Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat und in der DDR [1 ed.] 9783428509201, 9783428109203

Der Tatbestand der Rechtsbeugung hat in der jüngsten deutschen (Rechts-)Geschichte jeweils nach einem radikalen politisc

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Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat und in der DDR [1 ed.]
 9783428509201, 9783428109203

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DIRK QUASTEN

Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat und in der DDR

Schriften zum Strafrecht Heft 141

Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat und in der DDR

Von

Dirk Quasten

Duncker & Humblot . Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Köln hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-10920-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

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Inhaltsverzeichnis Einf"tihrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

13

Teil I

Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat A. Die Vorsatzform bei der Rechtsbeugung - dolus eventualis oder dolus directus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. I. Entstehungsgeschichte und Wortlaut der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 11. Nachkriegsjudikatur und Bundesgerichtshof.. ... . . . ... . . . .. . . . . .. . .. 1. Beschluss des OLG Bamberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. BGH-Entscheidungen zur Vorsatzform .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Wendepunkt BGHSt 10, 294 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Das Rehse-Verfahren und die Gesetzesreform von 1974. . . .. ... 111. Fazit........................................................... B. Der Rechtsbeugungstatbestand und seine Sperrwirkung . . . . . . . . . . . . . .. I. Die Sperrwirkung im Rahmen der Konkurrenz mit tateinheitlich erfüllten Delikten... . .. . . . .. . ... .. . .... . . .... . . . ... . . .. .. . . .... . . .. ... 11. Handhabung der Sperrwirkung durch die Nachkriegsjudikatur und den BGH ........................................................... 1. Ausweitung der Sperrwirkung auf die Laienrichter. . . . . . . . . . . . . . .. 2. Die Verknüpfung von Sperrwirkung und Vorsatzerfordemis . . . . . . .. 3. Der Schutz der richterlichen Unabhängigkeit als Begründung für die Sperrwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Tauglichkeit der potentiellen Täter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Spannungsverhältnis zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Sperrwirkung bzw. Rechtsbeugungstatbestand . . .... . . ... . . . . .. c) Rechtshistorische Zweifel an der Position des BGH............ Zwischenergebnis: Notwendigkeit der Sperrwirkung und Konsequenzen der kritisierten Rechtsprechung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Grenzen der Sperrwirkung .. . ... . . . . . . . .. . . . ... . . . .. .. . . ... . . .. a) Wegfall der privilegierenden und Beibehaltung der repressiven Wirkung des Rechtsbeugungstatbestandes bei sog. Scheinverfahren. ...................................................... aa) Maßstab Nichtigkeit und Nichturteil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

16 17 19 20 22 24 29 33 36 36 38 38 40 42 43 45 48 51 55 55 56

8

Inhaltsverzeichnis bb) Aufrechterhaltung der sanktionierenden Funktion des Rechtsbeugungstatbestandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. cc) Resümee.............................................. b) Definition des Begriffes Schein verfahren durch die Rechtsprechung .................................................... c) Abgrenzung von rechtsbeugenden und nichtigen Urteilen als auch Nichturteilen durch den BGH ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. aa) BGH-Entscheidung vom 9.6.1953, 1 StR 198/53 .......... bb) BGHSt 2,173 .................. ; ...................... cc) Denunziantenprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. d) Kritische Deutung zu der vom BGH definierten Reichweite der Sperrwirkung. . ... . . . . . .. . . .. . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . ..

57 58 59 62 62 68 70 71

C. "Recht" im Sinne des Rechtsbeugungstatbestandes .. . .. . . .. . . . . . ... . .. 74 I. Radbruch'sche Formel.. . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. 1. Normativ-geltungstheoretischer Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Wehrlosigkeitsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Stellenwert des Rechtspositivismus in der Weimarer Justiz. . . . .. b) Rechtspositivismus innerhalb der Wissenschaft. . . . . . . . . . . . . . .. c) Wehrlosigkeit der NS-Richterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Fazit.. . . .. . . .. . . . . . . .. . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . . .. . .. . . .. . . .. . .. . . .. 11. Schwächen des normativ-geltungstheoretischen Ansatzes Radbruchs . .. 1. Konstruktive Bedenken im Hinblick auf den Rechtsbeugungstatbestand ........................................................ a) Irrtumsproblematik und übergesetzliches Recht. . . . . . . . . . . . . . .. b) Doppelfunktion des Rechtsbeugungstatbestandes? . . . . . . . . . . . . .. 2. Rechtsphilosophische Unzulänglichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. III. Wortlaut der Vorschrift und Wille des Gesetzgebers. . . . . . . . . . . . . . . . .. IV. Verfassungs- und Naturrecht. .. . . .. . .. . . .. . . .. . . . . . . .. . .. . . .. . .. .. V. Nulla poena sine lege... . . . . . . . . . .. . . . . . .. . . .. . . .. . ... . . .. . .. . ... 1. Rückwirkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Bestimmtheitsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Gesetzlichkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. VI. Nachkriegsjudikatur und BGH zum übergesetzlichen Recht ........... 1. Alliierte Gesetzgebung und NS-Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kontrollratsgesetz Nr. 10 und der OGH .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Bundesgerichtshof ........................................

76 76 77 78 81 82 85 86

86 86 89 91 93 95 96 96 100 103 104 104 106 107

D. Die Beugung des Rechts ............................................. 115 I. Rechtsbeugung als tatbestandliches Handeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 11. Auslegung des damals geltenden Rechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 III. Der Bundesgerichtshof. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121

E. Rechtsblindheit oder politische Verblendung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 135

I. Vorsatzinhalt und Rechtsbegriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

Inhaltsverzeichnis H. Lösungsansätze .................................................. III. Nachkriegsjustiz und Bundesgerichtshof ............................ Exkurs: Die subjektive Rechtsbeugungstheorie .......................... IV. Fazit ...........................................................

9 136 139 146 150

Teil II

Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung in der DDR A. Vergleichbarkeit der beiden Regime und deren Rechtsverständnis ...... 153

I. Totalitarismus und Primat der Politik .............................. 153 H. Verfassungs- und Strafrecht der beiden Regime ...................... 155 IH. Fazit.......................................................... . 159

B. Strafanwendungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 160 I. Art. 315 I 1 EGStGB in Verbindung mit § 2 I, III StGB ............. 1. Beitrittsprinzip contra internationale Lösung ..................... 2. Unrechtskontinuität von § 244 DDR-StGB und § 339 StGB ....... a) Wortlautübereinstimmung und Gemeinschaftsrechtsgut Rechtspflege .................................................... b) Individualrechtsgüterschutz der beiden Normen. . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mildevergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Unterbrechung, Ruhen und Verlängerung 'von Verjährungsfristen. . . . 5. Amnestie .................................................... 11. Der Bundesgerichtshof ........................................... 1. Beitrittsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kontinuität des Unrechts - innerstaatliche Rechtspflege und Individualschutzinteresse ............................................ 3. Mildevergleich ............................................... 4. Verjährungsfristen und Amnestie ..................... . . . . . . . . . .

C. Die I. 11. 111.

160 160 165

166 170 175 177 182 183 183 186 191 192

Sperrwirkung und Rechtsbeugung in der DDR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Die Figur der Sperrwirkung und der Tatbestand des § 244 DDR-StGB. 193 Grenzen der Sperrwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Der Bundesgerichtshof ........................................... 196

D. Naturrecht und Gesetzlichkeit ....................................... 198 I. 11. III. IV. V.

Schwächen der Radbruch'schen Formel ............................ Wortlaut und ratio legis des § 244 DDR-StGB ...................... Der Einigungsvertrag und Art. 315 I EGStGB i. V.m. § 2 StGB ...... Verfassungsrechtliche und konstruktive Bedenken.................... Der Bundesgerichtshof ...........................................

199 201 203 204 208

E. Gesetzwidriges Entscheiden ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 I. Rechtssetzung, Rechtsanwendung und Rechtsquellen nach der Rechtsdogmatik in der DDR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 222

10

Inhaltsverzeichnis 11. Der Auslegungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Bundesgerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auslegungsmethodik und Auslegungsinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schwerwiegende Menschenrechtsverletzung gleich gesetzwidriges Entscheiden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsbruch als elementarer Verstoß gegen die Rechtspflege. . . . b) Anderes Rechtssystem und Rückwirkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . 3. Tatbestandsreduktion in concreto ...............................

228 237 237 243 244 248 252

F. Rechtsblindheit und politische Verblendung .. ......................... 267 I. Vorsatzinhalt und Tatbestandsirrtum ....................... , . . . . . . . . 267 11. Der Bundesgerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Schlussbetrachtung . .................................................... 272 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

Abkürzungsverzeichnis AcP

Archiv für die civilistische Praxis

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

ARSP

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

BGBI

Bundesgesetzblatt

BTDrs.

Bundestagsdrucksache

DJ

Deutsche Justiz

DJZ

Deutsche Juristenzeitung

DR

Deutsches Recht

DRiZ

Deutsche Richterzeitung

DRW

Deutsches Recht, vereinigt mit Juristischer Wochenschrift

DRZ

Deutsche Reichszeitschrift

E

Entwurf eines Strafgesetzbuches

FS

Festschrift

GA

Goltdamrner' s Archiv für Strafrecht

GS

Gedächtnisschrift

JW

Juristische Wochenschrift

JR

Juristische Rundschau

Jura

Juristische Ausbildung

JuS

Juristische Schulung

JW

Juristische Wochenschrift

JZ

Juristenzeitung

KJ

Kritische Justiz

MDR

Monatsschrift für Deutsches Recht

NJ

Neue Justiz

NJW

Neue Juristische Wochenschau

NStZ

Neue Zeitschrift für Strafrecht

RG

Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen

RGZ

Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen

RHJ

Rechtshistorisches Journal

ROW

Recht in Ost und West

12

Abkürzungsverzeichnis

RuP

Recht und Politik

SJZ

Süddeutsche Juristenzeitung

StV

Strafverteidiger

VVDStRL

Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Strafrechtslehrer

ZakDR

Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik

ZStW

Zeitschrift für die gesamte Rechtswissenschaft

Im Übrigen wird verwiesen auf Hildebert Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 4. Auflage, Berlin 1993.

Einführung Der Tatbestand der Rechtsbeugung hat in der Gerichtspraxis seit dem Inkrafttreten des Strafgesetzbuchs im Jahre 1871 zumeist nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Bis zum Ende des Kaiserreiches weist die amtliche Entscheidungs sammlung des Reichsgerichts nur zwei aus dem Jahre 1894 stammende Entscheidungen l zu § 336 a.F. StGB auf. Zur Zeit der Weimarer Republik ist ein Urteil des Reichsgerichts aus dem Jahre 1922 verzeichnee; die amtliche Entscheidungssammlung des Reichsgerichts für die Zeit des "Dritten Reiches" führt ebenfalls nur zwei Entscheidungen zur Rechtsbeugung aus den Jahren 1935 und 1937 auto Beachtung fand der Rechtsbeugungstatbestand in der jüngsten deutschen (Rechts-)geschichte jeweils nach einem radikalen politischen Wandel: zum einen mit dem Zusammenbruch der NS-Diktatur nach 1945, als die deutsche Strafjustiz sich vor die Aufgabe gestellt sah, dass durch die NS-Richter begangene Justizunrecht aufzuarbeiten; zum anderen im Anschluss an das Ende der Existenz des DDR-Staates und der Wiedervereinigung nach 1990, als es um die Ex-post-Beurteilung von Justizunrecht zur Zeit der SED-Regierung durch die bundesrepublikanische Rechtsprechung ging. Untersuchungsgegenstand der Arbeit ist die höchste deutsche Rechtsprechung zu dem Tatbestand der Rechtsbeugung für die Zeit des jeweiligen politischen Systemunrechts. In der Nachkriegszeit hatte die Jurisdiktion im Rahmen der Verfolgung von NS-Justizunrecht die Möglichkeit, zu einem angemessenen Anwendungsbereich des Tatbestandes der Rechtsbeugung zu gelangen. Die deutsche Strafjustiz hat indes durch eine oftmals mehr als eigenwillige Auslegung des Rechtsbeugungstatbestandes verstanden, die in der NS-Zeit Unrecht urteilenden Richter vor Strafe zu bewahren. Die justizielle Aufarbeitung der NS-Zeit muss als gescheitert gelten. Bezeichnenderweise ist keiner der am Volksgerichtshof tätigen Berufsrichter und Staatsanwälte wegen Rechtsbeugung verurteilt worden; gleiches gilt für Richter der Sondergerichte und Kriegsgerichte. RGSt 25, 276; 26,56. Die Vorschrift ist erst durch Art. 19 Nr. 188 EGStGB zu dem wortgleichen § 339 StGB neu gefasst worden. 3 RGSt 57, 31. 4 RGSt 69, 213; 71, 315. 1

2

14

Einführung

Diese Rechtsprechung ist auf erhebliche Kritik gestoßen5 • Dennoch sah sich der Bundesgerichtshof erst sehr spät, nämlich in seinem Urteil vom 16. November 19956 - zur Rechtsbeugung eines Richters der DDR - veranlasst, beschämt seinen "wesentlichen Anteil,,7 an dem "folgenschweren Versagen der bundesdeutschen Strafjustiz"S einzuräumen. Trotz des großen theoretischen Interesses am Rechtsbeugungstatbestand ist es bisher vernachlässigt worden, zu untersuchen, wo genau die Gründe des Scheiterns der Rechtsprechung lagen. Mit Blick auf die Rechtsbeugungsurteile des Bundesgerichtshofs zur NSJustiz drängen sich insbesondere die Fragen auf: Wie wurde der Rechtsbeugungstatbestand an seinen Schlüsselstellen, nämlich dem Vorsatzinhalt oder der Einbeziehung von übergesetzlichem Recht ausgelegt? Inwieweit war diese Auslegung juristisch haltbar, und welche konkrete Rechtsfolgen knüpften sich daran? Auf diese und ähnliche Fragen versucht die Arbeit eine Antwort zu geben. Die Einigung Deutschlands bringt in der Frage der Rechtsbeugung gewissermaßen eine Wiedervorlage der Nachkrlegsproblematik: Die bundesrepublikanische Justiz ist zum zweitenmal aufgefordert, über justizielle Untaten zu richten. Es bietet sich daher geradezu an zu untersuchen, ob die nachträgliche Kontrolle der Justiz durch die Justiz jetzt in angemessener Weise gelungen ist oder ob wiederum die Richterschaft gegen eine Strafbarkeit immunisiert und der Tatbestand der Rechtsbeugung zum politischen Missbrauch ausgehöhlt worden ist. Es gilt mit Rücksicht auf die Rechtsbeugungsurteile des Bundesgerichtshofs zur DDR-Justiz quasi parallel zu der ersten strafrechtlichen Aufarbeitung einer Diktatur im letzten Jahrhundert zu fragen: Ist an der bisweilen eigentümlichen Auslegung des Tatbestandes der Rechtsbeugung weiterhin festgehalten worden, mit der Folge einer weiteren Privilegierung von Richtern? Oder ist aus dem Versagen der bundesrepublikanischen Justiz angesichts des Justizunrechts im Nationalsozialismus insoweit gelernt worden, als dass der Anwendungsbereich der Rechtsbeugung nunmehr adäquat definiert wird? 5 Vgl. nur die dokumentierten Fälle bei Günter Spendet, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, Berlin 1984. 6 BGHSt 41,313. 7 BGHSt 41, 339. 8 BGHSt 41, 343.

Einführung

15

Es wird daher das Vorgehen des Bundesgerichtshofs bei Beurteilung strafbarer Rechtsbeugungshandlungen von DDR-Justizorganen - unter Berücksichtigung seiner Rechtsprechung zur NS-Justiz - kritisch untersucht. Bei dieser Untersuchung steht nicht der Tatbestand der Rechtsbeugung in seiner Gesamtheit, sondern ausschließlich die Kritik an der Handhabung durch die Rechtsprechung zu bestimmten Problemfeldern des Tatbestandes im Blickpunkt. Dies soll an exemplarischen Fällen verdeutlicht werden.

Teil I

Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat A. Die Vorsatzform bei der Rechtsbeugung dolus eventualis oder dolus directus? Zunächst soll das Augenmerk auf die Problematik der Vorsatzform bei der Rechtsbeugung gerichtet werden, da diese bei der kritischen Betrachtung der Nachkriegsrechtsprechung durch die Literatur eine große Rolle gespielt hat. Dass die in der NS-Zeit tätigen Richter so gut wie gar nicht zur Verantwortung gezogen wurden, weil der BGH letztendlich die Schwelle zur Strafbarkeit der Rechtsbeugung durch die Beschränkung der Vorsatzform auf den dolus directus anhob, wird pauschal nach wie vor behauptet. 1 Dazu ist anzumerken, dass die Begründung des BGH für die Einschränkung der Vorsatzform - wie zu zeigen sein wird - sicher gewagt bis provokant war. Mit der Beschränkung der Vorsatzform war zudem ein Rückgang bei der Verfolgung von NS-Justizunrecht zu verzeichnen. Dies mag dazu verleiten, jene Restriktion als Ursache für das Misslingen der rechtlichen Bewältigung dieses Kapitels deutscher Justizgeschichte anzusehen. Eine nähere Betrachtung der Haltung des Bundesgerichtshof zu dieser Vorsatzfrage ist daher angezeigt. Da erst mit der gerichtlichen Aufarbeitung des justiziellen Unrechts in der NS-Zeit der Tatbestand der Rechtsbeugung erhebliche Bedeutung in der Praxis gewann, wurden erst fortan Tatbestandsmerkmale der Norm intensiver diskutiert. In dem auf rein theoretische Fragen reduzierten Diskurs im Schrifttum2 blieb die Vorsatzform bis 1945 ungeklärt. Zum Teil wurde 1 Vgl. nur Rudolf Wassennann, Wo Buße Not tat, wurde nach Entlastung gesucht, in: RuP 1983, S. 7; Günter Gribbohm, Nationalsozialismus und Strafrechtspraxis - Versuch einer Bilanz, in: NJW 1988, S. 2846. In dieser allgemeinen Aussage ist dies unzutreffend. Es lenkt von den gewichtigeren Punkten der unglücklichen Handhabung des § 339 StGB durch den BGH ab. Die eigentlichen Ursachen des Fehlschlagens justizieller Aufarbeitung sind vielschichtiger. Das Zusammenspiel von der sog. Sperrwirkung und Vorsatzform als auch -inhalt sind die entscheidenden Faktoren gewesen.

A. Die Vorsatzfonn bei der Rechtsbeugung

17

für die Tatbegehung der dolus directus 3 , zum Teil der dolus eventualis4 verlangt. I. Entstehungsgeschichte und Wortlaut der Norm

Mit Blick auf die Entstehungsgeschichte und den Wortlaut der Norm lässt sich die von der Nachkriegsrechtsprechung5 und die zum Teil vom Schrifttum6 vertretende Ansicht, für die richterliche Rechtsbeugung den dolus directus als Vorsatzform zu fordern, nicht überzeugend darstellen. Ein Argumentationsansatz für die vorgenannte Ansicht soll sich aus der Entstehungs- und Gesetzgebungsgeschichte des § 336 a. F. StGB 7 ableiten: Danach ergäbe sich aus den Materialien zum StGB, dass an eine Rechtsbeugung mit Eventualvorsatz gar nicht gedacht worden sei. 8 Richtig ist, dass als Vorläufer des § 336 a.F. StGB der § 314 des Preußischen StGB von 1851 fungiert hatte. Dieser forderte als Tathandlung, dass der Richter sich einer vorsätzlichen Ungerechtigkeit schuldig macht; ein Handeln entgegen der eigenen Überzeugung mit dem Bewusstsein des Unrechts, also ein instrumentelles finales Handeln wurde vorausgesetzt. 9 Spä2 Vgl. Bemhard Diestelkamp, Die Justiz nach 1945 und ihr Umgang mit der eigenen Vergangenheit, in: RHJ 1988, S. 395. 3 Wohl vorherrschend: Max Alsberg, Anmerkung zu RGSt 97, 31, in: JW 1922, S. 1026; Reinhard Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 18. Aufl., Tübingen 1931, § 336 Anm. I1I; Justus von Olshausen, J. v. Olshausen's Kommentar zum Strafgesetzbuch, § 336 Anm. 3; Hans Wacker, Die Rechtsbeugung - die dogmatische und rechtspolitische Untersuchung zu § 336 des Reichsgesetzbuches mit besonderer Berücksichtigung der Strafgesetzentwürfe, Diss. Kiel 1931, S. 40; Max Grünhut, Die Unabhängigkeit der richterlichen Entscheidung, Monatszeitschrift für Kriminologie und Strafrechtsrefonn, in: Beiheft 1930, S. 10. 4 Alexander Swarzenski, Fahrlässige Rechtsbeugung und fahrlässig falsche Strafverfolgung, Die Justiz IV1928, S. 340, 344; Alfred Trepper, Richterbestechung (§ 334 StGB) und Rechtsbeugung (§336 StGB) unter Berücksichtigung auch der Strafrechtsrefonn, Diss. Erlangen 1914, S. 59, 76; Otto Henning, Die Rechtsbeugung im geltenden Recht und den deutschen Strafgesetzentwürfen, Diss. Heidelberg 1929, S. 61. 5 Vgl. sodann im Text, daher nur erwähnt: OLG Bamberg, SJZ 1949, S. 91; BGH, NJW 1957, S. 1158. 6 Hans G. Krause, Richterliche Unabhängigkeit und Rechtsbeugungsvorsatz, in: NJW 1977, S. 285; Ingo Müller, Der Vorsatz der Rechtsbeugung, in: NJW 1980, S. 2390 ff. 7 Soweit nicht gesondert darauf hingewiesen wird, gelten die folgenden Ausführungen sinngemäß für den nun geltenden wortgleichen § 339 StGB. 8 Vgl. Ingo Müller, NJW 1980, S. 2391. 9 Wolfgang Joly, Die Rechtsbeugung des Richters (§ 336), Diss. Göttingen 1954, S. 7, 12 ff.; Siegfried Rabe, Die Rechtsbeugung - Dogmatische Untersuchung zu § 336 des Reichsstrafgesetzbuches, Diss. Erlangen 1950, S. 27, 30; Ingo Müller, 2 Quasten

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Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

tere Entwürfe der Strafrechtskommissionen zum StGB betonten, dass der bedingte Vorsatz nicht ausreiche, sondern der Richter bzw. Amtsträger zur Tatbestandsverwirklichung das Recht "wissentlich,,10 bzw. "absichtlich oder wissentlich,,11 gebeugt haben muss. Es gab aber auch anderslautende Forderungen: In den Entwürfen zu einem deutschen Strafgesetzbuch aus den Jahren 1901 und 1911 wurde eine Strafbarkeit des Vorsatzes allgemein und damit auch des dolus eventualis vorgeschlagen. 12 Im Rahmen der Verhandlung über den E 1927 wurde sogar zum Teil die Bestrafung der fahrlässigen Rechtsbeugung gefordert. 13 In der Strafrechtskommission des Jahres 1959 wurde eine Einbeziehung des bedingten Vorsatzes diskutiert. 14 Endlich entschied diese Kommission, den bedingt vorsätzlich das Recht beugenden Täter straflos zu lassen. Von einer einheitlichen Entwicklung hin zur alleinigen Strafbarkeit des dolus directus kann hinsichtlich der Entwicklungsgeschichte des § 336 a. F. StGB somit nicht die Rede sein. 15 Entstehungs- und Gesetzgebungsgeschichte des § 336 a. F. StGB bieten für die insbesondere von der Nachkriegsrechtsprechung favorisierte Beschränkung der Vorsatzform also keine himeichende Argumentationsgrundlage. Und so hat der Gesetzgeber bei der Beratung zum Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch im Jahre 1974 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass auch für § 336 a. F. StGB der allgemeine Grundsatz gelten solle, wonach das Gesetz dort, wo es von Vorsatz spricht, grundsätzlich dolus directus und dolus eventualis meint. 16 Damit wurde endlich klargestellt, dass entgegen der BGH-Rechtsprechung nur eine Gesetzesänderung zur Straflosigkeit des Eventualvorsatzes bei dem Rechtsbeugungstatbestand führen könnte. Auch der Wortlaut der Norm selbst streitet nicht für das Postulat des dolus directus. Aus der Wendung "zugunsten oder zum Nachteil einer Partei" sowie dem Wort "Rechtsbeugung" soll sich zwar Gegenteiliges ergeben. 17 Die Verwendung des Rechtsbeugungstatbestandes zu politischen Zwecken, in: KJ 1984, S. 135; Ingo Müller, in: NJW 1980, S. 2391. 10 § 165 des Kommissionsentwurf von 1913; § 171 des E 1919; § 126 des E 125; § 129 des E 1930; § 492 des E 1959; vgl. auch Ursula Schmidt-Speicher, Hauptprobleme der Rechtsbeugung, Diss. 1980 Köln, S. 83 ff.; Ludwig Bendix, Die Rechtsbeugung im künftigen deutschen Strafrecht, Die Justiz/Band 11, S. 44 ff. 11 § 455 des E 1962 bzw. des E 1960. 12 §§ 200, 59 11 des Vorentwurfs von 1909 und §§ 161, 19,20 Gegenentwurf von 1911. 13 Vgl. ,,129 11, Antrag Nr. 99 zu § 129". 14 Niederschriften, Niederschriften über die Sitzung der Großen Strafrechtskommission, Band 13 (Besonderer Teil, 2. Lesung), Bonn 1960, S. 315 ff. 15 So auch Peter Seemann, Die Haftungsprivilegierung des Richters im Rahmen des § 336 StGB, Diss. Gießen 1991, S. 28. 16 BT-Drucksache 7/1261 S. 22.

A. Die Vorsatzform bei der Rechtsbeugung

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Denn stelle man die Silbe "zu" und das Wort "zum" mit der gesetzlichen Formulierung "um... zu ... " gleich, welche als Synonym für die Vorsatzform der Absicht steht!8, so müsse der Richter das Recht absichtlich beugen!9. Ist grundsätzlich die vorgenommene Gleichstellung der Wendung "um... zu ... " mit der Vorsatzform der Absicht zulässig20, wird jedoch verkannt, dass der Vor- oder der Nachteil einer Partei als Erfolg der Rechtsbeugungshandlung ein objektives Tatbestandsmerkmal darstellt. Eine Absicht ist diesbezüglich nicht erforderlich, der Taterfolg muss lediglich vom allgemeinen Vorsatz umfasst sein?! Auch aus der Wendung "das Recht beugen" ergibt sich nicht die Notwendigkeit, eine wissentliche Tatbestandsverwirklichung zu verlangen. Lässt sich die "Rechtsbeugung" als finaler Begriff definieren22 , so spricht die Semantik nicht zwingend dagegen, etwas mit nur bedingten Vorsatz zu beugen23 ; denn auch derjenige, der "die Gefahr der Rechtsgutverletzung erkannt und nicht auf deren Vermeidung vertraut,,24, kann durchaus Recht beugen. Der Wortlaut der Vorschrift enthält keinen entscheidenden Anknüpfungspunkt, wonach die Beschränkung der Vorsatzform auf den dolus directus gerechtfertigt wäre. D. Nachkriegsjudikatur und Bundesgerichtshof

Mit Blick auf die Nachkriegsrechtsprechung25 und dem Bundesgerichtshof ergibt sich hinsichtlich der Bestimmung der Vorsatzform der Rechtsbeugung ein diffuses Bild: So bereits Hans Wacker, S. 40. Vgl. z.B. die Wendungen im Gesetzestext der §§ 229, 253 StGB; vgl. ThOTrUlS Fischer, Strafgesetz und Nebengesetz, Kommentar, 50. Aufl., München 2001, § 15, Rz.6. 19 Hans Wacker, S. 40. 20 ThoTrUls Fischer, § 15, Rz. 6 m. w.N. 21 Vgl. LK-Spendel, Großkommentar, 7. Band, §§ 303-358, 10. Aufl., Berlin 1988, § 336 Rz. 68. 22 Herbert Trändie, Strafgesetz und Nebengesetz, 48. Aufl., München 1997, § 336, Rz. 5. 23 Ursula Schmidt-Speicher, S. 85. 24 Peter SeeTrUlnn, S. 31. 2S SO hat sich der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone (OGH) mit dem Problem der Vorsatzform bei der Rechtsbeugung in keinem seiner Urteile auseinandergesetzt: Für die Zurechnung des Unmenschlichkeitsverbrechen hat OGHSt 1,217 für genügend erklärt, wenn der Täter "wußte oder doch für möglich hielt und billigte, daß hier die Todesstrafe zugemessen wurde, obwohl sie nach dem geringfügi17 18

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Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

So hat der BGH in seinen Entscheidungen teilweise die Frage offen gelassen, teilweise den dolus eventualis nicht aus dem Strafbarkeitsbereich ausgeschlossen, letztlich aber die Strafbarkeit der Rechtsbeugung auf den dolus directus beschränkt. 1. Beschluss des OLG Bamberg

Entscheidenden Einfluss für die von der Nachkriegsrechtsprechung geführte Diskussion im Zusammenhang mit der Vorsatzbestimmung der Rechtsbeugung hatte zunächst der Beschluss des OLG Bamberg26 aus dem Jahre 1949. Dieser muss als "Vorreiter" für die Eingrenzung der Vorsatzform angesehen werden. Die dort zu findende Argumentation zum Erfordernis eines bestimmten Vorsatzes ist einer eingehenden Untersuchung Wert. Denn zum Teil wurde sie bedenkenlos vom BGH27 übernommen; zum Teil wurde der Beschluss vom Schrifttum als Beleg für das Erfordernis des unbedingten Vorsatzes verwandt. In dem Verfahren war über die Strafbarkeit eines Richters zu entscheiden, der kurz vor Ende des Krieges als Vorsitzender eines zivilen Standgerichts einen Arzt zum Tode verurteilt hatte. Der Arzt war nach Beendigung des Standgerichtsverfahrens erschossen worden. Die Verhandlungsführung und Urteilsfindung des Standgerichts wiesen zahlreiche materielle und prozessuale Mängel auf. Das zunächst mit dem Verfahren befasste LG Aschaffenburg bejahte eine Strafbarkeit wegen eines Vergehens der fahrlässigen Tötung, der Tatbestand der Rechtsbeugung wurde verneint. Das OLG Bamberg hob diese Entscheidung auf, wobei es die Nichtberücksichtigung der sog. Sperrwirkung des § 336 a. F. StGB rügte: Ein fahrlässig unrichtig ausgesprochener Urteils spruch lasse nicht nur eine Bestrafung aus § 336 a. F. StGB, sondern aufgrund der von der Norm ausgehenden Haftungsbeschränkung eine Sanktion überhaupt entfallen. In diesem Zusammenhang erklärte das Gericht, dass die Rechtsbeugung eine bewusste und gewollte Entscheidung gegen das Recht bedeute: "Ein bedingter Vorsatz ist hierzu nicht ausreichend,,28. gen Maß an persönlichen Schuld nicht im geringsten verdient war", vgl. OGHSt 1, 224. OGHSt 2,23 stellte für die Verleitung zur Rechtsbeugung zumindest klar, dass der Vorsatznachweiß vorliegt, wenn der Täter den Eintritt der von ihm in Gang gesetzten Folge "für möglich hält und sie für den Fall ihres Eintritts billigt", vgl. OGHSt 2,36. 26 SJZ 1948, Sp. 491. 27 Vgl. sodann im Text BGHSt 10, 294. 28 SJZ 1949, Sp. 491.

A. Die Vorsatzfonn bei der Rechtsbeugung

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Dies wird zunächst mit dem Rückgriff auf eine Entscheidung des Reichsgerichts begründet. In RGSt 25, 276 wurde allerdings lediglich festgestellt, dass der subjektive Tatbestand des § 336 a. F. StGB die Absicht der Begünstigung oder Benachteiligung einer Partei nicht bedürfe: Der angeklagte Polizeibeamte, der trotz Ablauf der Vetjährungsfristen noch Strafverfügungen erlassen hatte, bestritt nämlich in dem von ihm angestrebtem Revisionsurteil, dass sein Wille darauf gerichtet sei, den betroffenen Personen einen Nachteil zuzufügen, dieser richte sich nur darauf, seine nachlässige Amtsführung zu verschleiern29 • Anschließend wiederholte das Reichsgericht lediglich die bereits von der ersten Instanz erklärten Vorsatzfeststellungen, dass der Angeklagte gewusst habe, dass zum einen "die Strafverfolgung der angezeigten Übertretung durch Vetjährung ausgeschlossen sei" und zum anderen "die Verhängung der Strafe die von ihm in Strafe genommenen Personen benachteilige,,30, womit der subjektive Tatbestand vorläge. Die Entscheidung enthält keine Aussage zum Erfordernis des bedingten oder unbedingten Vorsatzes bei der Rechtsbeugung. Denn diese Frage hatte das Reichsgericht gar nicht zu entscheiden, weil unbedingter Vorsatz bereits feststand. 31 Im Anschluss führt das OLG Bamberg an, dass die Notwendigkeit des unbedingten Vorsatzes sich "eindeutig" aus der Fassung der §§ 334 a. F. und 336 a. F. StGB ergebe, ohne dies jedoch auszuführen. Aus der gesetzlichen Fassung des § 336 a. F. StGB ergibt sich nur eindeutig, dass sie sich nicht auf die bewusste, mit direktem Vorsatz begangene Rechtsbeugung beschränkt. Auch der Verweis auf § 334 a. F. StGB klärt nichts. Zwar forderte § 334 a. F. StGB Absicht, ist allerdings, wie sich aus dem Wortlaut der beiden Vorschriften ergibt, als passive Richterbestechung von der Rechtbeugung unabhängig. Die Delikte stehen in Tatmehrheit zueinander: Wird die in § 334 a. F. StGB geforderte Absicht tatsächlich verwirklicht, so ist die damit begangene Rechtsbeugung selbständige Tat. § 336 a. F. StGB bestraft lediglich die Beugung des Rechts und macht dies nicht von einer Bestechung oder einem sonstigen Motiv abhängig, und § 334 a. F. StGB straft ohne Rücksicht auf den Eintritt des beabsichtigten Erfolges die Bestechung. 32 Ein systematischer Vergleich der beiden Normen erzwingt keineswegs eindeutig die Notwendigkeit des bestimmten Vorsatzes.

Vgl. RGSt 25, 277. Vgl. RGSt 25,278. 31 So auch Frank Scholderer, Rechtsbeugung im demokratischen Rechtsstaat: Zur Rekonstruktion des § 336 StGB für die Gegenwart, Baden Baden 1993, S. 636; Wemer Sarstedt, Fragen zur Rechtsbeugung, in: Festschrift für Ernst Heinitz, Berlin 1972, S. 437; Ursula Schmidt-Speicher, S. 93. 32 So bereits Man/red Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung, S. 122, 123. 29

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Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

Die Analyse des Beschlusses des OLG Bamberg zeigt, dass die dort vorgebrachten Argumente keinesfalls eine Beschränkung der Vorsatzform auf den dolus directus rechtfertigen. 2. BGB-Entscheidungen zur Vorsatiform

Dass die Ansicht, sich auf den direkten Vorsatz zu beschränken, sich beim BGH nur zögerlich durchsetzte, zeigt sich in den folgenden Urteilen. In der Entscheidung vom 29.5.195233 lässt der BGH die Frage zum Erfordernis der Vorsatzform offen. Der 2. Strafsenat urteilte über ein Kriegsgericht, bestehend aus einem Berufsrichter und zwei Laienrichtern, das drei fahnenflüchtige Soldaten am 9.5.1945 zum Tode verurteilt hatte und dieses Urteil am 10.5.1945, also zwei Tage nach der Gesamtkapitulation des Deutschen Reiches, vollstrecken ließ. So führt der BGH zunächst aus, dass es für die innere Tatseite des § 336 a. F. StGB ausreicht, dass der Berufsrichter wenigstens damit rechnete, dass die Todesurteile rechtswidrig waren 34 ; er ergänzt, dass, falls der Berufsrichter und die Mitangeklagten "das Missverhältnis zwischen der Schuld der Soldaten und der Todesstrafe erkannten" (!), so hätte jeder der Angeklagten ein Verbrechen des Totschlags begangen und der Berufsrichter "außerdem gleich das Recht gebeugt". 35 Andererseits erklärt das Gericht im Zusammenhang mit der sog. Sperrwirkung des § 336 a. F. StGB, Rechtbeugung setze "bewußte und gewollte Verstöße" gegen das Recht voraus. 36 Dies wiederum spricht für die Annahme des Erfordernisses des dolus directus für eine strafbare Rechtsbeugung. Es muss allerdings beachtet werden, dass diese Anmerkungen nur obiter dicta waren, da der BGH auf die Revision der Angeklagten sowie der Staatsanwaltschaft das Urteil einzig und allein deswegen aufheben musste, weil die Grundlage der Verurteilung, das Kriegsratskontrollgesetz Nr. 10, im Jahre 1952 nicht mehr galt. Die Ausführungen zur Vorsatzform waren rechtlich unverbindliche Hinweise, die weder den Tatrichter, die Oberlandesgerichte noch andere Senate des BGH banden. 37 BGH, MDR 1952, S. 693. Vgl. BGH, MDR 1952, S. 694; Wemer Sarstedt, S. 440; Günther Schultz, Anmerkung zum BGH, Urt. v. 29.05.1952 - 2 StR 45150, in: MDR 1952, S. 696. 3S BGH, MDR 1952, S. 695. 36 BGH, MDR 1952, S. 695. 37 Wemer Sarstedt, S. 440. 33 34

A. Die Vorsatzform bei der Rechtsbeugung

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Hatte der BGH sich bei dem vorherigen Urteil noch nicht auf eine bestimmte Vorsatzform festlegen wollen, so enthielt die erste der beiden weiteren Entscheidungen die Tendenz zum dolus eventualis, die zweite zum dolus directus. 38 Die Entscheidung des BGH vom 9.6.195339 betraf die Strafbarkeit eines standgerichtlichen Todesurteils wegen Wehrkraftzersetzung. Das erstinstanzliehe Schwurgericht hatte eine Strafbarkeit des Standgerichtsvorsitzenden wegen Totschlags angenommen, nicht aber wegen Rechtsbeugung. Das Gericht war der Meinung, dass eine Bestrafung nach § 336 a. F. StGB nur zulässig sei, wenn der unbedingte Vorsatz des Täters festgestellt werden könne. Es sah es jedoch nicht als erwiesen an, dass dieser die Rechtswidrigkeit des Urteils positiv erkannt habe. Auf das die Revision des Angeklagten stützende Argument, eine Verurteilung wegen Totschlags sei durch das Nichtvorliegen des § 336 a.F. StGB gesperrt, teilte der BGH nicht: "Die Unabhängigkeit und Verantwortungsfreiheit des Spruchrichters erleiden keine Einbuße, wenn er für jede Art von vorsätzlichen Taten einzustehen hat,,40.

Und weiter heißt es: "Der Richter, der das als möglich erkannte Unrecht seiner Maßnahmen ins Auge faßt und seine Verwirklichung auch für diesen Fall will, bedarf ebensowenig des Schutzes wie derjenige, der mit unbedingtem Vorsatz handelt".41

Gleichwohl das Zitat es vermuten lässt, hatte der BGH damit den dolus eventualis nicht als ausreichende Vorsatzform für eine Rechtsbeugung anerkannt. Vielmehr sollte die sog. Sperrwirkung des § 336 a. F. StGB auf fahrlässig begangene Rechtsverstöße beschränkt werden. So lässt der BGH es an anderer Stelle ausdrücklich dahingestellt: "ob der Ansicht des Schwurgerichts zuzustimmen ist, daß bedingter Vorsatz für den inneren Tatbestand des § 336 nicht ausreicht".42 38 Zumindest sah sich der BGH in BGHSt 10, 294 genötigt, diesen beiden vorherigen Urteilen den Vorsatz des § 336 a.F. StGB betreffend apodiktisch zu widersprechen: "Soweit in den unveröffentlichten Entscheidungen... die Meinung vertreten ist, daß ... bedingter Vorsatz genüge, wird diese ... Rechtsansicht. .. aufgegeben", vgl. BGHSt 10,299. 39 BGH I StR 198/53, abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. Rüterl Fritz Bauer (Hrsg.), Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen, Amsterdam 1969-1979, Band X, S. 233 ff. 40 Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Band X, S.235. 41 Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Band X, S. 237. Hervorhebung durch den zitierenden Verf. 42 Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Band X, S.237.

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Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

Die Entscheidung vom 30.11.5443 behandelte wiederum das Vorgehen eines Standgerichtes. Dieses hatte gegen mehrere politische Häftlinge jeweils die Todesstrafe verhängt. Der Bundesgerichtshof hob das erstinstanzliche Urteil auf. Er verwies die Sache an das Schwurgericht mit dem Hinweis zurück, dass der Gerichtsvorsitzende des Standgerichts sich der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht habe, wenn er bewusst ein Scheinverfahren gegen politische Häftlinge durchgeführt habe. Für diesen Fall wäre zugleich eine Strafbarkeit nach § 336 a. F. StGB gegeben. Der Bundesgerichtshof vertrat offenbar die Ansicht, dass der Rechtsbeugungsvorsatz ein direkter sein müsse. a) Wendepunkt BGHSt 10, 294 In einem darauffolgenden Urteil schwenkte der BGH völlig auf die Meinung des OLG Bamberg um: Explizit behauptet und angewendet wurde somit die Beschränkung auf den direkten Vorsatz erstmals vom BGH in der Entscheidung vom 7.12.1956, BGHSt JO, 294, wobei es abermals um die Strafbarkeit von Mitgliedern eines fliegenden Standgerichtes ging. Die Verhandlungen vor einem Standgericht zum Ende des Krieges im April 1945 betraf in einem Fall einen fahnenflüchtigen Volkssturmmann, in einem anderen Falle einen Bauern, der mit anderen Bewohnern seines Dorfes einen Panzerspähtrupp von Hitlerjungen auf einem Aufklärungsgang entwaffnet und verjagt hatte, um der Ortschaft die aus seiner Sicht sinnlosen Verteidigungsgefechte zu ersparen. Das Standgericht kam nach kurzer Beratung ohne Anklage und Verteidigung zum Todesurteil für den Bauern. Der Ortgruppenleiter, ein Mitglied dieses Standgerichtes, verweigerte seine Unterschrift unter das "Urteil", da er es für zu hart hielt. Tags darauf wurde der Ortsgruppenleiter und auch der Bürgermeister des Dorfes von einem fliegenden Standgericht zum Tode verurteilt. Dieses Urteil wurde dann vollstreckt. Die Angeklagten wurden des Mordes in Tateinheit mit Rechtsbeugung beschuldigt. Der Bundesgerichtshof schrieb das Tatbestandserfordernis des direkten Vorsatzes für die Rechtsbeugung fest und führte aus: ,,§ 336 StGB erfordert nach h.M. bestimmten nicht nur bedingten Vorsatz (anders, soweit ersichtlich, nur Eb. Schmidt in Sonderveröff. ZJBl brit. Zone Nr. 4/1948 S. 55, 76). Diese Beschränkung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Richter nach § 336 StGB bildet - ebenso wie die Begrenzung der bürgerlichrechtlichen Haftung des Spruchrichters nach § 839 Abs. 2 BGB - ein Teilstück in

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Unveröffentlicht: BGH 1 StR 350/53.

A. Die Vorsatzform bei der Rechtsbeugung

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der Sicherung der Unabhängigkeit des Richters (vgl. BGH MDR a. a. 0., ferner BGH 1 StR 198/53 vom 9. Juni 1953; von Weber in NJW 1950, Anm S. 272 ff. zu OGHSt 2, 269). Soll aber dieser Zweck erreicht werden, so darf die richterliche Tätigkeit im Rahmen des § 336 zu einer Bestrafung auch aus anderen Gesetzesvorschriften (so den §§ 211, 212, 239 StGB) nur dann führen, wenn der Richter sich einer Rechtsbeugung nach § 336 StGB schuldig gemacht hat (vgl. Radbruch SJZ 1946, 105, 108; ihm folgend OLG Bamberg SJZ 1949, 491); denn wenn ein Richter wegen eines falschen Urteilsspruch bei Feststellbarkeit nur bedingten Vorsatzes zwar von der Anklage der Rechtsbeugung freigesprochen, dagegen wegen Tötung oder Freiheitsberaubung verurteilt werden müßte, so wäre das durch § 336 StGB erstrebte Ziel der richterlichen Unabhängigkeit nur unvollkommen erreicht,,44.

Die vom Bundesgerichtshof gegebenen Begründungen für die Notwendigkeit des dolus directus stehen in vielfacher Hinsicht Bedenken gegenüber: Von einer "herrschenden" Meinung zu sprechen, ist fragwürdig, da eben bis zu dieser Entscheidung, diese Frage noch gar keinem rechtswissenschaftlichen Diskurs unterlag. Es gibt lediglich Begründungen in den Entwürfen; der Gesetzgeber hatte sich dem Wortlaut der Vorschrift nach nicht für eine Vorsatzform entschieden, denn wenn das Gesetz einfach von vorsätzlicher Tatbegehung spricht, kommt es nicht darauf an, ob die Tat mit direktem oder bedingten Vorsatz begangen wird. Die Entscheidung lief somit dem klaren Wortlaut der Norm entgegen45 . Auch der Verweis auf den Bamberger OLG-Beschluss, der zudem nur ein obiter dictum darstellte, überzeugt wegen dessen dargelegter unzulänglicher Begründung nicht. Anschließend erklärt der Bundesgerichtshof "diese" Beschränkung, also wohl die der Vorsatzform, zum "Teilstück in der Unabhängigkeit des Richters". Die nun folgenden Belege46 sprechen sich jedoch nur explizit gegen eine strafrechtliche Verantwortung bei Fahrlässigkeit aufgrund der Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit aus. Sie begründen lediglich den Umfang der Sperrwirkung, fordern aber keine bestimmte Vorsatzform für die Rechtsbeugung. Auch der Normenvergleich mit § 839 11 BGB47 greift ins Leere: Die zivilrechtliche Schadensersatzpflicht des Richters setzt laut § 839 11 BGB eine Pflichtverletzung voraus, die zugleich eine Straftat darstellt. Damit verweist das BGB auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Richters, woBGHSt 10, 295. Vgl. nur Ed Dellian, Haftungsprivileg des Richters im Strafrecht, in: ZRP 1969, S. 51. Vgl. auch Teil I., A., I. 46 Vgl. nur von Hellmuth v. Weber, Anmerkung zu OGHBrZ Köln, Urt. v. 15.11.1949, in: NJW 1950, S. 272. 47 Mit diesem bereits argumentierend OLG Bamberg, SJZ 1949, S. 492. 44

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bei diese jedoch zunächst positiv festzustellen ist. Erst wenn diese strafrechtliche Voraussetzung erfüllt ist, stellt sich die Frage einer möglichen Amtshaftung. Die strafrechtliche bedingt demnach die zivilrechtliche Haftung. 48 Für die Auslegung eines Strafrechtstatbestandes beweist die Heranziehung einer zivilrechtlichen Norm nichts, die für ihre Anwendung wiederum auf das - im Übrigen ältere - Strafrecht verweist. 49 Aus der von den Verfassern des BGB vertretenden Ansicht, der Spruchrichter solle nicht für jedes Versehen haften, kann auch grundsätzlich nicht zwingend auf die Beschränkung der Vorsatzform geschlossen werden. Dies deutet - orientiert an der Formulierung - vielmehr lediglich auf den Ausschluss der Fahrlässigkeitshaftung hin. 50 Insoweit kann der Normenvergleich nicht als Beleg für die Beschränkung der Vorsatzform bei der Rechtsbeugung gelten. Darüber hinaus stellt der Bundesgerichtshof in seinem Urteil zwei teleologische neue Überlegungen für eine Beschränkung auf den direkten Vorsatz an: Der ersten liegt das Problem zugrunde, dass ein Richter auf eine Auslegungsfrage trifft, auf die er trotz Berücksichtigung aller zur Verfügung stehender Auslegungsmöglichkeiten keine endgültige Antwort findet und dieser trotz Zweifel entscheiden muss. So heißt es: "Der Richter kann der Entscheidung... nicht ausweichen, er ist verpflichtet und gezwun~en, zu entscheiden", obwohl er sich bei "Auslegungszweifeln" irren könnte. 51

Der BGH befürchtet demnach, der Begriff des bedingten Vorsatzes führe zwingend in tatsächlichen oder rechtlichen Zweifelsfragen bei einer objektiven rechtswidrigen Entscheidung ipso iure zu einer strafbaren Rechtsbeugung. Kritisch einzuwenden ist hieran: Das Zweifeln des Richters an der Richtigkeit seiner Rechtsanwendung und der bedingte Vorsatz der Rechtsbeugung werden unzulässigerweise miteinander verknüpft. Zum einen wird hier der Begriff des bedingten Vorsatzes über Gebühr ausgedehnt52 : Zwar sind Zweifel des Richters an der Richtigkeit seiner Entscheidung jederzeit denkbar. Diese Zweifel bedingen aber keine Strafbarkeit, wenn der Richter auf die Rechtmäßigkeit seiner Entscheidung vertraut 48 Vgl. Karl August Bettennann, Die Unabhängigkeit der Gerichte, in: Betterman, Karl August/Nipperdey, Hans Karl/Scheuner, Ulrich, Die Grundrechte Band IIII2, 2. Aufl., Berlin 1972, S. 576. 49 So schon Wemer Sarstedt, S. 439; Ursula Schmidt-Speicher, S. 92; Peter Seemann, S. 33. 50 Vgl. auch Peter Seemann, S. 33. 51 BGHSt 10, 300. 52 Vgl. Man/red Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung, S. 111; im Ergebnis Günter Bemmann, Wie muß der Rechtsbeugungsvorsatz beschaffen sein?, in: JZ 1973, S. 548.

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und eventuelle Fehler nicht in Kauf nimrnt. 53 Der Richter hält eben trotz seiner Zweifel seine Entscheidung für rechtmäßig und nicht für rechtswidrig. 54 Dass der Richter in diesem Fall mit der Entscheidung einhält und eine Alternative wählt, die zumindest mit dem Gesetz vereinbar ist, wird in der Tat vom Rechtsbeugungstatbestand gefordert, ist ihm trotz Entscheidungszwang aber zumutbar. Anders liegt der Fall, wenn der Richter aber ein Urteil, obwohl er es möglicherweise für rechtswidrig hält und die Rechtswidrigkeit bewusst und gewollt in Kauf nimmt, erlässt, so handelt er pflichtwidrig. Denn ein solches Urteil darf er nicht fällen, nur in diesem Fall verdient er keinen Schutz vor strafrechtlicher Ahndung. Zum anderen wird auch scheinbar nicht klar zwischen objektiven und subjektiven Tatbestand des Rechtsbeugungstatbestandes getrennt: Denn eine von Zweifeln des Richters begleitete Entscheidung macht diese nicht per se zu einer rechtswidrigen, so dass schon das Vorliegen des objektiven Tatbestandes regelmäßig entfallt. Die Entscheidung einer Frage, zu der das Gesetz trotz Ausnutzung aller Auslegungsmöglichkeit "schweigt", kann zwar unrichtig, aber nicht rechtswidrig und damit keine tatbestandsmäßige Rechtsbeugung sein. 55 Zweifel eines Richters über die Richtigkeit seiner Entscheidung spielen für den Rechtsbeugungsvorsatz also keine Rolle. 56 Als zweites Argument für eine Beschränkung auf den direkten Vorsatz wird in BGHSt 10, 294 darauf hingewiesen, dass der Richter einer Entscheidung nicht ausweichen könne. Im Zuge dessen bestünde die "Gefahr der Verdächtigung", "er habe mit bedingtem Vorsatz unrichtig entschieden", wovor er "wirksam geschützt werden" müsse. 57 Dem muss entgegengehalten werden, dass die Beschränkung auf den direkten Vorsatz kein probates Mittel ist, die Gefahr der Verdächtigung zu verringern. Zunächst besteht schon gar keine Korrelation zwischen der Häufigkeit des Vorwurfs der Verdächtigung, rechtswidrig judiziert zu haben, und der Strafbarkeit des rechtswidrigen Urteilsspruchs an sich. 58 Insoweit erscheint eine Vorsatzeinschränkung grundlos. 59 So finden sich in der Zeit vor 1956, als der Bundesgerichtshof noch von der Strafbarkeit jedweder vorsätzlichen Rechtsbeugung ausging, keine Anhaltspunkte dafür, dass die 53 Vgl. Manfred Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung, S. 111; im Ergebnis Günter Bemmann, JZ 1973, S. 548. 54 So auch Günter Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, Berlin 1984, S.60. 55 Vgl. Frank Scholderer, S. 643. 56 Im Ergebnis auch Frank Scholderer, S. 643. 57 BGHSt 10, 300. 58 Vgl. Manfred Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung, S. 109. 59 Manfred Seebode, Rechtsblindheit und bedingter Vorsatz bei der Rechtsbeugung, JuS 1969, S. 207.

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Zahl der Verurteilungen wegen richterlichen Fehlverhaltens damals höher war, als sie es in der Folgezeit war. 60 Dieses Resultat erscheint auch deshalb plausibel, da der den Richter zu Unrecht falsch verdächtigende Querulant, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt, das Erstatten der Anzeige nicht von dem Erfordernis des bedingten oder direkten Vorsatzes bei einer Rechtbeugung abhängig machen wird. Im Übrigen wird er sich diesem Erfordernis gar nicht bewusst sein oder bei seiner Bezichtigung der Rechtsbeugung ohnehin direkten Vorsatz oder Absicht beim Richter annehmen61 . Die Erhöhung der Zurechnungs schwelle beim Vorsatz führt daher nicht zum Rückgang möglicher Anzeigen. Soweit der Bundesgerichtshof im Übrigen durch die Gefahr der falschen Verdächtigungen auch die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit62 beeinträchtigt sieht, greift dies nicht. Denn der Richterspruch kann nach wie vor nur durch den Richterspruch, d. h. der rechtsprechenden Gewalt aufgehoben werden; die äußere Unabhängigkeit bleibt also bewahrt63 . Des Weiteren muss gefragt werden, ob dem Richter nicht grundsätzlich die Gefahr der falschen Verdächtigung zugemutet werden kann. Eine überzeugende Antwort bietet ein Vergleich mit anderen Berufsgruppen. Dabei kann auf die Parallele des Arztes hingewiesen werden: Denn dieser kann ebenso wie ein Richter Entscheidungen nicht ausweichen. Er sieht sich sehr leicht, wenn ein Patient stirbt, der Verdächtigung der fahrlässigen Tötung ausgesetzt, ohne dass deshalb die Bestrafung aus diesem Tatbestand in Frage gestellt wird. 64 Haften der Arzt, aber auch der die Regeln der Baukunst missachtende und damit Menschenleben gefährdende Bauleiter im Gegensatz zum Richter bereits für fahrlässige Verfehlungen, so ist darin schon ein "gewisses Privileg der Richter,,65 zu sehen. Den Richter, wie von dem Bundesgerichtshof gefordert, dann aber noch von der bedingt vorsätzlichen Haftung bei der Rechtsbeugung freizustellen, ist mit Blick auf die Haftungsmaßstäbe anderer Berufsgruppen rechtlich nicht haltbar. 66 60 So schon Ursula Schmidt-Speicher, S. 91; zu gleichen Ergebnissen für die Zeit nach EGStGB von 1974 kommt Peter Seemann, S. 34-37. 61 Vgl. Wemer Sarstedt, S. 442/443; so auch Günter Spende!, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, S. 60. 62 Vgl. BGR 10, 300. 63 Vgl. Man/red Seebade, Das Verbrechen der Rechtsbeugung, S. 108; Günter Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, S. 60. 64 Kritisch auch Wemer Sarstedt, S. 442. 65 Ursula Schmidt-Speicher, S. 90. 66 So auch Ursula Schmidt-Speicher, S. 90; Peter Seemann, S. 60/ 61; Günter Bemmann, Über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Richters, in: Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, Göttingen 1968, S. 311; Hans-Jaachim Hirsch, Literaturbericht, in: ZStW 82 (1970), S. 436; Wemer Sarstedt, S. 442.

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Abschließend ist festzuhalten, dass die beiden neuen in BGHSt 10, 294 vorgebrachten teleologischen Begründungsansätze neben den zuvor kritisierten Argumenten für die Beschränkung auf den direkten Vorsatz bei dem Rechtsbeugungsdelikt nicht taugen. Der BGH hatte somit, wie zuvor das OLG Bamberg, ausdrücklich entschieden, dass die Tatbegehung mit dolus eventualis straflos bleibt. An dieser Ansicht sollte sich bis zum Gesetzesentwurf des Jahres 1974 auch nichts ändern67 , so dass diesem Urteil besondere Bedeutung zukommt68 . Da die für die Anhebung der Strafbarkeitsschwelle beim Rechtsbeugungsvorsatz überzeugende rechtsdogmatische oder rechtstheoretische Argumentationsgrundlage fehlt, mögen auch kriminalpolitische Gründe eine Rolle gespielt haben. Denn der Wille zur justiziellen Ahndung ließ allgemein scheinbar nach: Im Jahre 1953 führt noch mehr als jedes dritte Ermittlungsverfahren gegen NS-Täter zu einer Verurteilung, 1955 und 1956 jedes zehnte. Auch der im Deutschland-Vertrag beschlossene gemischte Gnadenausschuss zur Überprüfung des Strafvollzugs der in Nürnberg Verurteilten lässt bis 1956 so gut wie alle in westalliierter Haft sitzenden Personen frei. 69 Das durch die Rechtsprechung verlangte Erfordernis des direkten Vorsatzes beim § 336 a. F. StGB wurde von der Literatur im Übrigen geradezu einmütig nachvollzogen. Dabei wurden regelmäßig völlig unkritisch die Entscheidung BGHSt 10, 294 und der Beschluss des OLG Bamberg aus dem Jahre 1949 als Belege zitiert?O b) Das Rehse-Verfahren und die Gesetzesreform von 1974 Die Kritik der Literatur an der Nachkriegsjudikatur zur Rechtsbeugung insgesamt und damit schließlich die Forderung nach einer Einbeziehung des bedingten Vorsatzes wurde erst Ende der 60ziger, Anfang der 70ziger Jahre erhoben. 71 Ursache für diesen Meinungswandel war konkret ein wiederum 67 In späteren Urteilen wird diese Rechtsauffassung bestätigt, vgl. BGH, NJW 1968, S. 1339; BGH, NJW 1971, S. 575. 68 Dass diese Rechtsprechung zu einem Rückgang der Strafverfolgung bei den NS-Tätern geführt hat, wird allgemein angenommen; vgl. Bemhard lahntz!Volker Kähne, Der Volksgerichtshof, Berlin 1986, S. 34 ff., wonach "praktisch die Strafverfolgung auf diesem Gebiet" beendet wurde. 69 Vgl. Bemhard lahntz!Volker Kähne, S. 46. 70 So bspw. bei Wemer Beckenkamp, Rechtsbeugung mit bedingtem Vorsatz?, in: ZRP 1969, S. 168; Siegfried Rabe, S. 65; Erich Steffen, Richterprivileg bei bedingtem Vorsatz?, in: DRiZ 1969, S. 45. 71 Ed Dellian, in: ZRP 1969, S. 51 ff.; Fritz Bauer, "Das Gesetzliche Unrecht" des Nationalsozialismus in der deutschen Strafrechtspflege, in Gedächtnisschrift für

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erfolglos durchgeführtes Strafverfahren gegen einen angeklagten NS-Richter, wobei der Freispruch allgemein in die Zeit einer neuen politischen Befindlichkeit der Gesellschaft fiel. Die deutsche Öffentlichkeit, durch die Studentenrevolte aufgeweckt und sensibilisiert für ihre jüngste Vergangenheit, hinterfragte auch die Rolle der Justiz in der NS-Zeit und quittierte daher diese Rechtsprechung mit mehr als Unverständnis. 72 Das Verfahren betraf den früheren Richter am Volksgerichtshof Rehse. Rehse war vom 10. November 1941 bis zum Kriegsende am Volks gerichtshof tätig gewesen. Er hatte in dieser Zeit als Beisitzer an 471 Verfahren und als Vorsitzender an einem Verfahren teilgenommen. In diesen Verfahren waren 1034 Angeklagte abgeurteilt worden; gegen 502 Angeklagte war die Todesstrafe verhängt worden?3 Die Einstellung eines bereits 1962 eingeleiteten Ermittlungsverfahrens gegen ihn wegen eines Todesurteils wurde damit begründet, dass ihm der direkte Vorsatz ein Verbrechen wider das Leben begangen zu haben, nicht nachzuweisen sei. 74 Erst 1967 wurde gegen Rehse Anklage erhoben. Ihm wurde in der Anklageschrift vorgeworfen, in mindestens sieben Fällen als Beisitzer im 1. Senat des Volks gerichtshofs unter Vorsitz von Freisler an rechtswidrigen Todesurteilen mitgewirkt und sich dadurch des Mordes in drei Fällen und des versuchten Mordes in vier Fällen schuldig gemacht zu haben?5 Das erstinstanzliche zuständige Landgericht Berlin76 stellte die Rechtswidrigkeit der ausgesprochenen Todesurteile fest. Es sah den Vorsitzenden Freisler als Haupttäter an; dieser habe "im Gewande der Gerichtsbarkeit rechtsfremden, ja rechtsfeindlichen Zwecken,,77 gedient und aus niedrigen Gustav Radbruch, Göttingen 1968, S. 306; Manfred Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung, S. 107 ff.; Manfred Seebode, in: JuS 1969, S. 207; Theo Rasehoml Walter Lewald, Das Verfahren gegen Rhese und die Problematik des § 336, in: NJW 1969, S. 458 ff.; Michael Marx, Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Spruchrichters nach § 336, in: JZ 1970, S. 248 ff. 72 Ebenda sowie Erich Steffen, in: DRiZ. 1969, S. 45. 73 Vgl. die Nachweise bei Astrid Hupe, Der Rechtsbeugungsvorsatz, S. 36, FN. 71. 74 Vgl. Ingo Müller, in: KJ 1984, S. 129. 75 Mit dem Gesetz vom 13.4.1965 war die Verjährungsfrist für nationalsozialistische Verbrechen, die mit lebenslangen Zuchthaus bedroht waren, verlängert worden, so dass eine Anklage gegen Rehse wegen Mordes nicht aufgrund von Verjährung ausschied. Inzidenter musste der Nachweis einer rechtswidrigen Rechtsbeugung, die selbst der Verjährung unterlag und daher nicht verfolgt werden konnte, gelingen, da aufgrund der sog. Sperrwirkung eine Verurteilung wegen Mordes voraussetzte, dass durch den Richterspruch zugleich eine Rechtsbeugung begangen worden war, vgl. Astrid Hupe, S. 36, FN. 72; Ingo Müller, in: KJ 1984, S. 129. 76 Diese Entscheidung vom 3.7.1967 ist abgedruckt in: DRiZ 1967, S. 390. 77 DRiZ 1967, S. 390.

A. Die Vorsatzform bei der Rechtsbeugung

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Beweggründen die Tötungen veranlasst. Der Angeklagte Rehse habe dies erkannt, sich aber dennoch nicht der Rechtspraxis Freislers widersetzt. 7S Das Gericht verurteilte Rehse wegen Beihilfe zum Mord und zum versuchten Mord zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren Zuchthaus. Das Gericht führte in seinen Urteils gründen aus, dass der Angeklagte in allen sieben Fällen vorsätzlich Rechtsbeugung begangen hat, indem er "bewußt gegen das Verbot grausamen und übermäßig harten Strafens verstoßen hat,,79. Gegen das Urteil legten Staatsanwaltschaft und Verteidigung Revision ein. Die Staatsanwaltschaft rügte vor allem die Qualifikation und Verurteilung des Angeklagten als bloßen Gehilfen Freislers. Nach Auffassung der Verteidigung war in der Hauptverhandlung der Nachweis der Rechtsbeugung nicht gelungen. Der BGH folgte der Argumentation der Staatsanwaltschaft. Er stufte Rehse in seiner Funktion als richterlichen Beisitzer unter Hinweis auf den auch damals formell gültigen § I GVG nicht als Gehilfen, sondern als Mittäter Freislers ein. so Daneben zweifelte der BGH zugunsten des Angeklagten aber an, ob der Vorsatz der Rechtsbeugung angesichts einer beim Angeklagten möglicherweise gegebenen "Rechtsblindheit" oder "Verblendung" überhaupt vorliegen könne. sl Durch Urteil vom 30. April 1968 hob der BGH das erstinstanzliehe Urteil auf und verwies die Sache an das Schwurgericht zurück. Die zweite Verhandlung des Landgerichts Berlin gegen Rehse endete mit einem Freispruch. In seiner Urteilsbegründung erklärte das Gericht unter Hinweis auf BGHSt 10, 294, dass die vorsätzliche Rechtsbeugung den unbedingten Vorsatz erfordere, den das Gericht im vorliegenden Fall nicht erbringen könne. Auch gegen dieses Urteil legte die Staatsanwaltschaft Revision ein. Da der Angeklagte jedoch vor einer erneuten Hauptverhandlung verstarb, wurde das Verfahren am 26.9.1969 vom BGH eingestellt. Der Richterspruch des Bundesgerichtshofs und der daraus resultierende Freispruch durch das Landgericht Berlin hatten gleichfalls Signalwirkung wie zuvor die Entscheidung BGHSt 10, 294: Nachdem der Angeklagte vor der Entscheidung über die erneute Revision verstorben war, stellte die Staatsanwaltschaft bei dem LG Berlin alle anderen noch anhängigen Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Richter und Staatsanwälte am Volksge78 79

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DRiZ 1967, S. 391. DRiZ 1967, S. 393. Vgl. BOH, NJW 1968, S. 1340. Vgl. BOH, NJW 1968, S. 1340.

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Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

richtshof ein, weil ihr die Durchführung eines weiteren Strafverfahrens mit Blick auf die höchstrichterliche Rechtsprechung und aus Beweisgründen als aussichtslos erschien. 82

In einem anderen großen Rechtsbeugungsverfahren gegen die Beisitzer des Nürnberger Sondergerichtsvorsitzenden Rothaug, der bereits im Nürnberger Juristenprozess verurteilt worden war83 , wurde an der in BGHSt 10, 294 vertretenden Ansicht, dass bedingter Vorsatz für eine Strafbarkeit nicht ausreiche, festgehalten. Die Rechtsbeugung müsse "bewußt" erfolgen84 • Dies geschah, ohne auch nur mit einem Wort auf die entgegenstehende, im Vordringen befindliche Auffassung im Schrifttum einzugehen. Nachdem der Bundesgerichtshof 1970 die Verurteilung zu 3 Jahren Freiheitsstrafe aufgehoben hatte, wurde das Verfahren wegen Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten endgültig eingestellt. Die durch das gescheiterte Strafverfahren gegen Rehse in Gang gesetzte Diskussion um den Rechtsbeugungsvorsatz erlebte 1974 im Rahmen der Neufassung des § 336 a. F. StGB durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch einen Höhepunkt. Der Regierungsentwurf zum Strafgesetzbuch trug der bis dahin noch herrschenden Meinung Rechnung, indem die Worte "absichtlich und wissentlich" in den Tatbestand des § 336 a.F. StGB eingefügt wurden. 85 Der Vorsatz des § 336 a. F. StGB wäre danach eindeutig auf den direkten Vorsatz beschränkt worden. 86 Demgegenüber befürwortete der Sonderausschuss des Deutschen Bundestages in Anlehnung an die neuere Meinung in der Literatur die Strafbarkeit nach § 336 a. F. StGB auch beim bedingten Vorsatz. Dem Ausschuss wurde insoweit gefolgt, als die Einbeziehung des bedingten Vorsatzes befürwortet und der Passus "absichtlich und wissentlich" aus der Regierungsvorlage nicht in den entgültigen Gesetzesentwurf übernommen wurde. Ansonsten ist es bis auf die Streichung des durch § 15 i.d.F. des 2. Strafrechtsreformge82 Vgl. Bemhard lahntzIVolker Kähne, S. 34; Günter Gribbohm, NJW 1988, S.2847. 83 Vgl. dazu loerg Friedrich, Freispruch für die Nazi-Justiz, Hamburg 1983, S. 274 ff. 84 BGH, NJW 1971, S. 575. 85 Vgl. BTDrucks. 7/1261 S. 22: "Im geltenden § 336 StGB wird das subjektive Tatbestandsmerkmal ,vorsätzlich' überwiegend dahin ausgelegt, daß es den bedingten Vorsatz nicht umfaßt. .. dementsprechend stellt der Regierungsentwurf. .. , darauf ab, ob der Täter ,absichtlich oder wissentlich' handelt". 86 Ablehnend Günter Bemmann, in: JZ 1973, S. 550; Manfred Seebode, Versteckte Strafrechtsreform - geringere Richterverantwortlichkeit?, in: ZRP 1973, S. 239; Günter Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, S. 55.

A. Die Vorsatzfonn bei der Rechtsbeugung

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setzes vom 4.7.1969 überflüssig gewordenen Wortes "vorsätzlich" bei der ursprünglichen Fassung der Norm des § 336 a. F. StGB geblieben. 87 Daraus, dass der Gesetzgeber in Kenntnis der Problematik von der im Regierungsentwurf vorgesehenen Einschränkung des Vorsatzbereichs letztlich Abstand genommen hat, schloss die nunmehr herrschende Meinung im Schrifttum, dass nach dem gesetzgeberischen Willen jede Art von Vorsatz für die Tatbegehung ausreiche. 88 IH. Fazit Die Frage, welche Vorsatzform für die Strafbarkeit der Rechtsbeugung erforderlich ist, wurde vor 1945 in der Literatur unterschiedlich beantwortet. Die Rechtsprechung der Nachkriegszeit hatte erstmals über die Vorsatzform des § 336 a. F. StGB zu entscheiden. Die Entstehungs- und Gesetzgebungsgeschichte und der Wortlaut der Norm streiten für das ausreichen des dolus eventualis als Vorsatzform. Dennoch forderte der Bundesgerichtshof nach anfanglichem Zögern letztlich mit der maßgeblichen Entscheidung in BGHSt 10, 294 den dolus directus für eine Tatbegehung. Dabei überzeugte der Rückgriff auf den Beschluss des OLG Bamberg, in welchem erstmals explizit die Beschränkung auf den dolus directus als Vorsatzform verlangt wurde, wegen dessen unzureichender Begründung nicht. Aber auch die neuerlichen Erklärungsansätze des Bundesgerichthofs waren nicht in der Lage, eine als notwendig erachtete Straflosigkeit der Vorsatzform des dolus eventualis bei § 336 a. F. StGB ausreichend zu begründen. Im Gegenteil: Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs war diesbezüglich weder vom Wortlaut der Norm noch vom Sinn und Zweck derselben gedeckt. Im Kern ist die von dem BGH vorgebrachte Argumentation wohl von der grundsätzlichen Furcht geprägt, der Eventualvorsatz könne beim Rechtsbeugungstatbestand zu einer erhöhten strafrechtlichen Verfolgung bei Richtern führen, die auch bei zweifelhafter Sachlage gezwungen sind, eine Entscheidung herbeizuführen. 89 87 Zur Gesetzgebungsgeschichte: Erich Göhler, Das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch, in: NJW 1974, S. 825; Ursula Schmidt-Speicher, S. 82; Frank Scholderer, S. 638 ff.; Manfred Seebode, in: ZRP 1973, S. 239 ff. 88 Vgl. nur: LK-Spendel, § 336 Rz. 77; Frank Scholderer, S. 639; Manfred Maiwald, Die Amtsdelikte - Probleme der Neuregelung des 28. Abschnitts des StGB, in: JuS 1977, S. 357; Peter Seemann, S. 20 ff., 28 ff.; Hans-Joachim Behrend, Die Rechtsbeugung, in: JuS 1989, S. 949; anders nur Hans G. Krause, in: NJW 1977, S. 285 u. lngo Müller, in: NJW 1980, S. 2390. Der BGH ließ die Frage auch nach der Strafrechtsrefonn von 1974 unentschieden, vgl. nur BGH, MDR 1978, S. 626; BGH, NStZ 1988, S. 218 ff. 89 Insbesondere durch BGHSt 10, 294. Im Übrigen finden und fanden sich auch im Schrifttum Stimmen, die aufgrund dieser Befürchtung eine Einbeziehung des 3 Quasten

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Diese Bedenken sind im Ergebnis unbegründet und unhaltbar. Zum einen führt eine von Zweifeln des Richters begleitete Entscheidung nicht per se zu einer rechtswidrigen, so dass regelmäßig das Vorliegen des objektiven Tabestandes entfällt. Denn die Entscheidung einer Frage, zu der das Gesetz trotz Ausnutzung aller Auslegungsmöglichkeiten schweigt, kann zwar unrichtig, aber nicht rechtswidrig und damit keine tatbestandsmäßige Rechtsbeugung sein. Zum anderen zeugt die Befürchtung des Bundesgerichtshofs von einem falschen Vorsatzverständnis. Anknüpfungspunkt muss hierbei der Eventualvorsatz im allgemeinen sein, da der Begriff des dolus eventualis im ganzen StGB einheitlich ausgelegt werden muss90 : Der BGH sah und sieht danach selbst, in Fortführung der Rechtsprechung des Reichsgerichts 91 , den Eventualvorsatz dann als gegeben an, wenn der Täter den Erfolgseintritt als möglich und nicht ganz femliegend erkennt und diesen billigend in Kauf nimmt92 bzw. mit dessen Verwirklichung einverstanden ist93 • Der BGH hat vorschnell daraus abgeleitet, dass gerade der gewissenhafte Richter, der sich der Fragwürdigkeit jeder richterlichen Entscheidung besonders bewusst ist, als Rechtsbeugungstäter mit Eventualvorsatz einzustufen ist. Denn er erkennt die Möglichkeit einer Fehleinschätzung sehr wohl, nimmt sie aber aufgrund der ihm obliegenden Entscheidungspflicht notgedrungen in Kauf. 94 Eventualvorsatzes in die Strafbarkeit des § 336 a.F. StGB ablehnten; stellvertretend hierfür: Erich Steffen, in: DRiZ 1969, S. 45 sowie zuletzt Paul-Gotthard Schröter, Restriktive Definition des Rechtsbeugungsvorsatzes, in: NJW 1990, S. 1375. Dies kommmt mehr oder minder unverhohlen durch das Argument des durch die Eventualvorsatzstrafbarkeit bedingten Angriffes auf die gebotene Rechtssicherheit und den Rechtsfrieden zum Ausdruck: Könnte schon auf nicht besonders qualifizierte Verdachtsmomente hin das rechtskräftige Urteil durch ein anderes Gericht überprüft werden und wiederum auch dessen Entscheidung, so bestünde die Gefahr einer uferlosen Ausweitung des Rechtsschutzes, vgl. Erich Steffen, in: DRiZ 1969, S. 45. Hinter dieser Argumentation steht die These einer durch den Eventualvorsatz bedingten Ansteigens der Strafverfahren wegen Verdachts der Rechtsbeugung, vgl. auch Peter Seemann, S. 34. 90 So schon Günter Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, S. 49 ff.; Ursula Schmidt-Speicher, S. 99, weist zu Recht in diesem Zusammenhang auf die Gefährdung "der Einheit des Strafrechts" hin. Neuerdings für eine Auslegung des dolus eventualis im Sinne der ursprünglichen Billigungstheorie im Rahmen des § 336 a.F. StGB: Astrid Hupe, Der Rechtsbeugungsvorsatz. Gegen ein solches Vorgehen spricht bereits die methodische Unzulässigkeit; kritisch auch Ursula Schmidt-Speieher, S. 99, FN. 109. 91 Vgl. nur: RGSt 33, 4; 72, 36; 76, 115; 77, 228. 92 Vgl. nur: BGHSt 7, 363; 19, 101; 21, 283; BGH, NStZ 1981, 22; BGH, NStZ 1982, S. 506; BGH, NStZ 1984, S. 19; BGH, NStZ 1989, S. 781. 93 Vgl. nur: BGHSt 17,262; BGH, NJW 1960, S. 1822; BGH, NJW 1968, S. 661; BGH, GA 1979, S. 107.

A. Die Vorsatzfonn bei der Rechtsbeugung

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Dieser Konsequenz bedarf es nicht, da nach angeführter BGR-Definition für den allgemeinen Eventualvorsatz ein kognitives sowie voluntatives Vorsatzelement für notwendig erachtet wird. Der "Schlüssel,,95 zum richtigen Anwendungsbereich des § 336 a. F. StGB ist daher das voluntative Vorsatzelement: Ein zweifelnder Richter wird zwar regelmäßig die Gefahr einer Rechtsverletzung zum Vor- oder Nachteil einer Partei erkennen; er wird ein Fehlurteil gerade nicht billigend in Kauf nehmen, sondern er wird darauf vertrauen, den richtigen Weg bei der Entscheidungsfindung eingeschlagen zu haben. 96 Divergiert die Motivationslage aber dahingehend, dass er nicht mehr in der Vorstellung urteilt, er habe eine rechtlich einwandfreie, vertretbare Auslegung getroffen, beginnt der Stratbarkeitsrahmen einer bedingt vorsätzlich begangenen Rechtsbeugung. 97 Eine Erhöhung der Stratbarkeitsschwelle ist demnach nicht erforderlich, um einen selbstkritischen Richter, der Zweifel an der Richtigkeit nicht überwinden kann, vor einer Stratbarkeit nach § 336 a. F. StGB zu schützen. Denn nur der Täter, der damit rechnet und es billigend in Kauf nimmt, die von ihm gefundene Entscheidung fuße nicht auf einer methodengerechten Auslegung des Gesetzes, handelt mit bedingtem Vorsatz und ist daher strafwürdig. 98 Ein "unerwünschtes" Mehr an Pönalisierung tritt daher bei einer wortgetreuen Auslegung der Norm gar nicht ein. Zu diesem Ergebnis kommt man nicht zuletzt durch eine rechtstechnische Systematisierung des dolus eventualis im Rahmen subjektiven Tatbestandes. Ebensowenig überzeugt das weitere maßgebliche Argument des Bundesgerichtshofs, welches für die Beschränkung auf den direkten Vorsatz ange94 So Man/red Maiwald, in: JuS 1977, S. 357. Ähnlich Wolfgang Frisch, Vorsatz und Risiko, Köln 1983, S. 363, der es als Unding ansieht, wenn die Rechtsordnung den Richter auch für den Fall des Zweifels unter Entscheidungszwang stellt, ihm aber zugleich bei Strafe verbieten will, möglicherweise falsche Entscheidungen zu treffen. 95 So Peter Seemann, S. 64. 96 So Peter Seemann, S. 44 sowie Günter Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, S. 61 und Ursula Schmidt-Speicher, S. 100. Zu dem gleichen Ergebnis kommt man im Übrigen auch, wenn man die in der Literatur mittlerweile vorherrschende Emstnahmetheorie als maßgeblich ansieht, wonach der Eventualvorsatz dann vorliegt, wenn der Täter die Gefahr der Tatbestandsverwirklichung ernst nimm, sie nicht leichtfertig außeracht lässt und sich mit ihr abfindet (vgl. m.a.N. Thomas Fischer, § 15, Rz. llb), denn: Der zweifelnde Richter wird zwar regelmäßig die Gefahr einer Rechtsverletzung zum Vor- oder Nachteil einer Partei auch ernstnehmen, ist er jedoch bemüht, zu einer methodengerechten Entscheidung zu gelangen, so wird er auf die Vertretbarkeit seiner Entscheidungsfindung vertrauen. Er wird den Taterfolg eben nicht leichtfertig außeracht lassen bzw. sich mit ihm abfinden. Entscheidend ist also auch hier das voluntative Element der Vorsatzfonn. 97 Vgl. auch Peter Seemann, S. 44/45. 98 Vgl. Ursula Schmidt-Speicher, S. 104. 3*

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Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

führt wird. Ausgangspunkt ist die These, der Richter könne einer Entscheidung nicht ausweichen. Als Folge dessen bestünde die Gefahr der Verdächtigung, er habe mit bedingtem Vorsatz rechtswidrig entschieden; davor müsse er wirksam geschützt werden. Die Beschränkung auf den dolus directus ist zum einen kein probates Mittel, die Gefahr der Verdächtigung zu verringern. Sie führt nachgewiesenermaßen nicht zum Rückgang der potentiellen Anzeigen. Zum anderen ist die Forderung, den Richter von der bedingt vorsätzlichen Haftung bei der Rechtsbeugung freizustellen, mit Blick auf die Haftungsmaßstäbe anderer vergleichbarer Berufsgruppen rechtlich nicht haltbar. Für die durch BGHSt 10, 294 zementierte Auffassung, nur die Vorsatzform des dolus directus als Strafbarkeitsvoraussetzung im Rahmen des § 336 a. F. StGB zuzulassen, besteht nach alledem gar keine Notwendigkeit. Der BGH hat vielmehr durch seine die BGHSt 10, 294 nicht korrigierende Rechtsprechung zur Vorsatzform bei der Rechtbeugung Vorschub für den zu vermeidenden "Anschein der Schaffung eines Standesprivilegs,,99 geleistet. In der Praxis hat BGHSt 10, 294 neben dem Freispruch im Rehse-Verfahren insoweit Signalwirkung, als dass die Durchführung weiterer Strafverfahren im Hinblick auf die höchstrichterliche Rechtsprechung als aussichtslos erschien.

B. Der Rechtsbeugungstatbestand und seine Sperrwirkung J. Die Sperrwirkung im Rahmen der Konkurrenz mit tateinheitlich erfüllten Delikten Allgemein wird angenommen, dass der Rechtsbeugungstatbestand nicht nur die Haftung für die strafrechtliche Haftung definiert, sondern zugleich die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Richters beschränkt. lOO Explizit ausformuliert wurde die Ansicht einer privilegierenden Wirkung der Vorschrift erstmals von Gustav Radbruch in seinem bekannten Aufsatz "Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht". Bei der rechtlichen Analyse von Fällen nationalsozialistischer Unrechtsprechung kam er zu dem Ergebnis: "Die Strafbarkeit der Richter wegen Tötung setzt die gleichzeitige Feststellung einer von ihnen begangenen Rechtsbeugung (§§ 336, 344 StGB) voraus. Denn So Fritz Bauer, S. 306. Vgl. nur Thomas Vonnbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils - Untersuchungen zum Strafrechtsschutz des strafprozessualen Verfahrensziel, Berlin 1987, S. 372; Hans-Joachim Behrendt, S. 950; Astrid Hupe, S. 39. 99

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B. Der Rechtsbeugungstatbestand und seine Sperrwirkung

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das Urteil des unabhängigen Richters darf Gegenstand einer Bestrafung nur dann sein, wenn er gerade den Grundsatz, dem jene Unabhängigkeit zu dienen bestimmt war, die Unterworfenheit unter das Gesetz, d. h. unter das Recht verletzt hätte". 101

Der § 336 a. F. StGB 102 beinhaltet demnach für den Richter eine Haftungsprivilegierung oder eine sog. Sperrwirkung dergestalt, dass er bei rich-

terlichen Handlungen nach anderen Straftatbeständen nur dann strafrechtlich verantwortlich ist, wenn ihm zugleich ein schuldhaft begangenes Verbrechen gemäß § 336 a. F. StGB nachzuweisen ist. D. h. hat der Richter eine rechtswidriges Urteil gefällt, so ist er für die Folgen dieses Fehlurteils im Hinblick auf andere konkurrierende Straftatbestände - wie z.B. Freiheitsberaubung oder Tötung 103 - strafrechtlich nur dann verantwortlich, wenn tateinheitlich auch die Tatbestandsvoraussetzungen des § 336 a. F. StGB erfüllt sind. Die Theorie Radbruchs zu dem Konkurrenzverhältnis zwischen Rechtsbeugung und anderen Straftatbeständen erscheint plausibel. Es wäre nämlich schwer nachvollziehbar, wenn die gesetzlichen Wertungen, die in § 336 a. F. StGB zum Ausdruck kommen, durch die Anwendung anderer Straftatbestände unterlaufen würden. 104 Könnte beispielsweise ein NS-Richter, der sich mangels Vorsatz nicht gemäß § 336 a. F. StGB strafbar gemacht hat, dennoch wegen eines damit tateinheitlich begangenen Fahrlässigkeitsdeliktes, z. B. der fahrlässigen Tötung, strafrechtlich belangt werden, so würde richterliches Handeln pönalisiert, dass gemäß der Regelung des § 336 a. F. StGB straffrei ist. Daraus muss gefolgert werden, fahrlässige Rechtsverstöße sind generell straflos, da § 336 a. F. StGB eine vorsätzliche Rechtsbeugung verlangt. 105 101 Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: SJZ 1946, S. 108. 102 Soweit nicht gesondert darauf hingewiesen wird, gelten die folgenden Ausführungen sinngemäß für den nun geltenden wortgleichen § 339 StGB. 103 Vor Inkrafttretung des Art. 102 GG hatten die Tatvorwürfe der §§ 211, 212, 222 StGB gegenüber NS-Richtern durchaus Relevanz. 104 So Helmut Begemann, Das Haftungsprivileg des Richters im Strafrecht, in: NJW 1968, S. 1361; Günter Bemmann, in: Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, S. 311; Paul-Gotthard Schröter, in: NJW 1990, S. 1375; LK-Spendel, § 336, Rz. 129; Peter Seemann, S. 112; anders Olav Stumpf, Gibt es im materiellen Strafrecht ein Verteidigerprivileg?, in: NStZ 1997, S. 9. 105 Eine weitere Beschränkung besteht dergestalt: Die Sperrwirkung wird wiederum auf die richterlichen Tätigkeiten, welche immanent die strafrechtlich geschützten Rechtsgüter der am Verfahren Beteiligten tangieren, begrenzt. Bei einer durch den Richter während einer Verhandlung ausgesprochene Beleidigung gegenüber einer Prozesspartei kommt die Haftungsbegrenzung des Rechtsbeugungstatbestandes nicht zur Anwendung. Der Richter ist direkt wegen Beleidigung strafbar. Vgl. dazu: Thomas Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 372.

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Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

Zudem wird die Wirkungsweise der Sperrwirkung offenbar. Sie schlägt unmittelbar auf die übrigen einschlägigen Tatbestände durch. Sieht man beispielsweise - entgegen der hier vertretenden Ansicht - die Vorsatzform des dolus directus als Voraussetzung einer Rechtsbeugung an lO6 , so kann ein gleichzeitig nur mit Eventualvorsatz erfülltes Delikt nicht zur Aburteilung gelangen. Es wird somit deutlich, um welch sensiblen Bereich es sich bei der Sperrwirkung im Rahmen des Rechtsbeugungstatbestandes handelt. 107 Im Folgenden soll gezeigt werden, wie der Bundesgerichthof die Sperrwirkung des Rechtsbeugungstatbestandes handhabte. 11. Handhabung der Sperrwirkung durch die Nachkriegsjudikatur und den BGH 1. Ausweitung der Sperrwirkung auf die Laienrichter

Die Sperrwirkung sollte nach BGH-Rechtsprechung 108 auch Laienrichtern zugute kommen, die bis zum Jahre 1974 nicht unter den Tatbestand fielen. Ein anschauliches Beispiel bietet hierfür wiederum BGHSt 10, 294. Dabei ging es insbesondere um die Strafbarkeit eines angeklagten Generals eines SS-Armeekorps, der "im Jahre 1945 kurz vor dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches im damaligen Kampfgebiet mehrere Standgerichte eingesetzt" und Vorsitzendende bestellt hatte, deren Todesurteile er als Gerichtsherr bestätigt und die Vollstreckung angeordnet hatte. 109 Neben der Beschränkung des § 336 a. F. StGB auf den direkten Vorsatz festigte der BGH in dieser Entscheidung ein weiteres Richterprivileg, nämlich die Reichweite der Sperrwirkung. Diese kam einer "Richterbegünstigung"UO gleich, sicherte konkret die Straffreiheit der Angeklagten. So stellte der BGH l11 fest, dass: "nach bürgerlichem Strafrecht" der SS-General "nicht als Beamter im Sinne der §§ 339, 336 zu betrachten" sei; als Soldat sei er nämlich "insoweit einem Laienrichter gleichzubehandeln".

Allerdings waren Laienrichter nach der damaligen Fassung des § 336 StGB, der nur "Beamte und Schiedsrichter" als taugliche Täter bestimmte, Vgl. dazu ausführlich Teil I, A. Nach Ed Dellian, S. 51 erfährt der Richter sogar im Vergleich zu jedem Täter eines allgemeinen Delikt eine einzigartige Privilegierung. 108 Vgl. insbesondere: BGH, MDR 1952, S. 693; BGHSt 10,294. 109 BGHSt 10,295. 110 So Frank Scholderer, S. 383. 111 BGHSt 10, 297. 106 107

B. Der Rechtsbeugungstatbestand und seine Sperrwirkung

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ausdrücklich von einer Strafbarkeit der Rechtsbeugung nicht eingeschlossen. 112 Eine Bestrafung nach § 336 a. F. StGB schied damit aus. Der BGH war dennoch der Ansicht, es sei zu prüfen: "inwieweit die dort festgelegte Einschränkung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bei Ausübung richterlicher Tätigkeit den Angeklagten zugute kommt"ll3. Denn der "Schutz dieser Gesetzesvorschrift" komme "auch Laienrichtern zu"Y4 Zweifelhaft ist im konkreten Fall zunächst die strafrechtliche Gleichstellung von hochrangigen, mit staatlicher Militärmacht ausgestatteter Militärs mit LaienrichternYs Wenn der BGH 1l6 dann unter Hinweis auf die entsprechenden Normen der KStVO darauf hinweist, der SS-General in seiner "Eigenschaft als Gerichtsherr" habe die Bestätigungsbefugnis ausgeübt, Standgerichte einberufen, die Vollstreckung der Urteile angeordnet und damit richterliche Aufgaben erfüllt, so spricht dies gerade für eine Verantwortlichkeit i. S. d. § 336 a. F. StGB. Der "springende Punkt" und die weiterreichende Bedeutung in dieser Entscheidung lagen aber darin, zum einen die Tätertauglichkeit der Angeklagten nach § 336 a. F. StGB abzulehnen, zum anderen zugunsten dieser eine Sperrwirkung anzunehmen. Es wurde die direkte strafrechtliche Verantwortlichkeit nach allgemeinen Strafrechtsnormen umgangen, ohne dass dies durch das Vorliegen des Sonderdeliktes der Rechtsbeugung begründet wäre. Damit sprach man der Norm privilegierende Wirkung auf einen Adressatenkreis zu, der nach Wortlaut der Vorschrift nicht Normadressat sein konnte. Die dem § 336 a. F. StGB innewohnende Sperrwirkung muss konsequent auf die Tatsituation und eben auch auf den gesetzlich festgeschriebenen Täterkreis der Rechtsbeugung beschränkt bleiben. Der BGH hat jedoch die Reichweite der Sperrwirkung unzulässig ausgeweitet, indem er zugunsten \12 Nach § 336 StGB in der Fassung der Bekanntmachung vom 25.8.1953 (BGB! I, S. 1083) konnten sich nur "Beamte und Schiedsrichter" einer Rechtsbeugung strafbar machen; ehrenamtliche Richter waren daher nach der h. M. untaugliche Täter; vgl. BGHSt 5, 100, (104 f.); BGH 1 StR 198/53 v. 9.6.1953; Schönke/Schroeder, 10. Aufl., § 336 Anm. IV; davor bereits: Ludwig Bendix, S. 44; a.A. Reinhart Maurach, Deutsches Strafrecht/Besonderer Teil, 3. Aufl., Karlruhe 1959, S. 661 ff. Erst mit Angleichung des Wortlauts an den neuen § 11 StGB im Rahmen der Neufassung des § 336 StGB durch das EGStGB von 1974 waren nunmehr laut Wortlaut der Vorschrift Richter und andere Amtsträger explizit taugliche Täter, so dass seitdem die Einbeziehung von Laienrichter "nicht mehr zweifelhaft" ist, vgl. LK-Spendei, § 336 Rz. 14. Letzteres gilt für den wortgleichen § 339 StGB. \13 BGHSt 10, 297. 114 BGHSt 10, 298 mit Hinweis auf BGH, MDR 1952, S. 693; dort hatte der BGH erstmals zugunsten zweier der Rechtsbeugung beschuldigter Laienrichter die Sperrwirkung berücksichtigt; vgl. BGH, MDR 1952, S. 695. 115 Kritisch dazu Frank Scholderer, S. 383. 116 BGHSt 10, 301.

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von Laienrichter die Sperrwirkung berücksichtigte, obwohl sie nicht unter den Tatbestand der Rechtsbeugung fielen. Von einer täterbegünstigenden "Analogie zu § 336,,1l7 durch den BGR zu sprechen, ist daher nicht unbegründet. 2. Die Verknüpfung von Sperrwirkung und Vorsatzerjordemis Es wurde eingangs darauf hingewiesen, dass sich als Schlüsselstelle der Sperrwirkung das Vorsatzerfordernis im subjektiven Tatbestand darstellt. Denn der Umfang der Sperrwirkung wird durch die gewählte Vorsatzform des dolus eventualis oder des dolus directus entscheident bestimmt. Fordert man eine ausschließliche Strafbarkeit des direkten Vorsatzes innerhalb der Rechtsbeugung, so folgt daraus: Rat ein NS-Richter beispielsweise nur mit bedingtem, nicht aber direktem Vorsatz Rechtsbeugung begangen, so wäre eine Bestrafung aus anderen tateinheitlich verübten Vorsatzdelikten, wie Freiheitsberaubung, Totschlag oder Mord nicht möglich. Sieht man hingegen den Eventualvorsatz bei der Rechtsbeugung als ausreichend an, so müsste sich der Richter wegen der in Frage kommenden tateinheitlichen Delikten ebenfalls strafrechtlich verantworten. Der Bundesgerichtshof erwies sich bei Festlegung des Umfangs der Sperrwirkung genauso zögerlich wie bei der Bestimmung der Vorsatzform des § 336 a. F. StGB an sich, wobei er letztlich den dolus directus als maßgeblich ansah. Das Resultat dieser Vorsatz beschränkung auf den direkten Vorsatz war schließlich, dass auch die haftungsbegrenzende Wirkung der Norm erheblichen Umfang hatte: Nicht nur fahrlässige, sondern auch mit Eventualvorsatz begangene Rechtsverstöße sollten straflos bleiben. Die Festsetzung der Sperrwirkung durch die Eingrenzung der Vorsatzform auf den dolus directus wurde durch den bereits zitierten Beschluss des OLG Bamberg 1l8 aus dem Jahre 1949 insoweit mitgetragen, als er als Beleg für die notwendige Beschränkung diente: Das OLG forderte den dolus directus als Vorsatzform für den § 336 a. F. StGB und wies zugleich darauf hin, dass bei einem fahrlässig gefällten unrichtigen Urteilsspruch eine Bestrafung nicht nur wegen Rechtsbeugung, sondern auf Grund der haftungsbegrenzenden Wirkung des § 336 a. F. StGB überhaupt entfallen müsse. Der BGR ging zunächst in seinem Urteil vom 29.5.1952 - 2 StR 45/ 50 119 nicht von dem Erfordernis einer bestimmten Vorsatzform bezüglich 117 118 119

So Frank Scholderer, S. 384. OLO Bamberg, SJZ 1949, S. 491. BOH, MDR 1952, S. 693.

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der Sperrwirkung aus, sondern bestätigte explizit nur die haftungsbeschränkende Wirkung des § 336 a. F. StGB auf fahrlässige Rechtsverstöße: "Sollten die Angeklagten aber nur fahrlässige für die Todesurteile ursächliche Verstöße gegen das Verfahrensrecht oder gegen das sachliche Recht begangen haben, so können sie hierwegen strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden" 120. In der unveröffentlichten Entscheidung vom 9.6.1953 121 bot der BGH erstmals und einmalig eine differenzierte Lösung für die Frage der Sperrwirkung und der Vorsatzform an: Der BGH hob die Entscheidung des Schwurgerichts, die von dem Erfordernis des direkten Vorsatzes ausging, auf, ließ aber es ausdrücklich dahingestellt, ob der bedingte Vorsatz für den inneren Tatbestand des § 336 a. F. StGB nicht ausreicht. 122 Gleichzeitig wandte er sich im Gegensatz zu der bisherigen Rechtsprechung erstmals explizit gegen die bisher vom BGH vertretende Ansicht, dass eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für richterliche Tätigkeit nur bei einer vorsätzlichen begangenen Fehlentscheidung ausgeschlossen werden SOll123: "Die Unabhängigkeit und Verantwortungsfreiheit des Richters erleiden keine Einbuße, wenn er für jede Art von vorsätzlichen Taten einzustehen hat. Der Richter, der das als möglich erkannte Unrecht seiner Maßnahme ins Auge gefaßt und seine Verwirklichung auf jeden Fall will, bedarf ebensowenig des Schutzes, wie derjenige, der mit unbedingtem Vorsatz handelt". Unabhängig vom Vorsatzerfordernis bei der Rechtsbeugung wurde das Haftungsprivileg damit erstmals ausdrücklich auf fahrlässige Rechtsverstöße begrenzt; vorsätzlich begangene Rechtsverstöße sollten weiterhin nach allgemeinen Strafnormen zu ahnden sein. In der unveröffentlichten Entscheidung vom 30.11.1954, BGH 1 Str 350/ 53, führt der BGH aus, dass eine Strafbarkeit aus §§ 211, 27 StGB aber auch dann in Betracht komme, wenn der Angeklagte "mit der Möglichkeit, dass es sich um Scheinverfahren handelte, gerechnet und sie billigend in Kauf genommen habe". Nur unter dem Aspekt der fahrlässigen Tötung scheide eine strafrechtliche Verantwortung überhaupt aus. Der BGH bestätigte die vorherige Rechtsprechung also insofern, als dass er die Sperrwirkung auf fahrlässige Rechtsverstöße beschränkte, indem er eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord auch bei bedingt vorsätzlicher Tat für möglich hielt. Die in den beiden genannten unveröffentlichten Entscheidungen vertretene Ansicht zum Umfang des Haftungsprivilegs gab der BGH mit dem Ur120 121 122 123

BGH, MDR 1952, S. 695. BGH 1 StR 198/53. BGH 1 StR 198/53. Zitiert nach Wemer Sarstedt, S. 440.

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teil vom 7.12.1956, BGHSt 10, 294, auf und stützte sich auf die in dem Beschluss vom OLG Bamberg vorgebrachte Argumentation 124: "Soll aber dieser Zweck (die Sicherung der Unabhängigkeit des Richters, der Verf.) erreicht werden, so darf die richterliche Tätigkeit im Rahmen des § 336 zu einer Bestrafung auch aus anderen Gesetzesvorschriften (so den §§ 211, 212, 239 StGB) nur dann führen, wenn der Richter sich einer Rechtsbeugung nach § 336 StGB schuldig gemacht hat (vgl. Radbruch SJZ 1946, 105, 108; ihm folgend OLG Bamberg SJZ 1949, 491); denn wenn ein Richter wegen eines falschen Urteilsspruch bei Feststellbarkeit nur bedingten Vorsatzes zwar von der Anklage der Rechtsbeugung freigesprochen, dagegen wegen Tötung oder Freiheitsberaubung verurteilt werden müßte, so wäre das durch § 336 StGB erstrebte Ziel der richterlichen Unabhängigkeit nur unvollkommen erreicht".

Bei Erörterung des Umfangs der Sperrwirkung vertrat der BGH also die Auffassung, dass sich die Strafbarkeit einer mit bedingtem Vorsatz begangenen Rechtsbeugung nicht mit der richterlichen Unabhängigkeit vereinbaren lasse. Der BGH weitete somit in Anlehnung des Beschlusses vom OLG Bamberg den Umfang der Haftungsbeschränkung des § 336 a. F. StGB nicht nur auf fahrlässige, sondern ausdrücklich auch auf mit bedingten Vorsatz begangene Rechtsverstöße aus. Diese Auffassung änderte der Bundesgerichtshof in späteren Entscheidungen zur Rechtsbeugung nicht mehr. Es soll daher im Folgenden das von der Rechtsprechung ins Spiel gebrachte Argument der ,,richterlichen Unabhängigkeit als Ziel des § 336" auf seine Tauglichkeit im Rahmen der Sperrwirkung untersucht werden. 3. Der Schutz der richterlichen Unabhängigkeit als Begründung für die Sperrwirkung Zur Begründung der Sperrwirkung und ihres Umfangs auf die Vorsatzform des dolus direktus wird von der Rechtsprechung das Erfordernis der Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit angeführt. Ansatzpunkte dieser Rechtsansicht finden sich bereits in den kurz nach dem Kriege durch untere Instanzen ausgesprochenen Urteilen 125 zur Rechtsbeugung, nach denen "die Unabhängigkeit des Richters und die Untastbarkeit seiner Person ... eines der wesentlichsten Fundamente eines Rechtsstaates" sind. Wie sehr zu dieser Zeit die Sorge um die richterliche Unabhängigkeit gediehen war, unterstreicht beispielsweise auch die in dem Urteil des Landgerichts Hamburg 126 zu findende Formulierung: BGHSt 10, 295. Vgl. Landgericht Düsseldorf vom 5.3.1949 8Vs 1149; Landgericht Hamburg v. 4.6.1948 14 Js 133/46; abgedruckt bei Joerg Friedrich, S. 114 ff. u. S. 146 ff. 126 Zitiert nach Joerg Friedrich, S. 146. 124 125

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"daß im Interesse der Unabhängigkeit des Richters selbst ein mal ein ungerechtes Urteil in Kauf genommen werden muß".

Der Beschluss des OLG Bamberg aus dem Jahre 1949127 und das Urteil des BGH aus dem Jahre 1952 128 unterstreichen die in den vorher genannten Urteilen erklärte Rechtsansicht, indem sie den § 336 a. F. StGB als "strafrechtliche Ergänzung des § I GVG (richterliche Unabhängigkeit)" verstehen, der außerhalb des Grundgesetzes den Schutz der Unabhängigkeit der Richter garantiert. So wird ausgeführt l29 : "Die Beschränkung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Richters nach § 336 bildet ein Teilstück in der Sicherung der Unabhängigkeit des Richters. Nur wenn er (der Richter, Verf.) bewußt und gewollt gegen das Recht entscheidet. .. trifft ihn diese Verantwortung. Die gegenteilige ... Auffassung geriete in unerträglichen Widerspruch zu dem Grundsatz der sachlichen Unabhängigkeit des Richters (Art 97 I GG; 1 GVG). Sie wäre bedroht und damit die Rechtspflege gehemmt, ja auf Dauer lahmgelegt, wenn der Richter befürchten müßte, wegen ungewollter Rechtsverstöße strafrechtlich belangt werden zu können".

Dies ist nach BGH Ansicht der zentrale Punkt, der das Erfordernis der Strafbarkeit des nur mit direktem Vorsatz begangenen Rechtbeugungsdeliktes und zugleich die Ausdehnung der Sperrwirkung auf den mit Eventualvorsatz handelnden Richter rechtfertigt. Dass die vorgenannte Begründung des BGH rechtsdogmatisch wie auch gerade in bezug auf den historischen Kontext der strafrechtlichen Beurteilung von NS-Richtern mehr als problematisch ist, soll im weiteren aufgezeigt werden. a) Tauglichkeit der potentiellen Täter Die Unabhängigkeit des Richters als Argumentationsgrundlage für die Sperrwirkung und als das durch § 336 StGB erstrebte Ziel zu deklarieren, ist schon deshalb unschlüssig, weil dieses Merkmal nicht auf alle potentielle Täter des § 336 a. F. StGB zutrifft. Die Ansicht, dass tauglicher Täter einer Rechtsbeugung nicht nur der Richter, sondern auch jeder weisungsgebundene und damit abhängige Beamte ist, der mit der Leitung oder Entscheidung betraut ist, erkennt nicht nur das Schrifttum an l3O , sondern hat auch die Jurisdiktion vor BGHSt 10, 294 angenommen. So bejahte bereits das Reichsgericht die Täterfunktion für Finanzbeamte, die in Steuersachen über die Bestrafung von Steuervergehen entschiedenY 1 Genauso urteilte 127 128 129

130 J3J

OLG Bamberg, SJZ 1949, S. 491. BGR, MDR 1952, S. 695. Vgl. BGR, MDR 1952, S. 695; BGRSt 10,298. Vgl. nur Günter Bemmann, Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, S. 310. Vgl. RGSt 71, 315.

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der BGH schon für Verwaltungsbeamten, die nach § 48 OWiG über die Festsetzung einer Geldbuße zu befinden hatten. 132 Ebenso kann sich nach Auffassung der Judikatur der Staatsanwalt, der gemäß § 170 StPO über die Einstellung eines Ermittlungsverfahren entscheidet, eines Verbrechen der Rechtsbeugung strafbar machen. 133 Diese Entscheidungen zeigen, dass das Kriterium der Unabhängigkeit unwesentlich für die Tauglichkeit eines Rechtsbeugungstäters ist. Zudem wird offenbar, dass der Bundesgerichtshof mit seinem Argument der Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit als Ziel des § 336 a. F. seiner eigenen Rechtsprechung widersprochen hat. Im Übrigen bejahte der BGH 134 nur 4 Jahre später nach BGHSt 10, 294 die Tätertauglichkeit eines Richters für den Fall, wenn es diesem auch an der verfassungsmäßigen Unabhängigkeit gefehlt haben mag, weil die politischen Machthaber die Verfassung nicht achteten. 135 Das zunächst mit dem Fall betraute LG Berlin sprach den Angeklagten des Vorwurfs der Rechtsbeugung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung mit der Begründung frei, dass er in der Eigenschaft als Vorsitzender der politischen Strafkammer und vom Justizministerium unter Druck gesetzt, kein unabhängiger Richter gewesen sei. Der Bundesgerichtshof hob den Freispruch mit der Begründung aufi36 : ,,§ 336 stellt es bei der Abgrenzung des Täterkreises nicht auf den Richter ab

(... ). Die Rechtsordnung verlangt von jedem - auch dem weisungsgebundenen Beamten, dem die Entscheidung einer Rechtssache obliegt, daß er dabei ungeachtet etwaiger gegenteiliger Weisungen nach Gesetz und Recht verfährt".

Diese Argumentation, die der Entscheidung von BGHSt 10, 294 diametral entgegengesetzt war und in den folgenden Rechtsbeugungsverfahren der NS-Zeit auch nicht wieder aufgegriffen worden ist, ist grundsätzlich zu zustimmen: Denn sie erkennt die richterliche Unabhängigkeit als eine im Sinne Radbruchs an: Die richterliche Unabhängigkeit ist als alleinige Bindung des Richters an das Gesetz anzusehen. 137 Vgl. BGHSt 13, 102. Vgl. bereits RGSt 69,214. 134 BGH, NJW 1960, S. 974 f. 135 In diesem Verfahren ging es nicht um die rechtliche Würdigung eines zur Nazizeit tätigen Richters. Der inzwischen in die Bundesrepublik immigrierte Angeklagte hatte als Vorsitzender Richter der 6. Strafkammer des LG Magdeburg Ende 1950 sechs Angehörige der Sekte "Zeugen Jehovas" wegen Spionage, Kriegshetze und Boykotthetze nach Art. 6 Abs. 2 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik zu Zuchthausstrafen zwischen dreieinhalb und zehn Jahren verurteilt. 136 BGH, NJW 1960, S. 974. 137 Gustav Radbruch, in: SJZ 1946, S. 108. 132 133

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Des Weiteren ist es schlüssig, die richterliche Unabhängigkeit als Tatbestandsvoraussetzung aufzugeben, weil der im Gesetz bestimmte Täterkreis der Rechtsbeugung auch abhängige Beamte einschließt. Aus alledem folgt, dass die Figur der Sperrwirkung nicht die richterliche Unabhängigkeit schützen soll. Dies ergibt sich mit Blick auf die potentiellen Täter des § 336 a. F. StGB. Jeder weisungsgebundene Beamte kann das Recht beugen, ohne daß ihm dann die Sperrwirkung verwehrt bliebe. Dies bedeutet zusätzlich: Kann die Unabhängigkeit des Richters nicht als Argument für das Institut der Sperrwirkung dienen, so kann sie erst recht nicht deren Umfang plausibel festlegen. Die Beschränkung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Richters nach § 336 a. F. StGB auf den direkten Vorsatz lässt sich also nicht mit dem Schutz der richterlichen Unabhängigkeit begründen. b) Spannungsverhältnis zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Sperrwirkung bzw. Rechtsbeugungstatbestand Der BGH hat sich bei Berufung auf den Schutz der richterliche Unabhängigkeit zur Begründung der Sperrwirkung explizit auf die in Art. 97 I GG garantierte richterliche Unabhängigkeit sowie auf die Bestimmung des § I GVG gestützt. 138 Dies erscheint nicht unproblematisch: Die in Art. 97 I GG postulierte richterliche Unabhängigkeit versteht sich als Schutz der Judikative vor Eingriffen durch die Exekutive wie durch die Legislative. 139 Die richterliche Unabhängigkeit betrifft also das Verhältnis der Richter zu den Trägem der nichtrichterlichen Gewalt. Die Jurisdiktion soll nur vor den illegitimen Beeinträchtigungen der anderen Staatsgewalten geschützt werden, nicht aber der Kontrolle durch ihre eigene Gewalt selbst entzogen werden. Neben der Möglichkeit der Richteranklage gemäß Art. 98 11 GG ergibt sich dies explizit auch aus der Formulierung in Art. 97 11 GG, wonach der Richter selbst "nur kraft richterlicher Entscheidung" aus seinem Amt entfernt oder versetzt werden kann. Dem Prinzip der Unabhängigkeit der Richter steht somit ihre mögliche Verantwortung auch wegen Rechtsbeugung vor der Judikative nicht entgegen. 140 Mit Blick auf die staatsrechtliche Lehre von der Gewaltenteilung 138 Vgl. BGHSt 10, 298 und BGH, MDR 1952, S. 695. Es soll unabhängig von der rechtshistorischen Situation, in der sich die damaligen Richter befanden, die Argumentation des BGH untersucht werden. Vgl. aber zu diesem Aspekt Teil 1., B., 1., 3. c). 139 Vgl. BVerfGE 12, 67; 31, 148; Münch-Meyer, Grundgesetzkommentar, Band 3, 2. Aufl., München 1983, Art. 97 I GG, Rz. 7. 140 Vgl. auch Peter Seemann, S. 58.

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lässt sich nicht plausibel darstellen, wieso der Schutz der richterlichen Unabhängigkeit durch die strafrechtliche Beschränkung mittels der Sperrwirkung gesichert werden muss. An dieser Stelle bietet es sich an zu klären, in welchem Verhältnis Sperrwirkung und Rechtsbeugungstatbestand zum Verfassungsgrundsatz der richterlichen Unabhängigkeit stehen. Es ist der These zu begegnen, die Sperrwirkung bilde ein Teilstück in der Sicherung dieses Verfassungsgrundsatzes bzw. der Rechtsbeugungstatbestand habe die richterliche Unabhängigkeit zum Ziel. Zunächst ist anzuerkennen, dass die in dem Rechtsbeugungstatbestand enthaltene Sperrwirkung einen Filter für die Strafbarkeit von richterlichen Tätigkeiten darstellt 141 , da ein Richter nach allgemeinen Strafbarkeitsvorschriften nur verantwortlich gemacht werden kann, wenn zugleich in der Handlung eine Rechtsbeugung zu erblicken ist. Aus dieser Beschränkung der strafrechtlichen Verantwortung des Richters als Ziel und damit als Rechtsgut des Rechtsbeugungstatbestandes die Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit abzuleiten, muss jedoch aus folgender grundSätzlicher Überlegung scheitern: Strafbarkeitsnormen schränken immer spezielle Bereiche der allgemeinen Handlungsfreiheit ein, bei § 185 StGB beispielsweise ist es die Meinungsfreiheit des Sichäußernden, bei § 336 StGB a. F. bzw. § 339 StGB ist es die Entscheidungsfreiheit der richtenden Amtsperson. Die Beschränkung der strafrechtlich Verbote wiederum schützt somit allgemein die Handlungsfreiheit, die Sperrwirkung bei der Rechtsbeugung konkret die Entscheidungsfreiheit. Sinnwidrig ist also dann, die durch die Sperrwirkung beschränkte strafrechtliche Verantwortungsfreiheit des Richters, also das damit gewonnene Mehr an Entscheidungsfreiheit als Rechtsgut der Norm zu begreifen. Vielmehr dient die Sperrwirkung als Beschränkung der strafrechtlichen Verantwortung des Richters dem Schutz der Entscheidungsfreiheit, ohne dass diese dadurch zu deren Rechtsgut wird. 142 Wird durch diesen allgemein anerkannten privilegierenden Charakter der Norm die richterliche Stellung zumindest gestärkt, beeinflusst der Rechtsbeugungstatbestand vorwiegend die richterliche Tätigkeit in der Weise, dass er als Strafnorm die richterliche Verantwortungsfreiheit beschränkt, nämlich die Verletzung des Rechts mit Strafe bedroht. 143 Nur wenn man diesen repressiven Charakter, der von der Rechtsprechung sträflich vernachlässigt wird, berücksichtigt, wird auch die Beziehung zwiVgl. Astrid Hupe, S. 27. Christian-Friedrich Schroeder, Der Rechtfertigungsgrund der Entscheidung von Rechtssachen, in: GA 1993, S. 392. 143 Vgl. Astrid Hupe, S. 27. 141

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schen Rechtsbeugung als Strafvorschrift und dem grundgesetzlich geschützten Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit verständlich: Dem § 336 a. F. StGB bzw. § 339 StGB kommt die Aufgabe zu, die in Art. 97 I 1 GG normierte Bindung an Gesetz und Recht zu kontrollieren und den Missbrauch der richterlichen Unabhängigkeit zu verhindern. l44 Als strafbarkeitsbegründende Norm versteht sich der Rechtsbeugungstatbestand als ein Korrelat zur Garantie der richterlichen Unabhängigkeit. 145 Das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit wird durch § 336 a. F. StGB bzw. § 339 StGB begrenzt. Denn der Rechtsbeugungsparagraf pönalisiert eine pflichtwidrige richterliche Amtsausübung; der Verfassungsgrundsatz der richterlichen Unabhängigkeit schützt nur die pflichtgemäße Amtsausübung. Dieser Verfassungsgrundsatz soll sicherstellen, dass der Richter, nach Art. 20 III GG gebunden an Recht und Gesetz, unbeeinflusst von anderen Staatsgewalten objektiv Recht spricht; mithin eine lautere, unabhängige Rechtsprechung garantieren. 146 Begreift man die richterliche Unabhängigkeit wie Radbruch l47 als Dienst am Recht, so bleibt festzuhalten, dass die Verurteilung eines rechtsbeugenden Richters dem Zweck und Sinn der Unabhängigkeitsgarantie nicht zuwiderläuft l48 , sondern sie im Gegenteil erst sichert. Damit kann weder § 336 a. F. StGB noch die Sperrwirkung den Nachweis erbringen, dass sie den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit im Strafrecht zur Geltung bringen wollen, geschweige denn: als Ziel verfolgen. Der Straftatbestand dient vielmehr dem Schutz des rechtssuchenden Bürgers vor den die Macht missbrauchenden Richter. 149 Der Nutzen des Prinzips der richterlichen Unabhängigkeit soll in erster Linie dem Rechtssuchenden, nicht der Richterschaft zu Gute kommen. Sinn der richterlichen Unabhängigkeit ist weder ein Selbstzweck noch eine wohltätige Vergünstigung der Richter, sondern sie soll dem Richter ermöglichen, dem Recht und nur diesem zu dienen. 150 Der verfassungsrechtliche Grundsatz der rich144 Günter Spendel, Rechtsprechung durch Rechtsbeugung, S. 59; Hans-Joachim Musielak, Die Rechtsbeugung (§ 336 StGB), Diss. Köln, S. 3. 145 Max Grünhut, S. 4, 13; LK-Spendel, § 336 Rz. 10; Siegfried Rabe, S. 68; Peter Seemann, S. 5; vgl. Manfred Seebode, Rechtsbeugung und Rechtsbruch, in: JR 1994, S. 4. 146 Vgl. dazu Ursula Schmidt-Speicher, S. 88. 147 Gustav Radbruch, SJZ 1946, S. 108. 148 Ursula Schmidt-Speicher, S. 88; Peter Seemann, S. 62. 149 So auch Günter Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, S. 59. 150 Vgl. Thomas Geiger, Verjährungsprobleme von in der ehemaligen DDR begangenen Straftaten, in: DRiZ 1979, S. 66; Günter Bemmann, Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, S. 310.

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terlichen Unabhängigkeit kann somit nicht herhalten für die Begründung einer Sperrwirkung des Rechtsbeugungsparagrafen. c) Rechtshistorische Zweifel an der Position des BGH Aber auch rechtshistorisch ist es nicht unproblematisch, dass der BGH mit seinem Rückgriff auf den Schutz der richterlichen Unabhängigkeit die Sperrwirkung ausgerechnet NS-Richtem zugesprochen hat l5l : Mit Blick auf die Stellung des Richters im NS-Staat stößt man unweigerlich auf den zur NS-Zeit - in seinem Wortlaut unverändert fortbestehenden - § I GVG 152, wonach die richterliche Gewalt durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Gerichte ausgeübt wird. Fraglich ist allerdings, ob und mit welchem Inhalt diese Vorschrift damals noch galt. Nach dem damaligen Schrifttum wurde konstatiert, dass der nationalsozialistische Staat an dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit festhält. 153 Zugleich war aber anerkannt, dass unter diesem Grundsatz etwas ganz anderes zu verstehen sei als bisher; dieser diene "lediglich als Gefäß für einen neuen Inhalt", nämlich der "nationalsozialistische(n) Rechts- und Staatsauffassung"154. Folglich sei "die Regel von der allgemeinen Bindung des Richters an das Gesetz heute etwas anderes ... als früher,,155; jetzt bedeute sie die Bindung an die leitenden Grundsätze des Führerstaates. Den nationalsozialistischen Maßstab von Unabhängigkeit und Gesetzesbindung formulierte Freisler auch dann S0156: "SO deutlich der Nationalsozialismus (... ) sich für die Weisungsungebundenheit des Richters ausgesprochen hat, so laut muß der Nationalsozialismus auf der anderen Seite fordern, daß der Richter einsieht, daß die Voraussetzung für diese 151 So in BGRSt 10, 298; vgl. auch BGR, MDR 1952, S. 693; OLG Bamberg, SJZ 1949, S. 491; zustimmend Hellmuth v. Weber, in: NJW 1950, S. 272. 152 Auch in dem Urteil des BGR zugunsten des Beisitzers am Volks gerichtshof Rehse, BGR NJW 1968, S. 1339, wurde versucht, einem Nazi-Richter die Unabhängigkeit zuzusprechen: Die Annahme, der Berufsrichter am VGR sei auch zur Tatzeit, d.h. in den Jahren 1943/44, unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen gewesen, ist pauschal auf § 1 GVG gestützt worden (dazu kritisch: Wolfgang Steinlechner, Anmerkung zu BGR, Urt. v. 30.04.1968, in: NJW 1968, S. 1791 ff.). Im Ergebnis wurde so die Beihilfe zum Mord zugunsten der Täterschaft abgelehnt. 153 Vgl. dazu Dieter Simon, Waren die NS-Richter "unabhängige Richter" im Sinne des § IGVG?, in: RRJ 1985, S. 102. 154 Heinrich Henkel, Die Unabhängigkeit des Richters in ihrem neuen Sinngehalt, Ramburg 1934, S. 16. 155 Erik Wolf, Das Reichsideal des nationalsozialistischen Staates, in: ARSP Bd. XXVIII, S. 301 ff. 156 Roland Freisler, "Volksrichter - Richter und Recht im Dritten Reich, in: Erich VolkmarlAlexander ElsterlGünter Küchenhoff (Rrsg.), Die Rechtsentwicklung der Jahre 1933 bis 1935/1936, S. 809 ff.

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Weisungsungebundenheit darin besteht, daß er den überkommenen Begriff der Objektivität im Sinne von Neutralität gegenüber den Fragen des Volkslebens ablehnt und überwindet. (... ) Er will einen Richter (... ), der bereit ist, seine Arbeit immer nach einem Maßstab auszurichten, der ihn niemals im Stiche lassen wird: nach der nationalsozialistischen Weltanschauung".

Dies zeigt, dass nach nationalsozialistischem Justizverständnis unter dem Begriff der Unabhängigkeit des Richters inhaltlich etwas ganz anderes verstanden wurde, als es dem rechts staatlichen Verständnis entspricht. 157 Daher ist es angesichts des damaligen pervertierten Begriffs der richterlichen Unabhängigkeit paradox, diesen mit Bezug auf die damaligen Richter als Schutzzweck der Rechtsbeugung zu deklarieren. Gerade auch aus normativer Sicht hätte der Bundesgerichtshof berücksichtigen müssen, dass die richterliche Unabhängigkeit, welche auch den Schutz vor Amtsenthebung umfasste, seit 1933 durch zahlreiche gesetzliche Eingriffe eingeschränkt wurde. 158 Seit Kriegsbeginn beispielsweise konnten Richter jederzeit versetzt werden 159; einer Abordnung an den Volksgerichtshof zu folgen, waren sie schon seit 1936 verpflichtet. Nach der Winterkrise 1941/42 waren sie ohne weiteres auch absetzbar. Durch den im Reichsgesetzblatt verkündeten Reichstagsbeschluss vom 26.4.1942 160 hatte der Führer als oberster Gerichtsherr das Recht, den " ... Richter, mit allen ihm geeigneten Mitteln zur Erfüllung seiner Pflicht anzuhalten und bei Verletzung dieser Pflicht nach gewissenhafter Prüfung ohne Rücksicht auf wohlerworbene Rechte mit der ihm gebührenden Sühne zu belegen, ihn insbesondere ohne Einleitung vorgeschriebener Verfahren aus seinem Amt, aus seinem Rang und aus seiner Stellung zu entfernen".

Beispielhaft genannt sei auch der Erlass vom 20.8.1942 161 , wodurch Hitler den Reichsjustizminister beauftragte und ermächtigte, eine nationalsozialistische Rechtspflege aufzubauen und alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Der Reichsjustizminister konnte hierbei vom bestehenden Recht abweichen. Ob durch den Reichstagsbeschluss vom 26.4.1942 oder den Hitler-Erlass vom 20.8.1942 die Fortgeltung des § 1 GVG und damit auch die Frage der 157 Zugleich wird auch offenbar, dass das "rechtsstaatliche Korrespondenzverhältnis" von Unabhängigkeit und Gesetzesbindung strukturell mit dem des Führerstaates übereinstimmt; der Führerwille als Gesetz, dem die Richter unterworfen und nach dessen Maßstab sie unabhängig waren. Vgl. Frank Scholderer, S. 125/126. Insoweit lässt sich mit Simon folgern, der meint, dass die Unabhängigkeit der Richter unter dem Nationalsozialismus nach der damaligen Auffassung beurteilt werden müsse und insofern gegeben sei, vgl. Dieter Simon, in: RHJ 1985, S. 110. 158 Vgl. die Nachweise bei Wolfgang Steinlechner, S. 1792. 159 Vgl. § 2 der Verordnung vom l.9.1939, RGBI I, 1658. 160 RGBl I, 247. 161 RGBI I, 535.

4 Quasten

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Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

Unabhängigkeit der Richter in der NS-Zeit negativ zu beantworten sei 162, wird vorn BGR jedoch nicht erwogen. 163 Der Bundesgerichthof hätte sich aber fragen müssen, ob nicht bereits aus rechtshistorischer Sicht die argumentative Grundlage dafür fehlt, die Sperrwirkung zugunsten von im NSStaat tätigen Richtern mit dem Schutz der richterlichen Unabhängigkeit zu begründen. Dies gilt im Übrigen auch mit Blick auf die vorn BGR selbst aufgestellten Maßstäben, wonach sich die strafrechtliche Beurteilung der "Alttaten" nach den damaligen Umständen zu richten habe. So hatte BGR bei der Beurteilung vorn "Standgerichtsverfahren" gegen Ruppenkothen u. a. betont, dass: " ... nicht entscheidend" sei, "wie sich die Ereignisse ... nach heutiger Erkenntnis darstellen", sondern "ins Auge zu fassen" sei, "wie sich seine Aufgabe (die des Richters, Verf.) nach Gesetzeslage und den sonstigen Gegebenheiten zur Tatzeit darstellte"I64.

Diese Maxime hat der Bundesgerichtshof bei der Beurteilung der richterlichen Unabhängigkeit von NS-Richtern nicht eingehalten, und dies ist ihm vorzuwerfen. 165 Demnach war nicht nur das Ergebnis, sondern auch die Begründung brisant. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass der BGR in einern Rechtsbeugungsverfahren die Marschroute für die Beantwortung der Frage nach der Stellung der Richter im NS-Staat deutlich formuliert hatte: In dem So Wolfgang Steinlechner, S. 1790; Ingo Müller, in: KJ 1984, S. 130. Es lässt sich zumindest aus normativem Blickwinkel für die Zeit nach 1942 manches dafür anführen, dass der Richter im Dritten Reich in seiner Unabhängigkeit eingeschränkt war. (Anders aber Udo Reifner, Juristen im Nationalsozialismus, in: ZRP 1983, S. 17, der vielfache Belege gegen diese Annahme ins Felde führt und sich damit gegen "die These von der äußeren Beeinflußung" der Richter in der NS-Zeit wendet. So stellt Udo Reifner, S.17 bspw. fest: " ... , daß während der ganzen Zeit, auch nach den Drohungen von 1942, keiner der über 16.000 wegen seiner rechtsprechenden Tätigkeit aus dem Dienst entlassen wurde oder gar mit physischer Gewalt verfolgt worden ist".) So soll hier nun letztendlich unentschieden bleiben, inwieweit der Richter im nationalsozialistischen Unrechtsstaat richterliche Unabhängigkeit genossen hat. Nur so viel: Nach der für die strafrechtliche Beurteilung maßgebliche Betrachtungsweise, wonach auch die wirklichen Verhältnisse berücksichtigt werden müssen, blieb er dennoch Richter: Freiräume bei der Entscheidung hatte er auch; vgl. Günter Gribbohm, S. 2849. 164 BGH v. 19. 6.1956, 1 StR 50/56; abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIII, S. 352 11. Abs. 165 In den beiden folgenden Entscheidungen, BGH NJW 1968, S. 1339 und BGH NJW 1971, S. 571, die den subjektiven Tatbestand der Rechtsbeugung und zugleich die Strafbarkeit von NS-Richter betrafen, wurden zum einen keine über die in BGHSt. 10, 294 hinausgehenden Begründungen für das Haftungsprivileg angeboten, zum anderen gehen sie, ohne die mittlerweile gegen den Strafausschluss des Eventualvorsatz bei § 336 a. F. StGB vorgebrachten Argumente einzugehen, von dem Erfordernis des direkten Vorsatzes aus. 162 163

B. Der Rechtsbeugungstatbestand und seine Sperrwirkung

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Unrechtsstaat sei eine "Aushöhlung der richterlichen Unabhängigkeit" durch "Justizlenkung" von innen und planmäßigen Druck von außen erfolgt. 166 Zwischenergebnis: Notwendigkeit der Sperrwirkung und Konsequenzen der kritisierten Rechtsprechung

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass die vom BGH ins Feld gebrachte Begründung für eine richterliche Haftungsprivilegierung im Rahmen der Konkurrenz tateinheitlich erfüllter Delikte wenig überzeugt. Die Sperrwirkung als Schutz der richterlichen Unabhängigkeit zu erlären, muss wegen rechtsdogmatischer und rechtshistorischer Bedenken scheitern. Gleichwohl lassen sich die Notwendigkeit und auch der Umfang einer Sperrwirkung des Rechtsbeugungsparagrafen aus den bisherigen Ergebnissen klar herleiten: Richtigerweise versteht man die Sperrwirkung als Schutz für die richterliche Entscheidungsfreiheit, ohne dass diese Rechtsgut der Rechtsbeugung ist. Zugleich muss man berücksichtigen, dass der Entscheidungsspielraum und die Unabhängigkeit des Richters durch die Strafnorm des § 336 a. F. StGB begrenzt wird. Um dem Sinn und dem Zweck der Norm gerecht zu werden, muss zwischen diesen vermeintlich widerstreitenden Interessen von Privilegierung und Repression ein sinnvolles Gleichgewicht 167 bestehen. Als Maßstab für dieses Gleichgewicht muss der Gesetzeswortlaut der Norm gelten. Die Tatsache, dass der Gesetzgeber die fahrlässige Rechtsbeugung straffrei gelassen hat, muss im Hinblick auf die tateinheitlich möglichen und daher mit der Rechtsbeugung konkurrierenden Straftatbeständen entsprechend berücksichtigt werden. So wäre die gesetzgeberisch gewollte Schutzwirkung durch die Beschränkung auf nur vorsätzliche Rechtsverstöße umgangen, wenn bei Tateinheit mit Fahrlässigkeitsdelikten durch eine fehlerhafte Vorgehensweise des Richters bei der Entscheidung oder Leitung einer Rechtssache, der Nachweis einer Rechtsbeugung nicht als Strafbarkeitsvoraussetzung erforderlich wäre. 168 Es würde der Wertung des Gesetzgebers nicht Rechnung getragen, dass ein entscheidender oder leitender Richter bei einem unbewussten Rechtsverstoß straffrei zu bleiben hat, wenn er dennoch aus tateinheitlich erfolgten Fahrlässigkeitsdelikten strafbar wäre. 169 166 BGH, Urt. vom 30.6.1969, 1 StR 639/59; abgedruckt in: Adelheid L. RüterEhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XVI, S. 586. 167 Vgl. Astrid Hupe, S. 27, 28. 168 Man/red Seebode, JuS 1969, S. 206. 169 Man/red Seebode, JuS 1969, S. 206; Günter Bemmann, Gedächtnischrift für Gustav Radbruch, S. 308; Peter Seemann, S. 109, 125; Astrid Hupe, S. 26, 27. 4'

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Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

Begründen diese Überlegungen die Notwendigkeit der Beschränkung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von § 336 a. F. StGB, so taugen sie zugleich dazu, die Grenze dieser Beschränkung zu definieren. Diese Grenze wurde durch die Forderung des Bundesgerichtshofs nach der ausschließlichen Strafbarkeit des direkten Vorsatzes überschritten. Denn exemplarisch in bezug auf in der NS-Zeit begangene "Alttaten" bedeutet dies: Hätte ein Richter beispielsweise nur mit bedingtem, nicht mit direktem Vorsatz Rechtsbeugung begangenen, so wäre eine Bestrafung aus anderen tateinheitlichen Vorsatzdelikten wie Freiheitsberaubung, Totschlag oder Mord nicht möglich. Diese Konsequenz ist rechtlich bedenklich, wenn man sich die Schwere der potentiellen, in der Konkurrenzsituation zur Rechtsbeugung möglichen Delikte vor Augen führt. 170 Bei einem mit beispielsweise bedingtem Vorsatz geflillten rechtswidrigen Todesurteil, das möglicherweise als Mord zu qualifizieren wäre, würde dem Richter eine lebenslange Freiheitsentziehung drohen. Durch die Sperrwirkung des nur direkt vorsätzlichen Rechtsbeugungstatbestandes wäre trotz des Vorliegens einer schwerwiegenden Straftat eine Bestrafung des Richters unmöglich. Eine mit lebenslanger Freiheitsentziehung bedrohte und tatbestandiich erfüllte Straftat bliebe demnach strafrechtlich folgenlos. Dieses Ergebnis kann vom gesetzgeberischen Willen nicht gedeckt sein. 171 Mit Blick auf die konkurrierenden Tatbestände ergibt sich für die Anwendung der Sperrwirkung von § 336 a. F. StGB zweierlei: zum einen das Erfordernis der Begrenzungsfunktion des § 336 a. F. StGB bezüglich tateinheitlich erfüllter Fahrlässigkeitsdelikte. Zum anderen muss die Beschränkung der strafrechtlichen Verantwortung des Richters wiederum selbst beschränkt werden. Denn die Ausweitung der Haftungsfreizeichnung durch das Postulat eines direkten Vorsatzes zeigt sich im Hinblick auf die konkurrierenden Tatbestände als unvertretbar, da ansonsten nicht nur unhaltbare Ergebnisse erfolgen, sondern auch der strafrechtliche Charakter der Norm unterminiert würde. Rechtlich ist es daher geboten, die Bestrafung der bedingt vorsätzlichen Rechtsbeugung als Kriterium für die Bestimmung der Reichweite der Sperrwirkung bei gleichzeitiger Haftungsfreizeichnung von tateinheitlich erfüllten Fahrlässigkeitsdelikten anzuerkennen. 172 Allein bei dieser an dem Willen des Gesetzgebers orientierten Maßgabe wird der interessengerechten Balance zwischen überzogener Strafbarkeit 170 171

172

Vgl. LK-Spendel, § 336, Rz. 130. In diesem Sinne Peter Seemann, S. 110. Peter Seemann, S. 110.

B. Der Rechtsbeugungstatbestand und seine Sperrwirkung

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und unangemessener Privilegierung für den Richter Rechnung getragen. So formulierte bereits Grünhut treffend in diesem Sinne: Birgt die grenzenlose strafbare Verantwortlichkeit des Richters die Gefahr der zu weit gehenden Beschränkung seiner Entscheidungsfreiheit, so macht eine Überdehnung des Haftungsprivilegs die Verantwortlichkeit und Kontrolle der Rechtsprechung illusorisch 17 •

Zu welchem Ergebnis gelangt man nun, wenn man die vorgenannten Maßstäbe für eine kritische Bewertung der BGH-Rechtsprechung zur Sperrwirkung des Rechtsbeugungstatbestandes im Rahmen tateinheitlich erfüllter Delikte heranzieht? Zunächst müssen die beiden unveröffentlichten Entscheidungen des BGH vom 09.06.1953 174 sowie vom 30.11.1954 175 bewertet werden. Dort wurde die Sperrwirkung ausdrücklich auf fahrlässige Rechtsverstöße beschränkt und vorsätzlich begangen Rechtsverstöße sollten ausnahmslos nach allgemeinen Normen des StGB verfolgbar bleiben. Der Intention des Gesetzgebers entsprechend, wurde zum einen somit der Richter von den Folgen fahrlässiger Fehlentscheidungen entbunden. Zum anderen wurde richtigerweise argumentiert, dass die Unabhängigkeit und Verantwortungsfreiheit des Richters keine Einbuße erleiden, wenn der Richter für jede Art von vorsätzlicher Tötung einzustehen habe. Dieser Rechtsprechung ist daher in vollem Umfang beizupflichten. . In der Entscheidung BGHSt 10, 294 aus dem Jahre 1956 erfuhr der

§ 336 a. F. StGB und mithin die Sperrwirkung eine entscheidene Wende in

der Auslegung und Interpretation. War in den bisherigen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs die Sperrwirkung im Hinblick auf die sich in Tateinheit mit der Rechtsbeugung befindlichen Straftatbestände auf die Überlegungen Radbruchs gestützt worden 176, so war die neuerliche Begründung für die Sperrwirkung und die Festsetzung ihres Umfangs nicht schlüssig. Die bereits in vorherigen Urteilen l77 falschlicherweise gebrauchte und in BGHSt 10, 294 kritiklos wiederholte These, die zu schützende richterliche Unabhängigkeit als Ziel des § 336 a. F. StGB und der Sperrwirkung zu erklären, konnte nicht einleuchten. Gegen diese Ansicht sprechen insbesondere rechtshistorische und verfassungsrechtliche Gründe sowie Sinn und Zweck der Sperrwirkung und des Rechtsbeugungstatbestandes selbst. Die maßgebliche Privilegierung im Vergleich zu der bisherigen Rechtsprechung bestand bei BGHSt 10, 294 in der Ausdehnung der haftungsbe173 174 175 176 177

So Max Grünhut, S. 4. BGH StR 198/53. BGH StR 350/53. BGH, MDR 1952, S. 693; BGH StR 198/53; BGH StR 350/53. OLG Barnberg, SJZ 1949, S. 491; BGH, MDR 1952, S. 695.

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Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

grenzenden Wirkung der Norm. Mit dieser Entscheidung wurde der § 336 a. F. StGB auf direkt vorsätzliche Rechtsbeugungen beschränkt und die damit zugleich verbundene Sperrwirkung für bedingt vorsätzliche in Tateinheit begangene Delikte ausgedehnt. Somit wurde das Gleichgewicht zwischen privilegierender und repressiver Wirkung der Norm durch einseitige Betonung der Sperrwirkung unangemessen gestört. Denn hatte beispielsweise ein NS-Richter ein mit bedingtem Vorsatz rechtswidriges und später vollstrecktes Todesurteil, das wegen niedriger Beweggründe zugleich als Mord zu qualifizieren war, ausgesprochen, so war dieser wegen der Sperrwirkung des § 336 a. F. StGB trotz Vorliegens eines Mordes strafrechtlich nicht zu belangen. Durch die vorherigen BGH-Entscheidungen war diese Problematik auf ein angemessenes Maß reduziert worden, indem der Eventualvorsatz als Maßstab für den Umfang der Sperrwirkung diente. Durch BGHSt 10, 294 wurde nun ohne rechtlich überzeugende Argumentation, entgegen dem Willen des Gesetzgebers und dem Wortlaut der Norm, ein Haftungsprivileg für den Richter zementiert. Eine merkliche Besserstellung des möglichen Rechtsbeugungstäters im Vergleich zu Tätern allgemeiner Straftaten war ohne Rechtfertigung geschaffen worden. Die weiteren BGH-Entscheidungen 178 zum Vorsatz der Rechtsbeugung revidierten den durch BGHSt 10, 294 eingeschlagenen Kurs hinsichtlich des Umfangs der Sperrwirkung nicht. An dem in BGHSt 10, 294 deklarierten Erfordernis der ausschließlichen Strafbarkeit des direkten Vorsatzes von § 336 a. F. StGB und der damit verbundenen unhaltbaren Ausdehnung der haftungsprivilegierenden Wirkung des § 336 a. F. StGB wurde trotz der im Schrifttum immerlauter werden Stimmen für die Einbeziehung des Eventualvorsatzes bei der Rechtsbeugung nicht gezweifelt. Praktisch zeigte sich die bereits von Grünhut 1930 theoretisch angemahnte Folge der Überdehnung der Sperrwirkung, also die Illusion der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und Kontrolle der Rechtsprechung: Hatten die beiden unveröffentlichten Entscheidungen, die nur die fahrlässigen Rechtsverstöße durch Richter als von der Sperrwirkung umfasst ansahen, zu den ersten rechtskräftigen Verurteilungen von NS- Richtern geführt, so sollten sie zugleich die letzten bleiben. Die fünf Entscheidungen aus dem Jahre 1952 davor, die Entscheidung BGHSt 10, 294 sowie die folgende BGH-Judikatur führten zu Freisprüchen. Folge dieser Rechtsprechung zur Sperrwirkung ist es, dass ehemalige Angehörige von Sonder- oder Standgerichten kaum von der Justiz der Bundesrepublik Deutschland wegen Rechtsverstöße während des Nationalsozialismus belangt wurden. Ehemalige Richter des Volksgerichtshofs entgingen 178

Vgl. BGR, NJW 1968, S. 1339; BGR, NJW 1971, S. 571.

B. Der Rechtsbeugungstatbestand und seine Sperrwirkung

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einer rechtskräftigen Verurteilung sogar ausnahmslos. 179 Dass aufgrund der Rechtsprechungspraxis viele Verfahren gar nicht mehr zur Anklage gebracht wurden, sondern von der Staatsanwaltschaft als von vorneherein aussichtslos bewertet und eingestellt wurden 180, dürfte feststehen.

4. Grenzen der Spernvirkung Der Umstand, dass es sich hier um die Beurteilung staatlichen Handeins in einer rechtspolitischen Ausnahmesituation handelt, könnte einen weiterführenden als den bisherigen Lösungsansatz für die Sperrwirkung des § 336 a. F. StGB bedingen: Der Amtsträger, dessen Tätigkeit darauf gerichtet ist, Recht zu verwirklichen, trifft potentiell die Strafdrohung des Rechtsbeugungstatbestandes und schützt ihn zugleich indirekt vor strafrechtlicher Verfolgung durch die Sperrwirkung gegenüber anderen tateinheitlich begangenen Delikten. Etwas anderes könnte dann gelten, wenn Verfahren durchgeführt werden, die lediglich Machtansprüche der politisch Führenden, aber nicht geltendes Recht durchsetzen sollen. 181 a) Wegfall der privilegierenden und Beibehaltung der repressiven Wirkung des Rechtsbeugungstatbestandes bei sog. Scheinverfahren So soll nach allgemeiner Ansicht 182 die Sperrwirkung des § 336 a. F. StGB nicht angewandt und das Verhalten des Richters direkt nach allgemeinen Strafnormen beurteilt werden, wenn "ein Tribunal nicht mehr als Gericht, seine Prozedur nicht mehr als Rechtsverfahren, seine Entscheidung nicht mehr als Rechtsverfahren qualifiziert werden kann,,183. Diesem Ansatz muss prinzipiell beigepflichtet werden. Denn bei Vorliegen der völligen Ignoranz gegenüber der schützenden Form und des Inhalts 179 Vgl. loerg Friedrich, S. 416 ff.; Gerd Denzel, Die Ermittlungsverfahren gegen Richter und Staatsanwälte am Volksgerichtshof seit 1979, in: KJ 1991, S. 31 ff.; Bemhard Diestelkamp, S. 156 u. 158. 180 Vgl. für Angehörige des Volksgerichtshofes: Bemhard lahntzIVolker Kähne, S. 34 ff. Nur gegen fünf Richter des VGH, der Sondergerichte und der übrigen Strafgerichte (ausgenommen also Militärjustiz und Standgerichte) wurde wegen ihrer Beteiligung überhaupt Anklage erhoben. In keinem Fall kam es zu einer rechtskräftigen Verurteilung. 181 Vgl. nur Rudolf Wassennann, Unrecht durch DDR-Rechtsprechung, in: Festschrift für Günter Spendel, S. 645; Astrid Hupe, S. 121. 182 Ganz h.M., vgl. nur: Astrid Hupe, S. 121; Peter Seemann, S. 112 f.; Hansloachim Behrendt, S. 950; Günter Spendel, Mord durch ein "Standgericht" Schwurgericht Würzburg und BGH, in: Justiz und NS-Verbrechen, X (1973), S. 205, 233, in: JuS 1988, S. 857. 183 LK-Spendel, § 336, Rz. 131.

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Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

des fonnellen und des materiellen Rechts stellt sich die Frage, ob die Anwendung der Sperrwirkung für solche "richterlichen" Verfahren zu akzeptieren ist. Verfahren dieser Art sind vielmehr als sogenannte Scheinveifahren 184 zu kategorisieren. Es sind reine Schauprozesse, bei denen nur äußerlich und zum Schein ein gerichtliches Verfahren durchgeführt wird, während es sich in Wahrheit bei dem "Urteil" um die Verhängung einer reinen Willkünnaßnahme handelt. Nicht wegen des Schauprozesses per se, sondern da es bei diesen Prozessen regelmäßig zur Nichtbeachtung rechtsstaatlicher Mindestanforderungen, wie rechtliches Gehör, gesetzlicher Richter u. ä., kommt 185 , entfällt die rechtliche Bindungswirkung solcher Verfahren. Daraus folgt: kann die richterliche Prozedur nicht mehr als Rechtsverfahren, sondern muss sie als Scheinverfahren qualifiziert werden, kann die Sperrwirkung des § 336 a. F. StGB für konkurrierende Delikte keine Anwendung mehr finden. aa) Maßstab Nichtigkeit und Nichturteil

Strittig ist in vorgenanntem Zusammenhang zunächst, wo bei diesen Scheinverfahren die Grenze für die Sperrwirkung gegenüber dem allgemeinen Strafrecht zu ziehen ist. Soll dafür das Nichturteil 186 , also ein nicht bestehendes Gerichtsurteil, oder bereits eine bloß nichtige 187, d.h. eine unwirksame, aber noch als richterlich anzusehende Entscheidung maßgeblich sein?188 Als wesentliche Begründung 189 für das Erfordernis eines Nichturteils wird angeführt, dass erst bei diesem die Tatbestandsvoraussetzung "bei der Entscheidung oder der Leitung einer Rechtssache" und damit die Anwendung des § 336 a. F. StGB als Strafbarkeitsbegrenzung entfällt. Denn bei einem nur nichtigen Urteil müsse noch von einem gerichtlichen Verfahren gesprochen werden. Die vorgenannten Tatbestandsvoraussetzungen würden demnach vorliegen; eine Nichtanwendbarkeit der Rechtsbeugung und ihrer Sperrwirkung entgegen des Wortlauts der Vorschrift sei nicht zu rechtfertigen. Diese Folgerungen liegen dogmatisch schief, da ein Ausschluss der Sperrwirkung über die wertende Ablehnung der Tatbestandsmerkmale des 184 Häufiger Terminus, vgl. Peter Seemann, S. 114; Frank Scholderer, S. 379; Astrid Hupe, S. 121. 185 Vgl. Frank Scholderer, S. 379, 380; Peter Seemann, S. 115. 186 So wohl die bereits zitierte h. M., explizit allerdings nur Günter Spendel, in: JuS 1988, S. 857. 187 Frank Scholderer, S. 376; Christian-Friedrich Schroeder, in: GA 1993, S. 398. 188 Zur Unterscheidung der termini Nichturteillnichtiges Urteil vgl.: LK-Spendel, § 336, Rz. 132 m.w.N. 189 Vgl. Günter Spendel, in: JuS 1988, S. 857.

B. Der Rechtsbeugungstatbestand und seine Sperrwirkung

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§ 336 a. F. StGB erreicht wird 190. Denn der Rechtsbeugungstatbestand ist nicht der Grund für den Ausschluss der Strafbarkeit. Die Straflosigkeit richterlicher Rechtsgutverletzung bei Nichterfüllung des § 336 a. F. StGB ergibt sich bereits aus dem Umstand der Rechtfertigung amtlichen Handelns l91 : Der beispielsweise einen Delinquenten rechtens zu einer Freiheitsstrafe verurteilende Richter hat zwar regelmäßig tatbestandlich eine Freiheitsberaubung begangen, ist aber aufgrund seiner amtlichen Befugnis als Richter, also hier der Entscheidung von Rechtssachen, gerechtfertigt. Eine Strafbarkeit entfällt. § 336 a. F. StGB ist dabei nur insofern relevant, als dass er den Grund für einen Umkehrschluss auf die Rechtfertigung bietet 192: Der Richter soll für die Entscheidung oder Leitung von Rechtssachen gerechtfertigt sein, sofern kein vorsätzlicher Verstoß gegen das Recht vorliegt; zugleich wird durch das Vorsatzerfordernis die Grenze für das straffrei gewährende Handeln des Richters festgesetzt. 193

Daran anknüpfend ergeben sich Argumente für die Auffassung, dass für richterliche Entscheidungen, denen keine Rechtsqualität zukommt, weil sie lediglich nichtig sind, bereits keine Sperrwirkung des § 336 a. F. StGB besteht. Denn nichtige Urteile können nicht in Rechtskraft erwachsen, da sie keinerlei Rechtswirkung entfalten. Besteht aber keine rechtliche Wirkung gegenüber dem von der Entscheidung betroffenen Bürger, so muss das allgemeine Strafrecht schützend eingreifen. 194 Ist der Ausspruch des Richters also nicht nur rechtswidrig, sondern sogar nichtig, entfällt seine aus der amtlichen Befugnis resultierende Rechtfertigung für die Entscheidung von Rechtssachen. Eine Freizeichnung bspw. für fahrlässige Rechtsverstöße können somit keinen Vorrang haben, wenn es um schwerste Fehler geht. 195 Damit ist es rechtlich geboten, die Sperrwirkung des § 336 a. F. StGB sowohl bei Nichturteilen als auch bereits bei nichtigen Entscheidungen nicht zur Anwendung kommen zu lassen. bb) Aufrechterhaltung der sanktionierenden Funktion des Rechtsbeugungstatbestandes

Des Weiteren ist unklar, ob bei Vorliegen von Scheinverfahren die Anwendung des § 336 a. F. StGB insgesamt und damit auch die Sperrwirkung oder nur letztere entfallen soll.196 190 191 192 193 194 195

Vgl. Christian-Friedrich Schroeder, in: GA 1993, S. 396-398. Christian-Friedrich Schroeder, in: GA 1993, S. 396-398. Christian-Friedrich Schroeder, in: GA 1993, S. 396-398. Christian-Friedrich Schroeder, in: GA 1993, S. 396-398. Vgl. Frank Scholderer, S. 377. Vgl. Frank Scholderer, S. 377.

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Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

Gegen die erste Auffassung spricht entscheidend folgender Gedanke: Ein nichtiges Verfahren stellt sich als Rechtsbruch dar. Bereits nach dem Wortverständnis, wonach das Biegen nach dem Bruch erfolgt, bedeutet der Rechtsbruch gegenüber der Rechtsbeugung eine "qualitative Steigerung im Sinne eines notwendigen Durchgangsstadiums,,197. Ist damit die nichtige gegenüber der bloß rechtswidrigen Entscheidung kein aliud, so muss § 336 a. F. StGB auf nichtige Urteile anwendbar bleiben. Ansonsten würde die nichtige Entscheidung als gröbere Gesetzesverletzung weniger bestraft als der rechtswidrige Urteilsspruch, der einen geringeren Verstoß gegen das Gesetz darstellt, was ein nicht zu erklärender Wertungswiderspruch wäre. 198 Zudem bliebe unberücksichtigt, dass der Richter auch bei nichtigen Urteilen seine richterliche Funktion zumindest tatsächlich missbraucht. Gelten diese Überlegung im Verhältnis von rechtswidrigen und nichtigen Urteilssprüchen, so ist kein sachlicher Grund ersichtlich, diese Ansicht auch auf Nichturteile, die wiederum ein Mehr an richterlicher Ignoranz gegenüber Recht und Gesetz im Vergleich zu nichtigen Verfahren darstellen, zu übertragen. Danach entfallt bei Scheinverfahren - gleichgültig -, ob eine nichtige Entscheidung oder ein Nichturteil vorliegt, die Sperrwirkung der Rechtsbeugung; zugleich bleibt eine solche Verfahrensweise als Rechtsbeugung strafbar. ce) Resümee Zusammenfassend ist festzustellen, dass sich für rechtliche bzw. rechtspolitische Extremsituationen - wie sie konkret für die NS-Zeit galten - ein weitergehender Lösungsansatz im Hinblick auf die dargestellte Sperrwirkung aufdrängt. Fehlt es nämlich bei diesen in eine zeitliche Ausnahmesituation fallenden Richtersprüchen in eklatanter Weise an Minimalanforderungen eines gerichtlichen Verfahrens, handelt es sich um sog. Scheinverfahren. Daraus leitet sich die rechtliche Konsequenz ab, dass mangels der rechtlichen Wirkung des Scheinurteils der Richter nicht schutzwürdig ist und eine Anwendung der in § 336 a. F. StGB gegebenen Sperrwirkung für die konkurrierenden Fahrlässigkeitsdelikte entfallen muss.

Dass ein Scheinverfahren hierbei ein nur nichtiges Urteil und nicht, wie teilweise gefordert, Nichturteil voraussetzt, erklärt sich daraus, dass bereits in diesem Fall, keine rechtliche Bindungswirkung des Urteils eintritt. Damit ist das amtliche Handeln des Richters nicht gerechtfertigt und zugleich er196 So die zitierte h.M; a.A. Frank Scholderer, S. 379 und wohl Christian-Friedrich Schroeder, in: GA 1993, S. 398. 197 Frank Scholderer, S. 379. 198 Frank Scholderer, S. 379.

B. Der Rechtsbeugungstatbestand und seine Sperrwirkung

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nUnt der mit dem unwirksamen Richterspruch konfrontierte Bürger durch

das allgemeine Strafrecht Schutz. Maßgeblich für die Bestimmung der Grenze der Sperrwirkung gegenüber dem allgemeinen Strafrecht ist daher die Nichtigkeit bei Scheinurteilen.

Liegt ein Scheinverfahren vor, so führt dies also regelmäßig zu dem Wegfall der Sperrwirkung. Zugleich bleibt die Anwendung des § 336 a. F. StGB in diesem Fall sinnvoll und gerechtfertigt. Dies erklärt sich angesichts der mit § 336 a. F. StGB tateinheitlieh erfüllten Delikte, die gegenüber der Rechtsbeugung mit geringerer Strafe drohen. Bei einem rechtswidrigen Urteil ist der rechtsbeugende Richter bei vorgenannter Konkurrenzsituation der höheren Strafdrohung des § 336 a. F. StGB ausgesetzt. Bei einem Richter, der ein Scheinverfahren und damit gröbste Gesetzesverletzung begeht, würde ein Verzicht auf die Anwendung des § 336 a. F. StGB bei gleicher Delikskonstellation nur zu einer Bestrafung aus dem milderen Gesetz führen und damit privilegieren. Dies wäre ein nicht zu rechtfertigender Wertungs widerspruch im Hinblick auf konkurrierende, aber nicht mit so hoher Strafe wie § 336 a. F. StGB drohende Tatbestände, da ein nichtiges Verfahren und erst recht ein Nichturteil naturgemäß schwerwiegendere Rechtsverstöße aufweisen als ein nur rechtswidriges Gerichtsverfahren. b) Definition des Begriffes Scheinverfahren durch die Rechtsprechung Die Nachkriegsrechtsprechung hat in einigen ihr zur Beurteilung vorliegenden Strafverfahren angenommen, dass diese von Richtern durchgeführten Verfahren den Namen Gerichtsverfahren nicht verdienen und daher als sog. Scheinverfahren zu qualifizieren sind. Es tauchen allerdings Ungereimtheiten bei der vom Bundesgerichtshof zugrundegelegten Definition für diese Schauprozesse auf. Anschauliches Beispiel ist insoweit BGHSt 2, 173. Es ging um den Vorwurf gegen Huppenkothen wegen Mitwirkung als Vertreter der Anklage bei einem von Hitler im April 1945 befohlenen Standgerichtsverfahren gegen Canaris und andere. Anstatt die nachweislich 199 objektiven schwersten Verfahrensverstöße als Grundlage für die Annahme eines Scheinverfahrens und damit einer rechtswidrigen Tötung zu nehmen, wurde bei der dann folgenden Analyse des Verfahrens der Begriff des Scheinverfahrens maßgeblich auf subjektive Kriterien200 gestützt. Nach Ansicht des BGH ist ein Schauprozess demnach: Vgl. nur Günter Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, S. 94-96. So auch: Frank Scholderer, S. 381; Christian-Friedrich Schroeder, in: GA 1993, S. 398, FN. 48. 199

200

Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

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ein Verfahren, bei "dem nur das ,gerichtliche Gesicht' gewahrt ist, das also nur äußerlich und zum Schein die für ein gerichtliches Verfahren geltenden Vorschriften beachtet" hat und "dessen Ergebnisse für den Richterspruch ohne Bedeutung sind,,201; ein Scheinverfahren ist dann zu bejahen, "wenn die geltenden Rechtsvorschriften von den Mitwirkenden eben nur zum Schein und nicht mit dem Wunsch und dem Willen einer ernsthaften Klärung der Schuldfrage,,202 beachtet worden sind.

Diese Ansicht, zur Qualifizierung des Scheinverfahrens auf die innere Einstellung des Urteilenden, abzustellen, wurde auch in anderen BGH-Urteilen203 , in denen die Scheinurteilsproblematik angesprochen wurde, nicht revidiert, sondern beibehalten. So heißt es beispielsweise in BGHSt 10, 294: "wer gar nicht Recht sprechen will und die Formen der richterlichen Tätigkeit nur zur Erreichung anderer, sachfremder Ziele benutzt, kann sich nicht darauf berufen, dass er sich - äußerlich gesehen - an die bestehenden Gesetze gehalten habe; denn diese ist bei einer solchen inneren Haltung nur zum Schein geschehen,,204.

Der Begriff des Scheinverfahrens durch den BGH ist damit aber eine inhaltsleere Formel. Objektive Kriterien zur Bestimmung des Vorliegens eines Scheinverfahrens, wie eklatante, zur Nichtigkeit führende Verstöße gegen das materielle und formelle Recht, werden nicht aufgegriffen. In den Vordergrund der Begriffsbestimmung wird der subjektive Willen des Richtenden, kein Recht, sondern "willkürliche Machtsprüche,,205 zu sprechen, gestellt. Der BGH benutzt somit eine völlig unzulängliche, weil zu unbestimmte und ständig variierende Formel des Scheinverfahrens. Entscheidend spricht gegen die vom BGH geschaffene Konstruktion allerdings, dass der § 336 a. F. StGB ein richterliches Verhalten, welches unter das von der Rechtsprechung definierte Scheinverfahren fallen würde, gar nicht sanktioniert. Wer das Recht beugt, so setzt es nun mal der Gesetzgeber voraus, verletzt rechtswidrig und vorsätzlich das geschriebene Gesetzesrecht. Das Unrecht muss sich also materialisiert haben. Bei dem BGH hingegen wird das Erfolgsdelikt der Rechtsbeugung zum Unternehmensdelikt umfunktioniert. Nach der von der Rechtsprechung zugrundegelegten Scheinverfahrensdefinition soll auch derjenige, der sich nur äußerlich an die bestehenden Gesetze gehalten hat, aufgrund seiner inneren, das Recht ablehnenden Haltung sich der Rechtsbeugung strafbar machen. Damit hat die Judikatur die Tathandlung der Rechtsbeugung um eine unzulässige Variante erweitert, die gesetzlich nicht bestimmt ist. 201 202 203 204 205

BGHSt 2, 175. BGHSt 2, 176. Vgl. nur: BGHSt 9,307; BGHSt 10, 301. BGHSt 10, 300. BGHSt 2, 176.

B. Der Rechtsbeugungstatbestand und seine Sperrwirkung

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Es ergeben sich zudem rechtspolitische Bedenken gegen die begriffliche Bestimmung des Scheinverfahrens , wie sie von dem Bundesgerichtshof vertreten wird. Die Rechtsgesinnung des Richters als Maßstab für das Vorliegen eines Scheinverfahrens zu erklären, enthält nämlich die Tendenz zum Gesinnungsstrafrechts?06 Denn wenn nach BGHSt 10, 294 der Vorwurf des Scheinverfahren gegenüber dem Richter grundsätzlich darauf zu stützen ist, dass er die "Anwendung ... gültiger Gesetze zu rechtsfremden Zwecken"zo7

missbraucht hat, dann wird das Gesinnungsmerkmal der rechtsfeindlichen Einstellung des Richters losgelöst von der Einzeltat zum Strafgrund erhoben. zos Der Strafbarkeitsvorwurf ergibt sich nach der vom BGH gebrauchten Definition bereits aus der inneren, aber nicht nach außen getretenen Rechtseinstellung des Richters. Dieses Dilemma wird in BGHSt 2, 173 verstärkt deutlich, wenn es heißt, dass ein Scheinverfahren auch dann vorliegen könne, "wenn keinerlei Verstöße gegen die damals geltenden Rechtsvorschriften festzustellen" seien, "die geltenden Rechtsvorschriften" ... aber "nur zum Schein und nicht mit dem Wunsche und dem Willen einer ernsthaften Klärung der Schuldfrage beachtet worden wären"Z09.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Begriff des Scheinverfahrens durch den Bundesgerichtshof an keinen objektiven, rechtlich materialisierten Grundsätzen orientiert wird. Er wird vielmehr an dem kaum zu führenden Nachweis der subjektiven, das Recht ablehnenden Gedankenvorstellungen des Richtenden gebunden. Der vom BGH angelegte Maßstab ist nicht nur objektiv zu eng und subjektiv zu weitZlO, sondern er schafft ein Kriterium, das gesetzlich gar nicht vorausgesetzt wird, letztlich jeglicher rechtlichen Grundlage entbehrt und zur Rechtsunsicherheit führt. 206 Unter Gesinnung wird im allgemeinen Sprachgebrauch die abstrakte und grundsätzliche, d. h. nicht auf ein bestimmtes Verhalten bezogenen Einstellung des Menschen verstanden. Gesinnungsmerkmale sind danach also Begriffe, die eine solche auf Dauer angelegte Einstellung festlegen. Vgl. zur Begrifflichkeit Eberhard Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale im Strafrecht, Tübingen 1958, S. 69 ff.; EmstJoachim Lampe, Das personale Unrecht, Berlin 1967, S. 154 ff. 207 BGHSt 10, 301. 208 Noch bedenklicher wird das Ganze, wenn es weiter heißt: "Derartigen Mißbrauch unter den Begriff der Rechtsbeugung einzuordnen, ... trägt der Senat keine Bedenken", vgl. BGHSt 10, 301. Denn die Norm des § 336 a.F. StGB bestraft den Täter nicht schon deshalb, weil seine richterlichen Handlungen allein "rechtsfeindlichen" Zwecken dient, dadurch wird nicht schon Recht gebeugt. Weder einen solchen Tatmodus noch ein solches Gesinnungsmerkmal enthält der Tatbestand des § 336 a. F. StGB. 209 BGHSt 2, 176. 210 Vgl. Frank Scholderer, S.381, FN. 1618.

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Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

Richtig ist an der vom Bundesgerichtshof geäußerten Rechtsansicht allein, dass die Motivation für die Durchführung solcher durch NS-Richter erfolgten Scheinverfahren rechtsfremde oder rechtsfeindliche Zwecke bildeten. Die vom BGH ausgemachte rechtsfeindliche Motivationslage kann aber allenfalls im Rahmen der Strafzumessung Berücksichtigung finden. Für die Bestimmung des Scheinverfahrens und der damit verbundenen Frage der Nichtanwendung der Sperrwirkung taugt sie nichts; diesbezüglich müssen verfahrens- und materiellrechtlichen Verstöße, die eine Nichtigkeit einer richterlichen Entscheidung bedingen, maßgeblich sein. c) Abgrenzung von rechtsbeugenden und nichtigen Urteilen als auch Nichturteilen durch den BGH Kaum klarer als die Begriffsbestimmung von Scheinurteilen erweist sich in der Nachkriegsjudikatur die für die Anwendung der Sperrwirkung maßgebliche Unterscheidung zwischen rechtsbeugendem Urteil, nichtiger Entscheidung und Nichturtei1. 2Jl

aa) BGH-Entscheidung vom 9.6.1953, 1 StR 198/53 Aufschluss soll zunächst das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 9.6.1953, 1 StR 198/53212 geben. 213 Rechtlich zu würdigen waren dabei die Mitwirkungen zweier wegen Tötung angeklagter Offiziere bei einem sog. fliegenden Standgericht, welches gegen Ende des Krieges zum Zwecke der Unterdrückung von Auflösungserscheinungen innerhalb der kriegsmüden Truppe eingesetzt wurde 214 . Dieser sog. Zellinger Standgerichtsfall war So auch Frank Scholderer, S. 381 ff. BGR-Urteil v. 9.6.1953, in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. Rüterl Fritz Bauer (Hrsg.), Bd. X, S. 233 ff. 213 In dem bereits zitierten Urteil, BGHSt 2, 173, wurde erstmals die Möglichkeit eines Scheinverfahrens angesprochen und konkret für das von Ruppenkothen durchgeführte Verfahren bejaht. Nicht erkennbar ist jedoch, was der BGR unter dem willkürlichen Scheinverfahren versteht, ob dies als Folge für den Urteilsspruch Nichtigkeit, Rechtswidrigkeit oder sogar die Qualität eines Nichturteils nach sich zieht. Damit blieb die Frage der Nichtigkeit in diesem Urteil unentschieden. - Daneben liegen jeweils unterschiedliche Verfahren betreffende Entscheidungen des LG Würzburg vor, die ebenfalls ein Scheinverfahren bejahen und den Richtern eine Raftungsprivilegierung versagten: - LG Würzburg vom 10.8.1950, abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlermannIChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. VII., S. 173 ff. - LG Würzburg vom 29.11.1952, abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-Ehlermannl Christaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. X., S. 205 ff. - LG Würzburg vom 19.5.1950, abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlermannIChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. VI., S. 587 ff. 211

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B. Der Rechtsbeugungstatbestand und seine Sperrwirkung

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überfrachtet mit gravierendsten Verstößen gegen das Verfahrensrecht: bspw. der Nichtbestellung eines Verteidigers und eines Protokollführers, der Nichtanhörung eines benötigten Zeugen, Festlegung und Ausfertigung des "Todesurteils" vor der Verhandlung sowie "Absetzung" der nicht zum Todesurteil bereiten Beisitzern. 215 Wegen dieser Umstände stufte das LG Würzburg als Vorinstanz diesen "Prozeß" als Scheinverfahren ein: Die Verhandlung sei "nur zum Schein aufgezogen" worden; das Verfahren "nicht dem Wesen eines Richterspruchs gerecht" geworden; letztlich wird gefolgert, das ganze Prozedere sei "weder dem Namen noch der Sache nach" eine "gerichtliche" gewesen. 216 So richtig und treffend diese Ausführungen sind, es wird versäumt explizit, von einem nichtigen Todesurteil oder sogar Nichturteil zu sprechen, stattdessen wird sich wieder hinter einer verworrenen Formel des Scheinverfahrens versteckt217 . Die vom Schwurgericht gebrauchten Formulierungen können allerdings nur so interpretiert werden, dass wegen der Schwere der monierten Rechtsverstöße die aus dem Verfahren resultierenden Todesurteile die Schwelle zur Rechtswidrigkeit überschritten haben und daher zumindest als nichtig218 , wenn nicht sogar als rechtliches Nichts 219 anzusehen sind. Dafür spricht nicht zuletzt, dass das Schwurgericht das Vorliegen eines "gerichtlichen" Verfahrens letztlich verneint hat. Daraus würde resultieren, dass die Anwendung der Sperrwirkung ausgeschlossen wäre. Um so mehr verwundert es, dass sich in dem Urteil Ausführungen 220 zum § 336 a. F. StGB anschließen. Dabei wird auf die Problematik, ob bei Vorliegen eines nichtigen Verfahrens oder sogar eines Nichturteils die Anwendung der Vorschrift der Rechtsbeugung bzw. seiner Sperrwirkung nicht möglich ist und wohlmöglich eine rechtliche Wertung nur hinsichtlich des allgemeinen Strafrechts zu erfolgen hat, nicht einmal andeutungsweise eingegangen. Dies wäre nach der zuvor vom Schwurgericht gemachten rechtlichen Wertung des Standgerichtsverfahrens zwingend gewesen. 221 Vgl. zum Sachverhalt: Joerg Friedrich, S. 332-337. Vgl. Günter Spendel, in: JuS 1988, S. 857; LK-Spendel, § 336, Rz. 131; Peter Seemann, S. 114. 216 LG Würzburg vom 29.11.1952, in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. X., S. 224. 217 Vgl. bereits Teil I., B., 11., 4 b). 218 Vgl. Günter Spendel, JuS 1988, S. 857, 858. 219 Sogar für ein Nichturteil: Günter Spendel, in: JuS 1988, S. 858. 220 LG Würzburg vom 29.11.1952, in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. X., S. 227. 221 Kritisch i.d.S.: Günter Spendel, in: JuS 1988, S. 858. 214 215

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Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

Das Schwurgericht verurteilte die beiden Offiziere letztlich wegen Tötung zu einer Gefängnisstrafe von nur drei Jahren. Der BGH hat in seiner Revisionsentscheidung vom 9.6.1953 222 die erstinstanzliche Verurteilung der Offiziere bestätigt. Zunächst führt der Bundesgerichtshof hier richtig aus, dass das Hinwegsetzen der Angeklagten über nicht zwingende Vorschriften aus ,,reiner Willkür,,223 geschehen sei. Dann wird allerdings die vom Schwurgericht (und auch in dem HuppenkothenFall, BGHSt 2, 173) bereits verwandte nebulöse Formel angefügt, dass die Verhandlung "weder dem Namen noch der Sache nach" ein "gerichtliches Verfahren,,224 war. Im Ergebnis richtig heißt es im Weiteren, dass "die Vollstreckung des auf diese Weise zustande gekommenen Urteils eine rechtswidrige Tötung,,225 darstellt. Die Feststellung der Nichtigkeit für die ausgesprochenen Todesurteile erfolgt in diesem Zusammenhang wiederum nicht. Dass der BGH dies ohne weiteres annehmen konnte, belegt der diesbezügliche Kernsatz: "Die ungewöhnliche Fülle von verfahrens- und sachlichrechtlichen Verstößen muß dazu führen, dem Urteil jede Rechtswirkung abzusprechen,,226.

Keine Rechtswirkung entfalten nicht rechtswidrige, sondern einzig und allein nichtige Urteile, und auch Nichturteile227 , da denen jegliche Rechtsqualität abgeht. Demnach konnte der Bundesgerichtshof also von dem Vorliegen eines Scheinverfahrens einschließlich rechtsunwirksamer und damit nichtiger Todesurteile ausgehen?28 Damit hatte der BGH mehr oder weni222 BGH, in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. X., S. 233 ff. 223 BGH, in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. X., S. 235. 224 BGH, in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. X., S. 235. 225 BGH, in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. X., S. 235. 226 BGH, in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. X., S. 235. 227 Zur anerkannten prozessualen Unterscheidung von Nichturteil und nichtigem Urteil: Ernst Beling, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht mit Einschluß des Strafgerichtsverfassungsrechts, Berlin 1928, S. 202, 207, 209; Günter Spendei, Materiellrechtliche Straffrage und strafprozessuale Teilrechtskraft, in: ZStW 67 (1955), S. 561; Günter Spende!, Anmerkung: OLG Bremen, Beschl. v. 10.10.1957 - Ws 147/57, in: JZ 1958, S. 547; Heinrich Henke!, Strafverfahrensrecht, Lehrbuch, Stuttgart 1968, S. 149, Rz. 137; Claus Roxin, Das Strafverfahrensrecht, 20. Aufl., München 1987, S. 320 ff.; vgl. ferner: RGSt 4,273; 54, 11; 72, 78; BGHSt 2, 175, 176; 29, 352; BGH, NJW 1960, S. 2108; BGH, NStZ 1984, S. 279; BGH NJW 1954, S. 1901. Dagegen: Alexander Dohna, Das Strafprozeßrecht, 3. Aufl. 1929, S. 221; Löwe-Rosenberg-Schäfer, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 24. Aufl. Berlin/New York 1984, Einl. Kap. 16, Rz. 41.

B. Der Rechtsbeugungstatbestand und seine Sperrwirkung

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ger klar gesagt, wie die Qualität eines aus einem Scheinverfahren hervorgehenden Urteils einzustufen ist. Aber wie zuvor das Schwurgericht prüft der BGH nicht, ob wegen des nichtigen Scheinverfahrens die Sperrwirkung des § 336 a. F. StGB entfalle. Er verneint vielmehr die Rechtsbeugung mit der angreifbaren Begründung229 , dass der "Vorsitzende" als Laienrichter zu behandeln und als solcher nicht "Beamter" gemäß § 336 a. F. StGB zu betrachten sei. Der BGH führt dazu im weiteren aus, dass damit nach der damaligen Gesetzesfassung der Angeklagte nicht die nach § 336 a. F. StGB geforderte Tätertauglichkeit besäße und bestätigt insoweit das Urteil des Schwurgerichts 23o . Anschließend begibt sich der Bundesgerichtshof in Widerspruch mit den vorherigen Ausführungen seiner Entscheidung, indem er offensichtlich von einem nur rechtswidrigen Urteils spruch ausgeht. Und so heißt es an anderer Stelle der Entscheidung: "Die Rechtswidrigkeit des Urteils kann danach ebensowenig wie im Falle We. (d.h. in der ersten, im Zusammenhang mit dem Scheinverfahren beurteilten Verhandlung, der Verf.) in Zweifel gezogen werden,,231.

Der BGH offenbart damit eklatante Widersprüche und bedenkliche Rechtsansichten bei der Beurteilung der Systematik des § 336 a. F. StGB und seiner Sperrwirkung: Widerspricht sich der Bundesgerichtshof bei der Kategorisierung des Standgerichtsverfahrens in nichtige und rechtswidrige Entscheidung nicht nur selbst, sondern ist auch seine Begründung für den Ausschluss der Rechtsbeugung nicht haltbar, so sind die Prüfung und Feststellung des Scheinverfahrens vollends unsinnig, wenn man mit dem BGH unterstellt, der Urteilsspruch des Zellinger Standgerichtsverfahren sei nur rechtswidrig und damit eine Nichtigkeit ausschließt. Es ist in diesem Fall nämlich rechtlich völlig unnötig, das Konstrukt des Scheinverfahrens bei der Prüfung des "Verfahrens" ins Spiel zu bringen. Denn der § 336 a. F. StGB liegt bereits objektiv bei einem durch materielle oder formelle Rechtsverstöße verursachtem rechtswidrigen Urteil vor, eine zusätzliche Prüfung eines Scheinverfahrens sieht der Tatbestand nicht vor. Unter diesem Gesichtspunkt das Scheinverfahren zu prüfen, ist also unnötig und lässt im Weiteren folgenden 228 Zu diesem Ergebnis bei der Ananlyse des BGH-Urteils kommt auch: Günter Spendet, in: JuS 1988, S. 859. 229 Vgl. kritisch dazu: Teil 1., B., 11., 1. 230 Ausführlicher dazu: Günter Spendet, in: JuS 1988, S. 859. 231 BGH, in: Adetheid L. Rüter-EhtennannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. X., S. 236. Diese entscheidende Passage hat Günter Spendet bei seiner Analyse wohl übersehen, ansonsten könnte er nicht zu der aus seiner Sicht richtigen Einschätzung gelangen, der BGH gehe von einem Nichturteil aus, vgl. Günter Spendet, in: JuS 1988, S. 859. - Hervorhebung durch den Yen. 5 Quasten

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Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

Schluss zu: Ist bei der Grenzziehung von rechtswidrigen und nichtigen Urteilen diese Etikettierung geboten, werden hier unzulässige vom Gesetzgeber nicht bestimmte Tatbestandsmerkmale für den § 336 a. F. StGB geschaffen. Der BGH kreierte eine neue für den Tatbestand des § 336 a. F. StGB nicht vorgesehene Tatbestandsvariante, nämlich in Form des als nicht mehr gerichtlich zu bezeichnenden Scheinverfahrens. Mit der Folge, dass die Strafbarkeitshürde wegen dieses zusätzlichen Nachweises weiter contra legern erhöht wird. Diese Tatbestandsvariante wurde von den unteren Gerichten übernommen und vom BGH auch später nicht mehr korrigiert232 • 232 Dies zeigt sich insbesondere in folgenden Fällen: So in dem Fall gegen Rothenburg, Schillingsfürst und Brettheim, denen Rechtsbeugung mit tateinheitlichem Mord vorgeworfen wurde. Vgl. zu dem sich durch fünf Instanzen ziehende Verfahren: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIII., S. 361 ff.; Bd. XIV., S. 699 ff.; Bd. XVI., S. 497 ff. Hier hatte BGH mit Urteil vom 7.12.1956, 1 StR 56/56, abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlermannIChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIII., S. 385, in Anlehnung an BGHSt 2, 173 (175) die Voraussetzung einer Rechtsbeugung so formuliert: "Wer gar nicht Recht sprechen will und die Formen der richterlichen Tätigkeit nur zur Erreichung anderer, sachfremder Ziele benutzt, kann sich nicht darauf berufen, daß er sich äußerlich gesehen - an die bestehenden Gesetze gehalten habe" (Hervorhebung durch Verf.). So stellt im Zusammenhang bei der Prüfung einer möglichen Rechtsbeugungsvariante durch die Angeklagten dann das als letztes in diesem Verfahren rechtsprechende LG Ansbach in seinem Urteil vom 23.7.1960, vgl. Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XVI., S. 567, fest: "Es liegt auch kein Scheinverfahren vor: Ein Scheinverfahren ist ein Verfahren, in dem nur äußerlich und nur zum Schein die für ein gerichtliches Verfahren geltenden Vorschriften beachtet werden und dessen Ergebnisse für den Richterspruch ohne Bedeutung sind. Entsprechendes gilt für ein Urteil, wenn es nicht allein auf den Ergebnissen eines Verfahrens, das sich ernsthaft um die Klärung der Schuldfrage bemüht hat beruht" (Hervorhebung durch Verf.). Materielle oder formelle Rechtsverstöße werden als Maßstab für das Tatbestandsmerkmal "Recht beugen" nicht mehr zugrundegelegt. Gleiches gilt für das rechtliche Verfahren gegen einen ehemaligen SS-Obersturmbannführer, der sich des Vorwurfs des Mordes und der Rechtsbeugung ausgesetzt sah, da er gegen zwei der Fahnenflucht verdächtige Soldaten unter bewusster, den angeklagten Soldaten nachteiliger Verletzung der Verfahrensvorschriften ein Standgerichtsverfahren durchführte. In dem BGH-Urteil vom 29.11.1957, abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XVIII., S. 279, wurde die Möglichkeit eines strafbaren Scheinverfahrens angesprochen. Im später rechtskräftigen Urteil des LG Ellwangen vom 5.5.1961, abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XVIII, S. 270, 273, 274, heißt es: es sei zu prüfen, ob sich die Angeklagten einer Rechtsbeugung dadurch schuldig gemacht haben, dass sie "in einem Scheinverfahren, das nicht dazu ausgeübt wurde, das Für und Wider in der Beweis- und Schuldfrage abzuwägen, sondern in bewußter Benützung der äußeren Formen eines Gerichtsverfahrens nur noch der Erreichung eines von vorneherein bestimmten Zieles, nämlich die beiden Soldaten zu Tode zu bringen, diente" (Hervorhebung durch Verf.). Es wird festgestellt, dass ein "Richter, der von Anfang an entschlossen ist, nur in einer bestimmten von vorneherein festgelegten Richtung zu votieren und zu erkennen, also

B. Der Rechtsbeugungstatbestand und seine Sperrwirkung

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Dieses Problem wird mit Blick auf die vom Bundesgerichtshof zugrundegelegte Scheinverfahrensdefinition233 noch verschärft. Denn der BGH setzt, anders als in diesem zuletzt untersuchten Urteil, nicht nur ,,reine Willkür,,234 für ein Scheinverfahren voraus. Mit BGHSt 2, 172 wurde der Begriff des Scheinverfahren merklich ausgeweitet, wenn es heißt, dass "ein Scheinverfahren auch dann vorliegen könne, wenn keinerlei Verstöße gegen die damals geltenden Rechtsvorschriften festzustellen seien, die geltenden Rechtsvorschriften aber nur zum Schein und nicht mit dem Wunsche und dem Willen einer ernsthaften Klärung der Schuldfrage beachtet worden wären,m5. Damit verwischt man den Begriff zu weit ins Subjektive und kommt in das Dilemma, beim Täter neben der objektiven Rechtsbeugung auch den Nachweis des Wunsches und des Willens des Scheinverfahrens erbringen zu müssen236 . Ein Scheinverfahren nachzuweisen, welches keinicht bereit ist, nur in Gebundenheit an das Gesetz eine Entscheidung zu fällen, ein Scheinverfahren selbst dann durchführt, wenn er bestrebt ist, die äußeren Veifahrensnormen zu wahren" (Hervorhebung durch Verf.). Auch hier wird das Scheinverfahren als eine Rechtsbeugungsvariante, bei der sogar ausdrücklich keinerlei Rechtsverstöße zugrundegelegt werden sollen, sondern allein die quasi rechtsfeindliche Gesinnung des Richters als Kriterium für eine Rechtsbeugung maßgeblich sein soll, deklariert. Es wird eine Tatbestandvariante geschaffen, welche das Gesetz in der Regelung des § 336 a. F. StGB gar nicht vorgesehen hat. 233 Vgl. unter Teil I., A., 4 b). 234 BGH, in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. X., S. 235. 235 BGHSt 2, 176. Hervorhebung durch den zitierenden Verf. 236 Beispielhaft in dem vorher zitierten Urteil des LG Ellwangen vom 5.5.1961, vgl. Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XVIII., S. 274, muss im Hinblick auf die dort gebrauchte Scheinverfahrensdefinition das Gericht für den vorliegenden Fall die praktische Unmöglichkeit des Nachweises der Rechtsbeugung bei Zugrundelegung seiner allein auf die rechtsfeindliche Willensrichtung des Richtenden ausgerichteten Scheinverfahrensdefinition zugestehen. Dies zeigt sich vor allem bei der Frage, ob der Richter entschlossen war, in eine vorher bestimmte Richtung zuungunsten des Angeklagten zu votieren: "Allgemein muß vorausgeschickt werden, daß Prüfung und Beurteilung der Schuldfrage in dieser Richtung besonderer Vorsicht bedurfte (... ) Ein Sachverhalt kann auf Grund der Ermittlungen so eindeutig sein, daß auch schon vor der Hauptverhandlung über die Schuldfrage eine Debatte eigentlich nicht mehr möglich ist. Selbst der Strafausspruch kann in derartigen Fällen mindestens in einem gewissen Rahmen erwartbar sein. Von Rechtsbeugung zu reden, wenn der Richter ein Ergebnis voraussieht wäre absurd. (... ) Der Nachweis, daß ein Richter mit vorgefaßter Meinung in eine Hauptverhandlung gegangen ist, wird um so schwieriger sein, je mehr der Tathergang selbst mit dem gesprochenem Urteil in Einklang zu bringen ist". Genauso lag nach Ansicht des Gerichts der Fall hier, so dass die Angeklagten freizusprechen waren. Mit der Folge, dass das Gericht nur feststellen kann, dass "ein Verdacht haften" bleibt, dass der Angeklagte nämlich "befehlsmäßig ohne Rücksicht auf das Verfahrensergebnis nur in einer gewissen Rechtsverbrämung die Soldaten zu Tode bringen wollte" und der andere Angeklagte "als Richter geschwiegen hat, obwohl er eine mildere Strafe für gerecht gehalten hat". 5*

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Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

nerlei Rechtsverstöße voraussetzt, ist tatsächlich aber nahezu unmöglich. Zusätzlich wird eine Tatbestandsvariante der Rechtsbeugung konstruiert, die gesetzlich gar nicht definiert ist. Dies ist rechtlich bedenklich und nicht geboten. bb) BGHSt 2, 173

Die folgerichtigen Auswirkungen von einer solchen Interpretation des Scheinverfahrens, des § 336 a. F. StGB· und seiner Sperrwirkung ziehen sich wie ein roter Faden durch die· Praxis. Insbesondere der HuppenkothenFall bestätigt die vorstehende Analyse nahezu ins Detail: In BGHSt 2, 173 wurde das rechtlich zu beurteilende Standgerichtsverfahren unter Zugrundelegung einer höchst subjektiven Formel als Scheinverfahren definiert237 , ohne zugleich die notwendigen Folgerungen der Nichtigkeit des aus dem Standgerichtsverfahren resultierenden Urteils und die damit verknüpfte Frage der Anwendung des § 336 a.F. StGB und seiner Sperrwirkung zu ziehen. Dennoch wurde zuvor von einem Gerichtsverfahren gesprochen, welches "weder der Sache noch dem Namen nach,,238 eines war. Das Scheinverfahren stand auch hier somit rechtlich im luftleeren Raum. Die Konsequenz zeigt sich dann in dem Bundesgerichtshof nachfolgendem Urteil des Schwurgerichs München vom 5.11.1952, wenn es dort heißt, die "Todesurteile" hätten der damaligen Rechts- und Beweislage entsprochen und die Tatbeteiligten hätten den etwaigen "Scheincharakter der Verfahren" nicht erkannt. 239 Anstatt die für die Sperrwirkung entscheidende Frage von rechtswidrigen oder nichtigen Urteil anzusprechen, wird das Scheinverfahren zu einem selbständigen Konstrukt als selbständige Tatbestandsvariante der Rechtsbeugung. Denn ansonsten hätte das Tatgericht nach Feststellung keinerlei materieller wie formeller Rechtsverstöße den Hinweis auf das etwaige Scheinverfahren unterlassen müssen. Da der Bundesgerichtshof aber ein Scheinverfahren ohne irgendwelche Rechtsverstöße theoretisiert hatte, war das Schwurgericht insofern konsequent. Des weiteren zeigt das schwurgerichtliche Ergebnis, wonach die Angeklagten den "Scheincharakter des Verfahrens" nicht erkannt haben sollen, das plötzlich auftretende Problem des Nachweises eines Tatbestandmerkmals, welches gesetzlich nicht vorhanden ist. Vgl. Teil 1., B., 11., 4., b). BGH 2, 175. 239 Vgl. Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIII., S. 339. 237 238

B. Der Rechtsbeugungstatbestand und seine Sperrwirkung

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Es verwundert dann auch nicht mehr, wenn im zweiten BGH-Urteil zum Huppenkothen-Fall vom 30.11.1954240 zum Scheinverfahren angemerkt wird, dass der Täter einer Rechtsbeugung schuldig geworden wäre, wenn er bewusst "Scheinverfahren gegen die Widerstandskämpfer durchgeführt hätte,,241. - Da in dieser Entscheidung der Begriff des Scheinverfahrens nicht erläutert wird, es kein Wort zur Nichtigkeitsfrage gibt, der Begriff des Scheinverfahrens und zugleich die Anwendung des § 336 a. F. StGB - ohne zu problematisieren - nebeneinander gestellt werden242 , bestätigt sich die hier vertretende These, wonach für den Bundesgerichtshof das Scheinverfahren lediglich ein zur Rechtswidrigkeit des Urteils führendes Verfahren ist. Und schon fast zwangsläufig erklärt das mit dieser Sache neu befasste Schwurgericht Augsburg im dritten tatrichterlichen Urteil vom 15.10.1955 zunächst, die Standgerichte gegen Canaris u. a. wurden "einzig zu dem Zwecke" durchgeführt, "unbequem gewordene Häftlinge unter dem Schein eines gerichtlichen Verfahrens beseitigen zu können,,243. An späterer Stelle244 heißt es dann jedoch, der Ausspruch und die Ausführung der Tötung seien rechtswidrig. Auch hier wird ein Scheinverfahren bejaht und zugleich die Nichtigkeit verneint, also lediglich die Rechtswidrigkeit des Todesurteils angenommen. 245 Diese Analyse zeigt die in der Praxis auftauchenden Probleme mit dem zu subjektiv eingefärbten BGH-Begriff vom Scheinverfahren. Er wird damit zu einer nicht gebotenen Umschreibung einer Tatbestandsvariante der Rechtsbeugung und konterkariert zugleich die Grenzziehung von Nichtigkeit und Rechtswidrigkeit eines Urteilsspruchs, der für die Anwendung der Sperrwirkung maßgeblich ist.

240 BGH vom 30.11.1954, abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIII., S. 336 ff. 241 Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIII., S. 343. 242· Die mangelnde Deutlichkeit des Begriffes Scheinverfahren moniert Günter Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, S. 105. 243 Schwurgericht Augsburg vom 15.10.1955, in: Adelheid L. Rüter-Ehlermannl Christaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIII., S. 316. 244 Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIII., S. 317, 320. Hervorhebung durch den zitierenden Verf. 245 Kritisch i. d. S. auch Günter Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, S. 106, wenn es dort heißt: "Es (das Schwurgericht) ist aber über den Charakter dieser Prozedur und ihrer Ergebnisse eben sowenig zu einer klaren und exakten Aussage gekommen" (Hinweis vom Verf.).

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Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

ce) Denunziantenprozesse

Es stellt sich in diesem Zusammenhang eine weitere entscheidende Frage: Der BGH hat bei der Einstufungen der Standgerichtsverfahren regelmäßig nur deren Rechtswidrigkeit angenommen. Dies obwohl das von dem Bundesgerichtshof bei der Beurteilung der Verfahren bemühte Vokabular auf die Nichtikeit der Standgerichtsverfahren hindeutete. Es drängt sich insoweit der Verdacht auf, dass der BGH um jeden Preis die Frage und die Feststellung der Nichtigkeit vermeiden wollte. Dies hätte zur Folge, dass an dem Diktum der Rechtswidrigkeit festgehalten werden kann, einerlei, ob zuvor ein Scheinverfahren und damit gröbste Rechtsverstöße festgestellt worden sind. Dieser Verdacht erhärtet sich mit Blick auf Beispiele der sog. Denunziantenprozesse: In BGHSt 9, 302 ging es um eine "Denunziantin", die sich gegenüber dem katholischen Priester Metzger anbot, eine von ihm verfasste gegen den Nationalsozialismus gerichtete Denkschrift an den schwedischen Erzbischof zu überbringen. Nach Übergabe dieser Schrift informierte sie die Gestapo. Anschließend verurteilte der Volksgerichtshof den Pfarrer nach dem damals gültigen § 91 b StGB wegen Feindbegünstigung zum Tode; die Hinrichtung wurde vollzogen. In BGHSt 9, 302, 307 wird festgestellt, dass das Urteil gegen Pfarrer Metzger "einen Mißbrauch des Strafrechts" darstelle, der "mit Rechtsprechung nichts zu tun habe", nur eine "Ausnutzug gerichtlicher Formen zur widerrechtlichen Tötung sei". Danach stellt sich nicht nur die Rechtsbeugungs-, sondern die Nichtigkeitsfrage246, wenn der BGH ausführt, "irgendwelche rechtlichen Erwägungen weist das Todesurteil nicht auf,?47 Aber auch hier wird die maßgebliche Steigerung von Rechtswidrigkeit zur Nichtigkeit einer Entscheidung nicht erörtert. 248 Auch in einem weiteren Denunziantenprozess, BGHSt 3, 110, 120, wird erklärt, dass die Verhängung der Todesstrafe "keine Rechtsanwendung mehr, sondern Willkür" sei. Wenn aber Recht nicht mehr Grundlage der Urteilsfindung ist, dann kann der Urteilspruch keine Rechtswirkung entfalten; es liegt dann eine nichtige Entscheidung oder sogar ein Nichturteil vor. Der BGH schließt allerdings im nächsten Satz an, dass "die Verhängung der Todesstrafe ... als rechtswidrig angesehen werden,,249 muss. Auch hier konstruiert der Bundesgerichtshof rechtlich schwer Mögliches, indem er bei 246

247

248 249

Vgl. auch Frank Scholderer, S. 359. BGHSt 9,308. Vgl. auch Frank Scholderer, S. 382, FN. 1619. BGHSt 3, 120.

B. Der Rechtsbeugungstatbestand und seine Sperrwirkung

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dem in Rede stehenden Urteil Gesetzesverstöße ausmacht und zugleich erklärt, das Recht sei gar nicht angewandt worden. Mit Blick auf die Denunziantenfalle lässt sich sagen: Der Bundesgerichtshof macht schwerste Rechtsverstöße bei Verfahren aus, nennt diese richtigerweise Willkürmaßnahmen, die jeglicher Form eines Gerichtsverfahrens entbehren, und deklariert die Urteilssprüche zugleich aber als lediglich rechtswidrig. Folgerichtig wurde in keinem BGH-Urteil weder in einem Denunziantenprozess noch in einem Prozess, der die Strafbarkeit eines Richters betraf, ein Urteils spruch als nichtig eingestuft, gleichgültig, ob zugleich das zu beurteilende Verfahren als Scheinfahren gegeißelt wurde. d) Kritische Deutung zu der vom BGH definierten Reichweite der Sperrwirkung Der BGH hatte über in der NS-Zeit ergangene richterliche Entscheidungen zu urteilen, in denen die schützende Form und der Inhalt des formellen und materiellen Rechts vollends ignoriert und das "Verfahren" zum Zwecke der Beseitigung des Opfers instrumentalisiert wurde. Dies gilt insbesondere für gewisse Standgerichtsfalle zum Ende des Krieges. Für diese Verfahren, exemplarisch der Zellinger-Standgerichts- und auch Huppenkothen-Fall, hat das Schrifttum, besonders Spendet25o, den durch die Schwere der Rechtsverstöße begründeten und in dieser Hinsicht detaillierten Nachweis der Nichtigkeit (zum Teil auch des Nichturteils) und damit des Scheinverfahrens geliefert. Die rechtliche Würdigung dieser "Prozesse" durch den BGH weist nach Wortwahl und Semantik ebenfalls in die gleiche Richtung. Da heißt es beispielsweise, die Verhandlung sei "weder dem Namen noch der Sache nach" ein "gerichtliches" Verfahren gewesen; "Todesurteile" wären "in Urteilsform gekleidete willkürliche Machtaussprüche, die dem Wunsche oder dem Befehl eines Auftraggebers nachkamen".251 Des weiteren wurden diese Verfahren regelmäßig als "willkürliche Scheinverfahren" tituliert. Zudem führte der Bundesgerichtshof252 in diesem Zusammenhang aus, dass wegen der "Fülle der verfahrens- und sachlichrechtlichen" Verstöße das Urteil "rechtunwirksam" sei. Nach alledem konnte man nur zum Schluss gelangen, auch der Bundesgerichtshof stufe diese Verfahren richtigerweise als nichtige ein. Die zwingend explizite Feststellung der Nichtigkeit erfolgte 250 Vgl. nur Günter Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, S. 89 ff.; Günter Spendel, in: JuS 1988, S. 856 ff. 251 BGHSt 2, 175, 176; BGH vom 9.6.1953, abgedruckt in: Adelheid L. RüterEhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. X., S. 235. 252 BGH vom 9.6.1953, in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. Rüterl Fritz Bauer (Hrsg.), Bd. X., S. 235.

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Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

jedoch in keinem einzigen Fall. Im Gegenteil: Paradigmatisch erfolgte in der zuvor genannten BGH-Entscheidung die Feststellung, das Urteil sei offensichtlich "rechtswidrig". 253 Dies zeigt zunächst einen rechtlich nicht aufzulösenden Bewertungswiderspruch dieser Verfahren. Denn der Bundesgerichtshof bescheinigt den Verfahren allesamt Wertungen, die einer Nichtigkeit genügen, zieht aber nicht die zwingende Konsequenz; anstatt einer expliziten Nichtigkeit wird eine Rechtswidrigkeit konstatiert. Im Ergebnis ist für den BGH danach ein Scheinverfahren entgegen dem hier durch das Schrifttum vertretenden und dem sich aus der Umschreibung des Bundesgerichtshofs zwingend ergebenden Verständnis dieses Begriffes kein nichtiges, sondern lediglich ein rechtswidriges Verfahren bzw. Urteil. Mit dieser Scheinbegriffsdefinition schuf der BGH zudem eine Rechtsbeugungstatbestandsvariante, die schwerlich mit dem Gesetzeswortlaut der Norm harmoniert und wegen ihrer Unbestimmtheit zu Rechtsunsicherheit führt. Dies deutet zwar vordergründig in die Richtung eines nur unklaren und falschen Verständnisses der Systematik hinsichtlich der Rechtsbeugung und der Stellung der Sperrwirkung, aber bei genauer Betrachtung wird evident: Entscheidendes Resümee hinsichtlich der maßgeblichen Unterscheidung von rechtsbeugendem und nichtigen Urteilen für die Gewährung der Sperrwirkung durch die Rechtsprechung ist, dass der BGH in keiner Entscheidung diese Unterscheidung getroffen hat. Nach der hier vorliegenden Analyse ging der Bundesgerichtshof vielmehr stets von nur rechtswidrigen Urteilen aus, obwohl er damit sich selbst im Widerspruch zu seiner rechtlichen Würdigung der jeweiligen Verfahren begab. Wegen der Krassheit und der in den Denunziantenfällen sich wiederfindenden Wiederholung dieses Widerspruchs drängt sich der Eindruck einer bewussten Methodik dieser Widersprüchlichkeit auf. Dies gilt um so mehr, wenn man sich die rechtlichen Konsequenzen vor Augen führt. Denn dadurch, dass die Rechtsprechung hartnäckig die Unwirksamkeit der Urteile, speziell in den Standgerichtsfällen, leugnete, und lediglich eine Rechtswidrigkeit der Verfahren feststellte, kam die Sperrwirkung des § 336 a. F. StGB gegenüber konkurrierenden Delikten weiterhin zur Geltung 254 : Anstatt richtigerweise diese sich als "mit der Richterrobe getarnte Handlanger eines verbrecherischen Regimes darstellenden,,255 Richter in jenen als nichtig einzustufenden Fällen direkt nach den Normen des allgemeinen 253 BGH vom 9.6.1953, in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. Rüter! Fritz Bauer (Hrsg.), Bd. X., S. 236. 254 Dieses Unterlassen kritisiert auch: Günter FrankenberglFranz J. Müller, Juristische Vergangenheitsbewältigung - Der Volksgerichtshof vor dem BGH, in: KJ 1983, S. 156. 255 Vgl.: LK-Spendel, § 336, Rz. 131; Hans-Joachim Behrendt, S. 950.

B. Der Rechtsbeugungstatbestand und seine Sperrwirkung

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Strafrechts, also bspw. §§ 212, 211 StGB oder § 222 StGB, zu verurteilen, galt auch hier die durch die Rechtsprechung "bis hin zur subjektiv orientierten Grenze absoluter Bösgläubigkeit,,256 ausgedehnte strafrechtliche Sperrwirkung, d. h. nur der Nachweis einer mit direktem Vorsatz begangenen Rechtsbeugung eröffnete zugleich die Strafbarkeit des allgemeinen Strafrechts 257 . Die Strafbarkeitsschwelle gerade für die "weder dem Namen noch der Sache nach,,258 ein gerichtliches Verfahren leitenden Richter blieb unzulässigerweise erhöht. Indem der Bundesgerichtshot259 von "Scheinverfahren", Rechtsverfahren, die mit "Rechtsprechung nichts mehr zu tun haben" etc. sprach und trotzdem die Existenz eines wirksamen Todesurteils als Rechtsprechungsakt bejahte, gelang dem BGH die "moralische Verurteilung der Terrotjustiz bei gleichzeitiger strafrechtlichen Entlastung ihrer Mitglieder".26o Indem die Rechtsprechung die Gültigkeit der damaligen Rechtsprechungsakte unterstellte, konnte eine rechtspolitisch durchaus heikle Frage unbeantwortet bleiben. Denn der Umstand, dass die zu beurteilenden Rechtsprechungsakte in die Zeit einer politischen Extremsituation, eines totalitären Unrechtsstaates fielen, führt zur Grundsat;frage von der Wirksamkeit solcher Urteile. Diese Überlegung findet sich beispielsweise, wenn auch erst sehr spät, in dem vom Bundestag vorgenommenen Beschluss261 , die Urteile des Volksgerichtshof in toto, also ohne Ansehung des Einzelfalls, als nichtig zu erklären, weil sie Willkürakte darstellten, die mit richterlicher oder richterähnlicher Tätigkeit nichts mehr gemein hatten. Diese Wertung ist politisch richtig, strafrechtlich ist sie es indes natürlich nur bedingt?62 Denn ob die Urteile des Volksgerichtshofes oder anderer zur NS-Zeit ausgesprochenen Urteile die Qualität von Gerichtsentscheidungen haben, muss letztlich fallbezogen entschieden werden. Aber der BGH hätte sich mit Blick auf höchstrichterliche Urteile diese für die Anwendung der Sperrwirkung entscheidende Grundsatzfrage stellen müssen, um dann im Einzelfall zu entscheiden. Das Nürnberger Juristenurteil hatte von "fortschreitender Entartung des Rechtssystems unter der Naziherrschaft", von "Nazifizierung des Rechtssystems" und von Verfahren "bar 256 257 258 259 260 261 262

Vgl. Helmut Begemann, in: NJW 1968, 1361 ff. Vgl. dazu bereits Teil!., B., 11., 2. BGHSt 2, 175. Vgl. nur BGHSt 9,307. So Günter Frankenberg/Franz J. Müller, S. 156. Vgl. BTDrs. 10/8761. Vgl. auch Hans-Joachim Behrendt, S. 950.

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Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

jeder Grundbestandteile der Rechtlichkeit,,263 gesprochen. In den Denunziantenprozessen war laut BGH264 unter anderem von Urteilen die Rede, welche "offensichtlich nicht mehr der Rechtsverwirklichung, sondern bewußt dem politischen Terror dienten". Die Judikatur des Volksgerichtshofes hatte laut Bundesgerichtshot265 "mit Rechtsprechung nichts zu tun". Endlich hatte das Bundesverfassungsgericht266 die damalige Justiz als "Terrorrechtsprechung" und "Unrechts-Rechtsprechung" gebrandmarkt. Trotz dieser eindeutigen auch durch den BGH selbst ausgesprochenen Verdikte, welche die Frage nach Funktion und Absicht einer solchen Rechtsprechung aufwerfen, stellte der Bundesgerichtshof bei der Aufarbeitung der NSRechtsprechung vorab nicht die Grundsatzfrage der Nichtigkeit für die in Rede stehenden Urteile. Letztlich hatte der Bundesgerichtshof, indem er stets die Nichtigkeitsfrage verneinte, es im Grundsatz vermieden, die damalige Institution des "Gerichts" als ein bloßes Nicht-Gericht in Frage zu stellen. Dies wohl auch insbesondere deswegen, weil der direkte Tötungsvorwurf als Folge unwirksamer Urteile ihm nicht mit der Institution Gericht vereinbar erschien. 267

c. "Recht" im Sinne des Rechtsbeugungstatbestandes Tatgegenstand des § 336 a.F. bzw. § 339 StGB 268 ist das "Recht". Dass hierunter das formelle wie materielle Gesetzesrecht, das Gewohnheitsrecht, die allgemeinen Regeln des Völkerrechts 269 zu verstehen sind, war und ist unbestritten. In der Nachkriegszeit trat allerdings im Hinblick auf den Tatgegenstand des § 336 a. F. StGB eine zentrale Frage in den Vordergrund, und zwar, ob jenseits dieses gesicherten Bereichs auch ein übergesetzliches Recht270, nämlich Naturrecht, unter den Normbereich des § 336 a. F. fallen konnte und musste. 271 Dabei musste man als Naturrechtsinhalt insbesondere Vgl. dazu Joerg Friedrich, S. 24, 34, 48. Bspw. BOHSt 3, 120. 265 BOHSt 9, 307. 266 BVerfO 6, 183. 267 Dies im Hinblick auf BOHSt 2, 173 vennutet Frank Scholderer, S. 382. 268 Auch hier gilt: Soweit nicht ausdrücklich darauf hingewiesen wird, gelten die folgenden Ausführungen in bezug auf § 339 StOB entsprechend; wegen des historischen Kontextes wird in der Darstellung ansonsten nur auf den damals geltenden § 336 a. F. StOB zurückgegriffen. 269 Vgl. Art. 25 00. 270 Als weitere termini geläufig: überpositive, vorstaatliche Rechtsgrundsätze oder ungeschriebene Rechtsgrundsätze. Vgl. zur deren Unterscheidung Arthur Kaufmann, Die Radbruch'sche Fonnel vom gesetzlichen Unrecht und vom übergesetzlichen Recht in der Diskussion um das Recht im Namen der DDR, in: NJW 1995, s. 81 ff. 263

264

C. "Recht" im Sinne des Rechtsbeugungstatbestandes

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die Menschenrechte verstehen?72 Erkennt man die Existenz des Naturrechts an, so folgt daraus, dass auch dieses Gegenstand der Rechtsbeugung sein kann. Steht dieses im Widerspruch zu einer Norm des geschriebenen Rechts, was für die NS-Gesetze relevant sein konnte, so ist die Anwendung dieses "gesetzlichen Unrechts" objektiv eine Rechtsbeugung. 273 Vorausgeschickt sei, dass die herrschende Meinung des Schrifttums als beugungsfähiges "Recht" des § 336 a. F. StGB nicht nur das positive Gesetzesrecht, sondern auch das übergesetzliche Recht ansah. 274 Die Aktualität dieses Problemkreises war die Folge einer historischen Konstellation: Speziell die Alliierten in Nürnberg konnten sich (noch) nach dem Untergang des Nazi-Regimes im Jahre 1945 auf das internationale Völkerstrafrecht als externes "übergesetzliches" Recht berufen, welches als gemeinsam akzeptierter rechtlicher Maßstab zur Aburteilung der Täter diente. Die deutsche Justiz hingegen, selbst mehr als unheilvoll in die "braune" Vergangenheit verstrickt, suchte diesbezüglich ihr Heil (zunächst) zum Tei1 275 in einem Rekurs auf naturrechtliche Gedankengänge. Dass die Naturrechtslehre in der Nachkriegszeit eine Renaissance erlebte, hatte wohl auf mehrerlei Gründe: Durch die direkte Gegenüberstellung des Naturrechts mit dem nationalsozialistischen Gesetzesunrecht eröffnete sich neben der Möglichkeit, über einen Maßstab zu verfügen, nationalsozialistisches Unrecht klar als solches zu kennzeichnen und zu diskreditieren, die gesellschaftspolitische Chance, sich von der Vergangenheit zu distanzieren und schnellmöglichst der Weltöffentlichkeit zu zeigen: Deutschland hat sich nur kurzfristig von den abendländischen Werten, vor allem den Menschenrechten verabschiedet. 276 Die Attraktivität der Wiederbelebung des Naturrechts zur Nachkriegszeit bestand also darin, zugleich moralisch-ethisch als auch sittlich Widerstand gegen das vergangene nationalsozialistische Unrecht zu artikulieren und zu begründen. Kriminalpolitisch ging es um die praktische Frage, richterliche Handlungen, die nach der damaligen nationalsozialistischen Gesetzeslage rechtens waren, nachträglich sanktionieren zu können. Hierfür war es erforderlich, Zur str. Frage des Richterrechts, vgl. Frank Scholderer, S. 508. Vgl. aber zum Problem der dauerhaften Bestimmung von Naturrechtsinhalten Teil I., c., V., 2. 273 LK-Spendel, § 336, Rz. 49 ff. 274 Vgl. nur: LK-Spendel, § 336 Rz. 49; Hans-Ludwig Schreiber, Probleme der Rechtsbeugung, in: GA 1972, S. 200; Günter Bemmann, Der Richter und das übergesetzliche Recht, in: Festschrift für Günter Spendel, Berlin 1992, S. 474. 275 Vgl. nur: AG Wiesbaden, SJZ 1946, Sp. 105; AG Wuppertal, DRZ 1947, S. 343; OLG Bamberg, DRZ 1950, S. 302; OLG Frankfurt, SJZ 1947, Sp. 627; AG Mindelheim, DRZ 1949, S. 187. 276 So Frank Scholderer, S. 440. 271

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die rechtliche Geltung der nationalistischen Eingriffstatbestände nicht nur zu beseitigen, sondern deren Nichtigkeit aufgrund eines Verstoßes gegen das Naturrecht mit ex-tunc- Wirkung festzustellen?77 Mit dem Rückgriff auf das Naturrecht sollte eine kriminalpolitische Antwort gegeben werden, die es möglich machen sollte, Unrecht eines überwundenen Systems zu sühnen. I. Radbruch'sche Formel 1. Normativ-geltungstheoretischer Ansatz

Entscheidenden Einfluss auf die Auseinandersetzung mit dem Rechtssystem des Nationalsozialismus im allgemeinen und für die Naturrechtsfrage und damit für den Tatgegenstand des § 336 a. F. StGB im besonderen hatte der Aufsatz Radbruchs aus dem Jahre 1946. 278 Dieser beinhaltete die sog. Unerträglichkeitsthese, zumeist als "Radbruch'sche Formel" apostrophiert; die vielzitierte Stelle lautet279 : "Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ,unrichtiges Recht' der Gerechtigkeit zu weichen hat. (... ) Wo Gerechtigkeit noch nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur "unrichtiges Recht', vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur" .

Damit trifft Radbruch also eine normativ-geltungstheoretische Aussage über den Begriff des Rechts. Im Konflikt zwischen dem formalen Kriterium der Rechtssicherheit und dem materialen Kriterium der Gerechtigkeit versagt Radbruch denjenigen Gesetzen eine Rechtsgeltung, welche ein gewisses Minimum an Gerechtigkeit nicht aufweisen. Solche Gesetze, welche dann nicht nur "ungerecht" und "unzweckmäßig" sind, sollten, weil sie jeglicher "Rechtsnatur" entbehren, als rechtlich ungültiges Recht eingestuft und behandelt werden. Mit dieser Rechtsbetrachtung indiziert Radbruch des Weiteren die Möglichkeit zeitloser Rechtsinhalte jenseits der Geltung staatlicher Rechtsnormen, letztlich Naturrecht. Die Wurzel des Naturrechts sieht Radbruch in der Jahrtausende alten gemeinsamen Weisheit der Antike, des christlichen Mittelalters und des Zeitalters der Aufklärung, und so stellt er unmittelbar seiner These - aus dem Evangelium zitierend - voran: 277

278

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Vgl. Frank Scholderer, S. 440. Gustav Radbruch, in: SJZ 1946, S. 105-108. Gustav Radbruch, in: SJZ 1946, S. 107.

C. "Recht" im Sinne des Rechtsbeugungstatbestandes

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"Seid untertan der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat", und doch andererseits gebietet, "Gott mehr zu gehorchen als den Menschen,,?80

Die Radbruch'sche Formel gab somit insbesondere Antworten auf die Naturrechtsfrage und den Tatgegenstand des § 336 a.F. StGB: Dabei bleibt zusammenfassend festzustellen, dass Radbruch die Frage positiv beantwortete, ob ein Gesetz aufgrund seines Inhalts von vorneherein Unrecht sein kann. Das sich anschließende Problem, wann exakt dieses geschriebene Unrecht unbeachtlich ist, weil es inhaltlich den Mindestanforderungen an eine rechtliche Regelung nicht genügt, löste er mittels seiner Unerträglichkeitsthese. Als Richtschnur für eine Beurteilung soll in der Regel dem positiven Gesetz der Vorzug zu geben sein, "es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ,unrichtiges Gesetz' der Gerechtigkeit zu weichen hat,,281. 2. Wehrlosigkeitsthese

Dieser geltungstheoretischen Auffassung hat Radbruch zur Begründunghilfe eine weitere These vorangestellt. Mittels eines rechtssoziologischen bzw. rechtshistorischen Ansatzes formulierte er eine kausalanalytische Erklärung für das Versagen der deutschen Justiz im Dritten Reich282 : "Der Positivismus hat in der Tat mit seiner Überzeugung ,Gesetz ist Gesetz' den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts (... ) Dabei ist der Positivismus gar nicht in der Lage, aus eigener Kraft die Geltung von Gesetzen zu begründen. Er glaubt die Geltung von Gesetzen schon damit bewiesen zu haben, daß es die Macht besessen hat, sich durchzusetzen".

Diese Schuldzuschreibung des Positivismus lohnt genauerer Betrachtung. Denn jene gemeinhin als "Wehrlosigkeitsthese " apostrophierte Passage des Radbruch-Aufsatzes ist zum einen entscheidend für die im folgenden zu beleuchtenden strafrechtlichen und kriminalrechtlichen Gesichtspunkte des übergesetzlichen Rechts im Zusammenhang mit dem Rechtsbeugungstatbestand. Zum anderen folgten und folgen immer noch große Teile des Schrifttums dieser These Radbruchs und begründen damit oft die Notwendigkeit der Einbeziehung des übergesetzlichen Rechts in den Tatgegenstand des § 336 a. F. StGB. Kriele meint beispielsweise: "So hat der Rechtspositivismus die Zerstörung der Weimarer Republik theoretisch rechtfertigen und vorbereiten können,,283. Spendel gibt an, dass "die Erkennbarkeit ,gesetzlichen Un280 281 282

Gustav Radbruch, in: SJZ 1946, S. 107. Gustav Radbruch, in: SJZ 1946, S. 107. Hervorhebung durch den Verf. Gustav Radbruch, in: SJZ 1946, S. 107.

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rechts' ... zur Revision einer Rechtsphilosophie" nötige, "deren Werterelativismus den juristischen Positivismus begünstigen mußte, also jene Lehre, ... die aber die Juristen gegen ungerechte, ja verbrecherische Gesetze geistig hilflos gemacht hat,,284. Kaufmann führt in seiner "Theorie der Gerechtigkeit" aus: "Wie sich dieser sittliche Verfall des Positivismus dann ausgewirkt hat, ist bekannt. Im Nationalsozialismus hat man wirklich ,niederträchtige', ,unsittliche', ,verbrecherische' Gesetze gemacht, und dagegen gab es von einer positivistischen geschulten Juristengeneration keinen irgendwie nennenswerten Widerstand,,285. Der Radbruch'sche Ansatz, der Rechtspositivismus habe den Juristenstand in der Übergangsphase der Weimarer Republik zum Nazi-Staat und in dessen Zeit wehrlos gemacht, führt zu der Frage, ob in dieser Zeit in Wissenschaft und Praxis der Positivismus vorherrschend war. a) Stellenwert des Rechtspositivismus in der Weimarer Justiz Entscheidend für diese Ausgangsfrage ist die Einstellung der Richter zu Gesetz und Gesetzgebung der damaligen Zeit. Mit dem Demokratisierungsprozess des Gesetzgebers in der Weimarer Zeit war eine stetige Distanzierung der Richterschaft von der positivistischen Forderung des zwingenden Gehorsams an das Gesetz verbunden. 286 Als "Monarchist aus innerer Notwendigkeit,,287 fühlte sich der Weimarer Richter aufgrund seiner aus dem Kaiserreich überkommenen autoritär konservativen Einstellung, die nicht zuletzt auf seiner sozialen Herkunft beruhte, der obrigkeitsstaatlich strukturierten Monarchie der wilhelminischen Zeit politisch näher als der neuen Republik. 288 Allerdings machten nur ,,0,15 %" der Richterschaft von der durch die sozialdemokratischen Regierung offerierten Möglichkeit Gebrauch, "unter Wahrung ihrer materiellen Rechte,,289 aus ihrem Dienst auszuscheiden, so dass die überwältigende Martin Kriele, Recht und praktische Vernunft, Göttingen 1979, S. 126. Günter Spendet, Jurist in einer Zeitenwende, S. 28 ff.; vgl. auch: Günter Spendet, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, S. 5 ff. 285 Arthur Kaufmann, Theorie der Gerechtigkeit, S. 31. 286 Vgl. Friedrich Karl Kübler, Der deutsche Richter und das demokratische Gesetz, in: AcP 162 (1963), S. 112 ff. 287 Ernst Fraenkel, Zur Soziologie der Klassenjustiz und Aufsätze zur Verfassungskrise 1931- 32, Darmstadt 1968, S. 8. 288 Hubert Rottteuthner, Rechtspositivismus und Nationalsozialismus, in: DuR 1987, S. 377; Everhardt Franssen, Positivismus als juristische Strategie, in: JZ 1969, S. 770. 289 So die Prozentzahl bei: Dieter Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, Darmstadt 1975, S. 49. 283

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"Recht" im Sinne des Rechtsbeugungstatbestandes

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Mehrheit der Richter trotz ihrer ablehnenden Haltung zur Republik im Amt blieb. In der konsequent antirepublikanischen Grundhaltung begründet, formierte sich innerhalb der Richterschaft Kritik gegenüber dem demokratischen Gesetz und dem demokratischen Gesetzgeber90 : Das Gesetz, dem zuvor als materialisierter und damit als unbedingt zu folgender Machtausspruch des Monarchen streng positivistisch gefolgt wurde, wurde nun kritisiert als ein Ergebnis eines Kompromisses widerstreitender politischer Interessen, als "Partei-, Klassen- und Bastardrecht,,291. Als Folge, dass nicht das als "Recht" angesehen wurde, "was der Gesetzgeber nach seiner subjektiven Meinung ... willkürlich,,292 verordnete, wurden nun die nach positivistischer Auffassung unzertrennlichen Begriffe Recht und Gesetz voneinander isoliert. Recht und Gesetz sollten für den Richter nicht mehr identisch sein; im Zweifelsfall sollte dieser gegen das demokratische Gesetz und zugunsten der ihm obliegenden "Gerechtigkeitsidee" entscheiden. 293 Die kritische Distanz der Justiz gegenüber dem staatlichen Parlament, dem die Verfassung der Weimarer Republik die alleinige Gesetzgebungskompetenz gewährte, offenbarte sich am deutlichsten durch ein stetiges Drängen auf ein "richterliches Prüfungsrecht" . Obwohl in der Weimarer Verfassung keine mit einer derartigen Kompetenz ausgestattete Verfassungsgerichtsbarkeit vorgesehen war, sprach sich das Reichsgericht mit einer damalige Inflationsprobleme betreffenden Entscheidung vom 28.11.1923294 durch selbstgebildetes Richterecht eine solche Kompetenz zu und folgte diesem Drängen. Ebenso wie das ohne gesetzliche Grundlage durch das Reichsgericht angemaßte richterliche Prüfungsrecht muss als weiterer Beleg für die gegenüber dem Gesetzgeber mangelhafte ausgebildete Autorität die Eingabe des Richtervereins beim Reichsgericht vom 8.1.1924295 gelten, in der die Richter mit der Aufkündigung des gesetzlichen Gehorsams wegen eines Gesetzesvorhabens drohten. Die "warnende Stimme" wendete sich gegen die AbAusführliche Nachweise bei Everhardt Franssen, S. 770. So Dr. Leeb, damaliger Vorsitzender des Deutschen Richterbundes, vgl. Johannes Leeb, Recht und Politik, in: DRiZ 1921, S. 130 ff.; allgemein zum Spannungsverhältnis der Monarchie verbundenen Richterschaft und der Republik: Horst Möller, Weimar: die unvollendete Demokratie, 2. Aufl., München 1987, S. 173 ff.; Detlef Peukert, Die Weimarere Republik, Frankfurt am Main 1987, S. 218 ff. 292 So Senatspräsident Reichert anlässlich der parlamentarischen Beratungen zum Entwurf eines Arbeitsgerichtsgesetzes, vgl. Wilhelm Reichert, Rechtswende?, in: JW 1926, S. 2791. 293 Horst Dreier, Die Radbruch'sche Fonnel - Erkenntnis oder Bekenntnis?, in: Festschrift für Robert Walter, Wien 1991, S. 121; vgl. auch Everhardt Franssen, S. 770 ff. 294 RGZ 105, 78. 295 Vgl. JW 1924, S. 90. 290 291

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sicht des Gesetzgebers, die Aufwertung von Hypotheken- und anderen Geldforderungen zu verbieten, da sie nicht im Einklang mit der Entscheidung des Reichsgerichtes vom 28.11.1923 stand. Der offene Verfassungskonflikt blieb jedoch aus: Die Verordnung trat in Kraft, ohne von den Gerichten zu Fall gebracht zu werden?96 Aber auch Entscheidungen des Reichsgerichts im Bereich des Straf- und Zivilrechts bezeugen, dass die positivistische Auffassung der Gesetzesgebundenheit bei insbesondere politischem Bedarf über Bord geworfen wurde. Vor allem zum Schutz der Interessen der in der Mehrzahl republikfeindlicher Großagrarier97 sprach der 2. Strafsenat mit Entscheidung vom 28.4.1932 298 Mitglieder der in Ostpreußen gegründeten "Bauernnotbewegung" vom Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung nach der damaligen Fassung des § 129 StGB mit der Begründung frei, die Angeklagten hätten bei den sich gegen die Zwangsversteigerung landwirtschaftlicher überschuldeter Güter richtenden Protesten, die in Tätlichkeiten gegenüber Vollstreckungsbeamte mündeten, in dem Glauben gehandelt, sich wegen der Bedrohung des Bauernstandes in Ostpreußen in einem übergesetzlichen Notstand zu befinden. Die in diesem Urteil zugrundeliegende Rechtsansicht, entgegen des Positivismus Gesetz und Recht zu trennen, hatte in der Rechtsprechung des Reichsgerichts Tradition. Schon im Jahre 1927 hatte der 3. ZivilsenaP99 dem Staat ein gesetzlich nicht normiertes Notwehrrecht zugestanden, womit dem Gesetzgeber vom Reichsgericht verdeutlicht wurde, "wie nichtig sein Wollen gegenüber der Allmacht der Exekutive ,in Notwehr' und wie überflüssig der so umstrittene Diktaturtitel 48 RV,,3oo sei. Und so hieß es dann auch in einer Analyse der Rechtsprechung des Reichsgerichts aus dem Jahre 1930 bezeichnenderweise: "Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zum übergesetzlichen Notstand bedeutet eine Absage an den starren Gesetzespositivismus ... " und an naturrechtliehe Gedankengänge angelehnt: ... "Er (der Richter, der Verf.) muß seinen Blick aber auch über das geltende Recht (im weitesten Sinne) hinaus auf das natürliche Sittengesetz richten ... ,,301 Vgl. dazu Hubert Rottleuthner, S. 378. Vgl. zu der Agrarkrise: Karl Erich Born, Die deutsche Bankenkrise 1931, München 1979, S. 48-54. 298 Vgl. JW 1932, S. 2810. 299 RGZ 117, 138; der hannoveranische Oberpräsident ließ die Druckerrnaschinen einer Arbeiterzeitung unnutzbar machen, dies war gemäß § 1 des Reichsgesetzes über die Presse nicht statthaft. 300 Fritz Morstein-Marx, Buchbesprechung, in: AöR 55 (1929), S. 143. 301 Michael Wachinger, Der übergesetzliche Notstand nach der neuesten Rechtsprechung des Reichsgerichts, in: Festgabe für Reinhard von Frank, Band I, Tübingen 1930, S. 517, 518. 2%

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Nicht zuletzt durch die reichsgerichtliche Anerkennung des übergesetzlichen Notstandes als eines ungeschriebenen Rechtfertigungsgrundes und des Staatsnotstands zeigten sich die in der politischen Situation begründeten antipositivistische Tendenzen in der Richterschaft. b) Rechtspositivismus innerhalb der Wissenschaft Die Zurückdrängung des Positivismus offenbarte sich nicht nur in der Richterschaft und der Jurisdiktion, sondern auch in der Rechtswissenschaft, dort anschaulich in der Staatrechtslehre. Von der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Anfange der Weimarer Republik stellte der Positivismus noch die dominierende Haltung in der Staatsrechtslehre dar?02 Grundidee dieser Auffassung war die Vorstellung eines omnipotenten Gesetzgebers als obersten Souveräns, dessen Rechtsgebungsakte ohne kausalwissenschaftlichen Bezug, nur am Willen des Gesetzgebers orientiert, politisch neutral unter strenger Ablehnung außergesetzlichen wie natürlichen Rechts 303 ausgelegt werden sollten. Gegenüber diesem insbesondere durch Gerhard Anschütz, Richard Thoma und Hans Kelsen vertretenden staatsrechtlichen Positivismus formierte sich eine Staatsrechtslehre, die sich nicht mit einer entpolitisierten positiven Rechtsordnung ohne zusätzliche Erkenntnisinteressen zufrieden geben wollte. Es ging um die Frage nach höherem Recht, welches der Maßstab der Staatsverfassung zu sein habe. Diese auf naturrechtlichen, insbesondere machtstaatlichen Ideen beruhende Staatsrechtslehre304 bediente sich mit dem Ruf nach höherem Recht korrespondierend eines Staatsbegriffes, wonach der Staat nicht Bestandteil der Gesellschaft, sondern über ihr stehend, eine einheitsstiftende Institution der Sittlichkeit war. Hintergrund dieser Haltung war die politisch-antirepublikanische Einstellung: Um der vermeintlichen Gefahr der Schwächung des Staates durch die Verstrickung in "demokratische", parlamentarische begründete Interessenskonflikte, d. h. einem "Parlamentsabsolutismus,,305 zu entgehen, wurde nach 302 Vgl. Walter Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1958, S.129 ff.; Emst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, Berlin 1981, S. 211 ff.; zum Positivismus im 19. Jahrhundert: Gerhard Dilcher, Der rechtswissenschaftliche Positivismus, in: ARSP 61 (1975), S. 497 ff. 303 So earl Schmitt, Staat, Bewegung und Volk, 3. Aufl., Hamburg 1938, S. 31. 304 Vgl. zu den Fundamenten dieser Staatslehre: Klaus Rennert, Die "geisteswissenschaftliche Richtung" in der Staatslehre der Weimarer Republik: Untersuchung zu Erich Kaufmann, Günter Holstein und Rudolf Smend, Berlin 1987; Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität, Erlangen-Nümberg 1964. 305 Vgl. Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik: die politischen Ideen des deutschen Nationalsozialismus zwischen 1918 und 1933, München 1978, S. 93. 6 Quasten

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dem anderen autoritären, "starken" bzw. "totalen" Staat gerufen. Vordergründiger Diskussionspunkt zwischen den widerstreitenden Staatslehren waren dabei, ob der Gleichheitsgrundsatz des Art. 109 I Weimarer Reichsverfassung auch für den Gesetzgeber Bindungswirkung entfalten sollte, sowie die mögliche Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit?06 In Wahrheit ging es um mehr, nämlich um die Frage nach der Aufhebung des staatsrechtlichen Positivismus, um die Frage nach der Beendigung des Gedankens der absoluten Verbindlichkeit des Gesetzgebers und nach einer jenseits des geschriebenen Rechtes stehende Begründung für Recht und Staat. Die positivistische Grundthese der politischen Wertungsenthaltsamkeit des Rechts wurde verworfen. Die neue Staatslehre postulierte eine untrennbare Verbindung der Idee von Staat und Recht. 307 c) Wehrlosigkeit der NS-Richterschaft Wenn der Rechtspositivismus "den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht hat gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts,,308, impliziert dies, dass die Richterschaft die ihr vorgegebenen Normen blindlings, ohne sie mit einer eigenen richterlicher Wertung anzureichern, angewandt hat. Im blinden Gesetzesgehorsam, der Vollziehung der "Schandgesetze" so klingt der eigentliche Vorwurf - liegt das Versagen der Justiz zur Zeit des Nationalsozialismus begründet. Diese Wertung trifft nicht ZU. 309 Im Zentrum des nationalsozialistischen Staatsgedankens stand jener "totale Staat", der nicht mehr wie in der Republik im Parteienzwist durch den "Parlamentabsolutismus" gelähmt sein sollte. Dieser sollte vielmehr das wahre Wohl und den wahren Willen des Volkes nicht nur einfach repräsentieren, sondern konkret darstellen. Nach der Idee des völkischen Staates ging es nicht mehr um den Schutz der Interessen einzelner auf Kosten der Gemeinschaft, sondern um die notwendige Verpflichtung des Einzelnen zur Aufrechterhaltung der organischen Volksgemeinschaft, so dass folgerichtig als wesentlicher Zweck der Justiz die Aufrechterhaltung des menschlichen Gemeinschaftslebens galt. 306 Vgl. dazu: Helge Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit und der Methodenstreit der Staatslehre in der Weimarer Republik, Göttingen 1984. 307 Vgl. zum vorstehenden: Horst Dreier, S. 124 ff. 308 Gustav Radbruch, in: SJZ 1946, S. 107. 309 Vgl. zum ganzen nur: Bernd Rüthers, Entartetes Recht - Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, 2. Aufl., München 1989, S. 19 ff.; Bernd Rüthers, Recht als Waffe des Unrechts - Juristische Instrumente im Dienst des NS-Rassenwahns, in: NJW 1988, S. 2825 ff.; Inneborg Maus, "Gesetzesbindung" der Justiz und die Struktur der nationalsozialistischen Rechtsnormen, S. 80 ff.; Heinrich Rüping, Strafjustiz im Führerstaat, in: GA 1984, S. 297 ff.; Hubert Rottleuthner, S. 383 ff.

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Der auf einer liberalen Staatstheorie fundierte Rechtspositivismus war damit als Rechtstheorie denkbar ungeeignet, die revolutionäre Umgestaltung der Rechtsordnung entsprechend den nationalsozialistischen Ideen zu bewerkstelligen. Aus diesem Blickwinkel konsequent wurde an die Stelle des abstrakten Rechts- und Gesetzespositivismus, der sich nur an die Buchstaben des Gesetzes klammerte und als etwas Liberales, Rechtsstaatliches und damit als etwas Subversives gale lO, der wirkliche Wille des Volkes und des Führers gesetzt. Mittels des "völkische(n) Rechtsdenkens,,311 sollte das Postulat der streng formalistischen Methode der Rechtsanwendung überwunden werden und der Richter als Rechtsschöpfer i. S. d. Gemeinschaftswillen gestalten. 312 Das hieß, gegenüber den neuen nationalsozialistischen Gesetzen als "Ausdruck des im Führer lebendigen Gemeinwillens,,313 bestand für die Richter eine strenge Gesetzesgebundenheit. Allerdings waren zahlreiche nationalsozialistische Gesetze bezüglich ihrer Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen bewusst so nebulös formuliert, dass strenge Subsumtion ausschied?14 Zahlreiche Generalklausein und unbestimmte Rechtsbegriffe bestimmten die Normen315 , die Gesetzesauslegung war nur durch starken Einsatz von Interessenwertungen und subjektiven Vorlieben möglich. Dabei hatte der Richter insbesondere den ideologischen Vorgaben des Nationalsozialismus und einer übergesetzlichen Rechtsquellenlehre zu folgen, nach der "Führerwille, Volksgemeinschaft und Parteiprogramm als Rechtsnormen über dem geschriebenen Recht,,316 standen. 317 310 Indiz für diese nationalistische Rechtsanschauung: Unmittelbar nach 1933 wurden insbesondere Rechtsprofessoren, die als Positivisten galten, im Zuge der politischen Gleichschaltung entlassen und durch Nichtpositivisten ersetzt. 311 Vgl. dazu grundsätzlich Klaus Anderbrügge, Völkisches Rechtsdenken: zur Rechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, Berlin 1978. 312 Vgl. Hans Karl Leistritz, Entrechtung der Jurisprudenz, Berlin 1936, S. 46; Georg Lenz, Neue Grundlagen der Rechtsfindung, Hamburg 1940, S. 138. 313 Emst-RudolJ Huber, Die Einheit der Staatsgewalt, in: DJZ 1934, Sp. 959. 314 Extremes Beispiel: ein nach damaligem Sprachgebrauch bezeichneter "allgemeiner Straftatbestand" aus der Polenstrafrechtsverordnung von 1941, Ziff. lAbs. 3 Polenstrafrechtsverordnung: Polen und Juden werden mit dem Tode, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe bestraft, "wenn sie durch ihr ... Verhalten das Ansehen oder das Wohl des Deutschen Reiches oder des deutschen Volkes herabsetzen oder schädigen". 315 Vgl. dazu: Hans-Ludwig Schreiber, Die Strafgesetzgebung im "Dritten Reich", in: Dreier, Ralf/Sellert, Wolfgang (Hrsg.), Recht und Justiz im "Dritten Reich", Frankfurt am Main 1986, S. 151 ff.; Heinrich Rüping, Zur Praxis der Strafjustiz im "Dritten Reich", in: Dreier, Ralf/Seltert, Wolfgang (Hrsg.), Recht und Justiz im "Dritten Reich", Frankfurt am Main 1986, S. 180 ff. 316 Bemd Rüthers, Entartetes Recht, S. 29.

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Was zum einen in Anbetracht des unbestimmten Wortlautes der neuen nationalsozialistischen Gesetze nahezu zwingend war, galt zum anderen als herrschende Auslegungsmethode für die Gesetze aus der Zeit vor der Machtergreifung. Der Geltungsanspruch der überkommenden Gesetze wurde relativiert, indem der Richter ausdrücklich dazu aufgefordert wurde, sich von einer politisch wurzellosen Rechtspflege abzukehren, seine weltanschauliche Neutralität aufzugeben und sich in seiner täglichen Arbeit vom Programm der NSDAP und dem Führerwillen als den wichtigsten Rechtsquelle leiten zu lassen. 318 Den Maßstab für die neue Auslegung formulierte earl Schmitt kategorisch 319 : 317 Aussagekräftig die von der Professorengemeinschaft, Dahm, Eckhardt, Höhn, Ritterbusch, Siebert, im Auftrag des damaligen Reichsminister Frank ausgearbeiteten "Leitsätze über Stellung und Aufgaben des Richters" aus dem Jahre 1936, dort hieß es u.a.: ,,(2) Grundlage der Auslegung aller Rechtsquellen ist die nationalsozialistische Weltanschauung, wie sie insbesondere im Parteiprograrnm und in den Äußerungen des Führers ihren Ausdruck findet. (3) Gegenüber Führerentscheidungen, die in Form eines Gesetzes oder einer Verordnung gekleidet sind, steht dem Richter kein Prüfungsrecht zu. Auch an sonstigen Entscheidungen des Führers ist der Richter gebunden, sofern in ihnen der Wille, Recht zu setzen, unzweideutig zum Ausdruck kommt. (4) Gesetzliche Bestimmungen, die vor der nationalsozialistischen Revolution erlassen sind, dürfen nicht angewandt werden, wenn ihre Anwendung dem heutigen gesunden Volksempfinden ins Gesicht schlagen würde." Diese Leitsätze erhielten durch die Art ihrer Verkündung anlässlich einer großen Tagung am 14.1.1936 Status einer parteioffiziellen Verlautbarung. Abgedruckt in: DRW I 1936, S 123 ff. Speziell zur Auslegung von Generalklauseln: Carl Schmitt, Neue Leitsätze für die Rechtspraxis, in: JW 1933, S. 2794: ,,Für die Anwendung und Handhabung der Generalklauseln durch den Richter, Anwalt, Rechtspfleger oder Rechtslehrer sind die Grundsätze des Nationalsozialismus unmittelbar und ausschließlich maßgebend" (Hervorhebung durch Verf.). Vgl. auch Karl Larenz, Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie, Tübingen 1934, S. 32 ff.; Franz Gürtner, Richter und Rechtsanwendbarkeit im neuen Staat, in: DJ 96 (1934), S. 371. 318 Vgl. Everhardt Franssen, S. 768. 319 Vgl. nur Carl Schmitt, in: JW 1933, S. 2793 ff. - In diesem Sinne die Anweisung Schlegelbergers an die Oberlandesgerichtspräsidenten und die Generalstaatsanwälte im Jahre 1941: dass jede Norm "unter Berücksichtigung der im Parteiprogramm anerkannten Sittenordnung und Weltanschauung und dazu der maßgebenden Willensäußerung ihres Schöpfers und berufensten Künders, des Führers, auszulegen und anzuwenden" sei, so Schlegelberger auf einer Tagung 1942, vgl. Heinz Boberach, Richterbriefe 1942 - 1944, Boppard am Rhein 1975, (Anm. 6) S. 425. - Zu beachten ist ebenso der Entwurf des Deutschen StGB von 1939 in § 2 I: "Wegweiser der Rechtsfindung sind die Kundmachungen des Führers". - Bemerkenswert ist auch die inhaltliche Verpflichtung für die Mitglieder des Reichsverwaltungsgerichts: Sie hatten "nach ihrem freien, aus dem gesamten Sachstand geschöpften Überzeugung und nach der von nationalsozialistischer Weltanschauung getragener Rechts-

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"Das gesamte deutsche Recht. .. muß ausschließlich und allein vom Geist des Nationalsozialismus beherrscht sein. ( ... ) Jede Auslegung muß eine Auslegung im nationalsozialistischen Sinne sein".

Somit trat die Einlegung der NS-Weltanschauung direkt an die Stelle der Auslegung aller geltenden Gesetze. 320 Das gesamte Gesetzesrecht wurde unter den Vorbehalt der Vereinbarkeit mit der Ideologie des Nationalsozialismus und aller Entäußerungen des Führers gestellt. 321 Dabei sollte die Justiz ihre Urteile nicht als pure Gesetzentscheidung, sondern als unmittelbare Konkretisierung zentraler Rechtsgüter der Volksgemeinschaft begreifen. Die reibungslose und keineswegs für das System destabilisierend wirkende Adaption des vorkonstitutionellen Rechts in das NS-Recht wurde durch eine flexible Methode interpretativer Anpassung bei unveränderter Gesetzesfassung im Sinne der Maximen nationalistischer Ideologie erreicht. 322 Die Konditionierung der Justiz in der NS-Zeit erfolgte daher nicht durch eine strenge gesetzliche Anweisung, sondern vor allem durch die Wertbindung an die NS-Ideologie des Richters.

Fazit Nach alledem ist zusammenfassend festzustellen, dass zur Weimarer Zeit von dem Rechtspositivismus als einer herrschenden Auffassung weder in der Praxis noch in der Wissenschaft gesprochen werden kann. 323 Vorherrschend war vielmehr ein mit einer bestimmten gesellschaftlichen und politischen, vordemokratischen Machtkonstellation verknüpftes anti-demokratisches Weltbild; vorherrschend war das Ideal eines starken hoheitlichen Staates 324 • Infolgedessen verhielt sich die Weimarer Justiz keinesfalls streng positivistisch. Im Gegenteil: Sie verfügte über eine antilegale Grundhaltung. Auch die Wissenschaft und die Rechtsanwendung im Nationalsozialismus waren vom Formalitäts- und Rationalitätsgedanken des Positivismus gänzlich abgerückt. Die Kritik an Radbruchs sogenannter Wehrlosigkeitsthese ist damit zutreffend. Die Weimarer Justiz hat sich nicht "blind" positivistisch verhalten, auslegung" zu urteilen, vgl. § 7, RGßl 1941, I 202. Dies hatte Signalwirkung für die gesamte Justiz. 320 Bemd Rüthers, Entartetes Recht, S. 32. 321 Vgl. auch Frank Scholderer, S. 451. 322 Vgl. Manfred Walther, Hat der juristische Positivismus die deutschen Juristen wehrlos gemacht?, in: KJ 1988, S. 270-272; Horst Dreier, S. 126. 323 So auch: Everhardt Franssen, S. 766; Udo Reifner, S. 13; Manfred Walther, S. 263 ff.; Hubert Rottleuthner, S. 376 f.; Horst Dreier, S. 120. 324 Manfred Walther, S. 269.

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sondern hatte Anteil am Untergang der Republik und der Stabilisierung des NS-Staates durch ihre antipositivistische Haltung. Radbruch hat damit den Unrechtsbeitrag der Justiz zum Versagen im Dritten Reich verkannt. Diese eindimensionale Sicht auf das legislative Unrecht bedeutete einen immensen Entlastungseffekt für die Justiz im Dritten Reich und brachte Radbruch den in dieser Hinsicht berechtigten Vorwurf der Exkulpation der NS-Justiz ein. 325 Muss die rechtstatsächliche Aussage als Teil der Radbruchthese als unhaltbar gelten, so fällt sie als Begründungshilfe der Radbruch'schen Formel weg, deren normativ-geltungstheoretische Aussage des "gesetzlichen Unrechts", damit primär unberührt bleibt. Es ist damit offensichtlich, was Radbruch übersehen hat. 326 Nunmehr soll es im Weiteren um die geltungstheoretische Aussage der Radbruch'schen Formel und den Konsequenzen der daraus abgeleiteten Einbeziehung des Naturrechts in den Tatgegenstand des § 336 a. F. StGB gehen. 11. Schwächen des normativ-geltungstheoretischen Ansatzes Radbruchs

1. Konstruktive Bedenken im Hinblick auf den Rechtsbeugungstatbestand

a) Irrtumsproblematik und übergesetzliches Recht Folgt man der für den extremen Fall des gesetzlichen Unrechts bestimmten normativ-geltungstheoretischen Aussage Radbruchs vom Vorrang des übergesetzlichen Rechts gegenüber dem Gesetzesrecht als Antwort auf das judikative Unrecht des "Dritten Reiches" und bezieht das übergesetzliche Recht in den Tatgegenstand des § 336 a. F. StGB ein, so zeigen sich Probleme gerade im Zusammenspiel von Rechtsbeugungsvorsatz und Rechtsbegriff. 327 Die Besonderheit des Rechtsbeugungsdeliktes ergibt sich daraus, dass die Verletzung objektiven Rechts selbst ein objektives Tatbestandsmerkmal darstellt und somit ebenfalls gemäß § 16 I S. 1 StGB vom Vorsatz umfasst sein muss. Damit werden die Rechtsnormen, die der Richter bei seiner Ent325 Das Bild des "blinden", wehrlosen Juristenstandes als Opfer des Regimes findet sich bei Hermann Weinkauf, Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, Band I, Stuttgart 1968, S. 170; zitiert bei Udo Reifner, S. 14: "Die Richter - und nicht nur die Richter, sondern die deutschen Juristen schlechthin - waren kraft ihrer Erziehung fast ausnahmslos und mit einer geradezu naiven Selbstverständlichkeit Rechtspositivisten" . 326 Vgl. dazu Frank Scholderer, S. 443. 327 Vgl. zum Folgenden Frank Scholderer, S. 447-449.

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scheidung herangezogen und evtl. verletzt hat, zu nonnativen Tatbestandsmerkmalen. 328 Dies hat zur Folge, dass für die Annahme des Tatvorsatzes nicht allein die Kenntnis der den Begriff erfüllenden Tatsachen genügt, vielmehr muss der Täter auch den rechtlich-sozialen Bedeutungsgehalt des Tatumstandes erfassen und richtig würdigen. 329 D.h. dem Richter muss nicht nur die Existenz oder Nichtexistenz einer Nonn bekannt sein, er muss darüber hinaus auch den Bedeutungsinhalt der von ihm anzuwendenden Gesetze verstanden haben. 33o Um eine Rechtsbeugung begründen zu können, wäre es daher nicht ausreichend, zum Tatzeitpunkt verbindliches Naturrecht - wie die Menschenrechte - zu bestimmen und ein Verstoß dagegen durch den Richte~ im Einzelfall nachzuweisen 33 !. Es müsste zudem der Beweis gelingen, dass der Richter positive Kenntnis von der Existenz und der Bedeutung des gebeugten Naturrechts hae 32 . Erst in diesem Fall wäre eine Rechtsbeugung zu bejahen. Daraus folgt allerdings auch, dass eine positive Fehlvorstellung über das anzuwendende (Natur-)recht als Tatbestandsirrtum gemäß § 16 I 1 StGB zu werten ist; mit der Folge der Straflosigkeit, da weder eine Vorsatztat noch eine Fahrlässigkeitstat mangels entsprechenden Tatbestandes gegeben ise 33 . Ebenso entfällt eine Venneidbarkeitsprüfung nach § 17 S. 1 StGB. Daraus zieht Scholderer mit Blick auf das Zusammenspiel von Naturrecht und Rechtsbeugungsvorsatz die logische Konsequenz 334 : "Genauso straflos ... , müßte mangels Vorsatz derjenige bleiben, der schlichtweg eine andere Vorstellung vom Naturrecht hatte, als sie ihm nun vorgehalten werden. Selbst wenn man ihm seine irrtümliche Naturrechtsvorstellung, die in einem noch so einem krassen Gegensatz zu einem menschenrechtsverbürgenden Naturrecht stehen mögen, als politisch-moralisch noch so pervertiert erweisen könnte, entzöge sich dieser Irrtum strafrechtlich gleichwohl jedem noch so leicht zu begründbaren Vermeidbarkeitsvorwurf. Der sog. Überzeugungstäter muß straflos bleiben".

Aus diesem Umstand resultiert die kriminalpolitische Problematik der Einbeziehung des Naturrechts in den Tatgegenstand des § 336 a. F. StGB gerade mit Blick auf die bereits skizzierte antilegale Haltung der Weimarer Justiz und der daraus folgenden Etablierung der Nazijustiz, die sich insbesondere - wenn auch pervertierter - übergesetzlicher naturrechtlicher Geltungsfiguren bediente. 328 329 330 331 332 333 334

Vgl. dazu grds. Thomas Fischer, § 16, Rz. 4. Vgl. dazu grds. Thomas Fischer, § 16, Rz. 11. LK-Spendel, § 336, Rz. 84. Frank Scholderer, S. 448. Frank Scholderer, S. 448. Frank Scholderer, S. 448. Frank Scholderer, S. 448, 449.

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Die neue Auslegungsmethode335 der NS-Gesetze, die der schon in der Systemzeit von der Richterseite fortgeschrittenen Emanzipation vom parlamentarischen Gesetzgeber in der Systematik entsprach, fundierte auf der ideologischen Konstruktion einer neuen Rechtsidee: Das gesamte deutsche Recht sollte künftig ausschließlich vom Geist des Nationalsozialismus beherrscht sein. Nach der neuen Rechtsidee waren Recht und nationalsozialistische Weltanschauung ein· Synonym, und dieser Rechtsbegriff wurde zum verbindlichen und verpflichtenden Programm für die Justizpraxis?36 Die rechtspolitische Aufgabe dieser neuen Rechtsidee bestand vor allem darin, Normen aus der überkommenen Rechtsordnung bei Bedarf für unanwendbar zu erklären. Der Geltungsanspruch des Gesetzes wurde zurückgedrängt. Die NS-Ideologie wurde mittels der neuen Rechtsidee und den damit verbundenen neuen Rechtsquellen wie Parteiprogramm der NSDAP und als deren wichtigste der Führerwille337 zu übergesetzlichen Normen erklärt, die geltendes Gesetzesrecht verdrängen?38 Als beispielhaft kann der sog. Wetz[arer-Au!gebots-FaU 339 aus dem Jahre 1935 gelten. Einige Monate vor Erlass des "Nürnberger Blutschutzgesetzes" verweigerte ein Standesbeamter den Erlass des von einem "deutschblütigen" Manne und einer Jüdin bestellten Aufgebots mit der Begründung, es verstoße gegen nationalsozialistisches Gedankengut und damit gegen übergeordnetes Recht. Dies geschah mit Wissen des eindeutig entgegenstehenden Wortlauts und mit der Absicht, diesen zu umgehen. 34o Vgl. dazu bereits Teil I, C., I., 2. c). Vgl. dazu bereits Teil I, C., I., 2. c); OLG Jena vom 17.5.1938: "Nat.soz. Recht hat der Verwirklichung der nato Weltanschauung zu dienen. Ziel dieser Weltanschauung und damit der Zweck des Rechtes ist Reinerhaltung, Erhaltung, Förderung und Schutz des deutschen Volkes". Abgedruckt in ZAkDR 1938, S. 712. 337 Der Führer schützte und schuf zugleich das Recht, vgl. Carl Schmitt, Der Führer schützt das Recht, in: DJZ 1934, Sp. 946: "Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Mißbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft." 338 Wenn "Recht" nur noch als "nähere Ausgestaltung der völkischen Ordnung" Geltung erfahrt, hieß das, "daß es nicht mehr rechtsverbindlich sein kann, wo es mit seinen eigenen Grundlagen, mit der völkischen Rechtsidee schlechthin unvereinbar geworden ist", vgl. Karl Larenz, Über Gegenstand und Methode des völkischen Rechtsdenkens, Berlin 1938, S. 26. 339 AG Wetzlar, JW 1935, S. 2083; vgl. dazu LK-Spendel, § 336, Rz. 44. 340 In einem 3-fach Schritt wird das geltende Recht außer Kraft gesetzt: 1. Feststellung der geltenden gesetzlichen Regelung, so heißt es: "Es ist richtig, daß die bestehenden gesetzlichen Bestimmungen die Eheschließung zwischen einem deutschblütigen Manne und einer Jüdin nicht verbieten." 2. Feststellung des übergesetzlichen Rechts als "naturgesetzliche Einheit von Rasse, Seele und Recht", so heißt es: "Nationalsozialistische ... Rechtsanschauung hat ... das artgemäße Gesetz des Sollens aufgerichtet als Anforderung an jeden Einzelnen ... Dieser Satz ist bindendes 335

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Mit Blick auf die gesetzlichen Bestimmungen ist diese richterliche Entscheidung eine tatbestandliche Rechtsbeugung. Neben Vorliegen des objektiven Tatbestandes wegen eindeutigen Verstoßes gegen das Gesetzesrecht handelte der Richter auch vorsätzlich durch die bewusste Missachtung der dem Richter bekannten einschlägigen Gesetzesbestimmungen. Definiert man das Naturrecht inhaltlich über den Begriff Menschenrechte341 und bezieht es in den Tatgegenstand des § 336 a. F. StGB ein, muss man die Anwendung des übergesetzlichen NS-Naturrechts als einen naturrechtlichen Inhaltsirrtum werten, so dass der Richter wegen eines vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtums straffrei bleibt. 342 Daraus folgt wiederum, dass durch die Einbeziehung des Naturrechts in den Tatgegenstand der Rechtsbeugung die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Richtenden und die Strafwirksamkeit des § 336 a. F. StGB entgegen der Absicht von den Naturrechtsbefürwortern verringert wird. Im Übrigen muss bedacht werden: Hätte der Standesbeamte das damalige übergesetzliche Recht außer acht gelassen, wäre er zur damaligen Zeit Gefahr gelaufen, sich gemäß § 336 a. F. StGB strafbar zu machen. Das hat er mit seiner Entscheidung vermieden. Mit welcher Berechtigung kann man aber nach dem Untergang des NS-Regimes Strafe fordern? Man legt ihm die Pflicht auf: Du hättest dich seinerzeit strafbar machen müssen. b) Doppelfunktion des Rechtsbeugungstatbestandes? Die Einbeziehung des Naturrechts hat für den Richter in strafrechtlicher Hinsicht zudem kaum nachvollziehbare Folgen. Denn danach bedeutet geltendes Recht des dritten Reiches und ... bereits in grundlegenden Gesetzen des dritten Reiches eindeutig zum Ausdruck gekommen." 3. Außerkraftsetzung der geltenden gesetzlichen Regelung wegen unvereinbarer Kollision mit übergesetzlichem NS-Recht: "Mit diesem Rechtssatz steht die Eheschließung eines deutschblütigen Mannes mit einer Jüdin in einem unlösbaren Widerspruch". Abgedruckt bei Günter Spendet, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, S. 117, 118. 341 Sieht man das übergesetzliche NS-Naturrecht inhaltlich als verbindliches Naturrecht zum Tatzeitpunkt an, so fehlt bereits der objektive Tatbestand der Rechtsbeugung. 342 Frank Scholderer, S. 453, weist mit recht darauf hin, dass, wenn "Spendel die übergesetzliche Außerkraftsetzung des Ehegesetzes als eine ,völlig verfehlte und irrige Beurteilung klarer Rechtsbegriffe' abtut, bezieht er das Naturrecht zwar in den objektiven Tatbestand ein, scheut aber vor der zwingenden Konsequenz zurück, darauf auch den Vorsatz zu erstrecken". Hans-Ludwig Schreiber, in: GA 1972, S. 203, meint mit Bezug auf den Wetzlarer Aufgebots-Fall, dass diejenigen Richter straffrei bleiben, "die Recht im Sinne der NS-Ideologie ausgelegt und diese Auslegung für geltendes Recht angesehen haben". Kritisch auch Ingo Müller, in: NJW 1980, S.2395.

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Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

"Recht" i. S. d. § 336 a. F. StGB: Die Menge der staatlichen Rechtssätze, unter Ausschluss derjenigen, die dem überpositiven Recht widersprechen. § 336 a. F. StGB als Norm eines Staates soll also beinhalten, dass dieser Staat seinen Richter dann bestraft, wenn er eine Norm des eben von diesem Staat gesetzten Rechts anwendet. 343 Dies ist schon denklogisch schwer nachvollziehbar und bedeutet weiter: Das Naturrecht statuiert gegenüb~r dem Richter eine Pflicht zum Ungehorsam gegenüber Unrecht in Gesetzesform 344 , will der Richter sich nicht der Rechtsbeugung strafbar machen. Spricht in der Regel bereits der "soziale Typus" des Protagonisten gegen die Idee, den Richter im Unrechts staat als "Widerstandskämpfer" zu verpflichten, so ergeben sich somit größere Bedenken aus dem "Strukturwiderspruch", dass der Richter grundsätzlich in seiner Funktion als Amtsträger mit dem Rechtssystem unauflöslich verbunden ist, gegen welches er gegebenenfalls zu rebellieren hat. 345 Für den Tatbestand der Rechtsbeugung muss daher gefolgert werden, entweder das Gesetzesunrecht hinnehmen oder das positive Recht als Kriterium des lustizunrechts und als Schranke der lustizgewalt aufgeben zu müssen. Mit der von Radbruch vorgezeichneten "doppelten Aufgabe"346, sowohl Gesetzesunrecht als auch lustizunrecht im Nationalsozialismus zu erfassen, wird der Rechtsbeugungstatbestand für etwas zu instrumentalisieren versucht, was nicht zuletzt mit seiner Konstruktion nicht in Einklang zu bringen ist. 347 Der Tatbestand muss vor dieser Aufgabe kapitulieren. Er soll den Rechtsstaat sichern und vor dem Untergang in den Unrechts staat bewahren, zugleich die in dem Unrechts staat begangenen Taten sanktionieren. 348 Eine vordergründige Lösung für diesen Weg verspricht das Naturrecht. Es führt zu einer Pattsituation, wenn das Delikt zum einen vor ungesetzlichen Übergriffen des Richters schützen und zum anderen die Anwendung gesetzlichen Unrechts ahnden und damit übergesetzliche richterliche Leistungen garantieren soll. 343 Vgl. Friedrich Dencker, Die strafrechtliche Beurteilung von NS-Rechtsprechungsakten, in: Salje, Peter (Hrsg.), Recht und Unrecht im Nationalsozialismus, Münster 1985, S. 300. 344 So bereits Fritz Bauer, Das "Gesetzliche Unrecht" des Nationalsozialismus in der deutschen Rechtspflege, in: Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, Göttingen 1968, S. 304: "Die damit statuierte Pflicht zum Ungehorsam gegenüber Unrecht in Gesetzes- oder Befehlsform ist herrschende Rechtsprechung". 345 Vgl. Frank Scholderer, S. 456. 346 Frank Scholderer, S. 455. 347 Vgl. zum folgenden: Frank Scholderer, S. 456, 457. 348 Frank Scholderer, S. 456, 457, meint in diesem Zusammenhang, dass dem Rechtsbeugungstatbestand "die Rolle eines Atlas" zuwächst, "der die gesamte Weltkugel des Rechtsstaats auf seinen Armen hält, sie nicht nur vor dem Absturz in den Unrechtsstaat bewahren, sondern nötigenfalls sogar wieder emporheben soll".

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2. Rechtsphilosophische Unzulänglichkeit

Die Radbruch'sche Formel weist rechtsphilosophische Schwächen auf; sie ignoriert die damalige Rechtswirklichkeit. Der Rekurs auf das Naturrecht ergab die Möglichkeit, sich der "Schandgesetze" der NS-Zeit einfach unter Absprechung ihrer Rechtsgeltung zu entledigen. Nichts anderes als die Radbruch'sche Formel konnte somit eindeutiger den Unrechtsgehalt der NS-Gesetze - stellvertretend für die damalig geltende Ungerechtigkeit des dritten Reiches insgesamt - aufzeigen 349 . Sie konnte zugleich als scheinbar einzige rechtsphilosophische Antwort der Nachkriegszeit auf das überwundene nationalsozialistische Regime das kollektive Bedürfnis nach Empörung über und Distanzierung von der unheilvollen Vergangenheit befriedigen. 35o Unbestritten können Gesetze und andere staatliche Rechtsrnaßnahmen aus der NS-Zeit als ein Unrecht gelten, das in einem unerträglichen Widerspruch zur Gerechtigkeit stand und seine Gültigkeit damit in Frage stellen musste?51 Wirft man die damals geltenden NS-Rechtsnormen, die gegen vermeintliches Naturrecht verstoßen haben, "mit der Leugnung der Rechtseigenschaft in den Orkus des Nichtrechts,,352, so ignoriert man dennoch zugleich die damalige rechtstatsächliche Wirklichkeit. 353 Spricht man einigen wenigen NS-Gesetze die Rechtsqualität ab, hält aber zugleich an der prinzipiellen Rechtsverbindlichkeit der übrigen Rechtsnormen fest und gibt sie als verpflichtenden Bestandteil einer objektiven Sollensordnung aus, so bleibt am Ende die Welt des Rechts stets eine "heile Welt,,?54 349 Als aktueller Vertreter dieser Auffassung spricht Clea Laage, Die Auseinandersetzung um den Begriff des gesetzlichen Unrechts nach 1945, in: KJ 1989, S. 410 noch von der Formel als "ein Instrument der Entlegitimierung der NS-Rechtsordnung". 350 Hubert Rottleuthner, S. 390 macht bei der Kritik am nationalsozialistischen Rechtssystem "die Stufe der naiven Empörung, bei der die eigenen, heutigen Wertmaßstäbe angelegt werden" aus. 351 Nachweise bei Clea Laage, S. 41l. 352 Horst Dreier, S. 133. 353 Ebenso Hubert Rottleuthner, S. 390, wenn er meint: "Naiv ist diese Art von Kritik, die das Diabolische verteufelt, deshalb, weil die Perspektive, die Eigeninterpretationen der damaligen Zeit ausgeblendet werden". 354 Horst Dreier, S. 133; vgl. im Zusammenhang mit der Diskussion der Rechtskontinuitätsthese Gerald Grünwald, Zur Kritik der Lehre vom überpositiven Recht, Bonn 1971, S.14: "Diese punktuelle Betrachtung der einzelnen Gesetze bewirkt, daß für jeden Staat zu jeder Zeit festgestellt werden kann, daß in ihm eine intakte Rechtsordnung gelte oder gegolten habe - nämlich eine Rechtsordnung, bestehend aus den jeweiligen staatlichen Gesetzen, korrigiert durch die Normen des überpositiven Rechts. Mögen in einem Staate noch so abscheuliche Gesetze bestehen, befolgt und durchgesetzt werden - die Welt des geltenden Rechts ist immer eine heile Welt".

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Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

Dieses "Unrecht" hatte damals aber Rechtsgeltung und die damalige Justiz hat mehrheitlich die später als Unrecht bezeichneten Normen und andere staatliche Rechtsmaßnahmen akzeptiert, befolgt und angewandt?55 Bleibt dies unberücksichtigt, besteht die Gefahr eines "politisch-juristischen Exorzismus,,356, der eine wirkliche Bewältigung und Verarbeitung des in Rechts- und Gesetzesform gegossenen Unrechts vereitelt. Und dem in den Unrechtsstaat verstrickten Richter wird mittels der unhistorischen Sichtweise ein verklärter Rückblick auf sein möglicherweise pervers ausgeübtes Richteramt ermöglicht, womit die Notwendigkeit der kritischen Hinterfragung der eigenen Rolle für die in Rede stehende Zeit entfällt?57 Des Weiteren bestehen rechtsphilosophische Bedenken gegen den der Radbruch'schen Formel zugrundegelegten Gedanken eines objektiven Rechtsbegriffs, nach welchem ethische Postulate und Rechtsnormen eine Einheit bilden müssen. Es existiert die Gefahr einer "moralischen Imprägnierung des Rechts,,358. Das Recht wird durch die Gleichsetzung von Recht und Moral ethisch unzulässig aufgeladen. Das Recht erhält damit die überhöhte Weihe eines moralisch intakten Systems. 359 Wenn nun aber das Gesetzesrecht an der Gerechtigkeit, d. h. ins "Positivistische" transformiert, am Naturrecht gemessen und im Falle des unerträglichen Widerspruchs von diesem als Nichtrecht verdrängt wird, ist dies letztlich auch nur eine gefahrliehe ethische Aufladung des Rechts mit anderen Mitteln, eben über dem Umweg des Naturrechts. Wie gefährlich die Möglichkeit von Rückwirkungen einer bestimmten Moral und ideologisch eingefärbter Naturrechtslehren auf das Recht und die Rechtsanwendung sein kann, hatten in der NS-Zeit die mittels der neuen Rechtsidee verwirklichten neue Rechtsanwendung sowie -auslegung gezeigt. Dies hatte zur Folge, dass das ideologisch imprägnierte Recht zum verlängerten Arm der zeitgebundenen NS-Ideologie werden konnte?60

355 Vgl. dazu die bei Hubert Rottleuthner, S. 383 aufgeführten Reaktionen der deutschen Justiz auf die "nationale Revolution": ... "Loyalitätserklärungen seitens des Deutschen Richterbundes (bereits am 19.3.1933, vier Tage vor der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes)" ... "Die Einrichtungen von Sondergerichten (Verordnung vorn 31.3.1933), Pogrome gegen jüdische Juristen (besonders am 1.4.1933) und das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufbeamtentums (7.4.1933), die Beseitigung der Gewerkschaften im Mai 1933 und die Auflösung der übrigen Parteien im Juli 1933 führten zu keinen Protesten". 356 Horst Dreier, S. 133. 357 Vgl. Frank Scholderer, S. 456. 358 Horst Dreier, S. 133. 359 Horst Dreier, S. 133. 360 Horst Dreier, S. 133.

c. "Recht" im Sinne des Rechtsbeugungstatbestandes

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111. Wortlaut der Vorschrift und Wille des Gesetzgebers Es ist zunächst zuzubilligen, dass der Wortlaut der Vorschrift des § 336 a. F. StGB mit dem Begriff "das Recht beugen" die Ansicht zulässt, dass unter "Recht" auch das überpositive Recht verstanden werden kann?61 Damit ist aber keinesfalls bereits entschieden, ob man das Naturrecht in den Tatgegenstand des § 336 a. F. StGB einbeziehen muss. Aus dem Wort "Recht" allein lässt sich nicht mit Sicherheit entnehmen, ob nur das positivierte Gesetzesrecht unter Strafschutz gestellt ist oder auch das überpositive Recht, welches mit dem positiven Gesetz im Widerspruch steht. Zur näheren Bestimmung des Begriffes "Recht" soll das Rechtsgut des

§ 336 a. F. StGB sowie die Stellung und Aufgabe des Richters im Staatswesen beleuchtet werden?62 Normadressat des Amtsdeliktes des § 336 a. F.

StGB ist als Amtsträger der Richter. In dieser Eigenschaft ist der Richter wie jeder andere Amtsträger zunächst dem Staate zum Gehorsam verpflichtet. Ist das geschützte Rechtsgut bei den Amtsdelikten im allgemeinen die Treuepflicht des Beamten gegenüber dem Staate und die ordnungsgemäße Durchführung des Staatswillen gegenüber dem Bürger des Staates, so spricht der Umstand, dass eine strafbare Rechtsbeugung erst dann vorliegt, wenn sie zum Vor- oder Nachteil einer Partei geschieht, gegen einen durch den § 336 a. F. StGB bezweckten Treuepflichtschutz des Richters gegenüber dem Staate. Die Schutzrichtung des Rechtsbeugungstatbestandes ist daher vielmehr eine nach außen gerichtete. Demnach soll der Bürger als Adressat des richterlichen Handeins vor Willkür geschützt werden. D. h. das Interesse des Staates besteht an einer pflichtgemäßen Amtsausübung des Richters und damit - präziser - an einer unparteiischen Rechtsprechung gegenüber dem Bürger, und zwar in Übereinstimmung mit dem in Gesetzesform gefassten Willen des Gesetzgebers. 363 Als Beauftragter des Staates, der dem Staat Geltung verschaffen soll, ist der Richter verpflichtet, die staatlichen Gesetze anzuwenden. Und da das richterliche Urteil Staatsakt

361 Auf die historische Entwicklung und den Wortlaut des § 314 des Preußischen Strafgesetzbuches von 1851 berief sich bereits Hellmuth v. Weber, in: NJW 1950, S. 273, der freilich übersah, dass es in § 314 hieß, " ... einer Ungerechtigkeit schuldig macht". Nun wird darauf verwiesen, dass die Umwandlung der damalige Fassung für das RStGB im Jahre 1871 in "Beugung des Rechts" aus "redaktionellen Gründen" geschehen, mithin der Rechtszustand beibehalten sei; vgl. Ursula Schmidt-Speicher, S. 52. 362 Vgl. zum Folgenden: Sigfried Schlösser, Strafrechtliche Verantwortlichkeit ehemaliger Richter an Sondergerichten, in: NJW 1960, S. 943 ff. sowie HansUlrich Evers, Die Strafbarkeit des Richters wegen Anwendung unsittlicher Gesetze, in: DRiZ 1955, S. 187 ff. 363 Vgl. ausführlich zur Rechtsgutbestimmung des Tatbestandes Teil 11, B., 1., 2.

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ist, muss der Staat verlangen, dass das Urteil in Übereinstimmung mit seinen positiven Rechtssätzen ergeht?64 In diesem Zusammenhang ist nun zu fragen, ob und inwieweit es ein staatliches Interesse an einer überpositiven Recht entsprechenden Rechtspflege geben kann, und es Sinn macht, dass der Gesetzgeber unter "Recht" auch das übergesetzliche Recht verstanden wissen will. Als der Gesetzgeber den § 336 a.F. StGB im Jahre 1871 konzipierte, bestand für ihn allerdings keine Notwendigkeit, den Staatsbürger vor dem Gesetzgeber zu schützen?65 Der Gesetzgeber selbst hat die Fähigkeit, ein der Rechtsidee entsprechendes Recht zu schaffen, indem er Gesetze erlässt oder gegebenenfalls wieder aufhebt. Er ist demnach gar nicht darauf angewiesen, dass der Richter von sich aus die Unverbindlichkeit solcher Gesetze feststellt. 366 Würde der Gesetzgeber es dennoch gewollt haben, entsteht der bereits erwähnte schwer auflösbare Widerspruch, dass er einerseits den Richter als "Erfüllungsgehilfe" verpflichtet, die staatlich normierter Gesetze soweit sie mit der Verfassung des Staates vereinbar sind zu vollziehen, andererseits jederzeit von dem Rechtsanwender fordert, die Geltung der Normen auf deren Übereinstimmung mit übergesetzlichem Recht zu überprüfen und damit die Wirksamkeit der staatlichen Normen in Frage zu stellen. Dass der Gesetzgeber den § 336 a. F. StGB zum Schutze vor einem "tyrannischen Gesetzgeber", der eklatantes Unrecht setzen könnte, geschaffen hat, ist genauso femliegend wie die Annahme, der Gesetzgeber, der das Strafgesetzbuch schuf, habe mit der Möglichkeit gerechnet, dass einmal ein Unrechtsstaat, wie es nationalsozialistische war, entstehen könnte. 367 Berücksichtigt man demnach Aufgabe und Stellung des Richters im Staatswesen, das geschützte Rechtsgut der Norm und damit den Willen des Gesetzgebers, so ist der Begriff "Recht" in § 336 a. F. StGB als Inbegriff aller staatlichen Rechtssätze zu verstehen und überpositives Recht davon auszunehmen. Die Anwendung gesetzlichen Unrechts und die Nichtanwendung übergesetzlichen Rechts können demnach nicht "Rechts"beugung gemäß § 336 a.F. StGB sein. Auch der Blick auf damalig geltendes Verfassungsrecht und einfaches Gesetzesrecht bietet keinen Anhaltspunkt für eine andere Interpretation des Begriffes "Recht" i. S. d. § 336 a. F. StGB 368 : Für die im "Dritten Reich" verantwortlichen Richter war die Weimarer Reichsverfassung maßgeblich. Nach dieser war der Richter nur dem Gesetz unterworfen. Auch der zumin364

365

366 367 368

Hans-Ulrich Evers, S. 188. Sigfried Schlösser, S. 946. Hans-Ulrich Evers, S. 188, 189. Hans-Ulrich Evers, S. 188, 189. Vgl. Sigfried Schlösser, S. 945.

C. "Recht" im Sinne des Rechtsbeugungstatbestandes

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dest bis in das Jahr 1942 formell gültige § 1 GVG bestimmte, dass die richterliche Gewalt durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Gerichte ausgeübt wurde. 369 Die zweimalige ausschließliche Erwähnung des Wortes Gesetz zeigt, dass nach damaliger Rechtslage das Amt des Richters auf die Beachtung der staatlichen positiven Rechtssätze, also auf Verfassungs- und Gesetzesbefehle bezogen war. Eine Beachtung des übergesetzlichen Rechts durch den Richter kann somit weder aus dem Gerichtsverfassungsgesetz noch aus der Weimarer Reichsverfassung hergeleitet werden. Ein richterliches Prüfungsrecht bzw. eine richterliche Verwerfungskompetenz, obwohl vehement von der vorherrschenden Meinung innerhalb der Staatslehre zur Weimarer Zeit gefordert370, war gesetzlich nicht bestimmt. Demnach bleibt festzuhalten, dass der Begriff "Recht" im Sinne des § 336 a.F. StGB auch mit Blick auf damaliges Verfassungs- und Gesetzesrecht als das staatlich positivierte Recht zu verstehen war. Obwohl nach dem Wortlaut der Vorschrift mit dem Begriff "Recht" die Einbeziehung von überpositiven Recht mit dem Wortlaut vereinbar wäre, spricht wesentliches dafür, dass "Recht" i. S. d. § 336 a. F. StGB überpositives Recht nicht umfasst.

IV. Verfassungs- und Naturrecht Es soll nunmehr betrachtet werden, ob die heutige Verfassung Anhaltspunkte bietet, wonach unter dem Begriff des Rechts i. S. d. § 336 a. F. StGB wohlmöglich auch überpositive Rechtsnormen zu verstehen sind. Denn zum Zeitpunkt der Beurteilung der "Alttaten" war und ist das Grundgesetz in Kraft. Auch nach dem Grundgesetz gilt als richterlicher Maßstab lediglich das Gesetz. Art. 97 I GG übernimmt die alte Rechtsstaatsformel des § 1 GVG, wonach der Richter nur dem "Gesetz" unterworfen ist. Zwar spricht Art. 20 III GG von "Gesetz und Recht"; daraus kann allerdings nicht gefolgert werden, dass damit das überpositive Recht gemeint ist. Denn das komplexe Problem von positivem Recht und überpositivem Recht ist vom Grundgesetz gar nicht angesprochen worden. Vielmehr soll durch die zugleiche Gegenüberstellung von "Gesetz und Recht" in Art. 20 III GG nur auf den zeitweise zwischen beiden auftretenden Widerspruch hingewiesen werden?71 Des Weiteren spricht gerade die grundgesetzliehe Negierung eines richterlichen Prüfungsrechts gegen die Annahme, der Begriff des "Recht" in § 336 a. F. StGB beinhalte auch übergesetzliche Normen. Nach Art. 100 GG ist 369 370 371

Vgl. dazu aber auch Teil I, B., 11., 3. c). Vgl. dazu Teil I, C., 1., 2. a). So schon Sigfried Schlösser, S. 945.

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der Richter im Zweifel über die Rechtmäßigkeit des von ihm konkret anzuwendenden Gesetzes an die Vorlage zum Bundesverfassungsgericht gebunden; eine eigene Verwerfungskompetenz steht ihm nicht zu. Diese hier vertretene Ansicht ist vorzugswürdig, weil sie im Übrigen auch dem Prinzip der Gewaltenteilung entspricht. Eine die Legislative kontrollierende Funktion kommt dem Richter weder nach der Verfassung noch nach der Gerichtsverfassung zu. Die Beachtung des übergesetzlichen Rechts ist, wenn überhaupt, Sache des vom Volk gewählten Gesetzgebers. 372 Mit Blick auf das heutige Verfassungsrecht ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Begriff "Recht" i. S. d. § 336 a. F. StGB auch das Naturrecht umfassen soll. Im Gegenteil: Zieht man das übergesetzliche Recht in den Tatbestand der Rechtsbeugung, so kollidiert das dann gegebenenfalls anzuwendende Naturrecht mit verfassungsrechtlichen Prinzipien. Mit Blick auf das Grundgesetz sprechen die besseren Argumente dafür, das Naturrecht nicht in den Tatgegenstand der Rechtsbeugung einzubeziehen. V. Nulla poena sine lege Strafrechtlich problematisch erweist sich die Einbeziehung des übergesetzlichen Rechts in die Strafdrohung hinsichtlich der Vereinbarkeit mit Art. 103 11 GG, § 1 StGB. Entscheidend sind hier das Rückwirkungsverbot, das Bestimmtheitsgebot und das damit verknüpfte Gesetzlichkeitsprinzip. 1. Rückwirkungsverbot

Das Rückwirkungsverbot beinhaltet allgemein das Verbot, nach der Tat entstandenes Recht anzuwenden, wenn das eine Verschlechterung der Rechtslage bedeuten würde, in der sich Täter zur Tatzeit befand. 373 Will man den in der NS-Zeit tätigen Richter aufgrund der Anwendung gesetzlichen Unrechts und damit wegen Verstoßes gegen übergesetzliches Recht oder Nichtanwendung übergesetzlichen Rechts wegen Rechtsbeugung zur Verantwortung ziehen, könnte dieser rechtliche Grundsatz verletzt werden, weil unter Strafandrohung ein nicht zur Tatzeit geltendes Recht im nachhinein maßgeblich sein soll. In der Nachkriegszeit entfachte sich bei der rechtlichen Ahndung von "Alttaten" die Diskussion374 um die Rückwirkungsproblematik zunächst an Vgl. auch Sigfried Schlösser, S. 946. Thomas Fischer, § 2, Rz. 3, 4. 374 Vgl. nur Helmut Coing, Zur strafrechtlichen Haftung der Richter für die Anwendung naturrechtswidriger Gesetze, in: SJZ 1947, S. 61 ff.; August Wimmer, Die Bestrafung von Humanitätsverbrechen und der Grundsatz "nullum crimen sine 372

373

c. "Recht" im Sinne des Rechtsbeugungstatbestandes

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dem im Dezember 1945 durch die Alliierten erlassenen Kriegsratskontrollgesetz Nr. 10 (KRG 10)375.376 Da die damit verbundene gedankliche Auseinandersetzung beispielhaft das pro und contra für die Durchbrechung des Rückwirkungsverbots offenbart, soll sie im Folgenden analysiert werden. Hintergrund war, dass die deutschen Gerichte zur Aburteilung von "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" (Humanitätsverbrechen) berufen waren, sofern sie von Deutschen gegen Deutsche oder Staatenlose begangen worden waren?77 Die Bestimmung dieser Verbrechen und die damit zusammenhängenden strafrechtlichen Folgen setzte das Kontrollratsgesetz Nr. 10 fest, und zwar ausdrücklich ohne Rücksicht auf das nationale Strafrecht des Begehungsortes. Im wesentlichen unstrittig war, dass das KRG 10 hinsichtlich der Humanitätsverbrechen über das zur Zeit der Tatbegehung geltende deutsche Strafrecht wesentlich hinausging 378 ; umstritten war vielmehr, ob das KRG lOden Grundsatz des "nullum crimen, nulla poena sine lege" verletzte. Im Schrifttum379 sahen insbesondere Hodenberg und Feldmann380 in der Anwendung des KRG 10 eine Verletzung des Rückwirkungsverbots. Ihr Hauptargument381 bestand in der Gegenüberstellung von materieller Gelege", in: SJZ 1947, S. 123 ff.; Gustav Radbruch, Zur Diskussion über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit", in: SJZ 1947, S. 132. 375 Vgl. Amtsblatt des Kontrollrats Nr. 3, S. 50. 376 Nach Rücknahme der Ermächtigung deutscher Gerichte zur Aburteilung von NS-Verbrechen am 31.5.1951 (geschehen durch die britische und französische Militärregierung durch Verordnung Nr. 234 bzw. Verordnung Nr. 171; Amtsbl. der Alliierten Hohen Kommission 1951, S. 137 ff.) wurden NS-Verbrechen ausschließlich nach deutschem Recht abgeurteilt. Zuvor urteilte der Oberste Gerichtshof für die britische Zone (OGH) - Tätigkeit vom Frühjahr 1948 bis 1950 - nach dem Kontrollratsgesetz. Aus diesem Grund wohl entschied der im Oktober 1950 an die Stelle des OGH getretene BGH über eingelegte Revisionen zum KRG 10 nicht; kritisch dazu Wemer Hülle, Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in Strafsachen, in: NJW 1951, S. 296, mit der Bemerkung: "aus Gründen, die sich einer öffentlichen Erörterung entziehen". Für den Bundesgerichtshof war allein deutsches Recht maßgeblich. Rechtlich zwingend war dies nicht: Das KRG 10 hat erst durch § 2 des "Ersten Gesetzes zur Aufhebung des Besatzungsrechts" vom 30.5.1964 seine Wirksamkeit im Geltungsbereich des Grundgesetzes verloren, vgl. BGBL I, S.437 . . 377 Vgl. August Wimmer, S. 123. 378 August Wimmer, S. 123/124. 379 Nach Clea Laage, S. 426 findet sich hingegen in den Fachzeitschriften der Jahre 1946 - 1950 nur ein Gerichtsurteil, welches die Anwendung des KRG 10 wegen Verletzung des Rückwirkungsverbotes ablehnt, und zwar LG Siegen, MDR 1947, S. 203; aufgehoben durch OLG Hamm, MDR 1947, S. 205. 380 Horst Feldmann, Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Essen 1948, S. 5 ff.; Hodo v. Hodenberg, Zur Anwendung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 durch deutsche Gerichte, in: SJZ 1947, S. 119 ff. 7 Quasten

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rechtigkeit und Rechtssicherheit, wobei letztere als Garant für den Schutz des Individuums den Vorrang verdiene. Die Auffassung, das Rückwirkungsverbot stünde der Anwendung Kontrollratsgesetz Nr. 10 nicht entgegen, betonte naturgemäß die Gerechtigkeitsidee, dabei wurden unterschiedliche Argumentationsvarianten angeboten. Nach dem sog. case-law-Argument382 bestand ein Widerspruch zwischen KRG 10 und dem Rückwirkungsverbot nicht, weil letzteres nur für das kodifizierte Recht, nicht aber für das case-Iaw des anglo-amerikanischen Rechtskreises gelte. Denn das Rückwirkungsverbot kann für das Fallrecht wie das KRG 10, welches nur beispielhaft bestimmte Handlungen für strafbar erklärte, gar nicht gelten, da der erste Fall einer neuen Rechtsprechung notwendig unter ein Recht fällt, das noch nicht bestand, als es sich verwirklichte. 383 Die Argumentation ist in sich schlüssig, geht aber am juristischen Problem vorbei. Setzt man das KRG in Bezug zu einem Rechtssystem, das aufgrund seiner speziellen Eigenart selbst rückwirkendes Recht schafft, so ergibt sich keine Kollisionsgefahr mit dem Rückwirkungsverbot. Die "Alttaten" sind allerdings in einem anderen, dem nationalsozialistischem System begangen worden. Mit diesem Rechtssystem, welchem das sog. Fallrecht fremd war, muss das KRG 10 in Bezug gesetzt werden, weil es eben diese Taten sanktionieren will. Der Widerspruch der alliierten Vorschrift und dem Rückwirkungsgebot bleibt bestehen. Nach anderer Ansicht verletzte das KRG 10 zwar das Rückwirkungsverbot, das Gebot der Rechtssicherheit und Gerechtigkeit sollte diese Verletzung ausnahmsweise rechtfertigen, weil eine große Anzahl von schwerwiegenden Verbrechen vorlag, die aus politischer Motivation bisher ungeahndet geblieben waren. 384 Diese Auffassung ist deshalb zumindest zweifelhaft, 381 Vgl. Hada v. Hadenberg, S. 119: "Es werde an die Stelle des den Richter bindenden Gesetzes ... das gesunde Rechtsgefühl der Volksgemeinschaft gesetzt. Es wird dabei im Ergebnis widerum dieses Rechtsgefühl der Volksgemeinschaft in Gegensatz gestellt zu dem durch das formelle Gesetz gewährleisteten Schutz des Individuums, es würde also auch insoweit der 1935 betonte, damals neue Grundsatz der Nazizeit durchgesetzt, daß der ,Schutz der Volksgemeinschaft den unbedingten Vorrang vor den Belangen des Individuums' ... zu beanspruchen habe". 382 Diesem Argument folgten bspw.: OLG Hamburg, MDR 1947, S. 241; OLG Braunschweig, NJW 1947/48, S. 353. 383 Gustav Radbruch, in: SJZ 1947, S. 134. 384 Vgl. nur August Wimmer, S. 129 ff.; Richard Lange, Das Kontrollratsgesetz Nr. 10 in Theorie und Praxis, in: DRZ 1948, S. 155; m.w.N. Clea Laage, S. 409 ff.; in der Rechtsprechung wird das Gerechtigkeitsargument angeführt von: OLG Hamm, MDR 1947, S. 205; OLG Köln, JR 1948, S. 53. Dementsprechend argumentierte der OGH: "Nach der Auffassung aller sittlich empfindender Menschen wurde schweres Unrecht begangen, dessen Bestrafung rechtsstaatliche Pflicht gewesen wäre. Die nachträgliche Heilung solcher Pflichtversäumnisse durch rückwirkende Bestrafung entspricht der Gerechtigkeit. Das bedeutet auch keine Verletzung der

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weil sie allein eine Vergeltung der Alttaten im Blickfeld hat. Der legitime Strafzweck im allgemeinen wie auch im besonderen muss der Rechtsgüterschutz sein. Reine Vergeltung für die Außerachtiassung des Grundsatzes des Rückwirkungsverbotes ist unzureichend. Des Weiteren wurde die notwendige Durchbrechung des Rückwirkungsverbotes mit dessen Funktion 385 begründet: Das Rückwirkungsverbot, das den Schutz des einzelnen Bürgers gegenüber willkürlicher Ausübung der Staatsgewalt bezweckt, ist historisch aufs engste verbunden mit dem Kampf des liberalen Bürgertums für den Rechtsstaat. 386 Es ist also funktional auf eine rechtsstaatliche Ordnung bezogen. Daraus wurde gefolgert, nur wenn das Rückwirkungsverbot für die Ahndung der Verbrechen des Unrechtsstaates durchbrochen wird, kann es seine ursprüngliche Funktion, die Staatsgewalt an Strafexzessen gegenüber den Bürgern zu hindern, auch wirklich erfüllen?87 Bedenklich erscheint bei dieser Argumentation, dass aus der Funktion des Rückwirkungsverbots neben Individualrechtsschutz und Rechtsstaatlichkeit zugleich auch ein Sanktionsmechanismus im Wege der Durchbrechung des Rückwirkungsverbotes abgeleitet wird, um die erstgenannten Funktionen zu gewährleisten. Eine funktionale Bestimmung im Sinne einer strafrechtlichen Sanktion ergibt sich nicht aus Art. 103 11 GG bzw. § 1 StGB. Das Rückwirkungsverbot hat lediglich die Schutzfunktion für den Bürger vor der Ausübung staatlicher Willkür. Die Auffassung, dass das Rückwirkungsverbot der Anwendung des KRG 10 nicht entgegensteht, stützt sich also wesentlich auf Argumente, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie das Rückwirkungsverbot auf seine das Individuum schützende, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit intendieRechtssicherheit, sondern die Wiederherstellung ihrer Grundlage und Voraussetzung. Unrechts sicherung ist nicht Aufgabe der Rechtssicherheit", so OGHSt I, S. 5; 2, 380 ff.; 2, 232. 385 Das Funktionsargument wurde in der Rechtsprechung vertreten von: KG Berlin 17.5.1947, DRZ 1947, S. 305 ff. 386 Vgl. dazu Franz Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes, Frankfurt 1981, S.257. 387 Joachim PereIs, Die Restauration der Rechtslehre nach 1945, in: KJ 1984, S. 369. In OGHSt 2, 380 vom 21.3.1950 findet sich dieses Argument ausformuliert: "Das Rückwirkungsverbot gehört aber zu den Rechtsgrundsätzen, die dem Staatsabsolutismus im Kampf für die Menschen- und Bürgerrechte abgerungen worden sind, um den Bürger gegen Staatswillkür zu schützen. Daher empfangt es seinen Sinn. Es hieße aber diesen Sinn ins Gegenteil zu verkehren, wenn das Rückwirkungsverbot dazu dienen sollte, die gerechte Sühne für solche Verbrechen zu vereiteln, die gerade in der Betätigung schrankenloser Staatswillkür bestanden. Das Kontrollratsgesetz Nr. 10 verstößt deshalb, auch wenn es auf vor seinem Inkrafttreten begangene Handlungen angewendet werden will, nicht gegen den dem Rückwirkungsverbot zugrundeliegenden Rechtfertigungsgrund" . 7*

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rende Funktion zurückführen. Diese Argumente sind - wie dargelegt nicht überzeugend. Ein im Zusammenhang mit dem KRG 10 von Radbruch vorgebrachtes Argument für die Notwendigkeit der Durchbrechung des Rückwirkungsverbotes ist aus Sicht der Naturrechtslehre klarer. Nach Radbruch wirkt das KRG 10 gar nicht zurück, weil die Taten, die das KRG 10 für stratbar erklärt, schon zur Zeit der Begehung nach übergesetzlichem Recht Verbrechen waren. Dem KRG 10 komme nur deklaratorische, nicht rückwirkend stratbegründende Bedeutung ZU. 388 Losgelöst von der KRG-lO-Problematik betrachtet, steht hinter dieser Argumentation eine einfache und zugleich plausible Idee, der dauerhaften Geltung des Naturrechts auch zur Zeit des Unrechts staates. Dies ist aus der Naturrechtsperspektive das konsequenteste Argument, welches das bei der Bewertung von "Alttaten" bedeutsame Rückwirkungsproblem auflöst. Für die Stratbarkeit des § 336 a. F. bedeutet diese Argumentation, dass die Einbeziehung des übergesetzlichen Rechts in den Tatgegenstand der Norm vereinbar mit dem Rückwirkungsverbot aus Art. 103 11 GG, § 1 StGB ist. Denn wenn das Naturrecht mit Menschenrechtsinhalten auch in der Unrechtsphase des NS-Staates galt, so gibt es mit der Rückwirkung kein Problem. Kritikwürdig bleibt aus positivistischer Sicht allerdings, dass die Faktizität des damaligen Gesetzesrecht bewusst geleugnet wird. Denn durch die zeitlose Geltung des Naturrechts wird diese faktische Gegebenheit als niemals existent erachtet. 2. Bestimmtheitsgebot

Da das Rückwirkungsverbot leicht zu unterlaufen wäre, wenn der Gesetzgeber unbestimmte, weitgefasste Straftatbestände und Rechtsfolgenanordnungen verwenden würde, die vom Richter auf unterschiedlichste Verhaltensweisen, die er für stratbar hält, bezogen werden könnten, wird es ergänzt durch das Gebot der Gesetzesbestimmtheit des Strafrechts. 389 Lässt sich für die Vertreter der Naturrechtsthese unter Hinweis auf die zeitlose Gültigkeit des übergesetzlichen Rechts der Konflikt mit dem Grundsatz des Rückwirkungsverbotes schlüssig umgehen, so ist der Erklärungsbedarf hinsichtlich des Bestimmtheitsgrundsatzes weitaus größer. 388 Vgl. Gustav Radbruch, in: SJZ 1947, S. 135 ff.; Fritz Bauer, S. 307; August Wimmer, S. 127. 389 SK-Rudolphi, in: Systematischer Kommentar, Kommentar zum Strafgesetzbuch, Allgemeiner Teil, §§ 1-37,6. Aufl. Berlin 1995, § 2, Rz. 11.

c.

"Recht" im Sinne des Rechtsbeugungstatbestandes

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Es ist also die Frage zu stellen, woran sich der Richter halten soll, wenn er die staatlichen Gesetze auf die Vereinbarkeit mit dem übergesetzlichen Recht prüfen soll. Was ist Naturrecht inhaltlich? Denn genau dies gilt es zu beantworten, will sich der Richter nicht durch Anwendung gesetzlichen Unrechts oder der Nichtanwendung übergesetzlichen Rechts wegen Rechtsbeugung strafbar machen. Die rechtsphilosophische Schwierigkeit besteht zunächst in der dauerhaften Inhaltsbestimmung des zu berücksichtigenden Naturrechts. Heutzutage wird man Naturrecht und übergesetzliches Recht inhaltlich über Begriffe wie Menschenrechte oder Demokratie definieren müssen. 390 Schon für die "unterschiedlichen Naturrechtsepochen in der frühen Neuzeit" zeigt sich aber, dass die "Inhalte des Naturrechts ausgetauscht wurden,,391 und das Naturrecht damit nach Bedarf mit einer beliebigen (politischen) Ideologie inhaltlich besetzt werden konnte. So war das in Übergangszeit von der Weimarer Republik hin zur NS-Diktatur und der Folgezeit damals geltende Naturrecht inhaltlich dem heutigen innerhalb der obengenannten Begriffe "einzig diskutablen,,392 Naturrecht diametral entgegengesetzt. Die Weimarer Justiz bediente sich "zu ihrer ,Befreiung' von den gesetzlichen Restgarantien der ,Systemzeit'" durchaus "naturrechtlicher Geltungsfiguren, aber mit politisch-moralisch vollkommen pervertierten, vor allem rassistischen Inhalten,,393. Diese standen dann in der NS-Zeit in Form einer übergesetzlichen Rechtsquellenlehre, verbindlich orientiert an Führerwille, Volksgemeinschaft und Parteiprogramm, als Rechtsnormen über dem geschriebenen Recht. 394 Gerade mit Blick auf die NS-Zeit zeigt sich, wie das Naturrecht, aufgefüllt mit der NS-Ideologie, machtpolitisch missbraucht werden und der Inhalt des Naturrechts von den jeweiligen politischen Machthabern abhängen kann. Für die Ausgangsfrage bedeutet dies aber auch, dass aufgrund der mangelnden Bestimmbarkeit des Naturrechts nicht verbindlich festgestellt werden kann, welches Naturrecht für den Richter maßgeblich sein soll, wenn er 390 Vgl. Erhard Denninger, Über das Verhältnis von Menschenrechten zum überpositiven Recht, in: JZ 1982, S. 225 ff.; Frank Scholderer, S. 450. Für den Wandel von Inhaltsbestimmungen des Naturrechts bietet Sigfried Schlösser, S. 946, (unbewusst) ein anschauliches Beispiel. In seiner Kritik an der mangelnden Bestimmtheit der Naturrechtsinhalte sieht er das Naturrecht inhaltlich neben Gerechtigkeit und Menschlichkeit noch durch den Begriff der Sittlichkeit geprägt. Heutzutage gilt der Begriff der Sittlichkeit als antiquiert; Naturrechtsinhalte wird man nicht mehr über Sittlichkeit definieren. 391 So Frank Scholderer, S. 450 unter Hinweis auf Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1967, S. 249 ff. 392 Frank Scholderer, S. 450. 393 Frank Scholderer, S. 451. 394 Vgl. nochmals Bernd Rüthers, Entartetes Recht, S. 29.

102 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

sich nicht durch die Anwendung gesetzlichen Unrechts oder Nichtanwendung von übergesetzlichen Rechts wegen Rechtsbeugung strafbar machen will. Dem Bestimmtheitsgebot wird bei Einbeziehung des Naturrechts in den Tatgegenstand des § 336 a. F. StGB unzureichend Rechnung getragen. Mit dieser Unbestimmtheit der übergesetzlichen Rechtsnormen ist die untrennbare Gefahr der Rechtsunsicherheit verbunden, die bei der Prüfung der Vereinbarkeit positiver Rechtsnormen mit den übergesetzlichen Rechtsnormen entstehen kann. 395 Aufgrund der mangelnden Bestimmtheit des übergesetzlichen Rechts könnte der Richter, der "das geschriebene Recht als ungerecht und unverbindlich beiseite schöbe, lediglich seine individuellen Wertungsmaßstäbe an die Rechtsvorstellungen desjenigen setzen, der das Recht gesetzt hat, ohne, dass eine Gewähr dafür bestünde, die richterliche Wertung sei die richtige,,396. Der eine Richter würde die staatlichen Befehle in Form der Rechtsnormen anwenden, der andere aufgrund seiner Vorstellungen von übergesetzlichen Rechtsbegriffen ablehnen. Die Folge wäre eine ungerechte und ungleichmäßige Behandlung der Adressaten eines Richterspruches. Selbst Radbruch, der die Beachtung des übergesetzlichen Rechts befürwortet, hat auf "die furchtbaren Gefahren,,397 für die Rechtssicherheit hingewiesen, welche die Leugnung der Rechtsnatur positiver Gesetze mit sich bringen kann. Und dies tat er mit Blick auf die vergangenen 12 Jahre der Nazidiktatur, in der diese Rechtsunsicherheit mit System zum Prinzip gemacht wurde. War zuvor die inhaltliche Ebene des Naturrechts Gegenstand der Betrachtung, so muss im Zusammenhang mit dem Problem der Rechtsunsicherheit auf die abstrakte Geltungsebene des Naturrechts gewechselt werden. Danach gilt das positive Gesetzesrecht verbindlich in dem Maße, in dem es mit dem Naturrecht vereinbar ist. Das Gesetzesrecht steht unter Vorbehalt des Naturrechts und tritt im Kollisionsfall außer Kraft. Das Naturrecht legitimiert daher das innerstaatliche Gesetzesrecht und kann gleichzeitig "dessen Kollision mit politischer Opportunität im Einzelfall, also die Staatsräson der Gesetzlichkeit wieder mit dem Machtspruch harmonisieren,,398. Diesen Mechanismus hat die NS-Ideologie perfekt umgesetzt. Das in der Nazizeit vertretende Naturrecht hatte einen pervertiert rassistischen Inhalt. Das Gesetzesrecht wurde unter den Vorbehalt seiner Übereinstimmung mit diesem nationalsozialistischen Naturrecht gestellt. Maßstab dieses Vgl. Hans-Ulrich Evers, S. 189; Sigfried Schlösser, S. 946. Vgl. Ewald Löwe/Wemer Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz mit Nebengesetzen, 20. Aufl., Anm. 3 A zu § 1 GVG. 397 Gustav Radbruch, in: SJZ 1946, S. 167. 398 Frank Scholderer, S. 450, 451. 395

396

C. "Recht" im Sinne des Rechtsbeugungstatbestandes

103

Naturrechts waren Führerwille, Volksgemeinschaft und Parteiprogramm. Unter Berufung auf diese verbindlichen Rechtsquellen konnte insbesondere das überkommene, aus der Systemzeit stammende wie das übrige Gesetzesrecht durch den Richter (im Einzelfall) außer Kraft gesetzt werden, wenn es inhaltlich nicht mit der NS-Ideologie konform war. Damit war das Gesetzesrecht formbarer Wachs in den Händen des Richters. 3. Gesetzlichkeitsprinzip

Die Problematik verschärft sich nochmals in Anbetracht des Gesetzlichkeitsprinzips399, welchem das Bestimmtheitsgebot unterliegt und wonach

die Beschreibung des verbotenen Verhaltens in gesetzlichen Tatbeständen bestimmt sein muss. Diese Voraussetzung erfüllt das Naturrecht nicht und wäre damit als Strafgrund auszuschließen. Die mangelnde gesetzliche Fixierung des Naturrechts kann man nicht mit dem Hinweis übergehen, Strafgrund sei allein der gesetzliche Tatbestand des § 336 a. F. StGB; denn die Verbotsnorm ist das gebeugte Primärrecht, und § 336 a. F. StGB bildet nur die Sanktionsnorm der Gesetzesbindung. 4OO So zieht erst der Nachweis eines rechtswidrigen Verstoßes gegen die gebeugte Norm, welche für die richterliche Entscheidung im konkreten Fall maßgeblich ist, die Sanktionsfolge des § 336 a. F. StGB nach sich. Insoweit geht der Hinweis von Coing401 in die richtige Richtung, dass dem Richter im Grunde ein Verstoß gegen das Naturrecht zum Vorwurf gemacht wird. Worin aber das durch das Naturrecht definierte verbotene Verhalten besteht, ist schriftlich nicht fixiert. Da das Naturrecht bestimmen soll, was der Richter darf und was ihm verboten ist, muss zudem in diesem Zusammenhang grundsätzlich gefragt werden, inwieweit das Naturrecht selbst Bestrafung fordert. Denn das Naturrecht gebietet wohl bestimmten Gesetzen, die bestimmten Werten widersprechen, den Gehorsam zu verweigern, aber es fordert keine Strafe dessen, der ihm nicht gehorcht402 . Naturrecht gebietet daher auch keine strafbewehrte Pflicht zum Widerstand. Der Staat ist daher auch mittels des Rechtsbeugungstatbestandes nicht berufen, Verstöße gegen das Naturrecht im Strafverfahren abzuurteilen. 403 Zudem muss der Blick auf Sinn und Zweck des Gesetzlichkeitsprinzips gerichtet werden404 : Danach soll sich grundsätzlich jeder Bürger vor seinen Vgl. SK-Rudolphi, § 1, Rz. 12. Vgl. LK-Spendel, § 336, Rz. 53; Frank Scholderer, S. 439. 401 Helmut Coing, S. 62 ff.; kritisch auch Hans-Ulrich Evers, S. 189. 402 Vgl. bereits Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und materielle Wertethik, Halle an der Saar 1916, S. 374 ff. 403 So auch: Hans-Ulrich Evers, S. 189. 399

400

104 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

Taten infonnieren können, ob und gegebenenfalls mit welcher Strafe sie bedroht sind405 , damit das Schuldprinzip406 gewährleistet bleibt. Bei ungeschriebenen überpositiven Nonnen ist deren Erkennbarkeit wesentlich erschwert und der "nachträgliche Vorwurf ihrer Verletzung mit dem Schuldprinzip nicht ohne weiteres vereinbar,,407. VI. Nachkriegsjustiz und BGH zum übergesetzlichen Recht Im Folgenden wird untersucht, ob die Nachkriegsjudikatur insbesondere der BGH Naturrecht in den Tatgegenstand des § 336 a. F. StGB einbeziehen wollte und ob somit aus seiner Sicht die Anwendung gesetzlichen Unrechts eine objektive Rechtsbeugung darstellt. Dabei soll einleitend verdeutlicht werden, wie die Alliierten und die Nachkriegsrechtsprechung die NSRechtsordnung beurteilten und welche Rolle die Radbruch'sche Fonnel in dieser Hinsicht spielte. 1. Alliierte Gesetzgebung und NS-Rechtsordnung

Im Vordergrund für die Handhabung der NS-Rechtsordnung durch die Alliierten stand, dem Eindruck der Kontinuität von NS-Rechtsordnung mit neuem Recht entgegenzuwirken. 408 Maßgeblich hierfür war zunächst die Außerkraftsetzung der 25 wichtigsten "Gesetze politischer Natur oder Ausnahmegesetze, auf welchen das Nazi-Regime beruhte,,409. Die beiden weiteren Säulen, auf die sich die Entnazifizierung der NS-Rechtsordnung stützte, war zum einen die Festlegung von Anwendungs- und Auslegungsregeln für das weitergeltende NS-Recht41O , zum anderen die Ausübung des Rechts durch eine "entnazifizierte" demokratische Justiz411 . Vgl. zum Folgenden Frank Scholderer, S. 439. SK-Rudolphi, § 1, Rz. 11. 406 Thomas Fischer, § 1, Rz. 1: das Gesetzlichkeitsprinzip als Voraussetzung des Schuldstrafrechts mit Hinweis auf BVerfGE 20, 331; 25, 269. 407 Frank Scholderer, S. 439. 408 Vgl. zum Folgendem: Clea Laage, S. 413 ff. 409 Vgl. Militärregierungsgesetz Nr. I und Kontrollratsgesetz Nr. I vom 20.9. 1949, Amtsbl. d. MilReg. Deutschl. Nr. I, S. 11 sowie Amtsbl. d. Kontrollrats Nr. 1, S. 6. Aufgehoben wurden u.a.: das Ermächtigungsgesetz, judendiskriminierende Gesetze und Gesetze, die dem Schutz des NS-Staates und der NSDAP dienten. 410 Regelungen dafür fanden sich im MilReG I, im KRG I u. in den Allgemeinen Anweisungen der Militärregierung an Richter Nr. I, vgl. Art. III MilRegG I, Amtsbl. d. MilReg. Deutschl. Nr. I, S. 11 und Aet. IV Ziff. 7 MilRegGI, Amtsbl. d. MilReg. Deutschl. Nr. I, S. 11. 411 Das KRG 4 beispielsweise verfügte die Amtsenthebung der Richter und Staatsanwälte, die sich als Mitglieder der NSDAP aktiv für deren Tätigkeit einge404

405

C. "Recht" im Sinne des Rechtsbeugungstatbestandes

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Aufgrund der unvollständigen Revision der NS-Rechtsordnung durch die Alliierten412 stellte sich nach 1945 für die Rechtslehre, aber insbesondere für die Rechtsprechung die Frage, ob ein Gesetz "typisch nationalsozialistisch" ist, "typischen Nazigeist" enthält oder "ausgesprochen nationalsozialistische Ziele verfolgte,,413, um dann zu entscheiden, ob ein Gesetz als gesetzliches Unrecht unanwendbar geworden war. Diese Herangehensweise vernachlässigte Radbruchs Geltungsthese hinsichtlich der nationalsozialistischen Gesetze in seinem maßgeblichen Ansatzpunkt. War nach Radbruchs Auffassung dem gesetzlichen Unrecht die Rechtsgeltung von Anfang an zu versagen, so hatte die von der Rechtssprechung formulierte Fragestellung nur die zukünftige Geltung der nationalsozialistischen Gesetze anvisiert. Es wurde gefragt, ob ein Gesetz "nicht mehr anwendbar" sei414 . Soll die Wirkung dem Gesetz nicht auch rückwirkend abgesprochen werden, entfällt die Bestrafungsfunktion der Radbruch'schen Formel, denn dann waren die auf diese Gesetze gestützten Handlungen rechtmäßig. Kurz nach Kriegsende ab dem Jahre 1946 bekannten sich Rechtslehre415 und auch Rechtsprechung416 überwiegend - allerdings häufig unabhängig von einer konkreten Prüfung eines NS-Gesetzes - zur Radbruch'schen Lehre vom übergesetzlichen Recht und gesetzlichen Unrecht.

setzt hatten, vgl. Amtsbl. d. Kontrollrats Nr. 2, S. 26. Nach der die Grundsätze der neuen Justiz bestimmende Kontrollratsproklamation Nr. 3 musste diese sich an Demokratie, Gerechtigkeit, Gleichheit vor dem Gesetz und den Grundsätzen eines fairen Verfahrens orientieren, vgl. Amtsbl. d. Kontrollrats Nr. I, S. 22. 412 Vgl. nur Wilhelm Wengier, Die Nichtanwendung nationalsozialistischen Rechts im Lichte der Rechtsvergleichung und der allgemeinen Rechtslehre, in: JR 1949, S. 77; m. w.N. Clea Laage, S. 416, FN. 72. 413 Vgl. OLG Braunschweig vom 7.6.1946, SJZ 1946, S. 119; OLG Freiburg vom 12.9.1946, DRZ, S. 65; OLG Kiel vom 22.1.1947, DRZ 1947, S. 198; OLG Kassel vom 29.9.1948, NJW 1949, S. 385; Hellmuth v. Weber, Recht und Pflicht des Richters zur Prüfung der Gültigkeit des Strafgesetzes, in: Tagung deutscher Juristen, Bad Godesberg, Sonderveröffentlichung des ZJBL für die britische Zone, Hamburg 1947, S. 167. 414 Vgl. OLG Braunschweig vom 7.6.1946, SJZ 1946, S. 119; OLG Freiburg vom 12.9.1946, DRZ, S. 65. 415 Vgl. z.B. Walter Roemer, Von den Grenzen und Antinomien des Rechts, in: SJZ 1946, S. 9; Wilhelm Kisselbach, Zwei Probleme aus dem Gesetz Nr. 10 des Kontrollrates, in: MDR 1947, S. 2. 416 Vgl. AG Wiesbaden vom 13.11.1945, SJZ 1946, S. 36 (46), wo "die Gesetze, die das Eigentum der Juden dem Staate für verfallen erklärte", als "nichtig" eingestuft wurden; OLG Frankfurt vom 12.8.1947, SJZ 1947, S 627 ; anders OLG Hamburg vom 18.6.1947, SJZ 1948, S. 36.

106 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

2. Kontrollratsgesetz Nr. 10 und der OGH Zeitgleich zur Entnazifizierung des NS-Rechtssystems und der NS-Justiz wollte die alliierte Gesetzgebung insbesondere mittels des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 die Unrechtstaten in der NS-Zeit ahnden; ein politisch wie rechtlicher Neuanfang wurde angestrebt. Nach Art. 11 Ziff. 1 a-d KRG 10 waren folgende Tatbestände strafbar: Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit417 und die Zugehörigkeit zu verbrecherischen nationalsozialistischen Organisationen. Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit kann daher als Positivierung der Radbruch'schen Formel gelten. Denn die Begründung des strafbaren Verhaltens bestimmt nicht das Gesetz des Staates, sondern das übergesetzliche Recht. Geschütztes Rechtsgut waren die Menschenrechte, die Menschheit als Trägerin dieser Rechte. 418 Des Weiteren knüpfte das KRG 10 an die Radbruch'sche Formel an, indem es die Verletzung der Menschenrechte auch dann als Unrecht einstufte, wenn sie gesetzlich verboten waren. KRG 10 erklärte, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit unabhängig davon vorliegen, ob die Taten "das nationale Recht des Landes, in welchem die Handlung begangen worden ist, verletzen,,419. Damit war die Berufung auf die NS-Rechtsordnung abgeschnitten. Der OGH war nunmehr bei Verbrechen von Deutschen gegen Deutsche zur Anwendung des KRG Nr. 10 ermächtigt. 42o Da das KRG die Menschenrechte als Rechtsgut deklarierte, fanden sich in den Entscheidungen Passagen, in denen der OGH die Geltung des übergesetzlichen Rechts ausdrücklich betonte. 421 Der OGH griff so zur Ahndung der durch Richter417 Vgl. Art. 11 Ziff. Ic KRG 10; die Norm lässt sich mit Max Güde, Die Anwendung des Kontrollratgesetzes Nr. 10 durch die deutschen Gerichte, in: DRZ 1947, S. 113 in drei wesentliche Tatbestandsgruppen einteilen: - Tatbestände wie Mord, Freiheitsberaubung u. s. w. - Massenverbrechen: Ausrottung, Versklavung, Zwangsverschleppung u. s. w. - Verfolgung aus politischen, rassistischen oder religiösen Gründen. 418 Vgl. Gustav Radbruch, in: SJZ 1947, S. 133. 419 Vgl. Art. 11 Ziff. 1 c KRG 10. 420 Vgl dazu Joerg Friedrich, S. 103 ff. 421 Anschauliches Beispiel bietet die Entscheidung OGHSt 2, 269 (271 ff.): "Das Kontrollratsgesetz Nr. 10 geht davon aus, daß es im Bereich aller Kulturvölker bestimmte, mit dem Wert und der Würde der menschlichen Persönlichkeit zusammenhängende Grundsätze menschlichen Verhaltens gibt, die für das Zusammenleben der Menschen und für das Dasein jedes Einzelnen so wesentlich sind, daß auch kein diesem Bereich angehörender Staat berechtigt ist, sich davon loszusagen. Der Verstoß gegen diese Grundsätze der Menschlichkeit bleibt also strafbares Unrecht, auch wenn er von einem Staat geduldet gefördert oder veraniaßt wird. . .. Das Kontrollratsgesetz Nr. 10 fordert dabei von jedem, daß er sich für die Grundsätze der Menschlichkeit entschied, wenn ihm ein staatliches Gesetz oder seine Handhabung

c.

"Recht" im Sinne des Rechtsbeugungstatbestandes

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spruch begangenen Verbrechen auf naturrechtliche, menschenrechtliche Kriterien mit überpositiver Geltung zurück. Das nationale, d. h. damals geltende NS-Recht als Maßstab war nicht maßgebend. Dennoch sicherte sich der OGR bei seinen Entscheidungen immer wieder positivrechtlich ab422 , indem er die damals für den entscheidenden Richter maßgebliche Norm, auf die bspw. ein Todesurteil beruhte, als Maßstab heranzog und seine Geltung nicht anzweifelte. Es wurde sodann geprüft, ob nicht bei der Rechtsanwendung durch den NS-Richter eine Rechtbeugung, z.B. in Form einer rechtswidrigen Strafzumessung, erfolgt ist. Bei der positivrechtlichen Prüfung ließ sich zumeist ein Verstoß gegen die damals geltenden Gesetze nachweisen, und zwar in Form eines Ermessensmissbrauchs insbesondere bei der Strafzumessung423 .

3. Der Bundesgerichtshof Der Bundesgerichtshof löste den OGR ab. Für den BGR und die übrigen bundesrepublikanischen Strafgerichte wurde 1951 die Ermächtigung zur Anwendung des KRG 10 zurückgenommen. Allerdings orientierten sich einige Entscheidungen des Bundesgerichtshofs an den Ausführungen des OGR zu KRG 10 sowie an den übergesetzlichen Maßstäben Radbruchs. Neben dem BVerfG, welches in Entscheidungen der Gültigkeit der NSRechtsordnung eine Absage erteilte,424 fand die Radbruch'sche Verleugnungsthese fast wörtlich Eingang in die sogenannte Kembereichstheorie des Bundesgerichtshofs. 425 Auch die Unerträglichkeitsthese Radbruchs wurde vom BGR und vom BVerfG übemommen. 426 So hat sich der BGR bisweilen offen zum Gedanken des überpositiven Rechts bekannt und bspw. "die Judengesetzgebung als gesetzliches Unrecht" bezeichnet. 427 Diese Bekenntnisse erfolgten allerdings zumeist unabhängig von der konkreten Prüfung der fraglichen NS-Norm. Der Bundesgerichtshof ist den Fragen, ob unter dem Begriff "Recht" im Sinne des § 336 a. F. StGB auch das überpositive Recht zu verstehen und die Möglichkeit bot, sie zu verletzen. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb der Spruchrichter davon ausgenommen sein soll". 422 Vgl. dazu insbesondere OGHSt 1, 217 (221 ff.) sowie die diesbezüglichen Darlegungen bei Frank Scholderer, S. 463-468. 423 Vgl. dazu insbesondere OGHSt 1, 217 (221 ff.) sowie die diesbezüglichen Darlegungen bei Frank Scholderer, S. 463-468. 424 Vgl. BVerfGE 3, 58 ff.; 6, 152 ff.; 7, 313; 15, 112 ff. 425 BGHSt 3, 362; 2, 238; 2, 177. 426 BGHSt 2, 238; BVerfGE 3, 232 und 6, 198. 427 Vgl. BGH, NJW 1971, S. 572.

108 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

ob die Beugung des Rechts durch Anwendung eines ungerechten und ungültigen NS-Gesetzes möglich sei, durchweg "ausgewichen,,428. Zur Verdeutlichung dieser Problematik werden auch BGR-Entscheidungen einbezogen, in denen es nicht um Richteranklagen unmittelbar geht, aber die sich mit der Naturrechtsfrage auseinandersetzen. In einer seiner ersten Entscheidungen, BGHSt 2, 234, bekannte sich der BGR recht klar zum Gedanken eines überpositiven Rechts. Es ging um die Rechtswidrigkeit einer Freiheitsberaubung im Rahmen von Judenverschickungen. Der BGR formulierte die sog. Kembereichstheorie und wandte sich damit gegen die vom Vorgericht vertretende Auffassung, "der Gestapo sei auf der Grundlage der VO" (Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat) "vom 28. Februar 1933 ,jede Festnahme und Freiheitsbeschränkung erlaubt' gewesen,,429: "Die Freiheit eines Staates, für seinen Bereich zu bestimmen, was Recht und was Unrecht sein soll, mag so weit bemessen sein, sie ist doch nicht unbeschränkt. Im Bewußtsein aller zivilisierten Völker besteht bei allen Unterschieden, die die nationalen Rechtsordnungen im einzelnen aufweisen, ein gewisser Kembereich des Rechts, der nach allgemeiner Rechtsüberzeugung von keinem Gesetz und keiner anderen obrigkeitlichen Maßnahme verletzt werden darf. Er umfaßt bestimmte als unantastbar angesehene Grundsätze des menschlichen Verhaltens, die sich bei allen Kulturvölkern auf dem Boden übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der Zeit herausgebildet haben und die als rechtsverbindlich gelten, gleichgültig, ob einzelne Vorschriften nationaler Rechtsordnungen es zu gestatten scheinen, sie zu mißachten,,43o. Indem der Bundesgerichtshof die Unverletzlichkeit eines Kembereichs des Rechts, welches unabhängig von staatlichen Gesetzen wirksam ist, konstatiert, impliziert er damit die Geltung von übergesetzlichen Normen und Naturrecht: Er stellt die Gültigkeit von nationalsozialistischen Normen unter Naturrechtsvorbehalt. Aber der Frage nach der Rechtsgeltung der in Rede stehenden Verordnung vom 28. Februar 1933 wollte der BGR sich konkret nicht stellen431 : So LK-Spendel, § 336, Rz. 51. BGHSt 2, 237,238. 430 BGHSt 2, 237. Hervorhebungen durch den Verf. 431 Diese Ausführungen standen nicht im Zusammenhang mit einer richterlichen Tätigkeit, sondern betrafen Anordnungen über Judenverschleppungen, die von Hitler, Heydrlch und ihren Ausführungsorganen im Reichssicherheitshauptamt ausgegangen sind (und keinen Gesetzescharakter hatten). Wenn Sigfried Schlösser, S. 945 meint, dass aufgrund des mangelnden Gesetzescharakters der Anordnung der Judenverschickung keine Rückschlüsse für die Rechtsauffassung des BGH zum übergesetzlichen Recht zu ziehen sei, ist dies zu eng, weil die grundsätzlichen Ausführungen zum Kembereichs des Rechts im Zusammenhang mit der VO v. 28.2.1933 und damit einer damals rechtlich verbindlichen Norm erfolgen. 428

429

c.

"Recht" im Sinne des Rechtsbeugungstatbestandes

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"Dabei braucht, da alle diese Fragen hier nur für das Bewußtsein der Angeklagten von der Widerrechtlichkeit der Freiheitsentziehung von Belang sind, nicht grundsätzlich die umstrittene Frage der Rechtsgültigkeit der Vo... erörtert zu werden,,432.

BGHSt 2. 173 vom 12. 2.1952 behandelte die Strafbarkeit von Huppenkothen. Dieser trat als Ankläger im sogenannten Flossenburger Standgerichtsverfahren gegen Canaris und andere auf. 433 Die auf Befehl oder zumindest mit Billigung Hitlers von dem SS-Führer Kaltenbrunner angeordneten "Gerichtsverfahren" endeten mit "Todesurteilen", die im April 1945 im Konzentrationslager vollzogen wurden. Die ganzen Prozeduren verletzten insbesondere das damalige Prozessrecht auf schwerste434 , so dass die Anklage auf Beihilfe zum Mord lautete435 .

Dennoch hatte der BGH in seinem (ersten) Revisionsurteil436, welches den ersten Freispruch des Münchner Schwurgerichts wegen grober Mängel aufhob, klargestellt, dass es übergesetzliches Recht gibt und folgerichtig, dass eine Norm nicht schon deshalb als Recht gilt, weil sie im NS-Staat Gesetz war: So sei ein Tötungsverbrechen zu bejahen, wenn feststehe, "daß die Art und Weise, wie ihnen das Leben genommen wurde, auch durch das damals geltende Recht nicht gedeckt wurde oder gegen allgemein verbindliche rechtliche Grundsätze verstieß, die unabhängig von staatlicher Anerkennung gelten"437.

Dieser Auffassung folgend formulierte der BGH im Weiteren nochmals grundsätzlich: "Die Machthaber des nationalsozialistischen Staates haben, wie offenkundig ist und schon damals allen Einsichtigen klar war, zahlreiche Vorschriften erlassen, die mit dem Anspruch auftraten, ,Recht' zu setzen und dem ,Recht' zu entsprechen, die aber trotzdem der Rechtsnatur ermangelten, weil sie jene rechtlichen 432 BGHSt 2, 238. 433 Vgl. dazu bereits B., 11., 4 c) bb). Zum ganzen Verfahren und zum Sachverhalt näher Joerg Friedrich, S. 209 ff. sowie Günter Spendei, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, S. 89 ff. 434 Vgl. dazu bereits B., 11., 4 c) bb) sowie Günter Spendei, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, S. 98. 435 Kritisch zur Beihilfe als Beteiligungsform der Tatbegehung: Günter Spendei, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, S. 94 - 96. Da die "extrem-subjektivistische Täter- und Teilnahmetheorie ... des BGH" dazu führte, dass "Hitier und ... Kaltenbunner als diejenigen Tatbeteiligten" (Haupttäter der Tötung), "die die erste auslösende Bedingung ... für die rechtswidrige Prozedur und deren tödliche Folgen gesetzt hatten", der Ankläger Huppenkothen und dann auch in der zweiten Verhandlung vor dem Schwurgericht München der erst später ermittelte "Gerichtsvorsitzende" Dr. T. nur als deren Gehilfen angesehen wurden. 436 Dieser sich über sieben Jahre streckende Strafprozess ging insgesamt dreimal durch den Instanzenzug und erforderte sechs Urteile. 437 BGHSt 2, 175.

110 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat Grundsätze verletzten, die unabhängig von jeder staatlicher Anerkennung gelten und stärker sind als ihnen entgegenstehende obrigkeitliche Akte ... ,,438

NS-Gesetze, die gemessen "an jene(n) rechtlichen Grundsätze", ungültig zu nennen wären, führt der BGH jedoch nicht an. Im Weiteren vernachlässigt der BGH seine naturrechtliehe Begründung, attestiert dem Schwurgericht Fehler "bei der rechtlichen Würdigung von Einzelheiten der Standgerichtsverfahren,,439 und stellt die krassen Verstöße gegen das damals geltende Kriegs- und Verfahrensrecht fest. Durch das Abstellen der Verletzung positiven Rechts bleibt beim BGH der Positivismus als Grundlage der juristischen Argumentation. 440 In den darauffolgenden zwei weiteren Revisionsentscheidungen des Bundesgerichtshofs441 war von überpositiven Rechtssätzen, die durch dieses Standgerichtsverfahren verletzt sein könnten, keine Rede mehr. Der BGH hat in seiner zweiten Revisionsentscheidung von 1954 erneut den Freispruch der ersten Instanz aufgehoben und den Schwerpunkt der Urteilsfindung auf eine positivistische Frage verlagert. Es ging darum, ob das sogenannte Standgericht im Anschluss an die Urteilsberatung gemäß 1. DVO vom 19.9.1938 zur KStVO vom 17.8.1938 zur Frage der Begnadigung schriftlich Stellung genommen und wieso der damalige Ankläger Huppenkothen nicht gemäß der KStVO die Urteilsbestätigung des obersten Gerichtsherrn eingeholt hatte. 442 Auch in seinem dritten Revisionsurteil von 1956 in dieser Sache prüft der Bundesgerichtshof einzig und allein die möglichen Verstöße gegen positives Recht; übergesetzliches Recht als Maßstab bleibt vollends außer acht. In BGHSt 3, 110 vom 8.7.1952 ging es nicht um den Tatvorwurf der Rechtsbeugung; die Entscheidung ist die erste der sogenannten Denunziantenfälle. Eine Frau hatte Äußerungen ihres Ehemannes über "Persönlichkeiten der NSDAP,,443 angezeigt. Nach einer Hauptverhandlung vor dem Kriegsgericht wurde der Ehemann nach § 5 KSSVO wegen "Wehrkraftzersetzung" zum Tode verurteilt. Der BGH hob den tatgerichtlichen Freispruch wegen versuchter Tötung und Freiheitsberaubung auf. Die Naturrechtsfrage ließ der BundesgerichtsBGHSt 2, 177. BGHSt 2, 179. 440 Vgl. BGHSt 2, 179 f. 441 BGH vom 30.11.1954, 1 STR 350/53 - 2. Urteil- in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIII, S. 336 ff.; BGH vom 19.6.1956, 1 STR 50/56 - 3. Urteil- in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIII, S. 344 ff. 442 Vgl. BGH vom 30.11.1954, 1 STR 350/53 - 2. Urteil - in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIII, S. 342. 443 BGHSt 3, 111. 438 439

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hof auch hier offen und stellte stattdessen einen Verstoß gegen die damalige Gesetzeslage fest: "Es braucht nicht erörtert werden, ob das Todesurteil etwa schon deshalb rechtswidrig war, weil dem vom Kriegsgericht angewendeten § 5 I Nr. 1 KSSVO wegen Widerspruchs mit einer überstaatlichen Rechtsnorm höherer Rangordnung auch für die damalige Zeit die Geltung abgesprochen werden müßte. (... ) Denn auch wenn man die Rechtsgültigkeit dieser Vorschrift bejaht, war bei den vom Schwurgericht festgestellten Tatsachen für die Anwendung des § 51 Nr. 1 überhaupt kein Raum, so daß jede auf der Grundlage vom Kriegsgericht ausgesprochene Strafe ... als rechtswidrig angesehen werden müßte,,444.

Wiederum einen Denunziantenfall betraf BGHSt 4, 66 vom 6.11.1952. Da inzwischen die Ermächtigung der bundesdeutschen Gerichte zur Anwendung des KRG 10, das Grundlage der Vorinstanz war, zurückgenommen worden war, mochte der BGH das angefochtene Urteil nicht mehr aufrechterhalten. Der Bundesgerichtshof wies bei der Zurückweisung auf die Möglichkeit hin, dass sich der Angeklagte auch "nach deutsch-rechtlichen Bestimmungen strafbar gemacht haben" könne445 , "und zwar durch Beteiligung an einer vorsätzlichen rechtswidrigen Tötung seines Bruders" durch den Volksgerichtshof. 446 Die Rechtswidrigkeit begründete der Bundesgerichtshof wie in BGHSt 3, I10 wieder mit der Überspannung des Tatbestandes § 5 I Nr. 1 KSSVO. 447 Die spezielle Frage, ob die KSStVO in § 5 I Nr. 1 (Todesstrafe für "Wehrkraftzersetzung" durch Äußerungen) einer überstaatlichen Rechtsnorm höherer Rangordnung widerspräche und deshalb unverbindlich gewesen sei, wurde beiseite geschoben und die Vorschrift für damals geltendes Recht gehalten. In BGHSt 10, 294 vom 7.12.1956 sahen sich die Angeklagten neben dem Tatvorwurf des Mordes auch dem der Rechtsbeugung ausgesetzt. In diesem Zusammenhang hieß es: "Die Zweifelsfrage, ob unter Beugung des ,Rechts' im Sinne des § 336 auch die Anwendung ,unsittlichen' Gesetzesrechts zu verstehen ist, kann hier unentschieden bleiben. Abgesehen von ausdrücklichen Gesetzesverstößen in verfahrens- und BGHSt 3, 116. Mit Wirkung vom 1.12.1951 wurde den deutschen Gerichten die Vollmacht zur Anwendung des KRG 10 durch den britischen Hochkommissar in seiner Zone entzogen. Der BGH hatte daraus bereits in dem Urteil vom 22.1.1952 (2 StR 17/50) - was fortan ständige BGH-Rechtspraxis wurde - die Konsequenz gezogen, Verurteilungen nach KRG 10 nicht mehr zu bestätigen, sondern das Verfahren einzustellen oder als Revisionsgericht den Hinweis auf eine mögliche Strafbarkeit der jeweils Angeklagten nach deutsch-rechtlichen Bestimmungen zu tätigen. Vgl. Joerg Friedrich, S. 128 sowie BGH, MDR 1952, S. 693 ff. 446 BGHSt 4, 68. 447 Vgl. BGHSt 4,69,70. 444 445

112 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat sachlichrechtlicher Hinsicht, deren Einordnung in den Begriff der Rechtsbeugung keinem Zweifel unterliegt. .. ,,448

Die Frage des Naturrechts als Tatgegenstand des § 336 a.F. StGB wird auch hier wieder umgangen, indem auf die damaligen Gesetzesverstöße, die allerdings in dem Urteil nicht weiter spezifiziert werden, verwiesen wird. Das Schwurgericht Nümberg-Fürth verurteilte die beiden Beisitzer des Sondergerichtsvorsitzenden Rothaug wegen Totschlags zu Freiheitsstrafen von drei und zwei Jahren. Das Vorliegen des Verbrechens nach § 336 a.F. StGB wurde als Voraussetzung einer Verurteilung wegen Tötungsverbrechen geprüft und auch bejaht, während aber eine gleichzeitige Verurteilung der Angeklagten wegen eines jeweils tateinheitlich begangenen Verbrechens der Rechtsbeugung aus Gründen der Verfolgungsverjährung unterblieb. Die Revision der Angeklagten und der Staatsanwaltschaft hatten Erfolg. 449 In seinem Urteil vom 21.7.197if50stellte der Bundesgerichtshof im Hinblick auf die möglichen niedrigen Beweggründe als subjektive Mordmerkmale fest: "Die auch damals bestehenden Möglichkeiten rechtlicher Verfahrensweise haben die Angeklagten im Verfahren gegen K. nicht genutzt, obwohl sie die Judengesetzgebung nicht gebilligt und als gesetzliches Unrecht erkannt haben, das durch eine Heranziehung der VolksschädlingsVO noch verschärft wurde,,451.

Zwar unterstrich der Bundesgerichtshof auch hier die Existenz gesetzlichen Unrechts, dennoch wurde nicht gefragt, ob "schon allein die Anwendung des ,Blutschutzgesetzes' als gesetzliches Unrecht objektiv eine Rechtsbeugung darstellte und damit zugleich die Rechtswidrigkeit des sondergerichtlichen Todesurteils begründete,,452. Nach alledem bleibt festzuhalten, dass sich der Bundesgerichtshof wie die Nachkriegsjudikatur allgemein in einigen Strafurteilen zum ungeschriebenen Recht bekannt haben. Nachdem die Ermächtigung der bundesrepublikanischen Gerichte zur Anwendung des KRG 10, das als positiviertes Naturrecht angesehen werden konnte, zurückgenommen wurden war, zog der BGH bereits mit seinem Urteil vom 22.1.1952 (2 StR 17/50) die Konsequenz, Verurteilungen nach KRG 10 nicht zu bestätigen. Anstatt die Verurteilungen aufrechtzuerhalten, wurden die Zurückweisungen regelmäßig mit dem Hinweis versehen, dass der Sachverhalt nach deutsch-rechtlichen BGHSt 10, 300. Vgl. zum Verfahrensverlauf Joerg Friedrich, S. 300 ff. Das Verfahren wurde am 20.8.1976 gegen beide Angeklagten wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. 450 BGH, NJW 1971, S. 571. 451 BGH, NJW 1971, S. 572, 573. Hervorhebungen durch den Verf. 452 So Günter Spendel, Rechtspositivismus und Strafjustiz nach 1945, in: JZ 1987, S. 586; kritisch auch Frank Scholderer, S. 480. 448 449

C. "Recht" im Sinne des Rechtsbeugungstatbestandes

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Bestimmungen zu beurteilen sei und gegebenenfalls danach eine Bestrafung des Angeklagten in Frage komme. Die Möglichkeit, von einer nachträglichen Positivierung des KRG 10 auf das "genuine Naturrecht, das unabhängig von jeder alliierten Anwendungsermächtigung gegolten hätte", zurückzugehen, nutzte der BGH nicht. 453 Gleichwohl folgte der Bundesgerichtshof mit BGHSt 2, 234 Radbruchs Verleugnungsthese von geltendem und nicht-geltendem Recht. Die Formel lautet: "Anordnungen, die die Gerechtigkeit nicht einmal anstreben, den Gedanken der Gleichheit bewußt verleugnen und die allen Kulturvölkern gemeinsame Rechtsüberzeugungen, die sich auf den Wert und die Würde der menschlichen Persönlichkeit beziehen, deutlich mißachten, ... kein Recht" schaffen, und ein ihnen entsprechendes Verhalten... Unrecht" bleibt. 454 Nicht nur die Entscheidung in BGHSt 2, 173 (177) übernahm diese Passage, die Rechtsprechung des BGH enthält in aller Regel wörtlich diesen Gedanken und bezieht sich ebenso explizit auf naturrechtliche Kriterien des OGH zum KRG 10. Diesen Bekenntnissen zum Naturrecht folgten zumeist jedoch keine konkreten Prüfungen des jeweiligen NS-Gesetzes auf seine Geltung. Die spezielle Frage, ob ein Gesetz einer überstaatlichen Rechtsnorm höherer Rangordnung widerspreche und deshalb unverbindlich sei, wurde zumeist beiseite geschoben und die Rechtsgültigkeit des Gesetzes erklärt. 455 Dementsprechend hielt sich der Bundesgerichtshof bei der Beantwortung der konkreten Frage, ob der Begriff "Recht" im Sinne des § 336 a. F. StGB auch übergesetzliches Recht umfassen soll und ob bei der Anwendung eines der übergesetzlichen Rechtsordnung widersprechenden staatlichen Gesetzes der Richter dem Vorwurf der Rechtsbeugung auszusetzen ist, zurück. 456 Eine explizite Bestätigung für diese den Tatbestand der Rechtsbeugung betreffenden Fragen findet sich nach Analyse der BGH-Rechtsprechung nicht. Dennoch gibt es Anhaltspunkte, wonach der BGH unter beugungsfahigem "Recht" i. S. d. § 336 a. F. StGB auch übergesetzliche Normen verstehen wissen will. Zum einen ist festzustellen, dass der So Frank Scholderer, S. 472. BGHSt 2, 238. 455 Bspw. in BGHSt 4, 68 wird der Tatbestand der "Wehrkraftzersetzung" (§ 5 I Nr. 1 KSStVO) als rechtsgültig angesehen, ohne die Wirksamkeit überhaupt zu diskutieren; in BGHSt 9, 305 wird die Rechtsgültigkeit des Tatbestand der "Feindbegünstigung" (ehern. § 91 b StGB) ungeprüft unter Hinweis auf das erste Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 29.1.1953, 3 StR 248/52, in der Sache bejaht; auch in BGH, MDR 1952, S. 693 ff. wird die Rechtswirksamkeit der Bestimmung zur "Fahnenflucht" ungeprüft unterstellt. 456 Insbesondere bei den Entscheidungen BGHSt 3, 111 und BGHSt 10, 295 hat das oberste deutsche Strafgericht diese Fragen ausdrücklich dahingestellt sein lassen. 453

454

8 Quasten

114 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

Bundesgerichtshof weder in einem unmittelbar den Tatbestand der Rechtsbeugung betreffenden Urteil das Naturrecht als Tatgegenstand ausdrücklich ausschließt noch in anderen die richterliche Tätigkeit betreffenden Entscheidungen einen derartigen Hinweis liefert. Zum anderen hat sich der Bundesgerichtshofs explizit auf den Gedanken des übergesetzlichen Rechts berufen, wenn es in seinen Entscheidungen, um die Bewertung von rechtswidrigen Todesurteilen ging. Damit wird die Unverbindlichkeit von nationalsozialistischen Gesetzen impliziert. Wenn man dies berücksichtigt, deutet mehr darauf hin, dass der BGH das ungeschriebene Recht vom Rechtsbeugungstatbestand umfasst sieht und dessen richterliche Anwendung sanktioniert wissen will. In diese Richtung weist zudem die Entscheidung in BGHSt 2, 173. Denn dort wird die Verurteilung und die Hinrichtung im Konzentrationslager als willkürliche und rechtswidrige Tötung bezeichnet, wenn die Form der Prozedur "gegen allgemein verbindliche rechtliche Grundsätze verstieß, die unabhängig von staatlicher Anerkennung gelten,,457. Demnach sprechen viele Indizien dafür, dass der Bundesgerichtshof unter rechtsbeugungsfähiges "Recht" auch übergesetzliches Recht versteht und die Anwendung gesetzlichen Unrechts als objektive Rechtsbeugung ansieht. Dass allerdings die Einbeziehung des Naturrechts in den Rechtsbeugungstatgegenstand abzulehnen ist, wurde bereits deutlich dargelegt458 : Unter Berücksichtigung des (damaligen) Verfassungs- und Gesetzesrechts hätte der BGH die Einbeziehung des Naturrechts in den Tatgegenstand des § 336 a. F. StGB nicht ohne weiteres annehmen können. Ebenso streitet die Aufgabe und Stellung des Richters im Staatswesen verknüpft mit der Entstehungsgeschichte des § 336 a. F. StGB gegen die Berücksichtigung von Naturrecht. Nicht zuletzt das Rückwirkungsverbot widerspricht einer auf Naturrecht beruhenden Sanktion durch Strafrecht. Für die rechtliche Beurteilung der "Alttaten" durch den Bundesgerichtshof hätte das damals in der Nazizeit geltende positivierte Recht verbindlich zugrundegelegt werden müssen. Dies tat der BGH; zudem setzte er sich in seinen Entscheidungen keineswegs mit den kritischen Gesichtspunkten einer Anwendung übergesetzlichen Rechts auseinander. Unabhängig davon bleibt zu monieren, dass der Bundesgerichtshof letztlich der Frage, ob Beugung des Rechts durch Anwendung eines wegen Verstoßes gegen das Naturrecht ungültigen Gesetzes möglich ist, ausgewichen ist. Insofern waren die durch den BGH in einigen Urteilen erfolgten Zugeständnisse zum übergesetzlichen Recht mehr "Lippenbekenntnisse,,459 als Herzenssache. Denn mit Blick auf die wenigen Richteranklagen muss fest457 458

BGHSt 2, 175. Vgl. insbesondere Teil I, c., 1., 11., III., IV., V.

D. Die Beugung des Rechts

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gestellt werden, dass sich kein Strafurteil des Bundesgerichtshofs findet, in dem einer NS-Norm die Gültigkeit aberkannt wird, geschweige denn, dass ein Richter aufgrund der Anwendung eines gegen übergesetzliches Recht verstoßenes (NS-)Unrechtsgesetz wegen Rechtsbeugung verurteilt worden wäre. Um die Frage nach der Naturrechtsgeltung nicht beantworten zu müssen, ist der Bundesgerichtshof vielmehr stets auf den Versuch einer positivistischen Begründung der Rechtswidrigkeit ausgewichen. Er untersuchte, ob die Rechtsprechungsakte mit der damaligen Gesetzeslage nicht übereinstimmten. Der BGH hat im Ergebnis die NS-Gesetze als rechtsgültig angesehen.

D. Die Beugung des Rechts I. Rechtsbeugung als tatbestandliches Handeln Im Folgenden geht es um das mit der Naturrechtsfrage unmittelbar verknüpfte" Problem, welcher Auslegungsmaßstab bei der nachträglichen Beurteilung des NS-Rechts angelegt werden so1l46o: Kommt es für die Verantwortlichkeit des in der NS-Zeit tätigen Richters nach § 336 a. F. StGB darauf an, ob die Entscheidung mit der damals geltenden Rechtslage in Einklang stand oder sind hier andere - rechtsstaatliche - Maßstäbe rückblickend anzuwenden. - Und welche Maßstäbe hat der BGH angelegt? Ausgangspunkt ist zunächst die Tathandlung der Rechtsbeugung. Nach der Bestimmung des § 336 a. F. StGB muss der Täter das Recht beugen. 461 459 Insofern zutreffend Günter Spendel, in: JZ 1987, S. 582 mit der Aussage, dass das Anerkenntnis der Rechtsprechung nach 1945 zum ungeschriebenen Recht "oft doch mehr ein Lippenbekenntnis als eine Herzenssache" sei. 460 Auch hier gilt: Soweit nicht ausdrücklich darauf hingewiesen wird, gelten die folgenden Ausführungen in bezug auf § 339 StGB entsprechend; wegen des historischen Kontextes wird in der Darstellung ansonsten nur auf den damals geltenden § 336 a. F. StGB zurückgegriffen. 461 Es geht im Folgenden weder um die viel diskutierte Begriffsbestimmung der Tathandlung noch um die sog. Rechtsbeugungstheorien. - Der Streit um die Begriffsbestimmung der Rechtsbeugung als Handlung nimmt innerhalb der Rechtsbeugungsliteratur wohl neben dem um die Vorsatzform den größten Raum ein und ist theoretisch nicht unbedeutend, spielt aber insbesondere für die Beurteilung der BGH-Rechtsbeugungsurteile zur NS-Justiz praktisch keine Rolle und wird deshalb vernachlässigt. Vgl. zum Begriff der Rechtsbeugung: Ursula Schmidt-Speicher, S. 59 ff.; Frank Scholderer, S. 277 ff.; LK-Spendel, § 336, Rz. 37 ff. - Zum Inhalt der Rechtsbeugungstheorien: 1. Nach der subjektiven Theorie ist das Recht nur dann gebeugt, wenn die Rechtsanwendung im bewußten Widerspruch zur Überzeugung des Richtenden steht, so z. B.: Lassa Francis Lawrence Oppenheim, Die Rechtsbeugungsverbrechen (§§ 336, 343, 344) des Deutschen Strafgesetzbuches, Leipzig 1886, S. 86 ff.; Wolfgang Joly, Die Rechtsbeugung des Richters (§ 336), S*

116 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

Als tatbestandliches Handeln wird allgemein anerkannt462 : die Sachverhaltverfälschung, die Rechtsbeugung bei der Rechtsanwendung im engeren Sinne und bei der Ermessensentscheidung. Diesen drei Tathandlungsmodi liegt als gemeinsames Kriterium der deliktischen Maßstabsverletzung die Rechtsmäßigkeit463 zugrunde. 464 Nur die vom Gesetz abweichende, die Eingriffskompetenz gegenüber dem Bürger überschreitende und damit rechtswidrige Entscheidung des Richters ist sanktionswürdig. 465 Als objektive Rechtsbeugung durch Sachverhaltsverfälschung gilt im Allgemeinen die Annahme anderer als der nach dem Verfahrensrecht erweisbaren und erwiesenen Tatsachen. 466 Bei der Rechtsanwendung im engeren Sinne wird das Recht objektiv gebeugt, wenn eine rechtswidrige467 Anwendung der Rechtsnorm entweder aus dem Bereich des materiellen Rechts oder des Verfahrensrechtes vorliegt. Endlich ist Rechtsbeugung durch Ermessensmissbrauch bei allen Ermessensentscheidungen möglich. 468 Aus der Nichtbeachtung der rechtlichen Bindungen und der Grenzen bei der richterlichen Ermessensausübung resultieren Gesetzesverletzungen und "damit objektive Rechtsbeugungen,,469. Dies gilt insbesondere bei der StrafzumesDiss. Göttingen 1954, S. 22; Hans-Joachim Musielak, S. 20 ff.; Werner Sarstedt, S. 429; vgl. dazu kritisch LK-Spendel, § 336, Rz. 37 sowie Frank Scholderer, S. 277 ff. Vgl. kritisch dazu Teil I, E., III. 2. Die Pflichtentheorie, die mittlerweile an die Stelle der gemischt objektiv/subjektiven Rechtsbeugungstheorie getreten ist, stellt auf die nach dem Verfahrensrecht bestehenden verschiedenartigen Pflichten des Rechtsanwendenen zur Wahrheitsund Rechtsfindung ab und spricht von einer Beugung des Rechts, wenn eine Pflichtverletzung vorliegt, so z. B. vertreten von Hans-Joachim Rudolphi, Zum Wesen der Rechtsbeugung, in: ZStW 82 (1970), S. 627 ff.; Heinz Wagner, Amtsverbrechen, Berlin 1975, S. 195; kritisch dazu Z.B. LK-Spendel, § 336, Rz. 39; Frank Scholderer, S. 288 ff. 3. Die vorherrschende objektive Theorie bejaht eine Rechtsbeugung dann, wenn der Richter entgegen der objektiven Rechtslage entscheidet, so z. B. vertreten von LK-Spendel, § 336, Rz. 41; Frank Scholderer, S. 302 ff.; Günter Bemmann, Zum Wesen der Rechtsbeugung, in: GA 1969, S. 65. 462 Vgl. LK-Spendel, § 336, Rz. 55; im Ergebnis letztlich auch Frank Scholderer, S. 525 ff. . 463 Denen im Übrigen die Erfolgsverursachung in Form der Vor- oder Nachteilszufügung einer Partei sowie eine bestimmte verbindliche Tatsituation, dass nämlich das Recht nur "bei Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache" gebeugt werden kann, als Tatbestandsvoraussetzungen gemein sind. 464 Vgl. Frank Scholderer, S. 523. 465 V gl. Frank Scholderer, S. 523, 524. 466 Vgl. nur LK-Spendel, § 336, Rz. 56; Ursula Schmidt-Speicher, S. 54 ff. 467 LK-Spendel, § 336, Rz. 58 spricht von falscher Rechtsanwendung; dagegen kritisch Frank Scholderer, S. 526. 468 Vgl. LK-Spendel, § 336, Rz. 55.; Ursula Schmidt-Speicher, S. 57 ff. 469 Günter Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, S. 48.

D. Die Beugung des Rechts

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sung, und zwar hier in der Form der Ermessensüberschreitung, des Ermessensnichtgebrauchs sowie des Ermessensjehlgebrauchs47o • Für die Feststellbarkeit dieser Tathandlungen ist mit Blick auf die Beurteilung der NS-Justizakte von entscheidender Bedeutung, welcher Auslegungsmaßstab für das damalige angewandte Recht angelegt wird. Wann hat der NS-Richter das NS-Recht nach den oben genannten Begehungsarten gebeugt? Welche Auslegung des damaligen Rechts ist dabei vorzunehmen? 11. Auslegung des damalig geltenden Rechts

Für den Tatbestand des § 336 a. F. StGB ist bei der Überprüfung von NS-Rechtsprechungsakten zu fragen, ob die Auslegung der dem NS-Urteil zugrundeliegenden Norm als rechtmäßig anzusehen ist oder nicht. Dabei drängen sich als Alternativen auf: Den Maßstab für die strafrechtliche Verantwortlichkeit nach § 336 a. F. StGB bildet die Geltung des damaligen Rechts, und zwar so, wie es damals galt. Oder man erklärt bei der rückblickenden Auslegung der durch den angeklagten NS-Richter für seine Entscheidung angewandten Norm das heutige Recht - präziser: das heutige rechtsstaatliehe Rechtsverständnis - als maßgeblich. Bezieht man nun das Naturrecht nicht in den Tatgegenstand des § 336 a. F. StGB ein, so muss konsequenterweise das positive Gesetzesrecht, und zwar das damalige, Anknüpfungspunkt für die zu verantwortende Beugung des Rechts sein. Mit Blick auf die Funktion und die Struktur des NS-Rechtes insgesamt stellt sich allerdings die Frage, inwieweit das Festhalten am Gesetzespositivismus genügend kritisches Potential zur Ahndung von "Alttaten" enthält471 , denn: "Die Gesetzesfunktion im Dritten Reich" bestand darin, dass das Gesetz kein Mittel war, welches "staatlichen Zugriff begrenzt, es" war "ein Mittel das staatlichen Zugriff organisiert".472 "Das Recht", weil Primat der politischen Führung, band "nicht die politische Führung, die politische Führung" band "das Recht".473 Es gab "vorrangige Rechtsquellen, die Gesetzesrecht gegebenenfalls verdrängen konnten,,474. Der formlos erteilte Führerbefehl sollte die Rechtsgrundlage für die 470 Theodor KleinknechtlLutz Mayer-Goßner, Strafprozeßordnung, 44. Aufl., München 1999, § 337, Rz. 34 m. w. N. Diese Begehungsform hat, wie anschließend zu sehen sein wird, bei der Bewertung der NS-Justiz durch den BGH eine wesentliche Rolle gespielt. 471 Vgl. auch Frank Scholderer, S. 458. 472 Gerhard Werle, Das Strafrecht als Waffe: die Verordnung gegen Volksschädlinge vom 05.09.1939, in: JuS 1989, S. 958. 473 Gerhard Werfe, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, in: JZ 1992, S. 224.

118 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat Strafpraxis bilden. Der "Führerbefehl" hatte somit Vorrang vor dem Gesetz, das nur ein "Transportmittel des Willens der politischen Führung" war. 475 Das Gesetz war "nur eine Äußerungsform von nationalistischem Recht,,476.

Maßgeblich war zudem die neue "Rechtsidee" als begriffliche Vereinigung von Recht und NS-Weltanschauung, gespeist durch die neuen Rechtsquellen, wie "artbestimmte Volksgemeinschaft" und das "gesundes Volksempfinden" sowie das Parteiprogramm der NSDAP"77. Der Führer als oberste Rechtsquelle, oberster Gesetzgeber und oberster Gerichtsherr478 in Personalunion trat als Sinnbild für die nationalistische Ideologie zunehmend an die Stelle des Gesetzes. In letzter Konsequenz hieß das, den "Führerwillen" als Gesetzesnorm zu akzeptieren479 , mit der Folge, dass eine DiffeBemd Rüthers, in: NJW 1988, S. 2832. Gerhard WerZe, in: JZ 1992, S. 223, 224. 476 Gerhard WerZe, in: JZ 1992, S. 223. 477 Vgl. Bemd Rüthers, in: NJW 1988, S. 2832. 478 Vgl. earl Schmitt, in: DJZ 1934, Sp. 947 ff. 479 Aufschlussreich in diesem Zusammenhang die Passage bei Friedrich Dencker, Recht und Unrecht, S. 303, 304, die den Euthanasiebefehl Hitlers vom 1. September 1939 betrifft: "Dieser ,Aktion T4' genannte Massenmordaktion lag ein formloses 'Führerschreiben von Ende 1939 zugrunde, das zur Verwendung der agierenden Ärzte bestimmt war, ansonsten aber geheimgehalten wurde. Als die Aktion lief ... , sandte ... der Amtsrichter Kreyssig aus Brandenburg, einen Bericht an den - bis dahin nicht informierten - Justizminister Gürtner; aus seinen Akten gehe hervor, daß entmündigte Anstaltsinsassen ... getötet würden - heimlich, ,ohne Gewähr eines geordneten Rechtsganges und ohne gesetzliche Grundlage'. Gürtner war entsetzt und teilte die Auffassung von der Ungesetzlichkeit, Rechtlosigkeit und Gottlosigkeit solchen Vorgehens. Eben dieser Gürtner zeigte dann aber in einem späteren Gespräch dem Amtsrichter Kreyssig den ihm inzwischen bekanntgegebenen Führerbefehl und hielt die Aktion dadurch für legalisiert. Als der Amtsrichter erwiderte, so könne Unrecht nicht zu Recht werden, entgegnete ihm Gürtner: ,Ja, wenn Sie den Willen des Führers als Rechtsquelle, als Rechtsgrundlage nicht anerkennen können, dann können Sie nicht Richter bleiben'." Dieses Beispiel verdeutlicht, dass das heutige Festhalten an der Gesetzlichkeit die damalige Staats - und Lebenswirklichkeit verzerrt. Hans WeZzeZ, Gesetzmäßige Judentötung, in: NJW 1964, S. 521 ff. hat im Rahmen der rechtlichen Einordnung des oben genannten Hitler' schen Euthanasiebefehles versucht, eine Unterscheidung nach der Form des geäußerten Führerwillens vorzunehmen; krit. vor allem Friedrich Dencker, Recht und Unrecht, S. 303, 304. Es ging um die Frage, ob die geheimen Tötungsanordnungen Hitlers den Rang von Rechtssätzen oder Akte der Exekutive darstellten, also rechtswidrige Befehle waren, die im Widerspruch zum damaligen positiven Recht standen. Welzel hat hierfür nun ganz positivistisch - gegen die Kritik an der rückwirkenden Verurteilung der Einsatzgruppenmitglieder - die Veröffentlichung der Anordnung Hitlers im Reichsgesetzblatt bzw. deren Verkündigung für das maßgebliche Kriterium erklärt. Aufgrund dieser fehlenden Voraussetzung habe der "Grundsatzbefehl" zur ,,Endlösung der Judenfrage" keinen Gesetzesrang. Im Ergebnis schloss sich damals die höchstrichterliche Judikatur der Rechtsauffassung, die Geheimanordnungen Hitlers seien Akte der Exekutive gewesen, an, vgl. nur OGHSt 1, 321; OGHSt 2, 117. 474 475

D. Die Beugung des Rechts

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renzierung nach der Form des geäußerten Führerwillens nicht mehr vorgenommen zu werden brauche. Adolf Arndt480 führte 1960 in diesem Sinne aus: "Würde man den Anspruch der nationalsozialistischen Machthabern unbesehen anerkennen, ihre Organisation sei eins mit dem Staate und der Wille des ,Führers' sei das Gesetz des Staates, woher will man dann noch die Unterscheidung nehmen, dass dieser allein und ,selbstherrlich' den Staatswillen bestimmende und verkörpernde ,Führer' daran gebunden geblieben sei, den maßgeblichen und rechtssetzenden Willen in die papierende Form gedruckter und veröffentlichter Paragraphen zu bringen ? Wo findet sich noch ein Rechtsgrund dafür den Willen dieses ,Führers' (... ), anders zu bewerten, wenn man ihn im Reichsgesetzblatt nachlesen konnte, als wenn er sich ohne Reichsgesetzblatt bemerkbar machte und durchsetzte? Gilt etwa der Satz, der ,Führer' hätte alles gekonnt, nur nicht das Reichsgesetzblatt abschaffen?"

Wenn nach alledem feststeht, dass das Gesetz zulasten der nationalsozialistischen Weltanschauung in seinem Geltungsanspruch verdrängt wurde481 , hinterlässt die bloße Orientierung an dem damals positivierten Gesetz, die historische Realität betreffend, ein faktisches Vakuum482 . Bedeutet dies wiederum, dass der Gesetzespositivismus in letzter Konsequenz zur totalen Akzeptanz einer "normativen Kraft des Faktischen"483 zwingt? Dem trat das Schrifttum, insbesondere Konrad Redeker, Bewältigung der Vergangenheit als Aufgabe der Justiz, in: NJW 1964, S. 1097 ff. und Anton Roesen, Rechtsfragen der Einsatzgruppen-Prozesse, in: NJW 1964, S. 133 ff., Anton Roesen, Nochmals: Rechtsfragen der Einsatzgruppen-Prozesse, in: NJW 1964, S. 1111 ff., mit Nachweisen aus dem NS-Schrifttum selbst, vor allem aber mit dem Hinweis der Haltung der damaligen Justiz entgegen. So wies Konrad Redeker, in: NJW 1964, S. 1098, darauf hin, dass dem "Führerbefehl, auch wenn geschriebenen Gesetz widersprechend, zu folgen sei, weil er das Gesetz ersetzt". Ein Paradebeispiel hierfür bildet die Entscheidung des RG im Fall Schlitt. Schlitt war vom LG Oldenburg wegen eines Verbrechens zu einer fünfjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden. Hitler, dem das Urteil nicht passte, ohne es überhaupt näher zu kennen, verlangte die Todesstrafe. Auf seinen Befehl wurde außerordentlicher Einspruch eingelegt, und der Besondere Senat des RG unter Vorsitz des RG-Präsidenten verurteilte am 31.3.1942 Schlitt zum Tode. Finden sich zahlreiche Belege dafür, dass der "Führerwille" das Gesetz ersetzt, so ist in diesen Fällen stets mit Hans Welzel, in: NJW 1964, S. 522 zu fragen, ob man nicht dem Missverständnis erliegt, die "faktische Geltung eines Gesetzes mit der bloßen Durchsetzbarkeit" zu verwechseln, "die auch einem Befehl zukommen kann". 480 Adolf Amdt, Strafrechtliche Verantwortlichkeit ehemaliger Richter an Sondergerichten, in: NJW 1960, S. 110; vgl. dagegen Hans Welzel, in: NJW 1964, S. 521. 481 In diesem Sinn Bemd Rüthers, in: NJW 1988, S. 2832 wenn er ausführt: "Das Gesetz wurde in seinem bis dahin unbestrittenen Geltungsanspruch zurückgedrängt. Es war ,Recht' nur noch, wenn es als ,nähere Ausgestaltung der völkischen Ordnung' angesehen werden konnte". 482 Vgl. Frank Scholderer, S. 458. 483 Vgl. Frank Scholderer, S. 458.

120 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

Die Gleichstellung des Gesetzes des Handeins mit dem Gesetz im positivrechtlichen Sinne würde endlich die Existenz von Normativität leugnen. Gegen eine solch radikal machttheoretische Auffassung besteht aus "gesetzespositivistischer Sicht weder normtheoretisch irgendein Anlaß, noch gebieten dies positivistische Prinzipien wie das der Rechts sicherheit, der Rechtssetzungsautonomie oder der des Vertrauensschutzes..484 . Da auch der NS-Staat seine Daseinsberechtigung mittels Gesetze manifestierte, müssen diese die Richtschnur für etwaiges strafbares Verhalten der Richter, die diesen Gesetzen verpflichtet sind, darstellen. Hält man also an dem Gesetzespositivismus fest, dann sind Richtersprüche, deren Grundlage allein der politische Wille des Diktators und der dahinter stehenden Ideologie sind, zugleich Gesetzesverstöße, die eine strafrechtliche Sanktion nach sich ziehen. 485 Die Strafbarkeitsschwelle des § 336 a. F. StGB ist dann überschritten, wenn die richterliche Entscheidung mit der damals geltenden Gesetzeslage nicht mehr übereinstimmte. Für eine objektive Rechtsbeugung nach den oben genannten Tatmodalitäten kommt es also darauf an, ob ein Verstoß gegen die frühere positive Rechtslage zu registrieren ist oder nicht. Dabei ist nach der zur Tatzeit vertretbaren Auslegung der Norm zu fragen. 486 D. h. auch, die Auslegung des damals geltenden Rechts kann nicht mit rechtsstaatlichen Inhalten erfolgen; es wäre ein Rückgriff auf naturrechtliche Kriterien 487 und der Ansatz, aus dem Tatgegenstand der Rechtsbeugung Naturrecht auszublenden, würde konterkariert. Vgl. Frank Scholderer, S. 458. Beispielhaft sei in diesem Zusammenhang auf den bereits erwähnten Euthanasiebefehl Hitlers verwiesen. Der Massenmordaktion lag ein formloses Führerschreiben zugrunde. Die Tötungen geschahen ohne gesetzliche Grundlage, vorausgesetzt, man setzt die faktisch verhaltensleitende Norm, also die Anordnung Hitlers, mit der rechtlich geltenden Norm nicht gleich. Es muss und kann unterschieden werden zwischen damaligen NS-Recht und dem davon abweichenden Gesetz des Handeins. 486 In diesem Zusammenhang meint Frank Scholderer, S. 460 unter Bezugnahme auf Gerhard Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, Berlin/NewYork 1989, S. 13: "Wenn allerdings das nationalsozialistische Gesetzesrecht auch ,auf eine Ausfüllung durch Vorstellungen der nationalsozialistischen Führung angelegt' gewesen sein mag, so ist für die Nachvollziehung an diesem Punkt doch die Grenze zwischen gesetzespositivistischer Normativität und dem allen und jeden Machtvollzug deckenden Handlungswillen der Gewaltinhaber überschritten. Die Vorstellungen der Richter davon, was alles mit ihrem Gesetzesrecht vereinbar gewesen sei, müssen und dürfen nicht einfach in den Rechtsbegriff aufgenommen und mit tatbestandsausschließender Wirkung nachvollzogen werden." 487 Auf die "ständige höchstrichterliche Auslegung des Rechts", Thomas Fischer, § I, Rz. 11 c, bezieht sich das Rückwirkungsverbot nach der wohl vorherrschenden Meinung nicht, vgl. nur BVerfGE 11,238; 14,251; 18,240; m.w.N. Thomas Fischer, § 1 Rz. 11 c. Dagegen aber z. B. LG Düsseldorf, NJW 1973, S. 1054; Mathias Krahl, Fahruntüchtigkeit - rückwirkende Änderung der Rechtsprechung und Art. 103 484 485

D. Die Beugung des Rechts

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Die mit einern so verstandenen Gesetzespositivismus unweigerlich zusammenhängenden Schwächen als funktionale "Waffe" im Sinne einer lückenlosen Aufarbeitung gegenüber dem damals existenten Unrecht sind evident. Zum einen kann eine Ex-post-Auslegung nie eine deckungsgleiche mit der damals als geltend verstandenen Auslegung sein; dies ist begründet in dem historischen Bruch beider Systeme. Zum anderen bleibt das gesetzliche Unrecht unberücksichtigt. Insoweit kann der Positivismus keine endgültige Lösung zur strafrechtlichen Ahndung von "Alttaten" vorweisen. IH. Der Bundesgerichtshof

In BGHSt 2, 173 stellt der Bundesgerichtshot88 positivistisch klar, dass eine Beihilfe zu einer rechtswidrigen Tötung vorläge, wenn diese "durch das damalige Recht nicht gedeckt wurde,,489, und führt aus, was darunter nicht zu verstehen sei: "Obrigkeitliche Anordnungen, die die Gerechtigkeit nicht einmal anstreben, den Gedanken der Gleichheit bewußt verleugnen und allen Kulturvölkern gemeinsame Rechtsüberzeugung von Wert und Würde der menschlichen Persönlichkeit gröblich mißachten, schaffen, (... ) , kein Recht. (... ) Es braucht in diesem Zusammenhang nur auf die ,Endlösung der Judenfrage' und auf die Massentötung von Geisteskranken im Kriege hingewiesen werden, die dadurch kein ,Recht' wurden, daß auch sie auf Willenskundgebungen Hitlers beruhten."

Der Bundesgerichtshof differenziert zwischen NS-Recht einerseits und reinem politischen Machtausspruch andererseits. Er macht dies konsequent, wenn er die Anordnungen in Widerspruch zum NS-Recht stellt und sie trotz (bzw. gerade wegen des) "Führerbefehls" nicht als positives Recht ansieht. 11 GG, in: NJW 1991, S. 808; Hans-Ludwig Schreiber, Zur Zulässigkeit der rückwirkenden Verlängerung von Verjährungsfristen früher begangener Delikte, in: ZStW 80 (1968), S. 348 ff.; Wolfgang Naucke, Anmerkung zu OLG Karlsruhe, Urt. v. 05.10.1967 - 1 Ss 132/67, in: NJW 1968, S. 758. - Für die Verfolgbarkeit nationalsozialistischen Gewalttaten stellte aber bereits Emst-Walter Hanack, Zur Problematik der gerechten Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrecher, in: JZ 1967, S. 300 differenziernd fest: "Nach h.M. erfaßt das Verbot der Rückwirkung nun nicht die richterliche Gesetzesauslegung; das Vertrauen darauf soll vielmehr bei der Frage des Verbotsirrtums zu berücksichtigen sein. (... ) Wenn man mit dem rechtsstaatlichen Postulat des Rückwirkungsverbots ernst macht, ist in der Tat, ... wenn die veränderte Auslegung nicht durch ein Fortschreiten wissenschaftlicher Erkenntnis bedingt ist, das Rückwirkungsverbot nicht nur auf den formalen Inhalt der Gesetzesvorschrift, sondern auf die Gesetzesinterpretation selbst zu erstrecken, wenn sich durch die Umwälzung der Inhalt der Norm gewissermaßen automatisch ändern mußte; denn dieser Fall ist sachlich durch nichts verschieden von der formalen Normänderung selbst." 488 Zum Sachverhalt und Verfahren bereits Teil I, c., VI., 3. Vgl. auch Günter Spendei, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, S. 89 ff.; Frank Scholderer, S. 469. 489 BGHSt 2, 175.

122 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

Und so kritisiert der Bundesgerichtshof folgerichtig das zuvor mit der Sache befasste Schwurgericht München, als es "bei der Prüfung der gesetzlichen Grundlage der... Standgerichte,,490, den gesetzespositivistischen Boden verlässt. Dort hieß es nämlich, dass: "die Bildung dieser Standgerichte keiner Zuständigkeitsregelung der Kriegsstrafenverfahrensordnung entspreche, daß sie aber trotzdem nicht als ungesetzlich bezeichnet werden könne, weil Hitler in der unbegrenzten MachtfolIe, die ihm durch den Beschluß des Reichstages vom 26. April 1942 verliehen worden sei, an keinerlei Schranken einer allgemeinen Zuständigkeitsregelung mehr gebunden gewesen sei,,491.

Des Weiteren begründet der Bundesgerichtshof "Fehler,,492 bei der rechtlichen Würdigung der Standgerichtsverfahren durch das Schwurgericht: "Nach § 51 Abs. 2 KStVO hätte jedem Angeklagten ein Verteidiger bestellt werden müssen. Zwar gestattet. .. ihr Verfahren ... nach pflichtgemäßen Ermessen zu gestalten. Die... rechtliche Möglichkeit durfte aber ebenfalls nicht willkürlich gehandhabt werden,,493.

Und weiter heißt es: "Wenn ein Gesetz vom pflichtgemäßen Ermessen spricht, meint es niemals die Willkür, sondern ein rechtlich gebundenes Ermessen,,494

Der Bundesgerichtshof misst damit die Rechtmäßigkeit der Standgerichtsverfahren an den damaligen diese Verfahren regelnden NS-Normen. Wenn der Gesetzgeber Vorschriften mit einem Ermessensspielraum bereithält, dann ist bei der richterlichen Anwendung die Grenze dieses Spielraums dennoch so definiert, dass eine willkürliche Anwendung der Norm ausscheidet. Diese ist generell als Gesetzesverstoß und als objektive Rechtsbeugung zu werten, einerlei, ob es sich um die Einhaltung von rechtsstaatlichen Gesetzen oder um die in einem NS-Staat handelt. Die BGH-Entscheidung vom 29.5.1952, 2 StR 45/5rt95 betraf Beteiligte an einem deutschen Kriegsgericht. Vier deutsche Marinesoldaten, welche sich von der Truppe entfernt hatten, wurden am 9. Mai 1945 wegen Fahnenflucht verurteilt. Gegen drei von ihnen ergingen Todesurteile; diese wurden am 10. Mai 1945 durch Erhängen vollstreckt. 490 BGHSt 2, 177. 491 BGHSt 2, 177. Hervorhebung durch den Verf. Und weiter führt der BGH aus: "Die Frage nach der gesetzlichen Grundlage eines Verfahrens wird aber sinnlos, wenn man davon ausgeht, daß die Bindung an jede gesetzliche Regelung entfallen sei", BGHSt 2, 177, 178. 492 BGHSt 2, 179. 493 BGHSt 2, 179, 180. Hervorhebung durch den Verf. 494 BGHSt 2, 180. Hervorhebung durch den Verf. 495 BGH, MDR 1952, S. 693 ff.; vgl. auch: Adelheid L. Rüter-EhlermannIChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. V, S. 504 ff.

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Auch hier wies der BGH auf grobe Verfahrensfehler, insbesondere auf die Nichtbestellung des Verteidigers und damit auf den Verstoß gegen den damals geltenden § 51 11 KStVO hin. Dass die Verhängung der Todesstrafe Rechtsbeugung war, wird wiederum mit einem positivrechtlichen Strafzumessungsfehler begründet496 : "Besonders aber stand das sachliche Ergebnis der Kriegsgerichtsverhandlung, die Todesurteile in unerträglichem Mißverhältnis zu dem keinesfalls todeswürdigen Unrecht, das die Soldaten begangen haben. Sie hatten sich allerdings der Fahnenflucht im Felde schuldig gemacht. Deshalb war § 70 11 MStGB an sich anwendbar, der neben lebenslangen oder zeitigen Zuchthaus auch die Todesstrafe androhte. Ihre Tat wies aber unter den damaligen Umständen ... eine Reihe von mildernden. .. Umständen auf, die den Ausspruch der Todesstrafe keinesfalls rechtfertigten. Dagegen kann auch nicht eingewandt werden, daß der Strafrahmen des § 70 11 MStG u. a. auch die Todesstrafe zuläßt. Denn ihr Ausspruch ist dann, wenn ein Strafgesetz wahlweise neben dieser schärfsten Strafe minderschwere Strafen zuläßt, rechtswidrig, wenn sie den Schuld- und Unrechtsgehalt einer Tat offensichtlich übersteigt. Das Strafgesetz stellt dem Richter deswegen Strafrahmen, die in der Regel weit gespannt sind, zur Verfügung und begnügt sich, ihm eine unterste und oberste Grenze ausdrücklich vorzuschreiben, damit er bei Bemessung der Strafe im Einzelfall der Mannigfaltigkeit der Lebenserscheinungen gerecht werden kann. Gerade dadurch gibt das Gesetz aber andererseits zu erkennen, dass es dem Grundsatz gerechter Strafzumessung widerspricht, wenn der Richter eine Tat, die unter Berücksichtigung aller für das Strafmaß in Betracht ziehende Umstände, wie insbesondere die Schwere ihrer Folgen und der Schuld des Täters, mit einer nahe an der unteren Strafgrenze liegenden Strafe gesühnt werden sollte, mit der nach dem Strafrahmen höchstmöglichen Strafe ahndet. In einem solchen Falle verletzt der Ausspruch der Höchststrafe das Verbot grausam oder übermäßig harten Strafens, das von je ein ungeschriebener Grundsatz des deutschen Strafrechts war". Der Bundesgerichtshof geht zunächst gesetzespositivistisch vor, indem er prüft, ob der den Todesurteilen zugrundegelegte Tatbestand der "Fahnenflucht" in dem jeweiligen Einzelfall vertretbar ausgelegt und angewandt wurde. Im Ergebnis bejaht er dies, rügt allerdings Strafzumessungsfehler, die er wiederum positivrechtlich an Hand des gesetzlich vorgegebenen Strafrahmens begründet. Der Bundesgerichthof hat somit eine Rechtsbeung durch Ermessensmißbrauch497 , und zwar in Form des Ermessensfehlgebrauch festgestellt, strikt gemessen an dem damaligen Gesetzesrecht. Unnötigerweise verlässt der BGH mit Rückgriff auf den "Grundsatz gerechter Strafzumessung" und auch auf "das Verbot grausam oder übermäßig harten Strafens" als den von jeher "ungeschriebenen Grundsatz des deutschen Strafrechts" gleich zweimal den Boden seiner sonst positivistischen Argu496 Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. V, S.508. 497 Vgl. zu den Tathandlungsmodi: Teil I, D., I.

124 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

mentation498 . Dennoch zeigt sich, dass nicht ohne "Selbstwiderspruch ein Strafrahmen gesetzt werden, die Strafzumessung aber ohne jeden Bezug zur Einzeltat erfolgen,,499 kann, mit der Folge, dass eine rechtwidrige Strafzumessung nachzuweisen ist, wenn man einen gesetzespositivistischen Maßstab anlegt. In der Entscheidung des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 16. Dezember 1952500 ging es um den Kölner Landgerichtspräsidenten, der in seiner zwischen 1933 und 1945 dauernden Amtszeit es fortgesetzt unternommen hatte, Richter der beim Landgericht Köln bestehenden Sondergerichte zur Rechtsbeugung und zur Verletzung des Beratungsgeheimnisses verleitet zu haben. Der OGH501 hob in seinem Urteil den Freispruch des Schwurgerichts Bonn wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit und wegen des Unternehmens der Verleitung zur Rechtsbeugung auf. Die Aufhebung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass die Äußerungen nachweisbar als Versuch der Beeinflussung durch den Gauleiter einzustufen seien. Zurückverwiesen zur neuen Verhandlung und Entscheidung wurde die Sache an das Schwurgericht bei dem Landgericht Bonn, welches den Angeklagten wegen fortgesetzten Unternehmens der Verleitung zur Rechtsbeugung am 13. März 1950 verurteilte. Auf die Revisionen des Angeklagten sowie der Staatsanwaltschaft, die beide verfahrensrechtliche und sachlich-rechtliche Verstöße rügten, bestätigte der Bundesgerichtshof die bereits von dem OGH und dann später vom Schwurgericht Bonn übernommene Rechtsansicht, dass grundsätzlich wie auch im vorliegenden Fall Rechtsbeugung durch fehlerhafte Strafzumessung, und zwar auch innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens möglich sei. Bei der Prüfung des sachlich-rechtlichen Teils der Revision wird feststellt 502 : "Dies (das Recht beugen, Verf.) tut, (... ), ein Strafrichter auch dann, wenn er bei Bemessung der Strafe innerhalb eines ihm vom Gesetz eingeräumten Strafrahmens sich nicht ausschließlich von seinem pflichtgemäßen, den Grundsätzen der Gerechtigkeit und billigenswerten Strafzwecken entsprechendem Ermessen leiten läßt, sondern rechtsfremden Gesichtspunkten, etwa Wünschen von Vorgesetzten entgegen seiner Rechtsüberzeugung Raum gibt". 498 Vgl. diesbezüglich Günther Schultz, Anmerkung zum BGH, Urt. v. 29.05.1952 - 2 StR 45/50, in: MDR 1952, S. 695, der die genannten Naturrechtspassagen in diesem Urteil kritisiert. Er sieht fälschlicherweise den "Fall des Ermessensmißbrauchs innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens" nicht als "Verletzung positiven Rechts" an. 499 Frank Scholderer, S. 466. 500 BGH vom 16.12.1952, 2 StR 27/52, abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XI, S. 90 - 93. 501 OGHBZ vom 10.5.1949, StS 39/49, abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XI, S. 23 - 34. 502 BGH vom 16.12.1952, 2 StR 27/52, abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XI, S. 91.

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Zwar wird mit der Fonnulierung "Grundsätze der Gerechtigkeit" eher ein naturrechtliches als ein gesetzespositivistisches Kriterium bemüht503 ; zugleich wurde aber die Berücksichtigung der Strafzwecke als Maßstab der richterlichen Ennessensausübung nicht in Frage gestellt. Auch hier lässt sich aus der positiven Rechtslage heraus die rechtswidrige Strafzumessung begründen. Eine weitere Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 9.6.1953, 1 StR 198/53504 behandelte die Strafbarkeit von Mitgliedern eines Standgerichts, die in zwei Fällen objektiv rechtswidrige Todesurteile ausgesprochen hatten. 505 Als Maßstab für die Beurteilung der standgerichtlichen Todesurteile legte der BGH die damalige positive Rechtslage an und verwies sodann für die objektive Rechtswidrigkeit der Urteile vor allem auf verfahrensrechtliche Verstöße bei Durchführung des Standgerichtsverfahrens506 : "Obwohl We. die Taten leugnete, wurde kein Zeuge gehört. Ihm wurde kein Verteidiger zugeordnet; er wurde auch nicht zum letzten Wort zugelassen. Die Hinzuziehung des Protokollführers unterblieb. (... ) Dieses (das Urteil, Verf.) wurde entgegen der zwingenden Vorschrift des § 1 Abs. 2 KStVO nicht mit Gründen versehen". Als weitere Begründung wird unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die bereits zitierte BGH-Entscheidung vom 29.5.1952, 2 StR 45/50 ein positivrechtlicher Strafzumessungsfehler angeführt507 : "Die dem We. zur Last gelegten Taten hätten, wie das Schwurgericht zutreffend ausführt, zwar gemäß §§ 5, 5a KSSVO, § 102 MStGB die Verhängung der Todesstrafe ermöglicht. Für die Höchststrafe war aber nach dem verhältnismäßig unbedeutenden Unrechtsgehalt der Unmutsäußerungen des We. bei gerechter Abwägung kein Raum (... )". Auch hier hält der Bundesgerichtshof also ganz gesetzespositivistisch an der Maxime fest, dass die Strafzumessung nicht ohne Korrespondenz zur Einzeltat erfolgen kann. Ebenso wie hier BGHSt 2, 173. BGH 1 StR 198/53 (unveröffentlicht), abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. X, S. 233-240. 505 Das erstinstanzliehe Schwurgericht hatte eine Verurteilung wegen Totschlags bejaht, von einer Verurteilung wegen Rechtsbeugung abgesehen. Das Gericht war der Ansicht, dass dies nur zulässig sei, wenn der unbedingte Vorsatz der Täter feststehe. In seiner Revision, welche die Angeklagten sowie die Staatsanwaltschaft betrieben, folgte der BGH dieser Ansicht im Ergebnis, nicht aber in der Begründung. Eine Verurteilung aufgrund § 336 StGB sei zu Recht unterblieben, da die Angeklagten nicht als "Beamte im Sinne des § 336 StGB anzusehen wären", vgl. Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüteriFritz Bauer (Hrsg.), Bd. X, S. 237. 506 Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. X, S.235. 507 Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüteriFritz Bauer (Hrsg.), Bd. X, S.235. 503

504

126 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

In BGHSt 3, 110 vom 8. Juli 1952508 orientiert sich der BGH bei der rechtlichen Würdigung des damaligen Urteils ebenfalls an dem nationalsozialistischen Gesetzesrecht509 : Es "war... für die Anwendung des § 5 I Nr. 1 überhaupt kein Raum, (... ). Denn diese Vorschrift wäre nur anwendbar gewesen, wenn die dem Urteil des Kriegsgerichts zugrunde liegenden Äußerungen des Ehemannes der Angeklagten öffentlich gefallen wären. Das war nach den Feststellungen des Schwurgerichts nicht der Fall. (... ) Denn die Handhabung des § 5 I Nr. 1 KSSVO verstieß gegen jede noch vertretbare Gesetzesauslegung jedenfalls in den Fällen, in denen das Merkmal der Öffentlichkeit schon bejaht wurde, wenn der Täter keine Gewähr für die Verschwiegenheit des Empfängers seiner Äußerung hatte und mit der Weitergabe seiner Äußerung hätte rechnen müssen, ohne dass festgestellt war, daß er mit einer solchen Möglichkeit auch gerechnet und sie gebilligt hatte. Diese Auslegung strich im Ergebnis das Merkmal der öffentlichen Begehung aus dem Tatbestand des § 5 I Nr. 1. Sie verletzte damit selbstverständliche Grundsätze jeder noch vertretbaren Gesetzesauslegung".

Das Todesurteil des Kriegsgerichts war demnach bereits in seinem Schuldspruch rechtwidrig wegen unzuässiger Gesetzesanwendung; mit diesem Verstoß gegen das materielle Recht war demnach objektiv der Tatbestand der Rechtsbeugung in Form der rechtswidrigen Rechtsanwendung im engeren Sinne 510 gegeben. Explizit festgestellt wird, dass für den NS-Richter die Wortlautgrenze bei der Auslegung von Tatbestandsmerkmalen galt. Insoweit wurde der damalige Gesetzgeber "beim Wort genommen, als ihm unterstellt wurde, daß er keine bedeutungslosen Tatbestandsmerkmale postuliert habe,,511. Eine Auslegung, die "im Ergebnis" ein Tatbestandmerkmal streicht, ist folglich rechtswidrig. In BGHSt 4, 66 vom 6. November 1952 war ein überzeugter Anhänger der NSDAP angeklagt; sein Bruder war ein scharfer Gegner des nationalsozialistischen Systems, so dass er sich u. a. wiederholt abHillig über die Staats führung gegenüber Arbeitskameraden und seinen Angehörigen äußerte. Gegen ihn wurde Anklage wegen "Wehrkraftzersetzung" beim Volksgerichtshof erhoben. In der Hauptverhandlung bekundete außer einem Arbeitskameraden der spätere Angeklagte als Zeuge die vorerwähnten Äußerungen, woraufhin aufgrund des Beweisergebnisses sein Bruder zum Tode verurteilt und dieses Urteil auch vollstreckt wurde. Zunächst wies der Bundesgerichtshof auf die Grenze der Auslegbarkeit des § 5 I Nr. 1 KSSVO hin, wobei er unentschieden ließ, ob der Volksgerichtshof das Tatbestandsmerkmal der Öffentlichkeit rechtswidrig ausgelegt habe. Dann erklärte der 508 509

510 511

Vgl. zum Sachverhalt Teil I, B., 11., 4. c), cc). BGHSt 3, 116-118. Vgl. zu den Tathandlungsmodi: Teil I, D., I. Frank Scholderer, S. 471.

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BGH die Rechtswidrigkeit des Todesurteils wiederum mit einem Strafzumessungsfehler512 : "Infolge des außerordentlich weiten Strafrahmens des § 5 I Nr. 1 KSSVO war der Volksgerichtshof zur genauen Abwägung von Schuld und Sühne unter Berücksichtigung der gesamten Umstände verpflichtet. Da das Gesetz für minder schwere Fälle Zuchthaus ... vorsah, war das Gericht nicht berechtigt, die geringen Verstöße mit derselben Strafe zu ahnden wie die schweren und die schwersten .... Demnach stand die Todesstrafe ... in einem unerträglichen Mißverhältnis zu dem .. begangenen Unrecht und seiner Schuld.... Sie (die Strafzumessung des VGH, Verf.) ... überschritt die dem Tatrichter bei der Beurteilung der Straffrage gesetzten Grenzen so sehr, daß der Mißbrauch der Ermessensfreiheit ohne weiteres erkennbar ist. Diese Art des Strafens war rechtsfehlerhaft. "

Folgender Fall zeigt im Gegensatz zu den vorherigen Entscheidungen anschaulich, wie fatal es sich auswirkt, wenn bei der Ex-post-Auslegung nicht zwischen Gesetzesnorm und faktisch geltender Norm differenziert wird. Es war zu entscheiden über die Strafbarkeit von an einem militärischen Standgericht beteiligten Mitgliedern, die an drei Todesurteilen mitgewirkt hauen. 513 Die Anklage lautete auf Rechtsbeugung in Tateinheit mit Mord. Der Bundesgerichtshof hob mit der Entscheidung vom 7. Dezember 1956, 1 StR 50/56514 den Freispruch des Schwurgerichts Ansbach auf. Eine Bestrafung wegen Rechtsbeugung schloß der BGH mit der Begründung aus, dass die Angeklagten Laienrichter und somit nicht taugliche Täter nach der damaligen Fassung des § 336 StGB waren. Dennoch berücksichtigte das Gericht zugunsten der Angeklagten die sog. Sperrwirkung des § 336 a. F. StGB gegenüber dem § 211 StGB, da es sich bei den vorgeworfenen Handlungen um richterliche Tätigkeiten im Sinne des § 336 a. F. StGB handelte und ihnen daher die dort festgelegte Einschränkung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bei Ausübung der richterlichen Tätigkeit zugute kommen sollte. 515 § 336 a.F. StGB wurde daher inzident geprüft. Dass für die Auslegung des NS-Gesetzesrechts die damaligen Maßstäbe gelten sollen, macht der Bundesgerichtshof deutlich: Es sind "ernsthafte Zweifel über die Auslegung des anzuwendenden Rechts aus dem Blickwinkel des damals handelnden oder urteilenden Richters zu entscheiden BGHSt 4, 69 ff. LG Ansbach vom 19.10.1955, Ks 1/52, Ks 1-2/54; BGH vom 7.12.1956, 1 StR 50/56; LG Nürnberg vom 23.4.1958, 1171 Ks 10/57; BGH vom 30.6.1959, 1 StR 639/58; LG Ansbach vom 23.7.1960; abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIII, S. 361 ff.; Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIV, S. 699 ff.; Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XVI, S. 494 ff. Vgl. zum Sachverhalt bereits Teil I, A., 11., 2. a). 514 Vgl. BGHSt 10, 294 sowie Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. Rüterl Fritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIII, S. 382 ff. 515 Vgl. die Kritik zu dieser Ansicht: Teil I, B., 1., 1. 512 513

128 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat (vgl. die eingehenden Ausführungen des Senats in dem unveröffentlichten Urteil 1 StR 50/56 vom 19. Juni 1956),,516.

Der BGH meint demnach, dass es für die Strafbarkeit nach § 336 a. F. StGB darauf ankommt, ob die Entscheidung mit der damaligen Rechtslage übereinstimmt oder nicht. Und eine objektive Rechtsbeugung sah der BGH mittels positivistischer Begründung wiederum: wegen der "ausdrücklichen" Gesetzesverstöße "in verfahrens- und sachlichrechtlicher Hinsicht, deren Einordnung in den Begriff der Rechtsbeugung keinen Zweifel unterliegt,,517.

Auch in diesem Standgerichtsverfahren lag also die Rechtsbeugungshandlung insbesondere bei der Rechtsanwendung im engeren Sinne 518 vor; es gab Rechtsverstöße im Verfahrensrecht, die der BGH benannte: Unterlassung der Richtervereidigung, Nichtbestellung eines Anklagevertreters und eines Verteidigers, Nichtanhörung der Verurteilten, Absehen von der Einholung eines Rechtsgutachtens vor der Bestätigung des Urteils sowie die Bestellung eines nicht richterlich vorgebildeten Standgerichtsvorsitzenden. 519 Unter Hinweis auf BGHSt 2, 173 und auf zeitgenössische Kommentierung zur KStVO unterstrich das Gericht, dass selbst, wenn es sich bei den verletzten Verfahrensvorschriften um solche nicht zwingender Art handelte, nur triftige Gründe des Einzelfalls ihre Außerachtlassung rechtfertigen konnte. Das nunmehr mit der Sache befasste Landgericht Nümberl 20 sprach allerdings die Angeklagten frei, insbesondere da die Verfahrens bestimmungen nur Sollvorschriften seien, deren Einhaltung nicht zwingend seien. In diesem Zusammenhang heißt es dann u. a. weiter: "Gegen Kriegsende wurde weithin mehr und mehr auf die Einhaltung solcher Sollvorschriften verzichtet; da... bei eindeutig geklärten Sachverhalten eine zeitraubende Belastung mit ,Formalitäten' nicht mehr als gerechtfertigt erschien".521 Zwar gehöre u. a. die Bestellung eines Verteidigers zu "den Grundvorstellungen des abendländischen Kulturkreises über ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren", aber der Tatbestand der Wehrkraftzersetzung, "den ein Verteidiger... hin und wieder hätte verneinen können, war durch die Rechtsprechung ... so weit ausgedehnt worden und in dieser Form ... in das Bewußtsein des Volkes, auch der Laienrich516 BGH vom 7.12.1956, 1 StR 50/56 in: Adelheid L. Rüter-EhlennannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIII, S. 384. 517 BGH vom 7.12.1956, 1 StR 50/56 in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIII, S. 385. 518 Vgl. zu den Tathandlungsmodi: Teil I, D., I. 519 BGH vom 7.12.1956, 1 StR 50/56 in: Adelheid L. Rüter-EhlermannIChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIII, S. 393, 402. 520 Vgl. LG Nürnberg vom 23.4.1958,1171 Ks 10/57, abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIV, S. 699 ff. 521 Vgl. LG Nürnberg vom 23.4.1958, 1171 Ks 10/57, abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIV, S. 716.

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ter, übergegangen, daß ein entsprechender Einwand in seltenen Fällen Aussicht auf Erfolg gehabt hätte.,,522

Dass die nach § 78 KStVO vorgesehene schriftliche Vernehmung des Verurteilten über etwaige Einwendungen gegen das Urteil, wie die nach § 83 KStVO vorgesehene Einholung eines schriftlichen Rechtsgutachtens des richterlichen MilitäIjustizbeamten ebenso wie die nach Nr. 6 III der 1. DVO vom 19.9.1938 vorgesehene schriftliche Stellungnahme der Richter zur Frage der Begnadigung bei einem Todesurteil unterlassen wurde, sei unerheblich, da sich: "die Praxis" mit etwaigen mündlichen Einwendungen des Angeklagten als auch einem mündlichen Gutachten "begnügte" und die in Rede stehende Vorschrift der DVO "im Frontgebiet, insbesondere gegen Kriegsende, weithin nicht mehr beachtet" wurde. 523 Auch nach Umständen des Falles könne die Verletzung von Sollvorschriften das Verfahren nicht rechtswidrig machen, denn "die Nichtbestellung eines Anklägers und Verteidigers" entspräche der "Übung im Korpsbereich".524 Zum anderen müsse bei der Verletzung der Soll vorschriften berücksichtigt werden, "daß am 10.4.1945" (!) "der Durchbruch der 10. amerikanischen Panzerdivision noch im Gange ... war, sowie daß Schillingsfürst", wo die Standgerichtsverhandlung stattfand, "von feindlichen Panzern leicht innerhalb einer Stunde erreichbar war".525 Aufgrund dieses "Zeitdruck(s)" sei die Nichtbeachtung von Sollvorschriften "entschuldbar".526

Dies ist juristisch unhaltbar. Denn es sind jenseits des Gesetzesrechts liegende Kriterien, wenn die Missachtung von Gesetzesvorschriften mit "Übungen im Korpsbereich" bzw. mit der nicht näher ausgeführten "Praxis" gerechtfertigt werden. Gleiches gilt für die Unterstellung, dass die Nichtbestellung des Verteidigers sich nicht zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt hätte bzw., wenn das Unterlassen der Einhaltung von Verfahrensvorschriften mit "Zeitdruck" als entschuldbar erklärt wird. Beispielhaft steht damit die Landgerichtsentscheidung dafür, wie die normwidrige Faktizität mit der normativ geltenden Norm gleichgesetzt wird und zugleich exculpierende Wirkung für die damaligen "Rechts"anwender zu Folge hat.

In seiner Entscheidung vom 30.6.1959, 1 StR 639/58,527 begründete der BGH die Aufhebung des Landgerichtsurteils mit Unstimmigkeiten und 522 Vgl. LG Nürnberg vom 23.4.1958, 1171 Ks 10/57, abgedruckt in: Adelheid Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIV, S. 717. 523 Vgl. LG Nürnberg vom 23.4.1958, 1171 Ks 10/57, abgedruckt in: Adelheid Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIV, S. 717. 524 Vgl. LG Nürnberg vom 23.4.1958,1171 Ks 10/57, abgedruckt in: Adelheid Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIV, S. 725. 525 Vgl. LG Nürnberg vom 23.4.1958, 1171 Ks 10/57, abgedruckt in: Adelheid Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIV, S. 725. 526 Vgl. LG Nürnberg vom 23.4.1958, 1171 Ks 10/57, abgedruckt in: Adelheid Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIV; S. 726. 9 Quasten

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130 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

Rechtsfehlem wegen der dort gemachten Ausführungen zur äußeren wie inneren Tatseite des § 336 a. F. StGB. Im Rahmen dieser Kritik wurde der Auslegungsmaßstab für die Strafbestimmung der "Fahnenflucht" bestimmt528 : "Wenn das Schwurgericht nicht zu dem Ergebnis kam, daß es sich bei den Verfahren der , Standgerichte' um ausgesprochene Scheinverfahren handelte, so mußte es prüfen, ob der von den Standgerichten festgestellte Sachverhalt bei rechtsstaatlieh vertretbarer Auslegung die Anwendung der Strafvorschrift des § 5 I Nr. 1 KSSVO gestattete oder ob, falls dies zu bejahen war, der Ausspruch der Todesstrafen zulässig war oder gegen das rechtsstaatliehe Verbot übermäßig hohen Strafens verstieß."

Diese Ansicht führt nun aber dazu, dass bei der Auslegung des damals geltenden Rechts rechtsstaatliche Maßstäbe quasi als Naturrecht angelegt werden. Diesen rechtsstaatlichen Auslegungsstandard modifiziert der BGH in seinen Ausführungen zur inneren Tatseite529 : "Die Wendung (die Angeklagten hätten ihr Tun nach den "damals herrschenden Rechtsauffassungen" als erlaubt ansehen können, Verf.), ... , könnte nämlich nicht nur, was nicht zu beanstanden wäre, in dem Sinne verstanden werden, daß bei der Beurteilung der Frage, was Recht oder Unrecht war, die besonderen Verhältnisse zur Zeit der Tat nicht außer Betracht bleiben können und es falsch wäre, damaliges Geschehen ausschließlich nach den heutigen Gegebenheiten zu messen; denn in Kriegs- und in Notzeiten können auch bei Anlegung rechts staatlicher Maßstäbe Eingriffe rechtlich erlaubt sein, die in Normallagen als rechtswidrig anzusehen wären."

Hier ist der Bundesgerichtshof inkon·sequent. Man muss sich schon entscheiden: Entweder wird das damalige Gesetz so angewandt, wie es damals galt, oder der Rückgriff hat auf "ausschließlich" rechts staatliche Standards zu erfolgen. Wenn also rechtsstaatliche Maßstäbe bei der Auslegung der damaligen Normen ausschlaggebend sein sollen, dann muss die "damals herrschende Rechtsauffassung" unberücksichtigt bleiben. Der BGH stellt aber den rechtsstaatlichen Maßstab bei der Auslegung von den damaligen Normen unter den Vorbehalt der zeithistorischen Umstände. Das Dilemma und die Inkonsequenz dieses Kompromisses sind offensichtlich. Ein rechtsstaatlicher Auslegungsmaßstab setzt gedanklich einen Rechtsstaat voraus, also die "Normallage". Da es daran zur NS-Zeit mangelte, soll dem insoweit Rechnung getragen werden, dass rechtswidrige Eingriffe trotz weiter 527 BGH vom 30.6.1959, 1 StR 639/58, abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XVI, S. 581 ff. 528 BGH vom 30.6.1959, 1 StR 639/58, abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XVI, S. 582. Hervorhebung durch den Verf. 529 BGH vom 30.6.1959, 1 StR 639/58, abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XVI, S. 582.

D. Die Beugung des Rechts

131

geltender Maßgabe einer rechtsstaatlichen Auslegung als rechtmäßig zu qualifizieren seien. Im Anschluss argumentiert der Bundesgerichtshof wieder ganz POSltlvrechtlich, wenn er die Akzeptanz einer als rechtlich verbindlich anzusehenden faktischen Norm ausschließt. So stellt er klar, dass der gesetzespositivistischen Rechtsbegriff den "Führerwille(n)" und die NS-Weltanschauung nicht mitumfasst und daher unberücksichtigt zu bleiben hat: "Sie (die Wendung, Verf.) könnte auch so zu verstehen sein, daß es bei der Beurteilung von Vorgängen aus der Zeit des nationalsozialistischen Regimes als verbindlich hinzunehmen sei, wenn nach dem Willen der damaligen Machthaber offenbare Rechtsbrüche für Recht zu gelten hatten. Sie könnte endlich auch so gemeint sein, als habe es zwischen dem, was Recht ist, und dem auf der nationalsozialistischen ,Weltanschauung' beruhenden Unrecht so etwas wie eine Zwischenstufe des für die damalige Zeit noch als Recht Vertretbaren gegeben. Eine solche die Grundlagen des Rechts relativierende Auffassung wäre falsch und abzulehnen. ,,530

Im Weiteren begründete der Bundesgerichtshof den Ausspruch der Todesstrafe durch das "Standgericht" als objektive Rechtsbeugung mit einem positivistischen Strafzumessungsfehler des § 5 I Nr. 1 KSSVO: ,,( ... ), so stand doch in beiden Fällen die Verhängung der Todesstrafe außer jedem Verhältnis zu einer etwa noch zu bejahenden strafrechtlichen Schuld"531.

Und weiter heißt es: "Im übrigen sah die Standgerichtsverordnung ... neben der Alternative von Todesstrafe und Freisprechung ausdrücklich Überweisung an die ordentliche Gerichtsbarkeit vor. Sie konnte deshalb dahin ausgelegt werden, daß sie die gesetzlichen Strafrahmen der einzelnen Strafgesetze unberührt ließ und dass gerade für die Fälle, in denen die Todesstrafe nicht gerechtfertigt war, die Überweisung an die ordentlichen Gerichte in Betracht kam. Ein rechtlich denkender Richter würde sie in diesem Sinne angewandt haben. ,,532

Allerdings erfolgt dann unnötigerweise der Rückgriff auf rechtsstaatliche Bedingungen, die damals eben nicht galten und nicht als Maßstab bemüht zu werden brauchen: "Dieses Mißverhältnis ist so groß, dass eine andere Erklärung als die, dass es sich hier um einen der Abschreckung um jeden Preis dienenden terroristischen Akt handelte, ausgeschlossen erscheint (... ). Aber auch im Falle H.... , hätte ein rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichteter Richter, ... , die Todesstrafe nur dann 530 BGH vom 30.6.1959, 1 StR 639/58, abgedruckt in: mannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XVI, S. 531 BGH vom 30.6.1959, 1 StR 639/58, abgedruckt in: mannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XVI, S. 532 BGH vom 30.6.1959, 1 StR 639/58, abgedruckt in: mannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XVI, S. 9*

Adelheid L. Rüter-Ehler583. Adelheid L. Rüter-Ehler584. Adelheid L. Rüter-Ehler585.

132 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat in Erwägung ziehen können, wenn er die Vielzahl der ... Milderungsgründe verkannte.,,533

In dem Rechtsbeugungsverfahren gegen die beiden Beisitzer des Sondergerichtsvorsitzenden Rothaug sah der BGH in seiner Revisionsentscheidung vom 21.7.197OS 34 durch die beiden Angeklagten die Rechtsbeugung in der Tatmodalität der bewußten Sachverhaltverfälschung erfüllt535 . Er belegte dies vor allem mittels der positivistischen Gesetzesverstöße durch die Angeklagten: "Dies gilt für die Beweiswürdigung ebenso wie für die unhaltbare Auslegung der §§ 2, 4 VVO und die Strafzumessungserwägungen, bei denen letztlich die Rassenzugehörigkeit - bereits Tatbestandsmerkmal nach § 2 BlutschutzG - als Strafschärfungsgrund die Todesstrafe rechtfertigen sollte".536

Eine Analyse der Nachkriegsrechtsprechung bringt damit unzweifelhaft zu Tage, dass sich bei den Richteranklagen häufigst die Rechtsbeugungshandlung, und zwar insbesondere in der Tatmodalität des Ermessensmissbrauchs im Bereich der Strafzumessung nachweisen ließ. 537 Es zeigt sich auch, dass das damals geltende NS-Recht mit seinen unbestimmten Normen und weitgefassten Strafvorschriften für deren Anwender offensichtlich in seinen Grenzen dennoch nicht weit genug war, um nicht aus politischem Fanatismus. und NS-Gläubigkeit noch gebeugt werden zu können. Insoweit hatte das NS-Recht ein ausreichendes kritisches Potential hinsichtlich der damaligen Strafrechtspraxis und konnte somit strafbegründend sein. Zugleich bedeutet dies aber auch, dass der Richter unter dem totalitären Regime nicht "wehrlos" dem gesetzlichen Unrecht ausgeliefert war. In diesem Sinne führte der BGH in der Entscheidung vom 30.6.1959, 1 StR 639/58 aus und widerspricht (ungewollt) damit auch der Wehrlosigkeitsthese 538 : 533 BGH vom 30.6.1959, 1 StR 639/58, abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XVI, S. 584. Hervorhebung durch den Verf. 534 BGH, NJW 1971, S. 571 ff. Vgl. zum Verfahren bereits Teil I, A., 11., 2. b) sowie Teil I, c., VI., 3. 535 Vgl. BGH, NJW 1971, S. 574, wo es heißt: "Die vorstehenden, für eine bewußte Sachverhaltsverfälschung sprechenden Erwägungen finden ihre Bestätigungen auch in Erklärungen, die die Angeklagten in früheren Verfahren abgegeben haben". 536 BGH, NJW 1971, S. 573, 574. 537 Insoweit mutmaßte Sigfried Schlösser, S. 946, richtig: "Wird ... die Verhängung der Todesstrafe wegen eines Verstoßes gegen ein im Widerspruch zu übergesetzlichen Rechtsordnung stehendes staatliches Gesetz nicht als Rechtsbeugung ... angesehen werden können, so bedeutet das noch nicht, daß eine solches Urteil rechtmäßig sein muß. Vielmehr wird in derartigen Fällen häufig ein Verstoß der eingangs unter c (d. h. eine unangemessen hohe Strafe, die den Unrechtsgehalt der Tat offensichtlich übersteigt, verhängt wird, Verf.) erwähnten Art festzustellen und das Vorliegen einer Rechtsbeugung ... zu bejahen sein". 538 Vgl. dazu bereits kritisch: Teil I, c., 1., 2.

D. Die Beugung des Rechts

133

"Er (der Richter, der Verf.) konnte auf vertretbare, der Schuld angemessene Strafen erkennen, die Verfahrens garantien ausschöpfen, durch Vorsicht bei der Tatsachenfeststellung, weite Anwendung des Grundsatzes ,im Zweifel für den Angeklagten' und enge Auslegung der Tatbestände unerträgliche Folgen vermeiden,,539.

Des Weiteren wird offeribar, dass ein Verzicht auf den Rückgriff des Naturrechts nicht wehrlos macht im Hinblick auf die Reaktion auf "Alttaten".540 Die Urteilsanalysen haben gezeigt, dass die FeststeIlbarkeit der Rechtsbeugungshandlung bei Zugrundelegung eines nur das damalige positive Gesetzesrecht umfassenden Tatgegenstandes sowie einer folgerichtig nicht an rechtsstaatlichen als auch naturrechtlichen Maßstäben orientierten Auslegung des früheren geltenden Rechts im Unrechts staat möglich war. Der Bundesgerichtshof ist in seiner Vorgehensweise bei der Reaktion auf die "Alttaten" widersprüchlich. Fast überall finden sich positivistische Begründungen für die Rechtswidrigkeit der durch die damaligen Richter ergangenen Urteile. Bei der Auslegung des damals geltenden Rechts orientierte sich der BGH zumeist daran, wie sich die "Aufgabe (Recht zu sprechen, der Verf.) nach Gesetzeslage und den sonstigen Gegebenheiten der Tatzeit darstellte,,541; er verwies bei der Beurteilung der Auslegung einzelner Tatbestandmerkmale auf die damalige Rechtsliteratur und/oder auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts. 542 Dennoch verfiel er bei der Auslegung des damals geltenden Rechts bisweilen (unnötigerweise) ausdrücklich auf rechts staatliche Maßstäbe, z. B. in der Entscheidung vom 30.6.1959, 1 StR 639/59543 heißt es: "bei rechts staatlich vertretbarer Auslegung" der Norm oder gegen das "rechtsstaatliche Verbot übermäßig hohen Strafens" oder "bei der Anlegung rechtsstaatlicher Maßstäbe".

Eine klare Linie des Bundesgerichtshofs ist hier zu vermissen. Hinzu kommt, dass der BGH oft zunächst die Frage einer möglichen Rechtsbeugung durch Anwendung von gesetzlichem Unrecht stellt, wobei er deren Beantwortung in allen Fällen offen lässt544 ; um anschließend den Nachweis 539 BGH, Urteil vom 30.6.1959 - 1 StR 639/58; abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlennannlChristaan F. RÜferlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XVI, S. 587; ebenso BGH, NJW 1971, S. 572. 540 Frank Scholderer, S. 481. 541 BGH vom 19.6.1957 - 1 StR 50/56; abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüteriFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XIII, S. 352. Hervorhebung durch den Verf. 542 Vgl. nur BGHSt 9, 305. 543 BGH vom 30.6.1959 - 1.StR 639/59; abgedruckt in: Adelheid L. Rüter-EhlermannlChristaan F. RüterlFritz Bauer (Hrsg.), Bd. XVI, S. 582. 544 Vgl. bereits Teil I, c., VI., 3.

134 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

der Rechtsbeugung des durch den von dem NS-Richter begangenen positivistischen Gesetzesverstoßes zu liefern. Die damit implizierten theoretischen Aussagen des Bundesgerichtshofs zur Auslegung damaligen Rechts und das Verständnis der Rechtsbeugungshandlung von § 336 a. F. StGB sind zu kritisieren. 545 Es treten vergleichbare Unstimmigkeiten wie mit dem Begriff "Recht" im Sinne des § 336 a. F. StGB auf. Dies ergibt sich aus der Inkonsiquenz des Bundesgerichtshofs bei der Prüfung der NS-Rechtsprechungsakte: Es wird nicht die Geltung des früheren Rechtes, und zwar so, wie es damals galt, akzeptiert. Ebenso ist eine strikte rechts staatliche Auslegung von NS-Gesetzen nicht maßgebend. Der Bundesgerichtshof ist - zumindest theoretisch - einen "dritten Weg" gegangen, dem ein auch sonst bereits in der BGH-Rechtsprechung der 50er Jahre vorzufindendes Denkmodell zugrundelag. Für die damalige Gesetzesgeltung bedeutet das: Um nicht jedes staatliche Gesetz als "Recht" im Sinne einer verpflichtenden Rechtsordnung anerkennen zu müssen, entwickelt man eine doppelte Rechtsordnung aus derjenigen des Dritten Reiches, eine Dichotomisierung des Rechtes. 546 Ein Teil der gesetzlichen Ordnung sei wegen des Verstoßes gegen übergeordnetes Recht Unrecht und damit unbeachtliches Nichtrecht. 547 Der andere Teil der Gesetze aus der NS-Zeit, der nicht in eklatanter Weise gegen das Naturrecht verstieß, bleibt verbindlich und hat an der umfassenden bindenden Kraft des Naturrechts tei1. 548 Warum dieses Denkmodell abzulehnen ist, wurde bereits in der Diskussion um den Begriff "Recht" im Sinne des § 336 a. F. StGB erörtert549 . Bezogen auf Recht und Rechtsverständnis des "Dritten Reiches" bedeutet dies, dass das NS-Gesetzesrecht durch den nationalsozialistischen Richter gebeugt ist, wenn es zwar dem Willen des damaligen Gesetzgebers entspricht, aber naturrechtswidrig ist. Die gleiche Problematik besteht, wenn nach der Praxis des Bundesgerichtshofs bei der Auslegung des damals geltenden Rechtes einerseits Auslegungskriterien nach der Tatzeit und andererseits rechts staatliche Maßstäbe angelegt werden.

545 Vgl. zum Folgenden: Günter FrankenberglFranz J. Müller, S. 154 ff.; Friedrich Dencker, Recht und Unrecht, S. 298 ff. 546 Vgl. Friedrich Dencker, Recht und Unrecht, S. 298. 547 Vgl. Friedrich Dencker, Recht und Unrecht, S. 298. 548 Vgl. Friedrich Dencker, Recht und Unrecht, S. 298. 549 Vgl. dazu Teil I, c., H., 1. b).

E. Rechtsblindheit oder politische Verblendung?

135

E. Rechtsblindheit oder politische Verblendung? I. Vorsatzinhalt und RechtsbegritT

Im Rahmen des Tatgegenstandes des § 336 a. F. StGB 550 wurde bereits auf die speziellen Probleme im Zusammenspiel von Rechtsbeugungsvorsatz und Rechtsbegriff hingewiesen. Dies geschah mit Blick auf die Einbeziehung des Naturrechts in den Rechtsbeugungstatgegenstand. Aufgrund des Deliktsautbaus wirkt die Berücksichtigung überpositiven Rechts kontraproduktiv: Straffreiheit erlangt gerade derjenige, der von seinem Naturrecht überzeugt ist, und das auch dann noch, wenn man ihm ohne weiteres, die Verfehltheit seiner Überzeugung anlasten könnte. Der als sogenannte Überzeugungstäter eingestufte Richter, der sich auf sein übergesetzliches NSRasserecht bei seiner richterlichen Entscheidung beruft, muss mit Rücksicht auf § 16 I S. 1 StGB mangels Vorsatzes unbestraft bleiben. Im Folgenden soll die Irrtumsproblematik beim Vorsatzinhalt mit Blick auf die BGHRechtsprechung zugespitzt werden. Es sei zunächst nochmals der allgemeine Ausgangspunkt verdeutlicht551 : Die Verletzung objektiven Rechts stellt selbst ein objektives Tatbestandsmerkmal dar und muss somit gemäß § 16 I StGB vom Vorsatz umfasst sein. Damit werden Rechtsnormen, die der Richter bei seiner Entscheidung herangezogen und gegebenenfalls verletzt hat, zu normativen Tatbestandsmerkmalen, deren Vorliegen im Einzelfall nur mittels Wertung festgestellt werden kann. 552 Ein Irrtum über das anzuwendende Recht als Merkmal des gesetzlichen Tatbestandes hätte damit die Folge der Straffreiheit, da weder die Vorsatztat noch - wie § 16 I S. 2 StGB ausdrücklich offen lässt - eine Fahrlässigkeitstat mangels entsprechenden Tatbestandes gegeben sind. Eine Vermeidbarkeitsprüfung gemäß § 17 S. 1 StGB entfällt. Aufgrund dieser aus der Gesetzesdogmatik sich ergebenden zwingenden Schlussfolgerung erscheint es "eigenartig,,553, gerade dem zu Wahrung der Rechtsordnung berufenen Richter jeden noch so femliegenden Irrtum über das keinem anderen aufgrund seiner Profession so vertraute Merkmal "Recht" stratbefreiend zuzubilligen. Mit Blick auf den Täter eines allgemeinen Deliktes, dessen von der bestehenden Rechtsordnung abweichende Rechtsvorstellung regelmäßig als unbeachtlicher Subsumtionsirrtum die 550 Auch hier gilt: Soweit nicht ausdrücklich darauf hingewiesen wird, gelten die folgenden Ausführungen in bezug auf § 339 StGB entsprechend; wegen des historischen Kontextes wird in der Darstellung ansonsten nur auf den damals geltenden § 336 a. F. StGB zurückgegriffen. 551 Vgl. dazu Teil I, C., 11., 1. a). 552 Peter Seemann, S. 66. 553 Ursula Schmidt-Speicher, S. 105.

136 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

Strafbarkeit unberührt lässt554 , verschärft sich diese Haftungsprivilegierung des Richters nochmals. Insbesondere den Überzeugungstäter, der sich aus politischer, ethischer oder ideologischer Motivation heraus über das zur Tatzeit bestehende geschriebene Recht stellt, hatte die Literatur im Auge, als sie verschiedene Lösungsansätze suchte, um für diese Fälle letztlich den - einen Rechtsbeugungsvorsatz ausschließenden - Tatbestandsirrtum verneinen zu können. Da nahezu allen Korrekturansätzen die Vorsatzbejahung bei dem Überzeugungstäter im Ergebnis gemein ist, sollen die unterschiedliche Vorgehensweise nur kurz skizziert werden. 555 Des Weiteren ist all diesen gemein, worauf Scholderer556 zu Recht hinweist, dass sie die Konsequenz für die Naturrechtsfrage nicht ziehen; mit anderen Worten: nicht berücksichtigen, dass ein Vorsatzausschluss für den Fall der Einbeziehung eines inhaltlich an den Menschenrechten orientierten Naturrechts in den Tatgegenstand eben nicht gelingt557 . Insoweit sind die folgenden Lösungsansätze nur im Hinblick auf eine gesetzespositivistische Perspektive aufrechtzuerhalten.

11. Lösungsansätze Nach Maurach ist die Rechtsbeugung ein sogenannter offener Tatbestand, d. h. die Tatbestandmäßigkeit indiziert nicht unmittelbar die Rechtswidrigkeit. 558 Die Beugung des Rechts ist nicht mehr Bestandteil des objektiven Tatbestandes, sondern vielmehr sogenanntes Rechtspflichtmerkmal. Ein Irrtum darüber ist dann nicht mehr ein über § 16 I StGB zu behandelnder Tatbestandsirrtum, sondern wird als Verbotsirrtum im Sinne des § 17 StGB eingestuft. Der sich über die richtige Rechtsanwendung in einem Irrtum befindende Richter wird sich allerdings regelmäßig nicht auf die Unverrneidbarkeit seines Irrtums berufen können 559 mit dem von Maurach gewünschten Effekt, dass der richterliche Irrtum strafrechtlich irrelevant bliebe. Gegen diese Ansicht streiten entscheidend Wortlaut und Sinn des § 336 a.F. StGB. Mit Herausnahme des Merkmals - das Recht beugen - aus dem 554 Anschaulich das Beispiel bei Peter Seemann, S. 67, wonach der richterlich vernommene Zeuge einern den Vorsatz unberührt lassenden Subsumtionsirrtum unterliegt, wenn er eine im Sinne des § 153 StGB unrichtige Angabe zu Person macht und weiß, dass er das Gericht anlügt und zugleich fälschlicherweise glaubt, die Wahrheitspflicht erstrecke sich nicht auf die Personalien. 555 Einen umfassenden und kritischen Überblick zu den diversen Korrekturvorschlägen in der Literatur bietet Peter Seemann, S. 70-98. 556 Frank Scholderer, S. 449, FN. 95. 557 Vgl. dazu Teil I, c., II., 1. a). 558 Vgl. Reinhart Maurach, Zur Problematik der Rechtsbeugung durch Anwendung sowjetzonalen Rechts, in: ROW 1958, 177 ff. 559 So Ursula Schmidt-Speicher, S. 106; Peter Seemann, S. 72.

E. Rechtsblindheit oder politische Verblendung?

137

objektiven Tatbestand wird der § 336 a.F. StGB seines "Kernstück(s),,56o beraubt und unkenntlich. Letztlich müsste nämlich zusätzlich die tatbestandliche Wendung "zugunsten oder zum Nachteil einer Partei" entfallen. Denn nur der notwendige Kausalzusammenhang zwischen richterlichem Unrecht und Begünstigung bzw. Benachteiligung der Partei führt zum tatbestandlichen Erfolg der Rechtsbeugung. 561 Es verbliebe somit nur die nahezu inhaltsleere Tatbestandsformulierung "Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache durch Richter oder andere Amtsträger", auf die sich der Vorsatz beziehen müsste. Dieses Tatbestandsverständnis ist jedoch contra legern und abzulehnen. 562 Spendel versucht durch eine systematische Einordnung der unterschiedlichen Irrtumsarten eine interessengerechte Lösung herbeizuführen. Letztlich will Spendel, dessen Ausgangspunkt der als normatives Tatbestandsmerkmal qualifizierte Begriff "Recht" ist, in allen Fällen, in denen der Irrtum des Täters nicht begründet und verständlich erscheint, sondern zu krass und unverzeihlich ist563 , einen den Vorsatz nicht berührenden Subsumtionsirrtum annehmen. Es wird zwischen dem vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum und dem unerheblichen Subsumtionsirrtum differenziert. Diese Unterscheidung versucht Spendel anhand des bereits zitierten Wetzlarer Aufgebotsfa1l564 zu illustrieren. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der verblendete NS-Richter durch seine irrige Beurteilung klarer Rechtsbegriffe lediglich einem unbeachtlichen Subsumtionsirrtum über die rechtlichen Voraussetzungen einer Eheschließung zwischen einem "deutschblütigen" Mann und einer Jüdin und damit letztlich über das Merkmal "Recht" im Tatbestand des § 336 a. F. StGB unterliegt. Mit dem Institut des Subsumtionsirrtums möchte Spendel den Tätern, die aus kriminalpolitischen, ethischen oder sonstigen Billigkeitsgründen glauben, sich über das geltende Recht hinwegsetzen zu dürfen, den Weg zum Vorsatzausschluss verbauen. Die Schwächen liegen vor allem in der zu konstruierten Differenzierungsmethode Spendels. 565 Rechtsdogmatisch bedenklich ist es, wenn Krassheit und Unverzeihlichkeit des Irrtums als Unterscheidungsmerkmal von Tatbestands- und Subsumtionsirrtum bemüht werden. 566 Aus dem gleichen Grunde ist letztlich auch der von Schmidt-Speicher vorgeschlagene Lösungsansatz zu kritisieren. Im Ergebnis wird eine strikte begriffliche Differenzierung der Rechtsbeugungstäter in sogenannte Irr560 561 562

563

564 565 566

Ursula Schmidt-Speicher, S. 106. So richtigerweise Peter Seemann, S. 74. Vgl. Peter Seemann, S. 74; Ursula Schmidt-Speicher, S. 106. Günter Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, S. 32. Vgl. Teil I, C., H., 1. a). Vgl. dazu ausführlich: Peter Seemann, S. 78-84. So bereits Ursula Schmidt-Speicher, S. 107.

138 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

tums- und Überzeugungstäter empfohlen. 567 Aus dieser Unterscheidung der Tätergruppen soll dann die Möglichkeit erwachsen, im jeweiligen Einzelfall die Frage nach dem Vorliegen des Vorsatzes zufriedenstellend zu beantworten und die Privilegierung auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Die Schwäche der begrifflichen Polarisierung568 offenbart sich auch hier in den angeführten Beispielen, welche die vorgegebene Trennlinie nicht einhalten können.

Sind die im Ergebnis zu begrüßenden Lösungsansätze bisweilen eigenwillige Konstruktionen, die ein Regulativ suchen, um den richterlichen Überzeugungstäter die Straffreiheit mittels des vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtums zu verwehren, so muss grundsätzlich gefragt werden, ob eine für die Rechtsbeugung zugeschnittene Sonderbehandlung erforderlich ist. 569 Es drängt sich nämlich die Frage auf, inwiefern dieser Täter überhaupt einem Irrtum unterliegt. Handelt der Überzeugungstäter nicht vielmehr mit schlichtem Vorsatz, ausgelöst durch seine nationalsozialistische Gesinnung, wobei das Problem der Tatmotivation, also der Glaube an das über das geschriebene hinausgehende Recht, sich als Problem des Unrechtsbewusstseins darstellt?57o In diesem Sinne hat Schreiber571 allgemein formuliert: "Weiß jemand, daß unsere geltende Rechtsordnung eine bestimmte Entscheidung nicht zuläßt, trifft er sie doch, weil er sie zwar für dieser Rechtsordnung widersprechend, aber doch für richtig hält, sei es aus politischen, religiösen oder sonstigen Gründen, so beugt er vorsätzlich das Recht im Sinne des § 336 StGB. Wenn er glaubt, so handeln zu dürfen, kommt lediglich ein Verbotsirrtum in Betracht."

Betont werden muss: Geltung hat diese an sich klare und einleuchtende Aussage allerdings nur, wenn die Vorsatzbegründung aus gesetzespositivistischer Sicht erfolgt. Denn nur unter dieser Prämisse erklärt sich, dass eben die Vorstellung des Richters, was alles mit dem Gesetzesrecht vereinbar gewesen sei bzw. dass der Rückgriff auf höheres Recht möglich sei, nicht einfach mit in den Rechtsbegriff aufgenommen wird und mit tatbestandsausschließender Wirkung nachvollzogen werden darf. 572 Auch erst dann lässt sich weiter begründen, dass der Richter an die Wertentscheidung des Gesetzgebers gebunden ist. Mag er (im Einzellfall) auch anderer Meinung Vgl. Ursula Schmidt-Speicher, S. 108-112. Vgl. auch hierzu Peter Seemann, S. 84-9l. 569 Vgl. Thomas Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 369. 570 So Peter Seemann, S. 79. 571 Hans-Ludwig Schreiber, in: GA 1972, S. 201; so im Ergebnis auch: Thomas Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 370; Peter Seemann, S. 80; Ursula Schmidt-Speicher, S. 111; Günter Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, S. 33, 34. 572 Vgl. Frank Scholderer, S. 460. 567 568

E. Rechtsblindheit oder politische Verblendung?

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sein, so hat er nicht das Recht, sich sehenden Auges aus seiner Motivationslage heraus darüber hinwegzusetzen. 573 Tut er es dennoch, so begeht er eine vorsätzliche Rechtsbeugung und befindet sich allenfalls in einem Verbotsirrtum nach § 17 StGB, wobei jedoch der Vermeidbarkeitsvorwurfs in der Regel gegeben sein wird. Denn der juristisch gebildete Täter muss sich bei Anspannung seines Gewissens und "Einsetzung all seiner Erkenntniskräfte,,574 darüber im Klaren sein, dass er sich nicht aus seinem politischen, ideologischen oder ethischen Gedankengut heraus, über das Gesetzesrecht hinwegsetzen kann 575 . Komplizierte Konstruktionen, um den Tatbestandsirrtum verneinen zu können, sind dann überflüssig. Der Überzeugungstäter, dessen von der geltenden Rechtsordnung abweichenden Vorstellungen über die richtigen Normen damit irrelevant sind, ist nach § 336 a. F. StGB strafbar. 111. Nachkriegsjustiz und Bundesgerichtshof

Es soll nunmehr untersucht werden, wie die Rechtsprechung, insbesondere der BGH mit dem Überzeugungstäter, der sich entgegen besseren Gewissens aus seiner nationalsozialistischen Weltanschauung gegen die ihm bekannte Norm hinweggesetzt hat, rechtlich verfahren ist; inwieweit also dieser Einwand beim Tatvorwurf des § 336 a. F. StGB als Vorsatzproblem Berücksichtigung gefunden hat. Eine unsachgemäße Handhabung der geschilderten Vorsatzproblematik durch die Rechtsprechung zeigen beispielhaft die beiden Entscheidungen des Schwurgerichts Kassel, die zum Freispruch des ehemaligen Kammergerichtsrat Kessler und des Sondergerichtsvorsitzenden Hassenkamp wegen Rechtsbeugung und Totschlag führten. Am 20.4.1943 wurde der jüdische Ingenieur Werner Holländer als "gefährliche(r) Gewohnheitsverbrecher" durch das Urteil des Sondergerichts Kassel zum Tode verurteilt, da er in vier Fällen gegen das "Blutschutzgesetz" verstoßen hatte, welches den Beischlaf zwischen Juden und Ariern bestrafte. 576 Dieses nach dreistündiger Verhandlung verhängte Todesurteil basierte auf einer bis dahin völlig unüblichen juristischen Konstruktion: Das für Rassenschande an sich nicht zuständige Sondergericht kombinierte das Blutschutzgesetz, welches für Rassenschande nur Gefangnis oder Zuchthaus vorsah, mit dem § 20 a a. F. StGB, der für "gefahrliche GewohnheitsSo im Ergebnis: Peter Seemann, S. 80; Ursula Schmidt-Speicher, S. 109. BGHSt 4, 1, 5. 575 Peter Seemann, S. 97. 576 Dieser Fall ist mit sämtlichen Urteilen dokumentiert bei Joerg Friedrich, S. 302 ff. 573

574

140 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

verbrecher" Zuchthaus bis 15 Jahre vorsah und zusätzlich noch mit § 1 der Verordnung vom 4.9.1941, der für gefahrliche Gewohnheitsverbrecher die Todesstrafe zuließ, "wenn das Bedürfnis nach gerechter Sühne" es verlangte. 577 Auf dieser Grundlage erklärte sich das Sondergericht für zuständig und konnte die Todesstrafe aussprechen. Neben dieser eigenwilligen Rechtskonstruktion leitete das Sondergericht das Merkmal des Gewohnheitsverbrechers allein aus Holländers Handlungsweise ab, was seinerseits nur dadurch ermöglicht wurde, dass das Gericht den Fortsetzungszusammenhang auflöste und die verschiedenen Sexualkontakte als mehrere Straftaten wertete. 578 Das mit diesem Sondergerichtsverfahren befasste Schwurgericht Kassel stellte in seinem Urteil vom 28.6.1950 materiell-rechtliche Verstöße des Sondergerichts fest; das Tatbestandsmerkmal des "Gewohnheitsverbrecher" sei im Falle Holländers nicht zu bejahen gewesen, gleiches gelte für die Eigenschaft der Gefährlichkeit; die Todesstrafe sei mithin rechtswidrig. 579 Gleichwohl kam das Schwurgericht zu dem Ergebnis, dass aus den Gesamtumständen 580 nicht zuverlässig auf einen Rechtsbeugungsvorsatz der Angeklagten geschlossen werden konnte: Denn in den damaligen Urteilsgründen heißt es zwar, die Tat sei "ein Zeichen typischer jüdischer Frechheit", so dass diese Wendung für "andere" als juristische "Erwägungen" bei der Urteilsfindung sprechen könnte, aber es sei auch möglich, dass "dieser Satz, der nur in Parenthese angeführt ist, ,schmückendes Beiwort' ist und nichts mit der Findung des Urteils zu tun hatte,,581.

Ein Argument für den vermeintlich fehlenden Tatvorsatz folgt im anschließenden Satz des Urteils582 : "Es ist von den damaligen Verhältnissen auszugehen. Die Angeklagten waren überzeugte Nationalsozialisten. Sie sind wahrscheinlich durch die damalige Propaganda gegen das Judentum vergiftet worden. Daher mag es zu einem derartigen unsachlichen Ausdruck in den Urteils gründen gekommen sein."

Diese Begründung impliziert, dass eine nationalsozialistische Einstellung des Richters den Rechtsbeugungsvorsatz ausschloss. Auch der rechtsfremde Erwägungen beinhaltende Satz, mit dem die Verhängung der Todesstrafe 577 Vgl. lngo Müller, in: KJ 1984, S. 121. 578 Vgl. lngo Müller, in: KJ 1984, S. 121. 579 Zitiert nach Joerg Friedrich, S. 308. 580 Richtigerweise stellte das Kasseler Schwurgericht hinsichtlich des Nachweises des Rechtsbeugungsvorsatzes u. a. voran: "Eine weitere Möglichkeit festzustellen, was innerlich bei den Angeklagten vorgegangen ist, als sie sich für die Todesstrafe ausgesprochen haben, geben die später nach der Beratung niedergelegten Urteils begründungen"; zitiert nach Joerg Friedrich, S. 308. Vgl. dazu aber sodann im Text. 581 Joerg Friedrich, S. 308. 582 Joerg Friedrich, S. 308.

E. Rechtsblindheit oder politische Verblendung?

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zum Teil begründet wurde, ließ für das Kasseler Schwurgericht nicht zweifelsfrei den Rückschluss auf den Rechtsbeugungsvorsatz der Angeklagten zu; es hieß in dem Sondergerichtsurteil zwar: "Den Ausschlag gibt aber der Umstand, dass der Angeklagte seine Verbrechen im zweiten oder dritten Kriegsjahr begangen hat, also zu einer Zeit, als der Kampf Deutschlands mit dem Weltjudentum seinen Höhepunkt erreicht hat"S83.

Aber nach Ansicht des Kasseler Schwurgerichts sei "zu bedenken, daß dieser Grund neben weiteren Gründen angeführt ist" sowie, dass "die damaligen Verhältnisse andere waren als heute,,584. Es folgt dann die fast wortgleiche Begründung wie zuvor, die den Vorsatz der Angeklagten ausschließen soll: "Die Propaganda gegen das Judentum war groß und hat bei den Angeklagten, die dazu noch fanatische Nationalsozialisten waren, den besten Nährboden gefunden; so mag es gekommen sein, daß unsachliche, für die Urteilsfindung nicht entscheidende Ausdrücke in die schriftliche Urteilsfindung gekommen sind."s8s

Und an anderer Stelle heißt es nochmals als Argument für den fehlenden Tatvorsatz: "Es ist auch folgendes zu berücksichtigen: Die Angeklagten waren Parteimitglieder seit 1933. Sie waren überzeugte, ja sogar fanatische Nationalsozialisten. Sie waren verblendet, ließen sich leiten und sind bedingungslos der Propaganda, die von der Partei ausgestreut wurde, gefolgt"; letztlich "konnte ein vorsätzliches Handeln gegen das Recht nicht festgestellt werden".s86

Hier wird endlich klar formuliert, dass die nationalsozialistische Gesinnung des Richters den Rechtsbeugungsvorsatz nach Meinung des Schwurgerichtes entfallen ließ. Durch die Betonung auf die bereits seit der Machtergreifung bestehende Mitgliedschaft in der NSDAP und der fanatischen Anhängerschaft wird der Vorsatzmaßstab für die Rechtsbeugung vollends verschoben, denn die dahinterstehende Aussage ist eindeutig: Je überzeugter der Richter vom Nationalsozialismus und je größer seine politische Verblendung war, um so weniger spricht für die Annahme eines Rechtsbeugungsvorsatzes bei seinem Urteilsspruch, da er diesen aus seiner Verblendung heraus als rechtens ansah. Den Richtern wurde ihre nationalsozialistische Verblendung zugute gehalten, die sie nach Ansicht des Kasseler Gerichts das Unrecht ihres Handeins nicht erkennen ließ. 587 Der Täter wird zum Opfer gemacht, zum Opfer seines fanatischen Irrglaubens. Die Nähe zum Nationalsozialismus gereichte den NS-Richtern hier im Gegensatz zu den sonstigen NS-Tätern zum strafrechtlichen Vorteil; durch diese Haf583 584 585 586 587

Joerg Friedrich, S. 304. Joerg Friedrich, S. 309. Joerg Friedrich, S. 309. Joerg Friedrich, S. 309. So Peter Seemann, S. 12.

142 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

tungsprivilegierung wurden sie der Verantwortung für ihre Rechtsbeugung enthoben. Weiter in die juristische Schieflage gerät das Urteil in seiner Analyse der rechtspolitischen Ursache des durch die Angeklagten gefällten Urteilsspruches: "Die Angeklagten haben vergessen, dass Gesetzespositivismus nicht allein ausschlaggebend sein darf, sondern daß der Richter auch Mensch sein muß, trotzdem konnte ein vorsätzliches Handeln gegen das Recht nicht festgestellt werden ...588

Unabhängig von der rechtshistorischen Unhaltbarkeit dieser These589 findet sie ihren Widerspruch bereits in den von dem Kasseler Gericht zuvor selbst erklärten Feststellungen. Dass die angeklagten Richter sich alles andere als gesetzespositivistisch bei der Urteilsfindung hinsichtlich des Angeklagten Holländer verhielten, bewies ja deren objektive Rechtsbeugung bei der Rechtsanwendung im engeren Sinne durch Verstoß gegen materielles Recht. Gleiches gilt für die vom Schwurgericht Kassel als "offensichtlich unsachlich,,59o eingestuften Sätze im Rahmen der Begründung der Todesstrafe. Die angeklagten Richter haben vielmehr die gesetzespositivistische Vorgehensweise bei ihrer Urteilsfindung "vergessen" und sind auf ihr NSNormbewusstsein gewechselt, was das Schwurgericht im Ergebnis strafbefreiend berücksichtigt hat. 591 Das den Kasseler Freispruch aufhebende Urteil des OLG Frankfurt vom 28.3.1952 wollte die politische Verblendung der Angeklagten nicht als den Vorsatz der Rechtsbeugung ausschließenden Grund anerkennen und erklärte deshalb 592 : "Es wird insofern mit besonderer Sorgfalt geprüft werden müssen, ob die Angeklagten die Todesstrafe gegen Holländer aus sachlichen Rechtserwägungen für angemessen gehalten haben oder ob sie zur Verhängung der Todesstrafe auf Grund ihrer politischen Einstellung gelangt sind."

Das wiederum mit der Sache befasste Schwurgericht Kassel bejahte in seinem Urteil vom 28.3.1952 das Vorliegen der objektiven Rechtsbeugung, indem es insbesondere die mangelnde Sachverhaltsaufklärung593 sowie ein Joerg Friedrich, S. 309. Vgl. zur Widerlegung der "Wehrlosigkeitsthese": Teil I, c., 1., 2. 590 Joerg Friedrich, S. 309. 591 Bemerkenswert auch der vorletzte Satz des Schwurgerichtsurteils, der wohl als Ausdruck des Unbehagens und vielleicht als Zweifel an der Richtigkeit des Freispruchs zu interpretieren ist, letztlich aber das unvertretbare Urteil nicht in irgend einer Weise zu mildern vermag: "Dieser Freispruch ist aus juristischen Gründen erfolgt, moralisch tragen die Angeklagten die Schuld am Tode Holländers"; zitiert nach Joerg Friedrich, S. 310. 592 Joerg Friedrich, S. 310. 588

589

E. Rechtsblindheit oder politische Verblendung?

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materiell falsches Urteil mit einem im Ergebnis unhaltbaren Urteilsspruch594 monierte. Gleichwohl kam es ebenso zu dem Ergebnis, dass aufgrund der Gesamtumstände nicht zwingend auf einen Rechtsbeugungsvorsatz seitens der Angeklagten geschlossen werden konnte. Und so heißt es zunächst unter Bezugnahme auf die im erstinstanzlichen Urteil des Schwurgerichts Kassel festgestellten unsachlichen "Ausdrücke" in der Urteilsbegründung des Sondergerichts595 : "Die fraglichen Sätze enthalten die charakteristisch harte und minderwertige Ausdrucksweise nazistisch infizierter Richter. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, daß es ihrer Überzeugung entsprach, durch diese rohe Ausdrucksweise im Dienste des Diktaturrechts gehandelt zu haben. Keinesfalls darf verkannt werden, daß es ein Charakteristikum der Diktaturen ist, roh und brutal in Erscheinung zu treten."

Des Weiteren vertritt das Schwurgericht die Ansicht: dass, "Ausdrücke wie: der Angeklagte muß ,vernichtet' oder ,ausgemerzt' werden, nicht ohne weiteres zur Bejahung der Rechtsbeugungsabsicht herangezogen werden müssen, sondern Ausdruck der damaligen Überzeugung von Strafrechtlern im Sinne einer Schutzstrafe gewesen sein kann ... ,,596

Und weiter: "Berücksichtigt man, dass die Angeklagten... in rechtspositivistischen Sinne erzogen und möglicherweise ,überzeugte' Nationalsozialisten waren, ... , so ist nicht auszuschließen, daß sie positiv geglaubt haben, ihre Entscheidung entspreche dem Gesetz und enthalte kein Unrecht,,597.

Diese den Tatvorsatz der Rechtsbeugung verneinenden Begründungen und insbesondere die zuletzt zitierte Passage zeigen anschaulich, wie das Kasseler Gericht schlichtweg die Vorstellungen der NS-Richter davon, was alles mit ihrem Gesetzesrecht vereinbar gewesen sei, in den Rechtsbegriff aufgenommen und mit tatbestandsausschließender Wirkung nachvollzogen haben. Dieser extensive Rechtsbegriff ist aber keinesfalls zu rechtfertigen. Es muss zwischen gesetzespositivistischer Norrnativität und die allen und jeden Machtvollzug deckende Handlungsanleitung durch die Gewaltinhaber getrennt werden. 598 593 "Umso schwerer wiegt das Fehlen einer ... Sachaufklärung derjenigen Tatumstände, die für die Frage des Vorliegens der Eigenschaft Holländers als eines ,gefahrlichen ' Gewohnheitsverbrecher zu ermitteln waren"; zitiert nach Joerg Friedrich, S. 31l. 594 Joerg Friedrich, S. 310. 595 Joerg Friedrich, S. 315. 596 Joerg Friedrich, S. 315. 597 Joerg Friedrich, S. 316. Hervorhebung durch den Verf. 598 So grundsätzlich Frank Scholderer, S. 460.

144 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

Diese Trennlinie hat das Schwurgericht nicht (an)erkannt, sondern aus seiner Sicht folgerichtig den mangelnden Tatvorsatz mit der nationalsozialistischen Überzeugung der Angeklagten begrundet599 : "Für einen Richter wie Kessler", ... der "auf einer Jenaer Tagung von einer positiven Stellungnahme der Teilnehmer zur Anwendung des § 20 a StGB auch für den Tatbestand des sog. Blutschutzgesetzes beeindruckt gewesen sein mag, ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß er sich bei seiner Entscheidung in der Sache Holländer von diesem Tagungsergebnis hat leiten lassen. Daß ... kein anderes deutsches Sondergericht derartige Rechtsansichten vertreten hat, würde nur verdeutlichen, in welche juristische Spitzfindigkeiten sich der Angeklagte Kessler verrannt hat".

Der Einwand der "Rechtsblindheit,,600 lässt den Vorsatz dann entfallen: "Nach alledem gibt auch die Gesamtwürdigung des Verhaltens der Angeklagten, daß die Möglichkeit der Rechtsblindheit, basierend auf politischer Verblendung, ... nicht auszuschließen ist..60I .

Dass bei eindeutig vorliegenden Gesetzesverstößen durch die entscheidenden Richter auch der Glaube an höhere übergeordnete Motive oder Normen die objektive und subjektive Zurechenbarkeit eben nicht entfallen muss, zeigte das Schwurgericht BerUn in der ersten Entscheidung vom 3.7.1967'°2 eindrucksvoll - ohne dass es einer komplizierten rechtlichen Konstruktion bedurfte. Es verurteilte den fruheren Kammergerichtsrat Rehse, der als Beisitzer am 1. Senat des Volksgerichtshofes unter dem Vorsitz von Freisler tätig war, wegen Beihilfe zum Mord in drei Fällen und wegen Beihilfe zum versuchten Mord in vier Fällen zu fünf Jahren Zuchthaus. 603 Der Tatbestand der Rechtsbeugung wurde aufgrund der zu berucksichtigenden Sperrwirkung inzident gepruft, obwohl die Rechtsbeugung bereits verjährt war604 : "Eine vorsätzliche Rechtsbeugung liegt aber darin, daß der Angeklagte bewußt gegen das Verbot grausam und übermäßigen harten Strafens verstoßen hat. Obwohl er erkannte, daß die verhängten Todesstrafen unter Berücksichtigung aller von der Rechtsordnung zu billigenden Gesichtspunkte in einem unerträglichen Mißverhältnis zum Unrechtsgehalt der Taten und zur Schuld der Täter standen, hat er diesen Strafen zugestimmt, ( ... ). Dem steht nicht entgegen, daß der Angeklagte möglicherweise aus Rechtsblindheit die Verhängung der Todesstrafen für Joerg Friedrich, S. 316. Hervorhebung durch den Verf. Vgl. zur Unzulänglichkeit dieser Terminologie in diesem Zusammenhang sodann im Text. 601 Joerg Friedrich, S. 317. Der schließlich ergangene Freispruch wurde rechtskräftig. 602 Abgedruckt in: DRiZ 1967, S. 390-394 sowie dokumentiert bei Joerg Friedrich, S. 456 ff. 603 Vgl. dazu: Teil I, A., II., 2., b). 604 DRiZ 1967, S. 393. Hervorhebung durch den Verf. 599

600

E. Rechtsblindheit oder politische Verblendung?

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erforderlich gehalten hat, weil er meinte, im Interesse des Reiches zu handeln. Diese Rechtsblindheit vermag jedoch weder den Vorsatz der Rechtsbeugung noch den der rechtswidrigen Tötung ausräumen. Er wußte, was er tat, und erkannte die Folgen seines Handeins. Wenn er in seiner Verblendung annahm, so handeln zu müssen, so ist das ein reiner Verbotsirrtum, der den Vorsatz nicht beseitigt."

Hier hat das Schwurgericht richtig erkannt, dass der beisitzende Richter am Volksgerichtshof bei seinen Todesurteilen mit schlichtem Vorsatz der Rechtsbeugung handelte, und zwar motiviert durch seine nationalsozialistische Gesinnung. Das anzuwendende Gesetzesrecht wurde gesehen, nur einfach durch die Interessen des Reiches zurückgedrängt. Überspitzt formuliert: Rehse fällte kein Urteilsspruch, sondern einen ungesetzlichen Machtspruch. Der Bundesgerichtshof begründete in seinem Revisionsurteil vom 30.4.196Ef'°5 die Aufhebung der Verurteilung zum einen mit der vom Schwurgericht angenommenen Beteiligungsform. Denn als gleichermaßen stimmberechtigter Beisitzer konnte dieser nur Täter und nicht nur Gehilfe eines Tötungsverbrechens sein. Zum anderen monierte der BGH Unstimmigkeiten des Urteils bei den Ausführungen zum Rechtsbeugungsvorsatz: "Es enthält (... ) Unklarheiten und Widersprüche, u. a. übrigens auch im Zusammenhang mit den Ausdrücken ,Rechtsblindheit' und, Verblendung', die, im üblichen Sinne verstanden, mit dem Vorsatz der Rechtsbeugung nicht vereinbar erscheinen,,606.

Hiermit hatte sich der Bundesgerichtshof zur These bekannt, dass die nationalsozialistische, über das geschriebene Recht hinausgehende Verblendung des Richters den Rechtsbeugungsvorsatz entfallen ließ. Dabei führt schon der Begriff der "Rechtsblindheit" in die falsche Richtung. Die Wortwahl der Rechtsblindheit ist ungenau. 607 Zu Recht meint Müller608 , dass Blindheit innerhalb des Rechts, dergestalt, dass sich der rechtsblinde Richter in bestimmte juristische Gedankengänge verrannt hat, als eine den Rechtsbeugungsvorsatz ausschließende Rechtsblindheit zu verstehen sein mag, aber um eine solche ging es bei den angeklagten NS-Richtern niemals. Der Rechtsbruch geschah vielmehr sehenden Auges. Soweit man nämlich - wie dies ja z.B. zu Recht das Schwurgericht Kassel in I. Instanz im Fall Holländer auch tat - annimmt, dass die Urteilsbegründungen Aufschluss über die Beweggründe des Gerichts geben, so entdeckte man beim BGH, NJW 1968, S. 1339-1340. BGH, NJW 1968, S. 1340. 607 Diesem unklaren Terminus sind Rechtsprechung und -lehre mehrfach unkritisch gefolgt, vgl. nur das bereits zitierte 1. instanzliche Urteil im Fall "Rehse" wie auch die beiden Kasseler Urteile im Fall "Holländer". Hervorhebung durch den Verf. 608 Vgl. lngo Müller, in: KJ 1984, S. l34. 605

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10 Quasten

146 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

Sondergericht Kassel derartige Wendungen wie "jüdische Frechheit"; dies hat aber mit "Recht" nichts zu tun. Die Richter waren allenfalls verblendet, nicht aber rechtsblind. In diesem Sinne differenzierte Lewald609 richtigerweise zwischen Rechtsblindheit und politischer Verblendung, wobei letztere "zum Mißbrauch des Rechts für rein politische Zwecke treibt" und die "in totaler Perversion der gesellschaftlichen Moral begründet ist". Die Überzeugungstäterschaft im anderen Sinne hieß denn auch in extenso, bei jedwedem Tatmotiv von vorneherein den Vorsatz zu verneinen. 610 Exkurs: Die subjektive Rechtsbeugungstheorie

Es bleibt zu fragen, warum die Nachkriegsjustiz einschließlich des Bundesgerichtshofs keinen Unterschied zwischen Rechtsblindheit und Verblendung gemacht hat bzw. ob eine rechtliche Dogmatik dahinterstehen könnte, die diese Differenzierung verhindert hat. Grundlage für den von der BGH-Rechtsprechung eingeschlagene Weg jedwede "Rechtsauffassung,,611 unkritisch zu akzeptieren und den Vorsatz auszuschließen, kann aus rechtsdogmatischer Sicht einzig die sogenannte subjektive Rechtsbeugungstheorie sein. Diese entstand im Rahmen der Diskussion der Bestimmung der Tathandlung der Rechtsbeugung. 612 Nach § 336 a. F. StGB wird die Beugung zugunsten oder zum Nachteil einer Partei bestraft, wenn sie durch Richter, Schiedsrichter oder andere Amtsträgern bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache, begangen wird. Tathandlung ist demnach die Verletzung des Rechts. Umstritten ist dennoch, nach welcher Definition diese Rechtsverletzung vorliegt. Für die Vertreter der subjektiven Theorie 613 setzt die Tathandlung der Rechtsbeugung lediglich einen Widerspruch zur eigenen Rechtsüberzeugung des Richters voraus. Die Folge einer solchen Tathandlungsbestimmung ist, dass sich die Frage nach einem möglichen Tatbestandsirrtum bei einem Überzeugungstäter von 609 Vgl. Walter Lewald, in: Walter Lewald/Theo Rasehorn, Das Verfahren gegen Rehse und die Problematik des § 336, in: NJW 1969, S. 459, der diese Unterscheidung im Zusammenhang mit dem Fall "Rehse" traf, aber treffend diese Differenzierung "über diesen konkreten Fall hinaus" für "die richtige Beurteilung der inneren Tatseite anderer NS-Verbrecher" verstanden wissen wollte. 610 Vgl. Ingo Müller, in: KJ 1984, S. 135. 611 So in diesem Zusammenhang: Ingo Müller, in: NJW 1980, S. 2394. 612 Vgl. zu den Inhalten der Rechtsbeugungstheorien: Teil I, D., I. 613 Zuletzt noch vertreten von: Werner Sarstedt, S. 427; ansonsten Lassa Francis Lawrence Oppenheim, S. 46, 87, 226; Wolfgang Joly, S. 21 ff.; Hans-Joachim Musielak, S. 74 ff.; Horst Franzheim, Die Teilnahme an der unvorsätzlichen Haupttat, Berlin 1961, S. 49 ff.

E. Rechtsblindheit oder politische Verblendung?

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vorneherein gar nicht stellt. Erkennt man das "Wesen der Rechtsbeugung,,614 in der Entscheidung des Richters entgegen seiner Überzeugung, von dem was Recht oder Unrecht ist, ist grundsätzlich Straflosigkeit des ,,rechtsblinden" Richters anzunehmen. Er ist kein Überzeugungstäter, sondern beugt vielmehr "gutgläubig" das Recht. 615 Ein ,,rechtsblinder" Irrtumstäter begeht somit schon objektiv tatbestandlieh keine Rechtsbeugung. 616 Die subjektive Rechtsbeugungstheorie ist jedoch aus mehrerlei Aspekten unhaltbar. Sie hat sich daher rechtstheoretisch nicht durchgesetzt und kann mittlerweile als obsolet eingestuft werden: Wenn es für den Maßstab der Tathandlung einzig auf die Übereinstimmung mit der subjektiven Rechtsauffassung des Richtenden ankommt, spielt die objektive Rechtmäßigkeit von Anbeginn keine Rolle mehr. Die rechtsstaatlieh bedenkliche Folge ist, dass die Rechtsposition des Adressaten von einem Richterspruch und die vom Gesetzgeber bestimmten Gesetzesinhalte vollends ungeschützt zur Disposition des Richtenden gestellt werden. 617 Dies wird durch die nach der subjektiven Theorie erzielten Ergebnisse unterstrichen. Denn entscheidet der Täter nach seiner Überzeugung richtig, aber objektiv rechtswidrig, so scheidet eine Rechtsbeugung aus, obwohl die vorgenannten Schutzgüter verletzt sind. Im gegenteiligen Fall, wonach die richterliche Entscheidung objektiv rechtmäßig, aber entgegen die innere Überzeugung des Richters erfolgt, liegt eine Rechtsbeugung trotz mangelnder Rechtsgutverletzung vor. Damit wird durch die subjektive Unrechtsbestimmung die Grenze zur allein moralischen Tatbewertung und somit zum Gesinnungsstrafrecht verwischt. 618 Der Zweck des Strafrechts, den Taterfolg, auf den es dem Gesetzgeber ankommt, zu bestrafen, wird ausgeklammert und zugleich die dem Strafrecht wesensfremde Absicht, die Gesinnung des Täters zu sanktionieren, betont. 619 Zweck des § 336 a.F. StGB ist es aber nicht, den Richter daran zu hindern, sich an seiner "Rechtsüberzeugung zu versündigen", sondern die Rechtsgemeinschaft vor rechtswidrigen Entscheidungen zu schützen62o . Und aus dem weiteren Sinn des § 336 a. F. StGB, wonach die Strafvorschrift die Bindung des Richters an Gesetz und Recht negativ ergänzt621 , leitet sich ab, dass durch den Willen des 614 So der Titel des Aufsatzes von Rudolphi, in dem er die Pflichtwidrigkeitstheorie begründet, vgl. Hans-Joachim Rudolphi, Das Wesen der Rechtsbeugung, in: ZStW 82 (1970), S. 610 ff. 615 Ablehnend gegen diese Konsequenz bereits: Manfred Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung, S. 17; vgl. auch Peter Seemann, S. 70. 616 So im Ergebnis Manfred Seebode, in: JuS 1969, S. 204. 617 Vgl. auch Frank Scholderer, S. 279 sowie Peter Seemann, S. 25. 618 So Thomas Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 362. 619 So bereits Manfred Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung, S. 17. 620 Günter Bemmann, in: GA 1969, S. 67; ebenso Peter Seemann, S. 26. 10*

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Staates gewordene Recht als das gelten soll, was objektiver Gesetzesinhalt ist, und nicht, was dem Richter nach seiner Überzeugung entspricht. Stellvertretend für die Unhaltbarkeit der mit der subjektiven Theorie erzielten Ergebnisse wird daher zu Recht auf den Präsidenten des ehemaligen Volksgerichtshofes, Roland Freisler, verwiesen: ,,Nach ihr (der subjektiven Theorie, der Verf.) hätte der letzte Präsident des NSVolks gerichtshofs Freisler mit seinen vielen rechtswidrigen Todesurteilen nie das Recht gebeugt, wenn und weil er als fanatischer Vertreter der NS-Ideologie von der Richtigkeit seiner Entscheidung überzeugt war,,622.

Exakt diese zu vermeidende Konsequenz hatte das Schwurgericht Berlin in dem Fall Rehse in seiner nicht von der subjektiven Theorie getragenen Entscheidung vom 3.7.1967 im Auge, als es ausführte 623 : "Es ist ein Unterschied, ob ein Richter im Einzelfall über die tatsächliche Würdigung eines Sachverhaltes oder die Auslegung eines Gesetzes irrt oder ob er in einer Verblendung über einen langen Zeitraum hinweg rechtsfremde Ziele zu verwirklichen trachtet. (... ) Denn dann müßte auch Freisler, stünde er heute als Angekl. vor dem Schwurgericht und würde er sich ebenfalls auf Reehtsblindheit berufen, freigesprochen werden, wenn ihm die Reehtsblindheit ebenfalls nicht widerlegt werden könnte."

Genau wie der BGH wollte das mit der Sache Rehse neu befasste Schwurgericht Berlin624 in seiner Entscheidung vom 6.12.1968 die mit der zugegebenermaßen ungenauen Wortwahl der Rechtsblindheit eingeleitete Differenzierung zwischen dem lediglich politisch Verblendeten und dem sich in einem tatbestandsausschließenden Vorsatzirrtum befindlichen Richter nicht akzeptieren. Es sprach Rehse frei. Über die durch die Staatsanwaltschaft Berlin im Frühjahr des Jahres 1969 eingelegte Revisionsschrift musste der Bundesgerichtshof nicht mehr entscheiden, da Rehse am 15.9.1969 verstarb. Dieses unrühmliche Kapitel deutscher Nachkriegsjustiz hätte nicht geschrieben zu werden brauchen, wenn sich der BGH an eines seiner eigenen Urteile erinnert hätte. Dort hat er selbst den richtigen "Weg für die Beurteilung des Falles Rehses..625 und vergleichbarer Fälle, in denen NS-Richter aus ihrer nationalsozialistischen Verblendung heraus gegen das Recht verstießen, aufgezeigt. Auch in diesem Fall wollte sich der angeklagte Richter 621 Vgl. Man/red Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung, S. 17 mit Hinweis auf Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. I GO, 1 GVG, §§ 25, 45 DRiG. 622 LK-Spendel, § 336, Rz. 37; so auch Man/red Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugng, S. 16; zustimmend Peter Seemann, S. 26 und Ursula Sehmidt-Speieher, S. 70. 623 DRiZ 1967, S. 393. Hervorhebung durch den Verf. 624 V gl. im Wortlaut bei Joerg Friedrieh, S. 463 ff. 625 Vgl. Walter Lewald/Theo Rasehorn, S. 459.

E. Rechtsblindheit oder politische Verblendung?

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auf einen vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum bezüglich des Merkmals "Recht" bei § 336 a. F. StGB berufen. Der Richter machte den Einwand geltend, dass er die von ihm ausgesprochenen Strafen für angemessen hielt, was ihm auch nicht widerlegt werden konnte. Dennoch argumentierte der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 16.2.1960626: "Das schließt jedoch bei der übrigen gegebenen Sachlage den Vorsatz der Rechtsbeugung nicht ohne weiteres aus. Der Angeklagte ist Volljurist, von dem erwartet werden kann, daß er ein Gefühl dafür hat, ob eine Strafe in unerträglichen Mißverhältnis zur Schwere der Tat und zur Schuld des Täters steht".

Und weiter627 : " (... ) diese Umstände erwecken den Verdacht, daß der Angekl. ... bei den Strafaussprüchen bewußt das Recht gebeugt hat, um der ,allgemeinen Tendenz', d.h. dem Verlangen der politischen Machthabern, zu genügen, (die damals Angeklagten, der Verf.) ... durch Strafen ,unschädlich zu machen', die in einem unerträglichen Mißverhältnis zur Schwere der einzelnen Taten und zur Schuld der einzelnen Täter standen."

Hier wird ganz klar - im krassen Gegenteil zu den bereits dargestellten Entscheidungen des Landgerichts Kassel - der den Angeklagten innewohnende Glaube, offensichtliche Gesetzesbrüche seien, weil vom tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen der Machthaber gedeckt, rechtens, nicht als vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum gewertet. Es wird richtigerweise unterschieden, ob der Richter die Tat für Recht oder ob er die mit der Entscheidung begangene Rechtsbeugung für rechtens, also gerechtfertigt, hielt. 628 D. h., eine politisch-ideologische begründete Verletzung der Rechtsordnung darf dem Rechtsprechenden nicht begünstigend angerechnet werden. Die von dem Gesetz abweichende Wertvorstellungen können den Vorsatz nicht ausschließen. Erstaunlich ist, dass der BGH sich im Fall Rehse dieses Urteilsausspruchs nicht mehr erinnerte. Vergleicht man den Wortlaut der in dem 1. instanzlichen Schwurgerichtsurteil des Landgerichtes Berlin dargelegten Vorsatzbegründung bezüglich des Beisitzers Rehse mit der des vorgenannten BGH-Urteils, ist der von der BGH-Entscheidung in dem Fall Rehse auf die Irritation hinsichtlich des Rechtsbeugungsvorsatzes gestützte Autbebungsgrund mehr als erstaunlich. So heißt es in dem Schwurgerichtsurteil des Landgerichtes Berlin pikanterweise fast wortgleich629 : "Wenn er in seiner Verblendung annahm, so handeln zu müssen, so ist das ein reiner Verbotsirrtum, der den Vorsatz nicht beseitigt. Der Angkl. ist ein qualifiBGH, NJW 1960, S. 975. BGH, NJW 1960, S. 975. 628 Für diese Unterscheidung im allgemeinen lngo Müller, in: NJW 1980, S.2394. 629 DRiZ, 1967, S. 393. Hervorhebung durch den Verf. 626 627

150 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat zierter Val/jurist, von dem erwartet werden konnte, dass er sich ein Gefühl für gerechtes Strafen bewahrt hatte."

Warum hat der Bundesgerichtshof beim Verfahren gegen Rehse mit anderem Maß als in seiner Entscheidung zur Richteranklage vom 16.2.1960 gemessen? Eine Erklärung hierfür bietet wohl nicht ein rechtlicher, sondern eher ein politischer Umstand. In dem Rechtsbeugungsprozess aus dem Jahre 1960 ging es nicht um Tathandlungen eines ehemaligen NS-Richters, sondern eines ehemaligen Vorsitzenden Richters der 6. Strafkammer des LG Magdeburg. Ernst Oehme war vor dem Mauerbau nach Westberlin geflüchtet, wo er der Rechtsbeugung angeklagt wurde. Er hatte Ende 1950 Angehörige der ,,zeugen Jehovas" wegen Spionage, Kriegs- und Boykotthetze nach Art. 6 Abs. 2 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik zu Zuchthausstrafen von drei Jahren und sechs Monaten sowie Jahren verurteilt. Die Lösung des dargestellten Widerspruchs liegt offensichtlich darin, dass zwischen der politischen Couleur der Diktaturen zu unterscheiden ist, in denen der Richter aus politischer Hörigkeit dem System gegenüber ein gesetzeswidriges Urteil gesprochen hat. Mit dem ehemals in der DDRJustiz tätigen Richter, der zweifellos das Recht gebeugt hatte, hat der BGH (zur Zeit des "Kalten Krieges") nicht die gleiche politische Rücksichtnahme bei der Frage einer möglichen den Vorsatz der Rechtsbeugung ausschließenden" Verblendung" des Entscheidenden walten lassen. IV. Fazit

Von der Nachkriegsrechtsprechung630 und zum Teil auch von der Lehre wurde nur in unzureichendem Maße erkannt, dass, wenn der aus fehlgelei630 Neben den bereits erwähnten Urteilen sei auf das BGH-Urteil vam 10.12.1957 (BGH, GA 1958, S. 241 ff.) hingewiesen, in dem das vorinstanzliche Urteil mit der Begründung aufgehoben wurde, dass das Verfahren, in dem der Angekl. die Rechtsbeugung begangen haben soll, nicht in seinen Einzelheiten genau festgestellt wurde; dort heißt es zu dem Erfordernis der inneren Tatseite wiederum orientiert an der Maßgabe der Überzeugung des Tatrichters: "Außerdem muß festgestellt werden, ob und in welchem Umfang der Angekl. damals von der Richtigkeit der Feststellungen überzeugt war, die das damals entscheidende Gericht getroffen hat, und ob und in welchem Umfang er ... der Auffassung war, daß die strafrechtlichen Folgen, ... , Recht oder Unrecht waren". Als weiteres Beispiel für die ungenügende Trennung zwischen "Rechtsblindheit" und "politischer Verblendung" muss BVerwGE 26, 82, 87 angesehen werden, wonach die Aberkennung von Versorgungsansprüchen eines ehemaligen Polizeipräsidenten und ehrenamtlichen Richters am VGH u. a. deshalb nicht vom Vorliegen einer Rechtsbeugung abhängig gemacht wurde, weil Richter ,,- wie z. B. der Präsident des Volksgerichtshofs Dr. Freisler - als fanatische Nationalsozialisten von der unmenschlichen und rechtsstaatswidrigen Denkweise des nationalsozialistischen Regi-

E. Rechtsblindheit oder politische Verblendung?

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tetem Fanatismus motivierte Richter das Recht beugt, sein Glaube, dieses gesetzwidrige Handeln sei mit dem Willen der politischen Machthabern deckungsgleich oder von diesen gefordert, nicht zu einem den vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum führt63 1. Diese Fälle liegen jenseits der Irrturnsproblematik; der so Handelnde beugt das Recht vielmehr "sehenden Auges", vorsätzlich (im Regelfall mit direktem Vorsatz). Denn dieser Täter ist nicht "rechtsblind", sondern allenfalls "politisch verblendet". Der so entscheidende Richter erkennt die tatsächlichen Voraussetzungen und den Bedeutungsinhalt der anzuwendenden Norm; er ist nur der Auffassung, aus seiner politischen Motivation heraus entgegen der bestehenden Gesetze urteilen zu können. D. h. war der Richter der Meinung, die bewusste Abweichung vom Gesetz zuungunsten einer Partei (z. B. Juden) sei in bestimmten Fällen durch allgemeine NS-Parolen oder den Rassegedanken gerechtfertigt, kann er sich allenfalls auf einen Irrtum über das Vorhandensein eines Rechtfertigungsgrundes und damit nur auf einen Verbotsirrtum 632 berufen. Dieser ist allerdings regelmäßig vermeidbar, da der Täter als "qualifizierter Volljurist" sich im Klaren darüber sein muss, dass er sich aus seinen ideologischen Gedankengängen heraus nicht über die Gesetze hinwegsetzen darf. Die Bestrafung aus § 336 a. F. StGB ist in diesen Fällen nicht auszuschließen. Daraus ergibt sich die rechtsdogmatische Konsequenz, dass es - wie dies aber zum Teil im Schrifttum praktiziert wird - keiner komplizierten rechtmes so durchdrungen waren, daß ihnen ... der unbedingte Rechtsbeugungsvorsatz gefehlt haben mag" (zit. nach LK-Spendel, § 336, Rz. 93, Fn. 119). Ähnlich undifferenziert Rasehorn, vgl. Walter Lewald/Theo Rasehom, S. 459, der meint: "Freisler und andere NS-Richter glaubten lediglich sich aus Gründen der Staatsräson ... über diese Bedenken hinwegzusetzen. Damit fehlte zwar der direkte Vorsatz, wohl aber war der Eventualvorsatz vorhanden". Dagegegen hat Müller, vgl. Ingo Müller, in: NJW 1980, S. 2394 und in: KJ 1984, S. 135, 136, 141, darauf hingewiesen, dass eine Differenzierung zwischen "Verblendung" und Vorsatzform regelmäßig nicht vorgenommen wurde, obwohl unproblematisch "bei den meisten Terrorurteilen des ,Dritten Reiches' vorsätzliche Rechtsbeugung, und zwar in Form des direkten Vorsatzes" vorlag. Mit Blick auf die Rechtskonstruktion des vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtums stellt Müller daher zutreffend fest, "Rehse hätte genauso freigesprochen werden können, wenn man für die Rechtsbeugungsverurteilung Eventualvorsatz hätte genügen lassen, wie eine Verurteilung mit direktem Vorsatz möglich gewesen wäre". 631 Rechtstechnisch einwandfrei allerdings im Fall "Oehme" BGHSt 14, 148 (abgedruckt in NJW 1960, S. 974 ff.), wonach eine bewusste Rechtsbeugung bejaht wurde, wenn gegen "Recht und Gesetz verstoßen wurde, weil die politischen Machthaber dies von ihm erwarteten". 632 Anders Herdegen, der zur Rechtsfigur des Überzeugungstäters, den Verbotsirrtum ablehent, da: Die Annahme eines Verbotsirrtum scheitert daran, dass sich ein Gewissenskonflikt ohne die Erkenntnis des missachteten Normbefehl in diesen Fällen auch nicht denken lässt, vgl. Matthias Herdegen, Gewissensfreiheit und Strafrecht, in: GA 1986, S. 102.

152 Teil I: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat

lichen Konstruktion bedarf, um den Rückgriff auf den strafbefreienden Tatbestandsirrtum zu verhindern und zum krirninalpolitisch begrüßenswerten Ergebnis der Bestrafung des Überzeugungstäters zu gelangen. Der BGH hingegen hat im Fall Rehse die Meinung vertreten, dass die nationalsozialistische Einstellung des Richters den Rechtsbeugungsvorsatz ausschloss. Die notwendige Trennung zwischen "Verblendung" und Vorsatzinhalt wurde nicht vollzogen. Bereitwillig wurde die Vorstellung des politisch-motivierten Überzeugungstäters davon, was alles mit seinem Gesetzesrecht in Einklang steht, in den Rechtsbegriff aufgenommen und mit vorsatzausschließender Wirkung nachvollzogen. 633 Die rechtsdogmatische Erklärung für diese Vorgehensweise bietet die sogenannte subjektive Rechtsbeugungstheorie. Diese kommt zu unhaltbaren Ergebnissen und ist abzulehnen. Denn sie setzt an die Stelle des Rechts die Rechtsauffassung des einzelnen und sieht allein die Untreue des Richters gegen seine eigene Überzeugung als strafbare Handlung an.

633

So die grds. Kritik bei Frank Scholderer, S. 460.

Teil II

Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung in der DDR A. Vergleichbarkeit der beiden Regime und deren Rechtsverständnis Die Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 bringt in der Frage der Rechtsbeugung praktisch eine Wiedervorlage der Nachkriegsproblematik: Die bundesrepublikanische Justiz ist wiederum dazu aufgefordert, über die in einem anderen System durch die Justiz begangenen Handlungen strafrechtlich zu urteilen. Aus dieser historischen Parallele heraus ist der Vergleich des NS-Staates mit der DDR unumgänglich. Beschwört jedweder Vergleich den Vorwurf der Relativierung heraus, so bedeutet Vergleich eben nicht Gleichstellung. Wenn es hier also um die Kritik an den Rechtsbeugungsurteilen des BGH zur NS- und zugleich zur DDR-Justiz geht, so muss zunächst die Frage gestellt werden, inwieweit die Staaten, in denen diese Justizapparate wirkten, überhaupt "in einem Atemzug" genannt werden können. I. Totalitarismus und Primat der Politik

Gerade die sogenannten Totalitarismustheorien 1 heben die Übereinstimmungen zwischen Nationalsozialismus und insbesondere dem stalinistischen Sowjetkommunismus hervor. Das Augenmerk in deren Analyse liegt dabei auf dem Funktionieren von Systemen und "Herrschaftstechniken"z. Die Vergleichbarkeit besteht in der offiziellen Ideologie, ihrer Verwaltung durch eine Monopolpartei und ihrer totalitären, die Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft zerstörenden Umsetzung in der sozialen Wirklichkeit? Sind diese Aspekte Ursprung für die staatlichen Verbrechen, so zeigt sich eine strukturelle Parallele in dem freiheitsfeindlichen Mechanismus totalitärer I Vgl. zur Bedeutung und Entstehung diese Theorien Frank Scholderer, S. 486 m.w.N. 2 [an Kershaw, Der NS-Staat - Gesetzesinterpretation und Kontroversen im Überblick, Hamburg 1988, S. 67 ff. 3 Frank Scholderer, S. 487.

154 Teil 11: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung in der DDR

Regime dahingehend, dass die über das staatliche Gewaltmonopol verfügenden ideologischen "Heilsbringer" ihren Heilsplan gegenüber jeglichem Widerstand in Form von Opposition, Pluralismus und individueller Freiheit durchzusetzen in der Lage sind.4 Nationalsozialismus wie Marxismus-Leninismus hatten ihre jeweilige erlösende Ideologie, die zur Weltherrschaft berufene "Herrenrasse" einerseits, den Eintritt in den kommunistischen Zustand andererseits. 5 Daraus folgte die Unterordnung des Individuums dem jeweiligen "Heilsplan" gegenüber. Das kollektiv Nützliche verdrängt das individuell Gewollte. Sind damit Strukturähnlichkeiten unterschiedlicher totalitärer Systeme insgesamt offenbar, so müssten konsequenterweise dann auch konkrete Schnittpunkte bei dem Stellenwert und der Funktion des Rechts innerhalb des NS-Staates und der DDR auszumachen sein6 : Das Recht als Instrument der Durchsetzung der jeweiligen Ideologie?! Der Stellenwert des Rechts in dem nazifaschistischen Staat wurde bereits näher beleuchtet7 ; er soll nochmals gerade im direkten Vergleich zum Rechtsverständnis im realsozialistischen Staat DDR skizziert werden: Das Recht im NS-Staat war dem Führerprinzip untergeordnet. Der "Führerwille" war oberstes Gesetz. Denn: "Der Führer Adolf Hitler als Träger der höchsten Souveränität des Großdeutschen Reiches" war "alleiniger Ursprung allen Rechts".8 Das Recht hatte der "Volksgemeinschaft" zu dienen. Der Begriff der Volksgemeinschaft wurde so verstanden, dass absolute Kongruenz mit dem Führerprinzip herrschte. Die Prämisse lautete daher: Der Führer ist Träger des Willens der "Volksgemeinschaft", d. h. er ist identisch mit ihr. Die "Volksgemeinschaft" ist antiindividualistisch, in ihr sind alle Widersprüche zwischen Staat und Individuum dialektisch überwunden. 9 Von dem Begriff der "Volksgemeinschaft" war das "Fremdartige" zu trennen. Das Gleichheitsprinzip galt nur für "Artgleiche" in der "Volksgemeinschaft".l0 Das gesamte Gesetzesrecht wurde unter den Vorbehalt seiner Vereinbarkeit mit der NS-Ideologie und dem entäußerten Führerwillen gestellt. Es kam zur totalen Politisierung des Rechts als Instrument der Durchsetzung der NS-Ideologie. 4 Vgl. Frank Scholderer S. 489 unter Hinweis auf Karl Popper, Das Elend des Historizismus, 3. Aufl., Tübingen 1971. 5 Vgl. Frank Scholderer, S. 490. 6 Vgl. zum folgenden: Volkmar Schöneburg, Recht im nazifaschistischen und im "realsozialistischen" deutschen Staat - Diskontinuitäten und Kontinuitäten, in: NJ 1992, S. 49-54. 7 Vgl. Teil I, C., 1., 2.c). 8 Hans-Heinrich Lammers, Zum 30.01.1943, in: Reichsverwaltungsblatt 1943, S.43. 9 Volkmar Schöneburg, S. 50. 10 Vgl. Gustav Adolf Walz, Artgleichheit gegen Gleichartigkeit, Hamburg 1938.

A. Vergleichbarkeit der beiden Regime und deren Rechtsverständnis

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Die Länderverfassungen der Jahre 1946/47 in Ostdeutschland und auch die 1948/49 erarbeitete Verfassung für eine deutsche demokratische Republik belegen, dass der Staat DDR bemüht war, im Gegensatz zum NS-Staat und seinem Recht eine menschenwürdige Alternative zu finden. II Aber bereits Ende der vierziger bzw. Anfang der fünfziger Jahre wurde im Gefolge der einsetzenden Stalinisierung die demokratische sozialistische Alternative deformiert. Das Recht wurde dem Primat der stalinistisch geprägten Parteipolitik unterstellt. Grund- und Menschenrechte wurden nur noch teilweise eingehalten. In diesen Zeitraum vielen die unsäglichen "Waldheimer Prozesse"I2. Auf vielen Rechtsgebieten war eine Entindividualisierung zu beobachten. 13 Dies war die Folge der These, wonach Volk, Staat und Individuum eins seien. Mit Hinweis auf einen sich verschärfenden inneren und äußeren Klassenkampf findet eine neue Art von Freund-Feind-Ideologie Eingang in das Recht; es werden Ausgrenzungen von Bürgern juristisch legitimiert. I4 Das Recht hört in wichtigen Bereichen auf, Inhalt und Maß von Politik zu sein. Es gilt die Formel: Das Recht sei nichts anderes als die staatliche Macht selbst. I5 Damit wurde auch dem Rechtsbruch durch Parteiund Staatsfunktionäre der Weg bereitet. Hier zeigen sich trotz aller Brüche Kontinuitäten zum Recht des NS-Staates. Das Recht wird dem Primat der Politik unterstellt. Die Politisierung des Rechts soll die Durchsetzung der Ideologie sichern. Die Funktion des Rechts besteht zumindest auch in der Unterdrückung des Individuums zugunsten des Kollektivs.

ll. Verfassungs- und Strafrecht der beiden Regime Mit Blick auf das damals geltende Verfassungs- und Strafrecht der beiden Regime lassen sich strukturelle Parallelen konkretisieren. An die Stelle des bürgerlichen Verfassungsstaates wurde nach dem nazistischen Verständnis die völkische Verfassung gesetzt. Dieser Terminus war sowohl inhaltlich wie auch begrifflich schwer auszufüllen; er sollte es auch gar nicht sein. Dies war konsequent, da für eine verfassungsrechtlich verbindliche Gestaltung der Gesellschaft wenig Raum war, weil der "Führer" So Volkmar Schöneburg, S. 50. Vgl. dazu Karl Wilhelm Fricke, Das justizielle Unrecht der Weimarer Prozesse, in: NJ 1991, S. 209 ff.; Falco Werkentin, Gelenkte Rechtsprechung - zur Strafjustiz in den frühen Jahren der DDR, in: NJ 1991, S. 479 ff.; Wilfriede Dtto, Die "Waldheimer Prozesse" - altes Erbe und neue Sichten, in: NJ 1991, S. 355 ff. 13 So Volkmar Schöneburg, S. 50. 14 Volkmar Schöneburg, S. 50. 15 Vgl. dazu Karl Polak, Zur Dialektik in der Staatslehre, 3. Aufl., Berlin 1963, S. 39, 252, 338. Il

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156 Teil 11: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung in der DDR

oberste Rechtsquelle, oberster Richter, oberster Gesetzgeber und oberster Exekutor war. 16 So zeigt sich die völkische Verfassung als eine nicht in einer Urkunde festgehaltene Verfassung, d. h. sie war kein textlich fixiertes Normensystem l7 ; sie war vielmehr "lebendige Ordnung der Volksgemeinschaft", "Gesamtordnung des politischen Zusammenlebens,,18. Es gab zwischen den Jahren 1933 und 1945 niemals den Versuch, sich eine juristische Verfassung zu geben. 1948/49 wurde im Osten Deutschlands durch den Verfassungsausschuss des Deutschen Volksrates eine Verfassung für eine gesamtdeutsche demokratische Republik konzipiert. 19 Diese Verfassung bekannte sich zum Prinzip der Volkssouveränität. Ausfluss dessen war die Festschreibung der Grundrechte als Mittel zur Verwirklichung der Volkssouveränität durch den Bürger. Die Verfassung von 1949 lehnte jedoch die Gewaltenteilung ausdrücklich ab. Mit dem in der DDR einsetzenden Stalinisierungsprozess war jedoch verbunden, dass die am 7.10.1949 für den deutschen Teilstaat DDR in Kraft gesetzte Verfassung mehr und mehr an Bedeutung verlor. Die SED begann damit, ihren Herrschaftsanspruch neben und gegen die Verfassung durchzusetzen. Es folgte ein "offener oder schleichender Verfassungsbruch,,2o. Folgerichtig war die 1968 in Kraft gesetzte "Sozialistische Verfassung der DDR" mehr Verfassungsleere" als Verfassungsrecht und unterschied sich von der Verfassung von 1949 bereits in ihrer Form: Sie wurde in typisch stalinistischer Weise als "politisches Dokument" und kaum als juristisches Normensystem gefasst. 21 Damit diente sie den politisch Herrschenden als zusätzliche Legitimation, nicht aber war sie Maß für Politik. Vergleichbar unverbindlich in der Form war die Verfassung ihrem Inhalte nach: So enthält die Verfassung von 1968 keine Ausformulierung dessen, was Volkssouveränität ist oder sein muss. Die Verfassung enthält nahezu nur sozialistische Floskeln. In den Artikeln 1 bis 5 definiert sie die DDR als "politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land". Nach Artikel 2 üben diese Werktätigen alle Macht aus, und der Mensch soll im Mittelpunkt aller Bemühungen des Staates stehen. Nach Artikel 4 soll alle Macht dem Wohle Vgl. Volkmar Schöneburg, S. 51. Zur scharfen Abgrenzung von liberalen Verfassungsvorstellungen heißt es bei earl Schmitt, Ein Jahr nationalsozialistischer Verfassungsstaat, in: DR 1934, S. 27: "Man unterwirft sich einer dem Nationalsozialismus feindlichen Verfassungsvorstellung, wenn man sich überhauptverpflichtet fühlt, eine solche Verfassung zu schreiben". 18 Vgl. auch Emst-RudolJ Huber, Vom Sinn der Verfassung, Hamburg 1935. 19 Vgl. zum Folgenden die Ausführungen bei Volkmar Schöneburg, S. 51. 20 So Volkmar Schöneburg, S. 51. 21 Volkmar Schöneburg, S. 51. 16 17

A. Vergleichbarkeit der beiden Regime und deren Rechtsverständnis

157

des Volkes dienen. Bestimmte Rechte und Pflichten sind aus solchen Verfassungsartikeln nicht ableitbar. Die Folge ist, dass die Verfassung von 1968 keine Widerspruche zwischen Volk und Volksvertretung, zwischen Volk und Staatsapparat, zwischen gesellschaftlich-politischen Organisationsformen des Volkes und der Staatsgewalt, zwischen demokratischer Öffentlichkeit und Staat kennt. 22 Es wird die verhängnisvolle Ideologie, dass Partei, Volk, Staat und Individuum eins sind, verfassungsrechtlich zementiert. Auch die Grundrechte der Verfassung von 1968 bleiben erheblich hinter denen der Verfassung von 1949 zuruck. Insoweit gilt auch hier wie für die Verfassung insgesamt: Sie waren zuvörderst als Mittel der politisch Herrschenden gedacht und wirksam, nicht aber als Inhalt, Maß und Grenze von Macht. 23 Das Strafrecht in der Zeit der "braunen" Diktatur erfuhr eine Veränderung und damit besonders eine Verschärfung des materiellen Strafrechts durch über 50 Gesetze und Verordnungen. Die Gesetzgebung hatte die Anwendung der Todesstrafe von 3 auf 46 "zum Teil uferlose Tatbestände,,24 ausgedehnt. Die "Staatsschutzdelikte" wurden ausgebaut, in den Strafandrohungen extrem verschärft und durch extensivauslegbare Merkmale erweitert?5 1935 wurde per Gesetz das Rückwirkungs- und Analogieverbot als Schutz der grundlegenden Menschenrechte im Strafrecht beseitigt und die Bestrafung nach "gesundem Volksempfinden" eingeführt?6 Das "Blutschutzgesetz" aus dem gleichen Jahre hatte für die Ehe und den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Ariern und Juden bis zu 15 Jahre Zuchthaus vorgesehen. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges stehen für die fortschreitende Perversion im Strafrecht der NS-Zeit die "Volksschädlingsverordnung" aus dem Jahre 1939 und vor allem die "Polenstrafrechtspflegeverordnung" aus dem Jahre 1941. Nach dieser war die Todesstrafe als angemessen anzusehen, wenn Juden oder Polen "durch gehässige und ketzerische Betätigung eine deutschfeindliche Gesinnung bekunden,,?7 Neben dem "Staats- und dem Rassenschutz" bezweckte das NS-Strafrecht die Aussonderung "gewöhnlicher Krimineller" mittels verschärfter 22 Volkmar Schöneburg, S. 51. Vgl. auch Gerald Michael Kraut, Rechtsbeugung? Die Justiz der DDR auf dem Prüfstand des Rechtsstaates, München 1997, S. 19. 23 So die Zusammenfassung bei Volkmar Schöneburg, S. 52. 24 Volkmar Schöneburg, S. 52. 25 Volkmar Schöneburg, S. 52. 26 Contra legern wurde das Rückwirkungsverbot erstmals 1933 mit "Lex van der Lubbe" gebrochen. Van der Lubbe musste als vermeintlicher Brandstifter für den Reichstagsbrand zur "Verantwortung" gezogen werden. 27 Zitiert nach Volkmar Schöneburg, S. 52.

158 Teil 11: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung in der DDR

Strafmaße. Beispielsweise sah das Gesetz gegen die gefährlichen "Gewohnheitsverbrecher" aus dem Jahre 1933 nicht nur Maßregeln der Besserung und Sicherung, sondern auch die "Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher" vor. 28 An die Stelle des Tatstrafrechts trat das "Willensstrafrecht". Die durch die Strafrechtswissenschaft entwickelte strafbegründende Täterlehre diente zum einen der Beseitigung des politischen Gegners und zum anderen als ein kriminalpolitisches Programm, mit dem Ziel der Vernichtung, nicht der Resozialisierung des Täters. 29 Mittels der innerstaatlichen strafrechtlichen Repression sollte sich dem "Fremdvölkischen" und "Minderwertigen", das dem Ideal der "Herrenrasse" widersprach, dauerhaft entledigt werden.

Auch in bezug auf das Strafrecht waren unmittelbar nach 1945 - gerade aus der Erfahrung des faschistischen Regimes heraus - in der SBZ politische Kräfte bemüht, demokratische Zielsetzungen zu verwirklichen: Strafrecht als Sozialrecht losgelöst von Vergeltung und Sühne?O Aber auch hier divergierten in der Folgezeit dieser Anspruch und die (gesetzliche) Wirklichkeit. Ab dem Jahre 1948 setzte sich in der SED das Konzept der Machteroberung und des unbedingten Machterhalts für die Errichtung des Sozialismus nach dem sowjetischen Vorbild durch. 31 Für das Strafrecht in der DDR bedeutete dies ein Ausbau der "Staatsschutzdelikte" . Auch hier ging es vor allem darum, den politisch Andersdenkenden auszuschalten, der mit seinen individuellen Vorstellungen von der allgemein-gültigen Parteidoktrin unverhältnismäßig abwich. Beispiele für dieses politisch pervertierte Strafrecht sind die Artikel 6 der Verfassung von 1948 ("Boykotthetze"), das Strafrechtsergänzungsgesetz von 1957, mit dem Art. 6 der Verfassung "in mehrere fester umrissene Tatbestände aufgelöst wurde", und "das 2. und 8. Kapitel des StGB von 1968, vor allem nach dem 3. StÄG von 1979,,32. Diese Tatbeständen enthalten extensive Tatbestandsmerkmale und überhöhte Strafandrohungen. Sie sind daher größtenteils mit dem rechts staatlichen Bestimmtheitsgebot nicht mehr in Einklang zu bringen und stehen vielfach im Widerspruch zu (westlich) anerkannten Menschenrechten. Eine besondere Verschärfung des Strafrechts war vor allem in den 50er Jahren zu registrieren: So wurde die Todesstrafe (Aufhebung: erst 1987) in dieser Zeit eingeführt; sie war 1957 sogar für 7 Tatbestände vorgesehen. Volkmar Schöneburg, S. 52. Vgl. Hans-Ludwig Schreiber, Die Strafgesetzgebung im "Dritten Reich", S. 151 ff. 30 Volkmar Schöneburg, S. 52. 31 Volkmar Schöneburg, S. 52. 32 Volkmar Schöneburg, S. 52. 28

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A. Vergleichbarkeit der beiden Regime und deren Rechtsverständnis

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Zu den politisierten Bereichen des Strafrechts zählten daneben der Schutz des Volkseigentums und der Wirtschaftsordnung; auch hier wurde in den 50er Jahren mit strafrechtlicher Gewalt versucht, eine voluntaristische Politik der Beschleunigung der ökonomischen Prozesse durchzusetzen und ökonomischen durch außerökonomischen Zwang zu ersetzen?3 Abgeleitet aus dem Bewusstsein von der naturgesetzlichen Durchsetzungskraft des Sozialismus und seiner gesetzmäßigen Überlegenheit maßte sich der Führungszirkel als "einziges Subjekt der Gesellschaft einen Macht-, Führungs- und Wahrheitsanspruch an, dem die Tendenz, Konflikte zu anderen Subjekten gewaltsam zu lösen, immanent war,,34. Insofern diente das politische Strafrecht nach dem Verständnis der allmächtigen SED-Führung sowohl der Machtbehauptung als auch ·der Herrschaftslegitimierung. Der Klassenfeind war nach der SED-Ideologie die Wurzel "aller Hemmnisse in der vermeintlich fortschrittlichsten Gesellschaftsordnung,,35. Die strafrechtliche Härte gegen die Angriffe des Feindes von außen wie von innen wurde als Ausdruck der Humanität umgedeutet, da damit Wohlstand und Glück für Millionen gesichert werde?6 Eine strukturelle Parallele zum NS- Staat zeigt sich hier, indem das Schicksal des Einzelnen nicht interessiert, sondern auf das "gesamtgesellschaftliche Wirkungspotential von Strafe und Strafjustiz abgestellt,,37 wird. III. Fazit

Die von den Totalitarismustheorien angeführten strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus, also der politischen Systeme insgesamt, spiegeln sich in der Bedeutung und der Funktion von Recht für die beiden Systeme wider. Es zeigen sich Parallelen auf, die eine Vergleichbarkeit zulassen. Beiden Systemen ist gemeinsam, dass "die Ablehnung des Formalismus die Auflösung des Rechts zur Folge hatte,,38. Sowohl in der DDR als auch in dem NS-Staat sind "die autoritären Strukturen immanente(r) Anmaßung der politischen Macht,,39 bei gleichzeitiger Zurückdrängung der Bedeutung der Justiz auszumachen. In der Diktatur werden der Justiz und dem Recht ihre eigentlichen Funktionen geraubt, um Volkmar Schöneburg, S. 53. Volkmar Schöneburg, S. 53. 35 Volkmar Schöneburg, S. 53. 36 So die Argumentation in dem StGB-Entwurf von 1953, der nach Volkmar Schöneburg, S. 53, FN. 38, "wesentliche Züge der damaligen Strafrechtspolitik und des Strafrechtsverständnisses widerspiegelt". 37 Volkmar Schöneburg, S. 53. 38 Volkmar Schöneburg, S. 54. 39 Volkmar Schöneburg, S. 54. 33

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als Mittel der politisch Herrschenden Macht zu sichern und Herrschaft zu legitimieren; der Zweck, Inhalt, Grenze und Maß von Macht zu sein, geht verloren. Gerade im Gefolge der Stalinisierung zeigten sich im DDR-Staat bestimmte Kontinuitäten in der Form und der Anwendung des Rechts, die der totalen Politisierung des Rechts gleichen. Das Recht wurde instrumentalisiert, die sozialistische Ideologie durchzusetzen. Mit Blick insbesondere auf das damalig geltende Strafrecht wurde deutlich, wie diese Prämisse in den Regimes umgesetzt wurde: Extensive und unbestimmte Tatbestandsmerkmale, weitgefasste Strafrahmen, Ausbau der "Staatsschutzdelikte", Intensivierung der mit Todesstrafe drohenden Straftatbestände etc. Die genannten Gemeinsamkeiten in der Rechtsgestaltung und in dem Rechtsverständnis lassen Rückschlüsse für die Vergleichbarkeit der "Alttaten" zu; sie müssen im Folgenden Auswirkungen für die strafrechtliche Bewertung der in der DDR begangenen Rechtsbeugungen haben. Dass der NS-Staat insgesamt und damit seine Justiz eine menschenvernichtende Herrschaft ganz anderen Ausmaßes war40, ohne dass auf die millionenfache Judenvernichtung hingewiesen werden muss, ist selbstverständlich. Genau so selbstverständlich muss sein, dass Vergleichbarkeit hier nicht zugleich Gleichstellung dort bedeutet.

B. Strafanwendungsrecht I. Art. 315 I 1 EGStGB in Verbindung mit § 2 I, III StGB 1. Beitrittsprinzip contra internationale Lösung

Zunächst stellt sich die Frage, weIches Recht den Maßstab für strafbares Verhalten der DDR-Justiz bestimmt. Mit Erstreckung des bundesdeutschen Strafrechts auf das Beitrittsgebiet nach Art. 8 Einigungsvertrag ist am 3. Oktober 1990 das DDR-StGB außer Kraft getreten. Für alle nach dem 3. Oktober 1990 begangenen Straftaten gilt daher mit Ausnahme der nach Art. 9 11 Einigungsvertrag in Kraft ge40 Vgl. dazu die einzelnen detaillierten Nachweise bei Volkmar Schöneburg, S. 49 ff., der sich um eine differenzierte Analyse des Nazistaates und der DDR bemüht. So weist Volkmar Schöneburg, S. 53, beispw. zu recht darauf hin, dass das Strafrecht der DDR eine "soziale Dimension", wie die Einführung der bedingten Verurteilung und des öffentlichen Tadels, die Zuweisung von Wohnraum und Arbeit bei der Wiedereingliederung Vorbestrafter etc. enthielt. Als Beispiel für die unterschiedliche Anwendung des Strafrechts sei angeführt: "Nach Schätzungen wurden zwischen 1949 und 1969 in der DDR 194 Todesurteile ausgesprochen"; eine "genaue Statistik bis 1987" fehlt (Volkmar Schöneburg, S. 53). "Etwa 80.000 Todesurteile wurden von der NS-Justiz gefällt" (Volkmar Schöneburg, S. 52).

B. Strafanwendungsrecht

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bliebenen DDR-Normen, zu welchen nicht der Rechtsbeugungstatbestand § 244 DDR-StGB 41 zählt, bundesdeutsches Strafrecht. Für die nach der Vereinigung begangenen Rechtsbeugungsfälle ist somit § 339 StGB 42 alleiniger Maßstab. Für die Beurteilung von Taten, die vor dem Beitritt in der DDR begangen wurden, ist Art. 315 EGStGB ausschlaggebend. Denn als spezielle Regelung mit Verweis auf § 2 StGB ist Art. 315 EGStGB, der durch den Einigungsvertrag eingeführt worden ist, vorrangig zu berücksichtigen. 43 Würde man das bundesdeutsche Strafrecht generell auch auf "Alttaten" anwenden, so verstieße dies gegen das in Art. 103 11 GG enthaltene Rückwirkungsverbot. Als Grundsatz bestimmt daher Art. 315 I 1 EGStGB in Verbindung mit § 2 I StGB, dass sich die Strafbarkeit von DDR-Alttaten nach dem zur Tatzeit geltenden Strafrecht der DDR richtet, wobei die Rechtsfolgen der Tat durch Art. 315 I, 11 und III EGStGB denen des bundesrepublikanischen Strafrechts angeglichen werden. 44 D. h., war die Tat 41 Der Wortlaut der Vorschrift lautet: "Wer wissentlich bei der Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens oder eines Ennittlungsverfahrens als Richter, Staatsanwalt oder Mitarbeiter eines Untersuchungsorgans gesetzwidrig zugunsten oder zuungunsten eines Beteiligten entscheidet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft". 42 Vor Inkrafttreten des § 339 StGB war § 336 a. F. StGB maßgeblich. Insoweit gelten die folgenden Ausführungen analog für die damals geltende Fassung. 43 Wegen der speziellen Regelung im Einigungsvertrag sind daher die Theorien, wonach die Alttaten direkt über § 7 StGB (Auslandstheorie) oder unmittelbar nach interlokalen Strafrecht gemäß § 3 StGB zu erfassen sind, abzulehnen. Diese Ansätze wurden nur kurz nach der Vereinigung und jetzt nur noch vereinzelt vertreten: so Joachim Hruschka, Die Todeschüsse an der Berliner Mauer vor Gericht, in: JZ 1992, S. 665-670 und zunächst noch Thomas Vormbaum, Probleme der Rechtsanwendung im vereinten Deutschland, in:' StV 1991, S. 176-182, der sich mittlerweile der eingeschränkten Inlandtheorie angeschlossen hat, Thomas Vormbaum, Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit von DDR-Richtern wegen Rechtsbeugung, in: NJ 1993, S. 212-215; vgl. zum ganzen ausführlich Erich Samson, Die strafrechtliche Behandlung von DDR-Alttaten nach der Einigung Deutschlands, in: NJW 1991, S. 335-340. Der Theorienstreit um die mögliche Anwendung des internationalen Strafrechts bzw. des interlokalen Strafrechts wiederholt sich jedoch im Zusammenhang mit Art 315 IV EGStGB, vgl. deshalb sogleich im Text. 44 Dem Wortlaut des § 2 I StGB nach wäre es möglich auch das zur Tatzeit geltende bundesrepublikanische Recht als maßgeblich zu verstehen. Dagegen, so wenden Lothar KuhlenlThomas Gramminger, Der Mauerschütze und der Denunziant Ein Bericht über eine strafrechtliche Hausarbeit, in: JuS 1993, S, 34 zu Recht ein, spricht die systematische Auslegung des Art. 315 EGStGB. Von dem in Art. 315 I 1 EGStGB macht Art. 315 IV EGStGB eine Ausnahme, "soweit für die Tat das Strafrecht der BRD schon vor dem Wirksamwerden des Beitritts gegolten hat". Aus dieser Soweit-Klausel folgt im Umkehrschluss, dass für alle sonstigen DDR-Alttaten das DDR-Tatzeitrecht über den Beitrittstermin fortgilt. Ansonsten wäre diese Ausnahmeregelung sinnlos. Vgl. dazu auch SK-Hoyer, vor § 3, Rz. 44-47; Horst Luther, Der Einigungsvertrag über die strafrechtliche Behandlung von DDR-Alttaten 11 Quasten

162 Teil 11: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung in der DDR

nach dem zur Tatzeit geltenden Strafrecht der DDR straflos, so ist selbst dann keine Bestrafung möglich, wenn eine Strafbarkeit nach dem Strafrecht der Bundesrepublik zu bejahen war oder ist. Eine strafrechtliche Ahndung ist ebenso ausgeschlossen, wenn eine "Alttat" zwar nach dem zur Tatzeit geltenden Recht der DDR strafbar war, aber nicht nach dem heutigen Recht der Bundesrepublik strafbar ist. Dies ergibt sich wiederum aus dem Milderungsgebot des § 2 III StGB, welches durch den Verweis des Art. 315 I 1 EGStGB auf § 2 StGB mitumfasst ist. Dies besagt, dass bei der Beurteilung der konkreten Tat das mildeste Gesetz anzuwenden ist, wenn das Gesetz zwischen Beendigung der Tat und Entscheidung geändert wird. Mit dem Übergang vom Strafrecht der DDR zu dem der Bundesrepublik ist eine Strafgesetzänderung gegeben. Lässt das bundesrepublikanische Strafgesetz die zu beurteilende Handlung straflos, so ist es das anzuwendende mildeste Gesetz. Erst wenn die Tat nach dem DDR-Strafrecht und nach dem bundesdeutschen Strafrecht zu bejahen ist, schließt sich die Prüfung nach dem für die Einzeltat mildere Strafvorschrift an. Für den Rechtsbeugungstatbestand bedeutet dies zunächst: Eine in der DDR begangene Rechtsbeugung wäre nach dem Grundsatz des Art. 315 I 1 EGStGB in Verbindung mit § 2 I, III StGB nur dann strafbar, wenn sie sowohl nach dem zur Tatzeit geltenden Recht der DDR, also dem § 244 DDR-StGB, als auch nach dem seit der Wiedervereinigung geltenden bundesrepublikanischen Recht, dem jetzigen § 339 StGB, strafbar ist. Die Bestrafung erfolgt dann aus dem milderen Gesetz. Es ist in diesem Zusammenhang allerdings die Ausnahmeregel in Art 315 IV EGStGB zu beachten, da ein Teil des Schrifttums diese für "Alttaten" als einschlägig betrachtet. Art. 315 IV EGStGB statuiert, dass die Absätze 1 bis 3 keine Anwendung finden, "soweit für die Tat das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland schon vor dem Wirksamwerden des Beitritts gegolten hat". Dieser Vorrang für Strafansprüche nach bundesdeutschem Recht würde auch zu Bestrafung von Handlungen führen, die in der nach dem zur Tatzeit geltendem Recht der DDR straflos waren. 4S War vor der Vereinigung für die DDR-Richter § 339 StGB bzw. § 336 a. F. StGB auch maßgeblich? Für die Antwort auf diese Frage sind nun wiederum §§ 3 ff. StGB, insbesondere § 7 StGB relevant. 46 § 7 StGB regelt generell nach der Einigung Deutschlands, in: DtZ 1991, S. 433; Christoph Krehl, Die Verjährung in der ehemaligen DDR begangener Straftaten, in: DtZ 1992, S. 14; vgl. ebenso BGHSt 37, 320 ff.; BGH, NJW 1991, S. 2497 ff. 45 Dies gilt zumindest für die Anwendung von § 3 StGB und §§ 5, 6 StGB; bei § 7 StGB liegt der Fall etwas differenzierter, vgl. sodann im Text. 46 Die unter §§ 5, 6 StGB aufgeführten Taten umfassen nicht die Rechtsbeugung, sind daher nicht zu beachten. Ursprünglich wurde die DDR als Inland und die

B. Strafanwendungsrecht

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die Anwendung des bundesrepublikanischen Strafrechts bei Auslandstaten. 47 Da das Gebiet der DDR stets einer eigenen Staatsgewalt unterlag, ist nach § 7 StGB entscheidend, ob die Tat am Tatort mit Strafe bedroht war. Es wäre danach in einem ersten Schritt zu prüfen, ob die Tat nach § 244 DDR-StGB strafbar wäre. Bei einem positiven Ergebnis folgt daraus aber nicht, dass dieses DDR-Recht Anwendung findet. Es ist vielmehr der Weg frei für die Anwendung des bundesrepublikanischen Rechts, also des § 339 StGB. Dementsprechend ist nach dem Milderungsgebot nach § 2 III StGB nur eine Änderung des bundesrepublikanischen Rechts zu beachten; nach der eventuell milderen Strafe gemäß § 244 DDR-StGB ist nicht mehr zu fragen. Gegen eine Anwendung von § 7 StGB (oder auch § 3 StGB)48 über § 315 IV EGStGB auf "Alttaten" spricht entscheidend, dass man sich beim Abschluss des Einigungsvertrages mit Art. 315 EGStGB an der bereits vor der Vereinigung vertretenen Auffassung des BGH49 orientiert hat, nach der die Anwendung bundesdeutschen Strafrechts nicht der Regelfall sein sollte. 50 Wenn aber die bisherige Rechtsprechung durch den Gesetzgeber dort begangenen Taten als Inlandstaten von der Rechtsprechung, vgl. nur BverfGE 11, 158; 36, 17, eingestuft, so dass nach § 3 StGB der Weg für eine direkte Anwendung des § 339 StGB frei gewesen ist. Spätestens seit dem zwischen der DDR und der Bundesrepublik abgeschlossenen Grundlagenvertrag aus dem Jahre 1972, in dem sich die bei den Staaten nach Art. 6 zur Achtung der territorialen Integrität und zur Beschränkung der Hoheitsgewalt auf das eigene Staatsgebiet verpflichtet haben, wurde die DDR als Ausland angesehen, sog. funktionaler Inlandsbegriff; grundlegend dazu BGHSt 30, 3 ff.; 32, 297; OLG Düsseldorf, NJW 1979, S. 61; ebenso die h. M., vgl. nur: Gerald GTÜnwald, Die strafrechtliche Bewertung in der DDR begangener Handlungen, in: StV 1991, S. 33; .Thomas Vormbaum, in: StV 1991, S. 178; Horst Wäsner, Deutsch-deutsche Strafrechtskonflikte, in: ZRP 1976, S. 249; Günter Widmaier, Strafbarkeit der DDR-Spione gegen die Bundesrepublik - auch nach der Wiedervereinigung?, in: NJW 1990, S. 3169; Sch/Sch/Eser, in: Adolf Schänke/Horst Schräder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 26. Aufl. München 2001, Vorbem. §§ 3-7, Rz. 67; SK-Hoyer, Vor § 3, Rz. 45. Ein Rückgriff auf § 3 StGB ist danach seither ausgeschlossen; vgl. dazu unter Berücksichtigung des Art. 315 EGStGB sogleich im Text. 47 Nach der internationalen Auslandslösung, für welche die DDR funktional Ausland gewesen, ist § 7 StGB allgemein auf Alttaten anzuwenden: so bspw. Justus Liebig, Anwendbarkeit des bundesdeutschen Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts auf Alttaten in der DDR, in: NStZ 1991, S. 327; Georg Küpper/Heiner Wilms, Die Verfolgung von Straftaten des SED-Regimes, in: ZRP 1992, S. 91; Joachim Hruschka, S. 669; Wolfgang Mitsch, Der Geltungsbereich des StGB und "DDR-Alttaten", in: NJ 1992, S. 296; Gerald GTÜnwald, in: StV 1991, S. 33. Vgl. kritisch dazu auch Gerald Michael Kraut, S. 64-69. 48 So wohl Erich Samson, S. 336 ff. 49 BGHSt 30,1, 32, 293. 50 So hat sich der BGH für die Rechtsauffassung ausgesprochen, "daß § 7 I nicht allgemein auch dem Schutz von Bürgern der DDR vor Straftaten dient, die in der 11*

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bestätigt wird, ist der Anwendungsbereich des Art. 315 IV EGStGB nicht anders zu beurteilen, als es dem gesicherten Stand der bisherigen Rechtsprechung entspricht. 51 Anderenfalls wird der Einigungsvertrag verfälscht, wenn man nunmehr die Rechtsprechung in Frage stellen würde. Gegen eine generelle Anwendung des internationalen Strafrechts spricht also Art. 315 EGStGB. Aber auch konkret ist Art. 315 IV EGStGB mit der Anwendung des internationalen Strafrechts nach den §§ 3 ff. StGB nicht in Einklang zu bringen. Mit dieser differenzierten Regelung wäre es zum einen unvereinbar, die DDR als Inland i. S. d. § 3 StGB anzusehen. 52 Das hätte nämlich zur Folge, dass für alle DDR-Taten das Strafrecht der BRD schon vor dem Wirksamwerden des Beitritts galt, würde also die Ausnahme des Art. 315 EGStGB zur allgemeinen Regel machen. 53 Ähnliches gilt für das richtige Verständnis des § 315 IV EGStGB hinsichtlich der Anwendung des § 7 StGB: Würde man die Anwendung des § 7 StGB auf Taten, die an DDRBürgern in der DDR begangen wurden, bejahen, würde der Wille des Gesetzgebers verfälscht; denn andernfalls würde für die Anwendung der Abs. 1-3, die bei Vorliegen des Abs. 4 nicht gelten, kaum Raum bleiben. 54 Alles würde dann nach wie vor über § 7 StGB abgewickelt, die Abs. 1-3 würden leer laufen. Aus den vorgenannten Überlegungen ist das Beitrittsprinzip55 gegenüber der internationalen Lösung vorzugswürdig, weil es aus DDR gegen sie begangen wurden", vgl. BGHSt 32, 298. Eine andere Vorgehensweise sei mit den grundsätzlichen Beschränkungen des Strafrechts der Bundesrepublik Deutschland auf "Inlandstaten" i. S. d. § 3 StGB nicht vereinbar. Es würde ansonsten auf einen "umfassenden Geltungsanspruch" des bundesrepublikanischen Strafrechts in der DDR hinauslaufen, vgl. BGHSt 32, 298; zustimmend Knut Amelung, Strafbarkeit von "Mauerschützen", in: JuS 1993, S. 638; Gerald Grünwald, in: StV 1991, S. 35; Lothar KuhlenlThomas Gramminger, S. 35; Gerhard Dannecker, Die Schüsse an der innerdeutschen Grenze in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, in: Jura 1994, S. 588; vgl. auch Erich Samson, S. 336. 51 So ausdrücklich BGH, NJW 1993, S. 143. 52 Lothar KuhlenlThomas Gramminger, S. 34. 53 Zu diesem Ergebnis kann man gelangen, wenn man mit Erich Samson, S. 336 ff. die DDR rückwirkend als Inland betrachtet. Vgl. ausführlich Gerald Michael Kraut, S. 64-69. 54 Vgl. Erich Dannecker, S. 588; Gerald Grünwald, in: StV 1991, S. 35; Lothar KuhlenlThomas Gramminger, S. 35. 55 Dem von Franc Luden Lorenz, Zum Beitrittsprinzip und zur Strafbarkeit von DDR-Wahlfälschungen, in: NStZ 92, S. 422, entwickelten Beitrittsprinzip, wonach sich das anzuwendende Strafrecht bereits unmittelbar aus Art. 315 EGStGB i. V.m. § 2 StGB ergibt, ist die überwiegende Mehrheit der Literatur und die Rechtsprechung gefolgt, vgl. nur: Erich Dannecker, S. 588; Lothar KuhlenlThomas Gramminger, S. 35; BGHSt 37, 320, 38, 2; 38, 88; 39, 2, 60; speziell mit Blick auf den Rechtsbeugungstatbestand: Manfred Maiwald, Rechtsbeugung im SED-Staat, in: NJW 1993, S. 1883; Herwig Roggemann, Richterstrafbarkeit und Wechsel der Rechtsordnung, in: JZ 1994, S. 774; Lorenz Schu/z, Rechtsbeugung und Mißbrauch staatlicher Gewalt - die Rechtsprechung des BGH zur Rechtsbeugung im SED-Re-

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dem Zweckzusammenhang des Art. 315 EGStGB folgt. Für die Anwendungsfälle nach Art. 315 IV EGStGB i. V.m. § 7 StGB bleibt daher nur in Ausnahmefällen Anwendungsbedarf56 , von dem der Rechtsbeugungstatbestand nicht umfasst wird. Für die in der DDR begangenen Rechtsbeugungstaten57 bleibt es daher mit Blick auf Art. 315 I 1 EGStGB i. V. m. § 2 I, III StGB bei folgender Prüfungsreihenfolge: Grundsätzlich kommt § 244 StGB-DDR als Tatortund Tatzeitrecht zur Anwendung. War die Tat nach diesem Gesetz straflos, stellt sich die Frage nach dem milderen Gesetz nicht. Eine Tat, die allerdings nur dem § 244 StGB-DDR und nicht auch dem § 339 StGB unterfällt, ist jedoch ebenso wenig strafbar, da eine Bestrafung aus dem in diesem Fall milderen § 339 StGB nicht möglich ist; mithin die Rechtsgrundlage für eine Verurteilung für die Zeit nach der Vereinigung fehlt. Nur wenn die Tat sowohl dem § 244 DDR-StGB als auch dem § 339 StGB unterfällt, ist eine Verurteilung wegen Rechtsbeugung, begangen in der DDR, möglich. Die Bestrafung hat dann aus dem milderen Gesetz zu erfolgen. 2. Unrechtskontinuität von § 244 DDR-StGB und § 339 StGB

Der Milderungsfeststellung nach Art. 315 I 1 EGStGB i. V. m. § 2 III StGB ist allerdings denknotwendig die Frage der Entsprechungsnorm im jeweils geltenden Recht vorgelagert. Der konkrete Normenvergleich auf den Einzelfall bedingt also einen abstrakten. 58 Voraussetzung ist dabei, dass gime, in: StV 1995, S. 207, 208; Thomas Vormbaum, Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit von DDR-Richtern wegen Rechtsbeugung, in: NJ 1993, S. 212; Gerald Michael Kraut, S. 73 ff. 56 Vgl. hierzu Sch/Sch/Eser, Vorbem. §§ 3-7, Rz. 84-87. Die nach Art. 315 IV EGStGB i. V. m. § 7 StGB relevanten Anwendungsfälle sind demnach: wenn es sich nach § 7 I StGB beim Opfer um einen DDR-Bürger handelt, der sich bereits vor der Tat in den Schutzbereich der BRD begeben hat; wenn ein DDR-Täter ohne Übersiedlungsabsicht im Bundesbereich betroffen wurde u. seine Zulieferung nach 7 11 Nr. 2 StGB an die DDR ausgeschlossen war; wenn der damalige DDR-Täter i. S. d. Neubürgerklausel des § 7 11 Nr. 1 Alt. 2 StGB nach der DDR-Tat, aber vor dem Beitritt in die Bundesrepublik übergesiedelt war. 57 Eine etwaige Verfolgung von Strafansprüchen wegen Rechtsbeugung aus Völkerstrafrecht ist aufgrund der abschließenden Regelung des Einigungsvertrages abzulehnen. Vgl. zu dieser Problematik aber auch Gerald Michael Kraut, S. 75. 58 Eine Feststellung des mildesten Gesetzes i. S. d. § 2 III StGB entfallt, wenn die Handlung des DDR-Richters wegen des in der Art des im DDR-Gesetzes umschriebenen Unrechts den Tatbestand des § 339 StGB gar nicht erfüllen könnte. Denn dann wäre das DDR-Gesetz ersatzlos weggefallen und das mildeste Gesetz wäre die Straflosigkeit. Eine rückwirkende Stratbarkeit des nach dem Unrecht andersartigen § 339 StGB wäre wegen des Bestimmtheitsgebotes und des Rückwirkungsverbot ausgeschlossen (vgl. grundsätzlich dazu: BGHSt 26, 172).

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eine nach § 244 DDR-StGB begründete Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung nicht infolge des Wegfalls dieser Strafnorm im Wege des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik aufgehoben, sondern durch die an ihre Stelle getretene Strafvorschrift des § 339 StGB aufrechterhalten worden ist. Für die Feststellung der Normidentität kommt es auf die Beibehaltung des materiellen Normgehaltes durch das neue Recht an. 59 Aus diesem Grund muss zwischen den Verbotsmaterien der beiden Strafvorschriften eine "Unrechtskontinuität,,60 bestehen. Diese Kontinuität, d. h. eine wesentliche Identität der zu vergleichenden Tatbestände61 , definiert sich vom Wesen des tatbestandlichen Unrechts her. Da für die Bestimmung des Unrechts das strafwürdige Verhalten sowie die Verletzung (oder Gefährdung) des Schutzgutes, welche durch die Norm abgewehrt werden soll, maßgeblich ist, muss das geschützte Rechtsgut als auch die Angriffsmodalität im wesentlichen gleich sein. 62 a) Wortlautübereinstimmung und Gemeinschaftsrechtsgut Rechtspflege Da eine Änderung der Angriffsrichtung in Bezug auf das Rechtsgut grundsätzlich eine Wortlautabweichung der Normen voraussetzt, kommt es zunächst auf die Wortlautübereinstimmung derselben an. 63 Die Wortlautabweichungen des § 339 StGB und des § 244 DDR-StGB sind nicht derart gravierend, so dass man diesbezüglich von einer Kontinuität im Unrechtskern ausgehen kann64 : Es geht im Kern um denselben Täterkreis; trotz der 59 Vgl. Silke Höchst, Unrechtskontinuität zwischen ost- und bundesdeutschen Strafnonnen, in: JR 1992, S. 361, 362; vgl. auch Peter Stanglow, Rechtsbeugung in der DDR? - BGHSt 40,30; in: JuS 1995, S. 974. 60 Vgl. dazu grundsätzlich BGHSt 26, 172 ff.; BVerfG, NJW 1993, S. 2524; Knut Amelung, Die strafrechtliche Bewältigung des DDR-Unrechts durch die deutsche Justiz - ein Zwischenbericht, in: GA 1996, S. 53; Silke Höchst, S. 362; speziell bzgl. des Rechtsbeugungstatbestandes: Klaus Letzgus, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Richtern, Staatsanwälten und Untersuchungsorganen der ehemaligen DDR wegen Rechtsbeugung, in: Festschrift für Herbert Heimrich, München 1994, S. 77, 78; Klaus Weber, Die Verfolgung des SED-Unrechts in den neuen Ländern, in:GA 1993, S. 205-207, der von der "Kontinuität des Unrechtstyps" spricht; anders unter Bezugnahme der Straftaten gegen Gemeinschaftsgüter Erich Samson, S. 339, für den die Wortlautbindung nach Art. 103 III GG maßgeblich ist. 61 Vgl. ebenda; Manfred Maiwald, in: NJW 1993, S. 1884 spricht von der "Identität des Unrechtskerns". 62 V gl. Silke Höchst, S. 362; Sch/Sch/Eser, § 2 Rz. 24 ff. 63 Vgl. dazu Silke Höchst, S. 362 m. w.N. 64 Vgl. nur: Sch/Sch/Eser, Vorbem. §§ 3-7, Rz. 106; Manfred Maiwald, in: NJW 1993, S. 1883; Lorenz Schuh, S. 208; Klaus Letzgus, in: Festschrift für Herbert Heimrich, S. 82; insoweit Zustimmung auch durch Thomas Vormbaum, in: NJ 1993,

S.213.

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restriktiven DDR-Fassung sind die Tathandlungen auch in Bezug auf die Begleitumstände vergleichbar; gleiches gilt für die Strafdrohung65 . Trotz des vergleichbaren Wortlauts kann eine inhaltliche Normaufhebung aufgrund des Systemwechsels eingetreten sein. Stimmen also insoweit Wortlaut und Wortsinn der Normen im wesentlichen überein? Dies kristallisiert sich in der Frage nach der Vergleichbarkeit der geschützten Rechtsgüter der beiden Tatbestände. Folgt man der ganz vorherrschender Ansicht, sollen § 339 StGB und § 244 StGB-DDR dem Schutz des überindividuellen Rechtsgutes der innerstaatlichen Rechtspflege dienen 66, so dass eine Vergleichbarkeit der geschützten Rechtsgüter zu bejahen wäre. Ein Teil des Schrifttums, das eine Vergleichbarkeit der geschützten Rechtsgüter verneint, macht strafrechtstheoretisch folgenden Einwand geltend: Kollektivrechtsgütern, wie die der innerstaatlichen Rechtspflege, beziehen sich durchweg auf die Rechtsordnung des jeweiligen Staates und haben daher nicht die Aufgabe, anderen Einzelrechtsordnungen strafrechtlichen Schutz zu gewähren. 67 Mit Blick auf die für § 2 StGB erforderliche Umechtskontinuität des § 339 StGB bedeutet dies: Dieser Straftatbestand schützt ausschließlich die innerstaatliche Rechtspflege der Bundesrepublik. 68 Genauso wenig wie es Funktion des § 339 StGB jemals gewesen sei, z. B. die Rechtspflege Frankreichs oder anderer europäischer Staaten zu 65 Der Wortlaut der Vorschriften ist: "Wer wissentlich bei der Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens oder eines Ermittlungsverfahrens als Richter, Staatsanwalt oder Mitarbeiter eines Untersuchungsorgans gesetzwidrig zugunsten oder zuungunsten eines Beteiligten entscheidet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft" (§ 244 DDR-StGB). "Ein Richter, ein anderer Amtsträger oder ein Schiedsrichter, welcher sich bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache zugunsten oder zum Nachteil einer Partei einer Beugung des Rechts schuldig macht, wird mit Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft" (§ 339). 66 V gl. zur Rechtsgutbestimmung des § 336 a. F. StGB bereits: Teil I, C., III. Die Rechtspflege als Rechtsgut mit unterschiedlicher Nuancierung wird vertreten von: Klaus Geppen, Amtsdelikte (§§ 331 ff. StGB) - Schluß, in: Jura 1981, S. 78; Hans-Joachim Behrendt, S. 946; Günter Bemmann, Zu aktuellen Problemen der Rechtsbeugung, in: JZ 1995, S. 124; Astrid Hupe, S. 104 und Heinz Wagner, S. 212 betonen den Schutz der Rechtspflege vor Angriffen "von innen"; Ursula SchmidtSpeicher, S. 67; SK-Rudolphi, in: Systematischer Kommentar, Kommentar zum Strafgesetzbuch, BT, 5. Aufl., Neuwied 1994, § 339, Rz. 2 und Hans-Ludwig Schreiber, in: GA 1972, S.197 sehen zudem die "Herrschaft des wirklichen Rechts" als Rechtsgut; LK-Spendel, § 336 Rz. 8, sieht als Rechtsgut die "Rechtspflege in Form der... unparteiischen Rechtsprechung"; Thomas Vormbaum, in: NJ 1993, S. 214 erklärt die "Rechtspflege, präziser: das Verfahrensziel von Rechtspflege" als Schutzgut. Für den 244 DDR-StGB: Günter Bemmann, in: JZ 1995, S. 124, welcher die "Rechtspflege" als Rechtsgut nennt. 67 So die Kritik von Ola! Hohmann, Zur Rechtsbeugung durch DDR-Staatsanwälte, in: NJ 1995, S. 129; Thomas Vormbaum, in: NJ 1993, S. 213.

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schützen, so wenig war es Aufgabe des § 339 StGB, die Rechtspflege der DDR vor Rechtsbeugungen zu schützen. 69 Es fehle die Legitimation, die Rechtspflege eines fremden Staates durch Strafbestimmungen zu schützen. 70 Der Gedanke der begrenzten Ordnungsfunktion des Strafrechts in bezug auf nationale Rechtsgüter hat zwar grundsätzlich Berechtigung. So hat das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland es prinzipiell nicht als seine Aufgabe betrachtet, staatliche Interessen anderer Hoheitsträger, und damit beispielsweise auch die Rechtspflege derselben, zu schützen?! Der vorgenannten Ansicht72 muss dennoch entgegengehalten werden, dass es sich hier nach dem Beitritt der DDR um eine historische Ausnahmekonstellation handelt73 ; die DDR ist im Gegensatz zu einem anderen als Vergleich genannten europäischen Staat als Völkerrechtssubjekt untergegangen74 . Und genau diese damit verbundene Rechtsverschiedenheit zwischen Tat- und Entscheidungszeit findet positivistischen Niederschlag in dem intertemporären Strafanwendungsrecht, also durch Art. 315 I 1 EGStGB iVm. § 2 I, III StGB?5 Die ursprüngliche räumliche Beschränkung des StGB für sich allein hindert seine Geltung als Vergleichsmaßstab und gegebenenfalls als Anwendungsrecht nicht. 76 Es spricht also nichts Grundsätzliches dagegen, dies auch bei Strafvorschriften anzunehmen, die Gemeinschaftsrechtsgüter, wie hier die Rechtspflege, schützen. 77 Denn dass die zur Ermittlung des milderen Rechts aus unterschiedlichen Staats- und Gesellschaftsordnungen stammen, war den Fraktionen bei Schließung des Einigungsvertrages bekannt. Damit muss klar sein, dass eine "Vergleichbarkeit" nicht daran schei68 SK-Rudolphi, § 339, Rz. 3 b; vgl. auch Dlaf Hoh/'fUlnn, in: NJ 1995, S. 129 sowie Tho/'fUls Vormbaum, in: NJ 1993, S. 213. 69 SK-Rudolphi, § 339, Rz. 3 b; vgl. auch Dlaf Hohmann, in: NJ 1995, S. 129. 70 SK-Rudolphi, § 339 Rz. 3b. 71 Vgl. Silke Höchst, S. 361; Klaus Weber, S. 206; ausführlich: Sch/Sch/Eser, Vorbem. §§ 3-7, Rz. 13 ff. 72 Tho/'fUls Vormbaum, in: NJ 1993, S. 213 will nicht grundsätzlich "alle Tatbestände mit überindividuellen Rechtsgütern zu den ,unvergleichbaren' zählen" und damit eine Anwendung des § 2 III StGB ausschließen, tendiert aber in diese Richtung, da vieles "jedenfalls dafür" spricht, "diese Unterscheidung so weit wie möglich zum Tragen zu bringen"; so im Ergebnis nur mit Blick auf die Rechtsbeugung auch: SK-Rudolphi, § 339 Rz. 3b und Olaf Hoh/'fUlnn, in: NJ 1995, S. 129. 73 Vgl. Klaus Weber, S. 206; so im Ergebnis Silke Höchst, S. 361. 74 Insoweit zu Recht Dlaf Hoh/'fUlnn, in: NJ 1995, S. 129, dort FN. 17. 75 Vgl. auch Herwig Rogge/'fUlnn, in: JZ 1994, S. 774, dort FN. 38, der sich auf Art. 315 I 1 EGStGB als Argumentationsgrundlage gegen die Ansicht Vonnbaums, vgl. Tho/'fUls Vormbaum, in: NJ 1993, S. 212 ff., beruft. 76 So auch Klaus Weber, S. 206; Peter Stanglow, S. 972. 77 So auch Tho/'fUls Fischer, vor § 3, Rz. 48 a, 49; Klaus Weber, S. 206; anders Tho/'fUls Vormbaum, in: NJ 1993, S. 213.

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tert, dass sich vor der Wiedervereinigung die Norm des § 339 StGB und das damit verbundene Rechtsgut der Rechtspflege auf einen anderen räumlichen Geltungsbereich und eine andere Staats- und Gesellschaftsordnung beschränkt hat. 78 Gegen die Annahme eines im Kern gleichen durch § 244 DDR-StGB und § 339 StGB gemeinsam geschützten Rechtsgutes spricht vielmehr, dass die

Rechtspflege in der DDR - und hier ist man wieder bei dem Problem Wortlaut- und Wortsinnübereinstimmung - inhaltlich etwas gravierend anderes als in der Bundesrepublik Deutschland war.

Es wurde nachgewiesen, dass im NS-Staat und in der DDR die Funktion und die Bedeutung von Recht durchaus vergleichbar waren. 79 Dies impliziert schon die Unvergleichbarkeit der beiden Rechtsgüter, also Rechtspflege in der DDR und in der Bundesrepublik. Im Umkehrschluss lässt sich daher folgern, dass bei den zahlreichen systematischen Überschneidungen von Rechtsordnung, Funktion des Rechts und Ausformung des Rechts in beiden Unrechtssystemen eine Gleichartigkeit der innerstaatlichen Rechtspflege in einem Rechtsstaat mit der in einem Unrechtsstaat verneint werden muss. Und so zeigen sich nicht nur bei der Gegenüberstellung des Staatswesens und des Gesellschaftssystems der Bundesrepublik und der DDR "markante Unterschiede,,8o, sondern auch hinsichtlich des Rechtes und der Rechtspflege, was - wegen des zuvor Dargestellten - nur kurz illustriert zu werden braucht: Gemäß der DDR-Verfassung war die Rechtsordnung der DDR der Führung durch die Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei untergeordnet; das Grundgesetz dagegen geht vielmehr vom Individuum als dem Grundwert der Rechtsordnung aus. 81 Für den einzelnen Bürger gab es in der DDR konsequenterweise keine Grundrechte im Sinne subjektiver Abwehrrechte gegenüber dem Staat, sondern lediglich im Sinne von Pflichten, die gegenüber dem Staat zu erfüllen waren. 82 In der DDR wurden die Gesetze wie auch deren Anwendung durch die Gerichte - spe78 Silke Höchst, S. 361 hat insofern recht, wenn sie allgemein urteilt, dass sich: "die Problematik vom Umstand der faktischen, Verschiedenstaatlichkeit' auf die der Vergleichbarkeit von Nonninhalten trotz unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Prägung verlagert" hat. 79 Vgl. dazu Teil I, A., I.-III. 80 So Silke Höchst, S. 362. 81 Vgl. dazu mit Nachweisen: Manfred Maiwald, in: NJW 1993, S. 1883 sowie Hartmut Oetker, Rechtsvorschriften der ehemaligen DDR als Problem methodengerechter Gesetzesanwendung, in: JZ 1992, S. 608 ff. 82 V gl. Silke Laskowski, Unrecht - Strafrecht - Gerechtigkeit; Die Problem des Rechtsstaates mit dem DDR-Unrecht, in: JA 1994, S. 155 mit Hinweis auf EmstWolfgang Böckenförde, Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, München 1967, S. 36 ff., 85 ff.

170 Teil 11: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung in der DDR

ziell die Strafgerichte -, zur Durchsetzung staatspolitischer Interessen herangezogen. 83 Daher entspricht es auch dem Staats- und Verfassungssystem der DDR, dass der Richter, obwohl er nach Art. 96 I der DDR-Verfassung bei seiner Rechsprechung unabhängig und nur an die Verfassung, die Gesetze und die anderen Rechtsvorschriften gebunden war, tatsächlich vielfachen äußeren Einflüssen unterlag, die letztlich sämtlich auf die SED zurückzuführen waren. 84 Zudem war das Maß der persönlichen Unabhängigkeit bei dem Richter der DDR gering, exemplarisch konnten die Richter des Obersten Gerichts nach Maßgabe des § 53 I DDR-GVG von der Volkskammer abgerufen werden (vgl. Art. 50 DDR-Verfassung).85 Auch das im Rechtsstaat grundlegende Prinzip der Gewaltenteilung, das die staatliche Macht in die sich gegenseitig kontrollierende Funktionsbereiche Exekutive, Legislative und Judikative aufteilt, um so die Staatsgewalt zu mäßigen, war in dem Rechtssystem der DDR nicht vorgesehen. 86 Versteht man also als Schutzgut der Rechtsbeugung ausschließlich die Rechtspflege und damit letztlich die Staatschutzinteressen eines andersartigen politischen Systems als schützenswert, ist die wesentliche Gleichartigkeit der Rechtsgüter und damit eine "Unrechtskontinuität" des § 339 StGB mit Blick auf den § 244-DDR-StGB abzulehnen. 87 Beide Tatbestände erfassen unter diesem Aspekt nicht wert- und artgleiches Unrecht. b) Individualrechtsgüterschutz der beiden Normen Es ist allerdings zu kurzsichtig, das Gemeinschaftrechtsgut der Rechtspflege als Schutzobjekt der Rechtsbeugung anzusehen. Die beiden Rechtsbeugungstatbestände schützen Individualinteressen und damit auch Individualrechtsgüter. Dieser These wird stets der Wortlaut der Norm88 entgegegehalten. Aus dem Tatbestandspassus "zugunsten einer Partei" wird gefolgert, dass durch eine Rechtsbeugung ausschließlich eine Prozesspartei begünstigt werden kann, indem nicht bestehende subjektive Rechte geschaffen oder als bestehend zuerkannt werden89 . Die Annahme, der Tatbestand schütze ledig83 Vgl. Silke Laskowski, S. 155 mit Hinweis auf Bezirksgericht Dresden, DtZ 1992, 91. 84 Vgl. Gerald Michael Kraut, S. 44-46 mit zahlreichen Belegen. 85 Vgl. BGH, StV 1995, S. 186. 86 Vgl. Silke Laskowski, S. 155 sowie BGH, StV 1995, S. 185. 87 Ähnlich Herwig Roggemann, in: JZ 1994, S. 772; so im Ergebnis, aber mit wie oben gezeigt - abzulehnender Begründung Thomas Vonnbaum, in: NJ 1993, S. 213 ff., Olaf Hohmann, in: NJ 1995, S. 129 ff., SK-Rudolphi, § 339, Rz. 3b. 88 Vgl. nur Astrid Hupe, S. 96; Thomas Vonnbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 322.

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lich Individualrechtsgüter vor illegaler Justizgewalt, sei dann schwerlich aufrechtzuerhalten9o • Hierbei wird allerdings übersehen, dass der Wortlaut nur gegen die ausschließliche Einbeziehung der Individualrechtsgüter, nicht aber gegen die Einschließung der Individualrechtsgüter in das Rechtsgut überhaupt spricht. 91 Des Weiteren wird kritisch gefragt, warum die Verletzung einiger Individualgüter nur dann bestraft werden sollen, wenn sie durch eine in den Täterkreis der Rechtsbeugung fallende Person begangen worden ist. 92 Die Ausweitung des strafrechtlichen Schutzes auf ansonsten ungeschützte Individualgüter ist durch ihre Schutzbedürftigkeit gerechtfertigt. Denn zahlreiche Rechtsgüter wie Justizgrundrechte, rechtliches Gehör etc., können nahezu ausschließlich von Richtern und nicht beliebigen Dritten verletzt werden. 93 Speziell vor deren Verletzung durch Richter muss § 339 StGB schützen. Weiterhin sei nicht plausibel, dass andere Individualrechtsgüter ein zweites Mal durch § 339 StGB geschützt werden sollen, da die Verletzung dieser Güter durch rechtswidrige Entscheidungen häufig schon durch die Tatbestände der Freiheitsberaubung, des Betruges etc. erfasst würden; § 339 StGB wäre für diese Rechtsgüter ein Sammeltatbestand ohne eigene Schutzrichtung. 94 Auch dieser Einwand überzeugt nicht. Denn eine "Schutzverdoppelung" wird durch die Sperrwirkung des § 339 StGB gegenüber dem allgemeinen Strafrecht verhindert. Der Individualrechtsgüterschutz vor der So ausdrücklich Astrid Hupe, S. 96 mit Verweis auf Siegfried Rabe, S. 16. Lässt sich bei einer Rechtsbeugung im Zivilprozess der Vorteil der einen Prozesspartei als Nachteil der anderen darstellen, so können bspw. bei einer strafrechtlichen Rechtsbeugung zugunsten des Angeklagten schwerlich Individualrechtsgüter verletzt werden; ein alleiniger Individualgüterschutz als Zweck der Norm ist sodann nicht überzeugend. 91 Es gibt im Übrigen keine Notwendigkeit einer strikten Alternativität, da auch andere Tatbestände, wie z.B. die falsche Verdächtigung nach § 164 StGB, den gleichzeitigen Schutz von Kollektivrechtsgüter (hier: die inländische Rechtspflege gegen Autoritätsverlust) bzw. Individualrechtsgüter (hier: Schutz des Unschuldigen gegen irrtumsbedingte Eingriffe in seine subjektiven Rechte) kennen. 92 Thomas Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 324; so auch Astrid Hupe, S. 97. 93 Frank Scholderer, S. 308; anders Astrid Hupe, S. 97, FN. 270, die sich kritisch gegen das von Frank Scholderer angeführte Individualrechtsgut des "Grundrechts der Ehe" äußert, weil es für Dritte ebenfalls eine potentielle Angriffsmöglichkeit bietet; für Justizgrundrechte gilt dies eben nicht. 94 Vgl. bereits Kurt Mohrbotter, Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Spruchrichters und Staatsanwalts für den Inhalt der richterlichen Entscheidung, in: JZ 1969, S. 493; Michael Marx, Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Spruchrichters gemäß § 336, in: JZ 1970,. S. 248; Claus Roxin, Das Strafverfahrensrecht, 20. Aufl., München 1987, S. 430; Thomas Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 324; so auch Astrid Hupe, S. 97. 89 90

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richterlichen Verletzung ist allein von der Reichweite der Rechtsbeugungsstrafbarkeit abhängig. 95 Indes sprechen gegen die Annahme, der Rechtbeugungstatbestand schütze als Universalrechtsgut die "inländische Rechtspflege", den "Schutz der Rechtspflege vor Angriffen ,von innen "', das "Recht", die "Herrschaft des Rechts" oder die "Unparteilichkeit der Rechtspflege", in dieser Pauschalität insbesondere die Struktur des Tatbestandes selber und die allgemeinen Rechtsgüterlehre 96 : Versteht man als Rechtsgüter grundsätzlich die strafrechtlich geschützten Interessen, so ist der Begriff des Rechtsgutes als Schutz- oder Angriffsobjekt zu definieren. 97 Daraus muss gefolgert werden, dass der Begriff des Tat- oder Handlungsobjekts nicht mit dem Begriff des Rechtsgutes identisch ist98 . Er kann allenfalls eine Verbindung im Sinne einer Hinweisfunktion haben; so ist das Handlungsobjekt in § 212 StGB der Mensch, das Rechtsgut in § 212 StGB hingegen das Leben. Da der Täter das Recht beugt, ist das Handlungsobjekt des § 339 StGB das Recht. Es kann nicht selbst Gegenstand des Schutzgutes sein. Das Rechtsgut der Rechtspflege oder Herrschaft des Rechts setzt das Tat- und Handlungsobjekt mit dem Rechtsgut gleich. Die Beugung des Rechts bildet nur das Mittel, mit welchem der Angriff auf das Rechtsgut erfolgt. 99 Auch die Tatbestandsformulierung "zum Nachteil einer Partei"IOO ist bei der Rechtsgutbestimmung wie "Herrschaft des wirklichen Rechts" oder der Objektivität der Rechtspflege nicht plausibel zu erklären 101. Der Taterfolg, das Recht zum Nachteil einer Partei zu beugen, wäre ein überflüssiger Tatbestandsannex. 102 Der Gesetzgeber hätte, wenn er mit der Strafnorm lediglich das GeLorenz Schulz, S. 208; Frank Scholderer, S. 308. Vgl. zum Folgenden Frank Scholderer, S. 181-198. 97 Strafrecht bezweckt daher Rechtsgüterschutz, vgl. nur Thomas Fischer, § 46, Rz. 3, 6. 98 Dies ergibt sich bereits aus der allg. Definition der Tatbestandshandlung, vgl, dazu Thomas Fischer, § 8, Rz. 3 und vor § 13, Rz. 4. 99 So Frank Scholderer, S. 192. Inhaltlich Gleiches gilt auch für die Bestimmung des § 244 DDR-StGB, wonach der Täter gesetzwidrig entscheidet. 100 Bei § 244 DDR-StGB heißt es: "zuungunsten der Beteiligten". 101 Der sich bei SK-Rudolphi, § 339, Rz. 2 findende Begründungsansatz, dass "die Funktion des Merkmals ,zugunsten oder zum Nachteil einer Partei'" sich darauf beschränkt, "die Strafbarkeit auf gravierende, weil folgenreiche Fälle der Rechtsbeugung zu beschränken" ist, kann aus dem zugrundegelegten Rechtsgüterschutz, der "Herrschaft des Rechts" und der "Funktion des Rechts", nicht überzeugen, weil es demnach nur auf das rechtmäßige Prozedere des Entscheidens ankommen kann. Denn das zugrundegelegte Rechtsgut ist bereits bei unrechtmäßigem Handeln verletzt, der Maßstab ist dabei die Rechtswidrigkeit. Aus dieser Sicht lässt sich daher nicht erklären, dass das vertypte Unrecht in Form des rechtswidrigen Entscheidens eine Beschränkung erfährt, indem es auf die Fälle "zugunsten oder zum Nachteil einer Partei" reduziert wird. 95

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meinschaftsgut der Rechtspflege schützen wollte, ausreichend formulieren können, dass ein Richter etc., welcher sich bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache einer Beugung des Rechts schuldig macht, bestraft wird. 103 Neben der Tatbestandsstruktur spricht auch die Rechtsgüterlehre, insbesondere das Gebot der Materialisierung von Rechtsgütern lO4 gegen die Ausschließlichkeit der Annahme, § 339 StGB schütze ein Gemeinschaftsrechtsgut. Das Gebot der Materialisierung von Rechtsgütern ist zu fordern, damit der Rechtsgutbegriff sich nicht verflüssigt, vergeistigt und entmaterialisiert und seiner strafbegründenden und strafbegrenzenden Funktion gerecht werden kann. Die "Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege", das Schutzgut "Recht" oder die "Herrschaft des wirklichen Rechts" sind dazu nicht ausreichend; es ist nach den dahinter stehenden "materialisierten Interessen"I05 zu fragen. Denn bei der Rechtspflege als Rechtsgüterschutz würde die Institution "Justiz" anstelle ihrer Funktion in den Rang eines Rechtsgutes erhoben. Aber selbst wenn man an der Rechtspflege als Rechtsgüterschutz festhalten will, so ist nicht überzeugend, damit einen von dem Rechtsbeugungstatbestand bezweckten Individualrechtsgüterschutz kategorisch auszuschließen. Denn Individualrechtsgüter genießen verfassungsrechtlich höchste Priorität durch ihre Festschreibung in Art. 1 I 2 und Art. 2 11 1 Grundgesetz und daher muss ihr Schutz als eigentliche Aufgabe des Strafrechts angesehen werden lO6 • Dies deckt sich mit dem Grundgedanken, dass die Norm darauf gerichtet ist, die Prozessparteien vor Beeinträchtigung ihrer Freiheit, ihres Vermögens oder sonstiger Güter durch rechtswidrige Entscheidungen zu bewahren, also den Bürger vor illegaler Justizgewalt zu schützen. Dies spiegelt sich in der Tatbestandsstruktur wider. So ist Seebode 107 zuzustimmen, wenn festgestellt wird: ,,§ 336 soll auch den Bürger davor schützen, in seinen Rechten verletzt zu werden. Dieses Interesse rückt der Gesetzgeber erheblich in den Vordergrund, wenn er ausdrücklich verlangt, dass die Verletzung ... , einer Partei zum Vor- oder Nachteil gereichen muss. Der Gesetzgeber lässt es nicht zu, das Rechtsgut ... lediglich in der Reinheit der Amtsführung zu sehen; denn dann müsste die Pflichtverletzung als solche strafbar sein".

Diese am Taterfolg orientierte Schutzgutbestimmung leuchtet ein und gilt für beide Rechtsbeugungstatbestände gleichermaßen, da § 244 DDR-StGB 102 Gegen die (potentielle) systematische Einstufung als objektive Bedingung der Strafbarkeit überzeugend: Frank Scholderer, S. 194. 103 Vgl. auch Manfred Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung, S. 19. 104 Vgl. hierzu Frank Scholderer, S. 181-185. 105 Frank Scholderer, S. 185. 106 Vgl. Frank Scholderer, S. 187. 107 Manfred Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung, S. 19; ebenso Frank Scholderer, S. 193.

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bestimmt, dass die Rechtsbeugung "zugunsten oder zuungunsten der Beteiligten" erfolgen muss. Dass das DDR-Recht den Individualgüterschutz aus § 244 DDR-StGB nicht ausklammern wollte, bestätigt zudem Art. 90 I 2 der Verfassung der DDR, wo es heißt, dass die Rechtspflege auch die Freiheit, Rechte und Würde der Person schütze. Dies deckt sich mit der Kommentierung zum § 244 DDR-StGB, wonach dieser "der Gewährleistung des Grundsatzes der Gleichheit vor dem Gesetz (vgl. Art. 20 Verfassung, Art. 5 StGB, § 5 StPO) sowie der Sicherung einer in allen Fragen gerechten und gesetzlichen Rechtsprechung,,108 dienen sollte. Dass Individualrechtsgüter zumindest auch - in den Schutzzweck der beiden Rechtsbeugungstatbestände einbezogen werden müssen lO9 , lässt sich letztlich nicht widerlegen. Die "Kontinuität im Unrechtskern" im Hinblick auf den Rechtsbeugungstatbestand kann und muss letztlich konzediert werden, wenn man Individualrechtsgüter in das Rechtsgut des Rechtsbeugungstatbestandes einbezieht. 110 Reduziert man das Schutzobjekt auf das Gemeinschaftsgut Rechtspflege, muss eine Unrechtskontinuität der beiden Normen verneint werden. Es bleibt der Hinweis, dass bis zum Jahre 1968 111 in der DDR der Rechtsbeugungstatbestand in der Fassung galt, wie er auch in der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahre 1975 112 in Kraft war. Daraus ergibt sich allerdings keine andere rechtliche Wertung als zuvor. Die pauschalierte Annahme, der Rechtsbeugungstatbestand in Ost und West schütze die "Rechtspflege", lässt sich ebenso für diesen Zeitraum nicht aufrechterhalten. Zwar stimmen der Wortlaut, aber nicht der Wortsinn der Normen § 336 a. F. StGB 108 Vgl. nur Ministerium der Justiz und der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften der DDR (Hrsg.), Konunentar zum Strafgesetzbuch, 5. Aufl., Berlin 1987, § 244 Rz. 1. 109 Für die Einbeziehung von Individualrechtsgütem in den Schutzbereich der Norm: Heinz Wagner, S. 212; Man/red Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung, S. 19; Klaus Geppert, S. 78; Hans-Joachim Musielak, S. 90; Frank Scholderer, S. 131 ff.; mit Blick auf die "Unrechtskontinuität" hinsichtlich § 339 StGB und § 244 DDR-StGB: Frank Scholderer, S. 502 ff.; Lorenz Schutz, S. 208; aus dem von den Normen beiderseits bezweckten Schutz der staatlichen Rechtpflege soll sich "mittelbar" auch Individualschutz abgeleiten, in diesem Sinne: Klaus Letzgus, in: Festschrift für Rerbert Relmrich, S. 78; Günter Bemmann, in: JZ 1995, S. 124; Herwig Roggemann, in: JZ 1994, S. 773; für einen Individualrechtsgüterschutz durch § 244 DDR-StGB: Gerald Michael Kraut, S. 147. 1\0 Ähnlich Herwig Roggemann, in: JZ 1994, S. 772, der im "zumindest mittelbaren Individualschutzeffekt" den kleinsten gemeinsamen Nenner im Schutzbereich der beiden Tatbestände sieht, der deren Schutzbereich systemübergreifend vergleichbar macht; vgl. auch Lorenz Schulz, S. 208. 111 Das DDR-StGB vom 12.1.1968 (GBI. DDR I S. 1) ist am 7.1.1968 in Kraft getreten, seitdem galt der § 244 DDR-StGB. 112 Bis zum 1.1.1975 hieß es beim damaligen § 336 StGB anstatt "Richter, ein anderer Amtsträger" lediglich "Beamter".

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und § 336 DDR-StGB im Wesentlichen überein. Denn auch in diesem Zeitpunkt war nach dem Rechtsverständnis der DDR das Recht zielgerichtet auf die Verwirklichung der sozialistischen Ideologie und damit nicht im Wesentlichen deckungsgleich mit dem am Grundgesetz orientierten Rechtsverständnis der Bundesrepublik. Unter dem Begriff der Rechtspflege nach dem Staatsverständnis und der verfassungsrechtlichen Situation in der DDR war damit etwas derart Ungleiches im Verhältnis zur Bundesrepublik zu verstehen, dass aufgrund des differierenden Rechtsgutes eine wesentliche Identität der Rechtsbeugungstatbestände trotz des identischen Wortlautes zu verneinen ist. 113 Die Vergleichbarkeit und die wesentliche Identität der Normen ergeben sich für diesen Zeitraum widerum nur, wenn man den Individualrechtsgüterschutz in das Schutzobjekt des Rechtsbeugungsdeliktes einbezieht. 3. Mildevergleich

Aufgrund der Unrechtskontinuität der beiden Normen gilt es zu fragen, ob nach Maßgabe des Art. 315 I EGStGB i. V.m. § 2 III StGB der § 339 StGB oder der § 244 DDR-StGB als das mildere Gesetz anzusehen ist und damit Anwendung auf die "Alttaten" findet. Welches das mildere Strafgesetz ist, bestimmt sich nicht durch einen "abstrakten Vergleich der Tatbestände und Strafdrohungen,,1l4, sondern entscheidend ist, welches für den "konkreten Einzelfall nach dessen besonderen Umständen die mildeste Beurteilung für den Täter zulässt" 115 .116 Für die Verfolgung des DDR-JustizKritisch Man/red Maiwald, in: NJW 1993, S. 1883. Sch/Sch/Eser, § 2, Rz. 30; vgl. auch Thomas Fischer, § 2, Rz. 10. ll5 So Thomas Fischer, § 2, Rz. 10; vgl. auch Sch/Sch/Eser, § 2, Rz. 30 m. w. N.; gefestigte Rechtsprechung: RG 71, 43; 75, 310; BGH, NJW 1953, S. 1439; BGH, NJW 1955, S. 1406; BGH, MDR 1964, S. 160; BGH, NStZ 1983, S. 80; 268; mit Blick auf das DDR-Strafrecht, vgl. nur: BGH 37, 322; 38,22; LG Berlin, JZ 1992, S.69l. 116 Günstige Elemente aus Gesetzen verschiedener Gültigkeit für den Täter dabei zu kombinieren, wird wegen des "Grundsatzes strikter Alternativität" zum Teil als nicht zulässig erachtet; so insbesondere Christian-Friedrich Schroeder, Strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Ausübung politischer Strafjustiz in der ehemaligen DDR, in: Deutsche Wiedervereinigung, Band 2, Emst-Joachim Lampe (Hrsg.), Köln 1993, S. 113, der ansonsten eine "spitzfindige Mixtur" befürchtet. Ob Ausnahmen von diesem Grundsatz gemacht werden können, lassen offen: BGH 37, 322 und 38, 18; vgl. BGH 20, 30; 24, 94; BGH, NStZ 1983, 80); von der Literatur wird dies hingegen zunehmend befürwortet (vgl. Sch/Sch/Eser, § 2, Rz. 34 m. w. N.). Dieser Ansicht in der Literatur ist zu folgen. Denn ansonsten würde für den Rechtsbeugungstäter in der DDR die Privilegierungswirkung des eventuell milderen Entscheidungszeitrechtes zu seinen Lasten unzulässig verkürzt und damit gegen Sinn und Zweck des Rückwirkungsverbotes, also dem Gebot der materiellen Gerechtigkeit, verstoßen (vgl. Herwig Roggemann, in: JZ 1994, S. 774). Es wird ein Widerspruch zu dem auf Vertrauensschutz beruhendem Rückwirkungsverbot des § 2 III StGB 113

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unrechts 1l7 wird nach Art. 315 I EGStGB i. V.m. § 2 III StGB in der Regel als milderes Tatzeitrecht § 244 StGB-DDR maßgeblich sein. 118 Die Strafandrohung ist geringer l19 , der subjektive l20 und objektive l2l Tatbestand sind enger, so dass aufgrund des abstrakten Vergleiches der konkrete Vergleich der Nonnen grundsätzlich nicht anders ausfallen wird. Dies gilt für die Zeit nach Inkrafttreten des § 244 DDR-StGB. Für die Zeit vor 1968, in der in beiden Teilen Deutschlands der vom Wortlaut identische Rechtsbeugungstatbestand nach § 336 a. F. StGB in Kraft war, gilt insoweit dasselbe l22 , da § 244 DDR-StGB gegenüber dem zuvor geltenden Rechtszustand aufgrund der Tatbestandsstruktur und dem Strafrahmen regelmäßig als das mildere "Zwischengesetz.. 123 im Sinne des § 2 III StGB anzusehen ist. 124 aufgebaut. Für diesen Standpunkt spricht zudem, dass das internationale Strafanwendungsrecht für die innerdeutsche Strafanwendung seit dem Grundlagenvertrag bis zur Vereinigung entsprechend anwendbar war; danach ist (war) anerkannt, dass im Rahmen der Prüfung beiderseitiger Strafbarkeit und Berücksichtigung von Tatortrecht, § 7 II StGB, grundsätzlich auch dessen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe zu berücksichtigen (waren) sind (vgl. Herwig Roggemann, in: JZ 1994, S. 774, FN. 37). 117 Dies gilt sowohl für die Rechtsbeugung durch DDR-Berufsrichter wie DDRStaatsanwälte, vgl. dazu Gerald Michael Kraut, S. 83-85, als auch für die Rechtsbeugung durch Schöffen sowie durch Angehörige der Untersuchungsorgane der DDR, vgl. dazu ebenfalls Gerald Michael Kraut, S. 85-86. 118 Ganz vorherrschende Meinung, vgl. nur: Klaus Letzgus, in: Festschrift für Herbert HeImrich, S. 80; Klaus Weber, GA 1993, S. 214 f.; Thomas Fischer, vor § 3, Rz. 49 a; Larenz Schulz, StV 1995, S. 208; Peter Stanglow, S. 972; Gerald Michael Kraut, S. 83; differenzierend Günter Bemmann, in: JZ 1995, S. 125; anders Thomas Vormbaum, in: NJ 1993, S. 214. 119 § 339 StGB sieht im Gegensatz zu § 244 i. V. m. § 40 DDR-StGB eine einjährige und nicht sechsmonatige Mindeststrafe vor. 120 § 339 StGB lässt bedingten Vorsatz genügen (wovon seit der Neufassung des § 336 aus dem Jahre 1975 auch die herrschende Meinung ausging); § 244 DDRStGB fordert eine wissentliche Rechtsbeugung. 121 Nach diesseitigem Verständnis umfasst "Recht" i. S. d. § 339 StGB kein Naturrecht, vgl. bereits Teil I, C., 11. und III.; gleiches gilt bei § 244 DDR-StGB schon allein wegen des Wortlautes, der von Gesetzwidrigkeit spricht, vgl. dazu auch Teil II, B., II. - Dass die "Gesetzwidrigkeit" im Sinne des § 244 DDR-StGB gegenüber dem Begriff der Beugung des "Rechts" im Sinne des § 339 als enger anzusehen ist, meint Herwig Roggemann, in: JZ 1994, S. 774; anders Thomas Fischer, vor § 3, Rz. 49 a; Klaus Letzgus, in: Festschrift für Herbert HeImrich, S. 81 ff.; vgl. auch Larenz Schulz, S. 211. 122 So im Ergebnis auch Man/red Maiwald, in: NJW 1993, S. 1884. 123 Vgl. zu dieser Terminologie Thomas Fischer, § 2, Rz. 6, wonach das "Zwischengesetz" Anwendung findet, wenn es das mildeste Gesetz ist, das zwischen Tat und Aburteilung gegolten hat ( BGHSt 39, 370). 124 Bei gegebener mehrfacher Gesetzesverletzung im Zusammenhang mit einer Rechtsbeugungshandlung bleibt das DDR-StGB maßgebliches Strafanwendungs-

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4. Unterbrechung, Ruhen und Verlängerung von Verjährungsfristen Seit dem Beitritt der DDR gelten nach Art. 8 des Einigungsvertrages für die Strafverfolgungsverjährung die Regelungen der §§ 78 ff. StGB auch für die Taten, die in der DDR begangen worden sind. 125 Mit dem durch das Einigungsvertraggesetz eingefügten Art. 315 a EGStGB findet sich hinsichtlich der "Alttaten" eine vorrangige Spezialregelung 126 , die für alle vor dem Beitritt am 3.10.1990 auf dem Gebiet der DDR begangenen Straftaten Gültigkeit hat. Dieser bestimmt nach Abs. 1 S. 1, dass, soweit "die Verjährung der Verfolgung oder der Vollstreckung nach dem Recht der Deutschen Demokratischen Republik bis zum Wirksamwerden des Beitritts nicht eingetreten war, es dabei bleibt". In diesen Fällen 127 gilt zudem die Verjährung als am 3.10.1990 unterbrochen 128 , vgl. Art. 315 aIS. 3 1 Hs. EGStGB, wobei nach Art. 315 aIS. 3 2 Hs. EGStGB § 78 c III StGB unberührt bleibt. Das heißt zum einen, dass für diese Taten mit Wirksamwerden des Beitritts die Verjährung von neuem beginnt. Zum anderen folgt daraus, dass diese ihre absolute Grenze in dem Ablauf des Doppelten der gesetzlichen Verjährungsfrist findet. 129 Die gesetzliche Verjährungsfrist bestimmt sich wiederum jetzt ausschließlich nach bundesrepublikanischem Recht, also nach §§ 78 ff. StGB. 13o War also die in der DDR begangene Tat am 3.10. recht, da sich die Normen des DDR-StGB in der Regel als milder erweisen, vgl. zu den in Frage kommenden Delikten Gerald Michael Kraut, S. 86-89. 125 Vgl. Peter König, Zur Verfolgungsverjährung von SED-Unrechtstaten, in: NStZ 1991, S. 566. 126 SK-Rudolphi, in: Systematischer Kommentar, Kommentar zum Strafgesetzbuch, AT, 6. Aufl., Berlin 1994, vor § 78, Rz. 13; Thomas Fischer, vor § 78, Rz. 6; vgl. auch BGRSt 39, 358; 40, 56. Dies bestätigt auch BVerfG, Beschl. V. 12.5.1998 - 2 BvR 61196, abgedruckt in NStZ 1998, S. 455 (456). 127 Vgl. zum Folgenden: SK-Rudolphi, vor § 78, Rz. 15; Michael Lemke/Reiner Hettinger, Zur Verjährung von in der ehemaligen DDR begangenen Straftaten und der Möglichkeit des Gesetzgebers, in: NStZ 1992, S. 22; SchlSchlStree, vor § 78, Rz. 9; Thomas Fischer, vor § 78, Rz. 9; Thomas Geiger, S. 398. 128 Grund für die Verjährungsunterbrechung zum 3.10.1990 mit anschließendem Wiederbeginn der Verjährung und auch für die Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsfristen durch den Gesetzgeber wird vor allem mit der Phase des Aufbaus von Strafverfolgungsbehörden und Gerichten im Beitrittsgebiet begründet, vgl. dazu ausführlich Klaus Letzgus, S. 90 ff. Vgl. auch den Beschluss des BVerfG vom 20.12.1991 (Aktz. 2 BvR 618/91), wonach durch die Wiedervereinigung bedingte Probleme beim Aufbau einer an rechtsstaatlichen Grundsätzen orientierten Strafverfolgungspraxis dem Täter nicht zugute kommen dürfen. 129 Zum Teil restriktiver Georg KüpperlHeiner Wilms, S. 398; Uwe Schneiders, Die Regelung über das materielle Strafrecht im Einigungsvertrag, in: MDR 1990, S. 1051, dagegen aber BGRSt 39, 356 ff. 130 Thomas Fischer, vor § 78, Rz. 9; SK-Rudolphi, vor § 78, Rz. 15; Klaus Letzgus, Unterbrechung, Ruhen und Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsfristen für im Beitrittsgebiet begangener Straftaten, in: NStZ 1994, S. 57. 12 Quasten

178 Teil 11: Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung in der DDR

1990 noch nicht verjährt, so ist für den folgenden Zeitablauf nach Art. 315 a EGStGB zu prüfen, ob nach §§ 78 f. StGB in Verbindung mit dem nunmehr gern. Art. 315 I EGStGB und § 2 StGB anzuwendenden materiellen Recht Verjährung eingetreten ist. Für die in der DDR begangenen Rechtsbeugungen gilt danach grundsätzlich folgendes l3l : Taten nach § 244 DDR-StGB verjährten nach § 82 I Nr. 3 DDR-StGB nach acht Jahren, weil die Rechtsbeugung eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren androhte. Für eine nach dem 3.10.1982 begangene Rechtsbeugungstat, weil vor dem Beitritt nicht verjährt, würde die Verjährungsfrist nach Art. 315 a EGStGB als am Tage des Wirksamwerdens des Beitritts als unterbrochen gelten und gemäß § 78 c III 1 StGB am 3.10.1990 von neuem laufen. Gern. § 78 c III 2 StGB tritt die sog. absolute Verjährung dann ein, wenn seit Beendigung der Tat (§ 78 a StGB) das Doppelte der gesetzlichen Verjährungsfrist verstrichen ist. Da die nach dem Beitritt für § 244 DDR-StGB gesetzliche Verjährungsfrist gemäß § 78 III Nr. 4 StGB mit fünf Jahren bestimmt ist, tritt 10 Jahre nach Begehung der Rechtsbeugung die absolute Verjährung ein. Art. 315 a EGStGB schweigt indes zur Frage, inwieweit nach DDR-Recht bereits verjährte Taten nach dem Beitritt noch verfolgt werden können. 132 Dies bedeutet, für die weitere Verfolgbarkeit von "Alttaten" kann es ausschließlich auf die Verjährung nach dem Recht der DDR ankommen. D. h. auch, dass nach DDR-Recht verjährte "Alttaten" nach dem Beitritt auch dann nicht verfolgbar sind, wenn sie nach den §§ 78 ff. StGB noch nicht verjährt wären. 133 Ist eine in der DDR begangene Tat aufgrund der dort damals geltenden Verjährungsvorschriften verfristet, wäre demnach eine Bestrafung hier und heute wegen eines Prozesshindernisses ausgeschlossen. Die Rechtsbeugungstaten, die vor dem 3.10.1982 in der DDR begangen wurden, wären gemäß § 82 I Nr. 3 DDR-StGB verjährt und damit nicht mehr strafrechtlich zu ahnden. In der Praxis würde demnach die Anwendung der Verjährungsregelungen in Art. 315 a EGStGB zur Folge haben, dass die Mehrzahl der in der DDR möglicherweise begangenen und systemimmanent nicht geahndeten Rechtsbeugungen heute nicht mehr zur Überprüfung stünden. Um dieser - auch in Bezug auf andere in der DDR begangenen Unrechtstaten - grundSätzlich möglichen Verjährungsinterpretation des Art. 315 a Vgl. zum Folgenden Klaus Letzgus, in: NStZ 1994, S. 58. Vgl. ausführlich dazu Klaus Breymann, Zur Auslegung der Verjährungsregeln in Art. 315 a EGStGB, in: NStZ 1991, S. 463; im Ergebnis ebenso Michael Lemke/ Reiner Hettinger, S. 22; Peter König, S. 567; SchISchlEser, Vorbem. §§ 3-7, Rz. 112; Thomas Fischer, vor § 78, Rz. 9; Thomas Geiger, S. 398; Lothar Kuhlen/ Thomas Gramminger, S. 39; Klaus Letzgus, in: NStZ 1994, S. 57. 133 Vgl. Thomas Fischer, vor § 78, Rz. 9; Breymann, NStZ 1991, S. 463. 13\

132

B. Strafanwendungsrecht

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EGStGB und damit einer "politischen unerwünschten Verjährung von DDRAlttaten entgegenzuwirken,,134, hat der Gesetzgeber in Art. 1 des Gesetzes über das Ruhen der Verjährung bei SED-Unrechtstaten (Verjährungsgesetz)135 vom 26.3.1993 festgeschrieben, dass bei 136: "der Berechnung der VeIjährungsfrist für die Verfolgung von Taten, die während der Herrschaft des SED-Unrechtregimes begangen wurden, aber entsprechend dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen der Staats- und Parteiführung der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik aus politischen oder sonst in wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbaren Gründen nicht geahndet worden sind, ... die Zeit vom 11. Oktober 1949 bis 2. Oktober 1990 außer Ans