Die Kaiserliche Marine im Krieg: Eine Spurensuche 9783515118248

Die einschneidenden Ereignisse und Erlebnisse, die ein Krieg mit sich bringt, finden immer auch ihren Niederschlag in de

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Die Kaiserliche Marine im Krieg: Eine Spurensuche
 9783515118248

Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT (Heinrich Walle)
„EINE VERSCHWINDEND GERINGE ZAHL HISTORISCH INTERESSANTER PHOTOGRAPHIEN“. Zur Fotogeschichte des Seekrieges im Ersten Weltkrieg und danach (Winfried Mönch)
HUNNENANGST. Über die Furcht vor einer deutschen Invasion in Großbritannien am Vorabend des Ersten Weltkriegs (Jürgen Elvert)
AUSWERTUNG UND BEDEUTUNG DER KRIEGSERFAHRUNGEN (Werner Rahn)
FLOTTENBAU UND ZEITGENÖSSISCHE SEEKRIEGSTHEORIE AM BEISPIEL DER DEUTSCH-BRITISCHEN RIVALITÄT 1906–1914 (Uwe Dirks)
DER DEUTSCHE FLOTTENVEREIN. Die öffentliche Wahrnehmung des Seekriegs 1914 bis 1919 und der Untergang des Navalismus als prägendes mentales Phänomen des Wilhelminischen Kaiserreichs (Sebastian Diziol)
JOACHIM RINGELNATZ ALS MARINER IM ERSTEN WELTKRIEG (Erika Fischer)
ZWISCHEN HERINGEN UND HELDEN. Gorch Fock und der Krieg (Rüdiger Schütt)
„DES KAISERS KULIS“. Der Schriftsteller Theodor Plievier und die Darstellung der Matrosenrevolte von 19171 (Hans-Harald Müller)
GRAF LUCKNER UND FRITZ OTTO BUSCH. Zwei Marineoffiziere zwischen Seemannsgarn und Propaganda (Kathrin Orth)
DIE INSZENIERUNG DER KAISERLICHEN MARINE IN DOKUMENTAR- UND SPIELFILMEN 1916–1935. Unter besonderer Berücksichtigung von „Helden der Untersee“ („Q-Ships“, GB 1928) und „Seas Beneath“ (USA 1931) (Gerhard Wiechmann)
DAS MARINE-EHRENMAL LABOE (Ulrich Otto)
„EIN GETREUES BILD MEINER ERLEBNISSE UND BEOBACHTUNGEN“. Über die Erinnerungen der Matrosen Stumpf und Linke und ihre Autoren (Stephan Huck)
FLOTTE UND FLIEGER. Die Kaiserlichen Marineluftstreitkräfte im Museum (Anja Dörfer)
DIE MARINESCHULE IN FLENSBURG MÜRWIK. Ästhetische Umsetzung politisch funktionaler Aspekte (Heinrich Walle)
REGISTER
PERSONENREGISTER
ORTSREGISTER
AUTORENVERZEICHNIS

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Geschichte Franz Steiner Verlag

h i s to r i s ch e m it te i lu ng en – b e i h e f t 9 9

Die Kaiserliche Marine im Krieg Eine Spurensuche Herausgegeben von Jürgen Elvert, Lutz Adam und Heinrich Walle

Die Kaiserliche Marine im Krieg Herausgegeben von Jürgen Elvert, Lutz Adam und Heinrich Walle

h i s to r i s c h e m it t e i lu ng e n – b e i h e f te Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft. Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e.V. herausgegeben von Jürgen Elvert

Wissenschaftlicher Beirat: Winfried Baumgart, Michael Kißener, Ulrich Lappenküper, Ursula Lehmkuhl, Bea Lundt, Christoph Marx, Sönke Neitzel, Jutta Nowosadtko, Johannes Paulmann, Wolfram Pyta, Wolfgang Schmale, Reinhard Zöllner

Band 99

Die Kaiserliche Marine im Krieg Eine Spurensuche Herausgegeben von Jürgen Elvert, Lutz Adam und Heinrich Walle

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Glasfenster, Marineschule Mürwik (Privatarchiv Heinrich Walle) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Druck: Laupp & Göbel, Gomaringen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11824-8 (Print) ISBN 978-3-515-11825-5 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS

Heinrich Walle Vorwort .................................................................................................................... 7 Winfried Mönch „Eine verschwindend geringe Zahl historisch interessanter Photographien“. Zur Fotogeschichte des Seekrieges im Ersten Weltkrieg und danach ................... 11 Jürgen Elvert Hunnenangst. Über die Furcht vor einer deutschen Invasion in Großbritannien am Vorabend des Ersten Weltkrieges .......................................... 29 Werner Rahn Auswertung und Bedeutung der Kriegserfahrungen ............................................. 43 Uwe Dirks Flottenbau und zeitgenössische Seekriegstheorie am Beispiel der Deutsch-britischen Rivalität 1906–1914 ............................................................... 57 Sebastian Diziol Der Deutsche Flottenverein. Die öffentliche Wahrnehmung des Seekrieges 1914 bis 1919 und der Untergang des Navalismus als prägendes mentales Phänomen des Wilhelminischen Kaiserreichs ............................................................................... 83 Erika Fischer Joachim Ringelnatz als Mariner im Ersten Weltkrieg ......................................... 109 Rüdiger Schütt Zwischen Heringen und Helden. Gorch Fock und der Krieg ................................................................................... 125 Hans-Harald Müller „Des Kaisers Kulis“. Der Schriftsteller Theodor Plievier und die Darstellung der Matrosenrevolte von 1917 ................................................................................... 139 Kathrin Orth Graf Luckner und Fritz Otto Busch. Zwei Marineoffiziere zwischen Seemannsgarn und ........................................... 149

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Inhaltsverzeichnis

Gerhard Wiechmann Die Inszenierung der Kaiserlichen Marine in Dokumentar- und Spielfilmen 1916–1935. Unter besonderer Berücksichtigung von „Helden der Untersee“ (»Q-Ships«, GB 1928) und »Seas Beneath« (USA 1931) ......................................... 159 Ulrich Otto Das Marine-Ehrenmal Laboe ............................................................................... 185 Stephan Huck „Ein getreues Bild meiner Erlebnisse und Beobachtungen“. Über die Erinnerung der Matrosen Stumpf und Linke und ihre Autoren ............ 201 Anja Dörfer Flotte und Flieger. Die Kaiserlichen Marineluftstreitkräfte im Museum ........................................... 219 Heinrich Walle Die Marineschule in Flensburg Mürwik. Ästhetische Umsetzung politisch funktionaler Aspekte ...................................... 231 Personen- und Ortsregister................................................................................... 241 Autorenverzeichnis .............................................................................................. 247

VORWORT Heinrich Walle

Als Wissenschaftliche Tagung der DGSM fand vom 5. bis 7. November 2014 in Kiel ein Kolloquium statt, dessen Thematik ganz im Zeichen des 100. Jahrestages des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges stand. Unter dem Titel „Die Kaiserliche Marine im Großen Krieg, eine Spurensuche“ hatte die DGSM ein abwechslungsreiches und ebenso informatives wie spannendes Programm zu diesem Ereignis unter marinegeschichtlichen Aspekten gestaltet. Thematisch wurde der Erste Weltkrieg ganz bewusst unter dem Verzicht auf ein Eingehen auf operative Fragestellungen geradezu verhalten aufgegriffen. Stattdessen näherte man sich der Thematik umso präziser aus dem maritimen Blickwinkel. Es gelang, Experten als Referenten zu gewinnen, die sich der Rolle und dem Handeln der Kaiserlichen Marine sowie der Reflexion in Politik, Geschichte und Gesellschaft mit großer Kompetenz annahmen. Einen Schwerpunkt bildete hierbei die mediale Darstellung und Wahrnehmung der Kaiserlichen Flotte in dieser Epoche. Die Rolle der damals noch jungen Photographie und zeitgenössische Filmdokumente wie auch Spielfilme wurden den Tagungsteilnehmern vorgestellt, analysiert und in ihrer heutigen Wirkung diskutiert. Ferner wurde die damalige Berichterstattung in Presse und Literatur kritisch bewertet. An Hand der Schriften und Lebensbilder bekannter Autoren, wie Gorch Fock, Joachim Ringelnatz, Theodor Plivier, Felix Graf von Luckner und Fritz Otto Busch wurde das Zeitgeschehen aus damaliger wie heutiger Perspektive in den Blick genommen. In gleicher Weise wird auch dem Bild der Kaiserlichen Marine in aktuellen musealen Sonderausstellungen, wie beispielsweise im Deutschen Marine Museum Wilhelmshaven oder dem AERONAUTIKUM Nordholz Raum gegeben. Winfried Mönch (Rastatt) referierte beispielsweise über die fotographische Bilddokumentation der Kaiserlichen Marine im Seekrieg 1914–1918, wobei er an Hand der reichen Sammlungen des Wehrgeschichtlichen Museums Rastatt zeigen konnte, dass in der Vielfalt des Materials nur „eine verschwindend geringe Zahl von historisch interessanten Photographien“ erhalten ist. „Die deutsche Flottenpolitik im Spiegel der zeitgenössischen britischen Literatur um 1900“ war das Thema des Vortrages von Jürgen Elvert (Köln). Er zeigte, wie durch in der britischen Presse veröffentlichte Kriminalromane die Furcht vor einer Invasion der damals im Aufbau befindlichen Hochseeflotte der Kaiserlichen Marine in Großbritannien geschürt wurde, was dann zur Schaffung der heute bekannten britischen Geheimdienste führte.

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Heinrich Walle

Sebastian Diziol (Kiel) referierte zum Thema „Der Deutsche Flottenverein und die öffentliche Wahrnehmung des Krieges 1914 bis 1919“. Am Beispiel des Deutschen Flottenvereins zeigte er die wechselhafte Rezeption der Kriegsereignisse von anfänglicher Siegeseuphorie bis zum traumatischen Erlebnis einer Niederlage. Werner Rahn (Potsdam) skizzierte die seestrategischen Auffassungen der Kaiserlichen Marineführung am Vorabend des Ersten Weltkrieges und leitete damit den Vortrag von Uwe Dirks (Bonn) ein, der über „Flottenbau und zeitgenössische Seekriegstheorie am Beispiel der deutsch – britischen Rivalität 1906 bis 1914“ berichtete. Auf Spuren der Kaiserlichen Marine in der Belletristik wies Erika Fischer (Cuxhaven) hin. Hans Bötticher, der sich als Dichter seit 1918 Joachim Ringelnatz nannte, war ein begnadeter Lyriker, in dessen Schaffen seine Seefahrts- und Marinedienstzeit eine überaus prägende Rolle spielte. Erika Fischer hat mit ihrem engagierten und kenntnisreichen Beitrag diesem Künstler, der sich immerhin in der Kaiserlichen Marine zum Leutnant zur See hochgedient hatte, ein würdiges Denkmal gesetzt. Unter dem Schlagwort „Zwischen Heringen und Helden“ stellte Rüdiger Schütt (Kiel) den in der Marine noch als Namensgeber für das Segelschulschiff bekannten Schriftsteller Gorch Fock vor. Dem Referenten ging es in seinen Ausführungen um die Darstellung Gorch Focks als Mensch. Als Johann Kienau 1880 geboren und 1916 als Matrose in der Skagerrakschlacht gefallen, wurde er aufgrund seiner Werke zum Mythos als Beispiel für Mannesmut und Abenteuerlust verklärt. Rüdiger Schütt (Kiel) präsentierte Ergebnisse seiner Forschungen zu Gorch Fock, wohingegen sich Hans-Harald Müller (Hamburg) mit Theodor Plivier befasste. Unter dem Thema „Des Kaisers Kulis.‘ Der Schriftsteller Theodor Plivier und die Darstellung der Matrosenrevolte von 1917“ wurde aufgezeigt, wie diese Ereignisse von einem ehemaligen Matrosen, der dem Kommunismus nahestand, nach 1918 literarisch bearbeitet wurden. Kathrin Orth (Berlin) stellte mit „Felix Graf von Luckner und Fritz Otto Busch: Zwei Marineoffiziere zwischen Seemannsgarn und Propaganda“ zwei weitere bekannte Protagonisten vor, Gerhard Wiechmann (Osnabrück) befasste sich mit der „Kaiserlichen Marine in zeitgenössischen Filmaufnahmen und Spielfilmen“. Ulrich Otto (Neuberend) präsentierte neue Überlegungen zum 1936 als Gedenkstätte für die Gefallenen der Kaiserlichen Marine eingeweihten Marineehrenmal Laboe. Überzeugend verstand der Referent den Bedeutungswandel dieses im Stil des deutschen Backsteinexpressionismus in den zwanziger Jahre entworfenen Denkmals von einer nationalen Gedenk- und Ruhmeshalle der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zu einem Mahnmal für alle auf See gebliebenen Opfer darzustellen, zu dem es in der jüngsten Vergangenheit von seinem derzeitigen Eigentümer, dem Deutschen Marinebund, umgestaltet wurde. Stephan Huck (Wilhelmshaven) berichtete über die 2014 im Deutschen Marinemuseum Wilhelmshaven durchgeführte Sonderausstellung „Alltag in der Hochseeflotte“, mit einem Bericht über Grundlagen und Quellen dieser Sonderausstellung.

Vorwort

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Anja Dörfer (Nordholz) erläuterte, wie das Thema Flieger und Flotte der Kaiserlichen Marine im AERONAUTICUM behandelt wird. Ein Überblick der wichtigsten Fachsammlungen in der Bundesrepublik Deutschland zeigte, dass die deutsche Marinefliegerei bis 1918 als Thema nur im AERONAUTIKUM dargestellt ist. Heinrich Walle (Bonn) stellte die 1906 bis 1910 als zentrale Ausbildungsstätte für den Offiziernachwuchs der Kaiserlichen Marine gebaute Marineschule Mürwik als ein Zweckbau von höchstem Nutzwert vor. Auch nach 100 Jahren nahezu baulich unverändert, erfüllt er seinen Zweck als Militärinternat, weist aber in seiner ästhetischen Gestaltung, dem Zeitgeist entsprechend, historisierende Elemente auf. Sein ästhetisches Bauprogramm fördert bis zum heutigen Tage die Motivation der Nutzer. Die Herausgeber freuen sich, mit diesem Tagungsband die vorgenannten Beiträge der interessierten Fachöffentlichkeit zur Verfügung stellen zu können. Besonderen Dank schulden wir dem Wissenschaftlichen Beirat der DGSM, der einige der Referenten für ihre Mitwirkung an der Tagung und die Zurverfügungstellung ihrer Beiträge gewinnen konnte. Ellen Wagner (Bonn) hat die mühevolle Aufgabe der Erstformatierung der Texte übernommen und damit die freundlicherweise von Şahin Mavili (Köln) besorgte Erstellung der Endfassung des Tagungsbandes vorbereitet, dem zudem unser Dank für die Erstellung des Registers gilt. Auch diesen beiden Mitarbeitern gilt der besondere Dank der Herausgeber.

„EINE VERSCHWINDEND GERINGE ZAHL HISTORISCH INTERESSANTER PHOTOGRAPHIEN“ Zur Fotogeschichte des Seekrieges im Ersten Weltkrieg und danach Winfried Mönch

KRIEGSBILDER Fotos von Krieg und Vernichtung sind in der medialen Welt allgegenwärtig. Kriegsbilder sind so selbstverständlich geworden, dass sich die Diskussion um ethische Probleme von Darstellung und Veröffentlichung heute meist von selbst zu erübrigen scheinen. In den vergangenen Jahren hat die Geschichtsschreibung zum Thema Fotografie im Allgemeinen und zum Thema Kriegsfotografie1 im Besonderen einen regelrechten Boom erlebt. Für die Geschichte der Schiffsfotografie und ihrer Fotografen beginnt man sich allmählich auch zu interessieren. Das Schiff, das Kriegsschiff, ist ja als Fotomotiv so alt wie die Geschichte der Fotografie selbst.2 Die fotografische Dokumentation des nationalen wie des internationalen Flottenbaues vor dem Ersten Weltkrieg3 und die Fotogeschichte des Seekrieges im Ersten Weltkrieg standen dagegen bisher weniger im Fokus der Forschung.4 Dies erscheint auch nicht weiter erstaunlich, da es zumindest aus deutscher Perspektive so gut wie keine Fotos gibt, die die Gefechte oder großen Seeschlach1

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Vgl. z. B. das Überblickswerk von Gerhard Paul, Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004. Im „Visual Essay“ zum Ersten Weltkrieg findet der Seekrieg allerdings nicht statt. Vgl. Klaus-Peter Kiedel, Schiffsfotografie. Das Schiff in der Fotografie, in: Dirk Max Jahn (Hg.), 100 Jahre Verband deutscher Reeder, Hamburg 2007, 480–503. Das Deutsche Schifffahrtsmuseum Bremerhaven gibt etwa eine eigene Reihe unter dem Titel „Schifffahrt und Fotografie“ heraus. Der britische Fotopionier Talbot etwa fotografierte in den 1840er Jahren einen Seemann an Bord seines Schiffes. Vgl. die Abb. Frank Ludwig Neher, Die Erfindung der Photographie, Stuttgart 1938, 39. Auf zwei wichtige Ausnahmen sei hier verwiesen. Vgl. Roger D. Thomas/Brian Patterson, Dreadnoughts in camera. Building the Dreadnoughts 1905–1920, Stroud 1998 und Jan Johnston, Clydebank battlecruisers. Forgotten photographs from John Brown´s shipyard, Barnsley 2011. Teilbereiche dieser Problematik sind in einer Sonderausstellung des Wehrgeschichtlichen Museums in Rastatt 2012 thematisiert worden. Vgl. dazu allgemein den Begleitband zur Ausstellung Alexander Jordan/Winfried Mönch/Guntram Schulze-Wegener, Namen, Bilder, Schatten. Treibgut der Wilhelminischen Marine bis 1918 in Baden und Württemberg, Rastatt 2012.

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Winfried Mönch

ten des Ersten Weltkrieges,5 wie Helgoland, Coronel, Falkland,6 Doggerbank oder Skagerrak7 dokumentiert hätten. Die dabei entstandenen Aufnahmen sind fast ganz ausschließlich britischer Herkunft. Dies ist umso bemerkenswerter, da die britische genauso wie die deutsche Marine Fotografen gegenüber äußerst kritisch eingestellt war.8 Dies gilt auch für den Kriegschauplatz in der Türkei. Dramatische Fotos vom Verlust von großen Linienschiffen wie etwa der britischen „Majestic“ oder der französischen „Bouvet“ in den See-/Landschlachten an den Dardanellen entstanden auf alliierter Seite.9 Mit dem damals sehr neue Medium Film wurden in Deutschland gleichfalls kaum Kriegseinsätze der Marine dokumentiert.10 Im Folgenden soll es nicht darum gehen „Ergebnisse“ zu liefern, sondern Beobachtungen zu publizierten Quellen vorzustellen. Mittels eines gleichsam „impressionistischen Blicks“ soll ein Thema umrissen werden, das zwischen Erinnerung, Dokumentation und Propaganda angesiedelt ist und als Forschungsdesiderat zu betrachten ist.

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Einen guten Eindruck von der vorhandenen visuellen Überlieferung bieten Jörg-Michael Hormann/Eberhard Kliem, Die Kaiserliche Marine im Ersten Weltkrieg. Von Wilhelmshaven nach Scapa Flow, München 2014. Vgl. auch Peter H. Liddle, The sailor´s war. 1914–1918, Poole 1985. Zur Illustration des Buches dienen privat aufgenommene Fotos verschiedener britischer Seeleute. 6 Vgl. Geoffrey Bennett, Die Seeschlachten von Coronel und Falkland und der Untergang des deutschen Kreuzergeschwaders unter Admiral Spee, München 1980. Die Fotos von der Rettung deutscher Seeleute nach der Schlacht stammen von einem Offizier, der im Vortopp des britischen Schlachtkreuzers »Invincible« seinen Dienst tat und seine private Kamera benutzte. Vgl. V. E. Tarrant, Battlecruiser »Invincible«. The history of the first battlecruiser, 1909–16, London 1986, 56. 7 Vgl. die Retrospektive Michael Epkenhans/Jörg Hillmann/Frank Nägler (Hgg.), Skagerrakschlacht. Vorgeschichte, Ereignis, Verarbeitung, München 2009. Vgl. auch Geoffrey Bennett, Die Skagerrakschlacht. Die größte Seeschlacht der Geschichte, München 1976. Vgl. auch den Bildband John Costello/Terry Hughes, Skagerrak 1916. Deutschlands größte Seeschlacht, Wien 1978. 8 Jane Carmichael, First World War Photographers, London 1989, 98 ff. 9 Vgl. Chap. V, L´Éxpédition des Dardanelles, in: Histoire photographique et documentaire reconstituée chronologiquement à l’aide des clichés et de dessins publiés par l’Illustration. L’Album de la Guerre. Vol. I, Paris 1922, Schiffsfotos 380/81, 392. 10 Ulrike Oppelt, Film und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Propaganda und Medienrealität im Aktualitäten- und Dokumentarfilm, Stuttgart 2002. Vgl. die Filmanalysen in Kap. VI, 1.3. Die Kriegsmarine. Vgl. auch Jan Kindler, Die Skagerrakschlacht im deutschen Film, in: Epkenhans/Hillmann/Nägler (Hgg.), Skagerrakschlacht, 351–368. Zur Rolle des „Flottenkaisers“ in Propagandafilmen des Reichsmarineamtes vgl. Dominik Petzold, Der Kaiser und das Kino. Herrschaftsinszenierung, Populärkultur und Filmpropaganda im wilhelminischen Zeitalter, Paderborn 2012, 180–208, 264–268.

Zur Fotogeschichte des Seekrieges

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IKONEN DES SEEKRIEGES So etwas wie ein kollektives Gedächtnis gibt es natürlich nicht. Dennoch gibt es einen Film und zwei Fotografien aus dem Seekrieg des Ersten Weltkrieges, die nicht nur marineavinen sondern auch einem breiteren Publikum bekannt sein dürften. Filmisch wurde die Vernichtung eines großen Schiffes erstmals beim Untergang des k.u.k. Linienschiffes „Szent Istvan“ 1918 in der Adria dokumentiert.11 Das Foto von der Explosionswolke des britischen Schlachtkreuzers „Queen Mary“ in der Skagerrakschlacht 1916 gemahnt an die Atompilze einer späteren Epoche. Das Foto vom Kentern des Großen Kreuzers „Blücher“12 entstand während der Doggerbankschlacht 1915.

11 Vgl. die Filmsequenz bei Wladimir Aichelburg (Hg.), Die „Tegetthoff“-Klasse. ÖsterreichUngarns größte Schlachtschiffe, München 1981, 96 f. 12 Zur Schiffsbiographie vgl. Gerhard Koop/Klaus-Peter Schmolke, Die Großen Kreuzer. „Kaiserin Augusta“ bis „Blücher, Bonn 2002, 137–156.

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Winfried Mönch

„Blücher“ kentert. Aus: Baumbach, Ruhmestage der deutschen Marine (Marinearchiv der BfZ)

Zur Fotogeschichte des Seekrieges

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Man erkennt auf diesem Foto den zur Seite geneigten Schiffsrumpf. Darauf sind Massen von Seeleuten zu sehen. Die Schlagseite des Schiffes ist bereits so stark, dass die Männer nun auf der fast waagrecht liegenden Bordwand laufen können. Viele kriechen oder halten sich an Spieren und an Torpedonetzen fest. Viele sind schon ins Wasser gefallen und schwimmen um ihr Leben. Die Aufbauten des Schiffes sind kaum mehr zu sehen. Der Dreibeinmast und Rohre verdrehter Geschütztürme sind gerade noch zu erkennen. Der Schlingerkiel ragt bereits aus dem Wasser. Seeleute klammern sich verzweifelt an dem Rumpf des kenternden Schiffes. Augenblicke später wird es verschwunden sein. Es ist ein Kriegsbild, das je nach Standpunkt, Sieg oder Niederlage, dokumentiert. In der Bildpropaganda des Ersten Weltkrieges hatte es die Funktion, den Triumph der eigenen Seite zu feiern. Doch dabei sollte es nicht bleiben. Das Foto vermittelt den emphatischen Eindruck menschlicher Tragödie im Angesicht einer jeden Schiffskatastrophe. Das Bild geriet zur Ikone des Seekrieges schlechthin. Es sei, wie es in einer nicht weiter genannten britischen Veröffentlichung der Zwischenkriegszeit hieß, die „wundervollste Kriegsphotographie, die man je veröffentlicht“ habe.13 Im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit stellte die Bundesmarine, als „neue Marine“, das Bild 1957 in ihren visuellen Fundus.14 Ein amerikanischer Marineoffizier zählte das Bild 2010 gar zu den „ikonischten“, (»most iconic«), maritimen Fotos aller Zeiten.15 In der „definitiven visuellen“ Geschichte des Ersten Weltkrieges ist das Foto 2014 großformatig abgedruckt.16 Im Bayerischen Armeemuseum in Ingolstadt beherrscht eine übergroße Reproduktion des Fotos den Themenraum Marine und Kolonien.17 Und es war schon den Zeitgenossen bewusst, dass sich durch dieses Foto etwas in der öffentlichen Wahrnehmung des Seekrieges ändern konnte. Die französische Zeitschrift »l´Illustration« stellte etwa aus Anlass der Erstveröffentlichung des Bildes im Februar 1915 die rhetorische Frage: „Und welches noch so eindrucksvolle Kunstwerk von Marinemalern“ hinterlasse schon „einen genauso packenden Eindruck“ wie dieses Foto, „das das Wrack kurz vor dem Untergang, in letzter Minute, ganz aus der Nähe“, zeigt.18 Es ist das seit dem Amerikanischen Bürgerkrieg der 1860er Jahre immer wieder auftauchende Motiv, wonach dem Foto ein höherer Dokumentarwert zukomme, als jeder noch so guten Historienmalerei. Malerei verharmlose an sich, wäh-

13 So in einer Bildunterschrift bei Kurt Gebeschus, Doggerbank. Kampf und Untergang des Panzerkreuzers „Blücher“, Berlin 1935, Vor 81. Gebeschus war Überlebender des Untergangs. 14 Vgl. den Bildband Fritz E. Giese (Hg.), Die alte und die neue Marine, Bonn 1957, 26. 15 Marc Stille, British Dreadnought vs. German Dreadnought. Jutland 1916, Oxford 2010, 31. 16 R. G. Grant, Der Erste Weltkrieg. Die visuelle Geschichte, München 2014, 124 f. Der englische Untertitel der Originalausgabe lautet: »The definitive visual guide«. 17 Ernst Aichner, Reduit Tilly. Führer durch das Bayerische Armeemuseum Ingolstadt, Bd. 2, Ingolstadt 1998, 77, T 25. 18 Anonym: »Sauve qui peut!«, L’Agonie d´un croiseur cuirassé allemande, in: l’Illustration No. 3756, 27.2.1915, 216–217.

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rend in der Fotografie das wahre Gesicht des Krieges zum Ausdruck komme.19 Und in der Tat ein Foto erzählt nicht wie eine künstlerische Darstellung „im nach hinein“. Es vermittelt eine scheinbar unmittelbare, medial vermittelte, Zeitgenossenschaft beim Ablauf des Ereignisses. Bisher Ungesehenes verfestigt sich durch durch die zufällige Gegenwart einer Kamera. Die Bilder vom Untergang der „Blücher“, „Queen Mary“ und „Szent Istvan“ sind allgegenwärtig. Die Medien bedienen sich ihrer ständig. Damit sind sie in einem gewissen Sinne ihrem historischen Entstehungszusammenhang entrückt. Die wenigen, immer gleichen Bilder suggerieren einen Reichtum an fotografischer Überlieferung, den es nie gegeben hat.

MARINE- BZW. SCHIFFSFOTOS AUS DER ZEIT VOR DEM ERSTEN WELTKRIEG Bis in den Ersten Weltkrieg hinein war das beste Werbemittel der Marine sie selbst. Fotos und Gemälde von Schiffen, Häfen, Werften und maritimen Anlagen waren spektakulär und vermittelten aus sich selbst heraus eine gewisse Sinnhaftigkeit.20 Um 1900 begannen Bilder, die deutsche Kriegsschiffe in ihrer Gesamtheit zeigen, sei es als Gemälde, sei es als Foto, in Mode zu kommen. Dies wurde natürlich befördert durch die deutsche Flottenpolitik und die geschickte Werbetätigkeit des Nachrichtenbüros des Reichsmarineamtes. Fotografen, die als Schiffsporträtisten über eine längere Zeit hin in Erscheinung traten, waren u. a. die beiden „Marinephotographen“ Arthur Renard21 und Carl Speck22 in Kiel. Für Wilhelmshaven wären etwa F. Finke und W. Krüger aus Rüstringen zu nennen. Mit Ausnahme von Renard gilt wohl für alle genannten Fotografen wie für die Branche der Marinefotografen überhaupt ein dringender Forschungsbedarf. Renard und Speck lieferten ständig fotografische Vorlagen für die regelmäßig und immer wieder neu aufgelegten maritimen Handbücher. Ihre Fotos fanden vor allem Verwendung in den illustrierten Blättern, die damals begannen, populär zu werden. Parallel zur Geschichte der Kaiserliche Marine fand ein Mittel zur Kommunikation Verwendung, das man in seiner Bedeutung kaum überschätzen kann. Um die Zeit herum, als Kaiser Wilhelm II. den Thron bestieg, wurde die Bildpostkarte 19 Vgl. eine britische graphische Darstellung vom Untergang der „Blücher“ auf einer Bildpostkarte, die eben keine derartige Dramatik erzeugen kann, bei Claude Morin, La Grande Guerre des images. La propganda par la carte postale 1914–1918, Turquant 2012, 149. 20 Vgl allgemein Wilhelm Deist, Flottenpolitik und Flottenpropaganda. Das Nachrichtenbureau des Reichsmarineamtes 1897–1914, Stuttgart 1976. 21 Vgl. Holger Behling, Kieler Stadt- und Marinebilder. 150 Jahre Foto-Atelier Renard, Neumünster 1993. Vgl. auch Ludwig Hoerner, Das Photographische Gewerbe in Deutschland. 1839–1914, Düsseldorf 1989, 236. 22 Vgl. z. B. Carl Speck, Album deutscher Kriegsschiffe. Nach photographischen Aufnahmen, Hamburg o. J. um 1905.

Zur Fotogeschichte des Seekrieges

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zum Massenmedium.23 Fotografien, Kitsch und Kunst konnten so schnell und billig enorm breit gestreut werden. In zahlreichen Postkartenserien wurden die Schiffe bekannt gemacht. Dieselben Fotografen, die das Material für die Marinebücher lieferten, legten auch eigene Serien von Schiffsporträts auf. Die neuen Schiffe der Marine bedurften der publizistischen Dokumentation.24 Die jährlich stattfindenden Flottenmanöver erheischten zudem eine regelmäßige Bildberichterstattung. Es bildete sich so etwas wie ein einheitlicher Stil in der Darstellung des schwimmenden Materials heraus. Linienschiffe, Große und Kleine Kreuzer, die man gemeinhin alle als „Panzerkreuzer“ ansprach, erscheinen tatsächlich eher als schwimmende Festungen denn als Fahrzeuge. Selbst wenn man die Stahlkolosse vorgeblich in voller Fahrt zeigt, bleibt immer der Eindruck einer tief ins Wasser tauchenden unbeweglichen Gravität. Dagegen sind Bilder von Torpedobooten in Regel voller Dynamik. Sie kämpfen gegen schwere See an, Brecher stürzen über sie ein. Der Bug kommt häufig aus schäumender See zum Vorschein. Unterseeboote passen nun nicht mehr in diese Konventionen. Sie werden einerseits als klassische Schiffsporträts dargestellt. Dies ergibt aufgrund der technischen Konstruktion der Boote, von denen ja nur der kleinste Teil im aufgetauchten Zustand auch wirklich sichtbar ist, keine sehr spannenden Bilder. Erst Gruppenaufnahmen von Booten vermittelten die Gefährlichkeit der neuen Waffe. Fotos in Illustrierten druckte man Schwarz-Weiß. Es gab nur erste Versuche der Reproduktion von Farbfotos. Postkarten wiederum wurden häufig mechanisch koloriert. Farbigkeit war die eigentliche Domäne der Künstler. Um Farbe ins Bild zu bringen, fertigte um 1900 Heinrich Graf nach fotografischen Vorlagen Gemälde von Schiffen der kaiserlichen Marine. Als farbenprächtige Chromlithografien im Großformat fanden sie weite Verbreitung. 25 Von einem Admiral, der in direkter Umgebung des Kaisers wirkte, gibt es hinsichtlich der in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg beginnenden Farbfotografie eine interessante Nachricht Admiral Müller erinnerte sich daran, dass Wilhelm II. „von der Buntphotographie“ sehr „eingenommen“ gewesen sei.26 Vielleicht hat es dann ja auch farbenfotografische Aufnahmen mit Marinemotiven gegeben? Der auch im Ersten Weltkrieg tätige

23 Vgl. Theo Beer/Arnold Kludas (Hgg.), Die Kaiserliche Marine auf alten Postkarten, Hildesheim 1983, 7. 24 Eduard Holzhauer (Hg.), Die Flotte. Das Volk in Waffen, Bd. 2. Mit rund hundertvierzig photographischen Aufnahmen, Dachau o. J. um 1912. Vgl. z. B. die Abbildungen der neuen Großkampfschiffe „Goeben“, „Kaiserin“, „Moltke“ und „Seydlitz“. 25 Vgl. Günter Lanitzki, Die Flotte des Kaisers. Kriegsschiffe unter deutscher Flagge um die Jahrhundertwende, Berlin 2001, 100 f. 26 Vgl. Walter Görlitz (Hg.), Der Kaiser ... Aufzeichnungen des Chefs des Marinekabinetts Admiral Georg Alexander von Müller über die Ära Wilhelms II, Göttingen 1965, 146.

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Winfried Mönch

Farbfotograf Hans Hildenbrand machte jedenfalls vor dem Krieg auch Farb- und Stereoaufnahmen vom Hamburger Hafen.27

FOTOS IM ERSTEN WELTKRIEG Stellenweise gab es in Deutschland eine regelrechte Fotobegeisterung. „Die Freude am Bilde“ sei „das charakteristische Zeichen dieses Krieges“, stellte ein ungenannter Herausgeber von Kriegserinnerungsbildern 1915 fest. „Der Soldat an der Front, der Nichtkämpfer daheim“ griffen zuerst nach den Illustrationen vom Kriegsschauplatz. „Das Bild“ sei „alles, der Text“ sei „fast zur Nebensächlichkeit herabgedrückt“. Beim „hohen Stande der heutigen photographischen Technik und dem stark entwickelten Verständnis für künstlerische Aufnahmen“ biete das Bild „einen Genuß für das Auge“.28 Doch bei aller Euphorie über die Möglichkeiten der Fotografie, blieb ihr öffentlicher Einsatz trotz ihrer Allgegenwärtigkeit seltsam beschränkt. Die populäre Bildberichterstattung, Flotten- bzw. Kriegspropaganda vor, im und selbst nach dem Ersten Weltkrieg vertraute hauptsächlich auf die Suggestion von Bildern in Form von Gemälden und Graphiken und weniger auf den Wert von Fotografien. Es waren vor allem die unzähligen graphischen Darstellungen der Marinemaler Claus Bergen, Hans Bohrdt und Willy Stöwer, die diese Funktion über Jahre hin, in Krieg und Frieden, erfüllen sollten. Amateurfotografen waren – zumindest an Land - während des Krieges allgegenwärtig. Bei den professionellen Fotografen mag man daran Zweifel haben. Die Kaiserliche Marine zog jedenfalls mit nur drei amtlich bestellten Fotografen in den Krieg.29 Für den propagandistischen Einsatz der Fotografie gab es kein Konzept. Man verwendete zwar 1914 und danach fleißig Fotos, aber letztlich machte man sich keine allzu großen Gedanken über Wirkung und Verwendung.30 Für eine wirkungsvolle, bildliche Darstellung des Krieges aus deutscher Sicht fehlte es schlicht an fotografisch genügendem Material. Erst sehr spät, nämlich Anfang 1917, ging man mit der Gründung des „Bild- und Film-Amtes“ (BUFA) daran, diesem Mangel abzuhelfen. In einem gewissen Sinne änderte sich auch die Art der veröffentlichten Fotografien während des Krieges nicht.31 Man verwandte Muster, die man aus der Schiffsdarstellung und der Manöverberichterstattung der Vor27 Vgl. allg. Winfried Mönch, Anmerkungen zu Hans Hildenbrand sen. (1870–1957), Farbfotograf aus Stuttgart, in: Photo Antiquaria Nr. 90/Feb/2009, 8–16. 28 P. R., 100 Erinnerungsbilder aus dem Weltkriege, Hamburg o. J. um 1915, Vorwort. Ein Kriegsjahr in Bildern. 29 Vgl. Albert Stoelezel/Waldemar Krah, Ehrenrangliste der Kaiserlich Deutschen Marine 1914–1918, Berlin 1930, 1590. 30 Vgl. Martin Creutz, Die Pressepolitik der kaiserlichen Regierung während des Ersten Weltkriegs. Die Exekutive, die Journalisten und der Teufelskreis der Berichterstattung, Frankfurt a. M. 1996, 166. 31 Vgl. z. B. Lothar Persius, Der Seekrieg. Die Seekämpfe der Flotte im Weltkriege, Mit rund 160 photographischen Aufnahmen, Dachau o. J. um 1915.

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kriegszeit kannte. „Die Woche“, die den Untertitel führte „moderne illustrierte Zeitschrift“ brachte 1903 ein Sonderheft heraus. „Krieg im Frieden“ hieß das Heft, das über die Flottenmanöver des Jahres berichtet.32 Für die meisten während des Ersten Weltkrieges publizierten Fotos ließe sich der Titel problemlos umkehren: „Frieden im Krieg“. Beispiele wären etwa Fotos von Freizeit oder von Sportfesten an Bord. Eine derartige Aufnahme, die 1903 bei Flottenmanövern entstand, ähnelt etwa einem, das 1918 für das neutrale schweizerische Publikum die Leistungen der deutschen Flotte im Weltkrieg illustrieren sollte.33 Schiffsbilder warben im Frieden als Illustrationen für einen wie auch immer gearteten militärischen Selbstzweck, den es erst im Krieg einzulösen galt. Da die großen Schiffe im Krieg kaum kämpften, mussten die gleichen Schiffsbilder im Verlaufe des Krieges dann immer mehr wie Illustrationen für Vergeblichkeit wirken. Der Sinn der Schiffe musste in den Augen der Zeitgenossen immer fragwürdiger erscheinen. Die privaten Postkartenlieferanten publizierten während des Krieges in gewohnter Weise weiter. Es ist allerdings unklar, ob die Karten, die Schiffe mit Gefechtsschäden der Skagerrakschlacht zeigen, unmittelbar nach der Schlacht oder später erschienen. Auf einer Postkarte des Großen Kreuzers „Derfflinger“ wird „W. Krüger, Wilhelmshaven“ genannt. Bei dem Luftbild des Schiffes ist es allein deshalb schon klar, dass es nur in Zusammenarbeit mit der Marine entstanden sein konnte. Das von Krüger ebenfalls vertriebene Foto vom brennenden Schlachtkreuzers „Seydlitz“ nach der Skagerrakschlacht ist offenbar von einem Torpedoboot aus aufgenommen worden.34 „F. Finke, Wilhelmshaven“ vertrieb gleichfalls Fotos, die aus der Skagerrakschlacht stammen. Ein Foto zeigt Schäden eines Granattreffers auf „Seydlitz“.

FOTOREPORTAGEN Man kann die Fotoreportage als eine Text-Bild-Kombination verstehen, bei der eine erzählende Fotostrecke zum wesentlichen, ja zum eigentlichen Bestandteil eines Berichts wird.35 Im Gegensatz etwa zu französischen Illustrierten, wie die schon genannte „l´ Illustration“ kamen deutsche Blätter während des Ersten Welt-

32 Vgl. z. B. Graf Ernst Reventlow (Text), Flottenmanöver. Krieg im Frieden, Teil II, Berlin 1903, mit Fotos u. a. von A. Renard, Kiel, und Fr. Kloppmann, Wilhelmshaven. 33 Ernst Bischoff, Die Leistungen der deutschen Flotte im Weltkrieg. Mit zahlreichen Bildern nach Originalaufnahmen, Zürich 1918, 82 „Sportfest auf einem Schlachtkreuzer“. 34 Vgl. Gerhard Koop/Klaus-Peter Schmolke, Die Großen Kreuzer. „Von der Tann“ bis „Hindenburg“, Bonn 1998, 84. 35 Vgl. allgemein Robert Lebeck/Bodo von Dewitz (Hgg.), Kiosk. Eine Geschichte der Fotoreportage, Göttingen 2001. Vgl. Beispiele für Pressefotografie aus dem Ersten Weltkrieg, 91– 108.

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krieges noch nicht so ganz klar mit diesem Format.36 Bild und Text standen häufig nur in einem mittelbaren Zusammenhang. Man griff dann immer wieder auf die Fotos zurück, die man auf Lager hatte. Renards Fotos tauchen so in fast allen illustrierten Berichten zum Thema Seekrieg meist als Schiffsporträts auf. Aus Anlass des Krieges erschienen zahlreiche Sammelwerke, die die Geschichte des Krieges parallel zu seinem Verlauf beschreiben wollten. Der Krieg sollte so gleichsam momentan vom Zeitgeschehen in die Zeitgeschichte überführt werden. In regelmäßigen Abständen erschienen einzelne Hefte, die man dann halbjährlich in Sammelbänden zusammenfasste. Viele derartige Chroniken mussten im Verlauf des Krieges dann wieder eingestellt werden, manche erschienen aber bis zum Schluss. Die bebilderten Werke sind in einem gewissen Sinne eine Kombination von Illustrierten und Zeitungen. Man warb mit dem Anspruch auf dauerhaften historischen Wert.37

Titelblatt eines zeitgeschichtlichen Sammelwerkes aus dem Ersten Weltkrieg. (WGM)

36 Vgl. allgemein Ulrich Keller, Der Weltkrieg der Bilder. Organisation, Zensur und Ästhetik der Bildreportage 1914–1918, in: Fotogeschichte Nr. 130/2013, 5–50. 37 Vgl. auch Anonym: Die Ereignisse zur See, in: Großer Bilderatlas des Weltkrieges. Zweiter Band mit 1850 Abbildungen, Bildnissen, Karten und Urkunden, München 1916, 241–288.

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Interessant ist dabei die Kombination von Wort und Bild, die einen heutigen Betrachter sehr fremd erscheinen. Text und Illustration sind nämlich nur mittelbar aufeinander bezogen. Im Text eines Berichtes über die Schlacht auf der Doggerbank sind etwa Fotos eines österreichischen Offiziers und der Transport eines österreichischen Belagerungsgeschützes abgedruckt. Eine Graphik mit einem Zeppelin, der über deutschen Schiffen schwebt und ein fotografisches Schiffsporträt der „Blücher“, das aus der Produktion von Renard stammt, vervollständigen den Bericht. Man zitierte einen englischen Matrosen, der berichtete, wie sich die „Mannschaft (...) schneidig bis zum letzten Augenblick“ gehalten habe. Die Deutschen hätten dann unmittelbar vor dem Sinken des Schiffes „ihre Mützen“ geschwenkt, „Hurra“ gerufen und seien dann „über Bord“ gesprungen.38 Das Foto der sinkenden „Blücher“ steht nun im scharfen Kontrast zum heroischen Text.

FOTOS VON U-BOOTEN UND FOTOS VOM U-BOOT AUS Im Frieden wollte man den Bau einer Schlachtflotte „verkaufen“, was gelang. Im Krieg erwies sich deren Nutzen dann als zumindest fragwürdig. Und so wurde der Bau – und vor allem der uneingeschränkte Einsatz von Unterseebooten – gegen erhebliche politische Widerstände – propagiert und schließlich durchgesetzt. In Hinblick auf die Werbewirkung waren beide Kampagnen also innenpolitisch erfolgreich, außenpolitisch fatal. Im Frieden erschien die deutsche Schlachtflotte als Bedrohung. Im Krieg wurden es die U-Boote dann tatsächlich. Ihr uneingeschränkter Einsatz brachte letztlich doch nur den Kriegseintritt der USA. Der UBootkrieg konnte – und musste – den endgültigen deutschen Sieg bringen. Das war das uneinlösbare Versprechen. Das U-Boot wuchs sich zum Mythos aus.39 Doch wie ließen sich Meilensteine auf dem „Weg zum Sieg“ versinnbildlichen? Versenkungserfolge von U-Booten wurden fotografiert und publiziert. Man fotografierte gerne torpedierte, gesprengte oder in Brand gesetzte Handelsschiffe.40 Abstrakte Tonnageziffern von Versenkungen waren für die Deutschen allein nicht allzu geeignet dafür, den Durchhaltewillen zu stärken oder Siegeshoffungen zu nähren. Der alliierte Krieg gegen die U-Boote konnte dagegen kaum Versenkungserfolge fotografisch festhalten. In einer britischen Darstellung zur Geschichte des U-Boot-Krieges im ersten Weltkrieg stellte man 1931 bedauernd fest, dass es nur ganz wenige Fotos gebe, die die Vernichtung deutscher U-Boote dokumen-

38 Das Seegefecht in der Nordsee, in: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Bd. 2, Stuttgart 1915, 90–91, Illustrationen 84/85, 86. 39 Vgl. allgemein Michael L. Hadley, Der Mythos der deutschen U-Bootwaffe, Hamburg 2001. 40 Vgl. z. B. U-Boot-Nummer, Kriegsfahrt mit einem U-Boot, Fotos von Korvettenkapitän Jürst, in: Berliner Ilustrirte Zeitung Nr. 12, 25. 3. 1917. Abgedruckt in: Lebeck/Dewitz (Hgg.), Kiosk, 101.

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tiert hätten. Beispiele seien etwa das Ende von U 8, U 58 und UC 39.41 In der Tat sollten dann während und nach dem Ersten Weltkrieg Darstellungen von Marinemalern und nicht Fotografen das Bild der U-Boote und das der U-Boot-Fahrer prägen.42 In einem gewissen Sinne gab es Überschneidungen zwischen privater Fotografie und publizistischer Auswertung, stellten doch U-Kommandanten ihre eigenen Fotos zur Veröffentlichung zur Verfügung.

PRIVATE FOTOGRAFIE Im Blickpunkt des privaten Gebrauchs der Fotografie steht für den Amateur die persönliche Erinnerung. Auf deutschen Schiffen gab es aus Furcht vor Spionage ein Fotografierverbot. Das heißt aber nicht, dass man an Bord nicht auch fotografiert hätte. Im Wehrgeschichtlichen Museum in Rastatt ist etwa ein Fotoalbum erhalten geblieben, das während des Krieges auf der „Moltke“ entstanden ist.43 Einen halbprivaten Gebrauch von Fotografie stellen die Kriegserinnerungsbildbände bestimmter Einheiten dar. Für diese Alben stellten die Soldaten ihre Fotos zur Verfügung, die dann in mehr oder weniger umfangreichen Broschüren oder Büchern gedruckt wurden. Abnehmer sollten einerseits die Soldaten selbst sein, andererseits war auch ein Verkauf in der Heimat bisweilen sogar im Rahmen eines Verlages möglich. Diese Werke ähneln in einem gewissen Sinne den heutigen Fotobüchern. In der Marine scheint es derartige gedruckte Alben von Schiffsbesatzungen nicht gegeben zu haben. Die Marineinfanterie brachte ein großes Werk heraus, das sich im Stil nicht von denen des Heeres unterschied.44 Ein schmales Erinnerungsalbum lässt sich für eine Marineeinheit auf der Festung Helgoland nachweisen.45 In Illustrierten, Zeitgeschichten und Erinnerungsalben sind Berichte wie Fotos chronologisch verzeichnet und noch nicht oder nur vorläufig historisch gewichtet. Das was später als historisch bedeutsam erscheint, verschwindet hier hinter einem Wust von Einzelheiten, die zu ihrer Zeit einen gewissen nachrichtenwert gehabt haben mögen, später aber für die Darstellung des eigentlichen Kriegsverlaufs als zwar interessant aber irrelevant gelten müssen. Beispiele hierfür wären etwa die zahllosen Berichte über diese oder jene ungenannte Einheit an diesen oder jenen ungenannten Orten im Westen, Osten, Südosten, im Orient oder auf See usw.

41 Vgl. Richard H. Gibson/Maurice Pendergast, The German Submarine War. 1914–1918, London 1931, Reprint 2003, Nach 32, 226. 42 Vgl. z. B. Willy Stöwer, Deutsche U-Boot-Taten in Bild und Wort. Hrsg. v. d. Reichsmarinestiftung zu Gunsten ihrer Friedenswohlfahrtszwecke, Berlin 1916. 43 Vgl. z. B. M.S „Moltke“, Fotoalbum, Wehrgeschichtliches Museum Rastatt, Inv. Nr. 016911. 44 Karl Koene/Victor Frins, Kriegs-Album des Marinekorps Flandern. 1914–1917, o. O., 1917. 45 Helgoland, MATR. Artillerie-Abt. V. o. O. o. J. um 1916. Wehrgeschichtliches Museum Rastatt, Bibliothek.

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ZWISCHENKRIEGSZEIT – FOTOBÜCHER DER WEIMARER REPUBLIK 1920 erschien in London ein prächtiger Band mit Erlebnisberichten englischer Teilnehmer der Skagerrakschlacht unter dem Titel „The Fighting at Jutland“. Wie es scheint, hat man hier erstmalig das Foto von der Explosion der „Queen Mary“ veröffentlicht. Reproduktionstechnisch verwandte man dabei einen Edeldruck nämlich eine Fotogravüre. Den künstlerischen Anspruch, der mit dem Verfahren einherging, betonte man dadurch, dass man das Foto zusammengesetzt habe. Es wurde also ganz im Sinne einer Fotogravüre auf Effekt hin bearbeitet.46 Davon scheinen dann die deutschen Kriegsbücher, die das Bild später brachten, abgekupfert zu haben. Es entbehrt natürlich nicht einer gewissen Ironie, dass Fotos deutscher Waffenwirkung dann aus britischer Quelle stammten. Eine Fotoentwicklung der besonderen Art durchlief hier das von W. Krüger, Rüstringen, und F. Finke, Wilhelmshaven vertriebene Foto der in Rauchschwaden eingehüllten „Seydlitz“.47 Es wurde als Bild britischer Waffenwirkung als Fotogravüre gestaltet.48 Das deutsche Gegenstück der britischen Sammlung brachte dann 1938 der Marineschriftsteller Fritz-Otto Busch als „Volksbuch vom Skagerrak“ heraus. Er bebilderte sein Werk mit denselben Fotos, wie man sie schon im englischen Vorläufer verwendet hatte. Quelle war die Kriegsmarinesammlung des Instituts für Meereskunde, die ihrerseits auf das Imperial War Museum verwies.49 Beide Bücher, die am Beginn und am Ende der Zwischenkriegszeit stehen, sind Sammlungen von Texten. Die Bilder sind Illustrationen. Es gab in der Zeit aber auch den Anspruch, den Krieg rein fotografisch darstellen zu wollen und vor allem auch zu können. In den 1920/30er Jahren entstanden die großen Fotobücher über den Ersten Weltkrieg. Sie fallen in die Zeit eines kulturellen Klimas in Deutschland, das der Fotografie eine bis dahin nie da gewesene Bedeutung zuschrieb. Die Zwischenkriegszeit hat man neuerdings sogar als „Kamera verrückt“ bezeichnet.50 Selbst der großen vom Reichsarchiv herausgegebenen Reihe mit der Darstellung der Operationen zu Lande „Der Weltkrieg 1914–1918“ wurde eine „Bildermappe“ mit Fotos beigegeben. Die amtliche deutsche Darstellung des Seekrieges verzichtete 46 Harold William Fawcett/Geoffry Hooper/Winsmore William (Hgg.), The Fighting at Jutland. The personal experiences of sixty officers and men of the British fleet. With 45 photographs and numerous plans, illustrations. Illustrated by a naval officer, Glasgow o. J. um 1921, Reprint 2001, Vor. 35. 47 Vgl. ein ähnliches oder gleiches Foto bei Friedrich Ruge: M.S „Seydlitz“. Grosser Kreuzer 1913–1919, in: John Wingate, Warships in Profile. Vol. 2, Windsor 1973, 25–48, hier 35. 48 Fawcett/Hooper (Hgg.), The Fighting at Jutland, nach 184. 49 Fritz Otto Busch, Das Volksbuch vom Skagerrak. Augenzeugenberichte deutscher und englischer Mitkämpfer, Schutzumschlag und Skizzen Walter Zeeden, Berlin 1938, VIII. „Queen Mary“ vor 81. Vgl. auch Julian Thompson, The Imperial War Museum book of the war at sea. 1914–1918, London 2005. Hier werden auch die Zugangsnummern verschiedener bekannter Fotos genannt, so etwa nach 130 das Foto der sinkenden „Blücher“ (Q 22687). 50 Susie Linfield, The cruel radiance. Photography and political violence, Chicago 2012, 67 „camera-crazy“.

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dagegen auf ein solches Unterfangen. Der Anspruch der Fotobücher war bisweilen anmaßend. Im Geleitwort etwa zu „Der Weltkrieg im Bild“ behauptete Reichsarchivrat und Major a. D. George Soldan hier „den wirklichen Krieg“ zeigen zu können.51 Fotos von leeren Schlachtfeldern, zerstörten Landschaften und modernstem Kriegsgerät gerieten zum Sinnbild des Ersten Weltkrieges.52 Die hier veröffentlichten Bilder sollten sich ausdrücklich von den während des Krieges veröffentlichten Fotos abheben. Sie sollten gleichsam eine höhere Form von Wirklichkeit vermitteln. Aus stramm konservativer bis aggressiv nationalistischer Sicht heraus versuchte man, ein „Fronterlebnis“ zu visualisieren. Die Marine hatte allerdings ein Problem. Es gab nur ganz wenige fotografische Dokumente aus der Geschichte des Seekrieges, die für diesen Zweck geeignet schienen. Abbildungen, wie man sie aus dem Krieg her kannte, auf denen nur Schiffe oder Szenen vom Bordleben zu sehen waren, wurden strikt abgelehnt. Darauf war ja nur das genaue Gegenteil von „Front“ zu sehen, nämlich die verachtete „Etappe“. Und diese geriet in der Marine ja 1918 zur bröckelnden und verräterischen „Heimatfront“. Die Dolchstoß-Legende wurde also paradoxerweise visuell dadurch befördert, dass man bestimmte Fotoinhalte, die den Zeitgenossen damals noch präsent waren, eben nicht zeigte! Graphiken und Gemälde verboten sich als Stilmittel einer vergangenen und überwunden Zeit von selbst. Die Marine kam so in derartigen Büchern kaum vor. Man konnte zwar ein „Bilderwerk“ zur Reihe „Die unsterbliche Landschaft, Fronten des Weltkrieges“ zum Thema Marine beisteuern, allein aber der Reihentitel zeigt schon, dass das so nicht richtig passt. 53 Anders als die durch den Krieg umgepflügten Landschaften blieb die See ja unverändert. Autoren der Rechten und Vordenker der nationalsozialistischen Ideologie hatten so in der Regel ihre Schwierigkeiten im Umgang mit Themen des Seekrieges, sei es in Wort oder Bild. Ausnahme war Franz Schauwecker, der in seinem Fotobuch „So war der Krieg“ 1928 davon sprach, die „Seeschlacht“ sei „Krieg in der Steigerung“.54

VON BAUMBACHS „RUHMESTAGE“ Doch nach der großen Zahl von fotografischen Bildbänden, in denen „Landkrieger“ ihre Sicht auf den Ersten Weltkrieg zeigten, ging schließlich ein aktiver Marineoffizier 1933 daran, die „Ruhmestage der deutschen Marine“ zu bebildern. Autor des Buches war Kapitänleutnant Norbert von Baumbach. Er war Jahrgang 51 Vgl. z. B. Der Weltkrieg im Bild. Originalaufnahmen des Kriegs-, Bild- und Filmamtes aus der modernen Materialschlacht, Geleitwort George Soldan, Berlin 1928. 52 Vgl. Christine Brocks, Die bunte Welt des Krieges. Bildpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg 1914–1918, Essen 2008, 11. 53 Vgl. Reinhold Gadow, Der Seekrieg, Leipzig 1935. 54 Franz Schauwecker, So war der Krieg. 230 Kampfaufnahmen aus der Front, Berlin 1928, 106.

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1900. Er starb 1977.55 Baumbach war historisch interessiert. 1929 hatte er an einem Wettbewerb innerhalb der Reichswehr teilgenommen. Dabei ging es um die Charakterisierung bedeutender Persönlichkeiten. Baumbach schrieb über den römischen Feldherrn Agrippa und seine Kriege zur See.56 Die „Ruhmestage der deutschen Marine“ waren eine Text-/Bildkombination mit populärem Anspruch. Baumbach versuchte, Erzählung und Fotografie direkt aufeinender zu beziehen, wenngleich auch Text und Bild in getrennten Teilen vorliegen. Die Gliederung folgt in etwa dem Schema, wie man es sich in den 1920er Jahren für den Verlauf des Seekrieges konstruiert hatte. Es gibt Kapitel zur Geschichte einzelner Formationen und Schiffe, wie etwa dem Kreuzergeschwader, der Mittelmeerdivision und den Auslandskreuzern. Die Skagerrakschlacht steht für sich und für den Krieg in der Nordsee. Andere Orte des Krieges werden genannt: Helgoland, Flandern, Zeebrügge, Ostende, Ostsee, Ösel, Dardanellen, Tsingtau und als Schlusspunkt Scapa Flow. Ergänzt wird dies durch Kapitel über einzelne Waffen des Seekrieges wie Torpedos, Torpedoboote oder Großkampfschiffe. Kriegsarten werden anhand von Minen- Kaper- und U-Boot-Krieg vorgestellt. Das letzte Foto zeigt das Marineehrenmal. Im Gegensatz zum zwei Jahre später erschienen Werk von Eberhard von Mantey vermeidet Baumbach jedwede nostalgische Anmutung im Sinne von „So war die alte Kriegsmarine.“57 Und der Begriff „Kriegsmarine“ im Titel von Manteys Buch bedeutete 1935 die Vereinnahmung von Geschichte und Tradition der Kaiserlichen Marine für die neue, die Marine des nationalsozialistischen Staates. Angestrebt wurde in den Worten von Jörg Hillmann eine „bruchlose Marinegeschichtsüberlieferung.“58 Baumbach betont ausdrücklich, dass es sich bei den Fotos „ausnahmslos um Originalaufnahmen“ handle, „deren Echtheit nachgeprüft“ worden sei. Die Mehrzahl der Bilder stammte aus dem „Museum für Meereskunde“ in Berlin. Baumbach konstatierte und bedauerte im Vorwort zu seinem Buch die mangelnde fotografische Überlieferung des Krieges zur See, „der trotz der Fülle seiner Ereignisse“ im Ersten Weltkrieg nur „eine verschwindend geringe Zahl historisch interessanter Photographien hinterlassen“ habe. Er führte dies „auf die Eigenarten des modernen Seegefechts“ zurück. Die Entfernungen seien so riesig gewesen, dass die Technik der Fotoapparate dem nicht gewachsen gewesen sei.59 Lediglich der U-Boot-Krieg und der Krieg der Hilfskreuzer hätten brauchbare Fotos, ja sogar gutes Filmmaterial ermöglicht.

55 Vgl. Norbert von Baumbach, Ruhmestage der deutschen Marine. Bilddokumente des Seekrieges, Hamburg 1933. 56 Vgl. Norbert von Baumbach, Agrippa, in: Friedrich von Cochenhausen (Hg.), Führertum. 26 Lebensbilder von Feldherrn aller Zeiten, Berlin 1941, 63–75. 57 Vgl. Eberhard von Mantey (Hg.), So war die alte Kriegsmarine. Mit 184 Aufnahmen aus der Bildsammlung des Marinemuseums, Berlin 1935. 58 Jörg Hillmann, Die Seeschlacht vor dem Skagerrak in der deutschen Erinnerung, in: Epkenhans/Hillmann/Nägler (Hgg.), Skagerrakschlacht, 309–350, hier 313. 59 Baumbach, Ruhmestage, 3f.

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Zu verweisen wäre in diesem Zusammenhang auf Filme, die während des Einsatzes des Hilfskreuzers „Möwe“ entstanden sind.60 Die historische Einleitung erinnert im Stil an die wilhelminischen Flottenbücher mit ihrem Pathos der „Vorgeschichte deutscher Seegeltung“. Es ist interessant und außergewöhnlich, wie Baumbach nun stellenweise die verschiedenen Bilder kombiniert. Er setzt nämlich deutsche, wie die alliierte Perspektive in eins. Dies ist in vergleichbaren Publikationen so nicht der Fall. Der Seekrieg erscheint den Seeleuten, Freund wie Feind, Sieger wie Besiegtem gleich. In den Bildern vermitteln sich vor allem menschliche Tragödien. Das Foto von der Explosionswolke der „Queen Mary“ erinnert an ein ähnliches Foto, das die Vernichtung des deutschen Kreuzers „Prinz Adalbert“61 zeigt, der nach Torpedierung durch ein englisches U-Boot in die Luft flog. „Totalverlust“ heißt hier in beiden Fällen augenblicklicher, kollektiver Tod. Von den hunderten von Besatzungsmitgliedern überlebte kaum einer. Das Foto vom Kentern der „Blücher“ wird mit einem ähnlichen Foto vom Untergang des französischen Linienschiffes „Gaulois“62 gebracht. Schiffsuntergang heißt hier, im Sinne des Zeitschriftenartikels von „l´Illustration“: „Rette sich wer kann!“ Bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 war Baumbach übrigens Marineattache in Moskau. Nachrichtenbeschaffung war da sein Hauptaufgabenfeld. Es wird berichtet, dass er in dieser Funktion – wohl eher ungewöhnlich –, nie eine Kamera mit sich geführt habe!63 So gab es dann auch keine Fotos für die deutsche Bildauswertung sowjetischer Schiffe.64

AUSBLICK AUF DEN ZWEITEN WELTKRIEG Das Foto vom Untergang der „Blücher“ war während des Ersten Weltkrieges das britische und damit das alliierte Propagandabild des Seekrieges schlechthin. Bis dahin ist nie ein Seesieg bzw. eine feindliche Niederlage einem unbeteiligten Beobachter spektakulärer gezeigt worden. Man hätte nun meinen können, dass man

60 Vgl. z. B. Hans Brennert (Text)/Friedrich Wolf (Fotos), Graf Dohna und seine „Möwe“. 60 Bilder von der 2. „Möwe“-Fahrt, nach Filmaufnahmen von Kapitänleutnant Wolf, I. Offizier M.H. „Möwe“, Berlin 1917. Vgl. auch Oppelt, Film und Propaganda, 286–288. 61 Zur Schiffsbiographie vgl. Koop/Schmolke, Die Großen Kreuzer „Kaiserin Augusta“ bis „Blücher“, 66–68. 62 Vgl. allgemein Philippe Caresse, The Battleship „Gaulois“, in: John Jordan (Hg.), Warship 2012, London 2012, 113–135. Vgl. 134 mit dem Foto vom Untergang der „Gaulois“, das die Zeitschrift l´Illustration veröffentlicht hatte. 63 Vgl. David Kahn, Hitler’s Spies, New York 1978, 76. 64 Baumbach habe dabei so fatal falsche Lagebeurteilungen des sowjetischen Rüstungspotentials geliefert, dass ein ehemaliger bundesrepublikanischer Verfassungsschützer daraus schon den Schluss gezogen hatte, dies könne kein Zufall gewesen sein. Vgl. Helmut Roewer, Die Rote Kapelle und andere Geheimdienstmythen. Spionage zwischen Deutschland und Russland im Zweiten Weltkrieg, Graz 2010, 34–36, 267, hier 35.

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in einem zukünftigen Krieg geneigt wäre, ähnliche Ereignisse gleich zu fotografieren. Doch dies traf zumindest in einem bemerkenswerten Falle nicht zu. Fehlende offizielle Fotos vom Untergang eines Schiffes sollten in Großbritannien während des Zweiten Weltkrieges zum Thema einer Pressekonferenz werden. Reporter fragten, warum es keine Bilder vom Endkampf des deutschen Schlachtschiffes „Bismarck“ gebe. Die Antwort des Pressesprechers lautete, es ziemt sich für einen Engländer, für einen Gentleman, nicht, Schnappschüsse vom Untergang eines so schönen Schiffes zu machen, selbst wenn es ein feindliches ist.65 Von Anbeginn der Fotografie bis heute gibt es für einen jeden Fotografen das ethische Dilemma, Soll man aus Respekt vor dem Leiden und Sterben anderer nicht, oder gerade deshalb fotografieren?

65 Cynthia Fansler Behrman, Victorian Myth of the Sea, Athens/Princeton 1977, 155.

HUNNENANGST Über die Furcht vor einer deutschen Invasion in Großbritannien am Vorabend des Ersten Weltkriegs Jürgen Elvert

Bekanntlich dient Geschichte nicht nur als Maßstab für die Erzählung zurückliegender Ereignisse, sondern wird gerne auch als Referenzgröße für Zukunftsprognosen genutzt, kurioserweise häufig in Verbindung mit dem Hinweis, dass sich Geschichte nicht wiederhole. Dahinter steht freilich oft ein unausgesprochenes „aber“. Das hat beispielsweise das russische Vorgehen auf der Krim und in der Ukraine gezeigt. Vielfach wurde in den Medien im Zusammenhang mit der von Wladimir Putin angeordneten Annektion der Krim auf das vermeintlich „magische Datum“ 1914 (weil es sich so gut mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verbinden ließ) und damit auf das Gefahrenpotential verwiesen, das eine Eskalation der Ereignisse in sich bergen könnte. Dabei zeigt ein nüchterner Vergleich der Rahmenbedingungen und Grundstimmungen von 1914 und 2014 deutlich deren Unvergleichbarkeit, eben weil der Ausbruch des Ersten Weltkrieges bereits 100 Jahre zurückliegt. Seither hat Europa, oder wenigstens ein großer Teil der alten Welt, eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass man aus der Geschichte lernen kann, wenn man denn will. 1914 war ein Krieg vorstellbar, heute erscheint er unvorstellbar – womit freilich nicht gesagt sei, dass ein Krieg in Europa gänzlich ausgeschlossen werden kann. Eine solche Feststellung wäre grob fahrlässig und würde uns gewissermaßen aus der Pflicht nehmen, friedenswahrend zu handeln. Denn nach wie vor gilt, was Immanuel Kant schon 1795 feststellte: Der Frieden ist kein natürlicher Zustand zwischen den Menschen. Er muss gestiftet werden. Freilich denke ich, dass die Unvorstellbarkeit des Krieges durchaus so etwas wie ein friedensstiftendes Element in sich birgt, indem nämlich die Friedenswahrung, oder vielleicht besser „Kriegsvermeidung“ jedenfalls in Europa weiterhin das Maß aller Dinge ist. Das aber sollte uns nicht dazu verleiten, aktive Friedensstiftung und –sicherung als überflüssig zu betrachten, ganz im Gegenteil: In Zeiten neu erwachender Rückbesinnung auf die vermeintlichen Vorzüge des Nationalstaats ist die Stiftung zwischenstaatlichen Friedens nicht nur in Europa so aktuell wie lange nicht mehr. 1914 unterscheidet sich also deutlich von 2014. Seinerzeit herrschte in Europa eine gänzlich andere Grundstimmung als heute, genauer gesagt, es herrschten ganz andere Grundstimmungen. Diese waren abhängig von ihrem jeweiligen Umfeld und schwankten zwischen Aufbruch und Zukunftsskepsis. Während man im Hinblick auf das deutsche Kaiserreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs von einer Auf-

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bruchsstimmung sprechen kann, die ihren Ausdruck beispielsweise in Überlegungen fand, die sich mit Zukunftsfragen befassten – und dazu gab es viele Entwürfe, die ein weites Themenspektrum umfassten –, verhielt es sich im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland am Vorabend des Ersten Weltkriegs völlig anders. Sicher – auch auf den Britischen Inseln findet man im Umfeld der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in einschlägigen Zeitungen und Zeitschriften Reflexionen darüber, welche technischen Neuerungen das 20. Jahrhundert wohl bringen könnte. Auch hier „boomten“ Prophezeiungen über wundersame Geräte, von denen man hoffte, dass sie in den kommenden 100 Jahren das Leben in Großbritannien zu einem wahren Paradies auf Erden wandeln würden. Aber fand man derlei naive Skizzen nicht überall dort auf der Welt, wo sich Menschen in das Korsett des gregorianischen Kalenders pressen ließen? Handelte es sich dabei nicht um ein der Tradition der abendländischen Zeitrechnung und der Fortschrittsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts geschuldetes globales Phänomen? Die Suche nach tiefergründigen Zukunftsüberlegungen beispielsweise in der Literatur zeitigt in Bezug auf die Britischen Inseln ein gänzlich anderes Resultat, nämlich Fehlanzeige. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Um 1900 hatte das Vereinigte Königreich „seine Moderne“ bereits hinter sich. Die großen Auseinandersetzungen mit der Problematik der Gegenwart und darauf aufbauenden Entwürfen für die Zukunft – entweder in Form von düsteren Prognosen (man denke an H. G. Wells Time Machine) oder sozialistischen Idealgesellschaften (z. B. William Morris News from Nowhere) – waren bereits erschienen. Auch die Frage nach der Gleichberechtigung der Frau hatte die britische Öffentlichkeit schon seit längerem bewegt, denn in The Heavenly Twins hatte sich beispielsweise Sarah Grand schon Anfang der 1890er Jahre publikumswirksam mit Aspekten der Chancenungleichheit und sexueller Selbstverwirklichung vor dem Spiegel der spätviktorianischen Gesellschaft beschäftigt. Was nach 1900 noch kommen sollte, waren größtenteils fiktionale Überlegungen darüber, welche Faktoren die britische Vormachtstellung im europäischen und globalen Rahmen bedrohen könnten und wie man darauf angemessen reagieren sollte. In diesem Zusammenhang sei mit Erskine Childers Roman Riddle of the Sands, (deutsch: Rätsel der Sandbank) erschienen 1903, ein erstes typisches Beispiel genannt, weil es sich mit dem Plan einer Invasion Großbritanniens durch deutsche Truppen befasst.1 Childers hatte die flachen Gewässer und Küstenregionen von Essex als Zielgebiet für eine deutsche Landungsoperation ausgemacht und sein Szenario so realistisch gestaltet, dass es große öffentliche Wirkung erzielte, die auch in Regierungskreisen wahrgenommen wurde. Insbesondere Abgeordnete der Konservativen aus an der britischen Ostküste gelegenen Grafschaften setzten sich unter dem Eindruck des Childer’schen Werkes für eine effektivere geheimdienstliche Überwachung dieses Gebietes ein und forderten die Bereitstellung von Mitteln zum

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Ausbau der militärischen Befestigung dortselbst. William Lord Selborne, der damalige First Sea Lord der Admiralty, gab daraufhin eine Studie in Auftrag, in der Childers‘ Szenario unter Machbarkeitsgesichtspunkten analysiert wurde. Das Ergebnis war eindeutig: Der Roman sei aus literarischer Sicht ausgezeichnet, aus militärischer Sicht jedoch völliger Unsinn.2 Insofern darf der Wahrheitsgehalt der Winston Churchill zugeschriebenen Anekdote, die Royal Navy habe unter dem Druck der von Childers geprägten öffentlichen Furcht vor einer deutschen Invasion Flottenbasen in Invergordon, am Firth of Forth und in Scapa Flow eingerichtet, bezweifelt werden. Und dass die deutsche Marineführung aus Sorge vor einem britischen Präventivangriff tatsächlich für den Ausbau der Küstenfunkstation Norddeich Radio vorgesehenes Baumaterial entfernen ließ, damit dies nicht von möglichen britischen Invasoren als Deckung für einen angenommenen Angriff auf die Station genutzt werden konnte, darf vermutlich ebenfalls in den Bereich der Legende verwiesen werden. Dennoch: Childers konnte unter anderem auch deswegen so ein plastisches und offensichtlich wirksames Szenario entwerfen, weil er um die Jahrhundertwende selber die ostfriesische Inselwelt besegelt, das deutsche Wattenmeer kartiert und seine Ergebnisse der Admiralität mitgeteilt hatte. Überdies diente sein Roman zwei britischen Marineoffizieren als Vorbild für eigene Segel-Erkundungsfahrten in norddeutschen Gewässern im Sommer 1910. Beide wurden dabei allerdings festgenommen und zu vier Jahren Festungshaft verurteilt, von denen sie freilich nur zweieinhalb Jahre verbüßten, weil der Kaiser sie dann persönlich begnadigte. Childers Buch gilt neben Kiplings Kim als der Prototyp des modernen Spionageromans. Offensichtlich hatte Childers seine Vorüberlegungen zum Buch unter dem Eindruck der deutschen Flottenrüstung geschrieben, auch wenn seine Schlussfolgerungen, die von einer geplanten Invasion Großbritanniens ausgingen, mit der Flottenstrategie Alfred von Tirpitz‘ nicht vereinbar waren. Denn bekanntlich war es Tirpitz nicht um den Bau einer Invasionsflotte gegangen, sondern um eine Hochseeflotte, die gegen die Royal Navy in einer Seeschlacht bestehen sollte. So gesehen, spiegelt sich im Rätsel der Sandbank auch die Irrationalität, mit der die britische Öffentlichkeit und Teile der britischen politischen Elite die Geschehnisse auf der anderen Seite der Nordsee verfolgten. Childers hatte mithin ein Thema aufgegriffen, das einerseits von unmittelbarer Relevanz für die britische Gesellschaft und Politik war, andererseits seine Dynamik nur deshalb in vollem Umfang entfalten konnte, weil in Großbritannien, aber auch im Kaiserreich das Wissen um die Spezifika des Tirpitz’schen Rüstungsprogramms offensichtlich sehr diffus war. Damit freilich war Spekulationen Tür und Tor geöffnet und Raum für Horrorszenarien geschaffen, die in der britischen Öffentlichkeit auf fruchtbaren Boden fielen. Bevor anhand weiterer Beispiele darauf näher eingegangen wird, sei zunächst versucht, die Grundstimmung auf den Britischen Inseln am Vorabend des Ersten Weltkriegs etwas genauer herauszuarbeiten.

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Thomas Boghardt, Spies of the Kaiser. German Covert Operations in Great Britain during the First World War Era, Houndmills, Basingstoke, Hampshire 2004, 23.

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DER BRITISCH-IMPERIALE INDIAN SUMMER UM 1900 Das 19. Jahrhundert hatte im britischen Weltreich länger gedauert als anderswo, es endete erst am Abend des 22. Januar 1901. An diesem Tag war auf ihrem Landsitz Osborne House bei Cowes Victoria, Königin von Großbritannien und Irland, Kaiserin von Indien und Oberhaupt der übrigen Territorien des britischen Weltreichs verstorben und mit ihr die Namensgeberin einer sieben Jahrzehnte3 umfassenden Epoche, deren Eckdaten den Aufstieg Großbritannien zur führenden Weltmacht der Zeit markieren. Der Berichterstatter der Londoner Times merkte zum Tode der Königin an, dass die meisten Briten bei Erhalt der Todesnachricht noch gar nicht absehen konnten, was das eigentlich für sie bedeutete. Victorias Regentschaft habe für sie bislang einen nur mit einem Naturgesetz vergleichbaren festen Bestandteil ihres Lebens dargestellt.4 Und dieses „Naturgesetz“ meinte es gut mit ihnen: Der britische Lebensstandard hatte am Anfang des 20. Jahrhunderts eine auch im internationalen Vergleich eindrucksvolle Höhe erreicht, die britische Industrie galt als führend in der Welt und das britische politische System als vorbildlich. Als größte Seestreitkraft der Welt schützte die Royal Navy die britischen imperialen Interessen in Übersee ebenso wie die lebenswichtigen Seehandelsverbindungen zwischen dem Mutterland, den anderen Reichsteilen und dem Rest der Welt. Seit der Abschaffung der Getreidezölle im Jahre 1846 hatte sich im innerimperialen Handel das Prinzip des Freihandels durchgesetzt. Das führte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem kontinuierlichen Rückgang der Preise für Grundnahrungsmittel, insbesondere für Getreideprodukte.5 Um 1910 betrug das britische Außenhandelsvolumen für Im- und Exporte das Sechsfache der entsprechenden Zahlen von 1850, unter Berücksichtigung der gleichzeitig gestiegenen Bevölkerungszahl ist immer noch eine Verdreifachung festzustellen. Unter den Exportgütern dominierten Textilprodukte mit 25% Anteil am Gesamtexport neben Produkten für den Eisenbahnbau und Kohle mit jeweils 10%. Mit einem Anteil von ca. 35% am gesamten Welthandelsvolumen war das vereinigte Königreich die weltweit führende Handelsnation der Zeit. Das Zentrum des internationalen Finanzwesens lag in London, wo zwar der Goldstandard als Grundlage des allgemeinen Geschäftsverkehrs diente, das Pfund Sterling gemeinhin aber als ebenso sicher galt.6 Das Vereinigte Königreich von

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Auch wenn Victoria erst 1837 gekrönt wurde und ihre Regentschaft somit „nur“ knapp 64 Jahre umfasste, wird der Beginn der viktorianischen Epoche üblicherweise auf den Zeitpunkt der Verabschiedung des ersten Reformgesetzes im Jahre 1832 gelegt. Dieses Reformgesetz sah eine wesentliche Veränderung und Erweiterung des Wahlrechts zugunsten der städtischen Mittelschichten vor und bereitete damit der Modernisierung des britischen politischen Systems den Weg, die sich primär auf die Einführung des Massenwahlrechts (im Zuge weiterer Reformen 1867 und 1884) stützte. „Death of the Queen. The Last Hours at Osborne“, in: The Times, 23. Januar 1901. Zwischen 1881 und 1911 stieg beispielsweise die Einwohnerzahl von England und Wales von 26 auf 36 Millionen. Dazu: Peter Clarke, Hope and Glory. Britain 1900–1990, Harmondsworth 1996, 8. Dazu: ebd., 10ff.

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Großbritannien und Irland stellte um 1900 somit eine Nation von dem Freihandel verpflichteten Kaufleuten dar, die strategisch günstig inmitten eines weltweiten Handelsnetzes lag, in dem jedes verhandelte Produkt den britischen Wohlstand mehrte. Die darauf aufbauende Macht der „Freien Menschen“, die in A. C. Bensons edwardianischem Panegyrikus „Land of Hope and Glory“ nach der anlässlich der Krönung Edwards VII. von Edward Elgar komponierten Melodie besungen wurde, ruhte somit auf drei miteinander verbundenen und sich gegenseitig stützenden Säulen: der Royal Navy, dem Empire und dem Goldstandard.7 Jede Beschädigung einer dieser Säulen stellte aber zwangsläufig eine Gefährdung der britischen Weltmachtposition insgesamt dar. Das konnte auch aufmerksamen Zeitgenossen nicht verborgen bleiben, zumal sich gerade in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Anzeichen für eine Abflachung der Erfolgskurve gemehrt hatten. Schon in der sogenannten „großen Depression“ der 1880er Jahre war nach langen Jahren ungebrochenen Wirtschaftswachstums die Krisenanfälligkeit auch der britischen Nationalökonomie deutlich geworden, wenn auch nur im Spiegel sinkender Preise und Profite. Konkurrierende Mächte, besonders die USA und das Deutsche Reich, forderten zudem die globalen Führungsrolle des United Kingdom immer öfter heraus. Mit den beiden Flottengesetzen von 1898 und 1900 zielten Kaiser Wilhelm II. und Admiral Tirpitz überdies auf die dritte Säule, wenn sie mit ihrem eigenen Flottenkonzept die globale maritime Dominanz der Royal Navy in Frage stellten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts also wurde die britische Politik mit solchen Herausforderungen in einer Zeit konfrontiert, die von einem deutlichen Nachlassen des imperialen Expansionsschwunges gekennzeichnet war. Ganz im Gegensatz zu den durchaus lukrativen Gebietsgewinnen der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hatten sich die kolonialen Erwerbungen der beiden letzten Jahrzehnte vornehmlich in Afrika weitgehend als defizitär herausgestellt. Mit den Burenkriegen der Jahrhundertwende wurde die britische Machtposition im strategisch wie ökonomisch so bedeutsamen Südafrika sogar ernsthaft hinterfragt. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Benson’sche Libretto zu Elgars Musik aus zwei verschiedenen Blickwinkeln interpretieren. Konzipiert war es zweifellos als ein Lobgesang auf das blühende Königreich zum Zeitpunkt der Krönung Edwards VII., doch lassen sich die vom Geist britischen imperialen Sendungsbewusstseins geprägten Worte auch als eine Art Beschwörungsformel lesen, um das unter Victorias Regentschaft Erreichte zu bewahren und zu schützen: Land of Hope and Glory, Mother of the Free, How shall we extol thee, Who are born of thee? Wider still and wider Shall thy bounds be set; God, who made thee mighty, Make thee mightier yet.

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Ebd., 3.

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Heute wird die mit Elgars Krönungsode eingeleitete edwardianische Ära gelegentlich auch als „britisch-imperialer Altweibersommer“ bezeichnet.8 Damit wird eine grundsätzlich gelassene, vielleicht ein wenig melancholische Stimmung von Menschen beschrieben, die entschlossen waren, die Abendsonne imperialer Größe in vollen Zügen zu genießen. Elgar und Benson war es offensichtlich gelungen, das Gefühl dieser Jahre in Noten bzw. Worte zu fassen. Dieser spezifisch britische »Indian Summer« entsprach in vielerlei Hinsicht den Gefühlen von Europäern anderswo auf dem europäischen Kontinent, wo man sie unter den Oberbegriffen »Fin de siècle« oder »belle Époque« zusammenzufassen versuchte. Die britische Besonderheit aber lag darin, dass der imperiale Rahmen, die globale Dimension diesem Stimmungsbild eine ganz besondere Note verlieh. So kann es nicht verwundern, wenn auf den britischen Inseln die Bestrebungen nach einer Bewahrung des Erreichten, oder, um im Bild zu bleiben, nach einem möglichst langen Auskosten des Sonnenunterganges, ausgeprägter waren als anderswo. Das wiederum führte dazu, dass der „Sonnenuntergang“ auf den Britischen Inseln auch länger dauerte als sonstwo in Europa, und die „Moderne“ des 20. Jahrhunderts (als Spiegel der kontinentaleuropäischen Realität) die britische Gesellschaft erst nach dem Ersten Weltkrieg, in den 1920er Jahren erreichte.9 Aus kulturgeschichtlicher Sicht gilt die edwardianische Gesellschaft als Repräsentantin eines eigenständigen Stils, dessen Protagonisten auf den zurückliegenden Viktorianismus „mit milder Verachtung“ (Hans-Dieter Gelfert) zurückblickten, da sie ihn als engherzig und kulturlos empfanden.10 Doch ist aus der zeitlichen Distanz eine Reihe von für den späten Viktorianismus und den Edwardianismus, also für das dem Ersten Weltkrieg vorangehenden Vierteljahrhundert gleichermaßen konstitutiven Elementen feststellbar, die sich unter dem Oberbegriff „Sicherungsmaßnahmen für den Erhalt des politischen, ökonomischen und sozialen Status quo“ zusammenfassen lassen. Benson hatte deren übereinstimmende Grundzielsetzung in den letzten Versen seines Librettos auf den Punkt gebracht: »God, who made thee mighty, make thee mightier yet.« Unabhängig von dem Gebiet, auf dem diese Elemente wirkten bzw. wirken sollten, spiegelt sich in allen die britische politische Kultur, in der spätestens seit Burkes Absage an die Französische Revolution, Reformen und nicht, wie auf dem europäischen Kontinent sonst üblich, Revolutionen die entscheidenden Entwicklungsphasen einleiteten und steuerten. Die Reformen wirkten als eine Art Ventil, durch das der revolutionäre Überdruck, der auf dem Kontinent die Moderne einleitete, entweichen konnte. Sie wird in Britannien verknüpft mit Namen wie James Joyce (Ulysses) und T. S. Eliot (The Waste Land) in der Literatur bzw. Alfred Sisley, James Abbot McNeill Whistler oder Walter R. Sickert in der bildenden Kunst. Bezeichnenderweise handelte es sich bei diesen und anderen Protagonisten der frühen britischen Moderne aber nicht um Briten bzw. 8

Zum Vergleich „Edwardian Age = Indian Summer des britischen Imperialismus“ siehe: HansDieter Gelfert, Kleine Kulturgeschichte Großbritanniens. Von Stonehenge zum Millenium Dome, München 1999, 300. 9 Ebd., 301ff. 10 Ebd., 300.

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hauptsächlich in Britannien wirkende Menschen, sondern um Künstler, die ihre Prägung auf dem Kontinent selber erfahren hatten. In den 1920er Jahren setzten die Erfolge der kulturellen Modernisierer in Britannien die Aufnahmebereitschaft der britischen Kulturszene für solche Einflüsse voraus. Hier dürften die Kriegserfahrungen und die in diesen Jahren offensichtlich gewordenen Auflösungserscheinungen des Empire die Voraussetzungen dafür geschaffen haben. Zwei Jahrzehnte zuvor wäre eine solche Offenheit für externe Einflüsse noch undenkbar gewesen. Um 1900 wurden die Unterschiede zwischen dem eigenen Fortschrittsverständnis und der kontinentaleuropäischen Modernisierungsdynamik von den britischen Zeitgenossen durchaus wahrgenommen, jedoch zu dieser Zeit als keineswegs uneingeschränkt nachahmenswert beurteilt. Stattdessen versuchten vor allem Intellektuelle aus dem Umfeld der Liberalen Partei den englischbritischen „Eigenweg“11 in der europäischen Geschichte zu verstehen, der Britannien an die Spitze der großen Weltmächte geführt hatte. Sie fanden diesen in der als typisch erachteten Ausdauer und Zähigkeit, die sich in der Entwicklung des englisch-britischen sozio-politischen Systems im Verlauf der Neuzeit spiegelte. Das erschien als eine der kontinentaleuropäischen Sprunghaftigkeit vorzuziehende Variante, eben weil sie nicht dazu neigte, ungeliebte politische Systeme per Revolution zu beseitigen.12 Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung hielten besonders die Whig-Intellektuellen den Befund für eindeutig. Sie führten die englische Fähigkeit, sich gegenüber der rasch verändernden Welt des 19. Jahrhunderts als besonders anpassungsfähig und somit erfolgreich zu erweisen, auf den englischbritischen Nationalcharakter zurück, der sich vor dem Hintergrund der jahrhundertelangen Auseinandersetzung zwischen Krone und Parlament entwickelt habe. Dabei bildete nicht rassistisches Gedankengut die Grundlage dieses Nationalcharakters, sondern eher die Vorstellung von der Präponderanz einer politischen Kultur, zusammengesetzt aus einigen dominierenden und in einem festen Verhältnis von Ursachen und Folgen zueinander stehenden Hauptbestandteilen.13 So habe sich vor 11 Mit Bezug auf die in der deutschen Historiographie der frühen 1980er Jahre geführten sog. „Sonderwegsdebatte“ wird vor dem Hintergrund der englischen Diskussion um 1900 über die Besonderheit der englisch-britischen Geschichte als Voraussetzung der englisch-britischen Weltmachtposition deutlich, wie problematisch seinerzeit aufgestellte These, es habe einen deutschen „Sonderweg“ in der europäischen Geschichte gegeben, war. Das hätte nämlich einen europäischen „Normalweg“ vorausgesetzt, den es so auch nicht gab. Statt dessen erscheint der von Karl Dietrich Bracher angebotene Alternativbegriff „Eigenweg“ hilfreicher, weil flexibler einsetzbar. Aus der Fülle an Literatur zu diesem Thema nur ein Beispiel, weil über die Forschungsdiskussion insgesamt informierend: Gerhard Schreiber, Hitler-Interpretationen 1923– 1983, 2., verbesserte und durch eine annotierte Bibliographie für die Hare 1984–1987 ergänzte Auflage, Darmstadt 1988, dort bes. der Abschnitt „Hitler und die Kontinuität in der deutschen Geschichte“, 223–247. 12 Peter Mandler, The Consciousness of Modernity? Liberalism and the English National Character, 1870–1940, in: Martin Daunton/Bernhard Rieger (Hgg.), Meanings of Modernity. Britain from the late-Victorian Era to World War II, Oxford/New York 2001, 119–144, hier bes. 131f. 13 Wenn im weiteren Verlauf dieser Studie der Begriff „Nationalcharakter“ verwendet wird, ist damit das Begriffsverständnis der Zeit um 1900 gemeint. Die Politische Kulturforschung hat

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dem Hintergrund einer alten Tradition nationaler Selbstverwaltung und eingebettet in einen Rahmen aus Gewohnheitsrecht und lokaler Autonomie ein ausgeprägtes Unabhängigkeitsstreben entwickeln können, in dem Bündnisfreiheit ebenso ein Prinzip darstellte wie die Anerkennung demokratischer Spielregeln in der Politik und freihändlerischer Prinzipien in der Wirtschaft.14 Demnach sind zum Verständnis der Stimmungslage auf den Britischen Inseln am Vorabend des Ersten Weltkriegs folgende Punkte in den Blick zu nehmen: 1. befand sich Großbritannien um 1900 auf dem Höhepunkt imperialer Macht und Größe und war zugleich die führende Weltmacht der Zeit. 2. ging es der britischen Gesellschaft im Durchschnitt wirtschaftlich so gut wie niemals zuvor in der Geschichte. 3. konnte aufmerksamen Beobachtern jedoch nicht verborgen bleiben, dass die britische Führungsrolle im eigenen Weltreich aufgrund erkennbarer zentrifugaler Tendenzen in der Zukunft immer stärker herausgefordert werden würde. 4. ebenso wurde die britische Position als führende politische wie ökonomische und militärische Weltmacht immer stärker von rivalisierenden Mächten herausgefordert. 5. Die zentrale Stütze dieser Weltmachtposition war die Royal Navy, insofern diente deren globale Führungsrolle als eine Art Rückversicherung britischer Weltgeltung 6. diente der Flottenrüstungsvorsprung insbesondere gegenüber dem Deutschen Kaiserreich dazu, den imperialen und internationalen Status quo so lange wie möglich zu bewahren, um die britische Bevölkerung ebenso lange von den damit verbundenen Vorzügen profitieren zu lassen und ggf. weitere Maßnahmen zur Abwehr konkurrierender Mächte ergreifen zu können. 7. erschien dies als ein erfolgversprechender Weg, weil in der britischen Gesellschaft mehrheitlich ein Konsens darüber bestand, dass der historisch gewachsene britische Nationalcharakter den Nationalcharakteren rivalisierender Mächte überlegen war. 8. Das wiederum ließ den Entwurf allzu radikaler Zukunftsentwürfe als nicht notwendig erscheinen, sondern förderte eingedenk des britischen Modernitätsverständnisses an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einen eher pragmatischen und praxisorientierten Zugang zu Zukunftsfragen.

längst den Beweis dafür erbracht, dass politische Kulturen (darunter versteht man in der Regel mehr halbbewusste als bewusste Grundannahmen über die politische Welt, die sich als politische Mentalitäten und politische Lebensformen und politische Öffentlichkeit in der Gesellschaft auskristallisiert haben) durchaus dem geschichtlichen Wandel unterliegen, besonders dann, wenn es zu einem plötzlichen und grundlegenden Wandel der Institutionen kommt. Dazu: Karl Rohe, Einführung, in: Karl Rohe/Gustav Schmidt/Hartmut Pogge von Strandmann (Hgg.), Deutschland, Großbritannien, Europa. Politische Traditionen, Partnerschaft und Rivalität, Bochum 1992, 229–239, hier 229. 14 Ebd., 133f.

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INVASIONSÄNGSTE UND IHRE FOLGEN Dieser Pragmatismus spiegelte sich unter anderem auch im bereits angedeuteten Umgang der Politik mit den in der Bevölkerung weit verbreiteten Invasionsängsten. Allerdings blieb die britische Politik wenigstens eine Zeitlang, also etwa zwischen dem Erscheinen von Childers „Rätsel der Sandbank“ und dem Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts, nicht unbeeindruckt von einer ständig wachsenden Flut an Romanen, die in unterschiedlichen Szenarien eine unmittelbare Bedrohung der britischen Sicherheit durch das Kaiserreich ausmalten. Im Oktober 1909 schließlich wollte die liberale Regierung Asquith es ganz genau wissen und gründete mit dem »Secret Service Bureau« eine Dienststelle, aus dem dann in den Folgejahren zwei uns heute wohlbekannte Einrichtungen hervorgingen. Der Security Service (MI5) und der Secret Intelligence Service (SIS oder MI6).15 Die Anfänge waren allerdings durchaus bescheiden. Die Diensträume des Secret Service Bureau hatte ein pensionierter Hauptkommissar und Privatdetektiv namens Edward Drew (genannt Tricky) in 64, Victoria Street angemietet. Anfangs arbeiteten dort lediglich zwei Offiziere: der 50-jährige Fregattenkapitän Mansfield Cumming und der 36-jährige Hauptmann Vernon Kell. Cumming sollte später die Leitung von MI6 übernehmen, Kell die von MI5. Doch zunächst teilten sie ein Büro und versuchten, wie es hieß, mit ihren sehr begrenzten Mitteln, „sowohl mit der feindlichen Spionage in unserem Land als auch mit der Tätigkeit unserer Auslandsagenten zu beschäftigen.“16 So lautete die Aufgabe, die in einem Beschluss des Committee of Imperial Defence vom 24. Juli 1909 definiert worden war, weil die Ausschussmitglieder davon ausgingen, dass die vorgelegten Berichte (...) keinen Zweifel daran [lassen], dass in unserem Land ein umfassendes deutsches Spionagesystem existiert und dass wir keine Organisation haben, um diese Spionage zu beobachten und ihr Ausmaß und ihre Ziele richtig einzuschätzen.17

Auf welcher Grundlage war der Reichsverteidigungsausschuss zu dieser Erkenntnis gekommen? Entgegen der im In- und Ausland weitverbreiteten Annahme, dass das Vereinigte Königreich über einen geschickt und effektiv im Verborgenen, gleichwohl weltweit agierenden Geheimdienst verfüge, gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts innerhalb des Direktoriums für militärische Operationen des Kriegsministeriums nur zwei winzige Abteilungen, die für Auslandsaufklärung bzw. Spionageabwehr zuständig waren, MO2 und MO3 (1907 in MO5 umbenannt). Ein offiziell in den Ruhestand verabschiedeter höherer Polizeibeamter der Metropolitan Police namens William Melville führte für beide Abteilungen die Untersuchungen durch. Melville hatte seine Erfahrungen bei der Polizei in erster Linie in der Abwehr irischrepublikanischer Terroranschläge auf Ziele im Großraum London erworben. In den

15 Alan Judd, The quest for C. Sir Mansfield Cumming and the founding of the Secret Service, London 1999, 68–72. 16 Christopher Andrew, MI5. Die wahre Geschichte des Britischen Geheimdienstes, Berlin 2011, 19. 17 Ebd.

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ersten Jahren seiner Tätigkeit für MO2 und MO3 konzentrierte er sich wohl auch deswegen weitgehend auf die Überwachung von Maßnahmen des russischen Geheimdienstes Ochrana auf britischem Boden, zumal die Ochrana dazu neigte, unter russischen Exilanten in England agents provocateurs einzuschleusen, die die Exilrussen zu Terroranschlägen gegen englisch-britische Einrichtungen verleiten sollten, um sie zu diskreditieren. Zwischen 1906 (dem Jahr des Dreadnought-Sprungs) und 1907 (der Formierung der Triple-Entente) passte Melville indessen seine Perspektive an die veränderte europapolitische Großwetterlage an, in der Frankreich und Russland nun britische Verbündeten waren, während das Kaiserreich aufgrund seines Flottenbauprogramms zum Hauptgegner avancierte.18 Auf der Grundlage von wenig stichhaltigen Meldungen einer verunsicherten Öffentlichkeit, aber offensichtlich unter dem Eindruck der diversen Romane, die in diesen Jahren erschienen und in denen es um eine bevorstehende deutsche Invasion der Britischen Inseln ging, schickte Melville diverse Berichte an das Innenministerium, in denen von einem flächendeckenden deutschen Agentennetz insbesondere in England die Rede war. Als Koordinierungsstelle diene, so Melville, ein deutscher Offiziersclub in London, wo die Agenten des Kaisers ungehindert ein- und ausgehen konnten und dort auch ihre Anweisungen erhielten. Seine mit diesen Berichten verbundenen Forderungen nach einer deutlichen Verstärkung der britischen Abwehrmaßnahmen blieben jedoch längere Zeit ungehört, im Gegenteil scheinen insbesondere die Aktivitäten von MO5 (ex MO3) Ende 1907 fast eingeschlafen zu sein.19 Anders als erhofft hatte die Jungfernfahrt der HMS Dreadnought zu keiner erkennbaren Veränderung, gar Verlangsamung des deutschen Flottenbauprogramms geführt, im Gegenteil: Nachdem im Jahre 1907 mit SMS Von der Tann ein neuer Schlachtkreuzer in Dienst gestellt wurde, wuchs die Furcht vor einer akuten Bedrohung innerhalb der britischen Bevölkerung weiter und nahm teils hysterische Züge an. An dieser Entwicklung maßgeblich beteiligt war ein zu dieser Zeit bekannter Schriftsteller namens William Le Queux, der noch einige Jahre zuvor unter dem Titel »Secrets of the Foreign Office« einen Roman vorgelegt hatte, in dem er kräftig am Mythos des vermeintlich so effektiven – aber faktisch nicht existenten – britischen Geheimdienstes mitstrickte.20 1907 jedoch hatte sich sein Bild von der Leistungsfähigkeit der britischen Spionageabwehr grundlegend gewandelt. In diesem Jahr erschien, zunächst als Fortsetzungsroman in der Daily Mail, kurze Zeit später dann als Buch, sein Beststeller »The Invasion of 1910«. Grundlage der erfolgreichen Invasion sei die sorgfältige Vorarbeit von ca. 5.000 deutschen Agenten im Vereinigten Königreich gewesen, jahrelang ungestört das Land observiert und die

18 Ebd., 25. 19 Ebd., 26. 20 Für diesen Beitrag herangezogen wurde folgende Ausgabe des 1903 erstmals erschienen Buches: William Le Queux, Secrets of the Foreign Office. Describing the doings of Duckworth Drew, of the Secret Service, Exeter (UK), 2007.

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Schwachstellen der britischen Verteidigung nach Berlin gemeldet hätten. Die Parallelen zwischen Le Queux‘ Fiktion und Melvilles real existierenden Berichten ans Home Office sind bereits verblüffend, wichtigster Verbündeter Le Queux’s war jedoch der Eigentümer der Daily Mail, Alfred Harmsworth, Lord Northcliffe.21 Northcliffe wollte den Wunsch des Durchschnittsbriten nach einer „schönen Haßfigur“ befriedigen und entdeckte dafür den deutschen „Hunnen“, mit dem sich die Auflage seiner Zeitung hervorragend steigern ließ. Die Auflage der Daily Mail wuchs um 80.000 verkaufte Exemplare und verschaffte Northcliffe genügend Kapital, um das „Flaggschiff“ der britischen Presselandschaft, die Times übernehmen zu können. Aber auch Melville profitierte erheblich von seinem Roman, von dem eine Million Exemplare gedruckt wurden und der in 27 Sprachen, so auch ins Deutsche, übersetzt wurde. Möglicherweise hing der Verkaufserfolg auch damit zusammen, dass Le Queux seine ursprünglich vorgesehene Invasionsroute auf Drängen Northcliffes geändert hatte und die Invasoren nun anstatt durch eine Vielzahl kleinerer und unbekannter Dörfer durch beinahe jede größere englische Stadt führte, damit „die Hunnen“ die Bewohner von Sheffield bis Chelmsford auch genügend tyrannisieren konnten. In der Daily Mail wurden täglich spezielle Karten veröffentlicht, auf denen die Leserschaft verfolgen konnte, welche Bezirke die Deutschen am Folgetag überfallen würden. 22 Alles in Allem sorgte „The Invasion of 1910“ also für einen beträchtlichen Vermögenszuwachs bei Le Queux und Northcliffe, allerdings auch zu einer weiteren Verbreitung der Invasionsangst in der britischen Bevölkerung, der sich die politische Führungsebene des Landes nicht mehr länger verschließen konnte, war doch die Bevölkerung durch solche und ähnliche literarischen Horrorszenarien derart aufgerüttelt. Die Politik konnte dies nicht länger ignorieren, sie ließ sich im Gegenteil sogar in Teilen von der Hysterie anstecken. Das sei an einem Beispiel gezeigt, über das Winston Churchill in seinen Memoiren berichtete: Im Herbst 1908 hielt sich in der britischen Öffentlichkeit hartnäckig das (völlig unbegründete) Gerücht, dass das deutsche Flottenbauprogramm noch weiter beschleunigt werden sollte. Es kam daraufhin im Kabinett zu der kuriosen Situation, dass die Admiralität für 1908/09 den Bau von sechs weiteren Schlachtschiffen forderte, Schatzkanzler David Lloyd George und Churchill, der als Präsident der Handelskammer Kabinettsrang hatte, aus Kostengründen für den Bau von maximal vier Dreadnoughts plädierten, das Kabinett letztlich jedoch aufgrund des starken öffentlichen Drucks, der von den Konservativen im Bündnis mit dem damaligen First Sea Lord Jackie Fisher geschickt kanalisiert und instrumentalisiert wurde, letztlich für den Bau von acht All-gun Battleships votierte.23

21 Chris Patrick/Stephen Baister, William Le Queux. Master of Mystery, Purley/Surrey 2009, 41f und 102f. 22 Vgl. dazu: Andrew, MI5, 27f. 23 Dazu: Andrew, MI5, 29.

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WIE BEGRÜNDET WAR DIE „HUNNENANGST“? Keine Frage: Die meisten Kabinettsmitglieder wussten, dass die Invasionsängste der britischen Bevölkerung gänzlich unbegründet waren, denn wenn diese tatsächlich ernst genommen worden wären, hätte man sich nicht auf den Bau von Dreadnoughts verständigen, sondern Maßnahmen zur Küstenverteidigung ergreifen müssen. Jedoch ließ sich die „Hunnenfurcht“ ausgezeichnet instrumentalisieren, um ansonsten durchaus unpopuläre, weil kostenintensive Entscheidungen zu treffen. Die Melvilles, Le Queuxs und Northcliffes dieser Tage hatten also mit dem Schüren der Deutschlandfurcht erheblich dazu beigetragen, dass die britische Regierung im Flottenwettrüsten mit dem Kaiserreich die Nase vorn behalten konnte. Auch wenn Alfred von Tirpitz bekanntlich mit seinen Kritikern nicht zimperlich umging, ist zumindest die Frage legitim, ob er bereit gewesen wäre, an seinem Plan festzuhalten, wenn er gewusst hätte, dass das United Kingdom fest dazu entschlossen war, im fleet race mit dem Kaiserreich die Nase vorne zu behalten. Wir wissen es nicht. Was wir heute aber wissen, ist, dass Berlin über die Pläne und Absichten der britischen Regierung herzlich schlecht informiert war. Als Wilhelm Widemann im Jahre 1907 seinen Dienst als Militärattaché an der deutschen Botschaft in London antrat, erbte er ganze drei Agenten, die in Dover, Glasgow und Southampton ansässig waren, von denen er während seiner ganzen Dienstzeit in Großbritannien lediglich einen einmal traf.24 Zwar zählte das Anwerben von Agenten durchaus zum Tätigkeitsbereich eines Militärattachés, aber Widemann konnte dies mit seiner Offiziersehre nur schwer vereinbaren. Dazu zählten militärische Führungsqualitäten und der offene Kampf auf dem Schlachtfeld, keinesfalls die Tätigkeit im Untergrund und das Verhandeln mit Verrätern. Widemann war mit seiner Einstellung nicht allein, sondern wusste sich mit seinen Offizierskollegen an der Londoner Botschaft durchaus im Einklang. Das hatte in einem Fall sogar dazu geführt, dass der deutsche Marineattaché die Britische Admiralität darüber informierte, dass sich ein Angehöriger der Royal Navy an die deutsche Botschaft in London gewendet habe, um ihr einen geheimen britischen Marinecode zu verkaufen. Nachdem dieser von britischen Sicherheitskräften festgenommen worden war, hatte sich Admiral Fisher persönlich beim deutschen Marineattaché für dessen ritterliches Verhalten bedankt. Insofern kann es nicht überraschen, dass Widemann zwischen 1907 und 1912 lediglich einen Agenten angeworben hatte, der hauptberuflich als Mitarbeiter der Londoner Niederlassung einer Bremer Reederei tätig war. Allerdings war der Marineattaché ein ziemlich lustloser Agentenführer, denn als die Nachrichtenabteilung der kaiserlichen Marineführung sich 1912 nach dem Stand der Beziehungen Widemanns zu diesem Agenten erkundigte, wurde sie darüber informiert, dass sich der Attaché bislang noch nicht mit seinem Agenten in Verbindung gesetzt habe. Ohnehin schien dieser für solche Art von Arbeit wendig geeignet zu sein. Als sich die Nachrichtenabteilung 1914 direkt an den Agenten wandte und ihn an seine Verpflichtung zur nachrichtendienstlichen Tätigkeit erinnern wollte,

24 Dazu und zu folgendem: Boghardt, Spies of the Kaiser, 44–48.

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erhielt sie von dem deutschen Leiter der Reedereiniederlassung in London ein Schreiben, in dem es hieß, dass der betreffende Mitarbeiter krank sei und auch sonst keiner seiner Mitarbeiter für eine solche Tätigkeit zur Verfügung stehe. Anstelle einer kleinen Armee von 5000 höchst effektiv und zielorientiert am Untergang des Empire arbeitenden deutscher Spione, vor denen Le Queux warnte und damit in großem Umfang Wirkung erzielte, die bis in höchste Regierungskreise hinein reichte, war am Vorabend des Ersten Weltkriegs also bloß eine Handvoll vergleichsweise unmotivierter und herzlich schlecht geführter deutscher Agenten in Großbritannien tätig. Dass die nachrichtendienstliche Tätigkeit der britischen Seite nicht viel besser war, hatten wir bereits gesehen. Wäre sie besser gewesen, hätte die „Hunnenangst“ der britischen Bevölkerung vermutlich nicht ihre Wirkung entfalten können und möglicherweise zu einer Veränderung der britischen Haltung gegenüber der deutschen Flottenrüstung geführt. Allerdings darf wohl auch davon ausgegangen werden, dass dies nicht zu einem grundsätzlichen Kurswechsel der britischen Politik gegenüber der deutschen Flottenrüstung geführt hätte. Denn dazu war die Bedeutung, die Großbritannien seiner Royal Navy als Rückversicherung seiner Weltmachtstellung beimaß, einfach zu groß. Insofern habe ich bloß über eine kleine Episode in den deutsch-britischen Beziehungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs berichtet, eine Episode freilich, die auch zeigt, welche Wirkung die öffentliche Meinung erzielen kann, mag diese sich auch auf noch so unzuverlässige Informationen stützen.

AUSWERTUNG UND BEDEUTUNG DER KRIEGSERFAHRUNGEN* Werner Rahn

„Die Geschichtsschreibung der Marine ist komplizierter als der Außenstehende ahnt. Wenn man bei der Wahrheit bleiben will und doch die alte Waffe schonen muß.“1 Mit diesen Worten umschrieb im Herbst 1932 der Vorstand des MarineArchivs, Vizeadmiral a.D. Eberhard v. Mantey2, in einem Brief an den früheren Chef des Marinekabinetts, Admiral a.D. Georg Alexander v. Müller, seine schwierige Gratwanderung zwischen maritimer Hagiographie und dem Streben nach historischer Wahrheit.3 Trotz beachtlicher Erfolge im Kampf gegen einen überlegenen Gegner stand die Kaiserliche Marine am Ende des Ersten Weltkrieges vor einem Scherbenhaufen ihrer Seestrategie und kurz vor dem Aus als Teilstreitkraft: Nicht nur die Konzepte für den Einsatz der Hochseeflotte und für den Handelskrieg mit U-Booten hatten sich als untauglich erwiesen, sondern die Mannschaften der Flotte hatten im Oktober/November 1918 eine Revolte ausgelöst, die den Anstoß zum politischen Umsturz im Reich gab. Die verschiedenen Vorstöße der Hochseeflotte von Herbst 1914 bis April 1918 können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Flotte strategisch lediglich

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Der hier abgedruckte Beitrag erscheint zugleich in erweiterter Form in dem Sammelband: Michael Epkenhans/Stephan Huck (Hg.), Der Erste Weltkrieg zur See, München 2017. VAdm a.D. E. v. Mantey an Adm a.D. v. Müller, 19.10.1932 (Nachlass Mantey, Privatbesitz). - Die folgenden Ausführungen stützen sich u.a. auf Werner Rahn, Strategische Optionen und Erfahrungen der deutschen Marineführung 1914 bis 1944. Zu den Chancen und Grenzen einer mitteleuropäischen Kontinentalmacht gegen Seemächte, in: Werner Rahn (Hg.), Deutsche Marinen im Wandel. Vom Symbol nationaler Einheit zum Instrument internationaler Sicherheit, München 2005, 197–233, siehe vor allem 202–211. Eberhard von Mantey (1869–1940), Crew 1887, 18.8.1918 Konteradmiral, von 1916 bis 1918 Vorstand der Kriegsgeschichtlichen Abt. des Admiralstabes, 16.9.1920 a.D. mit dem Charakter eines Vizeadmirals, von 1919 bis Dezember 1932 Vorstand des Marine-Archivs. Für seine Leistung verlieh ihm die Universität Kiel den Titel eines Dr. phil. h.c. – Gem. Rangliste der Kaiserl. Marine, Stand: 12.5.1914) KptzS mit Patent vom 10.4.1911, Pl. 6 von 13 KptzS seiner Crew. Zum Wirken des Marine-Archivs (ab 1936 Kriegswissenschaftliche Abt. des Oberkommandos der Kriegsmarine) grundlegend auf breiter Quellenbasis Michael Epkenhans, ›Clio‹ und die Marine, in: Rahn (Hg.), Deutsche Marinen, 363–396, und Gerhard P. Groß, Einführung, in: ders. (Hg.), Der Krieg in der Nordsee. Der Krieg zur See 1914–1918, Band 7, Kritische Edition, Textband und Kartenschuber Hamburg/Berlin/Bonn, 2006, 1–30.

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als „Fleet in being“ gewirkt hatte: Ihre Präsenz band die britische Grand Fleet in der Nordsee. Darüber hinaus blockierte sie die Ostsee für alliierte Nachschublieferungen nach Russland und bot den U-Boot-Einsätzen einen Rückhalt. Die Flotte hatte also entgegen der gängigen Bewertung durch Historiker, die ihr jede strategische Bedeutung absprechen4, durchaus ihren militärischen Wert für die deutsche Kriegführung, doch eine nüchterne Kosten-Nutzen-Rechnung kommt zu dem Ergebnis, dass sie letztlich nicht das geleistet hat, was man von ihr erwartete bzw. erwarten konnte. Bei dem Handelskrieg mit U-Booten setzte die Marineführung in einer Fehleinschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit starr auf eine Konzeption, die den Kriegseintritt der USA einkalkulierte und damit wesentlich zur Niederlage des Reiches beitrug. Für die Marine ging es 1919/20 um ihre weitere Existenz. Daher war eine offene Auseinandersetzung mit den Kriegserfahrungen erforderlich, um den künftigen Stellenwert von Seestreitkräften für Deutschland zu bestimmen. Es musste einerseits darauf ankommen, aus der Niederlage Folgerungen für Struktur und Einsatzmöglichkeiten der durch den Friedensvertrag drastisch reduzierten Seestreitkräfte zu ziehen. Andererseits galt es, Erfolge und Leistungen öffentlich hervorzuheben, um das negative Bild von der Marine möglichst bald zu verwischen.5 Die Auswertung der Kriegserfahrungen erfolgte auf drei Ebenen: 1. durch interne Studien mit einer klar umrissenen militärischen oder technischen Problemstellung, 2. in einer offiziellen Darstellung des Seekrieges in Form eines Admiralstabswerkes und 3. in geheimen Dienstschriften als Ergänzung dieses Werkes. Im Sommer 1921 ordnete der Chef der Marineleitung, Admiral Paul Behncke, an, dass möglichst alle Offiziere im Rahmen ihrer Weiterbildung zu vorgegebenen Themen kurze Studien („Winterarbeiten“) anfertigen sollten. Einige nach Themenstellung und Ergebnis besonders wertvolle Studien bildeten eine Grundlage für weitere Planungen und technische Entwicklungen. Dabei handelte es sich vor allem um Untersuchungen über U-Boote und Flugzeuge, die für die Marine gemäß Friedensvertrag verboten waren. Gerade weil die kriegserfahrenen U-BootKommandanten und Piloten für einen erneuten Einsatz zu alt sein würden, sollten ihre Erfahrungen und Empfehlungen im Hinblick auf Technik, Taktik und Ausbildung für eine eventuelle Wiedereinführung dieser Waffensysteme ausgewertet werden. Bei der amtlichen Darstellung des Seekrieges in dem vom Marine-Archiv herausgegebenen Reihenwerk „Der Krieg zur See 1914–1918“ wurden zwar die Einsätze der Seestreitkräfte auf taktischer und operativer Ebene umfassend unter-

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So beispielsweise Thomas Nipperdey, Machtstaat vor der Demokratie. Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd 2, München 1993, 771. Zu den folgenden Ausführungen siehe: Werner Rahn, Reichsmarine und Landesverteidigung 1919–1928. Konzeption und Führung der Marine in der Weimarer Republik, München 1976, 123–128.

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sucht, doch die Analyse der strategischen Probleme des Seekrieges blieb unzureichend. Der Aufbau des Werkes verstärkte diese Schwäche noch. Statt die Zusammenhänge und Wechselwirkungen des Seekrieges in einer umfassenden Gesamtdarstellung zu behandeln, erfolgte die Bearbeitung getrennt nach Kriegsschauplätzen und Methoden der Seekriegführung.6 Die sich daraus ergebenden Mängel hatte Erich Raeder offensichtlich erkannt, denn er soll sich vorbehalten haben, selbst noch einen zusammenfassenden Band über die Strategie des Seekrieges 1914–18 zu schreiben. Dazu ist es jedoch nicht mehr gekommen, was bis heute in der Wissenschaft kritisch vermerkt wird.7 Im Gegensatz zum Reichsarchiv, das bis 1933 mit seinem Werk „Der Weltkrieg 1914–1918“ unter der Aufsicht eines wissenschaftlichen Gremiums stand, konnte sich der Leiter des Marine-Archivs einer solchen Aufsicht entziehen. Mantey ließ sämtliche Bände ausschließlich von aktiven oder inaktiven Offizieren bearbeiten und war stolz darauf, bis zum Herbst 1923 bereits sechs Bände herausgebracht zu haben, bevor das Reichsarchiv seinen ersten Band überhaupt fertigstellen konnte. Diese zügige Bearbeitung hatte allerdings zur Folge, dass eine kritische Auseinandersetzung mit den Schwächen des Tirpitzschen Flottenbaus unterblieb, da sich die Autoren noch sehr an die Kaiserliche Marine und ihren 'Baumeister' gebunden fühlten. Bei der inneren Geschlossenheit des Seeoffizierkorps war daher eine Kritik an Tirpitz und die Admirale Scheer und Hipper kaum zu erwarten. Im Herbst 1932 gab Mantey gegenüber dem Chef der Marineleitung (ab Oktober 1928 Admiral Dr. h.c. Erich Raeder) selbstkritisch zu, dass Tirpitz in den Anfangsjahren im Archiv ein und ausgegangen sei, um einen starken Einfluss auszuüben. Dies habe zu dem Ergebnis geführt, dass die ersten Nordseebände „ganz im Tirpitzschen Fahrwasser“ geschrieben seien, was ihre spätere Umarbeitung notwendig mache. Für Mantey stand fest, dass deren Autor Otto Groos8 „in Bezug auf Historie nur subjektiv denken“ könne.9 In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Groos sich bereits 1927 von einem jungen Seeoffizier in der offiziösen Marine-Rundschau vorhalten lassen mußte, dass er „für die eigene Sei-

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Das Werk gliedert sich in folgende Abteilungen: Seekriegführung in Nordsee und Ostsee, Kreuzerkrieg in ausländischen Gewässern, Handelskrieg mit U-Booten, Krieg in türkischen Gewässern, Kämpfe der Kaiserl. Marine in den Kolonien, Überwasserstreitkräfte und ihre Technik. – Siehe Gerd Sandhofer, Von der preußisch-deutschen Militärgeschichtsschreibung zur heutigen Militärgeschichte. Teilstreitkraft Marine, in: Ursula v. Gersdorff (Hg.), Geschichte und Militärgeschichte. Wege der Forschung, Frankfurt a. M. 1974, 55–66. Siehe Michael Salewski in einer Rezension über die Dokumentation: Die deutsche Seekriegsleitung im Ersten Weltkrieg, in: Das Historisch-Politische Buch 48/2000, 81f. Otto Groos (1882–1970, Crew 1900), erhielt für seine Darstellung „Der Krieg in der Nordsee“, Bde 1–5 die Ehrendoktorwürde der Universität Bonn. Brief VAdm a.D. v. Mantey an Raeder, 18.11.1932, Nachlass von KptzS a.D. Helmut v. Mantey.

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te fehlerausgleichend geschrieben“ und die Leistungen der Hochseeflotte betont hervorgehoben habe.10 Bereits 1922 kam Erich Raeder in seiner Untersuchung über den Kreuzerkrieg zu dem Ergebnis11, dass der Kampf gegen den feindlichen Seehandel in Übersee und die Operationen einer Schlachtflotte in den heimischen Gewässern für Deutschland keine sich ausschließenden strategischen Optionen gewesen seien, sondern in ihrer Wechselwirkung gesehen werden müßten. Am Beispiel der Vernichtung des Kreuzergeschwaders im Dezember 1914 bei den Falkland-Inseln machte Raeder deutlich, dass erst die Passivität der Hochseeflotte in der Nordsee der britischen Admiralität die Möglichkeit gegeben habe, überlegene Streitkräfte in den Südatlantik zu entsenden, um einer Bedrohung wichtiger Seeverbindungen entgegenzutreten. In Unkenntnis dieser Diversionswirkung des eigenen Kreuzergeschwaders habe die deutsche Marineführung die zeitweilige günstige Lage in der Nordsee nicht ausgenutzt. Die von Raeder vorgelegten Ergebnisse zeigten auch die Notwendigkeit, dass der Seekrieg nach einer klaren strategischen Zielsetzung und unter Berücksichtigung der Gesamtlage von einer Seekriegsleitung zentral geführt werden mußte, um eine höchstmögliche Wirkung des eigenen maritimen Machtpotentials zu erreichen. Diese grundlegende Kriegserfahrung berücksichtigte die Marineleitung von Anfang an beim Aufbau ihrer Teilstreitkraft sowie bei sämtlichen Kriegsspielen, Manövern und Operationsplanungen. Die Aufarbeitung des Handelskrieges mit U-Booten verzögerte sich um mehrere Jahre, da ein 1927 vorgelegtes umfangreiches Manuskript eines ehemaligen hoch-dekorierten U-Boot-Kommandanten sich als völlig unbrauchbar erwiesen hatte. Erst 1928 gelang es Mantey, Konteradmiral a.D. Arno Spindler12 mit einem Honorarvertrag des Verlages als neuen Autor zu gewinnen. Spindler legte im Herbst 1931 sein Manuskript über die Vorgeschichte vor. Nach der Lektüre war Mantey über die aufgezeigten Fehler der Marineführung im Weltkrieg so erschüttert, dass er nicht alle Erkenntnisse an die Öffentlichkeit bringen wollte,

10 G. Krüger (OLtzS), Kritischer Vergleich der bisherigen Skagerrak-Literatur, in: MarineRundschau 32/1927, 436f. 11 Das Kreuzergeschwader. Der Kreuzerkrieg in den ausländischen Gewässern, Bd. 1, bearb. von Erich Raeder, 2. verbesserte Aufl., Berlin 1927; vgl. dazu auch ders., Die deutsche und die britisch-japanische Strategie vor der Coronel- und der Falkland-Schlacht, in: MarineRundschau 26/1921, 513–538. – Raeder erhielt am 31.5.1926 für sein Werk die Ehrendoktorwürde der Universität Kiel. Siehe ders., Mein Leben. Bd. 1, Tübingen 1956, 212f. und 316f. 12 Arno Spindler (1980–1967, Crew 1898), im I. Weltkrieg bis August 1915 Chef der 2. UBoots-Halbflottille [27.1.1915 KKpt], dann im RMA Dezernent in der Abt. für UBootswesen. In der Reichsmarine 1.4.1922 KptzS, a.D. 3.10.1925 mit Charakter eines Konteradmiral.

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denn diese versteht es nicht und sieht nur das Negative und sagt: ‚wie war so etwas möglich?‘, während es doch der Finger Gottes ist, der dies Menetekel an die Wand geschrieben hat.13

Spindler bemühte sich um eine wissenschaftlich einwandfreie Darstellung und konnte bereits in seinem zweiten Band nachweisen, dass die U-Boote mit dem Handelskrieg nach Prisenordnung, den die Marineführung im Weltkrieg so strikt abgelehnt hatte, durchaus beachtliche Erfolge erzielt hatten. Seine Forschungsergebnisse passten jedoch nicht in das Bild, das sich vor allem ältere Offiziere über die vermeintlich beste Methode des U-Booteinsatzes im Handelskrieg gemacht hatten. Als im Herbst 1932 die Darstellung Spindlers durch die großzügige Verteilung der Druckfahnen den damals verantwortlichen Zeitzeugen bekannt wurde, intervenierten diese beim Chef der Marineleitung, um eine Revision des Manuskriptes zu erreichen. Mantey mußte resigniert feststellen, dass Raeder die Admirale a.D. Hermann Bauer (1914–17 Führer der U-Boote der Hochseestreitkräfte) und Gustav Bachmann (1915 Chef des Admiralstabes) „nicht an die Luft gesetzt, sondern (...) sich in die Geschichtsschreibung, die ihn gar nichts angeht, hineingemischt“ habe.14 Mit Einverständnis Manteys setzte Raeder als Gutachter Konteradmiral Dr. h.c. Otto Groos ein, der sich jedoch als Zensor aufspielte. In mehreren langen Besprechungen gelang es Mantey, Raeder davon zu überzeugen, dass der Band nicht revidiert, sondern nur geringfügig verändert wurde. So konnte der Band bereits Anfang 1933 erscheinen.15 Im April 1933 übernahm Konteradmiral a.D. Kurt Assmann16 die Leitung des Marine-Archivs. Der dritte Band des Handelskrieges mit U-Booten, dessen Darstellung bis Anfang 1917 reicht, erschien 1934. Assmann war – wie Mantey in den vorherigen Bänden – der verantwortliche Leiter der Bearbeitung. In seinem Vorwort wies er darauf hin, dass es für die Darstellung des U-Bootkrieges unerläßlich gewesen sei, auf die Wechselwirkung von Politik und Kriegführung einzugehen: „Wohl kein anderer Teil des Weltkrieges bietet dazu so vielfältige geschichtlichen Stoff wie der U-Bootskrieg.“ Assmann legte auch Wert darauf, dass beim Verzeichnis der Quellen auch amerikanische Quellen genannt wurden, „de-

13 VAdm a.D. v. Mantey an seinen Sohn, 4.11.1931. 14 Mantey an seinen Sohn, 26.10.1932. 15 Februar bis September 1915. Der Handelskrieg mit U-Booten, Bd. 2, Berlin 1933. Die Auseinandersetzung zwischen Bauer und Spindler setzte sich auch nach 1945 fort, siehe: Hermann Bauer, Reichsleitung und U-Bootseinsatz 1914 bis 1918. Zusammenarbeit zwischen politischer und militärischer Führung im Kriege, Lippoldsberg 1956 und Arno Spindler, Der Meinungsstreit in der Marine über den U-Bootskrieg 1914–1918, in: Marine-Rundschau 55/1958, 235–245. 16 Kurt Assmann (1883–1962), Crew 1901, gem. Rangliste der Kaiserl. Marine, Stand: 12.5.1914, Platz 4 von 140 KptLt seiner Crew, im I. Weltkrieg Chef der Torpedobootsflottille Flandern, in der Reichsmarine 1.11.1925 FKpt, 1.5.1928 KptzS, 1.10.1932 KAdm. Ab 1.4.1933 als KAdm a.D. Vorstand des Marine-Archivs, ab 1935 als Ergänzungsoffizier wieder reaktiviert, am 25.1.1937 erhielt er den Charakter eines Vizeadmirals (E), a.D. am 30.6.1943.

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ren geschichtlicher Wert nach allgemein gültiger wissenschaftliche Anschauung nicht mehr in Frage gezogen wird.“17 Mit Kriegsbeginn im September 1939 stand die Kriegsmarine vor der schwierigen Lage, mit den wenigen verfügbaren U-Booten erneut einen Handelskrieg gegen Großbritannien zu führen. Da die Druckvorbereitungen für den IV. Band, der die erste Phase des uneingeschränkten U-Bootkrieges bis Ende 1917 behandelte, noch nicht abgeschlossen waren, war die Kriegswissenschaftliche Abteilung (bis 1935 Marine-Archiv) des Oberkommandos der Kriegsmarine [OKM] bestrebt, den Kommandanten und Besatzungen der neuen deutschen U-Bootswaffe sofort die wertvollsten Kriegserfahrungen zu vermitteln, die ihnen die Kameraden des Weltkriegs erkämpft haben.18

So entstand bereits im Herbst 1939 von Kriegserfahrungen eine Zusammenstellung, die als Marine-Dienstvorschrift (MDv) Nr. 28 innerhalb der Kriegsmarine verteilt wurde. Diese MDv brachte quasi als Vorabdruck von den noch ausstehenden Bänden [IV und V] 49 Beispiele von Verlusten und Erfolgen der U-Boote sowie Hinweise auf Risiken bei unsichtigem Wetter, Angriffen feindlicher UBoote, Netzminen und Suchgeräten. Der IV. Band erschien erst 1941 in einer auf 1000 Exemplare begrenzten Auflage, die „Nur für den Dienstgebrauch“ innerhalb der Kriegsmarine verteilt wurde.19 Nur wenige Exemplare dieser Ausgabe lassen sich heute in Bibliotheken nachweisen. Ob der Band nach 1943 auf Veranlassung des OKM wieder eingezogen wurde, ließ sich bislang nach Durchsicht der entsprechenden Akten nicht nachweisen.20 Ein Reprint in verkleinertem Druckformat, einschließlich aller Karten und Skizzen, gab Dr. E. Wildhagen (Hamburg) 1964 heraus. In seinem Vor17 Der Handelskrieg mit U-Booten, bearb. von Arno Spindler, Berlin 1934, Vorwort VII und VIII. Folgende Literatur amerikanischer Autoren wurde angeführt (s. VIII, hier nur Auswahl): Charles Seymour, The intimate papers of Colonel House, London 1926–28, G.S. Viereck, The strangest friendship in history. Woodrow Wilson and Colonel House, New York 1932 und J.P. Tumulty, Woodrow Wilson as I know him, London 1922. 18 Vorwort zur M.Dv Nr. 28: Nur für den Dienstgebrauch! Kriegserfahrungen der deutschen UBoote im Weltkriege 1914–1918, Berlin 1939, Oberkommando der Kriegsmarine. 19 Oktober 1915 bis Januar 1917. Der Handelskrieg mit U-Booten, Bd. 3, Berlin 1934; Februar bis Dezember 1917. Der Handelskrieg mit U-Booten, Bd. 4, Berlin 1941. 20 Der Hinweis geht bislang nur von einem Brief des Admirals a.D. Erich Förste an KptzS a.D. Schulze-Hinrichs vom 25.7.1956 aus, siehe Rahn, Reichsmarine, 128, Anm. 16. SchulzeHinrichs hat dies Jahre später in einem Artikel ohne Beleg wiederholt: Alfred SchulzeHinrichs, Der Krieg zur See 1914–1918. Das Admiralstabswerk über den Ersten Weltkrieg, in: Truppenpraxis 11/1968, 870–871; Die Bewertung von Knut Stang, Das zerbrechende Schiff. Seekriegsstrategien- und Rüstungsplanung der deutschen Reichs- und Kriegsmarine 1918–1939, Frankfurt a.M. 1995, 21, Anm. 22, ist nicht haltbar. Stang ist entgangen, dass der 4. Band 1941 mit Genehmigung Raeders gedruckt und verteilt werden konnte und vom 5. Band bis 1945 erst das Rohmanuskript vorlag. Bei der Durchsicht des Bestandes RM 8 im BA-MA ist bislang kein Hinweis aufgetaucht, der die Behauptung von Schulze-Hinrichs stützen könnte.

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wort weist er darauf hin, dass Spindler bereits im April 1937 in den „Berliner Monatsheften“ einen bemerkenswerten Aufsatz über den „Eintritt der Vereinigten Staaten in den Weltkrieg“ veröffentlicht hatte, der von dem amerikanischen Historiker Sidney B. Fay sehr gelobt wurde.21 Bis 1939 konnte Assmann, inzwischen als Ergänzungsoffizier wieder reaktiviert und zum Vizeadmiral befördert, vom Admiralstabswerk noch vier Bände veröffentlichen: Der Handelskrieg mit U-Booten, Bd. 3 (siehe oben), Der Krieg in der Nordsee. Bd. 6: Von Juni 1916 bis Frühjahr 1917. Bearbeitet von Walter Gladisch Berlin 1937, Der Kreuzerkrieg in den ausländischen Gewässern, Bd. 3: Die deutschen Hilfskreuzer. Bearbeitet von Eberhard v. Mantey, Berlin 1937 sowie Der Krieg in den türkischen Gewässern, Bd. 2: Der Kampf um die Meerengen. Bearbeitet von Hermann Lorey, Berlin 1938.22 – Bei dem Nordsee-Band 6, der 12 Jahre nach dem Nordsee-Band 5 (Skagerrak-Schlacht) erschien, deutete Assmann in seinem Vorwort vorsichtig ein Umsteuern „zu einer objektiveren Darstellung“ an (Groß): Es seien neue Quellen erschlossen worden und der durch den Ablauf der Jahre gewonnene Abstand von Dingen und Menschen erleichterte es in mancher Hinsicht, ruhiger und nüchterner zu urteilen, als es in den ersten Jahren nach dem verlorenen Krieg im Streit persönlicher Meinungen und Leidenschaften möglich war.23

Ursprünglich sollte dieser Band die Ereignisse bis zum Kriegsende darstellen; im Herbst 1934 lag bereits ein Entwurf von Kapitän zur See a.D. Karl Weniger24 vor, der einen Umfang von mehr als 500 Manuskriptseiten hatte; Weniger war im Detail auch auf die Ereignisse eingegangen, die Anfang November 1918 zum Umsturz geführt hatten.25 Doch bei einer Besprechung über dieses Manuskript entschied Raeder am 29. Dezember 1934, dass diese Ereignisse nicht im letzten Nordsee-Band erscheinen sollten.26 Für eine neue Bearbeitung, wahrscheinlich unter Benutzung des Weniger-Manuskriptes, gewann Assmann Admiral a.D. Walter Gladisch (1882–1954). Beide entschlossen sich, „den Seekrieg von der Skagerrakschlacht bis zum November 1918 aus chronologischen Gründen in zwei Bän-

21 Zum Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg siehe Spindler, Februar bis Dezember 1917, 206–219. 22 Die Angaben bei Groß, Einführung, 10 und Anm. 43 sind entsprechend zu korrigieren. 23 Vom Juni 1916 bis Frühjahr 1917. Der Krieg in der Nordsee, Bd. 6, bearbeitet von Walter Gladisch, Berlin 1937. V. 24 KptzS Weniger (1874–1945) war bei Kriegsende als Kommandant des Schlachtschiffes KÖNIG der einzige Seeoffizier, der im November 1918 die Kriegsflagge seines Schiffes mit der Waffe verteidigt hatte. Siehe Werner Rahn, Die Kaiserliche Marine und der Erste Weltkrieg, in: Stephan Huck (Hg.), Ringelnatz als Mariner im Krieg, Bochum 2003, 39–89, hier Seite 79f. sowie Groß, Einführung, 475. 25 Das Manuskript ist verschollen; es existiert nur ein Abschnitt von etwa 21 Ms.-Seiten. Siehe Groß, Einführung, 15f. 26 Zu weiteren Details siehe Groß, Einführung, 4–16.

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den abzuhandeln“ (Groß). Weniger blieb freier Mitarbeiter des Marine-Archivs; ihm wurde am 19.8.1939 den Charakter eines Konteradmirals verliehen.27 Nach 1950 bemühte sich Walther Hubatsch darum, dass ab 1964 die noch fehlende Bände des Seekriegswerkes, (d.h. Nordsee Band 7, Ostsee Band 3 und Handelskrieg mit U-Booten Band 5), vom Arbeitskreis für Wehrforschung in Verbindung mit dem Bundesarchiv, Abt. Militärarchiv herausgegeben werden konnten. Bei dem Nordsee-Band 7 legte Hubatsch großen Wert darauf, dass der Band auf der Grundlage der vorhandenen Fahnenabzüge von 1941 unverändert veröffentlicht wurde, obwohl im Militärarchiv weiteres Material zur Korrektur dieser Fahnenabzüge vorhanden war. Das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) hatte „dagegen eine unkritische Herausgabe, entgegen der Stellungnahme seines Fachleiters Marine, Kapitän zur See Gerhard Bidlingmaier, ausdrücklich abgelehnt.“28 Die wissenschaftlich unzureichende Edition des Bandes führte 42 Jahre später zu der Entscheidung des MGFA, den Nordsee-Band 7 in Form einer „kritischen Edition“ neu herauszugeben.29 Im Rahmen der verdeckten Ausbildung zum Admiralstabsoffizier („Führergehilfenlehrgänge“) berichteten ältere Offiziere über ihre Kriegserfahrungen oder trugen eigene Forschungsergebnisse vor. Die Marineleitung gab diese Referate ab 1928 als geheime Dienstschriften heraus, die das Admiralstabswerk ergänzen sollten, „indem sie auch Angaben und Urteile bringen, die nicht zur Veröffentlichung geeignet sind.“30 Dieser Hinweis wird verständlich bei Bereichen mit besonders negativen Kriegserfahrungen. Es waren sensible Bereiche, die für eine künftige Seekriegführung wichtig waren. Dies galt vor allem für die Funkaufklärung und die Minenkriegführung. Die Dienstschrift über die Funkaufklärung kam 1934 zu dem wenig erfreulichen Ergebnis, dass die Seekriegführung in der Nordsee für den Gegner „ein Spiel mit offenen Karten“ gewesen und „die britische Admiralität bis weit in das Jahr 1917 hinein Meister der Situation“ geblieben sei.31 Die Dienstschrift „Mine und Seestrategie“ machte deutlich, dass sich die Marineführung vor 1914 auf den Einsatz dieses Seekriegsmittels, mit dem u.a. der Kräfteausgleich erreicht werden sollte, weder gedanklich noch materiell angemessen vorbereitet hatte. Die meisten Minensperren wurden „auf gut Glück geworfen“ und verfehlten weitgehend die ihnen zugedachte operative Wirkung. Mit bemerkenswertem Weitblick wies der Verfasser darauf hin, dass der Hauptwert der Mine darin bestehe, „fehlende Seestreitkräfte zu ersetzen“ und bis zu einem be27 Zum Zitat siehe Groß, Einführung, 16, zu Weniger ebd. 475. Die Charakterisierung Wenigers zum Konteradmiral wurde am sog. Tannenberg-Tag (27.8.1939) bekanntgegeben. 28 Groß, Einführung, 21f. 29 Groß, Der Krieg in der Nordsee. 30 Otto Groos, Vorwort zur Dienstschrift 1, in: Leitung der Führergehilfenausbildung der Marine (Hg.), Berlin 1928. Für eine Aufstellung aller Dienstschriften siehe Sandhofer, Teilstreitkraft Marine, 65. 31 Korvettenkapitän Kleikamp, Der Einfluß der Funkaufklärung auf die Seekriegsführung in der Nordsee 1914–1918, Kiel 1934, 32.

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stimmten Grad die „Geographie“ eines Seegebietes zu verändern.32 Dies gelte für beide Seiten, denn es sei eine der charakteristischen Eigenschaften der Mine, dass sie, auf ihrem Platze stehend, Freund oder Feind sein kann. Sie kann Partei wechseln und sie kann ihre Bedeutung wechseln, strategisch wie taktisch.33

Die Spitzengliederung der Kaiserlichen Marine mit ihren unklaren Verantwortlichkeiten hatte im Weltkrieg oft zu Friktionen geführt, weil es bis zum Sommer 1918 keine einheitliche Seekriegsleitung vergleichbar der Obersten Heeresleitung gab. Im Hinblick auf diese Erfahrung veranlasste das Marine-Archiv mehrere Seeoffiziere, die bis 1918 in Spitzenverwendungen eingesetzt waren, Einzelbeiträge über die Entwicklung und das Wirken des Admiralstabes zu erarbeiten.34 Aus diesen, zum Teil sehr umfangreichen Beiträgen stellte Admiral a.D. Bachmann 1934/35 im Auftrag der aus dem Marine-Archiv hervorgegangenen Kriegswissenschaftlichen Abteilung der Marine den Entwurf der Dienstschrift „Der Admiralstab der Kaiserlichen Marine“ zusammen, die in vorsichtigen Formulierungen auch Kritik an Tirpitz hinsichtlich der nicht zuletzt von ihm zu verantwortenden schwachen Stellung des Admiralstabes übte. Die Druckfahnen gingen wiederum an zahlreiche Zeitzeugen zur Mitprüfung, so auch an Vizeadmiral a.D. Adolf v. Trotha. Dessen Stellungnahme führte dazu, dass Raeder 1936 die Drucklegung der Dienstschrift verbot und darüber hinaus befahl, „ihr Vorhandensein innerhalb der Marine totgeschwiegen wurde.“35 Im November 1928, als die öffentliche Diskussion über den Bau des ersten Panzerschiffes als Ersatz der veralteten Linienschiffe ihren Höhepunkt erreichte36, hielt der damalige Chef der Flottenabteilung im Marinekommandoamt der Marineleitung, Kapitän zur See Kurt Assmann, in der Berliner Skagerrak-Gesellschaft einen Vortrag, aus dem die ehrgeizigen Ziele der Marineführung deutlich werden: Küstenpanzerschiffe als Ersatz der alten Linienschiffe hätten die Reichsmarine „zum Range einer reinen Küstenmarine erniedrigt; das hätte unserer traditionellen Auffassung von Seegeltung und unserer Hoffnung auf die Zukunft widersprochen.“37 Es ist davon auszugehen, dass die Aussagen des Vortrages nicht ohne Billigung des Chefs der Marineleitung, Admiral Raeder, vorgetragen wurden. 32 Korvettenkapitän Hagen, Mine und Seestrategie. Die Verwendung der Mine nach den Erfahrungen des Weltkrieges, Berlin 1935, 27ff. 33 Ebd., 20. 34 Es waren dies u.a. die Admirale a.D. Paul Behncke, Friedrich v. Bülow, William Michaelis, Walter Frhr. v. Keyserlingk und Otto Wurmbach. 35 Kurt Assmann, Großadmiral Dr. h.c. Raeder und der Zweite Weltkrieg, in: MarineRundschau, Jg. 58/1961, 3–17, hier 8. – Es sind jedoch wenige Exemplare der Druckfahnen überliefert, die für Walther Hubatsch eine wichtige Grundlage für sein Werk „Der Admiralstab und die obersten Marinebehörden in Deutschland 1848–1945“ (Frankfurt a. M. 1958) bildeten. Siehe auch Epkenhans, ›Clio‹ und die Marine, 378 und 394 (ebd. Anm. 106). 36 Siehe dazu Rahn, Reichsmarine, 233–246. 37 Vortrag des Chefs der Flottenabteilung der Marineleitung, Kpt.z.S. Kurt Assmann, in der Berliner „Skagerrak-Gesellschaft“, 2.11.1928, zit. bei Rahn, Reichsmarine, 243.

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Zur gleichen Zeit kursierte innerhalb der Marine als Privatdruck die Denkschrift des Vizeadmirals a.D. Wolfgang Wegener „Die Seestrategie des Weltkrieges.“ Bereits 1925 hatte Wegener38, damals noch im aktiven Dienst, seine ersten Überlegungen über die Wechselwirkung von Seemacht und Strategie der Marineleitung vorgelegt und dann 1926 zu einer Denkschrift ausgebaut.39 Im Kern liefen seine Thesen auf eine Alternativkonzeption ex-post hinaus, mit der Deutschland im Weltkrieg gegen Großbritannien eine größere Chance gehabt hätte: Im Mittelpunkt seiner Konzeption stand die strategisch-geographische Position als unverzichtbares Element jeder Seemacht, die sich auf den Kampf um die Seeherrschaft konzentriert. Um die atlantischen Seewege zu erreichen, hätte die deutsche Führung die geographische Ausgangsbasis verbessern müssen. Dänemark, Norwegen, die Färöer und Island wären die entscheidenden Positionen auf dem Weg zum Atlantik gewesen, wenn sich die französische Atlantikküste nicht hätte erreichen lassen. Die Reichsleitung habe der Flotte kein strategisches Ziel gesetzt, weil sie „keine weltpolitisch-geographischen Ziele“ gekannt und demnach die Flotte nicht zu einer strategischen Offensive angesetzt habe.40 Daraus ergab sich für Wegener die Forderung, dass Deutschland „den Weg zur Welt- und Seemacht, diesmal aber mit reifem Seemachtsinstinkt noch einmal gehen“ müsse.41 Ohne Seemacht sei Deutschland ganz von der Gnade Englands abhängig. Wenn wir aber wieder einmal als Volk und Staat in Form sind, dann taucht auch wieder das Verlangen nach der See und Seegeltung und mit ihm die Angelsachsen als Gegner auf.

Wenn allerdings der Seemachtgedanke in Heer und Politik nicht klar erfaßt werde, könne Deutschland ein strategisch-geographisches Objekt weder erstreben noch nehmen, selbst wenn es uns geschenkt würde. Unser Wachstum seit der Jahrhundertwende ist kein europäisch-kontinentales Problem, das allein mit dem Heer gelöst werden kann, sondern eine weltpolitisch-maritime Aufgabe, die deshalb der Seemacht also, einer Kampfflotte und der nötigen strategischen Position bedarf.42

38 Wolfgang Wegener (1875–1956), Crew 1894, Crewkamerad von E. Raeder, im I. Weltkrieg Admiralstabsoffizier in einem Geschwader, ab September 1917 Kommandant des Kreuzers REGENSBURG, ab Juli 1918 des Kreuzers NÜRNBERG II, in der Reichsmarine Inspekteur der Marineartillerie, 1.3.1923 Konteradmiral, a.D. 30.9.1926 mit dem Charakter eines Vizeadmirals. 39 Es handelte sich dabei um einen Privatdruck, den Wegener einem ausgewählten Leserkreis zur Verfügung stellte. Siehe dazu im Detail Rahn, Reichsmarine, 129ff. und Carl-Axel Gemzell, Raeder, Hitler und Skandinavien. Der Kampf für einen maritimen Operationsplan, Lund 1965, 16 und 24. 40 Wolfgang Wegener, Die Seestrategie des Weltkrieges, Berlin 1929, 2. erweiterte Auflage, Berlin 1941, 79. 41 Ebd. 80. 42 Wegener, Seestrategie, 2. erweiterte Auflage, 1941, 81. Bei dieser Auflage handelt es sich um die ursprüngliche Fassung von 1926, siehe Gemzell, Raeder, 16ff.

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Es ist aufschlußreich, dass es Wegener – offensichtlich aus Rücksichtnahme auf die damalige innenpolitisch angeschlagene Stellung der Reichsmarine – für opportun hielt, die hier zuletzt zitierten aggressiven Formulierungen bei der Erstveröffentlichung 1929 wegzulassen. Daher sind Historiker gut beraten, die 2. Auflage von 1941 zu studieren und auszuwerten. Innerhalb der Marineführung nahm Wegener zwar keine Position ein, die es ihm erlaubt hätte, einen direkten Einfluß auf die langfristigen Planungen der Marine auszuüben, doch seine Thesen fanden gerade bei jüngeren Offizieren viel Zustimmung. Die Bedeutung seiner Schrift lag vor allem darin, dass er eine seestrategische Theorie über die grundsätzlichen Probleme der Seekriegführung entwickelte und dabei die Bedeutung der geographischen Operationsbasis herausstellte. Darüber hinaus rückten bei ihm die eigentlichen Objekte des Seekrieges, die Seewege und das zivile Handelsschiff, in den Mittelpunkt einer künftigen Seekriegführung. Sein Crewkamerad Raeder war zwar über die Veröffentlichung dieser Thesen selbst in ihrer gemilderten Form wenig erbaut und versuchte ihre Verbreitung zu unterdrücken43, doch im Grunde dachte er in ähnlichen seestrategischen und machtpolitischen Kategorien. Im Februar 1938 setzte sich Assmann in einem Vortrag an der Marineakademie in Kiel kritisch mit den Problemen der deutschen Seekriegführung im Weltkrieg auseinander und wies dabei darauf hin, dass er im Kreis seiner Marinekameraden einige Gedanken vortragen werde, die manches enthalten, „was den bisherigen Anschauungen“ nicht entspreche. Er werde dies freimütiger vortragen, als er es in der Öffentlichkeit tun würde.44 Bei Kriegsende 1945 geriet Assmann in britische Kriegsgefangenschaft. Die Royal Navy hatte offensichtlich ein Interesse daran, seine fachliche Kompetenz als Marinehistoriker, vor allem jedoch seine Kenntnisse für die Auswertung der Akten des Marine-Archivs zu nutzen, das britischen Truppen bei Kriegsende sichergestellt hatten. Wie der Historiker Wilhelm Treue 1992 berichtet45, hatte Assmann offensichtlich fast uneingeschränkten Zugang zu den Akten. So entstand für die Royal Navy das umfangreiche und bislang unveröffentlichte Manuskript „Die deutsche Kriegführung gegen den englisch-russischen Geleitverkehr im Nordmeer 1941–1945“46 und sein Aufsatz „Why U-boat War failed“, der 1950 in

43 Siehe dazu Edward Wegener, Selbstverständnis und historisches Bewußtsein der deutschen Kriegsmarine, in: Marine-Rundschau 67/1970, 321–340, in diesem Zusammenhang 324 und ebd. Anm. 3 u. 4. Vgl. auch Jost Dülffer, Weimar, Hitler und die Marine. Reichspolitik und Flottenbau 1920–1939, Düsseldorf 1973, 187f. 44 Zitiert nach Epkenhans, ›Clio‹ und die Marine, 379. Siehe ebd. 394 Anm. 111 mit dem Hinweis, dass eine ‚entschärfte‘ Version des Vortrages 1939 in der Militärwissenschaftlichen Rundschau in drei Teilen veröffentlicht wurde (Teil I: 187 – 203, Teil II: 315–339, Teil III: 500–528. 45 Siehe W. Treue, Persönliche Einleitung, in: Wilhelm Treue/Eberhard Möller/Werner Rahn (Hgg.), Deutsche Marinerüstung 1919–1942. Die Gefahren der Tirpitz-Tradition, Herford/ Bonn 1992, 22–40, bes. 27f. und 34f. 46 Ein Expl. ist überliefert im Bundesarchiv/Abt. Militärarchiv: RM 8/1126.

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Werner Rahn

der renommierten Zeitschrift „Foreign Affairs“ erschien.47 Das Manuskript zu seinem Buch „Deutsche Schicksalsjahre“48 entstand wahrscheinlich ebenfalls weitgehend in Großbritannien. In seinem späteren und heute noch immer lesenswerten Werk „Deutsche Seestrategie in zwei Weltkriegen“ behandelte er Probleme, „die in der öffentlichen Meinung stark umstritten sind.“ Dabei handelt es sich wohl vor allem um Fragen und seestrategische Probleme, die nicht nur bei Historikern, sondern vor allem wohl unter bei älteren Seeoffizieren umstritten waren.49 Jede weitere wissenschaftliche Untersuchung zu Fragen der deutschen Seekriegführung im Ersten Weltkrieg wird sich auf die Akten der Kaiserlichen Marine stützen müssen, die bei weitem noch nicht ausgewertet sind. Dies gilt für die Bereiche Strategie und Operationsführung ebenso wie für die Details der Marinerüstung im Weltkrieg. Die wichtigsten deutschen Dokumente liegen seit zehn Jahren in einer mehrbändigen Edition vor, die vom Bundesarchiv herausgegeben wurden. Es handelt sich um mehr als 700 Dokumente, die der langjährige Mitarbeiter des Bundesarchivs, Archivdirektor i.R. Dr. Gerhard Granier ausgewählt und kommentiert hat.50 – Darüber hinaus wird jede Beschäftigung mit dem Wirken des Großadmirals Alfred von Tirpitz und mit der Kaiserlichen Marine für den Zeitraum von 1901 bis 1920 auf die von Michael Epkenhans vorbildlich edierten Tagebücher, Brief und Aufzeichnungen des Seeoffiziers Albert Hopmann (1865– 1942, Crew 1884) zurückgreifen müssen.51

AUSBLICK Die deutsche Seekriegführung im Ersten Weltkrieg ist historisch noch nicht auf breiter Quellengrundlage erforscht und dargestellt. Der Rückblick auf diesen Krieg nach 100 Jahren hat bereits zu zahlreichen wissenschaftlichen und populären Darstellungen geführt. Es soll hier nur auf das monumentale Werk von Herfried Münkler, Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918, und auf weitere, mehr repräsentative Bildbände hingewiesen werden52, die sämtlich bereits 2013 erschie-

47 Kurt Assmann, „Why U-boat warfare failed“, in: Foreign Affairs Vol. XXVIII/1950, 659–670. 48 Kurt Assmann, Deutsche Schicksalsjahre. Historische Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg und seiner Vorgeschichte, Wiesbaden 1950, 2. Aufl. 1951. 49 Siehe Kurt Assmann, Deutsche Seestrategie in zwei Weltkriegen, Heidelberg 1957, Vorwort 9. 50 Die deutsche Seekriegsleitung im Ersten Weltkrieg, bearb. von Gerhard Granier, Bd. 1, Koblenz 1999, Bd. 2 und 3 Koblenz 2000. Bd. 4 Koblenz 2003/2004. Siehe dazu Michael Epkenhans, Verhinderte Endkämpfer. Die Seekriegsleitung und der Zusammenbruch des Kaiserreichs, in: Literaturbeilage der FAZ, 26.11.2004. 51 Albert Hopmann, Das ereignisreiche Leben eines ‚Wilhelminers‘, Tagebücher, Briefe, Aufzeichnungen 1901 bis 1920, München 2004 (Umfang: 1231 Seiten). 52 Herfried Münkler, Der Grosse Krieg. Die Welt 1914–1918, Berlin 2013 (Umfang: 924 Seiten mit 12 Karten und 80 Bildern). Sowie Markus Pöhlmann/Harald Potempa/Thomas Vogel (Hgg.), Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Der deutsche Aufmarsch in ein kriegerisches Jahr-

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nen sind. Diese Werke haben ihre Stärken und Schwächen; die Bilddokumente sind meist gut ausgewählt und verständlich kommentiert. Doch in keinem der drei Bände erhält der Leser als Hilfestellung eine Zeittafel. Darüber hinaus werden die Hintergründe der Entscheidung der deutschen Reichsleitung für einen Handelskrieg mit U-Booten nur knapp und unzureichend dargestellt. Insbesondere fehlt der Hinweis, dass es Tirpitz war, der im November 1914 ohne Rücksprache mit dem Reichskanzler und dem Chef des Admiralstabes mit einem Interview den Anstoß für einen Einsatz der U-Boote im Handelskrieg gegeben hatte.53 Dieses Interview löste eine leidenschaftliche öffentliche Diskussion über diese Art der Seekriegführung aus, bevor überhaupt die militärischen und völkerrechtlichen Probleme des Einsatzes von U-Booten im Handelskrieg geklärt waren. In keinem der Bände werden die einzelnen Phasen des U-Boot-Einsatzes im Handelskrieg mit ihren Erfolgen und politischen Risiken stringent herausgearbeitet.54

hundert, München 2014 (Umfang: 382 Seiten) sowie Jörg-Michael Hormann/Eberhard Kliem, Die Kaiserliche Marine im Ersten Weltkrieg. Von Wilhelmshaven nach Scapa Flow, München 2013 (Umfang: 162 Seiten). 53 Es handelt sich um das sog. Wiegand-Interview. Zu Details siehe: Vorgeschichte. Der Handelskrieg mit U-Booten, Bd. 1, 34–36. 54 Die Unklarheit über die einzelnen Phasen des Handelskrieges mit U-Booten führt im Inhaltsverzeichnis des Bandes „Der Erste Weltkrieg“ (hrsg. von M. Pöhlmann u.a.) zu der irritierenden Einordnung des „uneingeschränkten U-Boot-Krieges“ von Frühjahrs 1915 und ab 1917 in das Hauptkapitel „Verbrechen“.

FLOTTENBAU UND ZEITGENÖSSISCHE SEEKRIEGSTHEORIE AM BEISPIEL DER DEUTSCH-BRITISCHEN RIVALITÄT 1906–1914 Uwe Dirks

Die Literatur über die kaiserliche Marine ist mittlerweile ebenso umfangreich wie unübersichtlich. Auch bei sehr unterschiedlichen Deutungsansätzen überwiegt allerdings die herbe Kritik: Fast nichts von dem, was beim kostspieligen Bau der Flotte versprochen worden war, hatte vor dem und während des Ersten Weltkrieges eingelöst werden können, die versprochene Wirkung von ‚Seemacht‘ war nicht eingetreten. Wolfgang Wegener, der sich schon während des Krieges mit einer kritischen Denkschrift hervorgetan hatte, bot in den zwanziger Jahren eine erste Erklärung mit dem Argument fehlerhafter Seestrategie.1 In Fortsetzung seiner Gedanken formulierte sein Sohn 1981 „Dass ein Unternehmen, wie der Tirpitzsche Flottenbau ohne klare, theoretisch fundierte und zu Ende gedachte Seestrategie hat unternommen werden können, ist ein Phänomen.“2 Die Frage nach der Seestrategie hinter dem Tirpitz’schen Flottenbau ist in der Literatur immer wieder angesprochen worden. Sie greift aber zu kurz, wenn nicht die zu Grunde liegende Seekriegstheorie gleichwertig herangezogen wird – und das ist nur selten der Fall.3 Eine mögliche Erklärung findet dieser Mangel in dem Hinweis Stang’s, dass im allgemeinen Sprachgebrauch mit dem Begriff ‚Strategie‘

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Wolfgang Wegener, Die Seestrategie des Weltkrieges, 1. Aufl. Berlin 1929, 2. erweiterte Aufl. Berlin 1941. Die Denkschrift von 1917 ist als Anhang des Buches abgedruckt. Wolfgang Wegener, 1875–1956, war Seeoffizier der Crew 1894 und wurde 1926 als charakterisierter Vizeadmiral aus der Reichsmarine verabschiedet. Nach seiner Auffassung lag der Mangel in der fehlenden geographischen Position zu den atlantischen Seeverbindungslinien. Edward Wegener, Die Tirpitzsche Seestrategie, in: Herbert Schottelius/Wilhelm Deist (Hgg.), Marine und Marinepolitik im kaiserlichen Deutschland 1871–1914, 2. Aufl., Düsseldorf 1981, 236–262; hier 249. Edward Wegener, 1904–1981, war Seeoffizier der Crew 1923 und wurde 1965 als Vizeadmiral aus der Bundesmarine verabschiedet. Zu diesen eher seltenen Arbeiten gehören in jüngerer Zeit: Christian Rödel, Krieger, Denker, Amateure. Alfred von Tirpitz und das Seekriegsbild vor dem Ersten Weltkrieg, Stuttgart 2003. Rolf Hobson, Maritimer Imperialismus. Seemachtideologie, Seestrategisches Denken und der Tirpitz-Plan 1875–1914, München 2004. Eva Besteck, Die trügerische „First Line of Defence“. Zum deutsch-britischen Wettrüsten vor dem Ersten Weltkrieg, Freiburg 2006.

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Uwe Dirks nicht [nur] die Planung zur Erreichung eines bestimmten, in diesem Fall militärischen Zieles, sondern [auch] das intellektuelle Instrumentarium, das zur Erstellung dieses Plans notwendig ist4

gemeint sei. Eine solche unscharfe Verwendung des Begriffs ‚Strategie‘ hat den erheblichen Nachteil, dass nicht nur der systematische Unterschied zwischen ‚Seestrategie‘ und ‚Seekriegstheorie‘ verwischt wird; sie ist auch geeignet, die Erkenntnis zu verdecken, dass es eine ‚gültige‘ Seekriegstheorie nicht gibt.5 Gerade im betrachteten Zeitraum wurden Theorien mit deutlich unterschiedlicher inhaltlicher Aussage verwendet. Es soll daher im Folgenden dargestellt werden, welche Seekriegstheorien in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wirksam waren. Die Unterschiede zwischen den Theorien sollen insbesondere dort herausgearbeitet werden, wo sie gleichlautende Begriffe mit verschiedenartigem Inhalt verwenden. Schließlich wird zu zeigen sein, welche der Theorien – oder Teile von ihnen – Einfluss auf die Strategiebildung und auf diesem Wege auch Wirkung auf den Flottenbau gehabt haben. Auf eine Erörterung, wie Entscheidungsträger möglicherweise ‚richtiger‘ gehandelt hätten, wird verzichtet. Das schließt den Blick auf eine zeitgenössische kritische Diskussion nicht aus.

SEEKRIEGSTHEORIE Das schriftlich fixierte Denken über den Krieg hat eine lange Tradition6, die bis in die Antike zurückreicht und nicht auf den europäischen Kulturkreis beschränkt ist, wie das Beispiel Sun Tzu7 zeigt. In der Neuzeit ragen Namen wie Macchiavelli8, Jomini9 und Clausewitz10 heraus. Allen gemeinsam ist der Fokus auf den Land-

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Knut Stang, Das zerbrechende Schiff. Seekriegsstrategien und Rüstungsplanung der deutschen Reichs- und Kriegsmarine 1918–1939, Frankfurt a. M. 1995, 36. Stang diskutiert den Strategie-Begriff ausführlich, kann sich aber in seiner eigenen Darstellung nicht von der kritisierten Unschärfe befreien. Dies verkennt z. B. Paul M. Kennedy wenn er schreibt. „Der Tirpitzschen Strategie fehlte das volle Verständnis des Begriffs ‚command of the sea‘.“ Paul M. Kennedy, Maritime Strategieprobleme der deutsch-englischen Flottenrivalität, in: Schottelius/Deist (Hgg.), Marine und Marinepolitik, 178–210, hier 195. Ebenso wenig wie eine ‚gültige‘ Seekriegstheorie gibt es einen ‚gültigen‘ Begriff Seeherrschaft. Vgl. Albert A. Stahel, Klassiker der Strategie – eine Bewertung, Zürich, 1995. Sun Tsu, ca. 544–496 v. Chr., chinesischer General, Stratege und Philosoph. Sein Werk ‚Die Kunst des Krieges‘ gilt als frühestes Buch über Strategie. Niccolò Macchiavelli, 1469–1527, florentinischer Philosoph, Politiker, Diplomat, Geschichtsschreiber und Dichter. Seine Ideen zur Kriegstheorie finden sich in dem 1521 veröffentlichten ‚Dell’Arte della Guerra‘. Antoine-Henri Jomini, 1779–1869, schweizerischer Offizier und Militärtheoretiker zunächst in französischen, später russischen Diensten. Sein Hauptwerk ‚Précis de l’Art de la Guerre‘, Brüssel 1868, hat er ursprünglich für die Erziehung des späteren Zaren Alexander II. geschrieben.

Flottenbau und zeitgenössische Seekriegstheorie

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krieg. Dagegen ist – wie Nicholas A.M. Rodgers gezeigt hat – die Seekriegstheorie eine eher junge Disziplin.11 Während über lange Jahrhunderte das Handeln aus der Erfahrung dominierte, entstand Ende des 19. Jahrhunderts eine regelrechte Theorie-Hausse. Diese Theorien sind Hypothesen, die aus der Erfahrung entwickelt und am historischen Beispiel verifiziert wurden; in einigen Fällen gibt es auch einen starken technischen Einfluss. Bei der Betrachtung der verschiedenen Seekriegstheorien fällt auf, dass in sehr vielen, wenn nicht den meisten Fällen die Erfahrung der ‚seefahrenden Nationen‘ zu Grunde liegt. Sie beziehen sich naturgemäß auf die Führung eines Seekrieges und nicht eines Kontinentalkrieges; die Unterscheidung wird zumeist nicht einmal erwähnt. Seekriegstheorien aus der Erfahrung von Kontinentalmächten sind eher selten. Ebenfalls eher selten ist eine klare Ableitung aus der Theorie des Krieges; die Folge ist oft eine bedenkliche Verengung. Für das Thema dieser Arbeit sind vier Theorien von Bedeutung, die im Folgenden kurz vorgestellt werden sollen.

PHILIP COLOMB Der britische Seeoffizier Philip Colomb12 war der Begründer der schriftlich niedergelegten Seekriegstheorie in Großbritannien.13 In seinen Schriften formulierte er Ende des 19. Jahrhunderts das Denken der ‚Blue Water School‘. Natürlich ist dies eine der Theorien, die auf der Erfahrung der seefahrenden Nationen beruhen. In ihrem Mittelpunkt steht der Begriff ‚Seeherrschaft‘, eine Ableitung aus der Kriegstheorie gibt es nicht. Seeherrschaft zielt nach Colomb auf den Schutz des eigenen und die Zerstörung des feindlichen Handels14; ohne dieses Objekt ‚Handel‘ gäbe es gar keinen Seekrieg. Colomb sieht Seeherrschaft als umfassend und eher statisch. Sie kann zwar von einem Kontrahenten auf den anderen übergehen, ist aber grundsätzlich ein Zustand. Erkämpft wird die Seeherrschaft durch die Schlachtflotte; das entscheidende Seekriegsmittel ist daher das Linienschiff. Ausgeübt werden kann Seeherr10 Carl von Clausewitz, 1780–1831, preußischer General und Militärtheoretiker. Sein Hauptwerk ‚Vom Kriege‘ wurde nach seinem Tode von seiner Ehefrau 1832–1834 in Berlin in 3 Bänden herausgegeben. 11 Nicholas A.M. Rodger, Die Entwicklung der Vorstellung von Seestrategie in Großbritannien im 18. und 19. Jahrhundert, in: Jörg Duppler (Hg.), Seemacht und Seestrategie im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 1999, 83–103. 12 VAdm Philip Colomb (1831–1899) hatte schon während seiner Dienstzeit viel zu marinebezogenen Themen geschrieben. Nach seiner Pensionierung hielt er regelmäßig Vorlesungen zu Taktik und Strategie am Royal Naval College, Greenwich. 13 Philip Colomb, Naval Warfare, its ruling Principles and Practice historically treated, London 1891. Neue Ausgabe Annapolis 1990, mit einer Einleitung von Barry M. Gough. Der Rezensent in der Times schrieb 1891 bei Erscheinen des Buches: „The book is almost a pioneer of its class, for, strange to say, the literature of the greatest Naval Power in history has no authoritative treatise on the Principles of Naval Warfare“ Ebd. XXV. 14 Colomb, Naval Warfare, 57.

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schaft erst, wenn sie erkämpft ist. Zwar kann es notwendig sein, parallel dazu auch im Handelsschutz zu operieren, dies darf aber keinesfalls den Kampf um die Seeherrschaft überlagern. Für Colomb ist Seeherrschaft ganz klar das Ziel des Seekrieges und darf nicht als Mittel missverstanden werden Eine Macht, die darauf verzichtet, offensiv um Seeherrschaft zu kämpfen, begibt sich von vornherein in die Position des unterlegenen oder geschlagenen Kontrahenten und hat keine Aussicht, ihren Gegner ernsthaft zu schädigen.15 Colomb lehnt daher das Konstrukt beschränkter Seeherrschaft ab.

ALFRED T. MAHAN International wesentlich bekannter als Philip Colomb ist der amerikanische Seeoffizier Alfred T. Mahan.16 Dieser war – wie schon Philip Colomb – nicht besonders systematisch17 und er hat auch keine in sich klar gegliederte Theorie vorgelegt; sie streut vielmehr über eine Vielzahl von Schriften ab 1890. Im Werk Mahans zeigen sich zwei – durchaus ungleichgewichtige – Teile.18 Der Schwerpunkt seiner Theorie liegt auf der (politischen) Ebene der höheren Strategie in der Hypothese, dass ‚Seemacht‘ die Entwicklung der Staaten in entscheidender Weise beeinflusse.19 Mahan hat den Begriff ‚Seemacht‘ nicht selbst eingeführt, sondern ihn aus der britischen Literatur übernommen. Er verwendet ihn allerdings nicht im Sinne kulturell geprägter Seemächte wie Karthago oder Venedig, sondern eher als „strategische Option und politisches Konzept.“20 Mahan reicherte den Begriff mit imperialistischen und sozial-darwinistischen Inhalten an21, was dem Zeitgeist des ausgehenden 19. Jahrhunderts entsprach und seine Popularität sicherlich beförderte. Weil Mahan den Begriff in unterschiedlicher

15 „The control of the sea, or what I shall now and hereafter call by its established title, the ‚Command of the Sea‘, was henceforth to be understood as the aim of naval war. A power striving for anything else, such as evasions, or surprises of ports or territories, or merely defensive guardings of commerce, accepted the position of the inferior and beaten naval power, and could never hope, so long as she maintained that attitude, of seriously damaging her opponent.“ Colomb, ebd., 47. 16 Alfred T. Mahan, *27.09.1840, †01.12.1914. Ausführliche Angaben zur Biographie Mahan’s in Stahel, Klassiker der Strategie, 207–223. 17 Vgl. Rodger, Entwicklung, 83–86; Rolf Hobson, Zur Seemachtideologie, in: Jürgen Elvert/Sigurd Hess/Heinrich Walle (Hgg.), Maritime Wirtschaft in Deutschland. Seeschifffahrt – Werften – Handel – Seemacht im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2012, 170–175. 18 Dazu vgl. John Tetsuro Sumida, Inventing Grand Strategy and Teaching Command. The Classic Works of Alfred Thayer Mahan Reconsidered, Washington 1997. 19 Vgl. Alfred T. Mahan, The Influence of Seapower upon History 1660–1783, Boston 1890, Neudruck London, 1965. 20 Andrew Lambert, Seemacht und Geschichte. Der Aufbau der Seemacht im Kaiserlichen Deutschland, in: Elvert/Hess/Walle (Hgg.), Maritime Wirtschaft in Deutschland, 190–209. 21 Zur Theoriebildung Mahan’s vgl. Michael Hanke, Das Werk Alfred T. Mahan’s, Osnabrück 1974. Zum Begriff ‚Seemacht‘ vgl. auch Hobson, Maritimer Imperialismus, 170–174.

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Bedeutung verwendete, haftet ihm einige Unschärfe an.22 Die von Hobson verwendete Kennzeichnung als ‚Seemachtideologie‘ ist für diesen Teil der Theorie Mahans sicherlich treffend.23 Deutlich weniger auffällig ist in Mahans Werk die Ebene der Seekriegstheorie ausgeprägt.24 Es lassen sich aber vier Prinzipien erkennen, denen Mahan Allgemeingültigkeit zuerkannte.25 Der zentrale Begriff ist auch bei Mahan die ‚Seeherrschaft‘, allerdings mit deutlich anderem Inhalt als bei Philip Colomb. Ziel des Seekrieges ist für Mahan die Kontrolle von Seeverbindungslinien, Seeherrschaft ist das Mittel dazu. Sie ist aber kein umfassender Zustand wie bei Colomb. Sie bezieht sich vielmehr auf bestimmte Seeverbindungslinien26 und kann daher räumlich, zeitlich und in ihrer Intensität durchaus unterschiedlich sein. Einen andauernden Zustand streitiger Seeherrschaft gibt es für Mahan allerdings nicht. In der Erringung und Behauptung von Seeherrschaft ist die zentrale Aufgabe die Ausschaltung der feindlichen Flotte27, allein schon, weil das die ökonomischste Form zur Ausübung von Seeherrschaft ermöglicht. Um den Kampf gegen die feindliche Flotte erfolgreich führen zu können, fordert Mahan eine Konzentration der eigenen Kräfte auf dessen Hauptmacht.28 Die Entscheidung über Offensive und Defensive hat auf der politischen, der strategischen und der taktischen Ebene unterschiedliche Bedeutung. Die Marine muss aber immer offensiv konzipiert, auf das Ringen um Seeherrschaft ausgerichtet sein.29 Mahan unterstreicht die Bedeutung von geographischen Positionen und den Verbindungslinien zu ihnen. Für eine Position sind drei Eigenschaften wichtig: die geographische Lage, die militärische Nutzbarkeit für Offensive und Defensive und die vor Ort verfügbaren Ressourcen. Erst eine geeignete Position ermöglicht

22 Zur unterschiedlichen Bedeutung des Begriffs ‚Seemacht‘ vgl. Hanke, Mahan, 92–93. 23 Vgl. Hobson, Maritimer Imperialismus, 191. 24 Hobson merkt dazu an: „Einige wichtige seestrategische Einsichten gibt es auch im umfangreichen Werk Mahans, sie sind aber gut verborgen (…)“. Hobson, Seemachtideologie, 174. 25 Vgl. Hanke, Mahan, 150. 26 Ebd., 151–152. In ganz gegensätzlicher Interpretation sieht Hobson die Seeherrschaft bei Mahan als ‚unteilbar und ausschließlich‘, leider ohne auf eine entsprechende Aussage Mahans zu verweisen. Hobson, Maritimer Imperialismus, 185. Hobson beruft sich auf eine Interpretation Mahans durch Herbert Rosinski. In seinem Essay ‚Command of the Sea‘ von 1939 formuliert Rosinski die Hypothese, dass es im Begriff Seeherrschaft nicht um das Beherrschen von Seeverbindungslinien gehe, sondern um das Ausschließen des Gegners von ihnen; Seeherrschaft sei daher immer einseitig und ausschließlich. B. Mitchell Simpson III (Hg.), The Development of Naval Thought. Essays by Herbert Rosinski, Newport 1977, 4. Mahans Diskussion z. B. des Zweiten Punischen Krieges unterstreicht dagegen deutlich, dass er Seeherrschaft als zumeist relativ und begrenzt ansah. Mahan, Influence, 15–20. 27 Hanke, Mahan, 152. 28 Ebd., 157. 29 Ebd., 126.

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den Einsatz der Flotte in einem bestimmten Seegebiet. Ohne sichere Verbindung ist die Position nichts wert.30

JULIAN S. CORBETT Im Gegensatz zu Mahan hat der britische Historiker und Seekriegstheoretiker Julian S. Corbett eine in sich geschlossene und vollständige Theorie vorgelegt; von Hause aus Jurist, lag ihm wohl das systematische Denken. Auch diese Theorie stammt aus der Erfahrung der seefahrenden Nationen. Sie nutzt wie Colomb und Mahan ausgiebig das historische Beispiel für eine empirisch-induktive Beweisführung. Im Gegensatz zu diesen stützte sich Corbett aber auch sehr umfangreich auf die Gedanken anderer bedeutender Kriegstheoretiker für eine logisch-deduktive Beweisführung.31 Die Theorie ist niedergelegt in den 1911 erschienenen ‚Some Principles of Maritime Strategy‘.32 Ihr Schwerpunkt liegt auf dem, was Corbett ‚Maritime Strategy‘ nennt; damit meinte er „die Grundsätze, die einen Krieg bestimmen, in dem die See ein maßgebender Faktor ist“.33 Anders als Mahan versuchte Corbett also nicht, seine Prinzipien als universell gültig zu verkaufen.34 Den überwölbenden Begriff ‚Seemacht‘ verwendet Corbett nicht. Er entwickelte seine Seekriegstheorie vielmehr aus einer Theorie des Krieges. Für letztere stützte er sich ausführlich auf Clausewitz35 und ging von dessen Diktum aus, „dass der Krieg im grundlegenden Sinn eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei.“36

30 Ebd., 163. Mahan blieb in der Vielzahl seiner Äußerungen allerdings nicht immer konsistent. So erwartete er in einem Interview mit der New Yorker ‚Evening Post‘ im August 1914 die britisch-deutsche Seeschlacht in den ersten Tagen des Krieges und widersprach damit seinen eigenen Äußerungen zu Seeverbindungslinien und geographischer Position. Vgl. Michael Epkenhans, Seemacht = Weltmacht. Alfred T. Mahan und sein Einfluss auf die Seestrategie des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Jürgen Elvert/Jürgen Jensen/Michael Salewski (Hgg.), Kiel, die Deutschen und die See, Stuttgart 1992, 35–47; hier: 41 und FN 38. 31 Zur Methodik Corbett’s vgl. J.J. Widen, Theorist of Maritime Strategy. Sir Julian Corbett and his Contribution to Military and Naval Thought, Farnham 2012, 3–4. 32 Julian S. Corbett, Some Principles of Maritime Strategy, London 1911. In der von Eric Grove eingeleiteten Ausgabe Annapolis 1988 sind die oft als Green Pamphlet bezeichneten Unterrichtshilfen ‚Strategical Terms ans Definitions used in Lectures on Naval History‘ von 1906 und ‚Notes on Strategy‘ von 1909 für den Strategie-Kurs am Royal Naval War College abgedruckt. Diese Ausgabe ist im Weiteren benutzt worden. Die deutsche Ausgabe des Buches Julian S. Corbett, Die Seekriegsführung Groß-Britanniens, übersetzt von KAdm a.D. Seebohm, Berlin, o.J., ist wegen schwerwiegender Mängel in der Übersetzung nur mit großer Vorsicht verwendbar. 33 Corbett, Maritime Strategy, 15. Der deutsche Wortlaut der Zitate ist aus der nicht veröffentlichten Übersetzung Uwe Dirks, 2012, entnommen. 34 Zum Einfluss Corbetts auf die Royal Navy vgl. Uwe Dirks, Julian S. Corbett und die britische Seekriegführung 1910–1918, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 37/1985, 35–50. 35 Vgl. dazu Michael I. Handel, Masters of War, 3. Aufl., New York, 2001, 277–297. 36 Corbett, Maritime Strategy, 17.

Flottenbau und zeitgenössische Seekriegstheorie

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Es liegt daher auch in der Verantwortung des Politikers, dass die Art eines bevorstehenden Krieges richtig erkannt, möglicherweise sogar beeinflusst wird. Clausewitz hat dazu formuliert: Der erste, der grossartigste, der entschiedendste Akt des Urteils nun, welchen der Staatsmann und Feldherr ausübt, ist der, dass er den Krieg, welchen er unternimmt, in dieser Beziehung richtig erkenne, ihn nicht für etwas nehme oder zu etwas machen wolle, was er der Natur der Verhältnisse nach nicht sein kann. Dies ist also die erste, umfassendste aller strategischen Fragen.37

Auf die mögliche Art eines Krieges und ihre Konsequenzen ging Corbett ausführlich ein. Er unterschied nach unbeschränkten und beschränkten Kriegen, offensiver und defensiver Zielsetzung sowie kontinentalen und maritimen Kriegen. Das Geheimnis des britischen Erfolges lag für Corbett nicht in seiner ‚Seemacht‘, sondern in der geschickten Nutzung des beschränkten Krieges. Die Erkenntnis über die Art des Krieges gehörte für Corbett in den Bereich der höheren Strategie. Höhere Strategie beschäftigt sich im weitesten Sinne mit den gesamten Ressourcen einer Nation für den Krieg. Sie ist ein Zweig der Staatskunst. Sie betrachtet Armee und Flotte als Teile einer einzigen Streitkraft, die zusammen als das Instrument des Krieges geführt werden müssen. Aber sie muss auch in ständiger Berührung mit der politischen und diplomatischen Position des Landes bleiben (von der ein wirkungsvoller Einsatz des Instrumentes abhängt), wie auch mit seiner wirtschaftlichen und finanziellen Position (durch welche die Kraft für den Betrieb des Instrumentes aufrechterhalten wird).38

Erst auf der Grundlage der Entscheidungen der höheren Strategie kann die niedere Strategie entwickelt werden. Niedere Strategie hat als Domäne die Operationspläne. Sie beschäftigt sich mit: (1) Der Auswahl der ‚Objekte‘, d.h. bestimmter feindlicher Streitkräfte oder strategischer Punkte, mit denen man sich auseinandersetzen muss, um das Ziel der jeweiligen Operation zu erreichen. (2) Der Führung der Streitkräfte, die der Operation zugeordnet sind.39

Im wesentlichen aus der Art des Krieges ergibt sich, welche Ausformung die niedere Strategie annimmt. (1) Seestrategie, soweit das unmittelbare Ziel durch eine Flotte allein erreicht werden muss. (2) Landstrategie, soweit das unmittelbare Ziel durch eine Armee allein erreicht werden muss. (3) Gemeinsame Strategie, soweit das unmittelbare Ziel durch Armee und Flotte gemeinsam erreicht werden muss.40

Ziele und Objekte der beiden strategischen Ebenen können durchaus unterschiedlich sein und dürfen nicht miteinander verwechselt werden. So bot Corbett’s Präferenz für die Offensive in der höheren und die Defensive in der niederen Strategie schon seinen Zeitgenossen reichlich Gelegenheit für Missverständnisse.

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Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Berlin 1880, 18. Corbett, Maritime Strategy, 327. Ebd., 327. Ebd., 327.

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Im Seekrieg kam es für Corbett darauf an, die vitalen Seeverbindungslinien zu beherrschen; insoweit war er sich sogar mit Mahan einig. Idealerweise und vollständig wäre das zu erreichen, wenn man die feindliche Flotte in der Schlacht vernichtet. Weil aber diese Schlacht nicht erzwungen werden kann – und vielfach auch nicht muss41 – hielt Corbett eher die unbeherrschte See für den Normalzustand im Seekrieg. Umso mehr kommt es darauf an zu erkennen, wo man möglicherweise mit zeitlich und örtlich begrenzter Seeherrschaft eigene Operationen durchführen kann, oder auch wo man dem Gegner Seeherrschaft streitig machen kann. Indem Corbett den Begriff Seeherrschaft42 nicht starr, sondern sehr variabel interpretierte, ist seine Theorie auch offen für Entwicklungen, in denen Seeherrschaft sich auf die Verteidigung des einzelnen Konvois reduziert. Aber selbst wenn es zu den großen Momenten im Seekrieg kommt, in denen man allgemeine Seeherrschaft durch die Schlacht gewinnen kann, heißt das noch nicht, dass damit ein Krieg entschieden wäre. Corbett scheute sich nicht, dies am Beispiel der Schlacht vor Trafalgar deutlich zu machen.43 Weil der reine Seekrieg nur sehr langsam wirken kann, war Corbett im deutlichen Gegensatz zu Mahan ein überzeugter Anhänger des ‚combined warfare‘, also der gemeinsamen Kriegführung von Heer und Marine.44 Dieses Prinzip hat er aus seinem historischen Werk entwickelt; eine seiner wichtigsten Arbeiten trägt den Untertitel ‚A Study in Combined Strategy‘.45

DIE ‚JEUNE ÉCOLE‘ Eine der seltenen Seekriegstheorien einer Kontinentalmacht ist die sogenannte ‚jeune école‘.46 Der Unterschied ist deutlich zu erkennen: Die Kontinentalmacht zielt nicht darauf ab, allgemeine Seeherrschaft zu erlangen. Ihre erste Priorität liegt vielmehr darin, dem maritimen Gegner Seeherrschaft soweit zu verweigern, 41 „Es ist das primäre Ziel der Flotte, Verbindungen zu sichern. Wenn die feindliche Flotte in einer Position ist, sie unsicher zu machen, dann muss sie außer Gefecht gesetzt werden.“ Corbett, Notes on Strategy, abgedruckt in Corbett, Maritime Strategy, 343. 42 „Daher bedeutet Seeherrschaft die Herrschaft über Seeverbindungslinien, an denen die Kriegführenden gegensätzliche Interessen haben“. Corbett, Notes on Strategy, abgedruckt in Corbett, Maritime Strategy, 336. 43 „As it was, the sea had done all the sea could do, and for Europe the end was failure“ Julian S. Corbett, The Campaign of Trafalgar. Vol. II, London 1910, 470. 44 Corbett verwendet den Begriff ‚combined‘ im Sinne von ‚mehr als eine Teilstreitkraft‘; das entspricht dem ‚joint‘ im heute gebräuchlichen NATO-Englisch. 45 Julian S. Corbett, England in the Seven Year’s War. A Study in Combined Strategy, London 1907. 46 Vgl. Volkmar Bueb, Die ‚Junge Schule‘ der französischen Marine. Strategie und Politik 1875–1900, Boppard 1971. Hobson hat für die ‚preußische Schule‘ seestrategischen Denkens ebenfalls eine kontinentale Perspektive herausgearbeitet. Hobson, Maritimer Imperialismus, 191. In dieser Richtung kann man auch die Schrift des VAdm z.D. Viktor Valois, Seemacht, Seegeltung, Seeherrschaft. Kurze Betrachtung über Seekriegsführung, Berlin 1899, werten.

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dass er die Entscheidung an Land nicht gefährden kann. Die übliche Bewertung, dass dieses ‚denial‘ eben nur die Aushilfslösung des Schwächeren sei, ist nicht ganz falsch, weil die Kontinentalmacht aus gutem Grund in der Seekriegführung meist die schwächere Partei ist. Die Bewertung verdeckt aber, dass in dem ‚denial‘ eine sehr berechtigte, eigenständige Strategie liegen kann. Aufgekommen nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 beeinflusste die ‚jeune école‘ das Denken in der französischen Marine bis zum Ende des Jahrhunderts.47 Sie ist nicht das Produkt eines einzigen Theoretikers sondern verbindet sich mit vielen Namen und ebenso vielen Verästelungen; einer der prominentesten Vertreter war der französische Admiral Aube. Die ‚jeune école‘ wurde einerseits durch die steigende strategische Bedeutung des Überseehandels und andererseits durch technische Entwicklungen ausgelöst, die es nahelegten, dass der herkömmliche Kreuzerkrieg in einen ‚guerre industrielle‘ verwandelt werden könnte. Das zentrale Element war der Torpedo; sein massierter Einsatz durch Torpedoboote würde die traditionelle enge Blockade nahezu unmöglich machen. Der Dampfantrieb würde – unabhängig vom Wind – das Aus- und Einlaufen von Kreuzern auch trotz einer offenen Blockade ihrer Häfen erleichtern. Und schließlich ermöglichte es die Entwicklung moderner Panzerplatten, Kreuzer zu panzern; in einer Zeit, in der man noch an geringe Schussentfernungen glaubte und daher der Schnellfeuerkanone den Vorzug vor dem größeren Kaliber gab, wurde der Panzerkreuzer ein sehr ernstzunehmendes Seekriegsmittel in einem ‚guerre industrielle‘. Eine kostspielige Schlachtflotte war in diesem Gedankengebäude überflüssig. Das eindeutig gegen Großbritannien gerichtete Konzept der ‚jeune école‘ verlor mit dem britisch-französischen Ausgleich 1904 und der Seeschlacht vor Tsushima 1905 seine Bedeutung; auch Frankreich schwenkte in den ‚mainstream‘ der ‚Seemächte‘48 ein. Teile des Konzepts finden sich aber später bei Lord Fisher wieder.

KAISERLICHE MARINE Die höhere Strategie, auf der Tirpitz Flottenbau beruhte, war eminent politisch49, aber auch eminent persönlich. Wir finden hier nicht ein Kriegsbild, das eine politische Führung nach Abwägung aller Einflussfaktoren entwickelt, und aus dem dann das Militär seine Strategie abgeleitet hätte. Wir finden vielmehr ein Feind-

47 Vgl. Francois-Emmanuel Brézet, Lehren der Geschichte und technischer Fortschritt am Beispiel der Entwicklung der Doktrin der Jeune École in Frankreich, in: Duppler (Hg.), Seemacht und Seestrategie, 133–151. 48 So zum Beispiel René Daveluy, Etude sur le Combat Naval, Paris, 1902. 49 „Nichts ist für […] Tirpitz charakteristischer als die Fähigkeit, in weltpolitischen Kategorien zu denken, zu planen und nach Möglichkeit zu handeln.“ Michael Salewski, Tirpitz. AufstiegMacht-Scheitern, Göttingen 1979, 16.

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bild50, das – stark vom Zeitgeist gefärbt – die persönliche Weltsicht des Admirals spiegelte. Tirpitz sah in England die Macht, die jeder Entwicklung Deutschlands im Wege stand. Eigene Durchsetzungsfähigkeit wollte er mit Hilfe von Seemacht erreichen, die für England jeden Krieg zu einem inakzeptablen Risiko machen sollte.51 Damit ist die Frage nach der Art des Krieges beantwortet: die Kontinentalmacht Deutschland sollte Großbritannien mit einem reinen Seekrieg drohen.52 Die militärische Fähigkeit würde dem Deutschen Reich großen Bündniswert verschaffen. Vom Reichskanzler erwartete Tirpitz, dass er dieses Konstrukt zur Grundlage deutscher Politik machte.53 Das Risiko sollte durch eine deutsche Schlachtflotte gebildet werden, die „ihre größte Kriegsleistung zwischen Helgoland und der Themse entfalten kann.“54 Selbst eine siegreiche Schlacht gegen diese Flotte würde für die Royal Navy so irreparable Schäden verursachen, dass England das Risiko meiden und politische Zugeständnisse machen würde. Dieses ‚Risiko‘ wandelte sich bei Tirpitz im Laufe

50 „Dieses im politischen Denken der Deutschen am festesten verwurzelte Vorurteil von der Dämonie der englischen Politik steht im engsten Zusammenhang mit Weltpolitik, Flottengesetzen und Marinepropaganda“. Eckart Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894– 1901, Berlin 1930, 387. 51 Am 28.9.1899 formulierte er das Ziel des Flottenbaus gegenüber dem Kaiser so: „Wenn das Ziel erreicht ist, haben Eure Majestät eine effektive Macht von 38 Linienschiffen mit Zubehör. Dieser Macht wird nur noch England überlegen sein. Aber auch England gegenüber haben wir durch geographische Lage, Wehrsystem, Mobilmachung, Torpedoboote, taktische Ausbildung, planmäßigen organisatorischen Aufbau und einheitliche Führung zweifellos gute Aussichten. Abgesehen von den für uns durchaus nicht aussichtslosen Kampfverhältnissen wird England aus allgemein politischen Gründen und von rein nüchternem Standpunkt des Geschäftsmannes aus jede Neigung uns anzugreifen verloren haben und infolgedessen Euer Majestät ein solches Maß an Seegeltung zugestehen und Euer Majestät ermöglichen, eine große überseeische Politik zu führen.“ Alfred von Tirpitz, Erinnerungen, Leipzig, 1920, 107. 52 Bei Assmann zeigt sich exemplarisch die fehlerhafte Einschätzung dieser Frage: „Während Tirpitz ‚als den gefährlichsten Kriegsfall‘ aus der damaligen Weltlage heraus ein maritimes Duell England – Deutschland angenommen und als Maßstab seinem Flottenbau zugrunde gelegt hatte, sahen wir uns im Kriege einer Koalition großer Seemächte mit der größten Europas als Hauptmacht gegenüber, einer Konstellation, die die politische Leitung des Reichs um die Jahrhundertwende als außerhalb jeder Möglichkeit liegend angesehen hatte. Es würde töricht sein, wenn jemand den Großadmiral v. Tirpitz dafür verantwortlich machen wollte, dass die von ihm geschaffene Flotte dieser Lage nicht gewachsen gewesen ist.“ Kurt Assmann, Deutsche Seestrategie in zwei Weltkriegen, Heidelberg 1957, 22. 53 Tirpitz hatte damit innenpolitisch beschränkten Erfolg, außenpolitisch konnte die von ihm erwartete politische Wirkung nie erreicht werden. Ab 1909 begann sich in der politischen Führung des Reiches der Gedanke (wieder) durchzusetzen, dass Deutschland von seiner Stärke als Kontinentalmacht abhing. Vgl. Michael Epkenhans, Die wilhelminische Flottenrüstung 1908–1914. Weltmachtstreben, industrieller Fortschritt, soziale Integration, München 1991, 95. 54 Denkschrift des Staatssekretärs des Reichsmarineamtes, Kontreadmiral Tirpitz, vom Juni 1897: ‚Allgemeine Gesichtspunkte bei der Feststellung unserer Flotte nach Schiffsklassen und Schiffstypen‘, Ziffer 4. Das Dokument ist abgedruckt in: Jonathan Steinberg, Tirpitz and the Birth of the German Battle Fleet. Yesterday’s Deterrent, London 1968, 208–223, hier 208. Das Buch erschien erstmals 1965 unter dem Titel Yesterday’s Deterrent.

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der Zeit von der Inkaufnahme einer Niederlage über eine gute Aussicht in der Defensive bis zur realen Chance eines eigenen Sieges.55 In jedem Fall würde der ‚Hebel Nordsee‘ es Deutschland ermöglichen, seine Interessen weltweit zu verfolgen. Vor dem Ersten Flottengesetz setzte sich Tirpitz durchaus auch mit theoretischen Alternativen auseinander, insbesondere der (strategischen) Defensive56 und der ‚jeune école‘57, aber er verwarf sie: Eine Flotte, die Wirkung entfalten sollte, musste offensiv um die Seeherrschaft kämpfen und das Mittel dazu waren Linienschiffs-Geschwader. Unabhängig davon, ob Tirpitz – wie seine Apologeten behaupten58 – die Flotte rein defensiv gemeint habe, oder ob das Konzept eher offensiv gedacht war, musste die Flotte militärisch wirken können, wenn das Ganze einen militärischen Sinn haben sollte. Nicht zuletzt weil diese militärische Wirkung vor und im Krieg nicht realisiert werden konnte, gibt es eine Reihe von Deutungen, die im deutschen Flottenbau ganz andere Motive sehen.59 Dass die militärische Wirkung des Flottenbaus nicht eingetreten ist, schließt aber nicht aus, dass der Plan auf militärische Wirkung zielte. Tirpitz wird im Allgemeinen eine starke gedankliche Nähe zu Mahan zugeschrieben.60 Wenn man

55 Vgl. Michael Salewski, Tirpitz, 40. „Tirpitz war zu klug, zu sehr Staatsmann und zu sehr Fortschrittsoptimist, einen solchen Aberwitz [die in Kauf genommene Niederlage] zum Inhalt seines Lebenswerks zu machen. Er brauchte eine Flotte mit einer realen Siegeschance für Deutschland und nicht eine Flotte mit einem Risiko für England.“ 56 Taktische und strategische Dienstschriften des Oberkommandos der Marine. Nr. IX, Berlin 16.6.1894. Als Verfasser der Dienstschrift gilt allgemein der damalige Chef des Stabes im Oberkommando, Kapitän zur See Tirpitz. Salewski, Tirpitz, 40, nennt sie die „Quintessenz Tirpitzschen Denkens.“ Das Dokument ist vollständig abgedruckt in: Besteck, First Line of Defence, 125–208, hier 127–130. 57 Ebd., 135–137. 58 So z.B. Assmann, Seestrategie, 20: „Der Flottenbau, der in dem uns missgünstigen Ausland aggressiv und imperialistisch gewertet wurde, war deutscherseits rein defensiv gedacht.“ 59 Kehr, Schlachtflottenbau, sieht für die politischen Parteien im Flottenbau vorrangig innenpolitische Motive zur Herrschaftserhaltung. Tirpitz und seine Offiziere hätten den Flottenbau betrieben, „weil sie Marineoffiziere waren und ihre Waffe stärken wollten.“ Zitat 380. Volker Berghahn, Der Tirpitz-Plan. Genesis und Verfall einer innenpolitischen Krisenstrategie unter Wilhelm II., Düsseldorf 1971, betont eine innenpolitische Absicht im Tirpitz-Plan, die der Absicherung des wilhelminischen Herrschaftssystems gedient habe. Holger K. Herwig, Das Elitekorps des Kaisers. Die Marineoffiziere im Wilhelminischen Deutschland, Hamburg 1977, 16–19, sieht im Flottenbau eher einen Selbstzweck, mit dem das Seeoffizierkorps seine Emanzipation fördern wollte. Daneben gibt es auch die Deutung, Admiral Tirpitz habe den Flottenbau aus Karrieregründen betrieben, so zum Beispiel Carl-Axel Gemzell, Organization, Conflict and Innovation. A Study of German Naval Strategic Planning, 1888–1940, Lund 1973, 96. 60 So sieht Assmann die ‚Dienstschrift Nr. IX‘ als „stark beeinflusst durch die Mahanschen Seekriegslehren.“ Assmann, Seestrategie, 18. Zum Einfluss Mahans auf Tirpitz vgl. auch Rödel, Krieger, 170. Vgl. auch die unnötig polemische Darstellung bei Herwig, der für Tirpitz eine „beinahe unterwürfige Verehrung Mahans“ sieht. Holger H. Herwig, Der Einfluss von Alfred Th. Mahan auf die deutsche Seemacht, in: Werner Rahn (Hg.), Deutsche Marinen im

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Tirpitz als Anhänger Mahans sieht, dann bleibt allerdings völlig unerklärlich, warum er ignoriert hat, dass die Hochseeflotte auf Grund ihrer geographischen Position nicht um atlantische Seeverbindungslinien kämpfen, und dass sie deswegen auch gegenüber der Royal Navy keine Schlacht erzwingen konnte.61 Die Lösung liegt wohl darin, dass Tirpitz sein Gedankengebäude in zwei Teilen und auf zwei unterschiedlichen Wegen entwickelt hat: In seinem politischen Überbau auf der Ebene einer Höheren Strategie, gebildet aus ‚Risikogedanken‘, ‚Hebel Nordsee‘ und ‚Bündnisflotte‘ sprach Tirpitz wie Mahan gern von ‚Seeinteressen‘, ‚Seegeltung‘ und ‚Seemacht‘, ohne dass er diese Gedanken von dem Amerikaner übernommen hätte.62 Die Popularität Mahans ließ sich aber trefflich nutzen, um die eigene Argumentation zu unterstreichen. Seine Seestrategie hat Tirpitz aber nicht aus diesem Überbau ‚top-down‘ abgeleitet, sondern ‚bottom-up‘ aus den Fähigkeiten der Seekriegsmittel.63 Auf dieser Ebene war Tirpitz kein ‚Mahanist‘ wie so viele seiner Bewunderer. Sein Flottenbau beruhte seekriegstheoretisch vielmehr auf der ‚Blue Water School‘ und das betraf vor allem den Seeherrschafts-Begriff Philip Colombs. Im zweiten Abschnitt der ‚Dienstschrift Nr. IX‘ ist formuliert: (…) bildeten die Schiffe und die Flotten sich zur Streitkraft selbst heraus, die See wurde ebenfalls Kriegsschauplatz und damit das Ringen um die Seeherrschaft die erste Aufgabe einer Flotte: denn erst wenn die Seeherrschaft erreicht ist, bieten sich die eigentlichen Mittel, um den Feind zum Frieden zu zwingen.64

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Wandel. Vom Symbol nationaler Einheit zum Instrument internationaler Sicherheit, München 2005, 127–142, hier 130. Vgl. diese Argumentation mit dem Schluss, dass Tirpitz Mahan nicht verstanden habe bei Epkenhans, Seemacht, 40. Auch Kennedy, Maritime Strategieprobleme, 188, sieht das so: „Schließlich gehört es zu den Ironien der Geschichte, dass Admiral Tirpitz die Ideen Mahans, als dessen Schüler er sich ausgab, so oft mißinterpretierte“. Kehr, Schlachtflottenbau, 5, zitiert dazu Friedrich Naumann: „Der Liberalismus hat den Gedanken erfunden, dem der Kaiser die Form gegeben hat: Reichsgewalt ist Seegewalt.“ Zu den Ursprüngen im Liberalismus der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts vgl. Kehr, Schlachtflottenbau, 4–5. In seinem Memorandum vom 1.2.1891‚ Gründe, welche für Beibehaltung eines Oberkommandos mit kräftigen Befugnissen sprechen‘ nennt Tirpitz zwei Möglichkeiten, den Einsatz der Marine zu untersuchen (1) Von oben, d.h. von der Politik bis hinunter zur Strategie und (2) von unten, von der Kampfkraft des einzelnen Schiffes über die Taktik zur Abwägung der strategischen Möglichkeiten. Vgl. Hobson, Maritimer Imperialismus, 208–209. Tirpitz hat sich für den zweiten Weg entschieden. Die Strategie und der politische Überbau entwickelten sich unabhängig voneinander. „Beide Ideenströme waren (…) zunächst weitgehend unabhängig voneinander gewachsen. Der eine entsprang den militärisch-strategischen Überlegungen des Seeoffiziers Tirpitz, während der andere aus den Anschauungen des ‚Mahanisten‘ Tirpitz entstanden war.“ Berghahn, Tirpitz-Plan, 184. Dienstschrift Nr. IX, in Besteck, First Line of Defence, 126. Die Dienstschrift IX ist die erste von Tirpitz Denkschriften, in der er die Schlacht mit dem Ziel umfassender Seeherrschaft verbindet. Vgl. Hobson, Maritimer Imperialismus, 219.

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Wie Colomb sah Tirpitz die Seeherrschaft als das Ziel des Seekrieges: wer sie in der Schlacht erkämpft hat, dem fiel alles andere zu, aber eben erst danach.65 Deswegen brauchte er das Fell des Bären auch nicht zu verteilen, bevor er erlegt war. Und mit Colomb glaubte auch Tirpitz, (…) dass der eigenen Flotte (…) nur die Wahl bleibt zwischen Untätigkeit, d.h. moralischer Selbstvernichtung, und dem Entscheidungskampfe auf offener See.“66 Tirpitz folgte daher auch nicht Mahans Theorie der Seeverbindungslinien als dem ersten Ziel des Seekrieges. So viel er auch vom Bündniswert seiner Flotte sprach, so desinteressiert war er an dem real existierenden Dreibund67 und seinem möglichen Einfluss auf Seeverbindungslinien im Mittelmeer. Und schließlich waren für Tirpitz auch Mahans Ausführungen zur geographischen Position offensichtlich irrelevant, er reklamierte sogar ausdrücklich die ‚geographische Lage‘ als Vorteil gegenüber England.68 Wenn Colomb Recht hatte, und die Royal Navy umgehend die Seeherrschaft erringen musste, dann musste sie auch die Schlacht suchen. Tirpitz brauchte dann nicht viel Strategie, er wollte die Schlacht ja auch. Das Problem reduzierte sich damit auf die Frage, wie man der deutschen Flotte die besten Aussichten für die Schlacht verschaffen konnte. Das waren zunächst einmal Fragen der Taktik, Technik und Ausbildung, welche die kaiserliche Marine brillant löste, dann aber ganz entscheidend die Frage der Zahl. Wie groß muss eine Flotte sein, dass bei einer Auseinandersetzung mit ihr auch für den ‚seemächtigsten Gegner‘ dessen eigene Machtstellung in Frage gestellt wird, oder später: die eine angemessene Aussicht auf Erfolg hat? Mit Zahlen war Tirpitz zurückhaltend. In einer frühen Phase argumentierte er damit, dass die Größe der Flotte dem Umfang der ‚Seeinteressen‘ entsprechen müsse. Dies war ein brauchbares Argument für Expansion, weil die Seeinteressen zum Wohle der Nation ja ständig wachsen mussten. Die Durchsetzung gegenüber dem Reichstag wurde durch das Geschwader-Prinzip erleichtert.69 Aber daraus ließen sich kaum konkrete Zahlen 65 „Um diese [Seeherrschaft] zu besitzen [gemeint ist: auszuüben] ist Teilung der Kräfte, ein Zerstreuen der Flotte erforderlich, und dies darf wiederum nicht erfolgen, solange die feindliche Flotte […] noch nicht entscheidend geschlagen ist.“ Dienstschrift Nr. IX, in: Besteck, First Line of Defence, 132–133. 66 Ebd., 128. 67 Tirpitz, Erinnerungen, 141. Zum Dreibund und seiner Marinekonvention von 1912 vgl. Holger Afflerbach, Der Dreibund. Europäische Großmacht- und Allianzpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, Wien 2002, 769–785. 68 Tirpitz, Erinnerungen, 107. 69 „[Der Reichstag] fügte sich der gesetzlichen Fesselung nur, insoweit sie durch organisatorische Notwendigkeiten begründet war, nämlich durch jenen organischen Flottenplan, der die von uns als taktische Einheit erprobte und von der ganzen Welt nachgeahmte Geschwaderformation enthielt, nicht einzelne Schiffe. Forderten wir geschwaderweise, so konnte der Reichstag Geschwader streichen, aber nicht Schiffe, weil er damit seine Zuständigkeit überschritten und in das Militärisch-Organisatorische eingegriffen hätte.“ Tirpitz, Erinnerungen, 102–103. Diese Wertung durch Tirpitz ist einseitig und verschweigt, dass die Forderung von Geschwadern im Ersten Flottengesetz auf den Abgeordneten Lieber (Zentrum) zurückgeht. Während bis dahin das Budgetrecht des Reichstages ohne Verbindung neben dem Organisationsrecht des Kaisers stand, wurde mit der gesetzlichen Festlegung auf 2 Geschwader Linien-

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für ein Flottengesetz ableiten. Für diesen Zweck verwendete Tirpitz das Argument, die eigene Flotte müsse etwa ⅔ des Umfanges der ‚angreifenden‘ Flotte haben.70 Auch dieses Argument variierte er taktisch: Für das Erste Flottengesetz wurde noch auf die Kombination Frankreich – Russland Bezug genommen. Das entsprach dem gleichzeitigen Kriegsbild des Heeres und ermöglichte eine Zahl, die nicht wirklich über den bisherigen Bestand hinausging; tatsächlich entsprach sie dem, was Tirpitz binnen 7 Jahren für leistbar hielt. Mit dem Zweiten Flottengesetz wurde die Royal Navy zum Maßstab. Das bedeutete allerdings nicht, dass Tirpitz sich über die Verhältniszahl an das konkrete Rüstungsverhalten der Briten binden lassen wollte. Das Flottengesetz spiegelte vielmehr eine in die Zukunft gerichtete Annahme, also eine langfristige Zielvorgabe mit regelmäßiger Ausführung, unabhängig vom Handeln anderer.71 Tirpitz hat wiederholt damit argumentiert, dass die Briten wegen anderer Verpflichtungen nicht alle ihre Kräfte in der Nordsee konzentrieren könnten. Ob man daraus eine für die ‚Strategie‘ schwerwiegende falsche Einschätzung konstruieren möchte72, mag dahingestellt bleiben. Tatsächlich hat er jedoch in dem Versuch, eine langfristige Orientierung zu finden, seine eigene Einschätzung der britischen Rüstungs-Möglichkeiten – ohne Abstriche - herangezogen. Diesen Gedanken hat er im Oktober 1911 gegenüber dem Reichskanzler so formuliert: Die Relation ist ein Grundsatz, kein Rechenexempel. Wird die Novelle [von 1912] durchgeführt, so wie von mir vorgeschlagen, so kann die Flotte (…) alles in allem genommen von den Engländern nicht um mehr als die Hälfte überboten werden. (…) Durchführung eines ‚Two German Standards‘, d.h. ein jährliches Bautempo von sechs großen Schiffen (…) ist auch für die Engländer nicht möglich.73

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schiffe und 2 Divisionen Küstenpanzer die Bindung des Reichstages durch eine Bindung des Kaisers ergänzt. Vgl. Kehr, Schlachtflottenbau, 152–153. Zu den Erfahrungen der Marineverwaltung mit der jährlichen Bewilligung der Raten für einzelne Schiffe vgl. Hans Hallmann, Der Weg zum Deutschen Schlachtflottenbau, Stuttgart 1933, 69–78. Die Dienstschrift Nr. IX nennt 1894 wörtlich „⅓ Überlegenheit“. Besteck, First Line of Defence, 134. In seinen Erinnerungen formuliert Tirpitz: „Nach der Ansicht aller Autoritäten der Seekriegswissenschaft beträgt die numerische Überlegenheit, die bei sonst gleichen Verhältnissen dem Angreifer zur See den Erfolg wahrscheinlich macht, etwa 30 vom Hundert.“ Tirpitz, Erinnerungen, 178. Am 26.9.1911 schreibt Tirpitz an Bethmann-Hollweg: „Die Forderung lautete jetzt, dass wir im Kriegsfall wenigstens aussichtsreiche Defensivchancen haben müssen, d.h. Verhältnis 2:3.“ Zitiert bei Rödel, Krieger, 120. Vgl. Tirpitz, Erinnerungen, 192. Tirpitz war allenfalls bereit, sich vorübergehend an beidseitig festgelegte Bauzahlen binden zu lassen, sofern er sie für sein Ziel akzeptabel gestalten konnte. Zu den diesbezüglichen Verhandlungen mit Bethmann-Hollweg 1909 vgl. Epkenhans, Wilhelminische Flottenrüstung, 52–57. Vgl. Kennedy, Maritime Strategieprobleme, 190–194. Tirpitz an Bethmann-Hollweg, 7.10.1911, zitiert bei Rödel, Krieger, 107. Vgl. dazu auch Berghahn, Tirpitz-Plan, 192–193.

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Mit den Schiffen im Haushalt 1911 war der Aufbau der Flotte entsprechend dem 2. Flottengesetz und der Novelle von 1906 vollendet.74 Aber die Art, wie Tirpitz das theoretische Verhältnis von 2:3 interpretierte, führte mit der Verschlechterung der Beziehungen zu England nicht nur zu immer höheren Zahlen, sondern veränderte auch ihre Bedeutung.75 Es ist nicht auszuschließen, dass Tirpitz mit dem ab 1917 geplanten Äternat mit 61 Schiffen bei permanentem Dreiertempo die Möglichkeit im Auge hatte, die britische Rüstung ‚an die Wand zu fahren‘. Tirpitz hat unnachgiebig an seinem Plan festgehalten, trotz aller äußeren Einflüsse, die ein Überdenken nahe legten und ihm sicherlich nicht verborgen blieben.76 Dafür gibt es mehrere Gründe. In der Durchführung der Flottengesetze hat Tirpitz Änderungen in Richtung auf ein ‚weniger‘ um nahezu jeden Preis vermeiden wollen, weil damit dem Reichstag eine Möglichkeit angeboten worden wäre, seine zurückliegenden Selbstbindungen in Frage zu stellen.77 Dieses Verhalten ist sicherlich auch durch

74 Die letzten Vermehrungsbauten waren im Haushalt 1911 das Linienschiff S (später KÖNIG) und der große Kreuzer K (später DERFFLINGER). Mit eher gegenteiliger Auffassung vgl. Volker Berghahn, Der Tirpitz-Plan und die Krisis des preußisch-deutschen Herrschaftssystems, in: Schottelius/Deist (Hgg.), Marine und Marinepolitik, 89–115, hier 109. Danach wäre ohne die Novelle von 1912 (mit 3 Vermehrungsbauten) Tirpitz „Lebenswerk schon 1911 völlig zerschlagen worden“. 75 So wurden mit dem Dreadnought-Sprung die großen Kreuzer zu vollwertigen Großkampfschiffen, was sich auch deutlich im Preis niederschlug (Großer Kreuzer 1907 36,7 Mio M, Linienschiff 1907 36,8 Mio M. Zahlen bei Axel Grießmer, Große Kreuzer der Kaiserlichen Marine 1906–1918, Bonn 1996, 181). Tirpitz nahm diesen Aufwuchs nicht nur hin, sondern verstärkte ihn noch mit einer Vermehrung um 6 große Kreuzer in der Novelle von 1906. Irrational wurde der Hang zu großen Zahlen mit dem Versuch, Reserven über das Flottengesetz hinaus zu schaffen. Die veralteten Küstenpanzerschiffe wurden von 1898 bis 1904 aufwendig modernisiert (18,26 Mio M) und von 1908 bis 1910 ‚ersetzt‘. Sie wurden aber nicht verschrottet, sondern in Reserve gehalten und bei Kriegsbeginn 1914 als VI. Geschwader wieder in Dienst gestellt. Gleiches gilt für bereits ‚ersetzte‘ Linienschiffe im V. Geschwader. 76 Nicht allein, aber vielleicht am wichtigsten die Erkenntnis ab 1912, dass die Royal Navy wohl nicht in der südlichen Nordsee operieren würde. Assmann geht noch 1957 fälschlich davon aus, dass die Umstellung britischer Strategie von Churchill nach seinem Amtsantritt als Erster Seelord der Admiralität (25.10.1911) veranlasst wurde und dass die deutsche Seite sie mithin sehr schnell erkannt habe. Vgl. Assmann, Seestrategie, 28–31. 77 Dies wird insbesondere in den sich ständig verschärfenden Finanzierungsproblemen deutlich; Tirpitz war zu schmerzlichen Einschnitten bereit, um die ‚Mechanik‘ seines Flottengesetzes zu erhalten bzw. zu erreichen. Dies trug ihm zu Recht den Vorwurf aus der Flotte ein, dass er die Einsatzbereitschaft dem Bauprogramm opfere. Gleiches gilt auch im technischen Bereich. Bekannt ist seine Zurückhaltung bei Deplacement und Kaliber der Schiffe. Er wehrte sich aber auch bis an den Rand der Ungnade gegen die Wünsche des Kaisers nach einem ‚schnellen Linienschiff‘, weil es sein Zahlenwerk aus Linienschiffen und Großen Kreuzern zum Einsturz gebracht und wiederum dem Reichstag Eingriffsmöglichkeiten gegeben hätte. Vgl. dazu auch William Michaelis, Tirpitz strategisches Wirken vor und während des Weltkrieges, in: Rahn (Hg.), Deutsche Marinen im Wandel, 397–425, hier: 409–410.

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sein – charakterlich bedingtes – großes Beharrungsvermögen gestützt worden. An einmal ‚als richtig erkannten‘ Zielen hielt er beharrlich fest.78 Was die Grundlage des Flottengesetzes angeht, entsprach die höhere Strategie seinem Weltbild; er hat es zeitlebens nicht verändert. Er hat deswegen auch keinerlei Verständnis für Bethmann-Hollweg gehabt, der die Rolle Deutschlands als Kontinentalmacht wieder betonte. Auf der Ebene der Seestrategie war von entscheidender Bedeutung, dass Tirpitz sie von unten aus den Fähigkeiten der Seekriegsmittel entwickelt hatte. Dafür beanspruchte das Reichsmarineamt die Deutungshoheit. Und schließlich spielt auch eine große Rolle, dass aus der ursprünglichen Diskussion von Alternativen eine Doktrin geworden war. Typisch für eine solche militärische Doktrin ist, dass sie über längere Zeit in Planübungen und Manövern eingeübt wird, woraus sie im Denken eine Scheinrealität gewinnt, und dass konkret darauf abgestimmte Rüstungsmaßnahmen erfolgen. Die Doktrin erlangt dadurch eine Stabilität, die grundlegende Veränderungen nicht mehr zulässt, selbst wenn sich im Laufe der Zeit Zweifel an ihren Fundamenten regen.79

ROYAL NAVY Auch in der Royal Navy war Ende des 19. Jahrhunderts die ‚Blue Water School‘ bestimmend, die sich bewusst von den (Armee-lastigen) Gedanken einer Küstenverteidigung der ‚brick and mortar school‘ absetzte. Die Theorie dafür formulierte u.a. Philip Colomb.80 Als grundlegende Aufgaben hatte die Royal Navy (1) den Schutz Großbritanniens vor Invasion, (2) den Schutz des Handels und (3) den Schutz des Empire sicherzustellen. Dazu war Seeherrschaft herzustellen, indem man die feindliche Flotte in der Schlacht vernichtete, und das hatte umgehend zu geschehen.81 Nur für den Fall, dass der Feind sich nicht stellen sollte, würden seine Häfen eng blockiert werden. Da die enge Blockade gleichzeitig den Handel des Gegners unter-

78 So hat er nie das ‚Melée‘ als denkbare Gefechtsform aufgegeben und noch die Linienschiffe im Haushalt 1913 mit Rammsteven versehen lassen. Axel Grießmer, Linienschiffe der Kaiserlichen Marine 1906–1918. Konstruktion zwischen Rüstungskonkurrenz und Flottengesetz, Bonn 1999, 136. 79 Ein frappierend ähnliches Beispiel für eine militärische Doktrin findet sich in den japanischen Vorstellungen von 1906 bis 1940 zu einer Kriegführung gegen die USA. Entstehung und Funktion von militärischen Doktrinen sind exemplarisch behandelt in: Tami Davis Biddle, Rethoric and Reality in Air Warfare. The Evolution of British and American Ideas about Strategic Bombing 1914–1945, Princeton 2002. 80 Colomb, Naval Warfare. 81 „(…) the command of the sea was henceforth to be understood as the aim of naval war. A power striving for anything else (…) accepted the position of the inferior and beaten naval power, and could never hope, so long as she maintained that attitude, of seriously damaging her opponent.“ Colomb, Naval Warfare, 47.

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binden würde, müsste er entweder den Schaden erdulden, oder eben doch kämpfen.82 Die ‚Blue Water School‘ hatte starke Wirkung in der Öffentlichkeit, zumal sie in einfachen Maximen dargestellt werden konnte. Das ‚seek out and destroy the enemy fleet‘ war die einfache Formel für die offensiv gesuchte Schlacht. Mit ‚the enemys coast is our true frontier‘ oder ‚the proper place for our fleet is off the enemys coast‘ wurde der Gedanke reflektiert, dass schon das offensive Vorgehen der Flotte Seeraum kontrolliert. Um den Anspruch der ‚Blue Water School‘ gegenüber dem Parlament in Budgetforderungen ausdrücken und sich auch gegenüber der Konkurrenz der Armee durchsetzen zu können, wurde der Two Power Standard verwendet.83 die Stärke der Royal Navy – gemessen in Linienschiffen – sollte immer der Addition der beiden nächststärksten Flotten entsprechen. An der Stelle eines politisch begründeten Kriegsbildes sehen wir also eine bürokratische worst-case-Rechnung, die wiederum sehr gut öffentlichkeitswirksam verwendet werden konnte. Einmal vom Parlament, dem Kabinett und der Öffentlichkeit akzeptiert, hatte der Two Power Standard eine starke selbstbindende Wirkung nicht unähnlich dem deutschen Flottengesetz.84

82 Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Blockade für die Blue Water School ein nachrangiges Mittel war, ohne die Faszination, die sie für spätere Autoren entwickelte; Zeitgenossen waren sich darüber klar, dass Blockaden extrem kräftezehrend waren. Corbett nennt zwei Blockadeformen, die enge und die offene, die beide das Ziel haben den Gegner zum Auslaufen zu bringen um ihn zur Schlacht zu stellen. 83 Der Two Power Standard (TPS) wurde erstmals 1889 durch den Ersten Lord der Admiralität, Lord Hamilton, vor dem Parlament formuliert: „(…) our establishment should be on such a scale that it should at least be equal to the naval strength of any two other countries.“ Das ‚at least‘ bedeutete zunächst, dass der Admiralität ein Überschuss zugebilligt wurde, auf den aber ab Mitte der 90er Jahre aus Finanzgründen verzichtet wurde. Mit dem Auftreten der Panzerkreuzer wurde der TPS auch für Kreuzer üblich. 1902 gelang es Lord Selborne, erneut einen Überschuss durchzusetzen; das Kabinett erlaubte ihm, bis 1908 zusätzlich 6 Linienschiffe und 14 Panzerkreuzer zu bauen. Auf Dauer war der TPS weder finanziell durchhaltbar noch in seiner Ausrichtung auf einen politischen ‚worst case‘ begründbar. Beidem wurde nach 1905 durch politische Ausnahmen Rechnung getragen; 1912 wurde von Churchill im Unterhaus ein One Power Standard gegenüber Deutschland formuliert. Der Standard verlor damit zwar seine einfache Logik, wurde aber von der Admiralität in immer neuen Abwandlungen noch bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts verwendet. Zum TPS vergleiche Nicholas A. Lambert, Lord Fishers Naval Revolution, Columbia 1999, 18–21 und 34. Zur weiteren Verwendung des Standards und seinen Abwandlungen vgl. Christopher M. Bell, The Royal Navy. Seapower and Strategy between the Wars, London 2000, 1–30. 84 Um diese Selbstbindung zu überwinden, bedurfte es politischer Kraftentfaltung. So stellte erstmals 1906 Asquith als ‚Chancellor of the Exchequer‘ im liberalen Kabinett Bannermann den Two Power Standard in Frage, um zu sparen. Er argumentierte damit, dass eine theoretische Kombination der deutschen und französischen Flotte als Maßstab politisch sinnlos sei. Vgl. Lambert, Naval Revolution, 123. Allerdings hätte 1906 der Two Power Standard sich auf eine Kombination Deutschland – USA beziehen müssen; dies auszusprechen, war jedoch politisch unerwünscht. Der Vorgang illustriert, wie der Standard immer wieder nach Bedarf manipuliert wurde.

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In der Ära des Admiral Fisher85 als Erster Seelord der Admiralität entstanden grundlegende Veränderungen. Auf der Ebene der höheren Strategie führte die zunehmende Bindung des Kabinetts Asquith an Frankreich dazu, dass sich die Art eines bevorstehenden Krieges stark veränderte: England würde an einem unbeschränkten Kontinentalkrieg teilnehmen und damit würde die traditionelle maritime Kriegführung entscheidend an Bedeutung verlieren. Auf der Ebene der niederen Strategie zog Fisher radikale Konsequenzen aus der Entwicklung der Technik, die zu einem stark veränderten SeeherrschaftsBegriff führten. Nach seiner Überzeugung war der Torpedo – insbesondere vom UBoot eingesetzt – für große Kampfschiffe so gefährlich, dass diese in den ‚narrow seas‘ (englischer Kanal und westliches Mittelmeer) nicht mehr operieren könnten. Aus diesem ‚sea denial‘ ergaben sich einschneidende Folgen: 1. Der Schutz Großbritanniens vor Invasion konnte nicht mehr offensiv durch die Schlachtflotte geleistet werden, sondern musste defensiv als ‚sea denial‘ in die Ebene der Flottille übertragen werden; Fisher prägte dafür den Begriff ‚flottilla defense‘. 2. Die feindlichen Häfen könnten nicht mehr eng blockiert werde; dies war umso bedeutsamer, als mit dem Panzerkreuzer die Gefährdung des Handels eher gewachsen schien. Fisher sah die Lösung des Problems in einem neuen Panzerkreuzer mit Linienschiffs-Artillerie. Fisher kehrte sich somit völlig vom Seeherrschafts-Begriff Colombs ab und bewegte sich in Richtung auf die Interpretation Corbetts. Die Strategie der Royal Navy würde sich in die Defensive verlagern. In ihr sollte das Linienschiff keine dominierende Rolle mehr spielen.86 Fisher hat nach seiner Amtsübernahme dreimal versucht, einen Verzicht auf Linienschiffs-Neubauten zu Gunsten von Schlachtkreuzern durchzusetzen. Im Oktober 1904 übergab er dem Ersten Lord der Admiralität eine Denkschrift zu

85 Admiral of the Fleet Lord Fisher of Kilverstone, 1841–1920, Erster Seelord der Admiralität 1904–1910 und erneut 1914–1915. Fisher war von der konservativen Regierung Balfour berufen worden, um Einsparungen im Marine-Etat durchzusetzen. Er setzte dies mit den Reformen des sogenannten ‚Selborne-scheme‘ um. 86 „The battleship of the olden days was necessary because it was the one and only vessel that nothing could sink except another battleship. Now every battleship is open to attack by fast torpedo-craft and submarines. Formerly, transports or military operations could be covered by a fleet of battleships with the certainty that nothing could attack them without first being crushed by the covering fleet! Now all this has been absolutely altered! A battle-fleet is no protection for anything, or any operation during dark hours, and in certain waters no protection in day-time because of the submarine. Hence what is the use of battleships as we have hitherto known them? None! Their one and only function – that of ultimate security of defense is gone – lost! No one would seriously advocate building battleships merely to fight other battleships – since if battleships have no function that the first class armoured cruiser cannot fulfill, then they are useless to an enemy and need not to be fought.“ Fisher in ‚The Fighting Characteristics of Vessels of War’, Mai 1904, zitiert bei Lambert, Naval Revolution, 107.

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diesem Thema, die Selborne87 aber nicht akzeptierte; es gelang Fisher auch nicht, zwei noch nicht vergebene Schiffe des Haushaltes 04/05 streichen zu lassen. Anfang 1905 versuchte Fisher, das ‚Committee on Design‘ zum Verzicht auf Linienschiffe zu bewegen; das Committee lehnte ab, es wurden aber erstmalig 3 Schlachtkreuzer in den Haushalt aufgenommen. Im März 1905 versuchte Fisher erneut das ‚Committee‘ zu überzeugen, diesmal unter Hinweis auf die künftig unvermeidliche ‚Fusion‘ der beiden Schiffstypen. Das ‚Committee‘ lehnte erneut ab und bestand darauf, zunächst artilleristische Schlagkraft in die Flotte zu bringen, bevor über höhere Geschwindigkeit nachgedacht werde.88 Fisher hat dann auf weitere Versuche, das Linienschiff als das Symbol der ‚Blue Water School‘ abzuschaffen, verzichtet und sich auf eine schon vorher geäußerte hinhaltende Position zurückgezogen.89 Der Streit um die Reformen hatte sein Ansehen beschädigt. Seit 1907 griff der Befehlshaber der Kanalflotte Lord Charles Beresford90 ihn öffentlich an und Fisher konnte einen ernsthaften Konflikt innerhalb der Admiralität kaum mehr riskieren.91 Das, was Lambert seine ‚Naval Revolution‘ nennt, hat Fisher in seiner Amtszeit nicht vollständig verwirklichen können. Den Übergang in eine defensive Strategie hat er aber sehr wohl durchgesetzt.92 Dies spiegelt sich auch in den ‚war orders‘ der Admiralität. Die schriftlichen Anweisungen an die Seebefehlshaber gaben zwar nur einen groben Rahmen und die mündlichen Weisungen sind nicht erhalten.93 Die Untersuchungen des ‚Subcommittee des CID‘94 zur BeresfordKontroverse geben aber einen Einblick. Admiral Beresford hatte im April 1909 nach seiner Ablösung als Befehlshaber der Kanalflotte in einem Brief an den Premierminister Asquith der Admiralität u.a. strategische Inkompetenz vorgeworfen und mit Veröffentlichung gedroht. In dem von Asquith eingesetzten und geleiteten Subcommittee wurde deutlich, dass Beresford ein offensives Vorgehen gegen die deutsche Flotte verlangte und auch eine enge Blockade der deutschen Nordseehäfen nicht scheute, während er die Weisungen der Admiralität für eine 87 Selborne, third earl, *1859, †1942, Erster Lord der Admiralität 1900–1905, Gouverneur Südafrika 1905–1909. 88 Der Admiralty Committee Report vom Januar 1906 ist abgedruckt in: John Hattendorf u.a. (Hgg.), British Naval Documents 1204–1960, Aldershot 1993, 920–922. 89 „(…) at the present moment naval experience is not sufficiently ripe to abolish totally the building of battleships so long as other countries do not do so.“ zitiert bei Roedel, Krieger, 90, FN 134. 90 Lord Charles Beresford, *1846, †1919, 1906 Admiral, 1907–1909 Commander in Chief Channel Fleet. Lord Beresford war viermal ‚member of parliament‘ und in der Politik gut ‚vernetzt‘. 91 Vgl. John Tetsuro Sumida, In Defence of Naval Supremacy. Finance, Technology and British Naval Policy, 1889–1914, Boston 1989, 114–115 und Lambert, Naval Revolution, 170–172. 92 Dies lässt sich an den Mitteln im ‚construction budget‘ zeigen. Während dieses in der Amtszeit Fisher’s um fast 20% (um 2 Mio £) sank, verdoppelte sich der Anteil der Ausgaben für die flottilla von 10% auf mehr als 20% des Budgets (von 1 Mio £ auf über 2 Mio £). Lambert, Naval Revolution, 124. 93 Ebd., 188. 94 CID = Committee of Imperial Defence.

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‚flottilla defense‘ kombiniert mit einer strategischen Defensive der Flotte für schlicht ‚unsound‘ hielt.95 Generell gelang es Beresford aber nicht, das Subcommittee von seiner Ansicht zu überzeugen, auch wenn Asquith es vermied, den Konflikt im Abschlußbericht allzu deutlich zu machen.96 Eine Strategie des ‚sea denial‘ mit einer Zuweisung der Aufgabe der Invasionsabwehr an die Fottille bedeutete eine so radikale Veränderung97, dass sie nicht öffentlich gemacht wurde.98 Auch wenn die Umsetzung der Strategie nicht so reibungslos verlief, wie Fisher sich das vielleicht vorgestellt hatte, war sie in Regierung und Admiralität akzeptiert.99 Die abweichenden Gedanken von Admiral Arthur K. Wilson, Fishers Nachfolger, zur Zeit der zweiten Marokkokrise 1911 blieben Episode. Selbst als sich in den Sommermanövern von 1912 und 1913 zeigte, dass die vorhandenen Kräfte der Flottille die britische Ostküste nicht zuverlässig schützen konnten, wurde nicht auf die Schlachtflotte zurückgegriffen. Vielmehr wurde eine massive Verstärkung der Flottille durch UBoote eingeleitet, um damit das ‚sea denial‘ bis an die deutsche Küste vorzuschieben.100 Die Aufgabe der Schlachtflotte in ihrer strategisch defensiven Position im Norden Schottlands ist dagegen weniger klar. Dafür ist zunächst einmal die ‚Art des Krieges‘ verantwortlich. Das Kabinett hatte sich für eine Teilnahme am unbeschränkten Kontinentalkrieg an der Seite Frankreichs entschieden; eine maritime Strategie im Sinne Corbetts stand nicht mehr zur Debatte. Das musste sich auf die Rolle der Flotte auswirken.

95 Vgl. Lambert, Naval Revolution, 188 und 191–194. Beresford bezeichnete die in den ‚war orders‘ für 1907 von ihm verlangte weite Blockade Deutschlands als „…a defensive policy that we cannot afford to adopt.“ Zitat bei Lambert, Naval Revolution, 191. 96 Ebd., 194. Lambert geht davon aus, dass Asquith das Subcommittee dazu benutzen wollte, nach den Auseinandersetzungen um den ‚naval scare‘ die Entlassung McKennas und Fishers vorzubereiten. Reginald McKenna, *1863, †1943, Erster Lord der Admiralität 1908–1911, Home Secretary 1911–1915, Chancellor of the Exchequer 1915–1917. 97 „The idea of mutual sea denial did not conform to any previously recognised theory of naval strategy. It was fundamentally at odds with the idea of using the battle fleet offensively to enforce command of the sea by seeking out and destroying the enemy fleet in the blue water. (…) Without doubt, Fishers strategy of flotilla defence in conjunction with the battle cruiser concept, marked a complete turn around in the tratiditional strategic ethos of the British Admiralty.“ Lambert, Naval Revolution, 126. 98 Wie sehr die Admiralität sich mit ihren Bauprogrammen von der öffentlichen Meinung abhängig sah, zeigt ihre Stellungnahme zu einem als deeskalierende Maßnahme diskutierten Nachrichtenaustausch in ihrem Memorandum vom 28.4.1911. Ein solcher Austausch „would act as a direct incentive to each government to exaggerate its estimates for fear of being called to account by public opinion worked up by their respective Navy Leagues, if, when both programs were declared, their own might be found to be inadequate.“ Zitat bei Epkenhans, Wilhelminische Flottenrüstung, 78. 99 So nahm McKenna Mitte 1910 anlässlich eines Manövers der Schlachtflotte vor Portugal in zwei Briefen an den Außenminister und den Premierminister darauf Bezug, dass Invasionsabwehr Aufgabe der Flottille sei. Lambert, Naval Revolution, 195. 100 Ebd., 284–290.

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Zur Funktion der Grand Fleet in der nördlichen Position hat Corbett nach dem Krieg auf eine Analogie zur Funktion des ‚westlichen Geschwaders‘101 in den früheren Kriegen mit Frankreich und Spanien verwiesen, einem in der zeitgenössischen Diskussion sehr geläufigen Konzept. Diese Deutung überzeugt allerdings nicht wirklich, weil die für das ‚westliche Geschwader‘ wesentlichen Aufgaben – Invasionsabwehr und Schutz des Handels – im Norden Schottlands nicht wahrgenommen werden konnten. Es stellt sich die Frage, inwieweit sich der Wechsel zu einer defensiven Strategie Auswirkungen auf die Rüstung hatte. Dies lässt sich eindringlich an Hand des ‚naval scare‘ von 1909 darstellen – an der Entwicklung, die zu ihm führte und an den Folgen, die er hatte. Bis 1904 erfüllte die Royal Navy einen Two Power Standard in der Kombination Russland und Deutschland. Nach Tsushima 1905 und der Ausschaltung der russischen Flotte hätte sich der Standard auf Deutschland und die USA bezogen; auch den erfüllte die Royal Navy, solange das Einheits-Linienschiff der Maßstab war. Der Übergang zur DREADNOUGHT als bestimmendem Schiffstyp wurde zwar 1905 von Großbritannien angeführt, war aber nicht zu umgehen, weil er in anderen Marinen ebenso vorbereitet wurde. Weil die DREADNOUGHT alle älteren Linienschiffe entwertete, musste die Royal Navy ihren Vorsprung neu aufbauen. Der überraschende Bau des Schiffes hatte dabei nicht wirklich geholfen, auch wenn Fisher sich rühmte, den deutschen Flottenbau paralysiert zu haben.102 Die Situation wurde erschwert, weil die neu in’s Amt gekommene liberale Regierung noch mehr als ihre Vorgängerin Einsparungen verlangte. Tatsächlich sanken die Mittel für den Bau von Großkampfschiffen von 100% in 1905 auf 65% in 1908.103 Der Bau von großen Kampfschiffen in Großbritannien hielt so mit den möglichen Konkurrenten kaum noch Schritt. Mit den 2 Schiffen im Haushalt 1908–09 war der Two Power Standard nicht mehr eingehalten.104

101 Julian S. Corbett, Naval Operations. Vol. I, London 1920; überarbeitete Ausgabe London 1938, 3. Die Funktion des ‚westlichen Geschwaders‘ ist in den Some Principles of Maritime Strategy im Kapitel ‚Methods of Exercising Command‘ dargestellt. Corbett, Maritime Strategy, 233–280. Ausführlich dazu auch Rodgers, Entwicklung, 90–95. 102 Vgl. Sumida, Naval Supremacy, 111–113 mit einer (nicht kommentierten) Vielzahl von Zitaten Fishers. Stang, Das zerbrechende Schiff, 55 behauptet gar, die Royal Navy habe einen Vorsprung von 3–4 Jahren erreicht. Die These von der Paralyse des deutschen Flottenbaus ist von Grießmer eindeutig widerlegt worden, die Entscheidung für das ‚all-big-gun-ship‘ fiel im Reichsmarineamt schon am 18.03.1905 und die beiden Linienschiffe im Haushalt 1906 gehörten bereits zum neuen Typ. Vgl. Grießmer, Linienschiffe, 26–42. 103 In den Haushalten waren für den Bau von Linienschiffen und Schlachtkreuzern bewilligt: HH 05–06 8,4 Mio £, HH 06–07 7,9 Mio £, HH –08 6,5 Mio £, HH 08–09 5,5 Mio £. Sumida, Naval Supremacy, 113. Die Deutung Sumida’s, die Royal Navy habe sich diese Absenkung wegen der Paralyse des deutschen Schiffbaus leisten können, ist nicht überzeugend. 104 Die Entscheidungen spiegeln sich in den jeweiligen Haushalten. Für diesen und die folgenden Vergleiche werden daher die bis zum jeweiligen Haushalt genehmigten und in Bau gegebenen Schiffe gezählt. Bezogen auf 1908 war die Royal Navy auf 87% der Kombination Deutschland + USA abgesunken. Im Verhältnis zu Deutschland allein lag sie noch bei 145%.

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Um dieses Problem zu lösen, hätte die Admiralität öffentlich machen können, dass die Veränderung in der Strategie den Two Power Standard in seiner bisherigen Form obsolet gemacht hatte: britische Sicherheit ließ sich nicht mehr in Linienschiffen bemessen. Stattdessen löste McKenna mit seiner Budgetvorlage im Unterhaus im März 1909 den ‚naval scare‘ aus, d.h. er instrumentalisierte die öffentliche Meinung als ‚pressure group‘, um eine Veränderung gegenüber dem Kabinett zu erzwingen. Dabei argumentierte er ausdrücklich nicht mit dem tatsächlichen, von der Regierung verursachten Defizit gegenüber dem Two Power Standard sondern mit einer angeblichen, heimlichen Erhöhung des deutschen Bautempos. Ausgangspunkt war die Berichterstattung des britischen Marine Attachés in Berlin, Captain Heath. Diesem war zugetragen worden, dass in Deutschland ein Schiff aus dem Haushalt 09 (Ersatz FRITHJOF) bereits im Herbst 1908 an Schichau in Danzig vergeben worden sei. Captain Heath schloss auf eine heimliche Erhöhung des deutschen Bautempos über das ‚Vierertempo‘ der Flottennovelle von 1908 hinaus. Ausgehend von der Kapazität der deutschen Bauwerften entwickelte er daraus die Hypothese, dass bis Herbst 1911 die Fertigstellung von 13 deutschen Dreadnoughts und bis April 1912 sogar 17 solche Schiffe möglich seien. Captain Heath berichtete in diesem Sinne nach London.105 Seine Hypothese hielt er im März 1909 in einer Unterredung auch dem Admiral Tirpitz vor. Dieser erläuterte ihm, dass ‚Ersatz FRITHJOF‘ nicht vorzeitig vergeben, sondern der Auftrag aus wirtschaftlichen Gründen der Werft vorzeitig zugesichert worden sei. Im übrigen forderte Tirpitz den Attaché nachdrücklich auf, sich nicht in Vermutungen über Baukapazitäten zu ergehen, sondern sich an Tatsachen zu halten. Auch dies berichtete Captain Heath der Admiralität.106 Obwohl McKenna aus der Berichterstattung den spekulativen Charakter der Zahlen unschwer erkennen konnte, verwendete er sie vor dem Unterhaus und stellte sie als Fakten dar. Um dieser angeblichen Bedrohung zu begegnen, verlangte er für den Haushalt 1909–10 die Genehmigung von 6 großen Kampfschiffen. Nach heftigen Auseinandersetzungen wurden der Marine zunächst 4 Schiffe genehmigt mit der Option für 4 weitere, falls dafür ein Bedarf entstünde. Diese Option löste McKenna am 26. Juli 1909 vor dem Unterhaus ein.107 Mit 8 Schiffen im Haushalt 1909–10 und hohem Bautempo in den Folgejahren stellte Großbri-

105 Vgl. Mathew S. Seligman (Hg.), Naval Intelligence from Germany. The Reports of the British Naval Attachés in Berlin 1906–1914, Aldershot 2007, 187–212, dort insbesondere die Reports Nr 47/08 und 48/08. 106 Ebd., 214, mit dem Report 10/09 vom 30.03.1909. 107 McKenna blieb in der Begründung bei dem angeblich beschleunigten Bautempo der kaiserlichen Marine, fügte aber als neues Argument ein, dass die österreichisch-ungarische und die italienische Marine sich für den Bau von ‚all-big-gun-ships‘ entschieden hätten und damit die britische Position im Mittelmeer bedroht sei. Sumida, Naval Supremacy, 187. Dies führte letztlich zu einem One Power Standard für das Mittelmeer.

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tannien den Two Power Standard wieder her; gegenüber Deutschland allein stabilisierte sich das Verhältnis auf etwas mehr als 3:2.108 Dabei blieb es aber nicht, sondern schon während des naval scare wurde der neue One Power Standard entwickelt; damit war ‚Deutschland + 60%‘ gemeint.109 Und weil damit das theoretische Rechenmodell durch einen konkreten Gegner ersetzt worden war, folgte aus dem ‚One Power Standard Nordsee‘ logisch ein ‚One Power Standard Mittelmeer‘.110 Diese Selbstbindung der Regierung wurde schließlich noch durch Churchills ‚Two keels to one‘111 ergänzt. Die britische Vorgehensweise im ‚naval scare‘ und danach war politisch bedingt und hatte keine konkrete Beziehung zur Strategie. Sie ist vielfach als Beleg gewertet worden, dass Großbritannien jeden deutschen Aufrüstungsschritt souverän konterkarieren konnte, und vielleicht war eine solche Darstellung wirklich die politische Absicht112 hinter dem militärisch kaum noch begründbaren Schlachtflottenbau. Allerdings war eine solche Politik demonstrativer Stärke – trotz ungewöhnlicher Maßnahmen113 – nicht auf Dauer finanzierbar. Vor dieser Erkenntnis stand Churchill als Erster Lord der Admiralität im Herbst 1912 zum ersten Mal.114 Die deutsche Flottennovelle von 1912 hätte eine Reaktion nach der ‚Two keels to 108 Die Zahlen sind für die Haushaltsjahre 1909 170%, 1910 159%, 1911 154%, 1912 161%, 1913 161%, 1914 157%, alle inklusive der von Commonwealth-Staaten finanzierten Schiffe. 109 In einem Memorandum vom Mai 1909 verlangt McKenna einen ‚One Power Standard‘ gegenüber der nächststärksten europäischen Macht und argumentiert damit, dass diese mit Linienschiffen Handelskrieg im Atlantik führen könnte. McKenna an Asquith, Mai 1909, abgedruckt in: Hattendorf (Hg.), British Naval Documents, 754–755. Der One Power Standard wurde erstmals am 18.3.1912 im Unterhaus durch Churchill formuliert. 110 In der Begründung zum Haushalt 1913–14 vor dem Unterhaus am 17.3.1913 kündigte Churchill ein Geschwader für das Mittelmeer ab Ende 1915 an. Corbett, Naval Operations, 8. Ein Memorandum der Admiralität vom 20. November 1913 zur ‚substitution‘ im Mittelmeer ist abgedruckt in Nicholas Lambert (Hg.), The Submarine Service 1900–1918, Ashgate 2001, 210–212. 111 Damit war gemeint, dass Großbritannien für jedes neu in das deutsche Flottengesetz eingefügte Schiff zwei eigene auf Kiel legen würde; die deutsche Flottennovelle von 1912 verursachte mithin einen britischen Bedarf von 6 zusätzlichen Schiffen. 112 Vgl. in diesem Sinne Gustav Schmidt, Rationalismus und Irrationalismus in der englischen Flottenpolitik, in: Schottelius/Deist (Hgg.), Marine und Marinepolitik, 283–295, hier 289: „Die These von der Bedrohung Englands durch die deutsche Land- und Seemacht, das heißt durch die kontinentale Hegemonie Deutschlands, scheint eher ein Vorwand für die Admiralität gewesen zu sein, ihre Rüstungsforderungen besser durchsetzen zu können. Für sie galt noch der Grundsatz, dass die Seemacht Symbol und Garant der englischen Wirtschaftsmacht sei. Die Forderungen sollten die deutschen Hoffnungen widerlegen, dass England im Wettrüsten der finanzielle Atem ausgehen würde.“ 113 Bereits in den Haushalten 1908–09 und 1909–10 hatten die Dominions Australien und Neuseeland jeweils einen Schlachtkreuzer finanziert, das 5. Schiff im Haushalt 1912–13 sollte von der malayischen Föderation bezahlt werden und mit Kanada wurde über 3 Dreadnoughts verhandelt. 114 Churchills Situation war besonders schwierig, weil er sich mit seiner Entscheidung zu den Linienschiffen im Haushalt 1912–13 angreifbar gemacht hatte. Der Typ QUEEN ELIZABETH erforderte zusätzlich 600.000 £ pro Schiff und der Aufbau der Ölbevorratung 500.000 £ pro Jahr über mehrere Jahre. Lambert, Naval Revolution, 275.

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one policy‘ erfordert, die Ankündigung Österreich-Ungarns, weitere Dreadnoughts bauen zu wollen, eine Reaktion nach dem ‚One Power Standard Mittelmeer‘. Churchill war bewusst, dass ein Rückzug von der demonstrativ aufgebauten Position delikat war: Dem Publikum müsste erklärt werden, dass Linienschiffe und die Offensive nicht mehr das Maß aller Dinge waren, ein Bruch mit einer immer wieder beschworenen Tradition. Die Admiralität müsste einmütig dahinter stehen, was keineswegs sicher war, von der Meinung in der Marine selbst einmal ganz abgesehen. Das Verhältnis zu den Commonwealth Staaten wäre offensichtlich berührt gewesen. Churchills Lösung war die sogenannte ‚substitution‘. Danach sollte der Gefechtswert, den Linienschiffe darstellten, mit sehr viel weniger Aufwand durch UBoote ersetzt werden.115 Mit diesem Argument könnte man die ‚Two keels to one policy‘ wieder aufgeben und stattdessen im Haushalt 1913–14 nur 1 Mio £ für UBoote zusätzlich fordern.116 Anfang 1913 verzichtete Churchill auf diese Lösung wieder, weil der Druck zunächst nachgelassen hatte: das österreichische Parlament hatte keine Mittel für zusätzliche Dreadnoughts bewilligt, die malayische Föderation bezahlte das 5. Schiff im Haushalt 1912–13 und die Steuereinnahmen waren deutlich günstiger, als erwartet. Dies war allerdings nur ein Aufschub um ein Jahr. Trotz der erwarteten Schwierigkeiten im Parlament und in der Öffentlichkeit117 war Churchill im Einverständnis mit der Admiralität nunmehr entschlossen, 2 der 4 Großkampfschiffe im Haushalt 1914–15 im Zuge einer ‚substitution‘ zu streichen und an ihre Stelle 21 UBoote zu setzen.118 Auch für die Stationierung im Mittelmeer beabsichtigte er, Linienschiffe durch UBoote zu ersetzen.119 Die Erklärung gegenüber der Öffentlichkeit blieb Churchill durch den Kriegsausbruch erspart.

ERGEBNISSE Aus der Betrachtung der deutsch-britischen Flottenrivalität in der Perspektive der Seekriegstheorie haben sich einige interessante Befunde ergeben.

115 Für diesen Zweck sollte ein ‚fleet-submarine‘ entwickelt werden, das sich mittels hoher Geschwindigkeit von 24 kn gegenüber feindlichen Linienschiffen in eine günstige Angriffsposition bringen und diese dann versenken könnte. Technisch gab es dafür 1912 überhaupt keine brauchbare Lösung. Dies unterstreicht, dass die ‚substitution‘ ein politisches Vehikel war, um die politisch aufgebaute Position der Stärke zu bedienen. 116 Zur ‚substitution‘ vgl. Lambert, Naval Revolution, 274–280. 117 Ebd., 301. Die Wirkung auf die Verhandlungen mit Kanada war eindeutig. Der im Dezember 1913 telegraphisch befragte kanadische Ministerpräsident bestätigte, dass unter solchen Umständen das Projekt nicht weiter verfolgt werden könne. Ebd., 298. 118 Ebd., 303. Das entsprechende Memorandum Churchill an Battenberg vom 12.7.1914 ist abgedruckt in Lambert, Submarine Service, 257. 119 Mitteilung Churchills an Asquith vom 04.7.1914, abgedruckt in Lambert, Submarine Service, 259.

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Zunächst einmal muss betont werden, dass es keine ‚gültige‘ Seekriegstheorie gibt, nicht vor 1914 und auch nicht danach. Es gibt vielmehr unterschiedliche Hypothesen, die überzeugend sein mögen oder auch nicht, die aber immer der Verifizierung bedürfen. Es kommt daher darauf an zu erkennen, welche Theorie – oder auch welche Denkfigur aus einer Theorie – Entscheidungsträger genutzt haben. Wie gezeigt werden konnte, war bis etwa 1906 in der Royal Navy wie in der Kaiserlichen Marine die Seekriegstheorie der Blue Water School vorherrschend. Im Zentrum der Strategie-Bildung stand in beiden Marinen der SeeherrschaftsBegriff Philip Colombs. Tirpitz hat nicht Mahan missverstanden. Tirpitz hat für seinen Flottenbau nicht zugelassen, dass die ursprüngliche Strategie-Entscheidung hinterfragt wurde; sie verfestigte sich zu einer Doktrin, mit der das Flottengesetz ausgeführt wurde. Eine Entwicklung fand nur in der Technik und in der Zahl der Schiffe statt. Erst ab etwa 1909 wurde in der politischen Führung die Frage nach der Art des Krieges neu gestellt. In Großbritannien war ein Abgehen von der Blue Water School allein schon durch die Entscheidung über die Art des Krieges bedingt: an die Stelle maritimer Kriegführung trat die Beteiligung an einem unbeschränkten Kontinentalkrieg. In der Royal Navy selbst wurde die technische Entwicklung etwa 1906 Anlass für einen radikalen Wechsel der Strategie. In diesem Vorgang verließ die Admiralität den Seeherrschafts-Begriff von Philip Colomb und bewegte sich in Richtung auf die Interpretation Corbetts. Die Gedanken Corbetts stützten auch gleichzeitig den Wechsel in die strategische Defensive. Die Admiralität – sonst souverän in der Variation des Two Power Standard – erfand keine neue Variante, die zu der veränderten Strategie gepasst hätte. Stattdessen wurde mit dem ‚naval scare‘ ein Bedrohungs-Ritual inszeniert, wie es dem Publikum seit langem vertraut war; es wurden Schiffe beschafft, die aus der Strategie nicht mehr wirklich begründbar waren, um sowohl innen- als auch außenpolitisch eine Position der Stärke zu demonstrieren. Die Theorie Mahans hat für die Strategie weder der kaiserlichen Marine noch der Royal Navy eine wesentliche Rolle gespielt. Es ist eher unwahrscheinlich, dass die Entscheidungsträger selbst die Entwicklung so analysiert haben. So muss man wohl akzeptieren, was Lord Esher120 am 15. März 1915 an Sir Maurice Hankey schrieb: Julian Corbett schreibt eines der besten Bücher in unserer Sprache über politische und militärische Strategie. Daraus können Lehren aller Art gezogen werden, einige von unschätzbarem Wert. Niemand der im Moment zählt, mit Ausnahme vielleicht von Winston [Churchill], hat es gelesen. Offensichtlich wird Geschichte für Schulmeister und Sessel-Strategen geschrieben. Staatsmänner und Krieger suchen sich ihren Weg im Dunkeln.121

120 Viscount Reginald Esher, *1852, †1930, ständiges Mitglied des CID 1904–1918, Vertreter des Kabinetts im französischen Hauptquartier 1914–1918. 121 Zitat in der Einleitung von Barry M. Gough zu Colomb, Naval Warfare, xxvi.

DER DEUTSCHE FLOTTENVEREIN Die öffentliche Wahrnehmung des Seekriegs 1914 bis 1919 und der Untergang des Navalismus als prägendes mentales Phänomen des Wilhelminischen Kaiserreichs Sebastian Diziol

Durch die Tirpitzsche Flottenrüstung ab 1898 war es im Wilhelminischen Bürgertum zu einer wahren Flotteneuphorie gekommen. In die unter gewaltigen finanziellen, technischen und bürokratischen Anstrengungen aufgebaute Kaiserliche Flotte wurden enorme Erwartungen gesetzt, die sie im Ersten Weltkrieg nicht erfüllen konnte. Die öffentliche Wahrnehmung der Flotte im Ersten Weltkrieg soll im Folgenden am Beispiel des Deutschen Flottenvereins deutlich gemacht werden, der zugleich zentraler Akteur und bekanntester Ausdruck der genannten Flotteneuphorie war. Durch seine massenhaft verbreitete Propaganda prägte er den seit Mitte der 1890er Jahre im Deutschen Reich aufkeimenden Navalismus entscheidend mit. Die grundlegende These dieses Aufsatzes ist, dass der Navalismus im späten Kaiserreich den Militarismus als prägendes mentales Phänomen im Bürgertum zumindest ergänzt, wenn nicht gar ersetzt hat. Im Folgenden sollen die Hochzeit des Navalismus, seine Inhalte und sein Untergang im Ersten Weltkrieg analysiert werden. Dazu wird erstens auf den Begriff Navalismus eingegangen, zweitens in einem kurzen Abriss die Geschichte und die Tätigkeit des DFV dargestellt und drittens die öffentliche Wahrnehmung des Seekriegs 1914 bis 1918 am Beispiel der Vereinspropaganda des DFV analysiert.

I Die Forschung ist sich einig, dass im deutschen Bürgertum seit der Jahrhundertwende eine Flottenbegeisterung ausbrach, die tief in die politischen Vorstellungen und selbst in private Lebensbereiche vordrang und die mit den populären Matrosenanzügen für Kinder und Jugendliche ihren bis heute bekanntesten Ausdruck fand. Dieses Phänomen soll hier mit dem Begriff „Navalismus“ bezeichnet werden, der in der bisherigen Forschung vorwiegend auf ein bestimmtes strategisches Denken der militärischen und politischen Eliten verwendet wurde, das, ausgelöst nicht zuletzt durch das einflussreiche Werk Alfred Thayer Mahans »The Influence of Sea Power upon History«, seit den 1880er Jahren unter den Großmächten

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weltweit immer wirkungsmächtiger wurde.1 Der Einfluss, die Auswirkungen und die Inhalte des Navalismus sind bislang lediglich für die Entscheidungsebenen in Politik und Militär untersucht worden.2 Wie sein Gegenstück, der Militarismus, war der Navalismus aber mehr als eine unter hohen Militärs und Staatsmännern rezipierte strategische Denkweise, er strahlte eine Faszination auf das Bürgertum aus, die weit in private Lebensbereiche hineinreichte und in jeder Hinsicht eine „zentrale Rolle (…) in der Geschichte des wilhelminischen Kaiserreiches“3 spielte. In der vorliegenden Arbeit soll dieser Begriff, angelehnt an das Phänomen „Militarismus“, daher ausgeweitet und seine Wirkung auf gesellschaftliche, kulturelle und private Bereiche in den Blick gerückt werden. Deshalb soll „Navalismus“ hier zunächst ganz allgemein verstanden werden als ein Denkmuster, das die Übertragung von Ordnungssystemen und Wertvorstellungen aus dem Bereich der Kriegsmarine auf Staat, Politik und Gesellschaft bezeichnet. Was die einzelnen Inhalte der Flottenbegeisterung waren, wie sie sich mit den tradierten Nationsvorstellungen verbanden und sie nach und nach veränderten, worin im Einzelnen die Attraktivität des sich in der ganzen westlichen Welt verbreitenden Navalismus bestand, darüber fehlen eingehende Darstellungen und gesicherte Erkenntnisse. Während zum Militarismus im wilhelminischen Kaiserreich eine ganze Reihe von Arbeiten vorliegen4, existiert noch keine Darstellungen seines zwischen 1897 und 1914 sehr populären maritimen Gegenstücks. Wie Thomas Rohkrämer anhand seiner Untersuchung der Kriegervereine die Wirkung des Militarismus auf die Mentalitäten und politischen Denkmuster des Bürgertums analysiert hat, so kann eine eingehende Untersuchung des Deutschen Flottenvereins als Hauptträger der Flottenpropaganda und zugleich mitgliederstärkster nationaler Propagandaverband des Kaiserreichs ähnliche Erkenntnisse für die Wirkung des Navalismus liefern.

II Um etwas so diffuses, volatiles und immaterielles wie ein mentales Zeitgeistphänomen inhaltlich und methodisch fassen zu können, wird die Vereinsgeschichte 1

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Für eine transnationale Studie über den Einfluss des Navalismus auf die strategischen Planungen der militärischen und politischen Eliten vgl. Rolf Hobson, Maritimer Imperialismus. Seemachtideologie, seestrategisches Denken und der Tirpitzplan 1875 bis 1914, München 2004. Vgl. z.B. ebd. Ebd., 7. Vgl. z.B. Wolfram Wette, Militarismus und Pazifismus. Auseinandersetzungen mit den deutschen Kriegen, Bremen 1991; Ders., Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur, Frankfurt a. M. 2008, 35–74; Stig Förster, Militär und Militarismus im Deutschen Kaiserreich. Versuch einer differenzierten Betrachtung, in: Wolfram Wette (Hg.), Militarismus in Deutschland 1871 bis 1945. Zeitgenössische Analysen und Kritik, Münster 1999, 63–80.

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des Flottenvereins von 1898 bis 1934 analysiert. Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stehen politische Symbole und Mentalitäten, Partizipationen und Kontinuitäten. Damit können die Merkmale und Inhalte des Navalismus im Kaiserreich, seine Trägerschichten und seine Konjunkturen erfasst werden. Deshalb zunächst kurz zur Geschichte des DFV.5 Er war mit zeitweise über einer Million Mitgliedern der zahlenmäßig größte nationale bürgerliche Propagandaverein im wilhelminischen Kaiserreich und agitierte im Sinne des von Alfred von Tirpitz vorangetriebenen Flottenbauplanes für eine Aufrüstung der kaiserlichen Marine. Zumindest bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 hatte der DFV großen gesellschaftlichen und politischen Einfluss und vereinigte eine beträchtliche Anzahl von lokalen, regionalen und nationalen Honoratioren aus dem politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, militärischen und geistigen Leben in seinen Reihen. Der Staatssekretär des Reichsmarineamts Alfred von Tirpitz hatte Mitte der 1890er Jahre einen langfristigen Flottenbauplan entwickelt, der Deutschland zu einem gefährlichen Gegner für England machen und damit die deutsche Position als Weltmacht sichern sollte.6 Das Budgetrecht lag allerdings beim Reichstag, weshalb Tirpitz das Nachrichtenbüro des Reichsmarineamts ins Leben rief, das in der Bevölkerung Propaganda für die Flottenrüstung betreiben sollte, um so die 5

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Zwischen 1919 und 1931 unter dem Namen „Deutscher Seeverein“; einen kurzen Überblick über die gesamte Geschichte des DFV von 1898 bis 1934 bietet der Lexikonartikel Dieter Fricke/Edgar Hartwig, Deutscher Flottenverein 1898–1934, in: Dieter Fricke u.a. (Hgg.), Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland 1789–1945, Bd. 2, Köln 1984, 67–89; für die Geschichte des DFV bis 1914 vgl. Jürg Meyer, Die Propaganda der deutschen Flottenbewegung 1897–1900, Bern 1967; Konrad Schilling, Beiträge zu einer Geschichte des radikalen Nationalismus in der Wilhelminischen Ära 1890–1909. Die Entstehung des radikalen Nationalismus, seine Einflussnahme auf die innere und äußere Politik des Deutschen Reiches und die Stellung von Regierung und Reichstag zu seiner politischen und publizistischen Aktivität, Köln 1968, 179–367; Wilhelm Deist, Reichsmarineamt und Flottenverein 1903–1906, in: Herbert Schottelius/Wilhelm Deist (Hgg.), Marine und Marinepolitik im kaiserlichen Deutschland 1871–1914, Düsseldorf 1972, S. 116–146; Jost Dülffer, Weimar, Hitler und die Marine. Reichspolitik und Flottenbau 1920– 1939, Düsseldorf 1973, 354–369; Geoff Eley, The German Navy League in German Politics 1898–1914, Phil. Diss., Sussex 1974; Wilhelm Deist, Flottenpolitik und Flottenpropaganda. Das Nachrichtenbureau des Reichsmarineamts 1897–1914, Stuttgart 1976, 147–247; Geoff Eley, Reshaping the Right. Radical Nationalism and the German Navy League 1898–1908, in: The Historical Journal 21/1978, No. 2, 327–354; Ders., Reshaping the German Right. Radical Nationalism and Political Change after Bismarck, New Haven/London 1980, 75–204; die bislang einzige Monographie, die die gesamte Geschichte des DFV darstellt ist Sebastian Diziol, „Deutsche, werdet Mitglieder des Vaterlandes!“. Der Deutsche Flottenverein 1898– 1934, Kiel 2015. Zur deutschen Flottenrüstung ist eine Vielzahl von Untersuchungen erschienen, grundlegend sind neben den bereits genannten Arbeiten von Wilhelm Deist vor allem Eckart Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894–1901. Versuch eines Querschnitts durch die innenpolitischen, sozialen und ideologischen Voraussetzungen des deutschen Imperialismus, Berlin 1930; Volker R. Berghahn, Der Tirpitz-Plan. Genesis und Verfall einer innenpolitischen Krisenstrategie unter Wilhelm II., Düsseldorf 1971; Michael Epkenhans, Die wilhelminische Flottenrüstung 1908–1914. Weltmachtstreben, industrieller Fortschritt, soziale Integration, München 1991.

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Reichstagsabgeordneten unter Druck zu setzen, den jeweiligen Flottenvorlagen zuzustimmen. Nach Annahme des ersten Flottengesetzes wurde im April 1898 der DFV von Vertretern der Schwerindustrie und mit Unterstützung des Reichsmarineamts gegründet. Damit wollte man der geplanten Gründung eines Flottenvereins durch eine private bürgerliche Initiative zuvorkommen, die möglicherweise schwer zu steuern gewesen wäre. Die Flottenbaupolitik galt als zu wichtig, zu viele Interessen steckten dahinter, um einer privaten Initiative die Deutungshoheit auf diesem Gebiet zu überlassen. Die Schwerindustrie war vor allem durch den Sekretär des Vereins Viktor Schweinburg vertreten, ein enger Vertrauter und Strohmann von Krupp. Dennoch entwickelte der DFV große Anziehungskraft und hatte bald über 200 000 Einzelmitglieder. Es kam zu Unmut innerhalb des DFV, als die Mitglieder feststellten, dass sie lediglich die wirtschaftlichen Interessen der Schwerindustrie vertraten. Verstärkt wurde die Unzufriedenheit mit der Vereinsleitung durch ihr wirtschaftliches Missmanagement. So kam es um 1901 zu einer Art „Revolution“ und Neugründung des Vereins „von unten“. Als neuer Präsident wurde von den Mitgliedern der noch junge, radikalnationalistische Otto Fürst zu Salm Horstmar gewählt, Geschäftsführer wurden Wilhelm Menges und August Keim. Vor allem letzterer prägte den DFV in den folgenden Jahren mit seiner aggressiven, radikalnationalistischen Agitation. Die neue Vereinsleitung baute den DFV um, dezentralisierte ihn und räumte den einzelnen Mitgliedern vor Ort größere Partizipationsmöglichkeiten ein. Der Flottenverein wurde so noch attraktiver und hatte bald über 300 000 Einzelmitglieder, die sich in mehr als 3500 über das ganze Reich verteilte Ortsgruppen organisierten. Er machte eigenständige, vom Reichsmarineamt weitgehend unabhängige Propaganda und beanspruchte eine eigene Deutungshoheit in Fragen der Flottenrüstung. Dabei agitierte der DFV, wo er es für richtig hielt, explizit gegen Pläne des Reichsmarineamts und der Regierung. Zudem mischte er sich zunehmend in politische Fragen ein, so machte er beispielsweise im Vorfeld der Reichstagswahl 1907 Wahlkampf gegen diejenigen Reichstagsparteien, die sich gegen eine Fortführung des Kolonialkrieges in Deutsch-Südwestafrika aussprachen. In der Folge kam es zu einer Verstimmung der fürstlichen Protektoren und zu einer Verschlechterung der Beziehungen zum Reichsmarineamt sowie einer vereinsinternen Zerreißprobe zwischen gemäßigten und radikalen Landesverbänden, die schließlich mit dem Rücktritt der Vereinsleitung endete. 1908 wurde Großadmiral Hans von Koester zum Präsidenten gewählt, der explizit mit der Bedingung antrat, dass er keine den Plänen des Reichsmarineamts entgegenlaufende Propaganda machen und den Status des DFV als unpolitischer Verein einhalten wolle. Zwar kam es zu vereinzelten Austritten enttäuschter radikal-nationaler Vereinsmitglieder, der DFV ging aus der Krise aber schließlich gestärkt hervor und vergrößerte seine Mitgliederzahl sogar. Bis 1914 agitierte er nicht mehr offen gegen die Pläne des Reichsmarineamts, blieb aber dennoch eigenständig und vertrat seine eigenen Positionen. Die Tätigkeit des DFV bestand aus zwei Säulen: Einerseits in der Wohltätigkeit für Seeleute und deren Angehörige. Andererseits, zunächst weit wichtiger, in einer ausgereiften, dezidiert modernen Propaganda zugunsten der Flottenrüstung.

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Seine wichtigsten Propagandamethoden waren das in einer Auflage von 375 000 Exemplaren herausgegebene Monatsmagazin „Die Flotte“, eine Vielzahl von Publikationen wie Broschüren, Kalender, Poster und Flugblätter, deren Auflagen teils in die Millionen gingen, unzählige von den Ortsgruppen und Landesverbänden organisierte Vorträge, Versammlungen und Feste sowie die Vorführung von Filmen und größtenteils selbst verfassten Theaterstücken. Zudem veranstaltete der DFV Reisen an die Wasserkante für Vereinsmitglieder, Schüler und Lehrer. Wenn man die Inhalte der Vereinspropaganda näher betrachtet, fällt auf, dass konkrete Forderungen in Bezug auf die Vergrößerung der Marine darin nur eine geringe Rolle spielen und verhältnismäßig selten vorkommen. Die Agitation des Vereins war größtenteils in einem allgemeineren Bereich, auf der symbolischen Ebene angesiedelt. Die individuelle und kollektive Wahrnehmung von Realität wird wesentlich geprägt und beeinflusst durch soziale Interaktion und Kommunikation. Der Flottenverein war ein Akteur, der durch unzählige Veranstaltungen, Diskussionen und unter Verwendung sämtlicher damals bekannter Medien die Wahrnehmung seiner Mitglieder und der Öffentlichkeit von der Realität, der Welt und der Rolle des Deutschen Reichs darin beeinflusste, strukturierte und konstruierte. So trug er entscheidend dazu bei, der Kaiserlichen Marine auch abseits der Verhandlungen über Flottennovellen einen wichtigen Platz auf der politischen Agenda und im täglichen Leben großer Teile des deutschen Bürgertums zu sichern. Die von ihm verbreitete Propaganda war im Alltag der Bevölkerung in Form von Plakaten an öffentlichen Plätzen wie Bahnhöfen und Schulen, durch vielbeachtete Veranstaltungen sowie zahlreiche Publikationen in riesigen Auflagen, beinahe omnipräsent. Dabei wiederholten sich gewisse Argumentationsmuster der Vereinspropaganda wieder und wieder mit leichten Variationen, so dass sie sich zunehmend auch sprachlich „einschleiften“ und immer weniger hinterfragt wurden.7 Das nationale Symbolsystem des Kaiserreiches war in den 1890er Jahren in eine Krise gekommen, da es sich lediglich auf die Vergangenheit bezogen und damit die Saturiertheit des Kaiserreiches widergespiegelt hatte. Die Symbole, welche vor allem auf die Freiheitskriege gegen Napoleon sowie die Reichseinigungskriege bezogen gewesen waren, verloren unter der in den 1890ern herrschenden Aufbruchsstimmung und dem Wandel des Nationalismus an Zugkraft: Während nun die Reichseinigung nicht mehr als Ziel der deutschen Geschichte sondern im Gegenteil erst als Ausgangspunkt für Weltmachtpolitik gesehen wurde, konnten die etablierten, rückwärtsgewandten nationalen Symbole keine handlungsleitende Orientierung für die Zukunft geben. Es begann ein „Symbolkampf“ um die Etablierung eines neuen, zukunftsorientierten Symbolsystems. In diesem Kampf war der DFV ein wichtiger Akteur. Die von ihm eingeführten und propagierten Symbole waren nicht mehr auf die Vergangenheit und das 19. Jahrhundert ausgerichtet, sondern wiesen in die Zukunft, auf folgende Generationen, auf eine 7

für das Folgende vgl. Diziol, Flottenverein, 133–337.

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Weltmachtstellung Deutschlands. Nach und nach entstand so durch den vereinsinternen Diskurs und die Wechselwirkung der Vereinspropaganda untereinander ein geschlossenes, auf sich selbst zurückverweisendes Ideensystem, etablierten sich neue nationale Symbole. Das von ihm geschaffene Symbolsystem bestand aus den Symbolen „Flotte“, „Kaiser“, „Weltpolitik“, „Flagge“, „blaue Jungs“, „See“ und „Auslandsdeutsche“. Dabei griff die Vereinspropaganda einerseits auf traditionelle Reichssymbolik zurück und richtete sie durch einen leichten Bedeutungswandel auf die Zukunft aus, andererseits kreierte sie ganz neue Symbole wie beispielsweise die „blauen Jungs“. Die Attraktivität der Symbole des DFV bestand neben ihrer dezidierten Vorwärtsgewandtheit darin, dass sie ein geschlossenes Gedankensystem bildeten, in dem jedes Element auf jedes andere zurückverwies. Wer die Gültigkeit eines der Symbole akzeptierte, musste daher automatisch auch die Gültigkeit aller anderen anerkennen.

Abbildung 1: Das Symbolsystem des Deutschen Flottenvereins.

Aus Platzgründen können hier nur die für die vorliegende Fragestellungen wichtigsten Symbole kurz skizziert werden. Die Flotte selbst stand im Zentrum des Symbolsystems, aus ihr leiteten sich alle anderen Symbole ab. Sie galt als ultramoderne, starke und beeindruckende Waffe und das Werkzeug von Großmachtpolitik. Dazu kam der Kaiser als Symbol. Zwar hatte der Kaiser auch vorher Symbolwert, der DFV lud ihn jedoch mit neuen Bedeutungen auf: Er galt ihm als Vater der Flotte und Visionär von Deutschlands Zukunft als Weltmacht, der durch prophetische Worte wie „Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser“ die vermeintlich alte Leidenschaft der Deutschen für die Beherrschung des Meeres neu erweckt hätte. Der Kaiser wurde somit vom Schaffer und Garant der Einheit, rückwärtsgewandte und statische Tugenden, zum Führer Deutschlands in eine große Zukunft, er bekam eine dynamische, vorwärtsgerichtete Qualität zugesprochen. Dazu kam die schwarz-weiß-rote Flagge, sie symbolisierte schon durch ihre Herkunft aus der Handelsschifffahrt den deutschen Anspruch auf Seegeltung. Sie repräsentierte Deutschland und das Deutschtum in der Welt und trug es über die Meere. Ein zentrales und das einzige exklusiv vom DFV besetzte Symbol waren „die

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blauen Jungs“, die Marinebesatzungen: die vermeintlich braven, starken, tapferen, klarsichtigen, tugendhaften und opferbereiten Helden der Flotte und Beherrscher der komplexen modernen Technik, die sich gleichzeitig den Naturgewalten und den Feinden des Reiches zum Kampf stellten und freudig für Deutschland in den Tod gingen. Sie brachten ein menschliches Element in das Symbolsystem ein, das einen emotionalen Zugang erleichterte. Zudem konnte der DFV mit diesem Symbol explizit auch Frauen ansprechen. Allgemein kann gesagt werden, dass die Vereinspropaganda die „blauen Jungs“ einerseits als Vorbilder für Männer und andererseits als Objekte der Begierde und der Zuneigung für Frauen aufbaute, die bei ihnen erotische beziehungsweise mütterliche Gefühle ansprechen sollten. Die Blaujacken wurden als eine Art nationale Elite junger Männer dargestellt, die als homogene Gruppe sämtliche vom DFV für wichtig erachtete Werte in sich vereinte. Dieses System nationaler Symbole folgte nicht einem „Masterplan“, war nicht von Anfang an von der Vereinsleitung oder gar hinter ihr stehender Interessengruppen so geplant. Es entwickelte sich langsam und diskursiv aus dem Vereinsleben, der Kommunikation innerhalb des Vereins, aus der Auseinandersetzung mit den traditionellen nationalen Symbolen sowie aus der Reibung an den inneren und äußeren Gegnern der Bewegung, aber auch aus zeitgenössischen Ideologien wie dem Sozialdarwinismus und Publikationen wie der Arbeit von Mahan. Zusammen ergaben die vom DFV geschaffenen Symbole den wilhelminischen Navalismus.

III In der Septemberausgabe von „Die Flotte“ 1914 schrieb der DFV: Die schicksalsschwere Stunde, auf die der DFV immer wieder bei seiner Mitarbeit an der Vervollständigung unserer Seerüstung hingewiesen hat, sie ist nun angebrochen. Was seit Jahren wie ein drohendes Gewitter am politischen Himmel stand, die Vereinigung unserer östlichen und westlichen Nachbarn zur Niederwerfung des deutschen Volkes und seiner Freunde, es ist zur Tatsache geworden, und wir gehen Zeiten entgegen, die in der Weltgeschichte wohl ihresgleichen noch nicht gesehen haben.8

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges im August 1914 kam der DFV in eine paradoxe Lage: Einerseits brachte dieser den vermeintlichen Beweis für die Richtigkeit der Forderungen des Vereins in den vorangegangenen sechzehn Jahren, andererseits verlor er nun drastisch an Profil und Einfluss. Das große Versprechen des DFV für die Zukunft, die „starke deutsche Flotte“ war plötzlich Gegenwart – enttäuschende Gegenwart. Das gegebene Versprechen, die Flotte sichere Deutschlands Weltstellung, konnte nicht eingehalten werden. Während vom Heer laufend vermeintliche bahnbrechende Siege in die Heimat gemeldet wurden, hörte man von der Tätigkeit der Flotte in der Öffentlichkeit kaum etwas.

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Aufruf an die Mitglieder des DFV!, in: Die Flotte Sept./1914, 162.

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Seit der 1894 von Tirpitz verfassten Dienstschrift Nummer IX, welche das strategische Denken der deutschen Kriegsflotte auf Jahre hinaus entscheidend geprägt hatte, war ihre Strategie das Anstreben der alles entscheidenden großen Seeschlacht mit dem Gegner. Von der Konzeption der zu bauenden Flotte bis zur Ausbildung und mentalen Erziehung der Mannschaften sowie der dafür verbreiteten Propaganda war der gesamte Tirpitzsche Flottenbauplan auf das Schlagen einer Entscheidungsschlacht ausgelegt.9 Entsprechend war es die Strategie der deutschen Marineleitung bei Kriegsbeginn 1914, günstige Voraussetzungen für eine offene Entscheidungsschlacht zu schaffen, welche bei der ersten sich bietenden Gelegenheit geschlagen werden sollte.10 Der Befehl dazu war jedoch verschwommen formuliert und enthielt keine klaren Handlungsanweisungen. Weiter verunsichert wurde die Marineleitung durch erste kleinere Scharmützel zu Beginn des Krieges, bei denen auf deutscher Seite drei kleine Kreuzer und ein Torpedoboot versenkt wurden, ohne dass die Kaiserliche Marine einen ähnlichen Erfolg zu verzeichnen hatte. Aus Sorge um die Hochseeflotte befahl Wilhelm II. daher Anfang Oktober 1914, dass sie sich zunächst zurückhalten, jegliche Aktionen, welche zu größeren Verlusten führen könnten, vermeiden und die Deutsche Bucht nicht verlassen solle.11 Diese Anordnung stieß auf harsche Kritik bei der Marineleitung, welche sich in der Folge zunehmend zerstritt. Zwar fanden im Herbst und Winter 1914/15 einige kleine Vorstöße deutscher Schiffe statt, diese stellten jedoch keine Alternative zu einer offenen Schlacht dar und brachten keinerlei strategische Erfolge. Bis auf das erfolgreiche Gefecht eines von Admiral Maximilian Graf Spee kommandierten Kreuzergeschwaders bei Coronel am 1. November 1914 hatte die Kaiserliche Marine zunächst kaum Erfolge aufzuweisen. Noch düsterer wurde die Lage, als Spees Kreuzergeschwader am 8. Dezember einem zahlenmäßig überlegenen britischen Geschwader bei den Falklandinseln unterlag. Mit der Versenkung der vier von ihm befehligten Schiffe endete der deutsche Kreuzerkrieg, die Briten hatten damit weltweit die Seeherrschaft errungen und konnten nun das Gros ihrer Schiffe in der Nordsee konzentrieren.12 Im Jahr 1915 blieb die Hochseeflotte bis auf einige kleinere Vorstöße in der Nähe von Helgoland durchweg untätig, ihre strategische Funktion beschränkte sich auf ihre Existenz als »fleet in being«.

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Vgl. Frank Nägler, Operative und strategische Vorstellungen der Kaiserlichen Marine vor dem Ersten Weltkrieg, in: Michael Epkenhans/Jörg Hillmann/Frank Nägler (Hgg.), Skagerrakschlacht. Vorgeschichte – Ereignis – Verarbeitung, München 2009, 19–56, 22. 10 Vgl. Michael Epkenhans, Die Kaiserliche Marine 1914/15. Der Versuch der Quadratur des Kreises, in: Michael Epkenhans/Jörg Hillmann/Frank Nägler (Hgg.), Die Seeschlacht im Skagerrak, München 2008, 113–138, 114; für umfassende Darstellungen des Seekriegs im Ersten Weltkrieg vgl. z.B. Richard Hough, The Great War at sea 1914–1918, Oxford/New York 1983; Paul G. Halpern, A Naval History of World War I, Annapolis 1994. 11 Vgl. Epkenhans, Quadratur des Kreises, 114–121. 12 Vgl. Andrew Lambert, “The possibility of ultimate action in the Baltic”. Die Royal Navy im Krieg, 1914–1916, in: Epkenhans/Hillmann/Nägler (Hgg.), Skagerrakschlacht, 81–85.

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Nicht nur die jüngeren Offiziere in der Kaiserlichen Marine waren von der in ihren Augen unnötigen Passivität frustriert, auch die oberste Marineleitung, Tirpitz und der Kaiser selbst waren enttäuscht und schoben sich gegenseitig die Verantwortung für die ausgebliebene Seeschlacht zu, was zu einem Führungschaos in der deutschen Marine führte.13 Es entstand eine Legitimationskrise der Hochseeflotte, welche, um ihren Bestand nach dem Krieg vor der Öffentlichkeit rechtfertigen zu können, zumindest einen Achtungserfolg brauchte, der letztlich nur in einer großen Schlacht bestehen konnte. Unter dieser Krise litt der DFV, welcher sich dafür rechtfertigen musste, dass die von ihm seit Jahren propagierte Flotte nun eben nicht die deutsche Wunderwaffe war, sondern im Gegenteil als teures Luxusobjekt untätig im Hafen lag. Die Glorifizierung einzelner kleiner Erfolge deutscher Schiffe und U-Boote in der Vereinspropaganda konnte nicht darüber hinweg täuschen.14 Der DFV veranstaltete zwar 1914 immerhin 1293, 1915 1547 und 1916 gar 1665 Vorträge15, unter anderem in Lazaretten, auf Kriegsschiffen, in den Etappengebieten und an der Front, diese waren allerdings meist rein informativ und belehrend, handelten vom UBootkrieg sowie den Kriegsschauplätzen und lieferten Augenzeugenberichte vom Krieg. Ihnen fehlten sowohl die starke Symbolik und das in der nahen Zukunft liegende Heilsversprechen, als auch die Impulse und Forderungen, die vor dem Krieg zumeist mit den Veranstaltungen des Vereins verbunden gewesen waren.16 Viele der Redner des DFV standen im Felde, so dass die Ortsgruppen häufig auf die von der Präsidialgeschäftsstelle ausgearbeiteten und gedruckten Vorträge zurückgriffen, die ein Mitglied der Ortsgruppe verlas. Dies erzielte naturgemäß eine geringere Wirkung, als wenn ein bekannter, auswärtiger Fachmann einen Vortrag hielt. Außerdem blieben die von der Präsidialgeschäftsstelle erhältlichen Vorträge oft oberflächlich, da die eingehende Behandlung vieler wichtiger Fragen während des Krieges nicht freigegeben war und der DFV sich als offiziell „unpolitischer“ Verein streng an den Burgfrieden hielt.17 Auch den vom DFV während des Weltkriegs verteilten Flugblättern fehlten ein klares Ziel und eine klare Handlungsaufforderung. Während sie vor dem Krieg die nationalen Symbole des DFV verbreitet, auf vermeintliche Lücken und Probleme im Flottenbau aufmerksam gemacht und zur Agitation für einen schnelleren Bau aufgerufen hatten, beschäftigten sich die Flugblätter zwischen 1914 und 1918 13 Vgl. Epkenhans, Quadratur des Kreises, 128–138. 14 Vgl. z.B. U 29, in: Die Flotte Mai/1915, 77; Die Kreuzfahrt der ‚Ayesha‘, in: Die Flotte Mai/1915, 74–75; Berichte von Augenzeugen der Vernichtung der ‚Dresden‘, in: Die Flotte Jun./1915, 101–102; Der erbeutete Depeschensack, in: Die Flotte März/1916, 48; Das Seegefecht an der Doggerbank, in: Die Flotte Apr./1916, 62–63. 15 Vgl. Staatsarchiv Hamburg, 614–2/1 (Akten des Hamburgischen Landeskomitees des DFV) III.22, Protokoll der 15. HV des DFV am 18.6.1916 in Berlin, 31; SA HH, 614–2/1, III.14, Jahresbericht des DFV für das Jahr 1916, 18. 16 Vgl. z.B. Vereinsnachrichten, in: Die Flotte Nov./1915, 184; Vereinsnachrichten, in: Die Flotte Dez./1915, 201. 17 Generallandesarchiv Karlsruhe, 69 (Seeverein Karlsruhe) Nr. 2, Jahresbericht des DFV für das Jahr 1917, 14.

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hauptsächlich mit einer Mischung aus der in der Presse ohnehin üblichen Englandhetze und rein sachlichen, allgemein gehaltenen Informationen beispielsweise über die Seeblockade oder über das Seerecht.18 Dazu kam, dass die wichtigste Verbindung des Vereins mit den Mitgliedern, das alle vier Wochen erscheinende Vereinsorgan „Die Flotte“ immer austauschbarer wurde: die meisten Ausgaben bestanden vor allem aus den Berichten vom Krieg und einer politischen Rundschau. Beide Rubriken trugen zwar die Handschrift des DFV, waren aber letztlich keine exklusiven Berichte: Die Informationen im Vereinsorgan, die auf staatliche Quellen zurückgriffen19, konnten aktueller aus anderen Medien entnommen werden. Neben den ausführlichen Rubriken „Vom Krieg“ und „Rundschau“ blieb wenig Platz für andere Artikel. Zu Beginn des Krieges behandelten diese häufig die Kriegsschuldfrage20, bis 1916 berichteten sie vor allem von den Wohltätigkeitseinrichtungen des DFV21, über einzelne Kriegsereignisse22, die Rolle der Flotte und vor allem der U-Boote im Krieg23, technische Neuerungen in der Marine24, Rüstung, Politik und Ziele der Westmächte25, ehrten „große Männer“ wie Bismarck zu deren runden Geburtstagen26 und 18 Vgl. z.B. Stadtarchiv Varel, Bestand 2.2. (Registratur der Stadt Varel 1900–1938) Nr. 1663, Flugblatt: Die Freiheit der Meere; Flugblatt: Die englische Blockade. 19 Vgl. dazu Roger Chickering, Imperial Germany and the Great War 1914–1918, Cambridge 1998, 47–50; Florian Altenhöner, Kommunikation und Kontrolle. Gerüchte und städtische Öffentlichkeiten in Berlin und London 1914/18, München 2008, 53–59, 65–89. 20 Vgl. z.B. Die Vorgeschichte des Krieges, in: Die Flotte Sept./1914, 163–164; Die europäische Krisis, in: Die Flotte Nov./1914, 190–192; ferner Der Krieg, in: Die Flotte Okt./1915, 156. 21 Vgl. z.B. Brief aus Kiel, in: Die Flotte Okt./1914, 178; Weihnachtsfeier im MarineVereinslazarett in Bremen, in: Die Flotte Feb./1915, 28–29; Brief aus Kiel, in: Die Flotte Feb./1915, 29–30; Weihnachtsfeier im Marine-Vereinslazarett in Bremen, in: Die Flotte Feb./1915, 28–29; Brief aus Kiel, in: Die Flotte Apr./1915, 61–62; Verteilung der Liebesgaben an die Marine in Flandern, in: Die Flotte Sept./1915, 151; Brief aus Kiel, in: Die Flotte Feb./1916, 32–33; Verwundetenbesuch im Alters- und Invalidenheim, in: Die Flotte März/1916, 48–49; Das dritte Kriegsjahr in dem Marine- und Vereinslazaretten Kiel und Bremen, in: Die Flotte Jan./1918, 6–7. 22 Vgl. z.B. U 29, in: Die Flotte Mai/1915, 77; Die Kreuzfahrt der ‚Ayesha‘, in: Die Flotte Mai/1915, 74–75; Berichte von Augenzeugen der Vernichtung der ‚Dresden‘, in: Die Flotte Jun./1915, 101–102; Der erbeutete Depeschensack, in: Die Flotte März/1916, 48; Das Seegefecht an der Doggerbank, in: Die Flotte Apr./1916, 62–63. 23 Vgl. z.B. Unterseeboote, in: Die Flotte Jan./1915, 9–11; Die Verluste der feindlichen Kriegsund Handelsmarinen, in: Die Flotte Nov./1915, 182; Probleme am Suez-Kanal, in: Die Flotte Feb./1916, 29–30; Von Mutterschiffen und anderen Hilfsmitteln für U-Boote, in: Die Flotte Jun./1916, 98–100. 24 Vgl. z.B. Deutsche Technik im Kriege, in: Die Flotte Sept./1915, 149–151; Ein Schuss Pulver, in: Die Flotte März/1916, 46–48; Das bewaffnete Kauffahrteischiff, in: Die Flotte Apr./1916, 63–64; Von Mutterschiffen und anderen Hilfsmitteln für U-Boote, in: Die Flotte Jun./1916, 98–100. 25 Vgl. z.B. Die Kriegsmarinen des Zweibundes, in: Die Flotte Sept./1914, 164–166; Die Vereinigten Staaten als neutrale Macht, in: Die Flotte Okt./1914, 176–177; Ägypten, Indien und das britische Weltreich im Kriegssturm, in: Die Flotte Feb./1915, 25–28; Der Vampir des Festlandes, in: Die Flotte Mai/1915, 77–78; Italiens Kolonialpolitik, sein Heer und seine Marine, in: Die Flotte Jul./1915, 116–119.

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glorifizierten die vermeintlichen Heldentaten von deutschen Soldaten, Matrosen und Auslandsdeutschen.27 Die vom DFV etablierten Symbole, die bis dahin große Wirkungsmacht entfaltet hatten und für seinen Erfolg und seine Attraktivität von entscheidender Bedeutung waren, boten sich im Krieg kaum zur nachhaltigen und langfristigen Propaganda an. Von der „Flotte“ gab es kaum neues zu berichten; das Symbol war bisher meist auf die Zukunft und den ständigen Bau neuer, immer größerer und gefechtstüchtigerer Schiffe gerichtet, der während des Krieges aber nicht mehr stattfand. Die Gegenwart konnte das gegebene Zukunftsversprechen nicht halten. Weil großangelegte Propaganda daher nicht zielführend und schwer möglich war, verlegte sich der DFV zunächst mit aller Kraft auf seine zweite satzungsgemäße Aufgabe: die Wohltätigkeit für die Soldaten der Kaiserlichen Marine und ihrer Angehörigen. Er sammelte finanzielle und materielle Spenden, um sie als Liebesgaben an die Marinemannschaften zu verteilen. Das konnte er nicht zuletzt deshalb besonders glaubwürdig und erfolgreich tun, weil sein Präsident, Großadmiral Hans von Koester, zum Leiter der vom Reichsmarineamt eingerichteten Zentralstelle freiwilliger Gaben an die Kaiserliche Marine ernannt worden war. Neben den Spendensammlungen richtete der DFV gemeinsam mit dem Hauptverband Deutscher Flottenvereine im Ausland, dem Flottenbund Deutscher Frauen, dem Verein Seemannshaus und dem Kaiserlichen Yachtclub Lazarette für verwundete Matrosen ein. Dabei ging er sehr schnell und effizient vor: Noch im August 1914 konnte er ein Lazarett in Bremen eröffnen, ein weiteres nahm im September in Kiel seine Arbeit auf. Das im Bau befindliche Alters- und Invalidenheim des Deutschen Flottenvereins in Eckernförde wurde unter Hochdruck fertig gestellt und ab Herbst 1915 als Lazarett verwendet. Es war im Schnitt von 50 bis 60 Verletzten besetzt. Die Kosten für die Lazarette waren enorm, alleine das in Bremen kostete den DFV während des Krieges fast 340 000 Mark. Dieses schnelle Vorgehen war deshalb möglich, weil der DFV schon auf der Gesamtvorstandssitzung 1913 hinter verschlossenen Türen ausführlich diskutiert hatte, welche Maßnahmen er im Fall eines Krieges treffen würde. Die Planungen waren zu diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschritten. Selbst Rundschreiben waren vorbereitet, die der DFV im August 1914 an seine Landesverbände schickte und sie dazu aufforderte, schnellstmöglich mit Spendensammlungen zu beginnen, um so die Kosten aufzubringen. Die Sammlungen hatten zunächst großen Erfolg: An Weihnachten 1914 konnte er Pakete mit Liebesgaben an 100 000 Marinesoldaten schicken, im Jahr darauf hatten diese Sendungen einen Gesamtwert von fast 2 Millionen Mark. Koester sah in diesen Sammlungserfolgen einen „Beweis dafür, wie jahrelange, von flammender Begeisterung und aufrichtigster Liebe für unsere

26 Vgl. z.B. Bismarck, in: Die Flotte Apr./1915, 51–53; Großadmiral von Tirpitz 50 Jahre im Flottendienst, in: Die Flotte Jun./1915, 92. 27 Vgl. z.B. Eine gefahrvolle Heimreise, in: Die Flotte Dez./1914, 207–211; Generalleutnant von Menges, in: Die Flotte Mai/1916, 79; Von unseren in Japan kriegsgefangenen Tsingtaukämpfern, in: Die Flotte Okt./1915, 166–167.

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Flotte getragene Arbeit tiefe Wurzeln gefasst und schöne, herrliche Früchte gezeitigt hat.“ Und tatsächlich gelang es durch die Spendensammlungen zunächst, die Flotte im öffentlichen Bewusstsein präsent, die Hoffnung auf eine entscheidende Schlacht aufrecht zu erhalten. Der DFV hielt seine wohltätigen Aktivitäten bis nach Kriegsende aufrecht. Zwar wurden für die Jahre 1917 und 1918 keine Zahlen mehr veröffentlicht, es ist aber anzunehmen, dass die Spendenbereitschaft aufgrund der Kriegsmüdigkeit und der Notlage in der Heimat nicht mehr so hoch war wie zu Kriegsbeginn. Als sich nach den ersten Kriegsmonaten herausstellte, dass die Flotte wenig ausrichten konnte und zur Untätigkeit verdammt war, musste der DFV Argumentationsstrategien finden, um die vermeintlichen Leistungen der Matrosen herauszustellen. Die Propaganda des Vereins orientierte sich in den Kriegsjahren weitgehend am Symbol „blaue Jungs“. Der Grund dafür, neben der mangelnden Eignung der anderen Symbole, war, dass dieses in direktem Zusammenhang mit der vorrangigen Tätigkeit des Vereins während des Krieges, der Wohltätigkeit, stand, immerhin rief der DFV die Bevölkerung auf, für eben diese „blauen Jungs“ zu spenden. Zudem war dieses Symbol das einzige, mit dem er noch effektive und einigermaßen exklusive Propaganda machen konnte, indem er sie den in der öffentlichen Wahrnehmung präsenteren Soldaten als ebenbürtig gegenüberstellte. Das Problem dabei war, dass „unsere tapferen Blaujacken“ zunächst eben nicht „die beste Werbearbeit für das Verständnis der Bedeutung unserer Flotte“28 lieferten, weil der Großteil der deutschen Flotte bis 1916 die meiste Zeit im Hafen lag. Daher musste der DFV andere Möglichkeiten finden, deren Tapferkeit herauszustellen und somit die Spendenaufrufe zu rechtfertigen. Zunächst rückte er die vermeintliche Bedeutung der Flotte ins öffentliche Bewusstsein: Und niemand zweifelt daran, dass der gegenwärtige Weltbrand nur dann ganz gelöscht werden kann, wenn der Brandstifter England zu Boden geworfen wird. Die unvergleichlichen Siege unserer Heere werden vergebens errungen, die ungeheuren Opfer umsonst gebracht sein, wenn dieses Ziel nicht erreicht wird. England, das seit Jahrhunderten die Festlandkriege der anderen europäischen Völker zur Ausbreitung seiner Herrschaft wucherisch ausbeutete und seine so geschaffene Herrschaft über die Weltmeere jetzt unter Verachtung des Völkerrechts in skrupelloser Weise gegen uns missbraucht, wird immer von neuem den Frieden Europas und vor allem Deutschlands bedrohen, wenn ihm die Möglichkeit dazu nicht genommen wird.29

Im Zusammenhang mit dem Symbol „blaue Jungs“ klang stets deren vermeintlich unerbittliche Wut auf England mit. Immerhin war die Konkurrenz zu England der Hauptgrund für den Flottenbau und die deutsche Flotte vornehmlich gegen England gerichtet gewesen, weshalb in der Vereinspropaganda England als der Hauptfeind im Krieg dargestellt wurde. Der DFV warf England das schon vor dem Krieg bemühte Motiv des Handelsneides vor, die Briten würden einen wirtschaft28 SA HH, 614–2/1, III.14, Jahresbericht des DFV für das Jahr 1915, 1. 29 Der Flottenverein und der Krieg, in: Die Flotte Okt./1914, 169.

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lichen Konkurrenten nicht dulden und wollten nun deswegen Deutschland vernichten. „Der Krieg sollte von Englands Gnaden ein Vernichtungskrieg gegen den deutschen Weltwirtschaftsanteil und die ganze deutsche Volkswirtschaft werden.“30 Die Matrosen seien froh, dass sie ihren schon lange tief verwurzelten „zornentflammten Hass“ gegen die Engländer nicht mehr herunterschlucken müssten, sondern sich nun offen wehren könnten.31 Als sich nach den ersten Kriegsmonaten herausstellte, dass die Flotte wenig ausrichten konnte und zur Untätigkeit verdammt war, musste der DFV Argumentationsstrategien finden, um die vermeintlichen Leistungen der Matrosen herauszustellen. Nun gilt es, auch den verwundeten Seeleuten der deutschen Flotte zu gedenken, deren Aufgabe in diesem Kriege eine doppelt schwere ist. Während ihre Brüder von der Armee sich mit dem Feinde messen dürfen, ist ihre Stunde noch nicht gekommen. Ihr Dienst verlangt andauernde Wachsamkeit bei jeder Witterung, stete Kampfbereitschaft bis der Augenblick gekommen ist, in dem der oberste Kriegsherr auch sie zur Schlacht rufen wird. Bis dahin ist ihre Aufgabe, vielleicht noch monatelang treues Ausharren auf ihrem Posten und Kampf mit der rauen Witterung, die schon jetzt den Dienst auf dem Wasser zu einem äußerst beschwerlichen macht.32

In einer Rede betonte Koester, die noch zur Untätigkeit verdammte „Hochseeflotte verlange brennend, zu zeigen was sie leisten könne. Dass hierzu ausreichende Gelegenheit gegeben sein möge, wünsche er […] ihr von ganzem Herzen.“33 Wenn ein deutsches Schiff doch einmal in ein Gefecht verwickelt wurde, stürzte sich die Vereinspropaganda direkt darauf und glorifizierte die Leistung der Mannschaften, wie auch immer das Gefecht ausgegangen war. Ein besonders gutes Beispiel dafür ist der Untergang der Scharnhorst, der vom DFV zum Heldentod hochstilisiert wurde. Die Besatzung habe, statt sich zu ergeben, bis zuletzt aus allen Geschützen gefeuert und sei mit einem dreifachen Hurra auf den Kaiser in de Tod gesunken. Mit tiefer Wehmut, aber mit berechtigtem Stolze blickt das deutsche Volk auf den tragischen Abschluss einer Heldenlaufbahn, die zeigte, wie Deutschlands Flotte zu siegen oder zu sterben weiß. Das Beispiel dieser Braven ist nicht vergeblich gewesen.34

Somit wurde selbst die Niederlage, die zum Ende des deutschen Kreuzerkriegs führte, propagandistisch ausgeschlachtet und in ein positives Ereignis umgedeutet. Selbst nach der Schlacht am Skagerrak deutete von Koester auf der Hauptversammlung 1916 die Untätigkeit der Flotte als Tapferkeit und große Leistung um – als Fachmann hatte er vielleicht schon befürchtet, dass es den Rest des Krieges 30 Der wirtschaftliche Krieg, in: Die Flotte März/1915, 44; vgl. auch Der Krieg, in: Die Flotte Jan./1916, 2. 31 Vgl. Brief aus Kiel, in: Die Flotte Apr./1915, 61. 32 Sammelt Liebesgaben für die Flotte, in: Die Flotte Nov./1914, 185. 33 Vereinsnachrichten, in: Die Flotte Jul./1915, 119. 34 Der Krieg, in: Die Flotte Feb./1915, 20; zum Motiv des Heldentodes vgl. auch U 29, in: Die Flotte Mai/1915, 77; für einen ähnlichen Bericht vgl. Berichte von Augenzeugen der Vernichtung der ‚Dresden’, in: Die Flotte Jun./1915, 101–102.

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keine weiteren großen Seeschlachten geben würde und deshalb „vorbeugend“ angemerkt: Wie unsagbar schwer unsere Flotte unter dieser Zurückhaltung hat leiden müssen, das kann wirklich nur derjenige beurteilen, der ihr nahe steht, der da weiß, welcher Geist der Offensive ihr von jeher anerzogen worden ist. Unbefriedigte Kampfeslust beinahe zwei Jahre in der Brust zu tragen, ist eine härtere Anforderung an die Disziplin und die Kampfesfreudigkeit, als sein Leben im Handgemenge zum Opfer zu bringen.35

Aufgrund der kriegsbedingten Kommunikationsschwierigkeiten im Verein kam nun dem Film wieder eine größere Rolle als Propagandamedium zu.36 Hatten schon in der Hochzeit der Filmpropaganda des Vereins von 1901 bis 1911 einzelne „ernste und heitere“ Szenen aus dem Leben und Alltag der Matrosen für die Entwicklung des Symbols „blaue Jungs“ eine wichtige Rolle gespielt, so verwendete der Flottenverein nun das sich erst in den Kriegsjahren herausbildende Konzept des abendfüllenden Spielfilms für dessen mediale Vermittlung. Der Erste Weltkrieg markierte den tiefsten Einschnitt in der deutschen Filmgeschichte vor der Einführung des Tonfilms 1929. Die Produktion, Vermarktung und Rezeption von Filmen durchlief zwischen 1914 und 1918 einen rasanten Veränderungsprozess, auch das inhaltliche und formale Spektrum der Produktion wandelte sich. Grund für den Aufschwung war nicht zuletzt, dass besonders in kleinen und mittelgroßen Städten viele Theater, Varietébühnen und Rummelplätze geschlossen wurden, weil sie zuviel Personal benötigten. Die Kinos boten dagegen weiterhin preisgünstige Unterhaltung und erschlossen sich so neue Publikumsschichten im Bürgertum. In den Kriegsjahren und in der Nachkriegszeit thematisierten sowohl Dokumentar- als auch Spielfilme das Kampfgeschehen und beteiligten sich auf vielfältige Weise an der Deutung des Krieges.37 Das beste Beispiel für die Instrumentalisierung des Mediums durch den DFV zu Propagandazwecken und der Entwicklung des Symbols „blaue Jungs“ ist das erste von ihm produzierte „fünfaktige Marineschauspiel“ „Stolz weht die Flagge schwarz-weiß-rot“ aus dem Jahr 1916.38 Das vom Sekretär des Flottenvereins und ehemaligen Leiters sämtlicher Schülerfahrten, Fritz Prochnewski, verfasste Drehbuch bediente sich der klassischen narrativen Muster und Motive der vor dem

35 SA HH, 614–2/1, III.22, Protokoll der 15. Hauptversammlung des DFV am 18.6.1916 in Berlin, 18. 36 Zur Rolle des Kinos im Ersten Weltkrieg vgl. Roger Chickering, The Great War and Urban Life in Germany, Freiburg 1914–1918, Cambridge 2007, 377–390; Karin Bruns, Nation und Rasse im frühen deutschen Film, in: Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hgg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1996, 806–833. 37 Vgl. Philipp Stiasny, Das Kino und der Krieg. Deutschland 1914–1929, München 2009, 7, 27. 38 Für eine genaue Inhaltsangabe mit Szenenbildern aus dem Film vgl. SA HH, 614–2/1, III.52, Stolz weht die Flagge schwarz-weiß-rot; das Reichsmarineamt unterstützte den DFV bei den Dreharbeiten zu seinen Filmen, indem es ihm ermöglichte, auf Werften und Kriegsschiffen zu drehen; vgl. z.B. BA/MA Freiburg, RM 3 (Akten des Reichsmarineamts) Nr. 9912, Bl. 313– 328.

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Krieg in „Die Flotte“ erschienenen Fortsetzungsromane sowie der vom Flottenverein aufgeführten Theaterstücke, alle[r] Mittel und Mittelchen des Volksstückes (…), um im Schicksal einfacher Menschen die stürmische Liebe eines ganzen Volkes zur See und seinen Willen zur Seegeltung lesen zu lassen.39

Im Zentrum der Handlung des Films stehen die Liebesgeschichten zweier junger Paare. Während das eine glücklich und problemfrei der Verlobung entgegensehen darf, hat das andere Hindernisse zu überwinden: Der reiche Kaufmannsvater des Protagonisten verbietet seine Beziehung zu der unvermögenden Auserwählten. Dann bricht der Krieg aus, „der die Geister erhebt und sie frei macht von Standesvorurteilen und Vermögensdünkel.“40 Der reiche Georg tritt in die Kriegsmarine ein, der arme Hans in die Armee, wobei spektakuläre Schlachtenszenen auf See und an Land gezeigt werden. Georg wird schwer verwundet und landet im Lazarett, wo seine Geliebte, die blonde Inge, sich aufopfernd um ihn kümmert und ihm das Leben rettet. Daraufhin stimmt Georgs Vater der Heirat zu. Somit ergänzte der Film die hergebrachten Motive vom gutmütigen alten Seebär im Ruhestand, dem „braven Jungen, der sich den Seemannsberuf erwählt hat“41, ein „richtiger blauer Junge“ wird, der „auch die verhärtetsten Herzen [im Sturm, S.D.] erobert“42 und treu seine Braut liebt, die stolz daheim auf ihn wartet, den Werdegang des Matrosen ab seiner Ausbildung auf dem Segelschulschiff, die Selbstaufopferung des Seemannes, der unter Einsatz seines eigenen Lebens das eines Fremden rettet sowie das Liebespaar, das schwere Hindernisse überwinden muss, um zueinander zu finden, mit populären Motiven des Krieges wie der liebenden Fürsorge der Frau zum verwundeten Soldaten, der einigenden Wirkung des Krieges auf das deutsche Volk, dem Feldzug im Westen sowie dem „Gipfel des Seemannsdaseins“43, der Skagerrakschlacht. Dabei wechseln, wie für das Genre typisch, ernste, heitere und tragische Momente einander ab und steuern auf das allumfassende „Happy End“ hin. Zur Attraktivität des Films trug seine spektakuläre Inszenierung, vor allem der Skagerrakschlacht bei: Prachtvolle Bilder von grausiger Naturwahrheit zeigen das gewaltige Ringen gegen den übermächtigen Feind. In Rauch und Flammen gehüllt stehen die Schiffe einander gegenüber und speien Feuer und Verderben. Hochauf spritzen die Wogen. Ein feindliches Schiff gerät in Brand, explodiert und die Trümmer werden von den Wellen verschlungen. Des Scheinwerfers weithin blitzendes Auge streicht über das Wasser, sucht den Gegner, und die wachsamen Blaujacken finden und vernichten ihn.44

Das narrative und inszenatorische Zentrum des Films bildete die Figur des „blauen Jungen“ Hans Peters, welcher sämtliche Attribute des Symbols in sich zusam39 40 41 42 43 44

Vgl. SA HH, 614–2/1, III.52, Berliner Neueste Nachrichten, 24.8.1916. SA HH, 614–2/1, III.52, Stolz weht die Flagge schwarz-weiß-rot. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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menfasste: „eine echte, kernige Seemannsnatur, ein deutscher Junge. Sein Weg ist nicht leicht, Leid und Gefahren, aber auch Freude und Glück sind sein Schicksal.“45 Gedreht wurde der Film von dem jüdischen Regisseur Siegfried Dessauer (1874–1945), der ursprünglich am Theater gearbeitet hatte und ab 1914 Filme machte, wobei er besonders auf Sensationsstoffe, Abenteuergeschichten, Melodramen, Detektivserien und patriotische Erbauungsepen spezialisiert war.46 Der Propagandafilm des DFV scheint durchaus Anklang beim Publikum gefunden und Besucher aus verschiedenen Bevölkerungsschichten gehabt zu haben. Selbst Max Weber nahm sich vor, ihn mit seinen Kindern zu sehen weil er „ganz gut zu sein“ scheine.47 Die Zeit von Mitte Juni 1916 bis Anfang 1917 war geprägt von drei weitgehend voneinander unabhängigen Ereignissen, die dem Flottenverein neue Handlungsspielräume eröffneten und ihm einen deutlichen Aufschwung brachten: Die Seeschlacht am Skagerrak, die Diskussion um die Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Bootkriegs sowie der vom DFV organisierte Opfertag für die deutsche Marine am 1. Oktober 1916. Die Wende leitete die Seeschlacht vor dem Skagerrak am 31. Mai 1916 ein.48 Dabei hatte die Kaiserliche Flotte zwar mehr Schiffe der Royal Navy versenkt als umgekehrt, faktisch endete das Aufeinandertreffen aber mit einem Patt, weil danach noch immer das gleiche Kräfteverhältnis der beiden Flotten zueinander bestand wie davor. War die in den vergangenen achtzehn Jahren so teuer erbaute deutsche Kriegsmarine im Krieg von kleineren Scharmützeln abgesehen bis dahin weitgehend untätig in der Nordsee gelegen, so konnte nun endlich ihre vermeintliche Notwendigkeit, ihre Qualität sowie die Tapferkeit der Mannschaften bewiesen und noch dazu ein vermeintlicher Sieg gegen die größte Flottenmacht der Welt vermeldet werden – ein nicht zu überschätzender Prestigeerfolg sowohl für die Marine selbst als auch für den Flottenverein. Die Seeschlacht lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit erstmals seit 1914 auf die Flotte und rückte sie in ein positives Licht, nachdem bisher vor allem vom Landkrieg berichtet worden war. Das bedeutete für den DFV die Chance, sich und seine Tätigkeit wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rufen und sich zu profilieren. So verhöhnte Koester in seiner Rede auf der Hauptversammlung des DFV am 18. Juni 1916 England we-

45 Ebd. 46 Vgl. Kay Weniger, Zwischen Bühne und Baracke. Lexikon der verfolgten Theater-, Film- und Musikkünstler 1933–1945, Berlin 2008, 90–91; Stiasny, Kino, 161–163, 272–273. 47 Vgl. Gerd Krumeich/Rainer M. Lepsius (Hgg.), Max Weber-Gesamtausgabe, Abt. 2, Briefe, Band 9, Tübingen 2008, 560. 48 Für eine detaillierte Beschreibung des Verlaufs und eine kritische Beurteilung der Schlacht vgl., Werner Rahn, Die Seeschlacht vor dem Skagerrak. Verlauf und Analyse aus deutscher Perspektive, in: Epkenhans/Hillmann/Nägler (Hg.), Skagerrakschlacht, 152–196; vgl. auch, Hough, Great War, 190–298; Halpern, Naval History, 310–329; für eine eher populärwissenschaftliche aber lesenswerte Schilderung der Schlacht vgl. Richard Georg Plaschka, Keimzellen der Revolution. Matrosen, Offiziere, Rebellen. Krisenkonfrontationen zur See 1900–1918, Band 2, Wien/Köln/Graz 1984, 110–134.

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gen dessen bisheriger Zurückhaltung im Krieg auf See, glorifizierte die deutschen Marinemannschaften und deren Kampfgeist: Ein Jubel und Freudenschrei ging (…) durch unser Vaterland, als wir vor nunmehr vierzehn Tagen die Nachricht von der ersten großen Seeschlacht dieses Krieges erhielten, dieser Seeschlacht, welche gezeigt hat, was Unerschrockenheit der Führer, freudige Kampfbegeisterung der Mannschaften und Vorzüglichkeit des Materials zu leisten vermögen.49

Nicht nur in seinen Reden50 und Veranstaltungen sowie in der Werbung für den Marineopfertag machte der DFV auf die Schlacht aufmerksam, auch in seinen Publikationen schlachtete er den vermeintlichen Sieg propagandistisch aus. Im Jahr 1916 häuften sich die Artikel im Vereinsorgan darüber, zumeist Augenzeugenberichte, die in blumiger Sprache und reich ausgeschmückt von den vermeintlichen Heldentaten der deutschen Flotte in der Schlacht berichteten.51 Dazu kam, dass nun für einige Zeit die Vorwürfe verstummten, die Flotte sei ein teures Luxusprodukt, welches statt am Krieg aktiv teilzunehmen, untätig im Hafen liege, und der Flottenverein sie nicht mehr rechtfertigen musste. Hinter den Kulissen wussten die Fachmänner im Verein aber ebenso wie Tirpitz und der Kaiser, dass die Schlacht nur ein Achtungserfolg, nicht aber von großer strategischer oder gar kriegsentscheidender Bedeutung war.52 Ungleich wichtiger als die Schlacht selbst war für die Propaganda des DFV während des Krieges und speziell ab 1916 die Diskussion um den U-Bootkrieg – dieses Thema hatte den Vorteil, dass der Verein hier aktiv wirken und konkrete Forderungen nach der Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Bootkrieges stellen, auf ein Ziel hinarbeiten konnte. Zudem war die U-Bootwaffe das einzige Wirkungsgebiet der deutschen Flotte, in der sie konstante Erfolge vorzuweisen hatte.53 Waren U-Boote in der Tirpitzschen Flottenstrategie ursprünglich nur als Hilfswaffe geplant, erlangten sie im Laufe des Weltkriegs erhebliche Bedeutung im Handelskrieg. Die Agitation für den unbeschränkten U-Bootkrieg galt als erfolgversprechend, weil er nicht nur rechten Kreisen, sondern breiten Bevölkerungsschichten als „Wunderwaffe“ galt, auf die große Hoffnungen zur schnellen siegreichen Beendigung des Krieges gesetzt wurden.54 Daher nahm die Beschäfti49 SA HH, 614–2/1, III.22, Protokoll der 15. Hauptversammlung des DFV am 18.6.1916 in Berlin, 18. 50 Vgl. z.B. StadtA Varel, Bestand 2.2, Nr. 1663, Rundschreiben des Landesverbandes Oldenburg, 24.1.1917. 51 Vgl. z.B. In der Artilleriezentrale und am Scheinwerfer, Bilder aus der Seeschlacht am Skagerrak von Leutnant zur See Busch, in: Die Flotte Sept./1916, 149–150; In der Artilleriezentrale und am Scheinwerfer, Teil 2, in: Die Flotte Okt./1916, 161–162; Bilder aus der Seeschlacht vorm Skagerrak, von Korvettenkapitän Scheibe, in: Die Flotte Nov./1916, 180–182. 52 Vgl. Jörg Hillmann, Die Seeschlacht vor dem Skagerrak in der deutschen Erinnerung, in: Epkenhans/Hillmann/Nägler (Hgg.), Skagerrakschlacht, 309–350, 324–325; vgl. die verhaltene Einschätzung Koesters in SA HH, 614–2/1, III.22, Protokoll der 15. Hauptversammlung des DFV am 18.6.1916 in Berlin, 18. 53 Zum uneingeschränkten U-Bootkrieg vgl. z.B. Chickering, Imperial Germany, 89–93. 54 Vgl. Raffael Scheck, Der Kampf des Tirpitz-Kreises für den uneingeschränkten U-Bootkrieg und einen politischen Kurswechsel im deutschen Kaiserreich 1916–1917, in: Militärge-

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gung mit dem U-Boot-Krieg einen maßgeblichen Raum in den Publikationen und Veranstaltungen des Vereins ein. Der DFV hob in seiner Propaganda durch zahlreiche „belehrende“ Artikel über die Technik der Unterseeboote sowie über konkrete Gefechte und Erfolge der deutschen U-Boote in „Die Flotte“ die Bedeutung dieser Waffe hervor.55 Neben diesen belehrenden Artikeln fanden sich ab 1916 regelmäßig – aufgrund des „Burgfriedens“ – verhaltene Forderungen nach und später Rechtfertigungen des uneingeschränkten U-Bootkrieges.56 In seinem Jahresbericht für 1916 gab der DFV gar offen zu, trotz des „Burgfriedens“ für den bedingungslosen Einsatz der U-Bootwaffe agitiert zu haben und feierte den Entschluss der Regierung, den unbeschränkten U-Bootkrieg wieder aufzunehmen, weil er „neue Quellen an Mut, Ausdauer, Hilfsbereitschaft und Opferwilligkeit“57 im deutschen Volk geweckt habe. Zugleich empörte sich der DFV – trotz seiner Rücksichtnahme auf den „Burgfrieden“ – über die vermeintlich selbstauferlegte Beschränkung.58 Nachdem der unbeschränkte U-Boot-Krieg wieder eingeführt war, waren die „Mitteilungen des DFV“ voll von Artikeln, welche den vermeintlichen Erfolg des Unternehmens in seinen verschiedenen Dimensionen priesen und es gegen Kritiker verteidigten. Sie waren oft verbunden mit Propaganda gegen die USA und der Aufforderung, keine Rücksicht auf den „heuchlerischen“ Präsidenten Woodrow Wilson zu nehmen.59 In den 32 „Mitteilungen“, die zwischen der Aufnahme des unbeschränkten UBootkrieges am 31. Januar 1917 und dem deutschen Waffenstillstandsangebot vom 4. Oktober 1918 erschienen, behandelten 27 Artikel den U-Bootkrieg. Sie glorifizierten die Leistungen und Erfolge der U-Boote60, berichteten von den ver-

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schichtliche Mitteilungen 55/1996, 69–91, 71; vgl. auch René Schilling, „Kriegshelden“. Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutschland 1813–1945, Paderborn 2002, 252– 288, der den im Krieg entstehenden Heldenkult um Manfred von Richthofen und Otto von Weddingen, die populären Vertreter der neuen Waffengattungen untersucht. Vgl. z.B. Unterseeboote, in: Die Flotte Jan./1915, 9–11; U 29, in: Die Flotte Mai/1915, 77; Unterseebootsfahrten im Mittelmeer, in: Die Flotte Feb./1916, 28–29; Von Mutterschiffen und anderen Hilfsmitteln für U-Boote, in: Die Flotte Jun./1916, 98–100; Drüber und Drunter, in: Die Flotte Okt./1915, 164–165; Abwehrmittel gegen U-Boote, in: Die Flotte Dez./1916, 196–197; Die Wirkung der U-Boots-Tätigkeit, in: Die Flotte Feb./1917, 25–28; UBootstraum und Wirklichkeit, in: Die Flotte Nov./1917, 154–156; Die deutsche Flotte im Weltkriege, in: Die Flotte Nov./1918, 84–85; zudem wurde der U-Bootkrieg regelmäßig in den monatlichen Rubriken „Der Krieg“ und „Rundschau“ in Die Flotte erwähnt. Vgl. Seegeltung vor Kolonialgeltung, in: Die Flotte Sept./1916, 146–149; Mittelmeer und Weltkriegswende, in: Die Flotte Jun./1917, 92–93; Der U-Bootkrieg in der französischen Kammer, in: Die Flotte Aug./1917, 124–126. SA HH, 614–2/1, III.14, Jahresbericht des DFV für das Jahr 1916, 1–2. Vgl. Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 20.6.1916. Zur antiamerikanischen Propaganda vgl. auch, SA HH, 614–2/1, III.62, Mitteilungen des DFV, Nr. 9, 14.6.1917, Falsche Flaggen. Vgl. ebd., Mitteilungen des DFV, Nr. 4, 24.3.1917, Großadmiral von Koester zum UBootskrieg; Mitteilungen des DFV, Nr. 6, 11.5.1917, Vergleichsziffern zur Beurteilung unserer U-Bootserfolge; Mitteilungen des DFV, Nr. 8, 5.6.1917, England und das U-Boot; Mitteilungen des DFV, Nr. 18, 29.9.1917, Der Besitz von Gibraltar und der Unterseebootskrieg;

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meintlich vergeblichen Versuchen der Entente zu ihrer Bekämpfung61, schilderten die Auswirkungen des U-Bootkrieges auf den Handel und die Schifffahrt der Feinde62 und verteidigten ihn gegen deutsche Kritiker.63 Auch in den Vorträgen, die der DFV während des Weltkrieges veranstaltete, spielten das U-Boot und der U-Bootkrieg eine überdurchschnittlich große Rolle.64 Zusätzlich verarbeitete der DFV das Thema künstlerisch. Beispielsweise empfahl er 1915 das „Kriegsfestspiel 1914/15“ für Vereinsabende, welches „poetische und realistische Bilder in geschickter Weise verbindend (…) mit seiner formschönen Sprache und seinen wirksamen Musikeinlagen“ allgemeinen Beifall finden würde mit dem Hinweis „eine Unterseebootsszene scheint uns besonders packend“.65 Zudem erschien im Sommer 1917 der im Auftrag des DFV von Fritz Prochnewski verfasste und von Kurt Matull66 gedrehte fünfaktige Spielfilm „Hoch klingt das Lied vom U-Bootmann“, der „die Liebe für die Flotte im Volke (…)

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Mitteilungen des DFV, Nr. 1, 27.1.1918, Zwölf Monate uneingeschränkten U-Boots-Krieges; Mitteilungen des DFV, Nr. 4, 18.2.1918, Feindeslob des U-Bootes; Mitteilungen des DFV, Nr. 10, 22.5.1918, Carloforte und Zeebrügge. Vgl. ebd., Mitteilungen des DFV, Nr. 3, 21.2.1917, Englands Maßnahmen gegen den UBootkrieg, Geleit für die Handelsschiffe; Mitteilungen des DFV, Nr. 9, 14.6.1917, U-BootsFallen; Mitteilungen des DFV, Nr. 16, 18.9.1917, Flugzeug und U-Boot, Die schwimmenden Särge zur Überwindung der U-Boots-Gefahr; Mitteilungen des DFV, Nr. 1, 28.1.1918, Der Kriegserfinder Edison; Mitteilungen des DFV, Nr. 3, 12.2.1918, Schiffe aus Eisenbeton; Mitteilungen des DFV, Nr. 8, 2.4.1918, Maskeradenschiffe. Vgl. ebd., Mitteilungen des DFV, Nr. 2, 13.2.1917, Was der U-Bootkrieg England kostet; Mitteilungen des DFV, Nr. 9, 14.6.1917, Der Welt-Frachtraum; Mitteilungen des DFV, Nr. 11, 16.7.1917, Verlust und Ersatz an Schiffsraum; Mitteilungen des DFV, Nr. 14, 16.8.1917, Schiffsverluste und Durchschnittsgröße, Die schnelle Abnutzung der Ententeschiffe; Mitteilungen des DFV, Nr. 15, 4.9.1917, Wie wirkt die Versenkung eines Schiffes?; Mitteilungen des DFV, Nr. 20, 13.11.1917, Die Wahrheit über die englischen Schiffbauaussichten; Mitteilungen des DFV, Nr. 8, 2.4.1918, Mitteilungen des DFV, Nr. 9, 12.4.1918, Amerikanischer Bluff, Brutto und Netto. Vgl. ebd., Mitteilungen des DFV, Nr. 6, 11.5.1917, Die neutrale Schifffahrt und der U-BootKrieg; Mitteilungen des DFV, Nr. 9, 14.6.1917, Gegen die inneren Feinde; Mitteilungen des DFV, Nr. 2, 1.2.1918, Die U-Boots-Politik des Großadmirals v. Tirpitz; Mitteilungen des DFV, Nr. 3, 12.2.1918, Großkampfschiffspolitik und U-Bootsbau. Vgl. z.B. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, 6–96–1802 (Deutscher Flottenverein – Landesverband für das Großherzogtum Sachsen) Nr. 63, Jaenisch an Flintzer, 11.2.1915, Bl. 48; ThHSTA W, 6–96–1802, Nr. 56, Vorsitzender der Ortsgruppe Blankenhain an Flintzer, Bl. 70; Staatsarchiv Leipzig, 20031 Polizeiamt Leipzig, Nr. 2618, Bressensdorf an Polizeiamt, 20.3.1915, Bl. 99; ebd., Bressensdorf an Polizeiamt, 9.10.1917, Bl. 136; StadtA Varel, Bestand 2.2, Nr. 1663, Ortsgruppe Varel an Fortkamp, 17.1.1916; Stadtarchiv Dresden, 2.3.7. (Finanzamt, Handakten Kretzschmar) Nr. 14, Rundschreiben, 8.11.1917, Bl. 78; ebd, Protokoll der Vorstandssitzung der Ortsgruppe Dresden am 29.8.1918, Bl. 83. Vereinsnachrichten, in: Die Flotte Dez./1915, 202. Kurt Matull hatte 1914 bei seinem ersten Film mit Siegfried Dessauer, dem Regisseur von „Stolz weht die Flagge schwarz-weiß-rot“ zusammengearbeitet. Während des Krieges war Matull spezialisiert auf Melodramen sowie deutsch-nationale, hurrapatriotische Filme; vgl. Wilhelm Kosch, Deutsches Theater-Lexikon. Band 2, Klagenfurt/Wien 1960, 1385; Stiasny, Kino, 61–62.

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wecken und (…) stärken“ sollte.67 Der Film handelt vom Leben und Wirken von Wilhelm Bauer (1822–1975), dem Erfinder der modernen U-Boottechnologie68, er glorifizierte dessen technisches Können und interpretierte ihn als tragischen, letztlich gescheiterten Helden, der in seiner Zeit nicht verstanden worden war. Auch eine Spitze gegen England fehlte dem Film nicht. Sämtliche Ortsgruppen des DFV sollten in den lokalen Kinos für die Vorführung dieses Films werben, wobei die Kinobesitzer fünf Prozent der Einnahmen an das Alters- und Invalidenheim abgeben mussten.69 Die Forderung nach dem unbeschränkten U-Bootkrieg war bei weitem kein exklusives Thema der Flottenvereinspropaganda. Expliziter und früher als der DFV hatten bereits andere nationale Verbände und Gruppen das Thema zu einem wichtigen Gegenstand ihrer Agitation gemacht und versucht, direkt auf die Befehlshaber Einfluss zu nehmen: Beispielsweise der Alldeutsche Verband70, die Wirtschaftsverbände und die konservativen Parteien, Nationalliberale und Zentrum71, der Unabhängige Ausschuss für einen deutschen Frieden sowie der Volksausschuss zur raschen Niederwerfung Englands. Der Historiker Dietrich Schäfer übergab dem Reichstag 1916 eine Eingabe mit angeblich 90 000 Unterschriften.72 In der Tirpitzschen Flottenstrategie, die sich auf Großkampfschiffe konzentriert hatte, waren U-Boote ursprünglich nur als Hilfswaffe geplant gewesen, sie erlangten erst im Laufe des Weltkriegs erhebliche Bedeutung im Handelskrieg. Deshalb waren die vermeintlichen Erfolge der U-Boote auch keine wirkliche Rechtfertigung für den Flottenbau und die Existenz der Flotte. Ihr positives Bild färbte kaum auf die Hochseeflotte ab, von der nach wie vor eine große Entscheidungsschlacht erwartet wurde. Eine werbewirksame und prestigeträchtige Massenveranstaltung war der vom DFV organisierte Opfertag für die deutsche Flotte am Sonntag den 1. Oktober 1916, welcher die größte Veranstaltung in der Vereinsgeschichte darstellte. Der Opfertag wurde kurzfristig auf der Hauptversammlung des DFV am 18. Juni 1916 auf Anregung des Oberbürgermeisters von München beschlossen.73 Der explizite Grund für die kurze Vorlaufzeit war, dass der Flottenverein die große Beliebtheit 67 GLA KA, 69, Nr. 2, Jahresbericht des DFV für das Jahr 1917, 14. 68 Vgl. z.B. Klaus Herold, Der Kieler Brandtaucher. Wilhelm Bauers erstes Tauchboot. Ergebnisse einer Nachforschung, Bonn 1993. 69 Wie groß der Erfolg dieses Films und der anderen im Auftrag des DFV produzierten Filme im Weltkrieg war, lässt sich aus den Quellen leider nicht nachweisen. Weil der Verein während des Krieges aber ein halbes Dutzend solcher kostspieliger Werbefilme drehen ließ, kann davon ausgegangen werden, dass zumindest die Ausgaben gedeckt wurden. Wie sich aus den Kritiken und den Berichten von der festlichen Premiere des Films „Stolz weht die Flagge schwarz-weiß-rot“ in den Zeitungen sehen lässt, scheinen sie einige gesellschaftliche Relevanz gehabt zu haben; vgl. SA HH, 614–2/1, III.52, passim. 70 Vgl. Rainer Hering, Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890 bis 1939, Hamburg 2003, 136. 71 Vgl. Heinz Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreiches, Düsseldorf 1997, 64. 72 Vgl. ebd., 75–81. 73 Vgl. SA HH, 614–2/1, III.14, Jahresbericht des DFV für das Jahr 1916, 6.

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der Flotte bei der Bevölkerung im Nachhall der Skagerrakschlacht ausnutzen wollte.74 Am 1. Oktober sollten in Zusammenarbeit mit anderen nationalen Verbänden wie dem Flottenbund Deutscher Frauen, dem Verein Kaiserliche Marine, dem Marineverein und dem Deutschen Roten Kreuz reichsweit große Spendensammlungen und Werbeveranstaltungen für die Kriegsflotte stattfinden. Dabei sammelten Vereinsmitglieder, Schülerinnen und Schüler sowie junge Frauen auf der Straße und an den Haustüren. Sie verkauften Opfertagsabzeichen mit der Kriegsflagge für zwanzig Pfennige, wer eines trug, sollte nicht mehr um Spenden gebeten werden.75 An manchen Orten verteilten die Helfer als Dank für eine Spende Propagandamaterial wie kleine Festschriften mit Bildern von Seeoffizieren und der Tätigkeit der Flotte im Krieg, Liedblätter und Postkarten.76 Im ganzen Reich gaben sie 2,5 Millionen Opfertagsabzeichen und 700 000 Festschriften aus. Zusätzlich verschickte der DFV Spendenaufforderungen an Firmen und Warenhäuser mit der Aufforderung, einen Prozentsatz ihres Tagesverdienstes am Opfertag an den Verein abzuführen.77 Die Kinos wurden angeregt, in der „Opferwoche“ die vom Flottenverein produzierten Filme „Stolz weht die Flagge schwarz-weiß-rot“ und „Das Alters- und Invalidenheim des DFV“ zu zeigen und mindestens fünf Prozent ihrer Einnahmen daraus zu spenden.78 Außerdem wurden zu diesem Anlass zahlreiche Konzerte, Vorträge und Familienabende veranstaltet. Alleine die Ortsgruppe Leipzig bot am Samstagabend ein Konzert in der Alberthalle, am Opfertag selbst Platzmusik auf dem Augustusplatz mit dem Gausängerbund, abends ein Militärkonzert und einen Lichtbildervortrag. Am Tag darauf fanden Konzerte im Zoologischen Garten und im Palmengarten statt.79 Schon Wochen vorher hatte der Flottenverein mit Plakatkampagnen im ganzen Reich auf den Opfertag hingewiesen. Das Ergebnis übertraf alle Erwartungen: Obwohl die allgemeine Flut der von verschiedenen Organisationen und Vereinen gespendeten Liebesgaben aufgrund der zunehmenden Knappheit vieler Dinge des täglichen Lebens ab dem Frühjahr 1916 zurückging80, konnten die Veranstalter des Opfertages bei Kosten von etwa 58 000 Mark über sechs Millionen Mark an die vom Reichsmarineamt geschaffene Zentralstelle für Angelegenheiten freiwilliger Gaben an die Kaiserliche Marine in Kiel abführen. Zum Vergleich: Im kom-

74 Vgl. SA HH, 614–2/1, III.22, Protokoll der 15. Hauptversammlung des DFV am 18.6.1916 in Berlin, 54. 75 Vgl. StadtA Dresden, 2.3.7., Nr. 14, Rundschreiben des Präsidiums, Bl. 49–50; Protokoll über Vorstandssitzung der Ortsgruppe Dresden am 8.1916, Bl. 53–54. 76 Vgl. Stadtarchiv Weimar, Neues Archiv, II–2–208, Broschüre des Landesausschusses des DFV für das Großherzogtum Sachsen über den Marine-Opfertag am 1.10.1916; SA HH, 614–2/1, III.14, Jahresbericht des DFV für das Jahr 1916, 6. 77 Vgl. StadtA Dresden, 2.3.7., Nr. 14, Protokoll über Vorstandssitzung der Ortsgruppe Dresden am 8.1916, Bl. 53–54. 78 Vgl. ebd., Rundschreiben des Präsidiums, Bl. 49–50. 79 Vgl. StA Leipzig, 20031, Nr. 2618, Bressensdorf an Polizeiamt, 25.9.1916, Bl. 134. 80 Vgl. Dieter Riesenberger, Das Deutsche Rote Kreuz. Eine Geschichte 1864–1990, Paderborn/München/Wien/Zürich 2002, 136.

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pletten Jahr 1915 hatte der DFV knapp zwei Millionen Mark an Spenden gesammelt.81 Dabei taten sich am Opfertag besonders die südlichen und westlichen Landesausschüsse hervor, während die Sammelergebnisse in Preußen verhältnismäßig gering waren.82 Diesen Sammelerfolg konnte der DFV als „beredtes Zeugnis für die Liebe, die das deutsche Volk seiner Flotte entgegenbringt“83 vermarkten. In der Tat bewies der Erfolg des Opfertages ein letztes Mal, wie stark, wirkungsmächtig und wie weit verbreitet der DFV war und stellte zugleich das wohl letzte Aufbäumen des wilhelminisch-deutschen Navalismus dar. Kurz darauf verschwand der Flottenverein wieder aus der breiten Öffentlichkeit und die Flotte aus der Wahrnehmung der zunehmend kriegsmüden Bevölkerung. Es gab von der Kaiserlichen Marine, die den Rest des Krieges untätig im Hafen lag84, schlicht nichts zu vermelden. Zwar rechtfertigte und glorifizierte der DFV nach wie vor den unbeschränkten U-Bootkrieg, es stellte sich aber bald heraus, dass dieser die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen konnte. So beschränkte sich die Propaganda des DFV ab Ende 1917 vorwiegend auf leere Durchhalteparolen. Wenn jemand mit der Tätigkeit unserer Großkampfschiffe nicht zufrieden ist, so sind es wohl in erster Linie unsere braven blauen Jungens selbst. Wie es wohl keinen Feldgrauen gibt, der nicht lieber eine noch so blutige große Offensive mitmachte, wenn es nur vorwärts gegen den Feind geht, als im monatelangen geduldigen Ausharren eine noch so gut ausgebaute feste Stellung zu verteidigen, so findet sich unter den Besatzungen unserer Kriegsschiffe auch nicht einer, der nicht in hellen Jubel ausbrechen würde, wenn es hieße: ‚Es geht in See, es geht gegen den Feind.’ Aber kein Feind zeigt sich, und da heißt es eben, tagein tagaus denselben eintönigen Dienst tun, wie im Frieden, und doch unter ganz anderen Verhältnissen, in steter Erwartung, die vielleicht nie in Erfüllung gehen wird und unterdessen Nerven und Kräfte verzehrt. Es ist kein beneidenswertes Los, und man kann sich vorstellen, mit welchen Gefühlen sie oft ihre Kameraden von den U-Booten hinausziehen sehen, dem Feinde entgegen.85

Dieses die Tapferkeit und den Kampfesmut der „blauen Jungs“ feiernde Zitat entstammt einem zweiseitigen Artikel in „Die Flotte“, der, wie viele andere Publikationen des Flottenvereins zwischen 1914 und 1918, die vermeintlich großen Erfolge der Kaiserlichen Marine und besonders der U-Bootwaffe im Weltkrieg betonte. Peinlicherweise wurde der Text aber ausgerechnet in der Novemberausgabe 1918 abgedruckt – die Mitglieder des DFV konnten also, während sie den vor Pathos triefenden Artikel in den Händen hielten, aus den Tageszeitungen entnehmen, dass ebendiese vermeintlich todesmutigen „Blaujacken“ die Vereinspropa-

81 Vgl. SA HH, 614–2/1, III.14, Jahresbericht des DFV für das Jahr 1915, 2. 82 So ergaben die Sammlungen in Bayern 630 075 Mark, in Westfalen 606 753 Mark, im Rheinland 526 775 Mark und in Württemberg 352 458 Mark, während in Ostpreußen 123 497 Mark, in Westpreußen 57 977 Mark, in Berlin 232 137 Mark an Spenden eingegangen waren; vgl. SA HH, 614–2/1, III.52 , Vorläufiges Ergebnis des Opfertages für die Marine 1916. 83 Titelseite, in: Die Flotte Jan./1917, 1–2. 84 Vgl. Hillmann, Seeschlacht, 325. 85 Die deutsche Flotte im Weltkriege, in: Die Flotte Nov./1918, 85.

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ganda Lügen straften, indem sie die Ausführung des Befehls zum Auslaufen für die letzte „Entscheidungsschlacht“ gegen England verweigert, und somit die Revolution ausgelöst hatten.86 Dass ausgerechnet die Marinemannschaften, wenn auch unbeabsichtigt, dem am Boden liegenden Kaiserreich den Todesstoß versetzt hatten, ließ das Symbol „blaue Jungs“ in sich zusammenstürzen. Die Bedeutungen, mit denen der DFV das Symbol über viele Jahre hinweg aufgeladen hatten, wurden auf einen Schlag widerlegt. Die Marinebesatzungen konnten nun nicht mehr glaubwürdig als kraftvoll in die Zukunft schreitende, „brave“, tapfere, treue und todesmutige Kämpfer für Deutschlands Einfluss und Ehre dargestellt werden – aus Sicht der deutschen Rechten hatten sie Vaterlandsverrat begangen. Aus den vermeintlichen Garanten für die Zukunft des Reiches waren seine Totengräber geworden, aus „blauen Jungs“ die „blaue Pest.“87 Auch das im Zentrum des Systems stehende Symbol „Flotte“, sofern es sich nicht auf die Waffengattung als Ganze, die bereits mit der Meuterei der „blauen Jungs“ zusammengebrochen war, sondern auf die Existenz der Kriegsschiffe selbst bezogen hatte, war schwer beschädigt. Die deutsche Kriegsflotte hatte im November 1918 mit ihrer Auslieferung an die Alliierten materiell gesehen faktisch aufgehört zu existieren. Die seit 1898 unter enormem finanziellen, personellen und propagandistischen Aufwand erbaute Flotte war auf einen Schlag verloren – ein möglicher Wiederaufbau schien unter den am Kriegsende im Reich herrschenden Bedingungen nicht nur in unerreichbare Ferne gerückt, sondern nicht einmal besonders dringlich und wünschenswert. Dass die Marine die hohen in sie gesetzten Hoffnungen während des Krieges enttäuscht hatte und schließlich schmachvoll und widerstandslos an den Feind ausgeliefert wurde, trug entscheidend zum Zusammenbruch des Symbols bei. Lediglich die Selbstversenkung der Flotte vor Scapa Flow, welche den Übergang der Schiffe in feindlichen Besitz verhindern sollte, galt für die Rechte als kleiner Hoffnungsschimmer und als Ehrenrettung.88 Der DFV bezeichnete diese Aktion in „Die Flotte“ als „Sonnenstrahl 86 Dieses peinliche Zusammentreffen kam dadurch zustande, dass der Redaktionsschluss des Vereinsorgans jeweils zu Beginn des Vormonats gelegt und Die Flotte Mitte des Vormonats gedruckt wurde; zur Meuterei der Matrosen vgl. z.B. Ernst Legahn, Meuterei in der Kaiserlichen Marine 1917/1918. Ursachen und Folgen, Herford 1970, 18–29; die Arbeit von Legahn ist mit einiger Vorsicht zu genießen, da sie teils eine apologetische Haltung einnimmt und immer wieder Werturteile abgibt; Plaschka, Keimzellen, 101–104, 135–138; als Primärquelle vgl. Richard Stumpf, Die Matrosenrevolte in Wilhelmshaven 1918, in: Wolfram Wette (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1992, 168–180, 169–172. 87 ThHSTA W, 6–96–1802, Nr. 34, Jahresbericht des Landesverbandes Hessen für das Jahr 1918, Bl. 145. 88 Zur Selbstversenkung bei Scapa Flow vgl. z.B. Arthur J. Marder, Victory and Aftermath. From the Dreadnought to Scapa Flow, Vol. 5, London 1970, 270–293; Andreas Krause, Scapa Flow. Die Selbstversenkung der Wilhelminischen Flotte, München 2001; Friedrich Ruge, Scapa Flow 1919. Das Ende der deutschen Flotte, Oldenburg/Hamburg 1969, 74–206; diese Arbeit ist jedoch mit einiger Vorsicht zu genießen. Ihr Autor war selbst Offizier der Kaiserlichen Marine im Ersten Weltkrieg und bei der Selbstversenkung anwesend, die Studie

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aus finsteren Wolken“89, der dem deutschen Volk ein Beispiel im Ungang mit den Siegermächten und deren Friedensbedingungen gegeben und die Schande der Flotte vom November 1918 wenigstens zum Teil getilgt habe.90 Eine grundlegende Veränderung der Bewertung der Rolle, welche die Flotte im Krieg und in der Revolution gespielt hatte, konnte sie aber nicht bewirken, wie selbst Koester auf der Hauptversammlung 1919 eingestehen musste: Die Versenkung der Schiffe im Scapa Flow vermag ich zwar mit einer gewissen Genugtuung als einen Akt militärischen Pflichtgefühls anzusehen, um die sichtbare Schande aus der Welt zu schaffen; gutzumachen vermag sie das Verbrechen des Hochverrats und Eidbruches aber nicht. (sehr richtig!)91

Mit dem Wegfall der „Flotte“ und vor allem der „blauen Jungs“ brach aufgrund der gegenseitig auf sich zurückverweisenden Symbole das komplette Symbolsystem des DFV in sich zusammen. Zusätzlich beschleunigend auf diesen Prozess wirkte, dass der Verein über Jahre hinweg eine Konkurrenzstellung der Marine zur Armee impliziert hatte: Der DFV hatte versucht, die Flotte als ein dem Heer gleichwertiges, wenn nicht höhergestelltes militärisches Instrument darzustellen, das für das bürgerliche Selbstverständnis im Kaiserreich zentrale mentale Phänomen Militarismus durch das moderne, zukunftsgerichtete mentale Phänomen Navalismus zu ersetzen. Nun hatte die Erfahrung des Weltkrieges in Bezug auf die Bedeutung der beiden Waffengattungen vermeintlich das Gegenteil bewiesen. Während sich die Armee ständig von der offiziellen Propaganda als siegreich vermittelte Kämpfe mit dem Feind geliefert hatte und bei Friedensschluss vermeintlich unbesiegt tief im Feindesland stand, war die Hochseeflotte bis auf die Skagerrakschlacht untätig im Hafen gelegen, der unbeschränkte U-Bootkrieg hatte letztlich nicht die erhoffte Wirkung gebracht. Und zu allem Überfluss waren es nun die Marinemannschaften, die nach Jahren der Untätigkeit ihre Treue zum Reich aufkündigten, den Gehorsam verweigerten und so die Revolution auslösten. Zwar war es 1918 auch in der Armee zu einigen Unmutsbekundungen, Dienstverweigerungen und einer großen Zahl von Desertionen gekommen92, diese hatten jedoch bei weitem nicht dieselben Auswirkungen wie der Matrosenaufstand und wurden in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.

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ist populärwissenschaftlich und gibt immer wieder Werturteile ab, lässt aber wichtige Rückschlüsse auf das Selbstverständnis des Offizierskorps der Marine zu. Weimar und Skapa Flow, in: Die Flotte Aug./1919, 54. Vgl. ebd. SA HH, 614–2/1, III.22, Protokoll der 16. Hauptversammlung des DFV am 12.10.1919 in Berlin, 16. Vgl. Wilhelm Deist, Verdeckter Militärstreik im Kriegsjahr 1918?, in: Wette (Hg.), Krieg des kleinen Mannes, 146–167; Benjamin Ziemann, Enttäuschte Erwartungen und kollektive Erschöpfung. Die deutschen Soldaten an der Westfront 1918 auf dem Weg zur Revolution, in: Jörg Duppler/Gerhard P. Groß (Hgg.), Kriegsende 1918. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, München 1999, 165–182; Christoph Jahr, Bei einer geschlagenen Armee ist der Klügste, wer zuerst davonläuft. Das Problem der Desertion im deutschen und britischen Heer 1918, in: ebd., 241–271.

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Deshalb wurden die von der Front heimkehrenden Soldaten auf zahlreichen kommunalen und staatlichen Feiern begrüßt und als Helden gefeiert. Dabei wurden deren wirkliche und vermeintliche Siege im Krieg gepriesen. Einzelne Einheiten feierten sich selbst, indem sie ihre Erfolge schilderten und betonten, dass sie bis zum Schluss standgehalten hätten, was vom Offizierskorps ganz bewusst gefördert wurde.93 So entstand schnell der Mythos des nach einem populären Ausspruch Eberts „im Felde unbesiegten“ Heeres94, neben dem die Kriegsbilanz der Marine, in die so große Hoffnungen gesetzt worden waren, umso kümmerlicher aussehen musste. Während die heimkehrenden Soldaten als unbesiegt gefeiert wurden, lieferten die verbliebenen obrigkeitstreuen Marinemannschaften die gesamte Hochseeflotte an den Feind aus – eine weitere Schmach für die Kaiserliche Marine. Der DFV versuchte mit letzter Kraft, den immensen Imageschaden, den er selbst und der Navalismus durch die Meuterei erlitten hatten, wieder gut zu machen. Dabei verfolgte er eine zweigleisige Strategie: Einerseits versuchte er hervorzuheben, dass nur ein kleiner Teil der Mannschaften der Flagge untreu geworden sei und damit die Revolution ausgelöst hätten, während der überwiegende Teil der Besatzungen weiterhin treu ihren Dienst versehen hätten. Zudem hätten sich Revolutionäre unter die Aufständischen gemischt, die eigentlich gar keine Matrosen seien, sondern sich nur „eingeschlichen“ hätten.95 Andererseits betonte er, die Arbeit des Vereins habe seit jeher nicht in erster Linie dem Wohle der Marinemannschaften, sondern dem Wohle des Vaterlandes gegolten.96 Alle Strategien des Umgangs mit der Meuterei blieben aber letztlich leere Rhetorik und erfolglos: Der Flottenverein verlor im Jahr 1919 rund zwei Drittel seiner Mitglieder und etwa drei Fünftel seiner Einnahmen.97 Es sind unzählige Briefe von Mitgliedern überliefert, die ihren Austritt aus dem Verein mit dem Matrosenaufstand begründeten. Diese zeichnen ein deutliches Stimmungsbild der Mitglieder und machen den Zusammenbruch des Symbols „blaue Jungs“ deutlich: „Die uns durch die Flotte angetane Schmach und ihre Folgen ist nie wieder zu verwischen.“98 Ein anderes Mitglied schrieb: „Es tut mir in der Seele weh, wie unser liebes Vaterland durch irregeleitete ‚blaue Jungen’, die dem Kaiser die Treue geschworen, misshandelt wird.“99 93 Vgl. Boris Barth, Dolchstoßlegende und Novemberrevolution, in: Alexander Gallus (Hg.), Die vergessene Revolution von 1918/19, Bonn 2010, 117–139, 128. vgl. auch Sabine Behrenbeck, Zwischen Trauer und Heroisierung. Vom Umgang mit Kriegstod und Niederlage nach 1918, in: Duppler/Groß (Hgg.), Kriegsende, 315–339, 318–319. 94 Vgl. Klaus Theweleit, Männerkörper. Zur Psychoanalyse des weißen Terrors. Männerphantasien, Band 2, München 1995, 74–76. 95 Vgl. z.B. 1919, Seefahrt ist not, in: Die Flotte Jan./1919, 2; Deutscher Seemannsgeist, in: Die Flotte, Apr./1919, 22. 96 Vgl. z.B. GLA KA, 69, Nr. 20, Rundschreiben des Präsidiums im Januar 1919. 97 Vgl. SA HH, 614–2/1, III.14, Jahresbericht des DFV für das Jahr 1918; Jahresbericht des DFV für das Jahr 1920. 98 SA HH, 614–2/1, III.9, 11.12.1918; grammatikalische Fehler aus dem Original übernommen. 99 sThHSTA W, 6–96–1802, Nr. 50, Osterloh an Flintzer, 15.1.1919, Bl. 244; vgl. auch Osterloh an Flintzer, Bl. 241.

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Der Matrosenaufstand markiert das Ende des Navalismus als einflussreiches mentales Phänomen in Deutschland und mit ihm verschwand auch der DFV von der großen Bühne. Nach der Revolution und dem Versailler Vertrag war er nicht mehr zeitgemäß. Er benannte sich in Deutscher Seeverein (DSV) um und änderte seinen Vereinszweck. Nachdem die Siegermächte Deutschland eine Kriegsflotte verboten hatten, setzte der DSV sich nun für den Wiederaufbau der Handelsflotte und die Förderung der Seefischerei ein, auch wenn er hinter vorgehaltener Hand weiterhin auf den Wiederaufbau einer deutschen Kriegsflotte hoffte und gegen Ende der zwanziger Jahre wieder offen dafür agitierte. Der Verein verschwand in der Weimarer Republik zunehmend in der Bedeutungslosigkeit, die Mitgliederzahl sank rapide, immer mehr Ortsgruppen und Landesverbände lösten sich auf, er konnte keinen Mitgliedernachwuchs mehr rekrutieren. Auch die Inflation stellte den DFV vor große Probleme. Die auf etwa 30 000 Mitglieder geschrumpfte Anhängerschaft des Flottenvereins überalterte, das Vereinsleben wurde immer spärlicher und die Agitation ging größtenteils an den politischen Realität vorbei – bis 1914 hatte der DFV den Zeitgeist teils entscheidend mitgeprägt, nun hinkte er ihm hinterher. Nach einer kurzen Besinnungsphase 1933 bekannte sich der DFV schließlich offen zum Nationalsozialismus – wohl weniger aus tiefer ideologischer Überzeugung denn aus Opportunismus und Mangel an Alternativen. Ende 1934 musste sich der ohnehin obsolet gewordene Verein auf Druck der NS-Regierung hin im Zuge der Gleichschaltung auflösen und ging im weitgehend bedeutungslosen Reichsverband deutscher Seegeltung auf.

JOACHIM RINGELNATZ ALS MARINER IM ERSTEN WELTKRIEG Erika Fischer

Für die Geschichtsschreibung bedeutete der Erste Weltkrieg mit dem Untergang gleich mehrerer Kaiserreiche im Jahr 1918 die Urkatastrophe der Moderne. Im Gegensatz dazu brachten die Kriegserfahrungen für Joachim Ringelnatz einen Neuanfang. Denn die vier Jahre von 1914–1918 führten zur Verwandlung des Hans Bötticher aus Wurzen in den Poeten und Maler Joachim Ringelnatz. Dieses Pseudonym verwendete er erstmalig im Jahr 1919. Und diesen Namen gebrauchte er ab dann als seinen angenommenen Namen, unter dem er auftrat, schrieb, signierte und unter dem er bis heute bekannt ist – Joachim Ringelnatz. Im Folgenden präsentiere ich Ihnen einen Abriss der Kriegserfahrungen, die er machte, mit und vor allem in Cuxhaven. In erster Linie lasse ich dazu Joachim Ringelnatz selbst zu Wort kommen. Seine autobiographische Darstellung „Als Mariner im Krieg“, 1928 im Verlag Ernst Rowohlt unter dem Pseudonym Gustav Hester publiziert, ist diesbezüglich eine bedeutende und an Details reiche Quelle, fußt das Buch doch auf Tagebuchnotizen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Die Jahre in Cuxhaven, die er während des Ersten Weltkrieges im Dienst der Kaiserlichen Marine unter seinem bürgerlichen Namen Hans Bötticher verbrachte, waren für ihn wichtige Jahre der Wandlung und bedeuteten die endgültige Hinwendung zum späteren Künstler Joachim Ringelnatz. Sein künstlerisches Schaffen auf das ich zunächst eingehen möchte, hatte zwei Wurzeln: 1. die bürgerliche Herkunft, insbesondere das künstlerische Erbe des Vaters und – darum geht es im Folgenden – 2. die Seefahrt und die Marinezeit in Cuxhaven zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Seine Liebe zum Meer und zur Seefahrt ist ihm zwar nicht in die Wiege gelegt worden, doch schon sehr früh in seinen Jugendträumen angelegt gewesen. Deshalb vorweg ein wenig an Information über die Familie Bötticher, die Kindheit – Jugend- und Schulzeit, die Schiffsjungen- und Matrosenzeit und seine bewegten Jahre in vielen Berufen bzw. Gelegenheitsarbeiten bis 1914. 1883 wurde Hans als drittes Kind in Wurzen, in der Nähe von Leipzig, geboren; bald zieht die Familie nach Leipzig um. Die Familie Bötticher sind angesehene Leute in Leipzig, der Vater, Georg Bötticher, ein bekannter Musterzeichner für z.B. Tapeten und Teppiche, er ist schriftstellerisch tätig und gehört zur Künstler- und Gelehrtenszene. Ab 1901 gibt er „Auerbachs Deutschen Kinderkalender“, ein Jahrbuch für die Jugend, heraus. Auch die Mutter ist eine gebildete Frau und betätigt sich kreativ, unter anderem

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mit einer besonderen Art der Perlenstickerei. In „Auerbachs Deutschen Kinderkalender“ durfte der junge Hans seine ersten Dichtungen veröffentlichen. Hans ist besonders klein, er hat eine ausgeprägt große Nase und ist dadurch häufig Hänseleien und auch bösem Spott ausgesetzt. In einer Parabel mit dem Titel „Die lange Nase“ hat Hans Bötticher diese Erfahrung beschrieben. Und wird später einmal behaupten, dass sein Leben sicherlich ganz anders verlaufen wäre, wenn er nicht diese Nase gehabt hätte. Das phantasievolle, aber schwierige Kind reimt und zeichnet auch gern und hat dabei sicher die Kreativität von seinem Vater geerbt. Seine Schulzeit verläuft mit großen Aufregungen für ihn, für die Eltern und die Lehrer. Der abschließende Eintrag im Schulzeugnis, er sei ein „Schulrüpel ersten Ranges von lauter Ungezogenheiten zusammen-gesetzt“, und der spektakuläre Abgang von der Schule sind prägende Ereignisse für sein ganzes Leben. Schon von Kindheit an begeistern ihn die Marine und die Seefahrt schlechthin. Das lag in der Zeit. Hans ist fünf Jahre alt, als Wilhelm II. den Kaiserthron besteigt und erklärt, dass die Zukunft Deutschlands auf dem Wasser liege. Die Begeisterung für die Marine wurde zur nationalen Pflicht. Bereits die Kinder wurden in Matrosenanzüge gesteckt. So auch Hans Bötticher. In seinen Jugenderinnerungen kann man lesen: „Es stand lange bei mir fest: Ich wollte Seemann werden“ und auch der Vater berichtet, dass der 11jährige unterm Weihnachtsbaum „seine Marine aufstellte“ Nach dem erzwungenen Schulabgang war es für Hans Bötticher endgültig klar: er wollte zur See fahren. Der Vater, nicht gerade glücklich über diese Entscheidung, brachte ihn schließlich nach Hamburg und zahlte eine hohe Summe für Ausrüstung und Ausbildung. So begann das neue Leben als Schiffjunge an Bord der Dreimastbark mit dem Namen „ELLI“. Seine romantischen Vorstellungen von der Seefahrt kommen in dem letzten Vers des Gedichtes: „Segelschiffe“ zum Ausdruck: Es rauscht wie Freiheit. Es riecht wie Welt. Natur gewordene Planken Sind Segelschiffe. - Ihr Anblick erhellt Und weitet unsre Gedanken.1

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Joachim Ringelnatz, Kuttel Daddel Du. Das gesamte poetische Werk, Neu Isenburg 2011, 536.

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Schiffsjunge Hans Bötticher, 1901 (Foto: Matrosen, Berlin 1928)

Die großen Träume von fernen Ländern, großen Abenteuern und der romantischen Seefahrt wurden allerdings jäh zunichte gemacht und die Realität holte den jungen Mann schnell ein. In den folgenden Monaten gab es Schläge, große Entbehrungen, er musste Hunger und Durst erleiden; Erniedrigungen und harte Arbeit waren der Schiffsalltag. Nach einem halben Jahr war er in Hamburg zurück und wollte aber allen Erfahrungen zum Trotz die Seefahrt nicht aufgeben. Es folgten Gelegenheitsarbeiten, weitere Heuerverträge auf Segelschiffen, auf Kohlenfrachtdampfern, auf Fischdampfern, auf dem Schnelldampfer COLUMBIA der Hapag, auf Frachtern, mindestens auf 25 verschiedenen Schiffen usw. usw. Er sah viel von der Welt, ging aber dann gern wieder an Land. Er begann eine kaufmännische Ausbildung in Hamburg bei einer Dachpappenfirma. Aus der Zeit kennen wir sein erstes Ölgemälde mit dem Titel „Dachpanorama“, das eine Ansicht über den Dächern von Hamburg zeigt. Es folgt die erneute Tätigkeit als Matrose und schließlich 1904 der Einjährig-Freiwillige Dienst bei der Kaiserlichen Marine in Kiel.

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Hans Bötticher 1904 als Rekrut der Kaiserlichen Marine (Foto: Matrosen, Berlin 1928)

Danach war er wieder an Land, und es folgten bewegte Jahre mit so unterschiedlichen Beschäftigungen, wie man sich das kaum vorstellen kann. Hans Bötticher sagte später selbst, er habe 37 Berufe gehabt. Natürlich waren es nach unserem heutigen Verständnis nur Gelegenheits - Aushilfsjobs. Aber er musste natürlich seinen Lebensunterhalt verdienen, denn die Einnahmen aus den Veröffentlichungen seiner Texte oder der Zeichnungen und Gemälde reichten da nicht aus. In dieser Zeit war sein „Heimathafen“ der Simplicissimus, oder kurz „Simpl“ genannt, in München, die bekannte Schwabinger Künstlerkneipe, wo er bald zum Hausdichter avancierte. Die legendäre Wirtin Kathi Kobus erkannte schnell sein Bühnentalent, nutzte ihn erst aus und förderte ihn später sehr. Es war dann der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der ihn zurück zur See brachte. Seine bisher durch den Einfluss der Bohemiens geprägte kritische Haltung zum Kaiserreich machte nun dem allgemeinen Hurrapatriotismus der Zeit Platz. Ein Zitat von ihm: „Ich dachte an Kriegsromantik und Heldentod und meine Brust war bis an den Rand mit Begeisterung und Abenteuerlust gefüllt.“2 Er träumt von heldenhaften Einsätzen auf hoher See, muss aber bald erkennen, dass sich die Seefahrt für ihn zunächst nur auf das Minenauslegen direkt vor der Küste 2

Joachim Ringelnatz, Als Mariner im Krieg, Berlin 1955, 8.

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beschränkt. Hans Bötticher wurde zuerst in Wilhelmshaven, dann in anderen Küstenorten, ab 1915 schließlich hauptsächlich in Cuxhaven eingesetzt. Seine Ankunft dort beschreibt er mit diesen Sätzen: „Als wir vom Bahnhof in Cuxhaven einmarschierten, neugierig von den Bürgern betrachtet, rief uns ein Arbeiter zu: „Was wollt ihr hier? Wir haben selbst nichts zu fressen!“3 Und auf dem Kasernenhof gab es denn ein deprimierend langes Warten, Abzählen und Namenverlesen, bis wir in die verschiedenen Gebäude und Räume verteilt waren. Ich wurde in der sogenannten Süddeichkaserne, einer uralten Holzbaracke, untergebracht. Der Feldwebel, der uns dorthin führte, sagte: „Lassen Sie sich nicht von den Ratten auffressen.“4

Die „Hilfs-Minen-Such-Division“ im Einsatz(Foto: Matrosen, Berlin 1928)

Abkommandiert zur Hilfs-Minen-Such-Division, kurz HMSD genannt oder spöttisch „Filzlausgeschwader“, wurde er ausgebildet zum gefährlichen Geschäft des Legens, Suchens und Entschärfens von Minen. Bremer und später Hamburger Hafenschlepper wurden dazu requiriert und auf einem Schlepper, auf dem sonst fünf bis sieben Mann arbeiteten, mussten plötzlich zwischen elf bis sechzehn Soldaten ihren schweren, unspektakulären Dienst tun. Bei Vorgesetzten fiel er bald negativ auf, denn er schrieb Frontgesuche, die er sogar an den Kaiser persönlich adressierte. Die der natürlich nie zu sehen bekam… 3 4

Ebd., 121. Ebd., 121.

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Der Krieg zeigte für ihn hier bald die stumpfsinnige und sinnlose Seite. Und die Idee, Ruhm und Ehre zu erlangen, hatte er schon bald nicht mehr. Um diese Einstellung zu verdeutlichen hier eine Beschreibung voller Ironie über den Kasernenalltag in Cuxhaven von Hans Bötticher: „Am neunundzwanzigsten September siedelten wir in die zwischen Feldern und Rosengärten gelegene Kiautschoukaserne über. Die Kiautschoukaserne war berüchtigt wegen ihrer Diphtheriebazillen. Jedes Jahr waren dort Massenerkrankungen vorgekommen. Auf dem Exerzierplatz herrschte ein gelles Durcheinander von Kommandos und Rufen. Man sah komische Szenen. In einem Winkel abseits, ganz allein, machte ein Mann dauernd Kniebeuge, streckte dabei einen Schemel von sich und brüllte im Takt dazu unaufhörlich: „Jawohl, Herr Kapitän!“ Das war offenbar eine Strafübung für zu leises Sprechen. Nun hatte man aber den Mann vergessen, und von Rechts wegen muß er bis zu einem Tode dort Kniebeuge machen und Schemel strecken: „Jawohl, Herr Kapitän!“5 Resignation machte sich also breit und er fand mehr und mehr Zeit zum Schreiben, beschäftigte sich mit anderen und, wie er glaubte, schöneren Dingen des Lebens. Es wurde auch Schabernack getrieben und ein Zeugnis davon ist die Fotopostkarte an seine Schwägerin Dora Bötticher, aufgenommen im Innenhof der Grimmershörn-Kaserne von Cuxhaven und geschrieben im Mai 1915.

Fotopostkarte vom 4. Mai 1915 (Archiv Gescher-Ringelnatz, Berlin)

5

Ebd., 276.

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Bötticher vermerkt handschriftlich auf der Karte: „Gebrüder Petersen sehen mit beispielloser Kaltblütigkeit dem Herannahen einer englischen Flotte auf dem Exerzierplatz in Cuxhaven entgegen.“6 Neben der harten Arbeit, wie Kohle schaufeln, Wache schieben und den erschütternden Erlebnissen von vielen Toten, die auf See geborgen werden mussten, schrieb er in seinem Tagebuch auch vom Ausgleich dazu, von den Festen mit Freunden, vom Heimaturlaub und von Zechtouren mit Kameraden. Auch später gab es immer wieder Einsätze in der Ostsee, z.B. um die Rigaer Bucht in der Nähe der Insel Oesel zu verminen. Das war im April 1916. Im Juni 1916 erfolgte die Beförderung zum Obermaat, sowie wenig später in Kiel das Eiserne Kreuz als Auszeichnung. Ringelnatz' Autobiographie „Als Mariner im Krieg“ dokumentiert, dass er dem Geschehen mehr und mehr kritisch gegenüber steht. Bereits 1916 notiert er: „Wäre dieser Krieg doch endlich ex!“7 Und an anderer Stelle: „Mir scheint der Krieg nur als eine komplizierte, mehr und mehr an Tragik zunehmende Abwickelung von Intrigen und Mächten aller Nationen.“8 Und im Wachbuch ist in dieser Zeit zu lesen: „Kein Feind, kein Schuß, kein Spion, kein Mord. Man wacht und gähnt und wünscht sich an Bord.“9 Bald ging es nicht mehr um Kriegsruhm, sondern um ein einigermaßen auskömmliches Leben im öden Kasernenalltag. Wie der aussah, zeigt folgender Text: „Morgen würde der Kaiser nach Cuxhaven kommen. An der Pier war auf einer Schiefertafel das Gefecht der Minensucher skizziert. Man wollte dem Kaiser diese Skizze und das zerschossene Boot zeigen. Es war ein imposanter Anblick, als das große Schlachtschiff ‚Baden‘ mit der Kaiserstandarte im Topp ganz vorsichtig langsam heranglitt. Auf den Decks standen hohe Militärs mit dicken Ärmelstreifen und breiten roten Hosenstreifen allzu nonchalant herum. Der Kaiser in Großadmiralsuniform und mit dem Großadmiralsstab in der Hand verließ das Schiff. Er kam mir sehr ernst und sehr eitel vor. Er schritt rasch die aufgestellten Reihen ab und hatte für die Tafel und für das zerschossene Schiff nur einen flüchtigen Blick. ‚Guten Morgen, Matrosen!‘ grüßte er, obwohl es halb acht Uhr abends war, und ich hörte deutlich, wie von den Leuten, die allerdings schon seit morgens dort angetreten standen, viele statt Hurra „Hunger“ riefen. Es gab dann noch eine große Aufregung in Cuxhaven, weil Majestät nach einem geräucherten Aal verlangte und ein solcher – wenigstens in kaiserwürdiger Größe – nicht aufzutreiben war.“10 Zurück in Cuxhaven gelang es Bötticher, Reserveoffiziers-Aspirant zu werden. Bei der Matrosenartillerie bildete er nun selbst Rekruten aus. Die Aufnahme in den Kreis der Offiziere war allerdings schwer für ihn, denn offenbar hatten sie einen großen, lang-lockigen Dichter erwartet und als ein Kompanieführer den wirklichen Hans Bötticher erblickte, sollen Bemerkungen gefallen sein wie: „die6

Frank Möbus, Lapidarer Defätismus. Die Autobiographie des Mariners Hans Bötticher, in: Stephan Huck (Hg.), Ringelnatz als Mariner im Krieg 1914–1918, Bochum 2003, 93. 7 Helga Bemmann, Daddeldu, ahoi! Leben und Werk des Dichters, Malers und Artisten Joachim Ringelnatz, Berlin 1980, 91. 8 Ringelnatz, Mariner, 142. 9 Ebd., 23. 10 Ebd., 340.

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ser Kröpel wird auf keinen Fall Offizier.“11 Weihnachten 1916 wurde er zum Vizefeuerwerker befördert, später 1917 endlich doch noch zum Leutnant mit gleichzeitiger Übernahme des Kommandos eines Minensuchbootes, der „CAROLINE“, dann später der „FAIRPLAY VI“. Inzwischen unterhält er seine Kameraden mit kleinen Geschichten. Und die Bierzeitung zum Weihnachtsfest 1917, in der die meisten Texte und Zeichnungen von ihm stammen, trägt sehr zur Verbundenheit mit den Kameraden bei und stärkt sein Ansehen in der Truppe. Bezeichnend für seine Befindlichkeit nach der Beförderung zum Offizier ist das Foto als Kommandant der FAIRPLAY VI.

Hans Bötticher als Kommandant der FAIRPLAY

Stolz und majestätisch schaut er in die Ferne, den Leutnants-Streifen am Ärmel stolz zeigend und hinter ihm der Signalgast; es sieht aus, als wollten sie gerade abheben vor lauter Glück. Er hatte nun seine Beförderung, brauchte als Offizier nicht mehr in der Kaserne zu wohnen und mietete sich sofort in eine Villa am Seedeich ein. Zu seiner Beförderung schreibt er: „Man feierte mich gewaltig. Ich mußte natürlich auch gewaltig blechen. Meinen Leuten spendierte ich ein Faß Bier und Tabak und überschwengliche Reden. Die nächsten drei Tage wurde außerhalb des Dienstes nur gefeiert und gesoffen.“12 „Nun brauchte ich nicht mehr aufzuspringen und strammzustehen, ich war bei Geld, war wohlgekleidet, meine

11 Ebd., 285. 12 Ebd., 347.

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Uniform genoß im Binnenlande mehr Ansehen als die feldgraue.“13 Und das, obwohl der Zerfall der Kaiserlichen Marine bereits begonnen hatte. Im Februar 1918 wurde die Hilfsminensuchdivision aufgelöst und Bötticher als Kommandant zur Maschinengewehrbatterie Seeheim in Cuxhaven-Sahlenburg versetzt; aus Mangel an Schiffen war er nun zum Landdienst verurteilt.

Seeheim, ein ehemaliges Hamburger Kindererholungsheim in Cuxhaven-Sahlenburg am Rande des Wernerwaldes (Foto: Stadtarchiv Cuxhaven)

Er war mit seinem Los unzufrieden und zog sich in ein inneres Exil zurück. Der Alltag bestand aus militärischen Nichtigkeiten, er hatte Zeit, ausgedehnte Besuche bei den bekannten Cuxhavener Familien zu machen, er hatte eine Liebschaft mit einer Schauspielerin aus Hamburg, die am Cuxhavener Theater gastierte: Annemarie Ruland, von ihm „Bampf“ genannt, wohl weil sie gern viel aß. In Seeheim fanden die Soldaten allerlei Interessantes und Komfortables vor: einen Flügel, eine Badewanne und für eine neue Beschäftigung Böttichers ein großes Freiluft-Terrarium. Die Versorgungslage konnte auch verbessert werden, weil es die Möglichkeit gab, Kaninchen und Hühner zu halten. Dieses Terrarium nimmt ihn von nun an völlig in Anspruch, er ist mit dem Kescher unterwegs in der Sahlenburger- und Duhner Heide und fängt alles, was so kreucht und fleucht, damit ein: Blindschleichen, Kröten, Kreuzottern, Frösche und Ringelnattern. Und hier nun finden wir den ersten Bezug zu seinem zukünftigen Künstlernamen. In

13 Ebd., 349.

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seinem Buch „Als Mariner im Krieg“ beschreibt er das „Seeheimer-KriegsTerrarium“ sehr detailliert.14

Leutnant Bötticher als Tierfänger, Seeheim 1918 (Foto: Archiv Gescher-Ringelnatz, Berlin)

Sein neues Hobby führte sogar dazu, dass Schulklassen aus Cuxhaven nach Sahlenburg wanderten, um sich dieses Terrarium anzusehen. Sozusagen Naturkundeunterricht pur. Das Terrarium rückte von nun an in den Mittelpunkt seines Lebens. Auch konnte Ringelnatz seine schriftstellerischen Neigungen hier voll ausleben. Das Drama „Der Flieger“ wurde beendet, von der Kriegszensur aber abgelehnt und blieb später allerdings ungedruckt und verschollen. Der Sommer 1918 ging zu Ende und der Krieg auch. An einen Freund schreibt er: „Meine Kreuzottern und Ringelnattern haben ihren Winterschlaf angetreten, was ich angesichts dieser bösen Zeit ebenfalls gern tun möchte. Dein herzlichst grüßender Bötticher.“15 Dann das Kriegsende. Hans Bötticher hatte Sympathien mit der Novemberrevolution und hielt mäßigende Reden vor Aufständischen und Kaisertreuen. In dem Cuxhavener Arbeiter- und Soldatenrat fand er jedoch keine Aufnahme, weil er eine Führungsposition beanspruchte und seinen Offiziersstatus nicht aufgeben 14 Ebd., Kapitel 14, 373 ff. 15 Ebd., 405.

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wollte. Er war ihnen nicht radikal genug, denn Hans Bötticher fürchtete den Umschlag der Revolution in gewaltsame Anarchie. Nach eigenen Angaben verfasste er viele Schriften und hielt fast 100 Reden sowohl vor dem Offizierskorps als auch vor den Aufständischen: (...) „Habt ihr Vertrauen zu mir?“ „Ja, wir haben Vertrauen.“16 „Dann rate ich euch: Seid mäßig und prüft lange und möglichst vernünftig, bevor ihr etwas beginnt. Nur mit Ordnung kommt man zu Freiheit. Bloße Revolution, also rein plumpes Umstürzenwollen ist der Untergang für alle.“17 Er versuchte, sachlich und beruhigend auf die Revolutionäre einzuwirken, und hätte sich sogar gerne in den ‚Roten Rat‘ wählen lassen. Da er dort aber gleich eine Spitzenposition einnehmen wollte und nach Ansicht der Wortführer nicht ausreichend radikal dachte, scheiterten die Verhandlungen um seinen Beitritt. Als die Verhältnisse bei der Marine und in der Zivilbevölkerung immer unübersichtlicher, in seinen Augen chaotischer werden, zieht Ringelnatz sich von der Revolutionsbewegung zurück und schreibt: „So morsch und faul auch die alte Macht sich erwiesen hatte, so zeigte sich doch, daß der Umsturz, anfangs edel und groß, nun entartete und daß er aus den Schleusen, die er geöffnet hatte, nun überflutet wurde. Ordinäre Gelüste, egoistische Triebe waren entfesselt und wollten gleich herrschen.“18 So zog er sich zurück und wartete das Ende des Krieges ab. Und mit folgenden Worten nimmt er Abschied von Cuxhaven: „Ich trank den letzten Kaffee in meinem Zimmer und schrieb mit Kohle einen sentimentalen Vers an die Wand: Fror mein Herz in dieser Einsamkeit, Hab ich warm geschrieben und gelesen. Und dann sah ich deutsche Kraft verwesen, Dünger werden einer bessren Zeit. Blinde trugen Schmach und Leid. Euch nur, Wald und See, hab ich zu danken, Die ihr, als die Menschen häßlich sanken, Immer treu und gleich geblieben seid.

21. November 1918

Dann fuhr ich auf dem Dienstrad davon.“19 Damit kehrte er Cuxhaven und der Revolution den Rücken. Das waren, in einer knappen Überschau dargestellt, die wechselvollen Jahre Hans Böttichers bis Ende des Ersten Weltkrieges. Anknüpfend an seine letzten Erfahrungen in Cuxhaven entscheidet er sich wenige Monate später für einen neuen Namen: nämlich Joachim Ringelnatz. Und dieser Namenswechsel hat Symbolwert. Denn die Jahre von 1914–1918 hatten bei ihm Entscheidendes für sein weiteres Leben bewirkt. Die Zeiten der vielen Jobs, die Zeiten der Unruhe waren endgültig vorüber. Er wollte nur noch das tun, wo er seine Begabung sah, Schreiben, Malen, Theater und Kabarett machen. Er streifte seine bisherige Existenz symbolisch ab wie eine Schlange, die sich häutet und die mit der neuen Haut ein neues Leben beginnt. So 16 17 18 19

Ebd., 418. Ebd., 426 ff. Ebd., 434. Ebd., 439.

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waren die Cuxhavener Jahre für ihn sehr entscheidend und prägend. Hans Bötticher wurde in Sachsen geboren und Joachim Ringelnatz in Cuxhaven. Aber wie ging es jetzt weiter mit Joachim Ringelnatz? Sein Leben blieb spannend. Seine seemännischen Erlebnisse verarbeitete er in Wort und Bild in künstlerischer Form. Typisch ist das folgende Gedicht, mit dem er sich auf der Bühne vorstellte: Ich komme und gehe wieder, Ich, der Matrose Ringelnatz. Die Wellen des Meeres auf und nieder Tragen mich und meine Lieder Von Hafenplatz zu Hafenplatz. Ihr kennt meine lange Nase, Mein vom Sturm zerknittertes Gesicht. Daß ich so gern spaße Nach der harten Arbeit draußen, Versteht ihr das? Oder nicht ?20

Bekannt geworden ist er aber insbesondere einem breiten Publikum durch seine Verse über den Seemann Kuttel Daddeldu. Diese Kunstfigur schaffte er sich als Ankerplatz für seine maritime Teilpersönlichkeit. Auf der Bühne ist er der Seemann mit Troyer und Schlaghose und projiziert in diese Figur all seine Erlebnisse, aber besonders auch seine Träume hinein. Kuttel ist ein souveräner, harter Bursche mit weichem Kern, der aller Herren Meere und aller Hafenstädte Bordelle kennt, jede Situation meistert, immer eine Unverschämtheit auf den Lippen trägt, aus jeder Keilerei als (zumindest moralischer) Sieger hervorgeht, in jedem Hafen eine Braut hat. Das war die Figur, die er auch auf der Bühne gab. Im wirklichen Leben hingegen war Ringelnatz ein gläubiger Christ und treuer Ehemann, der großen Wert auf elegante Kleidung legte, pedantisch auf Ordnung und Sauberkeit bedacht war, seine heimelige Wohnung mit zahllosen Büchern und ausgesuchten Kunstwerken ausstattete.

20 Bemmann, Daddeldu, 260.

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Ringelnatz mit seiner Ehefrau „Muschelkalk“ an der Staffelei

Seine Frau, Leonharda Pieper, bedachte er sofort mit dem Kosenamen Muschelkalk. Sie war für seine künstlerische Entwicklung besonders wichtig und ist eben nicht nur Ehefrau, sondern managte ihn auch. Er heiratete sie an seinem 37. Geburtstag, am 7. August 1920. Als Maler und Zeichner machte Ringelnatz sich einen Namen. In den renommierten Galerien Flechtheim und Nierendorf in Berlin stellte er neben George Grosz und Otto Dix Anfang der Zwanziger Jahre aus. Auch hier lässt ihn die Seefahrt nicht los. Dichtung und Malerei korrespondieren oft miteinander. Der Erfinder von Kuttel Daddeldu entfaltet auf allen Gebieten große Phantasie.

„Seegang“, Ölskizze auf Leinwand um 1927 (Joachim Ringelnatz-Museum Cuxhaven)

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Im Ringelnatz-Museum Cuxhaven ist eine repräsentative Auswahl seiner Gemälde und Zeichnungen zu besichtigen. Ringelnatz wurde als Künstler berühmt, er trat auf allen großen Bühnen auf, nannte sich „Reisender Artist“, zog 1930 wegen der pöbelnden NSDAP mit seiner Frau Muschelkalk von München nach Berlin. Aber auch dort begannen bald die Störungen der Nazis in den Kabaretts und Theatern. Wegen der kritischen Aufarbeitung seiner Erfahrungen als Mariner im Ersten Weltkrieg war er bei den Nazis früh in Ungnade gefallen. Seine Auftritte wurden 1933 verboten, sein Name stand auf der Liste für die Bücherverbrennung, seine Bücher wurden verbrannt und Gemälde wurden aus öffentlichen Museen entfernt. Es ging ihm psychisch und dann auch physisch schlecht, denn er erkrankte an Tuberkulose. Es gab kein Geld für eine Kur und ein durch Hilfe von Freunden erreichter Sanatoriumsaufenthalt konnte nicht mehr helfen. So starb Joachim Ringelnatz am 17. November 1934. Das folgende Gedicht sagt viel über seine damalige Stimmung aus: Schiff 1931 Wir haben keinen günstigen Wind. Indem wir die Richtung verlieren, Wissen wir doch, wo wir sind. Aber wir frieren. Und die darüber erhaben sind, Die sollten nicht allzuviel lachen. Denn sie werden nicht lachen, wenn sie blind Eines Morgens erwachen. Das Schiff, auf dem ich heute bin, Treibt jetzt in die uferlose, In die offene See. – Fragt ihr: „Wohin?“ Ich bin nur ein Matrose.21

21 Ringelnatz, Kuttel Daddel Du, 555.

Joachim Ringelnatz als Mariner im ErstenWeltkrieg

Das Joachim-Ringelnatz-Museum in Cuxhaven

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ZWISCHEN HERINGEN UND HELDEN Gorch Fock und der Krieg* Rüdiger Schütt

In der Nacht zum 31. Mai 1916 startet die deutsche Hochseeflotte von Wilhelmshaven aus in Richtung Norden. Ihr Ziel: Die britische Seeblockade deutscher Häfen zu durchbrechen. Auf Höhe der dänischen Nordwestküste, beim Skagerrak, treffen das deutsche und das britische Geschwader nachmittags aufeinander. Bis in die Nacht tobt eine erbitterte Schlacht mit schweren Verlusten auf beiden Seiten. Dabei wird auch der Kleine Kreuzer „SMS Wiesbaden“ von Torpedos in Brand geschossen und sinkt in den frühen Morgenstunden des 1. Juni. Bis auf einen Mann kommt die gesamte Besatzung dabei ums Leben: Fast 600 Seeleute verbrennen, ertrinken oder werden von Granaten zerfetzt. Einer von ihnen ist der 35-jährige norddeutsche Schriftsteller Johann Kinau, der unter dem Pseudonym Gorch Fock publizierte. Gorch Fock: Unter diesem Namen veröffentlichte der Schriftsteller Johann Kinau in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und auch während des Krieges viel gelesene Erzählungen, einen überaus erfolgreichen Roman sowie einige Gedichte, darunter Kriegslyrik. 1916 starb er in der Seeschlacht am Skagerrak. Leben und Werk Kinaus wurden propagandistisch eingesetzt, im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg.1 Unter seinem markanten Pseudonym etablierte sich ein Mythos, der bis in die Gegenwart hinein strahlt.

DER MYTHOS 1926: Gorch Fock, obwohl seit zehn Jahren tot, ist auf einem Höhepunkt seines literarischen Erfolges. „Meyers Lexikon“ schreibt über den Schriftsteller, dessen *

1

Dieser Text, als Vortrag gehalten auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Schiffahrtsund Marinegeschichte am 29. März 2014 in der Hermann Ehlers Stiftung Kiel, ist zugleich die durchgesehene und erweiterte Fassung des Aufsatzes „Heldenschmiede Johann Kinau. Gorch Fock und der Krieg“, in: Friederike Burcu Doğramacı (Hg.), Sie starben jung! Künstler und Dichter, Ideen und Ideale vor dem Ersten Weltkrieg, Weimar/Berlin 2014. Über die Rezeption Gorch Focks im „Dritten Reich“ vgl. Reinhard Goltz, Der Gott der Heimat, der beste Kamerad und der geschaßte Gewerkschafter. Die Schriftsteller Johann, Rudolf und Jakob Kinau in der Nazi-Zeit, in: Kay Dohnke/Norbert Hopster/Jan Wirrer (Hgg.), Niederdeutsch im Nationalsozialismus. Studien zur Rolle regionaler Kultur im Faschismus, Hildesheim 1994, 342–386.

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fünfbändige Werkausgabe2 ein Jahr zuvor erschienen ist: „Fock ist ein starker, realistischer Darsteller, voll Gemütstiefe, Humor und Liebe zu Heimat und Volk.“3 „Kindlers neues Literatur-Lexikon“ von 19884 behandelt vier Werke von Gorch Fock: zwei Theaterstücke („Cili Cohrs“ und „Doggerbank“), den Erzählband „Hein Godenwind“ sowie seinen einzigen Roman, seinen heute bekanntesten Text „Seefahrt ist not!“. Nicht verzeichnet sind seine in hoher Auflage gedruckten Kriegsgedichte, erschienen 1914/15. Als Ursachen für Kinaus großen Erfolg nennt Killys „Literaturlexikon“ von 2008 neben der geschickten Verarbeitung populärer Stoffe des Abenteuerromans auch die Übereinstimmung mit herrschenden Zeitströmungen: Heimatliebe, Nationalismus, das martial[ische] Männlichkeitsideal u[nd] vor allem die wilhelmin[ische] Begeisterung für Seefahrt u[nd] Kriegsmarine.5

Heute ist Gorch Fock für viele zuallererst ein Mythos.6 Ein Mythos von Seefahrt und Abenteuer, der sich am besten in der Popularität des nach ihm benannten Segelschulschiffes der Bundesmarine widerspiegelt und der auch außerhalb Deutschlands lebendig ist.7 Während der Mythos lebt, ist der Schriftsteller Gorch Fock weitgehend vergessen. Angehörigen der jüngeren Generation ist sein Werk zumeist unbekannt, und auch in der Literaturwissenschaft hat die ehemals so prominente Figur an Bedeutung verloren. Aus neueren Auflagen von Kindlers Literaturlexikon ist ihr Name verschwunden. Dabei hat Gorch Fock über Jahrzehnte ganze Schülergenerationen begleitet. Bis 1966 gehörten seine Werke zur Pflichtlektüre an deutschen Schulen.8 Seine Schriften waren fester Bestandteil des Schulunterrichts, spätestens seitdem die Hamburger Oberschulbehörde 1913 „Seefahrt ist not!“ an alle Schüler der Abschlussklassen als Weihnachtsgeschenk verteilt hatte – wohlgemerkt: nur an die männliche Jugend. Das im Roman gepriesene Männlichkeitsideal schien auch unter pädagogischen Aspekten verbreitungswürdig. Mit der Verankerung in den Lehrplänen begann die staatlich geförderte Rezeption seiner Schriften. Gorch Fock wurde zum „Dichter neuer deutscher Jugend“9 ausgerufen und zur Leitfigur 2 3 4 5 6 7 8

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Jakob Kinau (Hg.), Gorch Fock. Sämtliche Werke in fünf Bänden, Hamburg 1925. Meyers Lexikon. Bd. 4, Leipzig 1926, 922. Kindlers neues Literatur-Lexikon, Walter Jens (Hg.), München 1988. Stephan Speicher, Fock, Gorch, in: Wilhelm Kühlmann (Hg.), Killy Literaturlexikon. Bd. 3, Berlin/New York 2008, 486. Vgl. Rüdiger Schütt (Hg.), Gorch Fock. Mythos, Marke, Mensch. Aufsätze zu Leben und Werk des Schriftstellers Johann Kinau (1880–1916), Nordhausen 2010. Vgl. z.B. Rüdiger Schütt, Gorch Fock kam bis nach Texas. Wie der Mythos Gorch Fock eine amerikanische Metal-Band inspiriert, in: Ders. (Hg.), Gorch Fock, 191–197. Vgl. Rüdiger Schütt, „Beflaggt eure Schiffe und grüßt die deutsche See, ihr deutschen Jungen!“. Gorch Fock im Schulunterricht des „Dritten Reichs“, in: Ders. (Hg.), Gorch Fock, 43– 59. Vgl. z.B. Otto Brües, Gorch Fock. Ein Dichter neuer deutscher Jugend, in: Tägliche Rundschau, 28.5.1921.

Gorch Fock

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mit Vorbildcharakter stilisiert. Durch seinen frühen Tod als Soldat umwehte den Autor ja selbst „jener geheimnisvolle Zauber ewiger Jugend“10, wie der Hamburger Bürgermeister Werner von Melle bei der Gorch-Fock-Gedenkfeier 1916 feststellte: Ein Tod aber, wie er ihm beschieden, ein echter Seemannstod, ein Tod im heißen siegreichen Kampfe für Deutschlands Seegeltung, er war, so sehr wir das frühe Scheiden des Dichters beklagen, doch ein volltönender Abschluß dieses ganz von der Liebe zur See und zur Seefahrt erfüllten Lebens. Ein Tod war es, wie er ihn selbst in ‚Seefahrt ist not‘ aus begeistertem Herzen heraus geschildert. ‚Groß‘, so heißt es dort, ‚und königlich, wie er gelebt hatte, starb er, als ein tapferer Held, der weiß, daß er zu seines Gottes Freude gelebt hat, und daß er zu den Helden kommen wird.11

Unmittelbar nach der Nachricht vom Tod des Schriftstellers setzte der Prozess seiner Glorifizierung ein. Sein ‚Heldentod‘ wurde dazu genutzt, das Werk unangreifbar zu machen und die reale Person ins Übermenschliche zu stilisieren. Gorch Fock wurde zu einer Art Gott deklariert – unsterblich. Sein Freund Hinrich Wriede schrieb in seinem Nachruf: „Aber gerade weil Johann Kinau im Kampfe den Seemannstod gefunden hat, gerade daher wird Gorch Fock [...] ewig leben.“12 Sicher ist, dass Kinaus Glorifizierung unmittelbar mit seinem Leben und Werk im Ersten Weltkrieg zusammenhängt. Ohne den Krieg wäre er womöglich die literarische Lokalgröße geblieben, die er lange Zeit war: ein Verfasser maritimer Angelegenheiten. Ohne Krieg kein Mythos.

ZWISCHEN KULTURLANDSCHAFT UND WILDNIS Gorch Fock wurde als Johann Wilhelm Kinau am 20. August 1880 auf der Elbinsel Finkenwerder geboren.13 Er war das älteste von sechs Kindern des Hochseefischers Heinrich Wilhelm Kinau und der aus dem Alten Land stammenden Metta. In Finkenwerder hatte sich, bedingt durch seine abgeschiedene Lage, vieles erhalten, was in der benachbarten Großstadt schon nicht mehr vorhanden war: Traditionen, Brauchtum, Trachten waren hier noch lebendig. Kinau hat das Fin-

10 Werner von Melle, Gorch Fock zum Gedächtnis. Eröffnungsansprache bei der Gorch FockGedenkfeier am 24. Oktober 1916, in: Mitteilungen aus dem Quickborn 10/1916–17, 43. 11 Ebd. 12 Hinrich Wriede, Gorch Fock (Johann Kinau), in: Mitteilungen aus dem Quickborn 9/1916– 17, H. 4, 132. 13 Zwei aktuellere (eher populärwissenschaftliche) biografische Untersuchungen zu Gorch Fock stammen von Günter Benja, Gorch Fock. Poet mit Herz für die See, Erfurt 2005; Günter Benja/Werner Marquart, Gorch Fock – nomen est omen. Ein biografischer Essay, in: Schütt (Hg.), Gorch Fock, 7–31; Vgl. außerdem Klaas Jarchow, „Soweit, was Johann Kinau betrifft. Im übrigen bin ich Gorch Fock“. Eine Sozioanalyse, in: Inge Stephan/Hans-Gerd Winter (Hgg.), „Liebe, die im Abgrund Anker wirft“. Autoren und literarisches Feld im Hamburg des 20. Jahrhunderts, Hamburg 1990, 83–110.

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kenwerder seiner Kindheit als ein Idyll beschrieben, als eine eigentümliche Mischung aus Kulturlandschaft und Wildnis.14 Aber es gab es auch die andere Seite: Die Unbilden der Natur, Wind und Wetter, waren eine ständige Bedrohung für die Küstenbewohner. Dazu kam die fortschreitende Industrialisierung des Fischfangs. Große Dampfer machten den Fischern Konkurrenz, da sie viel weiter aufs Meer hinaus fahren konnten als die kleinen Segelschiffe (die sogenannten Ewer), und so die wirtschaftliche Existenz von Fischerfamilien wie den Kinaus gefährdeten. Ein gnadenloser Wettbewerb setzte ein, in dem die Finkenwerder immer weiter hinaus auf See und schließlich auch zu jeder Jahreszeit fahren mussten. In dieser Mischung aus Seefahrerromantik und harter ökonomischer Realität wuchs Kinau auf. Von der Seefahrt fasziniert, war sein Berufswunsch wie selbstverständlich Fischer. Doch stellte sich bald heraus: Johann Kinau litt unter Seekrankheit, war also vollkommen ungeeignet für den Beruf des Hochseefischers. Ein Schock! Der Jugendliche flüchtete in die Welt der Fantasie, schrieb erste Erzählungen und Gedichte, die das Leben an der Küste und den Alltag der Fischer thematisieren. Ab 1895 absolvierte Kinau eine Kaufmannsausbildung bei Bremerhaven, anschließend arbeitete er mehrere Jahre als Buchhalter und Kontorist in Meiningen, Bremen und Halle, bevor er 1904 nach Hamburg zurückkehrte. Hier erhielt er eine Stelle bei der Zentraleinkaufsgesellschaft deutscher Kolonialwarenhändler, später, 1907, wechselte er zur Hamburger Großreederei HAPAG, wo er als leitender Buchhalter arbeitete. Kinau baute sich eine bürgerliche Existenz auf: 1908 heiratete er; mit seiner Frau Rosa Elisabeth hatte er drei Kinder. Allerdings pflegte er daneben eine außereheliche Beziehung zur Schauspielerin Aline Bußmann, die er als seine „Muse“ bezeichnete.15 Nach der Arbeit im Büro – abends und nachts – schrieb Kinau unermüdlich. Seine vorwiegend auf Plattdeutsch verfassten Erzählungen gewannen an Farbe und Kontur und es gelang ihm, erste Texte in Hamburger Tageszeitungen unterzubringen.16 Er engagierte sich in den literarischen Kreisen Hamburgs, knüpfte

14 Vgl. z.B. Aline Bußmanns Vorwort in: Dies. (Hg.), Sterne überm Meer. Tagebuchblätter und Gedichte von Gorch Fock, Hamburg 1918, 13–15; Vgl. auch Rudolf Kinau, Finkwarder. Gorch Fock sien Fischerinsel, Hamburg 1936; Harald Scholz, Finkenwerder. Vom „Fischeridyll“ zum „Industriestandort“? Strukturwandlungen in einer großstadtnahen Gemeinde im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert und deren Widerhall in der fiktionalen Literatur, Hamburg 1996. 15 Aline Bußmann (1889–1968) gehörte zum Ensemble der Niederdeutschen Bühne Hamburg, dem späteren Ohnsorg-Theater. Als Herausgeberin Gorch Focks hatte sie großen Einfluss auf die Rezeption seiner Werke; ihr Briefwechsel mit ihm ist veröffentlicht in: Hugo Sieker (Hg.), Da steht ein Mensch. Briefe von Gorch Fock an Aline Bußmann, Hamburg 1971. Zur Biografie Aline Bußmanns vgl. Dirk Hempel [Art.], Bußmann, Aline, in: Franklin Kopitzsch/Dirk Brietzke (Hgg.), Hamburgische Biografie. Personenlexikon, Bd. 4, Göttingen 2008, 77–78. 16 Kinaus erste Erzählungen erschienen ab 1905 im „General-Anzeiger für Hamburg-Altona“. Vgl. Birgitta Esser/Regina Kirchhof, Bibliographie Gorch Fock (1880–1916), in: Mathias

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Kontakte und baute sich ein Netzwerk auf. Dann erschien 1910 sein erster Band mit Erzählungen „Schullengrieper und Tungenknieper“,17 der erfolgreich war und sich gut verkaufte. Weitere Erzählbände folgten und festigten Kinaus Ruf als humor- und gemütvoller, aber seichter, Unterhaltungsautor. Doch Kinau – Gorch Fock – wollte mehr: Er brannte darauf, einen Roman zu schreiben, der sich nicht in der Widerspiegelung von Lokalkolorit erschöpfen sollte, sondern mit dem er Kritik üben wollte. Kritik an der rasanten Modernisierung und Industrialisierung Deutschlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

ZWISCHEN HOCHDEUTSCH UND PLATTDEUTSCH Denn der sensible Fischersohn sah die Welt seiner Kindheit in Gefahr: Die Welt der Segelschiffe, das dörfliche Miteinander, die gegenseitige Solidarität. Und er bemerkte, dass seine Muttersprache, das Plattdeutsche, von immer weniger Menschen gesprochen und verstanden wurde. Er schloss sich der „Freien Vereinigung von Freunden der niederdeutschen Sprache und Literatur“18 an, wurde einer ihrer Wortführer. Wie ernst, fast schon fanatisch es Kinau mit der Bewahrung des Plattdeutschen und der Modernisierungskritik war, bezeugt ein Tagebucheintrag von 1909: Ein plattdeutscher Sturmverein muß kommen, ein begeisternder und begeisterter Jugendbund! Alles ist so matt, so geschäftskühl: übers Ziel zu schießen wagt keiner, so wird es auch keiner erreichen! Ein Kerl müsste kommen, bereit, sich auslachen, kreuzigen oder krönen zu lassen, der auf den Tisch rammte und sagte: So! Van nu af an snack ick blos noch plattdütsch! Ick kann keen hochdütsch mihr!19

Kinaus Roman „Seefahrt ist not!“, der ihn überregional bekannt machen sollte, erschien im Dezember 1912 – pünktlich zum Weihnachtsgeschäft – und wurde zu einem Bestseller, ja fast kann man sagen: zu einem Weltbestseller.20 Aber das konnte nur gelingen, weil er den Text – entgegen seiner ursprünglichen Absicht – auf Drängen seines Verlages, auf Hochdeutsch verfasst hatte, wegen der besseren Absatzmöglichkeiten.

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Mainholz (Hg.), Hapag-Fahrt zu Odins Thron. Gorch Focks Norwegenreise 1913. Tagebuch, Romanfragment, Erzählung, Hamburg 1999, 154–174. Gorch Fock, Schullengrieper und Tungenknieper. Finkenwärder Fischer- und Seegeschichten, Hamburg 1910. Gegründet am 17.2.1904 auf Initiative des Hamburger Schulrats Adolf Stuhlmann, 1906 umbenannt in „Quickborn, Vereinigung von Freunden der niederdeutschen Sprache und Literatur“. Das erklärte Ziel der Vereinigung, die bis heute existiert, war und ist die „Pflege der niederdeutschen Sprache und Literatur“. Kinau zit. n. Bußmann (Hg.), Sterne, 82. Der in viele Sprachen übersetzte Roman wird bis heute immer wieder aufgelegt. Vgl. Esser/ Kirchhof, Bibliographie. Eine Verfilmung des Romans von 1921 unter der Regie von Rudolf Biebrach ist verschollen, vgl. Robert Wohlleben, Seefahrt ist not! Beschau eines ungesehenen Films, in: Schütt (Hg.), Gorch Fock, 155–176.

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„Seefahrt ist not!“, verlegt wie fast alle Werke Gorch Focks bei Glogau in Hamburg, erzählt die dramatische Geschichte des Fischers Klaus Mewes und seines Sohnes, der in die Fußstapfen seines Vaters treten will. Sie endet tragisch, mit dem Tod von Mewes auf See. Eingebettet ist die Handlung in die Welt des Finkenwerder Dorflebens. Ausführlich geschildert ist das In-See-stechen im Morgengrauen bei eisiger Kälte, das karge Essen an Bord, das mühsame Netze flicken, die sonntäglichen Gottesdienste, bei denen für eine glückliche Heimkehr der Seeleute gebetet wird. Gorch Focks Romanfiguren sind mutige Männer, die Ideale wie Furchtlosigkeit und Opferbereitschaft verkörpern. Es sind Kämpfertypen, die sich gegen die Naturgewalten stemmen – gegen den Sturm auf See, gegen die großen Dampfschiffe, gegen die Industrialisierung. Kinau schildert diese Eigenschaften als menschliche Größe. Dabei überzeichnet er so stark, dass das Bild eines Übermenschen entsteht, eines Kämpfers, der, trotz widrigster Umstände, seinen ‚Feinden‘ furchtlos entgegentritt. Ein Held! Wo es Kinau jedoch zuallererst um die Verteidigung seiner niederdeutschen Welt ging, verfolgten die sich bei Gorch Fock bedienenden Kriegspropagandisten überregionale Interessen – zum ‚Wohle der Nation‘! Und wie die meisten niederdeutschen Exponenten war auch Kinau empfänglich für Nationales, für Patriotisches. Er war Vertreter einer weit verbreiteten Heimatideologie mit ihrer tiefen Skepsis gegenüber den ökonomischen und sozialen Trends der Industrialisierung.21 In seinem Gedicht „De ole Sprook“22 hat Gorch Fock dieser Skepsis Ausdruck gegeben und zugleich ein Loblied auf die alten Traditionen, die „alte Sprache“ verfasst: So lang as noch uns Scheepen goht, so lang as noch uns Dieken stoht, so lang as noch uns Flaggen weiht, blifft Plattdütsch Baas in Leed un Freid23

So lange wie die (nieder-)deutschen Koordinaten intakt sind, die Schiffe, die Deiche, die Flagge, so lange bleibt das Plattdeutsche „de Baas“, der ‚Boss‘. Der „anners sprök“, also der Niederdeutsch sprechende Mensch, „schall nich in de Ecken stohn“, sondern er soll „vor de Dören gohn“. Er soll für seine Heimat und für seine Muttersprache eintreten, nur dann könne die niederdeutsche Welt mit ihrem eigenen Dialekt die nächsten 1000 Jahre überleben: Hollt fast, hollt fast, denn geiht dat klor hollt fast, hollt fast, denn geiht dat klor, denn levt uns Sprook noch dusend Johr, denn levt uns Sprook noch dusend Johr!24

Aus der Außenseiterposition des Niederdeutschen etabliert sich in Gorch Focks Texten ein Selbstbewusstsein, das zum einen – natürlich – Lokalpatriotismus be21 Zu dem Themenfeld vgl. z.B.: Edeltraud Klueting (Hg.), Antimodernismus und Reform. Zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung, Darmstadt 1991. 22 Gorch Fock, De ole Sprook. in: Fritz Jöde (Hg.), Hein Koptein. 12 frische scheune Leeder, Hamburg 1918, 9. 23 Ebd. 24 Ebd.

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inhaltet, zum anderen aber auch ein stark ausgeprägtes Nationalgefühl. In dem Gedicht „Hamborger Jung“25, das Gorch Fock seinem im Dezember 1913 erschienenen Erzählband „Hamborger Janmooten“ vorangestellt hat, geht es, so kann der Text gelesen werden, schon um eine deutsche Vorherrschaft: Hamborger Jung: goh in de Welt, lehr ingelsch un verdeen di Geld, seuk di de besten Happen ut un slog de annern op de Snut! Paß op den Kneel und reih nich bi: Di könt se all, versteihst du mi? Spel jümmer leber Herr as Knecht: De Boos is, de hett jümmer Recht. Holl vull dien Seils, lot weihn dien Flagg, segg de Schinesen Goden Dag, goh gern mol op de Tigerjagd, nimm gern mol Mexiko in Pacht, stieg no de Pyramiden rop, stell de Molukken op den Kopp, keup bi de Lappen Tron und Smeer, verkeup de Inkas Köm un Beer […]26

Der „Hamborger Jung“ soll die Welt erkunden und sie dabei am besten gleich „in Pacht“ nehmen. Er soll sich durchsetzen, soll, so Gorch Focks Ratschlag, den anderen „op de Snut“, auf die Schnauze, schlagen. Er soll sich niemals einreihen und lieber „Herr“ sein als „Knecht“, denn: „De Boos is, de hett jümmer Recht“, der Chef hat immer Recht. In der unmittelbaren Vorkriegszeit waren die Vorstellungswelten aller Niederdeutschen und darüber hinaus vieler junger hochdeutscher Schriftsteller, auch derjenigen, die sich zur Avantgarde zählten, eingenommen von einem diffusen Ideal von Heimat, oft beeinflusst von der damals populären Heimatschutzbewegung. An die Heimatbegeisterung eng gekoppelt war eine anti-industrielle Sozialromantik, die auch in Kinaus Werk zum Ausdruck kommt. Und: Wer sich so nachdrücklich auf das Volk, die Volkssprache, das Volkstum berief wie die Niederdeutschen, für den stand außer Frage, dafür auch im Krieg zu kämpfen – im Feld oder aber am Schreibtisch, so wie (zunächst) Gorch Fock.

KRIEGSLYRIK Denn bevor Johann Kinau in den Krieg zog, steuerte er mit hurra-patriotischen Versen gegen „John Bull“ sein Scherflein zur moralischen Aufrüstung bei.27 Während Gorch Focks Gedicht „Hamborger Jung“ noch unterschiedliche Lesarten

25 Gorch Fock, Hamborger Jung, in: Ders., Hamborger Janmooten. Een lustig Book, Hamburg 1914, 9–10. 26 Ebd., 9. 27 Gorch Fock, Plattdeutsche Kriegsgedichte. Folge 1–4, Hamburg 1914/15.

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zulässt, lassen diese Gedichte keinen Zweifel mehr daran, worum es ihrem Verfasser ging, um Deutschlands Weltherrschaft. hißt in London mol jon Flagg, Seggt den Grey mol goden Dag, stellt jo mol bi Churchill vor, kloppt mol bi de Times ant Door (…)28

Zwischen Kriegsausbruch und etwa April 1915 erschienen in vier Heftchen zu je acht Seiten insgesamt 18 Gedichte in Form von Flugschriften mit Titeln wie „John Bull, John Bull“29, „Uns Mariners“30, „Op em, Jungs!“31 und „Zeppelin kummt!“32. Der Untertitel lautet immer gleich: „Plattdeutsche Kriegsgedichte“. Als „schiere Dutzendware“33 hat Claus Schuppenhauer Kinaus Texte klassifiziert und festgestellt: „das alles beginnt und endet bei Schuldzuweisungen, Beschimpfungen des Gegners und Drohgebärden hier, beim Lob und Preis des verratenen, missgünstig verfolgten, aber so mutig-wehrhaften Deutschland dort. Anderes fällt Gorch Fock zum Krieg nicht ein.“34 Es sei eine Art von „Pseudo-Krieg“, so Schuppenhauer, „der private vaterländische Kampf des Literaten Gorch Fock, vom Schreibtisch aus mit höchst begrenzten, weil fremdbestimmten Erfahrungen und Einsichten geführt.“35 Es scheint, als wusste Gorch Fock wenig über die wahren Ursachen des Krieges und reproduzierte daher die gängige Propaganda vom Deutschland aufgezwungenen Krieg: Schuld waren für ihn immer die anderen. Wie intensiv Gorch Focks Kriegsgedichte rezipiert wurden, lässt sich kaum mehr feststellen. Damalige Rezensenten betonten allerdings, dass „Gorch Fock einer der ersten“ gewesen sei, „der mit plattdeutschen Kriegsgedichten auf dem Plane war.“36 Die Frage, inwieweit ihn dies aus der regelrechten Flut von Kriegslyrik, auch niederdeutscher, hervorhob, bleibt unbeantwortet. Einer zeitgenössischen Quelle zufolge belief sich die Zahl der veröffentlichten Kriegsgedichte allein im August 1914 auf anderthalb Millionen, unglaubliche 50.000 pro Tag.37

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Gorch Fock, Op em, Jungs! Plattdeutsche Kriegsgedichte, III. Folge, Hamburg 1915, 2. Gorch Fock, John Bull, John Bull! Plattdeutsche Kriegsgedichte, I. Folge, Hamburg 1914. Gorch Fock, Uns Mariners. Plattdeutsche Kriegsgedichte, II. Folge, Hamburg 1914. Gorch Fock, Op em, Jungs!, 1915. Gorch Fock, Zeppelin kummt! Plattdeutsche Kriegsgedichte, IV. Folge, Hamburg 1915. Claus Schuppenhauer, Anmerkungen zu Gorch Focks Kriegsgedichten, in: Friedrich W. Michelsen (Hg.), Gorch Fock. Werk und Wirkung. Vorträge und Diskussionen des Kolloquiums „Mundartliteratur/Heimatliteratur am Beispiel Gorch Fock“ am 25. Februar 1983 in Hamburg, Hamburg 1984, 95. Ebd., 96. Ebd. Diedrich Steilen, Plattdeutsche Kriegsdichtungen, in: Mitteilungen aus dem Quickborn 8/ 1914–15, 139. – Steilen stellt in seinem Beitrag weitere Autoren plattdeutscher Kriegsgedichte vor, u.a. Hermann Claudius, Ludwig Frahm, Fritz Husmann, Fritz Lau, Hans Much. Vgl. den Hinweis von Jörgen Bracker, „Kamikaze Held“ und „Ökologischer Protagonist“? Begriffe und Fehlgriffe im literarischen Urteil über Gorch Fock, in: Gorch Fock. Werk und Wirkung, 76. Bracker stützt sich auf Angaben in: Carl Busse (Hg.), Deutsche Kriegslieder 1914/16, Bielefeld 1916, VI.

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Aber Kinau trieb es weg vom Schreibtisch. In sein Tagebuch notierte er: „Das Schicksal Deutschlands ist auch mein Schicksal!“38 und: „Ruf mich, Vaterland, wenn Du mich brauchst!“39 Denn es stellte sich ihm die Frage: „nicht, was soll aus Deutschland? – sondern: was soll aus der Welt werden, wenn wir nicht siegen?“40 Kinau wollte Soldat werden, wie Richard Dehmel: „Sühso, – nu kummt een annern Stremel: ik ward Suldot as Richard Dehmel“41, reimte er im März 1915. Dehmel, einer der ‚Stars‘ der Literatur um 1900 und Vorbild der literarischen Jugend, hatte sich 1914 – über 50-jährig – als Freiwilliger gemeldet.42 Über die große Verantwortung von Vorbildern wie Richard Dehmel für die Kriegsbegeisterung vieler junger Schriftsteller schrieb Stefan Zweig in seinen 1944 erschienenen Lebenserinnerungen: Fast alle deutschen Dichter, Hauptmann und Dehmel voran, glaubten sich verpflichtet, wie in urgermanischen Zeiten als Barden die vorrückenden Kämpfer mit Liedern und Runen zur Sterbebegeisterung anzufeuern. Schockweise regneten Gedichte, die Krieg auf Sieg, Not auf Tod reimten. Feierlich verschworen sich die Schriftsteller, nie mehr mit einem Franzosen, nie mehr mit einem Engländer Kulturgemeinschaft haben zu wollen, ja mehr noch: sie leugneten über Nacht, daß es je eine englische, eine französische Kultur gegeben habe. All das sei gering und wertlos gegenüber deutschem Wesen, deutscher Kunst und deutscher Art.43

GERMANENKULT In Zweigs Erinnerung findet sich ein weiteres Motiv für Kinaus Kriegsbegeisterung: Nämlich in der Beobachtung, dass viele Schriftsteller an die „urgermanischen Zeiten“ anknüpfen wollten. Auch Kinau und viele seiner Hamburger Schriftstellerkollegen44 waren von der Germanenbegeisterung der Jahrhundertwende ergriffen, von einer diffusen, im Kaiserreich weit verbreiteten nordischneuheidnischen Ideologie.45 Verweise darauf finden sich zahlreich in Kinaus 38 39 40 41 42

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Gorch Fock, Tagebucheintrag vom 31.7.1914, in: Bußmann (Hg.), Sterne, 135. Ebd., 136, Tagebucheintrag vom 4.8.1914. Ebd., 137. Gorch Fock, Tagebucheintrag vom 30.3.1915, in: Jakob Kinau (Hg.), Sämtliche Werke in fünf Bänden. Bd. 5, Hamburg 1925, 271. Über Richard Dehmels Einsatz im Krieg vgl. Mathias Mainholz, Leutnant Dehmel – Eine Polemik, in: Sabine Henning u.a. (Hg.), WrWlt – o Urakkord. Die Welten des Richard Dehmel, Herzberg 1995, 147–199. Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a. M. 1981, 265. Vgl. z.B. die späteren Publikationen von Hans Friedrich Blunck, Gustav Frenssen oder Hermann Krieger: Hans Friedrich Blunck, Die Urvätersaga, Jena 1934 (zuerst in 1925, 1926 und 1928 erschienen Einzelbänden); Gustav Frenssen, Der Glaube der Nordmark. Stuttgart 1936; Hermann Krieger, Not-Wende. Vom Aufstieg des germanischen Abendlandes, Braunschweig/ Hamburg 1923. Zu Gorch Focks Germanenbegeisterung vgl. Kai-Uwe Scholz, Hapag-Fahrt zu Odins Thron. Gorch Focks Nordlandbegeisterung und seine Norwegenreise 1913, in: Schütt (Hg.), Gorch Fock, 107–125. Eine kürzere Fassung des Beitrags von Scholz ist erschienen als, Hapag-Fahrt zu Odins Thron. Gorch Fock in Norwegen, in: Mainholz (Hg.), Hapag-Fahrt, 143–152.

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Werk. In „Seefahrt ist not!“ etwa werden Donar und Wotan beschworen, wird die Edda zitiert.46 Aber die germanische Götterwelt lieferte nicht nur literarische Motive, sondern spielte auch in außerliterarischen Zusammenhängen eine große Rolle. In einem Brief an Aline Bußmann formulierte Kinau sogar eine Art germanisches Glaubensbekenntnis: Ich steck noch tief im Heidentume und glaube nicht an Zebaoth: mein Zion ist Walhall, das hehre, und Wotan ist mein Herr und Gott! Sein Auge ist die helle Sonne, schließt sichs, dann kommt die dunkle Nacht. Er liebt den Starken, Stolzen, Freien den Mann zumal, der kämpft und lacht! Du, der den Freien krönt mit Ehren, Du, der den Knecht mit Schande straft: Allvater, fülle mir die Seele mit Mannessinn und Sonnenkraft!47

Kinaus Begeisterung ging so weit, dass er Norwegen, die „Wiege im Norden“48, im Juni 1913 zwei Wochen lang bereiste, an Bord des Passagierdampfers „Meteor“.49 Als Höhepunkt seiner Pilgertour schilderte er eine Vision, in der er sich den nordischen Göttern selbst gegenübersah: Ich stand Wotan und Donar gegenüber, Auge in Auge, ich fühlte ihren eisigen Atem, ich sah ihre Throne, von der Sonne beschienen und mit Schneeteppichen belegt. Ich verstand, daß hier ein Heldenglaube wie der germanische entstehen mußte, daß hier Männer lebten, die glaubten, daß sie von Odin selbst abstammten, daß hier die Germanenbibel, die Edda geboren werden mußte.50

Vor allem die Heldenvorstellung der nordisch-germanischen Mythologie, ihren gewaltigen Pathos, übernahm Kinau für sein Werk. Und Heldenfiguren gibt es reichlich darin. Es sind die Finkenwerder Seeleute, die gegen das wilde Meer ankämpfen, gegen den industriellen Fischfang. Da kann der Dampfer noch so groß sein, der Fischer steht auf seinem kleinen Ewer und hält dagegen – und wenn er dabei untergeht. Es ist der Kampf David gegen Goliath, oder besser: Alberich gegen Wotan! Es ist auch ein Kampf gegen ‚die bösen Mächte‘, die das Althergebrachte bedrohen. Gorch Focks Heldenbild, geformt aus Germanenkult und Brauchtumspathos war massenkompatibel und bot allen Kriegspropagandisten ideale Anknüpfungspunkte. Und der Autor war produktiv. Für Nachschub aus der

46 Gorch Fock, Seefahrt ist not!, 131.–140. Tausend, Hamburg 1922 (Erste Auflage 1913), 184, 90, 125. 47 Gorch Fock, Brief an Aline Bußmann vom August 1913, in: Sieker (Hg.), Da steht ein Mensch, 79. 48 Ebd., 61. 49 Zu Gorch Focks Norwegenreise vgl., Mainholz (Hg.), Hapag-Fahrt zu Odins Thron. 50 Gorch Fock, Brief an Aline Bußmann vom 4.6.1913, in: Sieker (Hg.), Da steht ein Mensch, 66.

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Hamburger Heldenschmiede war gesorgt. Die Politik brauchte Helden? Gorch Fock produzierte Helden!

DER „HELD“ IM KRIEG Im April 1915 wurde Kinau einberufen und, nach einer Ausbildungszeit in Bremen, einem Reserve-Infanterie-Regiment zugeteilt. Das Warten auf den Marschbefehl ertrug er kaum – das dokumentieren seine Tagebucheinträge. Dann – endlich – kam er zum Landsturm und erreichte im Juli 1915 die Front. Er kämpfte in Russland und Verdun und nahm an dem blutigen, strapazenreichen Feldzug nach Serbien teil. Der harte Stellungskrieg dort und die mühsamen Gebirgsmärsche bewirkten zwar gelegentliche Kriegsmüdigkeit, an seiner patriotischen Grundeinstellung änderte sich aber nichts. In sein Tagebuch notierte er am 10. Juli 1915: Morgen soll die große Reise ins Feld angetreten werden. Urplötzlich ist dieser Hornruf erschollen, dem ich folgen muss nach meinem Fahneneide und meinem Willen, denn ich kann nicht hinterm Ofen hocken, wenn das deutsche Volk in tiefster Not um sein Dasein kämpfen muss. Ich gehöre in die erste Reihe der Kämpfer. Möchten die Nornen51 mir den Lebensfaden nicht zerschneiden, möchten sie mich heimkehren lassen zu meinem Weibe und zu meinen Kindern, bete ich. Doch geschehe Gottes Wille.52

Neben patriotischen Motiven gab es auch ganz andere Gründe, die dazu beitrugen, dass sich insgesamt der Krieg für Kinau als etwas Positives darstellte. Denn er bot dem jungen Mann, dem Ehemann, dem Vater, dem Buchhalter mit literarischen Ambitionen, die Möglichkeit auszubrechen aus seiner beschaulichen aber engen Welt, wegzukommen von der Niederelbe, dem Mief norddeutscher (Klein)Bürgerlichkeit hinterm Deich zu entfliehen. Im März 1916 gelang es Kinau sogar, zur Marine überzuwechseln. In Wilhelmshaven wurde er dem Kreuzer „SMS Wiesbaden“ zugeteilt. Endlich war sein Traum in Erfüllung gegangen: Erst der Krieg hatte aus dem Buchhalter einen Seemann gemacht. Als Matrose erlebte Kinau die Vorstöße gegen die englische Küste. In seinem Bordtagebuch sammelte er Rohstoff für seine literarische Arbeit. Gleichzeitig verklärte und überhöhte Kinau das Erlebte. Die von ihm etablierte ‚Marke‘ Gorch Fock, sein literarisches Alter Ego, nahm er inzwischen auch selbst als einen „Prediger der Furchtlosigkeit“ wahr, als ein Ideal, das es für ihn, den eigentlich sensibel-introvertierten Menschen, unter allen Umständen zu erreichen galt. Nur durch die Überwindung seiner Angst, so war er überzeugt, könne diese Metamorphose gelingen: Seefahrt ist not, auch meine Seefahrt! Der Krieg wird die große Sonnenwende auch meines dichterischen Schaffens. (…) Furcht habe ich verloren, je mehr ich Gorch Fock geworden

51 Nornen sind germanische Schicksalsgöttinnen. 52 Gorch Fock, Tagebucheintrag vom 10.7.1915, in: Bußmann (Hg.), Sterne, 144–145.

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Rüdiger Schütt bin; de lütte Jan Kinau wür een Bangbüx, aber Gorch Fock, der Prediger der Furchtlosigkeit, muß selbst schwindelfrei sein.53

In anderen Tagebuchpassagen präsentiert sich Kinau als widersprüchliche Persönlichkeit, die darum ringt, das angestrebte Ideal Gorch Fock (mit „stahlharten Nerven“54) mit der Realität Johann Kinau (das „weichste, mitleidigste Herz von der Welt“55) in Einklang zu bringen: Ich mit meinen stahlharten Nerven kann Toten ruhig in die gebrochenen Augen schauen, kann schwerverwundete Kameraden stöhnen hören, ohne zu zerbrechen, und kann noch viel mehr, das ich gar nicht nennen mag. In vielen Dingen bin ich mir selbst ein Rätsel geworden und erschauere oft vor mir selbst, schrecke oft zusammen. Dann wieder weiß ich, daß ich das weichste, mitleidigste Herz von der Welt habe. Und wenn es zu arg wird, wenn ich die Widersprüche in mir und um mich herum nicht mehr ertragen kann, dann wende ich mich an Gott und sehe dann die Menschen, wie ich sie sehen muß. Ich und meine Welt bleiben eins, und so lange ich lebe, lebt auch meine Welt.56

Trotz all seiner Bemühungen, seinem Vorbild Gorch Fock gleich zu kommen, an Furchtlosigkeit, ja an Göttlichkeit, war der schmächtige Johann Kinau doch nur ein Mensch, mithin sterblich. Und für ihn wurde das Schiff zur Todesfalle. Wochenlang trieb seine Leiche im Meer, bis sie schließlich, nördlich von Göteborg, an Land gespült und von Fischern auf der kleinen, unbewohnten Schäreninsel Stensholmen beigesetzt wurde, zusammen mit anderen deutschen und englischen Seeleuten. Ein Grabstein mit den eingemeißelten Worten „Seefahrt ist not“ erinnert dort noch heute an Gorch Fock. Mit dem Tod von Johann Kinau war der Mythos Gorch Fock erst geboren. Zur Mythisierung beigetragen hat nicht zuletzt auch der Schluss seines Romans „Seefahrt ist not!“: Denn die Figur des Fischers Klaus Mewes stirbt genau wie Kinau am Skagerrak. Und auch sonst fanden Interpreten und Biografen zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen den literarischen Figuren Kinaus und seinem Leben: Das qualvolle Leid, weil er nicht Fischer werden konnte wie sein Vater. Das tapfere Überwinden seiner Seekrankheit. Überhaupt: Das lebenslange Kämpfen um die Verwirklichung seiner Ideale. Leid, Überwindung und Kampf – im Leben wie im Werk: das waren hervorragende Zutaten für ein Heldenepos, die Parameter für jenen Mythos, der bis heute lebt. Allerdings muss festgehalten werden, dass Kinau selbst an dieser Mythenbildung nicht alleinigen Anteil hatte. Mitverantwortlich waren die späteren Verwalter und Herausgeber seiner Werke, Tagebücher und Briefe, vor allem seine Brüder Rudolf und Jakob, aber auch Aline Bußmann und andere.

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Gorch Fock, Tagebucheintrag vom 29.4.1916, in: Kinau (Hg.), Sämtliche Werke, 313. Gorch Fock, Tagebucheintrag vom 24.10.1915, in: Kinau (Hg.), Sämtliche Werke, 295. Ebd. Ebd.

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MANIPULATION? So wurden vor allem Kinaus Tagebücher von den Herausgebern manipuliert und für propagandistische Zwecke hemmungslos geplündert.57 Vergleicht man die als „Nachlassbände“ deklarierten Bücher mit den originalen Schriftstücken im Nachlass58 zeigt sich, vor allem bei den Tagebüchern, dass zahlreiche Streichungen vorgenommen wurden, dass nicht eins zu eins veröffentlicht wurde.59 So konnte durch gezielte Auswahl das bekannte Bild des furchtlosen Helden und patriotischen Kämpfers etabliert werden, des ‚Sängers des Krieges‘ und ‚tapferen Heldendichters‘, der Kinau – jedenfalls in dieser Dimension – nicht war. Passagen, die ein differenzierteres Bild hätten zeichnen können, zum Beispiel einen zweifelnden, verunsicherten Menschen, wurden einfach nicht veröffentlicht. Seine innere Zerrissenheit etwa, weil er zwischen einer bürgerlichen Existenz und seinen eigenen künstlerischen Erwartungen zu scheitern drohte, wurde systematisch ausgeblendet.60 Keine Frage: Gorch Fock war kriegsbegeistert, seine Texte eigneten sich ideal für jede Art von kriegspropagandistischen Einsatz, da ‚soldatische Tugenden‘ wie Tapferkeit und Durchhaltewillen gefeiert werden beziehungsweise sie offen für den Krieg werben, wie im Falle seiner Kriegsgedichte. Dass Gorch Fock aber zum Herold aller ‚Kriegshelden‘, zu einem Idealbild des deutschen Soldaten, der aus Vaterlandliebe in den Kampf zieht und in freudiger Erfüllung seiner Pflicht auf dem Feld sein Leben lässt, daran haben andere zumindest Anteil gehabt. Um diesen Anteil genauer bestimmen zu können, wäre eine an den Quellen orientierte Edition der Texte Kinaus nützlich. Freilich, auch eine kritische Edition würde wohl keinen Pazifisten zutage fördern, zumindest aber ein authentischeres Bild von Johann Kinau alias Gorch Fock zeichnen – jenseits von Glorifizierung und Mythos.

57 Vgl. Birgitta Esser, Der Nachlass Gorch Focks in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, in: Schütt (Hg.), Gorch Fock, 33–42. 58 Johann Kinaus Nachlass befindet sich seit 1995 in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky. 59 Vgl. Esser, Nachlass. 60 Birgitta Esser nennt in ihrer Untersuchung mehrere Beispiele, etwa auch folgende nicht veröffentlichte Passage, die alles andere als einen selbstsicher-entschlossenen Kinau zeigt, sondern einen von Todessehnsucht geplagten: „Ich gehöre zu den Menschen, die aus einem Traum in den anderen fallen: Erde und Stoppeln und Steine kenne ich nicht – und wenn ich zuletzt den Boden erreiche, dann sinke ich in weichen, weißen Todesschnee (…).“ Zit. nach Esser, Nachlass, 40.

„DES KAISERS KULIS“ Der Schriftsteller Theodor Plievier und die Darstellung der Matrosenrevolte von 19171 Hans-Harald Müller

Dass aus Theodor Plievier, der am 17. Februar 1892 in Berlin-Wedding als sechstes Kind eines aus Holland eingewanderten Feilenhauers geboren wurde, einmal ein moderner Schriftsteller geworden ist, grenzt an ein Wunder. In einem Lebensrückblick aus dem Jahre 1930 schrieb er: Mit zwölf Jahren begann ich zu arbeiten, zuerst an den schulfreien Nachmittagen in den Kellereien der Weddingmarkthalle, dann als Laufbursche. Im letzten Halbjahr vor der Schulentlassung half ich meinem Vater, der im Zirkus Busch eine Männertoilette gepachtet hatte, nachdem er nicht mehr als Feilenhauer arbeiten konnte. In den Wochen, in denen er wegen Gicht nicht aus dem Hause gehen konnte, vertrat ich ihn abends dort und brachte dann nachts die zwei oder drei Mark Einnahme nach Hause. In dieser Zeit trieb ich mich auch in den Ställen und Garderoben des Zirkus umher. Nach der Schulentlassung wollte ich mit einem Tierbändiger mitziehen; alles war schon verabredet, aber das erlaubte meine Mutter nicht. Dann wollte ich Maler werden. Das lehnte sie ebenfalls ab. „Die Maler verhungern alle“, erklärte sie. Schließlich begann ich Maurer zu lernen. Das dauerte nur zwei Jahre; mit sechzehn rück2 te ich von zu Hause aus.

Weshalb er sein Zuhause verließ, schilderte Plievier in einer Erinnerung aus dem Jahre 1953: Als ich siebzehn Jahre alt wurde, erhielt ich (...) eine Ohrfeige. Es war die erste und letzte, die ich von meinem Vater erhielt. Der nächste Tag sah mich auf der Landstraße, die mich durch Deutschland, durch Österreich und Ungarn und zurück über Deutschland bis nach Rotterdam führen sollte, wo ich auf einem Schiff Arbeit fand. Die Schiffe sollten weiterhin meine Hei3 mat bleiben.

Als er die Schule verließ, konnte Plievier nicht orthographisch korrekt schreiben. Aber er führte ein Tagebuch, von dem Teile erhalten sind,4 und er las viel. Seine 1

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Es handelt sich um eine veränderte und aktualisierte Fassung meines Beitrags: Parteiliteratur oder Linksradikalismus? Untersuchungen zu Quellen und Rezeption von Theodor Plieviers „Des Kaisers Kulis“, in: Revue d’Allemagne 7/1975, 351–378. Theodor Plievier, Aus meinem Leben, in: Die literarische Welt 6/51–52, 19.12.1930, 11–12, hier 11. Theodor Plievier, Mein Weg, in: Ders., Haifische, Wien u.a. 1953, 305–319, hier 308. Vgl. Theodor Plievier, Tage-Buch. 1908–1909, Erstausgabe und Kommentar von March Schweyer, in: Recherches Germaniques 4/1974, 191–215. Der Nachlass Theodor Plieviers befindet sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach (Neckar).

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Eltern besaßen keine Bücher, er ging in öffentliche Bibliotheken. Im Elternhaus war er der Außenseiter; er lehnte sich gegen den Vater auf, er malte, schrieb kleine Erzählungen und träumte davon, ein bedeutender Schriftsteller zu werden. 1909 veröffentlichte er seine erste Erzählung in der anarchistischen Zeitung „Der freie Arbeiter“.5 Wie sein Vater, der selbständig gewesen war, fand auch Plievier keinen Zugang zur organisierten Arbeiterbewegung, aber der Widerspruch zwischen der christlichen Lehre und der unchristlichen Gesellschaft hatte, wie er festhielt, „einen ersten starken und rebellierenden Einfluss auf mich ausgeübt.“ Über seine Leseerfahrungen als Heranwachsender schrieb er später: Bis dahin hatte ich der Reihe nach Indianerschmöker, Karl May, Maxim Gorki, Seeabenteuer, Reisebeschreibungen und ein paar Bände Weltgeschichte gelesen. Als ich von Zuhause weglief, war ich bei Friedrich Nietzsche Also sprach Zarathustra angelangt. Ich schlief auf Bodentreppen, im Asyl oder wo es gerade ging. Tagsüber saß ich in der Lesehalle der damaligen Königlichen Bibliothek, fraß alles mögliche Bücherzeug in mich hinein und versuchte mich 6 am Schreiben eines – Christusdramas.

Nach dem Verlassen des Elternhauses wanderte Plievier durch Brandenburg, Sachsen, Bayern, Österreich und Ungarn, kehrte kurz nach Berlin zurück und machte sich, diesmal mit der Einwilligung der Eltern, erneut auf den Weg. Der Siebzehnjährige schlug sich nach Rotterdam durch; seine Laufbahn bei der Handelsmarine begann er als blinder Passagier. Ich fuhr zur See bis zum Ersten Weltkrieg, und dann war der Unterschied nur der, daß ich von einem Handelsschiff auf ein Kriegsschiff umsteigen und vier Jahre Krieg in der Kaiserlichen Marine mitmachen mußte. Es gab in dieser Periode allerdings auch Aufenthalte an Land, so einen längeren an der Westküste Amerikas. Zwischen Pisagua und Iquique zog ich auf den Fischfang und betrieb damit nur dasselbe, was die Namensvettern am Pas de Calais seit Generationen betrieben. Für mich war es indessen nur ein Intermezzo neben anderen. Was ich auch angriff, ob ich Fische fing, ob ich Eisenbahnbrücken anstrich, Sekretär beim deutschen Vizekonsul in Pisagua war, Koch in einer Kupfermine, Viehtreiber, Barmixer oder Goldwäscher, alles blieb Episode, war Durchgang. Wohin der Kompaß meines Lebens zeigte, hätte ich 7 nicht angeben können.

Nicht er selbst, sondern die deutsche Polizei setzte Plieviers Abenteuerleben ein Ende. Als das Schiff, auf dem er angeheuert hatte, Anfang 1914 im Hamburger Hafen festmachte, wurde er als „auf Grund des Paragraphen 78 der Wehrordnung zwangsweise aufgebrachtes Menschenmaterial“8 verhaftet und zur Grundausbildung in die Kaiserliche Marine gesteckt. Über die Kriegszeit berichtete Plievier nur sehr kurz: Den Krieg machte ich in der deutschen Flotte mit. Unter anderem auf dem Hilfskreuzer „Wolf“, der mit 3 000 000 Tonnen einen Rekord an Schiffsversenkungen erreichte, der vor

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Vgl. Theodor Plievier, Proletariers Ende, in: Der freie Arbeiter 6/6, 6.2.1909, Beiblatt. Plievier, Leben, 11. Plievier, Weg, 308–309. Theodor Plievier, Des Kaisers Kulis, Berlin 18.–40. Tausend 1930, 27.

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Kapstadt, Kolombo, Bombay, Singapore und Australien Minen legte und dabei die längste 9 Seereise überhaupt, nämlich eine Fahrt von 444 Tagen zurücklegte.

Der WOLF war ein von einem Frachter zu einem Hilfskreuzer und Minenleger umgerüstetes Handelsschiff, das einst auf den Namen WACHTFELS getauft worden war; seine Besatzung betrug 346 Matrosen und Offiziere, ihr Kapitän war Fregattenkapitän Karl August Nerger. Der Hilfskreuzer nahm bei den Prisen Gefangene an Bord, deren Zahl die der Mannschaft gelegentlich überschritt. Das Besondere, was die WOLF vor anderen Hilfskreuzern auszeichnete, war ein kleines Wasserflugzeug, das zu Rekognoszierungszwecken benutzt wurde. Es trug den Namen WÖLFCHEN und war ein Albatros-Doppeldecker, der vor jedem Einsatz zusammengesetzt und anschließend demontiert werden musste. Über die Fahrt und die Prisen- und Versenkungserfolge des Hilfskreuzers entstand bald nach Kriegsende eine meist verklärende Erinnerungsliteratur,10 von der sich Plieviers Darstellung in „Des Kaisers Kulis“ in kritischer Absicht und literarischer Qualität deutlich abhebt. Plievier lernte während des Krieges eine Reihe von Anarchisten kennen, mit denen er über Nietzsche und Stirner diskutierte. Im November 1918 nahm er aktiv, aber nur sehr kurz am Matrosenaufstand in Wilhelmshaven teil; er hatte Differenzen mit dem Matrosenrat und zog sich ins württembergische Urach zurück. Das idyllische Städtchen am Fuße der Schwäbischen Alb war seit der Jahrhundertwende zu einem Zentrum lebensreformerischer Sekten und einer intellektuellen Bohème geworden, der zeitweise Schriftsteller wie Erich Mühsam, Friedrich Wolf und Johannes R. Becher angehörten. In Urach gründete Plievier den „Verlag der Zwölf“, in dem er Flugschriften und Broschüren unter Titeln wie „Anarchie“, „Weltwende“ und Ähnliches publizierte, aus denen hervorging, dass er sich nicht für praktische politische Veränderungen interessierte, sondern für eine idealistische „Revolution des Geistes“. Was er darunter verstand, formulierte er anlässlich eines anarchistischen Kongresses einmal so: Wenn wir glauben, daß bessere wirtschaftliche Verhältnisse, also äußere Mittel, eine herrschaftslose Gesellschaft herbeiführen werden, dann irren wir uns. Hat sich der Mensch nicht 11 innerlich gewandelt, so wird er auch die Erde nicht wandeln.

Dass derartige Lehren für die organisierte Arbeiterbewegung kaum eine Bedeutung hatten, ist leicht zu ermessen; eine umso größere Bedeutung besaßen sie für Plievier. Der war nicht nur allein entschiedener Gegner des Kapitalismus, sondern auch des Kommunismus, den er lediglich als eine Übergangserscheinung, nicht aber als Ziel revolutionärer Veränderung gelten lassen wollte.

9 Plievier, Leben, 12. 10 Zur Geschichte des Hilfskreuzers WOLF und der vielsprachigen Memoirenliteratur über sie, die auch von den Kriegsgefangenen auf dem Schiff verfasst wurde, vgl. jetzt die umfassende quellengestützte Untersuchung von Richard Guillatt/Peter Hohne, The Wolf, London u.a. 2009. 11 Vgl. den Diskussionsbericht, der Plieviers Stellungnahme wiedergibt, in: Der freie Arbeiter. Publikationsorgan der Föderation Kommunistischer Anarchisten Deutschlands 16/23.

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Ende 1920 wurde Plievier der Wirkungskreis in Urach zu eng, er zog nach Berlin um, wo er sich bald als Volksredner, Publizist und wiederum als Verleger von Flugschriften betätigte, die er mit einer Reihe anderer Anarchisten verfasste, von expressionistischen Malern illustrieren und von arbeitslosen Jugendlichen verteilen ließ.12 Dem Flugschriftenversand waren ein Buchhandel und eine Teestube angegliedert, die zu einem anarchistischen Treffpunkt wurde. 1953 schrieb er selbstkritisch über diese Zeit: Einen gangbaren Weg in eine neue Ordnung konnte ich – einmal abgesehen von allgemeinen Beschwörungen zur Menschlichkeit und zu ethischem und gesellschaftlichem Verhalten und abgesehen von einer optimistischen Lebensbejahung – ebenso wenig aufzeigen wie die dut13 zendweise auftretenden Wanderprediger und falschen Propheten jener Tage (...).

Mit der Stabilisierung der Weimarer Republik begann die Rolle des Fundamentalrevolutionärs obsolet zu werden. 1925 gab Plievier Flugschriftenverlag, Buchversand und die anarchistische Teestube auf. Er selbst vertauschte, wie sein Mitarbeiter und späterer Biograph Harry Schulze-Wilde nicht ohne Ironie anmerkte, „die Kutte des Propheten“ mit dem „Anzug des Durchschnittsbürgers“.14 Auf der Suche nach einer Einkommensmöglichkeit besann er sich auf seine schriftstellerischen Talente. Von 1925 bis 1927 schrieb er für eine Reihe bürgerlicher Zeitschriften spannende exotische Erzählungen, die seine Abenteurer- und Vagabundenexistenz der Vorkriegszeit zum Gegenstand hatten.15 Um 1927 teilte er seinem Freund Schulze-Wilde mit, er wolle „in Zukunft sein Brot ausschließlich als Schriftsteller verdienen.“ Den Anfang seiner schriftstellerischen Karriere sollte ein Roman bilden, über dessen Entstehungsgeschichte er 1930 dem Berliner Tageblatt berichtete: Nachdem ich im November 1918 von den ‚grauen Schiffen‘ der S.M.-Flotte herunter war, habe ich nicht daran gedacht, ein dokumentarisches Epos und den Roman der deutschen Flotte zu schreiben. Am liebsten hätte ich alles vergessen – das Leben auf den Decks und in den Kasematten der Kriegsschiffe, den Drill und die ganze Sinnlosigkeit des vier Jahre langen Unternehmens. Noch vor drei Jahren [1927], als ich den Plan zu meinem Roman Des Kaisers Kulis faßte, dachte ich zunächst nur daran, eine Episode aus meinem Kriegserleben, die 444 Tage lange Kaperfahrt des Hilfskreuzers ‚Wolf‘ zu erzählen. Doch mit diesem Stoff kam auch alles andere, so lange Unterdrückte wieder. Ich stand wieder ‚mittendrin‘, nur diesmal mit dem Abstand und von dem Standpunkt der dazwischen liegenden Zeit aus und mit der Möglichkeit, den Zusammenhängen nachzuprüfen. Und was für Zusammenhänge und Hintergründe sah ich. Eine vom Großen Hauptquartier dirigierte und gebundene Flottenleitung, die viel zu schwache und veraltete Schiffstypen ohne Rückendeckung in den sicheren Untergang hinausschickte und die großen Schlachteinheiten im Hafen zurückbehielt. Sinnlose, mit schweren Opfern verbundene Paradefahrten aus Prestigegründen und ‚weil die Flotte doch schließlich auch was tun‘ muß. Dem Gegner unterlegene Schiffstypen und zu kurz lafettierte 12 Diese Flugschriften wurden, soweit sie erhalten sind, 1983 in einer anspruchsvollen Reproduktion wieder aufgelegt. Vgl. Theodor Plievier (Hg.), Ich bin der Weg. Revolutionäre Flugschriften 1922–1925, Schlitz 1983. 13 Plievier, Weg, 313. 14 Harry Wilde, Theodor Plievier. Nullpunkt der Freiheit, München u.a. 1965, 155–156. 15 Die meisten dieser Erzählungen sind gesammelt in: Theodor Plievier, Zwölf Mann und ein Kapitän, Leipzig u.a. 1930.

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Artillerie, weil die Ingenieure und Fachleute nicht angehört wurden und der privilegierten Schicht der Seeoffiziere untergeordnet waren. Eine mehrmals wechselnde und unfähige Flottenleitung: Überall Prestigegründe und enge persönliche Interessen, die schwere Opfer auf den Mannschaftsdecks forderten. Dann das Jahr 1917: die Schiffsbesatzungen, schwer arbeitende Matrosen und Heizer, die nur durch dünne Eisenschotts von den Offiziersmessen getrennt wohnten, hatten den Kohlrübenwinter hinter sich. Hungerstreiks, Marmeladen- und Seifendemonstrationen standen an der Tagesordnung. Angeregt durch die Friedensdebatten im Reichstag und in der Presse, bildete sich unter den Schiffsmannschaften eine Bewegung, und es fanden sich 5 000 Mann, die sich durch Unterschriften für einen annektionslosen Frieden erklärten. Die Antwort der Admiralität waren 180 Jahre Zuchthaus und zwei Todesurtei16 le.

Den Ausschlag dafür, dass er nicht nur die Fahrt des Hilfskreuzers WOLF aus eigenem Erleben, sondern den „Roman der deutschen Flotte“ schreiben wollte, soll nach dem Zeugnis von Schulze-Wilde Plieviers Lektüre von Remarques „Im Westen nichts Neues“ gegeben haben. Für einen solchen „Roman der deutschen Flotte“ bildeten Plieviers eigene Kriegserlebnisse eine zu schmale Grundlage, denn er hatte weder an der Skagerrak-Schlacht teilgenommen, deren Darstellung ein Kernstück des Romans bilden sollte, noch an der Matrosenrevolte von 1917. 1928 machte Plievier seinen Freund Harry Schulze-Wilde zu seinem Mitarbeiter und beauftragte ihn, alles erdenkliche Material über die Hochseeflotte aus der Preußischen Staatsbibliothek zu entleihen und mit ihm durchzugehen. Diese neue dokumentarische Arbeitsmethode verdankte Plievier den sozialkritischen Romanen Upton Sinclairs und John Dos Passos’, für die er in seinen Flugschriften selbst geworben hatte; sie war in der Stilrichtung der Neuen Sachlichkeit populär und wurde nicht nur für „Des Kaisers Kulis“, sondern auch für Plieviers spätere Romane wie „Stalingrad“ bestimmend. Einen ersten Eindruck von der Konzeption des Romans „Des Kaisers Kulis“ vermittelt schon die Einteilung in Kapitel, die hier nach der zweiten – und später immer wieder nachgedruckten, vom Autor autorisierten – Auflage wiedergegeben wird, die gegenüber der ersten um das Kapitel „S.M.“ erweitert worden war: 1. Shanghaied! 33 S. 2. Das nasse Dreieck 23 S. 3. Kulis 23 S. 4. Leichen 23 S. 5. „S.M.“ 9 S. 6. Springflut 37 S. 7. Himmelfahrtsdampfer 49 S. 8. Skagerrak 30 S. 9. Das Ende 86 S. Aus der Kapitelgliederung ist bereits zu ersehen, dass Plievier noch erhebliche Schwierigkeiten mit der Gestaltung des Stoffes hatte, der zum einen Teil vorwiegend nach gedruckten Quellen erzählt ist und zum anderen Teil Selbsterlebtes schildert. Die Kapitel 1 bis 8 umfassen den Zeitraum von Mitte 1914 bis Mitte

16 Theodor Plievier, „Des Kaisers Kulis“, in: Berliner Tageblatt, 25.8.1930.

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1916, das letzte Kapitel allein den gesamten Zeitraum von Mitte 1916 bis November 1918. Das erste Kapitel stellt die Protagonisten des Romans vor, unter ihnen Jan Geulen, der einige biographische Züge Plieviers trägt, und Alwin Köbis, den eigentlichen Helden des Romans, der Köbis und Reichpietsch gewidmet ist. Die Matrosen sind weder für nationalistische Parolen noch für die Idee der Vaterlandsverteidigung zu begeistern, aber sie ertragen gehorsam den Drill der militärischen Ausbildung. Die Kapitel 2 bis 4 zeigen, aufgrund welcher Ereignisse die Mannschaften das Vertrauen zur Flottenleitung und zum Seeoffizierskorps verlieren. Das zweite Kapitel stellt dar, wie bei dem Gefecht vor Helgoland (28. August 1914) vier deutsche Kreuzer und Torpedoboote von englischer Seite vernichtet werden, ohne dass die deutsche Hauptflotte einen Befehl zu ihrer Unterstützung erhalten hätte. Das Kapitel 3 schildert, wie der Panzerkreuzer BLÜCHER auf dem Rückweg von einem Vorstoß zur englischen Küste (16. Dezember 1914) wegen seines zu geringen Tempos von seinem Flottenverband zurückgelassen werden musste und den englischen Verfolgern mit Glück nur wegen schlechter Sicht entkam. Im vierten Kapitel müssen die Matrosen Gräber für die Opfer der Schlacht an der Doggerbank (24. Januar 1915) ausheben, bei der die BLÜCHER tatsächlich versenkt wurde und mehrere andere Schiffe schwere Beschädigungen und hohe Mannschaftsverluste erlitten. Unter den Matrosen, von denen einige diese Vorgänge sorgfältig registrieren, finden daraufhin die ersten spontanen Zusammenkünfte statt, bei denen die Anwesenden zu dem Ergebnis kommen: „Unsere Schiffe sind schlecht, die Maschinen zu langsam, die Artillerie nicht weittragend genug, die Leitung beschissen.“17 Man beschränkt sich aber darauf, diese Einsicht möglichst weit zu verbreiten. Die Ursachen des Vertrauensverlusts der Mannschaften in die Flottenleitung gab Plievier in den erwähnten Kapiteln in enger Anlehnung an das „Gutachten des Sachverständigen Marinesekretär a. D. Alboldt“ über „Die Ursachen des Zusammenbruchs im Jahre 1918“ wieder, das Alboldt dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Reichstags zur Erforschung der „Ursachen des deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918“18 im Juni 1926 vorlegte. Die Gruppe der nächsten drei Kapitel, Kapitel 5 bis 7, schildert die Ursachen für die wachsende Empörung und Radikalisierung unter den Mannschaften, die sich erstmals in verschiedenen Formen individuellen und kollektiven Protests äußert. Das Kapitel „S.M.“ schildert in starkem Kontrast zum vorhergehenden Kapitel „Leichen“ das Gelage, das in einem Offizierskasino anlässlich des Kaiserbesuchs in Wilhelmshaven stattfindet; die Kapitel „Springflut“ und „Himmelfahrtsdampfer“ den monotonen Drill, die schlechte Behandlung der an Land liegenden Mannschaften durch die Offiziere und das sprunghafte Anwachsen der spontanen Empörung, die sich in Arbeitsverschleppung, Arbeitsverweigerung, massenhaften

17 Plievier, Kulis, 112. 18 Vgl. dazu die genaueren Angaben in dem in Anmerkung 1 angegebenen Aufsatz.

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Insubordinationen und ersten Sabotageakten manifestieren. Immer häufiger werden aufsässige Marineeinheiten zur Infanterie nach Flandern versetzt. Für die Schilderung der Skagerrak-Schlacht im achten Kapitel hat Plievier nach dem Zeugnis von Schulze-Wilde am meisten Sorgfalt und Ehrgeiz verwendet. Sie im Einzelnen zu untersuchen, sollte einem kompetenten Marinehistoriker vorbehalten bleiben; Jörg Hillmann nennt Plieviers Schilderung in seinem Überblick über „Die Seeschlacht vor dem Skagerrak in deutscher Erinnerung“ immerhin „eindrucksvoll“.19 Das neunte Kapitel setzt mit einem überraschenden Aufschrei eines hier erstmals auftretenden Ich-Erzählers ein: „Hier ist kein Roman. Hier ist ein Dokument! Und dann: ich bin doch auch dabei gewesen.“20 Die Wahrheitsbeteuerung ändert selbstverständlich nichts daran, dass hier ein Roman vorliegt, und sei es ein dokumentarischer. Der Aufschrei markiert den Übergang von dem meist nach Quellen gearbeiteten zu dem nach eigenem Erleben wiedergegebenen Teil des Romans. Das neunte Kapitel enthält die Schilderung der 444 Tage dauernden (30. November 1916 bis 17. Februar 1918) Kaperfahrt des Hilfskreuzers WOLF. Eingelassen in diese Schilderung findet sich bei Plievier die Darstellung der – von ihm nicht miterlebten – Matrosenrevolte von 1917, und angehängt hat er eine knappe Skizze des Matrosenaufstands in Kiel von 1918. Die Vorgänge der Matrosenrevolte und den Verlauf der Marinegerichtsprozesse bis zur Vollstreckung der gegen Köbis und Reichpietsch verhängten Todesurteile schildert Plievier in enger Anlehnung an den Bericht von Hans Beckers „Wie ich zum Tode verurteilt wurde. Die Marinetragödie von 1917“, der 1928 mit einer Vorrede von Kurt Tucholsky erschien.21 Beckers, der sich vor dem Untersuchungsausschuss des Reichstags als „Individualanarchist“ bezeichnete, war 1917 als führender Kopf der Revolte auf der PRINZREGENT LUITPOLD zum Tode verurteilt, später jedoch begnadigt worden. In Abweichung von seiner Quelle schildert Plievier die Matrosenrevolte als einen gänzlich unorganisierten Akt spontaner Übereinkunft der Matrosen und Heizer. Er leugnet im Gegensatz zu Beckers und anderen Quellen, dass es Verbindungen zwischen der Mannschaftsbewegung und Reichstagsabgeordneten der USPD gegeben habe. Während Max Reichpietsch, der Mitglied der USPD gewesen war, im Roman gar keine Erwähnung findet, macht Plievier Alwin Köbis zum eigentlichen Kopf der Revolte und stilisiert ihn zu einem von Stirner und Nietzsche geprägten überzeugten Individualanarchisten; eine solche Charakterisierung entspricht eher Plieviers anarchistischem Wunschdenken als dass sie eine eindeutige Stütze in den Quellen gefunden hätte. Auch die Stilisierung Köbis zum Märtyrer, der freiwillig für die Sache der Matrosen

19 Jörg Hillmann, Die Seeschlacht vor dem Skagerrak in deutscher Erinnerung, in: Michael Epkenhans/Jörg Hillmann/Frank Nägler (Hgg.), Skagerrakschlacht. Vorgeschichte – Ereignis – Verarbeitung, München 2009, 309–351, hier 336. 20 Plievier, Kulis, 238. 21 Hans Beckers, Wie ich zum Tode verurteilt wurde. Die Marinetragödie im Sommer 1917. Mit einer Vorrede von Ignaz Wrobel (d. i. Kurt Tucholsky), Leipzig 1928.

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sterben wollte, findet keinen Anhalt in den Quellen und dürfte auf Plieviers individualanarchistische Orientierung zurückzuführen sein. Mit dem amtlichen Vermerk über die Vollstreckung der Todesurteile an Köbis und Reichpietsch22 beendet Plievier den Einschub über die Matrosenrevolte und die Marinegerichtsprozesse von 1917 und setzt den unterbrochenen Erzählstrang mit der Schilderung der Heimkehr des Hilfskreuzers WOLF fort, dessen Mannschaft danach auf ein Minensuchboot kommandiert wird.23 Den Schluss des Romans bildet dann eine außerordentlich knappe Skizze des Marineaufstands in Kiel im Oktober 1918, den Plievier wiederum als spontane, unorganisierte Erhebung der Matrosen und Heizer darstellt, die das Auslaufen der Schiffe erfolgreich verhindern, als sie erfahren, dass die Flottenleitung einen selbstmörderischen Vorstoß gegen die Küste von England plant. Mit seiner anarchistischen Interpretation der Matrosenrevolte von 191724 lag Plievier gleichsam quer zu den Interpretationen, die sich im Verlauf der Weimarer Republik herausgebildet und verfestigt hatten. Die nationalistische Rechte sah in den Matrosenaufständen den eindeutigsten Beweis für die Dolchstoß-These und versuchte, einen Beleg dafür zu konstruieren, dass der Aufruhr in eine innerlich gesunde, nach außen siegreiche Flotte ausschließlich durch die politische Agitation und Organisation der USPD hineingetragen worden sei. Die SPD leugnete weder den seinerzeit ausschlaggebenden Einfluss der USPD auf die Mannschaftsbewegung über die nicht verbotene Parteipresse noch die Beratung einzelner Matrosen durch Reichstagsabgeordnete der USPD in Berlin; sie insistierte aber hartnäckig auf der Versicherung, dass diese Beratungen die legale Tätigkeit eines Abgeordneten nicht überschritten hätten. Die KPD räumte ein, dass die USPD seinerzeit den stärksten politischen Einfluss auf die Mannschaftsbewegung gehabt hätte, sie warf den Sozialdemokraten jedoch vor, dass diese die Sache der aufständischen Matrosen verraten habe, da sie ihnen nicht den revolutionären Weg gewiesen habe. Plieviers Roman hatte ein eigenartiges Schicksal, das freilich auch für das literarische und persönliche Schicksal seines Autors wichtig wurde. 1927 hatte Plievier den Verleger Gustav Kiepenheuer kennengelernt, und der meinte in ihm so etwas wie eine originelle „Kreuzung von Jack London und Upton Sinclair“ entdeckt zu haben. Er förderte ein nicht näher bezeichnetes Romanprojekt Plieviers mit dreihundert Mark im Monat, obwohl er sich, wie Schulze-Wilde berichtet, erheblich eingehender von Plieviers Trinkfestigkeit als von dessen literarischen Fähigkeiten überzeugt hatte. Als „Des Kaisers Kulis“ abgeschlossen war, erklärte Kiepenheuer plötzlich, der Roman passe nicht in sein Verlagsprogramm, er würde Plievier einen anderen Verlag suchen. Noch bevor Kiepenheuer einen Verlag gefunden hatte, erhielt Plievier ein Angebot vom Internationalen Arbeiter 22 Plievier, Kulis, 303. 23 Vgl. ebd. 312. 24 Vgl. dazu die in Anmerkung 1 angegebene Arbeit 364–369 und ausführlich Alexandra M. Stein, The Anarchist Writer and Communist Politics. Conflict and Continuity in the Work of Theodor Plievier (1892–1955), Diss. phil. Oxford 1998, Ch. 2.

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Verlag, einem Parteiunternehmen der KPD. Dessen Leiter, der nachmals unter dem Namen „Kurt Held“ bekannte Kinderbuchautor Kurt Kläber, kannte Plievier aus der linken Jugendbewegung. Plievier, der niemals Mitglied der KPD war und auch dem der Partei nahestehenden „Bund Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller“ (BPRS) nie beitrat, lehnte das Angebot aus prinzipiellen Erwägungen ab. Kurz darauf aber schloss er einen für ihn günstigen Vertrag mit dem zwar kommunistisch orientierten, aber nicht parteieigenen avantgardistischen Malik-Verlag ab, den Wieland Herzfelde leitete. Der Malik-Verlag, der über ausgezeichnete Beziehungen zu Literaturkreisen und zur Presse verfügte, brachte den Roman 1929 sehr erfolgreich heraus – die zweite Auflage (18. bis 40. Tausend) erschien schon 1930. In diesem Jahr machte Plievier aus dem Roman ein Drama, das von Erwin Picator erfolgreich inszeniert wurde. Weshalb Plievier sich 1929 aber nicht gegen den Vorabdruck des Romans in der kommunistischen Roten Fahne sperrte, ist nicht bekannt. Dieser Vorabdruck nämlich brachte Plievier in den Ruf, „Kommunist“ zu sein, ein Ruf, der sich verfestigte, als er nach 1933 schließlich die Sowjetunion als Exil wählte und nach 1945 zunächst in die sowjetisch besetzte Zone ging. Plieviers Bücher wurden nach der Machtübernahme Hitlers verboten, er selbst von der Polizei gesucht. Schon Ende März 1933 musste er Deutschland verlassen, und in die Sowjetunion ging er Anfang 1934 nicht, weil sie sein Wahl-Exil war, sondern mangels Alternativen – ergebnislos hatte er sich in Frankreich, der Tschechoslowakei und Schweden um ein Exil bemüht. Dass er den Säuberungen in der Sowjetunion entging, hatte er mit großer Wahrscheinlichkeit dem Umstand zu verdanken, dass er kein Kommunist war. Die Literaturkritik der Weimarer Republik aber rezipierte Plieviers „Des Kaisers Kulis“ nicht als kommunistischen Roman. Stellvertretend für viele Einschätzungen mag hier die aus der Literarischen Welt zitiert werden, in der Hans Flesch den Roman als „Remarque der Flotte“ und als „Potemkin der Epik“ bezeichnete und schrieb: „Kunst als Waffe? Zeittendenz? Kommunismus? Plieviers Buch ist wahr. (...). Das ist mehr als erlebt, meinen Herren von der richtigen und falschen Tendenz! Das ist mehr als Reportage und ‚Werk‘. Das bleibt.“25

25 Hans Flesch, Des Kaisers Kulis, in: Die literarische Welt 5/51–52, 11.

GRAF LUCKNER UND FRITZ OTTO BUSCH Zwei Marineoffiziere zwischen Seemannsgarn und Propaganda Kathrin Orth

Die Bücher von Felix Graf von Luckner und Fritz Otto Busch haben über Jahrzehnte das Bild des Seekrieges 1914–18 mit geprägt. Sie gehörten lange Zeit zu den Bestsellern im Seefahrts- und Jugendbuch-Bereich. Es ging um Schlachten und Schiffen, um Seeleute und Abenteuer, um Mut und Patriotismus. Jenseits dieser Schlagworte beschäftigt sich der folgende Aufsatz mit der Frage, welches Bild Luckner und Busch vom Ersten Weltkrieg auf See zeichneten. Wie charakterisierten sie die deutschen Seestreitkräfte und ihren Einsatz? Auf der anderen Seite richtet sich der Blick auf die Autoren selbst. Was machte ihren Erfolg aus? Wie präsentierten sie sich und ihre Werke der Öffentlichkeit? Felix Graf von Luckner wurde am 9. Juni 1881 in Dresden geboren. Mit 13 Jahren lief er von zuhause weg, um zur See zu fahren. Er heuerte auf verschiedenen Schiffen der Handelsmarine an, erwarb das Steuermanns- und später das Kapitänspatent. 1910 trat er in die Kaiserliche Marine ein und wurde Marineoffizier. Nach verschiedenen Kommandierungen erhielt er im Dezember 1916 das Kommando über den Hilfskreuzer SEEADLER. Das war ein Dreimast-Vollschiff mit nachträglich eingebautem Zwei-Takt-Hilfsdiesel und einer Bewaffnung von zwei 10,5-cm-Kanonen und zwei Maschinengewehren. Auf der acht Monate dauernden Kaperfahrt wurden 15 alliierte Handelsschiffe gekapert. Im Juli 1917 strandete das Schiff auf einem Riff vor der Insel Mopelia. Daraufhin machte sich Luckner mit fünf weiteren Besatzungsmitgliedern in einem Rettungsboot auf den Weg, um ein größeres Schiff zu kapern und damit zurückzukehren. Vier lange Wochen dauerte diese Odyssee. Dann gerieten sie in Kriegsgefangenschaft. Im Juli 1919 kehrte Luckner schließlich nach Deutschland zurück.1 Eine Schilderung dieser Ereignisse erschien unter dem Titel „Seeteufel. Abenteuer aus meinem Leben“ im Mai 1920 erstmals beim Verlag Hase und Köhler in Leipzig. Das Buch entwickelte sich sehr schnell zu einem wahren Bestseller, von dem bis heute mehr als 600.000 Exemplare über den Ladentisch gegangen sind.

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Biographische Angaben aus: Norbert von Frankenstein, „Seeteufel“ Felix Graf Luckner. Wahrheit und Legende, Hamburg 1997; Wilhelm Kosch/Bruno Berger/Carl Ludwig Lang (Hgg.), Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch, Bd. 10, Bern 1986, 361.

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Es wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Allein die amerikanische Ausgabe verkaufte sich mehr als eine Million Mal.2 Das lag zum einen an der unterhaltsamen und kurzweiligen Art, wie das Buch geschrieben ist, zum anderen an der Vermarktung durch Luckner. Er war ein begnadeter und wortgewandter Redner. Auf zahlreichen Vortragsreisen in Deutschland und im Ausland gelang es ihm immer wieder, die Zuhörer mit seinen Geschichten zu fesseln. Das Buch ist kein Tatsachenbericht ist und auch nicht wirklich eine Biografie, auch wenn Luckner in der „Ich“-Form seinen Lebensweg beschreibt. Vielmehr handelt es sich um ein Kompendium von tatsächlichen und erdachten Ereignissen aus seinem Leben. Bereits sehr früh meldeten sich aber Stimmen, die den Wahrheitsgehalt von Luckners Geschichten anzweifelten. Denn mal erzählte Luckner, er habe auf den Knien von Queen Victoria gesessen, ein anderes Mal, gab er an, ein Vetter von Königin Wilhelmine von Holland zu sein. Luckner war ein moderner Münchhausen, ein Geschichtenerzähler. Was bedeutet das aber nun für das Buch „Seeteufel“? Auch hier gibt es zahlreiche Ungereimtheiten. So behauptete Luckner, eine riesige Flutwelle hätte das Segelschiff auf das Riff gedrückt. In Wahrheit hatte das Schiff zu nahe an den Korallenbänken geanktert, der Anker hatte geschliert. Und zu allem Überfluss war auch nur der Hilfsleutnant an Bord zurück gelassen worden, während Luckner und die anderen Offiziere sofort an Land gingen.3 Doch solche Unachtsamkeit, ja Schlamperei zuzugeben, hätte Luckner natürlich in einem schlechten Licht erscheinen lassen. Interessanterweise haben die Mitautoren des Buches Luckners teils frei erfundenen Erzählungen nie öffentlich widersprochen. Denn Luckner hat das Buch „Der Seeteufel“ und weitere, später folgende Publikationen, keineswegs allein geschrieben. Beteiligt waren der Erste und der Navigationsoffizier der SEEADLER, Alfred Kling und Carl Kircheiss, sowie der Universitätsprofessor Kern aus Bonn, der eigentliche Verfasser des Buches.4 Es widersprach auch niemand der Version Luckners, während seiner Kaperfahrten wäre niemand zu Tode gekommen. Nur entspricht das nicht der Wahrheit. Bei dem Angriff auf den britischen Dampfer HORNGARTH wurde ein angehender Schiffsoffizier durch einen Granatsplitter schwer verwundet. Er starb am nächsten Tag.5 Doch weder in Luckners Büchern noch in Reden oder Interviews gibt es nur den geringsten Hinweis auf dieses Opfer. In Kriegszeiten ist ein Toter nicht Ungewöhnliches. Doch hätte dies nicht zu dem Mythos gepasst, den Luckner über sich verbreiten wollte und an dem er bis zu seinem Ende festhielt. Dabei war dieser Mythos von Humanität und Ritterlichkeit sicher ein Grund für die Popularität Luckners und seiner Bücher, insbesondere im Ausland. Dazu gehörte auch die Tatsache, dass die gefangengenommenen Besatzungen der gekaperten Schiffe fair und anständig behandelt wurden. Sie bekamen das gleiche Essen wie die SEEAD2 3 4 5

Frankenstein, Wahrheit und Legende, 149. Frankenstein, Wahrheit und Legende, 79ff. Frankenstein, Wahrheit und Legende, 10, 151. Frankenstein, Wahrheit und Legende, 65ff.

Graf Luckner und Fritz Otto Busch

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LER-Besatzung.

Kapitäne und Offiziere der versenkten Schiffe saßen mit Graf Luckner am selben Tisch. Aber war das der Erste Weltkrieg? Ein ritterlicher Austausch ohne menschliche Opfer? Welches Bild zeichnete Luckner vom Seekrieg 1914–18? „Das war eine Begeisterung für die Marine!“ So lautete der erste Satz im Kapitel „Krieg und Seeschlacht“ zur Mobilmachung am 2. August 1914.6 Und dieser erste Eindruck deckte sich durchaus mit der Stimmung in großen Teilen der Bevölkerung. Doch die glorreichen Schlachten lassen auf sich warten. Luckner lamentierte darüber, dass das Kanonenboot PANTHER, auf dem er als Wachoffizier Dienst tat, nur unwichtige Routineaufgaben erhält. Im November 1914 wechselte er auf das Linienschiff KRONPRINZ. Damit wird, wie er schrieb, „mein heißester Wunsch erfüllt“, nämlich auf ein großes Kriegsschiff zu kommen. In dem 290Seiten umfassenden Buch nimmt die Zeit auf der KRONPRINZ bis zur SkagerrakSchlacht aber nur anderthalb Seiten ein. Er schilderte kurz die Indienststellung des Schiffes, die Ausbildung der Besatzung und den Dienst in der Flotte. Die ganze Zeit war aber überschattet von der ungeduldigen Frage: „Können wir unsere Kolosse nicht gegen den Feind probieren? Nicht sehen, wer es besser kann?“7 Am 30. Mai 1916 kam es dann vor dem Skagerrak zur lang ersehnten Entscheidungsschlacht. Die ausführliche Schilderung erstreckt sich im Buch über 14 Seiten.8 Spannend und lebendig werden die Ereignisse erzählt. Der Autor arbeitete mit der direkten Rede – vor allem wenn Kommandos gegeben werden. Man spürt die Atmosphäre durch Formulierungen wie „die Nordsee brennt und kocht … Über der Trümmerstätte steht unbeweglich eine lange Zeit ein ungeheurer Rauchkegel wie nach dem Ausbruch eines Vulkans“. Gerade war die INDEFATIGABLE in die Luft geflogen. „Mit 50 000 bis 60 000 Kilogramm Stahl in der Minute behämmerte sich Geschwader gegen Geschwader.“ Trotz dieser Superlative vergaß der Autor nicht, auf die Bedeutung jedes einzelnen Besatzungsmitgliedes hinzuweisen. Denn jeder einzelne war ein wichtiges Rädchen im Gesamtgetriebe. Und ein einfacher Heizer oder Matrose bietet eine gute Identifikationsmöglichkeit für den jugendlichen Leser. Erfreut über die höheren Versenkungszahlen der deutschen Seite schloss Luckner mit den Worten: Das ist der Tag vom Skagerrak, da deutscher Seemannsgeist dem großen Gegner solche Wunden geschlagen hat. Wie bedauerten wir, dass dieser Geist und Tirpitz‘ Werk erst nach jahrelanger erzwungener Zurückhaltung der Schiffe sich bestätigen durfte, als es zur Auswirkung solcher Erfolge in weiteren Kämpfen bereits zu spät geworden war.9

Der Rest des Buches, also etwas mehr als die Hälfte ist der Zeit auf dem Hilfskreuzer und der anschließenden Internierung gewidmet. Damit ist klar, wo Luckners Prioritäten lagen. Obwohl er mehr Zeit an Bord der KRONPRINZ verbrachte (nämlich fast zwei Jahre) als an Bord der SEEADLER (bis zum Verlust des Schiffes 6 7 8 9

Felix Graf von Luckner, Seeteufel. Abenteuer aus meinem Leben, Leipzig 1921, 113. Luckner, Seeteufel, 114f. Luckner, Seeteufel, 115–131 (inkl. 2 Seiten mit Fotos). Luckner, Seeteufel, 120, 119, 131.

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war es gut ein Jahr), war der Dienst bei der Schlachtflotte eher eine Randnotiz. Letztlich ging es Luckner auch nicht um eine fundierte Biographie oder Fachabhandlung. Er wollte Geschichten erzählen, ob nun tatsächliche oder erfundene. Und Erlebnisse von Abenteuern in der Südsee, von Kaperfahrten und von der Überlistung eines mächtigen Gegners verkauften sich besser als langweiliger Dienst im Heimathafen. Wie sieht dem gegenüber das Bild des Ersten Weltkrieges aus, das Fritz Otto Busch gezeichnet hat? Wie Luckner war auch Busch ein Bestseller-Autor. Alleine sein Buch „Narvik. Vom Heldenkampf deutscher Zerstörer“ von 1940 erreichte eine Auflagenhöhe von 615.000 Stück. Diese Propagandaschrift über die Besetzung Norwegens und Dänemarks gehörte zu den meistverkauften Kriegsbüchern in der NS-Zeit.10 Begonnen hatte Busch seine Schriftstellerkarriere mit dem Titel „Linienschiffe 1919“.11 Damals war Fritz Otto Busch fast 28 Jahre alt und aktiver Marineoffizier. Er wurde am 30. Dezember 1890 in Köln-Lindenthal als Sohn eines Bankdirektors geboren. 1912 trat er als Offiziersanwärter in die Kaiserliche Marine ein. Während des Ersten Weltkriegs diente er zumeist auf den Linienschiffen BRANDENBURG und OLDENBURG. So erlebte er im August 1915 die Riga-Unternehmung mit, im April 1916 die Beschießung von Yarmouth und im gleichen Jahr zwei Vorstöße zur Aufnahme von Luftschiffen. Als Leutnant zur See nahm er an Bord der OLDENBURG an der Skagerrak-Schlacht teil. Anschließend war er Artillerieoffizier auf dem Kleinen Kreuzer REGENSBURG. In diese Zeit fällt auch ein kurzer Aufenthalt an der Landfront in Flandern im Sommer 1918. Danach diente er auf dem Minenkreuzer BREMSE, auf welchem er auch die Revolution und das Kriegsende erlebte. Nach dem Krieg wurde Busch in die Reichsmarine übernommen und schied 1928 aus dem aktiven Dienst aus.12 Zu diesem Zeitpunkt hat er bereits mehrere Bücher veröffentlicht. Und er wird im „Kürschner“ geführt. Kürschners Deutscher Literatur-Kalender ist ein seit 1879 erscheinendes Verzeichnis der jeweils lebenden Schriftsteller und Schriftstellerinnen deutscher Sprache. Sechs Bücher sind unter seinem Namen gelistet.13 Angesichts seines militärischen Werdeganges überrascht es nicht, dass er sich in seinem ersten Werk mit den Linienschiffen beschäftigte, konnte er hier doch auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Es folgen weitere Werke zum Ersten Weltkrieg und andere Seefahrtsthemen wie „Minen und Menschen“, „U-Bootfahrten“, „Wikinger“, „Kreuzer EMDEN jagt“, „Zwei Jungens bei der Reichsmarine“ – um nur eine kleine Auswahl zu nennen.14 Mitte der 1930er Jahre hatte sich Busch als anerkannter Marineschriftsteller etabliert. So bekam er 1939 von der Reichsstelle für den Unterrichtsfilm den Auf10 Fritz Otto Busch, Narvik. Vom Heldenkampf deutscher Zerstörer, Gütersloh 1940; Christian Adam, Lesen unter Hitler. Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich, Berlin 2010, 323. 11 Fritz Otto Busch, Linienschiffe 1919, Hamburg 1919. 12 Personalakte Fritz Otto Busch, Deutsche Dienststelle (WASt), Berlin. 13 Gerhard Lüdeke (Hg.), Kürschners Deutscher Literatur-Kalender 1926, Berlin/Leipzig 1926. 14 Minen und Menschen, Berlin 1933; U-Bootfahrten, Leipzig 1934; Wikinger, Leipzig 1934; Kreuzer Emden jagt, Leipzig 1935; Zwei Jungens bei der Reichsmarine, Leipzig 1933.

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trag die Beihefte für die Filme „Deutsches U-Boot auf Kaperfahrt – Aufnahmen aus dem Weltkrieg“ und „Landung auf Ösel 1917“ zu schreiben.15 Im Auftrage der „Volksspende NIOBE“ verfasste Busch 1932 die Schrift „NIOBE. Ein deutsches Schicksal“.16 Buschs Schaffen beschränkt sich aber nicht nur auf den Ersten Weltkrieg. Er schrieb, was tagesaktuell war und mit der Marine zu tun hatte. Seien es die neuen Zerstörer oder Narvik, die PRINZ EUGEN im ersten Gefecht. Fritz Otto Busch war ein echter Vielschreiber. Bis 1945 erschienen von ihm mehr als 70 Publikationen.17 Im Hauptberuf war Fritz Otto Busch in dieser Zeit, also in den 1930er und 1940er Jahren, Schriftleiter (also Chefredakteur) der Marine-Blätter „Deutsche Marine-Zeitung“ und „Kriegsmarine“. Doch das Schreiben von Marinebüchern war mehr als ein Hobby oder ein kleiner Zusatzverdienst. Allein im Jahr 1942 konnte Busch ein Jahreseinkommen von über 97 000 Reichsmark allein aus Honoraren verbuchen. Er zählte damit zu den absoluten Top-Verdienern der Branche.18 Buschs Erfolg beruhte aber nicht nur darauf, dass seine Schriften in Zeiten von Aufrüstung und Krieg politisch opportun waren und auf eine interessierte Leserschaft stießen. Es lag auch an seinem Schreibstil. Viele seiner Texte sind eine Mischung aus Reportage, konkreten Fakten und fiktionalen Elemente. Sie lesen sich schnell und sind eingängig geschrieben. Häufig setzt er die direkte Rede ein. Er zieht den Leser ins Geschehen, lässt ihn mitfiebern. So ist der Leser scheinbar unmittelbar dabei, als „U 9“ im September 1914 innerhalb von 75 Minuten drei britische Panzerkreuzer versenkt. Die Alarmklingeln schrillen durchs Boot, alles stürzt durchs Turmluk hinunter, eilt auf die Manöverstationen. „Motoren stoppen, Tauchklappen öffnen“, befiehlt die ruhige Stimme des Kommandanten. Langsam sinkt „U 9“ in die Tiefe. Im Süden wandern Masten über den Horizont, ein Kriegsschiff taucht auf, gleich darauf zu beiden Seiten in 2 Seemeilen Abstand zwei weitere: englische Kreuzer. Ist es die Marschsicherung für ein folgendes Gros? (…) „1. Rohr Achtung!“ Totenstille. „Los!“ „Torpedo ist raus!“ wird von vorne gemeldet, während das Boot auf 15 Meter Tiefe geht. Sekunden atemloser Spannung, dann der Donner der Detonation. Treffer! Das ganze Boot schreit Hurra, während von oben der Kommandant das Sehrohr ausfahren lässt und den Befehl gibt, schnell auf 10 Meter zu gehen. [Dann beginnt der Angriff auf den zweiten Kreuzer.] Der Torpedooffizier, der während des Angriffs neben dem Kommandanten im Turm steht, springt nach vorn und leitet das Nachladen. 5 Meter muss der Reservetorpedo bewegt werden, 15 Fritz Otto Busch, Deutsches U-Boot auf Kaperfahrt. Aufnahmen aus dem Weltkrieg, 1939, Stuttgart/Berlin 1939. 16 NIOBE. Ein deutsches Schicksal, bearb. v. Fritz Otto Busch, im Auftrag der Volksspende NIOBE, Leipzig 1932. 17 Werner Schuder (Hg.), Kürschners Deutscher Literatur-Kalender 1958, Berlin 1958, 98f. 18 Adam, Lesen unter Hitler, 154. Im Vergleich und zum besseren Verständnis sei hier angemerkt, dass das damalige Durchschnittseinkommen eines Arbeiters oder Angestellten etwa 150 bis 200 Reichsmark pro Monat betrug.

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Kathrin Orth und der Platz ist eng. Im Deckoffiziersraum fliegen die wenigen Möbelstücke hart und lieblos durcheinander. Maschinenkommandos wechseln in schneller Folge Zur Gewichtsverschiebung rennt die Besatzung im Boot hin und her. „1. Rohr nachgeladen!“ kommt die Meldung von vorne. „Achtung, Angriff auf den zweiten beginnt! Nicht unterschneiden! nicht herauskommen! Vorsicht!“ warnt der Kommandant. Und wieder: „Bloß nicht `rauskommen! die Kerle halten scharfen Ausguck! Die Geschütze sind besetzt. I. und II. Rohr Achtung! Los!“. [Es folgen weitere Ereignisse. Man hört zwei Detonationen] Am hinteren Tiefenruder, das auf diesem alten Boot noch von Hand umgelegt werden muss, steht Obersteuermann Träbert, außer Atem fragt er nach oben: „Herr Kapitänleutnant, wie lange dauert es noch?“ „Vorläufig schwimmt noch einer! gibt Weddigen ungerührt zur Antwort.19

Das ist der Buschs Stil: direkte Rede, realistische Kommando, lebendige Erzählung. Ihm geht es vor allem um Wirkung. Er will den Leser mitreißen. So ein Kriegseinsatz ist sicher gefährlich, man muss mitunter vorsichtig sein. Doch vor allem ist es aufregend und spannend, und eine selbstverständliche Pflicht gegenüber dem Vaterland. Die Besatzung arbeitet wie eine gut geölte Maschine reibungslos zusammen und der Kommandant hat Nerven wie Stahl, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. In den Weltkriegsbüchern betonte Busch die Kameraderie an Bord – etwas was in den späteren Publikationen, die während der NS-Zeit entstanden, sehr in den Hintergrund rückt. Sein Ziel war es, für die breite Öffentlichkeit, insbesondere für junge Leser zu schreiben. So sagt er es auch in seinem Vorwort zum Buch „Skagerrak“ von 1938. Die bisher erschienen Skagarak-Büchern wären – wie er sagt – „dem Verständnis des Volkes zu wenig entgegenkommen“. Sie würden sich zu sehr auf das Militärisch, den taktischen Verlauf konzentrieren, was letztlich eigentlich nur den Fachmann interessieren würde. Die meisten Leser – vor allem diejenigen, denen der Seekrieg fremd ist – seien vor allem am persönlichen Erlebnis interessiert, an der Stimmung, der kämpferischen Haltung, also dem rein Menschlichen.20 Doch seine Art zu schreiben, beschränkte sich nicht auf diesen einen Stil. Wenn es darum ging, ein Überblicksbuch über die Kaiserliche Marine unter dem Titel „Unter der alten Flagge 1914–1918“ abzuliefern, handelt er die Einzelthemen nüchtern und sachlich ab, arbeitet mit vielen Fotos und Karten. Oder er agiert als Herausgeber, lässt Zeitzeugen zu Wort kommen.21 Dann verfasste er das Vorwort, lieferte die Hintergrundinformationen oder taktische und technische Details. Busch war ein Marine-Dokumentarist seiner Zeit. Auch wenn Busch kein Selbstdarsteller war wie Luckner, war er doch nicht ganz frei von Eitelkeit. Die Rangbezeichnung „Korvettenkapitän der Reserve“ führte er als festen Namenszusatz.22 Und dieser Zusatz ist auf allen Titelblättern seiner Veröffentlichungen zu sehen. 19 Fritz Otto Busch, U-Bootsfahrten, Leipzig 1934. 20 Fritz Otto Busch, Das Volksbuch vom Skagerrak. Augenzeugenberichte deutscher und englischer Mitkämpfer, Berlin 1938, iv–v. 21 Fritz Otto Busch, Unter der alten Flagge 1914–1918, Berlin 1935. 22 Adam, Lesen unter Hitler, 154.

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Busch schrieb Zielgruppen orientiert. So erschienen für die junge Leserschaft eine ganze Reihe von Büchern beim Franz Schneider Verlag in München: zum Beispiel „Die Schlacht am Skagerrak“, „Die EMDEN jagt“ – in altersgerechter Sprache und gespickt mit Helden und spannenden Gefechten.23 Zeitgleich mit dem Ausbau der Kriegsmarine und vor allem im Zweiten Weltkrieg nahm die Propaganda in seinem Werk noch einmal deutlich zu. So verwandelte er auch die „Deutsche Marine-Zeitung“ vom einfachen Informationsblatt des Bundes Deutscher Marine-Vereine zum Sprachrohr des Oberkommandos der Kriegsmarine. Ganz im Sinne der neuen Machthaber – aber bereits vorher aus eigenem Antrieb – preiste er in seinen Büchern die Leistungen der Schiffe und Boote der Kaiserlichen Marine. Aus Buschs Publikationen sprechen Hochachtung und Begeisterung für die Leistungen ihrer Besatzungen. Besonderen Stellenwert nimmt natürlich – aber nicht nur – die SkagerrakSchlacht ein. Zwar konnte die deutsche Flotte einen Achtungssieg erringen, doch sie war zu spät und dann noch zögerlich eingesetzt worden. Nach Ansicht von Busch war die scheinbare Untätigkeit der Flotte verursacht durch die politische Führung, einengende Operationsbefehle und die Gewalt widriger Umstände. Die deutsche Schlachtflotte sei nie ganz von der Vorstellung der Nordseeschlacht und der Nordseeherrschaft weggekommen, kritisierte er. Auch die technischen Möglichkeiten über die Nordsee hinaus zu sehen, waren damals noch begrenzt – außer im U-Bootkrieg.24 Deshalb begrüßte er in späteren Publikationen die neuen, seestrategischen und technischen Ausrichtungen und die Aufrüstung der Kriegsmarine unter den Nationalsozialisten. Der Ton gegenüber dem Hauptfeind England wurde – zunächst respektvoll – wird im Laufe der Jahre immer schärfer. „Der Engländer muss eben, wenn er seine übliche Arroganz zeigt, kräftig aufs Maul geschlagen werden, auf etwas anderes reagieren die Söhne der Insel nicht.“25 Was die menschlichen Opfer des Krieges angeht, so negierte Busch diesen Teil nicht. Doch er beschreibt in seinen Büchern einen eher „sauberen“ Krieg. Der Tod und das Leiden werden weitgehend ausgeblendet. Letztlich waren die Gefallenen für Busch kein Grund, den Krieg an sich in Frage zu stellen. Vielmehr verknüpfte er damit eine Mahnung, die gefallenen Helden zu ehren, ihnen im Kampf nachzueifern. Busch beschäftigte sich auch mit den Matrosenaufständen 1917/1918. Unter dem Pseudonym Peter Cornelissen wird 1931 sein autobiografischer Roman „Kreuzer in roter Flut. Ein Revolutionserlebnis“ veröffentlicht.26 Darin schilderte er die Ereignisse aus der Sicht eines jungen Seeoffiziers an Bord des Minenkreuzers BREMSE – also dem Schiff auf dem er zu dieser Zeit selbst gedient hatte. Die Besatzung war zufrieden mit den Offizieren und dem Leben an Bord – nur ein 23 24 25 26

Fritz Otto Busch, Die Schlacht am Skagerrak, Leipzig 1933. Fritz Otto Busch, Gerhard Ramlow, Macht auf dem Meer, Berlin 1940, 3ff. Busch, Narvik, 332. Peter Cornelissen, Kreuzer in roter Flut. Ein Revolutionserlebnis, Berlin 1931.

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Matrose interessierte sich für das politische Geschehen an Land. Bei dem Rest der Besatzung fand er aber kein offenes Ohr. Andere Protagonisten, zum Beispiel einen Werftarbeiter, ließ Busch die damals kursierende Kriegsmüdigkeit und die Zweifel an einem erfolgreichen Kriegsausgang aussprechen. Doch seine Meinung zu solchen Reden und zu den Meutereien von 1917/18 ist eindeutig: Die schmachvollen Tage des Umsturzes haben einen Schatten über Teile der Flotte geworfen. Mit der Versenkung der Flotte in Scapa Flow sei aber ein großer Teil der Schuld abgewaschen, als man der deutschen Flotte ihr Ehrengrab bereitete, um sie feindlichen Zugriffen zu entziehen, so Busch in seinem Vorwort von „Unsere Marine im Weltkrieg“, erschienen 1934.27 Die Bücher von Luckner und Busch entsprachen dem Zeitgeist und dem politischen Willen in den 1930er und 1940er Jahren. So sahen die Nationalsozialisten Abenteuerliteratur wie Luckners „Seeteufel“ als eine Vorstufe zum Heldenbuch an. Dieses Buch, wie auch „Unsere deutsche Kriegsmarine“ von Busch, standen auf der „Grundliste für Schulbüchereien der Volksschulen“.28 Rudolf Hess, „Stellvertreter des Führers“, sprach in einer Rundfunksendung im Rahmen einer „Aktion für die geistige Erziehung der HJ“ davon, dass gerade Abenteuerbücher „bei jedem gesunden Jungen und Mädchen“ über die reine Unterhaltung hinaus vor allem die Begeisterung für die heldischen Taten wecke. Dabei wurden Bücher von und über Kriegshelden, wie Luckner, U-Bootkommandant Günther Prien und Fliegerasse wie Manfred von Richthofen und Ernst Udet über die Charaktere von Detektiv- und Kriminalromanen gestellt. Die Kinder und Jugendlichen sollten sich nicht für „Detektive mit der unvermeidlichen Pfeife im Mund“, kriminelle Verbrecher, Spielhöllen oder spitzfindigen Vorfälle begeistern. Der Held im Jugendbuch sollte wach, wacker und wehrhaft sein.29 Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten hatte sich Fritz Otto Busch schon frühzeitig in der Politik des NS-Schrifttums engagiert. So wurde er auf Vorschlag des Kampfbundes für deutsche Kultur in den gleichgeschalteten deutschen PEN aufgenommen. Man kann zweifellos sagen, dass Busch das Regime mit seiner literarischen und journalistischen Arbeit mittrug. Hans Hinkel, der damalige Geschäftsführer der Reichskulturkammer, lobte den Marineschriftsteller „als bewährten, zuverlässigen Parteigenossen und als im Sinne unserer Bewegung seit Jahren kämpfenden Schriftleiter.“30 Trotzdem war Busch damals nicht unumstritten. Das mag zum einen am Neid von Berufskollegen auf seinem wirtschaftlichen Erfolg gelegen haben. Man warf ihm in Bezug auf das „Narvik-Buch“ vor, nicht aus eigenem Erleben geschrieben zu haben. Busch war nach dem Kriegsbeginn im September 1939 von der 27 Fritz Otto Busch/Georg Günther Freiherr von Forstner (Hgg.), Unsere Marine im Kriege, Berlin 1934, 6. 28 Der Erlass vom 29. Januar 1937 enthielt im Anhang eine Liste von 120 Büchern mit bibliographischen Angeben und Hinweisen über Schwierigkeiten und Tauglichkeit für junge Leser. Peter Aley, Jugendliteratur im Dritten Reich. Dokumente und Kommentare, Gütersloh 1967, 40–45. 29 Aley, Jugendliteratur, 172f. 30 Adam, Lesen unter Hitler, 155.

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Kriegsmarine reaktiviert worden, wurde aber nach 14 Tagen wieder aus dem aktiven Dienst entlassen.31 Zum anderen störte man sich daran, dass er einen Marinedekan hatte auftreten lassen, der in einem feierlichen Gottesdienst die Einheiten verabschiedete. Es gab noch andere Stellen in dem Buch, um die hinter den Kulissen ein heftiger Streit entbrannte, an dem selbst Martin Bormann, Joseph Goebbels und Admiral Erich Raeder beteiligt waren.32 Die Kontroverse wurde erst durch ein „Führerwort“ beendet. Also wurde das Buch im Herbst 1941 vom Markt genommen.33 Doch auch wenn Busch in einigen Ansichten von der Staatsideologie abwich, so ergriff er doch jede Chance, um Bücher zu verkaufen und Geld zu verdienen. Das kann man auch von Luckner sagen. Im nationalistischen Deutschland passte er sich den politischen Gegebenheiten an, trat jedoch er nicht in die NSDAP ein. Um seine Vortragsreisen zu finanzieren, bot er an, im Ausland für das „neue Deutschland“ Werbung zu machen. Selbst Hitler ließ ihm eine Spende zukommen.34 Auch aus privaten Briefen Luckners aus den 1930er Jahren spricht eine deutlich Begeisterung für das NS-Regime.35 Doch letztlich ging es Luckner immer nur um sich selbst. Er hielt Vorträge über seine Erlebnisse als Kaperkapitän. Werbung für NS-Deutschland oder für die Firmen, die seine Reisen finanziell unterstützt hatten, machte er kaum. Luckner geriet zunehmend in Bedrängnis. Zum einen wegen seiner Mitgliedschaft in einer Freimaurerloge, zum anderen musste er sich 1939 einem Sonderehrengericht stellen. Der Vorwurf lautete auf Missbrauch eines minderjährigen Mädchens. Schließlich wurden Luckners Bücher zeitweise aus deutschen Bibliotheken entfernt und er erhielt ein Vortragsverbot.36 In dem Zusammenhang sei auf ein kleines Detail verwiesen: In dem bereits erwähnten NIOBE-Buch von Fritz Otto Busch findet sich kein Hinweis auf Graf Luckner. Dabei war dieser 1921 der erste Kommandant des Segelschulschiffes gewesen. Vielleicht lag es daran, dass Luckner das Kommando nur sechs Monate inne hatte und in dieser Zeit eher mit seiner zukünftigen Karriere als Selbstdarsteller beschäftigt war. Vielleicht sah Busch in dem „letzten Piraten des Kaisers“ 1932 aber auch einfach kein lohnendes Zugpferd mehr für die Spendenkampagne zum Bau des neuen Segelschulschiffes. Nach Ende des Krieges reiste Luckner wieder durch Deutschland und demonstrierte seine Kraft, indem er Telefonbücher zerriss und Münzen zerdrückte.1953 erhielt er das „große Bundesverdienstkreuz“ – für seinen mutigen Einsatz 31 Busch wurde am 3.9.1939 zur Marinestation der Nordsee kommandiert (Dienststellung „Propaganda) und am 15.9.1939 wieder entlassen. Personalakte Fritz Otto Busch, Deutsche Dienststelle (WASt), Berlin. 32 Adam, Lesen unter Hitler, 156. 33 Vgl. Dietrich Müller, Buchbesprechung im politischen Kontext des Nationalsozialismus. Entwicklungslinien im Rezensionswesen in Deutschland vor und nach 1933, Diss. Universität Mainz 2007, 180f. 34 Wolfgang Seilkopf (Hg.), Felix Graf von Luckner. Aus dem Leben des „Seeteufels“. Briefe und Aufzeichnungen, Halle (Saale) 2000, 85. 35 Seilkopf, Felix Graf von Luckner, 85ff. 36 Frankenstein, Wahrheit und Legende, 217ff.; Seilkopf, Felix Graf von Luckner, 88.

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bei der kampflosen Übergabe der Stadt Halle an die amerikanischen Truppen im April 1945.37 Zu seiner langanhaltenden Popularität auch nach 1945 beurteilte das Deutsche Literatur-Lexikon mit den Worten: „Die zahlreichen Neuauflagen seiner Bücher dokumentieren die Kontinuität wilhelminischer Mentalität bis in die Ära Adenauer.“38 Luckner starb am 13. April 1966 in Malmö, Schweden. Sein Mythos wirkt auch nach seinem Tode weiter: In den 1970er Jahren lief im Fernsehen eine 39teilige, deutsch-französische Fernsehserie „Graf Luckner“. Und in den letzten Jahren entstanden Dokumentationen unter dem Titel „Die Piraten des Kaisers“ und „Felix Graf Luckner – Der Retter von Halle.“39 Selbst Klassik-Radio widmet in seiner Reihe „die wahre Geschichte“ eine Folge dem Schicksal der SEEADLER.40 Fritz Otto Busch setzte nach dem Zweiten Weltkrieg seine Schriftstellertätigkeit fort. Er schrieb Bücher, sowie Aufsätze für die beiden Heftromanserien „SOS – Schicksale deutscher Schiffe“ und „Anker-Hefte. Seefahrt in aller Welt“. Im „Kürschner“ von 1973 sind 25 Nachkriegspublikationen sowie vier Übersetzungen englischer Sachbücher aufgeführt.41 Da war Fritz Otto Busch bereits tot. Er starb am 5. Juli 1971 in Limpsfield/Surrey, England. Seine Popularität zu Lebzeiten und seinen Einfluss auf die deutsche Marine- und Jugendliteratur zeigt nicht zuletzt der umfangreiche Eintrag im „Deutschen Literatur-Lexikon. Das 20. Jahrhundert“.42 Beide Autoren, Felix Graf von Luckner und Fritz Otto Busch, waren Marineoffizieren und haben auf verschiedenen Einheiten der Kaiserlichen Marine gedient und an der Skagerrak-Schlacht teilgenommen. Das hatte Einfluss auf Authentizität und Faktengehalt ihrer Bücher, wie auch auf den Umfang ihres literarischen Werkes. Der eine war eher Märchenerzähler, der andere ein Propagandist. Doch beide prägten auf unterschiedliche Weise das Bild vom Ersten Weltkrieg und von der Kaiserlichen Marine in der deutschen Bevölkerung.

37 Seilkopf, Felix Graf von Luckner, 143ff. 38 Kosch/Berger/Lang (Hgg.), Deutsches Literatur-Lexikon. Bd. 10, 361. 39 „Die Piraten des Kaisers“, Regie: Jürgen Stumpfhaus, 1999; „Felix Graf Luckner – Der Retter von Halle“, Regie: Lew Hohmann, in: Die Geschichte Mitteldeutschlands 10/4, 9.11.2008. 40 Klassik-Radio, Die Wahre Geschichte, 29.8.2012. Kurzfassung: „Das Schiff SEETEUFEL zerschellte an einem Riff vor der Insel Mopelia. Grund dafür war das falsche Kommando des Wachoffiziers. Darauf stand die Todesstrafe! Doch der Kapitän wollte kein Kriegsgericht. Er selbst erzählte, das Schiff sei durch ein Seebeben aufgelaufen und rettete so das Leben des Offiziers. So lautet der Name des berühmten Kapitäns: Felix Graf v. Luckner. 41 Werner Schuder (Hg.), Kürschners Deutscher Literatur-Kalender 1973, Berlin/New York 1974, S. 134f. 42 Konrad Feilchenfeldt (Hg.), Deutsches Literatur-Lexikon. Das 20. Jahrhundert. Biographisches-Bibliographisches Handbuch, Bd. 4, Zürich/München 2003, Spalte 666f.

DIE INSZENIERUNG DER KAISERLICHEN MARINE IN DOKUMENTAR- UND SPIELFILMEN 1916–1935 Unter besonderer Berücksichtigung von „Helden der Untersee“ („Q-Ships“, GB 1928) und „Seas Beneath“ (USA 1931) Gerhard Wiechmann

1. EINLEITUNG Entgegen landläufigen Vorstellungen war der Film bereits vor 1914 sowohl als Unterhaltungs- wie auch als Nachrichtenmedium etabliert, wenn auch in der Regel für „soziale Unterschichten“.1 Frühe Wochenschauen bzw. Aktualitätenfilme französischer Firmen wie Pathé oder Èclair versorgten die Zuschauer z.B. mit kurzen Aufnahmen prominenter Persönlichkeiten, in Deutschland allen voran Kaiser Wilhelm II.2 1914 wurde die Zahl der täglichen Kinobesucher in Deutschland auf 1,5 Mill. geschätzt und man rechnete mit durchschnittlich gut 12 Mill. Zuschauern pro aufgeführtem Film.3 Bereits 1897 hatte Georges Méliès (1861–1938) mit dem gut einminütigen Kurzfilm „Combat Naval en Grèce“ wohl den ersten Seekriegsfilm der Geschichte produziert. Aktueller Hintergrund war der zeitgenössische Griechisch-Türkische Krieg. Der Film bzw. das erhalten gebliebene Fragment besteht aus einer einzigen Einstellung in der Totale. Von dem Deck eines griechischen Kreuzers wird mit einem Geschütz die türkische Küste beschossen, bis es selbst einen Treffer erhält. Das Szenenbild ist reine Theaterdekoration, doch Méliès erzeugte mittels eines beweglichen „Schiffsdecks“ die Illusion von Seegang.4 Sieben Jahre später nutzte die US Navy auf der Weltausstellung in St. Louis 1904 bereits knapp 60 Kurzfilme der Biograph Company mit Szenen aus dem 1

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So berichtete 1911 das Kommando des Kleinen Kreuzers S.M.S. BREMEN anlässlich eines Aufenthalts in Haiti über kinematografische Einrichtungen amerikanischer Kriegsschiffe zur Mannschaftsunterhaltung – von einer Unterhaltung für Offiziere war keine Rede; Bundesarchiv-Militärarchiv (BAMA) Freiburg i. Br., RM 5/5410, Acta betreffend Nachrichten über Haiti von Januar 1907 bis März 1914, S.M.S. BREMEN, Nordatlantik v. 21.8.1911. Herbert Birett, Lichtspiele. Der Kino in Deutschland bis 1914, München 1994, 30. Klaus D. Pohl, Der Kaiser im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Hans Wildeotter/Klaus D. Pohl (Hgg.), Der letzte Kaiser. Wilhelm II. im Exil, Gütersloh/München 1991, 9– 18. Vgl. auch die Dokumentation Majestät brauchen Sonne, Peter Schamoni (Regie), D 1999. Wolfgang Mühl-Benninghaus, Vom Augusterlebnis zur UFA-Gründung. Der deutsche Film im 1. Weltkrieg, Berlin 2004, 176. , Zugriff v. 29.03.2017.

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Marineleben, 1905 wurden in Guantanamo Bay eigens Aufnahmen für NavyWerbefilme gedreht.5 Früh erkannte auch der Deutsche Flottenverein die Propagandamöglichkeiten des neuen Mediums. Ein besonders eindrucksvolles frühes Filmdokument war offenbar der Kurzfilm „S.M.S. SLEIPNER im Sturm“ von 1905, der dem Filmpionier Oskar Meester (1866–1943) zugeschrieben wird und der angeblich noch Jahre später aufgeführt wurde.6 Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts explodierte die Zahl der Lichtspieltheater genannten Kinos. Existierten 1900 in Deutschland zwei – Berlin und Hamburg – waren es 1910 schon knapp 500. 1914 waren allein im Herzogtum Oldenburg 22 Kinobesitzer nachgewiesen; danach besaßen die Städte Oldenburg, Delmenhorst und Nordenham jeweils zwei, Rüstringen (ab 1937 Teil Wilhelmshavens) gar sechs Lichtspieltheater.7 Für 1912 ist selbst für die kleine Hafenstadt Elsfleth an der Unterweser ein regelmäßiger Kinobetrieb im Saal des „Tivoli“ nachweisbar.8 Ein Quantensprung der Filmtechnik war 1914 noch nicht in Sicht: der Tonfilm. Es ist kein Zufall, dass in Deutschland die Überlieferung von Stummfilmen aus der Zeit vor 1930 marginal ist. Erstens war das verwendete Nitrofilmmaterial im Vergleich zum späteren Sicherheitsfilm wenig haltbar, dafür jedoch extrem feuergefährlich, was eine sichere Lagerung und selbst den Transport zu einem Kostenfaktor machte. Weiterhin wurden mit der Einführung des Tonfilms ab ca. 1930 die Stummfilmkopien mehr oder weniger wertlos und ihre Lagerung für Filmverleihfirmen und Kinobesitzer unproduktiv, da sie kaum noch im aktuellen Programm aufgeführt werden konnten und die Lagerung von 35-mm-Filmmaterial erheblichen Raum verschlingt. Hinzu kam, dass die rasante technische Entwicklung schon vor der Einführung des Tonfilms Filme, kaum einige Jahre alt, veralten ließ. Film war, von wenigen Ausnahmen abgesehen, wirtschaftliches Verbrauchsmaterial ohne künstlerischen Anspruch, auch wenn in Deutschland bereits 1908 erste Filmarchive gefordert wurden und kurz vor Ausbruch des Weltkriegs die Idee für ein Reichsfilmarchiv entstand.9 Schon 1913 forderte Direktor Goerke der wissenschaftlichen Gesellschaft „Urania“ in Berlin ein zentrales staatliches Archiv für „Kino-Films“,

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Lawrence Suid, Sailing on the Silver Screen. Hollywood and the U.S. Navy, Annapolis MD 1996, 3. Martin Loiperdinger, Filmpropaganda des Deutschen Flottenvereins, in: Uli Jung/Martin Loiperdinger (Hgg.), Kaiserreich 1895–1918. Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland, Band 1, Stuttgart 2005,121–147, hier 144. SMS SLEIPNER war das Depeschenboot der Kaiserlichen Jacht SMS HOHENZOLLERN und dadurch eines der bekanntesten deutschen Kriegsschiffe, da es die Jacht auch auf Auslandsreisen begleitete. Niedersächsisches Landesarchiv Oldenburg (NLa Ol) 136–3619, Akte betr. die Veranstaltungen kinematographischer Vorführungen (1909–1919), Statistik von 1910 sowie Verzeichnis der Adressen der Kinematographenbesitzer im Herzogtum Oldenburg, o.D. (Februar 1914). Vgl. generell Birett, Lichtspiele, NLa Ol 230–7 Nr. 474, Kino in Elsfleth 1910–1932, diverser Schriftverkehr ab 1912. So in Der Kinematograph Nr. 97, 25.11.1908, zitiert nach Birett, Lichtspiele, LXXVII.

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um diese „vor dem Untergang zu bewahren“.10 Tatsachlich sollten noch gut 20 Jahre vergehen, bis in Deutschland 1935 das Reichsfilmarchiv eingerichtet wurde. Wenn auch Méliés Film von 1897 und die Werbefilme der US Navy und des Deutschen Flottenvereins ein Interesse bzw. Verständnis für die Werbemöglichkeiten des Mediums für Seefahrt und Marine beweisen, ist zu bedenken, dass die Bedingungen auf hoher See der frühen Filmtechnik – und unter Wasser bis heute – enge Grenzen setzten. Die Unbeweglichkeit der Kameras sowie die Empfindlichkeit gegen Staub und Nässe beschränkten Filmaufnahmen von oder auf Schiffen während der Fahrt mehr oder weniger auf „Gutwetteraufnahmen“.11 Insofern sind Filmaufnahmen von Sturmszenen, wie sie offenbar Ende 1916 oder Anfang 1917 auf dem Hilfskreuzer SMS MÖWE im Atlantik gedreht und in dem Dokumentarfilm „Graf Dohna und seine Möwe“ montiert wurden, eine Ausnahme (s.u.).

2. DOKUMENTARFILME 1916/17 Trotz der beschränkten Aufnahmetechniken entstanden im Ersten Weltkrieg Filmdokumentationen mit authentischem Anspruch. Dabei wurden die oben erwähnten Schönwetteraufnahmen verwandt, die in der Regel die Schiffe bei Übungen im Hafen, an der Küste oder auf hoher See zeigten. Für den Weltkrieg 1914– 1918 ist bislang nicht eine einzige Filmaufnahme nachgewiesen, die Gefechte zwischen schwimmenden Einheiten dokumentiert. Ein gutes Beispiel für die bei derartigen Kurzfilmen angewandte Dramaturgie und Aufnahmetechniken sind Produktionen aus der „Marine-Serie“, die im Frühjahr 1917 „Zum verschärften U-Boot-Krieg!“ beworben wurde. Unter dem Titel „Unsere Marine im grossen Weltkrieg“ warb die Berliner Carl Hedinger-Film für acht Kurzfilme, deren Erscheinen vom 23. März bis zum 18. Mai 1917 angekündigt wurde. Bei den Inhaltsangaben handelt es sich offenbar schlicht um die Zwischentitel: – 23. März 1917. Teil 6: 1. Großer Kreuzer12 beim Einlaufen in die Schleuse. – 2. Oeffnen des Schleusentores und Auslaufen eines großen Kreuzers. – 3. Einlaufen eines Torpedobootes. Länge circa 166 Meter (ca. 0.06.00h). – 30. März 1917. Teil 7: 1. Viceadmiral Schmidt13 kommt an Bord. – 2. Viceadmiral Schmidt mit seinem Stabe. – 2. S.M.S. Westphalen14 im Hafen nach der Schlacht am Skagerrak. – 4. Uebungen mit Winkflaggen. – 5. Signalisieren mit Winkflaggen, Flaggen und Scheinwerfern. – 6. Ruderübungen der Mannschaft. – 10 Franz Goerke, Direktor der Urania: Vorschlag zur Einrichtung eines Archiv für Kino-Films, in: Paul Klebinder (Hg.), Der Kaiser im Film, Berlin 1912, 62–68. 11 Birett, Lichtspiele, 56. Kameraschwenks waren allerdings schon um 1912 durchaus nicht unüblich, ließen sich aber in Studios technisch weit einfacher realisieren als bei Außenaufnahmen. 12 Offizielle Bezeichnung der Kaiserlichen Marine für Schlachtkreuzer. 13 Eberhard Schmidt (1863–1946). 14 Linienschiff SMS Westfalen, Bj. 1908, 1920 als Reparationsschiff an England ausgeliefert.

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7. Fliegerabwehr eines großen Kreuzers in Fahrt. – 8. Feuerschiff im Hafen. – 9. Stimmung. Länge circa 266 Meter (ca. 0.09.40h). – 6. April 1917. Teil 8: 1. Viceadmiral Hipper15 mit seinem Stabe. – 2. Großer Kreuzer begibt sich auf Vorposten. – 3. Keulenschwingen.16 – 4. Signalisieren mit Flaggen und Winkflaggen. – 5. Turnübungen von Offizieren und Mannschaften. – 6. Unterhaltungsspiele. – 7. Abendstimmung. Länge circa 202 Meter (ca. 0.07.20h). – (Teil 9 fehlt) – 13. April 1917. Teil 10: 1. U-Boote. – Auslaufen der U-Boote. – 3. Manövrieren eines U-Bootes. – 4. U-Boot kommt Längsseits eines Torpedobootes. Länge circa 140 Meter (ca. 0.05.00h). – 20. April 1917. Teil 11: 1. Hafenbilder. – 2. Großherzog von Oldenburg17 besucht Viceadmiral Scheer.18 – 3. Rundfahrt durch den Hafen. Länge circa 118 Meter (ca. 0.04.20h). – 27. April 1917. Teil 12: 1. Alarm in einem Fort. – 2. Auf dem Kommandoturm. – 3. Herbeischaffen der Munition. – 4. Fliegerabwehr. Länge circa 150 Meter (ca. 0.05.30h). – 4. Mai 1917. Teil 13: 1. Verwundetentransport. – 2. Scheinwerfersignale. – 3. Stimmung. – 4. Auslaufen von Torpedobooten. – 5. Torpedoboote begleiten großen Schlachtkreuzer. – 6. Klarmachen und Laden eines Torpedos. – 7. Torpedoboote verfolgen ein Geschoß. Länge circa 190 Meter (ca. 0.06.57h). – 11. Mai 1917. Teil 14: 1. Das Übernehmen eines Torpedobootes. – 2. Ziel- und Richtübungen der schweren Geschütze auf einem großen Kreuzer in Fahrt. – 3. Stimmung. Länge circa 150 Meter (ca. 0.05.30h). – 18. Mai 1917. Teil 15: Verschiedene Ansichten von Torpedo-Booten. Länge circa 170 Meter (ca. 0.06.13h).19 Die Beschreibung der Aufnahmen lässt auf friedensmäßige Routinemanöver schließen. Auffällig ist, dass in Teil 10 zwar vom Manövrieren eines U-Boots berichtet wird, jedoch nicht von Tauchvorgängen, deren Aufnahme möglicherweise der Geheimhaltung unterlag. Eindeutig ist jedenfalls, warum diese Filme im Frühjahr 1917 auf den Markt kamen: Als propagandistische Unterstützung des uneingeschränkten U-Bootkriegs, der am 1. Februar 1917 erklärt worden war. Offensichtlich wurden Kurzfilme dieser Art während des Krieges en masse produziert.20 Im Hauptkatalog 1920 der Deutschen Lichtspielgesellschaft21 15 16 17 18 19 20

Franz Ritter von Hipper (1863–1932). Heute kaum noch bekannte Gymnastikform mit Holzkeulen. Friedrich August von Oldenburg (1852–1931), seit 1900 Großherzog. Reinhard Scheer (1863–1928), zu diesem Zeitpunkt Chef der Hochseeflotte. Anzeige von Carl Hedinger-Film in: Lichtbild-Bühne 1917/10,1. Vgl. generell Ulrike Oppelt, Film und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Propaganda als Medienrealität im Aktualitäten- und Dokumentarfilm, Stuttgart 2002, sowie Kapitel 8, Frontund Heimatbilder im Ersten Weltkrieg (1914–1918), in: Jung/Loiperdinger (Hgg.), Kaiserreich, 381–486. 21 Die Deutsche Lichtspiel-Gesellschaft war im November 1916 in Berlin gegründet worden. Ziel war die gezielte Filmwerbung für deutsche Kultur, Wirtschaft und den Fremdenverkehr

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„Lichtbildvorträge und Filme, Ausgabe 2, Herbst 1919“, der 128 Seiten sowie Standfotos umfasst, sind unter anderem Seebilder aus Nordwestdeutschland sowie Militär- und Marinefilme gelistet: – „Helgoland“, 320 m (0.11.42h) – „Im Kriegshafen Wilhelmshaven“, 160 m (0.05.31h) – „Bilder von der Hochseeflotte in Wilhelmshaven“, 195 m (0.07.08h) – „Leben und Treiben auf der Wasser-Flugzeugstation Wilhelmshaven“, 150 m (0.05.29h) Militär- und Marinefilme: – „Bilder von der Hochseeflotte in Wilhelmshaven“, 195m (0.07.08h) – „Ein Seegefecht“, 180 m (0.06.35h), Werbetext: – „Die Vorbereitungen zu einem Gefecht, das Klarmachen der Geschütze, das Abschießen weitwirkender Granaten usw. gibt ein lebendiges Bild von dem aufreibenden Dienst unserer blauen Jungen in vergangenen Tagen.22 – „Eine U-Boot-Fahrt“, 240m (0.08.46h) – „Mannschaftsleben an Bord eines Linienschiffes“, 130 m (0.04.45h) – „Bilder aus dem Offiziersleben an Bord eines Kriegsschiffes“, 100m (0.03.39h) – „Alarm an Bord eines kleinen Kreuzers“, 150 m (0.05.29h) – „Marineleben auf See“, 215 m (0.07.51h) – „Das Grab der deutschen Flotte“, 210 m (0.07.41h).23 Diese Aufnahmen wurden offenbar, wie schon Walther Hubatsch in den 1970er Jahren anlässlich seines Editionsprojekts zu Dokumentarfilmquellen zur deutschen Marinegeschichte feststellen musste, oft aus rein kommerziellen Gründen gekürzt und/oder ummontiert, bis sich die Genese des Materials nicht mehr nachvollziehen ließ.24 Eine Ausnahme zu diesen Kurzfilmen, die nur Aufnahmen wiedergaben, die auch im Frieden hätten gedreht werden können, stehen drei deutsche Dokumentarfilme; letzterer mit Spielfilmelementen: 1. „Graf Dohna und seine Möwe“ (1917) 2. „Der magische Gürtel“ (1917) 3. „U-Boote heraus! Mit U-178 gegen den Feind“ (1917) „Graf Dohna“ entstand von November 1916 bis März 1917 im Nord- und Südatlantik auf der zweiten Ausfahrt des Hilfskreuzers S.M.S. MÖWE zur Führung des Handelskriegs. Die erste Ausfahrt vom Dezember 1915 bis März 1916 war bereits literarisch durch seinen Kommandanten, Burggraf und Graf Nikolaus zu

sowohl im In- wie Ausland. Im Verwaltungsrat war u.a. Kapitän z. S. Wilhelm Widenmann vertreten; Mühl-Benninghaus, Augusterlebnis, 182, Anm. 313. 22 NLa Ol 136 Nr. 3624, Akte betr. Die deutsche Lichtspielgesellschaft, Deutsche Lichtspielgesellschaft (Hg.), Lichtbildvorträge und Filme 2/1919, o.O., o.D., 109. Unterstreichung d.d. Verf. 23 Ebd., Hauptkatalog 1920 der Deutschen Lichtspielgesellschaft, „Lichtbildvorträge und Filme, Ausgabe 2, Herbst 1919“, 87–90. 24 Vgl. hierzu den Artikel von Heinrich Walle in diesem Band.

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Dohna-Schlodien (1879–1956) verwertet worden.25 Das Filmmaterial wurde offenbar unmittelbar nach dem Einlaufen des Hilfskreuzers am 22. März 1917 in Kiel montiert. Der Film war mit Unterstützung des am 30. Januar 1917 gegründeten Bild- und Filmamts (BUFA) fertig gestellt worden.26 Die Uraufführung am 2. Mai 1917 fand im Deutschen Opernhaus in Charlottenburg, unter anderem im Beisein der Kronprinzessin Cecilie (zu Mecklenburg, 1886–1954), Generaloberst Alexander von Kluck (1846–1934) und dem Leiter des Bild- und Filmamts (BUFA), Oberstleutnant Wilhelm von Stumm (1869–1935), statt. Zum Beginn der Veranstaltung wurde unter anderem die Ouvertüre zum „Fliegenden Holländer“ gespielt. Doch so sehr sich ein Kritiker auch für den Dokumentcharakter des Werks begeisterte – „… jener Film, der für alle Zeiten Kunde ablegen wird, von den Großtaten, von der Kühnheit unserer Marine …“ – so wenig sah er in ihm einen „Programmfilm“. Wiederholungen und „manches unwichtiges Beiwerk“ wie ein Sportfest hätten „wohl beseitigt“ werden können und die Wirkung des Films erhöht. Trotz der Kritik dankte der Rezensent den beiden „Amateur-Operateuren“, dem 1. Offizier, Kapitänleutnant Wolf, und dem Torpedobootsobermaat Meyersberg, „die da Bilder geschaffen haben, welche in ihrer Treue und Schönheit, wie z.B. diejenigen von einigen Dreimastern und Viermastern fast ergriffen machten.“27 Ursprünglich besaß der Film eine Länge von gut 50 Min.; erhalten geblieben ist in Deutschland lediglich ein Fragment von gut vier Minuten Länge, das Ende der 1970er von Hubatsch analysiert und ediert wurde.28 Nach Jung/MühlBenninghaus befindet sich ein gut 12minütiges Fragment unter dem Titel „Vernietung britse Schepen“ im Filmmuseum Amsterdam.29 Noch im selben Jahr erschien von Hans Brennert ein begleitender Fotoband, der zumindest einen kleinen Einblick von der Qualität der Filmaufnahmen widerspiegelt, da es sich bei den Ab25 Vgl. John Walter, Piraten des Kaisers. Deutsche Handelszerstörer 1914–1918, Stuttgart 1994, 140–154. 26 Zum BUFA vgl. Mühl-Benninghaus, Augusterlebnis, 205ff. 27 Der Möwefilm. Die Festaufführung im „Deutschen Opernhause“, Charlottenburg. Zugleich einige prinzipielle Ausführungen über militärisch-amtliche Films, in: Der Film. Zeitschrift für die Gesamtinteressen der Kinematographie 19/1917, 48 ff. Unterstreichung d.d. Verf. 28 Marine-Offiziers-Vereinigung/Deutsches Marine-Institut (Hgg.), Kaiserliche Marine 1907– 1920. Filmdokumente zur Geschichte der deutschen Marine, Teil I, aus Beständen des Bundesarchivs Koblenz. 3. Hilfskreuzer „Möwe“ und „Wolf“ 1917–1918, o. O. [Bonn] 1980. Das bearbeitete Fragment war laut Hubatsch im Reichsinstitut Film in Wissenschaft und Unterricht 1928 unter dem Titel Seekrieg 1914–1918 zusammengestellt worden. Titel des Fragments „Hilfskreuzer Möwe im Handelskrieg“. 29 Vgl. Unterkapitel 8.9, Ulli Jung/Wolfgang Mühl-Benninghaus, Grenzen deutscher Filmpropaganda im In- und Ausland, in: Jung/Loiperdinger (Hgg.), Kaiserreich, 454–467, hier 460, Anm. 266. Die Autoren schildern allerdings in Unkenntnis der Einsätze des Hilfskreuzers eine absurde Genese der Filmentstehung. Danach sei das Schiff vom Kriegsausbruch im Atlantik überrascht worden und habe dann auf eigene Faust Kaperkrieg geführt; 460. Das niederländische Filmfragment ist abrufbar unter , Zugriff v. 29.03.2017.

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bildungen offenbar um Standbilder des gedrehten Materials handelt, soweit sich dies aus dem Abgleich mit dem Fragment erkennen lässt.30 Nach Mühl-Benninghaus erzielte die Produktion in Deutschland Einnahmen von 171 000 Mark, von denen 13 000 Mark für gehirngeschädigte Soldaten gespendet wurden.31 Ein Film, dessen Bedeutung als Fundus für Film- und Fernsehdokumentationen bis in die Gegenwart nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, ist der im Frühjahr 1917 an Bord von U 35 im Mittelmeer gedrehte Dokumentarfilm „Der magische Gürtel“. Soweit bekannt, ist er vollständig überliefert. Der eigenartige Titel „Der magische Gürtel“ bezieht sich auf die deutsche U-Bootblockade Englands. Eine gekürzte Fassung erschien 1921 unter dem Titel „Auf einer Fernfahrt mit U 35“.32 Der Untergang des britischen Dampfers „Parkgate“ mit explodierenden Kesseln dürfte die am häufigsten zitierte Filmaufnahme der Seekriegsgeschichte sein und fand 1926 sogar ein filmisches Zitat in Rex Ingrams Spielfilm „Mare Nostrum“ (s.u.). In dem amerikanischen Spielfilm „The Sea Ghost“ (1931, R.: William Nigh, Alternativtitel „U 67“) bestehen die ersten zwei Filmminuten ausschließlich aus einer Montage von Aufnahmen aus „Der magische Gürtel“; ein Paradebeispiel für die Ausschlachtung von Dokumentaraufnahmen. Die eigentliche Filmhandlung des Melodrams ist jedoch in der Gegenwart 1931 angesiedelt. Offenbar war der Kommandant von U 35, Kapitänleutnant Lothar von Arnauld de la Perière (1886–1940), gleichzeitig der Regisseur. Der Film wurde Ende der 1990er Jahre vom Film and Video Archive des Imperial War Museum in London zusammen mit dem Bundesarchiv-Filmarchiv (BAFA) als „Der magische Gürtel“ rekonstruiert und liegt inzwischen in einer DVD-Edition vor.33 Ob der Film allerdings ein propagandistischer Erfolg war, ist fraglich. Zwar zeigt er den Handelskrieg nach Prisenordnung und damit eben nicht den uneingeschränkten UBootkrieg – genau das war seine propagandistische Absicht – doch die Abfolge unzähliger Schiffsuntergänge war für das kriegsmüde Publikum wohl eher eine Zumutung denn Attraktion, so hoch auch der dokumentarische Wert der Aufnahmen bis heute ist.34 Bezeichnend ist auch hier, dass diese Produktion in einem von Komödien und Krimis geprägten Programm aufgeführt wurde wie dem „Phantomas“-Film „Am Hochzeitsabend“, einem „Joe Jenkins“-Detektivfilm und dem schwedischen Zei-

30 Hans Brennert, Graf Dohna und seine Möwe. 60 Bilder von der 2. „Möwe“-Fahrt, Nach Film-Aufnahmen von Kapitänleutnant Wolf, I. Offizier S.M.H. Möwe, Berlin 1917. 31 Mühl-Benninghaus, Augusterlebnis, 209, Anm. 442. 32 „Der magische Gürtel“, in: CineGraph – Hamburgisches Centrum für Filmforschung, Hamburg (Hg.), Leinen los! Maritimes Kino in Deutschland und Europa 1912–1957, Hamburg u.a. 2006,110–112. Weitere Fassungen: “The Exploits of a German Submarine U 35”, GB, 488 m = 0.17.50h Lauflänge (Oktober 1919), “The Log of U-35” (04.01.1920 New York), “La croisière de l´U 35” (06.02.1920 Paris). Es existiert auch eine von Prof. Dr. Walter Hubatsch, Universität Bonn, 1980 bearbeitete Fassung. 33 Ebd. 34 Vgl. ausführlich Jung/Mühl-Benninghaus, Grenzen, 462–467.

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chentrickfilm „Kapitän Grogg auf dem Negerball“ aus der populären „Kapitän Grogg“-Serie.35

3. SPIELFILME In Deutschland wurde während des Krieges offenbar nur ein Spielfilm mit Marinebezug produziert: „Stolz weht die Flagge schwarz-weiß-rot“ (1916, R.: Siegfried Dessauer). Die Zensurkarte ist zumindest im Bundesarchiv-Filmarchiv (BAFA) nicht überliefert.36 „Zwei blaue Jungen“ (1917, R.: Alwin Neuss) war trotz seines Titels kein Film über die Kaiserliche Marine, sondern über den Deutschen Schiffsjungen-Schulschiffverein.37 „Hoch klingt das Lied vom U-BootMann“, Untertitel: „Das Heldenleben des Erfinders des U-Boots Wilhelm Bauer“ (1917, R. Karl Matull) war zwar eine Werbung für den U-Bootkrieg, aber eben ein Historienfilm. In diesen Kontext gehört auch die schwedische Produktion „Terje Vigen“ (1917, R.: Victor Sjöström). Der Film spielt während der britischen Kontinentalblockade 1809–1813 in Norwegen und basiert auf der gleichnamigen Ballade des norwegischen Dramatikers Henrik Ibsen (1828–1906). Bei der Aufführung in Deutschland wurde in Anzeigen auf die Analogie zwischen der britischen Nordseeblockade und der hundert Jahre zurück liegenden Kontinentalblockade verwiesen.38 Von 1926 bis 1935 erschienen eine Reihe deutscher und angloamerikanischer Produktionen zum Krieg zur See 1914–1918: – „Die versunkene Flotte“ (Alternativtitel „Die Seeschlacht am Skagerrak“, D 1926, R.: Manfred Noa, britischer Titel „When Fleet meets Fleet – A romance of the great battle of Jutland“) – „Mare Nostrum“ (USA 1926, R.: Rex Ingram) – „Unsere Emden“ (D 1926, R.: Louis Ralph) – „U 9 – Weddigen“ (D 1927, R.: Heinz Paul) 35 Anzeigen des „Apollo“ und „Wall-Licht“, Nachrichten für Stadt und Land (Oldenburg), v. 7. u. 12.12.1917. 36 Am 15. November 1918, also nur wenige Tage nach der Novemberrevolution, erschien in den „Nachrichten“ eine Anzeige für die in Osternburg (heute Stadt Oldenburg) befindlichen Harmonie-Lichtspiele für den Film Stolz weht die Flagge rot!, „… ein großes aktuelles Marinedrama in fünf Akten“. Laut Auskunft des BAFA ist dieser Film nirgendwo nachgewiesen, so dass es sich offenbar um eine konjunkturelle Umtitelung des alten Films handelte. Die nur kurzfristig existierenden Harmonie-Lichtspiele befanden sich in einem stark spartakistisch geprägten Teil Osternburgs, so dass zu vermuten ist, dass durch die Anzeige eine spezifische örtliche Kundschaft angelockt werden sollte. 37 Vgl. Gerhard Wiechmann, „Zwei blaue Jungen“. „Ein echter deutscher Seemannsfilm“ als ungewöhnliches Beispiel für Filmpropaganda im Ersten Weltkrieg, in: Kathrin Orth/Eberhard Kliem (Hgg.), Jahrbuch 2013 der Deutschen Gesellschaft für Schiffahrts- und Marinegeschichte e. V., Oldenburg 2014, 103–119. 38 Werbeanzeige der Nordische Film-Co. zu „Terje Vigen“, in: Lichtbild-Bühne 10/1, 27. Der Film liegt inzwischen in einer restaurierten Fassung auf DVD vor.

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„The Battles of Coronel and Falklands Islands“ (GB 1927, R.: Walter Summers) – „Helden der Untersee“39 („Blockade – die Wahrheit über den U-BootKrieg“/“Q-Ships“, GB 1928, R.: Geoffrey Barkas, Michael Barringer) – „Seas Beneath“ (USA 1931, R.: John Ford) – „Suicide Fleet“ (USA 1931, R.: Albert S. Rogell) – „Kreuzer Emden“ (D 1932, R.: Louis Ralph, Neubearbeitung von „Unsere Emden“) – „Morgenrot“ (D 1933 R.: Gustav Ucicky) – „Heldentum und Todeskampf der Emden“ (D 1934, R.: Louis Ralph, propagandistische Neubearbeitung von „Kreuzer Emden“) – „Brown on Resolution“ (US-Verleihtitel: „Born to Glory“, GB 1935, R.: Walter Forde/Anthony Asquith) „Die versunkene Flotte“ von Manfred Noa war eine deutsche Produktion mit britischer Beteiligung und basierte auf dem gleichnamigen Roman des Kapitänleutnants a.D. Helmut Lorenz, der auch militärischer Berater der Produktion war.40 Die deutsche Fassung gilt als verschollen. Eine englische Fassung, die jedoch nicht völlig identisch mit der deutschen ist, wurde am 1. Oktober 2004 im Zeughaus-Kino Unter den Linden aufgeführt und für den 12. August 2014 erneut angekündigt.41 Jan Kindler, der den Film eingehend analysierte, bezeichnet ihn als Melodram – tatsächlich spielt die Skagerrakschlacht eine völlig marginale Rolle. Der Alternativtitel „Die Seeschlacht beim Skagerrak“ diente offenbar lediglich der Werbung. In dem Werk spielt unter anderem Heinrich George den Obermaat Röwer und Hans Albers den revolutionären Oberheizer Tim Kreuger. Der Film besaß ursprünglich eine Länge von 2876 m (1.45.17h), wurde aber bereits zwei Wochen später nachzensiert und auf 2756 m (1.40.44h) gekürzt.42 Nach einer Rezension der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ vom 14. Dezember 1926 war die Darstellung der Seeschlacht gelungen.43 Die „New York Times“ berichtete anlässlich einer Aufführung 1929 im New Yorker „Cameo Theatre“, –

39 Österreichischer Synchrontitel, vgl. , Zugriff v. 29.03.2017. 40 Helmut Lorenz, Die versunkene Flotte, Berlin 1926. 41 , Zugriff v. 29.03.2017. 42 Bundesarchiv-Filmarchiv BArch R 9346, B. 14140 u. B 14271, Zensurkarten „Die versunkene Flotte“ v. 11.11.1926 bzw. 26.11.1926. 43 Vgl. v. 27.1.2006. Jan Kindler, Die Skagerrakschlacht im deutschen Film, in: Michael Epkenhans/Jörg Hillmann/Frank Nägler (Hgg.), Skagerrakschlacht. Vorgeschichte – Ereignis – Verarbeitung, München 2009, 351– 368, sowie Jan Kindler, Flottenpropaganda, Völkerversöhnung und Heldenverehrung – When Fleet meets Fleet (GB 1928), in: Filmblatt 28/2005, 4–15.

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dass der britische Admiral Sir John Jellicoe in einem Brief die Produktion zumindest teilweise als gelungen beurteilte: „The whole film gives a very fair and unbiased impression of a great naval battle.“44 Im selben Jahr wie „Die versunkene Flotte“ wurde in Deutschland „Unsere Emden“ (1926, R.: Louis Ralph) produziert, der 1932 vertont als „Kreuzer Emden“ und 1934 propagandistisch neu bearbeitet als „Heldentum und Todeskampf der Emden“ zur Aufführung kam.45 Bereits 1927 folgte „U 9 – Weddigen“ (R.: Heinz Paul). Ralph Winkle interpretierte den „Emden“-Film, „U 9“ und den 1933 produzierten „Morgenrot“ (R.: Gustav Ucicky) als Versuche, durch die Thematisierung der Erhabenheit des Meeres ein Gegenbild zu den Schrecken des technifizierten Kriegs zu schaffen.46 Ebenfalls 1926 produzierte Rex Ingram „Mare Nostrum“; ein zwar künstlerisch hoch ambitionierter, jedoch politisch eindeutiger Spielfilm, der aufgrund seiner propagandistischen Aussage auch während des Krieges hätte gedreht werden können. Ingram (1892–1950) hatte bereits 1921 mit „The Four Horsemen of the Apocalypse“ mit Rudolfo Valentino in der Hauptrolle einen Welterfolg produziert. Zu beiden Filmen hatte der republikanische spanische Schriftsteller Vicente Blasco Ibáñez (1867–1928) die literarischen Vorlagen geliefert; „Mare Nostrum“ war 1918 erschienen. Warum Ingram eine noch während des Krieges erschienene literarische Vorlage verfilmte, ist unklar, zumal die Thematik des Films – die spanische Neutralität während des Ersten Weltkriegs – aktuell weder dem amerikanischen oder auch nur dem spanischen Kinopublikum Anknüpfungspunkte bot. Sicher ist, bei welchem filmischen Vorbild sich Ingram bediente bis hin zum Namen des deutschen U-Boots U 35: „Der magische Gürtel“. Held ist der spanische Kapitän Ulysses Farragut, der gegen den Wunsch seines Vaters zur See geht und damit seinem Großvater, einem alten „Seebär“, nacheifert, der ihn in seinem Handeln bestätigt. Der Name musste beim amerikanischen Publikum positive Assoziationen auslösen, da er sich aus dem Vornamen des militärischen Siegers des Amerikanischen Bürgerkriegs, General Ulysses S. Grant, und dem Nachnamen David G. Farraguts zusammensetzt, einem maritimen Bürgerkriegshelden und erstem Admiral der US Navy überhaupt. Der Film ist als Melodram mit mystischen Elementen sowie als Spionagegeschichte angelegt. Farragut verliebt sich bei einem Aufenthalt seines Dampfers MARE NOSTRUM in Neapel im noch neutralen Italien in die attraktive österreichische Spionin Freya Talberg. Er lässt sich ihr zu Liebe dazu überreden, einen 44 Mordaunt Hall in einer Rezension der britischen Fassung, in: New York Times, 19.8.1929. 45 Bereits 1915 wurde in Australien der Dokumentarfilm How We Beat the Emden unter der Regie von Alfred Rolfe produziert. Noch im selben Jahr montierte Charles Cusden aus diesem Material und selbst gedrehten Szenen den Spielfilm How We Fought the Emden. 46 Ralph Winkle, Der Schock und die Ästhetik des Erhabenen. Darstellungsformen des Weltkrieges in Filmen der zwanziger und dreißiger Jahre, in: Bernhard Chiari/Matthias Rogg/Wolfgang Schmidt (Hgg.), Krieg und Militär im Film des 20. Jahrhunderts, München 2003, 319–339, hier 328. 2012 erschien von der Firma Polar eine umfangreich kommentierte DVD-Edition des Films einschließlich verschiedener Montagefassungen.

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Schoner zu navigieren, der von Italien aus das deutsche U-Boot U 35 mit Treibstoff versorgt. Kurz darauf torpediert U 35 ohne Vorwarnung den englischen Dampfer CALIFORNIA. Dabei kommt Farraguts minderjähriger Sohn Esteban ums leben, der sich als Passagier auf dem Dampfer befindet. Farragut schwört Rache und tritt mit der MARE NOSTRUM in französische Dienste. Sein Dampfer erhält ein Heckgeschütz und eine französische Bedienungsmannschaft und soll Munition nach Saloniki transportieren. In einem schweren Sturm wird auch die MARE NOSTRUM von U 35 ohne Vorwarnung torpediert und beginnt zu sinken. Trotzdem gelingt es Farragut im Alleingang, das Geschütz auf das U-Boot abzufeuern, das ebenfalls sinkt. Danach streicht der Tod mit Knochenhänden auf einer Schiefertafel, auf der bereits der Name LUSITANIA durchgestrichen ist, nun auch U 35 durch. „Mare Nostrum“ war mit einem gewissen Aufwand in der Außenrequisite produziert worden; für eine, wenn auch kurze Sequenz, stand ein U-Boot zur Verfügung. Ob dies von der US Navy stammte, ist unklar; jedenfalls wird eine derartige Kooperation bei Suid nicht erwähnt. Besonders auffällig ist die Inszenierung des U-Bootkommandanten, der von dem baltendeutschen Schauspieler Andrews Engelman (1901–1992) gespielt wird. Engelman, der später auch in deutschen Propagandafilmen wie „Carl Peters“ (1941, R. Herbert Selpin) oder „GPU“ (1942, R.: Karl Ritter) auftrat und dabei meist russische oder sowjetische Schurken verkörperte, ist zwar nicht vom physischen Aussehen, aber von der optischen Erscheinung dem U 35-Kommandanten Lothar von Arnauld de la Perière nachgestaltet.47 Engelman trägt einen weißen Wollsweater analog zu Arnauld de la Perière in den meisten Filmsequenzen. Auffällig ist auch die Inszenierung des Untergangs der CALIFORNIA. Sie beginnt über das Heck zu sinken, bis sich der Bug aufrichtet. Nach dem Untergang erfolgt eine große Unterwasserexplosion. Diese Szene erinnert stark an die spektakuläre Aufnahme aus „Der magische Gürtel“ vom Untergang der PARKGATE. Ingram und seine Trickspezialisten dürften hier inspiriert worden sein. Der sadistisch wirkende Engelman mit Glatze und Monokel, sich am Untergang der MARE NOSTRUM berauschend, transportierte ein stereotypes Deutschenbild, das womöglich an Inszenierungen von Propagandafilmen der Kriegszeit anschloss. Dies bedürfte jedoch einer sorgfältigen Analyse, die ohne den Zugang zu diesen offenbar äußerst schwer zugänglichen Filmen unmöglich ist.48 „The Battles of Coronel and Falklands Islands“ ist ein gut 90minütiger Dokumentarspielfilm, in dem offenbar mit beträchtlichem Aufwand unter Verwendung von Einheiten der Royal Navy die Seeschlachten von Coronel und den Falklandinseln von 1914 nachgestellt wurden. Die Aufnahmen fanden im Seegebiet von St. Mary´s, Scilly-Inseln, statt. Am Drehbuch war u.a. John Buchan beteiligt, Autor von Spionageromanen und 1917 als Director of Intelligence im Außenmi47 The Log of U-35, der am 4.1.1920 in New York uraufgeführt wurde. Vgl. „Der magische Gürtel“, in: CineGraph (Hg.), Leinen los!, 110–112. 48 So gilt ausgerechnet The Kaiser, the beast of Berlin, Rupert Julian (Regie), USA 1918 als verschollen, obwohl er seinerzeit ein großer kommerzieller Erfolg war und in zahlreichen Kopien zur Aufführung gelangte; Regisseur Rupert Julian spielte Wilhelm II.

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nisterium zuständig für die Kriegspropaganda. Produziert wurde der Film von British Instruction Films und der Admiralität; angeblich war er eine filmische Antwort auf „Kreuzer Emden“.49 Er soll 1932 vertont unter dem Titel „Deeds Men Do“ neu ediert worden sein.50 Der wohl aufwändigste Spielfilm, der bis zur deutschen Produktion „Morgenrot“ von 1933 über den Seekrieg des Weltkriegs produziert wurde, war das britische Werk „Helden der Untersee“ („Q-Ships“) von 1928, von dem zwei öffentlich zugängliche angloamerikanische Fassungen vorliegen, die teilweise deutlich voneinander abweichen.51 Der Originalfilm besitzt offenbar eine Länge von 78 Minuten; die beiden öffentlich zugänglichen Fassungen jeweils 72 und 40 Minuten. Die deutsche Synchronisation erfolgte 1929 unter dem Titel „Blockade, die Wahrheit über den U-Bootkrieg“; die Aufführung unterblieb jedoch aufgrund der Zensur (s.u.). Offenbar wurde er 1930 in Österreich unter dem Titel „Helden der Untersee“ aufgeführt. „Helden der Untersee“ dürfte zumindest teilweise das dramaturgische Vorbild von „Morgenrot“ gewesen sein. Der Begriff Q-Ship leitet sich von der irischen Hafenstadt Queenstown (seit 1922 Cobh) ab, von wo aus die meisten britischen U-Bootfallen operierten. Höhepunkt des Films ist das nachinszenierte Gefecht zwischen der britischen U-Bootfalle HMS STOCK FORCE unter dem Kommando von Harold Auten (s.u.) und UB 80 unter Kapitänleutnant Max Viebeg (1887– 1961, Pour le Mérite 31. Januar 1917) am 30. Juli 1918 am westlichen Ausgang des Ärmelkanals, wobei UB 80 verfremdet als U 24 und Viebeg als Stockmar inszeniert wurden.52 In der Kurzfassung ist auch das Gefecht zwischen der Segelschiff-U-Bootfalle HMS PRIZE unter William Edward Sanders und U 93 unter Edgar Freiherr von und zu Spiegel von Peckelsheim vom 30. April 1917 nachinszeniert, wobei beide Einheiten schwer beschädigt wurden und Spiegel und zwei weitere Besatzungsangehörige von der PRIZE aufgenommen wurden, während U 93 nach Deutschland entkam.53 Für die Dreharbeiten von „Helden der Untersee“ dienten ein britisches UBoot, ein kleiner Passagierdampfer, zwei Segelschiffe und ein Küstendampfer als Requisite. Lediglich eine Sequenz, die das fiktive deutsche U-Boot UB 166 beim Eindringen in Scapa Flow behandelt, wurde mit einem Modell inszeniert.

49 Vgl. Bryony Dixon, The Battles of Coronel and Falklands; , Zugriff v. 29.03.2017. 50 Vgl. , Zugriff v. 29.03.2017. 51 Eine vom Verfasser an das British Film Institute in London gerichtete Anfrage bezüglich der Genese des Films bzw. des Überlieferungszustands wurde bedauerlicherweise nicht beantwortet. 52 Zum Gefecht vgl. Tony Bridgland, Sea killers in disguise. The story of the Q-Ships and Decoy Ships in The First World War, Annapolis MD 1999, 137ff. 53 Ebd., 83ff.

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3.1 INHALTSANGABE VON „Q-SHIPS“54 Im Januar 1917 scheint es, als wenn nichts die deutschen U-Boote aufhalten kann. Im Hauptquartier der deutschen U-Boote in Brügge55 unterhält sich der (offenbar durch eine Kriegsverletzung) gehbehinderte Kapitän von Hagg, Stabschef der Flandern-U-Boot-Basis, mit seinen Offizieren. Kapitänleutnant Stockmar hat mit U 24 einen großen Frachter versenkt. An der Südwestküste Irlands ist kein Handelsschiff mehr sicher. Stockmar und sein Erster Offizier, Oberleutnant Schwartz, sichten auf dem Turm von U 24 einen Dampfer. Seine Besatzung geht in die Boote. Das Schiff wird von U 24 durch einen Torpedoschuss versenkt. Stockmars Kommentar: „I would rather fight men than starve women and children.“ Schwartz dagegen lachend: „This is better than cooling our heels in Kiel, anyway, Herr Kapitan!“ Doch Stockmar ist ernst und sieht ihn vorwurfsvoll an: „Each to his taste, my friend“. Schwartz ist betroffen. Die britische Admiralität erfährt von dem Verlust des Dampfers. Es ist die fünfte Versenkung in Raum „G“ in wenigen Tagen. Der amerikanische Passagierdampfer USS ST. JULIEN erreicht die infizierte Zone. Er wird von U 24 zuerst durch Signale, dann durch einen Schuss vor den Bug gestoppt. Die Passagiere geraten in Panik. Das Prisenkommando bittet den amerikanischen Kapitän um die Papiere, der erbost entgegnet: „Firing on an American passenger ship? What´s the big idea?“ Der deutsche Offizier: „We are a nation at war“, daraufhin der Kapitän: „Yes, but we´re not – – YET!“ Da seine Papiere einwandfrei sind, verlässt das Kommando das Schiff. Zwischentitel: „And so the German confidence mounted higher and higher.“ In der deutschen U-Bootbasis in Brügge wird in Anwesenheit eines Admirals gefeiert. Von Hagg verkündet, dass der Kaiser beabsichtigt, Stockmar und Schwartz zu dekorieren. U 24 kehrt in schwerer See nach Brügge zurück. In Brügge werden Stockmar und Schwartz vom Admiral zur Beförderung vorgeschlagen. Auf Befehl des Kaisers beginnt am 1. Februar 1917 der uneingeschränkte U-Bootkrieg. Der Admiral ist begeistert, von Hagg erscheint. Zwischentitel: „A free hand at last, Herr Kapitan. Starvation will soon bring them to heel.“ Von Hagg ist jedoch skeptisch: „I only trust your right, Herr Admiral.“ Während von Hagg geht, reibt sich der Admiral die Hände. Der Befehl wird unabhängig von den Folgen ausgeführt. Auch neutrale Flaggen sind nicht mehr sicher: – Holländer (explodierendes Schiff) – Norwegen (Aufnahme von der kenternden SMS SZENT ISTVAN)56 54 Die Zwischentitel sind zum Teil d.d. Verf. übersetzt. 55 Gemeint ist Zeebrügge als Vorhafen Brügges. 56 Eine der am meisten zitierten Filmaufnahmen des Ersten Weltkriegs. Die Aufnahmen entstanden gg. 06.00h des 10. Juni 1918 in der Adria, als das österreichisch-ungarische Linienschiff nach zwei Torpedotreffern des italienischen Motorschnellboots MAS 15, Kommandant Luigi Rizzo, sank. Die Aufnahmen wurden an Bord des Schwesterschiffs SMS TEGETTHOFF gedreht. Rizzo produzierte um 1920 den Dokumentarspielfilm Eroi di nostri mari mit sich selbst in der Hauptrolle und nutzte dafür sowohl die österreichischen Aufnahmen als auch neu

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– Dänen (Brennendes sinkendes Schiff) – Schweden (Gestrandeter Dampfer vermutlich an englischer Küste) – Spanien (Ein brennendes Schiff explodiert) – Amerikaner: Zwischentitel: „America – – Germany´s greatest blunder“ Die USA erklären am 6. April 1917 den Krieg. Zwischentitel: „Exactly one week later Rear Admiral William Sims, U.S.N., presented himself to Admiral Sir John Jellicoe. The First Sealord, Earl Jellicoe, appears in person.“57 Weiterer Zwischentitel: „As a result of this meeting, on May 4th the first division of American destroyers shipped quietly into Queenstown. Destroyers were to deal the U-Boat campaign a smashing blow.“ Es folgen Dokumentarfilmmontagen von amerikanischen 4-SchornsteinZerstörern. Zwischentitel: „Die großen Konvois werden so gut bewacht, dass die U-Boote Einzelschiffe angreifen müssen.“ Montage Dokumentaraufnahme. Ein großer Vier-Schornstein-Passagierliner bugsiert im Hafen. Ein Konvoi mit Handelsschiffen mit Tarnbemalung. Ein Zerstörer, schließlich ein Konvoi auf Reede. Zwischentitel: „Das Hydrophon zerstört Deutschlands Berechnungen. Viele bevorzugte U-Boot-Routen werden zur Todesfalle.“ Ein britischer Zerstörer erfährt von einem Kampf eines anderen Schiffs mit einem U-Boot. Wasserbomben werden geworfen. Zwischentitel: „The effect upon the U-Boat commanders was instantanous.“ In Brügge empfängt der Admiral zwei Offiziere. Er ist ungehalten und fragt, warum sie versagt haben. Sie sind verlegen; geben aber schließlich zu, dass durch die amerikanischen Zerstörer die Handelsschiffe nicht mehr ungeschützt sind. Es sei Selbstmord, den Begleitschiffen auch nur das Sehrohr zu zeigen. Doch der Admiral will Ergebnisse sehen und keine Entschuldigungen hören. U 24 bei einem Wasserbombenangriff. Das Boot wird von den Zerstörern durch das Hydrophon geortet und bombardiert. Stockmar ahnt, dass sein Boot, wie auch immer, geortet werden kann. U 24 muss aufgrund leerer Batterien auf Grund gehen, die Atemluft wird knapp. Ein Leck wird gedichtet. Schließlich geben die Zerstörer auf. Das Boot taucht auf – Stockmar atmet tief durch. Die nächsten drei Monate vergehen für die gejagten U-Boote voller Schrecken, dann wird U B 166 „for a forlorn hope“ ausgewählt. Von Hagg gibt einem namentlich nicht eingeführten Offizier den Befehl für einen Angriff auf Scapa und die Grand Fleet: „(…) A hazardous undertaking, but as a thinking man you will have no illusions.“ Der U-Boot-Kommandant: „You mean I shall never return?“ Von Hagg nickt kurz. gedrehtes Material mit der nun an Italien ausgelieferten TEGETTHOFF. Der Film soll 1995 in Mailandals Video ediert worden sein; vgl. Wladimir Aichelburg, Register der k.(u.)k. Kriegsschiffe. Von Abbondanza bis Zrinyi, Wien/Graz 2002, 388ff. 57 Dafür, dass Jellicoe persönlich in dem Film auftrat, gibt es keine belastbare Sekundärquelle. Das gilt auch für den 1928 bereits pensionierten Admiral William Sims (1858–1936), seit Kriegseintritt der USA im April 1917 Oberkommandierender sämtlicher amerikanischer Seestreitkräfte, die von Großbritannien aus operierten. Sein Werk »The victory at sea« (London 1921) erlebte zahlreiche Neuauflagen.

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Auf der Brücke von U B 166. Zwischentitel: „Der Minenkontrollraum in Scapa. Nicht einmal ein getarntes Fahrzeug kann nach Scapa hinein ohne sich selbst zu betrügen.“ Britische Offiziere beobachten in der Kommandozentrale in Scapa auf einer Kontrolltafel U B 166. Der Kommandant von U B 166 motiviert seine Besatzung; sie soll an den Ruhm denken, wenn sie ein Schlachtschiff versenken werden. Die britischen Offiziere erkennen: Das U-Boot geht in die Falle. U B 166 unter Wasser zwischen gigantischen Minen. Der Kommandant: „Ich glaube, wir sind durch“. Zwischentitel: „Fire!“. Ein Knopfdruck. U B 166 explodiert und sinkt. Zwischentitel: „But the most remarkable weapons against the U-Boat and against the morale of its Commanders were the ‚Q‘ Ships. Old tramp steamers, wooden coasters, the ragtag and bobtail of the seas, laden with false cargoes and hidden guns (…)“. Ein Zweimastschoner in Fahrt. Zwischentitel: „Following the exploits of Captain Gordon Campbell, V.C., such men as Auten, V.C., and Saunders, V.C. – – camouflaged as ordinary merchant seamen – – plotted and planned.“58 In einer Hafenkneipe sitzen drei Schiffer an einem Tisch und trinken Bier. Zwischentitel: „Well – Auten. I see you´ve been put in command of the STOCKFORCE. ZT: Yes – – I sail as soon as my crew is ready.“ Auf einem Zerstörer werden Freiwillige für einen „dangerous service“ gesucht. Alle melden sich. In einer Julinacht segelt STOCKFORCE unter Harold Auten heimlich aus auf eine gewagte Mission. Zwischentitel: „Lieut. Commander Harold Auten, V.C., R.N.R. and many of the original members of the crew re-enact their parts in this epic of the sea.“ Die STOCKFORCE verlässt den Hafen. Zur selben Zeit soll Stockmar erneut den Geist der U-Bootkommandeure heben. Von Hagg und Stockmar stehen vor einer Seekarte. Ihr Umgang ist freundschaftlich. Von Hagg wünscht ihm viel Glück, er antwortet: „Wir werden unser Bestes tun, Herr Kapitän.“ U 24 ist für eine große Aufgabe vorgesehen. Stockmar fragt die Besatzung, ob sich jemand nicht sicher ist. Ein Offizier antwortet für alle: Alle sind bereit. Stockmar: „Ich bin stolz auf Euch.“ Am 30. Juli 1918 kreuzt die STOCKFORCE südwestlich von Start Point. Ein Seemann sucht verdeckt das Meer mit dem Fernglas ab. Auf dem Mannschaftsdeck wird geraucht, Karten gespielt und musiziert. Die STOCKFORCE wird durch U 24 entdeckt. An Bord der STOCKFORCE rührt ein Farbiger weiße Farbe an. Er erklärt einem Matrosen, dass er befördert wurde: „Admiral in charge of painting that chimney.“ Auf der Brücke wird das Seerohr von U 24 entdeckt. In der Mannschaftskabine schrillt die Alarmglocke. Der Farbige geht an die Reeling und zün-

58 Gordon Campbell (1886–1953), Kommandant der U-Bootfalle HMS DUNRAVEN, publizierte 1928 »My Mystery Ships«. Mit Saunders ist vermutlich William Edward Sanders (1887– 1917) gemeint, der HMS PRIZE kommandierte. PRIZE wurde am 14. August 1917 vermutlich durch UB 48 vernichtet; Bridgland, 119.

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det sich eine Pfeife an. U 24 schießt einen Torpedo ab. Auten und der Farbige verfolgen die Laufbahn. Nach dem Treffer verlässt die „panic party“59 das Schiff, die Kanoniere dagegen sind bereit. Die STOCKFORCE hat leichte Schlagseite, stellenweise brennt das Deck. Ein weiteres Besatzungsmitglied springt auf Befehl von Auten dem Boot hinterher. Stockmar sieht auf der Steuerbordseite des Dampfers keine Anzeichen für eine Falle. Er will um den Bug herum gehen, um auf dessen Backbordseite zu gelangen. Auten zur Mannschaft: „Runterlegen, sie beobachten uns von Nahem.“ Stockmar: „Wir können nicht vorsichtig genug sein – sieht aus, als wenn sie verlassen ist.“ U 24 taucht in einem Abstand von gut 100 m an Backbord der STOCKFORCE auf. Auf dem Dampfer werden die Granaten geprüft. Auten wartet ab. Auch Stockmar beobachtet weiter: „Sie scheint über das Heck zu sinken. Wir nehmen das (Bei)Boot wegen der Papiere auf.“ Auten erfährt, dass das Wasser im Maschinenraum schnell steigt, aber er fordert zum Aushalten aus. U 24 gleitet langsam an der Backbordseite des Dampfers entlang in Richtung Heck. Auten: „Let go!“ Die britische Kriegsflagge weht aus. Entsetzen auf U 24. Die Tarnverkleidungen fallen, die Geschütze schwingen aus. U 24 wird sofort getroffen. Die Turmbesatzung hastet ins Boot zurück, Wasser dringt in U 24 ein. Die Mannschaft im Beiboot der STOCKFORCE jubelt. Große Explosionen auf U 24, das zu sinken beginnt. Zwischentitel: „In other areas the ‚Q‘ Ships fought as bravely. Many were sunk by the U-Boats which they hunted.“ Ein Dreimastschoner mit schwarz-weißer Tarnbemalung und einem U-Boot. Der Schoner brennt und sinkt, das U-Boot fährt durch ein Trümmerfeld. Zwischentitel: „Nach dem Verlust von über 200 U-Booten ist Deutschlands Moral erschüttert und bittet um Frieden. Am 21.11. ergab sich die Hochseeflotte.“ In Brügge gibt von Hagg einen letzten Befehl: Die deutschen U-Boote müssen nach Harwich ausgeliefert werden. Eine englische Flottille wird sie begleiten. Von Hagg: „One more word – conduct yourselves with that courage which you have always shown.“ Die Offiziere gehen. Von Hagg humpelt zu einem Porträt von Kaiser Wilhelm II. in Marineuniform. Er sieht zu seinem früheren Kriegsherrn hinauf, wendet sich ab und geht die Treppe hoch, während sein riesiger Schatten nach unten im Saal verlischt. Abblende. Dokumentarfilmaufnahmen offenbar deutscher U-Boote bei der Übergabe in Harwich. Deutsche Mannschaften steigen von einem Motorboot auf ein Schiff über. Zwischentitel: „The scourge of the seas lay impotent at their mooring, off Harwich. The defeat of the U-Boat campaign was complete.“ Die Aufnahmen zeigen vermutlich deutsche U-Boote in Harwich. Kein originaler Endtitel, sondern von Grapevinevideos. 59 panic party, Eine Abteilung der Mannschaft, der Panik vortäuschend eilig das Schiff verlässt, während Schiffsführung, Geschützbedienungen und Maschinisten getarnt an Bord verbleiben.

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Die zweite Fassung (Kurzfassung) weicht inhaltlich zum Teil erheblich von der ersten ab. Außerdem existieren auch leicht abweichende Texte der Zwischentitel, wobei bei der Kurzfassung die Texte auf den Film selbst aufgetragen sind; ein aufwändiges Verfahren, das aber erlaubt, gleichzeitig Filmbild und Text zu sehen. Obwohl die zweite Fassung wesentlich kürzer ist, wird durch sie deutlich, dass in der ersten Szenen und Sequenzen fehlen. So rollt nach dem Waffenstillstand ein Matrose im Zimmer des Admirals Seekarten zusammen; halb abgerissen hängt eine Wandkarte herunter. Dramaturgisch bedeutender ist eine Szene, in der von Hagg ein unbekanntes Buch liest (das Buch als Intro), offenbar ein Werk zur englischen Seekriegsgeschichte: „(…) These English fight to the death, and it is their habit before they sail to swear to one another that they will fire their ship rather than yield themselves prisoners, so resolute is the race in battle. Drake, Frobisher, Raleigh, Hawkins, Grenville, Willoughby, aye, and scores (…)“60 Erstaunlich ist weiterhin in der ersten Fassung das Fehlen einer gut vierminütigen Sequenz. U 93 nähert sich von hinten einem Zweimastschoner. Nach einem Schuss vor dem Bug steigt die „panic party“ ins Beiboot. Als sich das U-Boot dem Beiboot nähert, fallen auf dem Schoner die Schanze und die Tarnverkleidung. Ein Geschütz wird ausgeschwenkt und das Feuer eröffnet. U 93 wird mehrmals getroffen. Nach einer Halbnaheinstellung auf die Geschützbesatzung erfolgt eine Abblende. Zwischentitel: „Although holed in three places, U. 93 lingered to the base, with a tale of disaster.“ Der Kommandant von U 93 berichtet in Brügge von Hagg. Er ist nervös, seine Finger zittern. Er erklärt dem Kapitän, dass es sich um einen harmlosen alten Schoner von gut 200 tons gehandelt habe. Er zerdrückt nervös eine Zigarette im Aschenbecher. Daraufhin erklärt von Hagg, dass besondere Vorsichtsmaßnahmen gegen die „mystery ships“ getroffen werden müssen. Der U-Bootkommandant geht, eine Ordonanz erscheint, von Hagg gibt Befehle. Abblende. Die zweite Fassung endet mit einer Texttafel: „Thus wrote an English chronicler five hundred years ago – ‚Keep then the Sea that is the wall of England: And then is England save by God His Hand‘“ Überblendung in „The End“. Hierbei scheint es sich offenbar um das originale Filmende zu handeln.

3.2 PRODUKTIONSGESCHICHTE, KRITIK UND DRAMATURGISCHER AUFBAU Über die Produktionsgeschichte ist praktisch nichts bekannt. Eine diesbezügliche Anfrage des Verfassers an das British Film Institute wurde nicht beantwortet. Die 60 Britische Seehelden des 16./17. Jahrhunderts.

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beiden Regisseure, Geoffrey Barkas (1896–1979) und Michael Barringer (?–?) waren in den 1920er/30er in der britischen Filmindustrie tätig. Als halbwegs gesichert gilt, dass der Film in einer vertonten Version 1932 unter dem Titel „Blockade“ erneut zur Aufführung kam.61 Der Film wurde im September 1928 im New Yorker „Cameo Theatre“ aufgeführt und von Mordaunt Hall in der „New York Times“ rezensiert. Danach war Harold Auten (s.u.) nicht nur der Drehbuchautor, sondern begleitete offenbar sämtliche Aufführungen in den USA. Angeblich war an der Produktion auch ein Kapitänleutnant H. Roehn als ehemaliger deutscher U-Bootkommandant beteiligt gewesen.62 Hall konstatierte der Produktion einen hohen Grad von Authentizität: „(…) Thrilling and wonderfully realistic episodes in the campaign against the German U-boats (...) an expertly sketched drama of sea fighting (…).“ Auch sah er die deutsche Seite ausgewogen behandelt: „(…) and although Britain emerges victories, the courage of the rival forces is dedicated with fairness.“63 Der Film behauptet seine Authentizität durch die Teilnahme von Harold Auten (1891–1964), der tatsächlich am 30. Juli 1918 mit HMS STOCKFORCE in ein Gefecht mit UB 80 verwickelt war. Was der Film, zumindest in den beiden vorliegenden Fassungen, nicht zeigt, ist das tatsächliche Ende des Gefechts: Während UB 80 entkommt, sinkt die U-Boot-Falle schließlich, wenn auch offenbar alle Besatzungsmitglieder gerettet wurden. Auten war Träger des Victoria Cross wie die ebenfalls im Film erwähnten Kommandanten Campbell und Sanders. „Helden der Untersee“ kann nicht ohne den Kontext des im Jahr zuvor entstandenen Films „The Battles of Coronel and the Falkland Islands“ gesehen werden. Da die Entstehungsgeschichte von „Q-Ships“ bislang nicht bekannt ist, kann nur spekuliert werden, warum eine völlige Marginalie des Seekriegs – die UBoot-Fallen – aufwändig als die Erfolgsgeschichte der Royal Navy im Ersten Weltkrieg inszeniert wurde. Strategisch gesehen war die britische Nordseeblockade zwar ein voller Erfolg,64 doch filmdramaturgisch ließ sie sich diese Form der indirekten Kriegführung schwerlich als Heldenepos umsetzen. Die Blockade bestand in der eintönigen Patrouillentätigkeit größtenteils von Hilfskreuzern, die routinemäßig neutrale Handelsschiffe auf Konterbande überprüften. Mit den U-Boot-Fallen dagegen ließen sich problemlos Elemente des Abenteuergenres bedienen und britische Autostereotypen transportieren: Zähigkeit und Risikobereitschaft bei gleichzeitiger Kaltblütigkeit. Es ist wohl kein Zufall, dass „Q-Ships“ 1931 gleich zwei amerikanische Nachfolger finden sollte, in denen diese Abenteuerelemente ebenfalls Verwendung fanden (s.u.). Im Gegensatz zum Mystery-Melodram „Mare Nostrum“ ist „Helden der Untersee“ um Authentizität bemüht. Stockmar und von Hagg, auch die Kommandan61 62 63 64

, Zugriff v. 29.03.2017. Mordaunt Hall in seiner Rezension zu “Q-Ships”, in: NYT, 17.9.1928. Ebd. Vgl. Eric W. Osborne, Great Britain´s Economic Blockade of Germany in World War I. 1914–1919, London 2004.

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ten von U 93 und UB 166 werden nicht als sadistische „Hunnen“, sondern professionelle Seeleute inszeniert, die ihre Pflicht bis zum Ende erfüllen. Politische Aspekte blieben ausgeklammert mit Ausnahme der USS ST. JULIEN, doch möglicherweise war diese Sequenz, die ja mit der Tätigkeit der britischen U-Boot-Fallen in keinem Zusammenhang stand, als Zugeständnis für den amerikanischen Markt eingefügt worden. Bemerkenswert ist auch die Inszenierung der einzelnen deutschen Protagonisten: Von Hagg trägt zwar ein Monokel und einen Schmiss, ist aber offenbar durch eine Kriegsverletzung gehandikapt. Er versteht sich ausgezeichnet mit dem UBoot-Ass Stockmar, der selbst wiederum versucht, den Krieg nach den „Spielregeln“ zu führen. Zwar schickt von Hagg auch Offiziere, wie bei dem Scapa FlowUnternehmen, auf aussichtslose Missionen, aber er akzeptiert die Niederlage und fordert seine Untergebenen auf, auch weiterhin ihre Pflicht zu erfüllen. Sein Abgang ist pures Drama: Er verabschiedet sich, nicht verbittert oder unehrerbietig, von seinem obersten Kriegsherrn, dem Kaiser, und verschwindet, als Symbol für die frühere deutsche Seemacht, als Schatten in dem gotisch inszenierten Saal des Brügger Hauptquartiers. Die zwei Fassungen der Filmenden lassen auch zwei Interpretationen zu. Die erste Fassung feiert recht unverhohlen den Sieg über die deutsche „Geißel der Meere“, die zweite verzichtet auf eine Interpretation des Sieges, betont jedoch mit Rückgriff auf die englische Seekriegsgeschichte seit dem 16. Jahrhundert die Bedeutung von Seemacht auch in der Zukunft.

3.3. DIE AUFFÜHRUNG FINDET NICHT STATT: „BLOCKADE – DIE WAHRHEIT ÜBER DEN U-BOOT-KRIEG“ UND DIE DEUTSCHE ZENSUR 1929 Ende 1929 beabsichtigte die in Berlin ansässige Humboldt-Film GmbH, „QShips“ leicht überarbeitet unter dem Titel „Blockade, die Wahrheit über den UBootkrieg“ in Deutschland zu vermarkten. Dieser Versuch scheiterte erstmals am 13. November 1929 in der Filmprüfstelle Berlin, die als militärischen Gutachter Kapitänleutnant Norbert von Baumbach vom Reichswehrministerium hinzugezogen hatte.65 Nach Auffassung der Prüfstelle gefährdete der Film sowohl das deutsche Ansehen im Ausland als auch die auswärtigen Beziehungen. Gegen diese Entscheidung erhob die Humboldt-Film Einspruch, der am 28. November 1929 vor der Film-Oberprüfstelle in Berlin verhandelt wurde. Beisitzer war unter anderem der Schriftsteller Rudolf Presber (1868–1935). Militärischer Gutachter war erneut von Baumbach; aus dem Auswärtigen Amt war Legationssekretär Dr. Georg Rosen (1895–1961) hinzugezogen worden. Der Film wurde

65 Norbert von Baumbach (1900–?), veröffentlichte 1933 „Ruhmestage der deutschen Marine – Bilddokumente des Seekrieges“. 1940 Kapitän z. S. Im Zweiten Weltkrieg Mitarbeiter des Marinenachrichtendienstes.

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der Kommission offenbar vollständig vorgeführt; die Länge dieser Fassung betrug 2021 Meter (1.13.52h) und war damit gut fünf Minuten kürzer als das Original. Aus dem Abnahmeprotokoll geht hervor, dass „Q-Ships“ mit Hilfe der britischen Admiralität produziert worden und tatsächlich ein deutscher Marineoffizier beteiligt gewesen war. In die englische Originalfassung war neben deutschen Marineaufnahmen, die nicht näher bezeichnet wurden, eine kurze Sequenz montiert worden, die als „Kartenpolonaise vor Lebensmittelgeschäft“ bezeichnet wurde und offenbar die Auswirkungen der britischen Blockade auf die deutsche Lebensmittelversorgung demonstrieren sollte. Der Film wurde von der Kommission einhellig abgelehnt und die erste Zensurentscheidung des Verbots mit folgender Begründung bestätigt: (…) Der Filmstreifen kennzeichnet sich als Propagandafilm für die englische Marine und gegen die deutsche Seekriegsführung, deren Unterlegenheit nachgewiesen werden soll (…) Der Bildstreifen ist entgegen der in seinem Untertitel gegebenen Verheissung weit davon entfernt, objektiv zu sein. Die Darstellung ist bewußt und gewollt einseitig (…) Der Engländer, Offizier und Mann, wird in Gefahr kühl und ruhig, weit überlegen gekennzeichnet. Die deutschen einglasbewehrten Offiziere zeigen sich ängstlich und nervös (….)66

Außerdem wurden dem Film kleinere historische Ungenauigkeiten vorgeworfen; Argumente, die sich bei jeder fiktionalen Filmdarstellung historischer Ereignisse finden. Ein Dorn im Auge war den Zensoren offenbar vor allem die positive Darstellung der U-Boot-Fallen, die von ihnen als verschlagen und heimtückisch charakterisiert wurden. Erneut wurde auch auf die Gefährdung des deutschen Ansehens im Ausland hingewiesen. Die Beschwerde der Humboldt-Film wurde auf ihre Kosten abgelehnt. Der Verbleib der fertig montierten Filmkopie ist unbekannt; möglicherweise war sie die Grundlage für die österreichische Version „Helden der Untersee“.

4. WEITERE SPIELFILMPRODUKTIONEN BIS 1935 1931 erschienen in den USA gleich zwei Spielfilme über U-Boot-Fallen. Beide genossen die massive Unterstützung der US Navy: „Seas Beneath“ von John Ford und „Suicide Fleet“ von Albert S. Rogell.67 „Seas Beneath“ verbindet komödiantisch-romantische Elemente mit einer Agentengeschichte und dem Kampf einer amerikanischen U-Boot-Falle in Zusammenarbeit mit einem U-Boot gegen U 172, kommandiert von Baron Ernst von Steuben. Die Drehbuchvorlage stammte von dem pensionierten amerikanischen Marineoffizier James Parker, Jr. (1885–1935), das Drehbuch von Dudley Nichols, der mit Regisseur Ford über Jahrzehnte zusammen arbeiteten sollte. Ford selbst, der nach dem Highschool-Abschluss 1914 eine Laufbahn als Marineoffizier beab66 Film-Oberprüfstelle Berlin v. 28.11.1929, B. 24061, Deutsches Filminstitut, zitiert nach , Zugriff v. 29.03.2017. Unterstreichung im Original gesperrt. 67 Suid, Sailing, 20 ff.

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sichtigt hatte, aber beim Einstellungsverfahren in Annapolis offenbar aufgrund einer Sehschwäche durchfiel, war ein begeisterter Segler und seit Mitte der 1930er Jahre Mitglied der US Naval Reserve. 1942 stellte er seine Jacht ARANER der US Navy für die U-Bootabwehr zur Verfügung.68 Bereits 1930 hatte Ford mit „Men without women“ einen Spielfilm über eine durch einen Tauchunfall eingeschlossene U-Bootbesatzung gedreht, der ebenfalls mit Hilfe der US Navy produziert worden und wegen der realistisch wirkenden Inszenierung positive Kritiken erhalten hatte.69 „Seas Beneath“ spielt im August/September 1918 an Bord des Schoners USS MYSTERY SHIP NO. 2. Die Besatzung besteht aus lauter Rekruten, die Geschützbedienungen stammen vom Schlachtschiff USS MISSOURI. Die U-Boot-Falle soll in Zusammenarbeit mit einem U-Boot in spanischen Gewässern das deutsche UBoot-Ass Baron von Steuben stellen. Auf einer der Kanarischen Inseln bekommt die Besatzung Landgang und die strikte Anweisung, keinen starken Alkohol zu trinken und sich nicht mit Frauen einzulassen, um die Legende als harmloser Frachtsegler nicht zu gefährden. Der Kommandant trifft am Ufer eine junge blonde Frau, verliebt sich Hals über Kopf in sie und lässt sich mit ihr zusammen fotografieren. Tatsächlich ist die Unbekannte Annemarie von Steuben, Schwester des Barons, und auf dem Weg zu U 172. Auf der Insel operieren mehrere deutsche Offiziere, für die die attraktive spanische Agentin Lolita arbeitet. Sie verführt den stets Pflicht bewussten Fähnrich Cabot und betäubt ihn mit präpariertem Wein. Lolita und ihre Hintermänner entdecken, dass Cabot Mitglied der US Navy ist und das harmlose Segelschiff eine U-Boot-Falle. Doch obwohl Lolita Cabot verführt hat, verliebt sie sich in ihn und küsst den Bewusstlosen. Während der Fähnrich ausgeschaltet ist, läuft die U-Boot-Falle aus. Nach dem Erwachen macht er sich auf den Weg zum Hafen und entdeckt, dass Lolita eine deutsche Agentin ist. Als sich die deutschen Offiziere auf einem kleinen spanischen Segler einschiffen, schleicht sich Cabot an Bord. Der Segler trifft sich mit U 172, wobei sich herausstellt, dass er dem U-Boot als Treibstofftender dient. Cabot sabotiert unbemerkt das Segelschiff und setzt dann ein Treibstofffass in Brand. Der Brandherd und der Fähnrich werden entdeckt und Cabot von einem Wachtposten ohne Befehl angeschossen, wofür der der Posten sofort von Kommandant von Steuben gemaßregelt wird. Cabot stirbt und wird auf Anweisung des Barons auf See bestattet. Annemarie von Steuben ist über die Brutalität der Ereignisse entsetzt, aber ihr Bruder verweist sie auf den Charakter des Krieges: „Krieg ist Krieg“. Annemarie: „Das nennt man Krieg!“ Der spanische Segler will zur Insel zurückkehren, beginnt aber aufgrund des Sabotageakts zu sinken; die Besatzung steigt ins Beiboot. Am 2. September 1918 findet MYSTERY SHIP NO. 2 durch die brennenden Ölfässer des gesunkenen Seglers die Leiche Cabots und Beiboot. Annemarie gibt

68 Ronald L. Davis, John Ford. Hollywood´s Old Master, Norman/London 1995, 28, 154, 167. 69 Ebd., 66, Suid, Sailing, 2, 5ff.

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gegenüber dem Kommandanten zuerst an, Dänin, dann Schwedin zu sein. Sie glaubt, dass Liebe wichtiger ist als der Krieg, was der Kommandant verneint. Als die U-Boot-Falle U 172 mit dem Hydrophon ortet, entwickelt sich ein heftiges Gefecht. Dann greift das amerikanische U-Boot ein; U 172 wird durch einen Torpedo getroffen. Während die meisten Besatzungsmitglieder vermutlich im Rumpf ertrinken, stehen die Überlebenden am Heck vor der wehenden Reichskriegsflagge. Während U 172 langsam völlig waagerecht sinkt, kommentiert von Steuben den Untergang: „Jungs, unsere Flagge!“ Abblende. Die Überlebenden des U-Boots werden von den Amerikanern aufgenommen und gehen an Land in Kriegsgefangenschaft. Der Kommandant der U-Boot-Falle will Annemarie von einer Heirat in den USA überzeugen. Doch sie weigert sich und beabsichtigt, nach Deutschland zurückkehren. Zum Abschied möchte er ihr das gemeinsame Foto von den Kanarischen Inseln schenken. Doch sie lehnt ab – um einen Grund zu haben, nach dem Krieg in die USA zurückzukehren. Offenbar dienten Parker für die Drehbuchvorlage zwei reale Vorgänge des Jahres 1918. Am 17. Januar 1918 befanden sich die U-Kreuzer U 156 und U 157 vor der Kanarischen Insel Ferro, um von einer spanischen Brigantine Wolfram zu übernehmen. Das Unternehmen war dem britischen Marinenachrichtendienst durch Funkaufklärung bekannt geworden, woraufhin das britische U-Boot E 48 zum Treffpunkt entsandt wurde. E 48 schoss auf U 156 drei Torpedos ab, von denen auch einer traf, jedoch nicht explodierte.70 Weiterhin hatte die US Navy im September/Oktober 1918 zwei Segelschiff-U-Boot-Fallen im Dienst, ROBERT H. MCCURDY und CHARLES WHITTEMORE, die an der nordamerikanischen Atlantikküste zusammen mit U-Booten operierten, aber nicht mit deutschen UKreuzern zusammenstießen.71 Kommandant von Steuben, dargestellt von Henry Victor, der in Deutschland aufgewachsen war und aufgrund seines Akzents später gerne für die Rolle des deutschen Bösewichts engagiert wurde, ist inszeniert als Mischung von Arnauld de la Perière aus „Der magische Gürtel“ und Felix Graf von Luckner (1881– 1966), mit dem der Hauptdarsteller eine gewisse Ähnlichkeit besitzt. Luckner war zu diesem Zeitpunkt in den USA aufgrund von zahlreichen Vortragsreisen recht bekannt. Obwohl zwischen „Helden der Untersee“ und „Seas Beneath“ nur drei Jahre liegen, trennen diese beiden Filme nicht nur die Ton-, sondern auch die Aufnahmetechnik. Ford verwandte eine geschützte Kamera, mit denen er die Tauchvorgänge des U-Boots drehte. Für die Kampfszenen stellte die US Navy Personal ab, z.B. für die Geschützbedienungen.72 Der Untergang von U 162 dürfte zweifellos von Hans Bohrdts Gemälde „Der letzte Mann“ inspiriert gewesen sein, das den Untergang des Kleinen Kreuzers SMS NÜRNBERG in der Falklandschlacht am 8. Dezember 1914 glorifiziert.

70 Paul G. Halpern, A Naval History of World War I, Annapolis MD 1994, 428. 71 Ebd., 433f., 531, Anm. 92. 72 Ebd., 20.

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Obwohl ein Kriegsfilm, enthält die Produktion zahlreiche komödiantische Elemente, die für Fords Werke typisch sind. Zweifellos ist der Film trotz des historischen Hintergrunds auch eine Werbung für die US Navy. Deutlich wird aber auch, dass Ford einen kompletten Gegenentwurf zu Ingrams „Mare Nostrum“ drehte. Selbst die deutsche Agentin Lolita wird letztlich nicht unsympathisch inszeniert. Zwischen den beiden Filmen liegen nicht nur fünf Jahre technischer Entwicklung. Ford stellt „Mare Nostrum“ praktisch auf den Kopf: Aus dem sadistisch wirkenden Kommandanten von U 35 wird auf U 162 ein geachteter Gegner – wobei allein schon der Name von Steuben Programm ist. Das Ende des Films ist eindeutig: Zwar ist Annemarie loyal gegenüber ihrem deutschen Vaterland, aber nach dem Krieg bereit für eine tiefgehende deutsch-amerikanische Freundschaft. Noch romantischer und abenteuerlicher, aber auch absurder ist „Suicide Fleet“ gestaltet, der Ende 1931 in den USA erschien. Star ist die erst 20jährige Ginger Rogers, in deren Filmfigur Sally sich gleich drei amerikanische Matrosen verlieben. Sie kapern einen deutschen U-Boottender und ersetzen diesen durch eine U-Boot-Falle, auf der es ihnen gelingt, deutsche Offiziere gefangen zu nehmen. Für den Showdown stellte die US Navy mehrere Zerstörer und U-Boote zur Verfügung.73 Mordaunt Hall kommentierte das Werk zwar als unterhaltsam, kritisierte aber auch, dass das vermittelte Seekriegsbild der Vorstellung von Landratten entspräche. Beiläufig erwähnte Hall auch noch „Q-Ships“ und bezeichnete diese erst drei Jahre alte und von ihm seinerzeit selbst rezensierte Produktion nun als „alten Stummfilm“.74 Mit „Brown on Resolution“ (GB 1935, R.: Walter Forde/Anthony Asquith) entstand im Abstand von beinahe 20 Jahren zum Ersten Weltkrieg ein Heldenepos, das aufgrund mangelnder bzw. nicht zugänglicher Pri- und Sekundärquellen kaum einzuschätzen ist. Der Film basiert auf dem gleichnamigen, 1929 erschienenen Roman von Cecil Scott Forester (1899–1966). Brown ist Seemann auf dem Kreuzer HMS RUTLAND. Als dieser im Pazifik von dem deutschen Schlachtkreuzer SMS ZIETHEN vernichtet wird, gerät er in deutsche Gefangenschaft. Als die ZIETHEN auf der fiktiven Galapagos-Insel Resolution überholt werden soll, flieht Brown und führt einen Privatkrieg gegen den Schlachtkreuzer. Zwar fällt Brown, aber seine Sabotageakte haben die Reparatur der ZIETHEN so lange verzögert, bis britische Zerstörer den Kreuzer versenken können.75 1953 wurde der Roman in Großbritannien unter dem Titel „Single-Handed“ von Roy Boulting erneut verfilmt, jedoch die Handlung in den Zweiten Weltkrieg verlegt.

73 Ebd., 21. 74 Mordaunt Hall in seiner Rezension zu »Suicide Fleet«, in: NYT, 26.11.1931. 75 Die ZIETHEN wurde von dem britischen leichten Kreuzer HMS CURACAO dargestellt, der am 2. Oktober 1942 im Atlantik von dem Truppentransporter QUEEN MARY versehentlich gerammt und in zwei Hälften geschnitten wurde.

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5. RESÜMEE Aufgrund der technischen Voraussetzungen waren Dokumentarfilmaufnahmen im Seekrieg 1914–1918 nur eingeschränkt möglich. Umso höher ist der Quellenwert des Materials aus „Der magische Gürtel“ und „Graf Dohna und seine Möwe“ einzuschätzen. Obwohl zu Propagandazwecken produziert, besitzen die Aufnahmen einen hohen Dokumentcharakter, wenn auch davon ausgegangen werden muss, dass einige Sequenzen eigens arrangiert oder inszeniert wurden. Von 1926 bis Anfang der 1930er Jahre wurde der Spielfilm bei den am Krieg beteiligten Seemächten zu einem Erinnerungsort besonderer Art. Doch existierten die technischen Probleme auch weiterhin: Während Großbritannien für einen Film wie „The Battles of Coronel and Falklands Islands“ oder die USA für „Seas Beneath“ durch die Mitarbeit der Royal und US Navy aus dem Vollen schöpfen konnten, waren die Möglichkeiten in Deutschland stark beschränkt. Inwieweit sich diese Filme jeweils aufeinander bezogen, bedürfte einer näheren Analyse der jeweiligen Produktionsgeschichte, was aufgrund der Quellenlage, auch im Sekundärquellenbereich, nicht unproblematisch ist. So ist unklar, ob das British Film Institute überhaupt über eine Fassung von „Q-Ships“ verfügt, und wenn, welche. Sicher ist nur, dass von „Die versunkene Flotte“, der seinerzeit eine große Verbreitung gefunden haben dürfte, bislang in Deutschland keine Kopie identifiziert wurde. Das in Deutschland, Großbritannien und den USA versucht wurde, ein jeweils positives Bild der eigenen Seestreitkräfte im Krieg zu zeichnen, ist kaum verwunderlich. Einzige Ausnahme bildete offenbar 1926 „Die versunkene Flotte“, in dem über das Genre der Romanze versucht wurde, beiden Seiten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. John Ford gelang 1931 offenbar der Spagat zwischen der positiven Darstellung amerikanischer U-Boot-Fallen und dem deutschen Gegner in der Figur des Baron von Steuben. „Morgenrot“ (1933) und „Brown on Resolution“ (1935) wurden möglicherweise weniger in Hinsicht auf die Erinnerungskultur des Weltkriegs als auf eine zukünftige Auseinandersetzung zwischen Reichsmarine und Royal Navy produziert. Letztlich gerieten diese Filme durch den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg in Vergessenheit; abgesehen vom generellen Bedeutungsverlust des Stummfilms. In der amerikanischen Kriegsfilmproduktion nach 1945 dominierte die Darstellung des Seekriegs im Pazifik 1941–1945. Ab und an gab es Versuche, die deutsche Seite vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs als fairen Gegner darzustellen, so in „Duell im Atlantik“ („The Enemy Below“, USA 1958, R.: Dick Powell).76 In diesen Kontext gehört auch „Der Seefuchs“ („The Sea Chase“, USA 1955, R.: John Farrow), basierend auf dem gleichnamigen Roman von Andrew Geers von 1949. Als Folie des Abenteuerfilms diente die Flucht des deutschen Dampfers

76 Vgl. Suid, Sailing, 127f.

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„Erlangen“ aus australischen Gewässern nach Chile im Herbst 1939.77 Kapitän Ehrlich (John Wayne) – schon der Name ist Programm wie von Steuben in „Seas Beneath“ – ist ein ehemaliger Berufsoffizier der Kriegsmarine, der schon in der Kaiserlichen Marine gedient hat und im Gegensatz zu seinem nationalsozialistischen 1. Offizier deutschnational gesinnt ist. Nicht von ungefähr hängt in seiner Kajüte auf der „Ergenstrasse“ ein Porträt von Vizeadmiral Maximilian Reichsgraf v. Spee (1861–1914). Am Ende des Films hisst Ehrlich die alte Reichskriegsflagge und führt einen letzten Kampf gegen die Royal Navy, wofür ihm der Gegner Respekt zollt. So konstruiert die Handlung auch ist: Den amerikanischen und britischen Zuschauern wurde abseits der bisherigen Kriegsfilme ein ehrenwerter deutscher Offizier als Alternative angeboten – ein Jahr vor Gründung der Bundeswehr und die Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO wohl kein Zufall. Eine der letzten Produktionen, in denen die Kaiserliche Marine inszeniert und international vermarktet wurde, ist der britische Abenteuerfilm „Brüll den Teufel an“ (Alternativtitel „Zwei wie Hund und Katz“/“Shout at the Devil“, GB 1976, R.: Peter R. Hunt), der auf dem gleichnamigen Roman des Südafrikaners Wilbur Smith von 1968 basiert. Grober historischer Hintergrund bildet das Schicksal des Kleinen Kreuzers SMS KÖNIGSBERG (hier als Schlachtschiff BLÜCHER) in Deutsch-Ostafrika 1915. In dieser Groteske dient der Erste Weltkrieg nur noch als Folie für Action, Klamauk und ein stereotypes Deutschenbild, das noch aus dem Jahr 1915 zu stammen scheint. Es bleibt zu hoffen, dass in den nächsten Jahren durch die Sichtung nationaler und internationaler Filmarchivbestände noch die eine oder andere verschollene Dokumentar- oder Spielfilmaufnahme aus dem Krieg selbst oder der Stummfilmzeit zu Tage tritt. Ausgeschlossen ist dies nicht, da zumindest im Bundesfilmarchiv große Teile des Bestandes aus der Stummfilmzeit noch nicht gesichtet sind.

77 Vgl. Frank Müller, Die Odyssee der Erlangen. Der lange Weg in die Heimat, in: Schiff CLASSIC 3/2014/Schiff & Zeit 81, 38–43. Die Reise der „Erlangen“ wurde bereits während des Krieges propagandistisch ausgeschlachtet; vgl. Vendelin Brugg, Die „Erlangen“ in der Südsee, o.D. [ca. 1940].

DAS MARINE-EHRENMAL LABOE Ulrich Otto

Im Gesamtrahmen der historischen Tagung wirft dieser Beitrag einen besonderen Blick auf die Kaiserliche Marine im und nach dem Großen Krieg. Es geht um die Frage, welches Zeugnis sollte das Marine-Ehrenmal in Laboe von der Kaiserlichen Marine ablegen. Dabei ist zu bedenken: „Nicht die geschichtlichen Fakten sind entscheidend, sondern die Art und Weise, wie sie in unserem Gedächtnis weiterleben“ wie Hanjo Kesting sagt.1 Hier im Kieler Raum sind alle vertraut mit dem Entstehen und dem Werdegang des Ehrenmals in Laboe an der Kieler Förde. Das Ehrenmal hat in seiner Geschichte seit der Grundsteinlegung am 8. August 1927 bis heute eine vielfältige Wandlung in der öffentlichen (und offiziellen) Wahrnehmung erlebt. Es war fast von Beginn an eine Gratwanderung zwischen einer Touristenattraktion und Totengedenken zu vollziehen, wie Heinrich Walle sagt.2 Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Initiative, das Ehrenmal durch den Künstler Christo „verpacken“ zu lassen, wobei es weniger um künstlerische Aspekte ging als vielmehr um die Verächtlichmachung des Totengedenkens im Marine-Ehrenmal.3 Schon in den ersten Überlegungen zu einem geeigneten Standort für das Denkmal spielten auch eine vor allem von See aus weithin sichtbare Auffälligkeit und die gute Erreichbarkeit für die erhoffte Besucherzahl eine große Rolle. Zum Verständnis des Ehrenmals ist es aus heutiger Sicht wichtig, sich Dr. Walles Sinndeutung zu vergegenwärtigen: Denkmale sind Manifestationen von Tradition. Tradition kann definiert werden als Übernahme und Verbindlichmachung von Wertvorstellungen aus der Vergangenheit. Dieser Vorgang vollzieht sich unreflektiert und gefühlsmäßig. Allerdings müssen die übernommenen Wertvorstellungen einer späteren reflektorischen Überprüfung standhalten.

Admiral Wellershoff hat dies einmal prägnant ausgedrückt: „Tradition ist an Werten gefilterte Geschichte.“4 Diese Überprüfung der Geschichte an Werten hat am

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Hanjo Kesting, Grundschriften der europäischen Kultur, Göttingen 2012, 10. Heinrich Walle, Das Ehrenmal Laboe. Eine Gratwanderung von Touristenattraktion zu Totengedenken. Dieter Hartwig/Reinhard Scheiblich, Das Marine-Ehrenmal in Laboe. „Für die Ewigkeit, zeitlos, klar…“, Hamburg 2004, 114. Heinrich Walle, Tradition. Ein Weg der Weitergabe von Kontinuität,in: Jürgen Elvert/Michael Salewski (Hgg.), Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft 21/2008.

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Ehrenmal immer wieder bis in die heutige Zeit stattgefunden und auch einen deklamatorischen Niederschlag in der seit 1954 gültigen und seit 1996 im Ehrenmal zu lesenden Widmung gefunden. Anliegen dieses Beitrages ist es aber, auf die Entstehung zurück zu blicken und das Bild der Kaiserlichen Marine im „Großen Krieg“ nach zu zeichnen, wie es in der ersten Ausgestaltung des Ehrenmales manifestiert war. Wie nach den Kriegen des 19. Jahrhunderts entstanden auch nach dem 1. Weltkrieg Denkmäler, die zugleich Ehren- und Mahnmale sein sollten und der Toten einer großen Schlacht oder des gesamten Krieges gedenken wollten. Das bekannteste war das Tannenberg-Denkmal in Ostpreußen, das 1927 eingeweiht wurde. Gegenstand hier ist jedoch das Marine-Ehrenmal in Laboe, das ab 1929 errichtet wurde. Waren die deutschen Ehrenmale im 19. Jahrhundert meist erbaut worden in dem Bewusstsein eines entscheidenden Sieges für das Vaterland und verbunden mit der als Trost gemeinten Aussage: Sie starben für diesen Sieg, ihr Tod war nicht vergeblich, konnte dies für Tannenberg und auch für Laboe so nicht gelten. Es ist schließlich ein wenig tröstlicher Aspekt, um Tote zu trauern, deren Opfer für das Vaterland angesichts der Niederlage vergeblich war. So ist es nicht verwunderlich, wenn zu den Gedanken der reinen Totenehrung im Laufe der Verwirklichung des Ehrenmals auch die Forderung nach Vergeltung und Wiederauferstehung einer sogenannten „schwimmenden Wehr“ immer deutlicher hinzu traten. Der versagte Trost eines Gesamt-Sieges wurde dann reduziert auf die siegreichen, tapferen Streitkräfte – „Im Felde unbesiegt“ die sogenannte „Dolchstoßlegende“ – oder noch enger bezogen auf die Kaiserliche Marine. Die Seeleute waren Sieger, die Skagerrak-Schlacht war von der Hochseeflotte gewonnen worden; das war im Verständnis der Marine unangefochten und auch im Verständnis der Bevölkerung ungefragt übernommen. Deshalb war die SkagerrakSchlacht auch thematische Grundlage der gesamten Anlage von Laboe – hierauf wird später zurück zu kommen sein. Eine höhere Zahl an Toten und versenkten Schiffen auf englischer Seite zählte als klarer Beleg für diese Bewertung. Überhöht wurde die Bedeutung des Sieges noch dadurch, dass es gelungen war, der vermeintlich übermächtigen englischen Flotte eine Niederlage beizubringen und sie vor der internationalen Öffentlichkeit zu demütigen. Die Marine-Rundschau 1926 stellte fest „(…) in der Weltpresse [ist die Schlacht] als englische Niederlage mehr oder weniger deutlich gekennzeichnet worden.“5 Tatsächlich war es aber keine entscheidende und schon gar keine strategische Niederlage für die Royal Navy. Diese Erkenntnis griff nach und nach bei der Marine Raum, daher der Schwenk zu totalem U-Boot Krieg. – Auch in der Scheer-Denkschrift vom 17.6.1916 wird auf die strategische Bedeutung des U-Bootkrieges hingewiesen.6– Hätte man die Marine rich-

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Marine-Rundschau 1926. Michael Salewski, 90 Jahre Skagerrakschlacht – Reflexionen, in: Michael Epkenhans/Jörg Hillmann/Frank Nägler (Hgg.), Skagerrakschlacht. Vorgeschichte – Ereignis – Verarbeitung, München 2009, 375.

Das Marine-Ehrenmal Laboe

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tig eingesetzt, hätte sie die Kriegswende noch herbeiführen können, mit der strategischen Waffe U-Boote hätte Großbritannien ausgehungert werden können, wollte man glauben machen.7 Mit der durchschnittlich versenkten Tonnage im 1. Halbjahr 1918 lag man zwar weit über dem Gesamtneubau der Feinde und der Neutralen. Aber wie Münkler darlegte, stimmte die Berechnung schon damals nicht, noch weniger war es eine nur einigermaßen realistische Prognose.8 Eine weitere gefeierte Heldentat war dann auch die Selbstversenkung der deutschen Flotte in Scapa Flow, wo man dem Feind England noch im Untergang einen demütigenden Schlag versetzte und ihn nicht in den Besitz der Hochseeflotte kommen ließ. Diese weit verbreitete Meinung in der Marine und in der Öffentlichkeit, deren sich auch politische Kreise gerne bedienten, um den „Schand-Frieden“ zu bekämpfen, muss als Grundtenor gesehen werden bei der Entstehung und Ausführung des Ehrenmals. Um also den ersten Gedanken wieder aufzugreifen: die 35 000 Toten der Marine starben nicht umsonst, sondern brachten in den Schlachtensiegen Coronell und Skagerrak (und zuletzt vermeintlich auch noch in Scapa Flow) der übermächtigen Flotte des Feindes große Verluste bei. Dass der Krieg in einer Katastrophe endete, lag nicht am Einsatz dieser Männer – deshalb auch der Gedanke, es müssten aus den Gebeinen der Toten Rächer auferstehen.

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES DENKMALS Wilhelm Lammertz, der Vorsitzende des Marine-Vereins Duisburg „Graf Spee“ brachte 1925 als erster die Idee eines für alle Marine-Gefallenen gemeinsamen Denkmales in die Diskussion des Bundes Deutscher Marine-Vereine – dem heutigen Deutschen Marinebund. Er wollte ein Denkmal errichten lassen für alle Gefallenen der Marine, die „zum größten Teil irgendwo in den Tiefen der Meere ruhen und keine Grabstätten hatten, an denen Angehörige ihrer Toten gedenken könnten“. Er wollte mit diesem Denkmal für die, "die ihr Leben opferten, ohne dass ein Stein oder eine Blume die Stelle, an der sie fielen, schmückte“, auch ein Mahnmal für die Zukunft verbunden wissen. Diese Mahnung für die Zukunft erfuhr bis zur Einweihung eine deutliche Wandlung. Lammertz‘ erstes Anliegen war die Mahnung zur nationalen Einheit: „Seid Deutsche, wie wir es waren, getreu bis in den Tod.“9 Dies wird in einer Bewertung der Kaiserlichen Marine aus der Marine-Rundschau von 1926 aufgegriffen, wo in den ‚Gedanken zum Skagerraktage‘ festgestellt 7

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Anschläge Deutsche Plakate als Dokumente der Zeit 1900–1960 I/15, Ebenhausen 1963, Der U-Boot-Krieg 1918, Berlin (65X50), dazu Kommentar: „(…) Die Zahlenangaben des Plakates sind irreführend. Die richtigen Werte sind: [1–3. Quartal] Neubauten 870 000t/ 1 230 000t/1 390 000t Versenkungen1 140 000t / 960 000t / 900000t“. Bernd Stegemann, Der U-Bootkrieg 1918, in: Marine Rundschau 5/1968, 333, vgl. Herfried Münkler, Der Große Krieg, Berlin 2013, 523. Wilhelm Lammertz in: Deutsche Marine Zeitung (DMZ) 14.06.1925, 10; vgl. Gerd Stolz, Historische Stätten der Marine in Schleswig-Holstein, Heide 1990, 90.

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wird: „die Flotte, die ein Skagerrak schlug, war nicht nur militärisch und waffentechnisch, sondern auch völkisch und staatspolitisch aus einem Guss.“10 (Im Gegensatz zum Heer, das meist landsmannschaftlich/regional gebunden aufgestellt war.) Der Vorschlag fand nach und nach einhellige Unterstützung bei den MarineVereinen, dank der Beharrlichkeit des ehemaligen Obermaaten und seiner Mitstreiter. Mit großem Einsatz und vielfachen Werbemaßnahmen konnte der Bund bei Sponsoren – wie wir heute sagen – so zum Beispiel von der Stadt Kiel11, durch Spenden innerhalb der Vereine und bei den aktiven Marineangehörigen sowie in Straßensammlungen die Baugelder einsammeln. Wenn auch schließlich erfolgreich, war dies doch ein mühsames und im Laufe der Baumaßnahmen immer wieder kritisches Unterfangen, vor allem, da sich die anfänglich positive wirtschaftliche Lage bis in eine Weltwirtschaftskrise erheblich verschärfte. Es bedurfte schon starken moralischen Druckes: „Die Toten opferten ihr Leben, bringt ihnen das Opfer – 10 Pfennig monatlich – als Ehrenschuld“, forderte die Deutsche Marine Zeitung.12 Der Bundes-Vorsitzende KAdm. A.D. Trendtel schrieb 1926 u. a. (…) wer Geld für Zigaretten, Zigarren und Bier übrig habe, der müsse auch 10 RM übrig haben, dass den im Weltkrieg gefallenen Kameraden ein würdiges Denkmal errichten werden könne.“13 Die Marineleitung war dem Vorhaben nicht uneingeschränkt gewogen, vor allem wollte man keine finanzielle Unterstützung zusagen, genehmigte aber Sammlungen bei den Aktiven. Vorrang für die Marineleitung war es vielmehr „durch Pflege des Seegeltungsgedankens die deutschen Taten zur See beim deutschen Volke in Erinnerung zu halten.“14 Das könnte schon als Konzept verstanden werden für die spätere Ausgestaltung der Ehren-Halle oder Historischen Halle, wie sie heute bezeichnet wird. Vor dem Werbeausschuss, der sich um die Einwerbung der Spenden mühte, war ein Ehrenmal-Ausschuss gebildet worden, in dem sich neben dem Ideengeber vor allem der Marinepfarrer Ronneberger aus Wilhelmshaven hervortat. Der Ehrenmal-Ausschuss wählte den Standort des Ehrenmales aus, wobei es letztlich nur noch um die Frage Wilhelmshaven oder Kiel ging. Die Kieler Förde setzte sich durch, weil hier ein Standort mit guter Aussicht auf den ‘Exerzierplatz der kaiserlichen Flotte‘ gegeben war. Hier konnte darüber hinaus der internationalen Schifffahrt auf dem Weg zum bzw. vom Nord-Ostsee-Kanal mit einer Ansteuerungsmarke vor Augen geführt werden, wie man in Deutschland seiner Gefallenen gedenkt. Mit entscheidend war auch die Tatsache, dass das Marine-Ehrenmal mit öffentlichen Verkehrsmitteln (Fördeschifffahrt) gut erreichbar war und dass die Gemeinde Laboe das Grundstück des alten zerstörten Panzerturms kostenfrei zur Verfügung stellte.15 10 11 12 13 14 15

DMZ 14.06.1925, 14. Stolz, Historische Stätten, 91. DMZ 15.10.1926, 8. Trendtel in: DMZ 01.12.1926, 6. DMZ 01.12.1926, 8. Thorsten Prange, Das Marine-Ehrenmal in Laboe, Wilhelmshaven, 60.

Das Marine-Ehrenmal Laboe

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Die nächste Aufgabe des Ausschusses war dann die Entscheidung über die Entwürfe der Architekten zum Bau des Ehrenmales. Das Modell des Architekten Munzer aus Düsseldorf bekam schließlich den Zuschlag, aber erst nachdem er seinen Entwurf von einem Kostenniveau 800 Tausend RM auf die in der Ausschreibung festgelegten 500 Tausend RM reduziert hatte. Die Folge war ein niedrigerer Turm von 85 Meter Höhe und nur eine Teil-Umbauung des großen Aufmarschplatzes, die Anlage wie wir sie heute vor uns haben.

Luftaufnahme Marine-Ehrenmal

Dass am Ende die gesamte Anlage doch 1,6 Mio. RM kostete (so die KNN vom 29. Mai 1936)16, kann uns heute nicht verwundern, wirft aber ein umso helleres Licht auf die Leistung der Marinevereine, die diese Summe aufbrachten. Munzers Entwurf war in ausgeprägter Harmonie im Stil des deutschen Backsteinexpressionismus geschaffen unter Nutzung des historischen Klosterformats bei den roten Klinkern und mit einer nach Bauhausprinzipien gestalteten inneren Ausführung, die durch vollkommene Zweckmäßigkeit der Konstruktionselemente ihre ästhetische Wirkung erzielt.17 Mit der Turmgestaltung wollte er keinen Schiffsbug oder U-Boot-Turm andeuten, seine Idee war es,

16 Kieler Neueste Nachrichten (KNN) 29. Mai 1936. 17 Walle, Das Ehrenmal Laboe.

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Ulrich Otto ein Bauwerk [zu] schaffen, mit der Erde und See fest verwurzelt und gen Himmel steigend wie eine Flamme, den Helden zum Andenken und den Glauben kräftigend an eine bessere Zukunft Deutschlands.18

Das Ehrenmal verbindet vier Elemente zu einer harmonischen Gesamtheit 1. Der Turm ist Seemarke und Anziehungspunkt als höchste Aussichtsplattform an der Förde, hier werden in den Eingangsräumen die Verluste der Kaiserlichen Marine dargestellt und im offenen Treppenhaus ein Heimatwimpel präsentiert. 2. In der eigentlichen Weihehalle im Untergrund werden die Totenkränze niedergelegt und in einem Ehrenbuch die Namen aller 35000 Gefallenen festgehalten. 3. Die Ehrenhalle gegenüber dem Turm widmet sich den Ruhmestaten und der langen Geschichte der Marine. 4. Ein großer Appellplatz war gedacht für die Aufmärsche, die Teil der Gedenkveranstaltungen sein sollten, der Platz wird eingefasst durch eine Pergola, die Ehrenhalle und Turm verbindet. Diese Umfassung der auf dem Appellplatz angetretenen erinnert nach Heinrich Walle an die Kolonnaden von Bernini, die auf dem Vorplatz des Petersdomes in Rom gleichsam die Pilger umarmen.19

DIE GRUNDSTEINLEGUNG Der Termin der Grundsteinlegung war wohl eher der Notwendigkeit geschuldet, reichsweit ein Signal zu geben, wie ernst die Absicht gemeint war, ein marinegemeinsames Denkmal zu setzen, dabei verschiedene Diversifizierungen zu unterbinden und damit dem Einwerben von Spenden stärkeren Nachdruck zu verleihen. Auf die konkurrierenden Ideen zu einem allgemeinen Reichsehrenmal und zu Marineehrenmalen an anderen Standorten der Flotte20 kann ich hier nicht eingehen. Der Termin wurde in zeitlicher Verbundenheit mit dem Marine-Bundestag in Hamburg (5–7. Aug) am 8. August 1927 festgelegt. Das Baugrundstück war noch nicht einmal von den Trümmern des Panzerturmes befreit und die Übereignung an den Marinebund noch nicht vollzogen.21 Nichtsdestoweniger war dies bereits ein besonderer Medientag mit ausführlichen Berichten in der regionalen Presse, mit umfangreichen Darstellungen in den einschlägigen Marinezeitschriften und einem großen Publikum, das in Sonderzügen anreiste. Die Reden und Sinnsprüche, die bei der Grundsteinlegung gehalten wurden, zeigen schon eine weiter gefasste Sinngebung, als sie Lammertz in seinen ersten Anträgen formuliert hatte, und reflektieren bereits deutlich die Hoffnung und Erwartung der Marine und auch der Öffentlichkeit. Neben dem Gedenken an die Toten trat nun sehr prononciert der Wunsch nach einer neuen „schwimmenden Wehr“,

18 19 20 21

KNN 25.5.1936. Walle a.a.O. Vgl. Prange, Marine-Ehrenmal, 10f. Prange, Marine-Ehrenmal, 60.

Das Marine-Ehrenmal Laboe

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die Forderung nach Revanche, sogar nach Rache. Das zeigt auch, wie schon erwähnt, eine Gedenktafel in der Aula der Marineschule in Mürwik: „EXORIARE ALIQUIS NOSTRIS EX OSSIBUS ULTOR: aus unseren Knochen wird dereinst ein Rächer entstehen.“ Lammertz selbst sagt es so: „Ihr habt dem deutschen Vaterland die Treue gehalten bis in den Tod. Wir halten Euch die Treue über Grab und Zeit hinaus damit Euch einst die Rächer entstehen.“22 Der Militärpfarrer Ronneberger bezeichnete das Ehrenmal als ein Wahrzeichen, das seinen Finger emporrecke und zusammenfassend die einzigartigen Leistungen der Marine im Weltkrieg verkünde: Deutscher, entblöße Dein Haupt! Du stehst an heiligem Orte. Namen von Lorbeer umrankt, Verkünden gewaltige Worte: Helden, gefallen im Ringen Um Deutschlands Ehre und Sein, Nie wird ihr Namen verklingen, geheiligt soll er uns sein.23

Heute steht über dem Gang zur Weihehalle: Entblöße Dein Haupt und schweige!

Admiral a.D. Scheer bei der Festrede Grundsteinlegung

Der Festredner war Admiral a.D. Scheer als Sieger vom Skagerrak und als der Ehrenpräsident des Bundes Deutscher Marine-Vereine. Er forderte die Zuhörer auf, die Hoffnung zu schöpfen und Kraft zu finden unseren Willen zu betätigen, uns auch wieder den Platz unter den Völkern der Welt zu sichern, der uns nach unserer Leistungsfähigkeit, unserer Tüchtigkeit und vor allen Dingen unserer Ehrlichkeit zukommt.24

22 Deutsche Marinezeitung, Sonder-Nummer 1927, 17. 23 Ebd. 18. 24 Deutsche Marinezeitung, Sonder-Nummer 1927, 14.

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Ulrich Otto

Sein Sinnspruch, mit dem er die Hammerschläge begleitete ist in der Ehrenhalle festgehalten: „Für deutsche Seemannsehr‘, für Deutschlands schwimmend‘ Wehr, Für beider Wiederkehr.“25

DIE EINWEIHUNG Die Bauphase erlebte viele Unterbrechungen und Hindernisse, die vor allem dem immer wieder versiegenden Spendenzufluss geschuldet waren. Die Wirtschaftskrise wirkte sich natürlich negativ aus, selbst eine reichsweite Straßensammlung wurde zeitweise verboten. Wurde der Turm in geradezu rekordverdächtiger Zeit von nur 5 Monaten hochgezogen – und erfüllte auch seinen Zweck, nämlich auf das Ehrenmal in einer breiten Öffentlichkeit hinzuweisen26 – so verzögerten sich die anderen Bauphasen immer wieder. Im Oktober 1935 wurde dann in Abstimmung mit der Marineführung der Tag vor dem 20. Jahrestag der Skagerrak-Schlacht, der 30. Mai 1936, als Festtag der Einweihung festgelegt. Mit der Fertigstellung hatte das Ehrenmal eine dreifache Zweckbestimmung erhalten, wie VAdm a.D. Rösing in der Festtagsausgabe der Deutschen MarineZeitung ausführte. Das Ehrenmal soll eine Weihestätte für die Gefallenen im Weltkrieg sein, sie sollte die Hoffnung auf eine ehrenvolle Zukunft des deutschen Volkes erwecken und sie sollte einen würdigen Rahmen für vaterländische Kundgebungen geben.27

Die Einweihung fiel in die Zeit des Nationalsozialismus und entsprechend wurde der Aufmarsch der Reichsregierung mit Massenbewegungen und Fahnenappellen inszeniert. Es war die Propaganda-Schau der Marine nach innen in das Deutsche Reich hinein wie auch nach außen in die Internationale Gemeinschaft. Drei Tage lang wollte man den „Führer“ Adolf Hitler und die Öffentlichkeit mit den wiedererstandenen Fähigkeiten der Marine beeindrucken. Im Rahmen dieser Festtage besuchte der „Führer“ mit seiner Staatsyacht Aviso Grille auch die Marineschule in Mürwik. Eine große Flottenparade mit einem taktischen Szenario demonstrierte das reibungslose Zusammenspiel der unterschiedlichen Seekriegsmittel, zu denen auch die Marineflieger gehörten.28 Die Kriegsmarine präsentierte sich erfolgreich als Symbol der Wiederkehr deutscher Seemacht.29 Ein großer Zapfenstreich am Vorabend der Einweihungsfeier ergänzte das überwältigende Schauspiel für die Öffentlichkeit. Das Datum war bewusst gewählt, um an die Skagerrak-Schlacht anknüpfen zu können, denn diese wurde im Selbstverständnis der Marine und der Öffentlichkeit als ein großer Sieg gesehen. 25 26 27 28 29

Ebd., 4. Hartwig/Scheiblich, Für die Ewigkeit, 32. VAdm.a.D. Rösing, Deutsche Marinezeitung Nr. 6 Festausgabe, Juni 1936, 7. KNN 29. Mai 1936, 1f. Jann Markus Witt, Von Schwarz-Rot-Gold zu Schwarz-Rot-Gold, Leinen Los, Heft 3, 2014, 30.

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In der Festschrift des Bundes der Marine-Vereine führte der Vorsitzende Fkpt. a.D. Hinzmann hierzu aus: Die Führung des Krieges hat versagt, die in seiner Flotte Deutschland gegebene große Kraft wurde nicht rechtzeitig, nicht entsprechend der Eigenart des Seekrieges und nicht planvoll gemeinsam mit dem Heer eingesetzt. Die Fehler sah Hinzmann bei der Reichsführung und beim Generalstab. Er zitierte Tirpitz „das deutsche Volk hat die See nicht verstanden.“ „Aber die Marineangehörigen sind nicht vergeblich gefallen“, fuhr er fort. "Die deutsche Marine ist in den Kreis der Großen wieder aufgenommen, im deutsch-britischen Flottenabkommen ist Deutschlands Anspruch auf eine angemessene Seemacht anerkannt.“ Der Gedanke nach Revanche tauchte wieder auf – der Rächer war erstanden. Hinzmann beschrieb die Aufgabe des Ehrenmals so: Auf die See, auf das Weltmeer und seine Bedeutung im Leben der Völker und Staaten soll das Marine-Ehrenmal den Blick des Deutschen Volkes lenken, damit es um seiner Zukunft willen die See verstehen lernt.30

Die Kieler Neuesten Nachrichten begleiteten die Festtage mit großem Wort- und Bildaufwand an allen Tagen und auch noch danach mit einer Nachlese. „Der Führer besucht die Flotte“ schrieben die KNN als Aufmacher auf der Titelseite am 29. Mai, er erhielt stürmische Huldigungen der Bevölkerung. Die erste Seite zeigte auch eine Luftaufnahme des Ehrenmales, das die KNN bezeichnete als „Künder unvergänglichen Ruhmes zur See“.31 Zum Rahmenprogramm gehörte mit vielen anderen Ereignissen eine Gemäldeausstellung des bekannten Marinemalers Claus Bergen, die in Anwesenheit des Oberbefehlshabers der Marine General-Admiral Dr. h.c. Raeder eröffnet wurde, Hauptattraktion hier das Gemälde „Die Schlacht vor dem Skagerrak“.32 Ganz Kiel hatte sich zum Ehrenmal-Tag heraus geschmückt, auch im Kieler Hauptbahnhof wurden große Gemälde des Ehrenmales, der unter Segel einlaufenden Gorch Fock und des neuen Panzerschiffes „Admiral Graf Spee“ ausgestellt.33

30 31 32 33

Hinzmann, DMZ 6/6. KNN 29. Mai 1936, 1ff. ebd. ebd.

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Die Samstagsausgabe machte mit dem Titel „Festtage der Kriegsmarine“ auf und beschrieb seitenweise die Vorhaben an diesem und dem folgenden Tage, sie thematisierte auch die Skagerrak-Schlacht in mehrseitigen Artikeln unter der Schlagzeile „die größte Seeschlacht der Geschichte“ und ließ Admiral v. Trotha sowie zahlreiche Überlebende – übrigens auch britische Augenzeugen – zu Wort kommen.34 Die Sonntagsausgabe vom 31. Mai beschrieb dann die „Feierliche Weihe des Marine-Ehrenmales“ im Beisein des Führers. Tausende waren auf dem Appell-Platz angetreten, ein Meer an Hakenkreuzfahnen aber auch an Fahnen der Kriegsmarine und mit Sondergenehmigung an Fahnen der Kaiserlichen Marine35 symbolisierte das militärische und nationalsozialistische Gepräge.

Bild vom Einweihungsappell

34 KNN 30. Mai 1936, 1 und 3ff. 35 KNN 31. Mai 1936, 1.

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Aufschlussreich war die Auswahl der Musikstücke zwischen den Reden: Schuberts „Sanctus“, dann „Oh Deutschland hoch in Ehren“ und schließlich „Volk ans Gewehr“. Das Sanctus leitete den Staatsakt ein. Nach der Rede Hinzmanns, in der er beschwörte, wie die Gefallenen die Soldaten der Kriegsmarine mahnen, „Deutschland hoch in Ehren“ zu halten, erklang dieses Lied. Nachdem Admiral v. Trotha zum Schluss seiner Rede das Ehrenmal für alle Zukunft als ein Wahrzeichen dafür bezeichnete, „dass die Einheit deutschen Volkstums und der Wille zur See untrennbar mit einander verbunden sind“, ertönte ganz bezeichnend das Lied „Volk ans Gewehr“.36 In der darauf folgenden Festrede ließ Admiral Raeder einen versöhnlichen Gedanken einfließen und beanspruchte damit auch wieder die Ebenbürtigkeit mit der englischen Flotte. Er verneigte sich vor der Royal Navy, die mit einer Delegation vertreten war und als Geschenk die Schiffsglocke der Seydlitz mitbrachte. Er knüpfte an gemeinsames Leiden an, wenn er sagte: Wo immer wir in offener Schlacht mit der englischen Flotte die Klingen gekreuzt haben (…) stets haben wir in ihr den stammes- und sinnesverwandten Gegner kennen und achten gelernt, der treu seiner ruhmreichen Überlieferung gleich uns nur das eine Ziel vor Augen hatte, sein Äußerstes zu tun in opferbereiter Pflichterfüllung für sein Land. So vereinen sich heute, bei der 20. Wiederkehr des Tages vom Skagerrak, die Gedanken der deutschen Kriegsmarine (…) mit denen der britischen Flotte in gemeinsamer Erinnerung an jene Männer, die beiderseits im Kanonendonner der größten Seeschlacht aller Zeiten in heldenhaftem Seemannstode hingegangen sind wie die Pflicht, wie die Ehre ihrer Flagge es befahl.37

Diese Passage seiner Rede fand in der englischen Presse und den Berichten der britischen Gäste eine besondere Würdigung. Raeder hob dann auch Scapa Flow, das ruhmreiche Ende in der Niederlage, als stolzes Vermächtnis hervor, das er weit über die Revolution setzte: Während in der Heimat ein von Schicksalsschlägen zermürbtes in sich zerrissenes und irregeleitetes Volk die See und ihre Zusammenhänge nicht verstanden hatte, erwuchs in der Ferne die rettende Tat, die der Marine die Ehre sicherte. „Die Tat der Versenkung der damaligen Flotte vereint zum ersten Mal nach den dunklen Tagen des Zusammenbruchs Führer und Geführte zu gemeinsamem Handeln.“38 Bevor Raeder seine Rede beendete, wandte er sich an Adolf Hitler mit den Worten: „Aus nächtlichem Dunkel haben Sie uns und haben Sie mit der Marine ein ganzes deutsches Volk aufwärts geführt zur Morgenröte einer lichteren Zukunft.“39. Er übernahm danach das Ehrenmal in die Obhut der Kriegsmarine. Den Schluss seiner Festrede beschrieben die KNN: „dann braust, als Generaladmiral Dr. h.c.

36 37 38 39

DMZ 7/1936, 11. Ebd. 12. Ebd. 13. Ebd. 13.

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Raeder unter dem Jubel der Zehntausende dem Führer das erneute Treuebekenntnis aller Deutschen abgelegt hat, das Siegheil über die See hinaus.“40 Nach der Nationalhymne und dem Horst-Wessel-Lied legte der „Führer“ seinen Kranz als erster in der Weihehalle nieder. Prange beschreibt den Einweihungs-Staatsakt als dem Stil der Zeit entsprechend und zitiert die Deutsche-Marinezeitung vom 1.7.1936, wonach bei den ausländischen Besuchern die Organisatoren den Eindruck hervorrufen konnten, „die deutsche Kriegsmarine diene ausschließlich der Sicherheit Deutschlands und der Erhaltung des Friedens.“41Nach den Quellen, die ich nutzte, wundere ich mich über diese Bewertung der Deutschen Marinezeitung. Ich fand lediglich in einem relativ kurzen Bericht über die Einweihung im Marineforum, dem Blatt des Marine-Offizier-Verbandes, einen Hinweis, dass die wieder so stark aufgetretene Flotte dem Frieden dienen möge.42 Außer der versöhnlichen Geste Raeders an die britischen Beobachter klang für mich vielmehr die ganze Feier eher nach „Volk ans Gewehr“.

DIE SELBSTDARSTELLUNG DER KAISERLICHEN MARINE UND IHR BILD IN DER ÖFFENTLICHKEIT Ein umfassendes Bild der Kaiserlichen Marine ergibt sich in der Gesamtkonzeption des Ehrenmales vor allem bei der Gestaltung der Innenräume und hier besonders der Ehrenhalle, die wir heute als Historische Halle bezeichnen. Allerdings müssen wir berücksichtigen, dass diese Darstellung schon geprägt wurde durch die nationalsozialistische Weltsicht. Überragende Themen nach dem Trauma der Niederlage im Großen Krieg waren die Ruhmestaten der Kaiserlichen Marine, in allererster Linie die Schlacht am Skagerrak. Wie sah sich die Marine, wie war das Bild in den lokalen Medien? Die Royal Navy plante nicht einen „Show-Down" in strategischer Absicht, sondern zwang eher in Fernblockade den deutschen Seeverkehr nieder und versuchte selbst entscheidende Verluste zu vermeiden. Churchill drückte das Prinzip Vorsicht so aus „(…) Jellico sei der einzige Mann gewesen, der den Krieg an einem einzigen Nachmittag verlieren konnte.“43 Die Hochseeflotte dagegen wollte eigentlich mit zahlreichen Nadelstichen das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten ändern und die Briten zu Gefechten herauslocken. So begann die Schlacht am Skagerrak eher zufällig, denn planvoll herbeigeführt. Taktik und Kampfkraft sprachen für die Hochseeflotte, wenn auch eine Entscheidung in strategischer Sicht nicht errungen wurde. Gerade vor dem Trauma der Niederlage im Großen Krieg war dieser Erfolg am Skagerrak bedeutend. 40 41 42 43

KNN 31. Mai 1936. Prange, Marine-Ehrenmal, 112. KAdm. Mahrholz, Marine-Offizier-Verband 12, 15. Juni 1936, 208. Münkler, Der Große Krieg, 491f, zit. nach Herwig Holger, H. Luxury Fleet. The Imperial German Navy 1888–1918, London 1980, 149.

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Münkler bewertet es so: „eine umso größere Rolle spielte die SkagerrakSchlacht in der Wahrnehmung und Erinnerung der deutschen Bevölkerung, wo sie als ein großer Sieg gefeiert wurde.“44 Vor diesem Hintergrund ist die Ausgestaltung des Ehrenmales zu verstehen. Das Gesamtbild, das das Ehrenmal von der Kaiserlichen Marine präsentierte, war ein Sieges-Gemälde in vielen Facetten: der überwältigende Sieg am Skagerrak, die im Felde unbesiegte Marinetruppe in Flandern und schließlich die finale Demütigung der Engländer durch die Selbstversenkung in der Bucht von Scapa Flow. Die vielen Toten der Marine starben in siegreichen Operationen. Dennoch war die strategische Niederlage offenkundig und forderte deshalb die Mahnung an die Überlebenden und an die Männer der Kriegsmarine zur Revanche. Kennzeichnend für das Bild, das die Kaiserliche Marine und danach die Kriegsmarine aus dem großen Krieg tradiert sehen wollte, ist die Ausgestaltung der Ehrenhalle, die die Vergangenheit der Marine darstellen sollte. Der größte Teil des Raumes war ausgefüllt mit zwei Dioramen 10m mal 6m, die die Skagerrak-Schlacht im entscheidenden Augenblick zeigten, als Scheer seinen zweiten Vorstoß gegen die britische Flotte machte, sowie den Flandern-Kriegsschauplatz. In einem dritten etwas kleineren Modell wurde die Selbstversenkung der deutschen Flotte in der Bucht von Scapa Flow dargestellt.45 An den beiden Schmalwänden waren die Weltmeere und der Kriegsschauplatz der Ost- und Nordsee um Großbritannien und Irland herum abgebildet. Auf beiden Karten waren die Stellen verzeichnet, an denen deutsche Kriegsschiffe, Luftschiffe und Hilfskriegsschiffe verloren gingen. Auf der Rückseite der Ehrenhalle wies ein 14mx3m großes Glasfenster in allegorischer Form auf die Flotte, den Dienst an Bord und bei der Küstenverteidigung hin.

Glasfenster Historische Halle Laboe

Diese künstlerische Darstellung war auf ausdrücklichen Wunsch des Reichspropagandaministers Goebbels entstanden.46 Hier sind auch die von Raeder beschriebene „Morgenröte einer lichteren Zukunft“ zu sehen – und bei genauem Hinschauen

44 Münkler, Der Große Krieg, 498. 45 Hartwig/Scheiblich, Für die Ewigkeit, 78. 46 KNN 1.12.1933 und KNN 24.5.1936.

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Teile eines Hakenkreuzes.47 Eine weitere Idee wurde in großen Darstellungen an den Seitenwänden thematisiert und hier schien deutlich die Ideologie der germanischen Rasse durch. Die Kaiserliche und jetzt auch die Kriegs-Marine wollten sich in eine lange Tradition von der Völkerwanderung über die Wikinger, über die Hanse und Brandenburgische Marine eingebettet sehen48, ein gewagter Anspruch als „Senior Service“ gegenüber der Royal Navy und damit eines Aufstieges auf Augenhöhe. Der Skagerrak war auch wieder Thema im dritten Raum des Turmes: Hier wurde auf einem Gemälde der Kreuzerkampf zu Beginn der SkagerrakSchlacht dargestellt.49 Die Gestaltung der anderen beiden Turmräume im unteren Bereich und der Weihehalle war dem Gedenken der Toten gewidmet und machte in eindrücklicher Weise das Opfer der Soldaten der Marine deutlich.50 Das Konzept für die Ehrenhalle wurde in der Deutschen Marine Zeitung 1927 noch weniger ideologisch formuliert, demnach haben die Ausstellungen in der Ehrenhalle „den historischen Überblick über die große Vergangenheit und die Kraft der ruhmreichen Marine zu geben und den Gedanken an die gemeinsame Zukunft zu festigen.“51 Inzwischen im Jahre 1936 sind rassenideologische Gedanken einbezogen worden und wurden so auch im Sonderheft der DMZ 1936 schriftlich ausgeführt: Die Marine sah sich in einer langen geschichtlichen Tradition der Seefahrt. Die Überlegenheit der nordischen Rasse ist Teil dieser Erzählung und wird so auch in der Ehrenhalle beschrieben. Zum Schluss zugespitzt die Botschaft des Ehrenmals bei der Einweihung 1936: Gedenken der Toten, sie sind nicht vergeblich gefallen – die Marine war auf See unbesiegt – die Überlegenheit der nordischen Rasse ist erwiesen– der Rächer ist wieder erstanden – die Marine ist mit ihren Fähigkeiten jetzt in den Kreis der Seemächte aufgenommen – Volk ans Gewehr!

DAS EHRENMAL HEUTE In der Darstellung des Marine-Ehrenmals standen entsprechend des Hauptthemas dieser Tagung die Kaiserliche Marine und ihre hier gepflegte Erinnerung an den Großen Krieg im Mittelpunkt. Die Betrachtungen dürfen aber nicht mit diesem alten Bild des Marine-Ehrenmals in Laboe schließen. Es ist unerlässlich, zum Schluss auf die heutige Bedeutung und auf die umfassende Widmung des Totengedenkens im Marine-Ehrenmal in La-

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Hartwig/Scheiblich, Für die Ewigkeit, 76 f. KAdm. a.D. Mantey, DMZ Festschrift Juni 1936, 11ff. Prange, Marine-Ehrenmal, 79. Prange, Marine-Ehrenmal, 82. DMZ Sondernummer 1927, 8.

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boe hinzuweisen: „Gedenkstätte für die auf See Gebliebenen aller Nationen, Mahnmal für eine friedliche Seefahrt auf freien Meeren.“ Dieses eindeutige Bekenntnis zur friedlichen Nutzung der Meere, das Gedenken an alle auf See Gebliebenen sowie die grundlegend überarbeitete Ausgestaltung der Historischen Halle kennzeichnen die Überprüfung der damaligen Aussagen an unseren Wertvorstellungen heute. Die alten Botschaften von der Einweihung 1936 gelten nicht mehr, sie sind einem neuen Bild gewichen. Jeder kann sich im Marine-Ehrenmal in Laboe davon selbst überzeugen.

„EIN GETREUES BILD MEINER ERLEBNISSE UND BEOBACHTUNGEN“ Über die Erinnerungen der Matrosen Stumpf und Linke und ihre Autoren∗ Stephan Huck

Berlin, 25. Juni 1926. Der frühere Obermatrose Richard Stumpf (1892–1958) tritt als „Sondersachverständiger“ vor den Reichstagsuntersuchungsausschuss, der die Ursachen für den bald zehn Jahre zurückliegenden Zusammenbruch des Deutschen Reiches klären soll.1 Ausführlich berichtet er auf Empfehlung des Zentrums-Abgeordneten Dr. Joseph Joos (1878–1965) über seine Erlebnisse an Bord des inzwischen abgewrackten Großkampfschiffes „Helgoland“ im zurückliegenden Großen Krieg, nachdem er diesem durch einen Zeitungsartikel in der „RheinMainischen Zeitung“ über die Ereignisse in der Kaiserlichen Hochseeflotte im Ersten Weltkrieg aufgefallen war.2 Auf Betreiben des USPD-Abgeordneten Wilhelm Dittmann (1874–1954), der diesen Ausschuss so sehr prägt, dass die Presse bereits vom „Dittmann-Ausschuss“ schreibt3, werden seine Erinnerungen 1927 auszugsweise unter dem Titel „Warum die Flotte zerbrach“ veröffentlicht.4 Seine Ausführungen sind für die Ausschussmitglieder so erhellend, dass sie beschließen, seine Erinnerungen zusätzlich ungekürzt in ihr schließlich zehn Bände umfassendes Berichtswerk aufzunehmen.5 Stumpf schildert dem Ausschuss, wie die Untätigkeit der doch vorgeblich für die Entscheidungsschlacht mit Großbritannien gebauten Flotte an den Nerven der Soldaten zehrte, ihnen das Gefühl der Sinnlosigkeit, des Versagens, der Schmach ∗

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Gekürzter Nachdruck von Stephan Huck, „Ein getreues Bild meiner Erlebnisse und Beobachtungen“. Über die Erinnerungen der Matrosen Stumpf und Linke und ihre Autoren, in: Ders./Matthias Rogg/Gorch Pieken (Hgg.), Die Flotte schläft im Hafen ein. Kriegsalltag 1914–1918 in Matrosen-Tagebüchern, Dresden 2014, 12–35. Albrecht Philipp, Die Ursachen des Deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918. Zweite Abteilung: Der Innere Zusammenbruch, Bd. 9/1, Berlin 1928, XII. Zugleich erschienen in: Das Werk des Untersuchungsausschusses [=WUA] der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919–1928, hier: Vierte Reihe. Daniel Horn, The Diarist Revisited. The Papers of Seaman Stumpf, in: The Journal of the Rutgers University Libraries 40/1978/1, 32–48, hier 36. Vgl. die Schlagzeile der Vossischen Zeitung zum Ausschussauftakt: „Zwischenfall im Dittmann-Ausschuß. Kapitän Canaris verläßt den Saal“, in: Vossische Zeitung Nr. 39/19, Abendausgabe vom 23. Januar 1926, 1. Richard Stumpf, Warum die Flotte zerbrach. Tagebuch eines christlichen Arbeiters, Berlin 1927. WUA, Vierte Reihe, Bd. 10/2, XII.

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gab. Er schildert weiter, wie die Matrosen allmählich das Vertrauen in ihre Führung verloren, weil diese ihnen allzu deutlich die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen der bürgerlichen Schicht, der sie entstammte, und der Herkunft der Matrosen aus dem Arbeitermillieu vor Augen führte. Weil sich die Offiziere Privilegien herausnahmen, wo gemeinsame Entbehrung angemessener geschienen hätte. Seine Schilderung gipfelt in der Darstellung der Reaktionen, die das rigorose Vorgehen der Marineführung auf Unruhen in der Hochseeflotte hervorgerufen hatte, die doch als Reaktion auf die zuvor geschilderten Missstände zu verstehen seien: nachdem die Marineführung zwei Matrosen hingerichtet hatte, hätten die Matrosen alles Vertrauen in ihre Führung und den Sinn ihres Tuns verloren. Aus diesem Gefühl heraus hätten sie schließlich gemeutert, als es im Herbst 1918 noch einmal und viel zu spät gegen England hatte gehen sollen. Die von Stumpf geschilderten Vorgänge haben sich tief in das kollektive Gedächtnis der deutschen Marinen eingebrannt. Es unterstreicht die Bedeutung, die das Zeugnis Stumpfs besaß und besitzt, dass die Quelle Ende der 1960er Jahre im Zuge eines wiedererstarkten internationalen Interesses an der Geschichte der Revolutionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Englische übersetzt wurde und damit auch international rezipiert werden konnte.6 1992 veröffentlichte der Freiburger Historiker Wolfram Wette unter dem Titel „Der Krieg des Kleinen Mannes“ ein Taschenbuch mit Beiträgen zur Geschichte des Kriegsalltages im deutschen Militär seit der Frühen Neuzeit.7 Trotz seiner unscheinbaren Aufmachung gilt das Werk zurecht als Wegmarke hin zu einer heute als Neue Militärgeschichte bezeichneten Betrachtungsweise der Militärgeschichte, die sich weg vom Schlachtengeschehen hin zu den Lebensumständen der Soldaten oben wie unten hin orientiert. Auch in diesem Band werden Auszüge aus den Erinnerungen Stumpfs veröffentlicht.8 Der Grund für diese umfangreiche Rezeption des Zeugnisses von Richard Stumpf ist einfach: es ist das einzige der Forschung bekannte Zeugnis aus Mannschaftsfeder, das den Alltag in der Hochseeflotte von den ersten Tagen der Julikrise bis in die Revolution beschreibt.9 Schon von daher war es ein Glücksfall, dass Prof. Dr. Michael Epkenhans vor wenigen Jahren ein weiteres Mannschaftstagebuch aus der Hochseeflotte zum Kauf angeboten wurde. Es handelte sich um ein Typoskript des Matrosen Carl Richard Linke (1889–1962) von insgesamt 335 Seiten, das er in Tagebuchform zu Beginn seiner Wehrdienstzeit im Jahr 1911 begann und mit dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918 abschloss. Epkenhans erwarb die beiden Bände nebst einigen 6

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Richard Stumpf, War, Mutiny and Revolution in the German Navy. The World War I Diary of Seaman Richard Stumpf, Edited, Translated and with an Introduction by Daniel Horn, New Brunswick 1967. Wolfram Wette (Hg.), Der Krieg des Kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München/Zürich 1992. Richard Stumpf, Die Matrosenrevolte in Wilhelmshaven 1918, in: Wette (Hg.), Krieg, 168– 180. Nicolas Wolz, „Und wir verrosten im Hafen“. Deutschland, Großbritannien und der Krieg zur See 1914–1918, München 2013, 8.

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zugehörigen Feldpostkarten und Fotografien des Autors und einer handschriftlichen Zusammenfassung der Erlebnisse, die dieser im Jahr 1939 verfasst hatte, und übereignete sie dem Wehrgeschichtlichen Ausbildungszentrum der Marineschule Mürwik. Aufgrund der geringen Zahl vorliegender Selbstzeugnisse aus Mannschaftsfeder für die doch so zentralen Kriegsereignisse in der Hochseeflotte bedeutet jedes neu auftauchende Tagebuch auch einhundert Jahre nach den Ereignissen noch eine enorme Bereicherung für die Forschung, doch der Wert der Erinnerungen Linkes geht noch weiter: ebenso wie Richard Stumpf diente er auf der SMS „Helgoland“, und nicht nur das, er gehörte derselben Division wie dieser an und erlebte somit den Krieg aus derselben Perspektive wie Stumpf. Er kannte dieselben Offiziere, dieselben Kameraden, aß das Gleiche wie Stumpf, hörte dieselben Reden wie dieser und muss einen ähnlichen Kenntnisstand wie er über das Kriegsgeschehen besessen haben. Im Verlauf der Lektüre der beiden Aufzeichnungen wird deutlich, dass sich die beiden Autoren persönlich kannten, an Bord über Politisches austauschten und auch schätzen: „In letzter Zeit unterhalte ich mich gern und viel mit Richard Stumpf“, schreibt Linke am 3. September 1916. „Er ist viel gereist und hat nicht nur viel erlebt, sondern auch viel erfahren. Obwohl er Zentrumanhänger und Bayer ist, hat er doch mitunter etwas für die Preussen übrig“.10 Offen thematisiert Linke, dass Stumpf und er aus politisch gegensätzlichen Lagern stammen: Richard Stumpf war von christlich-nationaler Gesinnung und blieb dieser Überzeugung auch über das Kriegsende trotz der Erlebnisse an Bord treu. Carl Richard Linke hingegen hatte ein distanzierteres Verhältnis zur Obrigkeit. Seiner Wehrpflicht genügte er nur widerwillig, der Beginn des Krieges ist für ihn kein Grund zum Jubeln sondern eine unliebsame Verzögerung der ersehnten Rückkehr ins Zivilleben. Dem emotionalen Vaterlandsbegriff Stumpfs stellt er den nüchtern Begriff „Staatsbürgerpflicht“ gegenüber.11 Wie Richard Stumpf ist auch er historisch politisch interessiert und liest lieber historische Abhandlungen, als sich in den Kneipen des ungeliebten Wilhelmshaven zu amüsieren. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass Stumpf wie Linke in der vornehmlich aus Arbeitern rekrutierten Mannschaft der SMS „Helgoland“ mit ihrer intellektuellen Attitüde Außenseiter waren und dieses gemeinsame Interesse die Basis ihres Austauschs über politische Unterschiede hinweg darstellte. An Bord wird Linke beredter Weise von einigen Kameraden als „der Philosoph“ bezeichnet.12 Eine weitere Gemeinsamkeit bildete die Musik: Stumpf gehörte als Klarinettist der Bordkapelle an13, Linke spielte in seiner Freizeit die Zitter.14 Es gibt jedoch keinen Hinweis darauf, dass sie jemals gemeinsam musiziert haben. Im Zuge der Marineunruhen des Jahres 1917 wird Carl Richard Linke verhaftet, als er nach eigenem Bekunden seine Kameraden in der Wilhelmshavener Kneipe „Banter Schlüs10 11 12 13 14

Erinnerungstyposkript Linke, 3. September 1916, WGAZ 22798, 218. Linke, 1. August 1914, 85. Undatierter, im Erinnerungskontext des August 1917 stehender Eintrag, Linke, 245. Linke, undatierter Eintrag um 1913, 51. Linke, 8. September 1915, 122.

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sel“ lediglich über die Ursachen des Krieges auf dem Balkan unterrichten will. Dies wird ihm als politische Betätigung für die Linke ausgelegt und bringt ihm sechs Jahre Zuchthaus ein. Seine Strafe verbüsst er in Celle und Rendsburg bis in die ersten Tage der Novemberrevolution. Doch anders als von seinen Richtern angenommen, gehört er keineswegs der politischen Linken an, vielmehr steht er allen Parteien kritisch gegenüber und sieht sich selbst als unpolitisch.15 Es ist vor allem dieses Nebeneinander der Sicht auf die gleichen Dinge von unterschiedlichen Standpunkten aus, woraus sich der ungeheure Wert dieser beiden Quellen speist. Es handelt sich nicht bloß um irgendein weiteres Tagebuch, das nun mit den Aufzeichnungen Carl Richard Linkes aufgetaucht ist. Vielmehr eröffnet „der Linke“ die Möglichkeit, „den Stumpf“ – und damit wie gezeigt eine überaus zentrale Quelle – neu zu lesen. Wo Linke und Stumpf sich bestätigen, erhöht sich die Glaubwürdigkeit ungemein, zugleich ermöglichen Abweichungen neue Ansätze für die Forschung und einen Blick auf die hinter den Zeugnissen stehenden Autoren in ihrer historischen Individualität. Die Frage nach der Glaubwürdigkeit ist umso zentraler, als dass beide Zeugnisse in ihrer speziellen Überlieferungsgeschichte und Erscheinung jeweils für sich Anlass zu kritischen Fragen hinsichtlich des Entstehungszeitraumes und der Überlieferungsabsicht bieten. So werden die Erinnerungen Stumpfs in der Literatur stets aufgrund der vorliegenden gedruckten Ausgaben zitiert und zumeist als Tagebücher bezeichnet. Doch handelt es sich nicht um Tagebücher im eigentlichen Sinne, sondern um literarische Aufzeichnungen, die nach Stumpfs eigenem Bekunden auf an Bord gefertigten Notizbüchern fußen.16 Diese Aufzeichnungen durchbrechen erkennbar die klassische Form eines Tagebuches, das tagesaktuelle Aufzeichnungen enthält, und fassen mitunter größere Zeiträume in Abschnitten zusammen. Zudem richtet Stumpf den Blick immer wieder auf das Gesamtgeschehen des Ersten Weltkrieges jenseits seines persönlichen Erlebnishorizontes. Insgesamt ist die literarische Form seiner Aufzeichnungen durchaus heterogen: passagenweise bleibt der Tagebuchcharakter der zugrunde liegenden Notizbücher erhalten, in anderen Abschnitten aber bedient sich Stumpf stilistischer Mittel, die für Tagebücher eher untypisch sind. So greift er mitunter den Ereignissen vor um Spannungsbögen zu erzeugen oder bedient sich literarischer Kunstformen wie fiktiver innerer Dialoge. Hinzu kommt, dass die am häufigsten zitierte Form der Erinnerungen Stumpf, das „Tagebuch eines christlichen Arbeiters“ eine durch den USPD-Abgeordneten Wilhelm Dittmann gekürzte Fassung seiner Aufzeichnungen enthält und durch diese Kürzungen unvermeidlich eine erste Fremddeutung erfuhr. Dieser Sachverhalt bewog wie oben dargelegt den Reichstagsuntersuchungsausschuss, nur wenige Jahre nach dem Erscheinen der ersten Ausgabe „den Stumpf“ nochmals, diesmal ungekürzt, zu publizieren. Leider verlief die Suche nach den ursprünglichen Aufzeichnungen Stumpfs im weiteren ergebnislos. Die frühesten Aufzeichnungen stellen die im Bestand des 15 Linke, 18. September 1915, 130. 16 Stumpf-Erinnerungen, 2. August 1914, MHM Bw BAAW 0550, 22.

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Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden befindlichen sieben handschriftlichen Manuskripthefte im Quartformat mit jeweils etwa 200 handschriftlich beschriebenen Seiten dar.17 Sie wurden im Kontext der Entstehung der Sonderausstellung „Die Flotte schläft im Hafen ein“, die vom 11. Mai 2014 bis 31. Oktober 2014 im Deutschen Marinemuseum in Wilhelmshaven gezeigt wurde, neu ediert, bestand doch die Hoffnung, dass sie in den Veröffentlichungen bisher nicht enthaltene Informationen enthielten. Diese Hoffnung bewahrheitete sich nur begrenzt: Soweit erkennbar, handelt es sich bei diesen Manuskripten exakt um den Text, der den bekannten Veröffentlichungen zugrunde liegt, allein die in beiden bisherigen Veröffentlichungen entfernten Personennamen können nun aufgrund der Manuskripte nachvollzogen werden.18 Neben Stumpfs eigener Handschrift weisen die im MHM befindlichen Hefte zahlreiche Bleistiftkorrekturen auf, die sich vornehmlich auf die Auflösung von Abkürzungen, die Korrektur von Grammatik- und Rechtschreibfehlern und die Streichung zahlreicher Passagen beschränken. Zweifelsfrei handelt es sich um Korrekturen, die der Veröffentlichung „Warum die Flotte zerbrach“ zugrunde liegen. Zusätzlich weisen die Hefte zahlreiche An- und Unterstreichungen mit rotem Buntstift auf; auch sie haben mit der Erstveröffentlichung Stumpfs zu tun: diese Passagen sind in „Warum die Flotte zerbrach“ fett gesetzt. Wiewohl also die im Bestand des MHM überlieferten Hefte vom ersten Eindruck der Form nach mit ihren handschriftlichen Eintragungen und regelmäßigen Datumsangaben gängigen Vorstellungen eines Tagebuches entsprechen, handelt es sich dem Inhalt nach eher um Erinnerungen, denn um ein Tagebuch im eigentlichen Sinne. Mit dem Typoskript Carl Richard Linkes verhält es sich genau umgekehrt. Schon die Form des Schriftstückes, bei dem es sich um gelochte Blätter in Aktenordnern handelt, die mit einer einheitlichen Schreibmaschinentype beschriftet sind, weist darauf hin, dass es sich keinesfalls um die ursprünglichen Aufzeichnungen des Matrosen sondern um eine Abschrift handeln muss. Wie Stumpf weist auch Linke in seinem Zeugnis darauf hin, dass dieses auf an Bord verfassten Notizbüchern fußt, von denen ihm eines sogar verloren ging19, bevor er das Typo17 Wilhelm Dittmann schreibt in seinen Erinnerungen, dass die Aufzeichnungen Stumpfs, welche den Veröffentlichungen zu Grunde lagen, in vier quartformatigen, fingerdicken Heften vorlagen. Da jedoch die im MHM bewahrten Hefte im Inhalt eindeutig mit den Veröffentlichungen identisch sind, ist davon auszugehen, dass es sich bei ihnen um die bei Dittmann erwähnten handelte und dieser sich bezüglich der Anzahl irrte. Wilhelm Dittmann, Erinnerungen, Bearbeitet und eingeleitet von Jürgen Rojahn, 3 Bde., Frankfurt a. M./New York 1995, 929. 18 Dies ergibt sich nicht nur aus dem Textvergleich, sondern auch aus dem Vergleich der in Philipp, Ursachen, Bd. 10/2 vorgehefteten Faksimileseiten mit den im MHM erhaltenen Originalen. Es handelt sich bei den dort abgebildeten Seiten zweifelsfrei um die Seiten 68 und 69 von MHM Bw BAAW 0555. Lediglich die heutige Bleistiftpaginierung ist auf der Abbildung noch nicht zu sehen. Es ist unklar, ob diese im Zuge der Bearbeitung Dittmanns oder später erfolgte. 19 Erinnerungstyposkript Linke, undatierter Eintrag im Kontext der Schilderungen des August 1917, 241. Linke benutzt im Zusammenhang mit der Erwähnung des Verlusts den Terminus

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skript verfasste. Auch sein Zeugnis stellt also eine spätere Bearbeitung dar, im Gegensatz zum Manuskript Stumpfs aber behalten die Kriegsdarstellungen bis in den Januar 1917 die für ein Tagebuch typische Form tagesbezogener Aufzeichnungen bei. Mit Ausnahme des der ersten Seite der Kriegserinnerungen vorgestellten Goethe-Zitats weist das Dokument keinerlei zeitliche Ungereimtheiten auf und beschränkt sich auf tagesaktuelle Einträge, die sich zumeist auf das konzentrieren, was Linke auch tatsächlich selbst erlebt haben kann. Weltgeschehen erwähnt er nur insoweit, wie es auch aus der zeitgenössischen Presse, die an Bord verfügbar war, rezipiert werden konnte. Das Tagebuch Linkes verdient also weitaus mehr als das retrospektiv verfasste Manuskript Stumpfs tatsächlich die Bezeichnung „Tagebuch“, wiewohl aufgrund der Offenkundigkeit der Abschrift auch bei Linke nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Inhalt eventuell gekürzt oder nachträglich bearbeitet wurde. In den zentralen Passagen, welche die Marineunruhen des Jahres 1917 und die Revolution des Jahres 1918 betreffen, verhält es sich allerdings anders: Sie sind als fortlaufende, tagebuchbasierte Erinnerungen abgefasst und ganz offensichtlich nachträglich, also mit Wissen um den Ausgang der Ereignisse verfasst.20 Ebenso verhält es sich mit den „Helgoland-Crown“ überschriebenen Erinnerungen an seine Wehrdienstzeit von 1911 bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. Er habe sich „bemüht, ein getreues Bild meiner Erlebnisse und Beobachtungen, die ich während des Krieges auf dem Großkampfschiff ‚Helgoland’ machte, niederzulegen“, schreibt Stumpf einleitend in seinem Manuskript.21 Dieser Anspruch ist klug formuliert. Nicht objektive Wahrheit zu schildern – was kein Egodokument kann22 – ist sein Ziel, sondern seine persönliche, subjektive Sicht auf die Dinge niederzulegen. Die Gegenüberstellung mit den Erinnerungen Linkes zeigt, dass der Wert beider Zeugnisse dennoch über die individuelle Zeugenschaft hinausgeht. Denn indem sie sich trotz gänzlich unterschiedlicher Positionen ihrer Autoren in der Grundtendenz bestätigen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Erlebnisse stellvertretend für viele andere Mannschaften an Bord der Linienund Großkampfschiffe der Hochseeflotte gelesen werden dürfen. Die Forschung ist lediglich dahin gehend zu korrigieren, dass im Kontext des „Stumpf“ besser

„unterschlagen“. Es ist unklar, ob dies lediglich als altertümliche Wendung für „untergeschlagen“ im Sinne von verloren oder als Hinweis auf eine Entwendung im Zuge der anschließenden Verhaftung zu verstehen ist. 20 Linke, 240–334. 21 Stumpf-Manuskript, Heft 2, MHM Bw BAAW 0550-05, 6. 22 Mit dem Sammelbegriff „Ego-Dokument“ sollen nach einem Definitionsversuch Winfried Schulzes „alle jene Quellen verstanden werden, in denen ein Mensch Auskunft über sich selbst gibt, unabhängig davon, ob dies freiwillig – also etwa in einem persönlichen Brief, einem Tagebuch, einer Traumniederschrift oder einem autobiographischen Versuch – oder durch andere Umstände geschieht“. Winfried Schulze, Ego-Dokumente. Annäherungen an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung „Ego-Dokumente“, in: Ders. (Hg.), Ego Dokumente. Annäherungen an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, 11–30, hier 21. Dort wie auch im gesamten Band finden sich zahlreiche Hinweise auf die inhaltlichen Möglichkeiten und Grenzen dieser zentralen Quellengattung.

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von Erinnerungen denn von Tagebüchern gesprochen werden sollte. Gleiches gilt für die Aufzeichnungen Linkes ab 1917.

II. Dieser Aufsatz kann schon aus Platzgründen den Inhalt der Tagebücher nicht vollständig wiedergeben. Hierzu sei auf die oben genannten Veröffentlichungen und für weitere Anmerkungen auf und den Begleitkatalog zur Sonderausstellung des Deutschen Marinemuseums verwiesen.23 Hier soll lediglich schlaglichtartig auf Gemeinsamkeiten und Differenzen hingewiesen werden. Bereits auf den ersten Seiten der beiden Erinnerungen treten die unterschiedlichen Perspektiven der beiden Autoren auf gemeinsam Erlebtes zu Tage. „Hurra, hurra, hurra.“24 Notieren beide in ihren Tagebüchern, als ihnen der Beginn des Krieges Anfang August 1914 bekannt gegeben wird. Mit den Worten „Ein Seufzer der Erleichterung hob sich aus jeder Brust, das, was wir längst erhofft, erwartet, ersehnt und gefürchtet, war Wirklichkeit geworden“25 beschreibt Stumpf seine Empfindungen nach Bekanntwerden des Beginns der Feindseligkeiten und beschreibt damit eine Stimmung, die als „Augusterlebnis“ schon fast sprichwörtlich aber in der Forschung keineswegs unwidersprochen geworden ist.26 Man darf also davon ausgehen, dass er in das von ihm zitierte „Hurra“ mit tiefer Inbrust eingestimmt hat. Ganz anders lesen sich die gleichen Worte bei Linke: unter dem 1. August notiert er Daraufhin schrieb ich einen Brief nach hause, worin ich mitteilte, dass die ganze Sache gar nicht so schlimm stehe, als die Zeitungen schreiben, obgleich ich persönlich natürlich anderer Ansicht bin.27

Eingangs zu seinen Kriegserlebnissen, in denen er eine Zusammenfassung der Juli-Krise aus seiner Sicht gibt, schreibt er: Wie sehnsuchtsvoll hatten wir drei Jahre lang auf das Kommen des künftigen Septembers gewartet, und nun kam die Enttäuschung. Hiebleiben hiess es. Wir waren verärgert, missgestimmt, niedergeschlagen und wütend.28

Vor dem Hintergrund dieser Zeilen werden die drei zitierten „Hurras“ aus Linkes Mund am 4. August 1914 wohl nur verhalten geklungen haben. Im weiteren Verlauf nähern sich die Position der beiden Schreiber, die doch so unterschiedliche Hoffnungen in den beginnenden Krieg setzen, jedoch recht 23 Stephan Huck/Matthias Rogg/Gorch Pieken (Hgg.), Die Flotte schläft im Hafen ein. Kriegsalltag 1914–1918 in Matrosen-Tagebüchern, Dresden 2014. 24 Stumpf-Erinnerungen, 4. August 1914, MHM Bw BAAW 0550, 26 und Linke, 4. August 1914, 88. 25 Stumpf-Erinnerungen, 2. August 1914, MHM Bw BAAW 0550, 22. 26 Vgl. hierzu Sönke Neitzel, Julikrise, Augusterlebnis und die Flotte, in: Huck/Rogg/Pieken (Hgg.), Flotte schläft, 48–59. 27 Linke, 4. August 1914, 88. 28 Linke, 4. August 1914, 88.

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rasch an. Die Erwartung, dass das vom einen ersehnte, vom andern wohl eher befürchtete Gefecht nicht lange auf sich warten lassen würde, muss an Bord enorm gewesen sein. Nur so ist erklärlich, dass nicht eine Woche des Krieges vergeht, bis beide über Langeweile und Untätigkeit zu klagen beginnen. „Die Langeweile wirkt niederdrückend. Überall äußert sich Mißmut über unsere Untätigkeit“29 notiert Stumpf bereits unter dem 5. August 1914. Dies wird von Linke prompt bestätigt, der am selben Tag schreibt: Es hat sich bei uns noch nichts ereignet. Es ist eigentlich eine recht langweilige Sache, Tag und Nacht hinter den Geschützen auf der Lauer zu stehen, wenn nichts vor die Mündung kommt.30

Das Gefühl der Langeweile und des „Zur-Untätigkeit-Verdammt-Seins“ wird die Protagonisten im Zuge des Krieges nur selten verlassen und zieht sich wie eine roter Faden von Anbeginn an durch die Zeugnisse. Eine weitere Konstante bildet die Klage über die schlechte Behandlung durch die vorgesetzten Offiziere. Besonders der Divisionsoffizier, Oberleutnant zur See Paul Kohrt (1896–?), kommt bei beiden nicht gut weg. Unser „dämlicher Divisionsoffizier“31 tituliert ihn Richard Stumpf, um erläuternd fortzufahren: Ich kann sagen, daß während meiner Dienstzeit noch niemals, die Kluft zwischen der Messe und der Back, dem Offizier und dem Mann so klaffend tief gewesen war wie gerade jetzt während der Kriegszeit. Nicht wenig hat zu diesem unerfreulichen Verhältniß, [!] die Tatsache beigetragen, daß sich die Offiziere zu keinerlei Einschränkungen bequemen. Währenddem wir uns mit halber Brotration begnügen müssen, finden in der Messe Ess[-] und Tringgelage statt, bei welchem [!] sechs bis sieben Gänge aufgetischt werden. Im Frieden sagte man dazu nichts, paßt das aber für die jetzige tiefernste Zeit?32

Mit Fug und Recht kann diese Passage als Schlüsselpassage von Stumpfs Erinnerungen bezeichnet werden, werden in ihr doch zwei weitere Faktoren benannt, die nach heute einhelliger Meinung neben der erwähnten Untätigkeit die Ursache für die Marineunruhen im Jahr 1917 darstellten: zum einen die schlechte Verpflegung an Bord, vor allem aber das Gefühl, diese und andere Entbehrungen allein zu tragen und von den Offizieren im Stich gelassen worden zu sein. „Zum Frühstück gibt es ein Stückchen Brot mit Marmelade, oder Butter und ‚Tee’ nach Belieben.“ schreibt Stumpf weiter unten und fährt fort: Heute bei der Musterung sagte der Divisionsoffizier: Ihr bekommt immer noch zu viel zu essen, denn in den Speiseabfällen finden sich Reste von guten Kartoffeln und einwandfreiem Brot. Unserm Oberleutnant Kohrt nehmen wir solche Reden nicht übel. Herr verzeih ihm...33

Offenkundig wird in diesem Passagen, dass die Verpflegungsfrage nicht isoliert von der Führung durch die Vorgesetzten betrachtet werden kann. Es ist nicht die schlechte Qualität des Essens allein, die die Soldaten empört, denn diese Entbeh29 30 31 32 33

Stumpf-Erinnerungen, 5. August 1914, MHM Bw BAAW 0550, 27. Linke, 5. August 1914, 88f. Stumpf-Erinnerungen, 1. Juni 1915, MHM Bw BAAW 0551, 5. Ebd. Stumpf-Erinnerungen, 7. Juni 1915, MHM Bw BAAW 0551, 12.

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rung teilen sie ja mit einem Großteil der so genannten Heimatfront, es ist vielmehr das Gefühl der ungerechtfertigten alleinigen Entbehrung, das sie in Rage bringt. Passagen wie diese ließen den Reichstagsuntersuchungsausschuss später zu folgendem Ergebnis hinsichtlich der Marineereignisse im Jahr 1917/18 kommen: Ursache der mit der Dauer des Krieges wachsenden Mißstimmung in Teilen der Mannschaften war auch deren Überzeugung, daß berechtigter Anlaß zu Klagen über Verpflegung und Behandlung der Vorgesetzten vorhanden sei und daß die Verschiedenheit der Lebenshaltung an Bord (Messe und Back) sowohl wie an Land bei besserem Willen der Vorgesetzten hätte ausgeglichen werden können.34

Diese zentralen Passagen werden von Carl Richard Linke voll umfänglich und zu einem ähnlichen Zeitpunkt bestätigt. Über Oberleutnant zur See Kohrt schreibt er am 24. Juni 1915: Zum Frühstück hatten wir kein Brot, wir begnügten uns mit einem ‚Künstlerfrühstück’, Kaffee und Zigarette. Mittags gab es dicke Graupen, Kälberzähne genannt. (...) Bei dem der Musterung folgenden Divisionsdienst hielt Oberleutnant Kohrt zum erstenmale einen Vortrag über die Kriegslage und klärte uns darüber auf, dass man zum Brotbacken Getreide verwendet, und deshalb müssen wir mit Getreide sparen. Durch diesen zweifelhaft geistreichen, aber entschieden verunglückten Vortrag können wir ihm nachfühlen, warum er sich stets in Schweigen hüllt. Bei manchem ist Reden Silber und Schweigen Gold, bei anderen ist Reden Blech und Schweigen Mist. Wie ist es nur möglich, dass dieser Mann Marineoffizier geworden ist, er muss doch einen schwerreichen Papa haben.35

Hier spielt Linke auf die Auswahlkriterien des kaiserlichen Seeoffizierkorps und die Notwendigkeit der durch die Offizieranwärter selbst zu bezahlende Ausbildung an.36 Wiewohl sich beide Autoren in der Grundtendenz der Beurteilung ihrer Vorgesetzten durchaus ähneln, gibt es doch auch Unterschiede. Im Dezember 1915 wird zur Freude beider der ungeliebte Oberleutnant zur See Kohrt wegversetzt und von Leutnant zur See Ernst Albrecht (1892–1917) abgelöst. Stumpf wie Linke knüpfen daran wenig Hoffnung, kennen sie ihn doch bereits flüchtig als Vorgesetzten einer anderen Division an Bord. So schreibt Stumpf: An seine [d.i. Kohrts, S.H.] Stelle tritt Leutnant Albrecht, von welchem ich weiß, daß er ein außerordendlich [!] umfangreiches Wissen hat, daß [!] sich auf fast alle Gebiete erstreckt mitbringt. Sonst aber ist er ein Bur[e]aukrat und Haarspalter, wie er im Buche steht. Was nicht geschrieben und gestempelt ist, gilt für ihn als nicht vorhanden.37

Und auch Linke zeigt sich skeptisch:

34 WUA, Vierte Reihe, Bd. 9/1, XXII. 35 Linke, 24. Juni 1915, 105. 36 Nicolas Wolz, Das lange Warten. Kriegserfahrungen deutscher und britischer Seeoffiziere 1914 bis 1918, Paderborn/München/Wien/Zürich 2008, 14–40. 37 Stumpf-Erinnerungen, 2. Dezember 1915, MHM Bw BAAW 0551, 127. Laut Bleistiftpaginierung 129 (doch wurden beim Paginieren versehentlich zwei Seitenzahlen doppelt vergeben. Künftig werden neue und alte Paginierung durch „/“ getrennt angegeben, hier also 127/129).

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Stephan Huck Unser neuer Divisionsoffizier ist Leutnant Albrecht. Ich bin überhaupt mit ‚Albrechts‘ gut versehen, denn auch mein neuer Korporal heisst Albrecht, Bootsmannsmaat Albrecht, er hatte seinerzeit den Satz erfunden: ‚Sie glauben doch nicht etwa, dass wir Kameraden sind?‘38

Doch Linke lässt sich anlässlich des Weihnachtsfestes eines Besseren belehren. Wie eine Farce kam ihm dieses Fest vor, an dem an allen Ecken und Enden von Frieden auf Erden gegrölt werde, doch Weihnachtsstimmung eben nicht zu kaufen sei. Deshalb habe sich zunächst niemand gefunden, der den dienstlich beschafften Baum habe schmücken wollen.39 Doch als der neue Divisionsoffizier mit teils eigenem Geld für jeden Matrosen seiner Division ein kleines Geschenk besorgt und sich noch abends in die Kasematte zu den Soldaten setzt, schreibt Linke: „Von dieser Sorte Offizier zwölf Stück an Bord, dann könnte aus der ‚Helgoland’ noch einmal ein Kriegsschiff werden“.40 Und zum Jahreswechsel notiert er: Es ist direkt wunderbar, seitdem Kohrt fort ist, man lebt ordentlich auf, schon allein, wenn [!] man das Empfinden hat, nicht immer für einen vorzüglich dressierten Affen gehalten zu werden.41

Immer wieder betont Linke, wie sehr Albrecht und nicht Kohrt die Ausnahme von der Regel darstellt und knüpft daran die Befürchtung, dass Albrecht bald wieder gehen werde: Die wenigen Vorgesetzten aber, die die Fähigkeit haben, mit scharfem Auge in die Zukunft und auch in unser Inneres zu blicken, dringen mit ihren abgedämpften Violinenstimmchen gegen die Blasmusik der Kohrt, Schulze, Wenzke, Hagen, Klausen, Reimers und andere nicht an. Wer weiss, wie lange noch Albrecht bei uns sein wird, dann wird auch er ein ‚Himmelfahrtskommando’ erhalten42

Tatsächlich wird er nur fünf Tage nach dem Linke seinen Tagebucheintrag verfasst hat, von Bord wegversetzt.43 Angesichts der übereinstimmenden wiederholten Klage beider Autoren über die Führungsschwäche der Offiziere an Bord nimmt es Wunder, das Richard Stumpf nach der Kommandoübernahme Leutnant zur See Albrechts über diesen kein weiteres Wort verliert, wo Linke doch so des Lobes über diesen voll ist. Da das fragliche Heft Stumpfs unvermittelt Mitte März 1916 im unvollendeten Satz abbricht44, mag es sein, dass dieser Aspekt lediglich verloren gegangen ist. Womöglich geht Stumpf aber im Gegensatz zum generell skeptischer gestimmten Linke auch im zweiten Kriegsjahr immer noch davon aus, 38 Hier spielt Linke auf einen Vorgang an, der sich einen Monat vorher ereignet hatte. Die zitierte Äußerung tätigte besagter Bootsmannsmaat Albrecht gegenüber einem zu verabschiedenden Matrosen. Vgl. Linke, 15. November 1915, 161; Linke, 2. Dezember 1915, 165. 39 Linke, „Weihnachten 1915“, 168. 40 Ebd. 41 Linke, 30. Dezember 1915, 171. 42 Linke, 17. März 1916, 177. 43 Linke, 22. März 1916, 178. Angesichts der oben geschilderten unklaren Entstehungsgeschichte des Typoskripts muss an dieser Stelle freilich offen gelassen werden, ob die zeitliche Nähe zwischen Linkes Befürchtung und ihrem Eintreffen tatsächlich zufällig ist, oder ob es sich um eine retrospektive Verfälschung der Erinnerung handelt. 44 Stumpf-Erinnerungen, MHM Bw BAAW 0551, 183/185.

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dass Leute wie Albrecht an sich die Normalität darstellen sollten, die ja bekanntlich selten der Erwähnung wert ist. Tatsächlich fiebert Stumpf im Unterschied zu Linke auch 1916 noch dem Einsatz entgegen. Dies kommt neben anderen Episoden wie der sechsseitigen euphorischen Schilderung der Heimkehr der „Möwe“ im Tagebuch Stumpfs, die Linke keine Zeile wert ist, vor allem in der Wiedergabe der Skagerrakschlacht zum Trage. Beide Autoren geben sie recht unterschiedlich wieder. Pathetisch beginnt Stumpf seinen zwei Tage nach der Schlacht verfassten Bericht mit den Worten „Endlich [,] Endlich – Endlich ist das große Ereignis eingetreten, welches seit 22 Monaten unser ganzes Sehnen, Fühlen und Denken in Anspruch nahm.“45 Insgesamt 40 Manuskriptseiten nimmt die Schlachtendarstellung bei ihm ein. Am 5. Juni beim anschließenden Kaiserbesuch stimmt er jubelnd in das Hurra ein, wie denn überhaupt „eine sehr gehobene Stimmung herrschte.“46 Doch mit beendigter Schlacht kehren auch der Alltag und das Gefühl der Ungerechtigkeit wieder zurück. 300 Eiserne Kreuze sollen an die Mannschaften aus Anlass der Seeschlacht verliehen worden sein. „Dann hat es jeder dritte Mann. Lieber wäre es mir, wenn ich zehn Tage Heimatsurlaub bekäme und mein gesundes Kreuz behalte“47, räsoniert Stumpf lakonisch und vielleicht auch ein wenig desillusioniert, denn auf den Urlaub hofft er vergeblich. Von Stumpfs anfänglichem Pathos ist in Linkes Darstellung nichts zu finden. Nüchtern-sachlich notiert er unter dem 1. Juni 1916: Am gestrigen Abend gerieten wir zum ersten male mit den Engländer zusammen, und wir hatten mit seiner Flotte eine Reihe von Gefechten, die sich bis zum Morgengrauen hinzogen.48

Aufgrund der bisherigen Erfahrungen geht er zunächst nicht davon aus, dass es zum Gefecht kommen werde. Als sich die Anzeichen zum Gegenteil verdichten, tauscht er mit Kameraden die Heimatadressen aus und verabredet, das Überlebende den Hinterbliebenen unabhängig vom etwaigen tatsächlichen Todesumstand die tröstende Nachricht „Granatsplitter ins Herz oder in den Kopf, sofort tot“ überbringen sollten.49 So schlimm kam es nicht, dennoch zehrte das die gesamte Nacht währende Gefecht an Linkes Nerven, und gegen morgen meinte er, dass „die Stunde ... zum Tage [wird] und scheint 600 Minuten zu haben.“50 Auch Linke konstatierte, dass das dem Kaiser anlässlich seines auf die Schlacht folgenden Besuchs entgegengebrachte „Hurra“ außergewöhnlich lautstark ausgefallen sei, doch lässt dies bei ihm keine Hochgefühle aufkommen, vielmehr knüpft er auch an diese Schilderung sarkastische Kritik: 45 Stumpf-Erinnerungen, 3. Juni 1916 zum 31. Mai und 1. Juni 1916, MHM Bw BAAW 0552, 76. 46 Stumpf-Erinnerungen, 8. Juni 1916, MHM Bw BAAW 0552, 127f. 47 Stumpf-Erinnerungen, 8. Juni 1916, MHM Bw BAAW 0552, 129. 48 Linke, 1. Juni 1916, 192. 49 Ebd. 50 Linke, 1. Juni 1916, 200.

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Stephan Huck Käppen Ast [d.i. der Erste Offizier, S.H.] liess auf S.M. drei Hurra ausbringen, die eine recht respektable Tonstärke hatten, weil unsere Vorgesetzten auch nicht den leisesten Versuch gemacht hatten, unsere Gesinnungs- und Gedankengänge vorher durch Vormusterungen und ähnliche Hanswurstiaden zu verpulvern und verhunzen. Guten Morgen, sagte er, mein Gott, wann mag eigentlich bei diesen Herrschaften der Tag anfangen? Wir hätten eher ‚guten Abend’ sagen mögen.51

Dabei hätte Linke allen Grund gehabt, lautstark „Hurra“ zu rufen, denn anders als Stumpf erhielt er nach der Schlacht zehn Tage Urlaub.52 Die Schlacht änderte am grundlegenden Dilemma der Kaiserlichen Marine nichts. Und ebenso wenig änderten sich die Verhältnisse an Bord. Schlechte Behandlung und schlechtes Essen blieben ebenso wie das Gefühl der Nutzlosigkeit Konstanten im Alltag und in den Berichten unserer Protagonisten. Sie mündeten schließlich im August 1917 in spontanen Protesten an Bord einiger Großkampfschiffe, darunter auch der „Helgoland“. Die Marineführung ließ ein juristisches Exempel statuieren, in welchem die Matrosen Albin Köbis (1892–1917) und Max Reichpietsch (1894–1917) am 5. September 1917 in Köln-Wahn hingerichtet wurden.53 Carl Richard Linke, dem die Juristen ebenfalls Beteiligung an „kriegsverräterischer Aufstandserregung“ vorwarfen, wurde zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt und zunächst in Celle, später in Rendsburg inhaftiert. Seiner Darstellung nach völlig zu Unrecht, denn er habe lediglich spontan während eines Aufenthalts im „Banter Schlüssel“ die Ursachen des gegenwärtigen Krieges auf dem Balkan erklären wollen.54 Eine Absicht, die heute nicht ins Zuchthaus, sondern auf die Bestsellerlisten führt. Mit der Verurteilung Linkes brach auch für Stumpf eine Welt zusammen. Desillusioniert notierte er angesichts der Urteilssprüche: Ich hätte jeden für einen Narren erklärt, der behauptet hätte, daß in meinem Vaterlande ein Mensch zu Zuchthaus und zum Tode verurteilt werden kann, ohne daß er etwas Unrechtes getan hat. Allmählich geht mir eine ganze Bogenlampe auf, warum manche Menschen das Militär und sein System mit solcher Leidenschaft bekämpfen. Armer Karl Liebknecht! Wie tust Du mir heute leid.55

Angesichts von Stumpfs bisheriger patriotischer Gesinnung ist ein stärkerer Ausdruck seines Bruchs mit dem System als diese Sympathiebekundung mit dem inhaftierten Kommunistenführer kaum denkbar. Ab Spätsommer 1917 zieht Stumpf alle Nachrichten, die er über die Kriegslage erhält, in Zweifel, denn „wer aber die Tatsachen und die Wirklichkeit kennt, mag sich ein Bild machen, mit welcher Vorsicht man auch alle anderen Ereignisse lesen muß.“56 Selbst vermeintliche Gewissheiten werden nun von ihm auf den Prüfstand gestellt. Bis zu dieser Zeit 51 Linke, 5. Juni 1916, 204f. 52 Ebd. 53 Vgl. Wolfgang Semroth, Urteile der Marinejustiz als „Waffe gegen die Linkssozialisten“, in: Huck/Rogg/Pieken (Hgg.), Flotte schläft, 72–87. 54 Linke, 8. August 1917, 248f. 55 Stumpf-Erinnerungen, undatierter Eintrag Anfang September 1917, MHM Bw BAAW 0554, 100. 56 Stumpf-Erinnerungen, 4. September 1917, MHM Bw BAAW 0554, 106.

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stand für Stumpf die Schuld Englands am Krieg außer Frage, doch nun notiert er: „Ich bin der festen Überzeugung, daß E.[nglands, S.H.] Schuld am Kriege nicht größer ist als wie die unsere.“57 Im scheinbaren Gegensatz zu dieser Skepsis aber hat bis zuletzt auch Stumpfs Patriotismus Bestand. Noch im März 1918 schreibt er: Fast nirgends stößt es heute auf Widerspruch, wenn irgendein Kerl sein Vaterland beschmutzt, während diejenigen, die auch noch das Gute und Schöne hervorheben, einen schweren Stand haben.58

Und so muss es für ihn ein innerer Jammer sein, konstatierten zu müssen, dass „wir ja den Beweis der Fähigkeit, ein Weltvolk zu bilden, schuldig geblieben [sind]. Vieles, allzu vieles ist im Inland und in den Kolonien geschehen, dessen wir uns heute schämen.“59 Verhalten klingt hier ein politisches Weltbild Stumpfs an, dass in seiner Diktion dem Geist der Zeit entsprechend sozialdarwinistisch anmutet, aber er spart im folgenden auch nicht mit Kritik an den inneren Verhältnissen des Reiches. Etwa der enormen Teuerung, die zu beobachten ist oder der ihm unverständlichen Verweigerung des allgemeinen Wahlrechts.60 Die Diskrepanz zwischen seinem Patriotismus auf der einen Seite und seiner Gesellschaftskritik auf der anderen Seite ist kaum aufzulösen. Angesichts seiner weiteren Biographie, auf die hier aus Platzgründen nicht weiter eingegangen werden kann, steht zu vermuten, dass Richard Stumpf zeitlebens darunter gelitten hat, dass die politische Realität hinter seinen moralischen Ansprüchen zurückblieb. Er verarbeitet diesen Widerspruch, indem er klar zwischen der Bürokratie61 und den Offizieren, die für ihn nach den Erfahrungen an Bord der „Helgoland“ die Wurzel allen Übels darstellen62, und dem Volk und seiner Regierungsform unterscheidet: obwohl er sich Ende Oktober 1918 auf der einen Seite nach Demokratie sehnt63, notiert er noch wenige Seiten später „daß die Wurzeln unseres [d.i. Deutschlands, S.H.] Ansehens und aller Kraft dem Kaisertum entwachsen.“64 Bis zum Schluss bleibt Stumpf loyal dem Staat gegenüber, selbst die Kritik an den Offizieren ist keine grundlegende Gesellschaftskritik, sondern eine Kritik am konkreten Verhalten einzelner, denen er im Zuge seiner Dienstzeit begegnet war. Wie sonst ist zu erklären, dass er in den Wirren der Revolution einem der wenigen Offiziere, die

57 Stumpf-Erinnerungen, 2. August 1917, MHM Bw BAAW 0554, 82. 58 Stumpf-Erinnerungen, 25. März 1918, MHM Bw BAAW 0555, 35. Dittmann, Warum die Flotte zerbrach, 193 datiert diesen Eintrag auf den 18. März, wie häufig übersieht er hier aber, dass Stumpf das Datum in der Regel nicht seinen Aufzeichnungen voran, sondern nachstellt. 59 Stumpf-Erinnerungen, zwischen dem 21. Mai und 10. Juni 1918, MHM Bw BAAW 0555, 48. 60 Ebd. 61 Vgl. Stumpf-Erinnerungen, undatiert um September 1918, MHM Bw BAAW 0555, 66. 62 „O Jammer, weshalb mußten wir so schuftige gewissenlose Offiziere haben, die uns alle Liebe zum Vaterland, die Freude am deutschen Wesen (...) genommen haben“, StumpfErinnerungen, undatiert Ende Oktober 1918, MHM Bw BAAW 0555, 93. 63 Vgl. Stumpf-Erinnerungen, 3. Oktober 1918, MHM Bw BAAW 0555, 69. 64 Stumpf-Erinnerungen, 16. Oktober 1918, MHM Bw BAAW 0555, 79.

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sich den Mannschaften entgegenstellen wollen, seine „volle Bewunderung“65 entgegenbringt? Denn das, was von den Gründern der „Sozialistischen Republik Oldenburg-Ostfriesland“ in jenen Tagen gefordert wird, ist für ihn noch am 8. November „Irrsinn“66. „Ein tiefer seelischer Schmerz“67 habe ihn in den Tagen der Revolution ergriffen, schreibt er auf der letzten Seite seines Manuskripts. Er wird ihn zeitlebens nicht gänzlich überwinden. Bei Carl Richard Linke liegen die Dinge einfacher. Es ist bereits gezeigt worden, wie distanziert er von Anbeginn an dem Kriegsgeschehen gegenüber stand. Beim Lesen seiner Schilderungen der Marineunruhen 1917 und der Revolution 1918, wozwischen er eine klare Verbindungslinie zieht68, gilt es zu berücksichtigen, dass diese im Unterschied zum bisherigen nicht als Tagebuchaufzeichnungen verfasst sind. Vielmehr beruhen sie wie eingangs gezeigt auf den Notizen seines sechsten Notizbuches, das ihm vor Verfassen der Erinnerungen verloren gegangen war.69 Lakonisch bis humorvoll schildert Stumpf die Farce des Feldkriegsgerichtsverfahrens. Zunächst entsteht beim Lesen dieser Erinnerungen der Eindruck, als hätte dieses doch gravierende Ereignis sein Weltbild kaum erschüttert. Vielmehr scheint es noch in positivem Sinne durch die Kameradschaft bestätigt, die ihm die Transportmannschaft auf dem Weg in das Celler Zuchthaus gewährt. Denn der Transportführer „Obermaat Hohnholz spendierte ein paar Lagen Bier, und dazu rauchten wir, was die Lungen fassen konnten.“70 Doch zum Ende dieser Schilderung, die er bezeichnend als „Walpurgisnacht“71 überschreibt, wird er noch einmal deutlich: Das Bier, das ihm die Kameraden vor dem Weg in die Heft spendieren, bezeichnet er als „Verachtungstrunk“: Dem Staat aber, der mir meine Jugendzeit geraubt hat, der mir jetzt unter dem Deckmantel des Gesetzes die letzten Reste der Freiheit nimmt ... steht das Recht nicht zu, sich mein Vaterland zu nennen72

Im Gegensatz zu Stumpf ist Linke jeglicher Patriotismus abhanden gekommen. Das Vaterland ist für ihn, so führt er später aus, der Staat, und dieser ist eine Organisation oder Einrichtung, deren Aufgabe es ist, seinen Mitgliedern die Existenzberechtigung zu sichern und diese vor ungesetzmässige[r] Behandlung und Übergriffe[n] zu schützen.73

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Stumpf-Erinnerungen, 8. November 1918, MHM Bw BAAW 0555, 100. Stumpf-Erinnerungen, 8. November 1918, MHM Bw BAAW 0555, 105. Stumpf-Erinnerungen, 11. November 1918, MHM Bw BAAW 0555, 118. In den einleitenden Sätzen zur Schilderungen der Vorgänge, in deren Verlauf er verhaftet wurde, nennt Carl Richard Linke den 8. August 1917 den „acutus der deutschen Revolution von 1918“, Linke, 8. August 1917, 248. S.o. Linke, 5. September 1917, 269. Linke, 5. September 1917, 252. Linke, 5. September 1917, 270. Erinnerungstyposkript Linke, undatierter Eintrag im Kontext der Schilderungen des Oktober 1918 , 298.

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Dieser Aufgabe ist das Deutsche Reich ihm gegenüber erkennbar nicht nachgekommen und hat daher seinen Loyalitätsanspruch verwirkt. Einig ist sich Linke mit Stumpf darin, dass im Verhalten der Offiziere der Grund für die Vorgänge zu suchen ist, deretwegen er nun einsitzt: „Wenn ‚man’ aber glaubt, dass trotzdem die ideale Schlagkraft [der Flotte, S.H.] geschädigt sei, dann soll man sich vertrauensvoll an die Offiziersmessen wenden“ schreibt er im Kontext der Schilderung der ersten Hafttage.74 Seine Verhaftung erklärt sich Linke mit einer Verwechslung mit dem Menagekommissionsmitglieder Adolf Biber von der „Helgoland“, der bereits seit längerem bespitzelt worden sei. Ob ihm diese Dinge, die er mit später zusammengetragenen Dokumentenauszügen begründet, in ihrem Ausmaß tatsächlich bereits zu jenem Zeitpunkt bewusst geworden sind, muss hier offenbleiben. Doch zeugt die Befürchtung, man könne ihn „als Mitwisser der ganze Marine-Justizaffaire“ aus dem Weg zu räumen versuchen, von der tiefen Verunsicherung, die er im Zuge der Ereignisse erfahren hat.75 Neben dem naheliegenden Überlebenswillen liegt Linkes wichtigstes Ziel in der Revision seines Unrechtsurteils. Auch unter Inkaufnahme von Repressalien weigert er sich, das gegen ihn ergangene Urteil zu unterschreiben, weil ich durch diese Unterschrift erstens die gesamten Schiebungsurteile einschliesslich der Todesurteile anerkannt und mitbefürwortet hätte und damit eine Wiederaufrollung der gesamten Marine-Justizaffaire unmöglich gemacht hätte, ..., und zweitens hatte ich kein Interesse, weiterhin für das kaiserliche Deutschland als Soldat zu kämpfen.76

Der Kampf gegen das erlittene Unrecht wird für Linke wichtiger als alles andere, selbst stellt er sich in seiner Schilderung in eine Reihe mit historischen Persönlichkeiten wie Jan Hus (1369–1415) und Andreas Hofer (1767–1810).77 Von der Außenwelt in der Haft weitgehend isoliert, kommt die Hafentlassung im Zuge der Revolutionswirren, die von Kiel aus Rendsburg erreichten, für Carl Richard Linke überraschend.78 Mit Genugtuung nimmt er zur Kenntnis, dass es ein Kamerad seines Jahrganges der „Helgoland“-Besatzung gewesen sei, Paul Rothe, der in Cuxhaven die erste Rote Flagge im Deutschen Reich gehisst habe.79 Deutlich unterscheidet sich diese Wahrnehmung der Ereignisse von jener Stumpfs, der sie als „Irrsinn“ abgetan hatte. Die Erwähnung dieses Vorfalls belegt einen Stolz auf die „Helgoland“, der aufgrund der an Bord erlittenen Widrigkeiten zunächst widersinnig anmutet. Er speist sich freilich nicht aus den militärischen Leistungen der „Helgoland“, sondern aus der an Bord erfahrenen Kamerad-

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Linke, undatierter Eintrag im Kontext der Schilderungen des September 1917, 273. Linke, undatierter Eintrag im Kontext der Schilderungen der ersten Haftzeit, 279. Linke, undatierter Eintrag im Kontext der Schilderungen der ersten Haftzeit, 284. Linke, undatierter Eintrag im Kontext der Verlegung von Celle nach Rendsburg, April 1918, 292f. 78 Linke, undatierter Eintrag im Kontext der Verlegung von Celle nach Rendsburg, 6. November 1918, 300–303. 79 Linke, undatierter Eintrag im Kontext der Verlegung von Celle nach Rendsburg, 6. November 1918, 306.

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Stephan Huck

schaft.80 Dies dürfte der wichtigste Grund gewesen sein, dass er sich nach seiner Haftentlassung nicht auf den Weg in die Heimat sondern zurück zu seinen Kameraden begab.81 Möglicherweise spielte aber auch eine Rolle, dass er aufgrund seines Schicksals ungewollt zu einer Identifikationsfigur der Revolutionäre geworden war.82 Entsprechend wird er wie ein Held von den Kameraden „seiner“ dritten Division begrüßt, als er auf diese in der Nürnberger Schule in Bremen trifft, wo große Teile der „Helgoland“-Besatzung sich inzwischen auf Seiten der Revolutionäre geschlagen haben.83 In dem Versuch, sich die Ereignisse der vergangenen Monate zu erklären, kommt Linke zu dem Fazit „ Selbstlose Kameradschaftstreue der Matrosen hat über egoistische, phrasenhafte Offiziers-vaterlandesliebe gesiegt“.84 So wird Linke nachträglich, durch die Erfahrung der Haft und der Revolution zu dem Revolutionär, als der er 1917 bereits verurteilt worden war und arbeitet so an der Umdeutung der Vorgänge 1917 von einer einfachen Hungerrevolte zu einer politischen Bewegung mit. Noch einmal kehrt er auf die „Helgoland“ zurück, um seine Sachen zu holen. Als sich die dort verbliebenen Unteroffiziere ihm und seinen Kameraden nach Bremen anschließen wollen, sieht er keinen Platz mehr für sie, denn „hatten sie früher nicht den Mut gehabt, sich offen auf unsere Seite zu stellen, so benötigten wir sie jetzt, nachdem wir über den Berg sind, nicht mehr.“85 Die weiteren Biographien Stumpfs und Linkes sollen hier nur kurz gestreift werden. Stumpf schloss sich 1919 kurz einem Freikorps an, bevor er zunächst arbeitslos und später journalistisch tätig wurde, was ihn 1926 nach Berlin vor den Untersuchungsausschuss führte. Später verdingte er sich als Herbergsvater in Heiligenstadt, wo er 1957 verstarb. Die Lehre, die er aus den Ereignissen zog, brachte er in der Widmung zum Ausdruck, die er seinem ältesten Sohn Lothar in dessen Exemplar von „Warum die Flotte zerbrach“ schrieb: Mein lieber ältester Sohn Lothar möge sich fürs Leben merken, daß der Krieg der Inbegriff aller Laster ist. Seines Lebens höchster Ehrgeiz sei Kampf für den Frieden. Dein besorgter Vater Richard.86

80 Angesichts der überbordenden Literatur muss hier darauf verzichtet werden, den facettenreichen und nicht zuletzt auch propagandistisch aufgeladenen Begriff der Kameradschaft differenziert zu betrachten. Exemplarisch sei auf Thomas Kühne, (Hg.), Männergeschichte – Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt am Main 1996 verwiesen. 81 Linke, undatierter Eintrag im Kontext der Verlegung von Celle nach Rendsburg, Schilderung der Novemberereignisse, 308. 82 Diese Schlussfolgerung lässt die Schilderung der Befreiung aus der Haft zu, nach der Linke die an ihn herangetragene Erwartung spürte, etwas zu sagen und sich an die Spitze des Zuges setzte, Linke, undatierter Eintrag im Kontext der Verlegung von Celle nach Rendsburg, Schilderung der Novemberereignisse, 302. 83 Linke, undatierter Eintrag im Kontext der Verlegung von Celle nach Rendsburg, Schilderung der Novemberereignisse, 314f. 84 Linke, Schilderung der Novemberereignisse 1918, 324f. 85 Linke, Schilderung der Novemberereignisse 1918, 328. 86 Im Familienbesitz. Abgebildet in Huck/ Rogg/ Pieken (Hgg.), Die Flotte, 28.

Erlebnisse der Matrosen Stumpf und Linke

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Carl Richard Linke kehrte nach dem Großen Krieg in seine Heimat Forst in der Lausitz zurück, eröffnete einen Fahrradladen und lebte dort bis 1962. Warum er seine Erinnerungen nie veröffentlichte, ist bis heute unbekannt.

FLOTTE UND FLIEGER Die Kaiserlichen Marineluftstreitkräfte im Museum Anja Dörfer

Heer und Flotte können das Flugzeug ebensowenig entbehren wie die Kavallerie oder die Kleinen Kreuzer. Gerade deshalb aber brauchen beide ihr eigenes fliegendes Personal. Denn nicht die Kunst des Fliegens ist das Entscheidende und die Grundlage der Organisation, sondern die Kunst, das im Fluge Erschaute richtig zu deuten und auszuwerten. (…) Die Schwierigkeit des Seefliegens liegt nicht eigentlich in der Luft, sondern beginnt recht eigentlich erst auf dem Wasser. (…) Mit Kenntnis der Schiffstypen allein ist der Flotte nicht gedient. Erst Beherrschung der Seetaktik und der Funkdisziplin der Flotte ermöglichen ein erfolgreiches Zusammenarbeiten (…).1

Diese Worte von Ulrich Kessler, einem Marineflieger des Ersten Weltkrieges, der im Zweiten Weltkrieg u.a. als „Fliegerführer Atlantik“ in der deutschen Luftwaffe tätig war, beschreibt Aspekte einer Teilstreitkraft der Marine, über deren Existenz in „Nicht-Marine-Kreisen“ oft wenig Kenntnis herrscht. Dabei können die deutschen Marineflieger inzwischen auf eine über 100jährige Geschichte zurückblicken und gehören heute im Rahmen der Auslandseinsätze der Bundeswehr zum festen Bestandteil maritimer Präsenz. Auch in der deutschen Museumslandschaft findet die Geschichte der Luftstreitkräfte der Marine kaum Niederschlag. Der Fokus der luftfahrthistorischen Ausstellungen, ob in privaten oder öffentlichen Museen, liegt auf der zivilen Fliegerei bzw. auf der Geschichte der deutschen Heeresflieger und Luftwaffe. Und auch marinegeschichtliche Ausstellungen behandeln das Thema meist nur am Rande, wenn überhaupt. Seit 1997 schließt das von einem Förderverein getragene Deutsche Luftschiff- und Marinefliegermuseum Nordholz – AERONAUTICUM – diese Lücke. Doch bevor die Darstellung der Luftstreitkräfte der Kaiserlichen Marine in deutschen Museen genauer untersucht wird, einführend ein kurzer Überblick über ihre Entstehungsgeschichte und Bedeutung im Ersten Weltkrieg. Nachdem in den 1880er Jahren die Preußische Armee mit der militärischen Erprobung von Luftfahrzeugen begonnen hatte, unternahm die Kaiserliche Marine ab 1892 erste Versuche zum Einsatz von Fesselballonen. Doch letztlich beschränkte sie sich sehr bald wieder vorrangig auf die Beobachterrolle, und der Aufbau der Hochseeflotte ließ ab 1898 auch keine finanziellen Ressourcen für ein Engagement im fliegerischen Bereich. Damit war klar, dass man für den Aufbau 1

Zitiert nach: Jörg Duppler, Aufbau und Entwicklung der deutschen Marineflieger 1913 bis 1958, in: Deutsches Marine Institut (Hg.), Marine-Flieger. Von der Marineluftschiffabteilung zur Marinefliegerdivision, Herford 1988, 14015061, hier 37.

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von Marinefliegerstreitkräften zukünftig vor allem auf zivile und zivilwirtschaftlich finanzierte Entwicklungen angewiesen sein würde. Nachdem man von Seiten der Marine ab 1907 beim Heer einige Luftschifffahrten begleitet hatte, schien 1910 durch den Einsatz leistungsgesteigerter und zuverlässiger Motoren der Durchbruch im System „Fliegen leichter als Luft“ gekommen zu sein. Auch in der Fliegerei hatte es inzwischen grundlegende Entwicklungen gegeben, die den militärischen Einsatz erfolgversprechend erscheinen ließen. Nun stellte die Marine zumindest geringe finanzielle Mittel zur Förderung der Luftfahrt zur Verfügung, die in den Folgejahren zur Förderung technischer Entwicklungen, der Ausbildung fliegerischen Personals und zum Ankauf erster Luftfahrzeuge verwendet wurden. Die Seeflieger und Marineluftschiffer gehörten damit zu den Pionieren der Luftfahrt. Schließlich kam es am 3. Mai 1913 durch Allerhöchste Kabinettsordre zur Geburtsstunde der deutschen Marineflieger. Kaiser Wilhelm II. erkannte das Marineluftwesen als eigenständige Waffengattung der Kaiserlichen Marine an und genehmigte die Aufstellung von zwei Marinefliegerabteilungen. Es entstanden die Marine-Luftschiffabteilung in BerlinJohannisthal und die Marine-Fliegerabteilung in Putzig bei Danzig.2 Die Marine hatte sich eine neue Dimension erschlossen. Ein Selbstverständnis über Aufgaben und Wert der Marineflieger schien in den Pionierjahren vordergründig vorhanden zu sein, auch wenn die Protagonisten des kaiserlichen Flottenbaus bereits frühzeitig erkannten, dass Luftfahrttechnik bei der Marine auf Dauer zu hohen Ausgaben führen konnte, die einem weiteren Aufwuchs der seefahrenden Flotte eher im Weg standen. Die Hochtechnologie des Flugzeugbaus war eben sehr kostspielig und führte damit unweigerlich zu Verdrängungseffekten. Zudem passte die Organisation nur bedingt in die traditionellen Abläufe der Marine und wurde zumeist als Appendix in bestehenden Strukturen empfunden.3

Bei Kriegsausbruch im Sommer 1914 verfügte die Marine-Luftschiffabteilung über 273 Soldaten und drei Luftschiffe - das starre Zeppelin-Luftschiff „L 3“4 und zwei Parseval-Luftschiffe (PL 6 und PL 19)5. Die 217 Soldaten der Fliegerabteilung besaßen 35 Flugzeuge, von denen allerdings nur neun einsatzbereit waren. Die Luftschiffe wurden im Ersten Weltkrieg aufgrund ihrer extrem langen Verweildauer in der Luft und ihrer großen Nutzlast zur Seefernaufklärung und zu Bombenangriffen größeren Ausmaßes eingesetzt. Das Flugzeug war für die Mari-

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Ebd., 23. Hans-Jörg Detlefsen, Hundert Jahre Marineflieger – eine Einführung, in: Deutsches Marine Institut (Hg.), 100 Jahre Marineflieger. 1913 bis 2013, Hamburg u.a. 2013, 17–21, hier 18. Die Marine bezeichnete ihre Luftschiffe mit dem Buchstaben „L“ und vergab eine fortlaufende Nummerierung. Diese entsprach nicht der Baunummer des jeweiligen Luftschiffes. So war das Marineluftschiff L 3 mit der Baunummer LZ 24 vom Luftschiffbau Zeppelin ausgeliefert worden. Im Gegensatz zu den starren Luftschiffen vom Typ Zeppelin oder Schütte-Lanz, die durch ein starres Innengerüst aus Aluminium oder Sperrholz, in dem mehrere Gaszellen eingeschlossen sind und das durch eine Außenhülle umschlossen ist, gekennzeichnet sind, handelte es sich bei den Parseval-Luftschiffen um sogenannte „Prall-Luftschiffe“. Das heißt, die Luftschiffhülle bildet den Behälter für das Traggas (ähnlich dem Ballon). Es gibt kein Innengerüst.

Flotte und Flieger

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ne der Nahaufklärer. Beide Luftfahrzeugtypen lieferten der Flotte auf ihre Weise wertvolle Informationen über Feindbewegungen, die bisher so nicht erbracht werden konnten.6 Material, Technik und Ausstattung der Luftfahrzeuge sowie die Qualifikation der Besatzungen wurden im Kriegsverlauf ständig weiterentwickelt. Ab 1915 waren strategische Bombardements der Haupteinsatzbereich der Marineluftschiffe, wohingegen die Flugzeuge verstärkt Aufklärungsaufgaben übernahmen. Trotz einer enormen technischen Leistungssteigerung wurde spätestens 1917 eindeutig sichtbar, dass die Zukunft der militärischen Luftfahrt den Flugzeugen gehörte. Auf deutscher Seite wuchs die Konkurrenz durch den flexibleren Einsatz, die wachsende Nutzlast und die ständigen konstruktiven und technischen Verbesserungen der Flugzeuge. Auf gegnerischer Seite geschah dies im Flugzeugbereich ebenso und zudem führten verbesserte Abwehrmaßnahmen vom Boden aus die Luftschiffe an ihre Grenzen.7 Das Heer zog daraus die Konsequenzen und beschloss bereits im Frühjahr 1917 die Einstellung des Einsatzes dieses Waffensystems. Auch die Marine verringerte die Zahl der Angriffseinsätze mit Luftschiffen, führte jedoch ohne große Einschränkungen weiterhin Aufklärungsfahrten durch. Während des Ersten Weltkrieges absolvierten die Luftschiffe der Kaiserlichen Marine insgesamt 934 Aufklärungs- und 192 Angriffsfahrten. Neben den personell großen Verlusten von mehr als 40 Prozent des fliegenden Personals verlor die Marine von ihren 76 Luftschiffen 21 durch Feindeinwirkung und 33 durch Naturgewalten oder technisches Versagen. Weitere neun mussten wegen Überalterung außer Dienst gestellt werden.8 Die Flieger der Kaiserlichen Marine waren auf See- und Landflugstationen beheimatet. Der auf den Seeflugstationen am weitesten verbreitete und eingesetzte Luftfahrzeugtyp war der zweisitzige Seeaufklärer, der auch eine kleine Menge Bomben mitführen konnte. Ab 1917 kamen in geringerem Umfang TorpedoFlugzeuge hinzu. Die Mehrzahl der Marineflugzeuge war mit Schwimmern konstruiert, doch bis Kriegsende erhöhte sich der Anteil landbasierter Jagdflugzeuge bei der Marine auf 40 Prozent. Sie waren auf den Stützpunkten der MarineFeldfliegerabteilung für den Schutz der Seeflugzeuge vor feindlichen Angriffen sowie an der Westfront über den von der Marine befehligten Frontabschnitten zuständig. Bereits im Dezember 1914 wurde auch das erste Flugzeugmutterschiff namens ANSWALD (F.S. I) eingesetzt, das aus einem umgebauten Frachtschiff konstruiert worden war. Die Zahl und Wirkung dieser Schiffe blieb jedoch begrenzt und auch das Projekt eines Flugzeugträgers konnte bis Kriegsende auf deutscher Seite nicht realisiert werden. Die Bedeutung der Marineflieger als Unterstützung und Ergänzung der Kaiserlichen Flotte war im Ersten Weltkrieg enorm gewachsen. Insbesondere die Seeflieger, deren Einsatzgebiete vor allem die Nord- und Ostsee, aber auch sämtliche 6 7 8

Felix Kloke, Hundert Jahre Marineflieger von 1913 bis 2013, in: Deutsches Marine Institut (Hg.), 100 Jahre Marineflieger 1913 bis 2013, Hamburg u.a. 2013, 23–62, hier 26. Ebd., S. 32. Vgl. Duppler, Marineflieger, 28.

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andere Kriegsschauplätze umfasste, hatten ihre Leistungsfähigkeit und Einsatzmöglichkeiten unter Beweis gestellt. Als Augen, Ohren und Werkzeug der seefahrenden Einheiten waren sie seit ihrer Gründung 1913 ein unverzichtbarer Bestandteil der Marine geworden. Quantitativ betrachtet, hatte die Marinefliegerei einen gewaltigen Aufschwung genommen. Bei Kriegsende 1918 gab es 32 Seeflugstationen und 17 Landflugplätze mit insgesamt 1478 See- und Landflugzeugen und einem Gesamtpersonalstand von 16 122 Mann, wovon 2166 das fliegende Personal bildeten. Anfängliche personelle Probleme, zum Beispiel der Mangel an Beobachtern oder später die Ausbildung der Flugzeugführer für Jagdflugzeuge, wusste man rasch zu überwinden. Die Verluste der Marineflieger im Laufe des Ersten Weltkrieges beliefen sich auf 1166 Flugzeuge, davon etwa 170 Flugzeuge durch Feindeinwirkung. Für die Marine-Luftschiffabteilung läutete das Kriegsende auch ihr endgültiges Aus ein. Sie wurde bis Dezember 1920 aufgelöst und bis dahin die letzten dreizehn Luftschiffe abgewrackt oder als Reparationsleistungen an verschiedene Staaten abgegeben. Die Marine-Fliegerabteilung wurde bis September 1920 abgerüstet. Im Gegensatz zum System „Leichter als Luft“, dass in zukünftigen kriegerischen Auseinandersetzungen keine Rolle mehr spielen würde, wurde von Marineseite die Entwicklung von geeigneten Flugzeugen und die Erhaltung personeller Ressourcen in den Folgejahren im Geheimen weiter betrieben. Auf die Fähigkeiten der „fliegenden Seeleute“ mit ihrem Verständnis für die taktischen und operativen Erfordernisse der Marine wollte man zukünftig nicht mehr verzichten. Diese Geschichte der Luftstreitkräfte der Kaiserlichen Marine findet, wie eingangs erwähnt, kaum Darstellung in deutschen Museen. Zu den Institutionen, die im Folgenden exemplarisch betrachtet werden, gehören das Militärhistorische Museum Flugplatz Berlin-Gatow, das Deutsche Technikmuseum Berlin, das Deutsche Schifffahrtsmuseum Bremerhaven, das Deutsche Marinemuseum Wilhelmshaven und das Internationale Maritime Museum in Hamburg. Das Militärhistorische Museum Flugplatz Berlin-Gatow gehört als Außenstelle zum Militärhistorischen Museum der Bundeswehr Dresden. In Hangar 3 und im Towergebäude in Gatow werden der Luftkrieg und die Militärluftfahrt in Deutschland seit 1884 thematisiert. Während im Hangar Flugzeuge, Flugabwehrgeschütze, Triebwerke und andere Großexponate ausgestellt sind, kann der Besucher im kleinräumigeren Towergebäude die dazugehörige Geschichtsausstellung mit Inszenierungen, Medien- und Filmstationen besichtigen.9 Die frühere Bezeichnung des Hauses als „Luftwaffenmuseum Gatow“ dokumentiert auch den inhaltlichen Focus der Ausstellung und Sammlung. Die Präsentation zur Geschichte der Militärluftfahrt betrachtet für die Zeit bis 1920 in erster Linie die Luftstreitkräfte des Heeres. Das Deutsche Technikmuseum Berlin präsentiert auf zwei Ebenen seine Dauerausstellung zur Schifffahrt und bringt dem Besucher das „vordergründig techni-

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sche Objekt Schiff“ als „zentralen Bereich der Kulturgeschichte“ nahe.10 Die Ausstellung gliedert sich in die Bereiche „Binnenschifffahrt“, „Hochseeschifffahrt“ und „Übergreifende Themen“ („Modellschifffahrt“ und „Theorie des Schiffs“). Ein Modul in der Abteilung „Hochseeschifffahrt“ betrachtet die Marine im Ersten Weltkrieg. Die Luftstreitkräfte der Kaiserlichen Marine finden sich dort nicht wieder. Fündig wird man schließlich später, und zwar in der Dauerausstellung des Hauses zur Geschichte der Luft- und Raumfahrt, die im 3. und 4. Obergeschoss angesiedelt ist. „Im Mittelpunkt der Präsentation stehen sowohl die technischen als auch die kultur- und sozialhistorischen Aspekte der Luftfahrtgeschichte.“11 Großobjekte sind in der Ausstellung in ihren Kontext eingebettet. Ein Teil von ihnen bildet auf „Inseln“ eine gestalterische und inhaltliche Symbiose mit Kleinobjekten, Texten und audiovisuellen Medien. Die frühen Jahre der Luftfahrt bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges werden unter anderem am Beispiel des Flugpioniers Otto Lilienthal und des ersten deutschen Flugplatzes in BerlinJohannisthal veranschaulicht. Zur Sprache kommt dabei neben dem wissenschaftlichen und sportlichen Einsatz von Ballonen, Luftschiffen und Flugzeugen auch die militärische Verwendung. Der Einsatz von Luftstreitkräften bei der Kaiserlichen Marine wird dem Besucher jedoch erst im Modul zum Ersten Weltkrieg bewusst. In einigen Thementexten findet nun auch die fliegende Marine am Rande Erwähnung. So beschreibt zum Beispiel der Text „Luftschiffe im Kriegseinsatz“ Einsätze des Systems „Fliegen leichter als Luft“ bei Heer und Marine. Eine Tafel mit Original-Auszeichnungen und Bildmaterial des Marine-Luftschiffkommandanten Heinrich Mathy ergänzt diesen Exkurs. Weitere Exponate zur Marinefliegerei befinden sich zudem in der militärgeschichtlichen Sammlung von Neal O´Connor, die Einblick in Biografien von Angehörigen der deutschen Luftstreitkräfte des Ersten Weltkrieges gibt. Unter anderem sind die Konvolute der Marineflieger Theo Osterkamp12, Gotthard Sachsenberg13 und Friedrich Christiansen14 zu sehen. In den folgenden Ausstellungsteilen zur Geschichte der Luftfahrt bis 1919, in denen unter anderem die Ausrüstung, Tarnung, Bewaffnung sowie Konstruktion und Technik im Mittelpunkt stehen, spielt die Marinefliegerei explizit keine Rolle mehr. Die präsentierten Objekte sind jedoch für die gesamte militärische

10 Freunde und Förderer des Deutschen Technikmuseums Berlin e.V. (Hg.), Die Dauerausstellung zur Schifffahrt im Deutschen Technikmuseum Berlin, Berlin 2005, 3. 11 Freunde und Förderer des Deutschen Technikmuseums Berlin e.V. (Hg.), Vom Ballon zur Luftbrücke. Neue Dauerausstellung zur Geschichte der Luft- und Raumfahrt, Berlin 2005, 6. 12 Theodor (Theo) Osterkamp (1892–1975) diente seit August 1914 im Marinefliegerkorps, zunächst als Beobachter, dann auch als Pilot. Als erster Flugzeugführer steuerte er 1917 ein Landflugzeug zu einem Aufklärungseinsatz nach Großbritannien. 1917 wurde er zum Jagdflieger ausgebildet und übernahm als Leutnant zur See im Oktober 1917 die Führung der Marine-Jagdstaffel 2. 13 Gotthard Sachsenberg (1891–1961) war im Ersten Weltkrieg Marine-Jagdflieger, u.a. bei der Marine-Feldfliegerabteilung 2. 14 Friedrich Christiansen (1879–1972) war ab Kriegsbeginn Ausbilder bei der Flieger-Abteilung in Kiel-Holtenau und wurde Anfang 1915 als Seeflieger nach Flandern versetzt. Dort wurde er im Herbst 1917 Stationsleiter der Seefliegerstation Flandern I in Zeebrügge.

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Luftfahrt zur Zeit des Ersten Weltkrieges relevant und so zum Großteil auch für das Fliegen über See. Das Deutsche Schifffahrtsmuseum Bremerhaven, dessen Abteilung „Deutsche Marine“ sich im 1. Obergeschoss befindet, erzählt die Geschichte der militärischen Seefahrt mit einer überaus großen Anzahl an Modellen. Aufgrund fehlender übergreifender Texte, die die Besucher sowohl in die historische, als auch technische Entwicklung der „Deutschen Marine“ einführen, existieren auch keinerlei Hinweise in der Ausstellung auf die Eroberung der dritten Dimension durch die Marine in der Zeit bis 1918. Verschiedene Schiffsmodelle, jedoch erst ab der Zeit der Reichs- bzw. Kriegsmarine, vermitteln indirekt die Existenz fliegender Einheiten über See, da die dazugehörigen Bordflugzeuge mit gezeigt werden. Dazu gehören die Modelle des Schweren Kreuzers PRINZ EUGEN, des Leichten Kreuzers KÖNIGSBERG und anderer. Inhalte zur Entwicklung, Funktion und Einsatz von Bordflugzeugen erschließen sich dem Besucher dadurch jedoch nicht. Das Deutsche Marinemuseum in Wilhelmshaven verweist in seiner Dauerausstellung an verschiedenen Stellen auf die „Flieger der Flotte“. Für die Zeit der Kaiserlichen Marine präsentiert das Museum eine Vitrine mit Modellen und Erläuterungen. Aufgrund der bis April 2014 laufenden Sonderausstellung „Nur Fliegen ist schöner!? Die Marine entdeckt die dritte Dimension“ wurde diese Vitrine jedoch aufgelöst, um die Objekte in die Sonderausstellung einzubinden. Damit erfährt der Besucher erst im Bereich Kriegsmarine etwas über die Existenz der seefliegenden Einheiten. Die erwähnte Sonderausstellung beschäftigt sich dafür ausführlich mit der 1914 in Wilhelmshaven aufgestellten Marine-FliegerAbteilung II, die für die gesamte Nordsee zuständig war. Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen zwei großformatige Fotoalben aus dem Nachlass des auf der Flugwerft Wilhelmshaven bis 1920 beschäftigten Werkmeisters Tonius Pollmann. Die daraus präsentieren Großfotos dokumentieren den Fertigungs- und Erprobungsprozess von Flugzeugen auf der Flugwerft in Wilhelmshaven und geben dem Besucher in vielen Details Einblicke in die Lebenswelt der Flieger und Konstrukteure. Dank einführender Texte zur Entwicklung der Seefliegerei im Ersten Weltkrieg in Deutschland und Wilhelmshaven und durch eindrucksvolle Objekte, die die Großfotos ergänzen, erhalten die Besucher jedoch auch einen Überblick über die Entwicklung der Seefliegerei im Allgemeinen. Das Internationale Maritime Museum in Hamburg widmet den „Marinen der Welt (von 1815 bis heute) den Dauerausstellungsbereich auf „Boden 5“. Hier wird mit Modellen, Uniformen, Orden und anderen marinehistorischen Exponaten der militärische Bereich der Seefahrt thematisiert. Ein expliziter Verweis auf die Erschließung der Dimension Himmel durch die Flotten sämtlicher Nationen seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ist in dieser Ausstellung nicht zu finden. Mancher Besucher wird bei der Betrachtung der Dienstgradabzeichen, Orden und Mützenbänder über Bezeichnungen wie „Marine-Flieger-Abteilung“ oder „Abzeichen für Marine-Flugzeugführer“ stolpern, doch Erläuterungen zu diesem Einsatzbereich der Marine erhält er nicht. Neu hinzu gekommen ist in jüngster Zeit ein Modell des zum Flugzeugmutterschiff umgebauten Kleinen Kreuzers STUTTGART. Weitere Objekte finden sich auf Boden 9 in der „Welt der kleinen Schiffe“. In diesem

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Ausstellungsbereich, der etwa 40.000 Modelle im Maßstab 1:1250 präsentiert, fallen bei sehr genauer Betrachtung einige Modelle mit Bordflugzeugen ins Auge sowie Miniaturmodelle von Luftschiffen. Inhaltlich kann dieser Ausstellungsbereich aufgrund der Masse und Kleinteiligkeit der Objekte dem Besucher außer thematischen Überschriften wie „Kaiserliche Marine“ natürlich keine Informationen bieten. Diese Beispiele zeigen, dass die deutschen See- und Marineflieger im Allgemeinen und die der Kaiserlichen Marine im Besonderen nur in Ansätzen in der deutschen Museumslandschaft präsent sind. Am Ende des Ersten Weltkrieges hatten die Marineflieger und -luftschiffer immerhin einen Anteil von etwa 20 Prozent an der Gesamtstärke der Kaiserlichen Marine mit etwa 80 000 Mann. Und auch heute gehören etwa 15 Prozent des Personals der Marine in Deutschland zu den Marinefliegern.15 Eine Darstellung scheint angesichts dieser Zahlen also durchaus auch in luftfahrt- und marinehistorischen Museen begründet. Wie oben bereits erwähnt schließt die vorhandene Lücke das Deutsche Luftschiff- und Marinefliegermuseum AERONAUTICUM in Nordholz bei Cuxhaven. Auf dem Gelände des ehemals größten Luftschiffplatzes der Kaiserlichen Marine und in direkter Nachbarschaft zum inzwischen letzten Standort der Marineflieger der Bundeswehr in Nordholz präsentiert das Haus auf über 1000 Quadratmeter im Innenbereich und auf einem großen Außengelände in seiner Dauerausstellung die historische und technische Entwicklung der Marine über See seit 1913. Regelmäßig ergänzen und erweitern Sonderausstellungen die permanente Präsentation, wie die derzeitige Ausstellung „Luft und See – 100 Jahre deutsche Marineflieger“ anlässlich das Jubiläums im August letzten Jahres. Der Förder- und Trägerverein des AERONAUTICUM verfügt inzwischen über die umfangreichste Sammlung zur Geschichte der Luftstreitkräfte der deutschen Marinen. Sie geht in ihren Grundlagen bis auf das Archiv der 1924 gegründeten „Marine-Luftschiffer-Kameradschaft“ (MLK) in Hamburg zurück16 und erfuhr insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten eine wesentliche Erweiterung durch qualitativ und quantitativ bedeutende Neuzugänge sowie die Übernahme des Nachlasses des Luftschiffbauers Johann Schütte als Dauerleihgabe des Landesmuseums Oldenburg. Ergänzt werden diese Bestände durch die Marinefliegerlehrsammlung des Marinefliegergeschwaders 3, die vor allem durch die Großexponate im Außenbereich präsent ist. Die Darstellung der Kaiserlichen Marineluftstreitkräfte, insbesondere der Luftschifffahrt gehört zu den Kernthemen des Museums. Bereits in einem 1967 auf dem Gelände des Marinefliegergeschwaders 3 „Graf Zeppelin“ eingeweihten 15 Die Gesamtstärke der Marine umfasste 2013 13 858 Mann, davon gehörten etwa 2100 zu den Marinefliegern. Quelle: . 16 Auch das Archiv der 1920 gegründeten Kameradschaft der Marineflieger (KMF) befindet sich seit einigen Jahren in den Räumen des AERONAUTICUM. Sie ist jedoch nicht in die Sammlung des Museums integriert, sondern wird von der immer noch existierenden Vereinigung betreut.

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Traditionsraum, der im Wesentlichen mit Objekten aus der Sammlung der MLK bestückt war, wurde diese Thematik präsentiert. Mit Gründung des „Fördervereins Marine-Luftschiff-Museum Nordholz“ im Mai 1987 wurde in Zusammenarbeit mit dem Geschwader diese Traditionssammlung in ein öffentlich zugängliches Museum überführt. Eröffnet wurde es im Oktober 1991 in einem kleinen Gebäude auf dem Militärgelände. Zwei Jahre später wurde diese Einrichtung als Lehrsammlung „Marineflieger und Marine-Luftschifffahrt“ vom BmVg anerkannt. Damit manifestierte sich die inhaltliche Ausweitung der Sammlung auf das Thema Marinefliegerei bereits im Namen. Dies war eine logische Konsequenz, denn die Tradition des Luftfahrwesens der Marine in Nordholz war mit der Aufstellung des MFG 3 im Jahre 1964 fortgesetzt worden. Durch den Umzug des MFG 5 aus Kiel und die Einrichtung des Marinefliegerkommandos ist Nordholz inzwischen der einzig verbliebene Stützpunkt der Marineflieger der Bundeswehr. Zielrichtung des 1987 gegründeten Vereins war eine größere öffentliche Ausstellung. Ab 1994 wurden dafür die Weichen gestellt, so dass drei Jahre später das „Deutsche Luftschiff- und Marinefliegermuseum Nordholz“, kurz: AERONAUTICUM, auf einem etwa 40 000 Quadratmeter großen Gelände neben dem Geschwader eröffnet werden konnte. Auf dem Außengelände des Museums wurden die Luftfahrzeuge der Lehrsammlung ausgestellt. Die Dauerausstellung fand in der ehemaligen Bootshalle des Deutschen Schifffahrtsmuseums Bremerhaven (sogenannte „Scharoun-Halle“) Platz, die der Verein geschenkt bekommen hatte und mit Hilfe der Bundeswehr nach Nordholz transportierte und aufbaute. Das Konzept für die Dauerausstellung entwickelte der Förderverein damals in Zusammenarbeit mit dem Landschaftsverband Stade und der Universität Hamburg. Die Gestaltung und Ausführung war an den technischen und finanziellen Möglichkeiten des Fördervereins ausgerichtet. Wesentliche Überarbeitung erfuhr die Dauerausstellung zur Marineluftschifffahrt im Jahre 2006. Unter dem Titel „Fliegen - Leichter als Luft“ blieben die bisherigen Ausstellungsinhalte, d.h. die Darstellung der Geschichte und Technik der Luftschiffe der Marine seit ihrer Aufstellung 1913 auch weiterhin die zentralen Themen. Ihre inhaltliche Anordnung, Darstellung und Vermittlung wurde jedoch grundlegend überprüft. Die Ausstellungsarchitektur steht nun im direktem Bezug zum Baukörper der Halle. Das Luftschiff wird dabei in den Mittelpunkt gestellt, indem ein Großmodell des Schütte-Lanz-Luftschiffes SL II im Maßstab 1:10 die Besucher durch das Thema Konstruktion von Starrluftschiffen und Kriegseinsatz begleitet. Im Gegensatz zum Umfang der Darstellung der Geschichte der Kaiserlichen Marineflieger, nimmt die Entwicklung der nur sieben Jahre offiziell existierenden Marine-Luftschiffabteilung fast 80 Prozent der Dauerausstellungsfläche im Erdgeschoss der „Scharoun-Halle“ ein. Hier wurde die Gelegenheit genutzt, von der technischen Entwicklung, der Konstruktion, dem Bau bis hin zum Einsatz und seinen Bedingungen einen Luftfahrzeugtyp der Marine mit alltags-, sozial- und mentalitätsgeschichtlichem Blick detailliert zu betrachten. Berücksichtigt wird dabei, dass der Großteil der Museumsbesucher das Haus mit wenig bzw. keinerlei Vorkenntnissen zur militärischen Nutzung von Luftschiffen im Allgemeinen und

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bei der Marine im Besonderen betritt. Die Ebene der Thementexte vermittelt diesen Besuchern grundlegende Informationen. Vertiefende und detailliertere Informationen werden in „Arbeitsordnern“ angeboten, die neben Vertiefungstexten auch zusätzliches Bildmaterial und Reproduktionen von Dokumenten enthalten. Dies ist auch ein Angebot an fachlich vorgeprägte Besucher, die sich so zusätzliche Inhalte erschließen können. Eine Vielzahl einzigartiger Objekte transportieren im jeweiligen Kontext die Ausstellungsinhalte und/oder dienen zur Anregung des Vorstellungsvermögens. So vermitteln Konstruktionsteile von Schütte-Lanz- und Zeppelin-Luftschiffen z.B. den grundlegend unterschiedlichen Materialeinsatz17 bei sehr ähnlicher Leichtbauweise. Ein zentrales Vermittlungselement der gesamten Ausstellung sind Dioramen zur Veranschaulichung und Emotionalisierung. Mit ihnen werden sowohl technische Fakten und Zusammenhänge „im Kleinformat“ dargestellt, als auch Geschichten erzählt. Im Zusammenspiel mit den Text-, Bild- und Objektebenen bilden sie einen hohen Attraktivitätswert für große und kleine Besucher und ermöglichen die fassbare Darstellung von Objekten, die im Original die Dimensionen der Ausstellungshalle sprengen würden. Das bereits erwähnte Großmodell des Schütte-Lanz-Luftschiffes SL II, das mit seinen Maßen von 14,4 Metern Länge und einem Durchmesser von etwa 1,8 Metern über den Köpfen der Besucher schwebt, kann in Ansätzen ein Gefühl für die immens großen Luftschiffkörper vermitteln. Es gibt zudem aber auch den technischen Entwicklungsstand der Starrluftschiffe bei Kriegsbeginn wieder und regt mit seinem Detailreichtum zum Nachdenken über die Einsatzbedingungen für die Besatzungen an. Großformatige Fotos und Zeichnungen stellen eine weitere Vermittlungsebene dar, die die Inhalte visualisieren. Unter anderem vermittelt ein an der vorderen Giebelwand angebrachtes, wandfüllendes Großfoto, das den Blick in das Innere des Schütte-Lanz-Luftschiffes SL 20 freigibt, ein Gefühl für die Dimensionen von Starrluftschiffen. Dramaturgisch wird der Besucher vom Thema Luftschiffkonstruktion und technik („Leichter als Furcht“) mit dem Schwerpunkt Luftschiffbau Schütte-Lanz zum Bereich „Nordholz zwischen Himmel und Hölle“ (Luftschiffe im Krieg) und in die abschließenden Bereiche „Luftschiff als Friedensbote“ und „Luftschiffe heute und Visionen“ (Betrachtung der zivilen Luftschifffahrt) geführt. Die Ambivalenz des Einsatzes der Kaiserlichen Marineluftschiffe, die in sie gesetzten kriegstaktischen Hoffnungen, die Spezifika ihrer Technik und Nutzungsmöglichkeiten, die alltäglichen Einsatzrealitäten sowie die individuellen Erfahrungen der Luftschiffer werden den Besuchern insbesondere im zentralen Modul „Himmel und Hölle“ vermittelt. Dem architektonisch vorgegebenen Knick der Ausstellungshalle in diesem Bereich wurde eine konzeptionelle Bedeutung zugewiesen. Er markiert den Wendepunkt des Luftschiffes vom Kriegsgerät zum potentiellen Friedensboten. Ein an der Hallenwand angebrachtes Großfoto des Personals der Marine-Luftschiffabteilung konfrontiert den Besucher noch einmal direkt mit den 17 Die Konstruktion des Innengerüstes bestand bei Schütte-Lanz-Luftschiffen aus verleimten Sperrholz. Zeppelin-Luftschiffe besaßen ein Innengerüst aus Aluminium.

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individuellen Schicksalen, die hinter der „großen Geschichte“ stehen. Darauf angebrachte, in den Raum ragende Spanten-Elemente stehen stellvertretend für sämtliche in Nordholz stationierten 42 Marineluftschiffe. Auf der gegenüberliegenden Seite führt eine großformatige Namensliste aller Gefallenen der MarineLuftschiffabteilung den Besuchern die Zahl der Opfer vor Augen. Erläutert werden in dieser Abteilung zudem Fragen, wie z.B. die Rolle der Luftschiffe im Zusammenspiel mit den seegehenden Einheiten oder die Infrastruktur eines Luftschiffplatzes. Wie oben erwähnt gründet sich der Schwerpunkt Schütte-Lanz in der Dauerausstellung auf dem umfangreichen Bestand zu dieser Firma, die neben Zeppelin bis in die 1920er Jahre Starrluftschiffe konstruierte und baute. Durch die Darstellung der militärischen Nutzung von Starrluftschiffen und den Schwerpunkt Schütte-Lanz grenzt sich das AERONAUTICUM klar gegenüber anderen deutschen Luftschiffmuseen ab. Das Zeppelin Museum Friedrichshafen legt in seiner Präsentation den Focus auf die zivile Nutzung von Starrluftschiffen. Der militärische Einsatze von Zeppelinen im Ersten Weltkrieg wird allgemein und in geringem Umfang vermittelt. Das ebenso am Bodensee beheimatete Zeppelin-Museum Meersburg präsentiert eine große Anzahl von Objekten aus allen Einsatzbereichen der Zeppeline, wozu auch das Thema Marineluftschiffe gehört. Aufgrund der räumlichen Enge des Hauses und der Menge der ausgestellten Objekte, mangelt es jedoch an einer strukturierten Vermittlung der historischen und technischen Entwicklung. Obwohl Nordholz nach dem Ersten Weltkrieg kein Standort für zivile Luftschiffe war, rundet der abschließende Exkurs in die 1920er/30er Jahre mit den weltbekannten Zeppelinen LZ 127 GRAF ZEPPELIN und LZ 129 HINDENBURG die Darstellung ab. Die im Ersten Weltkrieg gemachten Erfahrungen mit Starrluftschiffen trugen wesentlich zum Erfolg der transatlantischen Reiseluftschiffe bei und bilden bis heute wichtige Grundlagen für die Anwendung der Technologie „Leichter als Luft“. Wie bereits angedeutet, erfuhr der zweite große Ausstellungsbereich des AERONAUTICUM zum Thema „Fliegen – Schwerer als Luft“ aus finanziellen Gründen bis heute keine umfassende Erneuerung. Die auf einer galerieartigen zweiten Ebene befindliche Darstellung der Geschichte der deutschen See- und Marineflieger seit ihrer Gründung 1913 wurde in den letzten Jahren textlich etwas modernisiert, inhaltlich ergänzt (z.B. um das Thema „Zwangsarbeit in der Luftfahrtindustrie“) und neue Exponate eingearbeitet. Im Gegensatz zur Luftschiff-Ausstellung wird der Besucher jedoch mit einer daten- und faktenorientierten, stark textlastigen Präsentation konfrontiert, in der alltags-, sozial- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte meist fehlen, ebenso wie zeitgemäße Gestaltungs- und Vermittlungsformen. Die Zeit der Kaiserlichen Marine-Fliegerabteilung von 1913 bis 1920 nimmt im Rahmen der Präsentation der inzwischen über einhundertjährigen Existenz der See- und Marineflieger einen relativ kleinen Ausstellungsbereich ein. Durch zwei Textebenen kann sich der Besucher einen Überblick über die Vorgeschichte, die Gründung und den Einsatz der Marineflieger bis 1920 verschaffen. Begleitende

Flotte und Flieger

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Fotos illustrieren die Inhalte und in Vitrinen präsentierte Objekte vermitteln weitere inhaltliche Informationen. Dazu gehören Uniformteile, Orden und Ehrenzeichen, Modelle, Objekte zur Funktechnik und Dokumente. Ein detailreiches Diorama gibt Einblicke in die Struktur einer Landflugstation – in diesem Falle auf dem Luftschiffplatz Nordholz – und vermittelt auf visueller Ebene Informationen zum Arbeitsalltag der Fliegertruppe. Derzeit befindet sich dieses Diorama jedoch in der aktuellen Sonderausstellung. Der Nachbau der Führergondel eines Marineluftschiffes im Maßstab 1:1, der im Erdgeschoss über den Köpfen der Besucher schwebt, kann auf der Galerie von Innen betrachtet werden. Dieses Großobjekt, das Einblicke in den „Arbeitsplatz Kriegsluftschiff“ gewährt, verbindet die Ausstellungsbereiche im Erdgeschoss und auf der Galerie und weist damit noch einmal auf die parallele Existenz beider fliegenden Abteilungen der Marine hin. Die räumlichen Dimensionen des Ausstellungsbereiches auf der Galerie lassen eine Präsentation von Großobjekten nicht zu. Deshalb wird das Thema Marinefliegerei im Freigelände durch die Präsentation von 18 Luftfahrzeugen weitergeführt. Allerdings handelt es sich dabei nur im Flugzeuge und Hubschrauber, die in den beiden deutschen Nachkriegs-Marinen eingesetzt waren. Leider verfügt das Museum in seiner Sammlung nicht über ein Original oder einen 1:1-Nachbau eines Seeflugzeuges des Ersten Weltkrieges. Ein anderes Großobjekt auf dem Außengelände dokumentiert jedoch die militärische Bedeutung des „Transportsystems Schiene“ im Ersten Weltkrieg. Ausgestellt ist ein G10-Waggon, der unter anderem für die Beförderung von Stückgut und Personal eine wichtige Rolle auch auf Marineluftschiffplätzen und Seeflugstationen spielte. Allein auf dem Luftschiffplatz der Kaiserlichen Marine in Nordholz waren für Material-, Nachschubund Personentransporte etwa 30 Kilometer Gleis verlegt worden. Derzeit werden die Inhalte der Dauerausstellung des Museums durch die Sonderausstellung „Luft und See – 100 Jahre deutsche Marineflieger“ ergänzt. Anlass ist das runde Jubiläum der Aufstellung der Marineluftschiff- und –fliegerstreitkräfte, das Mitte August 2013 in Nordholz begangen wurde. Eine Ebene der Ausstellung stellt in chronologischer Betrachtung die militär- und technikhistorische Entwicklung dar, ohne die Akteure und ihre Arbeits- und Lebenswelt aus dem Blick zu verlieren. Eine zweite Ebene beleuchtet Einzelaspekte der Entwicklung im Querschnitt. Im Rahmen dieser Ausstellung konnten bedeutende Neuzugänge der Sammlung auch zu den Luftstreitkräften der Kaiserlichen Marine präsentiert werden. Unter anderem sind dies erstmals gezeigte Teile aus dem Nachlass des „Führers der Marineluftschiffe“ Fregattenkapitän Peter Strasser, dem ab 1914 eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der Kaiserlichen Marine-Luftschiffabteilung zukam. Seine Biografie steht zum einen exemplarisch für zahlreiche Offiziere, die von den seefahrenden Einheiten zu den Luftstreitkräften wechselten. Sie ist jedoch aufgrund des prägenden Einflusses Strassers auf den Einsatz und die technische Weiterentwicklung der Marineluftschiffe auch einzigartig. Wie zahlreiche andere Bestandteile dieser Sonderausstellung wird dieser Nachlass zukünftig einen Platz in der Dauerausstellung erhalten. Letztlich lässt sich sagen: Aufgrund des Engagements eines privatwirtschaftlich geführten Vereins können die deutschen Marineflieger heute in einem Muse-

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um auf ihre über 100jährige Geschichte zurückblicken, die mit den „fliegenden Seeleuten“ der Kaiserlichen Marine begann. Eine umfassende Darstellung dieser Teileinheit ist sicherlich in anderen Geschichtshäusern im Rahmen einer übergreifenden Betrachtung der Marine- und Luftfahrthistorie nicht zu leisten. Zu wünschen wäre dem Thema dennoch eine größere Aufmerksamkeit, denn die Marineflieger sind seit 1914 ein unverzichtbarer Bestandteil der Flotte.

DIE MARINESCHULE IN FLENSBURG MÜRWIK Ästhetische Umsetzung politisch funktionaler Aspekte Heinrich Walle

Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges bestand in Deutschland eine ungebrochene Tradition, daß sich bei der Realisierung von Bauwerken für militärische Zwecke funktionale und ästhetische Zielsetzungen ergänzten. Obwohl die funktionale Gestaltung bei Wehrbauten schon seit dem Altertum eindeutig im Vordergrund stand, diente die künstlerische Ausgestaltung solcher Bauwerke immer der Verdeutlichung der politischen Ziele der jeweiligen Militärpotentiale. Künstlerpersönlichkeiten wie Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer, Balthasar Neumann oder letztmalig Leo von Klenze1 haben bewußt ihre künstlerischen Fähigkeiten beim Entwurf und Bau von Festungswerken eingebracht. Während beim Festungsbau, als der klassischen Form von reiner Wehrarchitektur die ästhetische Gestaltung infolge der Entwicklung der Waffenwirkung nach der Mitte des 19. Jahrhunderts völlig in den Hintergrund trat – die Festungsanlagen von Ingolstadt (Leo von Klenze), Koblenz oder Germersheim, die alle um die Mitte des 19. Jahrhunderts fertiggestellt wurden, weisen ein klar erkennbares ästhetisches Programm auf – wurde bei der Ausführung militärischer Wohn- und Verwaltungsbauten noch bis 1945 eine Harmonie von Funktionalität und Ästhetik angestrebt. Je nach Bedeutung und Verwendungszweck des jeweiligen Bauwerkes war das ästhetische Programm mehr oder weniger reichhaltig ausgeprägt. Ein wohl unbestritten eindrucksvoller Hinweis für das Wiedererkennen des ästhetischen Wertes überkommener Militärbauten dürfte wohl unbestreitbar die gelungene Restaurierung der Marineschule in Flensburg Mürwik und ihrer ehemaligen Kommandeursvilla sein, die jetzt das Wehrgeschichtliche Ausbildungszentrum mit seiner beachtlichen Schausammlung beherbergt. Für die Marine hat die am 1. Oktober 1910 fertiggestellte Marineschule in Flensburg-Mürwik eine besondere Bedeutung. Von 1910 bis heute haben alle aktiven Offiziere und der überwiegende Teil der Reserveoffiziere auf der „Burg“, wie das im Stil der Backsteingotik ausgeführte Bauwerk liebevoll genannt wird, ihre Offiziersausbildung und damit einen entscheidenden Teil ihrer Berufsausbildung dort erhalten. Damit verkörpert die Marineschule Mürwik für viele Generationen deutscher Marineoffiziere unvergeßliche und prägende Stationen ihres be1

Hans Stephan, Festungen, in: Die Kunst im Deutschen Reich, 8. Jg./Folge 2, Ausgabe B, Die Baukunst, Februar 1944, 23–25; Daniel Burger, Festungen in Bayern, Regensburg 2008, 77– 91.

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ruflichen Werdeganges. Das Bauwerk beeindruckt die jeweiligen Bewohner auch durch seine künstlerische Ausgestaltung. Wie die Ergebnisse der Verhaltensforschung deutlich machen, sind Symbole Kommunikationsmittel, die der menschlichen Natur eigentümlich sind. Die bildende Kunst bedient sich ihrer in einer schier unendlichen Vielfalt. Vor allem in der Architektur ist hier eine bis heute ungebrochene Tradition erkennbar, indem jeder Architekt von Rang bemüht ist, sein Bauwerk durch eine ästhetische Gestaltung zum Bedeutungsträger zu machen und somit dessen Funktionalität über den rein praktischen Zweck hinausgehend zu steigern. Besondere Beispiele hierfür aus der Architektur der Gegenwart sind die Bauten von Banken und Versicherungen, die immer und selbst dort, wo der Architekt um strenge Sachlichkeit bemüht war, in ihrer repräsentativen Gestaltung die Solidarität und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Auftraggebers auszudrücken suchen, um dem Kunden Vertrauen in die Firma zu vermitteln und dadurch einen Werbeeffekt auszuüben. Wie Einzelbeispiele deutlich machen, ist dies mit in vielen Fällen durchaus ästhetisch überzeugenden Leistungen gelungen.2 Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges bestand in Deutschland eine ungebrochene Tradition, dass bei der Realisierung von Bauwerken für militärische Zwecke funktionale und ästhetische Zielsetzungen sich einander ergänzten. Als Stilmittel bedienten sich die Architekten einmal der Art und Weise der Platzierung der Baukörper, wenngleich in vielen Fällen eindeutig funktionale Aspekte im Vordergrund standen, wodurch die militärische Disziplin und Hierarchie ihren architektonischen Ausdruck fand, wie die für Kasernenbauten bis 1945 typische Ausrichtung um Exerzierplätze und die Anordnung der Bauten auf die in der Mittelachse einer solchen Gesamtanlage platzierten Stabs- und Kommandogebäude.3 Was Joachim Petsch hier als Ausdruck für das nationalsozialistische Gesellschaftsmodell interpretiert, ist jedoch keineswegs für diese Ideologie typisch, sondern wie gesagt, in erster Linie Ausdruck militärischer Hierarchie und Disziplin und besitzt deshalb eine eminent funktionale Bedeutung. Auch das Stilmittel der Gliederung der Baumassen ist bei Militärbauten Ausdruck von Disziplin und Hierarchie und ebenfalls „sichtbares Zeichen der Präsenz militärischer Macht“, wie Hartwig Beseler es an den Kasernenanlagen in Schleswig Holstein beobachtet hat.4 In der stilistischen Gestaltung des Bauwerks und im Dekor wurde mit ästhetischen Mitteln dessen Verwendungszweck symbolhaft unterstrichen. Dies geschah sowohl als Ausdruck eines militärischen Selbstwertgefühls als auch zur Vermittlung einer politischen Botschaft. Durch eine solche künstlerische Ausschmückung und hier vor allem durch die Verwendung allegorischer Symbole 2

3 4

Heinrich Walle, Tradition – Floskel oder Form? Neue Wege zu alten Werten, in: Heinrich Walle (Hg.), Von der Friedenssicherung zur Friedensgestaltung. Deutsche Streitkräfte im Wandel, Herford/Bonn 1991, 257 ff.. Vgl. auch: Konrad Lorenz, Vorwort, in: Otto Koenig, Kultur und Verhaltensforschung. Einführung in die Kulturethologie, München 1970, 7–13. Joachim Petsch, Baukunst und Stadtplanung im Dritten Reich. Herleitung – Bestandsaufnahme – Entwicklung – Nachfolge, München/Wien 1976, 135. Hartwig Beseler, Bauten in Schleswig-Holstein zwischen Vergangenheit und Gegenwart. (1830–1930), Heide in Holstein 1970, 14 f.

Die Marineschule in Flensburg Mürwik

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sollte auch den Benutzern eine Beziehung zu ihrem militärischen Auftrag vermittelt werden. Wie die Beschreibung solcher Schmuckelemente im Folgenden zeigen soll, diente eine ästhetische Gestaltung militärischer Bauten durchaus auch der Motivierung der Soldaten und entsprach damit ursächlich den Zielsetzungen der militärischen Führung, wie das an der Anlage der Marineschule zu Flensburg Mürwik bis in die kleinsten Details deutlich wird.5

DIE MARINESCHULE MÜRWIK Der 1907 begonnene Bau der Marineschule Mürwik gehörte zu den Infrastrukturmaßnahmen der Flottenbaupläne des Staatssekretärs des Reichsmarineamtes, Großadmiral von Tirpitz. Die Vergrößerung der deutschen Flotte nach 1900 erforderte auch eine erhebliche Personalverstärkung. Wurden vor 1900 jährlich ca. 40 bis 50 Offiziersanwärter eingestellt, so sollte ihre Zahl nunmehr bei 200 Kadetten liegen.6 Die geschützte Lage der Flensburger Förde und der Umstand, daß die Stadt Flensburg der Marine ein größeres Areal am Fördeufer, damals noch unweit außerhalb des Stadtgebietes gelegen (was angeblich auch als Argument für die Positionierung der Schule weitab von der „Versuchungen“ in der Stadt gedient haben soll), unentgeltlich zur Verfügung stellte, waren für die Wahl des Standortes dieser neuen Offizierschule ausschlaggebend. Der Kunsthistoriker Stefan Bölke, der 1998 eine grundlegende Untersuchung über Entstehung und -bau der Marineschule Mürwik vorgelegt hat, stellte fest, dass 1904 ein erster Entwurf von dem damals bedeutenden Architekten Franz Schwechten vorgelegt wurde.7 Schwechten hatte die Anlage nach der Pavillonkonzeption, bestehend aus mehreren Gebäudeteilen, geplant. Nicht zuletzt infolge des von ihm vorgesehenen aufwändigen Dekors wurden die geplanten Baukosten erheblich überschritten, so dass man eine preiswerte Lösung suchte.8 Hinzu kam, dass auch Kaiser Wilhelm II die ästhetische Gestaltung nicht zusagte. Man beauftragte 1904 den Marinebaurat Adalbert Kelm (1856–1939) mit der Neuplanung. Kelm legte zunächst eine Planung nach dem Pavillonsystem in barockem Stil vor, die ebenfalls verworfen wurde. Im Januar 1906 legte er dem Staatsekretär des Reichsmarineamtes, Großadmiral Alfred von Tirpitz, den endgültigen Entwurf für die Marineschule Mürwik vor. Aufbauend auf dem von Franz Schwechten entworfenen Lageplan

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Heinrich Walle, Marinebauten und -denkmäler in Kiel. Bildende Kunst als Ausdruck politischer Zielsetzungen und technischen Selbstverständnisses, 1888–1945, in: Jürgen Elvert/Jürgen Jensen/Michael Salewski (Hg.), Kiel, die Deutschen und die See, Stuttgart 1992, 207–234. Dieter Matthei, Die Marineschule Mürwik – Entstehung und Entwicklung, in: Deutsches Marine Institut (Hg.), Marineschule Mürwik, Herford 1985, 63–99. Stefan Bölke, Die Marineschule Mürwik. Architekturmonographische Untersuchung eines Repräsentantenbaues der Kaiserlichen Marine, Frankfurt a. M./Berlin/Bern/New York/Paris/ Wien 1998, zugl.: Kiel, Univ. Diss., 1994, 68 ff. Ebd., 101–117.

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der Einzelgebäude hatte Kelm nunmehr „den Weg von der Pavillonanlage zur mäanderförmigen Grundrißgestaltung“9 beschritten.

Marineschule Mürwik, Aufnahme Ivo Schneider

So verstand der Architekt seinen Auftrag zu erfüllen, ein Militärinternat zu entwerfen, das Unterkünfte für Schüler und Lehrer, Unterrichtsräume, Bibliothek, Gesellschaftsräume, Turn- und Fechtsaal sowie einen Versammlungsraum (Aula) in sich vereinigte. Als Nebenanlagen waren ein Haus für den Direktor, ein Bootshafen mit Bootshaus und kleiner Yachthafen, eine Schwimmanstalt, Tennisplätze, eine Reitbahn, sowie ein Wasserturm vorgesehen. Auf dem Gelände der Schule waren außerdem Exerzier- und Sportplätze vorgesehen. Gewisse Vorbilder für die Mürwiker Anlage waren die Offizierschulen der US-Navy in Annapolis und der Royal Navy in Dartmouth an der Südküste Englands. Waren die amerikanische und die englische Marineschule nach dem Pavillonsystem konzipiert, so schied dies für Mürwik aus Kostengründen aus. Adalbert Kelm hatte sich für eine Lösung entschieden, welche die Bausubstanz in verschiedene Flügel unterschiedlicher Funktion aufgliederte. Die Front des Gebäudes ist nach Westen hin am Ostufer der Flensburger Förde ausgerichtet. Der fünfgeschossige Mittelbau, der durch einen Staffelgiebel hervorgehoben und von einem Turm bekrönt wird, bildet das Zentrum der Schule. Sein Erdgeschoß, das seeseitig als Terrasse herausragt beherbergt die Küchenanlage, sein Obergeschoß enthält den zentralen Speisesaal, Remter genannt, über 9

Ebd., 116.

Die Marineschule in Flensburg Mürwik

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dem die Aula, eine anderthalbgeschoßige Vielzweckhalle für Versammlungen, Vorträge, Feiern und Gottesdienste gelegen ist. Im dritten Geschoß befindet sich ein großer Lehrsaal für Navigation. Die rückwärtige Seite dieses Mitteltraktes beherbergt das zentrale Treppenhaus. Die beiden an diesen Mittelteil anschließenden viergeschossigen Seitenflügel treten durch rechtwinklige Zwischentrakte mit dem Mittelbau verbunden etwa 20 m vor dessen seeseitige Vorderfront und tragen damit zur Auflockerung der Baumasse bei. Sie enthalten in den Zwischentrakten Verwaltungs- und Messeräume für Offiziere des Schulstabes und der Seekadetten. Die langgestreckten Seitenflügel beherbergen die Unterkünfte der Seekadetten und Fähnriche, die alle zur Seeseite hin gelegen sind. Da ihr viertes Geschoß als ausgebautes Dachgeschoß ausgeführt ist, sind die etwas flacher als der Mittelbau. Für die damalige Zeit neuartig war die Anordnung der Unterkünfte der Lehrgangsteilnehmer in der Form, daß sich um einen, auch nach heutigen Maßstäben großzügig bemessenen, Dusch- und Waschraum nach jeder Seite ein Wohn- und Schlafraum für sechs Offizierschüler anschließt. Zwölf Kadetten stand damit eine Art von Appartement zur Verfügung. Am Ende der Wohnflügel befand sich ein ähnlich eingeteiltes Appartement für den Hörsaaloffizier, so daß die Angehörigen eines Hörsaales mit ihrem unmittelbaren militärischen Vorgesetzen auf einem Flur zusammenlebten. Diese Einteilung hat sich bis auf den heutigen Tag bewährt. Die beiden Wohnflügel bilden nach Westen, d.h. zur Landseite hin, ein offenes Rechteck, so daß man über windgeschützte Antretplätze verfügte, die heute teilweise als Parkplätze genutzt werden. In westlicher Richtung schließt sich an den Mittelbau ein ebenfalls viergeschossig ausgeführter Flügel zur Landseite an, der, von gleicher Höhe wie die großen Seitenflügel, die Unterrichtsräume beherbergt. Im rechten Winkel zu dieser westlichen Verlängerung des Mittelbaus schließt sich parallel zu den beiden Seitenflügeln ein weiterer Trakt an, der ebenfalls Unterrichtsräume, die Bibliothek und eine kleine Turnhalle enthält. In den dreißiger Jahren wurden auf dem Areal der Marineschule großzügige Sportanlagen im Stile dieser Zeit errichtet, die jedoch das von Kelm errichtete Hauptgebäude nicht beeinträchtigen. Die funktionale Gliederung des Hauptgebäudes hat sich in den nunmehr 100 Jahren ihres Bestehens voll bewährt, so dass die ursprüngliche Raumaufteilung nahezu vollständig beibehalten werden konnte. Dem Geschmack und der Denkweise seiner Zeit entsprechend hatte Adalbert Kelm aber keineswegs ein nur auf Funktionalität ausgerichtetes Bauwerk zu entwerfen. Die Marineschule Mürwik sollte in ihrer künstlerischen Ausgestaltung auch Repräsentant der politischen Zielsetzung der Marinerüstung sein. So lag es nahe, daß man von vornherein an ein historisierendes Bauwerk dachte. Kelms erster Entwurf sah ein Bauwerk mit Barockzitaten vor, der jedoch zugunsten einer Gestaltung, die sich an die Backsteingotik der Ostseeländer anlehnte, verworfen wurde. Wenngleich sich Kelm durch die Renovierung der Marienburg an der Weichselmündung für seinen Entwurf der Marineschule inspirieren ließ,10 so hat er die berühmte Hauptburg des Deutschen Ordens keineswegs imitiert oder gar in 10 Matthei, Marineschule, 74; vgl. Bundesarchiv-Militärarchiv: RM 3/v.9328; vgl. auch: Bölke, Mürwik, 127f.

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Mürwik kopieren wollen, wie ihm oft nachgesagt wurde. Vor allem mit den Zitaten der im Ostseeraum weit verbreiteten mittelalterlichen Backsteingotik für die ästhetischen Gestaltung hatte Kelm eine kostengünstige Lösung gefunden, da als Dekor im Grunde genommen nur aus Backsteinen gemauertes Maßwerk verwendet wurde. Auch die Abkehr vom Pavillonsystem zu Gunsten einer Aufgliederung der Baumasse in mäanderförmig angeordneten Flügeln sparte Kosten und steigerte die Funktionalität der Anlage.11 So ist sie Marineschule zunächst ein eminent funktionales Bauwerk, wenngleich der Rückgriff auf die niederdeutsche Backsteingotik aber auch ein besonderes politisches Programm mit ästhetischen Mitteln zum Ausdruck brachte: Die im Aufbau befindliche Kaiserliche Marine und das Seemachtstreben des Deutschen Reiches bedurften der Legitimation, die man durch einen Verweis auf die Kontinuität aus der Vergangenheit herzuleiten versuchte. In ihrer Blütezeit im Mittelalter hatte die Hanse Seemacht in Nord und Ostsee ausgeübt. Eines ihrer Mitglieder war der Ordensstaat, der nun als direkter Vorläufer des Hohenzollernreiches betrachtet wurde. In der Hanse wiederum waren Bürgertum und Adel sozusagen gleichberechtigte Partner, ein Topos, der vor allem für die vornehmlich aus bürgerlichem Hause stammenden Seeoffiziere bedeutsam war.12

Nutzte man bei anderen Militärbauten Wappenkartuschen mit dem Wappen des Souveräns zur Kenntlichmachung des Landesherrn als Besitzer, so dient diesem Zweck in Mürwik ein heute noch im Bogenfeld über den Hauptportal befindliches großes Bleiglasfenster, auf dem ein monumentaler Reichsadler mit ausgebreiteten Schwingen, bekrönt von der Kaiserkrone und auf der Brust den Wappenschild Preußens, dem Besucher sofort ins Auge fällt. Eindeutig dominiert hier der Hinweis auf das Deutsche Reich und die damalige Monarchie der preußischen Hohenzollern. Der auf diesem Bilde enthaltene Wappenspruch beschreibt auch nach einem Jahrhundert den Auftrag der Deutschen Marine: „Den Frieden zu wahren, gerüstet zum Streit, mit flatternden Fahnen im eisernen Kleid, so tragt deutsche Schiffe, von Meer zu Meer, die Botschaft von Deutschland, den Frieden, umher!“13 Im Gesamteindruck besticht das Bauwerk durch seine bruchlose Vereinigung von hoher Ästhetik und Funktionalität. Die Strenge der zitierten Backsteingotik vermittelt dem Baukörper eine gewisse Auflockerung, andererseits aber auch eine vornehm kühle Eleganz. Der ganze Bau, vor allem aber die Fassaden wirken trotz ihrer Repräsentation nicht überladen, sondern vermitteln eine Atmosphäre von Selbstbewußtsein und bescheidenem Stolz. Der auf einem Steilufer etwa 20 m über der Förde thronende langgestreckte Baukörper wird durch eine großzügige Freitreppe in Verlängerung der Mittelachse des Mittelbaus mit dem Ufer verbunden. Am uferseitigen Ende wird diese Freitreppe durch einen zinnenbewehrten doppeltürmigen Portikus beschlossen, so dass dem Betrachter von der Förde her der Eindruck eines majestätisch daliegenden Wasserschlosses entsteht

11 Bölke, Mürwik, 115 ff und 119. 12 Matthei, Marineschule, 72. 13 Walle, Marinebauten, 217 und 226f.

Die Marineschule in Flensburg Mürwik

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Der einstige Nestor der Marinehistoriker, Kapitän zur See Dr. Paul Heinsius, hatte sich als Geschichtslehrer schon in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts über die Marineschule wie folgt geäußert: Wird der Offizieranwärter schon durch das Äußere des Bauwerkes dieser ihn prägenden Erziehungsstätte als Fortsetzer einer langen Tradition angesprochen, so findet dieses erzieherische Moment- und mit diesem Bau beeinflussen wollte man in der Tat, seine Entsprechung in der architektonischen Ausgestaltung der Innenräume. Im Treppenhaus hinter dem Hauptportal wechseln rote Ziegel mit weiß verputzten Flächen und geben Raum für ein feierliches Aussehen. Doch auch subtilere Details der Innenausstattung sind geeignet, den Offizieranwärter an seinen künftigen Beruf zu gemahnen. Dem dienten die auf Bildkacheln im Treppenhaus dargestellten Motive aus dem Seeleben, die den Betrachter immer wieder in das Element, mit dem er sich später auseinanderzusetzen hat, erinnern. Ob die über den Türstürzen der Toiletten gemalten Schiffe auch diesem Zweck dienen sollten, da doch alle übrigen Türstürze Pflanzenornamente enthalten, mag der Phantasie des Lesers überlassen bleiben. Der Humor ist jedenfalls beim Bau, wie man auch im Schmuck der Säulenkapitelle des früheren Modellsaals, dem heutigen Säulengang, ablesen kann nicht zu kurz gekommen. Eulen als Vögel der Gelehrsamkeit wechseln sich ab mit dem Adler, dem Wappentier des Reiches, aber auch mit Pflanzen und Tieren fremder Länder. Überhaupt begegnet dem Beschauer Symbolträchtiges allerorts. So enthält das Glasfenster über der Tür zum Speisesaal, dem Remter, eine Darstellung von drei jungen Raben, die von ihren Eltern gefüttert werden – eine liebenswürdige Anspielung auf die Funktion des dahinter liegenden Raumes. Dem Willen des Architekten entsprechend sollte den jungen Offiziersanwärtern aber auch die Idee des die Marine tragenden Reiches nahegebracht werden. Anders als die Armee wurde diese, so wie es die Verfassung bestimmte, von allen deutschen Staaten getragen und war gleichsam ein Symbol der Einheit des Reiches. Einen sichtbaren Niederschlag fand diese Vorstellung in der von Kelm gestalteten Auladecke, die die Wappen aller 26 deutschen Staaten, gruppiert um den Reichsadler, zeigt.14

In Anbetracht des Umstandes, dass die Deutsche Marine ebenfalls von allen Bundesländern unserer Republik getragen wird und diese im Ausland repräsentiert, gilt das künstlerische Programm der Auladecke der Marineschule Mürwik auch gegenwärtig noch als aktuell, zumal manche der dort vorhandenen Wappen in den Wappen der nach 1945 neuentstandenen und seit der Wende neuhinzugetretenen Bundesländer fortleben. Sowohl die Komposition der Baumassen und die Fassadengliederung als auch die Ausstattung und Ausmalung im Innern zielten auf eine erzieherische Wirkung, die den Bildungsauftrag und das Selbstverständnis der Marine im Kaiserreich unterstützten und bis heute repräsentieren. Die Marineschule Mürwik ist unbestreitbar ein Bauwerk deutlich ausgeprägten historisierenden Stilzitaten, dennoch zeigt sich in den überall vorhandenen floralen und animalischen Ornamenten, an Treppengeländern, Tür- und Fensterbeschlägen, wie auch in den bereits erwähnten Bildkacheln und Säulenkapitellen, daß der Architekt auch im Sinne der Überwindung eines rein kopierenden Historismus gestaltet hat und sich einer damals modernen Stilrichtung verpflichtet wusste. Die hier aufgezählten Verzierungen weisen eindeutig Elemente des Jugendstils auf, was in der Militärarchitektur eher als unkonventionelle Modernität 14 Paul Heinsius, Tradition in der Marineschule (unveröff. Ms., masch.), zit. n. Matthei, 76 f.

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empfunden werden konnte und möglicherweise auf die Sonderstellung der Marine im Militärwesen des Kaiserreichs verweist. So war es durchaus verständlich, dass man die 1904 von Kelm erstellten Entwürfe, die eine solche Schule im Neobarock vorsahen,15 verwarf und sich bewusst für den Rückgriff auf die niederdeutschen Backsteingotik entschloss. „Damit hatte Adalbert Kelm mit seinem Entwurf auch Kaiser Wilhelm II überzeugt, der nach Vorlage der Pläne „allerhöchst“ seine Zufriedenheit mit der architektonischen Gestaltung der neuen Marineschule zum Ausdruck (…)“16 brachte. Der Bau der Marineschule Mürwik ist immer im Zusammenhang mit dem zeitgleich durchgeführten Ausbau des Marinestützpunktes in der Kieler Wik zu sehen, der vom Staatssekretär des Reichsmarineamtes, Großadmiral Alfred von Tirpitz bestimmt wurde.17 Wie Stefan Bölke festgestellt hat, war Tirpitz einer der entscheidenden Befürworter von Kelms Entwurf.18 Michael Salewski charakterisierte den Großadmiral als „frühes Kind des 20. Jahrhunderts“19, als „moderner Mensch“, der der Zukunft lebte20, und als „Fortschrittoptimist“21, dessen ganzes Geheimnis darin bestanden habe, „in die Zukunft zu denken“.22 „Er war zutiefst ahistorisch, begriff Geschichte immer nur als Tradition.“23 Anders als Politiker seiner Zeit erkannte er die Bedeutung und den Wert von Öffentlichkeitsarbeit, mit der er in geradezu genialer Weise Kräfte zur Erreichung seiner politischen Ziele zu mobilisieren verstand. So liegt es nahe, dass Tirpitz sich um Fragen der ästhetischen Gestaltung von Marinebauten aber sogar auch um Entwürfe für die Kommandanten- und Offiziermessen der neuen Schiffe intensiv gekümmert haben muss, wie dies aus seinen Marginalien in verschiedenen Bauakten deutlich wird.24 Damit erklärt sich, dass die zwischen 1902 und 1915 in der Kieler Wik errichteten Marinegebäude keine historisierenden Bauwerke im strengen Sinn waren. Das hier entstandene geschlossene Bauensemble war trotz historisierender Stilzitate stark vom damals modernen Jugendstil geprägt.25 Trotz der Anlehnung des stilistischen Dekors an die Marienburg ist die Marineschule keineswegs ein im strengen Sinne historisierendes Bauwerk. Grundriss, Gliederung der Baumassen und Anordnung der Räumlichkeiten weisen dieses Bauwerk als einen durchaus modernen Zweckbau aus. Das erklärt auch die erstaunlich nachhaltige Förderung durch Großadmiral von Tirpitz, wie sie Stefan Bölke eingehend dargestellt hat.26

15 Bundesarchiv-Militärarchiv, RM 3/v., Blätter 144 und 155: Intendantur der Marine Station der Ostsee an das Reichs Marine Amt vom 10.11.1904. 16 Bölke, Mürwik, 119. 17 Walle, Marinebauten, passim. 18 Ebd., 110. 19 Michael Salewski, Tirpitz. Aufstieg-Macht-Scheitern, Göttingen 1979, 52. 20 Ebd., 52 und 59. 21 Ebd., 56. 22 Ebd., 52. 23 Ebd., 59. 24 Walle, Marinebauten, 231. 25 Ebd., passim. 26 Bölke, Mürwik, 110.

Die Marineschule in Flensburg Mürwik

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Das ästhetisch außerordentlich ansprechende Bauwerk, auch hier wurden gleichsam als Grundmodul die Ziegel im traditionellen „Klosterformat“27 (Ein zölliges Format von harmonischen Dimensionen, aus deren Vielfalt sich die harmonischen Dimensionen des gesamten Baukörpers ergeben. Anm.d.Verf.) benutzt, besitzt mit seinen langgestreckten Flügeln „die Regelmäßigkeit einer Barockresidenz“ und ist eine „tiefgestaffelte Baugruppe“28 Im Dekor, mit dem immer wieder die o.g. politischen Zielsetzungen vermittelt werden sollten, tritt der Jugendstil hervor. Vor allem Treppengeländer, Tür- und Fensterbeschläge weisen durchaus jugendstilige Ornamentik auf. Das Gebäude ist von einer so hervorragenden Funktionalität, dass sich die Nutzung der Räume, vor allem im Unterrichts- und Wohnbereich, in den 100 Jahren seiner Benutzung kaum geändert hat und immer noch den Erfordernissen eines modernen Militärinternates entspricht.

27 Bölke, Mürwik, 117. 28 Beseler, Bauten in Schleswig-Holstein, 16.

REGISTER PERSONENREGISTER Agrippa 25 Albers, Hans 167 Alboldt, (Marinesekretär) 144 Albrecht, Ernst 209–211 Arnauld de la Perière, Lothar von 165, 169, 180 Asquith, Anthony 167, 181 Asquith, Herbert Henry 37, 74–76, Assmann, Kurt 47, 49, 51, 53 Aube, Hyacinthe 65 Auten, Harold 170, 173, 174, 176 Bachmann, Gustav 47, 51 Barkas, Geoffrey 167, 176 Barringer, Michael 167, 176 Bauer, Hermann 47 Bauer, Wilhelm 102 Baumbach, Norbert von 24–26, 177 Becher, Johannes R. 141 Becker, Hans 145 Behncke, Paul 44 Benson, A.C. 33, 34 Beresford, Charles 75, 76 Bergen, Claus 18, 193 Bernini, Gian Lorenzo 190 Beseler, Hartwig 232 Bethmann-Hollweg 72 Biber, Adolf 215 Bildlingmaier, Gerhard 50 Bismarck, Otto von 92 Blasco Ibáñez, Vicente 168 Bohrdt, Hans 18, 180 Bölke, Stefan 233, 238 Bonaparte, Napoleon 87 Bormann, Martin 157 Bötticher, Dora 114 Bötticher, Georg 109, 110 Bötticher, Hans 109, 110, 112, 114, 115, 117–120 Boulting, Roy 181 Brennert, Hans 164 Buchan, John 169

Burke, Edmund 34 Busch, Fritz-Otto 23, 149, 152–158 Bußmann, Aline 128, 134, 136 Campbell, Gordon 173, 176 Childers, Erskine 30, 31, 37 Christiansen, Friedrich 223 Christo (Künstler) 185 Churchill, Winston 31, 39, 79–81, 132, 196 Clausewitz, Carl von 58, 62 Colomb, Philip 59–62, 68, 69, 72, 74, 81 Corbett, Julian S., 62–64, 74, 76, 77, 81 Cornelissen, Petersen 155 Cumming, Mansfield 37 Da Vinci, Leonardo 231 Dehmel, Richard 133 Dessauer, Siegfried 98, 166 Dittmann, Wilhelm 201, 204 Dix, Otto 121 Dohna-Schlodien, Nikolaus Graf zu, 163, 164 Dos Passos, John 143 Drake, Francis 175 Drew, Edward 37 Dürer, Albrecht 231 Ebert, Friedrich 107 Edward VII., König, United Kingdom 33 Elgar, Edward 33, 34 Eliot, T.S. 34 Engelman, Andrews 169 Epkenhans, Michael 54, 202 Esher, Reginald 81 Farragut, David G., 168 Farrow, John 182 Fay, Sidney B. 49 Finke, F. 16, 19, 23 Fisher, John Arbuthnot 39, 40, 65, 74–77 Flesch, Hans 147

242 Fock, Gorch (siehe auch: Johann Wilhelm Kinau) 125–127, 129–132, 134–137 Ford, John 167, 178, 181, 182 Forde, Walter 167, 181 Forester, Cecil Scott 181 Frobisher, Martin 175 Geers, Andrew 182 Gelfert, Hans-Dieter 34 George, David Lloyd 39 George, Heinrich 167 Gladisch, Walter, 49 Goebbels, Joseph 157, 197 Goerke, Franz 160 Gorki, Maxim 140 Graf, Heinrich 17 Grand, Sarah 30 Granier, Gerhard, 54 Grant, Ulysses S., 168 Grenville, Richard 175 Groos, Otto 46, 47 Grosz, George 121 Hall, Mordaunt 176, 181 Hankey, Maurice, 81 Harmsworth, Alfred 39, 40 Hauptmann, Gerhart 133 Hawkins, John 175 Heath (Captain) 78 Heinsius, Paul 237 Herzfelde, Wieland 147 Hess, Rudolf 156 Hester, Gustav 109 Hildebrand, Hans 18 Hillmann, Jörg 25, 145 Hinkel, Hans 156 Hinzmann (Fregattenkapitän) 193, 195 Hipper, Franz Ritter von 45, 162 Hitler, Adolf 147, 157, 192, 195 Hobson, Rolf, 61 Hofer, Andreas 215 Hopmann, Albert 54 Hubatsch, Walter, 50, 163, 164 Hunt, Peter R. 183 Hus, Jan 215 Ibsen, Henrik 166 Ingram, Rex 165, 166, 168, 169, 181 Jellicoe, John 168, 172, 196 Jomini, Antoine-Henri 58 Joos, Joseph 201

Register Joyce, James 34 Jung, Ulli 164 Kant, Immanuel 29 Keim, August 86 Kell, Vernon 37 Kelm, Adalbert 233–238 Kern (Professor) 150 Kessler, Ulrich 219 Kesting, Hanjo 185 Kiepenheuer, Gustav 146 Kinau, Heinrich Wilhelm 127 Kinau, Jakob 136 Kinau, Johann Wilhelm 125–137 Kinau, Metta 127 Kinau, Rosa Elisabeth 128 Kinau, Rudolf 136 Kindler, Jan 167 Kircheiss, Carl 150 Kläber, Kurt 147 Klenze, Leo von 231 Kling, Alfred 150 Kluck, Alexander von 164 Köbis, Albin 144–146, 212 Kobus, Kathi 112 Koester, Hans von 86, 93, 95, 98, 106 Kohrt, Paul 208–210 Krüger, W. 16, 19, 23 Lambert, Nicholas 75 Lammertz, Wilhelm 187, 190, 191 Le Queux, William 38–41 Liebknecht, Karl 212 Lilienthal, Otto 223 Linke, Carl Richard 202–212, 214–217 London, Jack 146 Lorenz, Helmut 167 Lorey, Hermann 49 Luckner, Felix Graf von 149–152, 154, 156– 158, 180 Macchiavelli, Niccolo 58 Mahan, Alfred T. 60–62, 64, 67–69, 81, 83, 89 Mantey, Eberhard von 25, 43, 45–47, 49 Mathy, Heinrich 223 Matull, Karl 101, 166 May, Karl 140 McKenna, Reginald, 78 McNeill Whistler, James Abbot 34 Mecklenburg, Cecilie zu 164 Meester, Oskar 160

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Register Méliès, Georges 159, 161 Melle, Werner von 127 Melville, William 37–40 Menges, Wilhelm 86 Meyersberg (Torpedobootsobermaat) 164 Morris, William 30 Mühl-Benninghaus, Wolfgang 164, 165 Mühsam, Erich 141 Müller, Georg Alexander von 17, 43 Münkler, Herfried 54, 187, 197 Munzer, Gustav August 189 Nerger, Karl August 141 Neumann, Balthasar 231 Neuss, Alwin 166 Nichols, Dudley 178 Nietzsche, Friedrich 140, 141, 145 Nigh, William 165 Noa, Manfred 166, 167 O´Connor, Neal 223 Oldenburg, Friedrich August von 162 Osterkamp, Theodor 223 Parker, James Jr. 178, 180 Paul, Heinz 166, 168 Petsch, Joachim 232 Picator, Erwin 147 Pieper, Leonharda „Muschelkalk“ 121, 122 Plievier, Theodor 139–147 Pollmann, Tonius 224 Powell, Dick 182 Prange, Thorsten 196 Presber, Rudolf 177 Prien, Günther 156 Prochnewski, Fritz 96, 101 Putin, Wladimir 29 Raeder, Erich 45, 46, 49, 51, 53, 157, 193, 195–197 Raleigh, Walter 175 Ralph, Louis 166–168 Reichpietsch, Max 144–146, 212 Renard, Arthur 16, 20–21 Richthofen, Manfred von 156 Ringelnatz, Joachim 109, 115, 119–122 Ritter, Karl 169 Rodgers, Nicholas A. M. 59 Roehn, H. 176 Rogell, Albert S. 167, 178 Rogers, Ginger 181 Rohkrämer, Thomas 84

Ronneberger, Friedrich A. 188, 191 Rosen, Georg 177 Rösing, Hans-Rudolf 192 Rothe, Paul 215 Ruland, Annemarie 117 Sachsenberg, Gotthard 223 Salewski, Michael 238 Salm Horstmar, Otto Fürst zu 86 Sanders, William Edward 170, 173, 176 Schäfer, Dietrich 102 Schauwecker, Franz 24 Scheer, Reinhard 45, 162, 191, 197 Schmidt, Eberhard 161 Schubert, Franz 195 Schulze-Wilde, Harry 142, 143, 145, 146 Schuppenhauer, Claus 132 Schütte, Johann 225 Schwechten, Franz 233 Schweinburg, Viktor 86 Selpin, Herbert 169 Sickert, Walter R. 34 Sims, William 172 Sinclair, Upton 143, 146 Sisley, Alfred 34 Sjöström, Victor 166 Smith, Wilbur 183 Soldan, George 24 Speck, Carl 16 Spee, Maximilian Graf von 90, 183 Spiegel und Peckelsheim, Edgar von und zu 170 Spindler, Arno 46, 47, 49 Stang, Knut 57 Stirner, Max 141, 145 Stöwer, Willy 18 Strasser, Peter 229 Stumm, Wilhelm von 164 Stumpf, Lothar 216 Stumpf, Richard 201–216 Suid, Lawrence 169 Summers, Walter 167 Sun Tzu 58 Tirpitz, Alfred von 31, 33, 40, 45, 51, 54, 55, 66–72, 78, 81, 85, 90, 91, 99, 151, 193, 233, 238 Trendtel, Heinrich 188 Treue, Wilhelm 53 Trotha, Adolf von 51, 194, 195 Tucholsky, Kurt 145

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Register

Ucicky, Gustav 167, 168 Udet, Ernst 156 Valentino, Rudolfo 168 Victor, Henry 180 Victoria, Königin, United Kingdom 32, 150 Viebeg, Max 170 Walle, Heinrich 185, 190 Wayne, John 183 Weber, Max 98 Wegener, Edward 57 Wegener, Wolfgang 52, 53, 57 Wellershoff, Dieter 185 Wells, H.G. 30 Weniger, Karl 49, 50

Wette, Wolfram 202 Widemann, Wilhelm 40 Wildhagen, E. 48 Wilhelm II. 16, 17, 33, 90, 110, 159, 174, 220, 233, 238 Wilhelmine von Holland 150 William Lord Selborne 31, 75 Willoughby, Hugh 175 Wilson, Arthur K. 76 Wilson, Woodrow 100 Winkle, Ralph 168 Wolf (Kapitänleutnant) 164 Wolf, Friedrich 141 Wriede, Hinrich 127 Zweig, Stefan 133

ORTSREGISTER Adria 13 Afrika 33 Amsterdam 164 – Filmmuseum 164 Annapolis 179, 234 Ärmelkanal 170 Atlantik 52, 161, 163 – Nordatlantik 163 – Südatlantik 163 Australien 141 Balkan 204, 212 Bayern 140 Berlin 25, 39, 40, 49, 78, 122, 140, 142, 146, 160, 177, 201, 216, 220, 222, 223 – Deutsches Opernhaus 164 – Deutsches Technikmuseum 222 – Militärhistorisches Museum Flugplatz Berlin-Gatow 222 – Museum für Meereskunde 25 – Zeughaus-Kino 167 Bombay 141 Bonn 150 Bundesrepublik 183, 237 Brandenburg 140 Bremen 93, 128, 135, 216 Bremerhaven 128, 222, 224, 226

– Deutsches Schifffahrtsmuseum 222, 224, 226 Britannien 34, 35, 176 Britische Inseln 31, 34, 36, 38 Brügge 171, 172, 174 Celle 204, 212 Charlottenburg 164 Chelmsford 39 Chile 183 Colombo 141 Commonwealth Staaten 80 Coronel 169 Cowes 32 Cuxhaven 109, 113–115, 118–120, 122, 215, 225 – Ringelnatz Museum 122 Dänemark 52, 152 Danzig 78 Dardanellen 12, 25 Dartmouth 234 Delmenhorst 160 Deutsches Kaiserreich 31, 36–38, 40, 83–85, 87, 105, 106, 112, 133, 215, 237, 238, Deutsches Reich 33, 66, 83, 87, 103, 106, 108, 142, 146, 147, 192, 215, 236

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Register Deutschland 12, 18, 23, 46, 52, 66, 72, 77, 79, 85, 88, 89, 94, 95, 105, 108, 126, 127, 129, 132, 133, 139, 149, 150, 157, 159–161, 163, 164, 166, 168, 170, 177, 180, 182, 188, 190, 193, 196, 222, 224, 225, 231, 232, 236 – Nordwestdeutschland 163 Deutsch-Ostafrika 183 Deutsch-Südwestafrika 86 Doggerbank 21, 144 Dover 40 Dresden 149, 205, 222 – Militärhistorisches Museum der Bundeswehr 205, 222 Duhnen 117 Duisburg 187 Düsseldorf 189

– Internationales Maritimes Museum 222, 224 Harwich 174 Heiligenstadt 216 Helgoland 22, 25, 66, 90, 144 Herzogtum Oldenburg 160 Holland 139 Indien 32 Ingolstadt 15, 231 – Bayerisches Armeemuseum 15 Invergorden 31 Iquique 140 Irland 32, 171, 197 Island 52 Italien 168, 169 Johannisthal 220, 223

Eckernförde 93 Elsfleth 160 England 38, 66, 69, 71, 74, 85, 94, 95, 98, 102, 105, 144, 146, 155, 158, 187, 202, 213, 234 Essex 30 Europa 29, 34 Falkland-Inseln 46, 90, 169 Färöer-Inseln 52 Ferro (Kanarische Insel) 180 Finkenwerder 127, 128, 130, 134, Firth of Forth 31 Flandern 25, 145, 152, 197 Flensburg 231, 233 Flensburger Förde 234 Forst (Lausitz) 217 Frankreich 38, 65, 70, 74, 76, 77, 147 Friedrichshafen 228 – Zeppelin Museum 228 Gatow 222 Germersheim 231 Glasgow 40 Göteborg 136 Großbritannien 27, 31, 32, 36, 40, 41, 48, 52, 54, 59, 65, 66, 74, 77–79, 81, 181, 182, 187, 197, 201 Guantanamo Bay 160 Halle 128, 158, Hamburg 18, 48, 110, 111, 117, 128, 130, 140, 160, 190, 222, 224–226

Kanarische Inseln, 179, 180 Kapstadt 141 Karthago 60 Kiel 16, 53, 93, 103, 111, 115, 145, 146, 164, 171, 188, 193, 215, 226, 238 – Marineakademie 53 Kieler Förde 185, 188, 190 Koblenz 231 Köln 152, 212 Krim 29 Laboe 185, 186, 188, 198, 199 – Marine-Ehrenmal 185–188, 192–199 Leipzig 103, 109, 149 – Alberthalle 103 – Augustusplatz 103 – Palmengarten 103 – Zoologischer Garten 103 Limpsfield (Surrey) 158 Lindenthal 152 London 23, 32, 37, 38, 40, 41, 78, 132, 165 – Imperial War Museum 23, 165 Malmö 158 Marienburg 238 Meersburg 228 – Zeppelin Museum 228 Meiningen 128 Mittelmeer 69, 80, 165 Mopelia 149 Moskau 26 München 102, 112, 122, 155 Mürwik 191, 231, 233, 236

246 – Marineschule 191, 192, 203, 231, 233, 235, 237, 238 Neapel 168 New York 167, 176 – Cameo Theatre 167, 176 Niederelbe 135 Nierendorf 121 Nordenham 160 Nordholz 219, 225–229 – Deutsches Luftschiff- und Marinefliegermuseum Aeronaticum 219, 225, 226, 228, Nordsee 25, 31, 46, 50, 70, 90, 98, 151, 155, 197, 221, 224, 235, 236 Norwegen 52, 134, 152, 166 Oldenburg 160, 225 – Landesmuseum 225 Ösel 25, 115 Ostende 25 Österreich(-Ungarn) 80; 139, 140, 170 Ostpreußen 186 – Tannenberg-Denkmal 186 Ostsee 25, 115, 197, 221, 236 Pas de Calais 140 Pazifik 182 Pisagua 140 Preußen 104, 236 Putzig bei Danzig 220 Queenstown 170 Rastatt 22 – Wehrgeschichtliches Museum 22 Rendsburg 204, 212, 215 Rigaer Bucht 115 Rom 190 – Petersdom 190 Rotterdam 139, 140 Russland 38, 44, 70, 77, 135 Rüstringen 16, 23, 160 Sachsen 120, 140 Sahlenburg 117, 118 Saloniki 169 Scapa Flow 25, 31, 105, 106, 156, 170, 172, 173, 187, 197 Schleswig-Holstein 232 Schottland 76 Schwäbische Alb 141 Schweden 147, 158

Register Scilly-Inseln 169 Seeheim 117 Serbien 135 Sheffield 39 Singapur 141 Skagerrak 95, 98, 125, 136, 151, 161, 191, 196, 197 Southampton 40 Sowjetunion 26, 147 Spanien 77 St. Louis 159 Stade 226 Stensholmen 136 Südafrika 33 Südatlantik 46 Südsee 152 Themse 66 Trafalgar 64 Tschechoslowakei 147 Tsingtau 25 Tsushima 65 Türkei 12 Ukraine 29 Ungarn 139, 140 Urach 141, 142 Venedig 60 Verdun 135 Vereinigte Staaten von Amerika (USA) 21, 33, 77, 100, 172, 176, 178, 180–182 Vereinigtes Königreich 30, 32, 33, 37, 40 Wahn 212 Wattenmeer 31 Wedding 139 Wilhelmshaven 16, 19, 23, 113, 125, 135, 141, 144, 160, 163, 188, 203, 205, 222, 224 – Deutsches Marinemuseum 205, 207, 222, 224 Wurzen 109 Yarmouth 152 Zeebrügge 25

AUTORENVERZEICHNIS Uwe Dirks ist Kapitän zur See a .D., Alfter. Dr. Sebastian Diziol ist Lektor des Solivagus-Verlages, Kiel. Dr. Anja Dörfer ist Leiterin des AERONAUTICUM, Deutsches Luftschiff und Marinefliegermuseum Nordholz. Prof. Dr. Jürgen Elvert ist Inhaber des Jean-Monnet Lehrstuhl für Europäische Geschichte am Historischen Institut der Universität zu Köln. Erika Fischer ist Leiterin des Ringelnatz Museums Cuxhaven. Dr. Stephan Huck ist Leiter des Deutschen Marinemuseums Wilhelmshaven. Dr. Winfried Mönch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Wehrgeschichtlichen Museums Rastatt. Prof. Dr. Hans H. Müller ist Professor im Ruhestand für Neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg. Kathrin Orth M.A. ist freie Historikerin, Berlin. Konteradmiral a. D. Ulrich Otto ist Vizepräsident des Deutschen Maritimen Instituts, Neuberend. Kapitän zur See a. D. Dr. Werner Rahn ist ehemaliger Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes Potsdam. Dr. Rüdiger Schütt ist Wissenschaftlicher Bibliothekar an der Universität Kiel. Fregattenkapitän a. D. Dr. Heinrich Walle ist Sprecher des Wissenschaftlichen Beirates des DGSM und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität zu Köln. PD Dr. Gerhard Wiechmann ist Lehrbeauftragter am Historischen Seminar der Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg.

h i s t o r i s c h e m i t t e i lu ng e n



beihefte

Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft, Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e. V. herausgegeben von Jürgen Elvert. Wissenschaftlicher Beirat: Winfried Baumgart, Michael Kißener, Ulrich Lappenküper, Ursula Lehmkuhl, Bea Lundt, Christoph Marx, Sönke Neitzel, Jutta Nowosadtko, Johannes Paulmann, Wolfram Pyta, Wolfgang Schmale, Reinhard Zöllner.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0939–5385

16. Jürgen Elvert (Hg.) Der Balkan Eine Europäische Krisenregion in Geschichte und Gegenwart 1997. 367 S., kt. ISBN 978-3-515-07016-4 17. Jens Hohensee Der erste Ölpreisschock 1973/74 Die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der arabischen Erdölpolitik auf die Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa 1996. 324 S., 13 Tab., kt. ISBN 978-3-515-06859-8 18. Jürgen von Ungern-Sternberg / Wolfgang von Ungern-Sternberg Der Aufruf „An die Kulturwelt!“ Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg 1996. 247 S. mit 13 Abb., kt. ISBN 978-3-515-06890-1 19. Armin Heinen Saarjahre Politik und Wirtschaft im Saarland 1945–1955 1996. 603 S. mit zahlr. Abb., geb. ISBN 978-3-515-06843-7 20. Arnd Bauerkämper (Hg.) „Junkerland in Bauernhand“? Durchführung, Auswirkungen und Stellenwert der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone 1996. 230 S., kt. ISBN 978-3-515-06994-6 21. Stephan Lippert Felix Fürst Schwarzenberg Eine politische Biographie 1998. 446 S., geb. ISBN 978-3-515-06923-6 22. Martin Kerkhoff Großbritannien, die Vereinigten Staaten und die Saarfrage 1945 bis 1954 1996. 251 S., kt.

ISBN 978-3-515-07017-1 23. Hans-Heinrich Nolte (Hg.) Europäische Innere Peripherien im 20. Jahrhundert 1997. 316 S., kt. ISBN 978-3-515-07098-0 24. Gabriele Clemens Britische Kulturpolitik in Deutschland (1945–1949) Literatur, Film, Musik und Theater 1997. 308 S., kt. ISBN 978-3-515-06830-7 25. Michael Salewski Die Deutschen und die See Studien zur deutschen Marinegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Hg. von Jürgen Elvert und Stefan Lippert 1998. 361 S., geb. ISBN 978-3-515-07319-6 26. Robert Bohn (Hg.) Die deutsche Herrschaft in den „germanischen“ Ländern 1940–1945 1997. 304 S. mit 5 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07099-7 27. Heinrich Küppers Joseph Wirth Parlamentarier, Minister und Kanzler der Weimarer Republik 1997. 356 S., kt. ISBN 978-3-515-07012-6 28. Michael Salewski (Hg.) Das nukleare Jahrhundert 1998. 266 S., kt. ISBN 978-3-515-07321-9 29. Guido Müller (Hg.) Deutschland und der Westen Internationale Beziehungen im 20. Jahrhundert. Festschrift für Klaus Schwabe zum 65. Geburtstag 1998. 381 S., kt. ISBN 978-3-515-07251-9 30. Imanuel Geiss Zukunft als Geschichte Historisch-politische Analyse und

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Die einschneidenden Ereignisse und Erlebnisse, die ein Krieg mit sich bringt, finden immer auch ihren Niederschlag in der künstlerisch-medialen Rezeption; sie sind Bestandteil der öffentlichen Wahrnehmung, Gegenstand theoretischer Reflexion und natürlich auch mit Erwartungen verbunden. Unter besonderer Berücksichtigung der Kaiserlichen Marine im Ersten Weltkrieg begeben sich die Autorinnen und Autoren dieses Bandes auf die Suche nach den verschiedenen Spuren und Formen der Verarbeitung des Krieges, wobei die maritimen Ereignisse im Fokus stehen. Seekriegstheoretische Überlegungen gehören dazu ebenso wie der britische Kriminalroman oder die seinerzeit jungen Medien Foto und Film. Diese dienten wiederum kriegsbeteiligten Personen wie Hans Bötticher alias Joachim Ringelnatz, Theodor Plievier oder den Brüdern Kinau als Inspirationsquelle für belletristische Werke und wirken auch heute noch in Form von Ausstellungen, Bauwerken oder Gedenkstätten nach. Hier sei etwa an die Marineschule Mürwik oder das Ehrenmal Laboe erinnert. Mit diesem Ansatz nutzt der Band einen bislang nur wenig beachteten Zugang zur Seekriegsrezeption des Ersten Weltkrieges.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-11824-8