Die Idealtwelten der Ökonomen

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»Ward läßt die Denkstile in den Wirtschaftswissenschaften agieren; er spricht durch sie, nicht über sie. Letztlich will er damit zeigen, daß die ökonomische Theorie von ideologischen Einflüssen tief durchdrungen ist. Dadurch, daß Ward jede der drei Weltsichten so überzeugend wie möglich darzustellen versucht, läßt er die Selektivität der jeweiligen Perspektiven p11lstisch hervortreten und die Umrisse der Alternativen deutlich sichtbar werden. Wer wie Ward mit Weltbildern spielen kann, dem stehen diese für die Beantwortung der Frage, wie die Realität eigentlich und letztlich beschaf fen sei, nicht mehr zur Verfügung. Zu seiner Weltsicht gehört nur, daß es prinzipiell mehrere mögliche Weltbilder geben kann, und damit geht seine Sicht über die drei im Buch dargestellten mächtigen Denkströmungen hinaus.« Günter Hesse

»Der Veifasser hat den schwierigen Versuch unternommen, drei wirtschaftliche Denkrichtungen aus amerikanischer Sicht einander gegenüberzustellen. Da die Studenten an Hochschulem meist nur mit einer Denkrichtung vertraut gemacht würden, bestehe ein Bedaifnach rentabler Darstellung verschiedener Wertsysteme und der daraus abgeleiteten Ergebnisse sowie die Notwendigkeit konstruktiver (immanenter) Kritik aller freien Positionen. Wer sich in knapper Form über einige wesentliche Aussagen >liberaler< (unter anderem Keynes, Galbraith, Drucker), radikaler (Marx, Baran, Sweezy) und >konservativer< Nationalökonomen (von Hayek, von Mises, Friedman) informieren will, wird auf seine Kosten kommen. Ward ist es in der Tat gelungen, die auf unterschiedlichen Wertvorstellungen beruhenden Gedankengebäude unvoreingenommen darzustellen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Das Ergebnis dieses mit vollem kognitiven und emotionellen Einsatz riskierten Vergleichs führt nicht zu billigen Relativierungen, sondern, auf der Spur Max, Webers, zum produktiven Zweifel am vorschnellen Ineinssetzen von theoretischem Bezugsrahmen und Realität. Ward zeigt, daß mehrere Weltbilder nicht nur möglich, sondern nötig sind. Eine schwierige, aber spannende Lektüre.« Wirtschaftswoche

exlibris

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Benjamin Ward

Die Idealwelten der Ökonomen

Benjamin Ward ist Professor der Wirtschaftswissenschaften an der University of California, Berkeley. Er verfaßte mehrere Bücher, darunter das 1976 auch in deutscher Sprache erschienene Sind die Wirtschaftswissenschaften am Ende?

Benjamin Ward

Die Idealwelten der Ökonomen

Liberale Radikale Konservative

Buchclub Ex Libris Zürich

Die amerikanische Ausgabe »The Ideal Worlds of Economics« erschien 1979 bei Basic Books, Inc., New York. Copyright© 1979 bei Basic Books. übersetzt aus dem Amerikanischen von Karin de Sousa Ferreira unter Mitarbeit von Hans G. Nutzinger

Lizenzausgabe für den Buchclub Ex Libris Zürich 1986

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 1981. Alle deutschen Rechte bei Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main. Printed in Germany.

Inhaltsverzeichnis

Vorworte Vorwort zur deutschen Ausgabe Vorwort des Verfassers . . . . .

XI

. XVIII

Buch Eins Die liberale ökonomische Weltsicht Erster Teil Die optimale liberale ökonomische Weltsicht 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Liberalismus? . . . . . . . . . . W ohlstandskapitalismus: Einige Grundfakten Wohlstandskapitalismus und Märkte Das politische Geschäft . . . . . . . . Management und Planung . . . . . . . Entwicklung entlang der »Hauptlinie« Sozialismus: Entwicklung und Utopie. Internationale Beziehungen DieZukunft . . . . . . . . . . . . . .

5 9 15 27 42 56 67 77

85 98

Zweiter Teil Varianten der liberalen Weltsicht 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18.

Liberale ökonomische Weltsichten in der Perspektive . Liberale Grundwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Galbraithsche Variante . . . . . . . . . . . . . . D;uckers liberale Diskontinuitäten . . . . . . Macht und überleben der liberalen Regierung. Krieg und das Versagen der Problemstruktur Geteilte Meinungen über Entwicklung .. . Ökologische Kassandras . . . . . . . . . . .

109 117 124 145 156 163 170 177

VI

Die Idealwelten der Ökonomen

Buch Zwei Die radikale ökonomische Weltsicht

Erster Teil Die optimale radikale ökonomische Weltsicht 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der zeitgenössische Kapitalismus: Die Anklagepunkte . Struktur und Tendenz von Gesellschaften . . . . Monopolkapitalismus: Struktur und Tendenzen Ausbeutung im Monopolkapitalismus . Staat und Monopolkapital . . . . Instabilität und Krise . . . . . . . . . . Entwicklung und Imperialismus . . . . Dc1· Aufaticg des Sozialismus: Die Sowjetunion . Der Aufstieg des Sozialismus:Jugoslawien und China Übergänge . Die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

189 195 203 214 224 235 244 252 263 272

281 290

Zweiter Teil Knmmfmtar

13. 14. 15. 16. 17. 18. 19.

Radikale Weltsicht und radikale Ökonomie . Baran und Sweezy . . . . . . . . . . . Stagnation und Absorption des Surplus Entfremdung . . . . . . . . . . . . . . Horvat . . . . . . . . . . . . . . . . . Technische Ökonomie kontra radikale Ökonomie? . Die Rolle der Revolution . . . . . . . . . . . . . . .

297 303 315 320 325 331 337

Buch Drei Die konservative ökonomische Weltsicht

Erster Teil Die optimale konservative ökonomische Weltsicht 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . WaserschufdiemoderneWelt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prosperität und Ordnung im alten China und in der Republik Venedig . England und die USA: Die vollentwickelte Marktwirtschaft DieMärkteunddas20.Jahrhundert. Eigentumsrechte . . . . Staat und Eigentum . . . Staat und Staatsangaben Geld und Steuern . . . . Das Problem der Ordnung . Wirtschaftliche Entwicklung. Die internationale Wirtschaft Sozialismus . . . . . . . . . DieinternationaleOrdnung DieZukunft . . . . . . . .

345 351 358 365 371 377 384 392 398 404 412 419 426 432 438

Inhaltsverzeichnis

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Zweiter Teil Kommentar

16. 17. 18. 19. 20. 21.

Einführung . . . . . . . . . . . . Die Liberalisten: Derreine Sproß Die Sozial-Konservativen Die Neo konservativen . Friedman . Hayek . . . . . . . . .

447 452 459 464 469 475

Nachwort Eine letzte persönliche Bemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ; . 483

Anhang Anmerkungen Literaturverzeichnis Personenregister

Sachregister . . . . .

495 517 527 531

Vorworte

Vorwort zur deutschen Ausgabe Günter Hesse

!. Arbeitet man an der Lösung eines Problemes, so ist es sehr nützlich, wenn man die Antwort schon kennt. 1 Das ist die ironisch ins Paradoxe übersteigerte Konsequenz eines Eindruckes, den sicher schon viele beim Hören oder Lesen der Ausführungen von - nicht nur- Wirtschaftswissenschaftlern hatten. Ist man über den wirtschaftstheoretischen und allgemeinpolitischen Hintergrund eines Autors oder einer Forschergruppe etwas orientiert2, so erwartet man, daß die Analyse und Lösung eines Problems in einer ganz bestimmten Richtung erfolgen werde, und diese Erwartung wird nur selten enttäuscht. Dabei stellt man an anderen nur fest, was bei etwas distanzierter Selbstbeobachtung ebenfalls sichtbar würde, daß man zwar natürlich nicht die Antwort schon vorher kennt, aber daß man in einer ganz bestimmten Richtung sucht und fragt und daß die Analyse an bestimmten Punkten - in der Überzeugung, nun eine befriedigende Lösung gefunden zu haben - abgebrochen wird. Gleichzeitig wird niemand die intellektuelle Redlichkeit der Forscher in Frage stellen und behaupten wollen, daß sie lediglich nach Gründen zur Bestätigung vorgefaßter Meinungen suchen und Unpassendes bewußt unter den Tisch fallen lassen oder Behauptungen aufstellen, von deren Richtigkeit und Vertretbarkeit sie nicht überzeugt sind. Die immer wieder zu findende Redewendung, eine Sache oder ein Problem stelle sich aus der »Sicht« dieser und jener Forscher (oder »Schule«) etwa wie folgt ... dar, sei aber »in Wirklichkeit« folgendermaßen ... beschaffen, zeigt zum einen, daß die Existenz verschiedener Perspektiven für die Wissenschaft etwas ganz Selbstverständliches ist und ihre Gegenüberstellung gewissermaßen zum Alltag der Wissenschaft gehört, und zum anderen, daß die jeweiligen Autoren überzeugt sind, ihre eigene Sichtweise sei die richtige. Daß es überhaupt eine wissenschaftliche Auseinandersetzung zwischen Vertretern verschiedener Sichtweisen gibt und daß dieser Streit manchmal mit erheblicher Intensität geführt wird, beruht letztlich auf einer gemeinsamen Überzeugung der Streitenden, der Überzeugung, daß es letztlich nur eine richtige Wiedergabe eines Sachverhaltes, nur einen richtigen Zugang zu einem Problem gebe und daß man feststellen könne, welche Vorstel-

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Die Idealwelten der Ökonomen

lung zutreffend und welche unzutreffend ist, daß also eine Entscheidung zwischen den konfligierenden Auffassungen getroffen werden muß und kann.

II. Diese gemeinsame Überzeugung war auch die Grundlage für einen vielbeachteten Streit zwischen deutschen Sozialwissenschaftlern in den sechziger Jahren, der unter dem etwas irreführenden Namen »der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie« 3 in die Geschichte der Debatten eingegangen ist. Gegenstand dieser Auseinandersetzungen waren allerdings nicht Theorien zu einzelnen Fragenkreisen, sondern die Methode der Theoriebildung in den Sozialwissenschaften selbst bzw. der Prüfung von einzelnen Theorien, also die Kriterien, die bei der Entscheidung zwischen Theorien zu beobachten oder anzuwenden seien. Es waren zwei berühmte Vertreter unterschiedlicher Auffassungen über die bei der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung bzw. -prüfung einzuschlagenden Wege - Adorno und Popper - gebeten worden, über das gleiche Thema »Die Logik der Sozialwissenschaften« zu sprechen. Zum Versuch, eine Entscheidung zwischen diesen beiden Auffassungen herbeizuführen, sah man sich, wie Adorno schreibt, »genötigt ... , weil die friedliche Toleranz für zwei verschiedene nebeneinander koexistierende Typen Soziologie auf nichts Besseres hinausliefe als auf die Ncutralisicrung des emphatischen Anspruchs auf Wahrheit«. 4 Und diesen Anspruch auf Wahrheit, darin waren sich die Kontrahenten Adorno und Popper einig, wollten beide gegen alle Formen des Relativismus {Popper) und gegen den totalen Ideologieverdacht der Wissenssoziologie (Adorno) aufrechterhalten. Wahrheit wurde dabei, wie besonders aus den Ausführungen Poppers zu entnehmen ist, als Übereinstimmung einer Aussage mit den Tatsachen, also im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahrheit, aufgefaßt. Die Positionen der Kontrahenten könnte man sehr kurz und grob wie folgt skizzieren. Bei Popper dient als wesentliches Mittel, um zwischen konfligierenden Theorien entscheiden zu können und so auf dem Wege zur Wahrheit voranzukommen, die Falsifikation von Gesetzesbehauptungen. 5 Bei der Falsifikation6 wird durch logisch gültiges deduktives Schließen die Falschheit einer Konklusion (einer aus der Gesetzesbehauptung abgeleiteten Tatsachenaussage) auf die der Prämisse, d. h. der Gesetzesbehauptung, übertragen, womit deren Wahrheitsanspruch widerlegt ist. Achillesferse dieses Verfahrens zur Verfolgung des Zieles der Annäherung an die absolute Wahrheit durch die Elimination von Irrtümern ist die Feststellung des Wahrheitswertes der Tatsachenbehauptung, an der die Gesetzesaussage scheitern soll (des sogenannten Basissatzes). Adorno, Albert, Habermas und Popper, um nur einige Hauptakteure in diesem Streit zu nennen, sind sich, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung der Konsequenzen, mit vielen anderen Wissenschafts- oder Erkenntnistheoretikern darin einig, daß der Wahrheitswert von Basissätzen nicht beweisbar ist. Tatsa-

Vorwort zur deutschen Ausgabe

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chenaussagen resultieren aus der Interpretation von Sinneseindrücken im Lichte vorgängiger Theorien, die »reine« Tatsache ist uns nicht zugänglich. Wenn in einer Forschergruppe Übereinstimmung in der Beurteilung eines Basissatzes erzielt wird, so resultiert diese aus gemeinsamen Überzeugungen der Forscher, die wieder bedingt sind durch deren bisherige Auseinandersetzungen über die Bedeutung und Bewährung von Theorien. Es ergibt sich ein Wechselspiel zwischen theoretischen Vorverständnissen und interpretierten »Fakten«. Unterschiede zwischen Popper und Adorno scheinen aus der unterschiedlichen Gewichtung der Rolle, die diese beiden Seiten beim Prozeß der Annäherung an die Wahrheit spielen können, zu resultieren. Adorno billigt der empirischen Kontrolle von Theorien eine geringere Bedeutung zu als Popper. Zum einen gebe es Elemente der sozialwissenschaftlichen Theoriebildungen, die sich der Kontrolle durch in empirischen Erhebungen quantifizierte Sachverhalte entziehen.7 Zum anderen ist in den Sozialwissenschaften der Forscher Teil seines Untersuchungsgegenstandes und als solcher schon vorgängig dessen Einflüssen unterworfen, was bei unterstellter Produktion eines falschen Bewußtseins durch die Produktionsverhältnisse zu einer vorgängigen Verfälschung des Untersuchungsgegenstandes durch das ideologische Bewußtsein des Forschers führt. Dagegen könne nur eine Soziologie, die Gesellschaft als Totalität, als einen »Gesamtprozeß [begreife], in dem die von der Objektivität umfangenen, gelenkten und geformten Menschen doch auch wiederum auf jene zurückwirken« 8, von vornherein ein der Sache selbst angemessenes theoretisches Vorverständnis mitbringen und »im Erkenntnisprozeß die Wirklichkeit selbst reproduzieren«.9 Es scheint, als hätte man sich hier mit Hilfe der Vernunft schon vorgängig über den richtigen theoretischen Ansatz zu vergewissern. Eine Entscheidung zwischen den konfligierenden Vorstellungen über die angemessene Theoriebildung bzw. -prüfung wurde nicht erzielt. Es wurde aber - leider erst in der nur als Zusammenfassung vorliegenden Diskussion deutlich, daß »es eine innere Verbindung gibt zwischen bestimmten Vorstellungen von der Aufgabe der Soziologie, bestimmten erkenntnistheoretischen und wissenschaftslogischen Positionen und bestimmten moralischen Prinzipien, die auch politische Relevanz haben« 10 , daß also jeweils recht umfassende Orientierungssysteme11 zur Debatte standen und es kein »Niemandsland des Gedankens«12 gab, von dem aus diese Entscheidung hätte herbeigeführt werden können. Es wurde nicht nur keine Entscheidung herbeigeführt, sondern im Laufe der weiteren Entwicklung der Wissenschaftstheorie auch ihr Anspruch, verbindliche Entscheidungskriterien für die Wahl zwischen Theorien benennen zu können, praktisch aufgegeben. Habermas bemühte sich unter Fortführung von Ansätzen in seinen Beiträgen zum Positivismusstreit um die Analyse von Bedingungen, unter denen alle an einem Diskurs beteiligten Forscher zu einer gemeinsamen Auffassung über die in Rede stehenden Behauptungen, d. h. zu einem universellen Konsensus, gelangen können. Diese Bedingungen, die die »ideale Sprechsituation« kennzeichnen, liegen zum einen nicht vor, und zum

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Die Idealwelten der Ökonomen

anderen wird damit von der Korrespondenz- zur Konsensustheorie der Wahrheit übergegangen. 13 Ein Wandel in der Auffassung vieler Methodologen, die mehr der Konzeption Poppers zuneigten, wurde durch historische Untersuchungen zur Entwicklung der Naturwissenschaft durch T. S. Kuhn, I. Lakatos, P. K. Feyerabend und andere, zum Teil wiederentdeckte Autoren wie L. Fleck eingeleitet. 14 Wieso konnten Untersuchungen zur Geschichte der Naturwissenschaft diesen Einfluß haben? Bei Popper ist das Schicksal von Theorien letztlich von Konventionen über Basissätze abhängig. Damit wird die Annäherung an die Wahrheit nach den Spielregeln des Falsifikationismus zu einem riskanten Spiel, »riskant, aber rational«, wie Popper sagt. 15 Wesentliche Stütze für die Aufrechterhaltung dieser riskanten Spielregeln scheint die Vorstellung gewesen zu sein, die als erfolgreich vorausgesetzten N aturwissenschaften wären genau nach diesen Spielregeln vorgegangen. Als wissenschaftshistorische Untersuchungen zeigen konnten, daß diese Vorstellung nicht haltbar ist, hatte das auch Konsequenzen für die Methodologie. 16 Lakatos versuchte die »Kluft zwischen Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis ... durch eine neue Theorie der wissenschaftlichen Vernunft zu schließen«. 17 Der von ihm entwickelte »raffinierte Falsifikationismus«, die »Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme« 18 , wurde jedoch u. a. durch Feyerabend durchschlagend kritisiert. 19 Methodologische Standards, anhand derer zwischen abzulehnenden und beizubehaltenden Theorien und Forschungsprogrammen entschieden werden könnte, werden nicht mehr aufgestellt. 20 Die Wahl wird einfach den in den jeweiligen Gebieten tätigen Wissenschaftlern überlassen. 21 Sind wir damit wieder am Anfang dieses Punktes angekommen? Nicht ganz! Wir stehen zwar nach wie vor vor der Wahl verschiedener Theorien und Forschungsprogramme, aber bezüglich der Identifizierbarkeit des richtigen Weges haben wir einige Illusionen verloren.

III. Um besser sehen zu können, wie sich das Buch von Ward in diese Entwicklung einbettet und über sie hinausführt, sind noch zwei Punkte kurz zu beleuchten: Zum einen die Vorstellung von der Wissenschaftspraxis, die aus der bisherigen Diskussion resultiert bzw. nun explizit formuliert wurde, und zum anderen die Wählbarkeit von Forschungsprogrammen. Die relevante Einheit in der Praxis der Wissenschaften sind Forschergruppen, die gewisse gemeinsame Überzeugungen haben. Den Kern dieser gemeinsamen Überzeugungen bilden Vorstellungen darüber, aus welchen Entitäten ihr Forschungsgegenstand überhaupt besteht und wie sich diese Elemente verhalten. Hierdurch mitbedingt ist ihre Auffassung davon, wie man überhaupt vorgehen müsse, um den gedachten Gegenstand zu erfassen, wie also die zu betreibende Forschung aussehen müsse, welche Fragen gestellt und beantwortet werden müssen und welche weniger wichtig sind, wann eine befriedigende Antwort gefunden ist usw. Innerhalb dieser Gruppen gelangt man zu den

Vorwort zur deutschen Ausgabe

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akzeptierten Interpretationen von Fakten, die dann zu Modifikationen in Teilbereichen des Forschungsprogrammes führen. Der Wechsel solcher Forschungsprogramme, wissenschaftlichen Traditionen, Paradigmata oder Denkstile oder wie dieser in sich strukturierte22 Komplex aus gemeinsamen Überzeugungen auch immer genannt wird, in der geschichtlichen Entwicklung einer Disziplin läßt dadurch, daß nun auch andere Sichtweisen zum Zuge kommen, die enorme Selektivität der jeweiligen Gegenstands- und Problemwahrnehmung und -behandlung deutlich hervortreten. Sind sich die jeweils mit einem Denkstil arbeitenden Forscher dieser Selektivität bewußt? Oder anders gefragt: Wie wurden sie Mitglieder der jeweiligen wissenschaftlichen Tradition? Haben sie ihre Mitgliedschaft unter Kenntnis der anderen Möglichkeiten bewußt gewählt? In den allerwenigsten Fällen! In der Regel werden den Schülern und Studenten, die später zum Teil Forscher werden, bestimmte Gegenstandsvorstellungen als Selbstverständlichkeiten vermittelt. Fleck spricht von einer »Einführungsweihe«, die manchmal die vermittelten Denkweisen so selbstverständlich mache, daß »man vollständig vergißt, sie einst erhalten zu haben«. 23 Eine Vorstellung von der Selektivität des eigenen Denkstils entsteht erst gar nicht. Hier setzt das Buch von Ward ein - allerdings ohne sich explizit auf die wissenschaftstheoretische Diskussion der letzten Jahrzehnte zu beziehen und ohne explizit wissenschaftstheoretisch zu argumentieren. Ward spricht nicht iiber Denkstile in den Wirtschaftswissenschaften, sondern dtef.rch sie, er läßt sie agieren. Letztlich will er damit, wie er schreibt, zeigen, daß die ökonomische Theorie in ihrer Struktur, der Art, in der Fragen gestellt und beantwortet werden und Folgerungen für die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik gezogen werden, von ideologischen Einflüssen tief durchdrungen ist. 24 Er will ihre enorme Selektivität bewußt werden lassen. Das gelingt ihm, indem er drei verschiedene Weltsichten, die er - die amerikanische Gegenwart vor Augen die liberale, radikale und konservative nennt (auf deutsche Verhältnisse angewandt würde man vielleicht von sozial-liberaler, marxistischer und paläo- bzw. neoliberaler Sichtweise sprechen), auf die gleichen Fragestellungen und Probleme anwendet. Jede dieser Weltsichten wird dabei als in sich konsistent, mit den jeweils richtig interpretierten Fakten vereinbar und als im Einklang mit weithin akzeptierten ethischen Überzeugungen stehend, in überzeugender Weise dargelegt. Natürlich werden Vertreter der jeweiligen Denkstile gewisse Argumente der jeweils anderen wissenschaftlichen Tradition nicht akzeptieren; sie werden auf Fehler anderer hinweisen, eigene Probleme bagatellisieren und auf die künftige Lösung eingestandener Anomalien verweisen (»further research is needed«) usw., kurz, sich genau so verhalten, wie etwa Lakatos oder Kuhn oder Feyerabend das Verhalten der Anhänger von Forschungsprogrammen beschrieben haben. Und natürlich gibt es innerhalb der jeweiligen Gruppen Mitglieder, die in gewissen Punkten etwas abweichende Meinungen haben. Einige dieser partiellen Abweichler läßt Ward zu Wort kommen, nachdem er die jeweilige Weltsicht in ihrer überzeugendsten Form dargelegt hat.

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Die Idealwelten der Ökonomen

Zwar k.auu mau Lei Wa1J auch t:lwas lUdu über das Puuk.tiuuit!rt!n vun Weltbildern lernen, doch das Besondere, das diese Arbeit aus den bisherigen Berichten über Forschungsprogramme in den Natur- und Sozialwissenschaften hervorhebt, ist die durch sie gegebene Möglichkeit, verschiedene Weltbilder dadurch, daß sie auf die gleichen Fragen angewendet werden, unmittelbar miteinander vergleichen und sie in Aktion erleben zu können. Dieses durch die Technik der Darstellung und die Sprache Wards ermöglichte Erlebnis der Aktion ist nicht unwesentlich, wenn man bedenkt, daß bei der Arbeit in Forschungsprogrammen nicht nur intellektuelle, sondern auch emotionale Aspekte von Bedeutung sind. Theoriebildung und -prüfung impliziert Handeln, 1.1nd Handeln res1.11tiert a1.1s Konstellationen, die kognitive, evaluative i.md motivationale Dimensionen haben. Das Forschungsprogramm nimmt gewissermaßen den »ganzen« Menschen in Beschlag, und wenn man dessen Einstellung zu diesem Programm beeinflussen will, muß man den »ganzen« Menschen ansprechen. Dadurch, daß Ward jede der drei Weltsichten so überzeugend wie möglich darzustellen versucht, läßt er die Selektivität der jeweiligen Perspektiven plastisch hervortreten und die Umrisse der Alternativen deutlich sichtbar werden. Das ist nötig, wenn man sich möglichst klar sein will über das, was man bei der Arbeit in einer wissenschaftlichen Tradition tut und wenn man abwägen können" will. Mit dieser Bewußtmachung der Selektivität der jeweiligen Perspektive greift Ward ein zentrales Anliegen von Max Weber auf, der immer wieder vor dem unreflektierten Ineinssetzen von theoretischem Bezugsrahmen und Realität, vor der Distanzlosigkeit zum Objekt gewarnt und mit seiner Kritik in den verschiedensten Bereichen versucht hat, die »dumpfe Ungeschiedenheit« von »Begriff und Begriffenem« aufzulösen. 26 Weber versuchte Blindgläubigkeit zu bekämpfen und zur Entstehung und Verbreitung der distanzierten und vorsichtigen Einschätzung der Forschungsergebnisse (und ihrer wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Implikationen) beizutragen, die Ward als bleibendes Ergebnis seiner intensiven Auseinandersetzung mit den verschiedenen Weltsichten an sich selbst beobachtet. 27

IV. Auf eine von den vielen Fragen, die noch gestellt werden, aber zumindest an dieser Stelle nicht beantwortet werden können, soll noch eingegangen werden. Nehmen wir an, Ward hätte den Leser überzeugt. Es gäbe für ihn nun drei mächtige Strömungen des wirtschaftswissenschaftlichen Denkens, die für ihn gleichrangig nebeneinander stehen. Kann sich nun ein Wissenschaftler sein Weltbild auswählen, so wie man sich z. B. nach Abwägung von Vor- und Nachteilen zum Kauf eines bestimmten Autotyps entschließt? Nach der oben geschilderten Entwicklung der Methodologie, die den Anspruch, Kriterien aufstellen zu können, anhand derer man sich auf dem Weg zur (absoluten) Wahrheit orientieren könne, aufgegeben hat und die Wahl einfach den For-

Vorwort zur deutschen Ausgabe

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schern überläßt, mag es so scheinen, als könnten sich diese nun gewissermaßen ihre Überzeugungen wählen. Das können sie jedoch nicht. Unberührt von der Kritik methodologischer Standards, die den Weg zur absoluten Wahrheit markieren wollten, bleibt die »psychologische« Motivation der Wahrheitssuche. Das ist die auf dem Orientierungsbedürfnis der Menschen basierende, in der abendländischen Wissenschaft ursprünglich auch aus religiösen Motiven28 , aber auch-n.ach deren Verblassen noch mit internalisierten ethischen Verpflichtungen betriebene Suche nach Strukturen der Welt, nach Strukturen, die wir »vorfinden« müssen und nicht selbst hervorbringen dürfen. Zwar können wir nach dem gegenwärtigen Verständnis dessen, was wir bei dieser Erforschung der Welt tun, nicht umhin anzunehmen, daß wir selbst ständig mit Vorstrukturierungen an der Formung der »Welt« zum Erfahrungsobjekt oder Vorstellungsinhalt beteiligt sind, doch können wir die laut Vorstellungsinhalt gegebenen Strukturen (das sind die harten Kerne der Forschungsprogramme) nur solange für Strukturen der Welt halten, als sie uns nicht als Resultat eigener mitgebrachter Vorstrukturienmgen hewußt geworden sind. Wird das aber realisiert (z. B. durch Aufweis anderer ernstzunehmender Möglichkeiten), so werden diese Vorstrukturierungen oder der begriffliche Rahmen zum Vorurteil, bei dem man nicht stehenbleiben kann. Wer wie Ward mit Weltbildern spielen kann29, dem stehen diese für die Beantwortung der Frage, wie die Realität eigentlich und letztlich beschaffen sei, nicht mehr zur Verfügung. Zu seiner Weltsicht gehört nun, Jaß es prinzipiell mehrere mögliche Weltbilder geben kann, und damit geht seine Sicht über die der drei im Buch dargestellten mächtigen Denkströmungen hinaus.

Vorwort des Verfassers

Ich habe mit dem Schreiben dieses Buches hauptsächlich vier Absichten verfolgt. Die erste hat mit dem Liberalismus'; zu tun. Intellektuell gesehen sind die Liberalen heutzutage eine gefährdete Spezies. Das erste Hauptziel dieser Arbeit ist claher, clen T.eser clavon 7.u iiberzeugen, daß der Liberalismus auch heute noch eine maßgebliche und überzeugende intellektuelle Einstellung ist. Die Beweisführung ist direkt, d. h. im ersten Teil des Buches wird der Versuch unternommen, den Leser von der Richtigkeit der liberalen ökonomischen Weltsicht zu überzeugen. Dies geschieht durch die Darstellung einer »Optimalen« liberalen Interpretation einiger der großen Fragen unserer Zeit, bei denen die Wirtschaft eiue zentrale Rolle spielt. Danach kommt ein Abschnitt, in dem mehrere liberale Alternativen zu jener optimalen Einstellung beschrieben und kommentiert werden. Ich habe mich bemüht, die Darstellung so überzeugend wie möglich zu machen, allerdings mit gewissen Vorbehalten: Sie darf zu keiner bekannten Tatsache im Widerspruch stehen. Die Argumente müssen kohärent und untereinander widerspruchsfrei sein. Die Darstellung muß umfassend sein und solch wichtige Fragen wie Marktverhalten im Überflußkapitalismus, ökonomische Aktivität des Staates, Probleme der Entwicklungsländer, Wesen und Leistung des Sozialismus, internationale Beziehungen und Zukunftsaussichten behandeln. Das Hauptgewicht muß auf der Wirtschaft liegen; allerdings sollten " Der Begriff Liberalismus, so wie ihn der Verfasser in Anlehnung an den gängigen amerikanischen Sprachgebrauch verwendet, hat nur noch wenig mit dem klassischen europäischen, insbesondere britischen Liberalismus des 18. Jahrhunderts gemein; wesentlichster Unterschied ist die starke Betonung der Rolle des Staates für die Wohlfahrt seiner Bürger. Der Liberalismusbegriff in Europa hat sich zwar in den letzten zwei Jahrhunderten auch weiterentwickelt, jedoch keineswegs so stark in diese »linksliberale«, »sozialliberale« oder »sozialdemokratische« Richtung, wie dies in Amerika der Fall war, wobei die drei genannten Attribute nur grobe Approximationen des Bedeutungsgehalts von »liberal« im amerikanischen Wortsinne darstellen. Zu einer genaueren Bestimmung dessen, was Benjamin Ward unter Liberalismus versteht, siehe seine Darstellung in Buch I, Kapitel 2: »Was ist Liberalismus?«. -Die ausgeprägt individualistischen Traditionen des Liberalismus-Begriffs sind in den Vereinigten Staaten von der konservativen Denkrichtung aufgegriffen worden, die sich insoweit erheblich von dem europäischen Konservativismus unterscheidet. Diese individualistische Denktradition wird heute in den Vereinigten Staaten nicht mehr als liberal, sondern als liberalistisch (libertarian) bezeichnet. Siehe dazu im einzelnen die Erläuterungen in Buch III dieses Werks. (A. d. Ü.)

Vorwort des Verfassers

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politische, moralische und andere Überlegungen mit einbezogen werden, wann immer sie für die Argumentation wichtig sind. Und schließlich muß die Darstellung so untechnisch wie möglich und maßvoll in der Länge sein. Die radikale Ökonomie hat in den letzten zwei Jahrzehnten ein sprunghaftes Wachstum erlebt. Die Zahl der überwiegend auf diesem Gebiet arbeitenden Berufsökonomen in den Vereinigten Staaten hat während dieser Zeitspanne stark zugenommen. Nichtsdestoweniger sind sehr viele Ökonomen immer noch der Meinung, daß es so etwas wie eine radikale Nationalökonomie nicht gibt und daß folglich die Aussagen radikaler Volkswirte nicht ernstgenommen zu werden brauchen. Ein zweites Hauptziel dieser Arbeit ist es daher, den Leser davon zu überzeugen, daß die radikale Nationalökonomie in der Tat eine ernstzunehmende und plausible Sache ist. Der Form nach entspricht die Beweisführung in Buch II in etwa der des Teils über Liberalismus. Auch hier soll der Leser unmittelbar vom Wert einer optimalen radikalen ökonomischen Weltsicht überzeugt werden, und ebenso folgt ein Kommentar über Varianten zur radikalen Theorie. Im dritten Buch schließlich will ich den Leser davon überzeugen, daß auch die konservative ökonomische Weltsicht ernstzunehmen und einleuchtend ist. Man könnte hinzufügen, daß es -wie auch die anderen zwei Bücher- außerdem dem Ziel dient, dem Leser klarzumachen, daß die konservative Weltsicht human ist, d. h. dag sie mit weithin anerkannten Moralvorstellungen ganz und gar im Einklang steht. Obwohl die zeitgenössischen Liberalen und Konservativen gemeinsame Vorfahren haben, unterscheidet sich der Konservativismus heute in einigen Aspekten von seinem Verwandten, ja, diese Aspekte scheinen relativ fundamental zu sein und haben, wie im kommentierenden Teil von Buch III gezeigt wird, eine deutlich andersartige Weltsicht geschaffen, deren Varianten nun offenbar eine starke zentrale Tendenz an den Tag legen. Die Gedankenführung entspricht wieder der der anderen beiden Bücher. Ich habe diese Arbeit unternommen, weil ich keine Darstellung irgendeiner der Weltsichten finden konnte, die den oben angedeuteten Kriterien entsprochen hätte. Doch diese Lücke zu füllen, war keineswegs mein einziges Motiv dafür, dieses Buch zu schreiben. Denn mein viertes und letztes Ziel ist es, dem Leser deutlich zu machen, daß die Nationalökonomie in ihrer Struktur - in der Art, wie sie Fragen stellt und beantwortet, wie auch in der Art, wie aus ihr wirtschaftspolitische Folgerungen gezogen werden - völlig von Ideologie durchdrungen ist. Doch dieses Fachgebiet ist insofern bemerkenswert und charakteristisch, als es drei Ideologien gibt, die weithin von Berufsökonomen vertreten werden, und deren Implikationen für die grundlegendsten Aspekte des Fachgebiets sehr stark voneinander abweichen. Die vorliegende Arbeit hat ihr Ziel erreicht, wenn der Leser durch sie zu der Erkenntnis gelangt, daß jede der Weltsichten es wert ist, ernstgenommen zu werden. Wie im Nachwort angedeutet, werden die Leser, wenn sie auch nur annähernd die gleichen Erfahrungen wie der Autor machen, ebenfalls jede dieser Weltsichten überzeugend finden. Jede erfüllt das Kriterium, auf eine Weise darstellbar zu sein, die

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Die Idealwelten der Ökonomen

keinen bekannten Tatsachen widerspricht. Was die Folgerungen für die zu ergreifenden Maßnahmen betrifft, so ist jede von ihnen mit vernünftigen ethischen Grundsätzen vereinbar. Abgesehen davon ist jede kohärent, ihre einzelnen Bestandteile sind miteinander vereinbar und verstärken sich gewöhnlich gegenseitig. Und doch ist es, wenn wir bei der Erörterung der gleichen Probleme (beispielsweise Wirtschaftstätigkeit der Regierung, Wirtschaftsentwicklung oder Sozialismus) von einer Weltsicht zu einer anderen übergehen, wirklich so, als käml!n wir von einer Welt in eine andere. Obwohl im Anschluß an jede optimale Weltsicht jeweils ein kommentierender Teil folgt, bleiben diese Kommentare innerhalb des Rahmens der jeweils zur Diskussion stehenden Weltsicht. Der liberale Kommentar ist dazu bestimmt, dem Liberalen bei der Wahl zwischen alternativen liberalen Positionen zu speziellen Fragen zu helfen, und das Gleiche gilt für die radikalen und konservativen Bemerkungen über die jeweilige optimale Weltsicht. Der Grund, warum wir auf diese Weise vorgehen, ist, daß es in der Nationalökonomie heute tatsächlich keine vierte Alternative gibt. Dies sind die einzigen Weltsichten, die wir haben; wie der Leser sehen wird, tendieren die Varianten eindeutig dazu, unter die eine oder andere der Weltsichten zu fallen. Natürlich hätte ich meine eigenen Ansichten zu jeder Frage darstellen können, dies wäre aber mit den Zielen des Buches nicht vereinbar gewesen. Zwar ist die Person des Autors niemals ganz ohne Belang für ein Buch, doch versuche ich hier, etwas über den Zustand der Nationalökonomie zu sagen, nicht über meinen eigenen Zustand. Es ist zu hoffen, daß dieses Werk Studenten der Wirtschaftswissenschaft als Warnung dient. Sie sollten, wenn sie ein Lehrbuch in die Hand nehmen oder einen Hörsaal betreten, nicht erwarten, die Wahrheit über die Wirtschaft zu erfahren in dem Sinne, wie sie sie von den Lehrbüchern und Dozenten der Physik oder Biologie vermittelt bekommen. Sie sollten begreifen, daß Kommunikation zwischen den verschiedenen Weltanschauungen der Nationalökonomie nicht sehr häufig vorkommt, und daß jeder Versuch, über weltanschauliche Grenzen hinweg zu kommunizieren, im wesentlichen ein Versuch ist, W ertsysteme zu verändern. Es dürfte für sie nützlich sein, sich mit der Weltsicht vertraut zu machen, die ihnen am ehesten zusagt - einmal, um sich gegen diese Kommunikationen wehren zu können, und zum anderen, um diese zu verstehen. Aus den gleichen Gründen mag es für sie sogar nützlich sein, sich mit den opponierenden Weltanschauungen vertraut zu machen. Wenn auch mit etwas geringerem Optimismus, allgemeine Aufnahme zu finden, wenden sich diese Arbeit und diese letzten Bemerkungen auch an meine Kollegen, die Fachökonomen.

Buch Eins Die liberale ökonomische Weltsicht

Danksagung Ich möchte allen meinen liberalen Kollegen, früheren wie heutigen, für ihre Hilfe danken. In diesem Buch habe ich · versucht, nicht mehr als das Schreib·werk:uug ihrer Gedanken der ausgesprochenen wie der unausgesprochenen - zu sein.

Erster Teil Die optimale liberale ökonomische Weltsicht

Kapitel 1 Einleitung

Wirtschaftswissenschaftler sprechen nicht gern über Ideologie. Wir halten uns selbst gern für einen pragmatischen Verein, damit beschäftigt, den Zustand der Welt durch das wissenschaftliche Studium ihrer Wirtschaftsprozesse zu verbessern. Vorurteilslosigkeit ist ein wichtiges Attribut für das erfolgreiche Praktizieren dieses Gewerbes, denn wenn man nicht vorurteilslos ist, verpaßt man wahrscheinlich irgendwann einen guten Forschungstip, und in der konkurrenten Atmosphäre der modernen Wirtschaftswissenschaft werden derartige Unterlassungssünden bald von den Kollegen an den Tag gebracht. Wegen dieses Drucks - ganz zu schweigen von der Offenheit unserer Gesellschaft - wird Ideologie nicht als wichtiger, einschränkender Faktor für die Weiterentwicklung der Wissenschaft angesehen. Aber etwas der Ideologie sehr Ähnliches scheint Bestandteil sogar der »harten« Naturwissenschaften zu sein, zumindest nach dem zu urteilen, was wir über die Geschichte dieser Disziplinen wissen. Durch ihre Ausbildung werden die Wissenschaftler leicht alle mit einem Paket forschungsrelevanter Einstellungen ausgestattet, mit der stillschweigenden Überzeugung, daß der eine Forschungsansatz praktikabel ist, der andere dagegen nicht, daß diese Behauptung stimmen kann, während jene Unsinn ist. Selbst relativ solide experimentelle Ergebnisse können unterdrückt, d. h. nicht veröffentlicht werden, wenn sie in direktem Gegensatz zu Ansichten stehen, von denen man fest überzeugt ist. Gelingt es der Nationalökonomie tatsächlich, einem derartigen Erstarren des Gruppengeistes nicht zu verfallen? Ich glaube nicht; auch ist es nicht im geringsten plausibel, daß eine politikorientierte Disziplin sich solchen Einflüssen entziehen könnte. Die Ereignisse der jüngsten Zeit und insbesondere das Aufflackern des ideologischen Kampfes während der sechziger Jahre haben uns mit allem Nachdruck gezeigt, welche Gewalt die Ideologie über unseren Geist besitzt. Und es ist schließlich weithin akzeptiert worden, daß vor allem in den USA der Liberalismus das ideologische Herz des Glaubenssystems ist, an dem die überwältigende Mehrheit der praktizierenden Nationalökonomen festhält. Doch dieses unter vielen Ökonomen neu erwachende Selbstbewußtsein kommt zur gleichen Zeit, in der unter den Intellektuellen allgemein die Über-

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zeugung wächst, daß der Liberalismus als Glaubensbekenntnis dem Tode geweiht ist. Die Ökonomen scheinen relativ schlecht dafür gewappnet zu sein, mit diesem Phänomen fertigzuwerden. Da sie die Ideologie nicht allzu ernst nehmen, haben sie keine sehr deutliche Verteidigung gegen eine solche Herausforderung entwickelt. Und Außenseiter sind nicht gut dafür gerüstet, sich mit den spezifischen Anschuldigungen gegen die wirtschaftliche Seite des Liberalismus auseinanderzusetzen, da sie definitionsgemäß kein fachmännisches Verständnis besitzen für das, was die Wirtschaftswissenschaft in Bewegung hält. Die Ökonomen reagieren in zunehmendem Maße damit, die Köpfe noch ein bißchen tiefer in den Sand zu stecken, was einen zunehmenden Mangel an Flexibilität zur Folge hat, einen Mangel, der in der Tat für die weitere Lebensfähigkeit in einer sich verändernden Welt eine ernste Bedrohung darstellt. Das Buch Eins ist ein Versuch, in konstruktiver Weise auf diese Situation zu antworten. Es ist meine Überzeugung, daß die liberale ökonomische Weltsicht für Ökonomen und Studenten der Wirtschaftswissenschaft immer noch ein durchdachtes und plausibles ideologisches Rüstzeug ist. Ich habe mich bemüht, diese Behauptung zu untermauern, indem ich eine gedrängte Darstellung jener Ideologie gebe, und zwar in Form einer Interpretation der Funktionsweise der zeitgenössischen Welt in jenen Bereichen, in denen die Zuteilung von Mitteln eine wichtige Überlegung darstellt. Diese Darstellung nimmt Teil I ein, »Die optimale liberale ökonomische Weltsicht«. Ich nehme an, der Leser von Teil 1 wird mit mir darin übereinstimmen, daß diese Weltsicht nicht so sehr zu verachten ist, nicht so sehr der Berührung mit der heutigen Wirklichkeit entbehrt, als daß man sie ohne Diskussion abtun könnte. Allerdings mag der Leser meinen, diese Weltsicht sei zwar im großen und ganzen akzeptabel, sie bedürfe in einigen Teilen jedoch der Revision. In derTat gibt es eine Reihe von Varianten der liberalen Wirtschaftsideologie, die in unseren Tagen von Autoren verfochten werden, deren liberale Grundeinstellung ohne Zweifel ist. Mehrere dieser Alternativen werden in Teil II diskutiert. Dabei wird erklärt, unter welchem Gesichtspunkt ich die einzelnen Themen von Teil I ausgewählt habe, und warum ich glaube, daß Teil I wirklich die optimale liberale ökonomische Weltsicht enthält. Einige Leser werden den Liberalismus bereits zugunsten einer anderen Ideologie abgelehnt haben. Für diese Leser soll das vorliegende Buch eine Herausforderung sein. Ich hoffe, sie davon überzeugen zu können, daß der Liberalismus eine ernstzunehmende Interpretation unserer heutigen Welt ist. Ich hoffe weiter, sie werden ihn ernst genug nehmen, um ihn der optimalen Version ihrer eigenen Weltanschauung gegenüberzustellen und um bewußt die Stärken und Schwächen jeder der beiden Weltsichten gegeneinander abzuwägen. Vielleicht ergeben sich aus weiterer Forschungsarbeit Kriterien, die wirklich dazu benutzt werden können, einige der Differenzen beizulegen. Doch man sollte nicht vergessen, daß sich meiner Überzeugung nach ebenfalls genauso lebensfähige und einleuchtende radikale und konservative ökonomische Weltsichten konstruieren lassen, um die zeitgenössische Welt zu erklären.

Einleitung

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Lange bevor der Leser am Ende dieses Buches anlangt, wird er dessen unwissenschaftlichen Charakter bemerkt haben. Es enthält keine ernsthaften Bemühungen, den Nachweis für die Richtigkeit empirischer Behauptungen zu erbringen oder Lehrsätze zu beweisen. Darüber hinaus bleibt die Sprache etwas unter dem Niveau der wissenschaftlichen Literatur; tatsächlich ist es ziemlich offenkundig, daß wir der liberalen ökonomischen Weltsicht einige Schritte entgegenkommen. Ich fühle mich nicht ganz wohl dabei, wenn ich mich dieser Methode bediene, allerdings noch wohl genug, um keine andere Art der Darstellung zu wählen. Das Problem ergibt sich zum Teil aus den Feststellungen, die wir hier treffen. Sie lassen sich größtenteils nicht anhand der Kriterien der zeitgenössischen angewandten Wirtschaftswissenschaft beurteilen. Es sind gewöhnlich allgemeine Feststellungen darüber, wie Unternehmen oder Regierungen oder Familien im großen und ganzen funktionieren und ineinandergreifen. Es sind Aussagen, bei denen es nicht nur unmöglich ist, sie an gegenwärtigen Daten zu prüfen; oft wissen wir auch nicht einmal, wie wir einen solchen Test im Prinzip anstellen sollten. Doch trotz alledem haben die meisten von uns relativ feste Ansichten über ihre Richtigkeit oder Falschheit, und mit schöner Regelmäßigkeit werden Leute zu der einen oder anderen Auffassung auch weiterhin bekehrt. In den meisten Fällen haben wir es, wenn wir wirtschaftliche W eltanschauungen beschreiben, nicht direkt mit der Wirtschaftswissenschaft zu tun. Offenbar ist es irgendein intuitiver Prozess, der den verschiedenen Bestandteilen einer Weltanschauung Überzeugungskraft verleiht. Drei Elemente scheinen von zentraler Bedeutung zu sein. Einmal werden jene in unserem Innern vorhandenen Ansichten angesprochen, die uns unsere Erfahrungen, die unmittelbaren wie auch die durch Eltern, Schule, usw. vermittelten, eingepflanzt haben. Scheint eine Aussage ohne entscheidenden wissenschaftlichen Beweis auf dieser Grundlage gerechtfertigt, so sind wir von vorneherein dazu bereit, sie zu akzeptieren. Zweitens ist da die Frage der allgemeinen Vereinbarkeit der Bestandteile. Wenn eine Version eines Kapitels der liberalen Darstellung leichter in die Darstellung als Ganzes einzupassen zu sein scheint als eine andere, so sind wir eher geneigt, die erstere zu akzeptieren. Und schließlich ist da noch die Frage, was wir mit der Gesellschaft anfangen wollen. Von der allgemeinen Orientierung unserer Politik ausgehend, arbeiten wir uns sozusagen rückwärts vor und neigen dazu, diejenige Version zu akzeptieren, die uns am ehesten dabei hilft, die »Störenfriede« rauszuwerfen - verfechten also am nachdrücklichsten die Maßnahmen, die wir bereits zuvor für die wünschenswertesten hielten. Keine sehr wissenschaftliche Grundlage für die Entscheidungsfindung! Andererseits ist sie jedoch keineswegs willkürlich, denn jede dieser Überlegungen ist in der Tat eine positive Empfehlung zugunsten der bevorzugten Alternative. Berücksichtigt man die Natur des erörterten Gegenstandes, so scheinen dies die besten gegenwärtig verfügbaren Werkzeuge zu sein. Doch wenn dies wirklich der Fall ist, warum akzeptieren wir dann nicht die Verschwommenheit, den inhärent unwissenschaftlichen Charakter des Gegen-

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Standes Weltanschauung, lassen ihn als großenteils implizit gelten und kehren zur ernsthaften Wirtschaftswissenschaft zurück? Die Antwort liegt zum Teil in der bereits erwähnten Herausforderung, der sich der Liberalismus im Moment ausgesetzt sieht, den sich rasch entwickelnden, von Radikalen und Konservativen vorgebrachten Weltanschauungen. Weltanschauungen haben sich als gewaltig überzeugende Werkzeuge erwiesen. Ein Liberalismus, der sich weigert, sich dieses Werkzeugs zu bedienen, schadet seiner eigenen Sache. In einer Zeit der Herausforderung könnte eine derartig fortgesetzte Naivität katastrophal sein. Zweitens ist es möglich, daß implizite Weltsichten keine optimalen Weltsichten sind. Da mehrere Versionen des Liberalismus im Umlauf sind, besteht eine gewisse Auswahlmöglichkeit. Und wenn die Wahl nicht mit Überlegung, d. h. explizit, getroffen wird, so besteht die Möglichkeit einer ineffizienten Wahl und eines daraus resultierenden unnötigen Verlustes an Vertrauen in den Liberalismus. Aber vielleicht das beste Argument dafür, Weltanschauungen ernstzunehmen, ist, daß sie den Lauf der Volkswirtschaft als Wissenschaft beeinflussen. In den Lehrkörper einer wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät aufgenommen zu werden, ist ein bißchen so, als würde man in einen Club aufgenommen: Unter den Qualifikationen des Kandidaten wird der Vereinbarkeit mit den anderen Angehörigen der Fakultät ein nicht geringes Gewicht beigemessen, und eine einzige schwarze Wahlkugel, die vun einem einflußreichen und auf dem Gebiet des Kandidaten kompetenten Fakultätsangehörigen in die Urne getan wird, reicht wahrscheinlich aus, um die Ernennung null und nichtig zu machen. Wenn solche Fakultäten bereits überwiegend liberal sind, so gibt es einigen Grund zu der Annahme, daß die Auswahlverfahren dazu tendieren werden, sie so bleiben zu lassen. Weitgehend das gleiche dürfte für die Themen gelten, die von den Ökonomen für Studium und Forschung ausgewählt werden. Wenn sie keine »liberale« Struktur besitzen, werden sie vielleicht nicht ernst genommen. Die liberale Ideologie in der Volkswirtschaft liefert eine wesentliche Rechtfertigung für ein zumindest begrenztes Fortbestehen dieser liberalen Voreingenommenheit. Im Grunde lautet das Argument, die Wirtschaftswissenschaft sei einfach deshalb eine produktivere Wissenschaft, weil sie von der liberalen ökonomischen Weltsicht beherrscht ist. Der Grund dafür ist wiederum, daß das liberale Gerüst die Aufteilung großer Fragen in einzelne Probleme begünstigt dergestalt, daß sie mit den Werkzeugen der Wirtschaftswissenschaft am leichtesten behandelt werden können. Aber ein solches Vorgehen braucht zweifellos seine Verteidigung. Die Struktur der Wissenschaft sollte nicht durch implizite und unausgesprochene Vorstellungen, welcher Kandidat oder welches Thema für den Beruf am nützlichsten ist, bestimmt werden; denn ein solches unkontrolliertes Vorgehen kann zu einem Vorwand für die Verwendung subjektiver Erwägungen oder solcher, die mit dem Beruf nichts zu tun haben (beispielsweise ethnische Zugehörigkeit oder Geschlecht) als dem effektiven Kriterium werden. Dieses Buch ist zum Teil eine solche Verteidigung.

Kapitel 2 Was ist Liberalismus?

Wir scheinen in einem Zeitalter von Kassandras zu leben. Von allen Seiten wird der zeitgenössischen Gesellschaft das Ende vorausgesagt. Von links wird behauptet, die Ausbeutung der unteren Klassen, Rassismus, Sexismus und Imperialismus seien alle das Produkt der kapitalistischen Gesellschaft, und das eine könne nur durch den Tod des anderen beseitigt werden. Von rechts hören wir, das »Big Government« entwickele sich allmählich zum »Big ßrother«, und wir müßten zu älteren und einfacheren Lebensweisen zurückkehren, andernfalls wären wir ;ur Sklaverei verurteilt. Und selbst vom Zentrum her bekommt unsere Gesellschaft von schockierten Umweltschützern, erschreckten Verfechtern eines Nullwachstums und dergleichen, deren W eltuntergangsvoraussagen über den heutigen Kapitalismus nicht weniger kataklysmisch sind, die Leviten gelesen. Dies ist ein ziemlich sonderbarer Zustand. Tatsache ist nämlich, daß die praktischen, zentristischen Methoden des zeitgenössischen Liberalismus nicht nur seit zwei oder drei Jahrzehnten das Gros westlicher Politik bestimmen, sondern auch ein noch nie dagewesenes Register von Erfolgen aufzuweisen haben. Die Ära nach dem Zweiten Weltkrieg hat uns die schwerste Reihe von Prüfungen auferlegt, mit der die menschliche Gesellschaft jemals zuvor konfrontiert worden ist. Das Vermeiden eines Atomkriegs, die Entkolonisierung, Modernisierung, die Rückkehr zu Überfluß und Wachstum in Europa und den USA nach den wirtschaftlichen Debakeln der Zwischenkriegsperiode: Diese Herausforderungen sind erkannt und bestanden worden, und zwar mit einer Meisterschaft, der kein anderes Zeitalter in der Geschichte gleichkommt. Außerdem gibt es keinen Grund zu der Annahme, die Methoden, welche dieses Ergebnis hervorgebracht haben, würden bei der Auseinandersetzung mit den Problemen, mit denen wir während des Restes des Jahrhunderts konfrontiert sein werden, nicht ebenfalls funktionieren. Wie konnte sich eine derart große Disparität zwischen dem, was tatsächlich vor sich geht, und dem, was die Intellektuellen darüber zu sagen haben, herausbilden? Zweifelsohne gibt es viele Gründe, z.B. die starke Tendenz der westlichen Intellektuellen, sich als Außenseiter einer spießbürgerlichen Gesellschaft zu verstehen. Aber ein wichtigerer Grund mag sein, daß gerade der Erfolg

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des zeitgenössischen Liberalismus dazu geführt hat, seine Verfechter schweigen zu lassen. Etwas zu tun, an der Lösung realer Weltprobleme teilzuhaben, ist gewöhnlich viel verlockender als das bloße Schreiben darüber. Und jenen, die daran beteiligt sind, wird bald klar, daß sie mit ihren Kollegen ein grundlegendes Wertsystem gemeinsam haben. Es gibt keine Notwendigkeit, die Grundprinzipien noch einmal zu rekapitulieren, denn sie sind nicht problematisch. 1 So ergibt sich die Tendenz, die zentrale liberale Anschauung nicht zu verfechten, gerade durch ihre große Stärke als einer Interpretation der Art und Weise, wie die Welt funktioniert. Statt dessen richten sich die Bemühungen auf Detailprobleme, deren Lösungen, aufeinandergestapelt, diese erstaunliche Leistung hervorgebracht haben. Der Liberalismus heute ist zugleich zentristisch und pragmatisch. Er vermeidet die risikoreichen Extremlösungen und bevorzugt solche, die durch ein schrittweises Vorwärtsgehen von der bestehenden Situation aus erreichbar sind. Er ist pragmatisch in dem Sinne, daß nicht irgendeine starre Ideologie die Grundlage des liberalen Handelns bildet, nicht irgendeine idealisierte Utopie, der er zustrebt, um die Welt zu bewegen, sondern ein fortwährender Wunsch, die Dinge ein bißchen besser zu machen als sie sind. Das bedeutet jedoch nicht, daß keine Theorie existiert, kein Komplex von Werten, der den liberalen Standpunkt prägt. Weit gefehlt. In Wirklichkeit hat sich die liberale Anschauung aus einer jahrhundertealten Tradition entwickelt, die im 18. Jahrhundert erstmals in ausgereifter Form auftrat. Ihre Geschichte stimmt annähernd überein mit der Entstehungsgeschichte der modernen Welt und der Festlegung individueller Grundfreiheiten durch fundamentale Einschränkungen der Staatstätigkeit. Die Doktrin hat sich im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte weiterentwickelt. Einige Bereiche werden heute besser verstanden, insbesondere jene, die mit der Wirtschaft zu tun haben. In anderen Bereichen jedoch, zum Beispiel der Natur des Menschen, hat es wahrscheinlich kaum Änderungen gegeben. Der Grund dafür ist nicht, daß der Liberalismus hinter der Zeit zurückgeblieben wäre, sondern vielmehr, daß die großen Denker des Liberalismus eine solide und brauchbare Ansicht darüber gehabt zu haben scheinen, wie die menschliche Natur beschaffen ist. Wir beschäftigen uns hier jedoch nicht mit dem 18. Jahrhundert oder mit Locke, Berkeley, Hume, Bentham, Smith, Mill und den übrigen Vertretern dieser langen und hervorragenden Denktradition. Unser Ziel ist zu zeigen, wie der Liberalismus das Funktionieren der modernen Welt erklärt, vor allem in den ökonomischen Bereichen. Statt mit der Philosophie, beginnen wir unsere Darstellung des Liberalismus also mit vier Fragen. Diese Fragen und die Antworten, die wir darauf geben, sollen einen kurzen Überblick vermitteln, wie ein liberaler Ökonom die Welt um sich herum und seinen Platz in jener Welt sieht.

Was ist Liberalismus?

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Vier liberale Fragen und Antworten 1. Wo in der heutigen Welt finden wir die liberalen Ideen am ehesten praktisch verkörpert? Die liberale Antwort auf diese Frage ist eindeutig: Wir finden die beste praktische Verkörperung der liberalen Ideen in den westlichen Industrieländern, insbesondere den Vereinigten Staaten und Westeuropa. Die Meinungen darüber, welches unter diesen Ländern in irgendeinem umfassenden Sinn das beste von allen ist, mögen auseinandergehen, aber es kann keinen Zweifel daran geben, daß der Liberalismus in jenen Ländern am aktivsten praktiziert wird. Wir finden ihn zuerst und am auffallendsten im Reichtum dieser Gesellschaften manifestiert. Dieser Reichtum ist nicht das Produkt des bloßen Zufalls, sondern einer Bevölkerung, die über einen Zeitraum von Generationen hinweg ihre Chancen durch harte und schöpferische Arbeit zu ihrem Vorteil genutzt hat. Ebenso wenig ist der Reichtum auf einige wenige, sehr reiche Familien beschränkt. Sein auffälligstes und in der Geschichte einmaliges Merkmal ist, daß selbst die mittlere oder typische Familie über Mittel verfügt, die weit über das hinausgehen, was zur bloßen Subsistenz notwendig ist, und es besteht eine vernünftige Sicherheit, daß einer Familie ihr gegebener Anteil am Kuchen nicht plötzlich und willkürlich entrissen wird. Eine zweite praktische Verkörperung liberaler Ideen liegt in der Offenheit dieser Gesellschaften. Wieder einmal: Nirgendwo sonst in der modernen Welt kann mau Gesellschaften finden, in denen die Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Nonkonformisten ebensogroß ist wie hier. Auch dies ist kein Zufall, kein Geschenk irgendeines großen Führers, sondern das Resultat von Generationen des Kampfes, und die Toleranz ist infolgedessen tief in den Werten der meisten dieser Gesellschaften (insbesondere der USA und Großbritanniens) verwurzelt. Eine dritte zentrale Verkörperung liberaler Werte liegt in der Bedeutung der Wohlfahrt in diesen Gesellschaften. In jeder von ihnen unternimmt die Regierung massive Anstrengungen, um ihren Bürgern Sicherheit zu geben, Sicherheit gegen Hunger, vermeidbare Krankheit und Tod, Sicherheit gegen einen erheblichen Einkommensverlust und gegen massive Arbeitslosigkeit. Diese Anstrengungen sind weitgehend ein Produkt des 20. Jahrhunderts, und sie sind keineswegs in· allen diesen Gesellschaften perfekt. Wieder haben sie jedoch, da sie über Jahrzehnte hinweg in einer Reihe politischer Kämpfe errungen wurden, ihre Wurzeln tief in das Bewußtsein der Völker dieser Länder gesenkt. Es gibt noch eine Reihe anderer Aspekte dieser Gesellschaften, die erwähnenswert sind, aber Reichtum, Offenheit und Wohlfahrt sind die Großen Dreidie Faktoren, die zusammengenommen diese Gesellschaften von allen anderen unterscheiden und die die Ideale des zeitgenössischen Liberalismus am zentralsten vPrk0roern.

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2. Wie können diese Gesellschaften weiter verbessert werden? Die liberale Antwort auf diese Frage ist: Indem wir von dort ausgehen, wo wir stehen, vom status quo, und versuchen, die Dinge hier und da ein bißchen besser zu machen; und indem wir unsere Aufmerksamkeit vor allem auf jene Bereiche konzentrieren, wo die Produktivität der Anstrengung wahrscheinlich am größten sein wird. Die laufende Praxis ist der geeignete Ausgangspunkt, nicht irgendeine utopische Vision, denn die Liberalen sind pragmatisch und mißtrauen denen, die behaupten, sie besäßen die Zauberformel für die Beseitigung der Probleme der Welt. Das schrittweise Herangehen wird vorgezogen, weil es, wiederum, die pragmatische Methode ist; weil es die kleinen Probleme sind, bei denen wir wahrscheinlich wissen, wie sie zu mildern sind. Und über einen längeren Zeitraum kann eine Reihe derartiger kleiner Erfolge sich zu einer ziemlich dramatischen Veränderung summieren. Es gibt kein besseres Beispiel dafür als den wirtschaftlichen Wachstumsprozeß selbst, der im wesentlichen darin bestanden hat, unserer Produktionskapazität hier ein bißchen hinzuzufügen und dort ein bißchen, Jahr für Jahr, bis unsere Wirtschaft unwiederkennbar reicher geworden ist als sie es noch vor nur wenigen Jahrzehnten war. Und schließlich gründet sich die Betonung der Produktivität der Verbesserungsanstrengungen auf die Einsicht, daß Verbesserungen teuer sind, so teuer in der Tat, daß wir nicht viel davon auf einmal tun können. Daraus folgt ziemlich unmittelbar, daß das dringende Problem, welches wir nicht lösen können, zurückzustehen hat hinter den vielen kleinen Problemen, die zu lösen wir imstande sind (oder vielleicht, dringende und schwer zu behandelnde Probleme in eine Reihe kleiner Probleme zu zerlegen, um dann mit einigen fertigwerden zu können). 3. Was genau sollten wir als nächstes tun? Die liberale Antwort hier lautet: Die richtige Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Die Menschen sind

zwangsläufig untereinander uneins darüber, was als nächstes getan werden sollte, mit welcher Priorität, und welche Menge an Mitteln für die Anstrengung zugeteilt werden sollte. Das deshalb, weil wir Menschen unterschiedliche Lebenserfahrungen haben, unterschiedliche Wünsche und Bedürfnisse. Projizieren wir diese auf die Gesellschaft, so erhalten wir verschiedene Bilder davon, wo am notwendigsten etwas zu tun ist. Daher ist der Liberale der Ansicht, daß die Kontroverse darüber, was getan werden sollte und was gegenwärtig gerade getan wird, ein Zeichen des Erfolges einer Gesellschaft ist, nicht ihres Versagens, ein Hinweis darauf, daß die Wünsche echten politischen Ausdruck finden. Die Funktion der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Institutionen einer liberalen Gesellschaft besteht darin, diesen Konflikt zu zügeln und in relativ produktive Kanäle zu lenken. Eine wichtige Aufgabe, die diese Institutionen erfüllen können, ist die Ausschaltung derjenigen Vorschläge, deren Verfolgung sich nach übereinstimmender Meinung fast aller nicht lohnt, und den Konflikt auf jene Differenzen zu beschränken, die die Konfrontation mit den bekannten Fakten zu überstehen imstande sind. Noch

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etwas anderes können die Institutionen tun: Sie können dafür sorgen, daß die meisten Menschen zumindest etwas von dem bekommen, was sie wollen; dies ergibt sich aus der einfachen Anerkennung der Tatsache, daß die Wahrheit nicht von einem einzigen Teil der Gesellschaft gepachtet ist. Natürlich gibt es gewisse allgemeine Pläne für notwendige soziale Veränderungen, über die die Liberalen einer Meinung sein können. In den USA besteht gegenwärtig unter ihnen allgemeines Einverständnis beispielsweise darüber, daß die Inflation zu groß ist, daß es zu viel Arbeitslosigkeit, Diskriminierung und Verbrechen gibt. Diese Übereinstimmung dient dazu, die Suche nach Lösungen in die richtige allgemeine Richtung auszurichten. Aber die ernsthafte Suche nach praktikablen Maßnahmen bringt uns unverzüglich in umstrittene Bereiche: Sollte man der Wirtschaft mehr Anreize in Form von Staatsausgaben geben? Sollte die negative Einkommensteuer eingeführt werden, und wenn ja, in welcher Höhe? Je näher man den tatsächlichen, anzuwendenden Maßnahmen kommt, um so deutlicher treten die Meinungsdifferenzen zutage. Aber das ist die relevante Ebene, wenn man ernstlich am sozialen Wandel interessiert ist.

4. Ist das, was wir gerade die liberale Antwort auf die oben gestellten drei Fragen genannt haben, nicht die einzige vernünftige Betrachtungsweise sozialer Probleme? Nach den Erwiderungen einer Reihe meiner Studenten zu urteilen, argwöhne ich, viele Leser werden meinen, die korrekte Antwort auf diese Frage sei »ja«, alle vernünftigen Leute wollten diese Dinge und betrachteten die soziale Welt auf diese Weise. Aber das ist nicht der Fall. Solche Leute, behaupte ich, sind die Monsieur Jourdains des Liberalismus, die ihr ganzes Leben lang liberale Prosa geredet haben, ohne es zu wissen. Es gibt viele Leute, die handeln, reden und schreiben, als ob sie mit dieser liberalen Anschauung nicht übereinstimmten. Nehmen wir zuerst den liberalistischen Konservativen. Er neigt dazu, der zeitgenössischen kapitalistischen Gesellschaft mit ihrem großen Regierungsapparat und dessen beständigem Eingreifen in das Leben der Menschen, der bloßen Vorstellung, eine im wesentlichen Zwang ausübende Regierung könne dem Volk »Wohlfahrt« bringen, mit Entsetzen zu begegnen. Der heutige Kapitalismus ist einfach nicht die Gesellschaft, die ihm als Modell vorschwebt. Er neigt auch zu der Überzeugung, die zweite oben gestellte Frage sei ganz und gar falsch gestellt, man könne in der Vorstellung einer Gesellschaftsverbesserung keinen Sinn entdecken. Für ihn ist die Gesellschaft eine Ansammlung von Individuen, und diese haben unterschiedliche Wünsche. Eine Regierungspolitik führt typischerweise dazu, daß es einigen besser geht und anderen schlechter, und so etwas wie ein Bilanzziehen gibt es nicht; das impliziert, wie er sagen würde, daß eine Gesellschaft eine Art Organismus ist, der über die Individuen, aus denen er sich zusammensetzt, hinausreicht. Betrachten wir als nächstes den Radikalen. Er ist über unsere pragmatischen Modelle mindestens ebenso entsetzt wie der Konservative. Er ist davon überzeugt, daß Reichtum. ein fauler Zauber ist, der ein schweres Unbehagen

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überdeckt, daß die Regierungen diese Gesellschaften zum Nutzen einer winzigen Minderheit der Bevölkerung »betreiben«, so daß auch Wohlfahrt ein fauler Zauber ist. Er hält auch Offenheit und Konflikt in diesen Gesellschaften für eine oberflächliche Manifestation eines grundlegenden Leidens, nämlich der Entfremdung, die nur durch eine dramatische Umgestaltung der gesellschaftlichen Struktur beseitigt werden kann. Und in seiner Vision dieser umgestalteten Gesellschaft wird auch der Konflikt umgestaltet in eine »dialektische Wechselwirkung nicht-antagonistischer Widersprüche« oder so etwas Ähnliches. Nein, unsere Antworten sind tatsächlich liberale Antworten, die sich grundlegend von denen unterscheiden lassen, die die anderen, in der heutigen Welt bestehenden Ideologien anzubieten haben. Tatsächlich sind möglicherweise auch die Fragen liberal, neigen sie dazu, die Problemstellung auf eine Weise zu formulieren, die der liberalen Ausrichtung entgegenkommt und sie offenbart. Auch dies sei eingeräumt; die gleiche liberale Orientierung, die die Fragen gestaltete, wird beibehalten werden, wenn wir die Struktur der zeitgenössischen weltpolitischen Wirtschaft in den nächsten Kapiteln ein wenig genauer ansehen.

Kapitel 3 Wohlstandskapitalismus: Einige Grundfakten

Nehmen wir einmal an, wir reigen ungeheuer viele Leute, einige Millionen Leute, aus ihren traditionellen oder zumindest gewohnten Wohnorten auf dem Land und in Kleinstädten heraus und pferchen sie in großen, dichtgedrängten Städten zusammen. Dann konfrontieren wir sie durch tägliche Kontakte und neu erdachte Kommunikationsmittel mit der breiten Skala unterschiedlichen Wohlstandes der. angestammten Bürgerschaft dieser Städte im Vergleich zu unserer Gruppe, von der sich die meisten ziemlich am unteren Ende der sozialen Pyramide befinden. Man erkläre ihnen, es gäbe nicht so viele Güter und Dienstleistungen, daß es für alle reicht, und es hinge im wesentlichen von ihnen selbst ab, so vif.l wif. nur irgf.ncl möglic.h von clf.m Kuc.hf.n 7.u hekommen; überdies werde ungesetzliches Verhalten zwar bedauert, von dem Justizwesen jedoch nicht eigentlich sehr erfolgreich verhindert. Es besteht kein Zweifel daran, daß eine derartige Situation ein Rezept für eine soziale Katastrophe ist, eine Katastrophe, in deren Verlauf das Leben rasch unerträglich, brutal und kurz werden würde. Dennoch war es im wesentlichen genau das, was im 20. Jahrhundert in den USA und meistenteils auch in den anderen reichen Ländern geschehen ist. Und obgleich die modernen Großstädte gewiß keine eintönigen Orte zum Leben sind, ist das Niveau der Gewalt, gemessen an historischen und anderen Vergleichsmaßstäben, tatsächlich relativ niedrig; zahlenmäßig erreichte es beispielsweise nicht einmal die Größenordnung der Verkehrstoten. Und wenn auch Raub und andere Formen ungesetzlicher Eigentumsberaubung häufig genug vorkommen, so ist der Besitz des Großstadtbewohners von solchen Handlungen nur selten dramatisch und dauerhaft betroffen. Die Katastrophe fand nicht statt. Warum nicht? Nun, das zentrale Faktum des 20. Jahrhunderts war die Entstehung des Überflußkapitalismus als dominierende Form der gesellschaftlichen Organisation von Nationen. Dies ist eine neue Gesellschaftsform, für die es in früheren Zeiten kein wirkliches Gegenstück gibt, und die in ihrem eigenen Zeitalter die Melodie angibt, zu der die anderen tanzen. Es besteht daher einiger Grund zu der Annahme, daß ihr Entstehen zu erklären hilft, warum das Unheil, das hätte eintreten sollen, nicht eingetreten ist.

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Dieses Kapitel beschreibt einige Grundzüge dieser relativ jungen Gesellschaftsform. Um zu zeigen, wie dramatisch die Veränderung gewesen ist, vergleichen wir ziemlich weit auseinander liegende Zeitpunkte miteinander, nämlich die Jahrhundertwende und die Gegenwart; aus demselben Grunde konzentriert sich unser Vergleich auf jenes Land, das den Archetypus des Wohlstandskapitalismus darstellt, die USA. Doch die USA sind nicht das einzige derartige Land. Es gibt wenigstens fünfzehn Länder, die ebenfalls so eingestuft werden können. Wir werden in diesem Kapitel später noch einige wichtige Aspekte betrachten, in denen alle diese Länder ähnlich sind, und einige der Gründe anführen, warum das so ist.

Die Vereinigten Staaten damals und heute Konsum und Freizeit Seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat sich das Sozialprodukt pro Kopf in den USA etwa vervierfacht. Dies läßt vermuten, daß wir wälm:nJ der Jahrzehnte, die seitdem vergangen sind, das Zeitalter des Überflusses betreten haben. Doch diese Zahl ist, wie so oft, ein wenig irreführend. Der ProKopf Konsum von Grundgütern wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft ist weniger als halb soviel gestiegen. Bereits in den neunziger Jahren hatte der Durchschnittsamerikaner eine Menge Fleisch in seiner Kost, war ziemlich behaglich untergebracht und warm, wenn nicht sogar modisch gekleidet. In diesem Sinne war der Wohlstand bereits erreicht. 2 Die grundlegenden Veränderungen in der wirtschaftlichen Situation der amerikanischen Familie waren Veränderungen in der Qualität und nicht in der Quantität. Besondere Bedeutung kommt unter diesen qualitativen Veränderungen zweifellos der vermehrten Freizeit zu. Die durchschnittliche Arbeitswoche hat sich um etwa ein Drittel verringert. Die Kinderarbeit ist praktisch abgeschafft. Obwohl der Anteil der Frauen an der Beschäftigtenzahl seit dem Zweiten Weltkrieg dramatisch zugenommen hat, führte in den neunziger Jahren noch die Mehrheit der amerikanischen Ehefrauen ein tatkräftiges und äußerst produktives Leben als Farmersfrauen. Wahrscheinlich sind auch die Arbeitsanforderungen heute für Männer wie für Frauen viel weniger körperlich erschöpfend als in der Vergangenheit. So haben die erwachsenen Amerikaner alles in allem zusätzliche 10 oder 15 Stunden pro Woche an arbeitsfreier Zeit gewonnen; außerdem verbleiben ihnen mehr Energien, die sie während dieser Zeit einsetzen können. Natürlich hat auch die Versorgung der Familien mit Gütern und Leistungen drastisch, wenn auch ziemlich selektiv, zugenommen. Haushaltsgeräte haben sich stark auf die Hausarbeit ausgewirkt. Kino, Radio und Fernsehen haben eine ganz neue und wichtige Form der Unterhaltung geschaffen, während gleichzeitig damit verwandte, aber mehr traditionelle Formen - wie Vorträge

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besuchen und lesen - ebenfalls zugenommen haben. Güterintensive Freizeitbeschäftigungel'l: wie Boot- und Skifahren, Bowling und Reisen, sind in phänomenaler Weise angestiegen. Offenbar bedeutete der wachsende Wohlstand eine erhebliche Verschiebung in den relativen Familienausgaben weg von den Grundgütern (die bereits um die Jahrhundertwende weitgehend gekauft wurden) hin zu Posten, die, obschon keine Notwendigkeiten, inzwischen ebenfalls als wesentliche Merkmale des guten Lebens angesehen werden. In fast jedem Konsumbereich haben bedeutende technologische Veränderungen stattgefunden, die sich sowohl auf die Qualität des Gutes als auch auf seine relative Knappheit auswirken. Natürlich gehen nicht alle Qualitätsveränderungen ganz und gar in die richtige Richtung. Zum Beispiel hat der technische Wandel in Landwirtschaft und Nahrungsmittelverteilung die Saison für viele frische Obstsorten stark verlängert und sie einem viel weiteren Markt zugänglich gemacht. Aber die Verfügbarkeit von am Baum gereiften Früchten für die Bevölkerung hat tatsächlich abgenommen, zum Teil infolge der Verstädterung und zum Teil wegen des spezifischen Charakters dieser technischen Veränderungen. Es gibt heute Leute - wenn auch eine ziemlich kleine Minderheit -, die behaupten, sie zögen wegen dieser negativen Veränderungen in der Qualität die einfachere und ärmere Situation von vor achtzig Jahren vor. De facto lassen sich solche Wünsche heute immer noch in beträchtlichem Ausmaß in die Wirklichkeit umsetzen, aber dies ist zweifellos keine Massenbewegung. Eine der wahrhaft fundamentalen Konsequenzen des starken Produktionsanstiegs von Gütern und Dienstleistungen war die gewaltige Ausdehnung der dem zeitgenössischen Individuum angebotenen Auswahlmöglichkeiten verglichen mit denen vor achtzig Jahren. Nicht nur, daß der einzelne sich dafür entscheiden kann, zur Subsistenzwirtschaft zurückzukehren, er kann sich auch entschließen, seine Mahlzeiten als Fertig- und Tiefkühlkost zu kaufen und mit, sagen wir einmal, chinesischem Bier hinunterzuspülen, während er einem Gleitflug im Fernsehen zuschaut. Oder er kann, einer momentanen Eingebung folgend, wahrscheinlich nur wenige Kilometer von seiner Wohnung entfernt die Zutaten finden, die er zur Zubereitung eines kompletten Diners der haute cuisine braucht, das dann am selben Tag verzehrt werden muß. Allein auf dem Gebiet der Ernährung gibt es Zehntausende deutlich verschiedener Mahlzeiten, die dem Verbraucher auf den leisesten Wink fast unverzüglich zur Verfügung stehen. Man vergleiche diese Situation mit derjenigen der bäuerlichen, als der für die Jahrhundertwende typischen amerikanischen Familie. Und natürlich gibt es dieses Spektrum von Auswahlmöglichkeiten auch in den meisten anderen Lebensbereichen einschließlich jener, für die es in früheren Zeiten kein Gegenstück gab, z.B. der gerade erwähnte Gleitflug. Es mag sein, daß, sobald erst einmal die für das Überleben notwendigen Bedürfnisse befriedigt sind, eine bedeutungsvolle Zunahme in den dem Individuum gebotenen Auswahlmöglichkeiten fast dasselbe ist wie eine Zunahme seines Wohlstandes. Aber die Zunahme der Auswahlmöglichkeiten hat ihren Preis: Man ist gezwungen, jene Entscheidungen zu treffen. Das mag so aussehen, als sei es eine

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banale Sache, das ist es aber nicht. Es erfordert eine Menge Anstrengung und ein gewisses Experimentieren, bis ein Individuum herausgefunden hat, welche Güter oder Tätigkeiten einer speziellen Angebotskategorie ihm am meisten liegen. Das sind Zeit und Energien, die von jenem Zuwachs an Muße abgehen, zumindest in dem Maße, wie die Suche an sich keine vergnügliche Tätigkeit, sondern lediglich ein Mittel zum Zweck des Genießens der Freizeit ist. Das Überhandnehmen enthusiastischer Zeitschriften für Photographen, Skiläufer, Wellenreiter, für die Benutzer von Hifi-Anlagen und dergleichen, mit ihrer Hervorhebung der Gebrauchseigenschaften relevanter Produkte, legt Zeugnis ab von der Kompliziertheit der Wahl (und auch den Freuden des Auswählens). Das ist besonders auch deshalb richtig, weil derartige Publikationen (obgleich ein wichtiger Teil ihrer Einnahmen aus Werbeeinnahmen besteht) für den Käufer keineswegs billig sind; die Konsumenten komplexer moderner Dienstleistungen sind bereit, dafür zu zahlen, daß jemand ihnen beim Treffen ihrer Wahl hilft. Der Zug von der Kleinstadt in die Großstadt hat ebenfalls wesentlich dazu beigetragen, die Komplexität der Wahl zu vergrößern. Erst die Volkszählung von 1920 wies aus, daß mehr als die Hälfte der Amerikaner in Städten lebten statt auf Farmen; inzwischen ist fast jeder ein Stadtbewohner, entweder tatsächlich oder infolge der Veränderungen, die die Umwälzungen im Transport- und Kommunikationswesen im Landleben hervorgebracht haben. Dieser Aufbruch in die Stadt hat in Verbindung mit den technologischen Veränderungen zwei zweifellos dramatische, aber immer noch relativ schwer abzuschätzende Wirkungen gezeitigt. Die erste ist eine sehr starke Zunahme in der Zahl menschlicher Kontakte, die das durchschnittliche Individuum erlebt, und ein ebenso dramatischer Anstieg in der Zahl der verschiedenen Leute, mit denen es in Berührung kommt. Dies geschieht am Arbeitsplatz - wieder einmal im Gegensatz zum Farmleben - und in den Straßen der Stadt sowie durch die Medien, vom Telefon bis hin zum Fernsehen. Es ist gewiß einleuchtend, daß dies eine deutliche Zunahme des »Ausgerichtetseins auf andere« zur Folge hat, der Abhängigkeit individueller Auswahlkriterien vom Verhalten und Einverständnis anderer, insbesondere anderer außerhalb der Familie. Angesichts der großen Ausweitung der Auswahlmöglichkeiten ist dies eventuell eines der Organisationsprinzipien, die die Entscheidungskosten senken. Zuerst geht man skilaufen, weil eine neue Gruppe von Freund~n skilaufen geht und weil die Medien einem einreden, man tue das. Ist man dann aber erst einmal draußen auf dem Hang, so stellt es sich außerdem als etwas heraus, das Spaß macht. Eine zweite wichtige Folge dieser sehr kontaktreichen Umwelt ist die Beeinträchtigung der Umwelt des Individuums durch Lärm, Verschmutzung und dergleichen. Diese Vielzahl von Fakten über Veränderungen in Freizeit und Konsum während der letzten etwa achtzig Jahre enthält ohne Zweifel einen Teil der Antwort auf das zu Beginn dieses Kapitels gestellte Problem. Das Mehr an Freizeit hat dazu geführt, daß die Familien über mehr Zeit verfügen, um die Früchte ihrer Arbeit zu genießen, während die gewaltige Zunahme sowohl des

VVohlstandskapitalisml's: Einige Grnndfaktcn

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frei verfügbaren Einkommens als auch der Dinge, nie man damit tun kr Gesellschaft wi.1rzel11den Krank.htiit. Aus der Ernüchterung über die traditionellen liberalen Ideale, die während der sed1ziger Jahre so weit um sich griff, wird vielleicht sowohl die Einsicht als auch die aktive Rereitsr.h::ifr kommen, dieses unerträgliche Gesellschaftssystem in den historischen Mülleimer zu befördern.

Kapitel 5 Ausbeutung im Monopolkapitalismus

Aus all dem uns zur Verfügung stehenden Material, das Zeugnis von der Geschichte des Menschen ablegt, geht eins hervor: sobald eine Gesellschaft eiueu Überschuß zu produzieren beginnt, werden Versuche unternommen werden, dieses Mehrprodukt von den Produzenten abzuziehen, damit andere es verwenden können. Es scheint natürlich genug, dies Ausbeutung zu nennen. Der Erfolg dieser Versuche ist gewölmlich je nach Zeit, Ort und Ausbeutungsmethode verschieden. Es hat jedoch den Anschein, als bestehe eine allgemeine und starke Tendenz, derzufolge die Abschöpfungsrate rascher zunimmt als die Arbeitsproduktivität; das heißt, je produktiver die Gesellschaften werden, um so weniger profitieren die unmittelbaren Produzenten gewöhnlich von der Verbesserung im Vergleid1 zu denjenigen, denen der abgeschöpfte Überschuß zugeteilt wird. Es ist wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, daß wir von einer weithin beobachteten historischen Tendenz reden, nicht von einer streng deterministischen Theorie. Im Verlauf der gesamten Geschichte haben nicht-ausbeutende Mikrogesellschaften neben ausbeutenden existiert. Einige dieser nicht-ausbeutenden Gesellschaften waren zu arm, um einen signifikanten Überschuß erzeugen zu können. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts suchten die westlichen Shoshonen in Kernfamiliengruppen nach Eicheln und Käfern, die ihre Grundnahrung darstellten. Gelegentlich kamen sie zusammen, um Kaninchen zu jagen oder zu fischen. Zu solchen Zeiten wurde zweifellos häufig ein Überschuß über den lebensnotwendigen Verbrauch erzeugt. Ebenso zweifellos verblieb dieser Überschuß typischerweise bei der Quasi-Gemeinschaft der Produzenten. Relativ niedrige Produktivität oder technische Schwierigkeiten bei der Abschöpfung des Überschusses scheinen die Hauptgründe für das Fortbestehen solcher Gruppen gewesen zu sein; natürlich tragen dieselben Faktoren ai.1ch zi.1r Erklärung ihrer relativ geringen Zahl bei. Bei den Gesellschaften, in denen die Abschöpfung des Mehrprodukts als zentrales Merkmal des sozialen Lebens praktiziert wurde, war der spezielle Abschöpfungsprozeß ebenfalls je nach Zeit und Ort stark verschieden. Dies haben wir schon im 3. Kapitel festgestellt, es wird jedoch wieder relevant, wenn wir einen Blick auf diesen Aspekt des Monopolkapitalismus werfen. Der

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Übergang vom Kapitalismus des 19. Jahrhunderts zum Kapitalismus des 20. Jahrhunderts brachte eine wichtige Veränderung in der Ausbeutungsstruktur mit sich. Die industrielle Revolution bewirkte eine große Veränderung in den Möglichkeiten der Mehrprodukt-Abschöpfung. Die Ausbeutung in Bauerngesellschaften beruhte im wesentlichen auf der von einer herrschenden Klasse ausgeübten Grundherrschaft, doch dieser Prozeß wurde durch die relativ engen Bindungen beeinträchtigt, die gewöhnlich zwischen dem Produzenten selbst und dem Grund und Boden bestanden und sowohl aus kulturellen Überlieferungen als auch aus der Einzigartigkeit der jeweiligen Stücke Land erwuchsen. Mit der industriellen Revolution treten (produzierte) Produktionsmittel als Machtinstrument für die Mehrproduktabschöpfung in den Vordergrund. Doch diese Kapitalgüter sind nicht im gleichen Sinne einzigartig; Maschinen sind häufig gegeneinander austauschbar und fast jede Fabrik ist reproduzierbar. Dadurch wurde es möglich, den Produzenten völlig von jeder lang-andauernden persönlichen Beziehung zu den Hauptproduktionsmitteln, die er zu benutzen hatte, loszulösen. Hieraus entstand das verallgemeinerte System der Lohnarbeit und mit ihm das sogenannte Wertgesetz, ein Begriff, der diesem höchst unpersönlichen System der Mehrproduktabschöpfung einen quantitativen Ausdruck verleiht. Auf die Dauer tendierte das neue Marktsystem dazu, für einen gegebenen Zustand der Produktivkräfte Preise hervorzubringen, die den Arbeitsgehalt der produzierten Güter widerspiegelten. Dies ist eine einfache Konsequenz der langfristigen Reproduzierbarkeit von Gütern, einschließlich Kapitalgütern und Arbeit, und sie bleibt solange gültig, wie keine große Ressourcenerschöpfung eintritt. Die Herrschaft der herrschenden Klasse über die Produktionsmittel erlaubte es jener Klasse, Preis, Lohn und Tauschwert der Arbeit auf einem Niveau zu halten, das grob gesprochen gerade noch mit der Produktivität und dem Ersetzen altgewordener Arbeiter vereinbar war. Der Mehrwert fiel den Kapitalisten dadurch zu, daß sie über die Marktkonkurrenz den Arbeiter zwangen, jeden Tag viel länger zu arbeiten, als nötig war, i.1m den Wert seiner Arbeit zu reproduzieren. Die tatsächliche Rate der Mehrwertabschöpfung mochte von Industrie zu Industrie variieren, der Abschöpfungsprozeß jedoch wurde von diesen selben unpersönlichen Faktoren regiert, die unter dem primären Einfluß der Monopolherrschaft der Kapitalistenklasse über die Produktionsfaktoren wirksam waren. Die Entscheidung, vor der der Arbeiter stand, war einfach: entweder er arbeitete für sehr niedrige, vom Monopol erzwungene Löhne, oder er verhungerte. Natürlich war dies kein gänzlich neuartiger Prozeß der Überschußabschöpfung. Fabriken und Werkstätten, in denen Arbeitskräfte gegen Löhne beschäftigt waren, hatte es in vielen früheren Gesellschaften gegeben. Doch in diesen früheren Fällen war der Prozeß in eine völlig andere Art von Gesellschaft eingebettet gewesen, und dies hatte viele Aspekte seiner Wirkungsweise beeinflußt. Beispielsweise wiesen diese früheren Formen häufig ein paternalistisches

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Element auf, auch wenn dies, was die Menschen betrifft, möglicherweise nichts anderes bedeutet hat, als daß es soziale Prozesse gab, die darauf abzielten, Loyalitätsgefühle im Arbeiter zu erzeugen, und daß diese Gefühle eine der Einrichtungen waren, mit deren Hilfe das Mehrprodukt abgeschöpft wurde. Jedenfalls beseitigte das neue, allgemein angewandte System der Lohnarbeit im wesentlichen derartige Herr/Knecht-Bindungen. Und dies wiederum war einer der Faktoren, die in der neuen Gesellschaft Entfremdung und gespaltene Persönlichkeiten hervorbrachten, da die Menschen nun gezwungen waren, sich gegenseitig als untereinander austauschbare und auswechselbare Objekte zu betrachten (s. Mantoux 1961, in dem eine Reihe herzzerreißender Darstellungen der Konsequenzen dieser Entpersönlichung gegeben werden). Natürlich gibt es noch viele andere Konsequenzen dieser Umgestaltung des zentralen Prozesses der Ressoui·cenausbeutung in der modernen Geselhd1afl. Doch das hier Gesagte dürfte ausreichen, um die Grundaspekte der Umgestaltung anzudeuten. Dieser Prozeß ist im zeitgenössischen Monopolkapitalismus weiterhin am Wirken und bleibt eine fundamentale Mehrwertquelle für die herrschende Klasse. Darüber hinaus hat der Monopolkapitalismus jedoch neue Pro7.esse der Mehrwert~hsc.höpfong freigesetn und noch eine weitere Verallgemeinerung des Prozesses der Mehrwertabschöpfung herbeigeführt. Diesen neuen Prozessen müssen wir uns nun zuwenden.

Surplus und Surplus-Wachstum Wann immer jemand den Kapitalismus verherrlicht, werden die OutputW achstumsraten als das zentrale Element seiner Errungenschaften hervorgehoben. Seit der Jahrhundertwende, so lautet diese Geschichte gewöhnlich, hat sich die Produktion pro Kopf in den USA nahezu vervierfacht. Man kann nicht bestreiten, daß dies eine große Leistung ist, bedeutet es doch eine echte Steigerung im Niveau der Produktionskräfte und bietet es doch die technischen Möglichkeiten für gewaltige weitere Leistungen, die für die Menschen mehr unmittelbar von Belang sind. Bedauerlicherweise ist es sehr schwierig, das von den Ökonomen benutzte Output-Maß zu der Art und Weise, wie das Leben der Menschen durch die Steigerung der Produktion verändert wird, in Beziehung zu setzen. Der Grund dafür ist gerade, daß es nicht wirklich ein Maß des Geleisteten ist, sondern ein Maß des Versprechens dessen, was getan werden könnte. Diese Unterscheidung wurde in einer kleinen Rechnung außerordentlich deutlich gemacht, die Paul Baran (1966, S. 104-106) vor vielen Jahren im Zusammenhang mit den Veränderungen in der amerikanischen Wirtschaft während des Zweiten Weltkrieges durchgeführt hat. Im Jahre 1944 näherte sich das Beschäftigungsniveau zum ersten Mal seit dem Ersten Weltkrieg der Vollbeschäftigung. Doch von den 66 Millionen Personen der offiziell ausgewiesenen Beschäftigtenzahl waren etwa 11 Millionen in den Streitkräften und somit nicht mit produktiver Arbeit

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beschäftigt. Und ungefähr die Hälfte des offiziell ausgewiesenen Output, der von den verbleibenden vier Fünfteln der Beschäftigten produziert wurde, waren militärische Güter. Diese massive Mobilisierung und Neuordnung der Wirtschaft nach ihrem schändlichen Versagen während der Depression der dreißiger Jahre muß, so sollte man meinen, der Bevölkerung ungeheure materielle Opfer abgefordert haben. Aber es gibt starke Hinweise dafür, daß die Realität ganz anders aussah, und daß sich in der Tat der allgemeine Lebensstandard der Masse der Bevölkerung sogar verbesserte. Die Folgerung ist eindeutig: Die amerikanische Bevölkerung konnte einen Spitzenlebensstandard erreichen, indem sie lediglich die Hälfte des Output der Wirtschaft verbrauchte. Der Ausstoß pro Kopf hat sich in den dreißig Jahren seit Barans Rechenexempel mindestens verdoppelt. Außerdem waren in jenen Tagen nicht viel mehr als ein Drittel der Frauen im arbeitsfähigen Alter offiziell in der Beschäftigtenzahl enthalten; heutzutage liegt die Zahl eher bei der Hälfte. Fügt man diese Fakten in die Rechnung ein und berücksichtigt den Bedarf für die Aufrechterhaltung und vielleicht Erhöhung des Fabrik- und Gebrauchsgüterbestandes in der Wirtschaft, so dürfte die Schätzung, daß unsere gegenwärtige Bevölkerung bei einem Verbrauch von weit weniger als der Hälfte unseres Output auf einem anständigen, »amerikanischen« Lebensstandard gehalten werden könnte, durchaus konservativ sein. 16 Dies ist eine ziemlich verblüffende Zahl. Wir werden heutzutage seitens der Politiker und Gelehrten mit Heschwerden und Bemerkungen überschüttet, die alle darauf hinauslaufen, daß es nichts »umsonst« gibt, dag es keine Möglichkeit gibt, für die Umwelt oder für die Armen zu sorgen. Sogar unsere »liberalen« Politiker erzählen uns, wir müßten noch jahrelang mit unseren 25 Millionen offiziellen Armen leben, Leuten, von denen man selbst unter Aufbietung aller Phantasie nicht behaupten kann, sie hätten einen anständigen Lebensstandard. Wir müssen auch mit unzureichender ärztlicher Versorgung leben, mit kläglichen Schulen, mit Warenknappheit, ja sogar mit unzulänglichen und überfüllten Gefängnissen. Was machen sie mit jener Hälfte bis zwei Dritteln unseres potentiellen Outputs? Das ist eine gute Frage. Die Antwort darauf wird man in keiner offiziellen Statistik finden, weil derartige Zahlen von unseren eminent respektablen Ökonomen nicht als respektabel angesehen werden. Infolgedessen können wir den verschiedenen Ausmaßen an Mißbrauch unseres Wirtschaftspotentials keine Zahlen zuordnen. Wir können aber zumindest eine Liste machen von den Dingen, die das gewaltige in den Output-Zahlen enthaltene Versprechen daran hindern, Wirklichkeit zu werden.Wenn wir nun die Liste durchgehen, dürfte es angebracht sein, sich nicht nur an dieses gewaltige Versprechen in den USA (in bezug auf sein Wirtschaftspotential immer noch das reichste Land der Welt) zu erinnern, sondern auch daran, daß wirklich keine gesellschaftliche Gesamtrechnung für die Güter, die jenes Potential darstellen, besteht. Wir müssen uns auf qualitative und spekulative Bemerkungen beschränken, gerade eben deswegen, weil dieses große Geheimnis durch eine gewaltige verdunkelnde Flut irrelevan-

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ter Statistiken und Kommentare von Politikern und Ökonomen gleichermaßen vor dem amerikanischen Volk verborgen wird. Unsere Frage lautet also mit anderen Worten: Wie können wir den Widerspruch der Knappheit inmitten des Überflusses auflösen? Auf der einen Seite verfügen wir über eine ungeheure Produktionskapazität, die uns eine Gesellschaft des Überflusses verspricht; auf der anderen Seite haben wir ebenso ungeheure unbefriedigte Bedürfnisse, Bedürfnisse, die mit den Kapazitäten wachsen. Auf der einen Seite haben wir die Statistiken der Wirtschaftswissenschaftler, die zeigen, das der »Pro-Kopf-Konsum« in den Vereinigten Staaten während der Ära des Monopolkapitalismus auf mehr als das Dreifache gestiegen ist; auf der anderen Seite finden wir viele Millionen Menschen, die in Armut leben, Kinder, die hungrig sind und deren Krankheiten nicht behandelt werden, und überall um uns herum Anzeichen einer sich verschlechternden Umwelt. Natürlich wollen wir wissen, warum solche Dinge geschehen; aber zuerst stellt sich eine einfache Prage nach de11 Tatsachen: Was geht vor, wohin ist das Versprechen verschwunden? Hier sind einige Lösungshilfen für das Geheimnis.

1. Eine ganze Menge jenes potentiellen Outputs wird einfach nicht produziert. In einem durchschnittlichen Friedensjahr sind zwischen 5 und 10 Prozent der Beschäftigen ohne Arbeit. Die durchschnittliche Nutzung unseres Kapitalbestandes ist erheblich niedriger. Aufgrund der inhärenten Instabilität des kapitalistischen Systems und der Chance, während der kurzen Perioden frenetischer Prosperität große Gewinne zu machen, nutzen die USA ihren Bestand an Produktivkapital durchschnittlich nur zu etwa drei Viertel des Gesamtpotentials. In Anbetracht der Expansion der letzten drei Jahrzehnte bedeutet dies, daß die gegenwärtig ungenutzte Kapazität an Anlagen und Arbeitskraft in einem typischen Jahr fast die Hälfte des 1944 erzeugten, massiven Überschusses produziert haben könnte. 2. Das Ausmaß an verschwenderischer Produktion ist ungeheuer groß. In welcher Größenordnung es sich bewegt, wird von einer Untersuchung angedeutet, in der festgestellt wurde, daß sich die Kosten der Modelländerungen bei der Ford-Autoproduktion während eines Zeitraumes von vier Jahren auf mehr als ein Viertel des Kaufpreises des Autos beliefen (Baran u. a. 1967, S. 136-138). Im Prinzip haben diese Kosten damit zu tun, die Leute zu veranlassen, mehr Autos in kürzeren Abständen zu kaufen, und nicht mit Verbesserungen in der Funktionsweise des Autos als Transportmittel; sie stellen eine Verschwendung dar. Eine weitere Industrie, die für die Erzeugung von Verschwendung der oben genannten Art berüchtigt ist, ist die pharmazeutische Industrie. Zudem stellt sich heraus, daß ledigich etwa 6 Cents von jedem bei Arzneimittelverkäufen eingenommenen Dollar an die Porschung, 4 Cents dagegen an die Werbung gehen (Harris 1964, S. 7). Straßenverkehrsunfälle verursachen häufig nicht weniger als 50000 Tote im Jahr und eine Gesamtzahl an Opfern von einer Million jährlich. Diese Schäden an Gütern und Menschen müssen natürlich

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behoben werden, und die Reparatur als solche ist ein kostspieliger Prozeß. Die oben genannten Posten sind eine kleine Auswahl von Dingen, die das Versprechen unserer Produktionskapazität in die Verschwendung umlenken, denn sie sind weitgehend vermeidbar und stellen durch Fehlmanagement verursachte Belastungen unserer Kapazitäten dar. 3. Neben verschwenderischer Produktion kann man auch verschwenderische Berufe unterscheiden. Das heißt, bei vielen Beschäftigungen, die zur »Wertschöpfung« in der offiziellen Sozialproduktsrechnung beitragen, werden begabte Menschen in im wesentlichen unproduktiver Weise eingesetzt. Die Werbung ist bereits erwähnt worden. Ferner würden heutzutage viele Nichtjuristen zugestehen, daß ein großer Prozentsatz jener Berufsgruppe eine verschwenderische Beschäftigung ausübt, indem jeder von ihnen seine Klienten gegen die Aktionen anderer Juristen schützt und ganz allgemein gegen Bez.ahlung heftigen Papierkrieg führt. Das Wuchern von Bürokratien überall in den hochaufragenden Bürogebäuden der amerikanischen Stadtzentren ist ein beredtes Zeugnis der Verschwendung von Unternehmertum und Regierung in Amerika. Sogar der Markt, vermeintlich ein Ausbund an Effizienz, erweist sich als enorm verschwenderisch, wenn man die Kosten der Erzeugung und Organisation von Information bedenkt, die bei seiner anarchischen Funktionsweise und beim Handeln mit den einzelnen Gütern entstehen (s. Schmidbauer 1966 für das Beispiel des amerikanischen Weizenmarkts). Es gibt in diesen Tätigkeitsbereichen buchstäblich Millionen von Arbeitsstellen, und die meisten von ihnen sind höchstwahrscheinlich unnötig. 4. Man wird sich heute zunehmend des gewaltigen Ausmaßes an verlustproduzierender Wirtschaftstätigkeit in den USA bewußt. Die Ausdehnung der Städte verringert die Menge der verfügbaren landwirtschaftlichen Fläche und infolgedessen steigen die Kosten für die Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte. Der Güter- und Personentransport sowie die Gütererzeugung mittels nicht-sicherer Methoden verursacht Unfälle und Schäden, die wieder behoben werden müssen. Unter den Reichen und gut Versicherten gehen die Ärzte auf· Raub aus, indem sie unnötige und sogar schädliche Dienste leisten, indem sie beispielsweise in wahrhaft gewaltigen Mengen unnötige chirurgische Eingriffe vornehmen. Und natürlich steigert die Umweltverschmutzung seitens einiger Fabriken die Produktionskosten anderer und ruft Erkrankungen der Atemwege und andere Leiden bei der dort lebenden Bevölkerung hervor. Gemessen an den kalkulatorischen Anreizen des modernen Unternehmertums hat es sich häufig als weniger kostspielig erwiesen, Öl zu verschütten, als einfache und sogar billige Vorbeugungsmaßnahmen zu ergreifen. 5. Vielleicht sollten wir den drei größten illegalen Betätigungen, Rauschgift, Prostitution und Glücksspiel, eine getrennte Abteilung widmen. Über die aus den unproduktiven und degradierenden Aspekten dieser Aktivitäten resultie-

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renden Verluste an jenem versprochenen Output liegen keine Zahlen vor, aber zweifellos sind sie sehr erheblich. 6. Es ist kein Geheimnis, daß unsere Einkommensverteilung außerordentlich asymmetrisch verläuft, weit mehr als notwendig ist, um als materieller Anreiz für die Arbeiter zu fungieren. Es gibt Hunderte von Individuen in unserem Land, die ein Jahreseinkommen von mehr als einer Million Dollar ausweisen, und wahrscheinlich weitere Hunderte, die ein solches Einkommen beziehen, es aber nicht angeben. Mehr als ein Viertel der Privateinkommen geht an weniger als 10 Prozent der Familien. Und vielleicht drei Viertel oder mehr der in Privatbesitz befindlichen Wertpapiere gehören weniger als 2 Prozent der Familien (vgl. Upton u. a. 1972, Ten-State Nutrition Survey 1972, Miller 1971). Die Umlenkung unseres Produktionspotentials zur Befriedigung der gerade modernen »Bedürfnisse« der Wohlhabenden - mit der Unterstützung sowohl des privaten Marktes als auch der Regierung beansprucht einen erheblichen Anteil des potentiellen Outputs. 7. Es gibt auch eine wichtige Information darüber, wohin der Surplus nicht gegangen ist: Im letzten Jahrzehnt etwa ging er nicht an die Arbeiterklasse, da deren Reallöhne stagniert haben. 17 8. Aber selbst die Statistiken, die für die Familien in den breiten mittleren Bereichen der Einkommensverteilung einen realen Zuwachs aufweisen, enthalten eine wesentliche Fiktion. Eine eindrucksvolle Zahl ist das praktische Stagnieren der durchschnittlich gearbeiteten Stundenzahl während der letzten dreißig Jahre. Auf den ersten Blick legt dies den Gedanken nahe, daß die steigenden Einkommen es der Bevölkerung nicht erlauben, sich mehr Freizeit zu nehmen, sondern daß sie weiterhin ungefähr so viel wie früher arbeiten müssen, einfach, um den gleichen Lebensstandard beizubehalten. Vieles, was wir für Einkommenssteigerung halten, entschädigt uns in Wirklichkeit lediglich für Verluste, die uns unsere neue Umwelt auferlegt hat. Am offensichtlichsten vielleicht sind die Ausgaben für den Transport. Je schlechter das öffentliche städtische Transportwesen wird, um so mehr ist es nötig, kostspielige Autos zu benutzen. Die Verlegung der Wohnung an weiter von der Arbeitsstelle entfernte Orte wurde durch den Verfall früher attraktiver Wohngegenden in der Stadt zu einer Notwendigkeit. Daher wird ein Auto aus Sicherheitsgründen, 7.um Einkaufen, zur Freizeit nötig, wo diese Bedürfnisse in der Vergangenheit bequem am Ort befriedigt werden konnten. Trotz all jener Ausgaben für großartige Geräte, verwenden die Hausfrauen - wie Untersuchungen erkennen lassen -keineswegs weniger Zeit auf die Hausarbeit, was den Verdacht nahelegt, daß auch hier die Gewinne aus den Gütern durch kompensierende Ausgaben aufgezehrt werden (für eine historische Darstellung und Analyse s. Goldberg 1977). Einige der Erhöungen des »Real«einkommens, die gemessen werden, sind fiktiv, zum Beispiel wenn steigende Löhne den »Wert« von im Grunde

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genommen den gleichen Dienstleistungen erhöhen, die früher für weniger zu bekommen waren. Die Qualität und Haltbarkeit vieler Güter, die erheblich niedriger als in der Vergangenheit sind oder zumindest ziemlich niedrig im Vergleich zu dem, was sie »Versprechen«, bedeutet, daß ein weiterer Teil jenes höheren Einkommens auf Instandhaltung und Wiederbeschaffung verwandt wird. Vielleicht das eindrucksvollste und wichtigste einzelne Beispiel dieses Phänomens kompensierender Ausgaben liegt auf dem Gebiet der Gesundheitspflege, wo die Ausgaben mehrere Male größer sind als in früheren Jahren, als der gemessene Gesundheitszustand dieser mittleren Schicht der Bevölkerung mit dem gegenwärtigen vergleichbar war. 9. Schließlich ist da noch die Kategorie der »Entfremdungskosten«. Diese Kategorie wäre am schwersten zu quantifizieren, ist jedoch wahrscheinlich auch die universellste, vergiftet sie doch fast die gesamte Variationsbreite menschlicher Betätigl.mgen im zeitgenössischen Amerika. Fehlen am Arbeitsplatz, verminderte Leistung von Millionenvalium- und alkoholsüchtiger Bürger, das sind meßbare Konsequenzen der entfremdenden Umwelt, die in unserer Gesellschaft geschaffen wird. Jenseits davon liegen Phänomene, die weniger deutlich umrissen, aber immer noch offensichtlich genug sind. Beispielsweise hängt das zunehmende Versagen unserer Schulen eindeutig damit zusammen, daß sie als Institutionen für fortgeschrittenes Babysitting und Drillen von Jugendlichen mißbraucht werden. Das »erfolgreiche« Produkt dieser Schulen wird im wesentlichen durch Zeugnis als jemand ausgewiesen, der auf Befehl bereit ist, ' endlose Zeit mit bedeutungslosen Dingen zuzubringen. Die Arbeit hat sich in die gleiche Richtung entwickelt, wobei Spezialisierung und Routinisierung die meisten Beteiligten jeglichen Gefühls von Kreativität oder persönlicher Verantwortung für das Produkt berauben (für die Entwicklung der Routinisierung der Arbeit s. Braverman 1977). Und sie alle sind - vom ersten Blick auf den Fernseher, dem ersten Tag in der Schule, dem ersten Arbeitstag an - der Gehirnwäsche ausgesetzt, dem Ansporn, sich tüchtig ins Zeug zu legen und Amerika groß zu machen, indem sie erst han arbeiten und dann ebenso hart konsumieren. Die Kosten der Schaffung einer ganzen Gesellschaft, die auf diese Weise gezwungen ist, mit angezogenen Bremsen Gas zu geben, sind das letzte große Abflußbecken, in dem unserer Produktivitätsversprechen verschwindet. Man könnte ernsthaft in Frage stellen, ob das Leben im Monopolkapitalismus während der letzten ein oder zwei Generationen überhaupt irgendeinen realen Einkommensanstieg hervorgebracht hat.

Surplus und Unsicherheit Die Verteidiger des Monopolkapitalismus haben hinter der durchbrochenen Befestigungslinie des Wachstumsethos eine weitere Verteidigungsfront aufgezogen. Dies ist das Argument, das System habe seinen Bürgern einen gewaltigen

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Zuwachs an Sicherheit gebrad1L. Sozialversicherung, Arbeitslose1m11terstützung, Krankenversicherung: auf diese und andere Art habe der Monopolkapitalismus, so wird behauptet, die Risiken des Lebens verringert, und damit unsere Existenz ein ganzes Stück angenehmer gemacht als sich aus der Höhe des Realeinkommens ablesen lasse. Wie andere derartige Argumente beruht auch dieses auf einer Halbwahrheit, die die tatsächliche Situation stark verzerrt. Die obigen Programme existieren in der Tat und sichern einen beträchtlichen Prozentsatz der Bevölkerung ab, obwohl das von einem Programm zum anderen nicht wenig variiert. Darüber hinaus haben Verbesserungen in der Kunst der Medizin zu einer sehr wesentlichen Senkung der Sterberate von kleinen Kindern geführt, gewiß eine wichtige Verbesserung, die zum Teil dem politischen und ökonomischen System zugutegehalten werden kann. In diesem Fall hat es in der Tat sein Versprechen erfüllt, wenn auch immer noch auf einer selektiven Basis; so bringt es den Armen und Angehörigen von Minderheiten in der Bevölkerung viel höhere Sterberaten als den Reichen und W eißen. 18 Es ist jedoch nicht so schw~r, die in dieser Darstellung unterdrückte Hälfte der Wahrheit an die Oberfläche zu holen. Der Kapitalismus ist immer noch ein höchst unbeständiges Wirtschaftssystem. Die Arbeitslosenquoten sind gleichzeitig hoch und veränderlich, keineswegs jeder ist durch eine Arbeitslosenversicherung abgedeckt, und die Einkommen sinken gewöhnlich erheblich ab, wenn ein Familienmitglied entlassen wird.19 Auch die Inflation ist hoch und variabel und frißt sozusagen am anderen Ende des Einkommens, was gelegentlich zu starken Einbrüchen in der Fähigkeit der Familie, ihr gewohntes Güterbündel zu kaufen, führt. Die Unbeständigkeit der Warenpreise, die im wesentlich den sich zuspitzenden Konflikt zwischen dem Monopolkapital und der Dritten Welt widerspiegelt, ist eine weitere große Quelle der Einkommensunsicherheit, die sowohl die Güterpreise als auch viele Arbeitsplätze berührt. Ein großer Teil der Unsicherheit des modernen Lebens ist zwar ein direktes Resultat des Monopolkapitalismus, hängt aber weniger direkt mit den Wirtschaftsvorgängen des Marktgeschehens zusammen. Die regelrechte Explosion der Kriminalität, die keineswegs auf die Städte oder auf die USA beschränkt ist, steht direkt mit der politischen Ökonomie des Monopolkapitalismus in Zusammenhang: sie nährt sich von Arbeit, Entfremdung und Hoffnungslosigkeit. Der Verfall von Wohngegenden, ja sogar von ganzen Städten, ist im hochentwickelten Monopolkapitalismus eine ernste Gefahr, ein Risiko, gegen das man keine Versicherung kaufen kann und das zu beseitigen die Regierungspolitik seltsam unfähig zu sein scheint. Die Verringerung der Bedrohung durch die traditionellen Ursachen der Kindersterblichkeit werden wenigstens zum Teil durch die stärkere Bedrohung der gesamten Bevölkerung durch Krebs und die Erkrankungen der Atemwege wettgemacht, deren verstärktes Auftreten heutzutage in ziemlich engem Zusammenhang mit der durch die großen Organisationen des Monopolkapitals verursachten Umweltverschlechterung zu stehen scheint. Und die Gefahr, sein Leben im Krieg zu verlieren, einschließlich der ernstzu-

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nehmenden Aussicht der Zerstörung der gesamten menschlichen Gesellschaft, war niemals zuvor in der Geschichte so hoch wie heute. Das Zeitalter des Monopolkapitalismus ist kein Zeitalter der Sicherheit, noch nicht einmal für Amerikaner. Eingehüllt und durchdrungen wird das Verhalten der Menschen inmitten all dieser Risiken von der Entpersönlichung der menschlichen Beziehungen im Monopolkapital, die diesem Verhalten seinen bizarren Anstrich von Gewalt und Wahnsinn verleiht. Wir verhalten uns untereinander nicht so sehr wie Raubtiere, sondern es wird vielmehr jeder zum Objekt des anderen. Dies wiederum beraubt das Individuum jener elementaren Sicherheit, die aus der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, einer Gruppe von Leuten entsteht, die sich untereinander in gewissem Grade zu gegenseitiger Hilfe und Unterstützung verpflichtet fohlen. Der Verfall der Sicherheit in dieser Dimension ist vielleicht die grundlegendste aller Gefahren und aus ihr entsteht die Duldung des Elends anderer.

Ausbeutung und Jt.fonopolkapital Dieses Kapitel begann mit einer kurzen Darstellung der klassischen Marxschen Ausbeutungsprozesse. Der Großteil des Kapitels aber war der Bewertung der Allokation des Mehrprodukts im zeitgenössischen Monopolkapitalismus gewidmet, insbesondere den vielen Ablenkungen von seiner effektiven Verwendung und der Art und Weise, in der sich die Risiken für den Bürger verändert haben. Bedeutet dies nun, daß wir das Thema gewechselt haben, daß wir nicht mehr von Ausbeutung sprechen? Ich glaube nicht. Ausbeutung im traditionellen Sinne; das Abziehen von Mehrwert von den Produzenten durch eine herrschende Klasse, ist auch heute noch ein Merkmal des Monopolkapitalismus. Allerdings ist die klassische marxistische Version, die sich auf die Reproduktionskosten der Arbeit im Rahmen einer Arbeitswerttheorie gründete, nicht mehr imstande, die Geschichte der Ausbeutung im Monopolkapitalismus in ihrem ganzen Umfang 7.u erzählen. Eine vollends zufriedenstellende alternative Erklärung steht noch nicht zur Verfügung. Wir versuchen hier einige Elemente anzuführen, die in einer derartigen Erklärung enthalten sein müssen. Die Haupttendenz der Argumentation bedeutet keine Ablehnung der Marxschen Ausbeutungstheorie. 20 Unsere Gesellschaft ist in der Lage, den materiellen Mangel als Ursache menschlichen Elends zu beseitigen. Ja, Barans Überlegung deutet an, daß wir, wenn man uns nur etwas Zeit gibt, um die geeigneten Anpassungen in unserem Kapitalbestand und unseren Institutionen vorzunehmen, schon heute die Fähigkeit haben, dies zu erreichen. Wenn das Versprechen unerfüllt bleibt, und es scheint vielen unerfüllbar, dann wegen des grundsätzlichen Risses in unserer Gesellschaft, der all jene Umlenkungen von Ressourcen und erhöhten Niedergangsrisiken hervorbringt. Dieser Riß ist der

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Klassencharakter der Gesellschaft, der die endlosen Folgen von Konflikt, Verhandlungen, Waffenruhen, Rechtsverdrehungen und erneuten Konflikten hervorbringt, die das Potential der Gesellschaft zerstören. Nur dadurch, daß wir eine neue Gesellschaft schaffen, können wir das Versprechen Wirklichkeit werden lassen und den materiellen Mangel als Ursache menschlichen Elends beseitigen. Dies ist die einzige wirkliche Lösung des Widerspruchs der Knappheit inmitten des Überflusses. Aber zweifellos unterscheidet sich die zeitgenössische Ausbeutung von ihren Vorgängerinnen. Hier ist es die unglaubliche Verschwendung von Ressourcen und die Verzerrung des menschlichen Verhaltens, die ins Auge. fällt, mehr als irgendein Quantum materiellen Mangels, obwohl das letztere für viele Millionen Menschen bestehen bleibt. Zwar raubt die herrschende Klasse auch heute noch einen sehr erheblichen Anteil des riesigen Mehrprodukts für ihre eigene Verwendung, aber in dieser sonderbaren Gesellschaft ist die herrschende Klasse selbst in gewissem Ausmaß ebenso ein Opfer wie ein Ausbeuter. Das Leben auch ihrer Angehörigen wird von den unmenschlichen Werten der Gesellschaft und dem Verhalten, das zur Aufrechterhaltung des Systems notwendig ist, entstellt. Die Entfremdung entkleidet viele Güter eines großen Teils ihres Wertes, und zwar für jeden Konsumenten. Doch gerade dies läßt einige Hoffnung wach werden, ist es doch heute möglich geworden, in bedeutendem Umfang die Jugend der herrschenden Klasse selbst für die Ziele der Schaffung einer neuen Gesellschaft zu rekrutieren, einer Gesellschaft, an deren Erfolg auch sie ein unmittelbares Interesse hat.

Kapitel 6 Staat und Monopolkapital

In den Tagen des klassischen Kapitalismus waren die Funktionen von Staat und Wirtschaft relativ scharf voneinander getrennt. In den mehr bevorteilten kapitalistischen Ländern, in Großbritannien und den USA des 19. Jahrhunderts beispielsweise, bestand, so könnte man billigerweise sagen, die primäre Aufgabe des Staates darin, das juristisch-institutionelle System der Privateigentumsbeziehungen zu schützen. Diese Beziehungen gewährleisteten die Herrschaft der Bourgeoisie über die Produktionsmittel und bestimmten somit die Natur der Ausbeutung der unmittelbaren Produzenten, die ihrerseits ein Resultat der Herrschaft der herrschenden Klasse über die erzeugten Produktionsmittel war. Dieses Monopol ist natürlich der Schlüssel zum Verständnis der Arbeitsweise dessen, was die Liberalen den freien Markt nennen. Der Staat ist nötig, weil Eigentum ·eine ziemlich wenig greifbare Sache ist, die vor Gericht durch bestimmte Dokumente definiert und durch die Drohung der Anwendung der in der Hand des Staates befindlichen Zwangsinstrumente geschützt wird. Der Staat konnte auf diese Weise im Hintergrund bleiben - auf Abruf zu einem sehr greifbaren Einsatz verfügbar, wann immer »Rechte« und Macht der Bourgeoisie in Frage gestellt wurden, ansonsten aber sehr viel weniger aktiv als der »private« Sektor der Wirtschaft, wo nahezu alle Produktion und aller Austausch stattfand. Heutzutage sind die Dinge ganz anders, wenigstens oberflächlich gesehen. Niemand könnte die Regierungen des Monopolkapitalismus beschuldigen, sie hielten sich im Hintergrund oder seien streng von der Wirtschaft getrennt. Wenn wir diese Veränderungen zu verstehen versuchen, ist es außerordentlich wichtig, daß wir uns nicht des statischen, schnappschußartigen Ansatzes bedienen und lediglich den frühkapitalistischen Staat mit dem monopolkapitalistischen Staat vergleichen. Obwohl jedes dieser Regimes seine eigenen besonderen Eigenarten besitzt, gelangt man nur dann zu einem Verständnis, wenn man den Prozeß betrachtet, durch den diese Eigenschaften erworben wurden. Hier wie anderswo ist die Veränderung als das Endergebnis des Kampfes, häufig heftigen Kampfes, unter einer Vielzahl von Bewerbern um die Macht zu verstehen. Der Kampf gestaltet die Resultate und beraubt sie ihrer Rationalität, wie »rational« · auch immer die Strategien der einzelnen streitenden Parteien gewesen sein

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mögen. Und natürlich geht der Kampf weiter, erhält seine Form sowohl von seiner vergangenen Geschichte als auch von seiner gegenwärtigen Umgebung. Bei dem kurzen Blick, den wir auf den Entwicklungsprozeß des monopolkapitalistischen Staates werfen wollen, werden wir ein zentrales, unveränderliches Thema finden, das den frühen und den späten kapitalistischen Staat miteinander verbindet: Die primäre Funktion des Staates ist auch weiterhin der Schutz des Regimes privater Eigentumsverhältnisse.

Die Entstehung des »Big Government« Zur Jahrhundertwende betrugen die Ausgaben der Bundesregierung, der Regierungen der einzelnen Staaten und der Lokalverwaltungen in den Vereinigten Staaten insgesamt 1,7 Mrd. Dollar oder etwa 10 Prozent des Bruttosozialprodukts. Heutzutage liegt die Zahl für die Staatsausgaben bei etwa 600 Mrd. Dollar oder etwa 40 Prozent des l~uff'ndf'n WPrtf's Of's RSP. Dif's ist Pinf' ziemlich starke Veränderung, die zudem offenkundig einen dramatischen Einfluß auf das Verhalten sowohl des Staates als auch der Wirtschaft gehabt hat. Wie ist es dazu gekommen? An oberster Stelle auf jeder Liste von Erklärungen für das Entstehen des »Big Government«, der großen Regierungsmaschinerie, im 20. Jahrhundert steht der Krieg. Am Beispiel der USA läßt sich dies sehr gut veranschaulichen. Während der Vorkriegsjahre, in denen die internationale Spannung ständig zunahm, expandieren die Militärausgaben mit Riesenschritten (steigen von 1902 bis 1913 um 50 Prozent an und verdreifachen sich von 1934 bis 1940), um dann während des Krieges sozusagen zu explodieren (etwa auf das 20-fache während des Ersten und das 10-fache während des Zweiten Weltkrieges). Im Laufe dieser »Explosion« gewöhnt sich das Unternehmertum an Militärverträge und entdekken die Geschäftsleute, die in der Vergangenheit einander spinnefeind gewesen waren, Möglichkeiten einer wechselseitig vorteilhaften Zusammenarbeit untereinander. Folglich sind die neuen r'riedenszeit-Ausgabenniveaus weit höher als selbst jene der angespannten Vorkriegsperiode (1922 waren die Militärausgaben mehr als dreimal so hoch wie 1913, und 1948 mehr als sechsmal so hoch wie 1940). 21 Die Kriege selbst sind, wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, keineswegs »Unfälle« der Geschichte, sondern das natürliche Produkt der Funktionsweise des kapitalistischen Systems. Das gleiche gilt in der Tat auch für diese interne Manifestation, die unaufhörlich steigenden Militärausgaben. Die Erfahrung des Krieges lehrt die Geschäftsleute, den Krieg weder zu hassen noch besonders zu lieben, sondern die in der engen Wechselbeziehung mit der Regierung liegenden Chancen zu würdigen. Dies aber bedeutet eine andere Art des Verhältnisses zwischen Regierung und Unternehmtertum. Der Staat ist nicht länger einfach nur dazu da, Eigentumsrechte zu schützen und bei Konflikten zwischen Unternehmergruppen zu vermitteln. Er zieht nunmehr durch die Besteuerung selbst Surplus ein, eine Form der Zwangsenteignung,

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und teilt diesen Surplus dann mehreren Kapitalisten in der Gestalt von Militärverträgen zu. In gewissem Maße hat es das natürlich immer gegeben. Aber bei diesen neuen Ausgabenniveaus wird die Regierung zu dem bei weitem größten N achfrager nach Gütern in der Volkswirtschaft. Statt bei Konflikten unter Unternehmern zu vermitteln, wird sie nunmehr eher zu so etwas wie ihrem feudalen Gegenstück, zu einem direkt Beteiligten an dem Gerangel innerhalb der herrschenden Klasse um einen Anteil an der Surplus beute. Es liegt auf der Hand, daß dies eine Veränderung von einiger Bedeutung in den Produktionsverhältnissen darstellt. Der zweite große Wandel in der Rolle des Staates ist ein Ergebnis der zunehmenden Notwendigkeit, für die soziale Harmonisierung finanziell aufkommen zu müssen - d. h. eine Ausgabentätigkeit, die das Risiko eines Umsturzes des kapitalistischen Systems verringert. Die erste größere Steigerung in diesem Ausgabensektor fand in der Erziehung statt. Die Bildungsausgaben in den USA sind nicht nur während des ganzen 20. Jahrhunderts rasch angestiegen, sie waren während der Friedensjahre vor dem Zweiten Weltkrieg auch gewöhnlich 2- oder 3-mal größer als die Ausgaben für die nationale » Verteidigung«. Dieser Anstieg hängt zum Teil mit einem echten Bedarf der modernen Industrie an Arbeitern mit einem höheren Niveau an technischer Ausbildung zusammen. Doch wie die Ursprünge der Bewegung für eine allgemeine Schulpflicht andeuten und die ideologische Tendenz der - zur obligatorischen Benutzung übernommenen - Lehrbücher bestätigt, war die vorrangige Motivation auf diesem Gebiet rhe W!eltsicht

Kleidung, Unterkunft und anderen spezifischen Leistungen gewährt. Sowohl relativ als auch absolut fanden die großen Ausweitungen dieser Art in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg statt, in anderen kapitalistischen Ländern etwas früher. Inzwischen kann man aus den staatlichen statistischen Unterlagen herausfinden, daß die Ausgaben für mit der Wohlfahrt zusammenhängende Posten wesentlich höher liegen als die Ausgaben für die nationale Verteidigung. Monopolkapitalistische Regierungen werden nunmehr häufig als »Wohlfahrtsstaat« bezeichnet und als Instrumente der Barmherzigkeit in einer bedrohlichen Welt verteidigt. Bedauerlicherweise strafen die Fakten diese freundlichen Einschätzungen Lügen. Man braucht sich nur daran zu erinnern, daß derartige Ausgaben aus der Natur des Kapitalismus erwachsen, einem System, in dem die profitorientierte herrschende Klasse nicht einfach als Akt der Barmherzigkeit viele Milliarden Dollar aus dem Surplus verteilt, den sie den direkten Produzenten abgerungen hat. Der erste Antrieb für solche Ausgaben kommt, wie bereits bemerkt, aus der Angst vor Revolution. Die herrschende Klasse ist sehr klein, sie umtaf~t, i1ach alle11 vemü11ttige11 Ma.Hstäben, erheblich we11iger als eit1 Zehntel der Rcviilkcrung. Wenn es schlecht steht mit dem System, wie während

der Großen Depression der dreißiger Jahre, wird die Angst zu einem Hauptfaktor in den Reaktionen der herrschenden Klasse. In einer Reihe kapitalistischer Gesellschaften drückte sich diese Reaktion im Aufstieg des Faschismus aus. In Jeu USA uud iu G10ßb1iLauuieu sah man die MöglichkeiL, die Mad!l mil

weniger dramatÜichen Mitteln :w behalten. Und so wurde das »Wohlfahrts«programm geboren. Wie bereits erwähnt, trug auch die Angst vor der Sowjetunion zu den monopolkapitalistischen Einstellungen bei. Doch, wenn erst einmal eingerichtet, dann entwickeln solche Programme ein Eigenleben, wiederum bedingt durch die Natur des Systems. Sie wurden auf solche Weise strukturiert, daß die Reichen von der »Wohlfahrt« ebenso oder sogar noch mehr profitieren konnten als die vermeintliche »Zielbevölkerung«. Man schätzt, daß die Einkommen der Ärzte innerhalb sehr weniger Jahre nach der Einführung des M edicare-Programms'' um mehr als 50 Prozent angestiegen sind. Es gab unzählige Möglichkeiten, von allen möglichen Arten von Bauverträgen in Verbindung mit Wohlfahrtsprogrammen zu profitieren. Und sogar Arbeitsbeschaffungsprogramme haben einen starken Effekt auf das System gehabt. Es gibt heute mehrere Hunderttausend Beamte, die Programme zur Bekämpfung der Armut verwalten. 22 Die Ergebenheit dieser Leute gegenüber der Regierung, die sie beschäftigt, ist ein eindeutiges Plus für die herrschende Klasse. Darüber hinaus haben sie nun einen Anteil an den komplexen und schwerfälligen Dienstleistungssystemen, zu denen sie gehören, und werden zu einem Einflußfaktor, der auf eine ständige Steigerung seiner eigenen Größe und seines Spielraums hinwirkt. * 1965 eingeführtes Krankenversicherungsprogramm für alle Bewohner der USA ab 65 Jahre. Anm. d. Übers.

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Was kommt nun eigentlich bei dem Ganzen heraus? Gegenwärtig beläuft sich der gesamte Wohlfahrtshaushalt auf rund 150 Mrd. Dollar. Würde man dieses Geld einfach den ärmsten Leuten im Land aushändigen, so würde das bedeuten, daß jeder Mann, jede Frau und jedes Kind der ärmsten 25 Prozent der Bevölkerung 3000 Dollar pro Jahr geschenkt bekäme. Mit anderen Worten, mit einem Bruchteil dieser Summe könnte die Armut völlig und für immer und ewig beseitigt werden, selbst wenn man die allgemeine Ineffizienz des kapitalistischen Systems berücksichtigt. Doch das Wohlfahrtssystem ist derart von Verschwendung, Korruption, Ineffizienz und der Begünstigung von NichtArmen durchdrungen, daß die Armut selbst von dem dünnen Rinnsal an Mitteln, das nach all diesem Abzapfen noch übrigbleibt, kaum beeinflußt wird. Man wird an den Syr Darya-Fluß in Zentralasien erinnert, dessen Wasserlauf ständig vermindert wurde in dem Maße, wie blühende Städte an seinen Ufern wuchsen und mit ihnen der Wasserbedarf, und der schließlich im Sande versickerte, lange, bevor er das Meer erreicht hatte; und dann starben die Städte. Aber in gewisser Weise hat diese Entwicklung eine sogar noch tiefgreifendere Konsequenz. In dem Prozeß des Abzapfens von Surplus und des Zuteilens dieses Überschusses an das »Wohlfahrtsprogramm« werden Staat und Wirtschaft gründlich miteinander vermischt. Statt daß der Staat lediglich die allgemeinen Spielregeln der Marktwirtschaft festlegt und durchsetzt, kanalisiert er, wie wir festgestellt haben, nicht weniger als ein Fünftel unseres Outputs in das Wohlfahrts- und das Verteidigungssystem. Regierungsbehörden, Unternehmen und Abgeordnete sind in einem fortwährenden Kampf an buchstäblich Hunderten von Fronten eng miteinander verbunden in dem Maße, wie die verschiedenen Interessen sich um ihren Anteil an dem von den direkten Produzenten abgezogenen Surplus balgen. Die Resultate dieser kleinen Kämpfe können gesellschaftspolitisch nicht effektiv sein, da die Beteiligten nicht zugleich auch die Empfänger sind. Sie werden kaum sparsam mit den Steuern umgehen, da jedes einzelne Programm nur ein Tropfen auf einen heigen Stein ist, wenn man die Größe der Regierung und die Fähigkeit der Beteiligten, die Steuerlast von sich abzuwälzen, bedenkt. Auf diese Weise sind gewaltige Prozesse in Gang gesetzt worden, deren Tendenz dahin geht, sowohl die Größe des Programms als auch, pari passu, den Grad seiner Verschwendung, seines Versagens beim Erfüllen der gesetzten Ziele, zu steigern. Es ist auch ein sehr entzweiender, konfliktvoller Prozeß, sogar für die Beteiligten. Und schließlich geht es nicht anders, als daß die vermeintlichen Empfänger immer mehr dessen gewahr werden, was wirklich mit dem »Wohlfahrts«programm geschieht. Es gibt einen dritten wichtigen Grund für die veränderte Größe und Rolle des Staates im Monopolkapitalismus. Dieser ergibt sich aus dem grundlegenden Widerspruch des Kapitalismus, dem Widerspruch zwischen zunehmender Sozialisierung der Produktivkräfte und dem privaten Charakter der Produktionsverhältnisse. in dem Maße, in dem sich die rasche Entwicklung von Wissenschaft und Technologie des 20. Jahrhunderts fortgesetzt hat, wird der dezentra-

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Die radikale ökonomische Weltsicht

lisierte Markt zu einem ständig weniger effektiven Vermittler der Wirtschaftstätigkeit. Wenn es so etwas wie stabile Märkte gäbe, so hätte der private Konkurrenzkapitalismus, wenn auch ein ausbeutendes, so doch zumindest ein erfolgreiches Wirtschaftssystem sein können. Aber die neuen Technologien führten zu einer Arbeitsweise in größerem Maßstab und zu zunehmend komplexeren und direkteren Beziehungen zwischen den Produzenten als der klassische Marktprozeß mit seinem distanzierten Verhandeln zuließ. Und natürlich hat die moderne Produktion immer mehr schädliche Nebenwirkungen auf die Umwelt zur Folge gehabt, die nicht durch einen Rückgriff auf Marktprozesse abgeschafft werden können. Das Monopolkapital hat darauf zum Teil mit der Zentralisierung privater wirtschaftlicher Organisationen reagiert. In den USA bedeutete dies gerade in den letzten Jahrzehnten eine Verdoppelung des von den größten Kapitalgesellschaften kommenden Outputanteils. Zum Beispiel kontrollieren die 200 Spitzenherstellerfirmen nunmehr nahezu drei Fünftel der in der Fabrikation stekkenden Anlagewerte ( U. S. Statistical Abstract, 1976, S. 520). Eine ähnliche tatsächlich wahrscheinlich sogar größere - Konzentration besteht bei den Firmen, die hauptsächlich mit finanziellen Operationen zu tun haben, wie Banken und Versicherungsgesellschaften. Für den Außenseiter, der einen gele?;entlichen Blick auf diese Firmen wirft, beginnen diese zunehmend wie eine einzige Einheit auszusehen. Doch sie uewalueu, sowohl j u1isLisd1 als aud1 iu il11e1 LaLsäd1lid1eu Praxis,

immer noch ihre getrennten Identitäten unDynastif!