wenn ausnahmslos alle Gegenstände und Gesetze den subjekteignen Formen gemäß sein müssen, um überhaupt erkannt werden zu können, andernfalls für uns nichts wären, so müssen die subjekteignen Formen objektive Bedeutung haben. So vermag allein die Theorie des subjektiven, apriorischen Ursprungs der Formen nicht nur das Verständnis der Notwendigkeit, Allgemeinheit und Intersubjektivität zu garantieren, sondern auch die Möglichkeit der objektiven Gültigkeit zu erklären. Kants Wahl dieses Standpunktes, die für sein Verständnis von Na25

Vgl. ferner 322,28; 366,22!; 391,9! 394,28!; 395, 10; 404, 23; 405,26; 406,241 407,18; 408,27; 473,9; 475,16 ; 484,5; 486,4; 494,4; 497,9; 498,20; 426,18.

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Möglichkeit einer Begründung a priori von Naturgesetzen

turwissenschaft charakteristisch ist, hat entscheidende Konsequenzen für die Interpretation nidit nur der Naturgesetze, sondern auch der sog. Regeln, die als erfahrungsdependent ermittelt wurden. Wenn bisher die Regeln den Gesetzen einfach gegenübergestellt wurden und dies sinnvoll war zur Einführung in die Kantische Naturwissenschaftstheorie, von Kant selbst auch so praktiziert wird, so läßt sich diese Konfrontation nach der Entscheidung für den subjektiv-apriorischen Standpunkt, also bei einem zweiten Durchgang durch die Kantische Theorie, nicht mehr aufrechterhalten, da die erfahrungsabhängigen Regeln und die erfahrungsunabhängigen Gesetze verschiedenen erkenntnistheoretischen Ansätzen angehören: dem empiristischen jene, dem aprioristischen diese. Aus Gründen der inneren Konsistenz der Theorie wird es jetzt unerläßlich, die zufälligen, beschränkten, subjektiven Regeln ebenfalls als notwendige, allgemeine, intersubjektive Gesetze zu konzipieren, als solche, die auf subjektiv-apriorischen Bedingungen beruhen, allerdings hinsichtlich ihrer objektiven Realität problematisch bleiben und daher nur Anspruch auf hypothetische Notwendigkeit, Allgemeinheit und Intersubjektivität machen können. Dies ist der Grund jener Ambivalenz, der wir uns bei der Interpretation der Regeln im ersten Kapitel dieser Arbeit konfrontiert sahen.

B. Die Aspekte der transzendentalen § 8

Deduktion

Der finale Aspekt

In den voranstehenden Abschnitten ging es zunächst einmal darum, die gesetzesbegründenden Bedingungen isoliert für sich zu betrachten und auf die Anforderungen hin zu erwägen, denen sie genügen müssen, um die für Gesetze charakteristische Notwendigkeit, Allgemeinheit und Intersubjektivität legitimieren zu können. In den folgenden Abschnitten geht es nun darum, die Bedingungen in ihrer Relation auf das Bedingte näher ins Auge zu fassen und die Möglichkeit ihrer realen Geltung selbst zu erklären. Aufgabe ist hier, die eigentliche Begründung zu liefern dafür, daß die bislang nur als subjektiv notwendig, allgemein und gemeinverbindlidi ausgewiesenen Bedingungen audi wirklich objektiv notwendig, allgemein und gemeinverbindlich sind. Eine solche Begründung schließt selbstverständlich eine Bestimmung des Umfangs und der Gren-

Der finale Aspekt

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zen des rechtmäßigen objektiven Gebrauchs, soweit dieser eben von uns nachvollziehbar und dadurch ausweisbar ist, ein. Durch die gesteckte Aufgabe ist die Art der Durchführung von vornherein festgelegt. Ein empirisches Vorgehen scheidet aus. Denn da ein solches in dem Aufweis konkreter Beispiele für die betreffenden Bedingungen bestände, dies jedoch immer nur in beschränktem Umfang, anhand einer größeren oder kleineren Zahl zufällig aufgefundener Fälle, zudem nur unter Mitwirkung endlich vieler Individuen möglich wäre, könnte auf diese Weise zwar ein tatsächliches objektives Erfülltsein der Bedingungen, nicht aber ein notwendiges, uneingeschränktes und allgemeinverbindliches nachgewiesen werden. Wollte man einem solchen Anspruch empirisch genügen, müßte man die Gesamtheit der Erfahrungsfälle namhaft machen, weil nur eine solche einen verbindlichen Schluß auf eine notwendige, allgemeine und intersubjektive Geltung gestattete. Das Gesamt der Erfahrungsfälle ist uns aber nicht gegeben, sondern nur aufgegeben. Alles, was ein empirischer Beweis zu leisten vermöchte, wäre daher eine Antwort auf eine quaestio facti, die nach dem Vorliegen dieser oder jener Anwendungsfälle fragt, nicht aber eine Antwort auf eine quaestio iuris, die Aufschluß über die ganze Anwendungsbreite der Bedingungen verlangt. Hieraus folgt, daß nur ein apriorisches Vorgehen, eine sog. transzendentale Deduktion, in Frage kommen kann. Gegenüber dem empirischen zeigt es nicht die Wirklichkeit der Bedingungen i η der Erfahrung, sondern die Möglichkeit derselben f ü r die Erfahrung auf. Um mit der „Möglichkeit" die notwendige, allgemeine, intersubjektive Möglichkeit zu garantieren und nicht nur, wie wir den Ausdruck auch zu nehmen pflegen, die zufällige, ungewisse, die „bloße" Möglichkeit, wie sie etwa in dem Satz vorliegt: „Es ist möglich, daß es morgen regnet", ist Einsicht in das Bedingungsverhältnis, in das Funktionieren der Bedingungen bezüglich des Bedingten erforderlich. Nur durch Klärung der Frage, w i e die Bedingungen realiter möglich und gültig sind, läßt sich auch dartun, d a ß sie realiter notwendig, allgemein und intersubjektiv möglich und gültig sind. Kant selbst hat an einer Stelle seines Werks klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, daß beide Beweise, der des Wie und der des Daß, wesentlich zu einer transzendentalen Rechtfertigung gehören. So sagt er in KdrV, A 56 Β 80, „daß nicht eine jede Erkenntnis a priori, sondern nur die, dadurch wir erkennen, d a ß und w i e gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden oder möglich sind, transzendental (d. i. die Möglichkeit der Er-

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kenntnis oder der Gebrauch derselben a priori) heißen müsse" (gesp. v. Verf.). Die Interpretation des Wie stellt uns jedoch vor erhebliche Schwierigkeiten. Ein Überblick über alle Belege, in denen dieser Terminus direkt oder indirekt vorkommt, zeigt, daß sein Gebrauch durchaus nicht einheitlidi ist. Auf diesen Sachverhalt hat erstmals Henrich 26 im Rahmen einer Strukturanalyse der Transzendentalen Deduktion der 2. Aufl. der KdrV aufmerksam gemacht. Um einen in seinen Grundzügen stringenten Beweisgang vorführen zu können, sah sich Henrich gezwungen, zumindest zwei Arten des Wie streng voneinander zu unterscheiden, eine, die in der Erklärung der Möglichkeit der Beziehung des Verstandes auf die Sinnlichkeit besteht, und eine, die sich mit der Untersuchung der für diese Beziehung vorauszusetzenden subjektiven Erkenntnisvermögen befaßt. Diesen und anderen Bedeutungsdifferenzen und -nuancen soll im folgenden weiter nachgegangen werden. Um sie vollzählig aufzuführen und in ihrem systematischen Wert zu bestimmen, muß das Problem, das sich aus der Objektivierung der subjektiven Bedingungen ergibt, in seinen Gesamtaspekten expliziert werden. Die Hauptschwierigkeit, mit der es Kant in seiner theoretischen Philosophie zu tun hat, besteht ohne Zweifel in der Frage, ob etwas, was seinem Ursprung nach rein subjektiv ist, wie die Formen des Verstandes und der Sinnlichkeit, überhaupt objektive Gültigkeit haben könne und nicht vielmehr ohne Anwendung bleiben müsse. Wenn es Vorstellungsinhalte gibt, die ursprünglich nicht aus der Erfahrung stammen, die folglich audi nicht belegt sind, so muß es höchst fragwürdig sein, wie sich solche dennoch auf Erfahrung beziehen sollten. Die Skepsis, die gegenüber einer fraglosen Realisierbarkeit angezeigt ist, hat ihren Grund darin, daß wir Begriffe a priori kennen, wie die erdichteten: Telepathie, Prophetie usw., die wir zwar denken, nicht jedodi anschaulich ausweisen können. Denn denken lassen muß sich schließlich alles, ob aber bloßen Gedanken reale Sachverhalte korrespondieren, ist eine andere Frage. Wir könnten noch einen Schritt weitergehen und als Beispiel die auf Anschauungsformen beruhenden Hypothesen der mathematischen Naturwissenschaft anführen, etwa das Bohrsche Atommodell, die Teilchen- und Wellenvorstellung in der Quantenmechanik usw. Was garantiert ihre Applikabilität auf Natur, was garantiert letztlich die Applikabilität der gesamten reinen Mathematik? Die Entdeckung der nichteuklidischen Geo24

Henrich (8), 650 ff.

Der finale Aspekt

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metrien im vorigen Jahrhundert, die bloße Denkmöglidikeit verschiedener Raumstrukturen, die auch Kant nicht fremd war, wie aus seinen Überlegungen zu unterschiedlich dimensionierten Räumen in der Schrift „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte . . § § 10 und 11 hervorgeht, hat uns die Tragweite dieses Problems wieder voll bewußt gemacht. Man wird die Frage, ob Verstandes- und Anschauungsformen real gültig sein können oder nicht, a priori nur dadurch zu beantworten vermögen, daß man ihnen eine F u n k t i o n in Beziehung auf die Erfahrung nachweist. Was ist der genaue Sinn von Funktion? Gemeint ist damit, zumindest primär, die Aufgabe und Leistung, die einer Sache oder einem Wesen zukommt und die es erfüllt. So hat eine Lampe die Funktion, zu leuchten, ein Buch die, gelesen zu werden, ein Auge die, zu sehen. In all diesen Fällen ist ein Ding da, um etwas, dessentwillen es da ist, zu tun oder zu erleiden. Die Bedeutung von Funktion weist somit in eine teleologische Richtung. Stellen wir uns unter dieser Perspektive die Frage, w i e sich die subjektiv-apriorischen Bedingungen des Verstandes und der Sinnlichkeit auf Erfahrung beziehen können, so wird deutlich, daß sie als Frage zu nehmen ist: W o z u können und müssen sich die Bedingungen auf Erfahrung beziehen, in welcher Absicht, zu welchem Zweck? Das Sachproblem ist also: Welche Aufgabe kommt den Bedingungen hinsichtlich der Erfahrung zu? Da sich dies bei präziser Formulierung in der Form stellt: Wofür bzw. wozu sind die Bedingungen erforderlich?, verlangt es eine Antwort mit: um . . . zu. Als Grundbedeutung des Wie haben wir daher eine finale anzusetzen. Es ist nicht zufällig, daß gerade dieser Sinn aus dem Wie hervorgeht, das im ersten der beiden Einleitungsparagraphen zur Transzendentalen Deduktion der KdrV auftritt 2 7 ; denn Einleitungsparagraphen geben gemäß ihrem Charakter als Einleitungsparagraphen, hier in Problem und Lösung einer transzendentalen Deduktion überhaupt (vgl. Uberschrift § 13), d. h. aller reinen Formen, nicht nur der reinen Verstandesbegriffe, stets die Grundbedeutung an. Kants Antwort ist zur Genüge bekannt. Sie lautet, auf ihren Kern reduziert: Die subjektiv-apriorischen Bedingungen sind deshalb zugleich objektiv-aposteriori gültig, weil sie Bedingungen möglicher Erfahrung sind (vgl. KdrV, A 94 Β 126). Es gilt zu beachten, daß der terminus technicus „Erfahrung" bei Kant nicht das vorwissenschaftliche, natürliche » KdrV, § 13, A 85 Β 117, A 89 Β 121, A 89 Β 122.

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oder auch das alltägliche Verständnis von Erfahrung mit der ganzen Fülle von Erlebnisgehalten, Stimmungen, Gefühlen, Befindlichkeiten meint, sondern das viel abstraktere wissenschaftliche Verständnis einer objektiven und gesetzmäßigen Erfahrung. Um eine solche Erfahrung zu ermöglichen, sind sowohl Formen des Verstandes wie der Sinnlichkeit erforderlich, diese, um das Material aufzunehmen, jene, um das unsynthetisierte Material zur gesetzmäßigen Einheit zusammenzufassen. Allein das Zusammenspiel beider, die Subsumption der Anschauungsformen und des in ihnen gegebenen Materials unter das Einheitsprinzip des Verstandes oder umgekehrt die Applikation des Einheitsprinzips des Verstandes auf die Anschauungsformen und ihr Material, ergibt jene Struktur, aus der Gesetze hervorgehen. Die Lösung befriedigt nur einen Teil des gesamten Problemkomplexes, wenngleich einen fundamentalen. Wenn bisher gezeigt wurde, daß Verstandes- und Anschauungsformen sich notwendig aufeinander beziehen müssen, um Erfahrung zu ermöglichen, so bleibt dabei noch ungeklärt, in welchem Umfang sie sich überhaupt aufeinander beziehen können. Das Problem ist für uns deshalb so relevant, weil Kant von Anfang an mit einer nicht zu verkennenden Einseitigkeit dem Verstand einen umfassenderen Gebrauch konzediert als der Sinnlichkeit, obzwar nur in problematischer Hinsicht. Es ist eine seiner Grundthesen, „daß die Kategorien im D e η k e η durch die Bedingungen unserer sinnlichen Anschauung nicht eingeschränkt sind, sondern ein unbegrenztes Feld haben, und nur das E r k e n n e n dessen, was wir uns denken, das Bestimmen des Objekts, Anschauung bedürfe" (KdrV, Β 166 Anm. a ) . Sucht man nach einer Rechtfertigung für diese Annahme, so wird man sie nicht in der theoretischen Philosophie finden. Denn wollte man die Möglichkeit einer m e t a p h y s i s c h e n Deduktion der Verstandesbegriffe dafür verantwortlich machen29, in der nicht allein der apriorische, sondern auch der von der Sinnlichkeit unabhängige Ursprung derselben im reinen Verstand aufgezeigt wird, so könnte man dem mit gleichem Recht entgegenhalten, daß auch von den Anschauungsformen eine m e t a p h y s i s c h e Deduktion möglich sei, in der nicht allein ihr Ursprung a priori, sondern auch ihr vom Verstand unabhängiger Ursprung in der reinen Sinnlichkeit nachgewiesen werden könne. Ob Unabhän28

Vgl. audi Β 148 f. sowie die detaillierten Ausführungen im Kapitel über Phaenomena und Noumena, besonders A 253 ff. Β 309 ff. » Wie ζ. B. Paton, I, 324, 325 Anm. 5.

Der finale Aspekt

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gigkeit v o n . . . , sei es des Verstandes von der Sinnlichkeit, sei es der Sinnlichkeit vom Verstand, einen über das Pendant hinausreichenden, zumindest problematischen Gebrauch impliziere, läßt sich auf diese Weise nicht ermitteln. Im übrigen tangiert die metaphysische Deduktion das Problem der Anwendbarkeit, des Umfangs und der Grenzen derselben überhaupt nicht. Dagegen hält die praktische Philosophie ein plausibles Argument bereit. Wäre der Verstand gänzlich auf die Sinnlichkeit restringiert, so müßten gewisse Begriffe a priori wie Freiheit (causa noumenon), Unsterblichkeit, Gott, welche Grundbegriffe der Moral sind, für absolut real unmöglich gelten, während sie so zwar auch für real unmöglich gelten, jedoch nur in phänomenalem Sinne, d. h. in betreff der Erscheinungswelt, nicht in jeder überhaupt erdenklichen Hinsicht, vielmehr außerhalb der Erscheinungswelt noch ein unbegrenztes Feld zur Realisierung besitzen. Vom rein theoretischen Standpunkt aus ließe sich ebensowohl die Gegenthese vertreten, nämlich die, daß der Gebrauch der Sinnlichkeit weiter reiche als der des Verstandes, mithin diesen einschränke. Für die moralischen Begriffe würde hieraus die absolute reale Unmöglichkeit folgen. Wir haben diese These deshalb ernst zu nehmen, weil wir nicht ohne weiteres davon ausgehen können, daß wir als verständige, erkennende Wesen auch vernünftige, moralische Wesen sind. Eine dritte theoretische Möglichkeit wäre die Annahme, daß sich Verstand und Sinnlichkeit in ihren Anwendungsbereichen schlechthin deckten. Reine Vorstellungen wie auf der einen Seite unanschauliche Begriffe von der Art der moralischen, auf der anderen nicht-bewußtes Anschauungsmannigfaltiges könnten trotz prinzipiell durchgängiger Bezogenheit von Verstand und Sinnlichkeit in dem Sinne zugelassen werden, daß es sich bei ihnen um „noch nicht" aufeinander bezogene Vorstellungen handelte. Solche müßte es stets geben, weil die Erfahrung ein in infinitum sich vollziehender, nie abschließbarer Vereinigungsprozeß von Verstand und Sinnlichkeit ist. Um das Problem des Umfangs und der Grenzen des Zusammengehens von Verstand und Sinnlichkeit zur Erfahrung zu lösen, ist ein bestimmter Weg einzuschlagen. Seine Richtung wird ebenfalls durch das Wie der ursprünglichen Frage nach der Realmöglichkeit der Bedingungen angezeigt. Welches ist diese Richtung?

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§9

Der kausale Aspekt

Wenn wir im Alltag angesichts einer nicht erwarteten Begebenheit die überraschte Frage stellen: Wie ist das überhaupt möglich, wie konnte das eigentlich passieren, wie kam es dazu?, etwa wenn zwei befeindete Parteien wider Erwarten ein Bündnis schließen, so wollen wir die Gründe, Ursachen, Motive wissen, die zum Eintritt dieser Begebenheit führten. Das gleiche gilt für den erkenntnistheoretischen Bereich angesichts der Realmöglichkeit der Bedingungen. Auch mit der Frage: W i e können sich die subjektiv-apriorischen Bedingungen des Verstandes und der Sinnlichkeit überhaupt auf reale Gesetze beziehen? verlangen wir Auskunft über die Gründe, die für ihre Realmöglichkeit verantwortlich sind. Wir möchten genau wissen, warum Verstandes- und Anschauungsformen eine Verbindung eingehen müssen, um Gesetze konstituieren zu können, und warum nicht keine Verbindung, warum gerade zwei Bedingungsarten und nicht mehr oder weniger, warum gerade heterogene und nicht homogene, warum von dieser und nicht von jener Beschaffenheit für die Verbindung erforderlich sind. Das Interrogativpronomen „wie" hat hier kausale Funktion; es vertritt die Stelle eines W i e s o , W a r um,Weshalb,Weswegen. Inwiefern ist die Frage nach dem Grund besonders geeignet, das Problem des Umfangs der Verbindung von Verstand und Sinnlichkeit einer Lösung entgegenzuführen? Die Frage, warum etwas dasei oder so sei, setzt den Gedanken voraus, daß es möglich sei, daß es auch nicht dasei oder nicht so sei, wie es de facto ist. Sie beruht auf der Möglichkeit, zu allem Dasein und Sosein das kontradiktorische Gegenteil anzunehmen 30 . Denn bei dem, was nicht anders angenommen werden kann, d. h. „bei dem, was notwendig ist, fragen wir nicht, warum es sei. Warum ein Triangel 3 Seiten habe. Wohl aber: warum drei Seiten seien" (Reil. 3837). Ließe sich nun ein Grund finden, der „zu allem Warum das Darum in sich" enthielte (KdrV, A 585 Β 613), so gäbe er definitiven Aufschluß nicht nur über Dasein und Sosein, sondern auch über Umfang und Grenzen desselben, weil er jede gegenteilige Annahme ausschlösse. Auf unseren Problemkomplex angewandt, hieße das: Könnte hinlänglich erklärt werden, warum sich Verstand und Sinnlichkeit zum Zwecke einer Gesetzeskonstitution aufein-

30

Vgl. Refl. 3731.

Der kausale Aspekt

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ander beziehen, so entschiede sich damit auch die Alternative, ob sie sich ganz oder nur teilweise aufeinander beziehen. N u n war Kant jedoch der Meinung, daß die Frage nach einem letzten und hödisten Grund alles Daseins und Soseins einschließlich der Beschaffenheit unserer Erkenntnis unbeantwortet bleiben müsse. Zumindest dem menschlichen Erkenntnisvermögen sind letzte Einsichten verwehrt. Diese Auffassung durchzieht sein ganzes Werk. An einer Stelle der Streitschr. (VIII, 249 f.) faßt Kant sämtliche Aspekte der Eigenart unserer Erkenntnis, die sonst nur verstreut in seinen Schriften vorkommen, zusammen: „Wir konnten aber doch keinen Grund angeben, warum wir gerade eine solche Art der Sinnlichkeit und eine solche Natur des Verstandes haben 31 , durch deren Verbindung Erfahrung möglich wird; noch mehr, warum sie, als sonst völlig heterogene Erkenntnisquellen, zu der Möglichkeit eines Erfahrungserkenntnisses überhaupt 32, hauptsächlich aber . . . zu der Möglichkeit einer Erfahrung von der N a t u r unter ihren mannigfaltigen b e s o n d e r e n und bloß empirischen Gesetzen, von denen uns der Verstand a priori nichts lehrt, doch so gut immer zusammenstimmen, als wenn die Natur f ü r unsere Fassungskraft absichtlich eingerichtet wäre; dieses konnten wir nicht (und das kann audi niemand) weiter erklären." U n d er fährt fort: „Leibniz nannte den Grund davon . . . eine v o r h e r b e s t i m m t e H a r m o n i e , wodurch er augenscheinlich jene Übereinstimmung wohl nicht erklärt hatte, auch nicht erklären wollte, sondern nur anzeigte, daß wir dadurch eine gewisse Zweckmäßigkeit in der Anordnung der obersten Ursache zu denken hätten und diese zwar schon als in die Schöpfung gelegt (vorherbestimmt), aber nicht als Vorherbestimmung außereinander befindlicher Dinge, sondern nur der Gemütskräfte in uns, der Sinnlichkeit und des Verstandes, nach jeder ihrer eigentümlichen Beschaffenheit füreinander, so wie die Kritik lehrt, daß sie zum Erkenntnisse der Dinge a priori im Gemüte gegeneinander in Verhältnis stehen müssen." D i e einzige Erklärung, die wir auf der Stufe unserer Erkenntnis über die spezifische Verfassung von Verstand und Sinnlichkeit und ihr eigentümliches Arrangement zur Erfahrung bereitstellen können, ist die einer

31 32

Vgl. dazu audi Schätzung d. leb. Kr., § 10, KdrV, Β 145 f., A 557 Β 585. Vgl. dazu audi ΜΑ, IV, 476 Anm., wo Kant die „Einstimmung der Erscheinungen zu den Verstandesgesetzen, ob diese gleich von jenen ganz verschiedene Quellen haben", als ,befremdlich' bezeichnet.

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zweckmäßigen Einrichtung beider füreinander M. Mag dies auch subjektiv ein befriedigender Gedanke sein, objektiv bleibt er wegen seiner Unausweisbarkeit unbefriedigend. Wenn sich schon nicht die Gründe angeben lassen, warum etwas so oder so beschaffen sei, sich so oder so verhalte, so müssen sich doch wenigstens die Gründe angeben lassen, warum sich jene nicht anführen lassen. Um die Frage nach dem Warum definitiv zu beantworten, wären Bedingungen erforderlich, aus denen das Warum verständlich würde, und falls diese nicht ausreichten, weitere, umfassendere und so in indefinitum, bis man an einen Punkt gelangte, der wegen seiner Umfassenheit Grund von allen anderen, selbst aber keine Folge mehr aus einer anderen wäre (vgl. Reil. 4405), daher auch „keinen Platz zum W a r u m mehr übrig" ließe (KdrV, A 584 Β 612). Ein solcher hätte den modalen Status absoluter Notwendigkeit; nur bei ihm käme unser Fragen endgültig zur Ruhe. Die Dialektik der KdrV bietet bei aufmerksamer Betrachtung zwei Möglichkeiten zur Konkretisierung eines totalen Erklärungsgrundes an: die eine läßt sich dem Systematisierungsversuch alles d e n k b a r e n Seins im Kapitel „Von dem transzendentalen Ideal (Prototypon transzendentale)" (KdrV, A 571 ff. Β 599 ff.) entnehmen, die andere dem Systematisierungsversuch alles e r f a h r b a r e n Seins im anschließenden Kapitel „Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft" (KdrV, A 642 ff. Β 670 ff). Nach der ersten These fällt der totale Erklärungsgrund mit dem Inbegriff aller überhaupt e r d e n k b a r e n Realität, dem sog. allerrealsten Wesen (ens realissimum), zusammen. Dieses noumenale ens realissimum ist hier das ens necessarium absolute, in dem alle anderen Dinge ihren zureichenden Grund haben, und zwar deswegen, weil es als Substrat derselben gilt. Nach dem Modell einer durchgängigen Bestimmung aller Dinge werden aus ihm durch kontinuierliche Einschränkung seiner Seinsprädikate stufenweise und systematisch alle übrigen Realitäten ableitbar gedacht, zu denen „denn auch unsere ganze Sinnlichkeit samt aller Realität in der Erscheinung gehören würde" (KdrV, A 579 Β 607). Die phänomenale Realität, die unserer Art, sinnlich anzuschauen, entspricht, tritt hier nur als eine unter anderen erdenkbaren Realitäten auf, die 33

Henrich (2), 45 spridit hier treffend von einer „innersubjektiven Teleologie", „Teleologie" deshalb, „weil das Zusammen der Erkenntniskräfte sich nur aus zweckmäßiger Anordnung erklären läßt", und „innersubjektiven" deshalb, „weil diese Zweckmäßigkeit nicht bezogen ist auf gegebene Gegenstände".

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anderen Sinnesarten entsprechen. Insofern alle, nicht allein unsere, durch den Verstand denkbar sind, schließt diese These eine umfassendere Anwendungsmöglichkeit des Verstandes als der Sinnlichkeit ein Dieser spekulativen These steht die empiristische gegenüber. Sie behauptet die Absolutheit der p h ä n o m e n a l e n Realität und sieht daher in dieser den allumfassenden, in jeder Hinsicht notwendigen Erklärungsgrund der Dinge. Nach ihr hat die Welt, so wie sie unter den Formen der Sinnlichkeit erscheint und gemäß den Formen des Verstandes verbunden wird, unumschränkte Geltung, so daß außerhalb derselben keine noumenale Welt mehr zugelassen werden kann. Jene ist daher das Substrat der durchgängigen Bestimmung aller Dinge. Daß die Sinneswelt als Erscheinungswelt bezeichnet wird unter Verwendung eines Begriffs, der dem Modell der Beziehung zwischen Ding an sich und Erscheinungsweise des Dings an sich entstammt und normalerweise „Erscheinung von etwas" bedeutet (vgl. KdrV, Β XXVI f., A 251 f.), darf keinen Anstoß erregen, da der Terminus untechnisch oder sogar inadäquat gebraucht sein könnte. Nach dieser Theorie kongruieren die Bereiche von Verstand und Sinnlichkeit völlig. 34

In der Kant-Forschung ist bisher völlig unbemerkt geblieben, daß die Konzeption einer Abhängigkeit aller Dinge vom ens realissimum nicht nur zu einer Auslegung berechtigt, nach der der Verstand weitei reicht als die Sinnlichkeit, sondern auch zu einer, nach der die Sinnlichkeit weiter reicht als der Verstand. Denn da sich das ens realissimum nur als Grenzbegriff, als eine Art Gegenentwurf zu unserer Erkenntnis (von der alle Beurteilung ausgehen muß), konzipieren läßt, also weder adäquat als diskursives Denken noch adäquat als rezeptives Anschauen begreifen läßt, vielmehr als Koinzidenz beider in einem intuitiven Verstand (vgl. KdrV (Transz. Log.), Β 135, Β 138 f., Β 145, Β 153) bzw. einer intellektuellen Anschauung (vgl. KdrV (Transz. Ästh.), Β 68, Β 72), findet sidi keines der beiden Momente vor dem anderen ausgezeichnet. Daher ist das angeblich nur denkbare allerrealste Wesen keineswegs nur Gegenstand eines anschaulich unausweisbaren Denkens, sondern ebenso Gegenstand eines begrifflich unzugänglichen Anschauens. Wenn dies aber der Fall ist, kann das diskursive Denken genauso gut als eine Verstandesart unter anderen aufgefaßt werden, die aus dem ens realissimum ableitbar sind und für die die sinnliche Anschauung das gemeinsame Substrat bildet, wie in der Gegenthese die Sinnlichkeit als eine Anschauungsart unter anderen, für die der Verstand das Gemeinsame ist. Kant hat es freilich unterlassen, diese Möglichkeit eigens zu thematisieren. Man darf jedoch vermuten, daß dies nicht in Verkennung der wahren Sachlage geschah; denn wie aus etlichen Textstellen, beispielsweise KdrV, Β 145 f., A 230 Β 283 hervorgeht, war er sich der Zufälligkeit und Beschränktheit des diskursiven Verstandes, der Art und Zahl seiner Begriffe durchaus bewußt, sondern weil sich für diese These nicht so wie für ihr Gegenteil irgendein Interesse der Vernunft (für jenes nämlich ein praktisches) geltend machen ließ, das sie über ein leeres Hirngespinst, eine bloße Schwärmerei hinaushob. Daß sich allerdings über weite Teile des Kantischen Werks ein gewisser Dogmatismus ausbreitet, demzufolge die Beschränktheit der Sinnlichkeit als bewiesen gilt, ist nicht zu leugnen.

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Nun stellen aber Thesis wie Antithesis nichts weiter als transzendentale Hypothesen des spekulativen Vernunftgebrauchs dar. Zwar lassen sie sich widerspruchsfrei denken, nicht jedoch anschaulich ausweisen. Wie alle ideellen Vorstellungen können sie gerade noch das Minimalkriterium der Wahrheit, nämlich logische Möglichkeit, für sich in Anspruch nehmen, nicht mehr aber das zureichende Kriterium, reale Möglichkeit. Da beide nicht beweisbar, allerdings auch nicht widerlegbar sind, muß die Alternative, ob der Gebrauch des Verstandes und der Sinnlichkeit sich ganz oder nur teilweise decken, prinzipiell unentschieden bleiben. Je nachdem, welches Interesse man verfolgt, wird man der einen oder anderen These den Vorzug geben. Die erste kommt dem Bedürfnis der praktischen Vernunft entgegen, indem sie den auf Sinnlichkeit restringierten Verstandesgebrauch, aus dem theoretisches Wissen entspringt, durch einen unrestringierten einschränkt und dadurch Platz für den Glauben schafft (vgl. KdrV, Β XXX). Die zweite hingegen entspricht dem Bedürfnis der theoretischen Vernunft, indem sie die totale Restriktion des Verstandes auf Sinnlichkeit zum Ziel des Forschens erklärt und so der Erkenntnis größtmögliche Erweiterung verheißt. Trotz ihres antithetischen Charakters sind beide Thesen miteinander verträglich, sofern sie nur als regulative und nicht konstitutive Prinzipien gewertet werden.

§ 10 Der instrumentale Aspekt Muß audi die Frage nach dem Umfang der Verbindung von Verstand und Sinnlichkeit, die Frage, ob eine Einschränkung durch unverbindbare Teile v o n a u ß e n möglich sei oder nicht, offen bleiben, so ist damit noch nichts über die Frage nach dem Ausmaß der Verbindung i m I n n e r n entschieden, also darüber, ob interne Schränken bestehen oder nicht. Es bleibt somit noch zu klären, ob sich Verstand und Sinnlichkeit durchgängig aufeinander beziehen oder nicht, ob beider Beschaffenheit eine potentiell unendlich stetige und gleichförmige Verbindung erlaubt oder nur eine partiale, sporadische. Hier geht es darum, die Umfangsbestimmung nicht von außen vorzunehmen, von einem gleichsam archimedischen Punkt, der, da er eine Totalübersicht verlangt, unser Fassungsvermögen doch immer übersteigt, sondern von innen unter Berücksichtigung unserer beschränkten Erkenntnisfähigkeit. Kant selbst hat sich dieses Problem in KdrV, A 90 Β 123 vorgelegt.

Der instrumentale Aspekt

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Er stellt dort die Hypothese auf: „Es könnten wohl allenfalls Erscheinungen so beschaffen sein, daß der Verstand sie den Bedingungen seiner Einheit gar nicht gemäß fände, und alles so in Verwirrung läge, daß ζ. B. in der Reihenfolge der Erscheinungen sich nichts darböte, was eine Regel der Synthesis an die Hand gäbe und also dem Begriffe der Ursache und der Wirkung entspräche, so daß dieser Begriff also ganz leer, nichtig und ohne Bedeutung wäre."

Gemeint ist hier, daß Erscheinungen „wild" auftreten könnten, erratisch, diffus, d. h. in einer aus endlichen Teilen bestehenden, inhomogenen, diskontinuierlidien Anschauung, in welcher sie durch die Einheitsfunktion des Verstandes nicht in den Kontext einer einzigen, umfassenden, einheitlichen Erfahrung gebracht werden könnten. Wie läßt sich dies widerlegen? Bevor wir dieser Frage nachgehen, müssen wir noch ein weiteres Umfangsproblem ansprechen. Es betrifft die Bestimmung des Ausmaßes apriorischer Erkenntnis im Rahmen der Verbindung von Verstand und Sinnlichkeit. Führt alle Verbindung von Verstandes- und Anschauungsformen zu a priori ausweisbaren Gesetzen oder nicht, wo liegt die Grenze zwischen a priori und nicht mehr a priori, nur noch a posteriori real zu legitimierenden Gesetzen? Auch diese Frage steht noch offen. Kant hat zwei Versuche zur Lösung obiger Probleme unternommen, einen in der 1. Aufl. der KdrV und, nachdem sich dieser als unangemessen erwiesen hatte, einen zweiten in der 2. Aufl. Zunächst zum ersten! Legen wir uns noch einmal unvoreingenommen die Ausgangsfrage vor: W i e können sich die subjektiv-apriorischen Bedingungen des Verstandes und der Sinnlichkeit überhaupt auf reale Gesetze beziehen?, so können wir aus ihr auch die Frage herauslesen: Uber welche M i t t e l und W e g e kann eine solche Beziehung überhaupt zustande kommen? Das Interesse gilt hier den Realbedingungen (Mitteln) der Gesetzeskonstitution und ihren Leistungen im einzelnen und im Zusammenhang, also der Abfolge der Schritte (Wege), über die die Konstitution erfolgt. Wir erhalten damit als weitere Bedeutungsnuance des Wie einen instrumentalen Sinn, wie er auch im W o m i t , W o d u r c h vorliegt. Anfangs glaubte Kant in der Tat, das Problem der internen Beziehung zwischen Verstand und Sinnlichkeit, ebenso das der Beziehung zwischen apriorischer und nicht apriorischer Erkenntnis auf diese Weise lösen zu können. Und dies mit einem gewissen Recht; denn wenn die Mittel und Wege a priori bekannt sind, über die eine Gesetzeskonstitu-

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tion im Prinzip zustande kommt, so muß sie sidi über diese audi jederzeit und überall a priori herstellen lassen. Die Kenntnis der Mittel und Wege garantiert nidit nur eine beliebige, durchgehende, immer gleiche Herstellbarkeit der Verbindung von Verstand und Sinnlichkeit, sondern auch eine apriorische. Aus diesem Grunde hat Kant in der Vorrede der 1. Aufl. der KdrV (A XVI f.) neben den Fragenkomplex, der das Hauptproblem der Transzendentalen Deduktion beinhaltet: „Was und wieviel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen?" 3S, als zweiten den gestellt: „Wie ist das V e r m ö g e n z u d e n k e n 3 6 selbst möglich?" Wenn der erste, die sog. objektive Seite der Deduktion, die G e s e t z e als P r o d u k t e von Erkenntnisakten des Subjekts thematisieren soll, so der zweite, die sog. subjektive Seite, die diese Gesetze p r o d u z i e r e n d e n subjektiven E r k e n n t n i s a k t e . Dies läuft auf eine Analyse des gesamten subjektiven Erkenntnisvermögens und seiner Funktionsweise hinaus, um mit Paton, I, 501 zu sprechen, auf eine Untersuchung der „subjective machinery". Wie Kant sich dies vorgestellt hat, darüber gibt zusammenfassend das Ende der Einleitungsparagraphen in die Transzendentale Deduktion (KdrV, A 94 f.) sowie in extenso die Deduktion von Α selbst Auskunft. Hiernach basiert die Gesetzeskonstitution auf drei originären Erkenntnisvermögen: 1. auf dem Vermögen der Sinne, das die Formen zur Rezeption des Anschauungsmannigfaltigen bereitstellt, 2. auf dem Vermögen des Verstandes, das die Formen der synthetischen Einheit beibringt, und 3. auf dem beide vermittelnden Vermögen der Einbildung, das die Synthesis des Anschauungsmannigfaltigen gemäß den Einheitsformen des Verstandes vollzieht. Mit ihrer Hilfe wird schrittweise — selbstverständlich in einem nicht-temporalen Vorgang — das Mannigfaltige der Anschauung der Verstandeseinheit subsumiert: Zunächst wird auf der Ebene der Sinnlichkeit das Mannigfaltige apprehendiert, sodann auf der Ebene der Einbildung reproduziert, um beim Durchlaufen desselben sein Abgleiten in Vergessenheit zu verhindern, und schließlich auf der Ebene des Verstandes auf ein einheitliches Bewußtsein gebracht, d. h. begriffen. 35 34

Gemeint ist damit das von uns in § 8, 86 ff. skizzierte Problem. Das „Vermögen zu denken" bedeutet hier nicht das reine, sondern das ansdiauungsbezogene Denkvermögen, also das Erkenntnisvermögen, wie der Zusammenhang mit der ersten Frage bereits vermuten läßt und eine spätere Erläuterung in KdrV, A 97 ausdrücklich bestätigt.

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Allerdings nimmt Kant bereits in der 1. Aufl. eine distanzierte Haltung gegenüber diesem Lösungsversuch ein. So bemerkt er an der schon zitierten Stelle der Vorrede (KdrV, A XVII), daß die subjektive Deduktion zwar in Ansehung seines „Hauptzwecks", des Beweises der objektiven Realität, „von g r o ß e r W i c h t i g k e i t " sei, jedoch „ n i c h t w e s e n t l i c h zu demselben" gehöre (gesp. v. Verf.). Vornehmlich gehe es ihm um die Überzeugungskraft der objektiven Deduktion; was die subjektive betreffe, lasse er audi andere Meinungen zu. Und in KdrV, A 96 f. heißt es, daß es „schon eine h i n r e i c h e n d e Deduktion" der Kategorien sei, „wenn wir beweisen können, d a ß vermittelst ihrer allein ein Gegenstand gedacht werden kann" (gesp. v. Verf.), was doch wohl den Schluß nahelegt, daß es sich bei der Erklärung, w i e vermittels ihrer allein ein Gegenstand gedacht werden kann, nur um eine z u s ä t z l i c h e Deduktion handelt. Den Eindruck bestätigen Äußerungen in jener langen Anmerkung zur Vorrede der MA, in welcher Kant zu Einwänden seiner Zeitgenossen gegen die Transzendentale Deduktion von Α Stellung nimmt und zugleich eine Neukonzeption vorlegt, die Ausgang der B-Fassung geworden ist. Mit fast denselben Worten konstatiert er dort, der „Hauptzweck des Systems" sei der Beweis, „ d a ß die Kategorien . . . gar keinen anderen Gebrauch, als bloß in Beziehung auf Gegenstände der Erfahrung haben können (dadurch daß sie in dieser bloß die Form des Denkens möglich machen)", hingegen sei die Beantwortung der Frage, „ w i e sie solche möglich machen, zwar wichtig genug, um diese Deduktion wo möglich zu v o l l e n d e n , a b e r . . . keineswegs n o t w e n d i g , sondern bloß v e r d i e n s t l i c h . Denn in dieser Absicht ist die Deduktion schon alsdann w e i t g e n u g geführt, wenn sie zeigt, daß gedachte Kategorien nichts anders als bloße Formen der Urteile sind, sofern sie auf Anschauungen... angewandt werden . . . " Und die Anmerkung schließt: „Gesetzt, die Art, w i e Erfahrung dadurch allererst möglich werde, könnte niemals hinreichend erklärt werden, so bleibt es doch unwidersprechlich gewiß, d a ß sie bloß durch jene Begriffe möglich" ist (ΜΑ, IV, 474 ff.). Was ist der Grund solcher Skepsis? Audi hierauf hat Kant eine Antwort gegeben (vgl. KdrV, A XVII), die freilich einer Erläuterung bedarf. Er vergleicht die Erforschung der zur Gesetzeskonstitution erforderlichen subjektiven Erkenntnisvermögen der Aufsuchung einer bestimmten Ursache bzw. Ursachenkomplexes zu einer gegebenen Wirkung, welche in diesem Falle die konstituierten Gesetze sind. Da jedoch das Schluß verfahren keineswegs zwingend ist, kann dem Ergebnis nur

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hypothetischer Wert beigemessen werden. Es hat allenfalls den Status eines objektiv und subjektiv unzureichenden Meinens, nicht den eines objektiv und subjektiv zureichenden Wissens. Auf den ersten Blick mag der Vergleich eines Bedingungsverhältnisses im Erkenntnisbereich mit einem Kausalverhältnis im Naturbereich überraschen. Seine Berechtigung erhellt aus der Definition, die Kant von „Vermögen" bzw. von den mehr oder weniger synonym gebrauchten Begriffen: „Kraft", „Handlung (actio)", „Tätigkeit" u. dgl.37 gibt, unter die das Erkenntnisvermögen als eine mögliche Art fällt Die Begriffe gehören im Kantischen Begriffssystem zur Klasse der abgeleiteten reinen Verstandesbegriffe und in dieser zur Unterklasse der aus bloßen Kategorien (ohne Verwendung anderer Elemente) abgeleiteten und in dieser wiederum zu der aus Relationskategorien abgeleiteten, im vorliegenden Fall aus der Verbindung der ersten und zweiten39. Damit ist ihr Inhalt eindeutig fixiert: er bedeutet „Kausalität einer Substanz". In diesem Sinne definiert Kant in KdrV, A 648 Β 676 (vgl. Pölitz, 34) „Kraft" und andernorts ähnlich die übrigen Begriffe (vgl. etwa Pölitz, 34 f.). Kraft also bezeichnet die Eigenschaft der Substanz, Ursache einer Wirkung zu sein. Es gilt zu beachten, daß Kraft, imgleichen jeder der stellvertretenden Begriffe nicht einfach mit S u b s t a n z identisch ist, vielmehr mit dem V e r h ä l t n i s der verursachenden Substanz zu ihren Wirkungen oder, wie man auch sagen kann, zu ihren Akzidenzien, stellen doch diese nichts anderes als Wirkungen dar. Da nun ein Verhältnis unbeschadet der Einheit der Substanz vielfältig und verschiedenartig sein kann (vgl. Teleol. Prinz., VIII, 181 Anm.), so darf es nicht verwundern, wenn Kant sowohl im naturalen Bereidi der materiellen Substanz mehrere Kräfte, reppellierende und attrahierende nämlich, zur Bewirkung ihres Grundakzidens „Bewegung" zuschreibt als auch im kognitiven Bereich dem Erkenntnissubjekt mehrere Kräfte zur Erzeugung einer Erkenntnis. Bezeichnet „Kraft", „Vermögen" usw. generell ein Ur37

Der einzige, allerdings rein formale Unterschied, den Kant bei kognitiven Vermögen durchgehend beachtet, ist der, daß er Anschauung als Fähgikeit, Verstand als K r a f t oder Vermögen beschreibt. Zu sachlichen Differenzen, die freilich weniger Kants System als vielmehr der traditionellen Metaphysik entstammen, vgl. vor allem Pölitz, 35. 34 Eingehende Untersuchungen hat D. Henrich in seinem Aufsatz „Ober die Einheit der Subjektivität" Kants Theorie der Erkenntnisvermögen gewidmet. Neben einer subtilen Analyse der Kantischen Theorie enthält der Aufsatz eine Darstellung des geschichtlichen Zusammenhangs, in dem die Theorie steht. " Näheres zu Prädikabilien vgl. § 17, 153 ff.

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sadie-Wirkungsverhältnis, so ist Kant legitimiert, im kognitiven Bereich genauso wie im naturalen ein solches anzusetzen und darauf sein Schlußverfahren zu gründen. Doch zu welchen Schlüssen berechtigt es? Normalerweise gestattet das Verhältnis eine prinzipielle Erkenntnis der Ursache, wenn auch nur in Form unzureichender Vergewisserung, d. h. es führt zwar zu einer Erkenntnis, nur eben nicht einer gewissen, sondern vermeinten. Seine eigentliche Anwendung findet es daher in den empirischen Wissenschaften, für die Meinen und nicht Wissen typisch ist. Von hier aus würde sich nahelegen, daß Kant an der Stelle KdrV, A XVII bei den aus realen Gesetzen zu erschließenden Erkenntnisvermögen die empirischen im Auge gehabt hat, die Derivate der transzendentalen, die Gegenstand der empirischen Psychologie sind. Doch dies vertrüge sich schlecht mit der Aufgabe einer transzendentalen Deduktion, die transzendentale und nicht empirische Kräfte zu untersuchen hat. Nun gibt es freilich auch einen übertragenen Gebrauch, der bei Kausalverhältnissen angewandt wird, von denen nur eines der Relata erkennbar, das andere prinzipiell unerkennbar ist, wie beim Verhältnis zwischen phänomenalem und intelligiblem Bereich. Solche Verhältnisse sind durchaus denkbar, weil Kausalität als dynamischer Verstandesbegriff anders als die mathematischen eine Verknüpfung von Ungleichartigem beinhaltet (vgl. KdrV, Β 201 Anm., Fortschr., XX, 292), folglich auch eine von total Ungleichartigem einschließen muß. Um aber von einem übertragenen Gebrauch überhaupt sprechen zu können, muß bereits feststehen, daß sich das eine Rektum unserer Erkenntnis entzieht, und dies muß durch andere Argumente als den Schluß selbst gesichert sein. Um zu entscheiden, ob transzendentale Erkenntnisvermögen real erkennbar sind oder nicht, sind zwei Möglichkeiten zu erwägen, von denen die eine auf der Realerkenntnis, die andere auf der Transzendenz der Vermögen insistiert. Soll eine wirkliche Erkenntnis stattfinden, so muß etwas vorliegen, was allen Erkenntnisbedingungen, d. h. allen Erkenntnisvermögen gemäß ist, weil nur aus dem Zusammen aller Erkenntnis entspringt. Ein solches Etwas könnte, was die Erkenntnisvermögen selbst betrifft, nur in einem empirischen Derivat der transzendentalen Funktionen bestehen, beispielsweise in Aufmerksamkeit oder Zerstreuung als Derivaten des Verstandes, in Schlaf, Ohnmacht, Trunkenheit als empirischen Zuständen des Sinnesvermögens usw. 40

Zu den Derivaten aller drei Vermögen s. Anthr., §§ 3 ff.

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Die transzendentalen Funktionsweisen qua tales hingegen lassen sich niemals erkennen, d. h. mit allen Erkenntnisbedingungen zusammenbringen, weil jede nur mit sich selbst, niemals aber mit den übrigen übereinstimmt, insofern zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung ihrer eignen Realerkenntnis abgibt. Nehmen wir als Beispiel den reinen Verstand oder, was für Kant dasselbe ist, das reine Selbstbewußtsein! Es besteht in dem Gedanken, daß alle Vorstellungen, die jemals m e i n e sollen genannt werden können, mit dem Gedanken „Ich denke" und der in ihm involvierten Einheit übereinstimmen müssen. Nun ergibt ein solcher auf sich selbst bezogener Gedanke noch keine Erkenntnis; Erkenntnis generell erfordert vielmehr, daß dem Selbstbewußtsein Reales anschaulich gegeben wird, auf das es sich beziehen kann, und Erkenntnis des Selbstbewußtseins speziell, daß es sich selbst als anschauliches Substrat gegeben wird. Damit jedoch würde das reine Selbstbewußtsein als solches transzendiert. Oder nehmen wir die reine Sinnlichkeit! Sie stellt die bloße Fähigkeit des Subjekts dar, zufolge seiner eignen Natur Reales zu rezipieren. Durch sie allein wird noch nichts erkannt. Zur Erkenntnis überhaupt bedarf es darüber hinaus der Bewußtmachung des Gegebenen, d. h. der Deutung auf ein Objekt hin, und zur Erkenntnis des reinen Sinnesvermögens der Bewußtmachung und Deutung desselben als Objekt. Doch dies hieße Überschreitung des reinen Sinnesvermögens als reinen. Entsprechendes gilt für die reine Einbildungskraft. So steht fest, daß die transzendentalen Erkenntnisvermögen zwar unumgängliche, jedoch keine hinreichenden Voraussetzungen der Erkenntnis des Realgrundes ihrer eignen Möglichkeit sind. Kant hat dies wiederholt in aller Schärfe zum Ausdruck gebracht. In KdrV, Β 422 sagt er ζ. B.: „Das Subjekt der Kategorien kann also dadurch, daß es diese denkt, nicht von sich selbst als einem Objekte der Kategorien einen Begriff bekommen; denn um diese zu denken, muß es sein reines Selbstbewußtsein, welches doch hat erklärt werden sollen, zum Grunde legen. Ebenso kann das Subjekt, in weldiem die Vorstellung der Zeit ursprünglich ihren Grund hat, sein eigen Dasein in der Zeit dadurch nicht bestimmen . . ( v g l . auch Prol., § 36).

Damit liegen die Gründe für Kants Skepsis gegenüber der subjektiven Deduktion und der in ihr involvierten instrumentalen Deutung des Wie offen zutage: D a die subjektiven Erkenntnisvermögen als Realbedingungen unserer Erkenntnis einer Einsicht unzugänglich sind, können sie auch nicht als Garanten einer allgemeinen, durchgängigen und gleich-

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förmigen Verbindung a priori von Verstand und Sinnlichkeit herangezogen werden. Nachdem sich diese Art der Durchführung als Fehlsdilag erwiesen hat, was nicht zu überraschen braucht, da angesichts der völligen Neuheit des Sujets einer transzendentalen Deduktion, ihrer unvermeidlichen Schwierigkeit' und „Dunkelheit" (KdrV, A 88 Β 121, ΜΑ, IV, 476 Anm.) nicht gleich der erste Weg auch der beste sein kann (vgl. ΜΑ, IV, 476 Anm.), steht Kant vor der Aufgabe eines neuen Lösungsvorschlags. Diesen unterbreitet er in der 2. Aufl. der KdrV. Allerdings liefert er auch mit der zweiten Fassung der Transzendentalen Deduktion — in Frage kommt vor allem ihr zweiter Teil 4 1 — nicht mehr als den Ansatz, während die eigentlidie Durchführung ausbleibt. Wie so oft zeigt sich Kant auch hier nur als Innovator, nicht zugleich als Explikator eines theoretischen Konzepts. Wir sind daher zu einer selbständigen Darlegung gezwungen. Um auch außerhalb der K d r V befindliche Hinweise und Bemerkungen einbeziehen zu können, werden wir dieselbe nicht in Anlehnung an den Beweisgang der Deduktion von Β vornehmen, zumal dieser nur aus dem Gesamtaufbau der Kritik angemessen interpretierbar ist, sondern in freier Konstruktion.

§ 11

Der modale Aspekt

Noch nicht berücksichtigt wurde in den bisherigen Erörterungen die grammatikalische Grundbedeutung des Wie, die eine modale ist. Mit Wie erfragt man gewöhnlich Beschaffenheit oder Verhalten von etwas, sei es den Zustand einer Sache, die Verfassung derselben, oder die Art und Weise eines Geschehensablaufs, die näheren Umstände. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist die ursprüngliche Frage, w i e sich die subjektiv-apriorisdien Bedingungen des Verstandes und der Sinnlichkeit auf empirisch gültige Gesetze beziehen können, so zu verstehen, daß nach der A r t und W e i s e , in welcher die Bedingungen Gesetze ermöglichen, gefragt wird. In den Blick genommen ist hier eine Strukturanalyse der Verbindung von Verstand und Sinnlichkeit, in der die letzteren nicht mehr auf den Realgrund ihrer Möglichkeit, sondern auf ihre formale Beschaffenheit hin untersucht werden. Auf diese Fragerichtung hat Kant 41

Die Transzendentale Deduktion selbst wird im Zusammenhang mit der Aufgabenbestimmung der Teile des Systems der Naturwissenschaft interpretiert, § 20, 210 f f .

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selbst einen deutlichen Hinweis gegeben, wenn er in § 21 der KdrV das Programm des zweiten Teils der Transzendentalen Deduktion mit den Worten umreißt: „In der F o l g e . . . wird aus der Art, wie in der Sinnlichkeit die empirische Anschauung gegeben wird, gezeigt werden, daß die Einheit derselben keine andere sei, als welche die Kategorie... dem Mannigfaltigen einer gegebenen Anschauung überhaupt vorschreibt" (KdrV, Β 144 f.).

Der modale Sinn der Frage ist vorzüglich geeignet, das nodi ungelöste Problem des inneren Ausmaßes der Verbindbarkeit von Verstand und Sinnlichkeit einer Lösung entgegenzuführen. Denn die Einsicht in die Struktur der Verbindung sichert die ganz allgemeine, durchgängige und stets gleichartige Herstellbarkeit derselben. Desgleichen ist die Fragerichtung auch dazu angetan, das Problem der Grenzziehung zwischen a priori und nicht mehr a priori ausweisbaren Gesetzen zu klären. Denn die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Einsicht in die Verbindung der Formen von Verstand und Sinnlichkeit ist gerade das Kriterium, das die Grenze bestimmt. Sie ist für die einzelnen Formen gesondert zu ermitteln. Um die Strukturanalyse erfolgreich durchführen zu können, müssen wir uns genauestens vergegenwärtigen, worauf es in ihr ankommt. Die Möglichkeit einer Verbindung zweier voneinander unabhängiger, heterogener Elemente setzt ein vermittelndes Drittes voraus, in dem beide übereinstimmen (vgl. KdrV, A 138 Β 177). Ohne dieses Bindeglied wäre eine Verknüpfung undenkbar; denn auf der einen Seite sind die Elemente nicht so gleichartig, daß sie wie ununterscheidbar Identisches in einem einzigen zusammenfielen, auf der anderen nicht so ungleichartig, daß sie überhaupt keine Gemeinsamkeit aufwiesen und wie absolut Differentes nur getrennt existierten. Als gleichartig und ungleichartig zugleich bringen sie eine Verbindung nur dadurch zustande, daß sie mit dem ihnen Gleichartigen im sog. Dritten zusammenstimmen, während sie mit dem ihnen Verschiedenen gleichzeitig von diesem differieren. Was Verstandes- und Anschauungsformen betrifft, so ist die F ο r m ihr Bindemittel, in der sie qua Verstandes- und Anschauungs f o r m e n übereinstimmen und von der sie sich qua V e r s t a n d e s - und A n s c h a u u n g s formen unterscheiden. Für uns ergibt sich daraus die Aufgabe, die Beziehung der zu verbindenden Glieder zum Bindeglied zu untersuchen sowie den Erkenntnisstatus des letzteren zu bestimmen. Hierfür bieten sich mehrere Möglichkeiten an, die Kant selbst an einer etwas

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entlegenen Stelle (Anthr., § 31) zusammengefaßt hat. Diese Stelle kann daher als Ausgangspunkt und Leitfaden der Untersuchung dienen: „Verstand und Sinnlichkeit verschwistern sich bei ihrer Ungleidiartigkeit doch so von selbst zu Bewirkung unserer Erkenntnis, als wenn [a)] eine von der anderen, oder [b)] beide von einem gemeinschaftlichen Stamme ihren Ursprung hätten; welches [c)] doch nicht sein kann, wenigstens für uns unbegreiflidi ist, wie das Ungleichartige aus einer und derselben Wurzel entsprossen sein könne."

These a) behauptet die Derivation des einen Erkenntnisbestandteils vom anderen. Sie sagt allerdings nichts darüber, welcher von welchem zu derivieren sei, sondern nur, daß einer der beiden ursprünglicher sei als der andere und somit diesem übergeordnet. Ursprünglicher gilt er in dem Sinne, daß er für sich allein ohne Voraussetzung des anderen möglich und verständlich ist, während der andere, von ihm abgeleitete, folglich ihm subordinierte nur unter Voraussetzung seiner möglich und begreifbar ist. Nach dieser These fällt das sog. Dritte, das die Übereinstimmung beider ausmacht, mit dem ersten zusammen. Von diesem wird es auf das spezifische Medium des zweiten übertragen. Wegen dieser Übertragung oder Zuteilung sprechen wir von Attributionsverbindung. Soweit ich übersehe, hat Kant nirgends Anstrengungen unternommen, diesen Lösungsvorschlag weiter auszubauen — aus verständlichen Gründen; denn die Zustimmung hätte die Leugnung der Selbständigkeit eines der beiden Grundpfeiler unserer Erkenntnis und damit die Aufhebung einer der wesentlichsten Prämissen seiner Erkenntnistheorie bedeutet. Dagegen existiert ein interessanter Versuch von Riehl 42 , die Form der Sinnlichkeit aus der Form des Verstandes (Selbstbewußtsein) abzuleiten. Die Auseinandersetzung mit diesem Ansatz kann uns die Motive näherbringen, die Kant zur Ablehnung bewegen mußten. Riehl nimmt eine Hierarchie der Erkenntnisvermögen an von der Art, daß der Verstand der Sinnlichkeit und, was die Sinnlichkeit betrifft, das zeitliche Anschauungsvermögen dem räumlichen übergeordnet ist 4 3 . Gemäß diesem Über- und Unterordnungsverhältnis gilt ihm die Form der Sinnlichkeit, das, worin Raum- und Zeitform übereinstimmen, abhängig von der Form des Verstandes. Sie wird als ,Wirkung und Eigenschaft der D e n k f u n k t i o n i n d e r A n s c h a u u n g ' be42 43

Riehl, II, 142 ff. Auf die letzte Stufung kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden, da hierzu eine Klärung des Verhältnisses der beiden Anschauungsvermögen untereinander erforderlich wäre. Diese bleibt dem nächsten Kapitel vorbehalten.

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trachtet (vgl. 147) und daher audi als „begriffliches" oder „logisches" Merkmal (vgl. ζ. B. 147, 157, 189) von anderen Raum und Zeit zukommenden Merkmalen, beispielsweise der Drei- bzw. Eindimensionalität oder der Struktur des Außer- bzw. Nacheinander abgehoben. Da sich jene Form für Riehl genauso wie für uns aus der Trias Unendlichkeit, Homogenität und Kontinuität konstituiert, versucht Riehl, jeden der spezifischen Anschauungscharaktere aus einem spezifischen Bewußtseinscharakter herzuleiten. So sieht er in der Unendlichkeit der Anschauung, sowohl was ihre Fortsetzung wie Teilung betrifft, den Reflex der Einheit des Selbstbewußtseins, der Möglichkeit desselben, sich in jede beliebige Distanz zweier noch so ferner oder noch so naher anschaulicher Vorstellungen interpolieren zu können, in der Homogenität den Reflex der Identität des Selbstbewußtseins, der Gleichheit dieses mit sich selbst in allen möglichen anschaulichen Vorstellungen, und in der Kontinuität den Reflex der Permanenz des Selbstbewußtseins, der Fähigkeit desselben, sich als beharrliche Entität im Wechsel der anschaulichen Vorstellungen durchzuhalten (vgl. 155 ff.). Allerdings fällt diese Ableitung an einer anderen Stelle (190 ff.) etwas anders aus, indem dort die Bewußtseinsrelata für Unendlichkeit und Kontinuität vertauscht werden, Unendlichkeit also aus der .Erhaltung und beliebigen Fortsetzung eines und desselben Schemas' (192) und Kontinuität aus der Einheit des Bewußtseins und der Möglichkeit seiner Interpolation (vgl. 191) hergeleitet wird. Das Schwanken läßt eine gewisse Unsicherheit erkennen. Hinzu kommt, daß sich unter den Momenten des reinen Bewußtseins eines findet, Beharrlichkeit nämlich, das unmöglich hierher gehören kann; denn als Schema der Substanzkategorie mit der Bedeutung: Dasein zu aller Zeit, setzt es zeitliche, wenn nicht gar räumliche Anschauung voraus. D a nicht allein die Einteilung der Bewußtseinsmomente, sondern auch die Ableitung der Anschauungsmomente aus ihnen ohne Begründung bleibt, vermittelt das Ganze den Eindruck eines intuitiven, tastenden, nicht rationalen, systematischen Vorgehens. Das Prinzip, auf dem die Analyse des Selbstbewußtseins einschließlich der Beziehung seiner Momente zu denen der Anschauung (von welcher Art immer diese auch sein mag) beruht, kann für Kant kein anderes sein als die Kategorientafel, wie dies unsere vorhergehenden Erörterungen dargelegt haben Auf den ersten Blick scheint sich Riehls Annahme von einer Hierarchie der Erkenntnisvermögen auf Äußerungen Kants selbst stützen zu "

§ 6, 73 ff., vgl. audi §§ 2 ff., 19 ff.

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können; denn auch Kant spricht gelegentlich von einem oberen und unteren Erkenntnisvermögen (vgl. KdrV, A 119 Β 134 Anm., A 835 Β 863). Doch handelt es sich hier lediglich um ein sprachliches Relikt aus der traditionellen Metaphysik, der die Vernunft als das klarere, höhergestellte Vermögen, die Sinnlichkeit als das dunklere, inferiorische galt. Im Kantischen System selbst entbehrt die Redeweise jeder sachlichen Grundlage. Was aber veranlaßt Riehl zu einer solchen Annahme? Riehl bestreitet die Grundprämisse der Transzendentalen Ästhetik: die Apriorität der Anschauungsformen Raum und Zeit. Das Außereinandersein koexistierender Elemente, das Nacheinandersein sukzessiver sind seiner Meinung nach keine erfahrungsindependenten, zur Grundausstattung des Subjekts gehörigen Formen, folglich auch keine notwendigen, allgemeinen, intersubjektiven Bedingungen der Erfahrung, sondern von Erfahrungstatsachen abhängige, an bestimmte sinnliche Gegebenheiten gebundene Verhältnisse. Er glaubt diese These durch Beobachtungen der empirischen Psychologie sichern zu können. So weist er darauf hin, daß es unmöglich sei, sich eine absolut reine, empfindungsfreie Vorstellung von Raum und Zeit zu machen, wie Kant dies für möglich hielt: jede Vorstellung einer räumlichen Gestalt setzt die Vorstellung der Angrenzung von Farben, zumindest von Schwarz und Weiß, voraus, jede Vorstellung der Ausdehnung irgendeinen Helligkeitsgrad usw. (vgl. 136). Zudem, wäre das Außereinander des Raumes (neben dem Nacheinander der Zeit) das einzige, allen Empfindungen zugrunde liegende Verhältnis, so müßten sich auch alle g l e i c h e r m a ß e n räumlich ordnen lassen. Es tun dies aber nur die Gesichtsempfindungen und in gewisser Weise die Tastempfindungen, die übrigen — Geruch, Geschmack, Ton — nur über mehr oder weniger komplizierte Transformationsvorgänge (vgl. 142 f.). Sind Raum und Zeit das Ergebnis von Empfindungsassoziationen, folglich ihrem Modus nach kontingent, beschränkt, so können in ihnen unmöglich die formalen, idealen Eigenschaften absoluter Unendlichkeit, Homogenität und Kontinuität, die wir unserer Raumund Zeitvorstellung zusprechen und bei jeder Beurteilung empirischer Verhältnisse zugrunde legen, ihren Grund haben. Denn Erfahrung zeigt allenfalls annähernd vollkommene Eigenschaften: annähernd kongruente, homogene Figuren, annähernd „gerade", richtungsidentische Geraden, annähernd kontinuierliche Bewegungsabläufe, niemals aber vollkommene. Daher — schließt Riehl — müssen die vollkommenen Eigenschaften aus dem Selbstbewußtsein stammen, aus dem Vermögen, Gleiches als Gleiches zu denken und festzuhalten.

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Es gibt für uns zwei Möglichkeiten einer kritischen Auseinandersetzung mit Riehl, entweder die, von der Differenz seines Ansatzes zum Kantischen, der Theorie der Sinnlichkeit, oder die, von der Gemeinsamkeit mit dem Kantischen, der Theorie des Selbstbewußtseins, auszugehen. D a die Entscheidung der Frage, ob Kant oder Riehl in der Annahme einer Apriorität bzw. Aposteriorität der Anschauungsformen und damit verbunden einer Immanenz bzw. Deriviertheit von Unendlichkeit, H o mogenität und Kontinuität recht zu geben sei, selbst nach dem heutigen Wissensstand eine Positionsentscheidung sein würde mit Argumenten für und wider auf beiden Seiten, erscheint es ratsam, vom Selbstbewußtsein auszugehen und von hier aus zu fragen, ob sich aus ihm tatsächlich, wie Riehl meint, jene Charaktere ableiten lassen. Das Selbstbewußtsein als solches ist für Kant wie für Riehl, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, invariant gegen den Wechsel oder Austausch von Anschauungsarten, d. h. es verharrt unverändert in seiner Verfassung, gleichgültig, welcher Anschauungstyp ihm untergelegt wird. Nach Kants Theorie läßt es sich nicht nur auf eine unendliche, homogene, kontinuierliche Anschauung von der A r t der unsrigen beziehen, sondern auch, zumindest in problematischer Hinsicht, auf eine endliche, inhomogene, diskontinuierliche oder wie immer sonst beschaffene, von der wir uns allerdings keine konkrete Vorstellung machen können. „Es ist aber wohl zu merken", sagt Kant Fortschr., X X , 272, „daß diese Kategorien . . . keine bestimmte Art der Anschauung (wie etwa die uns Menschen allein mögliche), wie Raum und Zeit, welche sinnlich ist, voraussetzen, sondern nur Denkformen sind für den Begriff von einem Gegenstande der Anschauung überhaupt, welcher A r t diese auch sei, wenn es auch eine übersinnliche Anschauung wäre, von der wir uns spezifisch keinen Begriff machen können." Auf diese Annahme gründete sich seine praktische Philosophie mit ihrem Postulat einer Denkmöglichkeit sinnlich unrealisierbarer Begriffe. Bei Riehl impliziert bereits die These vom Primat des Selbstbewußtseins gegenüber der Anschauung, daß jenes auf beliebige anschauliche Verhältnisse, mag es sich bei diesen um das Außereinander oder Nacheinander oder irgendein anderes K o existenz- oder Sukzessionsverhältnis handeln, anwendbar sein muß. Gesetzt den Fall, ausnahmslos alle mit dem Selbstbewußtsein verbundenen Anschauungsarten wiesen Unendlichkeit, Homogenität und Kontinuität auf, so ließen sich zwei Erklärungsmöglichkeiten für diesen Sachverhalt denken, entweder die, daß das Selbstbewußtsein selbst U r heber solcher Strukturen ist, oder die, daß es lediglich Explikator vor-

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findlicher ist. Im ersten Fall könnte man argumentieren: Genauso wie sich Kategorien jederzeit aus der Erfahrung herausziehen lassen, weil das Bewußtsein selbst sie in diese hineinlegt, genauso lassen sich audi Unendlichkeit, Homogenität und Kontinuität jederzeit antreffen, weil das Bewußtsein selbst ihr Urheber ist. Im zweiten Fall brächte das Bewußtsein lediglich die den Anschauungsformen immanenten Strukturen zur Bewußtheit. Räumt man die Möglichkeit einer Unendlichkeit, Homogenität und Kontinuität in allen Anschauungsarten ein, so wäre Riehls Vorschlag ein durchaus akzeptabler. Ist nun aber diese Möglichkeit in einem der beiden Systeme gegeben? Dies muß verneint werden. Kant läßt immerhin den problematischen Gedanken einer Erstreckung des Selbstbewußtseins über die unendliche, homogene, kontinuierliche Anschauung hinaus auf eine andersgeartete, möglicherweise auf eine aus endlichen Teilen bestehende, inhomogene, diskontinuierliche zu. Damit scheidet das Selbstbewußtsein als Ursprung der Unendlichkeits-, Homogenitäts- und Kontinuitätsstruktur aus. Allerdings gibt es bei ihm auch den ebenfalls problematischen Gedanken einer völligen Kongruenz der Anwendungsbereiche von Selbstbewußtsein und unendlicher, homogener, kontinuierlicher Anschauung. Der Grund, der ihn hier zur Ablehnung des Riehischen Lösungsvorschlags veranlassen würde, liegt in der Annahme der Apriorität der Anschauungsformen, welche Voraussetzung der Erklärung der Mathematizität der Natur und damit auch der Möglichkeit von Naturwissenschaft ist. Denn, ohne hierauf näher eingehen zu wollen, ist soviel klar, daß bei Annahme empirisch kontingenter und beschränkter Anschauungsverhältnisse und ihrer Transformation mittels des Bewußtseins in ideale geometrische Gebilde mit vollkommener Unendlichkeit, Homogenität und Kontinuität auf eine nachträgliche Applikation solcher auf Natur verzichtet werden müßte. Denn eine Applikation idealer geometrischer Gebilde wird nur durch eine notwendige, allgemeine, konstante, also apriorische Anschauungsform gewährleistet. Audi in Riehls Ansatz weisen nicht alle mit dem Bewußtsein verbundenen Anschauungsverhältnisse Unendlichkeit, Homogenität und Kontinuität auf; denn Riehl wird kaum behaupten wollen, daß Farbe, Geruch, Geschmack usw., welche wie das Außer- und Nacheinander zu jenen empirischen Verhältnissen gehören, solche Strukturen enthalten, sondern eben nur Raum und Zeit. Das aber deutet auf eine besondere Disposition dieser beiden gegenüber den anderen hin. Nach These b) haben Verstand und Sinnlichkeit einen gemeinsamen

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Ursprung. Kant beschreibt dieses Abstammungsverhältnis häufig mit Metaphern aus dem organischen Bereich, beispielsweise mit der Metapher der Verästelung eines Stammes (vgl. Anthr., § 31) oder des Hervorgehens zweier Stämme aus derselben Wurzel (ib., ferner KdrV, A 15 Β 29). Wie bei der Begriffsableitung in der Logik hat man hier von einem genus proximum auszugehen und per differentiam specificam zu den species fortzuschreiten, nur daß hier das genus nicht als Begriff aufzufassen ist, sondern als gemeinsames Prinzip begrifflicher und anschaulicher Form, als Form überhaupt mit den Merkmalen der Notwendigkeit, Allgemeinheit und Intersubjektivität, und die species ebenfalls nicht als Begriffe, sondern als Verstandes- und Anschaungsform mit den artspezifischen, durch das jeweilige Medium besonderten Eigenschaften der Ganzheit, numerischen Identität und Einfachheit auf der einen Seite, der Unendlichkeit, Homogenität und Kontinuität auf der anderen. Das sog. Dritte und Bindeglied beider Elemente tritt hier als gemeinsames Ableitungsprinzip auf. Kant hat einer solchen These niemals stattgegeben und auch nicht stattgeben können. Denn Ableitung setzt Einsicht in das Ableitungsprinzip voraus — ohne ein Wissen von dem, woraus abgeleitet werden soll, muß der Vorgang selbstverständlich undurchsichtig bleiben —, eine solche Einsicht aber ist uns verwehrt. Das Prinzip ist nicht nur faktisch unbegriffen, sondern, worauf das durative, einen Wesenszustand beschreibende Adjektiv „unbegreiflich" (Anthr., § 31) weist, prinzipiell unbegreifbar. Der Grund liegt darin, daß jede Erkenntnis einschließlich der des Ableitungsprinzips vom menschlichen Erkenntnisstandpunkt aus die Verbindung von Verstandes- und Anschaungsform erfordert, beide Formen jedoch aus ihm erst gewonnen werden sollen, folglich, ohne eine petitio principii zu begehen, für sein Verständnis nicht schon vorausgesetzt werden können. Aus demselben Grunde entfällt audi der naheliegende Gedanke, daß das Ableitungsprinzip für Verstandes- und Anschauungsformen mit der menschlichen Erkenntnis schlicht identisch sei, weil diese nichts anderes als die strukturelle Einheit beider Formen darstelle, folglich durch diese und auch nur durch diese erkannt werden könne. Hier gibt man vor, das zu verstehen, was erst einer Erklärung bedarf, eben jene Einheit. Auch läßt sich das Prinzip nicht durch eine der beiden Formen allein fassen; denn jede von ihnen ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung der Erkenntnis. Daher bleibt das Prinzip, je nadi-

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dem von welcher Seite man es betrachtet, eine bloße, sei es begriffliche, sei es anschauliche Idee. Eine Erkenntnis desselben wäre nur möglich unter Bedingungen anderer Art als der menschlichen Erkenntnis, etwa unter der Bedingung eines für uns hypothetischen intuitiven Verstandes bzw. einer intellektuellen Anschauung. So wie These c) vorliegt, bietet sie nicht mehr als den Ansatz zu einer Lösung, dessen Ausführung uns selbst aufgegeben bleibt. Die These formuliert das in der vorhergehenden Untersuchung gewonnene Ergebnis, demzufolge sich das Ableitungsprinzip für Verstandes- und Anschauungsform, das zugleich beider Verbindungsprinzip ist, der Erkenntnis entzieht. Fest steht damit auch, daß die Verbindung, so wie sie faktisch in der Erfahrung vorliegt, mit dem Charakter der Kontingenz behaftet bleibt; sie läßt sich eben nur hinnehmen. Allerdings steht uns offen, sie durch den r e i n e n G e d a n k e n der Notwendigkeit zu interpretieren. Voraussetzung dafür ist, das Verhältnis zwischen Verbindungsprinzip und Verbindungsprodukt mit Hilfe der ebenfalls reinen Kausalkategorie als Verhältnis zwischen Ursache und (notwendiger) Wirkung aufzufassen. Dies muß möglich sein, da sich dynamische Kategorien als Verknüpfungsbegriffe von Ungleichartigem zumindest problematisch auch auf erkenntnismäßig Ungleichartiges, wie hier auf real Erkennbares und nur Denkbares, beziehen4S. Zugleich eröffnet sich hiermit eine neue Perspektive der Erklärung der Verbindung. Wäre es nicht möglich, bei Annahme eines Kausalverhältnisses trotz Unerkennbarkeit des Verbindungsprinzips (Ursache) aus der W i r k u n g s w e i s e desselben, die unbeschadet der Einheit der wirkenden Substanz in vielfältigen Beziehungen zu den Akzidenzien bestehen kann 46 und im vorliegenden Fall in Beziehungen des Erkenntnissubjekts über Verstandes- und Anschauungsform zur Erkenntnisleistung besteht, auf die Verbindung als notwendige Wirkung zu schließen? Zwar würde hierdurch nadi wie vor die Verbindung nicht im eigentlichen Sinne als notwendig erkannt, im Gegenteil, wegen der Unzugänglidikeit des Prinzips und der in ihm gründenden, aus ihm allein auch verständlichen Notwendigkeit bliebe sie für unsere Einsicht immer zufällig; aber sie würde als notwendig aus der Eigenheit der Verbindungsstrukturen gefolgert. Doch was soll dies heißen? Es soll heißen, daß 45 44

§ 10, 99. Vgl. hierzu das früher über die Kräfteausübung der Substanz Dargelegte, § 10, 98 f.

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durch den Gebrauch der Strukturen selbst, also mit und in dem Erkenntnisvollzug, sich die als notwendig supponierte Verbindung herstellt. Sie ist Idee, die nicht als Erkenntnis in Form eines abgeschlossenen Ergebnisses gehabt wird, sondern sidi in einem unendlichen Erkenntnisprozeß beständig vollzieht. Hier wäre der exzeptionelle Fall gegeben, daß die Erkenntnis von etwas mit dem Erkenntnisvorgang selbst zusammenfällt. Wir bewegen uns daher in dem ständigen Zirkel einer zu erkennen aufgegebenen notwendigen Verbindung und ihrer Erkenntnis durch notwendige Verbindung. Was die Erschließung der strukturellen Einheit aus den Erkenntnisstrukturen betrifft, so kann sie keine andere sein als die per analogiam. Um den Sinn dieser Aussage voll zu verstehen, ist weiter auszuholen und Begriff und Anwendungsmöglichkeit der Analogie generell zu klären. Der Analogiebegriff hat bei Kant eine wohldefinierte Bedeutung. Sie unterscheidet ihn sowohl methodisch vom nicht präzisierten, vagen Alltagsverständnis, das unter Analogie Bedeutungen wie: Entsprechung, Ähnlichkeitsbeziehung, Gleichheit bzw. Ubereinstimmung in gewissen Merkmalen und anderes subsumiert, wie auch inhaltlich von der herkömmlichen Auffassung, die unter Analogie ein Mittleres zwischen Univokation, Wesensidentität zweier Seiender, und Äquivokation, Wesensdifferenz bei nomineller Ubereinstimmung, versteht 47 . Für Kant bedeutet Analogie nicht „eine unvollkommene Ähnlichkeit zweier Dinge, sondern eine vollkommene Ähnlichkeit... zwischen ganz unähnlichen Dingen" (Prol., § 58). Die vollkommene Ähnlichkeit unterschiedlicher Seiender ergibt sich aus ihrer Zugehörigkeit zu einer und derselben Gattung; sie betrifft daher den gemeinsamen Komplex von Gattungsmerkmalen. Auf der Identität des Grundes beruht auch der Analogieschluß48. Er folgert aus der Ubereinstimmung von Gegenständen in einigen Punkten auf die in allen, sofern es sich hierbei um Gattungseigenschaften handelt. Das Verfahren geht folglich von partialer auf totale Ähnlichkeit: „ V i e l e s i n e i n e m (was auch in andern ist), also audi alles übrige in demselben" (Reil. 3282, Log., § 84). Man wird leicht gewahr, daß der Analogieschluß in beiden Analogaten ein Verhältnis voraussetzt, und zwar eines zwischen der teilweise ausgemachten Ubereinstimmung zu der, die zur völligen Ubereinstimmung noch zu ergänzen ist. Aus diesem

47

Zum traditionellen Verständnis, wie es vor allem in der Theologie begegnet, vgl. Specht, 7 ff. « Vgl. Log., § 84 und deren Vorlage Refl. 3276 ff.

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Grunde läßt er sich sinnvoll nur auf Verhältnisse anwenden, etwa auf solche von Größen, nicht aber auf Größen selbst. Nur wenn Teile einer Sphäre übereinstimmen, wie in der Proportion -f- = 75 die 4 in beiden Nennern, können bei Kenntnis der ganzen Sphäre der Ubereinstimmung — in unserem Beispiel: 7 — die noch fehlenden Teile — nämlich 9 (-*- 3 - 3 ) — exakt bestimmt werden. Ihren Niederschlag findet diese Erkenntnis in der vollständigen Analogiedefinition, die oben nur verkürzt wiedergegeben wurde. Analogie bedeutet, streng genommen, nicht die „vollkommene Ähnlichkeit . . . zwischen ganz unähnlichen Dingen", sondern die „vollkommene Ähnlichkeit zweier Verhältnisse zwischen ganz unähnlichen Dingen" (Prol., § 58), mag es sich bei diesen um quantitative, qualitative oder modale handeln oder um die unter dem Relationstitel zusammengefaßten von Substanz und Akzidens, Ursache und Wirkung, Wirkung und Gegenwirkung 49 . Dem Analogieschluß wird von Kant eine weitreichende Verwendungsmöglichkeit zugestanden. Der Schluß ist nicht allein in den Naturwissenschaften, vor allem den empirischen, heimisch, sondern ebenso in der Mathematik und in der Logik. Charakteristisch für diese Gebiete ist, daß in ihnen Analogate und tertium comparationis denselben Erkenntnisstatus haben, wenngleich in abgestufter Form: in Form der Erfahrungserkenntnis, der reinen mathematischen Erkenntnis, des reinen Denkens. Daneben finden sich aber auch Anwendungsbereiche mit Analogaten grundsätzlich unterschiedlichen Erkenntnisstatus. Wenn wir ζ. B. den Naturmechanismus mit dem Schöpfungsakt Gottes vergleichen, dann gehört der Naturmedianismus als Kausalverhältnis mit sinnlich bedingter Ursache dem phänomenalen Bereich an, während die Schöpfung als Kausalverhältnis mit sinnlich unbedingter Ursache und Sinneswelt als Wirkung in den intelligiblen fällt. Das beiden Gemeinsame ist hier nur noch die reine Kausalkategorie. Oder nehmen wir als anderes Beispiel den Vergleich der mechanischen Wechselbeziehungen bewegender Kräfte in der Natur mit den Rechtsverhältnissen menschlicher Handlungen in einer Sozietät (vgl. Prol., § 58 Anm. 1, KdU, § 90). Auch hier, wo der eine Vergleichsgegenstand in die theoretische Philosophie, der andere in die praktische fällt, besteht das beide Verbindende nur noch Hiermit hängt audi die Einführung des Analogiebegriffs unter den Relationskategorien in der KdrV (A 179 f. Β 221 ff.) zusammen. Die dort beschriebene Übertragung des Begriffs von den quantitativen Verhältnissen der Mathematik auf die qualitativen der Philosophie ist vordergründig, da Mathematik selbst in Transzendentalphilosophie gründet.

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in dem reinen Gedanken der Wechselbeziehung. Auf seiner Basis allein ist auch ein Analogiesdiluß von den am einen Gegenstand bekannten Bestimmungen auf die am anderen unbekannten gerechtfertigt. Das Erkennen per analogiam reduziert sich hier auf ein reines Denken per analogiam (vgl. Prol., § 58 Anm. 1, KdU, § 90 und Anm. 1). Während bei Analogaten unterschiedlicher Erkenntnisstufe (Phänomenalität und Intelligibilität) das tertium comparationis immerhin nodi im logisch Möglichen erblickt werden kann, fragt sich, worin es bei solchen besteht, die zusammen erst Erkenntnis ergeben, wie Verstandesund Anschauungsform. Hier ist das Zu-Vergleichende weder der Erkenntnis zugänglich, weil diese erst aus dem Zusammen beider Analogate hervorgeht, noch dem reinen Denken oder reinen Anschauen, weil beide sich wechselseitig ausschließen. Handelt es sich überhaupt um Vergleichbares? Wenn hier nicht ein Paradoxon vorliegt, muß die Pointe gerade darin bestehen, daß sich die Analogate allererst zum tertium comparationis ergänzen. Jedes der beiden Analogate würde, wenn die Annahme richtig ist, bereits für sein Selbstverständnis das Pendant voraussetzen, dieses also indirekt schon mitdenken, so daß nur ein wechselseitiger Ausgang von beiden Analogaten die komplette Analogie, die gerade die Erfahrung wäre, ans Licht zu bringen vermöchte. Analogie fiele hier mit Interdependenz zusammen. Damit stellt sich für uns die Aufgabe, sowohl an der einen wie an der anderen Form die Mitpräsenz des Pendants aufzuzeigen. Wollte man versuchen, Verstandes- und Anschauungsform für sich, ohne mindeste Rücksicht auf das jeweilige Gegenstück zu definieren, und zwar nicht nur im Sinne einer Nominaldefinition, bei der man „bloß den Namen einer Sache andere und verständlichere Wörter" unterlegt (KdrV, A 241 Anm.), sondern im Sinne einer Realdefinition, bei der man ein Wesensmerkmal der bezeichneten Sache angibt und dadurch die Bezeichnung auf den wirklichen Gegenstand anwendbar macht (vgl. KdrV, A 241 f. Anm.), so stellte sich die Unmöglichkeit heraus. Denn der Gegenstand konstituiert sich erst in der Verbindung von Verstandes- und Anschauungsform. „ V e r s t a n d und S i n n l i c h k e i t " , sagt Kant KdrV, A 258 Β 314, „können bei uns n u r i n V e r b i n d u n g Gegenstände bestimmen. Wenn wir sie trennen, so haben wir Anschauungen ohne Begriffe, oder Begriffe ohne Anschauungen, in beiden Fällen aber Vorstellungen, die wir auf keinen bestimmten Gegenstand beziehen können."

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Hieraus folgt, daß Verstandes- und Ansdiauungsform wechselweise füreinander das Kriterium ihrer Sachbezogenheit bilden, daß sie definiendum und definiens zugleich sind. Sowenig wie das Bewußtsein jemals als Bewußtsein eines r e a l e n Gegenstands verständlich werden könnte ohne die Möglichkeit der Realisierung an einem außerhalb seiner gegebenen Seienden, sowenig könnte die Anschauung jemals als Anschauung eines b e g r e i f b a r e n Gegenstands verständlich werden ohne die Möglichkeit der Bewußtmachung und Deutung mittels des Bewußtseins. Das reine Bewußtsein als Bewußtsein von Bewußtsein bliebe inhaltsleere Spontaneität, das reine Anschauen unverständige, blinde Rezeptivität (vgl. KdrV, A 51 Β 75). Daher muß in einer Sachdefinition beides zusammenkommen: Realitätsbezug durch das Ansdiauungsmannigfaltige und Deutung durch das Bewußtsein. Dies erklärt, warum die sachbezogene Definition einer jeden Einzelform stets das Pendant impliziert und warum selbst die Beschreibung oder Umschreibung des Eigendiarakters einer Form nur im Ausgang vom Zusammenwirken mit der anderen unter künstlicher Eliminierung derselben möglich i s t D i e s soll nun im einzelnen anhand der Eigenschaften von Anschauungs- und Verstandesform vorgeführt werden. Wenn in der Mathematik, Naturwissenschaft oder Philosophie, in allen Bereichen des exakten Erkennens oder der Erforschung der Grundlagen desselben, Homogenität definiert wird, so geschieht dies auf folgende Weise: Ein Gebiet von Variablen ist homogen zu nennen, wenn eine Aussage, die für einen Wert des Gebietes gilt, eo ipso auch für jeden anderen desselben gilt. Ist beispielsweise G eine Gerade und Ρ und P' jeweils ein Punkt und A(G,P) eine Aussage über G und P, dann soll gelten: PeG Λ P'eG Λ A(G,P) -> A(G,F), d. h. die gleiche Aussage, die auf einen auf der Geraden gelegenen Punkt zutrifft, soll auf jeden anderen auf ihr befindlichen und beliebig herausgreifbaren Punkt zutreffen. Alle Punkte der Geraden sollen vollkommen ununterscheidbar sein hinsichtlich irgendwelcher geometrischer Aussagen. Worauf beruht die Präzision dieser Definition, die in der Form eines Gesetzes ihren greifbaren Ausdruck hat? Sie beruht auf der Punktuali50

Daher mußte die Besdireibung der Verstandes- und Anschauungsdiaraktere in $ 6, 72 ff. notwendig vorläufig bleiben.

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sierung des Wertbereichs: der Zerlegung der Geraden in eine Vielheit von Elementen oder, um ein anderes Beispiel zu nehmen, der Zerlegung der Zeit in eine Reihe von Augenblicken oder der Bewegung in eine Vielzahl von Orten des zurückgelegten Weges und in eine Vielzahl von Momenten der benötigten Zeit. Denn allein Punkte sind exakt feststellbar und präzisen Bestimmungen unterwerfbar. Daher muß der Mathematiker, Physiker, Philosoph den Wertbereich erst auflösen, um ihn sich gefügig zu machen. Nun sind Punkte wegen ihrer absoluten Einfachheit keine Bestandteile der Anschauung selbst, vielmehr Stellen der Einschränkung anschaulicher Extension, Grenzen also zwischen Ausgedehntem. Dächte man sich daher die Anschauung ursprünglich aus Punkten zusammengesetzt, so dächte man sie sich aus lauter Grenzen bestehend, ohne daß doch etwas aneinandergrenzte. Die Punkte fielen in einem einzigen zusammen, ohne die geringste Extension zu ergeben. Das deutet darauf, daß Punkte Fremdelemente in der Anschauung darstellen, daß sie sekundäre Einfügungen des Verstandes sind, und zwar wegen ihrer absoluten Einfachheit Einfügungen der Einheit des Verstandes. In ihnen spiegelt sich das eine, identische Bewußtsein wider. Selbstverständlich setzt die Möglichkeit solcher Einschaltung seitens der Anschauung vollkommene Homogenität voraus; denn ohne die Sache selbst hätte das Bewußtsein nichts, was es als mit sich selbst identisch interpretieren könnte. Es geschieht also nur um der Deutung willen, daß das Bewußtsein die anschaulich vorgegebene Gleichförmigkeit punktualisliert und so einer exakten Begriffsbildung und in deren Folge einer Quantifizierung, d. h. einem Zählen, Messen und Wägen zugänglich macht. Damit erweist sich die obige Homogenitätsdefinition als rationale Interpretation einer anschaulichen Gleichförmigkeit durch die Identität des Bewußtseins; als rationale Interpretation aber stellt sie zugleich das präzise Verständnis eines für sich allein Unverständlichen dar. Die Definition des potentiell Unendlichen, die in den exakten Wissenschaften gegeben wird, lautet so: Ein Bereich von Variablen heißt unendlich, wenn sich zu jeder Summe seiner Elemente noch ein weiteres Element findet. Zur Exemplifizierung wird meist die unendliche Reihe der natürlichen Zahlen herangezogen, deren Grundlage wegen ihrer sukzessiven Herausbildung die unendliche Zeit ist. Die Reihe drückt aus, daß jede Zahl, desgleichen jede ihr zugrunde liegende und von ihr stellvertretene Zeitstelle einen Nachfolger hat, d. h. daß es zu jeder Zahl bzw. Zeitstelle, bestehend entweder aus Eins oder der Zusammenset-

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zung von Einsen, noch eine weitere Einheit gibt. Zahlen- und Zeitgerade sind ins Unendliche fortsetzbar. Dies läßt sich auf die Formel bringen: OO

Σ α η = αχ + α2 + α 3 . . . + α η + . . . η=1 Es ist klar, daß es sich hier um eine bloße Aufbauregel der Zahlen und Zeitstellen handelt, eine Konstruktionsanweisung also, wie durdi fortgesetzte Addition von Einheiten jede beliebige Zahl und Zeitstelle erzeugt werden kann. Dies bestätigt auch Kant, wenn er in Refl. 4192 den potentiellen Unendlichkeitsbegriff so expliziert: „Die Unendlichkeit ist kein o b j e k t i v e r bestimmter Begriff einer Größe im Verhältnis auf andere, sondern s u b j e k t i v eine Übersteigung einer Größe über alle von uns angebliche" (gesp. v. Verf.). Und wenn er in Refl. 4756 sagt: „Unendlich ist größer als alle Zahl", so meint er damit nichts anderes, als daß die Zählaktion über jede gegebene oder angebbare Zahl hinaus fortgesetzt werden kann, ohne je an ein Ende zu kommen. Nun sind Elemente wie Zahlen und Zeitstellen auf Grund ihrer absoluten Einfachheit keine Wesensbestandteile der Anschauung, sondern nachträglich vom Verstand angebrachte Markierungen: Zeitstellen sind einteilende Grenzen der unendlichen, homogenen, kontinuierlichen Zeitgeraden, Zahlen als deren Stellvertreter Einschnitte des unendlichen, homogenen, kontinuierlichen Zahlenwachstums. Daß solche Markierungen beliebig vorgenommen und ausgedehnt werden können, setzt die Unbegrenztheit der Anschauung voraus. „ D a s U n e n d l i c h e i s t . . . die Bedingung der Möglichkeit des progressus in infinitum oder indefinitum" (Refl. 5893). Ohne die anschauliche Unendlichkeit vorzufinden, könnte das Bewußtsein seine mittels Markierung vorgenommene Begriffsbildung überhaupt nicht leisten. Die Form, mit der es sie leistet, mit der es die anschauliche Unendlichkeit ins Bewußtsein hebt, kann keine andere sein als die Allumfassenheit des Bewußtseins. Es ist das eine-ganze Bewußtsein und nicht eine Vielheit von Bewußtseinen, welches die Unendlichkeit der Anschauung durch unendlichfache Integration interpretiert. Da es unmöglich ist, von Unendlichkeit auch nur zu sprechen, ohne gleichzeitig einen Begriff davon zu haben, ist Kant selbst dort, wo er wie in der Transzendentalen Ästhetik die anschauliche Unendlichkeit einführt, auf einen solchen angewiesen. Nicht nur, daß er den Begriff, der als gemeinsames Merkmal einer Pluralität von Vorstellungen diese insgesamt u n t e r s i c h enthält, der Anschauung, die ihre Vorstellun-

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gen insgesamt i n s i c h enthält, gegenüberstellt, er beschreibt bereits diese durch jenen, indem er ihr potentiell unendlich viele Teile konzediert, die doch nichts anderes sind als vom begrifflichen Denken vorgenommene und ins Unendliche fortsetzbare Einteilungen. Kontinuität pflegt man folgendermaßen zu definieren: Eine in einem Bereich irgendwelcher Wertverbindungen erklärte Funktion heißt stetig, wenn der Wert der Differenz je zweier in dem Bereich vorkommender Werte bei abnehmender Größe derselben gegen Null konvergiert. Gewöhnlich greift man auf das Beispiel der unendlichen Teilbarkeit einer Strecke zurück, um sich Kontinuität zu verdeutlichen. Kontinuität kommt hier darin zum Ausdruck, daß sich eine willkürlich ausgegrenzte Strecke mit den Endpunkten Ρ und P' in ihrem Mittel, dem Punkt P " , teilen läßt, die so erhaltene Teilstrecke P P " wiederum in ihrem Mittel, dem Punkt'", die so erhaltene Teilstrecke P P " ' wiederum in ihrem Mittel P " " usw. Kein Teil der Strecke stellt ein absolutes Minimum dar, sondern ist einer erneuten Teilung fähig. Denn zwischen zwei noch so nahe gelegenen Punkten können immer noch näher zueinander gelegene eingeschaltet werden, ohne daß ein Grund vorhanden wäre, diese Positionsfolge irgendwo abzubrechen. Kant definiert Kontinuität geradezu als „Eigenschaft der Größen, nach welcher an ihnen kein Teil der kleinstmögliche (kein Teil einfach) ist" (KdrV, A 169 Β 211). Was für die potentiell unendliche Teilung gilt, gilt umgekehrt auch für die Zusammensetzung der beliebig klein ausgrenzbaren Teile. Jeder Schritt derselben vollzieht sich über eine unendliche Reihe von Zwischenschritten, die insgesamt kleiner sind als der von Ρ nach P \ Auf der Suche nach den Voraussetzungen, die in die obige Definition eingehen, mag uns eine Beobachtung einen Hinweis geben. Während Stetigkeit in der Diss, von 1770 unter den „principiis formae mundi sensibilis" abgehandelt wird, also unter den Anschauungsformen Raum und Zeit, in einem Atemzug mit anderen Eigenschaften derselben, etwa dem nicht-empirischen Ursprung, der Reinheit, der Subjektivität usw., kommt sie bereits in der Reil. 4673 von 1774, die eine Vorstufe der Transzendentalen Ästhetik der K d r V bildet, nicht mehr vor. Gleiches gilt für die Kritik. Nicht dort, wo man sie gemäß ihrem Charakter als Anschauungsstruktur erwartet, in der Transzendentalen Ästhetik, begegnet man ihr, sondern im System der Grundsätze des reinen Verstandes, sowohl unter den mathematischen als Gesetz extensiver und intensiver quanta continua als auch unter den dynamischen als Gesetz der Stetigkeit der Veränderung. Eine Erklärung findet dies darin, daß sich

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ein echtes Kontinuitätsverständnis erst bei einer rationalen Interpretation durch das Bewußtsein und seine verschiedenen kategorialen Momente erschließt. Zwar muß anschauliche Kontinuität schon vorliegen, aber erst begriffliches Denken bringt sie in sensu stricto in den Griff. Da anschauliche Kontinuität einen einzigen, lückenlosen Gestaltzug, ein einfaches Band, darstellt, geschieht dies mit der einem solchen Anschauungscharakter allein angemessenen Bewußtseinsstruktur, nämlich der Einfachheit und Unzusammengesetztheit des Bewußtseins. Und es geschieht so, daß das einfädle Bewußtsein das anschaulich Vorfindliche in einfache Punkte aufzulösen und auf diese Weise sich zu unterwerfen sucht, hierbei aber immer zwischen zwei Punkten auf ununterbrochen Zusammenhängendes trifft, das einer weiteren Auflösung bedarf. Dadurch kommt es zu einer ins Endlose gehenden Interpolation des Bewußtseins zwischen je zwei begrifflich gesetzten, hervorgehobenen Punkten der Anschauung. Wählen wir nun den entgegengesetzten Ausgangspunkt und analysieren das reale, sachbezogene Verständnis der Strukturelemente des Selbstbewußtseins! Es fällt auf, daß Kant, wenn er vom quantitativen Moment des Selbstbewußtseins: der Einheit desselben spricht, nicht von einer beziehungslosen Einheit, sondern einer d u r c h g ä n g i g e n oder n u m e r i s c h e n Identität spricht. Diese Rede ist nur sinnvoll in bezug auf eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen, der gegenüber sich das Selbstbewußtsein als ein und dasselbe zu bewahren vermag, beispielsweise in bezug auf eine Vorstellungsfolge in der Zeit. In der Tat definiert Kant die Einheit des Selbstbewußtseins auch als eine solche, die dem Bewußtseinssubjekt „den verschiedenen Zeiten nach, in welchen es 51 da ist" (KdrV, A 344 Β 402), zukommt. Das Subjekt ist ein und dasselbe zu verschiedenen Zeiten und weiß sich auch so. Seine Einheit ist ein Sich-mit-sich-identisch-Wissen in jedem beliebigen Zeitpunkt oder allgemeiner: in jedem beliebigen Punkt einer Anschauung. Formalisiert man diesen Sachverhalt, so ergibt sich, wenn Α das Selbstbewußtsein bzw. eine Äußerung desselben und Ρ und P' Augenblicke der Zeitgeraden G sind, genau wie im Homogenitätsbeispiel: P £ G A P'eG Λ A(G,P) -> A(G,P'), d. h. das gleiche Selbstbewußtsein bzw. die gleiche Aussage, in der es 51

Im Text steht statt „es" „sie", weil das Pronomen dort auf „Substanz" statt auf „Subjekt" bezogen ist.

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sich manifestiert, gilt sowohl in diesem wie jenem Moment wie auch in jedem anderen willkürlich herausgegriffenen. Hier ist das Anschauungsmannigfaltige die Bedingung der Existenz und damit zugleich auch des Realverständnisses der Bewußtseinseinheit. Aber nicht irgendein Anschauungsmannigfaltiges, sondern nur ein bestimmtes vermag eine Reidentifikation des Selbstbewußtseins in jedem beliebigen Teil zu garantieren, nämlich ein vollkommen homogenes. Nur dieses, das auf der Einen Anschauungsform beruht, ist ein geeignetes Medium durchgängiger Spiegelung der Einen Bewußtseinsform. Es läßt sich einsehen, warum allein eine Mannigfaltigkeit anschaulicher und nicht begrifflicher Vorstellungen die Möglichkeit der Reidentifikation zu erklären vermag. Eine Vielheit von Bewußtseinsinhalten, welche nicht letztlich auf ein sinnliches Substrat zurückginge, fiele wegen der UnUnterscheidbarkeit der Bewußtseinsstrukturen in sich zusammen. Dem Bewußtsein bliebe damit nur die eigne Struktur zur Wiedererkennung übrig. D a sich Einheit aber nicht an Einheit, sondern ausschließlich an Mannigfaltigkeit verständlich machen läßt, und zwar als Bewahrung der Einheit in der Mannigfaltigkeit, bedarf das Selbstbewußtsein notwendig der Instanz der Gegebenheit. Versucht man, ebenso die Einzigkeit des Selbstbewußtseins zu definieren, jenen modalen Charakter, kraft dessen das Selbstbewußtsein letztes und höchstes und damit allumfassendes Einheitsprinzip ist, so gelingt dies nur durch die Vorstellung, daß das „Ich denke" alle Data, die ihm in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gegeben wurden, gegeben werden und gegeben werden mögen, mit seinem Bewußtsein muß begleiten können. Als nicht weiter multiplizierbares Bewußtsein weiß es sich ausnahmslos für alles Vorgegebene gültig. Seine Allumfassenheit ist zu verstehen als Gleichheit mit sich selbst in allem Anschaulichen, ζ. B. über die ganze Zeit hinweg. Da — um beim Beispiel zu bleiben — in der ganzen Zeit, darin ich mir meiner bewußt bin, ich mir dieser ganzen Zeit als zur Einheit meines Selbst gehörig bewußt bin (vgl. KdrV, A 362), ist es letztlich gleichgültig, ob ich wie bei der Behandlung des Identitätscharakters sage: „Ich bin mit numerischer Identität in aller dieser Zeit befindlich" (ib.) oder: „Diese ganze Zeit ist in mir als individueller Einheit" (ib.). Es handelt sich um denselben Sachverhalt nur unter verschiedenen Aspekten. Hier wie dort ist das Anschauungsmannigfaltige Bedingung der Existenz und realen Verstehbarkeit des Selbstbewußtseins, nur daß jetzt sein Unendlichkeitscharakter im Vordergrund steht, um den Ganzheitscharakter des Selbstbewußtseins begreif-

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lieh zu machen. Dieser allein ist auch dazu geeignet, weil beide Komplementaritätsbegriffe darstellen. So zeigt sich die anschauliche Unendlichkeit als notwendiges Implikat der Definition der Einzigkeit des Selbstbewußtseins. Es bedarf ihrer, damit sich das Bewußtsein durch eine potentiell unendliche Integration als das eine-ganze Bewußtsein inne werden und damit erst im eigentlichen Sinne verstehen kann. Eine rein begriffliche Einheit würde hierzu aus demselben Grunde, den wir bei der Erörterung der Einheit des Selbstbewußtseins anführten, nicht ausreichen. Was ist unter dem qualitativen Moment der Einfachheit und Unauflösbarkeit des Selbstbewußtseins zu verstehen? Der sinnvolle Gebrauch der Rede setzt einen Komplex auflösbarer Vorstellungen voraus, in dem das Selbstbewußtsein einfach und unauflöslich vorhanden ist. Dieser Komplex kann aber nicht von begrifflichen Vorstellungen repräsentiert werden; denn diese würden, wenn ihre Vielheit nicht letztlich in einem sinnlichen Substrat gründete, wegen Strukturidentität koinzidieren, so daß dem Bewußtsein nur die eigne einfache, unauflösliche Struktur zur Demonstration seiner Einfachheit und Unauflöslichkeit bliebe. Also müssen anschauliche Vorstellungen ihn verkörpern, und sie können dies auch, da sie in beliebig viele, noch so große oder kleine Teile zerlegbar sind. Folglich wird man Einfachheit und Unauflösbarkeit des Selbstbewußtseins nur verstehen können, wenn man sie als Eigenschaften auffaßt, die dem Selbstbewußtsein in allen möglichen, in infinitum teilbaren Teilen der Anschauung zukommen. Sie sind, recht betrachtet, das Sidi-mit-sich-einfach-und-unauflösbar-Wissen in immer wieder auflösbaren Anschauungsteilen. Auch hier übernimmt das Anschauungsmannigfaltige die Realisierung des Selbstbewußtseins und damit die Konkretisierung seines Verständnisses. Nur geschieht dies hier entsprechend der Einfachheit und Unauflösbarkeit des Selbstbewußtseins mit Hilfe der Kontinuität der Anschauung; denn als einfacher, ununterbrochener Zusammenhang ist diese das anschauliche Korrelat zu jener Bewußtseinsstruktur. So erweist sich Kontinuität als unumgängliches Postulat des Selbstbewußtseins, weil allein auf ihrer Grundlage, selbst bei noch so oft wiederholter Teilung der Anschauung, das Bewußtsein sich als einfach und unauflöslich wiederzufinden vermag. Damit haben wir die durchgängige Interdependenz der Bewußtseinsund Anschauungsstrukturen aufgezeigt, auf der jedes echte reale Verständnis derselben beruht. Zugleich haben wir damit ihr notwendiges

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Zusammengehen zur Erfahrung, ihre strukturelle Einheit, sichtbar gemacht. Mit dem Nachweis einer Struktureinsicht in die Verbindung von Verstand und Sinnlichkeit ist es uns gelungen, das Versprechen einzulösen, das Kant zwar gibt, wenn er sich die Aufgabe stellt, die Möglichkeit der Verbindung ihrer Art und Weise, also ihrem Wie nach, zu erklären, aber an keiner Stelle, weder im Zusammenhang der Transzendentalen Deduktion noch im Zusammenhang der in § 31 der Anthr. aufgestellten These noch sonstwo, wirklich einlöst. Mit ihm ist auch jene Hypothek abgetragen, die Kant seiner Theorie a priori begründbarer Naturgesetzmäßigkeit insgesamt auflastet, die Hypothek nämlich, den Begründungsvorgang selbst transparent zu machen, um ihn dadurch in den Griff zu bekommen; denn strukturelle Einsicht ist, wie sich zeigte, die einzige, kraft deren dies gelingt. Allerdings ist die Einsicht bisher nur in die Verbindung von Verstandes- und Anschauungsform überhaupt, noch nicht in die der spezifischen Formen nachgewiesen. Es bleibt zu sehen, wie weit sie sich ausdehnen läßt.

in. Kapitel Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen A. Raum und Zeit § 12

Die Interdependenz von Raum und Zeit

Wenn wir uns im folgenden die Frage nach dem U m f a n g apriorischer Gesetzesbegründung stellen, so muß diese, da die Μ ö g 1 i c h k e i t apriorischer Gesetzesbegründung auf der Einsicht in die Struktur der Verbindung von Verstand und Sinnlichkeit beruht, darauf hinauslaufen, welche spezifischen Formen der Sinnlichkeit an dem allgemeinen sinnlichen Strukturenbestand: Unendlichkeit, Homogenität und Kontinuität teilhaben; denn von jenen Formen muß dasselbe gelten wie von diesen Strukturen, daß sie geeignete Verbindungsglieder für eine interdependente Verbindung mit dem Verstand abgeben und damit seitens der Sinnlichkeit die Bedingung für die Konstitution notwendiger, allgemeiner, intersubjektiver Gesetze erfüllen. Aus der 1. Aufl. der KdrV und den vorangehenden Schriften könnte man den Eindruck gewinnen, als qualifiziere sich hierzu allein die Zeit. So zeichnet die Transzendentale Ästhetik (KdrV, A 34 Β 50) die Zeit vor dem Raum dadurch aus, daß sie sie für „die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt", innerer wie äußerer, erklärt, den Raum hingegen „als Bedingung a priori bloß auf äußere Erscheinungen" einschränkt. In diesem Sinne hatte es schon in der Diss. ( § 1 5 Cor.) geheißen, daß die Zeit „überhaupt alles durch ihre Beziehungen umfaßt, nämlich den Raum selbst und außerdem noch die Akzidenzien, welche in den Relationen des Raumes nicht befaßt sind, wie die Überlegungen des Geistes (complectendo omnia omnino suis respectibus, nempe spatium ipsum et praeterea accidentia, quae in relationibus spatii comprehensa non sunt, uti cogitationes animi)" 1 . Hierauf aufbauend, rückt 1

Vgl. ferner Refl. 4515 f. (Anfang der 70er Jahre).

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Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen

das Schematismuskapitel ebenfalls die Zeit in den Vordergrund. Als formale Bedingung „der Verknüpfung a l l e r Vorstellungen" (KdrV, A 138 Β 177, gesp. ν. Verf.) kann selbstverständlich nur die Zeit mit der Kategorie im Hinblick auf eine Allgemeinheit gleichartig sein und ein adäquates Substrat für die Anwendung derselben abgeben. Der Schematismus erweist sich so als ein ausgesprochener Zeitschematismus; eine Anwendung der Verstandesbegriffe auf den Raum ist nur vermittels der Zeit möglich. Das Grundsatzkapitel setzt diese Tendenz fort, indem es die fundamentale Rolle der Zeit bei der Konstitution der Naturgesetze im einzelnen herausstreicht. Aus all diesen Fakten ergibt sich eine Priorität der Zeit gegenüber dem Raum, darin bestehend, daß die Zeit eine u n i v e r s e l l e Anschauungsform darstellt mit folglich u n e n d l i c h homogener, kontinuierlicher Struktur, der Raum dagegen — überspitzt formuliert — eine b e g r e n z t e , e n d l i c h e mit auch nur b e g r e n z t , e n d l i c h homogener, kontinuierlicher Struktur. Da Kant jedoch gleichzeitig das Theorem einer Abbildbarkeit der Zeit auf eine räumliche Gerade, und zwar einer notwendigen, vertritt, mithin einer Darstellbarkeit aller zeitlichen Verhältnisse an räumlichen, was selbstverständlich die Universalität des Raumes voraussetzt, besteht von Anfang an ein Widerspruch, den zu beseitigen das entscheidende Motiv der Revision und Weiterentwicklung seiner Raum-Zeit-Theorie ist. Nachdem ihm während der Arbeit an den MA die Bedeutung des Raumes — hier in Verbindung mit der Zeit im Bewegungsbegriff — mehr und mehr bewußt geworden ist, korrigiert er in der 2. Aufl. der KdrV seine Theorie dahingehend, daß er an die Stelle der Prävalenz der Zeit eine Äquivalenz von Raum und Zeit setzt: beide Anschauungsformen gelten als gleichermaßen allgemein, homogen und kontinuierlich. Ihren Niederschlag findet diese Korrektur darin, daß Kant die Transzendentale Ästhetik mit einem Zusatz versieht 2 , in dem er die fundamentale Bedeutung des Raumes bei der Erklärung des Anschaungscharakters, selbst desjenigen der Zeit, hervorhebt, daß er das System der Grundsätze um eine Allgemeine Anmerkung erweitert 3 , in der er den Zeitschematismus grundsätzlich, wenn auch nicht ausführlich, durch einen Raumschematismus ergänzt, und daß er die Widerlegung des Idealismus 2

3

KdrV, Β 66 ff., vgl. audi den Exkurs innerhalb der Transzendentalen Deduktion Β 152 ff. KdrV, Β 288 ff.

Die Interdependenz von Raum und Zeit

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neu schreibt 4 und dabei die Angewiesenheit der Zeit und der auf ihr basierenden inneren Erfahrung auf den Raum und die in ihm fundierte äußere Erfahrung zeigt. In den folgenden Schriften, vor allem im Op. p., ist das Theorem der Gleichwertigkeit von Raum und Zeit fester Bestandteil seines Systems. Die Strukturgleichheit von Raum und Zeit, deren Ausdruck eine homomorphe Projizierbarkeit beider aufeinander ist, hat ihren Grund nach Kant in einer Interdependenz — einer Dependenz nicht nur des Raumes von der Zeit, wie sie vor allem in der 1. Aufl. der KdrV sichtbar wird, sondern auch der Zeit vom Raum, wie sie sich insbesondere in der 2. Aufl. zeigt. Worin besteht diese? Das ausfindig zu machen und hiermit gleichzeitig die Grundlagen einer Bewegungsdeduktion aufzudecken, die nichts anderes als der Nachweis der Einheit von Raum und Zeit auf der Basis einer solchen Wechselimplikation ist, muß im folgenden unsere Aufgabe sein. Wir werden so vorgehen, daß wir zunächst eine These über die Gründe der Interdependenz aufstellen, sodann diese erläutern und schließlich anhand des Kantischen Textes belegen. Die These ist die, daß Raum und Zeit, die darin übereinstimmen, daß sie Formen der Anschauung sind, d. h. nach dem früher Erörterten 5 F o r m e n bzw. V o r s t e l l u n g s a r t e n einer u n e n d l i c h e n , homogenen, kontinuierlichen Mannigfaltigkeit (Extension), auf Grund ihrer spezifischen Natur als Formen des äußeren und inneren Sinnes unterschiedliche Prioritäten setzen bezüglich der beiden in obiger Wesensdefinition vereinigten Merkmale: dem der Vorstellungsart und dem der unendlichen, homogenen, kontinuierlichen Mannigfaltigkeit, dergestalt, daß der Raum den Mannigfaltigkeitscharakter, die Zeit den Vorstellungscharakter betont. Da die andere, jeweils weniger charakeristische Eigenschaft nichtsdestoweniger zu ihrem Wesen gehört, muß sie mit Hilfe des Pendants erklärt werden: der Vorstellungscharakter des Raumes mit Hilfe der Zeit, der Mannigfaltigkeits(Anschauungs-)charakter der Zeit mit Hilfe des Raumes. Welche Evidenz kann diese These für sich beanspruchen? Raum und Zeit unterscheiden sich nach Kant darin, daß der Raum die Form des äußeren Sinnes, die Zeit die Form des inneren ist. Vermittels des äußeren Sinnes stellen wir äußere Gegenstände vor, vermittels des inneren innere. Was bedeuten Außen und Innen? Da es sich 4 5

KdrV, Β 274 ff. mit Β X X X I X ff. § 6, 72 ff. und § 7, 82 f.

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Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen

um Relationsbegriffe handelt, setzt die Lokalisierung der Gegenstände, von denen sie prädiziert werden, ein Koordinatensystem voraus, das naturgemäß das vorstellende Subjekt ist. Äußere Gegenstände sind diejenigen, die sich relativ zu meinem eignen leiblidien Subjekt a u ß e r h a l b desselben befinden, d. h. an einem anderen Ort, als an dem ich bin. Da freilich auch mein eigner Körper ein äußerer Gegenstand ist, folglich in die vollständige Bestimmung mit einbezogen werden muß, reicht der bisherige Schritt allein noch nicht aus; ein zweiter ist erforderlich. Da diesem nach Wegfall meines eignen Körpers als Koordinatensystem nur die Gegenstände untereinander bleiben, heißen äußere Gegenstände jetzt diejenigen, die sidi außerhalb eines jeden anderen befinden oder, um den Rückbezug zum Ausgangspunkt wiederherzustellen, die sich aus meiner Sicht n e b e n e i n a n d e r befinden6. Diesen beiden Schritten, die zur Vorstellungsbildung äußerer Gegenstände als solcher unerläßlidi sind, entspricht exakt die Raumdefinition, die Kant in der 2. Aufl. der KdrV (A 23 Β 38, vgl. auch Op. p., XXII, 5, 2) gibt: Raum als Form äußerer Gegenstände ist die Form des Außer- und Nebeneinander7. 6 7

Zu den beiden Schritten vgl. Diss., § 15, KdrV, A 22 Β 37, A 23 Β 38. Eine andere erwähnenswerte Deutung des Außer- und Nebeneinander hat Prauss in einem Vortrag mit dem Titel „Schematismus und Raum im Kantischen Sinne" gegeben, den er im SS 1971 in Heidelberg hielt. Danach ist die Definition im Zusammenhang eines Entwicklungsprozesses zu sehen, der von der Bestimmung eines bloßen Außereinander in der Diss. (§ 15) und 1. Aufl. der KdrV (A 23) über die eines Außer- und Nebeneinander in der 2. Aufl. (B 38) zu der eines Nebeneinander im Op. p. (XXII, 5,2) reicht. Grund dieser Entwicklung sei die Erkenntnis, daß das Außereinander kein Spezifikum des Raumes darstelle, sondern ebenso eine Eigentümlichkeit der Zeit, ihres Nacheinander, sei, so daß die Abhebung des räumlichen Außereinander vom zeitlichen einer Ergänzung durch das Nebeneinander bedürfe. Allerdings handle es sich auch bei dieser Definition nicht um die endgültige, weil das Nebeneinander im Sinne reiner Nachbarschaft auch auf das Nacheinander zutreffe; endgültige Definition sei vielmehr das Zugleich. Hierzu ist zu bemerken: Da 1. das Nebeneinander nicht erst der 2. Aufl. der KdrV angehört, sondern bereits der 1. (vgl. KdrV, A 27 Β 43, A 40 Β 57), ja selbst in noch früheren Überlegungen eine Rolle spielt (vgl. Refl. 4673), zumal es Kant aus der Tradition geläufig war (ζ. B. definiert Baumgarten, § 239 „spatium" als „ordo simultaneorum extra se invicem positorum" und übersetzt „simultanes" in § 238 mit „nebeneinander seiende"), und da 2. Außer- und Nebeneinander, abgesehen von ihrer festen Verbindung in der Formel „Außer- und Nebeneinander", häufig synonym gebraucht werden, läßt sich eine eigentliche Entwicklung der Raumdefinition nicht konstatieren. Die Ergänzung des Außereinander durch das Nebeneinander in der 2. Aufl. der KdrV kann daher nur so erklärt werden, daß Kant hier sprachlich etwas ausdrücklich macht, was sachlich schon in der 1. Aufl. vorliegt, nämlich die beiden zur Bestimmung äußerer Gegenstände erforderlichen Schritte, heißt es doch nicht nur in A 22: „Vermittelst des äußeren S i n n e s — stel-

Die Interdependenz von R a u m und Zeit

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Von einem Außer- und Nebeneinander kann sinnvoll nur die Rede sein, wenn etwas vorliegt, was außer- und nebeneinander ist: zumindest müssen dies zwei Elemente sein, im Prinzip können es unendlich viele sein; denn da das Außer- und Nebeneinander relativ ist, folglich als unendlich kleine wie unendlich große Distanz gedacht werden kann, muß es eine potentiell unendliche, gleichartige, kontinuierlich sich erstreckende Mannigfaltigkeit garantieren. Die Vorstellung des Außerund Nebeneinander ist somit untrennbar mit der einer unendlichen, homogenen, kontinuierlichen Mannigfaltigkeit verbunden. Ist der Raum Prinzip des Außer- und Nebeneinander, so ist er auch Prinzip jener Mannigfaltigkeit. Zwar darf insoweit als gesichert gelten, daß der Raum Exponent einer Mannigfaltigkeit ist, noch nicht aber, daß er deren ursprünglicher und eigentlicher Exponent ist, von dem alle anderen dependieren. Verkörpern nicht auch andere Gegebenheitsweisen, beispielsweise ein Farbkomplex, eine Tonsequenz, eine Zeitfolge, genauso ursprünglich Mannigfaltigkeit, so daß mitnichten dieser Charakter für derjenige gehalten werden kann, welcher den Raum spezifisch von anderen Gegebenheitsweisen unterscheidet. Da Empfindungen, Farben, Töne usw., sich insgesamt über mehr oder weniger komplizierte Transformationen in Raumoder Zeitform einordnen lassen, reduziert sich die Frage im wesentlichen darauf, ob nicht neben der Raumform auch die der Zeit ursprünglich Mannigfaltigkeit verkörpere. Hier gilt es nun auf eine Differenz in der Zeitvorstellung aufmerksam zu machen. Es besteht ein Unterschied zwischen der reinen Aufeinanderfolge der Augenblicke, welche inkonstant ist, und der konstanten Form der Aufeinanderfolge der Augenblicke. Es ist etwas anderes, ob ich i m Prozeß der irreversibel sich verdrängenden Momente stehe, mir nacheinander zwar jedes einzelnen von ihnen in der Reihenfolge ihrer Aktualität inne bin, des Jetzt und jetzt wieder Jetzt und so fort, aber keine Vorstellung vom Prozeß selbst habe, auch nicht haben kann, weil mein Vorstellen vom Strome der immer neu andrängenden Momente überrollt wird, oder ob ich ü b e r dem Prozeß stehe und eine Vorlen wir uns [1.] Gegenstände als außer uns und [2.] diese insgesamt im Räume v o r " , sondern audi in A 23: „Denn damit gewisse Empfindungen [1.] auf etwas außer mir bezogen werden (d. i. auf etwas in einem andern Orte des Raumes, als darin ich midi befinde), [2.] imgleidien damit idi sie . . . in verschiedenen Orten vorstellen könne, dazu muß die Vorstellung des Raumes schon zum Grunde liegen."

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D e r U m f a n g einer B e g r ü n d u n g a priori v o n N a t u r g e s e t z e n

Stellung von seinem Verlauf selbst habe. Allein die letzte Vorstellung ist auch eine von einer Mannigfaltigkeit der Momente 8 . Nun impliziert diese Vorstellung aber mehr als nur das reine Nacheinander der Momente, die reine Zeit, nämlich darüber hinaus eine Form, die von sich aus Mannigfaltigkeit repräsentiert und dadurch imstande ist, auch die Vorstellung des Zeitmannigfaltigen zu ermöglichen. D a hierfür die reine Zeit ausscheidet, bleibt nur der Raum übrig 9 . Damit steht fest, daß keine Vorstellung von Mannigfaltigkeit ohne ein räumliches Substrat zustande kommen kann. Also haben wir nicht nur, sofern wir Raum sagen, Mannigfaltigkeit, sondern, sofern wir nur Mannigfaltigkeit sagen, bereits Raum. Raum und (unendliche, homogene, kontinuierliche) Mannigfaltigkeit sind schlechthin identisch. Während der Mannigfaltigkeitscharakter ein offenkundiges Indiz des Raumes ist, kann dies von seinem Vorstellungscharakter nicht behauptet werden. Auch der Newtonische Raum, obwohl nicht Vorstellungsart, sondern Ding an sich, erfüllt alle Bedingungen einer Räumlichkeit, sogar einer Mathematizität, wie Kant selbst konzediert (vgl. KdrV, A 40 Β 57); die Kritik an dieser Konzeption richtet sich lediglich gegen die innere Widersprüchlichkeit, die sich aus der gleichzeitigen Annahme einer Bedingungsfunktion des Raumes und einer Ding-ansich-Natur ergibt. Wenn zur Vermeidung solcher Schwierigkeit nach Kant der Raum und die durch ihn repräsentierte unendliche, homogene, kontinuierliche Mannigfaltigkeit nicht im transzendentalen Sinne a u ß e r uns, sondern 8

D e r Unterschied deckt sich nicht mit dem zwischen Anschauungsform und f o r m a l e r Anschauung, sondern b e t r i f f t einen noch d a v o r anzusetzenden zwischen den Teilen der Anschauungsform und der Anschauungsform als G a n z e m . W ä h r e n d es sich bei jenem u m einen Unterschied zwischen einer z w a r geordneten, aber noch nicht verbundenen u n d zur Einheit des Bewußtseins gebrachten M a n n i g f a l t i g k e i t und einer verbundenen und zur Einheit des Bewußtseins gebrachten handelt, handelt es sich bei diesem u m einen Unterschied zwischen den möglichen Teilen einer M a n n i g faltigkeit und dem G a n z e n der M a n n i g f a l t i g k e i t , dem geordneten, wenngleich noch nicht verbundenen M a n n i g f a l t i g e n . A u s diesem G r u n d e ist die Vorstellung v o n der A u f e i n a n d e r f o l g e der Augenblicke noch nicht identisch mit dem Bewußtsein v o n der A u f e i n a n d e r f o l g e der Augenblicke im strengen Kantischen Sinne als synthetischer Einheit des M a n n i g f a l t i g e n ; sie ist vielmehr dessen anschauliche G r u n d l a g e , der gemäß sich die Synthesis vollzieht. Ihren C h a r a k t e r beschreibt K a n t in der 1. A u f l . der K d r V (A 94) t r e f f e n d mit dem Ausdruck „ S y n o p s i s " . Demnach also w ä r e Synopsis das, w a s die Vorstellung der Folge (Zeitform) v o n den sich folgenden Vorstellungen (dem Nacheinander in der Z e i t f o r m ) unterschiede.

9

Wir werden dieser A r g u m e n t a t i o n später im Z u s a m m e n h a n g der N o t w e n d i g k e i t einer A b b i l d u n g der Zeit auf den R a u m zur E r k l ä r u n g ihres M a n n i g f a l t i g k e i t s = Anschauungscharakters wiederbegegnen.

Die Interdependenz von Raum und Zeit

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i η uns sein soll, damit weder Ding an sich wie Newtons absoluter Raum noch Eigenschaft von Dingen an sich wie Leibnizens Relationssystem, vielmehr Vorstellungsart von Dingen und als solche eine Bestimmung oder ein Zustand des Vorstellungsvermögens, so läßt sich das nur dadurch begründen, daß er in diejenige Form einbeschreibbar ist, die Ordnungsprinzip der Vorstellungszustände ist, in die Zeit nämlich. Nach seiner vollständigen Definition als V o r s t e l l u n g s a r t einer unendlichen, homogenen, kontinuierlichen Mannigfaltigkeit gehört daher der Raum wie „alle Vorstellungen, sie mögen nun äußere Dinge zum Gegenstande haben oder nicht, . . . zum innern Zustande . . . ; dieser innere Zustand aber unter die formale Bedingung 10 der innern Anschauung, mithin die Zeit 1 1 « (KdrV, A 34 Β 50). Treten wir nun in eine nähere Analyse der Zeit ein! Da die Zeit im Gegensatz zum Raum die Form des inneren Sinnes ist, der Anschauung unserer Seele, unseres Gemüts, wie Kant in herkömmlicher Terminologie sagt, und der Zustände desselben, muß sie audi aus dem Gegensatz zum Raum heraus bestimmt werden. Anders als die durch den Raum vorgestellten Gegenstände sind die durch die Zeit vorgestellten in, nicht außer uns, folglich können sie auch nicht wie jene außer- und nebeneinander, mithin ausgedehnt sein, sondern müssen unausgedehnt, d. h. punktuell, momentan sein. Innerlichkeit ist gleichbedeutend mit Ausdehnungslosigkeit, Einfachheit: Punktualität bzw. Augenblicklichkeit. Ist Zeit die Form innerer Gegenstände, so ist ihr Wesen Augenblicklichkeit. Allerdings ist ihr Wesen damit noch in keiner Weise zulänglich bestimmt; denn die Frage ist nicht nur, wie i n n e r e , sondern wie innere G e g e n s t ä n d e vorgestellt werden können, d. h. eine Vielheit derselben, beschränkt auf einen einzigen Augenblick;. Dies ist nicht anders möglich als in Form eines Nacheinanderseins, nämlich so, daß der jeweils nächstfolgende den vorangehenden aus seiner Stelle verdrängt, um sogleich von dem folgenden wieder aus ihr verdrängt zu werden. Daher ist das Wesen der Zeit als Form innerer Gegenstände qua tales das Nacheinandersein ,2. Wenn wir uns überlegen, von welcher Beschaffenheit dasjenige sein muß, das im strengen Nacheinander jeweils nur einen einzigen Augenblick einnimmt, so kann von solcher nur das Vorstellen sein; nur der 10 11 12

Verbessert aus: der formalen Bedingung. Verbessert aus: der Zeit. Vgl. Diss., § 14, KdrV, A 30 Β 46, A 40 Β 57, Refl. 4509, vgl. audi Op. p., X X I I , 5,1.

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Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen

Vorstellungszustand läßt sich als unräumlich, unausgedehnt und somit momentan denken. Daher qualifiziert sich die Zeit als reines Nacheinander zum Exponenten von Vorstellung. Dem gibt Kant ζ. B. dadurch Ausdrude, daß er sagt, die Zeit beruhe auf einem „Gesetz des Geistes (lege mentis)" (Diss., § 14), oder, man könne sie nur „in Gedanken haben" (Reil. 4518). Dieser ihr Charakter zeigt sich auch darin, daß Vergangenheit und Zukunft ausschließlich in der Vorstellung existieren, jene im modus der Erinnerung, diese im modus der Erwartung. Der Vorstellungscharakter ist dasjenige Kriterium, welches die Zeit fundamental vom Raum unterscheidet; während dieser von sich aus keinerlei Hinweis auf seine Vorstellungsnatur enthält, läßt sich die Zeit überhaupt nicht anders denn als Vorstellungsart erfassen. An einer Stelle der Diss, hat Kant diese unterschiedlichen Prioritäten von Raum und Zeit deutlich zum Ausdruck gebracht. Er sagt dort: „Von diesen Begriffen betrifft d e r e i n e eigentlich die A n s c h a u u n g 1 3 des O b j e k t s , der andere den Z u s t a n d , vornehmlich den V o r s t e l l u n g s z u s t a n d (Horum quidem conceptuum a l t e r proprie intuitum ο b i e c t i , alter s t a t u m concernit, inprimis r e p r a e s e n t a t i v u m ) " (Diss., § 15 Cor.).

Allerdings ist die Zeit nicht der einzige Exponent von Vorstellung, ein anderer ist die Einheitsform des Verstandes. Von absolut einfacher, atomarer Struktur nimmt diese ebenfalls nur einen einzigen Augenblick ein. Nun soll nach der Kantischen Theorie die Zeit nicht Einheits-, sondern Mannigfaltigkeitsform sein. Von sich aus kann sie dies nicht verständlich machen; denn als rein sukzessives, entstehendes, vergehendes, schlechthin flüchtiges Vorstellen, als das sie nur in und mit dem jeweils aktuellen Augenblick ist, bringt sie keine Vorstellung von der Sukzession selbst und damit von einem unendlichen, homogenen, kontinuierlichen Mannigfaltigen hervor M. Hierzu bedarf es vielmehr einer Form, die von Natur aus ein unendliches, homogenes, kontinuierliches Mannigfaltiges verkörpert, wie dies der Raum tut. Folglich setzt die Zeit nach ihrer vollständigen Wesensbestimmung als Vorstellungsart eines u n endlichen, homogenen, kontinuierlichen Mann i g f a l t i g e n den Raum voraus. u 14

Gesp. v. Verf. Das rein sukzessive Vorstellen ist an sich zeitlos. So heißt es bei Nietzsche „Die ewige Wiederkunft", Aph. 33 (Gesammelte Werke, X I , 186): „Zeitlosigkeit und Sukzession vertragen sich miteinander". Erst das Vorstellen des Zeitverlaufs als eines solchen bringt die Zeitvorstellung hervor.

Die Interdependenz von Raum und Zeit

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Es gilt hier, die Interpretation gegen ein naheliegendes Mißverständnis abzuschirmen. Unsere Behauptung im Vorhergehenden war nicht die, daß die Zeit ihrem Wesen nach durch die Struktur der Augenblicklichkeit, der atomaren, isolierten Diskretheit, bereits erschöpfend charakterisiert werde und daß sie die Struktur des unendlichen, homogenen Kontinuums, die ihr sowohl nach unserem alltäglichen wie wissenschaftlichen Verständnis zugeschrieben wird, aus der Analogie zum Raum erhalte, wie Krüger 1 5 eine solche These vertreten hat. Denn hier müßte zu Recht mit Henrich 16 gefragt werden, wie die Umwandlung einer atomaren, diskreten Struktur in eine unendliche, homogene, kontinuierliche soll zustande kommen können. Unsere Behauptung war vielmehr, diese Schwierigkeit vermeidend, die, daß zwar das augenfälligste, keineswegs aber das ausschließliche Wesensmerkmal der Zeit das an den Augenblick gebundene sukzessive Vorstellen sei. Genauso wie der Raum als Exponent einer unendlichen, homogenen, kontinuierlichen Mannigfaltigkeit an sich noch indifferent ist gegenüber einer Auslegung als Ding an sich, bzw. Eigenschaft von Dingen an sich oder Vorstellungsart, so ist auch die Zeit als Exponent von Vorstellung an sich noch indifferent gegenüber einer Auslegung als Einheitsvorstellung, d. h. Verstandesbegriff, oder Mannigfaltigkeitsvorstellung, d. h. Anschauungsform. Erst mit der Projektion auf eine räumliche Gerade wird ihr vollständiges Wesen als Anschauungsform sichtbar. Noch auf ein anderes mögliches Mißverständnis ist einzugehen. Es wird hervorgerufen durch die Bedeutungsambivalenz der Begriffe „Veranschaulichung" und „Abbildung", die Kant im Zusammenhang der Darstellung zeitlicher Verhältnisse an räumlichen gebraucht. Von Veranschaulichung oder Abbildung sprechen wir gewöhnlich, wenn wir eine Exemplifizierung, Konkretisierung, Verdeutlichung usw. eines abstrakten, schwer zugänglichen Gehalts an einem konkreten, leicht verständlichen Modell meinen. In diesem Sinne würde Veranschaulichung der Zeit am Raum bedeuten, daß die angeblich abstrakte und daher unanschauliche Zeitform an der angeblich konkreten und daher anschaulichen Raumform verdeutlicht würde. Es gibt in der Tat einige Textstellen, die eine solche Interpretation nahelegen. So ist im Zusammenhang mit der Forderung einer Restriktion der Kategorien auf Zeit auch von einer auf Raum die Rede, weil auf diese Weise allein 15 16

Krüger, 191 ff. Henridi (1), 146.

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Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen

„Beispiele" herbeigeschafft und die Kategorien „verständlich", „faßlich", „anschaulich" (KdrV, Β 291 ff.) gemacht werden könnten. Wäre dies die einzige Auslegung und träfe sie Kants eigentliche Meinung, so könnte nur eine mögliche, nicht notwendige Abbildung der Zeit auf den Raum behauptet werden. Denn eine bloß der Erläuterung dienende Darstellung impliziert selbstverständlich keine Notwendigkeit, sondern lediglich eine willkürliche Möglichkeit, auf die sich prinzipiell verzichten ließe. Damit jedoch bliebe das eingangs erwähnte Theorem von dem größeren Umfang der Zeit gegenüber dem Raum, einem Umfang, der neben den räumlichen Verhältnissen auch rein zeitliche umfaßt, unwiderlegt. Denn auch von den rein zeitlichen, an sich nicht raumbezogenen könnte eine Darstellung an räumlichen Verhältnissen in diesem Sinne gedacht werden, ohne daß damit ihrem Charakter als rein zeitlichen Verhältnissen widersprochen würde. Das Theorem ist nur dann widerlegbar, wenn Veranschaulichung heißt, daß alle zeitlichen Verhältnisse auf räumliche nicht nur abgebildet werden können, sondern abgebildet werden müssen. Veranschaulichung in diesem zweiten Sinne, dem eigentlich Kantischen, bedeutet daher, daß etwas durch seine Projektion auf etwas anderes zwar nicht selbst erst Anschauung wird, wohl aber als Anschauung erst verständlich wird. Die Abbildung der Zeit auf den Raum dient daher dem Zweck, den anschaulichen Charakter der Zeit begreiflich zu machen. D a dieser an ihr selbst nicht offenkundig ist und auch nicht sein kann, weil ein bildhaft-, gestalthaft-anschaulicher Charakter stets an eine Mannigfaltigkeit gebunden ist, muß hier der Raum zu Hilfe kommen. In diesem Sinne heißt es: „ U n d eben weil diese i n n r e A n s c h a u u n g keine G e s t a l t gibt, s u chen w i r auch diesen M a n g e l durch A n a l o g i e n z u ersetzen u n d stellen die Z e i t f o l g e durch eine ins U n e n d l i c h e f o r t g e h e n d e L i n i e v o r , in welcher das M a n n i g f a l t i g e eine R e i h e ausmacht, die n u r v o n einer D i m e n s i o n ist, u n d schließen aus den E i g e n s c h a f t e n dieser L i n i e auf alle E i g e n s c h a f t e n der Zeit außer d e m einigen, daß die Teile der e r s t e m zugleich, die der letztern aber jederzeit nacheinander s i n d " ( K d r V , A 33 Β 5 0 ) 1 7 .

Diese notwendige Raumbezogenheit der Zeit pflegen wir im Alltag wie in der Wissenschaft dadurch zum Ausdruck zu bringen, daß wir die Zeit durch Raumvokabeln beschreiben, etwa daß wir von Zeitraum, 17

Vgl. ferner Diss., §§ 14, 15 Cor., KdrV, Β 154 ff.

Die Interdependenz von R a u m und Zeit

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Zeitgerade, Zeitstrecke, Zeitabschnitt usw. sprechen, oder Zeiten durch Wege messen, ζ. B. durch den Gang der Planeten oder den Umlauf des Uhrzeigers 1S . Unsere Untersuchung hat damit die wechselseitige Angewiesenheit von Raum und Zeit aufeinander aufgezeigt, die aus einer unterschiedlichen Akzentuierung der ihnen gemeinsamen Wesensmomente resultiert. Wenn der Raum als Exponent einer unendlichen, homogenen, kontinuierlichen Mannigfaltigkeit nicht Ding an sich oder Eigenschaft von Dingen an sich, sondern Vorstellungsart sein soll, so muß das darin zum Ausdruck kommen, daß er sich in die Zeit einbeschreiben läßt, wenn anders die Zeit Form der Vorstellungszustände ist, als Vorstellungsart einer u n e n d l i c h e n , h o m o g e n e n , kontinuierlichen M a n n i g f a l t i g k e i t aber läßt er sich nur in eine entsprechende zeitliche Vorstellungsart einbeschreiben; da nun die Zeit Exponent zwar einer Vorstellungsart, nicht aber einer unendlichen, homogenen, kontinuierlichen Mannigfaltigkeitsvorstellung ist, muß dieser ihr Charakter 18

Das Ergebnis der Zeitanalyse zwingt uns, nodi einmal auf den Raum selbst zurückzukommen. D a auf Grund der notwendigen Projektion der Zeit auf den R a u m das ursprünglich nur am Raum in Erscheinung tretende Mannigfaltige audi an der Zeit zum Vorschein kommt, genügt es in Zukunft nicht mehr, den Raum durch eben dieses Prädikat bzw. das mit ihm identische des Außer- und Nebeneinander von der Zeit spezifisch zu unterscheiden. Es wird eine Neubestimmung erforderlich, die das räumliche Mannigfaltige bzw. Außer- und Nebeneinander vom zeitlichen eindeutig abhebt. Gemäß der Zielsetzung darf die Bestimmung nidit mehr wie zuvor absolut erfolgen, sondern relativ zur Zeit. Nun läßt sich der Raum nur im sukzessiven Durchgang in die Zeit einordnen, wie dies die Apprehension eines Hauses zeigt, bei der man Konturen und Teile von rechts nadi links, von oben nach unten oder umgekehrt mit den Augen abtastet, Vorder-, Rück- und Seitenfront sogar nur im Herumgehen aufnimmt. Selbstverständlich wird durch die sukzessive Apprehension der Raum nicht selbst sukzessiv; er bleibt vielmehr das, was er ist, ein Mannigfaltiges bzw. ein Außer- und Nebeneinander, zu jedem beliebigen Zeitpunkt, d. h. zugleich. Gleichzeitigkeit stellt sich damit als Spezifikum des Raumes relativ zur Zeit heraus. Wie das Nacheinander (nicht das inkonstante, sondern die konstante Form) das spezifische, freilich nur aus dem Rekurs auf den Raum zu gewinnende Zeitkriterium ist, so ist das Zugleich das spezifische, freilich nur aus dem Rekurs auf die Zeit zu gewinnende Raumkriterium. Wenn K a n t daher Nacheinander-, Zugleidisein und Beharrlichkeit, welche aus der Verbindung beider resultiert, als „Zeitmodi" klassifiziert: das Nacheinandersein als spezifische Existenzweise der Zeit, das Zugleichsein als Existenzweise des Raumes in der Zeit, die Beharrlichkeit als Zugleidisein mit dem Nacheinander (vgl. K d r V , Β 67, A 177 Β 219, ferner Diss., § 14 und Anm. 2), so ist dies, wie man jetzt sieht, nur eine einseitige Bestimmung, statt deren man ebensowohl von „ R a u m m o d i " sprechen könnte, da das Nacheinander nur eine besondere Auslegung des Mannigfaltigen bzw. des Außer- und Nebeneinander, das Zugleich die spezifische Bestimmung des Raumes und die Beharrlichkeit das Resultat der Verbindung beider ist.

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Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen

aus der Abbildung auf den Raum erklärt werden; als V ο r s t e 1 l u n g s a r t einer unendlichen, homogenen, kontinuierlidien Mannigfaltigkeit aber läßt sich die Zeit wiederum nur auf eine räumliche V o r s t e l l u n g s a r t abbilden; da dieser Charakter am Raum nicht ursprünglich offenkundig ist, sondern nur vermittels der Zeit verständlich werden kann, sind wir zu einem unendlichen Kreisgang gezwungen. Blicken wir uns nach einem Beleg für den Argumentationsgang im Kantischen Text selbst um, so finden wir, abgesehen von verstreuten Äußerungen in Transzendentaler Ästhetik, Logik und Dialektik der KdrV, eine zusammenhängende Darstellung im Rahmen der Widerlegung des materialen Idealismus 19 . Es ist bekannt, daß die Widerlegung in zwei Versionen vorliegt, von denen die eine im 4. Paralogismus der Dialektik der 1. Aufl. der KdrV steht, die andere, die notwendig wurde, weil sich die erste als unzureichend erwies, im Postulatenkapitel der Analytik der 2. Aufl. (KdrV, Β 274 ff. mit Β X X X I X ff.), ferner in Reil. 5653 f. aus dem Jahre 1788 sowie in Aufsätzen und Notizen, die anläßlich von Gesprächen Kants mit Kiesewetter über schwierige Probleme seines Systems im Herbst 1790 niedergeschrieben wurden (Refl. 6311—16). Die beiden Fassungen entsprechen exakt den beiden Dependenzverhältnissen, welche das Verhältnis von Raum und Zeit zueinander ausmachen: die erste der Dependenz des Raumes von der Zeit, die zweite der Dependenz der Zeit vom Raum. Der materiale Idealismus hatte sich in der philosophischen Tradition als unvermeidliche Konsequenz aus dem cartesianischen Ansatz zweier heterogener Daseinsbereiche, der res cogitans und der res extensa, ergeben. Nach dieser Lehre gilt allein die res cogitans: das Ich denke, Ich nehme wahr, Ich empfinde usw., kurzum: Ich stelle vor, einschließlich: Ich stelle äußere Gegenstände vor, für unmittelbar zugänglich und gewiß, weil mir selbst zugehörig, hingegen die res extensa: die Außenwelt nur für mittelbar zugänglich, nur für erschließbar aus den Vorstellungen von ihr und, da jeder Schluß von einer gegebenen Wirkung auf eine bestimmte Ursache unsicher ist, für grundsätzlich bezweifelbar. 'Gegen diesen Idealismus wendet sich Kant in der 1. Aufl. in der Absicht, den unmittelbaren und unbezweifelbaren Zugang auch zur Außenwelt nachzuweisen. Sein Beweis20 hat folgende Gestalt: Er geht aus von der allgemein 19

20

Allerdings behandelt Kant hier die Anschauungsformen nicht in abstracto, sondern im Kontext der Erfahrung. Vgl. KdrV, A 373 ff.

Die Interdependenz von Raum und Zeit

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akzeptierten Prämisse, daß Wahrnehmung die Vorstellung einer Wirklidikeit ist; denn da sie auf Empfindung basiert, im Grunde nichts anderes darstellt als eine auf einen Gegenstand bezogene Empfindung, unbestimmt noch welchen, muß sie eine Wirklichkeit indizieren. Wird nun speziell in einer äußeren Wahrnehmung die Empfindung auf einen äußeren Gegenstand bezogen, so darf zumindest das als sicher gelten, daß besagte Wahrnehmung die V o r s t e l l u n g einer Wirklichkeit im Räume ist, allerdings noch nicht, daß sie eine wahre, nicht nur eingebildete Vorstellung ist. Entzieht man jedoch dem Idealisten seine Voraussetzung, wonach der Raum die Form von Dingen an sich darstellt, und nimmt statt dessen an, daß er die Form von Vorstellungen ist, so folgt, daß die Vorstellung einer Wirklichkeit im Raum eine wahre, nicht bloß eingebildete ist, weil alle Wirklichkeit im Raum eine vorgestellte ist und es außerhalb der vorgestellten für uns keine andere Wirklichkeit gibt. Der Beweis basiert auf dem Argument, daß der Raum nicht Form von Dingen an sich, sondern Form von Vorstellungen ist, infolgedessen auch äußere Gegenstände nicht Dinge an sich, sondern Vorstellungen äußerer Gegenstände sind. Der Begriff „außer uns" impliziert eine nicht zu vermeidende Zweideutigkeit, indem er einmal die Dinge an sich außerhalb des Vorstellungsvermögens, das andere Mal die Vorstellungen äußerer Gegenstände in demselben meint (vgl. KdrV, A 373). Die Widerlegung des Idealismus ist die Wendung von der transzendentalen zur phänomenalen Bedeutung. Selbstverständlich kann die Verlagerung äußerer Gegenstände in den Vorstellungsbereich nicht ohne Konsequenz für das Verständnis des letzteren bleiben. Denn wenn alles, aber auch alles Vorstellung ist, genügt es nicht mehr, die ursprünglichen Vorstellungen von den hinzugekommenen äußerer Gegenstände durch ihren bloßen Vorstellungscharakter zu unterscheiden; ausschlaggebend muß jetzt die Form der verschiedenen Vorstellungen sein. Wie der Raum zum subjektiven Hilfsmittel dient, die Vorstellungen äußerer Gegenstände von den Vorstellungen als solchen abzugrenzen, so dient die Zeit zum subjektiven Hilfsmittel, diese von jenen abzuheben. Damit ist unvermerkt an die Stelle des rationalistischen Prinzips des Ich denke, Ich nehme wahr usw. das Prinzip eines zeitlich bedingten Vorstellens getreten. Für uns ist dies insofern bedeutsam, als sich hiermit entscheidende Einblicke in die Struktur des Verhältnisses der Vorstellungen untereinander eröffnen. Wenn äußere Gegenstände nicht Dinge an sich, sondern Vorstellungen sein sollen, dann müssen sie sich qua Vorstellungen in Zeitverhältnisse einordnen lassen,

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Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen

da die Zeit die Form soldier ist. Dann aber muß sich auch der ihnen zugrunde liegende Raum, sofern er nicht Form von Dingen an sich, sondern Vorstellungsform sein soll, qua V o r s t e l l u n g sform in die Zeit einordnen lassen. Allein auf diese Weise kann sein Vorstellungscharakter für uns verständlich werden. Ist dies nicht von der Beweisstrategie her das genaue Gegenteil von dem, was Kant hatte beweisen wollen? Seine Argumentation war in der Absicht unternommen, die erkenntnistheoretische Abhängigkeit äußerer Gegenstände von Vorstellungen, die sich in einer bloßen Erschlossenheit derselben äußerte, zu widerlegen; tatsächliches Ergebnis ist gerade der Nachweis einer Abhängigkeit der Vorstellungen äußerer Gegenstände von den zeitlichen Vorstellungen von ihnen. Die idealistische Schwierigkeit ist also keineswegs beseitigt, sondern kehrt, wenngleich auf einer anderen Ebene, wieder, nicht mehr auf der der transzendentalen Realität, sondern auf der der transzendentalen Idealität (Phänomenalität) selbst. Jene problematische Beziehung der Vorstellungen äußerer Gegenstände auf die äußeren Gegenstände selbst wiederholt sich hier als problematische Beziehung zeitlicher Vorstellungen von äußeren Vorstellungen auf die äußeren Vorstellungen selbst. Ein Idealist könnte jetzt noch behaupten, unmittelbar zugänglich und gewiß seien uns ausschließlich die zeitlichen Vorstellungen inklusive derjenigen, die sich aus der sukzessiven Apprehension räumlicher Vorstellungen ergeben — um ein Beispiel zu nennen 21 , inklusive der sukzessiv wahrgenommenen Teile eines Hauses —, hingegen seien die relativ zu diesem inneren Vorstellungswechsel beharrenden äußeren Vorstellungen — die Hauserscheinung selbst — lediglich aus dem Wechsel erschlossen und wegen der Unzuverlässigkeit des SchlußVerfahrens prinzipiell bezweifelbar. Es leuchtet ein, daß eine Widerlegung der idealistischen Position nur dann gelingt, wenn gezeigt werden kann, daß die zeitlichen Vorstellungen selbst von den räumlichen dependieren. An diese Aufgabe macht sich Kant in der 2. Aufl. der KdrV und an den übrigen genannten Stellen 22 . 21 22

Vgl. KdrV, A 190 f. Β 235 f. Mit den verschiedenen Kantischen Idealismuskonstruktionen sowie den sachlichen und historischen Motiven der Umarbeitung hat sich Gäbe in seiner Dissertation „Die Paralogismen der reinen Vernunft in der ersten und in der zweiten Auflage von Kants Kritik", § 7, 111 ff. eingehend beschäftigt. Ihm ist die klare Herausarbeitung der Differenz beider Fassungen zu verdanken, die zwar schon lange bemerkt, doch immer nur unzureichend gekennzeichnet worden war. U. a. erklärt die von ihm herausgearbeitete unterschiedliche Fassung des idealistischen Grundprinzips: als rationales in der 1. Aufl., als innere Erfahrung in der 2., die systemati-

Die Interdependenz von R a u m und Zeit

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Der neue Beweis vollzieht sich über folgende Schritte: Er nimmt seinen Ausgang von dem dem Idealisten unbezweifelbaren Faktum der inneren Erfahrung. Ich als geistiges, Vorstellungen habendes Wesen bin in der Zeit und bin mir dessen auch bewußt. Ich erkenne mich in einem ständigen inneren Wechsel begriffen, der meine Bewußtseinsgeschidite ausmacht. Alles Zeitbewußtsein, gleichgültig ob das von Folge oder Gleichzeitigkeit, setzt etwas Beharrliches in der Wahrnehmung voraus. Muß diese Aussage hier auch als reine Behauptung erscheinen, so hat sie doch ihre Rechtfertigung im Beharrlichkeitsbeweis der Substanz in der 1. Analogie der Erfahrung. Ein Eingehen auf diesen ist daher unerläßlich. Er beruht auf der Prämisse, daß ausnahmslos alle Erscheinungen in die Zeit gehören, folglich auch in dieser ihre objektive, kategorial bestimmbare Ordnung haben, die entweder die der Sukzession oder Simultaneität ist. Die Zeit, in der alle Folge und alles Zugleichsein gedacht werden soll, muß selbst dabei als beharrliches Substrat zugrunde gelegt werden; denn wie jede Bestimmung und Einordnung in ein Koordinatenoder allgemeiner: in ein Bezugssystem, so ist auch die von Folge und Gleichzeitigkeit nur in ein konstantes möglich. D a die reine Zeit nicht wahrgenommen werden kann, bedarf es eines Beharrlichen in der Wahrnehmung, das die Zeit repräsentiert und als Bezugssystem fungiert. Sehen wir vom letzten Argument einmal ab, zumal es nicht nur für die reine Zeit, sondern ebenso für den reinen Raum gilt, also gar nicht spezifisch für die Zeitargumentation ist, und konzentrieren unsere Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Zeitauffassung, mit der dieser Beweis operiert! Kant beschreibt die Zeit, in Beziehung auf die Wechsel und Zugleichsein bestimmt werden sollen, als ,beharrliche Form der inneren Anschau-

sche Umplazierung des Idealismus aus der Dialektik der 1. Aufl. in die Analytik der 2. (vgl. 120). Besonderes Interesse verdient Gäbes Hinweis (122 ff.), daß die Umarbeitung historisch auf eine erneute Hume-Lektüre Kants zwischen der 1. und 2. Aufl. der K d r V zurückgeht, die veranlaßt worden ist durch die berühmte Rezension der Ulrichschen „Institutiones logicae et metaphysicae" in der Allgemeinen Literatur-Zeitung vom 13. 12. 1785, in welcher K a n t vorgeworfen worden war, Humes Skeptizismus nicht wirklich widerlegt zu haben. Bei der erneuten HumeLektüre stieß K a n t im Enquiry Concerning Human Understanding, Sect. X I I , Part 1 auf das Beispiel eines Tisches, der relativ zu den wechselnden Vorstellungen von ihm, ζ. B. den kleiner werdenden Bildern beim Zurückweichen des Betrachters, beharrt und nur aus diesen als dem unmittelbar Gegebenen erschließbar ist, — was ihm die neue Konstruktion von beharrenden äußeren Vorstellungen gegenüber wechselnden inneren vorzeichnete.

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Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen

ung' (KdrV, Β 224) oder als „das beständige Korrelatum alles Daseins der Erscheinungen, alles Wechsels und aller Begleitung" (KdrV, A 183 Β 226). Während die Erscheinungen in ihr wechseln, bleibt sie selbst unverändert. „Der Wechsel trifft die Zeit selbst nicht, sondern nur die Erscheinungen in der Zeit" (ib.). „Die Zeit verläuft sich nicht, sondern in ihr verläuft sich das Dasein des Wandelbaren. Die Zeit also . . . [ist] selbst unwandelbar und bleibend" (KdrV, A 143 Β 183) 23 . Die hier verwendete Zeitvorstellung impliziert mehr als das bloße, schlechthin flüchtige, haltlose Nacheinander der Momente, das, obzwar in der beharrlichen, sich gleichbleibenden Form des Nacheinander stattfindend, selbst gerade nicht beharrlich ist. Was hier als Zeitvorstellung verwendet wird, ist aber gerade die beharrliche, stets sich gleichbleibende Form des Nacheinander und damit das allumfassende, unendliche, homogene, kontinuierliche Substrat, das eine Synopsis des Ganzen des Nacheinander gestattet. Solchergestalt ist die Zeit nicht mehr einfacher, sondern komplexer Natur, d. h. sie setzt den Raum und das mit ihm gegebene unendliche, homogene, kontinuierliche Mannigfaltige voraus, weil nur mit Hilfe eines ruhigen, statischen unendlichen, homogenen, kontinuierlichen Mannigfaltigen auch die Vorstellung eines sukzessiven möglich ist. Zwar spricht Kant diesen Raumbezug der Zeit nirgends in der 1. Analogie direkt aus, doch ohne ihn bliebe nicht nur der Beweis selbst unverständlich, sondern auch und vor allem die Folgerung, die er in der „Widerlegung des Idealismus" aus ihm zieht, nämlich die, daß das wahrnehmbare Beharrliche, das der Zeit zum Repräsentanten dienen soll, nicht vor dem inneren Sinn gesucht werden könne, sondern ausschließlich vor dem äußeren. Denn der innere Sinn für sich enthält nur Sukzessives. „In dem, was wir Seele nennen, ist alles im kontinuierlichen Flusse und nichts Bleibendes"; dagegen weist „die Erscheinung vor dem äußeren Sinne" durchaus „etwas Stehendes oder Bleibendes" auf (KdrV, A 381) 24. Damit darf als bewiesen gelten, daß innere Erfahrung von äußerer dependiert, weil die Zeit selbst als umfassendes, unendliches, homogenes, kontinuierliches Substrat, als das sie aller kategorialen Bestimmung einschließlich der des Wechsels in mir zugrunde liegt, vom Raum dependiert. Dies ist der eigentliche nervus probandi in der Widerlegung des Idealismus, der sich freilich nur bei einer Strukturanalyse zeigt.

23 24

Vgl. ferner KdrV, A 41 Β 58, Β 224 f., Refl. 5289, 6311. Vgl. ferner KdrV, Β 291, Anthr., § 4.

Riehls These einer Dependenz des Raumes von der Zeit

§ 13

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Riehls These einer Dependenz des Raumes von der Zeit

Im Vorhergehenden wurde die These vertreten, daß der Raum von der Zeit dependiert, was die Erklärung seiner Vorstellungsnatur betrifft, und die Zeit vom Raum dependiert, was die Erklärung ihrer unendlichen, homogenen, kontinuierlichen Extension anlangt. Für die KantForsdiung ist diese These so ungewöhnlich, daß sie geradezu zum Widerspruch herausfordert. Anstoß erregen dürfte vor allem ihr zweiter Teil. Verhält sich in Wahrheit die Abhängigkeit nicht genau umgekehrt, nämlich so, daß nicht die Unendlichkeit, Homogenität und Kontinuität der Zeit von der des Raumes, sondern die des Raumes von der der Zeit dependiert? Finden sich nicht bei Kant selbst Hinweise auf eine solche Interpretation? Bis hin zur 1. Aufl. der KdrV und sogar noch in dieser gilt ausschließlich die Zeit für universal, zeitliche wie räumliche Verhältnisse umfassend. Wenn Kant im Zuge einer Revision seiner Theorie zu der Einsicht gelangt, daß der Raum für gleichuniversal zu halten sei, liegt es dann nicht nahe, diese Universalität aus der Zeit herzuleiten? Schwerer noch fällt eine Beobachtung ins Gewicht, die die Kontinuität betrifft. In der Schlußbetrachtung zu den mathematischen Grundsätzen am Ende der Antizipationen bezeichnet Kant die quanta continua, und zwar sowohl die zeitlichen wie räumlichen als „ f l i e ß e n d e " Größen mit der Begründung, daß „die Synthesis . . . in ihrer Erzeugung ein Fortgang in der Zeit ist, deren Kontinuität man besonders durch den Ausdruck des Fließens (Verfließens) zu bezeichnen pflegt" (KdrV, A 170 Β 211 f.). Ganz offenkundig wird hier die Ausweitung eines Begriffs, der ursprünglich dem zeitlichen Bereich angehört, auf den räumlichen durch eine sachliche Abhängigkeit gerechtfertigt. Die These einer Dependenz des Raumes von der Zeit in dem gekennzeichneten Sinne hat Riehl im Rahmen seiner Kant-Auseinandersetzung im II. Bd. des „Philosophischen Kritizismus" (145 f. und 189 ff.) vertreten 2S . Wenngleich wir seiner These die Zustimmung versagen müs25

Allerdings begegnet die These bei Riehl nidit in Reinform als eine über Anschauungsformen, sondern in Verbindung mit dem Verstand als eine über formale Anschauungen. Das hängt damit zusammen, daß nach Riehl Unendlichkeit, Homogenität und Kontinuität, die von der Zeit auf den Raum deduziert werden sollen, der Zeit nicht ursprünglich innewohnen, sondern aus dem Bewußtsein stammen (vgl. dazu § 11, 103 f f . dieser Arbeit. Für die Beziehung von Raum und Zeit untereinander ist dieser Sachverhalt jedoch irrelevant, da ein externes Prinzip wie das Bewußtsein keinen Einfluß auf das interne Abhängigkeitsverhältnis von Raum und Zeit haben kann, vielmehr dessen Regelung für sein Einwirken schon voraussetzt.

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sen, ist sie uns doch willkommener Anlaß, unsere eigne Position nochmals zu überprüfen. Im folgenden sei Riehls Begründung kurz wiedergegeben: 1. Die Unendlichkeit des Raumes hat ihren Grund in der Unendlichkeit der Zeit. Jene bedeutet die Möglichkeit, die Koexistenz unbegrenzt zu erweitern, derart, daß zu jedem schon erreichten Raumteil noch ein weiterer hinzugefügt wird. Unbegrenzte Erweiterung im Sinne des Zuzählens von Teilen aber ist ein Vorgang, der nur zeitlich in Reihenform vorgestellt werden kann. Wäre daher die Zeit nicht unendlich, so könnte der Raum es auch nicht sein. Also ist die Unendlichkeit des Raumes eine Folge der Unendlichkeit der Zeit. 2. Was die Homogenität des Raumes betrifft, so ist auch sie ohne die Homogenität der Zeit nicht denkbar. Denn als Gleichheit des Raumes mit sich selbst an allen Orten und nach allen Richtungen läßt sie sich nur im Fortgang oder Rückgang von Raumteil zu Raumteil erfassen, Fortgang oder Rückgang aber sind Prozesse in der Zeit. Wäre daher die Zeit nicht homogen, so könnte diese Eigenschaft auch dem Raum nicht zukommen. 3. Desgleichen setzt die Kontinuität des Raumes, die wir aus der beliebigen Teilung eines bestimmten Raumstücks bzw. aus der Zusammenfassung der beliebig klein ausgesonderten Raumteile kennen, die Kontinuität der Zeit voraus. Denn Teilung bzw. Zusammenfassung sind zeitliche Vorgänge. Ließen sich nicht in Gedanken zwischen zwei Zeitpunkte beliebig viele andere einschalten, die immer noch näher zueinander liegen als die zuletzt gedachten, so wäre dies auch beim Raum nicht möglich. Folglich ist die Kontinuität des Raumes das Ergebnis der Kontinuität der Zeit. Man wird leicht gewahr werden, daß sich alle drei Beweise im Grunde desselben Arguments bedienen, nämlich daß die Raumvorstellung nur sukzessiv erworben werden kann: die Unendlichkeitsvorstellung nur vermittels einer unbegrenzten Addition von Raumteilen, die Homogenitätsvorstellung nur vermittels eines Fort- oder Rückgangs von Raumteil zu Raumteil, die Kontinuitätsvorstellung nur vermittels einer in infinitum möglichen Teilung des Raumes bzw. einer Zusammensetzung der infinitesimalen Teile. Läßt sich der Raum ausschließlich in der Zeit apprehendieren, so muß er von ihr dependieren. Diese Folgerung vermag Riehl denn auch durch eine Reihe von Textstellen im Kantischen Werk zu belegen, in denen es, wie etwa in KdrV, Β 154, heißt, daß wir

Riehls These einer Dependenz des Raumes von der Zeit

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uns keine Linie denken können, ohne sie in Gedanken zu ziehen, d. h. von einem Punkte aus alle Teile nach und nach zu erzeugen. Doch es gilt zu unterscheiden zwischen der Behauptung, daß der Raum von der Zeit als dem reinen Nacheinander dependiert, und der, daß er von ihren Strukturen dependiert. Die letztere, weitergehende Behauptung setzt voraus, und dies dürfte wohl das mindeste sein, daß die Zeitstrukturen für sich ohne Zuhilfenahme des Raumes vorgestellt werden können. Ist das möglich? Wir haben früher dargelegt 26 , daß eine unendliche, homogene, kontinuierliche Sukzession stattfinden kann, ohne daß es zur Ausbildung einer Vorstellung von ihr kommt, dann nämlich, wenn das Vorstellen im Prozeß selbst steht. In diesem Fall wird das Vorstellen von der Sukzession gleichsam wie von einer Strömung fortgerissen. Die Vorstellung von einer unendlichen, homogenen, kontinuierlichen Sukzession erfordert daher immer einen Halt außerhalb der Sukzession genauso wie die Vorstellung von einer Strömung ein Strombett. Dieser feste Halt aber kann kein anderer sein als der Raum wegen der ruhigen, beharrlichen Koexistenz seiner Elemente. Mithin ist die Vorstellung von einer unendlichen, homogenen, kontinuierlichen Sukzession nur vermittels des Raumes möglich. An einer Stelle der KdrV (B 155) hat Kant dies unmißverständlich ausgesprochen. Es heißt dort: „Die Synthesis des Mannigfaltigen im Räume, wenn wir von diesem abstrahieren und bloß auf die Handlung achthaben, dadurch wir den i n n e r e n S i n n seiner Form gemäß bestimmen, bringt sogar den Begriff der Sukzession zuerst hervor." 27

Aus diesem Grunde setzt die Vorstellung der unendlichen Reihenform der Addition, die Riehl zur Erfassung der räumlichen Unendlichkeit fordert, oder die Vorstellung der beliebigen Einschaltung von Zeitpunkten zwischen zwei herausgehobene bei der Teilung bzw. Zusammensetzung, die er zur Erfassung der räumlichen Kontinuität verlangt, usw. selbst schon den Raum voraus. Zwar hängt der Raum mitsamt seinen Strukturen von der Zeit ab, aber nur von ihrem Nacheinander, nicht von ihren Strukturen, weil diese selbst nur vermittels des Raumes faßbar sind, was gerade das war, was wir in § 12 zu zeigen versuchten.

26 27

§ 12, 125 f. Entsprechend der Tatsache, daß dieses Zitat in der Transzendentalen Logik steht, ist von „Begriff der Sukzession", nicht mehr nur von „anschaulicher Vorstellung der Sukzession" die Rede.

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§ 14

Die Eine Erfahrung

Als notwendige Konsequenz ergibt sich aus der Wechselbeziehung von Raum und Zeit ein einziger, in sich durchgängig verbundener ZeitRaum sowie, darauf basierend, eine einzige, durchgängig zeit-raumorientierte Erfahrung. Beschreiben wir diese Erfahrung näher, so haben wir sie als eine solche anzusehen, die hinsichtlich ihrer sinnlich-formalen Bedingungen durch das gleichzeitige, korrelative Auftreten von Raum und Zeit, hinsichtlich ihrer sinnlich-materialen Bedingungen durch das gleichzeitige, korrelative Vorliegen von räum- und zeiterfüllendem Realen (Materie und Seele) und hinsichtlich ihrer begrifflichen Bedingungen durch die Anwendung der Bewußtseinseinheit mit Einschluß des Kategoriensystems bestimmt ist. Auf dem höchsten Stand der Reflexion, wie er etwa durch die 2. Aufl. der KdrV repräsentiert wird, hat Kant tatsächlich diese aus seinem Ansatz zwingend sich ergebende Schlußfolgerung gezogen und seine anfangs nur relativ locker verbundenen Theorien über Raum und Zeit, Materie und Seele, äußere und innere Erfahrung durch eine zusammenfassende Theorie von der Einen Erfahrung ersetzt. So spricht er in KdrV, Β XLI Anm. ausdrücklich von ,nur einer e i n z i g e n Erfahrung' (gesp. v. Verf.), welche „nicht einmal innerlich stattfinden würde, wenn sie nicht . . . zugleich äußerlich wäre." In ihr ist das „Bewußtsein meines Daseins in der Zeit . . . mit dem Bewußtsein eines Verhältnisses zu etwas außer mir i d e n t i s c h verbunden" (KdrV, Β XL Anm., gesp. v. Verf.) oder, wie es an anderer Stelle heißt, „notwendig" (KdrV, Β 276), „unzertrennlich" (KdrV, Β XL Anm.) verbunden. Zudem dürfte kein Zufall sein, daß Kant in KdrV, Β 29 den Plural „Bedingungen" aus A 15, der sich auf die beiden Einzelformen Raum und Zeit bezieht, in einen Singular ändert, um auf diese Weise ihre Zusammengehörigkeit stärker zum Ausdruck zu bringen. Angesichts einer solchen Totalerfahrung stellen Raum und Zeit, Materie und Seele, äußere und innere Erfahrung für sich allein nichts weiter als Aspekte dar, deren einseitige Betrachtung in jedem Falle inadäquat und vorläufig bleibt und daher notwendig der Ergänzung durch das Korrelat bedarf. Da man sich jedoch dieser Erfahrung immer nur von einer Seite nähern kann, hat jede von ihnen sowohl eine unmittelbare wie mittelbare Funktion. So ist die Zeit als Form des inneren Sinnes unmittelbare Bedingung innerer Erscheinungen, mittelbare äußerer (KdrV, A 34 Β 50), während umgekehrt der Raum als Form des äußeren Sinnes unmittelbare Bedingung äußerer Erscheinungen ist, mittel-

Die Eine Erfahrung

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bare innerer. Als gleichermaßen unmittelbar wie mittelbar haben Raum und Zeit denselben Erkenntnisstatus. Ähnliches läßt sich bei der inneren und äußeren Erfahrung beobachten. Während der materiale Idealist allein die innere Erfahrung für unmittelbar zugänglich hält, die äußere dagegen nur für mittelbar, weil nur aus der inneren ersdiließbar, entgegnet Kant ihm polemisch, daß eigentlich unmittelbar allein die äußere Erfahrung sei, die innere hingegen mittelbar, weil nur vermittels der äußeren möglich (vgl. KdrV, Β 276 f.). Wo die Polemik entfällt, die sich lediglich gegen die einseitige Festlegung der Unmittelbarkeit auf die innere Erfahrung richtet, heißt es im Sinne einer Gleichrangigkeit, daß beide „identisch" verknüpft seien (KdrV, Β XL Anm.). Das unmittelbare „Bewußtsein meines eigenen Daseins ist zugleich ein unmittelbares Bewußtsein des Daseins anderer Dinge außer mir " (KdrV, Β 276) und umgekehrt. Der Sache nach hat die strenge Gleichunmittelbarkeit bzw. Gleichursprünglichkeit eine Verzeitlichung des Äußeren auf der einen Seite, eine Verräumlichung des Inneren auf der anderen zur Folge und damit letztlich nicht nur eine Korrelation, sondern Identifikation von räumlichem und zeitlichem Dasein. Wenn Raum und Zeit stets zusammen auftreten, muß das, was vor dem äußeren Sinn erscheint und Materie genannt wird, ebenso ursprünglich durch die Zeit bestimmt sein, wie es durch den Raum bestimmt ist. 'Was dies konkret bedeutet, mag der Vergleich mit einer mittelbaren Zeitbestimmung zeigen. Bei der letzteren wird die Materie lediglich in Beziehung auf ein zeitliches Bezugssystem definiert als eine, die gegenüber der Zeitfolge gleichzeitig ist. Trotz zeitlicher Beschreibungsweise könnte die Materie hier an sich zeitlos sein, d. h. unveränderlich in sich ruhen. Anders bei einer unmittelbaren Zeitbestimmung! Hier wird sie nicht bloß r e s p e k t i v auf die Zeit, sondern i η der Zeit selbst vorgestellt. Die Frage allerdings, wie Materie zugleich räumlich und zeitlich gedacht werden kann, bedingt durch das Außer- und Nebeneinander des Raumes wie durch das Nacheinander der Zeit, muß im Augenblick noch zurückgestellt werden. Analoges gilt für das Innere. Bei strenger Gleichursprünglidikeit von Raum und Zeit muß auch das, was vor dem inneren Sinn erscheint und Seele genannt wird, gleichursprünglich durch Raum wie durch Zeit bestimmt sein. Es genügt nicht, die innere Sequenz nur mit Hilfe des Raumes vorzustellen; denn auf diese Weise könnte sie an sich nichtsdestoweniger unräumlich sein; bei unmittelbarer Rauminterpretation ist viel-

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Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen

mehr die innere Sequenz selbst als räumlich zu denken. Wie freilich die Seele zugleich in Zeit und Raum existieren kann, bleibt audi hier zunächst noch unaufgeklärt. Während man die Zeitlichkeit äußerer Erscheinungen für selbstverständlich erachtet, nimmt man an der Räumlichkeit innerer gewöhnlich Anstoß. Sofern man sich nur hinreichend klar machte, was es mit der letzteren auf sich habe, dürfte die Anstößigkeit schwinden. Zu einem nicht geringen Teil hat Kant diese selbst verschuldet; denn seine Äußerungen über das, was den Inhalt des inneren Sinnes ausmacht, sind dunkel, dazu zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich. Im 2. Paralogismus der 1. Aufl. der KdrV (A 358 ff.) entwirft er ein Modell, nach welchem der transzendentale Gegenstand der Erscheinungen vor dem äußeren Sinn als „Ausdehnung, . . . Undurchdringlichkeit, Zusammenhang und Bewegung" und vor dem inneren als „Gedanken, Gefühl, Neigung oder Entschließung" erscheint. Hiernadh also wären Gedanken, Gefühle, Neigungen, Entschließungen der Inhalt des inneren Sinnes. Es steht jedoch zu bezweifeln, daß dies wörtlich gemeint sei. Denn Gedanken und Entschließungen, die bei einer Klassifikation der genannten Vorstellungsarten unter das Prinzip des Verstandes bzw. des Willens fallen würden, verkörpern Einheits-, nicht Mannigfaltigkeitsprinzipien. Was von ihnen allenfalls vor dem inneren Sinn erscheinen kann, sind „Zeichen" derselben, wie Kant metaphorisch sagt, mit ihrer Existenz notwendig verbundene Empfindungen. Gefühle und Neigungen aber, die unter die Gefühle von Lust und Unlust zu subsumieren wären, stellen Wirkungen von Empfindungen dar und setzen als solche Empfindungen schon voraus, so daß nach dieser Analyse als Inhalt des inneren Sinnes Empfindungen übrigbleiben. Da Empfindungen oder, was dasselbe ist, empirische Vorstellungen stets solche von etwas sind, bleibt zu fragen, wovon. Das vorliegende Modell beantwortet dies durch die Korrelation von innerem und äußerem Sinn: Empfindungen bzw. Vorstellungen sind Empfindungen bzw. Vorstellungen von Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Zusammenhang usw. Was in der 1. Aufl. der KdrV nur modellhaft-hypothetischen Charakter hat, nimmt in der 2. Gewißheit an. Daß wir von den Dingen außer uns „den g a n z e n Stoff zu Erkenntnissen selbst für unsern inneren Sinn her haben" (KdrV, Β X X X I X Anm., gesp. v. Verf.), wird dann zur Gewißheit, wenn, wie dies in der 2. Aufl. geschieht, die Universalität des Raumes vorausgesetzt wird; denn eine Materie, die einen unendlichen Raum erfüllt, läßt sich nur in einer unendlichen Zeit appre-

Bewegung als abgeleitete Anschauungsform

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hendieren. Wenn „die Vorstellungen ä u ß e r e r S i n n e den eigentlichen Stoff ausmachen, womit wir unser Gemüt besetzen" (KdrV, Β 67), so fallen sie mit denen des inneren Sinnes zusammen. Es sind dieselben Vorstellungen, die vor dem inneren Sinn gemäß dessen Form zeitlich als 'Vorstellungsfolge (Seele) und vor dem äußeren gemäß dessen Form räumlich als Äußeres (Materie) auftreten. Anders gesagt: die Vorstellungen der Außenwelt sind qua Vorstellungen Gegenstände des inneren Sinnes und qua Außenwelt Gegenstände des äußeren Sinnes. Daher ist nicht nur alles Äußere ein in der Zeit Vorgestelltes, sondern auch alles in der Zeit Vorgestellte ein äußerlich Vorgestelltes bzw. eine Vorstellung von Äußerem Unbeantwortet geblieben ist bisher noch die Frage, wie man sich die Gleichursprünglidikeit von Raum und Zeit vorzustellen habe. Die Vorstellung muß 1. die Bedingung erfüllen, daß sie Raum- und Zeitform gleichursprünglich in sich vereinigt, 2. die, daß sie sich auf Reales überhaupt (Materie = Seele) bezieht, und 3. die, daß sie die Anwendung der transzendentalen Einheit der Apperzeption inklusive des Kategoriensystems gestattet. Diese Vorstellung ist nun keine andere als Bewegung.

B.

§15

Bewegung

Bewegung als abgeleitete Anschauungsform („zur Sinnlichkeit gehöriger Begriff")

Im Kantischen Gesamtwerk sieht man sich einer geradezu verwirrenden Fülle von Definitionen der Bewegung konfrontiert: einmal wird Bewegung als Anschauungsform, ein andermal als Begriff, dann als Vorstellung a priori, dann als Vorstellung a posteriori bestimmt. Zweifellos ist ein Wandel in der Beurteilung von den frühen bis zu den späten Schriften, insbesondere was die Frage der Apriorität oder Aposteriorität angeht, nicht zu bestreiten. Er ist mehr als eine bloße Verlagerung des Schwergewichts von dem, was man an der Bewegung für empirisch halten kann, zu dem, was man an ihr für a priori halten muß; er verrät eine tatsächlich veränderte Einstellung. Während Kant beispielsweise in Prol., § 15 den „Begriff der B e w e g u n g " einschließ28

Allerdings hält Kant in den MA und in Teilen der KdrV an einem Unterschied zwischen Materie und Seele fest, was historisch-genetisch zu erklären ist.

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Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen

lieh der darauf basierenden Bewegungsgesetze als „nicht ganz rein und von Erfahrungsquellen unabhängig" betrachtet in ausdrücklichem Gegensatz zu den Grundsätzen des reinen Verstandes, kennt er im Op. p. nur noch einen gänzlich apriorischen Begriff und gänzlich apriorische Bewegungsgesetze. So sagt er z. B. in Op. p., XXII, 164,11 mit Blick auf die MA: „In den metaph. Anf. Gr. d. N W . als einem auf l a u t e r P r i n z i p i e n a p r i o r i gegründeten System war der Begriff von einer Materie als des Beweglichen im Räume zum Grunde gelegt" (gesp. v. Verf., vgl. auch XXI, 402,12; XXII, 166, 5).

Die Entwicklung läuft derjenigen parallel, die in der Frage des Umfangs des Raumes zu konstatieren war. Mit dem Nachweis gleicher Universalität für Raum wie für Zeit und damit auch gleichuniversaler Anwendbarkeit beider bleibt kein Platz mehr für die Annahme irgendeiner Empirizität der aus Raum und Zeit bestehenden Bewegung. Beruhen in der Tat einige unvereinbare Aussagen in Kants Schriften auf einem unterschiedlichen Entwicklungsstand der Theorie, so lassen doch die meisten frühen Äußerungen, auch die über den empirischen Charakter der Bewegung, eine Deutung zu, die mit dem späten Verständnis durchaus kompatibel ist. Zudem ordnet sich die auf den ersten Blick so widersprüchliche Vielfalt von Festsetzungen zu einem widerspruchsfreien System, wenn man sie von dem in den vorherigen Untersuchungen erarbeiteten Standpunkt der Einen Erfahrung aus betrachtet und als verschiedene Konstitutionsstufen derselben interpretiert. Wir werden daher bei der im folgenden geplanten Systematisierung diesen Standpunkt für den unsrigen erklären. Um alle Aspekte der Bewegung zu erfassen, ist es ratsam, die Betrachtung auf allen Stufen an Inhalt und Realitätsbezug zu orientieren. Im Rückblick auf Inhalt, Umfang und Grenzen der Transzendentalen Ästhetik der KdrV stuft Kant in A 41 Β 58 Bewegung als einen der „zur Sinnlichkeit gehörigen Begriffe 29 " ein, als einen, der zwar nicht zu den „Elementen", den ursprünglichen Anschauungsformen, zählt, die allein von Raum und Zeit verkörpert werden, wohl aber zu den daraus abgeleiteten; denn seiner Definition nach „vereinigt" er „beide Stücke" in sich. 29

„Begriff" bezeichnet hier nicht die logische Vorstellung, sondern die Vorstellung überhaupt, die sich sowohl auf Anschauliches wie Begriffliches beziehen kann, vgl. KdrV, A 320 Β 376 f.

Bewegung als abgeleitete Ansdiauungsform

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Da man unter Ableitung aus ursprünglich reinen Anschauungsformen in Analogie zu der aus ursprünglich reinen Verstandesbegriffen 30 entweder die verstehen kann, die sich aus der Verbindung von Anschauungsformen untereinander, oder die, die sich aus der Verbindung mit Verstandesformen ergibt, bleibt zu klären, zu welcher Bewegung gehört. Die obige Definition erlaubt beide Zuordnungen, je nachdem, ob in ihr die beiden zu vereinigenden Stücke, Raum- und Zeitform, oder die Vereinigung der beiden Stücke betont wird. Im ersten Fall ist die Verbindung lediglich als Ausdruck irgendeiner Gemeinschaft, nicht speziell einer Verstandessynthesis zu betrachten, im zweiten als ausdrücklicher Akt des Verstandes. Dieser Differenz entspricht die Klassifikation der Bewegung als abgeleitete Anschauungsform und als abgeleitete formale Anschauung. Die Ambivalenz verwundert nicht, da eine Undifferenziertheit von Anschauungsform und formaler Anschauung für die Ästhetik kennzeichnend ist. Wenden wir uns zunächst der ersten Version zu. Uns interessieren vorzüglich zwei Fragen: 1. Welcher Art ist die inhaltliche Ableitung der Bewegungsform aus Raum- und Zeitform? Handelt es sich um das Entspringen einer gänzlich neuen Form, um eine Spezifikation oder um eine Überlagerung der Bestandteile? 2. Betrifft die Ableitung nur den Inhalt oder auch die Realmöglichkeit, mit anderen Worten, muß der Realbezug der neugebildeten Anschauungsform neu ausgewiesen und damit über seine Beweisbarkeit a priori oder a posteriori neu entschieden werden oder erfolgt mit der Inhaltsdeduktion a priori zugleich eine Deduktion a priori der Realmöglichkeit? Unter den möglichen Verbindungsarten erwägt Kant nirgends eine solche, die mehr als eine bloße „Zusammennehmung" beider Elemente, nämlich eine „Verknüpfung" zu einer völlig neuen Anschauungsform und damit eine Neuschöpfung nach Art der Bildung der dritten Kategorie jeder Klasse aus der Zusammensetzung der beiden ersten wäre, um hier Ausdrücke zu gebrauchen, die Kant in einem Brief an Schultz vom 17. 2. 1784 (X, 366) in dem ganz analogen Zusammenhang der Begriffsbildung verwendet. Der Grund dürfte darin liegen, daß die Neuschöpfung einen ursprünglichen Akt der Spontaneität verlangt (vgl. KdrV, Β 111), den nur ein Verstand, nicht aber eine Sinnlichkeit erfüllen könnte. 30

Vgl. § 17, 153 ff.

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Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen

Auch als Spezifikation nach genus proximum und differentia specifica läßt sich die Verbindung nicht deuten. Denn die Zusammensetzung zweier gleichursprünglicher, gleichallgemeiner Anschauungsformen erlaubt keine Klassifikation der einen als genus proximum, der anderen als differentia specifica, folglich auch keine Besonderung der einen durch die andere. Übrig bleibt daher nur eine Überlagerung (Überlappung) auf der Basis der im Vorhergehenden aufgezeigten Interdependenz von Raum und Zeit, also eine „Zusammennehmung", von der oben die Rede war. Mit dieser Feststellung ist indirekt auch die Frage nach der Beweisstruktur der realen Möglichkeit entschieden. Da weder eine inhaltliche Neuschöpfung vorliegt, die auf Grund ihrer Novität einen Neuausweis erforderlich machte, noch eine inhaltliche Spezifikation, für die die Regel gelten würde: a genere ad speciem non valet consequentia, sondern eine inhaltliche Uberlagerung, so muß mit dem Inhalt zugleich die Realmöglichkeit von den einfachen Anschauungsformen auf die zusammengesetzte a priori übertragen werden. Widerspricht dem nicht die an die Bewegungsdefinition von KdrV, A 41 Β 58 anschließende Bemerkung, daß Bewegung, ebenso Veränderung, die eine Bewegung mit Betonung der Zeitkomponente ist (vgl. KdrV, Β 48 f., Β 291 f.), 1. „etwas Empirisches" voraussetze, nämlich „die Wahrnehmung von etwas Beweglichem" bzw. „die Wahrnehmung von irgendeinem Dasein und der Sukzession seiner Bestimmungen", und 2. dieser empirischen Voraussetzung wegen keinen Platz in einer Transzendentalen Ästhetik, die ausschließlich Bedingungen a priori der sinnlidien Erkenntnis behandelt, finden könne? Die Begründung, die Kant für diesen Sachverhalt gibt, ist nicht nur obskur, sie hält audi einer genaueren Uberprüfung nicht stand. Sie lautet: „Im Raum, an sich selbst betrachtet" (ib.), das heißt hier, wie aus dem folgenden Zeitargument hervorgeht, an der Raumform, an der b e h a r r l i c h e n S t r u k t u r des Außer- und Nebeneinander, ist nichts B e w e g l i c h e s , sowenig wie an der Zeitform, an der b e h a r r l i c h e n S t r u k t u r des Nacheinander, etwas V e r ä n d e r l i c h e s ist. Daher muß Bewegung bzw. Veränderung „ i m R a u m e " bzw. „in der Zeit" „ d u r c h E r f a h r u n g " gefunden werden (ib.). Welchen Charakter sollte, welchen könnte die hier angesetzte Empirizität haben? Nicht gemeint sein kann eine Erfahrungsdependenz von Inhalt und Realmöglichkeit nach dem normalen Verständnis von empi-

Bewegung als abgeleitete Anschauungsform

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rischen Vorstellungen; denn dies widerspräche der an selbiger Stelle aufgezeigten Inhaltsdeduktion a priori. Eine Trennung in a priori mögliche Inhaltsableitung und a posteriori möglichen Realitätsbeweis scheidet angesichts der Überlagerung zweier gleichuniverseller Anschauungsformen ebenfalls aus. Folglich bleibt nichts weiter übrig als eine grundsätzliche Erfahrungsbezogenheit, die die Bewegungs- bzw. Veränderungsform aufweisen muß, um überhaupt real möglich zu sein, was aber gleicherweise auch für Raum- und Zeitform gilt. Damit erweist sich das Kantische Argument, das auf einen Unterschied grundsätzlicher Art zwischen Bewegung (Veränderung) als abgeleiteter Form und Raum und Zeit als ursprünglichen Formen abzielt, als völlig unplausibel; denn einerseits ist Bewegung (Veränderung) ebensowenig wie Raum und Zeit eine empirische Form, andererseits sind Raum und Zeit als reine Formen ebensosehr auf Empirisches bezogen wie Bewegung. Offensichtlich hat Kant in dieser Argumentation die Reinheit von Raum- und Zeitform mit Nicht-Bewegung, mit Beharrlichkeit, und die Empirizität des Gegebenen mit Bewegung (Veränderung) verwechselt. Er hat übersehen, daß die der Beharrlichkeit inhaltlich entgegengesetzte Bewegung bzw. Veränderung nicht ausschließt, eine beharrliche Form zu haben und rein zu sein, sowenig wie die Beharrlichkeit der reinen Formen von Raum und Zeit ausschließt, auf Empirisches, Bewegliches, Veränderliches, bezogen zu sein. Zweifellos steht Kant mit der angeführten Stelle aus der 1. Aufl. der KdrV noch am Anfang seiner Einsichten. Das geht schon daraus hervor, daß er die Realisierungsmöglichkeit der Bewegungsform nicht, wie er es nach der Inhaltsdefinition (Raum- plus Zeitform) hätte tun müssen, in bezug auf Raum und Zeit, sondern ausschließlich in bezug auf Raum erwägt und für den Bezug auf Zeit eine besondere Form, nämlich Veränderung, einführt. Doch kündigt sich bereits hier die Nähe beider Vorstellungsarten an, die in der 2. Aufl. (vgl. KdrV, Β 48 f., Β 291 f.) offenkundig wird. Nach der bisherigen Untersuchung muß der Ausschluß der Bewegung bzw. Veränderung aus der Transzendentalen Ästhetik unverständlich erscheinen. Man darf vermuten — und zwei Reflexionen (4652 und 4648) aus der Zeit der Entstehung der KdrV bestätigen dies —, daß der wahre Grund nicht in irgendeiner Empirizität, sondern in begrifflichen Implikationen liegt, welche die Thematik der Transzendentalen Ästhetik grundsätzlich überschreiten. Schon die obige Bewegungsdefinition zeigte eine Ambivalenz, indem sie nicht nur als abgeleitete Anschauungsform,

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Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen

sondern auch als abgeleitete formale Anschauung interpretiert werden konnte. „Ich habe anfangs gezweifelt", sagt Kant, „ob die Bewegung mit zur transzendentalen Ästhetik gehöre. Jetzt sehe ich ein, daß, da sie etwas im Räume, was bewegt wird, mithin die Veränderung von Etwas in Ansehung der Verhältnisse enthält, sie nicht die bloße Sinnlichkeit, sondern einen intellektuellen Begriff enthalte" (Reil.

4652).

§ 16

Bewegung als abgeleitete formale Anschauung

So wie die einfachen Anschauungsformen „Raum" und „Zeit" erst am Räumlichen und Zeitlichen der formalen Anschauung verständlich werden, zu dem die Einheit des Bewußtseins sie synthetisieren muß, so wird auch die aus beiden zusammengesetzte Anschauungsform „Bewegung" erst am Beweglichen der formalen Anschauung verständlich. Konsequenterweise handelt es sich bei diesem um die Zusammensetzung (Überlagerung) von Raum- und Zeitanschauung, wie dies denn Kant auch im Op. ρ,. X X I I , 4 4 0 , 1 6 an einer stark korrigierten Stelle ausspricht: „ R a u m , Z e i t und was beide [späterer Zusatz: Anschauungen, die äußere u. innere,] in Einer [durchstrichen: Anschauung] verbindet: B e w e g u n g " . Ähnlich lautet Op. p., X X I I , 4 4 2 , 1 2 : „Raum, Zeit (als Anschauungen), Bewegung: synthetische Einheit im V e r h ä l t n i s s e der Anschauungen als Erscheinungen". Wenden wir uns zunächst wieder der Strukturanalyse zu. Auf der jetzigen Konstitutionsstufe muß sich diese in folgendem Spannungsfeld bewegen: 1. in dem generellen zwischen synthetischer Einheit der Apperzeption und Anschauungsform überhaupt und 2. in dem speziellen zwischen synthetischer Einheit der Apperzeption und zusammengesetzter, genauer: überlagerter Raum-, Zeitform; denn es soll hier die Einheit der Apperzeption, die ihrem Ursprung nach eine ist, auf unterschiedliche sinnliche Formen zugleich bezogen sein. Zum genaueren Verständnis der Bewegung ist es ratsam, sich an Definitionen aus der Spätzeit zu orientieren, da diese naturgemäß ein höheres Reflexionsniveau widerspiegeln als die aus der Frühzeit. Im Anschluß an die Definition von Op. p., X X I I , 440, 16 erläutert Kant Bewegung als „Akt der Beschreibung des Raumes in einer gewissen Zeit". Deutlich treten hier alle von uns als notwendig postulierten Mo-

Bewegung als abgeleitete formale Anschauung

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mente zutage: auf der einen Seite der Akt der Beschreibung als Ausdruck der Synthesishandlung des spontanen Subjekts, auf der anderen Seite Raum und Zeit als Ausdruck der zu synthetisierenden Anschauungsform des rezeptiven Subjekts. Vermittelt werden beide Pole durch die in Raum und Zeit sidi vollziehende Beschreibung, die in dieser Mittlerfunktion ein reiner Akt produktiver Einbildungskraft ist (vgl. KdrV, Β 155 Anm.), und zwar einer, der sich nicht ausschließlich auf Raum oder Zeit, sondern auf beide gleichursprünglich bezieht und daher in genauem Sinne „ein reiner Aktus der s u k z e s s i v e n Synthesis des Mannigfaltigen in der ä u ß e r e n Anschauung überhaupt" ist (KdrV, Β 155 Anm., gesp. v. Verf.). Von der Struktur her wird deutlidi, daß sich Bewegung nur bei Berücksichtigung aller in ihren Gesamtverband gehörenden Momente: der synthetischen Einheit der Apperzeption einschließlich der kategorialen Bestimmtheiten sowie der Raum- und der Zeitform angemessen verstehen läßt. Das heißt nicht, daß das RaumZeitverhältnis schon unter einer speziellen Kategorie betrachtet werden müßte; Bewegung im allgemeinen Sinne bedeutet lediglich die Zuordnung von Raumteilen zu Zeitteilen vor aller expliziten kategorialen Bestimmung. Im Hinblick auf diese Definition werden auch die übrigen Bewegungsdefinitionen verständlich, indem sie sich als deren Entwicklungsstufen interpretieren lassen, was nicht ausschließt, daß auch noch in späterer Zeit unangemessene Definitionen vorkommen, wie ζ. B. in der Preisschrift von 1791 die frühe Definition der Ortsveränderung (XX, 272). Ein kurzer Überblick soll sich hier anschließen. Kant geht aus von der allgemein üblichen Bewegungsdefinition als Ortsveränderung 31 . Zwar weist auch diese alle erforderlichen Bestandteile auf, doch nur indirekt und nur über Umwege erkennbar. Was heißt Veränderung? Dem Vollsinn nach bedeutet der Begriff die „Verbindung kontradiktorisch einander entgegengesetzter Bestimmungen im Dasein eines und desselben Dinges" (KdrV, Β 291, vgl. Β 48, Fortschr., X X , 272). Da der reine Gedanke einer solchen Verbindung in sich widersprüchlich, also logisch unmöglich ist, setzt er, um logisch überhaupt möglich zu sein, Zeitanschauung voraus. Diese hebt die Kontradiktion der Bestimmungen vermittels einer Aufeinanderfolge auf. Daher ist Veränderung „nur durch und in der Zeitvorstellung möglich" (KdrV, Β 48). Bei einer strukturellen Betrachtung, wie sie uns hier allein interessiert, 31

Vgl. KdrV, A 386, Β 48, Β 292, ΜΑ, IV, 482, Fortschr., X X , 272.

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Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen

reduziert sidi die realitätshaltige Z u s t a n d s ä n d e r u n g auf eine bloß formale R e l a t i o n s ä n d e r u n g ; denn dadurch, daß der konkrete Gegenstand auf einen abstrakten mathematischen Punkt zusammenschrumpft, schrumpft audi seine Zustandsfolge in der Zeit auf eine bloße Punktfolge in der Zeit zusammen. Veränderung drückt somit das Sein eines Punktes zu verschiedenen Augenblicken aus und Orts-Veränderung gemäß der obigen Definition das Sein eines Punktes an verschiedenen Orten zu verschiedenen Augenblicken32. Wenn Kant bei tiefer angelegten Untersuchungen von der Bewegungsdefinition als Ortsveränderung Abstand nimmt (vgl. ΜΑ, IV, 482), so begründet er das damit, daß diese Definition nur in der reinen Anschauung uneingeschränkt für alle Bewegungsarten gilt, nicht in der empirischen. Denn hier kommt eine Bewegung vor, die keine Ortsveränderung ist, sofern man unter Ort den Mittelpunkt eines Körpers versteht, wie ζ. B. die Achsendrehung der Erde. Bei dieser ändert sich zwar das Verhältnis des Körpers zum umgebenden Raum, nicht jedoch der Ort. Um auch solche Fälle einzubeziehen, wird die O r t s Veränderung verbessert in eine R e l a t i o n s Veränderung, das meint eine ständig neue Zuordnung von Raum- und Zeitpunkten innerhalb eines Koordinatensystems. Bewegung ist demnach „Veränderung gewisser Relationen" (KdrV, A 207 Β 252 Anm.), genauer: „ d e r ä u ß e r e n V e r h ä l t n i s s e [eines Dinges] . . . zu einem gegebenen Raum" (ΜΑ, IV, 482), wobei „Ding" sowohl den abstrakten Punkt wie auch den quantitativ und qualitativ näher bestimmten Gegenstand bezeichnen kann. Wenn sich Bewegung nur bei gleicher Berücksichtigung aller in ihren Gesamtverband gehörenden Momente angemessen verstehen läßt, muß jede Verlagerung des Schwergewichts, sei es nach der Seite der Raumkomponente, sei es nach der Seite der Zeitkomponente, zu einer Modifikation führen. Bewegung nimmt dann entweder die Gestalt einer äuße32

Nebenbei bemerkt, lassen sich jetzt auch die Gründe angeben für die von Kant stets hervorgehobene enge Beziehung zwischen Veränderung und Bewegung. Obwohl Veränderung mit einer gewissen Einseitigkeit die Zeitkomponente betont, setzt doch andererseits die Anschaulichkeit der Zeit eine homomorphe Projektion auf den Raum voraus, so daß jedes Sein zu verschiedenen Zeiten zugleich ein Sein in verschiedenen Orten ist, genauso wie dies Bewegung, welche Raum und Zeit gleichermaßen akzentuiert, ausdrückt. Die strukturelle Identität erlaubt nicht nur, Veränderung anhand der Bewegung zu exemplifizieren (vgl. KdrV, Β 48, Β 156, Β 277 f., Β 291 f.), sondern auch vermittels derselben in der reinen Anschauung darzustellen (vgl. KdrV, Β 48, Β 291).

Bewegung als abgeleitete formale Anschauung

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ren oder inneren Bewegung an, d. h. eines Vorgangs, den man vorzugsweise als Raum- oder Zeitgeschehen auslegt 33 . In welchem Verhältnis stehen beide Bewegungsarten? Scheint es auf den ersten Blick auch möglich, äußere Bewegung unter gänzlicher Abstraktion der Zeitkomponente als bloße „Beschreibung34 eines Raumes" (KdrV, Β 155 Anm.), also als einen allein am Raum orientierten Vorgang, aufzufassen, so zeigt doch die Reflexion auf den Akt der Beschreibung, daß dieser immer auch ein zeitlicher ist, so daß die adäquate Bestimmung letztlich wieder auf eine , s u k z e s s i v e Synthesis des Mannigfaltigen in der ä u ß e r e n Anschauung überhaupt' (ib., gesp. v. Verf.) hinausläuft. Ebenso verhält es sich bei der inneren Bewegung. Wenn sie zunächst auch unter gänzlicher Abstraktion der Raumkomponente möglich scheint als bloße „Handlung des Subjekts . . . , dadurch wir den i η n e r e n S i n n seiner Form gemäß bestimmen" (KdrV, Β 154 f.), so setzt doch ihre Anschaulichkeit die „Synthesis des Mannigfaltigen im Räume" (ib.) voraus. Nur indem man von dieser künstlich abstrahiert und sich auf den zeitlichen Prozeß konzentriert, gewinnt man die Vorstellung der inneren Bewegung. Da der räumliche Bewegungsvollzug indirekt ein zeitlicher und der zeitliche indirekt ein räumlicher ist, bilden beide nur Aspekte einer einzigen, Raum und Zeit gleichermaßen umfassenden Gesamtbewegung. Vom jetzigen Reflexionsniveau aus erweist sich das Verhältnis der Bewegung im Vollsinn zu ihren Modifikationen, der äußeren und inneren Bewegung, und dieser zu Raum und Zeit als ein Prozeß zunehmender Abstraktion bzw. umgekehrt zunehmenden Aufbaus. Da alle Abstraktions- bzw. Aufbauprodukte in der Bewegung miteinander ver33

34

Der Tradition gemäß, die Bewegung ausschließlich als motus localis betrachtete und dem Raum zuordnete, behält Kant für die äußere Bewegung diesen Namen bei, während er für die innere den der „Veränderung", „Folge" oder „Sukzession" einführt (vgl. KdrV, Β 154 f.). Was die Zuordnung der Bewegung zum Raum betrifft, vgl. man etwa bei Descartes die Meditationes (2. Med., 2; 3. Med., 19 und 21; 5. Med., 3; 6. Med., 6) oder die Principia philosophiae (1. Teil, 48), wo unter den Bestimmungen der res extensa neben magnitudo oder extensio in longum, latum et profundum, figura, situs usw. auch motus auftritt, und bei Kant vor allem die 1. Aufl. der KdrV, etwa A 274 Β 330, w o neben Ort, Gestalt und Berührung Bewegung als spezifisch äußeres Verhältnis vorkommt, oder A 358, wo Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Zusammenhang und Bewegung als Bestimmungen des äußeren Sinnes den Gedanken, Gefühlen, Neigungen und Entschließungen als Bestimmungen des inneren Sinnes gegenübergestellt werden, oder A 386 f., wo ebenfalls neben Ort, Gestalt, Raumbestimmungen überhaupt Bewegung genannt und inneren Bestimmungen entgegengehalten wird (außerdem KdrV, A 41 Β 58). Gesp. ν. Kant.

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Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen

knüpft sind, können sie letztlich nur kinematisch angemessen interpretiert werden. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des Linienziehens 35 . Der abstrakt gesehen unzeitliche Raum, der in diesem Beispiel durch eine seiner Gestalten, die unendliche Gerade, repräsentiert wird, läßt sich nur im Ziehen dieser Geraden, d. h. im räumlichen wie zeitlichen Durchgang aller Teile verstehen, was im Endeffekt einem Bewegungsvollzug entspricht, der Raum und Zeit umfaßt, hier vor allem einem äußeren. Und ebenso gilt für die abstrakt genommen unräumliche Zeit, daß sie nur „unter dem Bilde einer Linie, sofern wir sie ziehen" (KdrV, Β 156), verständlich wird, also in einem nicht nur zeitlichen, sondern zugleich räumlichen Prozeß. Ein solcher Zeit und Raum gleichermaßen einbeziehende Vorgang ist wiederum Bewegung, und zwar hier vor allem innere Bewegung. Das Linien-Ziehen ist immer auch ein Z i e h e n der Linie beim Raum und ein Ziehen der L i n i e bei der Zeit und bringt somit stets beide Aspekte des Gesamtphänomens „Bewegung" zur Geltung. Wurde Bewegung bisher auf ihre Struktur hin analysiert, so ist jetzt noch ein Blick auf ihre Anwendung zu werfen. Selbstverständlich kann die Entscheidung über einen a priori oder a posteriori möglichen Realitätsbeweis auf der Stufe der synthetisierten Anschauungsform nicht anders ausfallen als auf der Stufe der unsynthetisierten. Zum Beleg mögen die schon zitierten Stellen aus dem Op. p. dienen. In Op. p., XXII, 440, 16 werden Raum, Zeit und Bewegung als „Formen der Sinnenanschauung, die dem Subjekt a priori angehören", bezeichnet, d. h. als Bedingungen a priori der Erscheinungsweise der Gegenstände, auf die sich die „Möglichkeit einer synthetischen Erkenntnis a priori" gründet. Und ebenso werden in Op. p., XXII, 442, 12 Raum, Zeit und Bewegung als „Bedingungen des Sinnenobjekts" angesehen und damit als „Prinzip, [ien] mögl.[icher] Erfahr.[ung]", was unmöglich wäre, wenn sie von der Erfahrung dependierten. Dieser sachlich zu fordernden und textlich belegten Beweisstruktur widerspricht auch nicht die Bemerkung Kants in KdrV, Β 155 Anm., daß die „Bewegung eines O b j e k t s " („daß etwas beweglich sei") „nicht a priori, sondern nur durdi Erfahrung erkannt werden" könne und deshalb „nicht in eine reine Wissenschaft, folglich auch nicht in die Geometrie" gehöre. Hier wie im folgenden konfrontiert Kant die reale Bewegung des Objekts der formalen des Subjekts, wobei die eine Unter35

Vgl. KdrV, Β 137 f., Β 155 f., A 162 f. Β 203 f.

Bewegung als abgeleiteter reiner Verstandesbegriff

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suchungsgegenstand angewandter Strukturwissenschaften, die andere Untersuchungsgegenstand reiner von der Art der Geometrie ist. Da die reine Strukturerkenntnis der Bewegung keine Erkenntnis im Vollsinne abgibt, weil sie die Realitätsfrage unbeachtet läßt, muß sie, um Vollgültigkeit zu erlangen, an der Erfahrung orientiert werden, was jedoch keineswegs Abhängigkeit von der Erfahrung, sondern nur Bezogenheit auf die Erfahrung bedeutet.

§ 17

Bewegung als abgeleiteter reiner Verstandesbegriff des Typs „sinnlich bedingter Begriff a priori"

a) Prädikabilien Da formale Anschauungen, gleich welcher Art, ein begriffliches Moment implizieren, insofern „ E i n h e i t d e r S y n t h e s i s d e s Mannigfaltigen . . . schon m i t . . . diesen Anschauungen zugleich gegeben" ist (KdrV, Β 161), muß es grundsätzlich möglich sein, die abgeleitete formale Anschauung „Bewegung" nicht nur von seiten der Sinnlichkeit als Anschauung, sondern auch von Seiten des Verstandes als Begriff zu deuten. Dies geschieht in der Tat mit Hilfe der Begriffsart der Prädikabilien, speziell der vom Typ „sinnlich bedingte Begriffe a priori"; denn als einen sinnlich bedingten Begriff a priori klassifiziert Kant in Forschr., X X , 272 Bewegung. Um ein angemessenes Verständnis dieses Sachverhalts zu erlangen, ist zunächst auf Prädikabilien generell einzugehen und sodann auf dieser Basis das Prädikabile „Bewegung" näher ins Auge zu fassen Die Prädikabilien bilden eine besondere Begriffsklasse, die in ausdrücklicher Beziehung zur Klasse der u r s p r ü n g l i c h e n r e i n e n Verstandesbegriffe 37 als die der daraus a b g e l e i t e t e n 3 8 , daraus z u -

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34

Eingehende Untersuchungen widmete erstmals Piaass, 83 ff., 95 ff. dem Prädikabile „Bewegung" im Rahmen einer Auslegung der MA. Die von ihm eingeschlagene Interpretationsrichtung wurde, erweitert auf alle Prädikabilien, von Cramer, 21 ff. in subtilen Analysen fortgesetzt und vertieft. D a unsere Auffassung jedoch in einigen wesentlichen Punkten, vor allem dem der Beweisbarkeit der objektiven Realität, abweidit, muß sie hier gesondert expliziert werden. Vgl. KdrV, A 80 Β 106, A 82 Β 108. Diese Begriffe werden audi „Urbegriffe" (KdrV, A 81 Β 107), „Grundbegriffe" (KdrV, A 81 Β 107), „Elementarbegriffe" (KdrV, A 64 Β 89), „primitive Begriffe" (KdrV, A 82 Β 108) u. ä. genannt. Vgl. KdrV, A 64 Β 89, A 81 f. Β 107 f.

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Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen

s a m m e n g e s e t z t e n 3 9 und somit s u b a l t e r n e n 4 0 r e i n e n Verstandesbegriffe bestimmt wird. Da diese Charakteristik offen läßt, ob sich die Ableitung auf Inhalt und Realmöglichkeit oder nur auf eines von beiden bezieht, sind hierüber getrennte Ermittlungen anzustellen, wobei jedoch zu vermuten ist, daß ähnlich wie bei den abgeleiteten reinen Anschauungsformen bereits die Inhaltserörterung Aufschluß über die Beweisstruktur der realen Möglichkeit gibt. Einzugehen haben wir bei der Inhaltsdiskussion zum einen auf Art und Ursprung des verwendeten Materials, zum anderen auf den Modus der Ableitung und der mit ihr verbundenen Subalternation. Kant unterscheidet zwei Typen von Prädikabilien entsprechend dem zur Inhaltsbildung verwendeten Material: 1. diejenigen, die aus der Verbindung der Verstandeselemente untereinander, 2. diejenigen, die aus der Verbindung der Verstandeselemente mit den Elementen der Sinnlichkeit hervorgehen, sei es a) mit den reinen Formen der Sinnlichkeit, Raum und Zeit, sei es b) mit der Materie der Sinnlichkeit, sofern sie noch nicht näher bestimmt ist, sondern Materielles überhaupt als Gegenstand einer Empfindung überhaupt bedeutet. Statt der letzten aus Prol., § 39 stammenden Unterteilung kennt die KdrV, A 82 Β 108 nur c) die Verbindung der Kategorien mit den modi der reinen Sinnlichkeit. Zur leichteren Unterscheidung wollen wir die beiden Prädikabilientypen kurz als kategoriale Prädikabilien und sinnlich bedingte Begriffe a priori gegeneinander abgrenzen. Da die genannten Konstitutionsmomente insgesamt apriorischen Ursprungs sind, sei es, daß sie dem reinen Verstand angehören wie die Kategorien oder der reinen Sinnlichkeit wie die Anschaungsformen (die Materie ist vermittels der Anschauungsformen faßbar zu denken) oder beiden zugleich wie die modi der reinen Sinnlichkeit, die Schemata von Relationskategorien bzw. deren Implikate sind und daher Kategoriales

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Vgl. KdrV, A 64 Β 89. Vgl. KdrV, A 82 Β 108.

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und Anschauliches miteinander verbinden 41 , so kann der aus ihnen zusammengesetzte Inhalt der Prädikabilien nicht anders als a priori ausfallen. Den Prädikabilien ist demnach eine metaphysische Deduktion zuzugestehen. Was das Ableitungsverfahren selbst betrifft, so ist es wegen der unterschiedlichen Zusammensetzung für beide Prädikabilientypen gesondert zu behandeln. Für kategoriale Prädikabilien kommt zum einen keine Verbindung in Betracht, die zum Entspringen eines völlig neuen Begriffs führt, wie dies die Verbindung der ersten und zweiten Kategorie jeder Klasse zur dritten tut; denn hierzu bedarf es eines „besonderen Aktus des Verstandes, der nicht mit dem einerlei ist, der beim ersten und zweiten ausgeübt wird" (KdrV, Β 111). Gerade die Nichterfüllung dieser Bedingung unterscheidet Prädikabilien von Kategorien; denn sonst bliebe unverständlich, wieso die Verbindung ζ. B. von Substanz- und Kausalkategorie im einen Fall zum Prädikabile „Kraft" als „Kausalität einer Substanz" (KdrV, A 648 Β 676), im anderen zur Kategorie „Gemeinschaft" als „Kausalität einer Substanz in Bestimmung der andern wechselseitig" (KdrV, B i l l ) führt. Nirgends formuliert Kant diesen Unterschied deutlicher als in dem schon erwähnten Brief an J. Schultz vom 17. 2. 1784 (X, 366), in dem es heißt, daß die dritte Kategorie „zwar freilich durch die Verknüpfung der ersten und zweiten, aber nicht bloß durch Z u s a m m e n n e h m u n g 4 2 , sondern eine solche V e r k n ü p f u n g , derenMöglichkeitselbsteinenBegriffausmacht", zustande kommt, während, wie hieraus mit Notwendigkeit folgt, das Prädikabile durch b l o ß e Z u s a m m e n n e h m u n g ensteht. Zum anderen liegt auch keine Spezifikation vor. Denn da zwischen Kategorien als höchsten Gattungsbegriffen kein logisches Gefälle besteht, das die eine als Gattung, die andere als spezifisches Bestimmungsmittel zu klassifizieren erlaubte, kann bei einer Verbindung derselben auch keine die andere spezifizieren. Da nun einerseits kategoriale Prädikabilien keine inhaltlichen Spezifikationen von Kategorien sind, folglich diesen auch umfangmäßig nicht subordiniert sein können, müssen sie in einer Begriffspyramide auf derselben Stufe stehen wie diese und dieselben Gegenstände bezeichnen, näm-

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Wir verweisen hierzu auf die ausgezeichnete Analyse bei Cramer, 31 f. und Anm. Gesp. v. Verf.

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Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen

lieh Gegenstände überhaupt. Da sie aber andererseits keine inhaltlich selbständigen Verstandesakte sind wie die dritte Kategorie jeder Klasse, folglich mit Kategorien auch nicht identisch sein können, müssen sie sich in der Art und Weise der inhaltlichen Bestimmung der Gegenstände unterscheiden. Nur so läßt sich die Formel „Ursprünglichkeit — Abgeleitetheit" rechtfertigen, nur so der von Kant erhobene Anspruch auf Vollständigkeit der Kategorientafel aufrechterhalten. Wir wollen unsere Auslegung an einem Modell verdeutlichen. Von einem Standpunkt C richte ein Betrachter seinen Blick unter dem Winkel γ auf ein Objekt AB. C

A-

B

Dem Standpunkt C entspricht in der Kantischen Philosophie die transzendentale Apperzeption, jener „Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik und nach ihr die Transzendental-Philosophie heften muß" (KdrV, Β 134 Anm.), und dem von C auf AB gerichteten Blick ACB = γ die synthetische Einheitsfunktion der Apperzeption, die das Anschauungsmannigfaltige AB, auf das sie bezogen ist, zur Einheit des Objekts bringt. Ebenso wie sich der Winkel in eine Reihe von Teilwinkeln γι, γ2, γ» usw. zerlegen läßt, so läßt sich auch die Einheitsfunktion in eine Reihe von Einzelfunktionen zerlegen, deren jede eine Kategorie darstellt; und ebenso wie sidi die Teilwinkel in beliebiger Reihenfolge (γι + γζ oder γι + ys) und beliebigem Ausmaß (γι + γζ oder γι + γζ + γ&) zusammensetzen lassen, so lassen sich auch die Kategorien in beliebiger Reihenfolge und beliebigem Ausmaß zusammensetzen, wobei man systematisch vorgeht, wenn man, der Anordnung der Kategorientafel folgend, jede Kategorie mit jeder anderen, zunächst ihrer eignen, dann einer anderen Klasse verbindet — und das in ständiger Erweiterung — und die sich daraus ergebenden Verknüpfungen ihr klassenweise unterordnet (vgl. Prol., § 39 Anm. 3). Bei diesem Vergleich ist allerdings zu beachten, daß 1. der Winkel in potentiell unendlich viele Teilwinkel, die Einheitsfunktion in definitiv zwölf Kategorien zerfällt und daß 2. jeder Teilwinkel einen quantitativen Ausschnitt des Objekts, jede Kategorie einen essentiellen, eher qualitativ zu nen-

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nenden Aspekt bezeichnet, so daß aus diesem Grunde audi die kategoriale Zerlegung keine quantitative Teilung, sondern eine essentielle Auffächerung und die kategoriale Zusammensetzung keine quantitative Addition, sondern eine essentielle Vervollständigung bedeutet. Trotz einiger Unzulänglichkeiten ist das Modell geeignet, Aufschluß nicht nur über die verschiedenen Operationen bezüglich eines und desselben Gegenstands, sondern audi über deren Aufgabe und Verhältnis untereinander zu geben. Den Kategorien fällt zu, die Grundhinsichten auf einen Gegenstand systematisch zu explizieren. Jede von ihnen soll durch Eröffnung einer eignen Perspektive einen neuen, nur durch sie und durch keine sonst bestimmbaren Aspekt angeben. Wenn dies sowohl nach der analytischen wie synthetischen Methode nur auf dem Hintergrund aller anderen und somit in indirekter Verbindung mit ihnen möglich ist, wenn beispielsweise die Relationskategorie „Wechselwirkung" als Ausdruck wechselseitiger Kausalität der Substanzen die Kausalkategorie voraussetzt und diese als Ausdruck kausaler Regelung der Akzidenzien einer Substanz die Substanz-Akzidenskategorie, dann hat das nichts mit jener Verbindung von Kategorien zu tun, wie sie in kategorialen Prädikabilien stattfindet, sondern mit dem Verweisungszusammenhang eines Systems, dessen Teile, nach dem Zweckprinzip arrangiert, sowohl aufeinander wie auf das Ganze deuten. Den kategorialen Prädikabilien hingegen kommt zu, durch Kombination der Grundhinsichten, durch Herausstreichung dieses Moments, durch Abschwächung jenes, die Vielfalt möglicher Betrachtungsweisen eines Gegenstandes systematisch darzulegen. Hier geht es darum, die gesamte Skala von Überschneidungen und Uberlagerungen aufzuzeigen. Bemerkenswert ist, daß Kant nicht nur das Verhältnis der Prädikabilien zu den Kategorien, sondern auch das der Kategorien zur Apperzeptionseinheit als Ableitungs- und Subalternationsverhältnis betrachtet. Im ersten bezeichnet er die Prädikabilien als abgeleitete, subalterne Begriffe (s. Definition), die Kategorien als ursprüngliche, im zweiten die Kategorien als „aus . . . der transzendentalen Einheit der Apperzeption abgeleitet" (KdrV, Β 142), die Apperzeptionseinheit als ,ursprünglichsynthetische Einheit' (KdrV, Β 136, vgl. Β 132) und .höchsten Punkt' der Philosophie (KdrV, Β 134 Anm.), der noch „höher" zu suchen sei als die Kategorien (KdrV, Β 131). Da jedoch Apperzeptionseinheit, Kategorien und kategoriale Prädikabilien einen und denselben Gegenstand bestimmen, kann die Ableitung nicht als echte Subalternation im Sinne

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Der U m f a n g einer Begründung a priori von Naturgesetzen

einer Spezifikation gemeint sein. Folglich ist auch das Enthaltensein des Ableitungsprinzips im Abgeleiteten nicht das eines genus in den species, sondern das eines Grundes in seinen Artikulationsweisen, welche sich im einen Fall durch Auffächerung, im anderen durch Uberlagerung ergeben. Ableitung bedeutet hier Auslegung des Grundes. Was nun die Ableitungsweise sinnlich bedingter Begriffe a priori betrifft, so scheidet das Entspringen eines völlig neuen Begriffs aus, weil die mitverwendeten rezeptiven Momente dem erforderlichen Akt der Spontaneität nicht zu genügen vermöchten; es scheidet aber auch eine „Zusammennehmung" bzw. Überlagerung der Bestandteile aus, weil zu einer solchen gleichartige Bestandteile verlangt würden. Wie steht es dagegen mit einer Spezifikation? Prinzipiell zwar könnte die Verbindung der Kategorien mit den Sinneselementen als Spezifikation jener durch diese gedeutet werden; denn da die Kategorien als Begriffe von Gegenständen einer Anschauung ü b e r h a u p t gegenüber den untergelegten Anschauungstypen invariant sind, letztere also das Spezifikationsmittel der ersteren ausmachen und die menschliche Anschauungsart (Form und Materie) nur eine unter anderen denkbaren ist; könnten die Kategorien durch sie spezifiziert gedacht werden; faktisch jedoch wäre die Verbindung niemals als Spezifikation erkennbar, weil uns die hypothetisch angenommenen außermenschlichen Anschauungsarten nicht wirklich zugänglich sind. Die Verbindung wird daher von uns nicht als Spezifikation, sondern als Anwendung der Kategorien auf Sinneselemente, d. h. als Schematisierung gesehen. Diesem Sachverhalt entspricht die Bezeichnung „sinnlich bedingte Begriffe a priori"; denn Schemata sind nichts anderes als unter der Bedingung der Sinnlichkeit stehende Begriffe a priori. Genauso wie bei den kategorialen Prädikabilien kann auch bei den sinnlich bedingten die Verbindung beliebigen Umfang annehmen. Es läßt sich nicht nur die Verbindung einer Kategorie mit einem Sinneselement denken, sondern die beliebig vieler, überlagerter Kategorien mit beliebig vielen, überlagerten Sinneselementen, wie dies ζ. B. bei der Verknüpfung von Kategorien und modi der reinen Sinnlichkeit der Fall ist. Denn da ein modus der reinen Sinnlichkeit ein Schema oder dessen Implikat ist und damit bereits ein Produkt aus Kategorie und Sinneselement, muß das Hinzutreten einer oder mehrerer neuer Kategorien zu einer Uberlagerung mit der dem Schema zugehörigen führen. Die Verbindung ist dann als Schematismus überlagerter Kategorien zu interpretieren. Systematisch wird man bei der Zusammensetzung verfahren,

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wenn man das gesamte Kategorien- und anschließend kategoriale Prädikabiliensystem zunächst auf die einzelnen, dann auf die zusammengesetzten Sinneselemente anwendet 43 . Wenn unsere Prädikabilienauslegung auch Sachzwang folgt, so wäre doch wünschenswert, sie durch ein ausgearbeitetes Prädikabiliensystem in Kants Werk selbst abzusichern. Hiermit freilich ist es schlecht bestellt; denn ein solches System gehörte in eine vollständig entfaltete Metaphysik 44 , zu einer solchen existieren aber lediglich die Propädeutik in der KdrV und Ansätze in Teilen der KdrV (Schematismus- und Grundsatzkapitel), in Μ Α und Op. p. Wir müssen uns daher mit einer allgemeinen „Erwähnung" bei Kant begnügen (KdrV, A 82 Β 107), mit hier und da verstreuten Beispielen sowie Verweisen auf die ontologischen Lehrbücher der Tradition, insbesondere auf Baumgartens Metaphysik, aus denen sich die Prädikabilien „ziemlich vollständig" gewinnen und nach der Kategorientafel ordnen lassen sollen (Prol., § 39 Anm. 3, vgl. KdrV, A 82 Β

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Freilich ist die Identifikation sinnlich bedingter Begriffe a priori mit Schemata in der Kant-Forschung nicht unangefochten. Cramer (32 f.) bestreitet sie mit der Begründung, daß sie „in die Konstruktion des systematischen Aufbaus der .transzendentalen Analytik' einen unheilbaren theoretischen Widerspruch" (33) bringe, insofern Schemata als konstitutive Implikate der transzendentalen Bestimmung der Gegenständlichkeit der Gegenstände als Erscheinungen notwendig zum System der P r i n z i p i e n der Transzendentalphilosophie gehörten, Prädikabilien dagegen als abgeleitete Begriffe lediglich zur systematisch vollständig a u s g e a r b e i t e t e n Transzendentalphilosophie. Das Argument kann nicht geteilt werden. Akzeptiert man Cramers Standpunkt und rechnet dem System der P r i n z i p i e n den Schematismus zu, so muß man ihm audi das Prädikabiliensystem zurechnen, weil zur vollständigen Explikation der Prinzipien nicht nur ein Zeit-, sondern audi ein Raum- und damit ein Bewegungsschematismus gehört und Bewegung nach Fortschr., XX, 272 ausdrücklich ein Prädikabile ist. Hiernach entfiele eine Differenz in der systematischen Zuordnung von Schemata und Prädikabilien. Man kann mit gutem Redit aber auch den Standpunkt vertreten, daß der Teil der KdrV (Analytik der Begriffe, A 81 f. Β 107 f.), der die Prädikabilien der ausgearbeiteten Transzendentalphilosophie zuordnet, selbst das vollständige System der P r i n z i p i e n verkörpert, weil er das vollständige System der ursprünglichen Begriffe a priori enthält, jener Begriffe, die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen, freilich nodi ohne deren Gegebensein zu berücksichtigen, also das vollständige Grundlagensystem (vgl. KdrV, A 845 Β 873), demgegenüber sowohl das Prädikabiliensystem als System sog. abgeleiteter Begriffe a priori wie auch der Sdiematismus als System sog. angewandter Begriffe a priori A u s a r b e i t u n g e n darstellen. Auch von hier aus ließe sich die Trennung zwischen Prädikabilien und Schemata nicht aufrechterhalten. Vgl. KdrV, A 81 f. Β 107 f., Op. p., XXII, 88, 24.

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Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen

108) 45. Aus dem vorliegenden Material mögen folgende Beispiele die Richtigkeit unserer Auslegung bestätigen. In der Kombinatorik kategorialer Prädikabilien wird 1. die Verbindung von Kategorien verschiedener Abteilungen, mathematischer und dynamischer, garantiert durch das Prädikabile „Dauer", das „Dasein als Größe" bedeutet (Fortschr., X X , 272, vgl. KdrV, A 183 Β 226, A 215 Β 262) und die Modalkategorie „Dasein" mit den Quantitätskategorien verknüpft, 2. die Verbindung von Kategorien einer und derselben Abteilung, aber unterschiedlicher Klassen durch den Begriff „Grad", der zwar nicht ausdrücklich Prädikabile genannt, aber so charakterisiert wird und der das einzig a priori Erfaßbare an der Qualität, nämlich die intensive Quantität, bezeichnet (vgl. KdrV, A 176 Β 218), 3. die Verbindung von Kategorien einer und derselben Klasse, sogar der beiden ersten, durch das Prädikabile „ K r a f t " , das „Kausalität einer Substanz" meint (KdrV, A 684 Β 676), und 4. die Verbindung von Kategorien in beliebigem Umfange durch das bereits erwähnte Beispiel „Dauer", das die eine Modalkategorie „Dasein" mit den drei Quantitätskategorien „Einheit", „Vielheit" und „Allheit" verknüpft, oder nodi deutlicher durch das Beispiel „Veränderung", das seiner Definition gemäß als „Dasein mit entgegengesetzten Bestimmungen" (Fortschr., X X , 272 nidit nur die Modalkategorie „Dasein" und die Qualitätskategorien miteinander verbindet, sondern audi die Relationskategorien „Substanz — Akzidens" und „Kausalität", weil Bestimmungen nur als Akzidenzien einer Substanz und entgegengesetzte nur in kausaler Folge vorgestellt werden können. Auf der Suche nach Belegen für die Richtigkeit unserer Interpretation sinnlich bedingter Begriffe a priori treffen wir zwar auf einen genau entsprechenden Sachverhalt, nicht aber auf eine entsprechende Terminologie. Denn wo eine Verbindung von Kategorien und Elementen 45

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Die wichtigsten Stellen über Prädikabilien finden sidi bei Baumgarten, Metaphysica, §S 124 ff. (mutabile et immutabile), SS 197 f f . (vis), SS 205 ff. (status), SS 208 f. (mutatio), §S 210, 214 f. (actio, passio), SS 211 f. (influxus), §§ 213 f. (reactio, conflictus), SS 227 ff. (ortus, interitus); vgl. dazu bei K a n t die Reil, etwa 3576-93 sowie die im traditionellen Stile gehaltenen Metaphysikvorlesungen, ζ. B. die Metaphysikvorlesungen, ed. Pölitz, 19 (actio, passio, habitus), 28 ff. („Vom Veränderlichen und Unveränderlichen"), 34 („Von der K r a f t " ) , 34 f. („Vom Zustande"), 35 („Was heißt Handeln?"), 36 (ortus, interitus); weitere aufschlußreiche Stellen bei Kant sind K d r V , A 81 ff. Β 107 ff., A 204 ff. Β 249 ff., Prol., § 39, Fortschr., X X , 272. Vgl. ferner K d r V , Β 48 f., Β 149, A 187 Β 230 f., Β 291, Pölitz, 28 f.

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der Sinnlichkeit stattfindet, wie in Schematismus- und Grundsatzkapitel der KdrV, in MA und Op. p., wird diese durchgehend als Schematismus angesprochen, nicht als Prädikabilienableitung, obwohl in den Fortsdir. ( X X , 272) der Grundbegriff der MA „Bewegung" und in der K d r V (A 82 Β 108) der Grundbegriff des Op. p. „(bewegende) K r a f t " 47 ausdrücklich als Prädikabilien klassifiziert werden. Doch gerade dies macht die Annahme einer Identität von Schemata und sinnlich bedingten Begriffen a priori unausweichlich. Um wenigstens einige Beispiele für die Verknüpfungsgesetze anzuführen, seien 1. für die Verknüpfung von Kategorien mit reinen Formen ider Sinnlichkeit die mathematischen Begriffe genannt (vgl. Op. p., X X I , 136,23; 457,11), welche die Quantitätskategorien auf die reinen Anschauungsformen, auf die Raumform in der Geometrie, auf die Zeitform in der Mathematik überhaupt, anwenden, und 2. für die Verknüpfung von Kategorien mit der Materie der Sinnlichkeit das später noch näher zu diskutierende Prädikabile „Bewegung", welches die mittels Raum- und Zeitform erfaßbare Materie bezeichnet. Nachdem unsere Untersuchung die Art der Inhaltsbildung beider Prädikabilientypen geklärt hat, können jetzt auch Rückschlüsse auf die Art des Beweises der Realgültigkeit derselben gezogen werden. D a die kategorialen Prädikabilien auf Grund einer bloßen Uberlagerung der Kategorien in ihnen denselben Gegenstand bestimmen wie die nicht überlagerten Kategorien, muß der Beweis der objektiven Realität, wenn er für die letzteren a priori möglich ist, auch für die ersteren a priori möglich sein. Es findet somit in der Zusammensetzung der Kategorien zu Prädikabilien nicht nur eine des Inhalts, sondern auch eine der objektiven Realität statt. Gegen die Möglichkeit einer solchen Zusammensetzung wäre nur dann etwas einzuwenden, wenn die Begriffsbildung wie bei der Spezifikation auf umfangmäßig andere Begriffe als die Bildungselemente führte. Denn selbstverständlich überträgt sich bewiesene objektive Realität generischer Begriffe nidit auf spezifische Begriffe; die Realmöglichkeit der letzteren verlangt vielmehr einen neuen Ausweis. Wo dagegen die Begriffsbildung wie bei der Bildung der dritten Kategorie oder der kategorialen Prädikabilien auf inhaltlich zwar verschiedene, umfangmäßig jedoch gleichartige Begriffe führt, ließe sich ein 47

(Bewegende) K r a f t meint hier einen sinnlich bedingten Begriff, bei dem die sinnlichen Elemente, Bewegung (Raum und Zeit), in den Vordergrund gerückt sind.

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Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen

Einwand nur denken, wenn der Inhalt gegenüber dem Möglichkeitsbeweis nicht gleichlültig wäre. Nun zeigt aber die Transzendentale Deduktion der KdrV, daß mit der objektiven Realität der ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption zugleich und ausnahmslos die aller Kategorien bewiesen wird und damit indirekt audi die aller kategorialen Prädikabilien. Der transzendentale Charakter der kategorialen Prädikabilien, der nicht allein ihren Inhalt, sondern auch ihre objektive Realität betrifft, ist durch Textbeispiele eindeutig belegt. In KdrV, A 222 Β 269 spricht Kant im Zusammenhang der Bildung von conceptus factitii von ,neuen Begriffen von Substanzen, von Kräften, von Wechselwirkungen', wobei er unter den Relationskategorien die Kategorie der Kausalität durch das Prädikabile „Kraft" ersetzt. Offensichtlich sind beide beliebig austauschbar, was eine ganz ähnliche Aufzählung in KdrV, A 770 f. Β 798 f. bestärkt. Noch deutlicher tritt die Verwandtschaft von Kategorien und Prädikabilien in KdrV, A 648 Β 676 zutage, wenn es heißt, daß „unter die verschiedenen Arten von Einheit nach Begriffen des Verstandes" — womit hier die reinen, nicht empirischen Verstandesbegriffe gemeint sind — auch der Begriff „Kraft" gehöre. Sollten dennoch Zweifel bestehen, so werden sie in KdrV, A 722 Β 750 endgültig zunichte, wo Kant „Realität, Substanz, Kraft usw." „transzendentale" Begriffe nennt, welche „weder eine empirische, noch reine Anschauung, sondern lediglich die Synthesis der empirischen Anschauungen" bezeichnen. Bei den Prädikabilien des Typs „sinnlich bedingte Begriffe a priori" fällt der Beweis ihrer objektiven Realität mit ihrer inhaltlichen Entstehung zusammen. Die in ihnen stattfindende Verbindung von Kategorien und Elementen der Sinnlichkeit ist nichts anderes als das, was Kant gewöhnlich nicht Ableitung der Prädikabilien aus ursprünglich reinen Verstandesbegriffen, sondern Anwendung ursprünglich reiner Verstandesbegriffe auf Sinneselemente oder Schematismus nennt. Daß es sich hier um denselben Sachverhalt handelt, läßt sich dadurch belegen, daß Kant „Beharrlichkeit (Dauer)", „Folge (Veränderung)" und „Zugleichsein (Gegenwart)" willkürlich als Schemata der Relationskategorien 48 oder als Prädikabilien 49 bezeichnet Μ .

48 49

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Vgl. KdrV, A 143 f. Β 183 f. sowie die entsprechenden Grundsätze. Vgl. zu „Dauer": Fortschr., X X , 272, zu „Veränderung": KdrV, A 82 Β 108, Fortsdir., X X , 272, Pölitz, 28 f., zu „Gegenwart": KdrV, A 82 Β 108, Pölitz, 28 f. Vielleicht könnte man bezweifeln, daß „Beharrlidikeit" und „Dauer", „Folge" und

B e w e g u n g als abgeleiteter reiner Verstandesbegriff

163

b) Bewegung als Prädikabile Der voranstehende Aufriß bildet die Grundlage für eine Kennzeichnung der Bewegung als Prädikabile, in specie als sinnlich bedingter Begriff a priori. Da wie bei allen Begriffen dieser Art, so audi hier Inhaltsdeduktion und Realitätsbeweis in Form eines Schematismus zusammenfallen, muß die Analyse des Inhalts gleichzeitig Aufschluß über die Art des Schematismus geben. Welches bzw. welche Elemente des Verstandes verbinden sich also mit welchem bzw. welchen Elementen der Sinnlichkeit? Einen Hinweis liefert die frühere Erörterung der Bewegung als abgeleitete formale Anschauung. Wenn Bewegung dort als zusammengesetzte, genauer: überlagerte Raum-, Zeitanschauung interpretiert wurde, die in dieser Funktion eine von der ursprünglichen Bewußtseinseinheit geleitete Synthesis der Raum-, Zeitform bzw. des Raum-, Zeitmannigfaltigen vorstellte, dann müssen alle dort vorkommenden Elemente audi hier wiederkehren, nur daß sie hier nicht mehr von seiten der Sinnlichkeit, sondern von seiten des Verstandes beurteilt werden. Der Hinweis läßt erkennen, daß die als Begriff gedeutete Bewegung inhaltlich höchst komplexer Natur ist. Ordnet man die inhaltlichen Verknüpfungen nach den Bildungsgesetzen sinnlich bedingter Begriffe a priori, so ergibt sich folgendes Bild: a) Der Verbindung von Elementen des Verstandes mit reinen Formen der Sinnlichkeit entspricht im Prädikabile „Bewegung" eine Verbindung der ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption mit Einsdiluß des gesamten Kategoriensystems (im weiteren auch des gesamten katego„ V e r ä n d e r u n g " s y n o n y m seien, w ä h r e n d dies f ü r „Zugleichsein" und „ G e g e n w a r t " wohl feststehen dürfte. „Beharrlichkeit" als zeitliches Schema der Substanzkategorie ist definiert als „ D a s e i n zu aller Z e i t " ( K d r V , A 185 Β 228, v g l . A 183 Β 226), d. h. als Dasein unter dem quantitativen A s p e k t der Ganzheit der Zeit. D a „ D a u e r " aber nichts anderes als „ D a s e i n als Größe vorgestellt" ist (Fortschr., X X , 272, vgl. K d r V , A 183 Β 226, A 215 Β 262) mit Einschluß eben jenes quantitativen Aspekts, können beide gleichgesetzt (vgl. K d r V , A 183 Β 226) und ausgetauscht werden (vgl. K d r V , A 215 Β 262). — „ F o l g e " und „ V e r ä n d e r u n g " sind über den B e g r i f f der regelgeleiteten Sukzession deckungsgleich. In K d r V , A 144 Β 183 definiert K a n t das Schema der K a u s a l i t ä t , „ F o l g e " , als „Sukzession des M a n n i g f a l t i g e n , insofern sie einer Regel unterworfen ist", und in Pölitz, 28 f. das P r ä d i k a b i l e „ V e r ä n d e r u n g " also „successio determinationum o p p o s i t a r u m in eodem ente". Folglich können alle drei B e g r i f f e stellvertretend füreinander eintreten, wie ζ. B. in K d r V , Β 291, w o „ V e r ä n d e r u n g " , nidit „ F o l g e " als die der K a u s a l k a t e g o r i e korrespondierende A n schauung angegeben wird.

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Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen

rialen Prädikabiliensystems) mit der reinen Raum- und Zeitform. Da dies einem reinen Raum-, Zeit- = Bewegungsschematismus gleichkommt, repräsentiert das Prädikabile „Bewegung" mit dieser Verbindung das auf eine umfassende apriorische Anschauungsgrundlage restringierte Begriffssystem des reinen Verstandes. Seine systematische Explikation erfolgt in den MA. b) Der Verbindung von Elementen des Verstandes mit der Materie der Sinnlichkeit, sofern es sich bei dieser um den Gegenstand einer Empfindung überhaupt handelt, entspricht eine Verbindung der ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption mit Einschluß aller Artikulationsweisen mit dem in Raum- und Zeit- = Bewegungsform erscheinenden empirischen Material, das je nach Aspekt als raumerfüllende physikalische Materie oder zeiterfüllende Seele auftritt. Entsprechend dieser Auffächerung sind die formalen Bewegungsbestimmungen, die reinen Bewegungsschemata, auf Materie oder Seele bezogen. Daher gilt Bewegung nicht nur als „Grundbestimmung eines Etwas, das ein Gegenstand äußerer Sinne sein soll" (ΜΑ, IV, 476), sondern audi als Grundbestimmung eines Etwas, das ein Gegenstand des inneren Sinnes ist. Im letzten Fall allerdings wird Bewegung von Kant im modus innerer Bewegung interpretiert, mit Akzentuierung der Zeit- und Abschwächung der Raumkomponente 51 ; statt Bewegung wird hier von Fluß, Sukzession, Veränderung, Wechsel u. ä. gesprochen. So heißt es in KdrV, A 381, daß die innere Anschauung „nur den W e c h s e l 5 2 der Bestimmungen" zu erkennen gebe, oder in ΜΑ, IV, 471, daß die einzige wissenschaftliche Erkenntnis der Phänomene des inneren Sinnes „das G e s e t z d e r S t e t i g k e i t in dem A b f l ü s s e 5 3 der inneren Veränderungen" sei (vgl. weiter KdrV, Β 48 f., Β 291 f.). Das Prädikabile „Bewegung" verkörpert mit dieser Verbindung das über die reine Anschauungsgrundlage auf die empirische angewandte Begriffssystem des reinen Verstandes. Seine systematische Exposition gehört mit zur Vollständigkeit des Bewegungsschematismus und wird daher in und mit jenem zugleich in den MA geliefert. Führt die Analyse auf einen in jeder Hinsicht, sowohl dem Inhalt wie der objektiven Realität nach, a priori deduzierbaren Begriff, so scheinen dem eine Reihe von Aussagen entgegenzustehen, die dem Be51 52 53

Was ausschließlich entwiddungsgeschichtliche Gründe hat, vgl. § 14, 140 ff. Gesp. v. Verf. Gesp. v. Verf.

Bewegung als abgeleiteter reiner Verstandesbegriff

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griff einen empirischen Charakter zusprechen. Anläßlich einer Rezension der aristotelischen Prädikamenten- und Postprädikamentenliste heißt es, daß sich darunter fälschlicherweise „auch ein empirischer (motus)" befinde (KdrV, A 81 Β 107) 54 55. Empirisch müsse er deshalb genannt werden, weil er „nicht ganz rein und von Erfahrungsquellen unabhängig" sei (Prol., § 15), weil er „a priori und ohne Belehrung durch Erfahrung nicht erkannt werden" könne (ΜΑ, IV, 482, vgl. KdrV, Β 155 Anm.). Was nicht ganz rein und von Erfahrungsquellen unabhängig ist, gehört 1. nicht zu den ganz reinen Begriffen, wie den reinen Verstandesbegriffen, und hat 2. seinen systematischen Ort nicht in einer ganz reinen Wissenschaft, sondern einer angewandten (vgl. ΜΑ, IV, 482). Wir haben uns jedoch zu fragen, ob es Kant hier tatsächlich um eine echte Gegenüberstellung von Erfahrungsabhängigkeit und Erfahrungsunabhängigkeit geht, nicht vielmehr um eine unechte von Erfahrungsbezogenheit und Erfahrungsnichtbezogenheit. Die Verwechslung könnte sich aus der laxen, zumindest nicht eindeutigen Terminologie ergeben. Es bleibt daher zu klären, welcher Art der empirische Charakter sein kann, den Kant der Bewegung zuspricht. Näheren Aufschluß hoffen wir aus einer Stelle der Vorrede der MA (IV, 476) zu gewinnen, die als eine der wenigen eine Begründung liefert, welche mehr ist als die übliche tautologische Feststellung, daß Bewegung deshalb empirisdi sei, weil sie nur durch Erfahrung erkannt werden könne. Sie versucht, Bewegung als Eigenschaft der Materie, und zwar als ausgezeichnete, nicht bloß eine unter anderen, dadurch zu rechtfertigen, daß sie ihr allein von allen die Affektion und damit die reale Erfüllung unserer äußeren Sinne zuschreibt. „Die Grundbestimmung eines Etwas, das ein Gegenstand äußerer Sinne sein soll, mußte Bewegung sein; denn dadurch allein können diese Sinne affiziert werden." 54

55

Aus dem Text geht nicht eindeutig hervor, ob hinter „empirischer . . „ B e g r i f f " oder „modus" zu ergänzen ist. D a jedoch beide auf eine sinnliche Grundlage restringiert sind, sind beide von reinen, unsdiematisierten Kategorien zu unterscheiden. Wie sehr Kant in der Beurteilung der Bewegung schwankt, zeigt die Tatsadie, daß „motus" nach einer anderen Rezension (Prol., § 39) nicht wie nach der der KdrV (A 81 Β 107) den Prädikamenten g e g e n ü b e r , sondern i η ihnen liegt. Der Widerspruch läßt sich dahingehend auflösen, daß die Prädikamente in der Prol.Rezension als schematisierte Kategorien genommen werden, mit denen Bewegung als sinnlich bedingter Begriff a priori zusammenfällt, in der KdrV-Rezension aber als unsdiematisierte, denen Bewegung als sinnlich bedingter Begriff mit einem noch der Klärung bedürftigen empirischen Charakter gegenübersteht.

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Der U m f a n g einer Begründung a priori von Naturgesetzen

Nun zeigt jedodi ein Blick auf die bisherige Kant-Literatur, daß die Beurteilung dieser Stelle, die über die momentane Problematik hinaus für das Verständnis der MA als einer auf Bewegung gegründeten Metaphysik Bedeutung hat, höchst kontrovers ist und von einer empirischen Deutung bis zu einer apriorischen reicht. Wir wollen die verschiedenen Stadien einzeln durchgehen. 1. Im empirischen Sinne interpretiert Hoppe (82 ff.) die Stelle. Für ihn lebt hier die vorkritische, unkritische Theorie der transzendentalen Realität der Gegenstände und damit auch die Theorie des influxus physicus zwischen Gegenständen und Erkenntniswesen wieder auf. Die Affektion ist hiernach eine Affektion von außen, bei der für sich existenzfähige Gegenstände mechanisch auf das Subjekt einwirken und in diesem Gegenwirkungen teils physischer, teils psychischer Art hervorrufen, die als körperliche Reaktionen, verbunden mit der Vorstellung des einwirkenden Gegenstandes, auftreten. Zur Stützung führt Hoppe als weitere Belege Reil. 40 (etwa 1773— 1775) 56 und die Berliner Physiknachschrift (von Adickes auf die 2. Hälfte der 70er Jahre datiert, möglicherweise auf das SS 1776, von Lehmann auch auf das Jahr 1781 oder 1783 57) an, in der es wörtlich heißt: „ D a wir alle Veränderungen in der Welt und der Körper selbst nicht anders erkennen als durch die Bewegung unserer Organe, so ist alles in der Physik auf die Bewegung zu reduzieren. Alle Veränderung, die ein Gegenstand des äußeren Sinnes als eine äußere Erscheinung leidet, geschieht durch B e w e g u n g . . . D i e H a u p t e i g e n s c h a f t der k ö r p e r l i c h e n S u b s t a n z ist Bew e g k r a f t . Die Bewegung ist die einzige Kondition, wodurch etwas ein Gegenstand des äußeren Sinnes werden kann. D u r c h die B e w e g u n g allein r ü h r t etwas unsere Sinne. Kurz, die Bewegungskraft ist das erste principium der Möglichkeit äußerer Erscheinungen" (Kants Physikvorlesung in Immanuel Kant, Vorlesungen über Enzyklopädie und Logik, Bd. I, Vorlesungen über Philosophische Enzyklopädie, hrsg. v. G. Lehmann, 95, gesp. v. Verf.).

Es ließen sich außerdem noch Stellen aus den MA selbst hinzufügen, die ebenfalls den Eindruck erwecken, als wirkten an sich seiende mate56

57

Die von ihm außerdem genannte Reil. 63 (zwischen 13.2.86 und 88) trägt zur Erklärung nichts bei. Zur Frage der Datierung vgl. Immanuel Kant, Vorlesungen über Enzyklopädie und Logik, Bd. I, Vorlesungen über Philosophische Enzyklopädie, hrsg. v. G. Lehmann, 114 f..

Bewegung als abgeleiteter reiner Verstandesbegrifi

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rielle Substanzen oder sie konstituierende bewegende Kräfte auf das Subjekt ein und erzeugten in diesem nicht nur physischen Druck, sondern auch Empfindung des Drucks. „Da aber diese Substanz ihr Dasein uns nicht anders als durch den Sinn, wodurch wir ihre Undurchdringlichkeit wahrnehmen, nämlich das Gefühl, offenbart, mithin nur in Beziehung auf Berührung, deren A n f a n g . . . der Stoß, die Fortdauer aber ein Druck heißt: so scheint es, als ob alle unmittelbare Wirkung einer Materie auf die andere niemals was anders, als Druck oder Stoß sein könne, zwei Einflüsse, die wir allein unmittelbar empfinden k ö n n e n . . (ΜΑ, IV, 510, ferner IV, 509).

Ferner ist zu verweisen auf die vielen Stellen im Op. p., nach denen bewegende Kräfte äußerlich wie innerlich das Subjekt affizieren, ζ. B. „Diese Kräfte affizieren audi das Subjekt, den Menschen und seine Organe, weil dieser auch ein körperliches Wesen ist. Die inneren, dadurch in ihm bewirkten Veränderungen mit Bewußtsein sind Wahrnehmungen: die Reaktion auf die Materie und äußere Veränderung derselben ist Bewegung" (Op. p., XXII, 298, 24, ferner XXII, 325, 24; 345, 5; 354,17; 389, 5; 495, 7; 499, 9; 502, 3).

Kann man von Bewegung als einer Eigenschaft der Materie ausschließlich auf dem beschriebenen Wege Kenntnis erlangen, dann muß Bewegung inhaltlich wie objektiv real als empirischer Begriff betrachtet werden. Doch dieser Interpretation stehen schwerwiegende Argumente entgegen. Man kann kaum ernsthaft in Erwägung ziehen, daß Kant nach der 1. Aufl. der KdrV und der dort zum Ausdruck kommenden betont kritischen Einstellung gegenüber Bewegung etwa in den MA oder im Op. p. einen wirklichen Meinungswandel vollzogen habe und auf ein vorkritisches Niveau zurückgefallen sei, zumal sich aus dieser Zeit genügend Beweise einer eindeutig kritischen Haltung beibringen lassen. In der KdrV (A 387) hatte Kant in aller Schärfe verkündet, daß nicht nur die Körper nicht Dinge an sich, sondern Erscheinungen, wer weiß, welches unbekannten Gegenstandes, seien, sondern auch Bewegung nicht Wirkung dieser unbekannten Ursache, sondern bloß Erscheinung ihres Einflusses auf unsere Sinne. Körper (Materie) wie Bewegung sind „nicht Etwas außer uns, sondern bloß Vorstellungen in uns". Daher bewirkt auch nicht „die Bewegung der Materie in uns Vorstellungen", sondern ist „selbst (mithin audi die Materie, die sich dadurch kennbar macht) bloße Vorstellung". Bei einem so klaren Votum für die Phänomenalität wäre eine transzendente oder besser: empirische Argumentation ein gro-

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Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen

ber theoretischer Widerspruch, den man Kant nicht zutrauen darf. Bei den angeführten Stellen kann es sich daher nur um einen untechnischen Sprachgebrauch handeln, zu dem Kant verleitet worden sein mag durch die „unkritischen" Schriften von Erxleben und Feder, an denen er sich zur Vorbereitung seiner Physikvorlesungen wie überhaupt seiner physiktheoretischen Abhandlungen orientierte. Aber selbst sprachlich unterstützen die angegebenen Zitate, sogar die aus der Zeit vor der 1. Aufl. der KdrV, eher einen kritischen als unkritischen erkenntnistheoretischen Standpunkt, ist doch ausdrücklich von Erscheinungen die Rede. Ζ. B. wird in Reil. 40 (XIV, 119, 11 und 16) oder in der Physikvorlesung (letzter Satz) die Materie bzw. die sie konstituierenden bewegenden Kräfte als: Prinzip der Erscheinung, d. h. als materielles Prinzip der Erscheinung angesprochen oder in Refl. 40 (XIV, 119,13) die bewegende K r a f t als „Grund der Verhältnisse im Räume" bezeichnet, was nicht bei Dingen an sich möglich wäre, da diese keine Verhältnisvorstellungen sind wie die Erscheinungen (vgl. KdrV, Β 66 f., A 265 Β 321). Zudem könnte eine empirische Deutung niemals den von Kant behaupteten Notwendigkeitscharakter der Affektion durch Bewegung und den darauf basierenden Primatscharakter der Bewegung als G r u n d prädikat der Materie erklären. Warum sollte gerade Bewegung und nicht irgendeine der anderen Eigenschaften die Sinne affizieren müssen und kraft dessen Grundprädikat der Materie sein? Empirisch läßt sich dies nicht entscheiden; denn die Erfahrung zeigt immer nur Fakten, niemals Notwendigkeiten. 2. Ließe sich nicht eine verbesserte empirische Auslegung denken, eine, die den Primatscharakter der Bewegung in ihrer Erklärung berücksichtigte? Diese Argumentation müßte lauten: Bewegung hat deshalb als empirisches Grundprädikat der Materie zu gelten, weil sie letzte angebbare Bestimmung der Materie ist, um überhaupt eine äußere Empfindung bzw. Wahrnehmung verspüren zu können. Von allem anderen, was äußere Sinne, sei es an Farbe, Ton, Tastqualität usw., vermitteln mögen, kann man abstrahieren; ohne Bewegung aber bleibt nichts von einer äußeren Empfindung übrig. Sie also ist das mindeste, was man von der Materie prädizieren muß, um sich überhaupt äußerlich affiziert zu fühlen. Bewegung ist demnach die empirische Bedingung der Affektion, der äußeren Wahrnehmung überhaupt. In der Tat bestätigt die empirische Physik einen solchen Charakter der Bewegung, indem sie de facto sämtliche Materieeigenschaften auf Be-

Bewegung als abgeleiteter reiner Verstandesbegriflf

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wegung reduziert (vgl. ΜΑ, IV, 476 f.). Doch die Frage bleibt, warum gerade Bewegung und nicht Farbe oder Tastqualität oder sonst eine Sinnesqualität letzte angebbare Bestimmung der Materie ist. Warum können wir, sobald wir affiziert werden, gar nicht anders, als die Vorstellung hervorbringen, daß etwas Bewegliches außer uns ist? Die obige Erklärung bleibt die Antwort schuldig. Wenn eine Auszeichnung der Bewegung besteht, muß sie transzendental, nicht empirisch begründet werden. Die Tatsache, daß sich Bewegung in aller Erfahrung als Fundamentalprädikat der Materie erweist, ist nichts anderes als Ausdruck einer apriorischen Notwendigkeit. Nur deshalb, weil wir Bewegung a priori in die Natur hineinlegen, können wir sie immer und überall aus dieser hervorziehen. 3. Einen transzendentalen Ansatz finden wir bei Schäfer (25 ff.). Nach ihm setzt die Passivität des Affiziertwerdens durch das Einzelne grundsätzlich die Aktivität des Hinwendens und Einstellens auf den Bereich, in dem das Einzelne auftritt, voraus. Nur sofern sich das Subjekt vorgängig bestimmten Gegenständen und Eigenschaften zuwendet, sich diesen und nur diesen unter Ausschluß aller anderen öffnet, kann es diese auch aufnehmen. Uberspitzt sagt Schäfer (28): „Dasjenige, w o d u r c h wir eigentlich affiziert werden, [ist] nicht das Einzelne als dieses Isolierte..., sondern streng genommen jene allgemeine vorgängige Offenheit des Vernehmens für derartige Einzelne." Dies gilt audi für die Affektion durch Bewegung. Nur weil die Einstellung auf Bewegliches und Bewegung gerichtet ist, vermag sie dies zu erfassen. Zweifellos ist die Apriorität des Ausblicks auf Bewegung eine u n u m g ä n g l i c h e Voraussetzung apriorischer Begründung; doch ist sie auch schon eine h i n r e i c h e n d e ? Der vom Subjekt gewählte Ausblick könnte zufällig sein; schließlich muß sich das Subjekt auch auf Farbe, Ton, Tastqualität usw. a priori einstellen, um diese überhaupt wahrnehmen zu können. Die entscheidende Frage ist daher die nach der Notwendigkeit der Ausrichtung. 4. Hierauf geben Schäfer (28 f.) und Piaass (98 f.) folgende Antwort: Da Gegenstände der äußeren Sinne keine Dinge an sich, sondern Erscheinungen sind, stehen sie zum einen, sofern sie äußere Erscheinungen sind, unter der Formbedingung des Raumes, zum anderen, sofern sie überhaupt Erscheinungen, Vorstellungen in uns, sind, unter der Formbedingung der Zeit. Folglich enthalten sie Raum- und Zeitbedingung als Komponenten in sich. Da nun Bewegung gerade beide vereinigt, muß sie der Materie als Grundeigenschaft zukommen. Hier ist also das Ziel, Bewe-

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Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen

gung als Grundbestimmung der Materie aus den für äußere Gegenstände konstitutiven Anschaungsmomenten zu gewinnen. Reicht aber die Argumentation zu einer objektiven Prädikation nicht nur der Raum-, sondern auch der Zeit- und damit der Bewegungsstruktur aus? Reicht sie nicht vielmehr nur zu einer objektiven der Raumstruktur, einer subjektiven der Zeitstruktur und damit auch nur zu einer subjektiven der Bewegung aus? Zwar schließt jede Vorstellung äußerer Gegenstände das Moment der Zeit ein, jedoch nur subjektiv und mittelbar auf Grund einer subjektiven sukzessiven Apprehension, nicht objektiv und unmittelbar, wenigstens solange nicht, wie nicht die Gleichunmittelbarkeit von Raum und Zeit für äußere wie innere Gegenstände nachgewiesen ist, was eben unsere vorherigen Erörterungen zu tun sich bemühten. Man könnte sich sehr wohl eine Außenwelt vorstellen, die trotz ihrer Erscheinungshaftigkeit objektiv unzeitlich wäre. Sie würde unbeweglich in sich ruhen. Während Schäfer dieses Problem nicht sieht, versucht Piaass (95 ff., vgl. auch 84 ff.) es dadurch zu lösen, daß er zwischen a priori möglicher Inhaltsableitung und a posteriori notwendigem Realitätsbeweis unterscheidet. Daß sich der inhaltlich a priori konzipierbare Bewegungsbegriff auf einen objektiven Sachverhalt anwenden läßt, muß empirisch durch die Angabe eines Beispiels in der Wahrnehmung gesichert werden. Zwar hat diese Interpretation den Vorteil, Aussagen so widersprüchlicher Art wie die über Apriorität und Aposteriorität mühelos zu vereinen, doch den Nachteil, ihr Beweisziel, die Notwendigkeit der Prädikation der Bewegung, nicht zu erreichen. Denn wenn die Anwendbarkeit der Bewegung auf Materie von empirischer Beispielgebung abhängt, ist der Fundamentalcharakter wegen möglicherweise auftretender unbeweglicher Materie grundsätzlich in Frage gestellt. 5. Eine Deduktion a priori realer, objektiver Bewegung nachzuweisen, unternahm erstmals Hübner im Rahmen einer Auslegung des Op. p. Es ging ihm darum, über eine solche Deduktion zu einer entsprechenden realer, objektiver bewegender Kräfte, die als Ursache realer Bewegung anzusehen sind, zu gelangen. Für Hübner sind solche Deduktionen in der Widerlegung des Idealismus der 2. Aufl. der KdrV (B 274 ff.) impliziert. Ihr Behandlungsort wird verständlich, wenn man bedenkt, daß die 2. Aufl. einerseits der schriftliche Niederschlag der in den MA gewonnenen Einsichten ist, andererseits die Voraussetzung für das Op. p. bildet. Wir treffen in der Widerlegung nach Hübner auf folgenden Gedankengang:

Bewegung als abgeleiteter reiner Verstandesbegriff

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Die Möglichkeit innerer Erfahrung setzt notwendig die Existenz äußerer Gegenstände voraus. Innere Erfahrung ist Zeitbestimmung. Also kann alle Zeitbestimmung nur am Beharrlichen der Materie vorgenommen werden, und zwar mittels eines Wechsels in den äußeren Verhältnissen. Wenn die Möglichkeit innerer Erfahrung räumlich Beharrliches voraussetzt, und zwar solches, an dem sich Bewegung vollzieht — andernfalls wäre es ja zeitlos —, so setzt sie damit auch reale Bewegung und in der Folge reale bewegende Kräfte als Ursache derselben voraus. Genau genommen hat die Deduktion für Hübner nicht den Status eines strengen Beweises realer Bewegung, sondern lediglich den einer Antizipation. Sie berechtigt nur, Bewegung als eine bestimmte Struktur der materiellen Natur a priori zu postulieren, nicht, sie für a priori bewiesen zu halten. Denn letztlich bleibt auch für Hübner Bewegung etwas Empirisches, etwas, was die Wahrnehmung von Beweglichem im Raum voraussetzt, da es sich aus seiner bloßen Möglichkeit a priori nicht begreifen läßt. So finden wir uns im Endeffekt wieder vor die Frage gestellt, ob Bewegung eine Struktur des Empirischen oder eine empirische Struktur sei. 6. Die Entscheidung hierüber ist mit unserem Nachweis gleicher Universalität und gleichuniversaler Anwendbarkeit von Raum und Zeit gefallen. Unter dieser Voraussetzung gibt es für die Deutung des empirischen Charakters der Bewegung nur noch eine einzige Möglichkeit, die wir zunächst an einem verwandten Beispiel demonstrieren wollen, bei dem dasselbe Problem eines vermeintlichen Widerspruchs zwischen Apriorität und Aposteriorität auftritt. Bei der Einteilung der Erfahrungsgegenstände nach der Hauptverschiedenheit unserer Sinne ergibt sich auf der einen Seite die durch Bewegung im Vollsinn (Raum plus Zeit) gekennzeichnete Materie, auf der anderen die durch Bewegung im reduzierten Sinn (Zeit) gekennzeichnete Seele. Den letzteren Begriff charakterisiert Kant ebenso wie den ersteren einmal als apriorisdien oder sogar transzendentalen 58 , ein andermal als empirischen59. Letzteres geschieht mit der Begründung, daß der 58

59

So in KdrV, A 341 Β 399, w o er ihn „transzendental" nennt, in KdrV, A 343 Β 401, w o er seine nach der Ordnung der Kategorientafel aufstellbaren Prädikate als transzendental bezeichnet, oder in KdrV, A 342 Β 400, w o er den gesamten Untersuchungsgegenstand „der Natur einer Transzendentalphilosophie" für gemäß hält. Vgl. KdrV, Β 422 f. Anm., ΜΑ, IV, 470.

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Der Umfang einer Begründung a priori von Naturgesetzen

korrespondierende Gegenstand, das Objekt des inneren Sinnes, ausschließlich der Erfahrung entnommen werden könne (vgl. KdrV, A 848 Β 876). Da folglich der Begriff „Wahrnehmung" enthält, „innere Erfahrung" also, ist eine darauf basierende Wissenschaft „niemals rein, sondern zum Teil auf ein empirisches Prinzipium gegründet" (KdrV, A 342 f. Β 400 f.). Schließen sidi normalerweise apriorischer bzw. transzendentaler und empirischer Charakter in einem Begriff aus, so muß hier, wo offensichtlich ihre Verträglichkeit vorausgesetzt ist, gefragt werden, was am Begriff der Seele transzendental und was empirisch sei. Der Begriff „Seele" bezeichnet ein denkendes Wesen, dessen Existenz mit dem Denken zugleich gegeben ist. „In ihm ist also schon nicht mehr bloße Spontaneität des Denkens, sondern auch Rezeptivität der Anschauung, d. i. das Denken meiner selbst auf die empirische Anschauung ebendesselben Subjekts angewandt" (KdrV, Β 429 f.). Somit enthält der Begriff außer der ursprünglich transzendentalen Denkeinheit und den in ihr beschlossenen Einheitsfunktionen innere Wahrnehmung die der Zeitform gemäß ist und auf empirischen Data beruht. Transzendental ist dieser Begriff im Hinblick auf alle reinen Formen: auf das Ich denke einschließlich der einzelnen Bestimmungshandlungen des Denkens, auf die Anschauungsform Zeit sowie indirekt auf die Anschauungsform Raum, empirisch dagegen im Hinblick auf den gegebenen Stoff, der Bedingung der realen Anwendbarkeit der reinen Formen ist. Nirgends drückt Kant diesen Sachverhalt adäquater aus als in KdrV, Β 423 Anm.: „Denn es ist zu merken, daß, wenn ich den Satz: Ich denke, einen empirischen Satz genannt habe, ich dadurch nicht sagen will, das I c h in diesem Satze sei empirische Vorstellung; vielmehr ist sie rein intellektuell, weil sie zum Denken überhaupt gehört. Allein ohne irgendeine empirische Vorstellung, die den Stoff zum Denken abgibt, würde der Aktus: Ich denke, doch nicht stattfinden, und das Empirische ist nur die Bedingung der Anwendung oder des Gebrauchs des reinen intellektuellen Vermögens."

Da jede vollgültige Erkenntnis auf Empirisches bezogen sein muß und eine Erkenntnis, die lediglich auf innere Wahrnehmung überhaupt und deren Verhältnis zu anderer innerer Wahrnehmung überhaupt bezogen ist, ohne daß hier eine nähere empirische Bestimmung vorläge, nicht als „empirische Erkenntnis" angesehen werden kann, sondern als 60

Vgl. KdrV, Β 422 f. Anm., ΜΑ, IV, 543.

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„Erkenntnis des Empirischen überhaupt" (KdrV, A 343 Β 401), so hat man den Begriff der Seele und sein Grundmerkmal in genauem Sinne nicht einen empirischen Begriff, sondern einen Begriff des Empirischen zu nennen. Analoges gilt für den Begriff der Materie und sein Grundmerkmal „Bewegung", was sich äußerlich schon an der gleichzeitigen Behandlung beider Begriffe zeigt 61 . Das Empirische dieses Begriffs meint nichts weiter als das empirische Substrat, auf das die transzendentalen Funktionen bezogen sein müssen. Da es sich bei diesem um äußere Wahrnehmungen überhaupt und das Verhältnis derselben untereinander ohne jede nähere empirische Determination handelt, muß sich hierauf eine Erkenntnis a priori des Empirischen bzw. ein Begriff a priori des Empirischen, nicht aber eine empirisdie Erkenntnis bzw. ein empirischer Begriff gründen. Der Bezug auf Empirisches unterscheidet den Bewegungsbegriff von gänzlich reinen Erkenntnissen, die nicht nur wie er von nichts Empirischem dependieren, sondern auch auf nichts Empirisches bezogen sind. Letzteres ist bei den Erkenntnissen der unangewandten Transzendentalphilosophie (Ontologie) oder der Geometrie der Fall, die vergleichsweise in KdrV, Β 155 Anm. und ΜΑ, IV, 482 genannt werden. Gegenüber solchem Strukturwissen baut jede Naturwissenschaft, so auch die Bewegungslehre, „auf gewisse Grunderfahrungen" (KdrV, A 172 Β 213, vgl. ΜΑ, IV, 482), was jedoch keine empirisdie Abhängigkeit, sondern nur eine empirische Bezogenheit meint. Würde nicht zwischen einem strukturellen und angewandten Wissen unterschieden, dann bliebe unverständlich, wieso ζ. B. die Kontinuität der Veränderung (innere Bewegung) nach KdrV, A 171 f. Β 212 f. nicht in eine Wissenschaft a priori, nadi KdrV, A 207 ff. Β 253 ff. aber durchaus in eine solche gehört.

61

Etwa in KdrV, A 341 f. Β 399 f., A 847 f. Β 875 f., ΜΑ, IV, 470.

IV. Kapitel Das System der Naturwissenschaft § 18

Abgrenzung der eigentlichen Naturwissenschaft von der uneigentlichen und der Naturlehre

Die Untersuchung ist damit an einen Punkt gelangt, der es erlaubt, das Ganze a priori begründbarer Naturgesetze zu überblicken. Da nach dem Vorangegangenen nicht allein der Raum an dem anschaulichen Strukturenbestand von Unendlichkeit, Homogenität und Kontinuität partizipiert, sondern auch die Zeit auf Grund ihrer Inerdependenz mit dem Raum, desgleichen Bewegung, die Raum und Zeit auf der Grundlage dieser Interdependenz vereinigt, ist bei all diesen Anschauungsformen die Voraussetzung für eine interdependente Verbindung mit der Verstandeseinheit und damit für eine Gesetzeskonstitution a priori gegeben. Nach der Kantischen Theorie der Naturwissenschaft sind daher sowohl Raum- wie Zeit- als auch Bewegungsgesetze für a priori begründbar zu halten. Der jetzt erreichte Standpunkt, der einen Überblick über das Ganze des a priori Begründbaren gestattet, schließt in diesen zugleich ein Bewußtsein der Grenzen ein, sowohl der externen gegen das nicht mehr a priori Begründbare wie der internen zwischen den Teilen des a priori Begründbaren. Es handelt sich also um einen systematischen Standpunkt. Da für Kant der Begriff der Naturwissenschaft unlösbar mit dem des Systems verknüpft ist, da Systematik allererst zu wissenschaftlicher Erkenntnis im Vollsinne führt, insofern sich die einzelne gesetzmäßige Aussage erst als systematische und die systematische, wie sie in einem einzelnen Wissenschaftszweig vorliegt, erst als Teilaussage des Gesamtsystems vollendet, so bliebe die Untersuchung unvollständig, wenn sie nicht auch hierauf reflektierte. Wir werden der uns noch obliegenden Aufgabe so nachkommen, daß wir zunächst Wesen und Zweck des Systematischen sowohl innerhalb der Einzel- wie Gesamtwissenschaft analysieren, sodann den Inhalt des Kantischen Wissenschaftssystems darlegen und schließlich auf die Probleme eingehen, die sich aus die-

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Das System der Naturwissenschaft

sem beim Vergleich mit den in unserer Arbeit gewonnenen Resultaten ergeben. Kant entwickelt den Systembegriff in seiner Philosophie in ausdrücklichem Gegensatz zum Aggregatsbegriff. Entsprechend der griechischen Wurzel σύστημα ( συν ί στη μι bezeichnet er mit diesem Begriff eine Zusammenstellung, Vereinigung von Bestandteilen, allerdings eine besonderer Art. Sie meint nicht wie das Aggregat ein wahlloses, planloses, rein äußerliches Aneinanderreihen irgendwelcher Elemente, das endlos fortgesetzt werden kann und dennoch oder gerade deswegen unvollständig und fragmentarisch bleibt, sondern eine Auswahl und Vereinigung nach gewissen Gesichtspunkten, die zu einem abgeschlossenen, in sich gegliederten Ganzen führt. Nicht Häufung, sondern regelgeleiteter Aufbau ist gemeint. Zugrunde liegt ein Plan, der Umfang und Grenzen sowie Stellung und Verhältnis der Teile untereinander bestimmt. Da unter System sowohl das Einzel- wie das Gesamtsystem als Verbindung aller Einzelsysteme verstanden werden kann, bedarf es einer gesonderten Betrachtung beider. Sie ist im Hinblick 1. auf das zu wählende Prinzip, 2. auf den dadurch bestimmten Umfang sowie 3. auf den dadurch mitfestgelegten Aufbau zu führen. 1. Dem Einzelsystem, wie es in einer bestimmten Naturwissenschaft, einem bestimmten Naturwissenschaftszweig oder -fachbereich begegnet, muß ein apriorisches Prinzip zugrunde liegen; denn nur ein Prinzip, das mit den menschlichen Erkenntnisbedingungen zugleich gegeben ist, ist notwendig, nicht nur zufällig, bezeichnet einen präzis umrissenen Komplex mit präzis angebbarem Inhalt und präzis angebbaren Grenzen und besitzt allgemeine Verbindlichkeit. Welcher Art ist dieses Prinzip? Handelt es sich um eines, das im Wesen des Verstandes gründet, seinem Ursprung nach also ein Begriffssystem ist, und zwar das Kategoriensystem, oder eines, das im Wesen der Sinnlichkeit wurzelt, seinem Ursprung nach also Anschauung ist? Die Frage ist, ob die Anfangsgründe der Naturwissenschaft philosophischer oder mathematischer Art sind. Vor dieses Problem mußte sich Kant vor allem in der Auseinandersetzung mit Newton gestellt sehen, der bereits im Titel seines Hauptwerks „Philosophiae naturalis principia mathematica" (1686) seinen Standpunkt angekündigt hatte. Es ist zu Recht darauf hingewiesen w o r d e n d a ß der Titel der Kantischen Schrift von 1786 — gerade 100 Jahre nach Erscheinen des Newtonschen Werks —, näm1

Vgl. Heidegger (2), 59 f., Piaass, 22.

Abgrenzung der eigentlichen Naturwissenschaft

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lieh „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft", polemisch gemeint ist 2 . Der wesentliche Unterschied beider Prinzipien besteht darin, daß das philosophische für Naturgesetze gilt, Gesetze der empirischen Anschauung, das mathematische, wie der Name sagt, für mathematische Gesetze, solche der reinen Anschauung. Wie den Untersuchungen in der Vorrede der MA zu entnehmen ist, bezeichnet das philosophische Prinzip den Gesamtkomplex von Gesetzen, die vom „Dasein eines Dinges" 3 handeln, die die zu seinem „Dasein gehörigen Bestimmungen" 4 explizieren. Wenn hier von Dasein eines Dinges und von Daseinsbestimmungen die Rede ist, dann ist man versucht, an die Modalkategorie „Dasein" zu denken, die auch „Wirklichkeit" heißt und die tatsächliche, durch Augenschein direkt oder indirekt wahrnehmbare Vorhandenheit eines Gegenstandes meint. Dieses Dasein bedeutet im genauen Kantischen Sinne die Position eines Gegenstandes außerhalb des Begriffs davon. Da der Begriff als Allgemeinvorstellung stets nur einen möglichen Gegenstand bezeichnet, muß der dem Begriff korrespondierende wirkliche Gegenstand durch eine nicht begrifflich faßbare Bedingung, nämlich durch Empfindung, gegeben werden. Wollte man dennoch die Bestimmungen dieses wirklichen Gegenstandes begrifflich angeben, so käme dies einer durchgängigen Bestimmung des Gegenstandes gleich. Eine solche verlangte die Kenntnis der Totalität der Bestimmungen, und zwar der jeweils einmaligen, dem individuellen Gegenstand entsprechenden Kombination, was Allwissenheit bedeutete und daher für uns Idee bleibt. Nun will der obige Komplex von Daseinsbestimmungen offensichtlich nicht einen unendlichen, nur der Idee nach möglichen, sondern einen endlichen, tatsächlich angebbaren Komplex ausdrücken. Mit ihm kann daher nur die Gesamtheit der Merkmale gemeint sein, die Gegenständen, sofern sie durch einen bestimmten Klassenbegriff erfaßt werden, zukommen, d. h. die Gesamtheit notwendiger, allgemeiner, objektiver Konstituentien, die die Gegenständlichkeit der Gegenstände einer bestimmten Klasse ausmachen. 2

3 4

Zur Differenz der Prinzipien vgl. Unters, üb. d. Deutl., 1., 2. und 3. Betrachtung, KdrV, A 712 ff. Β 740 ff., ΜΑ, IV, 469. Diese Differenz bildet die Grundlage der Kontroverse zwischen Kant und N e w t o n vor allem im Op. p.: X X I , 481, 26; 286, 19; 2 9 2 , 1 ; 166,21; 3 5 2 , 2 ; X X I I , 164,21; 167,20; 190,16; X X I , 622,15; 190,20; 2 0 4 , 2 3 ; 2 0 7 , 8 ; 2 3 8 , 2 ; 241,19; X X I I , 485, 16; 488,16; 490,11; 491,16; 512,4; 5 2 0 , 1 7 usw. ΜΑ, IV, 467. ΜΑ, IV, 467, vgl. audi 468.

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Das System der Naturwissenschaft

D a die Konstituentien mit der Klasse wechseln, sind sie so verschieden wie diese; gleich ist ihnen nur, daß es sich in jedem Fall um eine Kombination des vom Verstand bereitgestellten Begriffssystems mit Anschauungsformen handelt. Das durch diesen Komplex bezeichnete Dasein bedeutet also nicht das Dasein eines Individuums, sondern das von Gegenständen einer Gegenstandsklasse, ihre Realmöglichkeit, wobei dann immer noch die Frage gestellt werden kann, ob die Gegenstände möglich oder auch wirklich sind. Man sieht, daß die zwei Versionen von Dasein den alten scholastischen Gegensatz von Existenz und Essenz fortsetzen, und zwar so, daß das modale Dasein die Existenz, das klassenbegriffliche die Essenz aufnimmt. Bezeichnet der Komplex von Daseinsbestimmungen die Gesamtheit der zur Gegenständlichkeit der Gegenstände einer bestimmten Klasse gehörigen Faktoren, dann bezeichnet er das an den Gegenständen, was wir gewöhnlich ihre Natur oder ihr Wesen nennen und was Kant mit dem terminus technicus „Natur in formaler Bedeutung" oder „natura formaliter spectata", „Natur adjektive genommen" u. ä . 5 belegt. Denn mit der Natur dieser oder jener Gegenstände, dieser oder jener Sachverhalte, beispielsweise mit der Natur des Wassers, Feuers, Schmelzoder Gefrierprozesses ist nichts anderes gemeint als die Gesamtheit der Merkmale, die allen Gegenständen, Sachverhalten dieser Art zukommen und ihr gemeinsames Erkennungszeichen bilden. Das mathematische Prinzip umfaßt demgegenüber den Komplex von Gesetzen, die von Formen, Figuren, Größen usw. der reinen Anschauung handeln. Es hat folglich nicht mit dem „Dasein" der Gegenstände zu tun, sondern, wie Kant in einer Fußnote der Vorrede der Μ Α (IV, 467) etwas irreführend sagt, mit ihrer „Möglichkeit" und den dazugehörigen Bestimmungen, irreführend deshalb, weil auch das Dasein stets nur ein mögliches Dasein ist. Was Kant meint, steht jedoch außer Zweifel: Mit „Möglichkeit" spielt er hier auf die Verfassung mathematischer Gegenstände an, die möglich, aber auch nur möglich sind, nicht wie die naturalen real möglich und eventuell auch wirklich. Diese Möglichkeit umfaßt dementsprechend nur die den mathematischen Kategorien unterstehenden Synthesen der reinen Anschauung, nicht die weitergehenden, den dynamischen Kategorien entsprechenden der empirischen. Der damit bezeichnete Komplex bildet lediglich einen Ausschnitt des Gesamtkomplexes, einen, den Kant in derselben Fußnote das „Wesen" der Gegen5

Vgl. KdrV, Β 165, A 418 Β 446 Anm., Prol., §§ 17, 36, ΜΑ, IV, 467.

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stände im Unterschied zu ihrer „Natur" nennt. In zweierlei Hinsicht bleibt er hinter dem Gesamtkomplex zurück: zum einen enthält er nur einen Teil der begrifflichen Daseinskonstituentien, und zwar jenen, der den mathematischen Kategorien entspricht, zum anderen läßt er die Anwendung der Synthesen der reinen Anschauung auf die empirische Anschauung außer acht. Nach diesen Ausführungen dürfte klar sein, daß das philosophische Prinzip dem mathematischen bei der Naturwissenschaftsbegründung zugrunde gelegt werden muß. Als das in jeder Beziehung umfassendere Prinzip schließt es jenes ein, bestimmt nicht nur seinen systematischen Ort innerhalb des Kategoriensystems, sondern sichert auch seine Anwendung auf Empirisches. Erst auf die philosophische Grundlegung folgt die mathematische Ausarbeitung der Wissenschaft, in der die bereitgestellten Daseinskonstituentien in der reinen Anschauung konstruiert werden, wobei jetzt allerdings die Konstruktion realitätsbezogen verläuft. Wie sich ergeben hat, weist das philosophische Prinzip gegenüber dem mathematischen zwei Vorteile auf: 1. Es garantiert der Wissenschaft inhaltliche Vollständigkeit 6 , indem es das gesamte zur Konstitution von Gegenständen einer bestimmten Klasse erforderliche Begriffssystem bereitstellt. Das „Fach der P h i l o s o p h i e , nicht der Mathematik", heißt es Op. p., X X I , 205,16, berechtigt, „Vollständigkeit des Inbegriffs . . . zu erwarten". 2. Es garantiert der Wissenschaft reale Geltung, indem es die zur Konstitution von Gegenständen einer bestimmten Klasse ebenfalls erforderliche Anwendung des Begriffssystems auf Anschauungsformen und das in ihnen gegebene Material einschließt. Sein Bereich ist nicht wie der des mathematischen Prinzips „reine Dichtung" (Op. p., X X I I , 490,20). 2. Dem Umfang nach begreift jedes System eine Totalität von Gegenständen, niemals nur eine unbestimmte Menge. Dies erklärt sich daraus, daß das systembegründene Prinzip ein solches ist, in dem alle Gegenstände einer bestimmten Gegenstandsklasse als ihrer gemeinsamen Natur übereinstimmen, das daher umgekehrt auch für alle Gegenstände dieser Klasse ausnahmslos gelten muß. Bezeichnet man das Ordnungsprinzip des Wissenschaftssystems als „Natur in formaler Bedeutung" und

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Hierzu vgl. K d r V , Β 109 f., ΜΑ, IV, 473 £., Op. p., X X I , 3 1 1 , 1 6 ; 169,13 und Anm.; 3 6 1 , 1 5 ; 363,10.

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Das System der Naturwissenschaft

den zu ordnenden Stoff als „Natur in materialer Bedeutung" 7, dann läßt sich das Verhältnis beider auf die Formel bringen, daß die formale Natur in der materialen konkretisiert und die materiale in der formalen abstrahiert ist. Das Material einer Wissenschaft ist daher niemals nur der Inbegriff äußerlich zusammengestellter Gegenstände, sondern der Inbegriff innerlich, „vermöge eines innern Prinzips der Kausalität" (KdrV, A 418 Β 446 Anm.) zusammenhängender, wobei „Prinzip der Kausalität" hier weniger in dem speziellen Sinne der Kausalkategorie als in dem generellen eines Begründungsprinzips der formalen Natur gemeint ist 8 . Neben inhaltlicher Vollständigkeit weist also das System auch umfangmäßige auf. Die letztere ist Garant einer uneingeschränkten, durchgängigen Anwendbarkeit der Gesetze der betreffenden Wissenschaft, der Allgemeinheit derselben, und in der Folge auch aller anderen Gesetzeskennzeichen, der Notwendigkeit, Objektivität usw. Nur das System sichert den Gesetzen neben der größten Einheit die größte Ausbreitung 9 , indem es zur „größtmöglichen und äußersten Erweiterung" auffordert (KdrV, A 645 Β 673). Damit wird deutlich, daß sich das Einzelgesetz in dem, was es ist, erst als Teil eines Systems verwirklicht. Denn nur das System vermag seine Eigenschaften voll zu garantieren. 3. Das dritte unverwechselbare Kriterium des Systems ist seine Organisation. Sie ist mit dem zugrunde liegenden Prinzip gegeben und beherrscht das gesamte Material. Sie zeichnet dies durch Übersichtlichkeit und Ordnung aus. Sie erreicht solches einerseits durch eine exakte Abgrenzung nach außen, des Systemganzen gegen andere Systemganze, andererseits durch eine strenge Gliederung im Innern, der der Systemteile untereinander. Jene ist nicht ein willkürliches Abbrechen, sondern eine vom Prinzip festgesetzte Begrenzung des methodischen Forschens über bestimmte Gegenstände, diese nicht eine willkürliche Aufteilung, sondern eine vom Prinzip bestimmte, mit der eine sichere Abgrenzung der Teile gegeneinander, ein festes Arrangement untereinander und eine durchgängige Verweisung aufeinander verbunden ist. Durch jene bekommt das System den Charakter der Abgeschlossenheit und Ganzheit, durch diese den Charakter der Ordnung. Folglich meint System nicht eine ungeord-

7

8 9

Oder „natura materialiter spectata", „Natur substantive genommen" u. ä., vgl. KdrV, Β 163, A 418 Β 446 Anm., Prol., §§ 16, 36, ΜΑ, IV, 467. So schon Schäfer, 20 Anm. 29. Vgl. KdrV, A 643 f. Β 671 f.

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nete, beziehungslose und damit unübersichtliche Menge, sondern ein geschlossenes, in sich gegliedertes, überschaubares Ganzes. Nicht zufällig vergleicht Kant es immer wieder mit dem Gliederbau von Organismen, der nach dem Zweckprinzip errichtet zu denken ist, und zwar so, daß die Einheit des Zwecks, in der alle Teile zusammenstimmen und in bezug auf die sie auch untereinander übereinkommen, in der Idee vorausgeht. Wadisen kann ein organischer Körper daher nur innerlich (per intus susceptionem) unter Wahrung der Proportion, nicht äußerlich (per appositionem) durch bloße Anlagerung von Fremdteilen 10 . Der Sinn dieser Form besteht vor allem in der Erfüllung zweier Aufgaben. Zum einen verhindert eine exakte Grenzziehung zwischen verschiedenen Wissenschaftssystemen, aber auch zwischen verschiedenen Systemteilen innerhalb einer Wissenschaft unerlaubte Übergriffe auf Nachbarbereiche und schützt vor solchen. „Es ist ein Haupterfordernis der philosophischen Architektonik, die Grenzen der Wissenschaften nicht ineinanderlaufen zu lassen, sondern jeder ihr Territorium pünktlich (wenn es auch peinlich gescholten werden sollte) zu bestimmen, ohne welche Sorgfalt man keinen auf zweckmäßige Vollkommenheit derselben gegründeten Anspruch machen k a n n " (Op. p., X X I , 179, 20).

Und ebenso heißt es in den ΜΑ, IV, 469: „Es ist von der größten Zuträglichkeit, ja der N a t u r der Sache nach von unerläßlicher Pflicht in Ansehung der Methode", jeden „Teil abgesondert und von dem andern ganz unbemengt so viel möglich ir. seiner ganzen Vollständigkeit vorzutragen . . . "

Zum anderen dient die feste Anordnung der Systemteile, mit der ein durchgängiger Verweisungszusammenhang aller auf alle verbunden ist, der Erschließung fehlender Teile aus den übrigen bekannten wie auch der Entlarvung von Scheinerkenntnissen n . „Ohne die Förmlichkeit einer systematischen Verbindung, wenn jene A u f f a s s u n g des S t o f f s bloß fragmentarisch verrichtet und so ein Aggregat ohne System gestoppelt wird, kann es für die N a t u r f o r schung selbst in einzelnen Wahrnehmungen keine Sicherheit geben, ob sie wirkliche oder nur scheinbare Erweiterungen . . . abgeben oder nicht" (Op. p., X X I I , 166, 16).

10 11

Vgl. KdrV, A 833 Β 861, ferner Β X X I I I , X X X V I I f., XLIV. Vgl. KdrV, A 832 f. Β 860 f.

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D a s System der Naturwissenschaft

Was für das einzelne Wissenschaftssystem gesagt wurde, gilt erweitert auch für das Gesamtsystem der Wissenchaften, in dem alle Einzelsysteme zu einem Gesamtverband zusammengeschlossen sind. Nur ist hier das anzusetzende Prinzip a priori, das den rationalen Aufbau gewährleisten soll, nicht mehr das Prinzip von der Form eines einzelnen begrenzten Ganzen, sondern das von der Form eines unbegrenzten Ganzen, mithin das Einheitsprinzip in umfassendstem Sinne. Es bezeichnet nicht nur diese oder jene einzelne formale Natur, sondern die Eine formale Natur, die in der durchgängigen Einheit aller besteht. Welcher Art ist der Zusammenschluß aller einzelnen formalen N a turen zu einer einzigen bzw. bei veränderter Perspektive die Auffächerung einer einzigen in alle übrigen? Zur Auswahl stehen drei Einteilungsarten mit entsprechenden Prinzipien 12: 1. eine analytische 13 — auch logische genannt — nach dem Satz des Widerspruchs (quodlibet ens est aut A aut non A) mit zwei Einteilungsgliedern (Dichotomie). D a sie sich auf I n h a l t u n d U m f a n g des Einzuteilenden bezieht, ist sie als Spezifikation, die ihr entgegengesetzt verlaufende Zusammenfassung als Klassifikation zu charakterisieren. Jene bedeutet die Ableitung des Besonderen aus dem Allgemeinen durch gradweise inhaltliche Erweiterung, verbunden mit einer gradweisen umfangmäßigen Einschränkung, diese die Zurückführung des Besonderen auf das Allgemeine durch gradweise inhaltliche Einschränkung, verbunden mit einer gradweisen umfangmäßigen Erweiterung. Die Folge ist ein Stufensystem mit Über- und Unterordnungen: Klassen, Gattungen, Arten und Unterarten, geregelt nach den Ideen der Spezifikation, Klassifikation und Kontinuität. 2. eine synthetische Einteilung nach Begriffen a priori mit drei Einteilungsgliedern (Trichotomie). Die Glieder sind Bedingung, Bedingtes und das, was aus der Verbindung beider resultiert. Wie die dreigliedrigen Einteilungen des Kategoriensystems zeigen, handelt es sich hier um eine i n h a l t l i c h e , nicht jedoch umfangmäßige Einteilung; denn die Kategorien unterscheiden sich zwar dem Inhalt nach voneinander, haben aber dieselbe Anwendungsbreite. Die Einteilung ist daher als in12 13

Vgl. K d U , Einl., K a p . I X , letzte Anm., Log., § 113. „Analytisch" und im folgenden „synthetisch" haben hier nicht die Bedeutung Zerlegung und Zusammensetzung, was schon daraus ersichtlich ist, daß es beide Male um eine Einteilung handelt; sie weisen vielmehr in die Richtung analytischer und synthetischer Einheit, d. h. der Einheit dessen, was unter Begriff enthalten ist, und der Einheit dessen, was im Begriff enthalten ist.

von sidi von dem

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haltliche Explikation bei gleicher Sphäre, die ihr korrespondierende Zusammenfassung als inhaltliche Vervollständigung zu verstehen. 3. eine synthetische Einteilung nach der den Begriffen a priori korrespondierenden reinen Anschauung. Wegen der Unendlichkeit der Anschauung fällt sie polytomisch aus. D a die Einteilung lediglich den U m f a n g , nicht den Inhalt betrifft, entspricht sie der mathematischen Teilung, die Zusammenfassung der mathematischen Zusammensetzung. Wie man leicht erkennt, kann das letzte Prinzip und die ihm gemäße Einteilungs- und Verbindungsart aus demselben Grunde zur Begründung des Gesamtsystems nidit herangezogen werden, aus dem schon das mathematische bei der Begründung des Einzelsystems keine Verwendung fand. Sein Bereich erstreckt sich ausschließlich auf mathematische, nicht auf Naturgegenstände. Was diesen Punkt betrifft, bietet sich vielmehr das zweite Prinzip an, das seinen Ursprung in der Synthesis a priori vollgültiger Gegenstände hat. Doch da es nur zu inhaltlichen, nicht umfangmäßigen Einteilungen bzw. Zusammenfassungen führt, die einzuteilenden bzw. zusammenzufassenden formalen Naturen aber gerade inhaltlich wie umfangmäßig verschieden sind, muß auch dieses Prinzip abgewiesen werden. Übrig bleibt das logische. Es gilt hier jedoch nur unter der Bedingung, daß es nicht als rein begriffliches, sondern als zugleich anschauungsbezogenes aufgefaßt wird; denn wir haben es nicht wie in der formalen Logik mit einer Einteilung reiner Begriffe, sondern mit einer real gültiger zu tun. Das diesem Prinzip entsprechende System der Naturwissenschaft erweist sich somit als ein Stufensystem, bestehend aus allgemeiner, besonderer, spezieller Naturwissenschaft und den weiteren Unterarten. Es stellt einen rationalen „Zusammenhang von Gründen und Folgen" dar (ΜΑ, IV, 468), wobei die Folgen wiederum Gründe für speziellere Wissenschaften sind. Mit dem beschriebenen Aufbau der Naturwissenschaft, der , e i g e n t l i c h so genannten' (ΜΑ, IV, 468), sowohl ihren Teilen wie ihrem Gesamtsystem, muß der Aufbau aller anderen Wissensarten verglichen werden. „Naturwissenschaft" in einem ganz weiten und lockeren Sinne nennt Kant ein System, das sowohl als Einzel- wie als Gesamtsystem auf empirischen Prinzipien basiert, folglich audi nur empirische Regeln zu vereinigen vermag. Genauigkeitshalber spricht er jedoch meist von „ Ν a t u r 1 e h r e " (ΜΑ, IV, 468) oder „Naturkunde" (Reil. 40). Die zugrunde gelegten Prinzipien sind entweder Begriffe, ζ. B. von Ähnlichkeiten und Verwandtschaften wie in der „Naturbeschreibung", wo sie zu

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Das System der Naturwissenschaft

Klassensystemen von der Art des Linneschen führen, oder Zeiten und ö r t e r wie in der „Naturgeschichte" und „geographischen Naturbeschreibung" (vgl. Physische Geographie, Einl., § 4), wo sie systematische Darstellungen von Veränderungen und Zuständen bewirken. Als Einzelsystem genügt die Naturlehre keiner der namhaft gemachten Bedingungen strenger Wissenschaft. 1. Ein empirisches, zufällig sich darbietendes Prinzip kann keine Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen. Unter ihm versteht der eine dies, der andere jenes entsprechend den Wahrnehmungen, die er bis zu einem gewissen Zeitpunkt gemacht hat. So denkt sich der eine ζ. B. unter dem empirischen Begriff „Gold" „außer dem Gewichte, der Farbe, der Zähigkeit noch die Eigenschaft, daß es nicht rostet" (KdrV, A 728 Β 756), während der andere davon überhaupt nichts wissen mag. Neue Wahrnehmungen ergeben neue Merkmale, nehmen alte hinweg, so daß der Merkmalskomplex niemals zwischen festen Grenzen steht und niemals zuverlässig den unverrückbaren Komplex von Daseinskonstituentien der Gegenstände einer bestimmten Klasse, eben den, der ihre Natur ausmacht, bezeichnet. Von der Naturlehre erwartet man daher vergeblich inhaltliche Vollständigkeit, Erfassung aller in Frage kommenden Daseinsfaktoren und darauf basierenden unumstößlichen Gesetze. 2. Da das Prinzip, das die Gesamtheit der darunter zu subsumierenden Gegenstände bezeichnet, a priori unbekannt ist und a posteriori nur aus der Totalität der Erfahrungsbeispiele erschlossen werden könnte, läßt sich auch der vollständige Umfang der Naturlehre nicht mit Sicherheit angeben. Der Umfang der Naturlehre repräsentiert niemals das Ganze, sondern immer nur einen beliebigen Mengenausschnitt. Selbstverständlich ist unter solchen Umständen eine unbeschränkte, durchgängige Anwendbarkeit der Regeln und damit verbunden eine notwendige, allgemeine, apodiktische Geltung derselben nicht zu gewährleisten. 3. Wegen der Empirizität des Prinzips entfällt eine exakte Grenzziehung nach außen wie im Innern. Da möglicherweise der empirische Merkmalskomplex unwesentliche Merkmale einschließt, wesentliche dagegen ausläßt, bezieht die darauf gründende Lehre möglicherweise artfremde Regeln ein, während sie arteigne ausläßt. Wo aber die äußeren Grenzen verwischen, kann auch die innere Gliederung nicht exakt sein. Ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich beim Gesamtsystem. Sowenig wie die Zusammenstellung einzelner Regeln nach empirischen Prinzipien definitiven Charaker haben kann, sowenig kann auch die Zusammenstellung einzelner Teilbereiche nach empirischen Prinzipien einen solchen

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haben. Die Verbindung fällt stets mehr oder weniger willkürlich aus; ein kontinuierliches Stufensystem ist nicht zu garantieren. Es liegt in der Natur der Sache, wenn Kant im Op. p. zu dem Schluß gelangt, daß das „empirische System" eigentlich eine contradictio in adiecto sei14, weil Empirizität als Kennzeichen von Nichtwissenschaftlichkeit und Systematik als Kennzeichen von Wissenschaftlichkeit sich ausschließen. Deshalb insistiert er im Op. p. darauf, daß „ a u s Erfahrung und vermittelst derselben nie ein wahres S y s t e m . . . zustande gebracht werden" könne (Op. p., XXI, 508,10), nie eine „einen bestimmten Kreis beschließende Wissenschaft (orbis scientiae naturalis)" (Op. p., XXI, 176, 17), daß selbst „durch allenfalls methodisches Aufsuchen nie ein vollendetes Ganzes" zustande komme (Op. p., XXI, 508,12), „ja gar nicht einmal eine Annäherung zu demselben" (Op. p., XXI, 287, 10). Empirisch kann lediglich ein „geringeres oder größeres Aggregat von Erkenntnissen" erreicht werden (Op. p., XXI, 508, 11). Damit ist das Stichwort gefallen, unter dem Kant jetzt das empirische System behandelt: es ist das Aggregat. Auf zufällig aufgesammelten empirischen Prinzipien beruhend, bleibt es immer ein „mangelhaftes" (Op. p., XXI, 168, 4) oder, wie es Op. p., XXI, 161,16 auch heißt, „zusammengestoppeltes Aggregat von Beobachtungen . . . , was zwar ansehnlich, aber doch immer nur fragmentarisch wachsen kann und in welcher Nachforschung man stillstehen kann, wo man will, weil es an der Idee mangelt, welche ein innerlich begründetes und zugleich s i c h s e l b s t b e g r e n z e n d e s Ganzes ausmacht". Die Schwierigkeiten, die ein solches Aggregat mit sich bringt, sind Kant deutlich bewußt: „Es ist aber mit aller Empirie darum schlimm bestellt, daß die sorgfältigst zusammengesuchten Erfahrungsbegriffe dem Naturforscher niemals den Besitz eines Ganzen und die Vollständigkeit eines Systems sichern, sondern nur stoppelnd (compilando) zustande gebracht werden können und man immer erwarten muß, sein angemaßtes System umarbeiten, gewisse Teile ausstoßen oder für andere, welche sich neuerdings als vorher noch nicht gekannte Spezies ankündigen dürften, Platz lassen zu müssen" (Op. p., X X I , 285, 14). „Ein solches Gebrechen einer Wissenschaft, nie ein System werden zu können (welches durch Empirie audi nie geschehen kann)", heißt es ferner, ist „ein Übel, was selbst das Aufgefaßte, weil es mit dem übrigen des Ganzen nicht verglichen werden kann, auch das, was 14

Vgl. Op. p., XXII, 297,23; 310,11; 328,7; 346,22; 352,31; 359,24; 361,15; 364,21; 381,4; 384, 1; 387,1; 390,7; 392,23; 395,14; 398,26; 403,14; 405, 1; 406,14; 473,2; 448,30.

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Das System der Naturwissenschaft entdeckt worden ist, in Gefahr bringt, ob es nicht vielleicht mit dem einerlei sei, was man schon gefunden hat, und überhaupt, daß man nie weiß, wie und wonach man suchen soll" (Op. p., X X I , 168, 6).

Wie aus diesen Belegen hervorgeht, gleicht das Ganze einem „Herumtappen" (Op. p., XXII, 336, 3; 354, 2), weil das Licht der Erkenntnis fehlt. Des weiteren kennt Kant noch den Begriff der . u n e i g e n t l i c h so genannten Naturwissenschaft' (ΜΑ, IV, 468). Eine Wissenschaft dieser Art stimmt mit der eigentlich so genannten zwar äußerlich überein, indem ihre Teilbereiche Gesetze enthalten, „aus denen die gegebenen Facta durch die Vernunft erklärt werden" können (ib.), und ihr Gesamtbereich einen rationalen „Zusammenhang von Gründen und Folgen" (ib.) darstellt, unterscheidet sich aber innerlich, indem sich die angeblichen Vernunftgesetze letztlich doch nur als „Erfahrungsgesetze" (ib.) und die Gründe des rationalen Aufbaus letztlich doch nur als ,empirische' (ib.) erweisen. Als Beispiel führt Kant stets die Chemie an, die aus einer bestimmten, nur empirisch auffindbaren Anzahl von Elementen durch Verbindung die gesamten komplexen Stoffe herleitet. Solange man die chemischen Prozesse der Verbindung und Auflösung nicht a priori in der reinen Anschauung darstellen kann, solange man „kein Gesetz der Annäherung oder Entfernung der Teile" kennt, „nach welchem etwa in Proportion ihrer Dichtigkeiten u. dgl. ihre Bewegungen samt ihren Folgen sich im Räume a priori anschaulich machen und darstellen lassen" (ΜΑ, IV, 471) — was Kant ausgeschlossen erschien —, solange bleiben die Abläufe in ihrer Möglichkeit unbegriffen. Weil auch hier die Empirizität des Prinzips alle Mängel mit sich bringt, die wir für die Naturlehre herausstellten, muß die Rationalität des Aufbaus notwendig suspekt werden. Uneigentliche Wissenschaft ist deshalb mehr bloße Nachahmung einer wissenschaftlichen Form als wirkliche Einsicht in diese, weswegen sie besser „systematische Kunst" als „Wissenschaft" genannt werden sollte (ΜΑ, IV, 468). Obwohl sich strenge und nicht-strenge Naturwissenschaften als heterogene Lehrsysteme scharf gegeneinander abgrenzen — bezeichnenderweise spricht Kant im Op. p. von einer Kluft (hiatus) zwischen ihnen, die nur im Sprung zu überwinden sei15 —, zielt doch die Vernunft, das Ra-

15

Vgl. Op. p., XXI, 475,3!; 476,13; 360,3; 366,28; 505,21!; 615,7!; 620,13; 623,1!; XXII, 244,3.

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dikalvermögen menschlicher Erkenntnis, ihrem Wesen nach auf absolute systematische Einheit aller Wissenschaftsarten und damit auch aller in ihnen zusammengefaßten Gesetzesarten. „Der Übergang (transitus) von einer Art der Erkenntnis zu einer andern muß nur ein Schritt (passus), kein Sprung (saltus) sein, d. i., die Methodenlehre gebietet, . . . ü b e r z u s c h r e i t e n : wobei dann die Regel sein wird (nach dem scherzenden Spruch eines Philosophen), es zu machen wie die Elefanten, die nicht eher einen der 4 Füße einen Fuß weiter setzen, als bis sie fühlen, daß die andern drei feststehen" (Op. p., XXI, 387, 1). Wie ist eine solche durchgängige systematische Einheit zu erreichen? Offensichtlich nicht durch einen empirischen Ansatz oder — bildlich gesprochen, wenn man eine Hierarchie der Erkenntnisweisen annimmt, in welcher die cognitio ex principiis der cognitio ex datis übergeordnet ist (vgl. KdrV, A 835 f. Β 863 f.) — durch einen Aufstieg von den empirischen zu den reinen Wissenschaften. Denn auf diesem Wege würde man völlig planlos, ohne die geringste Vorstellung eines Gesamtzusammenhangs, tastend und probierend einmal diese, einmal jene der bereits vorhandenen Wissenschaftszweige zusammenstellen. Dabei kann es nicht ausbleiben, daß mit fortschreitender Systembildung Modifikationen in kleinerem oder größerem Maße erforderlich werden, daß ganze Umgruppierungen stattfinden müssen, weil auf Grund neuer Entdeckungen, umfassenderer Einblicke Kombinationen, die schon festzustehen schienen, plötzlich hinfällig werden. Das Ganze gleicht einem Puzzlespiel, wobei ein Unterschied allerdings darin besteht, daß das Puzzlespiel irgendwann zu erkennen gibt, ob die Kombination richtig ist, das Spiel „Naturwissenschaft" dagegen nie. Daß auf diese Weise der systematische Aufbau und vor allem die Verknüpfung unterschiedlicher wissenschaftlicher Verfahren nicht die mindeste Verbindlichkeit beanspruchen kann, leuchtet ein. Es ist aber das Postulat der Vernunft, daß „jede Naturlehre zuletzt auf Naturwissenschaft hinausgehen und darin sich endigen müsse" (MA, IV, 469), deswegen, weil eine „Notwendigkeit der Gesetze dem Begriffe der Natur unzertrennlich anhängt und daher durchaus eingesehen sein will" (ib.). Soll die Naturlehre den Namen N a t u r lehre zu Recht verdienen, soll sie eine wirkliche Erklärung der Ν a t u r (in formaler Bedeutung, indirekt dann auch in materialer) liefern, dann muß sie sich von wissenschaftlichen Grundlagen her verstehen. Das ist nur möglich, wenn letztlich in jeder zufälligen empirischen Regel ein notwendiges Gesetz als Ausdrude eines unumgänglichen Daseinskonstituens von Gegenständen

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einer bestimmten Klasse gesehen wird, in jedem zufälligen empirischen Teilsystem eine notwendige Zusammenstellung solcher Gesetze, den unverrückbaren Komplex von Daseinskonstituentien bezeichnend, und im zufälligen empirischen Gesamtsystem der Naturlehre eine notwendige Vereinigung aller einzelnen Zusammenstellungen. Dann nämlich muß in einem Gesamtsystem aller Wissenschaften die Naturlehre ein genau definierbares Verhältnis zu den eigentlichen Wissenschaften einnehmen und sich aus ihnen herleiten. Dazu bedarf es freilich eines apriorischen Ansatzes, bildlich gesprochen, eines Abstiegs von den reinen Wissenschaften zu den empirischen. „Es ist hier nicht Aufsteigen von der Erfahrung zum Allgemeinen, sondern der Übergang [jene μετάβασις εις αλλο γένος16] ist Herabsteigen", heißt es mit deutlichem Methodenbewußtsein an einer Stelle des Op. p. ( X X I , 476,11). Die Vernunft entwirft hier a priori einen Gesamtplan aller Wissenschaften, reiner wie empirischer, in Gestalt eines kontinuierlichen Stufensystems, in dem alle Disziplinen ihren genau festgelegten systematischen Ort und ihre genau festgelegte Beziehung zueinander haben. Wie Kants intensive Beschäftigung mit diesem Problem im Op. p. erkennen läßt, hat man sich den Wissenschaftsentwurf als bloße Form eines Systems noch ohne die Materialien zu denken 17, als bloßen „Vorriß" (Op. p., X X I , 492, 23) für eine mögliche spätere Auffüllung. Kant spricht daher gern von einem „Fachwerk" oder einer „Topik", welche die örter vollständig vorzeichnet, die es später auszufüllen g i l t u . „ D i e Form des szientifischen Erkenntnisses muß a priori gegeben sein, in deren Fachwerk das Empirische, was die Naturforschung liefern mag, nach Prinzipien gestellt werden . . . k a n n " (Op. p., X X I , 169, 9).

Oder: Zur Wissenschaft wird „notwendig ein Umriß der Form erfordert . . . , in welchem f ü r die mancherlei physischen Wahrnehmungen, die uns zu H ä n d e n kommen dürften, (als dem Materiale der Wissenschaft) ihre Stellen schon v o r h e r (nach einem Prinzip a priori) angewiesen werden können" ( O p . p., X X I , 3 6 0 , 1 7 ) .

Vgl. Op. p., X X I , 172,14; 284, 25; 623,1; X X I I , 465, 24. » So schon KdrV, A 645 Β 673, A 832 Β 860. 18 Vgl. Op. p., X X I , 475, 27; 485,1 und 22; 486, 13 und 21; 487,16; 288,14; 161, 23; 169,9; X X I I , 256, 18; 308, 6; 354, 25. 16

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Was Kant mit all diesen Begriffen: „Form", „Umriß", „Fachwerk", „Topik" usw. meint, ist nichts anderes als die Art und Weise der Verknüpfung 19 . Das wird deutlich, wenn er die Unterscheidung zwischen „Zusammensetzen" und „Zusammengesetztem" 20 einführt. Mit dem ersten Begriff bezeichnet er die Handlung des Zusammensetzens, eingeschlossen den Handlungsverlauf, den Weg, den die Durchführung einschlägt, mit dem zweiten das Ergebnis der am Material auf bestimmte Weise vollzogenen Handlung. „Die Zusammensetzung (compositio) als das Formale dieser Erkenntnis muß vor dem Begriff des Zusammengesetzten (compositum) als dem Materialen der Erkenntnis durch Wahrnehmungen vorhergehen, d.