Die Herkunft Jesu Christi 3402129728, 9783402129722

Das Buch ist eine stille, doch eindringliche theologische Besinnung im Blick auf das Verständnis wie auch Missverständni

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Die Herkunft Jesu Christi
 3402129728, 9783402129722

Table of contents :
Title
Vorwort. Dem Leser zum Geleit
Inhaltsverzeichnis
Zum Anliegen und zur Zielsetzung des Buches
Erster Teil - Die neutestamentlichen Haupttexte zur Herkunft Jesu Christi
Abschnitt A: Mt 1 - Der Text, seine Übersetzung und die theologische Erfassung seiner Aussagen
I. Zur rechten Übersetzung von Mt 1
II. Zur theologischen Erfassung von Mt 1
III. Kernpunkte des Aussage-Inhaltes von Mt 1
Abschnitt B: Lk 1-2 - Text - rechte Übersetzung - theologische Erfassung seiner Aussagen
I. Zur textentsprechenden und sachgerechten Übersetzung
II. Zur theologischen Erfassung von Lk 1-2
III. Zu einigen Kernaussagen in Lk 1-2
Abschnitt C: Zur Herkunft Jesu Christi gemäß Gal 4,4f
Abschnitt D: Röm 1,3f und die Herkunft Jesu Christi
Abschnitt E: Die Herkunft Jesu Christi gemäß Phil 2,5–11
Abschnitt F: Die Herkunft Jesu Christi nach Joh 1, insbesondere 1,14
Abschnitt G: Unbiblische und sach-fremde Wörter/Begriffe in Anwendung auf die ntl. Texte in Exegese und Biblischer Theologie
I. Wort/Begriff „Jungfrauengeburt“ und ähnliche, erklärende bzw. begleitende Bildungen
II. „Präexistenz Christi“
III. Anfang /Anfänge Jesu -Ursprung/Ursprünge Jesu
IV. Lebensentstehung Jesu
V. Menschwerdung
VI. Inkarnation
VII. Zusammenfassend-abschließende theologie-kritische Bemerkung
Zweiter Teil - Zusammenfassender Überblick über die ntl. Aussagen zur Herkunft Jesu Christi
I. Zur Zielsetzung dieses Kapitels
II. Die wegweisenden ntl. Texte für die Zusammenschau
III. Zusammenschau der ntl. Aussagen zur Herkunft Jesu Christi
Abschluß und Ausblick
Anhang I: Exkurse
Exkurs 1: Euaggelion – Evangelium
Exkurs 2: Gott in Geschichte
Exkurs 3: „Transzendenz“ Gottes?
Exkurs 4: mal‘ak – ayyggeloj – Bote in der Heiligen Schrift
Exkurs 5: pneuma hagion
Exkurs 6: „Christologische Hoheitstitel“
Exkurs 7: „Theologie“ und/oder „Christologie“? „Theozentrik“ oder „Christozentrik“?
Exkurs 8: Israelitisch-jüdisches Eheschließungs- und Familienrecht
Exkurs 9: gennao. Was bezeichnet es?
Exkurs 10: Das Ehepaar Josef und Maria in der ntl. Bekundung des Heilsgeschehens
Exkurs 11: DIKAIOS - GERECHTER
Exkurs 12: Jes 7,14
Exkurs 13: Traum - Erscheinung - Offenbarung
Anhang II: Texte aus den Kommentaren
Texte 1: Texte zu gennesis in Mt 1,18
Texte 2: Texte zu Mt 1,19-21
Texte 3: Texte zu Mt 1-2 allgemein
Texte 4: Texte zum Namen JHWH und seine besondere Beachtung
Texte 5: Texte zu „Schöpfung“, „Neuschöpfung“ u. ä.
Texte 6: Texte zu Gal 4,4
Texte 7: Texte zu „Nichtvereinbarkeit“ ntl. Aussagen miteinander oder ihre Widersprüchlichkeit
Texte 8: Texte zu „Transzendenz Gottes“
Register
Schriftstellen
Namenverzeichnis
Sachregister (Auswahl)
Literaturverzeichnis

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ISBN 978-3-402-12972-2

die Herkunft Jesu Christi Raphael Schulte

Das Buch ist eine stille, doch eindringliche theologische Besinnung im Blick auf das Verständnis wie auch Missverständnis der einschlägigen biblischen Texte zur Herkunft Jesu Christi, wie sie in der Fachliteratur begegnen. Schon Übersetzungsfehler in den entscheidenden Texten Mt 1–2, Lk 1–2, Joh 1, Phil 2 und Gal 4 werden aufgewiesen, die bekanntlich zu schwerwiegenden Fehldeutungen der Textaussagen und zu verfehlten fachlichen Wort und Begriffsbildungen geführt haben. Ein folgenschweres Beispiel dafür ist die absurde Wortbildung „Jungfrauengeburt“, für das in der Bibel tatsächlich Bekundete. Dazu gehören aber auch Begrif­fe wie „Präexistenz“, „Menschwerdung“, „Inkarnation“ u.a., weil sie unbiblische und sachwidrige Wort- und Begriffsbildungen sind, die jedoch allenthalben verwendet werden. In der vorliegenden Untersuchung werden wichtige Erkenntnisse ge­wonnen. Sie werden dargelegt unter vorläufigem Meiden der gängi­gen fachtheologischen Denk- und Sprechweisen. Das Darzulegende bedient sich zunächst und wegweisend der Denk- und Sprechweise der Heiligen Schrift selbst. Alles das geschieht in der normalen Alltagssprache aufmerksam zu-hörender, nach-denklicher und ver­ständiger Menschen. So werden weitere, auch wissenschaftlich re­flektierte Erkenntnisse gültig vorbereitet und verantwortet.

Raphael Schulte

die Herkunft Jesu Christi Verständnis und MiSSverständnis des biblischen Zeugnisses

Eine theologie-kritische Besinnung

Raphael Schulte Jahrgang 1925, seit 1948 Benediktiner der Abtei St. Joseph zu Gerleve (Billerbeck / Westfalen), Dr. theol. (Rom   / St. Anselmo), em. Universitätsprofessor der Universität Wien (Berufung 1971 / Emeritierung 1995)

Raphael Schulte OSB Die Ηerkunft Jesu Christi

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Raphael Schulte OSB

Die Herkunft Jesu Christi Verständnis und Mißverständnis des biblischen Zeugnisses Eine theologie-kritische Besinnung

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© 2012 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54 Abs. 2 UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen. Gesamtherstellung: Aschendorff Druck und Dienstleistungen GmbH & Co. KG Druckhaus Aschendorff Münster, 2012 ISBN 978–3–402–12972–2

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Die Himmel rühmen die Herrlichkeit Gottes, die Himmelsfeste verkündet sein Werk. Der Tag gibt weiter das Wort an den folgenden. Die Nacht vermeldet der Nacht ihre Kunde. Ihre Botschaft ertönt bis an die Enden der Erde. (Ps 19) Seht, ich verkünde euch große Freude. Denn heute ist euch der Heiland geboren, der ist Christus-Herr! (Lk 2,10f) Wir haben gesehen und bezeugen, daß der Vater seinen Sohn gesandt hat als den Heiland der Welt. Wir haben die Liebe Gottes zu uns erfahren und sind so zum Glauben gekommen. Gott ist die Liebe. (1 Joh 4,14–16)

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Vorwort Dem Leser zum Geleit Über die unverkennbare Eigenart und die langwährende Entstehungsgeschichte des hier vorliegenden Buches gibt das Erste Kapitel des Haupttextes ausführlich Rechenschaft. Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis zeigt unmittelbar, daß mit diesem Buch keine thematisch-abgerundete Abhandlung, kein klar umrissenes Sachobjekt, kein wissenschaftlich-einheitlich bestimmter Sachverhalt, keine in sich abgerundete und zu Beginn als solche eindeutig benannte Problemstellung und logisch geordnete Sach-Darlegung angeboten wird. Der Autor ist sich dessen voll bewußt, glaubt jedoch, das hier Vorgelegte doch als Druckwerk veröffentlichen zu sollen. Für den zunächst wenig homogen erscheinenden Aussageinhalt des Darzustellenden und den Nachweis seiner Berechtigung bedient er sich deswegen, wenngleich in diesem Ausmaß ungewohnt, ausgedehnter, manchmal monographisch anmutender Exkurse, damit nicht durch allzu viele Zwischen-Erklärungen die Hauptaussageinhalte eher verdeckt als offengelegt werden. Auch die zahlreichen, manchmal langen Anmerkungen schienen keine genügende Hilfe zu sein. So kann mit einem gewissen Recht das Buch durchaus als eine unverbindlich erscheinende Zusammenstellung zahlreicher, vielleicht bedeutsamer Beobachtungen, Erkenntnisse und Offenlegungen angesehen werden, die zwar einzeln in sich gesehen als richtig und berechtigt zu erkennen sind, deren innerer Zusammenhang jedoch wegen der Fülle nicht mehr genügend durchscheint. Dieser Eigen-Art dessen, was und wie das vorliegende Buch die „SachVerhalte“ vorlegt, ist sich der Autor voll bewußt. Er glaubt jedoch, einem geduldigen Leser dieses zumuten zu dürfen, ja sogar zu sollen, und zwar aufgrund der Aufforderung und dem Drängen vieler Kollegen und manch anderer bedeutsamer Personen. Daher ist es an dieser Stelle jetzt meine Absicht, den vielen zu danken, die mich zur Veröffentlichung der folgenden theologisch-kritischen Überlegungen und deren ausführlicher Darlegung nicht nur ermuntert, sondern nachdrücklich gedrängt haben. Sie erst gaben mir den Mut, diesem Ansinnen endlich zu entsprechen. Es wären viele Kollegen, die sich der Theologie wie auch der Philosophie und den Naturwissenschaften widmen, namentlich zu nennen. Aber auch vieler so genannter Laien, d. h. Christlich-Glaubender aller Konfessionen ist zu gedenken. Es ist aber kaum möglich, sie alle aufzuführen. Namentlich möchte ich aber doch meinen Mitbruder in der Abtei St. Joseph zu Gerleve P. Dr. bibl. Liudger Sabotta OSB nennen, der mir seit meiner Rückkehr in die Abtei nach meiner Emeritierung nicht nur eindringlich zur Veröffentlichung geraten, sondern – und das ist unbedingt wichtig, es zu benennen – mit seinen reichen und gediegenen Kenntnissen in der Theologie und in den biblischen und altorientalischen Sprachen geholfen und meine Vermutungen oft bestätigt oder auch zurechtgerückt hat, sowie schließlich die elektronische Erfassung des Manuskriptes besorgte. Ihm weiß ich mich zu großem Dank verpflichtet. Raphael Schulte OSB 4

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Inhaltsverzeichnis

Erster Teil: Die neutestamentlichen Haupttexte zur Herkunft Jesu Christi . . . . . 55 Abschnitt A: Mt 1 — Der Text, seine Übersetzung und die theologische Erfassung seiner Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 I.

Zur rechten Übersetzung von Mt 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mt 1,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mt 1,2–17 – Der Stammbaum Jesu Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) zu Mt 1,2–16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bemerkungen zu Mt 1,16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bemerkungen zu Mt 1,17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mt 1,18 – Einige Übersetzungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) zu Mt 1,18a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) zu Mt 1,18b . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) zu Mt 1,18c . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Mt 1,19 – Übersetzungsfragen und Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Mt 1,20 – Zur rechten Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Bemerkungen zur Übersetzung von Mt 1,21–25 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56 56 58 58 59 60 60 60 61 62 64 65 68

II. Zur theologischen Erfassung von Mt 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Absicht dieses Abschnittes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die theologische Aussage von Mt 1,1–17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Mt 1,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mt 1,2–17 – Der Stammbaum Jesu Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Besondere Bemerkungen zu Mt 1,16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die theologische Aussage von Mt 1,18–25 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Vers Mt 1,18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Verse Mt 1,19–21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die theologische Aussage von Mt 1,22–23 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die theologische Aussage von Mt 1,24–25 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69 69 70 70 71 76 79 80 87 95 97

III. Kernpunkte des Aussage-Inhaltes von Mt 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gott – Hauptsubjekt des in Mt 1 Bekundeten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Jesus Christus in Mt 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Josef und Maria in Mt 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Abschnitt B: Lk 1–2 — Text – rechte Übersetzung – theologische Erfassung seiner Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 I.

Zur textentsprechenden und sachgerechten Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Lk 1,11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lk 1,27 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Lk 1,34 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Lk 1,35 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Lk 2,9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Zur theologischen Erfassung von Lk 1–2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Absicht dieses Abschnittes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lk 1,1– 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Lk 1,26–38 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Lk 1,26–27 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Lk 1,28–29 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Lk 1,30–33 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Lk 1,34 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Lk 1,35 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Lk 1,36–37 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Lk 1,38 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Lk 1,39–80 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Lk 2,1–52 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Lk 2,1–20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Lk 2,21–40 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Lk 2,41–52 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

130 130 130 135 135 137 139 143 151 155 156 157 159 159 161 164

III. Zu einigen Kernaussagen in Lk 1–2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gott – Hauptsubjekt in 1– 2; bedeutsame Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Jesus Christus: Bemerkenswertes in Lk 1–2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Josef und Maria als die Eltern Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Weitere bemerkenswerte Feststellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zu einigen befremdlichen Aussagen über Gott und sein Wirken . . . . b) „Messias“ – „Christus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) „Jungfrauengeburt“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abschnitt C: Zur Herkunft Jesu Christi gemäß Gal 4,4f . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Abschnitt D: Röm 1,3f und die Herkunft Jesu Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

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Inhalt

Abschnitt E: Die Herkunft Jesu Christi gemäß Phil 2,5–11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einsichtnahme in die Textaussagen von Phil 2,5–11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Präexistenz“, „Menschwerdung“, „Inkarnation“ – sinnvolle Kategorien für das Verständnis von Phil 2,5–11? . . . . . . . . . . . . . a) Präexistenz, Präexistenter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Menschwerdung“ und „Inkarnation“ in Phil 2,5–11? . . . . . . . . . . . . . .

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Abschnitt F: Die Herkunft Jesu Christi nach Joh 1, insbesondere 1,14 . . . . . . . . . . . . 1. Der Aussagegehalt von Joh 1,14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Präexistenz“, „Menschwerdung“, Inkarnation“ – sachlich gerechtfertigte Begriffe für das Verständnis von 1,1–14? . . . . . . . a) „Präexistenz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Menschwerdung“, „Inkarnation“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

256 256

246 246 251

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Abschnitt G: Unbiblische und sach-fremde Wörter/Begriffe in Anwendung auf die ntl. Texte in Exegese und Biblischer Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 I.

Wort/Begriff „Jungfrauengeburt“ und ähnliche, erklärende bzw. begleitende Bildungen („jungfräulich“ u. ä.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Jungfrauengeburt“ – Wort und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Lexikalische Auskunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verwendung als Titel für Bücher und Fach-Artikel . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verwendung als Hauptstichwort in Kommentar-Texten bzw. in theologisch-systematischen Aussagen; einige sprechende Beispiele 2. Das Wort „Jungfrau“, „Jungfräulichkeit“ u. ä. im NT; Vorkommen und Bedeutungsinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. ‚alma – parqe,noj – virgo – Jungfrau – Parthenogenesis in den Kommentaren zu Mt 1–2 und Lk 1–2; wichtige Beispiele . . . . . . . . . . . . . . 4. Jungfräulichkeit/Jungfrauschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Adjektiv „jungfräulich“ und die mit ihm gebildeten Formulierungen a) „jungfräulich“ in eher unbestimmter, allgemeiner Bedeutung . . . . . . . b) Text-Beispiele mit gewichtigeren Aussagen und Erklärungen . . . . . . . c) Kommentar-Texte mit Angabe von Gründen für die Wahl von „jungfräulich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Beiträge von systematisch interessierten Theologen . . . . . . . . . . . . . . . e) „Jungfräuliche Mutterschaft Marias“ in den Kommentaren . . . . . . . . . f) „jungfräuliche Empfängnis“ = „vaterlose Zeugung Jesu“ . . . . . . . . . . . . g) jungfräuliche Geburt Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. „geistgewirkte Empfängnis“ = jungfräuliche Empfängnis“ . . . . . . . . . . . . . a) „geistgewirkte Empfängnis“ – „geistgewirkte Geburt Jesu“ . . . . . . . . . b) „Geistzeugung“ -“ Zeugung durch den Geist“ u. ä. . . . . . . . . . . . . . . . . .

275 276 276 280 282 290 293 299 304 306 307 311 315 319 324 334 335 336 338 7

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Inhalt

c) Herkunft/Lebensentstehung Jesu durch den Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . d) „Gottessohnschaft“ – Folge der „geistgewirkten Empfängnis“ . . . . . . . e) „Wunder der jungfräulichen Empfängnis und Geburt Jesu“ – „Wunder der Jungfrauengeburt“ – „Wunder der Menschwerdung“ . . . f) „Gott bzw. der Heilige Geist anstelle des Vaters“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Josef nur rechtlicher, d. h. Adoptivvater Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Mit-Wirken des Geschöpfes im alleinigen Wirken Gottes durch Bereitschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

342 345

II. „Präexistenz Christi“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Auskunft der theologischen Lexika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Präexistenz-Aussagen in der Heiligen Schrift? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Frühjüdische Denkvoraussetzungen zu den ntl. PräexistenzAussagen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Alttestamentliche und frühjüdische Voraussetzung für eine „Präexistenz“-Christologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) „Präexistenz Christi“ in Aussagen des Neuen Testaments? . . . . . . . . . . d) „Präexistenz Christi“ in Gal 4,4f? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) „Präexistenz Christi“ in Phil 2,6–11? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) „Präexistenz Christi“ im Joh-Kommentar von R. Schnackenburg . . . . 3. Aussage-Inhalte von „Präexistenz“ in den Kommentaren . . . . . . . . . . . . . a) Formelhafter Gebrauch von „Präexistenz Christi“ . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Präexistenz“ – ein „Gedanke“ – eine „Idee“ – „Vorstellung“? . . . . . . . c) „Präexistenz“ – Grund, bzw. Begründung der Gottessohnschaft? . . . . d) „Präexistenter“ als „Name“ für „Logos“, für „Jesus Christus“ . . . . . . . . e) „Präexistenz“ – eine „reale“ – „ideelle“ – „personale“? . . . . . . . . . . . . . f) „Präexistenz“ – Seins- bzw. Daseinsweise u. ä. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) „Präexistenz“ als „vorzeitliche“ bzw. „vorirdische“ Existenz Christi . . h) „Präexistenz“ und Schöpfungsmittlerschaft und Vorrang vor allem . . i) „Präexistenz“ und Sendung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) „Existenz“ – „Präexistenz“ – „Postexistenz“ – „Proexistenz“ – Einige kritische Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

374 374 382

348 362 367 371

383 388 391 395 399 407 421 422 423 424 425 427 429 432 435 438 439

III. Anfang/Anfänge Jesu – Ursprung/Ursprünge Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 IV. Lebensentstehung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 V. Menschwerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 VI. Inkarnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 VII. Zusammenfassend-abschließende theologie-kritische Bemerkung . . . . . . . . 471 8

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Inhalt

Zweiter Teil: Zusammenfassender Überblick über die ntl. Aussagen zur Herkunft Jesu Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 I.

Zur Zielsetzung dieses Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475

II. Die wegweisenden ntl. Texte für die Zusammenschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Texte mit „senden“ als Tat Gottes des Vaters bzw. mit „Gesandt-Werden“ oder „Gesandt-Sein“ des Sohnes durch Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Joh 3,16.17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gal 4,4–7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Röm 8,3–4. – Dazu auch 8,12.14–17.28–30.32.37–39 . . . . . . . . . . . . . . . . d) Abschließende Bemerkungen zu den Sendungstexten . . . . . . . . . . . . . 2. Texte, in denen Jesus Christus das Subjekt der Aussage ist . . . . . . . . . . . . a) Phil 2,5–9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Joh 1,14 (im Kontext 1,1–18) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Texte mit Aussagen zu Herkunft Jesu Christ in Mt 1–2 und Lk 1–2 . . . . . . a) Texte aus Mt 1–2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Texte aus Lk 1–2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenschau der ntl. Aussagen zur Herkunft Jesu Christi . . . . . . . . . . . . 1. Unvereinbarkeit/Widersprüchlichkeit der Aussagen? Konkurrenz der ntl. Christologien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eine erste Stellungnahme zu den Behauptungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zum Vor-Gang des Geschehens des Heils in Jesus Christus als Leitfaden für die Zusammenschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zur Vorgangsweise in der folgenden Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zur Sprechweise der ntl. Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die ntl. Aussagen zur Herkunft Jesu Christi gemäß der Folge des damaligen Geschehensablaufes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

479 479 479 482 488 489 491 491 495 499 499 501 507 507 511 513 513 514 516

Abschluß und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 Anhang I: Exkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 1: Euaggelion – Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 2: Gott in Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 3: „Transzendenz“ Gottes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 4: mal‘ak – a;ggeloj – Bote in der Heiligen Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 5: pneuma hagion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 6: „Christologische Hoheitstitel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 7: „Theologie“ und/oder „Christologie“? „Theozentrik“ oder „Christozentrik“? Eine Problemanzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

548 548 569 588 590 599 610 614 9

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Inhalt

Exkurs 8: Israelitisch-jüdisches Eheschließungs- und Familienrecht . . . . . . . . . Exkurs 9: gennao. Was bezeichnet es? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 10: Das Ehepaar Josef und Maria in der ntl. Bekundung des Heilsgeschehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 11: DIKAIOS – GERECHTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 12: Jes 7,14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 13: Traum – Erscheinung – Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

649 655 680 683 688 693

Anhang II: Texte aus den Kommentaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Texte 1: Texte zu gennesis in Mt 1,18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Texte 2: Texte zu Mt 1,19–21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Texte 3: Texte zu Mt 1–2 allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Texte 4: Texte zum Namen JHWH und seine besondere Beachtung . . . . . . . . Texte 5: Texte zu „Schöpfung“, „Neuschöpfung“ u. ä. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Texte 6: Texte zu Gal 4,4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Texte 7: Texte zu „Nichtvereinbarkeit“ ntl. Aussagen miteinander oder ihre Widersprüchlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Texte 8: Texte zu „Transzendenz Gottes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

700 700 705 708 715 721 727

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriftstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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731 736

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753

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Zum Anliegen und zur Zielsetzung des Buches Das Anliegen und die Zielsetzung des hier vorliegenden Buches, dem der Titel „Die Herkunft Jesu Christi. Verständnis und Mißverständnis des biblischen Zeugnisses“ zugleich mit dem Untertitel „Eine theologie-kritische Besinnung“ gegeben ist, können wegen seiner besonderen Art der abzuhandelnden „Sache“ und der von dieser gefordert erscheinenden Darstellungsweise nur in persönlichem Sprechen hervorgekehrt werden. Der Haupttitel scheint zunächst verständlich zu sein. Es soll von der Herkunft Jesu Christi die Rede sein, wie von ihr in der Heiligen Schrift Zeugnis gegeben wird. Der Titel greift bewußt die Formulierung von Mt 1,1.18 auf: „Geschichte Jesu Christi, Sohn Davids, Sohn Abrahams … Die Herkunft Jesu Christi aber war so: …“. Das biblische Zeugnis von dieser Herkunft Jesu Christi soll nach seinem Verständnis und Mißverständnis genauer besprochen werden, was mittels des beigefügten Untertitels unter anderem aufgrund einer „theologie-kritischen Besinnung“ geschehen soll. Wie es zu der Wahl einer solchen Buch-Thematik mit dem genannten Titel gekommen ist, soll näher aufgezeigt werden. Der erste Gedanke, die hier vorgelegten Überlegungen wenigstens in einigen Hauptteilen zu veröffentlichen, keimte schon vor vierzig, wenn nicht fünfzig Jahren. Es waren damals die Jahrzehnte, in denen sich zahlreiche exegetische, bibeltheologische wie auch dogmatisch-systematische Untersuchungen und entsprechende Veröffentlichungen gerade auch zur Herkunft Jesu Christi häuften. Diese versuchten, auf die Fragen nach dem dringend zu klärenden rechten Verständnis der so genannten Geburts- und Kindheitsgeschichten Jesu, zumal wie davon in Mt 1–2 und Lk 1–2 die Rede sei. Es war überhaupt die Zeit eines Neuaufbruches in Bezug auf Grundsatz-Fragestellungen wie Antwortmöglichkeiten der Theologie des christlichen Glaubens und seiner zeitgemäßen Verkündigung und somit der theologischen Verantwortung, die die bisherige theologische und vor allem auch die verkündigende Tätigkeit der Kirche aller Konfessionen wachriefen. Es seien dazu nur die Namen P. Schoonenberg, E. Schillebeeckx, K. Rahner, H. Küng, K.-J. Kuschel und G. Lüdemann genannt wie auch auf den damals neu erschienenen sog. Holländischen Katechismus hingewiesen. Alle diese und weitere Veröffentlichungen lösten auch Reaktionen der kirchlich-zuständigen Ämter aus, nicht nur in der römisch-katholischen Kirche, die – ob zu Recht oder nicht, das muß 11

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hier nicht besprochen werden – zu manchen Äußerungen Stellung bezogen.1 Ein entsprechend, wenn nicht gar größeres und „aufregenderes“ Interesse galt zur gleichen Zeit den bibeltheologischen und systematisch-theologischen Fragen nach dem rechten Verständnis der Auferweckung/Auferstehung Jesu Christi. Hinzutraten noch drängende Fragen und entsprechende Antwortversuche, die sich auf die Eschatologie und ihre notwendigen Auswirkungen auf die zeitgemäße kirchliche Verkündigung bezogen, wozu beispielhaft der Name J. Moltmann genannt sei.2 Auch, und in einem ganz besonderen Ausmaß ist das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) wirksamster Anstoß und Beweggrund für eine allenthalben und insgesamt zu erneuernden Theologie und, im Gefolge dazu, für die kirchliche Verkündigung geworden, woraus sich übrigens zum Teil auch die Veröffentlichungen der schon genannten Autoren erklären. – Zu genau dieser Zeit erfolgte die Berufung des Autors der vorliegenden Schrift auf den Lehrstuhl für Dogmatische Theologie und Dogmengeschichte (damals „Theologia dogmatica“ genannt) an die Internationale Hochschule Sant‘ Anselmo der Benediktiner in Rom. Dort hatte er auch die „Theologia spiritualis“ zu dozieren sowie an dem neu begründeten Institutum Pontificium Liturgicum Sant‘ Anselmo Vorlesungen und Seminare zur Sakramententheologie zu halten. Zu genau dieser Zeit wurde auch das umfangreiche Werk „Mysterium Salutis. Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik“ geplant und vorbereitet.3 An diesem umfassenden Werk wurde der Autor der vorliegenden Untersuchung mit einer Reihe von Kapiteln beteiligt. Es gab damals keine detaillierte Absprache mit den Herausgebern und den zahlreichen an den einzelnen Bänden mitarbeitenden Autoren, sondern nur eine je einzelne Besprechung dessen, was jeweils zu behandeln erwünscht wurde. Das brachte es mit sich, daß jeder Autor für seinen Beitrag selbst bestimmen mußte und dazu auch die notwendige Freiheit bekam, wie er das ihm aufgegebene Thema verstand und wie er es im Rahmen dieses systematisch-dogmatischen, heilsgeschichtlich auszurichtenden Werkes durchzuführen gedachte. Dazu hatte ich mich entschlossen, dieselbe Art der systematisch-dogmatischen Vorgangs- und Darstellungsweise einzusetzen, die ich schon 1

2 3

Zu den genannten Theologen kann verwiesen werden auf Folgendes: P. Schoonenberg: s. LThK 9 (200) 214 (mit dem Hinweis, daß er der „theol. Inspirator des Holländ. Erwachsenenkatechismus“ war). – E. Schillebeeckx: s. LThK 9 (2000) 142f; spezifisch genannt sei: „Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden“ (1975). – H. Küng mit „Christ sein“ (1974) und „Existiert Gott? Antwort auf die Gottesfrage der Neuzeit“ (1978) und andere vorhergehende Werke. – K.-J. Kuschel mit „Geboren vor aller Zeit? Der Streit um Christi Ursprung“ (1990). – G. Lüdemann, „Die Auferstehung Jesu. Historie, Erfahrung, Theologie“ (1994). – Die Bischöfe der Niederlande sind Herausgeber von „De nieuwe Katechismus“ (1966); deutsch: „Glaubensverkündigung für Erwachsene“ (1968). Von J. Moltmann sei beispielhaft genannt: „Der gekreuzigte Gott“ als Neuansatz für die Christologie (1972). „Mysterium Salutis. Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik“, herausgegeben von J. Feiner und M. Löhrer, Einsiedeln, zahlreiche Mitarbeiter. Bd. I 1965; Bd. II 1967; Bd. III/1 1970; Bd. 111/2 1969; Bd. IV/1 1972; Bd. IV/2 1973; Bd. V 1976; Ergänzungsband: Arbeitshilfen und Weiterführungen 1981.

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vorher selbst konzipiert und praktiziert hatte, und das aufgrund einer bestimmten Denkungsweise gegen die damals ganz übliche Art der zugrundegelegten Gliederung und Abhandlung der einzelnen dogmatischen Kapitel nach dem bekannten Schema „These – Positiver Beweis (1. Kirchliches Lehramt; 2. Die Offenbarungsquellen, a. die Heilige Schrift; b. die Väter) – Spekulative Behandlung“, wie sie z. B. in der von Fr. Diekamp vorgelegten „Katholischen Dogmatik“ und von vielen anderen, neuscholastisch geprägten Theologen angewendet wurde. Ich hatte mich dagegen entschlossen, für eine gediegene Grundlegung aller sog. Dogmatischen Aussagen zuerst durch das zu sorgen, was die Heilige Schrift selbst als ihren eigenen Aussage-Inhalt vorgibt. Darauf war für mich der alles entscheidende Wert zu legen und die dazu notwendigen Vor-Arbeiten gewissenhaft durchzuführen. Das galt für die mir zugewiesenen Abschnitte in einem besonders großen Ausmaß, weil sie mir etwas darzustellen auftrugen, das in bisherigen systematisch-dogmatischen Werken unbekannt war. So sollte im Großteil „Gott als Ursprung der Heilsgeschichte“ im dazu vorgesehenen 2. Kapitel „Die Selbsterschließung des dreifaltigen Gottes“ als erster Abschnitt „Die Vorbereitung der Trinitätsoffenbarung“ dargestellt werden. Das war, thematisch so formuliert und eingefordert, gänzlich ungewöhnlich. In ähnlicher Weise galt das auch für die mir aufgetragenen Abschnitte im Band III, der selbst den Titel „Das Christusereignis“ trug. Den mir zugewiesenen Abschnitten waren die Überschriften „Das Christusereignis als Tat des Vaters: Die Heilstat des Vaters in Christus“ (III/1) und „Die Mysterien der ‚Vorgeschichte‘ Jesu“ (III/2) vorgeschrieben. Wieder waren das bisher unbekannte Themenstellungen, die eine ihnen wirklich entsprechende Ausarbeitung erforderten. Daß das Gesamtwerk „Mysterium Salutis“ faktisch schon in der Planung, Auswahl und Zusammenstellung der einzelnen „dogmatischen“ Traktate doch noch dem alten, eingebürgerten Schema folgte („Einführung – Der dreifaltige Gott („Trinitätslehre“) – Protologie/Schöpfungslehre – Der Mensch – Das Christusereignis (Christologie) – Heilstat Gottes in Christus (Soteriologie und Mariologie) – Heilsgeschehen in der Gemeinde (Ekklesiologie mit Sakramententheologie und Gnadenlehre) – Zwischenzeit und Vollendung der Heilsgeschichte (mit Sakramentenlehre Teil 2 und Eschatologie)“), erschien den Herausgebern nach einem dem entsprechenden Schema den Mitarbeitern einzelne Teile, gegebenenfalls auch Unterteile zuzuweisen. So kam es, daß manchem eine ungewohnte Themenstellung (Kapitel-Überschrift) vor-geschrieben wurde. Daher war das, was ausgearbeitet werden mußte, ganz neu zu konzipieren. Man konnte sich folglich keiner einschlägigen Vorarbeiten bedienen, sei es in der biblischen Grundlegung, sei es aus der Dogmengeschichte oder den Arbeitsergebnissen der bisherigen dogmatisch-systematischen Theologie. Es war gleichsam eine neue Weise zu finden, die Problemstellung und ihre geordneten Ausarbeitung zu verfolgen, die mir im Prinzip eigentlich zuwider war, nämlich für eine theoretisch vor-konzipierte und fest-geschriebene Thematik zuerst einmal nach biblischen Texten Ausschau zu halten, die von sich aus (und nicht in sie hineingelesen) rechtens zum vorgeschriebenen Thema etwas Wesentliches zu sagen 13

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haben könnten. Dasselbe galt und gilt natürlich auch schon für den Begriff „Heilsgeschichte“ und seine grundlegende Bedeutung und Anwendung auf eine Dogmatik, die seit Jahrhunderten erarbeitet und in ihrer Eigenheit konzipiert und in mannigfaltiger Weise schon vorgelegt worden war. Dazu werden wir im folgenden gesondert Stellung beziehen müssen. Hier sei zunächst dieses gesagt: Bei der näherer Inaugenscheinnahme verbindlich und leitend zu sein erscheinender biblischer Aussagen und Aussage-Weisen zu dem Darzustellenden fand sich je länger desto mehr, daß schon die vorliegenden exegetischen und bibeltheologischen Text-Auslegungen der für die genannte Themenstellungen entscheidenden Bibeltexte selbst oft äußerst unzulänglich, wenn nicht sogar erkennbar falsch waren. Das führte zur Überzeugung, es täte eine prinzipiell andere Weise des Lesens, Auslegens, Interpretierens und Anwendens der Bibel-Texte not. Sie muß entschlossen sein, sich zuallererst am biblischen Text selbst, an seinen Aussagen und an seiner Sprech- und Bekundungsweise auszurichten, um erst dann, im Gefolge, vielleicht auch nach implizit Mit-Ausgesagtem Ausschau zu halten, um so, dem biblisch Ausgesagten glaubend nach-denkend, rechtens zu systematischen Darstellungsweisen fortzuschreiten. Diese Auffassung einer neuen, unüblichen systematisch-theologischen Erarbeitung theologisch verantworteter Aussagen zum christlichen Glaubensbekenntnis läßt sich die genaue Themenstellung des Darzustellenden zuerst von der Heiligen Schrift her vorgegeben sein. Sie hält nicht umgekehrt für eine zuvor festgelegte Thematik nach entsprechenden biblischen Aussagen Ausschau, in der Hoffnung, daß diese überhaupt für die vorgegebene Thematik etwas an anwendbaren Aussagen bereithält. Das Kriterium für systematisch gültige Aussagen der Bibel war ja früher nicht der Bibeltext mit seinen eigenen Aussage-Inhalten, sondern die vorgegebene Themenstellung des Systematikers. Nicht selten zeigte der vorgefundene exakt herausgearbeitete Bibeltext-Inhalt sogar das systematische Thema als falsch oder äußerst unglücklich gestellt. Diese Weise, die Bibeltexte zuerst selbst sprechen zu lassen und das dadurch neugeartete Hören auf ihre Aussage-Inhalte brachte oft die alt-bekannt angesehenen Texte ganz neu zum Klingen. In der Auswertung, die dann im Gefolge auch auf vor-gegebene Fragen und Themen zur Aufwirkung kamen, wurden theologische „Sach“-Gehalte in neuem Licht gesehen, nicht selten auch als bisher unbeachtet geblieben erfaßt. Durch die konsequente Beachtung dieser ungewohnten Methode, die Bibel zunächst selbst aus-sprechen zu lassen und dabei aufmerksam zuzuhören, führte zu entsprechenden Neu-Konzipierungen vieler altgewohnter systematischer Blick- und Darstellungsweisen, die z. B. in den Vorlesungen und schriftlichen Darstellungen beachtliche Auswirkungen hatten. (Mir wurde sogar öfters im Blick auf meine Vorlesungen, Vorträge und Veröffentlichungen gesagt, anfangs sogar sich distanzierend, ich sei eher ein Bibel-Theologe als ein Dogmatiker – was ja nicht unbedingt schlimm sein muß.) In der sogearteten Weise, auf den Bibeltext als erst-verbindlich zu schauen, wendete ich mich jenen Bibel-Texten zu, die für die aus dem genannten gegebenen Anlaß der Frage nach der Herkunft Jesu Christi als entscheidend erkannt wurden. Es wurde untersucht, wie davon in der Bibel 14

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selbst einerseits und bei den Exegeten, Bibeltheologen und auch Systematikern andererseits die Rede war und ist. Dazu war es notwendig, sich zunächst einer ungewohnt umfangreichen Lektüre der einschlägigen Werke zu unterziehen. In dieser Lektüre vieler Bibel-Kommentare und anderer Arbeiten gerade auch zu Mt 1–2 und Lk 1–2, aber auch Gal 3–4, Phil 2 und Joh 1 begegneten mir bei zwei Bibelwissenschaftlern ein ermahnender Einwurf in Bezug auf die Erfassung ntl. Text-Aussagen, die mich in der von mir gewählten Sichtweise und Methode ungeahnt bestätigten. Sie seien mit ihren eigenen Worten zitiert, mit der Vorbemerkung, daß es hochanerkannte Exegeten sind, die zunächst ihren eigenen Kollegen das ins Gewissen sprechen, was ich da fand. Als ersten nenne ich A. Schlatter, der in seinem Mt-Kommentar in Bezug auf seine eigene „Methode der Lesung und Auslegung“ u. a. dieses schreibt: „Von Vermutungen hielt ich mich möglichst frei und verzichte darum auch auf die Widerlegung von solchen. Ich halte diese nicht für ein fruchtbares Geschäft. Denn Konjekturen werden nicht dadurch widerlegt, daß man andere macht. Die versinken dann, wenn eingesehen ist, daß die Beobachtung fruchtbarer ist als die Konjektur. Darum beschäftige ich die Leser auch nicht mit Fragen, die über die vorhandenen Texte hinüber nach dem greifen, was ihnen vorangegangen sein kann, z. B. ob die Gemeinschaft zwischen Mat. und Mark. eine ältere Fassung des Evangeliums sichtbar mache oder ob gleichzeitig mit dem griechischen Text schon vor ihm ein syrischer Text entstanden ist. Ich heiße ‚Wissenschaft‘ die Beobachtung des Vorhandenen, nicht den Versuch, sich vorzustellen, was nicht sichtbar ist. Vielleicht entsteht daraus die Einrede gegen den Wert einer solchen Darstellung, da die ratende Vermutung anrege und unterhalte, während die Beobachtung eine schwierige, harte Arbeit sei. Richtig ist freilich, daß Spiel leichter als Arbeit ist. Das Evangelium ist mißverstanden, wenn aus ihm ein Spielzeug wird“ (S. XI im Buch „Der Evangelist Matthäus. Seine Sprache, sein Ziel, seine Selbständigkeit“: 1946; 61963). Der andere hier zu nennende Exeget ist K. Bornhäuser. Er schreibt in seinem 1930 erschienenen Buch „Die Geburts- und Kindheitsgeschichte Jesu“ in der Einleitung diese wegweisenden Sätze: „Diese unheilvolle Wirkung des Zweifels an den Quellen (damit ist dort im Kontext gemeint: die Bezweiflung der historischen Glaubwürdigkeit des in den Evangelien Bekundeten: R. S.) ist begreiflicherweise um so größer und verhängnisvoller, je stärker das Mißtrauen ist. Es ist ganz besonders groß und stark gegenüber der Geburts- und Kindheitsgeschichte. So muß ihre Erklärung auch besonders unter einer oft nicht absichtlichen, ganz von selbst sich einstellenden Flüchtigkeit leiden. Die erste Frage, die sich bei dem Versuch, einen Bericht zu verstehen, zu stellen ist, muß aber doch immer sein: was steht da? was sagt die Quelle? wie will sie gelesen und verstanden sein? Mag hinterher die schärfste Ablehnung ihres geschichtlichen Wertes folgen, das ändert nichts an der Pflicht, zunächst einmal sie selbst geduldig anzuhören und zu erfassen zu suchen, was sie sagt. … Um so notwendiger scheint uns gerade heute ein ernsthafter Versuch, die Quellen selbst einmal ungehindert zu Worte kommen zu lassen und zu ihrem Verständnisse alle Hilfsmittel zu nützen, die uns zu Gebote stehen. Darin dürf15

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te doch wohl weitgehende Übereinstimmung herrschen, daß die Verfasser oder Redaktoren des Matthäus- und des Lukasevangeliums nicht der Meinung waren, ihren Lesern Phantasieprodukte einer jesusliebenden Gemeinde zu bieten, sondern daß sie das von ihnen Berichtete als faktische Geschichte aufgenommen wissen wollten. So haben auch sicher die ersten Leser der Evangelien deren Erzählungen genommen und keinen Unterschied gemacht zwischen den Geburtsgeschichten und dem, was sonst in den Quellen steht“ (1–3). Ferner sei beispielhaft auf das „Vorwort zur Erklärung des Paulus an die Philipper und an die Kolosser“ von W. de Boor im entsprechenden Band der Wuppertaler Studienbibel Neues Testament hingewiesen, das ausführlich und beachtenswert nochmals das nachdrücklich betont, was schon A. Schlatters Meinung und Haltung war. Wir bringen den Text wegen seiner Länge in der Anmerkung, möchten aber betonen, daß er aufmerksam gelesen und beachtet sein muß.4 Bei der gewissenhaften und sehr arbeitsaufwendigen Einsichtnahme in die ntl. Haupttexte zur Herkunft Jesu Christi und die ihnen gewidmeten Kommentare und Untersuchungen stellte sich, je länger desto mehr, heraus, daß diese Bibeltexte faktisch oft in äußerst fragwürdiger Weise übersetzt und erfaßt wurden, manche schon seit Jahrhunderten, was die dann folgende Auslegung, Interpretation und Anwendung der ntl. Texte in der Theologie entsprechend belastete, – abgesehen hier noch 4

W. de Boor schreibt: „Der große Lehrer der Kirche, Prof. D. Adolf Schlatter, hat es seinen Studenten immer wieder gesagt: ‚Meine Herren, Sie können nicht lesen!‘ Natürlich konnten die Studenten ‚lesen‘, sogar ganz leidlich ihr griechisches Neues Testament. Schlatter aber verstand unter ‚Lesen‘ jene offene und selbstlose Hinwendung zu einem Text, mit der ich getreu und genau aufnehme, was der Text wirklich sagt, und alle die eigenen, gewohnten und lieben Gedankengänge zurückstelle, die sich sofort in mein Erfassen des Textes eindrängen oder einschleichen wollen. Welch ernste Mühe, welch tapfrer Kampf gehört zu solchem echten ‚Lesen‘! Wie selbstverständlich sehen ganze Kirchen und Gemeinden biblische Abschnitte sofort und ausschließlich im Licht ihrer gewohnten Dogmatik und merken überhaupt nicht mehr, daß die Schrift selbst hier etwas ganz anderes sagt und meint. Aber auch wir selbst bei unserm persönlichen Bibelstudium – wie schwer fällt uns das wirkliche ‚Lesen‘! Wir sind in Anschauungen groß geworden, die uns so vertraut sind, daß wir sie fraglos für richtig und ‚biblisch‘ halten. Wir haben bestimmte Lieblingsgedanken, vielleicht mit entscheidenden geistlichen Erfahrungen unseres Lebens verknüpft, die uns unvermerkt formen und beherrschen. Das alles lesen wir unwillkürlich in unsern Bibeltext hinein und merken nicht, daß wir gar nicht mehr wirklich ‚lesen‘, sondern unsre eigenen Herzensmeinungen an biblische Worte anhängen. Wir rühmen die Heilige Schrift, wir erklären sie für die einzige Regel und Richtschnur, das untrügliche Wort Gottes; aber wenn es praktisch ans Bibellesen geht, sind wir mit schnellem Sprung vom Text weg bei unsern gewohnten und beliebten Vorstellungen und haben nicht genug Ehrfurcht vor dem Worte Gottes, um uns in mühsamer und aufmerksamer Arbeit zu vergewissern: Was steht denn da wirklich? Was sagt der Text selber? Man kann in manchen lieben, gläubigen Kreisen die Bibel aufschlagen, wo man will: Was da tatsächlich geschrieben steht, interessiert gar nicht und wird gar nicht aufgenommen, sondern man redet rasch wieder von den immer gleichen Wahrheiten, die in diesem Kreise besondere Geltung haben. Dadurch bleiben wir arm und oft genug auch schief gewachsen und lassen uns die ganze Tiefe des Reichtums entgehen, den Gott in Seinem Wort für uns bereit hat“ (Wuppertaler Studienbibel Neues Testament. Der Brief des Paulus an die Philipper“ S. 11) (1957; 122000).

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von den jeweils folgenden theologischen Aussagen der Exegeten wie der systematisch interessierten Autoren. Aufgrund der schon geschilderten persönlichen Erfahrungen bei der Einsichtnahme in die Bibeltexte für das in diesem Buch Vorzulegende erklärt sich die jetzt gewählte Vorgangs- und Darstellungsweise. Der für das Buch gewählte Titel ist in seiner Zusammenstellung einigermaßen auffallend und verlangt eine Begründung. Der Haupttitel scheint zunächst in sich verständlich zu sein. Es soll von der Herkunft Jesu Christi die Rede sein, und das genauer entsprechend dem biblischen Zeugnis. Was genau mit „Herkunft“ in Bezug auf Jesus Christus gemeint ist, bleibt zunächst offen. Auch wer mit „Jesus Christus“ genau gemeint ist, ist nicht klar, was jeder erkennt, der erfahren hat, wie problematisch dieser Name jeweils eingesetzt wird. Daher soll zunächst genauer erklärt und begründet werden, was wir und wie wir das vorzulegen gedenken, was zu sagen ist. Weil es zunächst um das biblische Zeugnis über die Herkunft Jesu Christi geht, soll in einem ersten Punkt diese Frage gestellt und zu beantworten versucht werden: Was ist die Heilige Schrift als das eine Wort Gottes? Wie ist sie zu lesen und zu hören? Und dann: Weil aus dem angegebenen Grund die Bibel unter dem heilsgeschichtlichen Aspekt zu lesen aufgetragen war und ist, erscheint es als gefordert, des weiteren zu fragen und die entsprechende Beantwortung beizubringen: Was ist die in der Heiligen Schrift bekundete Geschichte? Was ist es um das Besondere dieser Geschichte und wie ist sie folglich zur Kenntnis zu nehmen und sogar weiterzuerzählen? Man gewinnt aus den Einsichten, die sich bei der gewissenhaften Einsichtnahme in diese Vor-Gegebenheiten, nämlich die Heilige Schrift als Wort Gottes und die in der Bibel erzählte Geschichte, Grund-Einsichten, von denen her überhaupt christlich-theologisches Denken und die entsprechenden Aussagen ermöglicht und allerdings auch eingefordert sind, wenn ihre vor-gegebene Gewichtigkeit beachtet bleiben soll. So legen wir als Erstes vor, was wir meinen, zur Lektüre der Bibel gefordert zu sehen. Wie die Heilige Schrift lesen und theologisch anwenden?

Als ein Erstes ist dieses zu sagen: Es ist unabdingbar, daß der Theologe als dieser – „Theologie“ jetzt pauschal als wissenschaftlich verantwortete Tätigkeit verstanden – in einem ersten Schritt die Heilige Schrift als das Wort Gottes in der lebendigen Tradition der christlich-kirchlichen Glaubensgemeinschaft (jetzt nicht irgendwie konfessionell aufgelöst verstanden) als Selbst-Glaubender selbst lesen, hören, aufnehmen und wenigsten ansatzweise verstehen wollen muß. Das erfordert ab allem Anfang und durchhaltend ein bestimmtes Selbstbetroffen-Sein sowie Ehrfurcht vor diesem persönlich von Gott her vernommenen Wort. Das muß sich bleibend in seinem Umgang mit eben diesem Wort Gottes zeigen und bewähren. Das ist hier keine unangebrachte moralische Ermahnung, sondern schlicht vom „Objekt“ der christlichen Theologie als Wissenschaft zuvor-gegeben und gefordert. Das Wort Gottes selbst gibt dem Menschen zu verstehen, was es ihm sagt (sagen will). Nicht der Mensch versucht 17

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von sich aus Gott zu ergründen und bringt das Ergebnis seines Forschens ins Wort. Vielmehr besorgt Gott selbst sein Sich-zu-verstehen-Geben, so daß jeder, der es hören will, es versteht und begreift (bei aller, wie wir meinen sagen zu sollen, ein-gesehenen Unbegreiflichkeit).5 5

Es sei zum näheren Verständnis dessen, was im folgenden besprochen werden soll, einmal auf unser Sehen- und Hören-Können aufmerksam gemacht, das ja wie selbst-verständlich zu den Erfahrungen unseres alltäglichen Lebens als Menschen gehört. Vieles sehen und hören wir, von dem wir bemerken, daß es uns „angeht“. Manches davon beachten wir auch bewußt, manches aber auch nicht: wir widmen uns ihm erst gar nicht und lassen uns daher gar nicht „beeinflussen“. Wir lassen es geschehen und über uns ergehen, ohne es zu-hörend oder zu-sehend persönlich anzunehmen. Das gilt z. B. für eine Musik, die uns in einem Gasthaus zum Mittagessen im Hintergrund zur Unterhaltung mit-geliefert wird. Wir können ihr zuhören, sie aber auch einfach überhören, wenn sie nicht sogar stört. Wir widmen uns selbst vielleicht nur dem Mittagessen, das wir bewußt „verkosten“. Oder – ein anderes typisches Beispiel – wir gehen eine Straße auf unser Ziel zu und sehen dabei unterwegs vieles, etwa Reklameschilder, sie uns gleichsam „anschreien“ – und wir lassen uns betroffen sein oder auch nicht. Oder wir sehen ein Kunstwerk, etwa ein berühmtes Kirchengebäude aus alter Zeit, das vielleicht sogar gerade von Kunstbeflissenen bewußt besichtigt wird.; wir selbst lassen uns aber, weil altbekannt, davon im Vorbeigehen gar nicht beeindrucken, in diesem Moment lassen wir uns nicht besonders ansprechen. So kann man – noch ein Beispiel unserer Erfahrung – auch zum Gottesdienst gekommen sein, um alles „mitzumachen“. Man kann, muß aber gar nicht engagiert zuhören, obwohl etwas verkündet oder erklärt wird, das uns persönlich angeht. Vielleicht weiß ich hinterher nicht einmal zu sagen, was vorgelesen wurde, noch wovon ich eigentlich betroffen bin (wenn überhaupt), weil ich nicht wirklich zugehört habe; nicht, weil überhaupt nichts gesagt wurde. Wir wissen es genau: Es ist in meine persönliche Freiheit gestellt, etwas sogar mir persönlich zum Hören oder Sehen Dargebotenes überhaupt wahr-nehmen zu wollen. Ich muß mich öffnen – oder ich halte mich bewußt (!) verschlossen. Weiters wissen wir, daß wir z. B. in ein Konzert gehen, gar aufgrund eines persönlich ausgewählten Programms, und es uns auch an-hören – und wir können gegebenenfalls nachher gar nicht einmal sagen, was gespielt wurde, weil wir uns von etwas anderem total „ablenken“ ließen, aus welchen Gründen immer. Oder aber wir haben uns, wirklich zu-hörend, erbauen lassen und gehen zutiefst bewegt nach Hause, gleichsam anders geworden, als wir gekommen sind. Dann ist unser persönliches Hören und Gehört-Haben gelegentlich sogar das Thema unseres Gesprächs mit andern, die mit uns das Konzert erlebt haben. Während des Hörens einer Sinfonie kann ich auch z. B. das Spiel der Oboe oder der Flöte im Ensemble vieler Künstler, der Orchester-Mitglieder, heraus-hören und bewußt mit-verfolgen, ohne dadurch den eigentlichen Gesamteindruck zu beeineinträchtigen. Auch kann ich eine Partitur des Musikstückes mitgebracht haben und während des bewußten Hörens des Stückes gleichzeitig die Partitur mit-lesen und dabei einen Eindruck gewinnen, der mir zu Herzen, nicht in die Ohren und Augen geht. Die Partitur kann ich mir aber auch zuhause anschauen, sie verständnisvoll lesen und dabei zutiefst beeindruckt werden, ohne daß nur ein einziger Ton erklingen müßte. In dem einmal so zur Sprache Gebrachten haben wir uns bewußt die ganz eigenartige, aber stets-mit-erfolgende und lebendigst erfahrene „Unterscheidung“ zwischen uns selbst als „Person“ und den uns gegebenen Fähigkeiten angemerkt, „mittels“ derer wir uns prägen und beeindrucken, bewegen lassen können – oder eben auch uns unbehelligt zu bleiben entscheiden. „Sehen“, „Hören“, „Empfinden“ „tue“ ich, nicht meine Natur, nicht meine Potenzen. Denken wir an ein weltberühmtes Gemälde! Mit vielen je anderer Menschen „Augen“ wird es von Tausenden gesehen, doch wer schaut das, was das Bild „eigentlich“ jedem sagt – sagen kann? „Mir sagt das nichts“ ist eine übliche Redewendung z. B. im Blick auf ein modernes Kunstwerk, das mir angepriesen wird. Ist das Seh-Vermögen der einzelnen namentlichen Person je ein anderes – oder sind

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Zweitens muß der Theologe die Heilige Schrift, das Wort Gottes, auch als an sich selbst als Theologen persönlich gerichtet aufmerksam zu lesen und zu verstehen trachten, ohne sich von Anfang an schon von woandersher Richtlinien für dieses eigene Lesen und Verstehen vor-schreiben oder vor-geschrieben sein zu lassen; denn diese tragen immer schon einen gewissen Brillen-Charakter, der sich auswirken würde. Deswegen hat sich jeder Theologe zuerst einer akkuraten Übersetzung des Bibeltextes, der ja in den alten Sprachen Hebräisch und Griechisch verfaßt ist, in seine eigene Alltagssprache zu vergewissern. Dazu hat er schon gelernt, daß für zahlreiche Wörter und Wendungen in den alten Sprachen oft keine wirklich adäquaten eindeutigen Übersetzungswörter zur Verfügung stehen, so daß man sich ihrer problemlos bedienen könnte. Daher kommt auch schon der Fachexeget nicht umhin, nach entsprechenden Ersatzausdrücken zur gültigen Übersetzung Ausschau zu halten. Nicht selten ist man auf paraphrasierende Übertragungen angewiesen, was freilich äußerste Aufmerksamkeit fordert und reiches Wissen in den alten und in den heutigen Sprachen voraussetzt. Das gilt bekanntlich in Bezug auf das Hebräisch der Bibel in besonderem Maße, aber auch für das Griechisch des NT und der LXX. Es gibt faktisch mehr Falsch- bzw. Fehlübersetzungen, als es tragbar ist. Das sei hier einmal beispielhaft an den Übersetzungen (und ihren fatalen Folgen) von Mt 1,18 bzw. Lk 1,27 aufgewiesen (wir werden später auf zahlreiche andere Fälle stoßen und sie eingehend zu besprechen haben). Die Wendung „mnhsteuqei,shj“ in Mt 1,18 bzw. „evmnhsteume,nhn“ in Lk 1,27 in Bezug auf Maria wird schon seit der Vulgata (!) mit „deponsata – verlobt“ wiedergegeben, was schlicht eine falsche und dazu sehr irreführende Übersetzung ist. Denn in Israel und auch noch im Judentum der ntl. Zeit (und bis heute!) gab (und gibt) es gar keine Rechtsgewohnheit und einen entsprechenden Rechtsakt, der mit „Verlobung“ benannt oder auch nur verglichen werden könnte. Eine Verlobung war nur im römischen und germanischen Raum bekannt und wurde entsprechend rechtsgültig vollzogen. Im israelitisch-jüdischen wie im hellenistischen Bereich mit wir es als „Person“, die ihre anfängliche „Unbeschriebenheit“ und das „Unbeeindruckt-Sein“ des Organs „Auge“ erfüllen, ja „überwältigt“-Werden lassen können, nicht automatisch tun – oder es gegebenenfalls durch einen Willensentschluß betätigen (wobei schon wieder unterschieden wird zwischen uns selbst und unserem „Willen“)? Wen betrifft eigentlich unsere Emotionalität? – Von daher ist in unserer Fragestellung nach den ntl. Aussagen zur Herkunft Jesu Christi näherhin zu fragen: Was „bedeutet“ mir persönlich ein Schriftstück? Wie liest man einen Liebesbrief, einen Drohbrief, einen Steuerbescheid usw.? Und daher für unsere Thematik: Wie und was lese ich aus dem Schriftstück „Bibel“, „Heilige Schrift“ genannt? Höre ich da wirklich das Wort Jahwes, auch an mich persönlich gerichtet? Und will ich, was ich, weil mir vorgelegt, lesen/hören kann, als Wort Jahwes lesen/hören? Dann erst kann ich sagen, warum und wie eigentlich ich gerade dieses Schriftstück sogar auf wissenschaftliche Weise lese und zu verstehen = vernehmen trachte. In welcher persönlichen „Herzensstimmung“ tue ich das – will ich das tun und verbleibe stets in dieser Erwartungshaltung meiner-selbst? – Es sei hier beispielhaft auf einen Beitrag hingewiesen, der ein heutiges Problem der Exegese auf seine Weise zur Sprache bringt und ein entsprechendes „Reagieren“ auszulösen trachtet: I. Baldermann, Der leidenschaftliche Gott und die Leidenschaftslosigkeit der Exegese. Anfragen zu einem exegetischen Defizit: JBibl.Theol 2 (1987) 137–152.

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seinen verbindlichen Gesetzen und deren penibler Befolgung gab es die „Verehelichung“, wie die einigermaßen richtige Übersetzung im Deutschen lauten kann. Die betreffenden Partner sind nach Vollzug dieses gesetzlich-verbindlichen, genau geregelten öffentlichen (!) Rechtsaktes „Ehemann“ und „Ehefrau“ und werden auch so genannt (vgl. dazu Lk 2,4f); sie waren es in jeder Hinsicht lebenslang rechtsgültigverpflichtend. Das Hebräische kennt – das sei nur eben illustrierend angefügt – auch kein Wort für „Ehe“ oder für „heiraten“.6 Ähnliches, wenngleich nochmals anders, gilt es für die gängige Übersetzung von Lk 1,34b zu sagen. Dieser Versteil wird seit Jahrhunderten mit „weil ich keinen Mann erkenne“ übersetzt wiedergegeben. Denn der griechische Text lautet „evpei. a;ndra ouv ginw,skw“, was mit „weil ich keinen Mann erkenne“ eindeutig falsch und zudem äußerst irreführend wiedergegeben wird, was jeder Gymnasial-Griechischlehrer auch nachdrücklich ankreiden muß. Der Satz ist paraphrasierend so wiederzugeben: „weil ich (d. i. „verehelichte Maria“: 1,27) Mann (d. h. im Kontext eindeutig „meinen Mann“) nicht (in Rückschau auf 1,27 als „noch nicht“ zu lesen) erkenne („erkennen“ meint den ehelichen Umgang miteinander)“.7 Für „keinen Mann“ der gängigen Übersetzung hätte im Text „ouvdei,j – keiner“ stehen müssen, was aber eben nicht der Fall ist. Diese beispielhaft genannten Falschübersetzungen der Verse Mt 1,18 und Lk 1,27 und 34 begegnen bekanntlich (und offensichtlich unbeanstandet) wie selbstverständlich als rechtens eingesetzt und „ausgewertet“ in allen unseren heutigen Sprachen. Für die Interpretation der Aussagen im Kontext Mt 1 und Lk 1 haben sie alle Auffassungen ausgelöst, die sich der Wörter und Wendungen wie „jungfräulich“, „Jungfrauschaft/ Jungfräulichkeit“, „jungfräuliche Empfängnis und Geburt Jesu“ bis hin zur „Jungfrauengeburt“ meinen bedienen zu können oder gar zu müssen. Diese Ausdrücke und das mit ihnen Ausgesprochene haben jedoch im NT überhaupt kein Fundament und noch weniger Berechtigung. Mit ihnen wird ja ganz üblich z. B. der Wesensinhalt dessen angegeben, was in Mt 1–2 und in Lk 1–2 biblisch bekundet ist. Dazu ist hier – wir werden darauf später eindringlich zu sprechen kommen müssen – nur festzustellen, daß z. B. die Wendung „jungfräulich – parqe,nioj“ im ganzen NT nie vorkommt! Von Jungfrauschaft/Jungfräulichkeit wird nur ein einziges Mal gesprochen, nämlich in Lk 2,36 in Bezug auf die Prophetin Hanna. Dort wird damit deren Lebensstand vor ihrer Ehe mit ihrem Ehemann angegeben, womit vom Mädchen/junge Frau eben vor dem Ehestand gesprochen wird. Das Wort „Jungfrau“ wird im NT ganz selten eingesetzt (14mal; davon 8mal mit der Bedeutung „Noch-nicht- oder Unverheiratet“, 3mal im Gleichnis Mt 25,1.7.11 für „Mädchen/junge Frauen“; die verbleibenden 3mal ohne Betonung von „Jungfräulichkeit“: 2 Kor 11,2, Apk 14,4 und Lk 1,27). Auf Maria bezogen findet sich die Vokabel (!) „Jungfrau“ einzig in Lk 1,27 eingesetzt. Dort heißt es von ihr: „Jung6 7

Wir verweisen dazu auf den Exkurs „Israelitisch-jüdisches Eheschließungs- und Familienrecht“; s. Anhang I. S. den Hinweis in der vorhergehenden Anmerkung.

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frau, verehelicht mit Josef aus dem Hause David“. Es liegt keine Betonung einer sog. Jungfräulichkeit vor, wie oft behauptet wird. Das bestätigt schon der folgende Vers 1,34, wo Maria selbst von ihrem Ehemann spricht (Lk 1,27.34 sind voll verständlich aufgrund des damals gebräuchlichen jüdischen Ehe- und Familienrechtes, das man freilich kennen und berücksichtigen muß. Das gilt ähnlich auch für Mt,1,16.18–25).8 In der ersten Aussage über Josef und über Maria, die das NT vorbringt, wird sogleich betont gesagt, sie seien ein Ehepaar im Hause Davids (vgl. Mt 1,16.18; Lk 1,27). Auch in den weiteren Aussagen zu Josef wie zu Maria ist stets immer von beiden (und dazu von Jesus) die Rede, und zwar gerade insofern sie miteinander verehelicht sind. Das wird seitens der Kommentare nie herausgestellt noch in den betreffenden Text-Auslegungen überhaupt mit einem einzigen Satz erwähnt oder berücksichtigt. Demgegenüber wird das, was die betreffenden ntl. Sätze nicht sagen, unter Verwendung von Wörtern und Wendungen, die die Texte selbst nicht einsetzen, ausführlich herausgehoben, intensiv besprochen und theologisch, christologisch und besonders mariologisch entfaltet, als sei es die eigentliche Hauptaussage der ntl. Texte.9 Die Fehlübersetzungen und Fehl-Ausdeutungen der Texte Mt 1 und Lk 1 mit den benannten Wörtern und Wendungen haben, wie wir wissen, eine Fülle von theologischen, christologischen und besonders mariologischen Behauptungen und Streitereien in den wissenschaftlichen Büchern und Artikeln ausgelöst, die Bibliotheken füllen. Sie haben weltweit Probleme heraufbeschworen, die es vom Schrifttext selbst her nicht nur überhaupt nicht gibt, die vielmehr unsinnigste Bibel-Auslegungen mit allen ihren, auch konfessionellen Folgen nach sich gezogen haben. Es könnten hier jetzt noch weitere eklatante Bespiele gravierender Fehlübersetzungen und -deutungen mit ihren schwerwiegenden Folgen angeführt werden (z. B. Joh 1,1–3.14; Gal 4,4; Phil 2 u. a.). Dazu sei auf die folgenden Abschnitte dieses Buches verwiesen. Wir halten hier aber dieses fest: Es hat als unabdingbar zu gelten, daß der biblische Text zuerst und dann bleibend in eindeutig richtiger Sprache zugrunde gelegt bleiben muß. Drittens: Der so erkannte und kraft richtiger Übersetzung festgestellte Text ist wörtlich les- und verstehbar in heutiger Sprache wiederzugeben, zunächst ohne jede Veränderung, ohne Einfügungen oder dergleichen. Der Text ist vorzulegen in seinem eigenen Zusammenhang und Verlauf. Das dürfte die erste Aufgabe der christlichtheologischen Exegese und Auslegung zur Ausformulierung des vorgefundenen und wachsam gehörten Bibeltextes sein, der zunächst als solcher nur nach-gesprochen wird, in heutiger alltäglicher Sprache (die durchaus nicht banal zu sein braucht oder sein darf, sondern der Würde des Textes als Wort Gottes zu entsprechen hat). Das ist doch der Sinn der wörtlichen Wiedergabe des übersetzten Bibeltextes zu Anfang 8 9

Vgl. dazu unsere eingehende Besprechung von Mt 1–2 im folgenden Kapitel. Vgl. dazu die ausführliche Besprechung der Texte Mt 1–2 und Luk 1–2 im folgenden Kapitel II. – Als einziger Kommentartext, der auf Josef und Maria, insofern sie verehelicht waren und als Ehepaar im Hause Davids anzusehen sind, fand sich im Kommentar zum MtEv von P. Bonnard: L’Évangile selon Saint Matthieu, 1963, 18 (zu Mt 1,18–25).

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jeder Kommentierung. Es ist ja allgemein üblich, den jeweiligen Text-Abschnitt, der exegetisch besprochen werden soll, zunächst wörtlich voranzustellen. Sich des Textes in dieser Weise zu Anfang zu vergewissern ist nicht allein die Aufgabe des Exegeten, sondern eines jeden, der den Bibeltext je heutig theologisch hören und ihm nachsinnen will bzw. in heutiger Verkündigung verantwortet vorzutragen, vorzulesen und auszuwerten hat, z. B. in aktueller Liturgie und Katechese. Den Bibeltext sollte man sich zunächst auch ohne jede vor- oder selbsterfundene Gliederung oder Zwischenüberschriften vorlegen. Diese bedeuten nämlich faktisch in ihrer Auswirkung schon eine Vor-Interpretation des Bibeltextes vor dem eigenen aktuellen Hören des Wortes Gottes. Bekanntlich ist schon die irgendwann einmal eingeführte Kapitel- und Verseinteilung selbst, wenngleich für manche Zwecke sehr dienlich, nicht selten schon aus einer Voreingenommenheit oder Vor-Bestimmung heraus erfolgt und nicht immer glücklich. Der Bibeltext hat selbst hinreichend durch Schlußbemerkungen und NeuEinsätze im Text deutlich gemacht, wie er gelesen und verstanden sein will (vgl. dazu etwa Mt 1,17 und 18; 2,1; 3,1; 4,12 oder 1 Kor 7,1; 11,2; 15,1 u. ä.). Mit dieser Bemerkung ist den heute üblichen Arbeitsweisen mit Text-Gliederungen, Haupt- und Zwischenüberschriften usw. keineswegs ein Unberechtigt- oder Unnötig-Sein zugesprochen. Doch es ist die Pflicht eines jeden Glaubenden, sich zuallererst vom Bibeltext selbst her zu-sprechen und auch erst-erklären zu lassen, was er sagen will. Auch der wissenschaftlich arbeitende Theologe muß sich in dieser Weise anfanghaft vom Text selbst als Wort Gottes angesprochen wissen und fühlen, ihn so auch wirklich hören und verstehen wollen. Auch für ihn erklingt die Heilige Schrift je heute stets „neu“: Ps 94,8! Das bedeutet: Der wissenschaftlich arbeitende Theologe muß die Bibel-Aussage und ihren Aussage-Inhalt selbst bei allem Bekannt-Sein in ihrer Verlautbarung heutig hören und so seine Aufgabe der theologischen Erfassung des betreffenden Textes verstehen und beherzigen. Dann kann er und gegebenenfalls muß er das Selbst-Gehörte/ Gelesene in seinem eigenen Wieder-Geben gleichsam nach-sprechen, und das gegebenenfalls auch, wie wir sagen, „mit anderen Worten“. Diese müssen jedoch zunächst das und nur das wiedergeben, was der Text selbst explizit sagt und bekundet, auch wenn sich dabei viele Fragen melden. Diese aufzugreifen und zu beantworten ist die weitere Aufgabe, die bei verschiedenen Texten sicher je anders aufzufassen ist und ihre je eigene Dringlichkeit zeigt. Für eine entsprechende Durchführung dieses Prinzips sei auf unsere folgenden Besprechungen der einschlägigen Texte hingewiesen, denen sich das vorliegende Buch thematisch widmet.10 10 Was bisher zur Erfassung des Bibeltextes herausgestellt wurde, gilt sicher zunächst für die Be-

reitung einer Bibel-Ausgabe für den Gebrauch Christlich-Glaubender und ihr verständnisvolles Lesen und hinreichend-deutliches Verstehen des Bibeltextes selbst, noch vor allem wissenschaftlichen Interesse. Dazu werden ja die gängigen Bibeltext-Ausgaben zuerst konzipiert und ausgearbeitet Als Musterbeispiel einer entsprechenden Bemühung sei auf die sog. Jerusalemer Bibel hinbewiesen, wie auch auf die „Einheitsübersetzung“, die „herausgegeben wurde im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, des Bischofs von Luxemburg, von Lüttich

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(Es sei noch etwas genannt, um das wir uns zwar selbst bemüht haben und bemühen, es aber nicht als unbedingt durchzuführen erklären möchten, nämlich: Jedes gesprochene Wort und die entsprechenden Sätze erhalten seitens des Sprechenden stets auch ihren Klang, ihre „Musik“, die das Verstehen im konkreten Gesprochen-Werden mehr leiten, als wir meist meinen zu müssen glauben. Ein Wort der Liebe wird ganz anders betont als ein solches des Hasses. Es gibt zahlreiche Beispiele in der Heiligen Schrift, im Wort Gottes (!) anzugeben, in denen dieser Klang der Rede sogar aus dem geschriebenen Text „herausgelesen/gehört“ werden kann und muß, um ihn überhaupt „richtig“ zu verstehen. Wir nennen dazu einige Texte, die auch in der Thematik dieses Buches von entscheidender Bedeutung sind. So ist auf das sog. Weinberglied in Jes 5,1–7 hinzuweisen, wo der Sänger „für seinen Freund das Lied von dessen Liebe zu singen“ beginnt, weil der Liebende selbst vor lauter Leid nicht mehr zu singen vermag. Im Laufe des Liedes wechselt das Singen des Freundes in die Worte Jahwes selbst. Man kann hier von einer dichterischen Erfindung des Autors des Jes-Buches sprechen wollen, was aber nicht hindert oder zu überlesen/überhören erlaubt, daß und von Bozen-Brixen“. Bei dieser letztgenannten Übersetzung „sollten nicht nur die neuen Erkenntnisse der Bibelwissenschaften, sondern auch die Regeln der deutschen Sprache in angemessener Weise berücksichtigt werden, unter Berufung auf und gleichsam im Auftrag des Zweiten Vatikanischen Konzils“: „… darum bemüht sich die Kirche, daß brauchbare und genaue Übersetzungen in die verschiedenen Sprachen erarbeitet werden, mit Vorrang aus dem Urtext der heiligen Bücher“ (Über die göttliche Offenbarung, Nr. 22). „Da die Übersetzung vor allem in der Verkündigung Verwendung finden sollte, mußte sie sowohl das Verstehen erleichtern wie auch für das Vorlesen und teilweise auch für das Singen geeignet sein. Darum wurde von Anfang an neben Fachleuten der Bibelwissenschaft auch solche der Liturgik, Katechetik, der Kirchenmusik und der deutschen Sprache herangezogen“ (aus dem Vorwort „An die Leser dieser Ausgabe“ der Bischöfe). Dazu sei auch dieser Passus noch zitiert: „Die Einheitsübersetzung ist in gehobenem Gegenwartsdeutsch abgefaßt. Ihr fehlt es nicht an dichterischer Schönheit, Treffsicherheit des Ausdrucks und Würde biblischer Darstellungskraft“. Der Jerusalemer Bibel bediente sich auch schon vorher die Ausgabe des ganzen Bibeltextes durch den Verlag Herder (1968). Dort wird im Vorwort zur deutschen Ausgabe „Rechenschaft über Ziel und Durchführung der Wiedergabe des Bibeltextes unter der Leitung der Konzeption der Jerusalemer Bibel abgelegt“ (Vf). – Dieser Übersicht sei angefügt, daß es bezeichnenderweise auch Bibelübersetzungen in früherer, aber auch noch heutiger Zeit gibt, die bewußt und gezielt konfessionell konzipiert und ausgeführt wurden und werden. Es sei zuerst die ungemein bedeutsame Luther-Bibel genannt wie auch die „Züricher Bibel“. Daran ist erkennbar, daß es offensichtlich von Anfang an nicht eindeutig verstanden wurde und wird, wie man meint, den einen und selben Text der Bibel in jeweils heutiger Sprache verstehen und vorlegen zu müssen. Nicht alle, die sich Christen nennen und den einen Ur-Text des Wortes Gottes lesen, hören und in ihrer heutigen Sprache wiedergeben, sind sich innerhalb ihrer eigenen einen Sprache einig. Die Einheitsübersetzung der deutschsprachigen Bischöfe hat zwar Mitglieder anderer Konfessionen zur Mitarbeit beigezogen. Es wurde auch 1970 der erste Vertrag zwischen dem Verband der Diözesen Deutschlands und dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland geschlossen, was bestimmte Auswirkungen hatte, aber eben nicht zu einen einzigen Text führte, dem alle Beteiligten auch tatsächlich folgten. Wir brauchen nicht den Gründen nachzugehen und sie kritisch zu betrachten. Doch zeigt sich, in welchem Maße es dringlich ist, was wir zuvor in Bezug auf die verantwortete Erfassung des Bibeltextes herausgestellt haben.

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es das Wort Jahwes ist, in der Heiligen Schrift uns überliefert. Oder es mag an Hos 11 erinnert werden. Dort spricht Jahwe selbst Worte, die wir in seinem Munde meinen für unmöglich ansehen zu können oder zu müssen: „Wie kann ich von dir lassen (d. i. von meiner unbändigen Liebe zu dir abrücken), dich preisgeben? Mein Herz kehrt sich um in mir gegen mich, und zugleich regt sich mein Mitleid … Denn ich bin Gott, und nicht ein Mensch! Ich kann nicht anders!“ Auch möchten wir auf Gen 3,9 aufmerksam machen: „Gott rief dem Menschen zu und sprach: Wo bist du?“ Ist das der Ruf eines Aufsehers, eines Polizisten, eines Chefs? Oder ist das der Angstruf des verlassenen Liebenden, der seinen Innigst-Geliebten vermissen muß und nicht weiß, was ihm da widerfährt? Gott kann es nicht fassen, noch weniger verstehen, daß der Geliebte nicht da ist! Schließlich möchten wir auf Lk 19,41 beispielhaft hinweisen: „Und als er näherkam und die Stadt sah, weinte er über sie und sprach: Wenn doch auch du an diesem Tage erkannt hättest, was zu deinem Frieden ist! Nun aber ist es verborgen vor deinen Augen!“ Jesus weint über Jerusalem, das sich verweigert! Es ist jedoch auch auf Jes 62,4–5 (und ähnliche Texte) zu hören: „Man wird dich nicht länger mehr ‚Verlassene‘ nennen und dein Land nicht mehr ‚preisgegeben‘, sondern man wird dich ‚Meine-Lust-an-dir‘ heißen und dein Land ‚Vermählte‘. Wird doch Jahwe an dir wieder Gefallen haben, und dein Land wird wiederum vermählt. Denn wie der Jüngling eine Jungfrau freit, so wird dein Erbauer dich freien; wie der Bräutigam seine Wonne an der Braut hat, so wird dein Gott an dir seine Wonne haben“. Das Hohelied ist ein Gesang Jahwes über und zusammen mit seinem Volk Israel bzw. das Lied beider in der Sprache der Liebe von Braut und Bräutigam! Weitere Beispiele brauchen wir hier nicht beizubringen. Es kann genügen, um auf das aufmerksam und hellhörig zu machen, was nach unserer Auffassung vom Lesen/Hören der Heiligen Schrift als Wort Gottes neben vielem anderen auch bemerkt und beachtet sein will. Wer als Theologe, auch als Systematiker nicht auch die Tränen in den Augen Jahwes im Singen von seinem Liebesleid bemerkt (so daß es einem eigentlich die Sprache des Dozierens verschlagen kann) und beachtet, kann nicht „richtig“ über Gott reden wollen.) Es sei hier jedoch noch auf zweierlei aufmerksam gemacht. Zunächst: Jedes einzelne Buch der Bibel ist vom Theologen selbst jeweils zunächst als ganzes zu lesen und zu verstehen zu trachten. Er darf es sich nicht mit zuvor, gar von anderen gebildeter Zusammenstellungen von Einzeltexten und Ausschnitten als Ausgangspunkt seines eigenen Nach-Denkens genug sein lassen, so wichtig solche schon vorgefaßten Übersichten auch sein mögen. Sodann ist, sogar mit entschiedenerem Nachdruck zu sagen, daß die Wiedergabe des Bibeltextes in seinem ersten Gang zunächst ganz freizuhalten ist von den zu viel späterer Zeit gebildeten Fachwörtern, Ausdrucks- und Begriffsweisen. Alle diese Bildungen sind nach-biblisch und haben keinen solchen Gültigkeitswert wie die biblischen Aussagen in ihrer Ausdrucksweise. Weitere spätere Darbietungsweisen des Aussage-Inhaltes des biblischen Textes mögen sich rechtens auf biblische Texte und Ausdrücke berufen können; doch es eignet ihnen bestenfalls 24

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kirchliche Beglaubigung und gegebenenfalls sogar wegen des Einsatzes in allgemeinkirchliche verbindliche Dokumente Gültigkeit, wie z. B. in Konzilstexten. Als Beispiel sei auf das Ringen um „physis – natura“, „hypostasis – prosopon – persona“ im Konzil von Nizäa und die damals gewählten Formulierungsweisen hingewiesen. Tatsächlich fällt nämlich auf, in welch großem Ausmaß sich die Exegeten in ihren heutigen Bibelkommentaren von Anfang an wie selbstverständlich theologischer, aber viel später gebildeter Termini und Fachausdrücke bedienen. Deren Berechtigung schon für die Erst-Auslegung biblischer Texte müßte jeweils überhaupt erst je neu aufgewiesen werden, nämlich für die je heutige Auslegung und Interpretation des Bibeltextes. Das geschieht jedoch nie. Das gilt auch für Ausdrucks- und Wiedergabeweisen, die vielleicht früher ihre Berechtigung hatten, die jedoch heute als dringend zu hinterfragen, wenn nicht gar als gänzlich abzulösen gewertet werden müssen (Beispiele dafür werden in den folgenden Kapiteln dieses Buches reichlich genannt und kritisch besprochen). Mit dieser Bemerkung rufen wir nicht zu einer grundsätzlichen Reserve bisherigen bibelwissenschaftlichen Arbeitsweisen und mit ihnen errungenen Ergebnissen gegenüber auf, noch gar zu ihrer pauschalen Ablehnung. Ganz im Gegenteil: Das bisher erarbeitete und vielleicht auch allenthalben anerkannte Wissen und auch die Wege dazu sind so weitgehend und umfassend zur Kenntnis zu nehmen, wie es nur möglich ist. Jedoch darf sich jedenfalls der je heute systematisch schauende und forschende Theologe nicht von früher erarbeiteten und vorgelegten (und auch allgemein akzeptierten) Ergebnissen exegetischer, literaturwissenschaftlicher Forschungen oder philosophischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse vor-schreiben lassen, was die Bibeltexte selbst tatsächlich und deutlich erkennbar sagen, und so den Bibeltext gar nicht mehr selbst aufmerksam zur Kenntnis nehmen, diesen eben als das doch immer wieder je heute neu an ihn herantretende Wort Gottes. Damit ist auch der Hauptgrund für die Absicht dessen benannt, was in diesem Buch aufgezeigt und kritisch hinterfragt wird. Die gültige Erst-Auslegung des jeweiligen Bibeltextes gibt, sachgerecht dargeboten, zunächst das von diesen explizit Ausgesagte mit den Worten des Textes selbst bzw. „mit anderen Worten“ wieder, die dem heutigen Sprechen angehören, aber mit biblischen Aussage-Inhalten erfüllt werden. Das ist der Anfang und der erste Schritt auch der theologisch-wissenschaftlich verantworteten Arbeit des Theologen. Ein weiterer Schritt ist dann das Herausarbeiten des hinreichend offenkundig implizit Mit-Ausgesagten des Textes. Das wird meist durch paraphrasierend-erklärende Zusätze geleistet werden können. Das auf diese Weise anfanghaft wissenschaftlich Erschlossene muß sodann auch in seinem Umfeld zu seiner Entstehungszeit dem Ort und Anlaß gemäß ein-gesehen werden, was für ein vertieftes Verständnis des Bibeltextes selbst sehr viel, oft Entscheidendes beiträgt. Es zeigt sich, daß sich schon die Exegeten in ihren Kommentaren zur Erstellung ihrer Erst-Auslegung des jeweiligen Bibeltextes um eine Einsicht in die (von ihnen so genannte) theologische Absicht des Autors des betreffenden Textes zu gewinnen bemühen, um das auf diese Weise Erkannte und Festgestellte ihrer Auslegung zugrunde 25

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zu legen. Das gilt sowohl für alttestamentlich wie neutestamentlich interessierte Exegeten. Vor allem werden die Auslegungs- und Interpretationsprinzipien für die neutestamentlichen Aussagen aus denen des AT abgeleitet und angewandt, auch was die sprachlichen und denkerischen Leitprinzipien angeht. Für einzelne, zusammenzugehören scheinende Abschnitte in den einzelnen ntl. Schriften werden die gefundenen (und oft auch nur vermuteten) Aussage-Inhalte in fast schon systematischer Absicht und Weise zusammen- und so vorgestellt. Man findet oder vermutet dann bei dem jeweils betreffenden ntl. Autor ein vor-gefaßtes (sog.) theologisches Denken und Reflektieren, was seine Darstellung geleitet zu haben scheint. Das kommt zur Sprache, indem unterschieden wird zwischen theo-logischen einerseits und christo-logischen Aussage-Absichten andererseits, wie auch mario-logisch und eschato-logisch bedachte und ausformulierte Aussage-Inhalte. Auf diese Weise meint man eine Theologie des Paulus, eine Theologie des Matthäus, eine des Lukas, des Johannes usw. zu finden, die je in ihrem Spezifischen zur Sprache kommen müssen. Johannes wird bekanntlich sogar als der Theologe des NT apostrophiert und entsprechend gelesen, gewertet und vorgestellt. In allen diesen Bemühungen fehlt jedoch faktisch ein hinreichend deutliches und klares Verständnis bzw. eine entsprechend verbindliche Bestimmung dessen, was genau mit „theologisch“, was mit „christologisch“ u. ä. bezeichnet werden könnte bzw. müßte. Die Verstehensbreite, die sich an der vielfältigen und oft auch recht unterschiedlichen Verwendungen dieser Ausdrücke zeigt, reicht von der Bezeichnung „theologisch“ für die betreffende Tätigkeit des (als begrifflich-systematisch denkend und arbeitend verstandenen) „Theologen“ (lesen, nach- und be-denken, reflektieren, aufschreiben des Begriffenen) bis hin zur eindeutig erklärten Abgrenzung der einen von einer anderen Sicht-, Denk- und Sprech- und Formulierungsweise. Es ist fast unmöglich, dieses Begriffs- und Wortspiel der charakterisierenden Bezeichnung „theologisch“ zu durchschauen. Die hier auftauchende und nach wie vor ungelöste Problemstellung läßt sich recht deutlich an einem konkreten Beispiel aufweisen, nämlich an einem Text des Bibelwissenschaftlers O. Cullmann. Er erklärt in seinem Werk „Christologie des Neuen Testamentes“ selbst, und das sogar thematisch, welche Methode er in der Vor- und Ausarbeitung seines Buches angewendet hat und als im Grunde prinzipiell anzuwenden behauptet. Er schreibt als „Einleitung“ dieses: „Wir fragen zunächst, welche Stelle die Christologie im theologischen Denken der ersten Christen einnimmt; dann versuchen wir, das christologische Problem im theologischen Denken des Neuen Testaments zu definieren; endlich werden wir von der Methode sprechen, mit der wir in den nachfolgenden Kapiteln an dieses Problem herantreten werden. – § 1. Die Rolle der Christologie im theologischen Denken der ersten Christen. Wenn die Theo-logie die Wissenschaft ist, die Gott, qeo,j, zum Gegenstand hat, so ist die Christologie diejenige, die Christus zum Gegenstand hat, seine Person und sein Werk. Gewöhnlich wird die Christologie als eine Unterabteilung der Theologie im etymologischen Sinne betrachtet. Diese Gewohnheit hat vielfach die historische Darstellung des Glaubens der ersten Christen insofern beeinflußt, als man gern 26

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damit beginnt, die Gedanken darzustellen, die sie sich über Gott gemacht haben, und von ihren christologischen Überzeugungen erst in zweiter Linie redet. Das ist die übliche Reihenfolge in den älteren Lehrbüchern der Theologie des Neuen Testaments. – In anderen Bekenntnissen der älteren Zeit, in denen von Gott die Rede ist, erscheint dieser … nicht als Schöpfer, sondern als der „Vater Jesu Christi“. Er wird als derjenige eingeführt, der Christus auferweckt hat (Polyk. 2,1ff.). Auch das beweist, daß das theologische Denken der ersten Christen von Christus ausgeht, nicht von Gott. – Die alten Glaubensformeln sind für die Kenntnis des urchristlichen Denkens deshalb besonders wichtig, weil sie in ihrer Art als kurze Zusammenfassung der theologischen Überzeugungen der ersten Christen zeigen, in welcher Weise diese die Akzente verteilten, welche Wahrheiten sie als zentral, welche sie als abgeleitet ansahen. Wir stellen also fest, daß die urchristliche Theologie in Wirklichkeit fast ausschließlich Christologie ist“ (1–3; mit Auslassungen; dazu „Alle Theologie wurde zur Christologie“ (!): 331). Diesen programmatischen Sätzen entspricht Cullmann selbst auf eine ihm eigentümliche, befremdende Weise. Wenngleich er nämlich die urchristliche Theologie als eigentlich Christologie zu nennen ansieht, so zeigt sich in der von ihm angegebenen und angewendeten Gliederung seines Buches ein gänzlich anderes Bild. Denn es wird faktisch von Jesus, nicht von Christus gesprochen! Das gibt seine Gliederung deutlichst zu erkennen: „I. Teil: Die auf das irdische Werk Jesu bezüglichen christologischen Titel (mit den Unterpunkten „Jesus der Prophet“, „Jesus der ‚wahre‘ Prophet“, „Jesus der leidende Gottesknecht“, „Jesus der Hohepriester“); II. Teil: Die auf das zukünftige Werk Jesu bezüglichen christologischen Titel“ (mit den Unterpunkten „Jesus der Messias“, „Jesus der Menschensohn“); III. Teil: Die auf das gegenwärtige Werk Jesu bezüglichen christologischen Titel“ (mit den Unterpunkten „Jesus der Herr“, „Jesus der Heiland“); IV. Teil: „Die auf die Präexistenz bezüglichen Titel (mit den Unterpunkten „Jesus der Logos“, „Jesus der Gottessohn“, „Die Bezeichnung Jesu als ‚Gott‘“). Wir bemerken dieses Eigenartige: Dem Inhaltsverzeichnis zufolge spricht das ganze Buch von Jesus, während Cullmann zu Anfang betont hatte, daß „Christologie“ die „Wissenschaft ist, die Christus zum Gegenstand hat“ (1). Faktisch legt er keine „Christo-logie“ vor, sondern eine „Jesus-Logie“; denn alles, was er vorträgt, wird ja nach seiner eigenen Erklärung von Jesus ausgesagt. So müßte sein Buch offensichtlich „Jesulogie des Neuen Testamentes“ genannt werden. Tatsächlich werden aber die Aussagen über Jesus mittels „christologischer Titel, Bezeichnungen und Inhalte“ zusammengestellt und eingehend als solche besprochen. Woher jedoch diese überhaupt herrühren und aufgegriffen werden, bleibt gänzlich offen. Sind es „Gedanken, theologische Erwägungen und Erkenntnisse“ (um die Redeweise Cullmanns aufzugreifen), die zu „christologischen Kategorien“ geführt haben, die dann ihre Anwendung auf die ntl. Aussagen über Jesus finden? Sie lägen nach dem Konzept Cullmanns für sein Buch dem Sprechen von Jesus, wie es im NT bekundet und bezeugt wird, schon zuvor bereit und würden zur Darbietung der Aussagen über Jesus nur mehr angewendet. Das ist ja seine Begründung, daß „im theologi27

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schen Denken der ersten Christen das christologische Problem“ die „entscheidende Rolle (!) spielt“ (1), und daß somit „die urchristliche Theologie eigentlich Christologie ist“ (ebd.). Wenn dann jedoch das ganze Buch von Jesus handelt, wenn auch unter einem vorgefaßten Aspekt, dann müßte doch als erstes gefragt werden: Wer ist Jesus; wer er selbst wirklich, in seiner vollen Wirklichkeit? Ist Jesus im Grunde eigentlich Christus – oder ist es genau umgekehrt: Von Jesus und von dem Ihn-Erleben her fragten doch schon dem NT zufolge die, die ihn selbst erfahren, gesehen und gehört hatten: Wer ist dieser (vgl. etwa Mt 8,27 u. a.)? Er heißt Jesus, und wir kennen ihn doch aus unserem eigenen Erleben. Und doch: Wer ist er und (wenn man so fragen mag) was alles ist er? Es wurde ja und wird von ihm vieles, sogar widersprüchlich Erscheinendes erlebt und gehört, so daß die Frage überhaupt aufkommen konnte (und mußte), neben anderem dann auch ausdrücklich: Bist du der Christus? Jesus ist da, lebt mit uns wie einer von uns, wir erleben ihn, und dieser Erlebte und im Erleben Verstandene bzw. auch das überaus Frag-Würdige seines ohne allen Zweifel ganz Eigentümlichen wird zur Sprache gebracht, so bekundet es schon das NT, fragend, zweifelnd, in begeisterter Rede, doch stets mit hilflos erscheinenden Worten und SprechWeisen. Das im NT über Jesus Bekundete alles unter einen Begriff unterzubringen, widerspricht einfach dem ntl. Text. Dieses Aus-sprechen des in und mit Jesus Erlebten, im Text des NT bezeugt, müßte man doch zuerst, wenn es überhaupt wissenschaftlich formuliert werden soll, Jesus-Logie nennen. Denn erst vom erlebten Jesus her werden doch die sogenannten „christologischen Titel“ u. ä. überhaupt erst berechtigt mit ihrem realen Inhalt erfüllt, und nicht umgekehrt. Die christologischen Begriffe leiten keineswegs die Formulierungen der ntl. Bekenntnisrede vom erlebten und im Erleben erkennend-begriffenen Jesus, noch dürfen sie folglich vorweg leitend und maßgeblich-bestimmend sein für die theologisch-wissenschaftliche Erfassung des Bekundungsinhaltes der ntl. Aussagen, so als ob diese Begriffe klar oder gar klarer und erhellender wären als das, was als erlebt im Sprechen des NT bekundet wird. Weiters ist darauf aufmerksam zu machen, daß ja der Name Jesus (den Jahwe selbst gemäß Mt 1 und Lk 1 dem Sohn zu geben aufgetragen hat) deutlich ausspricht, wer/ was der Betreffende ist und das, was er „tat“ und was somit geschehen ist (und geschieht !): Jahwe heilt! Aus alle dem folgt, daß es auch dem NT einfach widerspricht, das in Jesus Geschehene/Bekundete und von den ihn Annehmenden (Glaubenden) verkündend nach-bekundet worden ist, als Christusereignis anzusprechen, wie es allerdings allgemein üblich geworden ist. Eher müßte es, wie aus allem Gesagten folgen würde, Jesus-Ereignis genannt werden. Aber weil im Namen JESUS tatsächlich Jahwe selbst ausgesprochen wird, dazu absolut unvergleichbar, ist es doch er, Jahwe!, von dem her alles das geschehen ist, wovon im NT bekundend gesprochen wird. In dem und an dem ist Jahwe selbst lebendigst mit-beteiligt, zumal er doch im NT genau so wie im AT allein initiativ und weiter und immer JHWH – „Ich bin da, dein/euer“ ist, von allem Anfang an und „letztlich“, weil ohne jedes Ende, eben Jahwe! Daher ist eigentlich von Anfang an alles im NT Bekundete zuallererst Jahwe-Ereignis und als 28

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solches bleibend anzusehen, zu erkennen und bekundend zu bekennen – wohlgemerkt: wenn man überhaupt meint, mit solcherart Ausdrücken und Begriffen denken und sprechen zu können oder gar zu müssen.11 11

Wir geben hier einen Überblick über die Verwendung der Kategorien „Christologie“ und „christologisch“ durch Cullmann, der sehr aufschlußreich ist, vor allen im Vergleich mit dem viel weniger, eher selten eingesetzten Ausdruck „Theologie“ und „theologisch“. Der Christologie kommt nach Cullmann eine bedeutsame „Rolle im theologischen Denken der ersten Christen“ zu. Es wird von „sehr alter Christologie“ gesprochen, davon, „daß es in den ältesten Zeiten des Urchristentums (dieser Ausdruck ist befremdlich: Wann „währte“ das Urchristentum, so daß sogar von seinen ältesten Zeiten die Rede sein kann?? R. S.) eine Erklärung (!) der Person (!) und des Werkes Jesu (!) gegeben hat, die wir mit etwas ungenauem Ausdruck als Christologie des Ebed Jahwe oder vielleicht korrekter als ‚Paidologie‘ bezeichnen können“ (72). Diese war wahrscheinlich die älteste christologische Lösung, von der wir wissen“ (72f: dazu 81: „Pais-Christologie; s. auch 330). Dazu auch: „Die beiden wichtigsten christologischen Texte (1 Kor. 15,3; Phil. 2, 6ff.), nach denen Jesus die Aufgabe des Gottesknechtes erfüllt, hat er (d. i. Paulus) aus alter Gemeindetradition übernommen und sich zu eigen gemacht. … Obwohl es sich um eine der ältesten und wichtigsten christologischen Lösungen (!) handelt, die sogar auf Jesus selbst zurückgeführt werden kann, tritt sie schon bald in den Hintergrund“ (79). – Der Ausdruck „christologische Titel“ (u. ä.) begegnet oft, zunächst deutlichst in den Überschriften aller vier Teile des Buches. In ihm wird vom „irdischen Werk Jesu“, vom „zukünftigen Werk Jesu“, vom „gegenwärtigen Werk Jesu“ und von der „Präexistenz Jesu“ (Unterstreichung R. S., um aufmerksam zu machen) je ausführlich gesprochen, und zwar stets, wie es heißt, „bezüglich christologischer Titel“: Diese Titel liegen für Cullmann offensichtlich vor der Einsichtnahme und Darstellung seiner Aussagen schon parat, um rechtens der kategorialen Charakterisierung des Darzulegenden zu dienen. Sie werden, und das ist bezeichnend, auf Jesus und zu seinen, in den ntl. Texten vorgegebenen Charakterisierungen und Benennungen eingesetzt! Die Verwendung von „Titel“ kommt sehr oft vor; so (in der Seitenfolge des Buches): 112 („Messias seit neutestamentlicher Zeit bis auf den heutigen Tag der eigentliche christologische Titel bei den Christen“); 175 („bei Jesus selbst … Barnascha und Ebed Jahwe sind die christologischen Titel, welche auf Jesus selbst zurückgehen; ihre Verknüpfung stellt in christologischer Hinsicht bei Jesus das entscheidend Neue dar“); 279 („Würdetitel ‚Gottessohn‘“!; dazu 280: „ob der Messias diesen Würdetitel trägt, ist oft gefragt worden“, dazu S. 281); 314 („Aus allem, was wir über die christologische Verwertung (!) der Würdetitel ‚Kyrios‘, ‚Logos‘ und ‚Gottessohn‘ gesagt haben, ergab sich bereits, daß jedenfalls von den mit diesen Titeln verbundenen christologischen Anschauungen aus Jesus im Neuen Testament als ‚Gott‘ bezeichnet werden konnte“); 326 („… Geduld aufbringt, jeden der christologischen Würdetitel im Neuen Testament für sich zu betrachten und zu untersuchen“; s. dazu den ganzen Text 375–327); 331 („Die heilsgeschichtliche Christuslinie zeichnete sich immer deutlicher ab. Alle Theologie wurde zur Christologie. Wenn Jesus (!) der ‚Kyrios‘ war, dann hatte dies Einfluß auf die anderen Würdetitel: jeder einzelne wurde nun – stillschweigend oder bewußt zu der heilsgeschichtlichen Gesamtheit in Beziehung gesetzt“; s. dort das Weitere); dann: 335 („So haben wir in den entscheidenden Würdetiteln stets den Gedanken der Stellvertretung gefunden …“). Zum Ganzen sei auch auf unseren Exkurs „Chrisologische Hoheitstitel“ hingewiesen. – Es seien des weiteren spezifische Bestimmungen der „Christologie“ aufgeführt: „Menschensohn-Christologie“ (167; 187; 189); „Anthropos-Christologie“ (175); „Kyrios-Christologie“ (243). – Formeln wie „Paulinische Christologie“ (77) und „Christologie des Petrus“ kommen auch vor. – Wichtiger ist die Formulierung „Christologischer Begriff “, der mehrfach mit Varianten begegnet: 91 („Hoherpriester – christologischer Begriff “; dazu „christologische Behauptungen … Zentrum der ganzen Christologie“: 107); 243 („… bleiben uns vor allem die christologischen Begriffe ‚Logos‘, ‚Sohn Gottes‘ zu untersuchen … Kyriostitel“!!); 301 („Gottessohntitel … Gottes-

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Diese eigenartige Weise der Vorordnung der sogenannten „christologischen“ Aussage-Inhalte vor den sogenannten „theologischen“ bei den dem NT zugewandten Wissenschaftlern zeigt sich in auffallender Weise bei H. Schürmann (wie freilich auch bei vielen anderen; hier nur als typisches Beispiel vorgebracht). In seinem LkKommentar finden sich dazu folgende Feststellungen. Zu Lk 1,4 heißt es: „In solcher Lage (das bezieht sich auf Apg 20,20.27; Lk 6,39–45 und 6,24ff: R. S. aus dem dortigen Kontext) erwächst dem Luk die Aufgabe, den Nachweis der Zuverlässigkeit der kirchlichen Unterweisung … zu erbringen. Damit leistet Luk der nachapostolischen Kirche einen lebenswichtigen Dienst bei der subjektiven Glaubensbegründung. Die Funktion (!) seiner Schrift ist somit nicht primär als eine ‚fundamentaltheologische‘ bestimmt, als wenn mit Hilfe der historischen Vernunft die historische Zuverlässigkeit der Verkündigung erwiesen werden müsse; vielmehr handelt es sich grundlegend um eine theologisch- geistliche Funktion (!), die der Glaubenszustimmung unmittelbar dient … Luk eröffnet so die Möglichkeit eines ‚geistlichen Schriftbeweises‘“ (14f). Dazu etwas später: „Obgleich in Lk (und Apg) eine charakteristische Theologie (!) greifbar wird – vermutlich nur eine reflektierte Systematisierung der wohl meist unreflektierten Durchschnittsanschauung (!) der Zeit und des Kirchenraumes des Luk –, würde er sich wohl dagegen gewehrt haben – etwa als ‚Theologe der Heilsgeschichte‘ –, unter die großen Theologen (Hervorhebung Schürmann) sohngedanke … Gottessohntitel (2x)“; 331; 333; 292 („Menschensohngedanke – Christologischer Grundbegriff “, mit 195). – Hierher gehören dann auch Formeln wie 111 („christologische Anschauungen“, so auch 168; 314): – Vielfältigst kommen Angaben vor wie „christologisches Denken“ u. ä., die alle eher auf schon systematisierendes Interesse und Verstehen hinweisen: 301 (christol. Denken des Markus); 332 u. 336 („christol. Denken“); 266 („christol. Nachdenken“, so auch 269; 330; 338). Nach „christologische Offenbarung“ (214) gibt es den „christologisch wertvollen Gedanken und seine Anwendung“ (138; dazu 269; 334; 338). Es wird gar von der „christologischen Rolle Jesu“ (!) gesprochen: 113. Dann erstaunen Formeln wie die folgenden gar nicht mehr: „christologisches Verständnis“ (11,99; 331), „christologischer Aspekt“ (109); „christol. Hinsicht – Punkt der Christologie“ (175); „christologisches Interesse; christol. Problem“(329); „christologische Verwertung“ (314); „christologische Erkenntnisprozesse“ (332) und christolog. Erkenntnisse“ (332; 333; 338 („christol. Überzeugungen“); „christol. Synthese“ (243; „funktionelle Christologie“ (336), bis zu „christologische Streitereien“ (316). ––– Zum Einsatz von „Theologie – theologisch“, der selten begegnet, seien diese Beispiele genannt (es sind zugleich alle Vorkommen!): „Gott“ selbst wird genannt: 12f (Jahwe; Plan, Wille Gottes); 13; 23; 26; 242–246; „Reich Gottes“ (42); „Vorläufer Gottes“ (12; 13; 23; 26); „Gottesknecht“ (50; 54; 72); „Gottebenbildlichkeit“ (144); „theologisches Denken – theologischer Gedanke“ 172; 199: 229; 240; 147 „die Schwierigkeit bei der Übernahme des theologisch fruchtbaren Menschensohngedankens … Gedanken des göttlichen Menschen“; 231 „Herrschaft Christi über das All … wie sie gedanklich-theologisch diese Verbindung begründeten“. Dann „Gottesbezeichnungen“: 205 „Adonaj“. – Weitere Formeln: „theologischer Standpunkt“ (315); „theologische Erwägungen“ (321); „theologische Reflexion … Ergebnis“ (265); „theologische Begründung der Herrschaft Christi“ (233); „urchristliche Theologie; Theologie der Alten Kirche“ (81 u. 276); schließlich der Satz „Alle Theologie wurde zur Christologie“ (331) als pauschales Urteil, was schon als Aussage ärgerniserregend ist. Vgl. zum Ganzen auch den Exkurs „Christologische Hoheitstitel?“

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gerechnet zu werden“ (16f; wir bemerken, daß Sch. selbst seine Beurteilung wieder zurücknimmt!). Zu Lk 1–2 sagt Schürmann einleitend vorweg: „Luk stellt seiner Evangelienschrift mit Lk 1–2 ein ‚Präludium‘ voran. Diese Bestimmung der Funktion (Hervorhebung Schürmann) von Lk 1–2 im Ganzen der Evangelienschrift hilft dem theologischen (!) Verständnis des in diesem ‚Vorbau‘ Gemeinten … Luk vermag freilich dieses ‚Kommen‘ Jesu nicht mehr so unreflektiert mit dessen erstem Auftreten zur Verkündigung zu identifizieren, wie das die Evangelienschreibung vor ihm tat (wo findet Sch. diese überhaupt?). Luk hat Traditionen gefunden (?), die sein (d. i. Jesu) ‚Kommen‘ und ‚Gesandt-sein‘ durchmeditiert (!) und durchreflektiert (!) hatten (taten das die „Traditionen“?) und so theologisch ausholender (!) – von Jesu Ursprung in Gott her (woher weiß Lukas oder die „Traditionen“ davon?) – verstanden … diese Ursprünge (Plural?) in Gott und das Kommen von Gott her mußten (!) theologisch entfaltet (!) werden“ (19f). Einleitend zur eigentlichen Auslegung von Lk 1,26–38 wird dieses gesagt: „Die Erzähltendenz (!) der Verkündigungsszene ist eminent christologisch (Hervorhebung Sch.; was meint hier „eminent“?): Es geht letztlich darum, die dem Glauben feststehende (!) Messianität und ‚Gottessohnschaft‘ Jesu theologisch zu gründen (!). Das geschieht durch den Aufweis (!), wie Jesus sein menschliches Dasein (!) der schöpferischen Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau (wo steht das dort?) verdankt (!). Der Bericht (!) schildert (!) von Anfang bis Ende … Gottes Wirken im Lichte der Prophetie Is 7,14 LXX (wo findet das Sch. bei Lukas ausgesprochen?), … die vaterlose Lebensentstehung (!) Jesu ist dem Bericht (!) vielmehr wichtig, weil an ihr christologische Aussagen (!) deutlich werden: Jesu Heiligkeit und die in Gott gründende ‚Gottessohnschaft‘ (Anführungszeichen warum?) offenbaren (!) sich darin … So wird die ‚Messianität‘ … gleich zu Beginn (wo steht von ihr dort etwas?) stabil fundiert (!), und zwar auf einem Bekenntnis, auf einer christologischen Wesensaussage … so ist mit hoher Kunst (!) die ganze Perikope auf die christologische (!) Botschaft hin gestrafft“ (40f). Dazu sogleich: „… hat darüber hinaus in der Perikope das Faktum der vaterlosen Lebensentstehung (wo steht davon etwas?) seinen eigenen – das Sohnsein begründenden (!) christologischen (!) Aussagewillen; die Behauptung der vaterlosen Lebensentstehung steht V 35 im Dienst (!) einer christologischen Denk-Bemühung (!), die deutlich mit dieser Begründung operiert (!) – und zwar doch wohl mit dem Willen, kausal zu argumentieren (!) …“ (63). Wir haben im Zitieren dieses Kommentartextes durch Rufzeichen und einzelne Bemerkungen auf das aufmerksam gemacht, was nach unserem Dafürhalten dringend hinterfragt bzw. dem klar widersprochen werden muß, weil der Text des LkEv das im Kommentar Herausgestellte und Behauptete überhaupt gar nicht aussagt. Wir verweisen nochmals z. B. darauf, wie zu Lk 1,26–38 schon einleitend, noch vor der Auslegung gesagt wird, daß das dem Glauben Feststehende (mit „Glauben“ soll hier doch sicher das ursprünglich Erlebte/Überlieferte und von den ersten Christen auch als Gott-bezeugt Auf- und Angenommene/Ausgesprochene gemeint sein) theologisch gegründet werden soll, und das mittels christologischer und im Dienst christologischer Aussagen, 31

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auch Wesensaussagen genannt. Ist das die Intention des Lukas oder überhaupt der Evangelisten, das Fest-Stehende und Geglaubte der Christ-Gewordenen überhaupt erst „theologisch zu gründen“, vielleicht sogar zu be-gründen? Oder ist es nicht total umgekehrt: Der Glaube vernimmt das im Werk und Wort Gottes selbst Geschehene/Gesagte, nimmt es als Wahrheit und Sich-Bewahrheitete an, anerkennend und sich bewegen lassend, um davon und daraus zu leben. Alles andere und Hinzugefügte dazu im Kommentar (!) Gesagte ist von woanders her und nach-träglich an das biblisch als Geschehen(es) Bekundete und Bewahrheitete herangetragen. Theologie kommt, wenn christlich recht verstanden, ursprünglich vom Hören und Glauben her und beginnt mit ihrem eigenen Nach-Denken, Nach-Sprechen und gegebenenfalls Ent-Falten mit Ein- und Zu-Stimmung und, wenn es angebracht ist oder einfach „ausgesungen“ werden will, damit, die Fülle des Glaubens in seinen einzelnen TeilInhalten „auseinanderzufalten“, ohne „Blätter“ anderer Herkunft hineinzubinden und diese gar dann für den Glauben ver-bindlich zu erklären. Genau das ist es ja, worauf wir in diesem unseren Buch so engagiert aufmerksam machen wollen, ja zu müssen meinen. Wir wollen daher, wie zu Anfang angekündigt, in diesem Kapitel („Zum Anlaß und zur Zielsetzung dieses Buches“) erklärende Rechenschaft ablegen. Aus dem bisher Dargelegten ist einsichtig geworden, daß wir klar und genau unsere Position im Verständnis von „Theologie“ und „Christologie“ zu beziehen haben und sie auch klar vorstellen. Denn unser Buch steht dem Titel gemäß in der Pflicht, darüber klare Auskunft zu geben, damit das Weitere, nämlich die Darlegungen in den Kapiteln II und III überhaupt recht verstanden werden, vor allem auch, was die Art der Darstellung und die angewandte Argumentation bzw. was die Motivation zu ihrer ungewohnten Forschungs- und Darbietungsweise angeht. Es dürfte klar geworden sein, daß wir Stellung beziehen müssen in dem uns verbindlich erscheinenden rechten Verständnis von Theologie, wenn sich diese eindeutig auf das christliche Glaubensbekenntnis und die ihm entsprechende Wissenschaft bezieht. Notwendigerweise muß aber auch von dem Verständnis von Geschichte und mehr noch von „Heilsgeschichte“ innerhalb einer sach-gerecht auszuführenden Christlichen Theologie gesprochen werden. Denn sie hat gerade eine Eigentümlichkeit, die vor und über aller anderen Bestimmtheit bleibend zuvor-liegt, seien diese philosophisch oder religionswissenschaftlich verstanden oder auch dem geschichtswissenschaftlichen Verständnis gerecht werdend. Dem versuchen die folgenden Erwägungen und Überlegungen wie Feststellungen zu entsprechen, um erst dann zum Aussagen des „Eigentlichen“ unseres Buches kommen zu können. Es sollen das jetzt keine abstrakt-theoretischen Vorüberlegungen sein, sondern solche, die sich in den vielen theologisch konzipierten und motivierten Büchern und Abhandlungen je länger desto mehr als notwendig erwiesen haben. Im Blick darauf ist das jetzt Folgende zu verstehen. Das gelingt hier am ehesten und am besten, wenn wir von dem schon Ausgesprochenen ausgehen.

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Wie bei O. Cullmann und am Beispiel der Kommentaraussagen von H. Schürmann sichtbar geworden ist, was aber auch sonst immer wieder begegnet, so ist es eine unumgehbar gewordene Frage, wie das Zueinandergeordnetsein von Theologie und Christologie zu sehen, zu verstehen und zu werten ist. Darauf eine ausführliche und umfassende Antwort zu geben erscheint als äußerst dringend. Das kann in diesem Kapitel nicht geschehen. Wir widmen ihr daher einen entsprechenden Exkurs, auf dessen Aussagen wir hier dann aufbauen dürfen. Wir bringen daher den Exkurs 7: „Theologie“ und/oder „Christologie“? – „Theozentrik“ oder „Christozentrik“ – Eine Problemanzeige – im Anhang I. Hier müssen wir jedoch wenigstens die Frage gestellt sehen und erkennen, daß wir untereinander in verantwortetem Sprechen uns nur dann sinnvoll auszutauschen vermögen, wenn uns gemeinsam hinreichend klar ist, was wir unter „theologisch“ und „christologisch“ verstehen, wenn wir sie unterscheidend und voneinander abgrenzend meinen einsetzen zu können. Wir erinnern uns an die Position, die O. Cullmann zu Anfang seines Buches „Christologie des Neuen Testamentes“ bezogen und offengelegt hat und für sich als verbindlich ansieht. Er bestimmt ja „Theologie“ ausdrücklich als „Wissenschaft von Gott“, und folglich „Christologie“ als „Wissenschaft von Christus“, womit er offensichtlich auch zwei verschiedene Objekte verstanden wissen will. Diese Bestimmungen gelten für die Aussage-Absicht seines Werkes, wie auch für die anzuwendende Aussage- und Argumentations-Weise. Das sei deswegen so geboten, weil schon die „ersten Christen“, „die älteste Kirche“ (1), die „Urgemeinde“ (2) so vorgegangen sei. Da ist unausweichlich zu fragen, was dann hier unter „Wissenschaft“ verstanden wird, wenn sogar schon für das Glaubens-Denken und -Sprechen der allerersten Zeugen und deren Bekundungsabsichten es so zu verstehen ist. Andere Neutestamentler verstehen, sicher vorsichtiger, „Theologie“ offener als „Rede von Gott“ und „Christologie“ als „Rede von Christus“.12 (In den Kommentaren und in der weiteren Fachliteratur werden die Ausdrücke „theologisch“ und „christologisch“ meist doch schon als wissenschaftlich sprechend verstanden und verwendet.) Wie immer man sich dazu stellen möchte, 12 Sehr aufschlußreich sind die ersten Sätze von S. Wiedenhofer im LThK 9 (2000) 1435 im Artikel

„Theologie. I. Begriffsgeschichte“: „Der heutige Th.-Begriff (Th. als gläubige u. zugleich vernünftige bzw. wiss. ‚Rede v. Gott‘ ) ist im Anschluß an eine vorchr. u. chr. Vor-Gesch. seit dem MA entstanden. Der Begriff Th. ist dabei ein analoger Begriff mit einem weiten Kontinuum v. Bedeutungen. Einerseits ist jede gläubige rel. Rede eine theol. Rede, sofern der glaubende Mensch zugleich ein denkender Mensch ist, der immer vor Fragen steht. Andererseits ist Th. ein enger Begriff, sofern Th. als Glaubensreflexion nur v. professionellen Spezialisten betrieben werden kann. Wie groß die Unterschiede zw. den versch. Gestalten v. Th. sind, hängt v. Grad der Ausdifferenzierung v. Glauben u. Wissen bzw. Denken u. dem Grad der Unterscheidung versch. Gestalten der Vernunft, des Wissens u. Denkens ab“. Diese Sätze mahnen zugleich äußerste Aufmerksamkeit an, was den Einsatz der Kategorie „Theologie“ und „theologisch“ sowie folglich „Christologie“ und „christologisch“ angeht. Das wollten wir oben im Text auch betont gesagt haben, zumal wenn eben Jahwe und Jesus Christus „Objekt“ einer wissenschaftlichen Rede sein sollen (was wir prinzipiell verneinen möchten).

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es ist unausweichlich die Frage gestellt, die vor allem Sprechen/Reden, wenn es um Gott bzw. Christus geht, beantwortet sein muß, nämlich: Können Gott (Jahwe!) und Christus (Jesus) überhaupt Objekt von Wissenschaft sein, jedenfalls dann, wenn von ihnen „theologisch“ die Rede sein soll oder muß? Dazu ist nämlich zu bemerken, daß jede Wissenschaft dem üblichen Verständnis nach ihr Objekt doch vor ihrem SichBetätigen durch freien und wohlüberlegten und alles leitenden Verstehensentschluß auswählt und als für sich verbindlich durchhält. Es wird vorher die Methode und die Vorgangsweise festgelegt, um sie penibel zu befolgen. Dazu werden bestimmte Vor-Überlegungen und Auswahlprinzipien in Bezug auf das zu wählende und dann festgelegte Objekt angestellt, an die man sich aus wissenschaftlicher Verantwortung halten will und auch genau hält. Das ist ja mit der stets eingesetzten Wortendung -logie gemeint. Mit dieser Bestimmung ist sprachlich festgelegt und bekundet, daß es um wissenschaftlich bestimmtes, motiviertes und zu vollziehendes Sprechen/Reden/ Argumentieren gehen soll und geht. Um sich wissenschaftlich auch untereinander austauschen zu können, ist in Bezug darauf ein zuvor vereinbartes Sprachspiel gefordert, um wissenschaftlich Erarbeitetes über bestimmte, festgelegte Sachen, Fakten, Personen usw. eindeutig verstehbar mitteilen zu können. Sind solcherart Bedingungen wissenschaftlichen Forschens und Sprechens im Urchristentum in Bezug auf das zu bekundende Geschehen (geschehenes Geschehen!) überhaupt vorhanden? Wohlgemerkt: Wir betrachten hier nicht schon die heutige Theologie nach ihrer wissenschaftlich bestimmten Konzeption. Es geht wegen unseres Themas und im Gespräch mit O. Cullmann und anderen Bibelwissenschaftlern, die seiner Position folgen, um die Texte der Bibel selbst und den Intentionen und Arbeits- und Sprechweisen der Autoren der biblischen Bücher und ihrer Adressaten. Es geht hier noch nicht um die wissenschaftlichen Bemühungen, die Bibelwissenschaftler heute anwenden, um die Aussage-Inhalte und Formulierungsweisen der biblischen Texte als solche z. B. nach literaturwissenschaftlichen Kriterien zu befragen und zu Aussagen zu gelangen, die heute wissenschaftlich feststellbar sind und fundiert in entsprechender Sprache vorgestellt und miteinander ausgetauscht werden. Uns geht es zunächst darum, herauszufinden und schlicht nachzusprechen, was die Heilige Schrift, das Wort Gottes, selbst auch dem heute Glaubenden sagt und bekundet. Die Bibel kann ja nicht als ein Text angesehen werden, der nur durch Fachleute verstanden werden kann, die ihre Erkenntnis als das verbindliche Wort Gottes mitzuteilen in der Lage sind. Es ist heute grundsätzlicher zu fragen, nicht zuerst ob Theologie als Wissenschaft überhaupt möglich ist; denn das hängt ja, wie wir wissen, von dem ab, was man meint, mit „Wissenschaft“ überhaupt bezeichnen zu wollen oder zu sollen, um es sogar miteinander sprechend austauschen zu können. Wenngleich wir unseren Blick in diesen Buch eigentlich nur auf eine Teilaussage der einen Heiligen Schrift achten, so müssen wir uns hier doch zunächst der GrundFrage stellen: Kann ich Jahwe selbst und sein Wirken überhaupt so erkennen, daß ich nicht nur irgendwie von ihm zu reden und von ihm zu „erzählen“ vermag, sondern 34

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ich sogar wissenschaftlich verantwortet das Erkannte auch ins gültige Wort zu bringen in der Lage und befugt bin? Und wenn ja, muß ich mich fragen: Will ich das überhaupt, und warum eigentlich? Um dazu eine sinnvolle Antwort zu finden, muß ich mir, nochmals vorher, die Frage ausdrücklich stellen: Wie kommt der Mensch, wie komme ich überhaupt dazu, so etwas wie Sprechen zu wollen und es dann auch tun? Wir gehen auf diese Fragen hier keineswegs aus erkenntnistheoretischem Anliegen ein; denn die Erkenntnistheorie geht ja von dem Faktum aus, daß wir so etwas „tun“, was „erkennen“ genannt wird, schon vor einem akkuraten Wissen, was wir da „tun“ und wie wir das eigentlich vollbringen. Das „erkennen-können“ wird da schon als selbst-verständlich vorausgesetzt. Wir gehen auf dieserart Fragen hier aufgrund unseres Anliegens in diesem Buch und das dafür zuvor Erkannte ein. Wir gehen daher, ohne gleichzeitiges Hinter-fragen, in unserem Antwortversuch auf die Ur-GrundVerfassung des Seins des Menschen, also auch unserer selbst, als Ausgangspunkt auf die Heilige Schrift selbst zurück, ur-anfänglich und bleibend, und verweisen auf sie. Als erste Frage ist ja, der Heiligen Schrift gemäß, gerade nicht: Warum und wie tue ich das, was „erkennen“ genannt wird. Das erste, nach dem ich frage, ist vielmehr: Wer bin ich? Dazu ist als Antwort zu sagen, was wir zu allererst bemerken und verstehen: Ich finde mich vor! Irgendwann – und das ist die Ermöglichung und der Anfang von allem, auch von meinem Fragen – ich erlebe mich „zum ersten Mal“, und zwar als den, der sich-selbst als ICH bemerkt, gleichsam zu sich kommt und sich als ICH „selbst-versteht“, als Subjekt und Objekt des Verstehens in-eins. Ich werde und bin mir-meiner-selbst-bewußt, eben als ICH. Ich vernehme mich als ICH; ja ich „höre“ und „schaue“ mich. Ich erlebe und begreife mich als „namentlich angerufen“, als AnGesprochener. Das bedeutet: Ich ver-nehme mich gleichsam mit DU angesprochen; ich bemerke mich in meinem ICH als DU, aber nicht aus mir-selbst heraus, sondern offenkundig von „jemand anderem“ her. Dieser DU-Ruf bin ICH. Weil ich mich so höre, vernehme, an-nehme und begreife, erkenne ich zugleich und in-eins mich als Zum-Annehmen-Gegebenen; ich weiß mich so als mir-Zugesagten. ICH erlebe und weiß mich im ur-eigenen Selbst-Bewußtsein als MICH-MIR-Gegebenen, nein besser noch: Mich-Mir-Angebotenen, aufgerufen, auf daß ICH Mich-selbst annehme und es als mein Sein „tue“: ICH-Sein, aus dem vernommenen DU-Sein-Vermögen, es ver-nehme und mich auch selbst vollbringe: ICH bin-namentlich ICH-selbst. Diese „Überlegung“, dieses „Be-Denken“ des ganz eigenartigen Er-selbst-Seins eines jeden Menschen haben wir hier angestellt aufgrund der Schrift-Stelle Gen 1,1–2,3, welchen Text ich höre und ihn als ICH-selbst mir gesagt begreife. Dazu erkennen und fühlen wir uns aufgerufen und berechtigt, weil durch die Faktizität dazu ermächtigt, ja animiert, genau dieses zu erkennen und als begriffen zu „wiederholen“ und es selbst wieder-geben, d. h. es als die Wahrheit aus-sprechen: der Mensch erfährt sich gemäß Gen 1–2 (und viele andere Schriftstellen bestätigen ihm das stets aufs neu) in seiner eigenen persönlichen ICH-Urerfahrung Angesprochnen und weiß so um sichselbst als ins Sein und zum ICH-Sein Eingeladenen und Befähigten, daß er es tun 35

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kann und auch tut. In diesem Sinne und in dieser Hinsicht ist jeder einzelne Mensch persönlich-namentlich JHWHs-DU, auf daß er dieses DU-Jahwes-Sein als sein ICHSein begreife und seinerseits auch vollbringe. Denn Jahwe ist und er sagt es jedem namentlich zu: „ICH-BIN-DEIN, das ist mein Name auf ewig“: Wenn wir so uns mit allem Recht als DU-Jahwes erkennen, haben wir die Vokabel (!) „Gott“ im Genitiv ausgesprochen, mit diesem grammatikalischen Genitiv, weil es die Wirklichkeit ist, den wahren und einzigen Ursprung unseres ICH-Seins ins Wort gebracht. Mit seinem ureigenen Namen widmet, ja weiht er sich, sein eigenes ICH-Sein mir (Dativ des Schenkens!). Und das gilt für alles und jedes einzelne Erschaffene überhaupt, wie es z. B. der Psalmvers 147,4 wörtlich aussingt: Jahwe ruft jeden Stern (und somit ein jedes von ihm Erschaffene) bei seinem Namen! Wir bedenken weiter: Wir haben in unserem Gedankengang – ob wir es bemerkt haben? – immer über uns-selbst und von uns-selbst gesprochen, indem wir uns-selbst in-eins als Subjekt und als Objekt unserer Rede eingesetzt haben. Das bedeutet: ICH als MICH-selbst (Akkusativ-Objekt) MIRselbst (Dativ-Objekt) geschenkt; ICH bin der Mir-Zugedachte/Zugewidmete, der SICH haben kann und darin sein ICH-Sein dankend vollbringt. Wir können es auch so aussagen: Der Anfang aller Erkenntnis ist nicht Skepsis, sondern die er-lebte und ge-lebte geschenkte Selbst-Verständlichkeit wie aller Welt. Nicht der Mensch beginnt ursprünglich selbst damit, sich ein Bild von der Welt, ein Weltbild zu machen oder gar zu malen. Er findet sich vielmehr ur-anfänglich vor in Welt, die sich zu malen ein anderer (doch gerade nicht Un-Bekannter oder Sich Verbergender!) mit sich-selbst begonnen hat und wozu er alle und alles zum Mit-Malen eingeladen hat und immer neu einlädt. Dieses „Weltbild“ stellt im Geschehen des Wirklichkeit/Wahrheit-Seins Ihn, Jahwe!, und uns-selbst dar, hell ins Licht und ins Bild; und es hat genau darin und daraus offen-sichtlich und singend „etwas“ zu sagen. Und nochmals: Das ist der schau- und begreifbare „Inhalt“ dieses Gemäldes in seinem erlebten Gemalt-Werden (Passiv-Präsenz; die Aktiven haben wir genannt), und es wird nie „fertig“ oder vollendet, solange der Maler und die Mit-Malenden sind. Und diese sagen und bekunden, ein jeder auf seine persönliche Weise: Ich-bin! Durch diese „Zwischen-Überlegung“ über unsere Selbst-Bewußhteit und unseres selbst-erlebten Selbst-Seins, das offenkundig allen Menschen je persönlich eigen ist (wenn nicht auf die je eigene Art für alles „Erschaffene“) haben wir erkannt und irgendwie auch klar eingesehen, daß jeder wissenschaftlich motivierten ErkenntnisSuche prinzipiell und immer schon etwas voraus-ist und voraus-bleibt, nämlich das Erleben/Erfahren des eigenen persönlichen Seins wie auch vieler anderer „Wirklichkeiten“. Das alles wird erfahren als Sich-Zusprechendes und unserem Erkennen-Können Sich-Eröffnendes, noch vor dem aufkeimenden Wunsch und gezielten Planen des Menschen, der darauf ausgeht, es zu tun, nämlich etwas (oder jemanden) zu erforschen und es oder ihn auf diese besondere Weise zu „verstehen/begreifen“ trachten. Mein Ich-mich-Erleben liegt allem anderen immer zuvor. Ich erfahre den oder das andere im gegebenen Fall als etwas, das „mich angeht“, sich mir zu-spricht – oder 36

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eben auch, das (wie wir formulieren) „mir nichts sagt“. Manchmal sagen wir sogar: „Das geht mir nah; das geht mir zu Herzen“! Der Entschluß zum Forschen erfolgt nicht eigen-initiativ, sondern wird angeregt durch das erfahrene AngesprochenWerden von jemand anderem bzw. von etwas anderem, als das man selbst-ist. Von daher ist sogleich das Weitere einsichtig, nämlich daß wir von uns-selbst und dem je anderen überhaupt sprechen/reden wollen und es tun, wobei dieses Sprechen stets auf den/das andere hin erfolgt (von dem Selbst-Gespräch hier zunächst abgesehen). Wir können und müssen zugleich sagen: Weil wir selbst Uns-Zu-gesprochene und An-gesprochene sind und uns das je andere gesagt sein lassen, bringen wir uns und alles ins Wort, das gerade dem ent-spricht, was es in seiner Wirklichkeit/Wahrheit ist. So sprechen wir uns und das je andere aus und auf den Hörenden unseres Sprechens hin. Wir sprechen ja nicht einfach „ins Blaue“ hinein! Damit haben wir die Grund-Erkenntnis ausgesprochen, daß nämlich wir und alles aufgrund des je EigenSeins Gesprächspartner sind (aktiven wie passiven Verständnisses), d. h. „von Natur“ eine Seins- und Gesprächsgemeinschaft. Alle und alles kommuniziert miteinander (gegebenenfalls auch gegeneinander, was wir hier zunächst nicht weiter besprechen müssen). Wir können das so Erkannte und hinreichend klar Verstandene zunächst gelten lassen, obgleich es noch viele Momente gibt, die geklärt werden müßten, wenn wir dem allem im Sinne einer gültigen Erkenntnistheorie nachgehen wollten oder müßten. Es sei dazu aber wenigstens auf das nochmals ganz eigen-artige Phänomen der personalen Freiheit im Erkennen-Können bzw. -Wollen wie auch auf das hingewiesen, was wir Wahrheit und Wahrhaftigkeit des Miteinander-Kommunizierens nennen; Sprechen, Miteinander-Sprechen und Aufeinander-Hören funktionieren ja nicht einfach automatisch in Natur-Notwendigkeit und -Gesetzlichkeit. Doch können wir diese weiteren Fragen hier beruhigt einem weiteren Nach-Denken anheimgeben. Daher: Rede von Gott und über Gott ist wohl Rede, die der Mensch gegebenenfalls von sich aus „tut“, aus eigenem persönlichen Ent-schluß. Doch er er-findet nicht selbst das, gar aus überlegt geplanter Absicht, was er im gegebenen Fall von und über Gott „reden“ und aussagen will. Vielmehr findet er sich-selbst zuerst als von Gott an-gesprochen vor, und zwar mit Gottes eigenem Von-sich-Reden. Von diesem Sprechen Gottes her weiß ja der Mensch überhaupt zunächst um sich-selbst; er ver-nimmt sich-selbst als Von-Gott-Angesprochenen und als Von-Gott-Ausgesprochenen. Gott ruft, wie wir gesehen haben, einen jeden Menschen namentlich ins Sein. Und in diesem Ruf spricht Gott-selbst sich zu. Das, genau das ist dadurch nicht nur Gott-Ausgesprochenes, sondern auch Sich-selbst-ins-Gespräch-bringen-Können, also „Worte“ zur Verfügung zu haben, die ihn, diesen Menschen, persönlich aus-sprechen und vernehmen lassen (können). Als von Gott An- und Ausgesprochener vermag der Mensch sich-selbst ins Wort zu bringen, das ihn-selbst ent-hält und also aussagen kann und im gegebenen Fall aus-sagt. Und genau so kann, kraft dieses seines persönlichen Menschseins, der einzelne auch das, was Gott ihm zu-spricht (oder zu-wirkt), 37

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hören, da Gott es ihm zu verstehen gibt? So können wir sagen: Was Gott dem Menschen zu-spricht, ist Gottes Wort, dessen Aussage-„Inhalt“ Gott-selbst ist, sein dem Menschen zu-gewandtes Sein und Wirken. Von daher ist es berechtigt und gefordert, das selbst-vernommene Wort Gottes auch mit dem aus dem Gott-verstanden-Haben herstammende eigene Menschenwort wiederzugeben, nachzusprechen, und zwar als das von Gott selbst zu-gesprochene Wort Gottes (und nicht selbst-erfundene Wort). Genau das meint unser christliches Sprechen vom Wort Gottes, das uns im Auftrag Gottes selbst sogar schriftlich überliefert und anvertraut ist: die Heilige Schrift. Von diesem Grund-Verständnis her ist das Ganze, was wir Heilige Schrift, die Bibel, nennen, das Wort Gottes, so vielgestaltig und viel-gehaltig es auch erscheinen mag. Hier sei nur darauf aufmerksam gemacht, daß wir auch gehalten sind, die eine Heilige Schrift, das eine Wort Gottes, insgesamt als eines zu lesen und zu beachten und daher keine Auswahl unsererseits zu treffen, um den ausgesuchten Teil für sich zu verstehen zu suchen. Was wir so erkannt haben, mahnt auch dazu, für alles eventuell geplante und dann auch durchgeführte Lesen, Auslegen und Interpretieren einzelner Text-Aussagen der Heiligen Schrift stets das Ganze als das eine Wort Gottes aufmerksam in den Blick zu nehmen und zu behalten. Eine Auswahl bestimmter Themenstellungen unsererseits zu treffen, steht immer in der Gefahr, daß wir nicht mehr die eine Heilige Schrift als gültige Quelle unserer, auch theologisch motivierter Erkenntnisse und ihr Ergebnis zu sehen, sondern andere Gesichtspunkte wirksam und maß-geblich werden zu lassen. Das gilt z. B. schon für die Versuche, je unterschiedene Theologien und Christologien zum Alten Testament und zum Neuen Testament zu erstellen. Diese Aufteilung der einen Heiligen Schrift in AT und NT ist erst in späterer christlicher Zeit erfolgt und keineswegs wirklich angebracht. Wir übersehen dabei nicht, daß es in der einen Heiligen Schrift, auch schon im sog. AT, durchaus Text-Gruppierungen verschiedener Art gibt, oder auch mit einem gewissen Recht von den vier Evangelien gesprochen werden kann. Doch bleibt die Heilige Schrift als das eine Wort Gottes dieses eine und multipliziert sich nicht in „Wörter Gottes“. Es sind ja viele Untersuchungen und Abhandlungen schon in Bezug auf diese Grund-Einteilung der einen Heiligen Schrift angestellt worden, die aber alle an ihrem Teil-Charakter kranken, ohne daß es bemerkt zu werden scheint. Wir brauchen diesem Problem hier nicht nachzugehen, müssen es aber im Auge behalten. Für unser eigenes Ziel bemühen wir uns, die eine Heilige Schrift zugrunde gelegt zu halten und zu beachten. Was ist die in der Heiligen Schrift bekundete Geschichte?

Geschichte, die in der Heiligen Schrift berichtet und bezeugt wird, durch Gottes eigenes Selbst-Sein, Selbst-Kundtun und den Auftrag, sie schriftlich aufzuzeichnen, ist prinzipiell zu verstehen als das Geschehen der Gott-gestifteten Lebensgemeinschaft Gottes mit dem von ihm Erschaffenen, seit allem Schöpfungsbeginn, so daß Gott und 38

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seine Geschöpfe (nicht nur Menschen!) das eine Gott-begründete Leben-in-Gemeinschaft des von Gott gestifteten Lebensbundes führen. Die so verstandene Geschichte ist daher von Gott her als die Lebens- und Schicksalsgemeinschaft zu erkennen, die in der Heiligen Schrift bekanntlich – wir sollten ruhig staunen! – vor allem in der Sprache der Liebe, der Brautschaft und Ehe wie auch der Elternschaft und Kindschaft artikuliert wird, und nicht in der Sprache von Staaten und der Politik mit- oder gegeneinander, wie es sich dann in den üblichen Geschichtsbüchern über das Verhalten menschlich-sozialer Gruppen wiederfindet. Das kann gar nicht hoch genug für das „Verstehen“ dieser Geschichte gewertet werden. Die in der Bibel bekundete Geschichte ist von allem Anfang an gott-gestiftete Lebensgemeinschaftsgeschichte Gottes selbst mit seinen Geschöpfen und daher grundsätzlich nur so zu verstehen. Aber so kann sie verstanden werden! Es ist zudem die eine Lebenswelt und Lebenszeit, in der diese Gemeinschaft besteht (Präsens!). Diese gemeinsame Geschichte ist Leben aus und in Liebe, die sich ereignet, geschieht („Geschichte“) in persönlich-frei-gestaltetem Miteinander bzw. Gegeneinander, wie es sich „im Laufe dieser Geschichte“ zeigt. Es gibt nur die eine und einzige Welt, von der wir wissen (können), und nur die eine und einzige Zeit, „in“ der dieses Geschehen sich „zeitigt“, d. h. sich als Währen erweist. Von einer „anderen“ Welt oder „anderen“ Zeit kündet die Bibel nicht. Alles ist Gottes bzw. von ihm her das, was es ist. Die Bibel kündet von einem „Anfang“ von allem, da Gott vom „Anfang“ an ist und wirkt und seine Geschöpfe mit-sein und mit-wirken läßt. Auch hat Gott am oder als „Anfang“ keinen fest-bestimmten „Plan“, kein „Ziel“, kein „Grundkonzept“ für den Geschehensablauf fest-gelegt, auch nicht für sich selbst, das er auf jeden Fall durchzusetzen sich entschlossen hätte. Der „Anfang“ ist vielmehr frei-gebende Liebe, die um Angenommen-Werden bräutlich wirbt. Gott hat sich als er selbst als Liebe „definiert“ und ihr Welt und Zeit eröffnet. Diese kennen nur Gegenwart, Da-Sein, Anwesenheit, weil Teil-Habe-in-Teil-Geben-zum-Teil-Nehmender-Teil-Gabe, auf Miteinander-Füreinander liebender Einander-Zuneigung. Das kennt nicht einmal „Gegenseitigkeit“, sondern nur dieses ein-einziges Währen des Ein-Herz-und-eine-Seele-Seins im Sich-aufeinander-hin-Geben und -Hin-Nehmen der einen Liebe, die Gott ist. Dieses Währen, das ja lebendigstes Leben als Geschehnis ist, ist das, was in der Bibel als „Geschichte“ verstanden wird.13 13

Wir werden im folgenden diesem Tatbestand dadurch gerecht zu werden versuchen, daß wir bewußt und reflektiert-verantwortet die Ausdrücke „Erschaffen“ (als „Tun“) und daher „Erschaffender“ (statt „Schöpfer“) für Jahwe und folglich „Erschaffenes“ (statt Geschöpf ‘) verwenden. Denn „Erschaffen-Sein“ ist das Sein, dem Jahwe gibt, an seinem Lebensgeschehen „teil“-nehmen zu können/dürfen: Teilnehmen aufgrund des Teilgebens Jahwes, doch zunächst im Sinne des Angebotes zum Anteil-nehmen-Können/Dürfen: Geschenk des Lebens-Vermögens zum Mit-Leben-mitJahwe in seinem einen und selben Leben-Tun. Denn Jahwe selbst ist das Leben (Tätigkeitswort im Präsens!); und er ist allein dieses Sein = Leben. Daran läßt er geschenkhaft „teil“-nehmen, wobei hier die Silbe „teil“ gerade nicht Teil-Stück meint, sondern für „mit-tun“ steht, „mit-tun“ im einen und ganzen Leben-Tun Jahwes. Erschaffen-Sein ist nicht ab-gegebene, d. h. angefertigte und abgelieferte Gabe, sondern stets darreichend vor-gehaltenes Geschenk im Sinne des Vermögens

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Dieses eine Lebensgeschehen, die Geschichte Gottes mit und im Gesamt des aus Liebe Erschaffenen und in seiner Liebe Während-Seienden zeigt sich als eine Fülle von Geschehnis-Weisen und geschehenen und geschehenden Ereignissen, von denen die Bibel spricht. Wenn wir da nach Einzelnem fragen wollten, um es zu benennen, würden wir zu erzählen und aufzuzeigen wohl anfangen, aber nie ein Ende finden können, eben weil dieses Währen selbst weder seine Voll-Endung noch einen ZielPunkt „gefunden“ hat. Wir wissen von keinem eschatologischen Ziel des Gedankens der Liebe Gottes. Daher hat es nur Sinn, auf das zu schauen, was in der Bibel selbst gegebenenfalls „im einzelnen“ bekundet wird. Da ist als erstes zu nennen, was wir (nicht die Bibel!) „Schöpfung“ nennen. Denn damit bezeichnen wir sowohl das „Tun“ Gottes, das Erschaffen, wie auch das Gesamt des Erschaffenen (oft einfach „Welt“ genannt). Wir sprechen davon meist im Perfekt. Dieses Gesamt des Erschaffenen wird zudem vorschnell als Gegenüber-zu-Gott-Sein begriffen, als etwas, dem eine gewisse Eigenständigkeit und ein Sich-selbst-Bestimmen (könnendes) zukäme und damit Abgegrenztsein jedenfalls vom Sein Gottes, weil von bleibender Abgegrenztheit Gottes von allem Geschaffenen die Rede sein müsse, „Transzendenz“ genannt. Das ist aber ein verhängnisvolles (Miß)Verständnis von Gott, von dem Erschaffenen und dem Mit-und-Zueinander-Sein, das Gott gestiftet hat und mit sich selbst begründet (Präsens!). Es sei folgerichtig, wie man meint, von dem Erschaffenen als Welt zu sprechen, der die „Welt Gottes“ als tranzendental, d. h. grundlegend „gänzlich anderes Seiendes“ un-zugänglich und fremd gegenüber-, ja entgegenstehe. Die gott-geschaffene Wirklichkeit, d. i. Gott und das Erschaffene, von der die Bibel kündet, kennt keine Transzendenz Gottes. Das ist ein Fachausdruck und Begriff, der erst in viel jüngerer Zeit in der Philosophie gebildet wurde (schon dort kaum geklärt) und von einigen Theologen leider in die theologische Rede übernommen worden ist, allerdings auch oft in der exegetischen Wissenschaft wirksam ist. Dem entgegen ist in der Bibel bezeugt und bekundet, was wir herausgestellt haben. Schauen wir da zunächst allein auf des Annehmen-Könnens und dann auch des Selbst-Tuns, nämlich Mit-Jahwe-Sein = Mit-JahweLeben. „Erschaffen“ (das Tun) wie „Erschaffenes“, ist stets präsentisch zu verstehen (wenn man auf grammatische Bestimmungen meint achten zu müssen). Beides spricht ja von ein und demselben Sein/Leben, das Jahwe ist. Darin mit-tun zu vermögen ist das Sein des Erschaffenen; dieses „muß“ es daher auch selbst tun, damit es lebendige Wirklichkeit ist. Der hier so bestimmte Ausdruck „Erschaffenes“ läßt es offen, von welcher „Art“ des Erschaffenen die Rede ist, von Erde, Himmel, Menschen, Engel, Tieren, Pflanzen … „Erschaffenes“ benennt alles und jedes einzelne beim richtigen Wort – eben wenn nicht von Jahwe selbst zu künden ist. Auch die Wendung „Vermögen“, hier eher ungewohnt, wählen wir, weil sie in unserer Sprache sowohl den Seins-Reichtum („Besitz“) wie auch Fähigkeit, Können, Macht zu wirken, ja auch Talent (als auszubildende und gestaltende „Anlage“) auszusagen gestattet. Dieser eher ungewohnten Wortwahl für das hier Vorzustellende hat ihren Grund im Wunsche, den biblischen Aussagen möglichst gut gerecht zu werden. Es sei beachtet, daß wir im folgenden immer „Erschaffenes“ für dieses „Gegenüber“ Jahwes, mit dem zusammen er zu leben wünscht, sagen, wenngleich meist an den Menschen gedacht ist. Denn Jahwe liebt alles von ihm Erschaffene, jeweils in der „Weise“, die dem je Eigen-Sein des einzelnen entspricht. Denn das gibt er gleichsam namentlich-liebend: Ps 147,4.

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den biblischen Ausdruck „erschaffen“ (arb) als das grund-legende „Tun“ Gottes, wie die Bibel davon spricht, dann stellen wir fest: das arb ist das Grund-Legende, das Gott mit sich selbst und als er selbst „im Anfang“ „tut“ (Präsens!) und „seit“ diesem Anfang darin sein eigenes Währender-Sein „vollbringt“. Denn „Erschaffen Gottes“ geschieht; es ist das Gott-Sein. Dies immer als Präsens zu verstehen, nie als Präteritum oder als Perfekt. Es erweist sich als „alltägliches“ Tun Gottes wie sein Sein. Dazu sei auf Ps 104 und auf Ps 8 mit Ps 19 und die dortige Sprechweise aufmerksam gemacht. Erschaffen-Sein ist währendes Gegeben-Werden; daher ist dieses Sein, das Gott erschaffend gibt, nicht als Gabe zu verstehen, die dem Erschaffenen als von Gott Angefertigtes zugeteilt wird. Gott gibt gleichsam darreichend zum Annehmen-Können (Begabung!); und im Annehmen wird dieses Wirklichkeit. Das alles ist Präsens, das kein Präteritum noch ein Perfekt kennt. Das gilt spezifisch für den Menschen, den Gott sich zu seinem Eben-Bild, zum geliebten Gegenüber, besser: zu seinem Du ersonnen und erschaffen hat, wie es z. B. in Gen 1,26–31; 2,7.18; 3,8 formuliert ist. (In Gen 3,8 heißt es: Gott wandelte im Garten, üblicherweise mit dem Menschen, seinem Du, zu beider gemeinsamen Freude. Jetzt hat sich der Geliebte versteckt, was zunächst Gott nicht versteht: Wie kann der Geliebte ein solches Tun „erfinden“?). Im Ps 104 wird deutlichst von der Freude Gottes und des Menschen in-eins gesprochen: Nach 104,1 (einleitender Preis, auf Gott hin gesprochen) und der vielfältigen „Aufzählung“ der Schöpfer-Werke Gottes spricht der Beter Gott seinen Liebeswunsch zu, er „möge sich seiner Werke freuen“ (31), wie er dann von sich selbst bekundet „An Jahwe habe ich meine Freude“ (34). Es tritt noch ein weiteres „Motiv“ des Singens des Beters hinzu: „Jahwe will ich singen mein Leben lang, will ihn preisen mein Leben lang. Möge ihm doch mein Lied gefallen!“ (33f). Beide, Jahwe wie der/das Erschaffene widmen sich und ihr Leben-„Tun“ einander, einem jeden vom anderen zur Freude bestimmt und gewünscht: liebendes Sein-Geben Gottes und liebend-antwortendes Dank-Sein-„Tun“ des Erschaffenen. Das ist folglich das eigentlich Grund-Gelegte und daher Zu-grunde-Legende für jeden einzelnen Lebens-Akt des Menschen, für eine jede einzeln zu „berichtende“ Lebens-Tat und deren Folgen für Gott und den Menschen. Davon ist dann auch die Geschichte des Lebensbundes Gottes mit dem Menschen und so mit dem Gesamt des Erschaffenen wesentlich geprägt. Es ist das gleichsam das GrundGerüst der biblischen Geschichte und der entsprechenden Erzählweise geworden. In Gen 1–3 wird die faktische Tragik offenkundig, die die Lebensgeschichte Gottes und des Erschaffenen aufweist. Der Wohl-Tat Gottes aus und in Liebe antwortet der Mensch durch Widerspruch und Verweigerung seiner-selbst. Da ist es wichtig zu sehen, daß Gott zunächst den Widerspruch und seine verheerenden Folgen, weil in die Entscheidungsfreiheit des Menschen gestellt, gelten und sich-selbst davon getroffen sein läßt. Er er-leidet und trägt selbst, was der Mensch verfügt; er erwägt jedoch sogleich, wie er das Schicksal des Bundes wenden könne. Er bleibt bei seinem gegebenen Wort „Ich-bin-Dein“ und versucht, es „neu“ zur Verwirklichung kommen zu lassen. Dem Mensch wird zuteil, was seine Verweigerung bewirkte: Nicht im Gottes41

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garten mit Gott leben und sich erfreuen können, mit allen negativen Folgen. Doch zugleich und in-eins kündet Gott an, daß diese, von Menschen gleichsam blind gewollte Lebenssituation ohne Gott und sein Zugewandsein ihr Ende finden wird – wenn der Mensch mit-zu-wirken sich zu seinem Heil überzeugen läßt. Nicht anders in der Noach-Geschichte: Die Menschen haben sich für das In-der-Sünde-Leben entschieden, mit den vernichtenden Folgen. Das trifft, so wird es hier ausdrücklich formuliert, Gott im Herzen: „Es gereute (!) Jahwe (!), daß er den Menschen auf Erden gemacht hatte und er war tief bekümmert“ (Gen 6,6). Er läßt geschehen, was die Folge der Sünde war. Doch er spricht einen Menschen namentlich an, um ihm und dann allem erschaffenen Leben doch das zuwirken zu können, was Gottes Absicht von Anfang an war und bleiben soll: Er bereitet Rettung, die im geschehenen Nicht-Heil erwirkt wird und gleichsam den Anfang „neu“ einsetzen lassen kann – wenn der Mensch es zuläßt. Dazu wird vom Willen Gottes gekündet: „Ich will die Erde nicht wieder verfluchen …“ (Gen 8,21 – 9,1–3, wo gleichsam der Spruch Gottes im Paradies wieder-holt wird). Dasselbe und doch geschichtlich Neue wiederholt sich, wenn man so sagen will, auch im Geschehen des Auszugs Israels aus Ägypten. Wieder wendet sich Gott an einen Menschen, namentlich, und spricht ihm, zunächst einladend-begabend, einen Auftrag zu zum Mit-Tun mit Gott, nämlich das Gott-erwählte (= geliebte!) Volk aus der Sündenwelt, symbolisiert Ägypten, herauszuführen, hinein ins Gottesland. Es wiederholt sich gleichsam die in Gen 1–3 erzählte Geschichte, in Umkehr des Geschehens: Wieder beginnt Gott damit, seinen Eigen-Namen, also sichselbst zu nennen, und zwar zur Beglaubigung und als Begründung seines Gedankens der Rettung mit diesem Erwählten-Volk: JHWH  – Ich-Bin-Dein/Euer. Daß dieser alte/neue Name, d. i. Wunsch (!) Gottes trotz allem wiederholten Widerspruch doch Wirklichkeit werde, sich bewahrheite, dafür soll Mose dem Volk gegenüber Für-Sprecher/Werber Jahwes sein. Mose wendet ein: Wird man mir das abnehmen? Wird man sich führen lassen wollen? Wie soll ich sie überzeugen? (Wir sollten, zwischendurch gesagt, bemerken, daß dieser eine Mensch, Mose, mit-tun möge, so der Wunsch Jahwes, zu dem und in dem, was allen Menschen, ja allem Erschaffenen Rettung bringen wird, allen nämlich, dem Gott „im Anfang“ alles zugewidmet hat. Da hat er dem Menschen ja auch das Herr-Sein über alles Gott-Erschaffene anvertraut. Es soll Wirklichkeit werden und nicht während nur Angebot Gottes sein und bleiben. Es soll sich als Wirklichkeit bewahrheiten, auf daß alle Welt doch überzeugt werde, d. h. sich überzeugen lasse davon, was die Wahrheit ist: Jahwe – Liebe.) Die Bibel erzählt dann die weitere Geschichte dieses Lebensbundes Jahwes mit allem Erschaffenen, spezifisch (gleichsam stellvertretend für alle und alles) mit Israel. Es erscheint wie ein un-endliches Auf und Ab des Lebensgeschehens des Volkes mit bzw. gegen Jahwes Ur-Gedanken der Liebe. Man braucht, um das als biblische Grund-Überzeugung zu erkennen, dazu nur die sog. Geschichtspsalmen (sie sind Geschichtsbücher!) 105–107 zu lesen (und zu beten!), die sich im Psalter nicht ohne Grund sogleich an Ps 104 anschließen. Weiters ist auf Jes 5 zu schauen, immer nur 42

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beispielhaft herausgestellt: Jahwe ist betrübt über „seinen Weinberg“, d. i. Israel, das seine Liebe zu Tode verletzt hat. Jahwes Freund (als dichterisches Bild verstanden: Wer ist das?) singt das Leides-Lied Jahwes, weil dieser, zutiefst betroffen und betrübt, nicht mehr zu singen vermag. Alles hat doch Jahwe für seine Liebe getan, um es zu überzeugen und zur Zu- und Ein-Stimmung zu bewegen, dem Volk zum Leben, zum Heil gereichend. Das Lied des Leides wird – wieder – zum Liebeslied! Jahwe bittet sogar um Rat! Was hätte ich denn noch tun können? Ich habe doch alles getan, was meine Liebe mir zu tun aufgetragen hat. Sagt mir, gebt mir, dem Ratlos-Gewordenen, was ich tun könnte, um euch doch noch zu überzeugen. – Nichts anderes hat das Buch Hosea zum Thema (was wir hier nicht im einzelnen aufzählen können. Man beachte nur den Auftrag an Hosea, eine Hure zur geliebten Frau zu nehmen, und was folgt). Der Höhepunkt ist wieder das Lied des leidenden Jahwe. In Hos 11 zählt Jahwe selbst auf, was er alles tat – und wie Israel widersprach und sich verweigerte. Jahwe spricht: „Mein Herz kehrt sich in mir und gegen mich um“. Der Grund dieses „unglaublichen“ Geschehens: „Ich bin Jahwe, Gott, und nicht Mensch! Ich kann nicht anders“. Daher versucht Jahwe, Wirklichkeit werden zulassen, was er sich „im Anfang“ und bleibend wünscht und mit ganzem Herzen erfüllt sehen möchte. – Und wieder versucht – alles wiederholt sich gleichsam von Geschlecht zu Geschlecht – Jahwe „neu“ zu beginnen. So z. B nach Jes 7 zur Zeit des Achaz. Immer wieder geht es Jahwe darum, Zustimmung zu erlangen, zunächst wieder bei einem namentlichen Menschen, der aber für alle und alles Erschaffene steht, Achaz. Jahwe ist wieder der Antragende/Werbende, der sogar den Achaz ihm vorzuschlagen bittet, was Jahwe als Wahrheits-Zeichen für seinen Wirklichkeitswunsch erfüllen solle. Jahwe will Jahwe bleiben, trotz allem Widerspruch und aller Verweigerung. So kündet er in 7,10–15 gegen den sich-verweigernden Achaz an, was er auf jeden Fall Wirklichkeit werden lassen will: Es wird einer aus Israel (dem Sich- verweigernden!) geboren werden, der Gott-mit-uns heißen und genau das durch sich selbst und seinen Lebenseinsatz die wahre Wirklichkeit sein und tun wird. Hier dürfen und müssen wir uns an das Gleichnis Jesu in Mt 21,33–44 erinnern: Der Weinbergbesitzer sendet Boten und Wirken-Könnende aus, einen nach dem anderen, vergeblich. Dann heißt es: Zuletzt hatte er nur noch einen, seinen Sohn! Es muß hier nicht erst entfaltet werden, was mit alle dem an-gesprochen ist. Es ist eine „Erklärung“ für das Geschehen des Lebens des Bundes Jahwes, den er „im Anfang“ eingegangen ist und in den einzustimmen er seitdem immer neu einlädt, Begabung über Begabung dazu schenkend. Da braucht nur auf Röm 5,8 und Joh 3,16f hingewiesen zu werden, wo genau dies neutestamentlich betont ausgesagt wird. „Gott erweist seine Liebe zu uns dadurch, daß Christus für uns gestorben ist, da wir noch Sünder waren“ (Röm 5,8). Dann Jesus im Gespräch mit Nikodemus, in dem Grundsätzliches ausgesprochen wird: „Denn so sehr hat Gott die Welt (d. i. in Joh die Sündenwelt) geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn dahingab (d. i. opferte!), damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern immerwährendes Leben habe. Denn Gott hat seinen Sohn nicht dazu in die Welt gesandt, daß er die Welt richte, 43

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sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde“ (Joh 3,16). Wieder ist Liebe das Stichwort, sogar der Welt gegenüber, die (in der) Sünde ist. Wir sind damit bei dem, was immer unglücklich verkürzend „Christusereignis“ genannt wird. In Wirklichkeit ist es Gott-Ereignis, wie wir hinreichend deutlich erkannt haben, nämlich das eine Geschehen der Lebensgeschichte Gottes, in der Bibel „dokumentiert“, d. i. verkündet als Euvagge,lion. Das „Motto“ der ganzen biblischen Geschichtserzählung ist im Ps 66,16 am klarsten angegeben: „Alle, die ihr Gott fürchtet, kommet herbei, hört, und ich will euch erzählen, was er Großes (mir) getan hat!“ (vgl. dazu ähnlich Ps 34,9; 46,1–12; 66,5). Daher ist das gesamte, in der Bibel „erzählend“ ausgefaltete Lebensgeschehen Gott-Ereignis (wir sagen ganz bewußt nicht „Gottesereignis“) und von ihm her Menschen- und Weltereignis. Jahwe ist eben nicht „Ich bin, der ich bin“ (wie die LXX wiedergibt), sondern Ich-Bin-Dein/Euer, lieber noch: Ich-bin-Dir/Euch. Der Dativ ist hier der richtige Kasus. Von Jahwe „wissen“ wir nur aufgrund seines SichZusprechens und Sich-Gebens in allen seinen Formen und Ereignissen seiner-selbst. Jahwe ist, so weiß der Glaubende, d. h. ihn Hörende und Annehmende, der Sich-mirSchenkende, der Sich-Selbst als der Sich-Eröffnende und -Zusprechende, sich schenkend. Wir verweisen auch auf den Exkurs 2 „Gott in Geschichte“ im Anhang I. Was meint „Heilsgeschichte“?

Wort und Begriff „Heilsgeschichte“ sind „im 19. Jh. aufgekommen und waren von Anfang an umstritten. … Die heilsgeschichtliche Sicht ist berechtigt und notwendig, weil sie sich in den biblischen Texten selbst findet und weil sie grundlegenden Komponenten der biblischen Botschaft Rechnung trägt, nämlich dem Bezug zur Geschichte, zu dem in der Geschichte handelnden und sich offenbarenden Gott so wie zu dem … verheißenen Heil“ (so A. Weiser im LThk 4, 1995; 1336). Diese eigenartige Feststellung ist in mancher Hinsicht unrichtig; sie zeigt sogleich auf, daß Wort und Begriff „Heilsgeschichte“ in ihrer faktischen Anwendung unangebracht und irreführend sind. Vor allem wenn es um das sachgerechte Verständnis der biblischen Aussagen geht, und das ist sicher das Erstanliegen der christlichen Exegese, erweist sich „Heilsgeschichte“ als unglücklicher Terminus. Abgesehen noch davon, daß neben der so genannten „Heilsgeschichte“ keine andere „Geschichte“, etwa „Unheilsgeschichte“ benannt wird, so wird faktisch „Heilsgeschichte“ spezifisch für die Geschichte Israels verwendet, in die, wie oft formuliert wird, Jahwe „eingreift“, um sie in ein von ihm bestimmtes Ziel zu führen. Meistens läßt man den Beginn dieser Geschichte Gottes mit Israel wohl schon mit dem Bundesschluß Jahwes mit Abraham einsetzen, ohne aber die anderen Völker und Gruppen mitzubeachten. Erst im sog. Christusereignis wird der Blick auch auf alle Völker (meist Heiden genannt), ja auf alle Welt gerichtet. In ihrer faktischen Verwendung in der Exegese und Theologie wird „Heilsgeschichte“ meist zusammen mit „Neuanfang“, nämlich Gottes in seinem „Eingreifen“ in die Geschichte gesehen, was auch zu hinterfragen ist. Wenn man berechtigt und sachge44

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recht überhaupt von einem „Neu-Anfang“ sprechen will und spricht, dann setzt man irgendwie einen anderen oder gar mehrere „Anfänge“ als mitzubenennende voraus, und so wohl auch einen „Erst-“ oder „Ur-Anfang“, in Bezug auf den ein „Neu-Anfang“ bezogen wäre. Da ist die Frage gestellt: Wer oder was „fängt an“ bzw. wer oder was „fängt mit wem oder was neu an“. Worauf bezieht sich diese Bestimmung „neu“? Wir können hier allein aus unserem biblisch-christlichen Glauben eine Antwort zu finden versuchen; von woanders her denken und sprechen zu wollen, wäre nicht sinnvoll und auch nicht zielführend. Daher können wir aus dem ein-gesehenen, verantwortlich begriffenen und ins Wort gebrachten Glaubenswissen sagen: In allem Anfang, man könnte formulieren: Im Uranfang, im Anfang aller Anfänge ist „Schöpfung“, diese als „Tat“ („Tun“) des „Schöpfers“ zu verstehen wie als dessen „Ergebnis“. In und mit uns als seine „Schöpfung“ setzt Jahwe (wir verwenden hier bewußt ausdrücklich diesen seinen von ihm selbst genannten Namen statt des Wortes „Gott“, um streng im biblisch-christlichen Denk- und Sprachbereich zu bleiben) durch sich-selbst, aus sich-selbst und für sich-selbst wie mit sich-selbst das, was wir mit „Ur-Anfang“ bezeichnen (Erst-Anfang würde fragen lassen: von woher und woraufhin gerechnet?). Wir stoßen hier ohne Zweifel auf die vielen Fraglichkeiten, die in dieser Grund-Aussage sich melden. Die erste wäre: Ist für Jahwe überhaupt eine Zeit-Kategorie, welcher Art auch immer, anwendbar? „Anfang“ versteht sich ja als irgendwie begriffene Zeit-Kategorie oder auch auf logische Folge hin (wobei klar sein muß, worum es sich da handelt; die Ursache versteht sich ja z. B. als „vor“ der Wirkung „seiend“). Kann Jahwe überhaupt aus sich selbst heraus für sich persönlich einen Anfang, für was auch immer, setzen, wenn er „etwas“ (was?) mit sich anfängt? Ist (Präsens!) er „Sein“ (Jahwe sagt ja „Ich-Bin“), so daß er also sein Sein nur als im „Präsens“ in und bei sich selbst hat, somit keine „Vergangenheit“ (Präteritum; „war“) und kein Futur (etwas, was noch nicht wäre) kennt noch kennen kann? Im hier gemeinten „Anfang“ (was immer das Wort meint) ist ja nur Jahwe, er-selbst. Damit wird deutlich, daß wir für die Kategorie „Anfang“ (welcher Art auch immer) zunächst auf das andere Wort, nämlich „Schöpfer“ (und von ihm her „Schöpfung“) „reflektieren“ müssen, das wir verwenden, wenn wir von „Anfang“ meinen sprechen zu müssen. Der einfache Satz „Jahwe ist Anfang“ ist bar jeden Sinnes. Er wird in der Bibel nie gesetzt noch für uns suggeriert. Die Bibel beginnt (nicht nur in ihren Aussagesätzen, sondern in ihrem „Geschehen“ und dessen Versprachlichung) mit Jahwe- Schöpfer, der mit „anderem“ (was das ist, ist zunächst absolut nicht-gewußt) „anfängt“, etwas zu „tun“, um mit ihm zu tun zu haben zu beginnen, um sich-selbst ihm „erschaffend“ zu widmen (aus Liebe in Liebe, wie wir später begreifen). Dieses „andere“ kann nicht einfach als „NichtJahwe“ oder „Nicht-Jahwe-Sein“ verstanden und bezeichnet werden; denn das sagt ja gerade nichts; das wäre pure Verneinung, die nichts-sagend ist. So etwas „gibt es nicht“. Das „Ergebnis“ des „Erschaffens“ als „Tun“ Jahwes (Tätigkeitswort im Präsens! Jahwe ist Schöpfer; Jahwe erschafft) ist ja ein „anderes“ gänzlich eigentümlicher „Art“, eben „Erschaffen- Werden“ bzw. „Erschaffen-Sein“ (Präsens). Es gibt aber „neben“ 45

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oder „mit“ oder gar „vor“ Jahwe schlechthin nichts und niemand als etwas „anderes“; denn Jahwe allein ist. Man könnte hier einwenden, daß wir dann vielleicht besser sagen sollten „Jahwe lebt“. Das mag stimmen. Doch er lebt sich-selbst, sein eigenes Leben, das er als ICH-BIN ist, in dem etwas „anderes“ als er-selbst nicht zu finden ist. Wenn aber trotzdem von einem „anderen“ rechtens die Rede sein muß (der Grund dafür bin ich mir-selbst, denn „mich gibt es ja“: ich er-lebe ja mich; und das weiß ich), dann ist es offensichtlich durch das er-möglicht und wirklich, was „Erschaffen Jahwes“ ansagt. Was, so fragen wir daher weiter, „will“ Jahwe eigentlich in und mit dem, was wir von ihm her „erschaffen“ als Tun nennen? Ein solches Tun Gottes, wenn er es tatsächlich tut und vollbringt, betrifft ja ein „Objekt“, d. h. ein „anderes“ als JahweSelbst, weil es ja nicht etwas ist, das Jahwe im Leben-Tun seiner-selbst mit sich-selbst schon immer „tut“: selbst leben. „Erschaffen“ (Tätigkeitswort) spricht somit offensichtlich von einem „Erschaffen-Werden“ (Passiv Präsens!) und damit von einem „Sein“ (Präsens), das gerade kraft des „Erschaffen-Werdens“ durch einen anderen als es der Erschaffen-Werdende ist, eben durch den, der das „Erschaffen“ als seine Tat aktiv „tut“, d. h. durch den „Erschaffer/Schöpfer“. Wenn aber das Erschaffen-WerdenSein das Sein (Präsens) des Erschaffen-Werdenden (Präsens, wenngleich „Passiv“) ist, da-ist, dann ist dieses Erschaffen-Seiende es-selbst, eben kraft des Tuns des Erschaffers; und so kann und muß es mit sich-selbst auch benannt und bezeichnet werden. Von „Schöpfung/Erschaffen“ überhaupt realistisch, d. h. als tatsächliche Wirklichkeit zu sprechen, ja sprechen zu können und zu müssen, hat in sich selbst alle diese angegebenen Implikationen als ihm real vor-gegeben unverzichtbar und unaufgebbar bei sich, da der Erschaffer es nach seinem „Willen“ so als „Seiend“ „verfügt“. Wir sprechen hier offensichtlich die ewige Frage der Erkenntnistheorie an und sehen sie für uns im genannten Sinn gelöst, nämlich wieso wir überhaupt so etwas tun, bewußt tun wollen und tun können, was „erkennen“ genannt wird. Auf diese Frage brauchen wir aber hier nicht näher einzugehen. Wir dürfen es deswegen „übergehen“, weil wir uns um Einsicht in unser Glaubenswissen bemühen. Denn der Glaube ist diesem Bemühen ja zuvor und ruft es selbst erst wach. Wenn in den Bibelkommentaren und dann in aller Theologie von einem „NeuAnfang“, den Gott Wirklichkeit werden lassen will, die Rede sein soll, dann kann das nicht anders geschehen, als daß wir dazu wieder zuerst die Bibel selbst sprechen lassen und gut zuhören müssen, um es dann auch selbst so wieder-zu-geben, wie wir es vernommen haben, um es dann auszusagen und zu verkünden. Da stellen wir dieses fest: Die „Initiative“ zum „Neu-Anfang“ gibt und ist da nicht Jahwe! Vielmehr ist für Jahwe die bewegende „Motivation“, so jedenfalls sagt es die Bibel, das Zuvor-Geschehene, nämlich das „Agiert“-Haben des Erschaffenen, das Sich-Verweigert-Haben, das den von Jahwe selbst ursprünglich initiierten Gang des Lebensgeschehens des Bundes in den Wider-Gang versetzt, durch Wider-Spruch zum Einladungs- und LebensZuspruch Jahwes. Der „Neu“-Beginn, wenn diese Bezeichnung sachgerecht und richtig sein soll, ist ja die Re-Aktion Jahwes auf das, was das widersprechende Erschaffene 46

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ins Werk gesetzt hat, kraft der ihm geschenkten Freiheit zum An-Nehmen und MitTun im Bundesgeschehen zusammen mit Jahwe. Ein mögliches Nein-Sagen hat Jahwe nicht „von Anfang an“ schon „mit-einkalkuliert“. Jahwe selbst hat kein Vermögen zum Ja- oder Nein-Sagen geschenkt, sondern durch sein ursprünglich-erschaffendes Ja-Sagen „nur“ zum Annehmen-Können, zum liebend-dankbar-antwortenden Ja-Sagen. Der aus Liebe erschaffende Jahwe „rechnet“ nicht mit einer Nein-Möglichkeit! Der Mensch ist ja gerade als Eben-Bild, das Du-Jahwes erschaffen. So ist er das Ja Jahwes in Person. „Und Gott sah, daß alles sehr gut war“ (Gen 1,31). Damit ist über alles Erschafffene Jahwes Begutachtung und Urteil gesprochen. Das Ganz-Eigentümliche und absolut Un-Erahnbare des „Neu“-Anfangen-Wollens des Bundes-Initiators zeigt sich nun zunächst daran, daß Jahwe Sich-Selbst wirklich in seinem Herzen zu Tode getroffen sein läßt (Gen 6,1; Hos 11,8f), und zwar von dem, was das Aus-Liebe-Erschaffene meinte in seiner ihm mit-geschenkten Freiheit entscheiden und wirkungsvoll tun zu können. Jahwe läßt es auch ge-währen und wirksam sein, sogar zuerst für sich-selbst, dann auch für alles Erschaffene; denn das hatte er ja dem Menschen, als er ihn zum Herrn über alles einsetzte, anvertraut. Alles trägt folglich ab nun dieses Wesens-Merkmal: Statt Leben Nicht-Leben =  Tod; statt Paradieses-Dasein das Nicht-Paradies; die widerliche Fremde und Gott-Ferne; Gott-Verlassenheit (die es ja für ein Gott-Erschaffen-Seiendes gar nicht gibt!). Man muß jetzt tatsächlich alles von Jahwe ins Wirklichkeits-Sein Eingesetzte und deswegen positiv mit Namen genannte Geschenkte aufzählen und dann mit dem Negativ-Zeichen versehen, um das wirklich auszusagen, was diese nein-gewordene Wirklichkeit ist. Denn durch den WiderSpruch ist alles zugrunde geprägt, eben weil es durch ihn wirkmächtig ver-nichtet ist. Alles hat dieses Vernichtet-Sein nun zu tragen, zu sein, zu leben und zu er-leben. Es lebt jetzt alles immer noch gemäß dem Ur-Wunsch Jahwes, zugleich jedoch nun auf das Nicht-Leben hin ausgerichtet und darauf festgelegt. Das Sein des Erschaffenen ist auf Des-Todes-Sein ver-kehrt, sein Leben lang! Und genau dieses verkehrte Sein und Leben ist das, was Jahwe nun durch sein Auf- und An-nehmen des Wider-Spruchs versucht, ein „neues“ Jahwe-Sein und -Bleiben werden zu lassen. Jahwe läßt das Nein voll gelten, aber diesem gewirkten Vernichtet-Sein keine absolute Ver-Wirklichung angedeihen. Vielmehr versucht er, dieses auf Nicht-Sein unausweichlich Ausgerichtete zu wenden. Jahwe strebt die Kehrt-Wendung des Nein ins Ja zu erreichen an – auch jetzt als An-gebot an das sich dem Vernichtetsein geweiht habenden Erschaffenen. Hier ist jetzt genau auf die Weise dieses Abwenden-Wollens Jahwes zu achten. Wie versucht Jahwe nämlich, das zu bewerkstelligen? Wieder nicht durch sein eigenes selbst-herrliches Wollen und Tun. Jahwe tut vielmehr das Un-Erahnbare! (Nur Gott konnte auf diese Idee kommen, die wir auch im Nachhinein nur staunend „begreifen“!) Jahwe will in seinem Vollbringen-Wollen genau das mit-beteiligen und mit-beteiligt wissen, was Ver-nichtung geworden war. Mit dem Ver-unstalteten gemeinsam wünscht er sein ursprünglich Gewünschtes doch Wirklichkeit werden zu lassen, unter erbetenem Mit-Wirken des Sich-Verneinten. Dem Zu-Tode-Geweihten 47

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will er gleichsam nach unausweichlichem Zu-Tode-Geworden- und also Tod-Sein das Den-Tod-hinter-sich-bringen-Können zu ermöglichen – wenn es mit-zumachen sich über-reden läßt. Jahwe geht dazu weder von seinem Ur-Gedanken und -Entschluß ab, noch von dem durch den Wider-Willen bestimmten Zuwider-Sein. Jahwe ver-nichtet gerade das Wider-Spruch-Seiende nicht kraft seiner (sog.) Allmacht, um dann erst an dessen Stelle etwas „absolut Neues“ erschaffend ins Dasein zu rufen. Vielmehr will er den erfahrenen Wider-spruch in seinem „wiederholten“ Zu-Spruch „neues“, das heißt „wiederholtes“ Lebens-Vermögen darreichend wenden, um „dasselbe“ Ur-Erwünschte „neu“ zu schenken. Das wiederholte Zu-Reden und Über-Reden ist kein Überwältigen, sondern nachdrückliche Zu-Widmung, die dem zu Beschenkenden Lebens-Freude zuteil werden lassen will. Jahwe hat sich ja in die Hand des Menschen geschenkt (nicht ausgeliefert!), so daß es der Mensch in der Hand hat, was Gott zu er-leben hat und erleben muß, weil er sich geschenkt hat. Und Gott ent-reißt sich nicht der Hand des Menschen, sondern er beginnt zu versuchen, in und aus diesem Geworden-Sein heraus doch freischenkender Jahwe „neu“, weil er-selbst, werden zu dürfen, – wieder wenn der sich-zunichte-gerichtete Mensch es zu-läßt! Das so wiederholte Ja Jahwes zum Menschen ist von Jahwe her genau das JA, das Jahwe schon „im Anfang“ als AMEN zu allem Erschaffenen ausgesprochen hat. Es soll jetzt durch Jahwe „neue“ Zu-Sage und vorhergehenden Ab-Sage des Erschaffenen gleichsam zum AMEN AMEN werden – wenn der Mensch sich zum Mit-Sprechen genau dieses AMEN Jahwes doch überzeugen läßt (vgl. dazu 2 Kor 1,18–21). Was wir jetzt so betont herausgehoben haben, zeigt sich augenscheinlich an dem ersten sog. „neuen“ Anfang Jahwes, am Noach-Ereignis. Das Erschaffene hat sich der Nichtigkeit geweiht: Gen 6,5–7.13. Jahwe sinnt auf sein Re-agieren. Er spricht Noach, der ja auch zum Nichtig-Gewordenen gehört, an und offenbart ihm seinen Gedanken der Rettung. Zugleich trägt er ihm an, das zu bewerkstelligen, was ihm und seinen mit-auserwählten Verwandten vor dem kommenden Un-Heil bewahren möchte. Er soll das bauen, was ihm im kommenden Geschehen Rettung werden kann. Noach soll sich an der Vor-Sorge Jahwes beteiligen lassen. Und Noach tut es; er baut nach den Weisungen Jahwes die Arche und vereint in ihr alles Leben, das Jahwe vor dem Un-Heil bewahrt wissen will. Statt die ganze Erde zu erfüllen, wie es „am Anfang“ vorgesehen war, soll diese kleine Schar in einer im Grunde gänzlich ungeeigneten Not-Unterkunft Wohnung beziehen, während die ganze Erde der Vernichtung als Ort für ihr Wirken gewährt wird. Noach erfüllt den Auftrag Jahwes und sammelt alles Erwählte an unmöglicher Stelle. Dann läßt Jahwe den Regen, den er ja, ihn erschaffend, der Erde wie allen Menschen und allem Leben zum Segen, zum Wachsen, Gedeihen, Blühen und Früchte- bringen bestimmt und befähigt hatte (vgl. Gen 2,5; Lev 26,9; Dt 11,11.14; 28,2; 32,2f; 1 Sm 23,4; Ps 72,5f; 147,7–9: Ib 5,10; 36,27f; Jes 30,23; 44,14; Jer 5,24; Ez 34,26; Sach 10,1; Apg 14,16; Jak 5,18), das erfüllen, was der sichverweigernde Wider-Spruch dem Regen zu tun bestimmt hat: Nicht-Segen und also den Tod bringen. Der Segen-Regen wird zur verheerenden Flut und vernichtet „alles 48

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Leben auf der Erde“ (Gen 6,17). Es ist nicht Jahwe, der das will oder bewirkt. Jahwe läßt vielmehr geschehen, was das sich- verweigernde Erschaffene aller Welt bestimmt und eingebracht hat. Weil Noach auf die Vor-Ankündigung Jahwes hört und die Arche bewerkstelligt und mit auserwählten Leben erfüllt hat, wird jetzt im Geschehen der Ver-weigerung/Vernichtung Rettung. Es zeigt sich, daß Noach berufen wurde zum gehorsamen Mit-Tun in dem, was Jahwe bewahren und „neu“ beginnen lassen will. Dazu wird sogar der vernichten-wollenden Flut der Auftrag erteilt, die Arche zu tragen, nicht zu verschlingen. Der vernichten-wollenden Flut wird es, ohne daß sie es weiß, aufgelastet, das Heil zu tragen und so den Erwählten in der Arche die Gewähr zu geben, nicht versinken zu müssen, eben weil diese wenigen Erwählten dem Rate Jahwes treu gehandelt hatten. Das Un-Glaubliche geschieht so auf eine Weise, die kein Erschaffenes sich ersinnen konnte. Dann, erst dann gebietet Jahwe den Fluten, in den ihnen „von Anfang an“ zugewiesenen Räumen und Wirkmöglichkeiten aufs neue zu tun, was Jahwe ihnen ursprünglich aufgetragen hat: Segen zu sein (Gen 1,9). Dann läßt Jahwe die Auserwählten und vor-läufig Geretteten „neu“ beginnen. Und zur Besiegelung dieses „neu“ begonnenen Bundesschlusses des Ur-Anfangs (Gen 9) läßt Jahwe den Regen-Bogen das Zeichen seiner Treue sein, wieder ohne diesem (schon von Natur aus erstaunlichen) Natur-Vorgang seinen Ur- Sinn zu nehmen. Er ist und bleibt nur Natur-Geschehen; aber gerade diesem gibt er jetzt das zum Zeichen Bestimmt-Sein, also einen Sinn, den man „nur“ glaubend erkennt, annehmen kann und sich an ihm erbaut und aufrichtet. Was wir so mit recht hilflosen Worten aus in der Bibel Bekundetem ins Wort gebracht haben, zeigt sich immer wieder in den folgenden jeweils „neuen“ Anfängen, weil das Erschaffene-Erlöste sich immer wieder neu verweigert, Jahwe aber nicht abgehen kann („Ich bin Gott und nicht ein Mensch“: Hos 11,9) und will von seinem Ur-Entschluß seiner Liebe. Letztlich wissen wir das als Christen aus unserem Glauben an das Geschehene im Pascha-Ereignis Jesu, in Tod und Auferweckung des Sohnes Gottes, der Gott ist. Dieser stirbt realst den Tod und das Tot-Sein (d. i. das absolute „Aus“ und „Ende“ allen Lebens!), im Gehorsam gegen Gottes Ur-Absicht und dem wirkmächtigen Nein des Erschaffenen. Es ist dieses Geschehen eben nicht nur Gottes-Gehorsam, sondern dies im vollem Gelten- und Wirken-Lassen dessen, was Erschaffenen-Entscheidung und -Tat war, das Erschaffenen-Nein passiv und aktiv zugleich zu Tode, indem er sich „zuvor“ das Sünder-Sein hypostatisch einte und in und mit ihm einlöst, was angeordnet war: Ja und Nein durch den Tod hindurch – in göttlicher, dem Erschaffenen un-denkbarer Radikalität. Das ist ja das „Ergebnis“ dieses Pascha-Geschehens: Der in allem gehorsame, d. i. Ja-Sagende zu Gott und zum Sünder in-eins, dieser wird „aufgenommen“ (Lk 24,51; Apg 1,9–11) „in den Himmel“, in die immer schon und bleibend liebenden Hände dessen, der sich als JHWH – ICH-BINDIR erweist, immer wieder „neu“ derselbe und eine. JHWH ist und bleibt JHWH. Es hat sich dabei aber auch deutlichst gezeigt, daß Jahwe nicht nur der aktiv Seiende und Wirkende in der „Geschehens-Geschichte“ des Lebensbundes ist, den er erschaf49

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fend begründet hat. Vielmehr ist er „von Anfang an“ der, der das „Schicksal“ dieses Lebensbundes mit-erleidet mit allen in ihm Eingebundenen – bis ins Tot-Sein hinein. Den Grund und die Wahrheitswirklichkeit dieser „Tatsache“ spricht Jahwe selbst in einem „unglaublichen“ Bekenntnis zu sich selbst und zu den Ihm-Verbundenen in Hos 11 aus, was wir hier nochmals wiederholen müssen und dürfen, als das eine Gottes-Bekenntnis überhaupt: Spruch Jahwes: „Ich bin Gott und nicht ein Mensch, heilig in deiner Mitte; ich kann nicht anders“! (Wir werden auf dieses Geheimnis in Bezug auf die Herkunft Jesu Christi noch eigens eingehen müssen; s. den Hauptteil unserer Untersuchung.) Was wir so in bestimmtem Sinne berechtigtes Sprechen von einem Neu-Anfang Jahwes feststellen konnten, zeigt sogleich auf, daß die Begriffsprägung „Neu-Schöpfung“ schlechterdings als nie zu rechtfertigen anzusehen ist. Wenn nämlich der Ausdruck „Schöpfung“ ganz allgemein für jegliches und alles eingesetzt wird, was Gott als Eigenes wirkt, etwa auch auf „wunderbare“ Weise, dann ist dem biblischen Verständnis von „Erschaffen Jahwes“ und „Von Jahwe-erschaffen-Sein“ untragbare Ungerechtigkeit angetan, ja von einem (vielleicht gar nicht intendierten) Mißbrauch dieser biblischen Wendung zu sprechen. Denn es ist ganz offenkundig, daß das mit arb Angesagte in seinem absolut unvergleichlichen Bedeutungssinn gesehen und anerkannt werden muß. Das dürfte aus dem zuvor Herausgearbeiteten im Grunde klar sein. Es ist hier nicht der Ort, diese Frage näher und grundsätzlich anzugehen und zu klären; sie wird durch zahlreiche Aussagen in den Kommentaren zur Herkunft Jesu Christi gemäß Mt 1–2 und Lk 1–2 immer wieder akut. Hier sei folglich auf die Besprechung dieser Stellen im Kapitel II und III hingewiesen.14 14 Wir bringen hier noch einige weitere Beispiele der zweifelhaften Verwendung des Begriffs

„Neuschöpfung“ zur Illustration des Gesagten: E. Schweizer sagt in seinem Lk-Kommentar zu Lk 1,26f.34–38 u. a. dies.: „Menschliche Abstammung konkurriert nicht mit Gottessohnschaft … schon der ungewohnte Ausdruck ‚Höchster‘ läßt an die in V. 35 ausgeführte Vorstellung denken. Jedenfalls ist vom einmaligen Einbruch Gottes in die Geschichte der Menschen die Rede, und zwar von Jesu Regentschaft, nicht von seinem Leiden … Damit (d. i. mit 1,34–48) wird das Wunder verdeutlicht. Zeugende Kraft ist im Judentum dem Geist nicht zugeschrieben, wohl aber Schöpfung (Ps 33,6: 1. Mose 1,2) und Neuschöpfung (Ez 37,14). Darauf liegt also der Nachdruck. Was geschah, als der Geist aus dem Chaos der Welt und aus dürren Gebeinen Leben werden ließ, das widerfährt hier Maria. Die Gegenwart Gottes selbst ‚überschattet‘ Maria ähnlich wie Gottes Wolke das Bundeszelt (…). Auch Lk 9,35 kommt mit der Wolke die erschreckende Gegenwart Gottes zu den Jüngern – nicht grundsätzlich verschieden von dem hier Erzählten, obwohl in 9,35 das neue Leben vom Wort Jesu erwartet wird … Der Glaube an Gott, der alles Leben schafft … hat sich hier verbunden mit dem Glauben an den Geist, der den Anfang einer neuen Schöpfung setzt … (Maria) ist offen für das wirkende Schöpferwort Gottes, demgegenüber sie nur ‚Magd‘ sein kann, deren er sich bedient“ (19–20). Hier erübrigen sich Worte dazu. Denn von „Gottes Einbruch in die Geschichte der Menschen“ zu sprechen und in Gen 1,2 den „Schöpfer“ und in Ez 37,14 „Neuschöpfung“ zu erkennen, ist schlicht absurd, zumal es mit „das widerfährt Maria“ nochmals im Un-Sinn-Sein bestätigt wird. ––– Als ein zweites Beispiel bringen wir, was H. Schürmann neben anderem zu Lk 1 in seinem Kommentar ausspricht: „Die Erzählungstendenz der Verkündigungsszene ist eminent christologisch: Es geht letztlich darum, die dem Glauben feststehende Messianität

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Es ist sicher aufgefallen, daß wir uns in diesen unseren Vor-Überlegungen jedes gängigen Begriffs, Fachausdrucks und entsprechender Wortbildungen und damit verbundener Anschauungsvorstellungen enthalten haben. Das ist ganz bewußt und mit voller Absicht geschehen. Wegen unserer Hauptthematik und des Plans seiner Darstellungsweise dessen, was wir meinen festgestellt zu haben und das wir kritisch besprechen wollen, erschien es dienlich, zunächst in einer vorwissenschaftlichen, im normalen Alltag üblichen Sprache, in der sich nach-denkliche Menschen untereinund ‚Gottessohnschaft‘ Jesu theologisch zu gründen (!). Das geschieht durch den Aufweis (!), wie Jesus sein menschliches Dasein der schöpferischen Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau verdankt“ (40; wir haben durch (!) auf Fragwürdiges aufmerksam gemacht). Wir bemerken, daß hier das Menschsein Jesu als „schöpferische Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau“, also als „Erschaffenes“ behauptet wird. Das wird durch spätere Aussagen bestätigt: Zu Lk 1,35 heißt es: „… wird die Erklärung des Wie gegeben: pneuma hagion wird das Wunder in ihr wirken, die schöpferische Allmacht Gottes … Gemeint ist das Pneuma, das am Anfang der Schöpfung über den Wassern schwebte (Gn 1,2) … durch die dynamis Gottes meint den gleichen schöpferischen Vorgang: Gottes Allmacht wird im Schoße Mariens ein Kind erschaffen. … Das eigentliche Erzählinteresse lichtet sich hier: wie Adam von Gott erschaffen ward (vgl. 3,38) und dadurch in einem Sohnesverhältnis zu Gott steht, so – und doch ganz anders – geschieht hier neue Schöpfung, nachdem die Kette der Zeugungen abgerissen ist … Weil das Kind in seinem Ursprung gänzlich gottgewirkt ist, wird es durch und durch heilig sein … Gottes Pneuma wird ihm schöpferisch lebenspendend das Dasein geben“ (52; 53; 54). Es erübrigt sich, darüber zu diskutieren. Hier wird das MenschSein Jesu mehrmals ausdrücklich als „Schöpfung“, ja „neue Schöpfung“, wie Adam, erklärt. Das ist offener Widerspruch zu dem in Röm 8,3, Gal 4,4 und Phil 2 Ausgesprochenen, von dem man kaum behaupten kann, Lukas habe das dort Formulierte überhaupt nicht gekannt (wenn er auch diese Texte nicht selbst gelesen haben mag). Dazu wird im Haupttext am gegebenen Ort gesprochen. – H. Räisänen macht folgende Aussagen zu Lk 1: „Lukas unterstreicht stark die Theozentrik der Heilsgeschichte … Die Empfängnis Jesu war eine creatio ex nihilo, eine neue eschatologische Schöpfungstat. Der sich realisierende Plan Gottes steht hinter allen Ereignissen …“ (102). Daß die „Empfängnis“ (!) Jesu als creatio ex nihilo verstanden wird, steht nicht im Lk-Text und ist pure Erfindung des Autors, dazu offener Widerspruch z. B. zu Gal 4,4: Röm 8,3 und vor allem Phil 2. Weitere Textstellen aus dem Buch Räisänens s. im Anhang II. – E. Nellessen spricht in seinem Buch „Wir haben seinen Stern gesehen“ mehrmals mittels dieser kritischen Wendung. Er sagt: „ein Zeichen, das auf Gottes neuen Anfang mit der ganzen Menschheit hinweist. Ähnlich verhält es sich mit der vom schöpferischen Geist gewirkten Empfängnis Jesu … Jesus ist der Beginn einer neuen Schöpfung … Faktum der Jungfrauengeburt“ (141; weitere Textstellen aus diesem Buch s. im Anhang II). K. Rahner bringt in seinem Beitrag „Dogmatische Bemerkungen zur Jungfrauengeburt“ u. a. diese Aussagen: „… das Werden der menschlichen Wirklichkeit Jesu … insofern dieses die schöpferische Tat Gottes ist … Es bedeutet einen schöpferischen Neuanfang aus der Initiative Gottes … aus der reinen, schöpferischen, gnadenhaften Initiative Gottes selbst …“ (141; s. weitere Textbeispiele dazu in unserem Anhang II.). H. Frankemölle spricht in seinem Mt-Kommentar mehrmals ausdrücklich und offensichtlich bewußt argumentativ von der Empfängnis Jesu als „Vorstellung, daß ein Sohn … ohne Zutun eines Mannes allein durch das schöpferische Wirken des Geistes Gottes“ geschehen ist (150). Wiederholt wird herausgestellt, „daß Jesus Christus seine Existenz in absoluter Weise einem schöpferischen Eingreifen Gottes verdankt“ (152). Es wird ausdrücklich-reflektiert von „einer absoluten (!) Neuschöpfung durch Gottes Geist in einer Jungfrau“ gesprochen. Wir bringen wichtige Text-Beispiele im Anhang; daran soll deutlich werden, wie hier einem biblischen Text Gewalt angetan wird. Wir verweisen für weitere Besprechungen wieder auf den Haupttext unserer Untersuchung.

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ander austauschen, zu bewegen, um das in diesem ersten Kapitel zu Sagende vorzubringen. Wir haben dazu zum näheren und tieferen Nach-Denken und Be-denken unseres lebendigen Wissens um uns selbst und um alles, was uns, wie auch immer, persönlich „angeht“, ermuntern wollen, in dem nämlich, was jeder einsichtsvolle Mensch ohne spezifische Vorkenntnisse mitbringen bzw. mitverfolgen könnte in dem, was wir meinen, einmal ausdrücklich ins Licht rücken zu sollen. Das Ziel war es, zu verstehen zu geben, was wir und wie wir als den Hauptinhalt unseres Buches in den folgenden Kapiteln vor- und darzustellen. Es sollte ein umfassender Horizont eröffnet werden, innerhalb dessen das, was im einzelnen im folgenden entfaltet wird, einmal ein-gesehen werden möchte, was im Grunde eigentlich jeder schon so sieht und begreift, bevor er sich damit thematisch beschäftigt; mit dem Ausgesagten als wirklich selbst-gewußt und selbstbewußt, wenn auch meistens im Dunkeln bleibend, identifizieren kann oder auch bemerken, daß er selbst alles ganz anders sieht und beurteilt. Es sollten keineswegs Vor-Entscheidungen suggeriert oder gar aufgedrängt werden, die eine eigene Auffassung verhindern würden. Das gilt hier im spezifischen Sinn für Einsichten, die schon als theologisch zu gelten haben. Wir möchten dafür gerade alles offen-legen und nichts als eigentlich längst feststehend und folglich intangibel zu gelten habe. So können wir jetzt im einzelnen ankünden, was in den folgenden Kapiteln zur Sprache kommen wird, wie auch, warum wir meinen das alles näher benennen und hervorheben zu sollen. Es sei dazu hier ausdrücklich darauf hingewiesen, daß wir die ungemein vielfältige und umfangreiche Fachliteratur gelesen haben und unseren jetzt folgenden Ausführungen deren gediegene Kenntnis zugrunde legen. So ist zugleich angeraten, alle im Folgenden oft sogar im Zitat wiedergegebenen Aussagen anderer Autoren auch seitens der Leser unseres Buches zur Kenntnis zu nehmen. Denn man muß die Vielfalt der vorgebrachten Behauptungen und die oft durch Jahrzehnte, wenn nicht durch Jahrhunderte vorgelegten und stets wiederholten Wendungen und Behauptungssätze wirklich selbst eingesehen haben, um zu verstehen und beurteilen zu können, was wir und warum wir vieles abzulehnen glauben erkannt zu haben. Daher empfehlen wir eindringlich, alle von uns aufgeführten Zitate in den Anmerkungen und besonders auch die zahlreichen Exkurse aufmerksam zu lesen. Erst kraft einer solchen genauen Einsicht- und Zur-KenntnisNahme aller aufgeführten Sentenzen der kritisch betrachteten und gewerteten Aussagen kann verstanden und beurteilt werden, was wir meinen vorlegen zu müssen, eben weil vieles nicht nur total bibelfremd, sondern auch als dem christlich-verbindlichen Glaubensbekenntnisgut widersprechend zu gelten hat. Das folgende Kapitel II legt die neutestamentlichen Haupttexte zur Herkunft Jesu Christi vor. Dazu gehören zuerst die Texte Mt 1–2 und Lk 1–2. Deren Aussagen werden vorgelegt, indem zunächst deren rechte Übersetzung in die deutsche Sprache sowie deren theologische Erfassung ausgesprochen werden. Dazu werden, besonders hervorgehoben, die Kernpunkte des Aussage-Inhalts der genannten Texte benannt und nach Notwendigkeit näher besprochen. Es zeigt sich, daß Erstaunliches, 52

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für manche vielleicht sogar bisher ganz Unbemerktes herausgehoben werden muß. Diesen beiden Abschnitten zu Mt 1–2 und Lk 1–2 werden dann die Textstellen Gal 4,4f, Röm 1,3, Phil 2,5–11 und, spezifisch nochmals anders entfaltet, Joh 1, insofern sie zur Herkunft Jesu Christi ausdrücklich etwas aussagen, besprochen. Dem folgt dann, noch innerhalb des Kapitel II, die Vorführung unbiblischer und sach-fremder Wörter/Begriffe in der faktischen Anwendung in Bezug auf die besprochenen ntl. Texte zur Herkunft Jesu Christi in der Exegese und Biblischen Theologie. Zuerst wird über den Ausdruck/Begriff „Jungfrauengeburt“ gesprochen, eine Redewendung, die es ja nur im Deutschen gibt, aber von ungemein großer Bedeutung geworden ist. Es tritt bei näherer Einsichtnahme Erstaunlichstes in den Blick, das allerdings im ntl. Text nirgends an- oder aus-gesprochen vorzufinden ist. Als weiterer, ähnlich frag(un) würdiger Begriff wird „Präexistenz“ aufgewiesen, wieder als eine Wortbildung, die das NT nirgends kennt, sondern erst in späterer Zeit zunächst im philosophischen Denken und dann noch später in das entsprechende theologische Denken aufgenommen worden ist, mit sehr fragwürdigem Aussage-Inhalt. In derselben Weise werden „Anfang/Anfänge Jesu“, „Lebensentstehung Jesu“ und „Menschwerdung“ bzw. „Inkarnation“ kritisch besprochen. Das folgende Kapitel III ist in seinem Inhalt und in seiner Darbietungsweise geprägt von der Tatsache, daß in den Kommentaren zu den ntl. Schriften, die zur Herkunft Jesu Christi Entscheidendes aussagen, sehr oft behauptet wird, die entsprechenden Aussage-Inhalte seien untereinander nicht vereinbar, sie widersprächen sich sogar gegenseitig. Es sei eine Konkurrenz zwischen den verschiedenen Christologien (Plural!) des NT zu sprechen. Dem sind wir nachgegangen und legen das Ergebnis unserer Feststellungen offen. Dazu ist Rede von jenen Texten, die als wegweisend für die anvisierte Zusammenschau der ntl. Text-Aussagen in Bezug auf die einschlägigen Stellen in Frage kommen. Von daher geleitet bringen wir eine entsprechende Zusammenschau der ntl. Texte zur Herkunft Jesu Christi. Da geht es nicht um einen Überblick, sondern um einen Gesamtblick kraft einer sinnvollen Zusammenstellung aller einschlägigen Einzelaussagen, nicht harmonisierend, sondern harmonisch. Ziel ist nicht ein von uns im Nachhinein konstruiertes und auf diese Weise strukturiertes Ganzes, das wir systematisch geordnet haben bzw. wenigstens so behaupten. Wir folgen nämlich in unserer Zusammen-Schau dem im NT bekundeten Geschehen, dessen Einzelgeschehnisse in ihrer eigenen „Aufeinanderfolge“ das eine „Bild“ selbst hergeben. Den Vor-Gang des Geschehens des Heils in Jesus Christus nehmen wir zum Leitfaden für die Zusammenschau, die sich auf diese Weise selbst ergibt. Wir werden uns für das Auszusagende bewußt einer Sprache bedienen, die sich hauptsächlich an der der Heiligen Schrift selbst orientiert und anschließt. Wendungen, die von philosophischen und theologischen, aber auch aus anderen Denkansätzen wie denen der Natur- oder Literaturwissenschaften u. ä. herrühren, vermeiden wir ganz bewußt, auch wenn sie längst als allgemein-üblich gewordene gelten. Dadurch wollen wir sogleich auch die brisanten Redewendungen bzw. eingebürgerten 53

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„Fachwörter“ zunächst vermeiden, weil gerade sie oft die exegetischen und theologischen Probleme überhaupt erst wachgerufen haben. Im Laufe unserer Darlegungen wird dann offenkundig, wo sinnvolle oder eben unbegründete Frag-Würdigkeiten vorliegen, die der Bibeltext selbst nicht aufweist und zu lösen vorgibt. Im Abschluß und Ausklang nennen wir nochmals die wichtigsten Punkte unserer Darstellung und weisen auch auf, daß von bestimmten Ausdrücken/Begriffen und Redewendungen in der Theologie gänzlich Abschied zu nehmen als dringlich erscheint.

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Erster Teil Die neutestamentlichen Haupttexte zur Herkunft Jesu Christi In diesem Kapitel sollen die wichtigsten ntl. Texte benannt und besprochen werden, die von der Herkunft Jesu Christi Entscheidendes aussagen. Sie sollen zunächst nur nach ihrem unmittelbar einsehbaren Aussage-Gehalt befragt werden, noch vor allen spezifisch exegetischen, bibeltheologischen und systematisch-theologischen Aspekten und Frageweisen. In der entsprechenden ersten Einsichtnahme in diese Texte und ihre Kommentierungen zeigt es sich als dringend, zunächst um eine exakte Übersetzung dieser Texte besorgt zu sein, da sich nicht selten schwerwiegende Fehlübersetzungen finden, manche schon seit Jahrhunderten, ohne daß es bemerkt zu werden scheint. Sodann soll der Aussage-Gehalt im einzelnen erfaßt und vorgestellt werden, und zwar zunächst nur gemäß dem explizit dort Ausgesprochenen, noch vor jeder weitergreifenden Auslegung oder Interpretation. Bei manchen dieser Texte erwies es sich als angebracht, die Haupt-Aussagepunkte zusammenzustellen und als solche offenzulegen. Es wird sich im folgenden zeigen, worauf wir meinten, spezifisch aufmerksam machen zu müssen.

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Abschnitt A Mt 1 — Der Text, seine Übersetzung und die theologische Erfassung seiner Aussagen

I. Zur rechten Übersetzung von Mt 1 Vom Text des MtEv selbst her erweist sich das (später so genannte) 1. Kapitel, also Mt 1,1–25, als ein in sich gerundeter Abschnitt, der daher begründet als solcher gelesen werden will und muß, was allerdings ständig vom Ganzen des MtEv her zu geschehen hat, da ein Teilstück, das wesentlich zum Ganzen gehört und daher selbst „Evangelium“ ist (und nicht als „Vorbau“, „Vorgeschichte“ u. ä. verstanden werden darf). Dementsprechend nehmen wir die einzelnen Verse vor und übersetzen sie, gegebenenfalls mit klärenden Bemerkungen.

1. Mt 1,1

Dieser Vers lautet: bi,bloj gene,sewj VIhsou/ Cristou/ ui`ou/ Daui.d ui`ou/ VAbraa,m, von Frankemölle übersetzt mit: „Buch der Geschichte Jesu Christi, (des) Sohnes Davids, (des) Sohnes Abrahams“ (Fr. I.17). Dieser sicher programmatisch klingende Satz wird von vielen Kommentatoren als Überschrift über das gesamte MtEv verstanden. Andere möchten 1,1 als Überschrift nur über Mt 1 bzw. nur für die in 1,2–17 vorgelegte Genealogie ansehen (wobei 1,18–25 als „Fußnote“, d. h. klärende Auskunft zu 1,16, zu gelten habe). Wir brauchen hier selbst (noch) keine Entscheidung zu fällen (vgl. den folgenden Abschnitt). Wie immer man sich entscheiden mag, der Satz 1,1 läßt sicher den Aussageinhalt des MtEv deutlich, wenngleich in aller Kürze, verstehen. Will man unbedingt von einer „Überschrift“ sprechen, so wäre 1,1 als tatsächlich erster Satz des MtEv schon hinreichend verstanden, sowohl im Sinne derer, die dies nur für 1,1–25 gelten lassen, wie für die, die für „Geschichte“ oder auch „Herkunft Jesu Christi …“ plädieren. Wird „genesis“ in 1,1 als „Geschichte“ begriffen,1 dann wäre ge1

Dazu sei auf die eindringlichen Sätze Frankemölles hingewiesen, die für eine klare Position in dieser Frage plädieren: „Die Tatsache, daß ich die Bezeichnung ‚Überschrift‘ (für Mt 1,1: R. S. aus dem Kontext) gewählt habe und dem ersten Vers des Evangeliums im Gegensatz zu den Bibelausgabe einen eigenen Unterpunkt einräume, enthält bereits die Antwort: Die Leser des MtEv verstanden die griechische Wendung bi,bloj gene,sewj nicht als ‚Stammbaum‘ (so die Einheitsübersetzung),

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I.

Zur rechten Übersetzung von Mt 1

nau anzugeben und im gesamten MtEv stets zu beachten, was hier mit „Geschichte“ angesagt sein soll.2 Denn das MtEv ist jedenfalls kein Geschichtswerk im üblichen (damaligen wie heutigen) Sinn, sondern Evangelium (ein, wie wir schon erkannt haben, semantisch analogieloser Begriff !). Es enthält tatsächlich auch Aussagen und Feststellungen, die als historisch interessiert anzusehen sind, die aber nicht aus geschichtswissenschaftlichem Interesse herrühren und formuliert sind. „Evangelium“ meint auch keineswegs „Dichtung“, wenngleich von einem Schriftsteller verfaßt, keine Sammlung von „Geschichten“, die von „Wirklichkeit(en)“ in der Weise fiktiver Erzählungen reden oder Traumwelten und Wunschbilder für eine bessere Welt vorgaukeln. Das „Evangelium“ ist auch keine Schrift, die philosophische, ethische oder wie immer religiös erbauliche Dinge oder Gedanken zur frei beliebigen Annahme und zur persönlichen Lebensführung der Leser als Maß und Muster vorlegt, denen jedoch keinerlei überzeitliche Gültigkeit oder verbindliche Werthaftigkeit zukommt. ge,nesij in 1,1 als „Geschichte“ übersetzt gibt im Grunde schlicht das an, was Matthäus als Werk schreibt: Das Evangelium Jesu Christi. Was dies genau ist und meint, das sagt das ganze Werk selbst hinreichend klar. Und genau das wäre für „Geschichte“ als Übersetzungswort von ge,nesij in 1,1 anzusetzen (nicht für jedes Vorkommen von ge,nesij im MtEv wohlgemerkt!).

2

sondern als ‚Buch der Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams‘. Sie lasen diesen ersten Vers als Überschrift zum gesamten Werk, und Matthäus gab ihnen damit gleichsam den Notenschlüssel zum Verständnis. … In welchem Sinn Matthäus sein ‚Buch‘ verstanden wissen will, deutet der Genetiv ‚Buch der Geschichte‘ an. Das Substantiv ge,nesij hat ein sehr weites Bedeutungsspektrum; es meint: ‚Ursprung, Entstehung, Zeugung, Geburt, Leben, Entstehungsgeschichte‘. Soviel ist klar: Bei aller Bedeutungsbreite zielt dieser Begriff auf das MtEv als Erzählung. Dies wird auch durch das Verbum gi,nesqai in der Bedeutung ‚werden, entstehen, geschehen‘ im MtEv bestätigt … Das heißt: Die im Evangelium erzählte Geschichte wird in der Überschrift in 1,1 für den Leser angekündigt. Bestätigt wird diese Deutung durch einen Blick auf das biblische Vorwissen der Leser. Kannten sie schon den Begriff bi,bloj in der Bedeutung ‚Buch‘ als Titel einer Schrift (vgl. etwa die Einleitung zu den Büchern Tobit, Nahum, Baruch sowie den Prolog, Vers 31, zum Buch Jesus Sirach), ebenso den Begriff ge,nesij als Überschrift zum ersten Buch der Bibel …, so ist der Begriff bi,bloj gene,sewj selbst in Gen 2,4 („dies ist das Buch der Entstehung/Geschichte des Himmels und der Erde‘) und in Gen 5,1 (‚dies ist das Buch der Abstammung/der Geschichte der Menschen‘) belegt. Thematisch dürfte Matthäus sich vor allem an Gen 5,1 in der griechischen Bibel anlehnen …; dies deswegen, da es in Gen 5,1 zum einen um die Geschichte der Menschen geht und zum anderen der Vers nicht die Überschrift eines Stammbaumes ist.“ (Fr. I.128–130). – Daß sich Fr. selbst nicht immer an das von ihm zuvor Behauptete und Eingeforderte hält, muß uns hier nicht weiter beschäftigen. Will er das ganze MtEv prinzipiell als Ganzes und in Einheit gelesen wissen, so hindert es ihn doch nicht, innerhalb dieser einen Geschichte eine „Vorgeschichte“ zur sogenannten „eigentlichen“ Geschichte Jesu Christi herauszuheben: vgl. etwa die Sätze in I.77ff und öfter. Darauf werden wir später zu sprechen kommen. Was das Wort und der Begriff „Geschichte“ in der Auslegung des MtEv bei den Kommentatoren in der tatsächlichen Verwendung im Text im einzelnen ansagt – und das ist eine Vielzahl von Bedeutungen von „Historie“, „Geschichtsfakten“, „Geschehen“ bis zu „Erzählung“ „Gleichnis“ usw. –, das legen wir im Exkurs „Evangelium“ im Anhang I.6 vor.

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Abschnitt A:

Mt 1 — Der Text, seine Übersetzung und die theologische Erfassung seiner Aussagen

2. Mt 1,2–17 — Der Stammbaum Jesu Christi a) zu Mt 1,2–16

Für den ersten Teil dieses Abschnittes, nämlich 1,2–16 ist nur auf zwei Befunde hinzuweisen, was die Frage der rechten Übersetzung angeht. Die stereotype Sprechweise „A evge,nnhsen to.n B“ wird meistens mit „A zeugte den B“ wiedergegeben, wie ja auch die Vulgata „A genuit B“ bringt. Die Einheitsübersetzung, die auch Schnackenburg übernimmt, sagt: „A war der Vater von B“. In den Versen, in denen auch vier Frauen genannt werden (1,5.6) übersetzt die Einheitsübersetzung so: „Juda war der Vater von Perez und Serach; ihre Mutter war Tamar … Boas war der Vater von Obed; dessen Mutter war Rut …“. Im griechischen Text findet sich stets diese Formulierung: „A evge,nnhsen B evk th/j C – A zeugte B aus der C“. Für diese Redeweise im griechischen Text, die stets evk hat, geben die Kommentatoren verschiedene Übersetzungsweisen. So wird evk oft mit „aus“, oft mit „von“, ja auch mit „mit“ wiedergegeben. Das ist von großer Bedeutung, weil „genna,w“ später mehrmals begegnet, jedoch nicht mit evk in Bezug auf die Frau. Dort stellt sich dann die Frage, wie die Text-Aussage genau verstanden sein will. Wir werden dazu am gegebenen Ort zu klären haben, ob der Text selbst „undeutlich“ spricht, oder ob die Übersetzung und folglich das Verständnis der Mt-Aussage fragwürdig ist.3 3

Es erscheint eigenartig, daß wir uns dem Verständnis der Präpositionen in der Genealogie Mt 1,2– 16 besonders widmen. Doch es stellt sich heraus, daß hier wesentliche Fragen auftauchen. In der Genealogie 1,2–16 wie dann auch in 1,18–25 begegnet das Verb genna,w mehrere Male, und das stets in bedenkenswerten Sätzen. Gerade auch die mit genna,w eingesetzten Präpositionen erregen die Aufmerksamkeit. In 1,2–15 findet es sich in gleichsam selbstverständlicher Anwendung. Im Stammbaum dort wird immer wieder formuliert: A zeugte den B; B zeugte den C usw. In den Versen 2,5 und 6, die zur Formel einen Zusatz bringen, indem auch die Frau namentlich genannt erscheint, wird gesagt: A zeugte B aus der C; und so dreimal. Im griechischen Text lautet es so: „A evge,nnhsen B evk th/j C“. Die Übersetzungen dieser Verse variieren auffallend. Für evk setzen viele „aus“; andere geben evk mit „von“ oder mit „mit“ wieder, ohne daß Gründe dafür angegeben werden. Frankemölle setzt in seinem Kommentar in 1,3 „aus“, in 1,5.6 „mit“. Weitere Beispiele dazu können und brauchen hier nicht beigebracht werden; nur auf die Einheitsübersetzung sei hingewiesen; sie hat ihre eigene Übersetzungweise für 1,2–15: „Abraham war der Vater von Isaak, Isaak von Jakob, Jakob von Juda … Juda war der Vater von Perez und Serach; ihre Mutter war Tamar … Salmon war der Vater von Obed; dessen Mutter war Rut …“. Diese Beobachtung könnte ohne weitere Bedeutung sein. Doch begegnet genna,w später in 1,16 und dann in 1,18.20, und zwar in nochmals anderer Weise. In 1,16 steht genna,w im Passiv in Bezug auf Jesus, und evk bezieht sich auf Maria, was für viele Kommentatoren gewichtige Fragen aufwirft. Daher wird 1,16 auch sehr unterschiedlich übersetzt. Manche geben 1,16 so wieder: „Jakob zeugte den Josef, den Mann Marias, aus (auch: von) der geboren wurde Jesus, der Christus genannt wird“. Gnilka sagt es anders: „Jakob zeugte den Josef, den Mann Marias. Aus ihr wurde gezeugt Jesus, der Christus heißt“. Luz nochmals anders: „Jakob erzeugte (so in 1,2–15 immer statt „zeugte“) Josef, den Mann der Maria, aus welcher Jesus, der Christus genannt wird, gezeugt wurde“. Wie 1,16 seinem genauen Wortlaut

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I.

Zur rechten Übersetzung von Mt 1

b) Bemerkungen zu Mt 1,16

Mt 1,16 stellt bekanntlich ein textkritisches Problem. Denn es gibt (wenigstens) drei Lesarten, die zu berücksichtigen sind. Nach Gnilka (und vielen anderen Exegeten) ist der „Text 1 als der bestbezeugte mit Nestle-Aland zu bevorzugen“.4 Der Text lautet (in eigener Übersetzung): „Jakob zeugte den Josef, den Mann Marias, aus der geboren wurde Jesus, der Christus Genannte.“ Uns brauchen hier nicht die textkritischen und grundlegend-exegetischen Fragen und ihre Antwortversuche zu interessieren. Wir gehen hier auf den Text ein, wie er faktisch in den Kommentaren vorgestellt und erklärt wird. Dazu sei auf folgendes hingewiesen.5 In diesem Vers wird Josef schlicht

4

5

nach im Kontext Mt 1 zu verstehen ist, wird wohl erst im Mitbeachten von 1,18.20 festgestellt werden können, weil in diesen Versen das evk zusammen mit genna,w nochmals anders verwendet ist. Der Hinweis darauf, daß genna,w in 1,16 im Passiv in Bezug auf Jesus steht und es sich um ein theologisches Passiv handelt und folglich Maria keineswegs im selben Sinne wie die Frauen in 1,3.5.6 zu verstehen ist („A zeugte B aus C“, wobei Gott für A stände), mahnt jedenfalls zum vorsichtigen Bedenken. Hinweisen kann man hier aber auch auf 2,1, wo genna,w im Blick auf Jesus im Passiv steht, ohne Zusatz, und es also wohl so heißen muß: „als Jesus … geboren war“. Gnilka 11: „Text 1 ist als der bestbezeugte mit Nestle-Aland zu bevorzugen. Der Text 2 vermeidet die Bezeichnung ‚Mann Marias‘ und ist deutlich sekundär. Text 3 ist widersinnig, es sei denn, der Abschreiber hätte das syrische Verb im Sinne der Adoptiv-Vaterschaft verstanden. Jesus, der Christus heißt, ist der Zielpunkt der Generationenfolge. Für ihn wurde der Stammbaum aufgestellt; er aber faßt in seiner Person die Geschichte Israels zusammen“. Es erübrigt sich, hier viele Beispiele zu bringen. Nur die folgenden seien aufgeführt, weil sie Einblick gewähren in die Problematik der Textfassung und -interpretation. Gnilka und Luz wurden schon in Anmerkung 1 vorgestellt. Sand bringt diese Variante: „… Josef, den Mann Mariens, aus der gezeugt wurde Jesus, der genannte Christus“ (41; Hervorhebung: R. S.). Dazu als Kommentar: „Nach V. 16 ist Josef das vorletzte Glied in der Geschlechterfolge; die Aussage selbst hebt hervor, daß Josef nicht der leibliche Vater Jesu ist. Doch ist nach jüdischem Recht der gesetzliche Vater der Träger der Geschlechterfolge, Josefs Ahnen sind also auch die Vorfahren Jesu: Jesus ist wirklich ein Sproß aus dem Geschlecht Davids“ (45). ––– Fiedler hat für die Genealogie seine eigene Übersetzungsweise. Er bringt für evge,nnhsen immer „war der Vater von …). So dann 1,16: „Jakob der Vater von Josef, dem Mann Marias; sie war die Mutter von Jesus, der Christus heißt“. Dazu der Kommentar: „Beim letzten Glied weicht die Genealogie vom bisher durchgehaltenen Schema ab. Statt ‚Josef war der Vater von Jesus‘ wird Josef als ‚Mann Marias‘ gekennzeichnet, ‚aus der Jesus gezeugt wurde‘. Formal entspricht das der Formulierung bei den zuvor erwähnten Frauen. Dort war natürlich stets der Mann als Vater genannt. Hier ist es nicht so. Diese Unbestimmtheit verlangt nach einer Erklärung, gerade auch aus diesem Grund: Die Absicht der Genealogie droht vereitelt zu werden, wenn Josef nicht in der Lage wäre, Jesu Anspruch des David-Sohns zu vermitteln, der in der Überschrift (1,1) angezeigt und im kunstvollen Aufbau der Genealogie entfaltet wird. Die Erklärung gibt Mt in V. 18–25, nachdem er in V. 17 gleichsam als Zusammenfassung eine ‚Lesehilfe‘ für die Genealogie geliefert hat, die eindeutig darlegt, wie er sie verstanden wissen will“ (45). ––– Luz übersetzt so: „Jakob aber erzeugte Josef, den Mann der Maria, aus welcher Jesus, der Christus genannt wird, gezeugt wurde“ (128; in der Anmerkung 19 dazu: ‚genna,w kann sowohl ‚zeugen‘ (so 1,20) als auch ‚gebären‘ (so 2,1) heißen. Wenn hier trotz des Passivs und der Präposition evk der Bedeutung ‚zeugen‘ der Vorzug gegeben wird, dann um der Geschlossenheit des Stammbaumes willen; vgl. V 3.5.6“). Der Kommentar sagt dies: „Das letzte Glied des Stammbaumes ist länger als alle anderen: So ist es für ‚den Christus‘, bei dem die Genealogie nun an ihrem Ende und Höhepunkt

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Abschnitt A:

Mt 1 — Der Text, seine Übersetzung und die theologische Erfassung seiner Aussagen

der „Mann Marias“ genannt, was im damaligen jüdischen wie allgemein hellenistischen Raum „Ehemann“ bedeutet. Demgegenüber hat sich aber, wie wir später noch zeigen werden, für Maria und Josef das „Miteinander-verlobt-Sein“ als die Bezeichnung ihres Status durchgesetzt, angefangen im Lateinischen wie in allen modernen Sprachen. Das werden wir in der Besprechung von 1,1–25 (wie in anderen Textstellen) zu beachten und zu beurteilen haben. Wir halten für 1,16 auf jeden Fall „Ehemann“ fest. Dann ist es zur Frage geworden, wie das Passiv von „genna,w“, zumal mit der Präposition „evk“ richtig zu verstehen sei, und wie folglich hier „genna,w“ selbst gemeint ist. Die beigegebenen Kommentarstellen geben darüber hinreichend Auskunft. Tatsächlich gibt ja schon 1,16 zu bedenken, was unter „genna,w“ genau zu verstehen ist, und zwar in allen, auch den alten Sprachen, wenn es in Bezug auf „Mann“ bzw. „Frau“ gesetzt erscheint. Das wird gesondert zu erklären versucht.6 Wir vertreten hier für 1,16 auf jeden Fall verantwortet die Wiedergabe mit „Maria, aus der geboren wurde Jesus, der Christus Genannte“. c) Bemerkungen zu Mt 1,17

Hierzu ist in Bezug auf Übersetzungsfragen nichts zu vermerken. Daher kann hier auf den entsprechenden folgenden Abschnitt zur theologischen Auswertung der Textaussagen in Mt 1,1–25 verwiesen werden.

3. Mt 1,18 — Einige Übersetzungsprobleme

Der Text lautet in eigener Übersetzung, die sich möglichst nahe dem griechischen Wortlaut hält: „Die Herkunft Jesu Christi aber war so: Als seine Mutter Maria mit Josef verehelicht war, noch bevor die zusammengekommen waren, fand es sich, daß sie im Schoße hatte (trug) aus heiligem Geist“. Wir gehen dem Aussagegehalt dieses Satzes im einzelnen nach. a) zu Mt 1,18a

1,18a ist in seiner ungewöhnlichen Formulierung unübersehbar als Anschluß an Vers 16 erkennbar; er leitet offensichtlich die Erklärung ein, die Matthäus meint seinen

6

angelangt ist, passend. Nur um seinetwillen hat der Evangelist in der Genealogie die Geschichte Israels rekapituliert. Das Passivum evgennh,qh und die Erwähnung Marias lassen die Leser/innen an die ihnen bekannte Jungfrauengeburt denken. Die Frage, wieso der Sohn der Maria in den Stammbaum Josefs hineingehört, ist noch offen. Davon wird der nächste- Abschnitt 1,18–25 erzählen“ (136). Vgl. dazu den Exkurs zu „genna,w – zeugen“ im Anhang I.

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I.

Zur rechten Übersetzung von Mt 1

Lesern schuldig zu sein aufgrund der Formulierung in 1,16, die ja aus dem Rhythmus der Verse 2–15 als Abschlußvers herausfällt. Es ist die Frage gestellt, wie in diesem Satz 1,18a „ge,nesij“ zu verstehen ist. Meistens wird es mit 1,1 bzw. mit dem ständigen „genna,w“ in 2–16 in Verbindung gebracht, so daß sich „Herkunft“ als sachgerechtes Übersetzungswort empfiehlt. Andererseits wird „ge,nesij“ jedoch mit „Geburt“ wiedergegeben. Da aber, wie wir schon mehrmals betont haben, in Mt 1–2 von „Geburt“ überhaupt keine Rede ist, sollte „Herkunft“ indiskutabel sein.7 Das um so mehr, wenn man mit Stendahl die Erkenntnis gelten läßt, daß in 1,18–25 faktisch eine erklärende „Fußnote“ zu 1,16 vorliegt.8 Auch 1,18–25 dient ja dem Nachweis der Davidssohnschaft Jesu, wenn es mit ihr auch eine besondere Bewandtnis hat, die ja gerade in 1,18–25 offenkundig gemacht ist.9 b) zu Mt 1,18b

Dieser Versteil bringt zunächst die ganz persönliche Lebenssituation von Maria und Josef zur Kenntnis, und zwar als Zeitangabe, in der das Faktum vorlag, das als die Hauptsache ausgesprochen ist. Das zeigen wir im einzelnen am Text auf. Die Zeitangabe zu Anfang spricht von dem Ehestand Marias und Josefs in seiner besonderen Eigentümlichkeit, die allen Juden damals wie heute ganz selbst-verständlich, leider jedoch sowohl in der Vulgata wie in den modernen Sprachen als „Verlobung(sstand)“ bezeichnet wird, den es jedoch im israelitisch-jüdischen und übrigens auch im gesamt-hellenistischen Raum als Rechtsinstitution (privater oder öffentlich-rechtlicher Art) überhaupt nicht gab.10 Es ist bekannt, wie dieses Wort „Verlobung“ bzw. „verlobt“ zahllose Diskussionen ausgelöst hat, sogar zu langen „Begründungen“ und „Entschuldigungen“, daß z. B. in 1,16 schlicht vom Mann der Maria die Rede ist, „obwohl“ sie ja „nur“ verlobt gewesen wären; usw. Dem widmet sich der Exkurs, der diese Frage zu klären trachtet. Hier genügt diese (an sich unnötige) Erklärung für die Wiedergabe von mnhsteuqei,shj mit „verehelicht“, die wir vorschlagen.

Wir geben im Anhang II einige entsprechende Texte aus den Kommentaren an, denen wir gegebenenfalls Bemerkungen anfügen; s. d. 8 Der Artikel, auf den man sich immer wieder beruft, ist: Krister Stendahl, Quis et unde? Eine Analyse von Mt 1–2; ursprünglich in: Judentum – Urchristentum – Kirche. FS J. Jeremias (BZNW 26), Berlin 1960 (41964), 94–105 (übersetzt von G. Junker). 9 S. dazu die folgende theologische Erschließung des Textes 1,18–25 weiter unten. 10 Dazu bringen wir den Exkurs „Das jüdische Eherecht“. Dort sind die Besonderheiten genau aufgeführt und werden zum rechten Verständnis von Mt 1–2 wie Lk 1–2 anleiten. Dort auch Erklärung zu „Verlobung, verlobt“ als sachlich verfehlte Termini. 7

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Abschnitt A:

Mt 1 — Der Text, seine Übersetzung und die theologische Erfassung seiner Aussagen

c) zu Mt 1,18c

Das Faktum, das dann im weiteren angegeben wird, ist somit seinem Zeitpunkt nach genau positioniert (was in der weiteren Ausdeutung von Bedeutung ist). Dieses selbst wird auch auf eine bemerkenswerte Weise benannt; jedes Teilmoment dieses sehr kurzen Satzes ist genau zu sehen und auszuwerten. Zuerst: eu`re,qh – „Maria wurde befunden – befand sich“. Das Verb steht im Passiv, ohne jede Angabe dessen, der das aktive Subjekt dessen war oder ist, der „fand – erkannte“. Diese absolute Offenheit des Aussagens ist zunächst zu sehen und gelten zu lassen.11 Hier sei nur dieses zusätzlich gesagt: eu`re,qh kann schlicht „es wurde befunden …“ aussagen. Der Kontext 1,18b dürfte jedoch, da „Maria“ das regierende Wort ist, hinreichend klar stellen, daß „Maria wurde befunden …“ gesagt sein soll. „Es“ hält zwar das Offene der Passivformel eindeutig fest; der Kontext läßt aber in bleibender Offenheit die Person verstehen, von der dieser Satz spricht. Es ist mit 1,18b nicht gesagt, daß Maria (und dann Josef) die wäre, die das erkannt hat, was mit „eu`re,qh – es fand sich“ in Passivform ausgesprochen sein soll. Das zeigt deutlich das folgende Partizip e;cousa, das sich ja eindeutig 11

Dazu ein erklärendes Beispiel: Menke bringt in seinem Buch „Fleisch geworden aus Maria. Die Geschichte Israels und der Marienglaube der Kirche“ (2002) im Abschnitt „Die an Josef ergehende Verheißung (Mt 1,1–25)“ (41–44) zu 1,18–19 die eigene Übersetzung gegen andere und gibt dafür auch die Begründung, um „dem philologischen Befund und dem Postulat der logischen Kohärenz besser zu entsprechen“ (41). Sie lautet: „Mit der Geburt Jesu Christi war es so: Maria, seine Mutter, war mit Josef verlobt; noch bevor sie zusammen gekommen waren, war (beiden) offenbar, daß sie auf Grund des Wirkens des Heiligen Geistes ein Kind erwartete …“ (42). Uns interessiert jetzt nur die Wiedergabe von eu`re,qh (auch anderes wäre kritisch zu hinterfragen), was nämlich mit „war (beiden) offenbar“ übersetzt wird. Während das Passiv eu`re,qh (das kaum mit „war offenbar“ übersetzt werden kann!) niemanden nennt, also gänzlich offen läßt, wer dies tat bzw. tut, was als „finden“ o. ä. gelten könnte (das Passiv kann auch schlicht einen Sachverhalt angeben), ist die Hinzufügung von „beiden“ unstatthaft. Das wäre jedenfalls schon Interpretation und nicht Wiedergabe des Textes. Menke versucht aber doch zu erklären: „Wenn das ‚heurethe‘ in Mt 1,18 wörtlich übersetzt wird, dann heißt der Vers: ‚wurde gefunden, daß sie vom Heiligen Geist ein Kind erwartete. Nun kann sich zwar zeigen, daß jemand schwanger ist; aber es kann sich doch nicht zeigen, daß sie vom heiligen Geist schwanger ist. Wem wurde dies offenbar? Außer Maria wohl nur einem Menschen, demjenigen nämlich, der sie auch jetzt nicht verdächtigt: ihrem Verlobten Josef “. Das hat mit „philologischem Befunde“ gar nichts zu tun, ist vielmehr eine Umdeutung des matthäischen Textes, der ja genau überlegt gewählt ist. Er gibt den faktischen Befund an, und lautet: „sie hatte im Schoße aus heiligen Geist“. Ob sich das „zeigen“ kann, entscheiden nicht die Leser des Textes, zumal davon auch gerade nicht gesprochen wird. Daß sodann zwei Personen namentlich (und auch wohl ausschließlich gemeint) genannt werden, denen „es offenbar war“ (das ist etwas ganz anderes als was „heurethe“ sagt), läßt das Interesse des Übersetzers erkennen. Wir werden sehen, daß es gerade für den Text 1,18–25 unbedingt sach-notwendig ist, die matthäische Formulierung als sie selbst und in ihrem eindeutigen und klaren Bedeutungssinn zu erfassen, ohne ihn damit für weitere Überlegungen und Folgerungen unbefragbar zu erklären. Das bedeutet: Die Übersetzung M.s ist schon eine (vielleicht mögliche, aber eben zu begründende) Interpretation bzw. Ausdeutung und Auswertung des Grundtextes. Dessen Grund-Aussage ist vor allem weiteren Vorgehen festzustellen.

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I.

Zur rechten Übersetzung von Mt 1

auf die zuvor genannte Maria bezieht, von der dies ausgesagt wird: evn gastri. e;cousa evk pneu,matoj a`gi,ou. Das ist offensichtlich, wenngleich auch wieder aufs kürzeste ausformuliert (und deswegen als unbedingt noch erklärungsbedürftig empfunden), der Aussagekern von 1,18c: „Maria – im Schoße habend aus heiligen Geist“; das ist, was „sich fand“ und der „Befund“ der Maria, wobei damit aber keineswegs mit-ausgesagt ist, daß es (auch) für Maria selbst das erste Entdecken dieser Tatsache wäre. Das bleibt in diesem Satz ganz offen, und es wäre die Aufgabe eines näheren ausdeutenden Erschließens des Textes, dieser „Frage“ nachzugehen. Hier geht es um die rechte Übersetzung. Aufgrund der folgenden Verse und deren Verständnis kann aber und muß gesagt werden, daß alle Übersetzungen des evn gastri. e;cousa mit „schwanger sein“, „ein Kind tragen“, „ein Kind erwarten“, „schwanger gefunden“, „stellte sich heraus, daß sie ein Kind“, „… she was expecting a baby“ u. ä. schon eine erste Ausdeutung und (beabsichtigte) „Klärung“ der offenen Textaussage sind, deren Rechtfertigung jedoch aussteht. Dem werden wir uns in unserer erklärenden theologischen Besprechung dieses Verses (wie 1,18–25 insgesamt) eingehend zu widmen haben.12 Wir verbleiben hier ausdrücklich bei der dem Griechischen ganz nahegehaltenen (im Deutschen übrigens durchaus gut klingenden) Wiedergabe: „Als Maria …, wurde (sie) gefunden im Schoße habend aus heiligem Geist“, was auch für „als Maria …, fand sich, daß sie im Schoße hatte (trug) aus heiligem Geist“ gilt. Wichtig ist freilich, deutlich zu er12 Wir geben hier einige Beispiele von verschiedensten Wiedergaben des griechischen Textes 1,18c,

die erkennen lassen, daß eine ihm gerecht werdende treue Übersetzung nottut. Die am meisten begegnende Übersetzung lautet so: „… fand sich, daß sie vom Heiligen Geist schwanger war“ (wobei unterschiedlich „heilig“ klein- oder großgeschrieben wird, was wir hier nicht weiter verfolgen). Das evn gastri. e;cousa wird stets wiedergegeben mit „sie war schwanger“. Damit wird der Befund, den wir erkannt haben, zum Zustand (Umstand) Marias verbogen, wenn nicht gefälscht. Dazu wird evk mit „von“ übersetzt. Wir haben gesehen (s. o.), daß evk in 1,3.5.6 für die Frau gesetzt ist („zeugen“ also für den Mann steht: „A evge,nnhsen B evk th/j C“; und das als selbstverständlich gilt). In 1,18 wie 20 ist evk in Bezug auf pneu/ma a[gion gesetzt, und in Bezug auf Maria steht evn (evn gastri. bzw. evn auvth/| gennhqe.n). Wir werden sehen, daß das eine entscheidende Tatsache ist, die nicht überspielt werden darf. Einige Kommentatoren bleiben beim Verständnis von evk und setzen „aus“. Zu verweisen wäre auf Grundmann (der jedoch einleitend für Jesus feststellt: „aus Gottes Geist erzeugt“), Sand, Rienecker, Gnilka (der den Satz mit Kommasetzung belastet: „daß sie ein Kind trug, aus heiligem Geist“), Fiedler, Schiwy, Grundmann. Das „von“ für evk wird von folgenden Autoren gesetzt: Luck, Gaechter, Luz, FrankemöIle, Schniewind (den Satz auch durch Komma aufteilend, dazu noch dies kommentierend beifügend: „setzt der Erzähler gleich zu Anfang die Lösung hinzu: vom heiligen Geist ist das Kind erzeugt“), Schmid, Lohmeyer, Schweizer (im Kommentar dazu: „betont, daß die Geburt vom heiligen Geist gewirkt war“), Wiefel, Wilckens, Trilling („daß sie vom Heiligen Geist empfangen hatte“; dazu der Kommentar: „Nur eine einzige Tatsache wird zur Erklärung genannt: Das Wirken Heiligen Geistes …“). – Einige Kommentatoren geben es nochmals anders wieder. So die Einheitsübersetzung: „zeigte sich, daß sie ein Kind erwartete – durch das Wirken des Heiligen Geistes“. Der Bindestrich spaltet den Satz; dazu das evk pneu,matoj a`gi,ou ausgeweitet auf „durch das Wirken des Heiligen Geistes“. Das betont Schnackenburg erklärend so: „der Heilige Geist der wahre Erzeuger Jesu“. Gaechter schreibt: „daß sie ein Kind hatte …“; Gnilka ähnlich: „ein Kind trug“. Bei Rienecker lesen wir: „daß sie guter Hoffnung war, und zwar aus Heiligem Geist“. Weitere Textbeispiele s. Anhang II.

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Abschnitt A:

Mt 1 — Der Text, seine Übersetzung und die theologische Erfassung seiner Aussagen

kennen, daß der Text selbst für dieses „im Schoße habend“ keinen Grund oder einen (irgendwie aktiv verursachenden) Geber/Täter für dieses „haben“ benennt. Denn der (unbedingt stets mit-zubeachtende!) Zusatz „evk pneu,matoj a`gi,ou“ sagt zunächst selbst nichts Genaueres zum „ek“ aus; das kann erst, wenn überhaupt, der unmittelbare Kontext erklären (was sich zeigen wird). Hier bleibt es jedenfalls zunächst ganz offen. So wenden wir uns berechtigt den folgenden Versen zu.13

4. Mt 1,19 – Übersetzungsfragen und Lösungen

Dieser Vers lautet so: VIwsh.f de. o` avnh.r auvth/j( di,kaioj w;n kai. mh. qe,lwn auvth.n deigmati,sai( evboulh,qh la,qra| avpolu/sai auvth,n; in eigener Übersetzung: „Josef aber, der ein Gerechter war und nicht willens, sie der Öffentlichkeit auszusetzen, wollte sie in aller Stille freigeben“. Um den matthäischen Text und unsere Wiedergabe im Deutschen richtig zu verstehen, ist (was an sich exegetisch selbst-verständlich ist!) genau auf den Kontext zu achten, zumal bei solchen ungewöhnlich kurzen erklärenden Sätzen einer „Fußnote“ (Stendahl und viele andere). Vers 19 folgt dem in 1,18bc in äußerst offener (wenn man will: gänzlich erklärungsbedürftigen) Formulierungsweise als Faktum Ausgesagten: das „sich fand“ (s. nochmals dort). Somit wird Josef hier als der genannt, dessen Zurkenntnisnahme des Faktums (wie immer dieses erfolgt sein mag) ihn so getroffen hat, wie es seine Charakterisierung in 19 ausspricht: Er „reagiert“ (will reagieren) als Gerechter mit dem gedanklich erwogenen Vorsatz der Freigabe der Maria. Dieses Verständnis und somit diese Übersetzung haben wir im einzelnen exegetisch-sprachlich und im Sinne der matthäischen Theologie des MtEv weiter auszudeuten. Hier sei dazu nur das herausgestellt, was die Übersetzung vorläufig rechtfertigen kann, da in diesem Fall, wie vielleicht sonst nicht gewohnt, sehr viel mitentscheidet, was genau dieser Vers aussagt. Das erste Element der Rechtfertigung ist schlicht die Position von 19 zwischen 18 und 20: Diese Verse geben in ihrer Kürze und Unmittelbarkeit wie auch Sachverbundenheit der Aussage-Elemente ihr Verstehen offen zu erkennen. Die Wiedergabe von „dikaios“ mit dem Hauptwort „Gerechter“ empfiehlt das MtEv selbst, wie alle Exegeten betonen (auch wenn sie es im

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Die theologische Aussage-Erschließung des Halbsatzes evn gastri. e;cousa evk pneu,matoj a`gi,ou erfolgt im folgenden Abschnitt, wo wir uns speziell um das rechte Verständnis von evk pneu,matoj a`gi,ou gerade in diesem Passus bemühen müssen. Denn davon hängt ja wesentlich das theologische Verstehen des Verses 1,18 (und damit auch 1,20) ab. Als Beispiel für die Art, wie dieser Vers-Teil 18c als äußerst problematisch angesehen wird und man sich glaubt helfen zu können, seien die folgenden Sätze des Autors G. M. Soares aus seinem Buch „The Formula Quotations in the Infancy Narrative of Matthew. An Enquiry into the Tradition of Histore of Mt 1–2“ (Rom 1976) zitiert: s. Anhang II.

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I.

Zur rechten Übersetzung von Mt 1

Einzelfall wie 1,19 meist nicht beachten!).14 Wir haben also di,kaioj als „Gerechter“ im biblischen Sinn, d. h. als Gottesfürchtigen, als Gott-Ergebenen zu verstehen, der auf das aus Gott herrührende Faktum (18c) Rücksicht nimmt. Dieses Verständnis wird offensichtlich durch 1,20 bestätigt. Denn dort sagt der Bote des Herrn, also der Herr selbst, er solle sich nicht fürchten, die in ihrer spezifischen Befindlichkeit genannte Ehefrau heimzuführen. Und als Grund wird klar angegeben, daß das ernste Erwägen eines Freigebens Marias, im Kontext eindeutig aus der ehelichen Bindung und frei gewählten menschlichen, jüdisch-gesetzlich geltenden Gebundenheit des Ehevertrages und seiner Verpflichtungen, zu Recht bestehe; denn, wie 1,20 eindeutig sagt, es ist aus göttlicher Tat Faktum, daß „Maria im Schoße hatte“, wobei sogar näher angegeben ist, was/wen Maria im Schoße trug: to. evn auvth/| gennhqe,n – das in ihr Gezeugte.15 Damit ist (für diesen Abschnitt) hinreichend klar, daß keineswegs an einen Verdacht, welcher Art auch immer, zu denken ist (angeregt durch ein mißverstandenes di,kaioj als „Gesetzestreuer“ juridischen Sinnes), wie auch deigmati,sai nicht „bloßstellen“ im Sinne von „der Schande, der Verurteilung wegen Vergehen überantworten“ meint, sondern in diesem Fall „nicht einer (unziemlichen) Öffentlichkeit preisgeben“ – eben weil Heiliges statthat. Dasselbe gilt für la,qra| in 1,19; „heimlich“ als Wiedergabe lenkt eher in die falsche Richtung; daher wählen wir hier „in aller Stille“ als angemessen.16

5. Mt 1,20 — Zur rechten Übersetzung

Der 1,19 unmittelbar weiterführende, an ihn deutlich anschließende Vers 1,20 lautet so: tau/ta de. auvtou/ evnqumhqe,ntoj ivdou. a;ggeloj kuri,ou katV o;nar evfa,nh auvtw/| le,gwn\ VIwsh.f ui`o.j Daui,d( mh. fobhqh/|j paralabei/n Mari,an th.n gunai/ka, sou\ to. ga.r evn auvth/| gennhqe.n evk pneu,mato,j evstin a`gi,ouÅ In unserer eigenen Übersetzung: als er das alles bedachte (im Herzen erwog), siehe da erschien ihm im Traum (der) Bote (des) Herrn, der sprach: Josef, Sohn Davids, scheue (fürchte) dich nicht, Maria, deine Ehefrau, zu dir zu nehmen, weil wahrhaftig (in der Tat) das in ihr Gezeugte aus heiligem Geist ist.“ Dieser Vers wird in den meisten Fällen falsch übersetzt und folglich falsch verstanden. Daher ist genau zu beachten, was er, unvoreingenommen gelesen, selbst klar aussagt. Der Bote des Herrn redet Josef ausdrücklich mit vollem Namen an: „Josef, Sohn Davids“. Damit schließt Matthäus direkt an 1,16 an; das ist eines der Elemente, die 1,18–25 tatsächlich als „Fußnote“ zu 1,16 erfassen lassen. Josef wird auf sein Erwä14 Siehe dazu unseren Exkurs zu di,kaioj, wo das allgemeine Problem des Verständnisses von di,kaioj

in der Heiligen Schrift und speziell in seiner Verwendung in Mt 1,19 besprochen wird. Zum näheren Verständnis sei auf den Abschnitt der theologischen Entfaltung des Textes hingewiesen, wo es exegetisch-sprachlich und sachlich gerechtfertigt wird, was hier zunächst als gratis behauptet erscheinen kann. 16 Auch dazu s. den Abschnitt der theologischen Erfassung von 1,18–25. 15

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Abschnitt A:

Mt 1 — Der Text, seine Übersetzung und die theologische Erfassung seiner Aussagen

gen angesprochen (1,19), und das sogleich dadurch, daß das zunächst Erwogene als in diesem besonderen Fall Nicht-zu-Tuende erklärt wird, zugleich mit dem Auftrag, den Gott ihm im Blick auf das erteilt (seinen Gehorsam erwartend), was Josef gemäß 1,18 erkannt hatte und worauf Josef meinte seiner Empfindung nach „reagieren“ zu müssen. Das von Josef Nicht-Beabsichtigte soll er in einem ganz bestimmten Sinn doch tun. Dieser Antrag/Auftrag Gottes (Jahwes) wird in 1,21 ausführlich erklärt, indem zugleich auch deutlicher benannt wird, was/wen Maria trug (1,18) und gebären wird. Der Zusammenhang aller dieser Verse 18–21 ist ganz offenkundig und aufschlußreich, wenngleich alles auf äußerst kurze, eben fußnotenartige Weise zur Sprache gebracht wird und bisher Unerhörtes und Unerfahrenes als Faktum dem Glauben bekundet. Als Verständnis- und Übersetzungsproblem wird immer wieder das ga.r in 1,20 empfunden. Meistens wird der Vers so wiedergegeben: „Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau anzunehmen; denn das ihr Gezeugte ist aus heiligem Geist“ (so Sand, MtEv, 47).17 Hier geben wir den griechischen Text (s. o.) wohlüberlegt so wieder: „Josef, Sohn Davids, scheue (fürchte) dich nicht, Maria, deine Ehefrau, zu dir zu nehmen, weil (wahrhaftig; in der Tat) das in ihr Gezeugte aus heiligem Geist ist“ (womit wir sogar die Wortfolge des Satzes beibehalten können). Der erste Satzteil spricht deutlich die ehrfürchtige Scheu des Josef (als Faktum) aus, zugleich mit der genauen Angabe dessen, was er zu tun erwog. Der „gar“-Satz, der unmittelbar folgt, 17 Die im Text zitierte Übersetzung Gnilkas, die ga.r mit „denn“ wiedergibt, wird faktisch von den

meisten Kommentatoren gebracht; es erübrigt sich hier, einzelne Namen zu nennen. Es seien nur einige Varianten zusätzlich aufgeführt, die irgendwie aufmerken lassen. Nur einige formulieren anders als „denn“ für ga,r. Wir geben die Texte wieder; das jeweilige Zitat macht selbst deutlich, worin eine Variante gegeben ist. Lohmeyer sagt es so: „… fürchte dich nicht, Maria dein Weib zu dir zu nehmen; denn was in ihr gezeugt ward, vom Geist ist es, dem Heiligen. Gebären wird sie einen Sohn …“. (12) – Schweizer setzt dies: „Joseph, du Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen, denn das in ihr erzeugt ist, das ist von dem heiligen Geist. Und sie wird …“. (11) Hier fällt auf, daß das artikellose pneu/ma a[gion eine ausgesprochene Formulierung mittels Artikel erhält. – Gnilka wählt diese Wendung: „… fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, heimzuführen …: Das in ihr Gezeugte nämlich ist aus heiligem Geist. Sie wird einen Sohn gebären und du sollst seinen Namen nennen …“. (14) – Rienecker sagt es so: „Als er aber dieses sich überlegte, siehe, da erschien ihm ein Herrenengel im Traum und sprach: Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, dein Weib, zu dir zu nehmen, denn was in ihr erzeugt ist, ist aus Heiligem Geist! Sie aber wird einen Sohn …“. (34) – Gaechter bringt diese Wendung: „… scheue dich nicht, Maria, deine Frau, heimzuführen, denn das Kind in ihr ist vom heiligen Geist. Sie soll nämlich einen Sohn gebären, und du sollst …“. (45) – Bruner gibt es so wieder: „… and this is what the angel said: ‘Joseph, son of David, don’t be afraid to take Mary as your wife, because what has been brought to life in her happened by the Holy Spirit. She will have a baby boy, and you will give him the name ‘Ye-Shua (‘Yahweh saves), because he himself will save his people from their sins …“. (23.29) – Bonnard sagt es so: „Il s’etait arêté à ce projet quand l’ange du Seigneur lui apparut en songe et lui dit: ‘Joseph fils de David, ne crains pas de prendre chez toi Marie, ton épouse; ce qui a été engendré en elle l’a été par puissance de l’Esprit saint. Elle mettra au monde un fils; tu lui donnera le nom de Jesus, car c’est lui qui sauvera son peuple …“. (18) – Fiedler sagt es so: „… fürchte dich nicht, Maria als deine Frau aufzunehmen, denn das in ihr gezeugte Kind ist aus heiligem Geist. Sie wird aber einen Sohn zur Welt bringen, und du …“. (46)

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I.

Zur rechten Übersetzung von Mt 1

entspricht ganz dem, was die griechische Sprache und ihre Grammatik zeigen: „ ‚gar‘ zeigt meist ein kausales Verhältnis zwischen zwei Aussagen an, indem die nachfolgende die vorausgehende begründet oder erklärt“ (EWNT 1,571–573).18 Setzt man die Feststellungen der Fachbücher voraus und wendet sie auf 1,20 an, dann kann die richtige Übersetzung kein Problem sein. Hier liegt allerdings eine bestimmte Besonderheit vor, die aber das Ergebnis der Überlegung nicht ändert. Der ‚gar‘-Satz folgt in 1,20 ja auf einen (Halb)Satz, der in negativer Formulierung von etwas abrät (was der, dem es abgeraten wird, nach reiflichem Bedenken zu tun entschlossen ist); daher ist diesem spezifischen Kontext Rechnung zu tragen. Da gemäß Fachbuch das ga,r „ein kausales Verhältnis zwischen zwei Aussagen anzeigt, indem die nachfolgende die vorausgehende begründet oder erklärt“, ist ga,r in 1,20 eindeutig auf mh. fobhqh/|j 18 Neben den im Haupttext genannten und zitierten Fachbüchern sei noch auf folgende Werke hin-

gewiesen, die für unsere Frage eingesehen wurden. Zuerst G. Steyer, Formenlehre des neutestamentlichen Griechisch (= Handbuch für das Studium des neutestamentlichen Griechisch Band 1), Gütersloh bzw. Berlin 1970, und G. Steyer, Satzlehre des neutestamentlichen Griechisch (= Handbuch für das Studium des neutestamentlichen Griechisch Band 2), Gütersloh bzw. Berlin 1972. Im letzteren Band lesen wir auf S.  117f: „gar (nachgestellt) denn, nämlich. Es wird sehr häufig gebraucht, auch in unmittelbar aufeinanderfolgenden Sätzen. … gar steht nicht nur bei eigentlicher Begründung, sondern wird auch anders verwendet: b) bei Erläuterungen, ähnlich wie das dt. ‚nämlich’ … c) zur Fortführung, Entfaltung des Gedankens. Dann wird die treffende Übersetzung mitunter sehr frei sein müssen; …“. Dem sind wir in unserer Übersetzung von 1,21 gefolgt. ––– In Blass – Debrunner, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch 1970 findet sich einiges (weniges), jedenfalls über das bisher Herausgestellte nichts Weiteres. ––– Intensiv geht M. Zerwick, Graecitas biblica, Romae 1966 auf gar ein. So lesen wir bei ihm: „gar fere semper habet sensum causalem vel explicativum, sed nota a) argumentatio fieri potest ex contrario, e. g. Ph 3,19.20 … G 3,10; 5,5. b) Interdum gar videtur stare posse pro simplici de, id quod fortasse suadetur etiam frequenti incertitudine lectionis (si de revera ut incerta lectio haberi potest et non potius censendum est evidens correctio alicuius gar, cuius vis causalis non obvia est). … c) Alibi (servata vi causali particulae gar) difficultas interpretationis solvitur, si attenditur intendum verum motivum non nisi in secundo loco (fett gedruckt geschrieben mit angefügter Anm.: Léon-Dufour: ‚gar à portée differée‘.) exhiberi, scil. praemissa alia re in qua non est emphasis et qua potius conceditur aliquid interlocutori notum. … (Unter Nr 477:) Haec omnia affert P. Léon-Dufour ad iustificandun novam interpretationem difficilis pericopae Mt 1,18–22. Dictum enim angeli ad Joseph vertit fere ita: ‚ Joseph, fili David, noli timere accipere Mariam coniugem tuam; nam quamvis, quod natum in ea est, de Spiritu Sancto sit, tamen pariet filium, cui tu dabis nomen Iesum …‘ (‚car sans doute …, mais elle …‘). Conceptio virginea igitur non revelaretur hic Joseph, sed supponitur ut ab eo cognita, confirmatur et tamquam ratio perplexitatis Ioseph innuitur. Coram cognito interventu divino Ioseph recedere voluit renuntians omni suo iuri coniugali. Angelus autem praesumptam difficultatem tollit et Ioseph munus suum divinitus assignatum indicat: suum utpote fi lii David, erit patris locum tenere nascituro et ideo iubetur accipere Mariam coniugem suam non obstante conceptione divinitus virginali. Léon-Dufour, L’annonce à Joseph, in Mélanges … A. Robert, Paris 1957, p. 390–397: fere idem: Le juste Joseph in Nouv. R. Th. 81 (1959) 225–232 et Etudes d’Evangile, Paris 1965, p. 72–75.“ Für diese Arbeiten von Léon-Dufour und ihre Beurteilung vgl. den Haupttext und die darin angegebenen Anmerkungen. Zerwick bestätigt jedenfalls mit dieser namentlichen Übernahme der Sentenz des Léon-Dufour die Besonderheit von Mt 1,18–22, was die rechte Übersetzung angeht. Zur sachlichen Interpretation dieses Textes wie der Aussagen der verschiedenen Kommentatoren dazu siehe oben unsere weitere Besprechung.

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Abschnitt A:

Mt 1 — Der Text, seine Übersetzung und die theologische Erfassung seiner Aussagen

paralabei/n Mari,an th.n gunai/ka, sou bezogen und erklärt das Motiv, den Grund des Aus-Ehrfurcht-sich-Scheuens Josefs als in sich betrachtet für gültig und rechtens, wenngleich anderes als Ziel des Doch-nicht-Tuns des Vorsatzes im Gehorsam gegen Gott sogleich mitangegeben wird. Wir werden dem in der theologischen Erfassung weiter nachzugehen haben; hier genügt das Gesagte zur Rechtfertigung der Wahl unserer Übersetzung. Durch diese Weise, 1,20 wiederzugeben, ist übrigens auch das de, in 1,21 hinreichend deutlich erklärt. Es steht nicht im Gegensatz zu ga,r (wenngleich es dieses Gegensätzlich-Stehen von ga,r und de, auch gibt), sondern zielt die dem Josef aufgetragene Tat an (man beachte die ganz offene Bedeutung von de, im allgemeinen und gerade auch im MtEv): statt sich zu scheuen, Maria aufzunehmen, soll er das genau tun, mit allen im Text angegebenen Zielvorstellungen Gottes und folglich des Gehorsames Josefs. Dazu mehr zu 1,21. Zur Wiedergabe von a;ggeloj kuri,ou mit „Bote des Herrn (Jahwe)“ wie auch zur Wendung „erschien im Traum und sprach“ in 1,20 werden wir bei der Besprechung der theologischen Erfassung dieser Verse 1,18–25 eingehend sprechen müssen; s. d.

6. Bemerkungen zur Übersetzung von Mt 1,21–25

Zum Vers 1,21 ist in Bezug auf die Übersetzungsfrage keine besondere Bemerkung zu machen, da er in dieser Hinsicht problemfrei erscheint. Vielleicht wäre hervorzuheben, daß te,xetai – „sie wird gebären“ als Futur im einfachen Sinn, kale,seij wohl als futurum iniunctivum, da offensichtlich Auftrag, zu verstehen sind. Auch die Verse 1,21–23 enthalten keine Probleme, die die rechte Übersetzung betreffen. Der Text ist offenkundig eine Erklärung von allem in 1,18–21 Ausgesagten, indem es als die Erfüllung dessen herausgestellt wird, was Jahwe selbst verheißen hatte. Wir werden dazu in der theologischen Erfassung von 1,18–25 vieles zu sagen haben, das auch die irgendwie auffallenden Elemente des Wortlautes von 1,22–23 betrifft, wie die Formulierung „vom Herrn durch den Propheten gesagt war“ und „sie werden (man wird) seinen Namen nennen IMMANUEL“ (in Jes 7,14, das zitiert wird, heißt es ja „die junge Frau wird seinen Namen nennen“).19 In den Versen 1,24–25 setzt Matthäus in 19 Es sei hier noch kurz auf die Frage eingegangen, die oft im Blick auf das Jes-Zitat 7,14 gestellt wird,

weil ihre Beantwortung, wie man meint, mitentscheidend ist für das rechte Verständnis dessen, was Matthäus mit seinem Text, zumal mit dem Jes-Zitat feststellen wollte. Besonders die Frage nach dem Verständnis von parqe,noj in 1,23, das gemäß Jes 7,14 (LXX) gesetzt erscheint, beschäftigt die Exegeten (und folglich die Theologen, bes. die Mariologen) intensiv. Denn in Jes 7,14 steht im hebräischen Text hm'l.[;h' „ha-alma“, das „junge Frau“ meint. Daher die Frage, warum die LXX hm'l.[; „alma“ mit parqe,noj wiedergeben, da sie sonst nea/nij (mit der einen Ausnahme Gen 24,43) setzen. Hatten sie dabei eine bestimmte Aussageabsicht, und welche war diese? Hat Matthäus selbst parqe,noj in einem prägnanten Sinn (welcher ist das?) eingesetzt? Die so gestellten Fragen erfordern einen eigenen Exkurs. Den bringen wir im Anhang I; s. d.

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II.

Zur theologischen Erfassung von Mt 1

ungemein kurzen Sätzen seine berichtende Darstellung fort. Auch ist hier mehr ausgesagt, als zu vermuten wäre. Denn die einfache Feststellung der Ausführung des Aufgetragenen würde genügen. Ihr wird aber noch ein Bemerkenswertes beigefügt, das eine vielfältige Diskussion ausgelöst hat. Wir werden auch dazu in der theologischen Erfassung von 1,18–25 vieles zu sagen haben.

II. Zur theologischen Erfassung von Mt 1 1. Die Absicht dieses Abschnittes

Es soll zu Anfang erklärt werden, was unter „theologischer Erfassung von Mt 1“ hier zu verstehen ist. In diesem Abschnitt geht es ja darum, herauszuheben, was der Text Mt 1 selbst in der erkennbaren Absicht des Evangelisten Matthäus aussagt. Dazu soll berücksichtigt bleiben, daß es sich um EUANGELION handelt, im Sinne dieser analogielosen Gattung „Evangelium“, wie sie exegetisch-theologisch erkannt ist.20 Damit ist für das MtEv, sogleich konkret gesprochen, jedenfalls Verkündigung im biblischurchristlichen Verständnis angesprochen, sowohl im subjektiven (das Verkünden/ Verkündigen) wie im objektiven (das Verkündigte, dieses im verbal-mündlichen und/oder schriftlich wie auch zeichenhaft-mitteilendem Sinn) Gebrauch des Ausdrucks. Das Was dieses Evangeliums ist für das MtEv am besten mit „Reich/Herrschaft Gottes“ im Sinne des Verständnisses und Gebrauchs dieses Ausdrucks im MtEv angesprochen: Gottes (Jahwes) „neues“ Angekommen- und Da-Sein in seiner Schöpfung (zunächst spezifisch in Israel) und sein „neu“-gestaltetes und in und an und mit ihr Wirken in Wort und Tat, ereignishaft geschehend als Bleiben-im-Gewirkten, als „neue“ Qualifikation alles Geschaffenen. Es ist damit das angesprochen, was meistens, einengend und verkürzend, als „Christus-Ereignis“ bezeichnet wird, weil es (wieder verkürzend formuliert) sich im sog. irdischen Leben Jesu Christi aufsehenerregend offenbart und ausgewirkt und die „neuen“ Gottesgaben wie Gottesweisungen geschenkt hat, diese sogleich als „neue“ Lebensmöglichkeit, -befähigung und Ermächtigung für die, die diesem Dasein und Geschehen des „Reiches/Herrschaft Gottes“ durch ihr annehmendes Glauben und persönliches wie gemeinschaftliches „neue“ Leben entsprechen. Dieser Verkündigung dient das MtEv in von ihm selbst deutlich erklärter Absicht und „Darstellungsweise“. Es ist nämlich nicht Erstverkün20 Vgl. dazu das im Exkurs „Evangelium“ Festgestellte; s. d.

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digung, etwa im Sinne des Neu-Missionierens in Israel und aller Welt; auch nicht Verkündigung im Sinne einer Erst-Katechese an Gläubig-Gewordene. Das MtEv richtet sich an die matthäische Gemeinde, die in ihrer Glaubenssituation und ihren Anliegen und Erfordernissen angesprochen, getroffen sein soll, insofern sie selbst schon „Kirche“ ist, die selbst aber immer noch im Suchen nach dem rechten Verstehen und Befolgen des einen Wortes begriffen ist (dies wohl solange diese Kirche Gottes-Angesprochene ist und bleibt). Daraus folgt, daß dieses so charakterisierte „Evangelium“ eine ihm eigentümliche „Mischung“ aus Homologese und Kerygma darstellt, aus nach-denkendem (auch intellektueller Art) Bemühen um das Wort Gottes und lobpreisend-eucharistischem Feiern seiner „Auswirkungen“ (ob Leben oder Gnade oder wie immer bezeichnet) im persönlichen und gemeinschaftlich orientierten Lebensvollzug antwortenden Denkens und Handelns in diesem „neuen“ Gott-Glauben, als Lebensraum der Gemeinschaft Gott-Schöpfung, diese vielleicht zunächst auch nur repräsentiert durch das, was „Kirche“ im faktischen Gebrauch dieses Ausdrucks ansagt. In der theologischen Erfassung des Mt Ev, jetzt spezifisch Mt 1 vor Augen, wollen wir daher genau dieses zu erheben versuchen, was der Text, wachsam gelesen, unmittelbar an Aussage-Gehalt zu erkennen gibt, das nämlich, was der Autor des Textes selbst ins evangelium-gemäße Wort gebracht hat, Evangelium jetzt dezidiert als das verstanden, was wir hier angedeutet, an anderem Ort auch näher entfaltet haben. Die fachexegetisch erarbeiteten Erkenntnisse sind dazu intensiv eingesehen worden und werden stets berücksichtigt. Doch geht es hier um mehr, eben die evangelium-mäßig niedergelegte Kunde zu erkennen.

2. Die theologische Aussage von Mt 1,1–17 a) Mt 1,1

Der erste Satz des MtEv wird stets als programmatisch klingend empfunden. Er kann als progammatisch-zusammenfassende Ansage des Themas und Sachinhaltes des ganzen MtEv, jedenfalls des ersten Kapitels angesehen und gewertet werden. Somit gibt er die prinzipielle Richtung des Verständnisses des MtEv insgesamt und folglich des Kapitels 1 als Evangelium-Schrift an und bleibt dementsprechend stets zu berücksichtigen.21 21 Wir können es auch mit dieser Formulierung Frankemölles sagen: „Zusammenfassend bleibt fest-

zustellen: Mit der Überschrift in 1,1 hat Matthäus für jeden bibelkundigen Leser mit Abraham und David den Anfang und den Höhepunkt der in der Bibel erzählten Geschichte Gottes mit den Geschlechtern der Erde und insbesondere mit Israel aufgenommen und sie in Beziehung zu Jesus Christus gesetzt. Wenn er dabei zudem sprachlich den Anfang der biblischen Geschichte Gottes mit allen Menschen in 5,1 („Buch der Geschichte der Menschen“) rezipierte, dürfte für die Leser

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b) Mt 1,2–17 — Der Stammbaum Jesu Christi

Mt 1,2–17 läßt sich, wenn man Zwischenüberschriften über einzelne Abschnitte des MtEv setzen möchte, gut mit „Der Stammbaum Jesu Christi“ angeben, dieser im biblischen Sinn verstanden. Die in 1,1 stichwortartig genannten Namen für Jesus, nämlich „Christus“, „Sohn Davids“ und „Sohn Abrahams“, werden aufgegriffen und als Hauptglieder der Generationenkette aufgeführt, die namentlich von Abraham bis Jesus nachgezeichnet wird. Matthäus greift dafür biblische Vorbilder auf. In 1,17 gibt er dazu eine ausdeutende Erklärung, was er mit dieser seiner Darbietungsweise des „Stammbaums“ aussagen möchte. Es wird deutlich, daß er etwas Spezifisches evangelium-mäßig bekunden will. „Matthäus lag alles an der Periodisierung in 3 x 14 Generationen mit den wichtigen Einschnitten Abraham – David – Babylonische Gefangenschaft mit dem Zielpunkt Jesus Christus, mit dem er sein eigenes ‚Buch der Geschichte ‚ beginnen läßt.“22 Luz spricht von „einem Stenogramm der Geschichte Israels.“23 Insgesamt ist damit für unsere Untersuchungsabsicht zunächst in Kürze das Wichtigste gesagt. Freilich sind noch einige Einzelheiten des Textes hervorzukehren, die von den Kommentatoren bemerkenswerte, doch nicht allseits anzuerkennende Erklärungen erfahren haben. Nach der Besprechung von 1,2–16 und 17 ist auf 1,16 noch gesondert intensiv einzugehen.

die christologisch implizierte These aufgestellt sein, daß die darzustellende ‚Geschichte Jesu Christi‘ die in der Bibel erzählte Geschichte erfüllt und konsequent weiterführt. Spannungsvoller und anspruchsvoller hätte Matthäus sein Werk nicht beginnen lassen können!“ (I.135f). Vgl. auch die Bemerkungen von Luz in seinem Kommentar Band I/1, 117–119. 22 Frankemölle I.147. 23 Luz I/1 130. ––– Es sei hier einzelnes noch herausgestellt, worauf Frankemölle in seinem Kommentar aufmerksam macht. Wir zitieren entsprechende Sätze aus seinem Kommentar zu 1,17 nach Bd. I in der Reihenfolge der Seiten dort (I.138–148): „Wie lasen und verstanden die ersten Leser diesen Stammbaum? Ohne Zweifel so, wie ihnen in der Schrift vorgegeben war: Als Bündelung einer sich über Jahrhunderte hinziehenden Geschichte im Zeitraffer. … Dies zeigt, daß die Genealogie als eine kommentarartige Erklärung zur Überschrift interpretiert werden kann, jedenfalls zur menschlich-irdischen Abstammung Jesu Christi. … Doch zunächst zur irdischen Genealogie und ihren auffälligen Besonderheiten. … Wie seinen biblischen Vorgängern geht es Matthäus nicht um historische Fakten, sondern um theologische Deutung, näherhin um die Aussage, daß die irdische Abstammung Jesu bereits impliziertes Ziel der von Gott gelenkten Geschichte Israels ist. Die Genealogie ist im Sinne des Matthäus also als eine Art Midrasch (…) zu deuten (…). … Im Rückgriff auf die Überschrift in 1,1 und auf den Titel des Matthäischen Werkes als ‚Buch der Geschichte Jesu Christi‘ erwartet der Leser analog zur weiteren Geschichte Davids in 1,6 ff eben ‚die Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams‘ (1,1). Nach Matthäus hört die Geschichte Israels mit der Erzeugung Jesu nicht auf, vielmehr erfüllt sie sich und fängt somit auch neu an. Wozu sonst hätte Matthäus sein Werk geschrieben? … Die Genealogie in 1,2–17 ist – dies dürfte deutlich geworden sein – ein bewußt komponierter und hochstilisierter Text, in dem es Matthäus nicht nur um historische Fakten, sondern um theologische Deutung und um eine neue Identität bei den Lesern geht.

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Zu Vers 17, mit dem Matthäus selbst seine Absicht genau erklärt, die ihn zur Formulierung von 2–16 bestimmte, wäre hier dieses mit Sand zusammenfassend zu sagen: „Mt bedient sich eines Zahlenschemas (3mal 14 = 3mal 2mal 7), das aber als solches die Intention des Evangelisten noch nicht erschließt; denn Mat ‚gebraucht‘ die Zahlen nicht wegen ihres symbolischen, sondern wegen ihres ‚didaktischen‘ Gewichtes: Erst das richtige Verständnis ermöglicht die Aussage: ‚Alle Geschlechter …‘. Zum ersten Mal begegnet hier bei Mt die umfassende Aussage: ‚alle‘. Einzig und allein darauf liegt der Akzent. Es ist die Intention des Evangelisten, hervorzuheben, daß (ausnahmslos) alle Geschlechter von Abraham (dem Vater aller in Erwartung Stehenden) über David bis zu Christus hereingenommen sind in die alt. Verheißung. Seit Abraham gab es zwar viele Geschlechter, die Geschlechterfolge im eigentlichen (theologischen) Sinn vollendet sich aber erst in Christus. … Das Erstellen von Stammtafeln diente dem Nachweis der nicht gebrochenen geschichtlichen Kontinuität. Vor allem bediente man sich der Genealogien, wenn die Rechtmäßigkeit eines Amtes nachgewiesen werden sollte. … In diesen Kontext gehören auch Spekulationen über die Herkunft des Messias … (es) herrschte die Überzeugung, daß der Messias davidischer Herkunft sein würde. Die Bezeugung der davidischen Herkunft hat auch im NT seinen Niederschlag gefunden … Von hieraus wird deutlich, welche Funktion der Genealogie im Mt.-Ev. zukommt und welche theologische Absicht mit ihr verbunden ist. In der Form eines Midrasch wird eine Deutung der geschichtlichen Entwicklung Israels und des Ziels dieser Geschichte vorgelegt … Der Redaktor übergibt seiner Gemeinde eine Genealogie Jesu, um ihr zu sagen, daß alle frühere Geschichte so angelegt war, daß ihr Lauf sich im Kommen Jesu vollendet. Damit hat sich die Hauptlinie der jüdischen Erwartung erfüllt: In Jesus ist der messianische Sohn Davids gekommen (V. 2–16), und in ihm hat Gott sich einen Sohn geschaffen, das Gottes Königtum in der Welt verkünden soll“ (Sand 45f). Dieses wird von den meisten Kommentatoren vertreten, wenn auch in bestimmten Abwandlungen der Begründung. Ohne diesem Verständnis zu widersprechen sei allerdings auf dieses aufmerksam gemacht: Mit der Genealogie, die Matthäus in 1,1–17 vorlegt, ist zwar in ihrer Weise die gesamte Geschichte Israels mit Jesus Christus in unlöslicher Weise zusammengeschaut, doch ist diese Sicht und die Art der Gesamtübersicht der Geschichte Gottes und Israels keineswegs die einzige oder allein gültige. Das erhellt schon daraus, daß hier offensichtlich „die Geschichte des Volkes in Ägypten, beim Exodus und der Landnahme“ (so Frankemölle I.144) mit keiner Silbe (mit)erwähnt wird, obwohl doch gerade der Exodus als „das geschichtsmächtige Handeln Jahwes an Israel bei der Befreiung aus Ägypten“ für alle Israeliten als das Grundereignis, als „Urbefreiung aus Ägypten“ angesehen und deswegen jährlich als „Urbekenntnis Israels“ (M. Noth) in der Feier des Pessach begangen wurde (und wird). Auch von Mose ist in dieser geschichtlichen Gesamtschau, wie sie den Kommentatoren nach in 1,1–17 auf ihr Weise gegeben ist, mit keinem Wort die Rede. Das kann uns aufmerken lassen, daß nichts im MtEv als

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einzige, gar maßgebliche Aussage angesehen werden darf, vielmehr alles im dortigen historischen Kontext gelesen und verstanden werden muß.24 Weiters ist auf die häufig gebrauchte Wendung „irdische Genealogie Jesu Christi“, „irdische Abstammung“, „menschliche Abstammung“ und „leibliche Abstammung“ u. ä. hinzuweisen. Bei Frankemölle wird der „irdischen Genealogie“, die in 1,2–17 vorliegen soll, die „ ‚himmlische‘ Genealogie“ gegenübergestellt, die in 1,18–25 ausgesprochen wäre, und für Jesus Christus von den „beiden Genealogien“ gesprochen (1.155). Diese Unterscheidungen sind in der faktisch verwendeten Formulierungsweise als unangemessen und den Text mißdeutend anzusehen. In 1,1 wird Jesus Christus betont mit vollem Namen an den Anfang gestellt; 1,16 spricht von „Jesus, der Christus Genannte“; und genau von diesem Jesus Christus wird in 1,18–25 die Herkunft (die in ihrer Besonderheit deutlichst erklärt wird) dargelegt. Die Spezifizierung „irdisch“ und „ ‚himmlisch‘“ (allein dieses „himmlisch“ wird stets in Anführungszeichen gesetzt; es wird also doch ein wesentlicher Unterschied bemerkt und angedeutet!) bzw. „menschlich“ (dem jedoch keine andere Art von Genealogie zugeordnet wird!) ist für das in 1,18–25 von Matthäus Ausgesagte unbegründet, wenn nicht sogar als falsch anzusprechen. Denn es ist immer von JESUS (1,21) die Rede, ohne daß der Text einzelne „Komponenten“ in ihm benennt oder auch nur andeutet.25 Was so an Stellen des 24 Die zuletzt zitierten Sätze sind aus Frankemölle, I.62–66 übernommen. – Hier können wir auch

auf die folgende Bemerkung zu 1,17 in zahlreichen Kommentaren aufmerksam machen, die die „eintönige lange Abfolge ‚A zeugte B‘“ (Frankemölle, I.139) in 1,2–17 zu eigenartigen Erklärungen dieses Textes bewegt hat. So lesen wir bei Frankemölle u. a. dies: „Nach Matthäus ist Jesus Christus nicht nur einer unter anderen, selbst wenn er als Ziel der Geschichte am Ende steht. Matthäus erreicht diese besondere Betonung Jesu außer durch Zahlenschematismus dadurch, daß er die etwas eintönig lange Abfolge ‚A zeugte B‘ an einigen Stellen durchbricht. Im Hinblick auf das Bekenntnis zu Jesus als ‚Sohn Davids‘ in der Überschrift (1,1) ist daher der Titel ‚König‘ als Ergänzung zu David als Höhepunkt der ersten Periode in 1,6 auffällig. … Auffällig – und darauf kam es Matthäus im Prolog an – war die parallele Durchbrechung der schematisierten Form der Genealogie. … Erst einmal aufmerksam geworden auf die Durchbrechungen der Normalform des Zeugungsschemas ‚A zeugte B‘ stellt man die stärkste Durchbrechung wiederum am Ende fest. Formulierte Matthäus immer aktivisch (…), so benutzt er das gleiche Verb jetzt passivisch: ‚Jakob war der Vater von Joseph, dem Mann Marias; aus ihr wurde gezeugt Jesus, der Christus/der Gesalbte genannt wird. … In dieser Durchbrechung in 1,16 liegt formal die stärkste Veränderung des genealogischen Schemas und somit auch der thematische Schwerpunkt seiner Aussage (vgl. dazu bei 1,18–25): Jesus ist Sohn Gottes in einzigartiger Weise“ (I.139f). Muß man hier von einer Durchbrechung des Schemas sprechen? Genügt nicht, gerade von der Sache her betrachtet, die der Mt-Text verfolgt, schlicht die Feststellung dieses Zieles dieser speziell geformten Genealogie in ihrem Endglied? Was Frankemölle im Zitat vertritt, begegnet übrigens in vielen Kommentaren. 25 So lesen wir bei Luz zum Aufbau der Genealogie: „Die Genealogie besteht aus einer langen Reihe eintöniger, kurzer Hauptsätze. Ihre Gliederung entschlüsselt V 17, der im nachhinein den Leser/innen einen Lesegesichtspunkt gibt … In die eintönige Genealogie sind Zusatzbemerkungen eingefügt. Sie erwähnen Frauen (…), Brüder (…), David als König (V 6a) und zweimal das Exil (V 11f). Am auffälligsten ist in V 16 die Erwähnung der Maria, weil hier die Konstruktion abbricht: gennao wird plötzlich passiv konstruiert. Außerdem erhält Jesus den Zusatz Xristos (wie 1,1). Hier liegt der Höhepunkt der Generationenreihe.“ (129). Dazu diese Bemerkung 132: „Der

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Kommentars Frankemölles aufgezeigt ist, begegnet auch in anderen Kommentaren. Er selbst entfaltet diese Unterscheidungen unter verschiedenen Aspekten weiter, wie auch in anderen Kommentaren dazu mannigfaltige Variationen angeboten werden. Hier müssen diese Anmerkungen genügen.26 In diesem Zusammenhang ist sogleich auf einen anderen Punkt aufmerksam zu machen, der dasselbe Problem heraufbeschwört. Einige Kommentare sehen nämlich in der Genealogie 1,2–17 ausdrücklich Jesu Menschsein betont herausgehoben. So sagt Trilling, um ein sprechendes Beispiel zu bringen, dieses: „Durch ein einzigartiges Wunder geschah die Empfängnis und Geburt Jesu … Bewirkte nun dieses Wunder, daß Jesus ganz außerhalb der natürlichen Bindungen von Familie und Volk stand, gleichsam nur von Gott her in unsere Geschichte und Welt hineingesandt, wie ein Komet, der den Luftraum der Erde schneidet? Keineswegs! Durch den heiligen Joseph, der vor dem Gesetz sein ‚Vater‘ ist, tritt er ein in die Folge der Geschlechter. Die Heilige Schrift bezeugt damit zunächst, daß er wahrer Mensch ist … Aber mehr noch: Die Familie, in der er an einer bestimmten Stelle erscheint, ist Königsfamilie, die Familie Davids, die Trägerin der messianischen Verheißung … Jesus ist im vollen Sinn und mit rechtlicher Geltung Nachkomme Davids“ (19). Bei Luz lesen wir unter „Wirkungsgeschichte“ u. a. dieses: „Christologisch ist für die Kirchenväter der Stammbaum ein Hinweis auf die Menschheit Jesu. Der Anfang des Mt-Evangeliums (1,1) handelt von der Geburt des Menschen Jesus, nicht von der Erzeugung der Gottheit, welche unaussprechlich ist. … Ziemlich im verborgenen bleibt dagegen in der altkirchlichen Auslegung die Aussage der ‚Hauptachse‘ des Stammbaums: Jesus ist nicht einfach als Mensch geboren, sondern als Israelit aus dem königlichen Geschlecht Davids“ (138). Dazu sagt Luz noch zum Stammbaum: „Dennoch gilt es, den Ernst zu bedenken, mit dem die kirchliche Auslegung aller Zeiten ihn als Stück Geschichte zu begreifen versucht hat. Hier steckt eine Grundaussage des christlichen Glaubens, nämlich das Wissen darum, daß Jesus eine menschliche, geschichtliche Gestalt ist. Darum, so sagt Irenäus, beginnt Matthäus sein Evangelium mit der menschlichen Abstammung Jesu … Matthäus würde wohl zu dieser kirchlichen Auslegung hinzufügen: Nicht einfach irgendein Mensch ist Jesus, sondern ein Glied seines Volkes Israel, sein Messias, in dem die Geschichte Israels zu ihrem Ziel gekommen ist“ (139f). Zu dieser und Stammbaum versetzt die Leser/innen zurück in die Welt der Bibel. Das monoton wiederholte egennesen ist ein charakteristisches Kennzeichen biblischer Stammbäume (…). In konzentrierter Form zieht die Geschichte Israels vor ihren Augen vorüber.“ ––– Schnackenburg schreibt dies: „Auffällig ist die Erwähnung von vier Frauen … Sie werden genannt …, weil sie sämtlich durch Gottes Fügung etwas Irreguläres in die Geschlechterfolge einbringen. Dadurch bereitet Mt das ganz außergewöhnliche Eingreifen Gottes vor, der aus der Jungfrau Maria den Messias Jesus geboren sein wollte …“ (18). Kann man das eigentlich noch komplizierter sagen? Der Mt-Text ist einfach und klar! 26 Siehe dazu den Exkurs „Verständnis der Geschichte Gottes“, in dem die hier angesprochenen Probleme ausführlich an Hand von Aussagen der Mt-Kommentare vorgestellt und besprochen werden.

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ähnlichen Stellen ist zu sagen, daß sie sicher Richtiges sagen wollen. Wenn allerdings gemeint wäre, daß sich 1,1–17 (dazu also auch 1,18–25) auf den Menschen Jesus, gar nur auf seine menschliche Existenzweise beziehe, dann wäre dem matthäischen Text gerade nicht entsprochen. Maria, um es in Kürze einmal so zu sagen, hat Jesus Christus geboren (1,21.25; 2,1), nicht den Menschen Jesus. Daher gilt es, alle Aussagen des Mt-Textes diesem Jesus Christus im vollen Sinn seines wahren Seins (wie immer man Unterscheidungen meint anbringen zu müssen) zu belassen und auszuwerten. Schließlich sei noch auf folgendes aufmerksam gemacht. Für 1,2–17, den sog. Stammbaum Jesu Christi, wird oft betont gesagt, darin sei die ganze Geschichte Israels wie in einem Zeitraffer zur Sprache gebracht, da mit Jesus als Messias „die Geschichte Israels zu ihrem Ziel gekommen ist“ (Luz 1.139).27 An manchen Stellen der Auslegung von 1,2–17 wird das deutlich. Dort ist ständig die Rede von der Geschichte Israels; Gott wird mitgenannt als der, der in den Geschichtsverlauf Israels „eingreift“ 27 Dazu seien einige Textbeispiele aus den Kommentaren aufgeführt: Zum Stichwort „Geschichte

Israels“ sei zunächst auf Texte bei Frankemölle aufmerksam gemacht. So in I.138: „Wie lasen und verstanden die ersten Leser diesen Stammbaum? Ohne Zweifel so, wie ihnen in der Schrift vorgegeben war: Als Bündelung einer sich über Jahrhunderte hinziehenden Geschichte im Zeitraffer. … Die für die Leser größte (Besonderheit) ist die gewollte (17) Periodisierung in 3 x 14 Geschlechtern. Diese Symmetrie … wurde für sie deutlich, daß er bewußt gestalten wollte. Ihm geht es um den Anfang mit Abraham, um den Höhepunkt mit David, um den Tiefpunkt in der Babylonischen Gefangenschaft und um den Zielpunkt aller Geschichte Gottes mit Israel in Jesus Christus. Wie die Geschichte Israels geordnet und geplant erscheint, so auch zielorientiert. … Die symmetrische Einteilung belegt, daß all dies dem Plan Gottes gemäß ist. Wie seinen biblischen Vorgängern geht es Matthäus nicht um historische Fakten, sondern um theologische Deutung, näherhin um die Aussage, daß die irdische Abstammung Jesu bereits das Ziel der von Gott gelenkten Geschichte Israels ist. Die Genealogie ist im Sinne des Matthäus also als eine Art Midrasch (…) zu deuten …“ (I.138f). Dann zur Nennung der Frauen in der Genealogie: „Wo liegen die Gemeinsamkeiten dieser vier Frauen und ihrer Rolle in der jüdischen Geschichte? Welche Information will Matthäus seinen Lesern durch sie geben? Die jüdische Verheißungsgeschichte würde ohne diese Frauen zusammenbrechen. Daß diese Verheißungsgeschichte dabei gleichsam ‚auf krummen Wegen‘ verläuft, gehört hinsichtlich der Frauen sicherlich zur Intention des Matthäus. Insgesamt bringen sie etwas Irreguläres in die Gattung ‚Stammbaum‘, der von der Gattung her ansonsten auf Normalität, Exaktheit und Legitimität ausgerichtet ist. … Nach Matthäus hört die Geschichte Israels mit der Erzeugung Jesu nicht auf, vielmehr erfüllt sie sich und fängt somit auch neu an“ (I.142). Dazu weiter: „Gott schrieb … auch auf männlicher Seite keineswegs nur ‚auf geraden Zeilen‘, zumal auch die Herrscher, allen voran David, keineswegs Vorbilder eines toragemäßen Lebens waren … Wir christlichen Leser haben diese jüdische Geschichte in ihrem Auf und Ab, aber auch in ihrer Spannung von Partikularismus (Israel) und Universalismus (alle Völker) neu ernstzunehmen, wenn wir wirklich den matthäischen Text in etwa angemessen verstehen wollen“ (I.146). Dazu auch noch dies: Zu Mt 2,17 und im Gefolge dieses Satzes heißt es: „Wenn Matthäus in 2,17 die übliche finale Zitationsformel der Bibel … durch ‚damals erfüllte sich‘ ersetzt, wird jeder Leser verstehen, daß die negativen Ereignisse nicht auf das Handeln Gottes direkt zurückgeführt werden können … Jeder Leser wird verstehen, daß Matthäus hinsichtlich dieser Ereignisse zurückhaltend spricht. An der Lenkung der Geschichte durch Gott läßt er im übrigen keinen Zweifel. … Im Auf und Ab der Geschichte, in Heils- und Unheilsgeschichte, in nach menschlichem Maß scheinbaren Brüchen, Widersprüchen und Negativitäten ist Gott der eigentlich Handelnde …“ (I.170).

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bzw. ihn überhaupt in einem unaufhebbaren Plan verfolgt, sie lenkt und auf das Ziel, das er, Gott, sich gesetzt hat (das Auftreten Jesu Christi), trotz aller Widrigkeiten und Negativitäten hinführt. Damit ist die Frage gestellt, wie überhaupt von einer Geschichte die Rede sein kann, in die Gott „eingreift“ bzw. die er „lenkt“. Dazu bedarf es einer Klärung, die wir im Anhang I geben werden.28 c) Besondere Bemerkungen zu Mt 1,16

Auf den Vers 16, der das letzte Glied der Generationenkette des Stammbaumes ist und in dem die volle Namensnennung „Jesus Christus“ in 1,1 wiederholt wird, ist in bestimmter Hinsicht besonders aufzumerken. Auf das in der Besprechung der rechten Übersetzung Herausgestellte brauchen wir hier nicht nochmals einzugehen. Wir erheben hier jetzt nur den theologischen Aussagegehalt dieses Verses, auf der Grundlage des exegetisch seitens der Fachexegeten (und Kommentatoren) Erarbeiteten. Die für literarisch-fachexegetisches Interesse wichtigen Besonderheiten, die der Text aufweist, sind hier nicht mehr zu diskutieren. Wir fragen schlicht: Was sagt der Text selbst an evangelium-gemäßer Bekundung und Erklärung im Sinn der (erkennbaren!) Absicht des Evangelisten, da dieser ja in 1,18–25 selbst noch eine nähere Erklärung zu 1,16 in der Weise einer „Fußnote“ folgen läßt, so wie er in 1,17 die Darbietungsweise der Genealogie in 1,2–17 offenlegt. Die offensichtlich auf Jesus Christus, der mit vollem Namen genannt wird, zielende Genealogie mit dem festen Rhythmus der Darbietung (A zeugte den B) endet bei Josef als dem Sohn Jakobs. Josef selbst wird dann als „der Mann Marias“ angesagt; und von Maria, die damit offenkundig als „die Frau des Josef “ angesprochen ist, wird ausgesagt: „von der geboren wurde Jesus, der Christus Genannte“. Damit ist in diesem Vers jedenfalls als ein erstes die Aussage gegeben, daß Josef und Maria ein Ehepaar sind. Das wird in 1,18b, der erklärenden „Fußnote“ zu 1,16, wiederholt und noch näher spezifiziert: „als seine Mutter Maria und Josef verehelicht waren und bevor sie zusammengekommen waren …“. Dieser Passus erweist sich als eine Zeitangabe für das in 1,18c bekundete Faktum (der Befund Marias). Dies ist eine für jüdisch-biblisches damaliges Alltagswissen voll verständliche und unproblematische Feststellung.29 Diese Zeitangabe gibt daher genau den Zeit-Raum an, in 28 Im Anhang I bringen wir zwei Überlegungen dazu an: „Euaggelion – Evangelium“ (I.1) und „Gott

in Geschichte“ (I.2). Darauf sei hier nachdrücklich hingewiesen. 29 Vgl. dazu den Exkurs zum israelitisch-jüdischen Eherecht und die dort angegebenen Akte zum Ri-

tus der Eheschließung und des Beginns des gemeinsamen Lebens. Nur durch hinreichende Kenntnis dieser historischen Wirklichkeit kann Mt 1 (wie andere biblische Texte) richtig verstanden werden. – Hier seien noch diese wichtigen Bemerkungen gebracht. Josef, in 1,16 als Nachkomme Davids erstmals genannt, wird in 1,20 vom Boten des Herrn, also von Jahwe selbst ausdrücklich als dieser angesprochen und beauftragt. In 1,16 wird er als der „Mann Marias“ näher bestimmt, womit Maria als „Frau des Josef “ unmittelbar miterklärt ist. Sie wird bezeichnend anders genannt, als es im Fall der anderen in 1,2–16 genannten Frauen geschieht. Jedenfalls wird von Josef und Maria betont herausgestellt, sie seien verehelicht, d. h. einander verbunden durch ihr freies und

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dem das Faktum, von dem 18c Kunde gibt, als offensichtlich schon geschehen und somit als „Befund“ Tatsache war (s. dazu die spätere ausführliche Besprechung von 1,18b und c). Das bedeutet dann aber für das erste theologische Verständnis von 1,16 dieses (was die erklärende Aussage des Evangelisten in 1,18–25 bekräftigt), was mittels des Sprachspiels der Genealogie zunächst so formuliert werden kann: Gott Jahwe gibt den, der später mit göttlichem Recht „Messias – Christus“ genannt wird, diesem Ehepaar Josef (Sohn David) und Maria als Sohn (israelitisch-jüdischen Rechts), und zwar dem Josef, der selbst Sohn Davids ist und betont hier stets so genannt wird, der den Gott-bestimmten Namen geben soll, der ausspricht, wer dieser Sohn von Gott her ist und was seine Lebensaufgabe sein wird: JESUS – Jahwe rettet, d. h. dem damaligen jüdisch-religiösen und -rechtlichen Verständnis und Gebrauch gemäß ihn als Sohn im Davidstamm erklären und ihn folglich es tatsächlich zu sein aufgibt: Sohn Davids im gott-verfügten Sinn. Damit wird dies klar: Nach Matthäus hat Jahwe sich an Josef (s. Mt 1,18–25) und Maria (s. Lk 1,26–38) als Verehelichte gewandt, Josef dazu „Sohn Davids“ im Sinne der Jahwe-Verheißung seinerzeit an David, um sie in die Erfüllung rechtlich wirksames Eheschließungswort. Genau diesem, so detailliert angezeigten Ehepaar gibt Gott gemäß Mt 1 (und Lk 1) den Sohn Davids, auf den die ganze Generationenkette im Sinne des Matthäus hinauslaufend angelegt war, und zwar durch Gott selbst. Das als Kommentator auch ausdrücklich herausgearbeitet habend, konnte ich nur einen einzigen Autor finden: P. Bonnard in seinem „L’Évangile selon Matthieu“, 1963, 18: „Dans l’intimité d’une famille davidique juive, que rien ne designait pour une telle destinée, intervient discrètement et souverainement le Seigneur, c’est-à-dire le Dieu d’Israel ainsi nomé dans la LXX, par son Esprit (v. 20c) puis par son ange explicant l’oevre de cet Esprit (v. 20 et 24)“. Dazu noch: „Du point de vue de Mat., il est important que Jesus naisse dans une famille juive régulière“ (18 und 20). Was Gott im Sinn hat, das wird dem Gehorsam Josefs anvertraut, damit Gottes Heilsplan sich verwirklichen könne. Dies alles bedenkend, stellt sich unausweichlich die Frage, warum dieses im Mt-Text offenkundig Gemeinte und Ausgesagte nicht genau so schlicht in der Kirche verkündigt und theologisch reflektiert und ausgewertet wird. Das beginnt damit, daß Josef und Maria nicht tatsächlich genannt werden, was sie sind (sowohl in Mt 1–2 wie in Lk 1–2 ist das sogar das erstgenannte Eigentümliche, mit dem sie vorgestellt werden), nämlich (Ehe)Mann und (Ehe)Frau (so der Lk- und Mt-Text!), und nicht „Verlobte“ (die ja weder der jüdische wie allgemein der hellenistische Bereich überhaupt kennt). Tatsächlich wird umständlich gerechtfertigt, daß diese Wörter seitens der Evangelisten wie selbstverständlich gebraucht werden, und das schlicht falsche Wort „Verlobung“ bzw. „Verlobte“, und das allein!, eingesetzt. Josef wird in Predigt und Theologie, ja sogar im Hochgebet der Eucharistiefeier „Bräutigam“ genannt, was er nie war. Dieses Wort wird in der Bibel, nicht anders wie „Braut“, für die gesetzt, die man Hochzeiter nennen könnte. So heißen nämlich gerade die, die die biblisch gemeinte Hochzeit, das Fest der Heimführung, des Zusammenkommens der Neu-Verehelichten, feiern (ca. ein Jahr nach der rechtswirksamen Eheschließung). Vgl. dazu Mt 9,15; 25,1.5f.10; Mk 2,19f; Lk 5,34f; Joh 2,9; 3,29; Apk 18,23. Alles in allem: Warum wird nicht schlicht das in der Bibel berichtete Faktum beim Namen genannt, nämlich daß Gott seinen Sohn diesem Ehepaar im Hause David anvertraut, auf daß sie (anders als damals Achas: Jes 7) ihn als erste annehmen, d. h. sich und der Welt schenken lassen als den, der der „Retter“, der „Immanuel“, der „Messias“ mit Eigennamen genannt wird, da er von dem her das tatsächlich ist, der diesem seinem Sohn seine Lebensaufgabe und Selbstdahingabe anvertraut und aufträgt und ihn so in das Ziel bringt, das für alle Welt das Heil bedeutet: JHWH. Der Mt-Text sagt es so und nicht anders. Das werden wir im folgenden weiter sehen, bedenken und theologisch auswerten müssen.

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seines in Jesus geplanten Heilswerkes auf die von ihm selbst bestimmte Weise mit einzubeziehen. Sie werden darauf angesprochen, zuzustimmen und nach dem Auftragswort Jahwes, das zum Jahwe-bestimmten Zeitpunkt gegeben wird, zu handeln bzw. mit sich wirken zu lassen (nach Lk 1 hat Maria das verstanden und geantwortet: „Mir geschehe nach deinem Wort“. Wir behaupten mit dieser Zusammenführung von Mt 1 und Lk 1 nicht, daß beide Evangelisten voneinander oder vom selben VorText abhängen, sondern lesen nur die Tatsache, daß in beiden Evangelien das Faktum der Verehelichung von Josef und Maria als erstes betont herausgestellt ist). Was so in 1,16 im MtEv klar ausgesagt ist, wird ja ebendort, in 1,18–25, vom Evangelisten näher erklärt.30 Der Versteil 16b wird von den Kommentatoren unterschiedlich verstanden und ausgewertet. Bei der Feststellung des Textes und seiner rechten Übersetzung haben wir die entsprechenden Fragen besprochen und unsere eigene Wiedergabe begründet: „Maria …, aus der geboren wurde Jesus, der Christus Genannte“. Das evgennh,qh wird von manchen Autoren als „gezeugt“ verstanden, unter Berufung auf die Formulierungen in 1,3.5.7, wo genna,w als spezifische, für den Mann geltende Sprechweise stehe („zeugen“), weil dort (ausnahmsweise) die Frau auch genannt wird, jedoch mit evk konstruiert. genna,w, so ist es die Auffassung dieser Autoren, gebe das Tun des Mannes in der Zeugung eines Kindes an, wenigstens das „Zutun des Mannes“. Das hat seine Auswirkung auch bei jenen Kommentatoren, die das evgennh,qh in 1,16 als theologisches Passiv lesen, womit ja Gott als der Wirkende genannt wird. Daraus folge, daß Gott auf irgendeine Weise das beim Werden Jesu Christi erfüllt habe, was in der natürlichen Zeugung eines Kindes der Mann leiste.31 Wir werden auf diese 30 Vgl. dazu, was in der theologischen Erfassung von 1,18–25 spezifisch gesagt wird. 31 Wie wir im Abschnitt zur rechten Übersetzung schon gesehen haben, so setzen die meisten Kom-

mentatoren „geboren von“, meist ohne weitere Begründung. Für „gezeugt aus“ entscheiden sich wenige, so Sand (41; dazu im Kommentar: „die Aussage selbst hebt hervor, daß Josef nicht der leibliche Vater Jesu ist“ – ohne Erklärung, wo er das so detailliert ausgesagt findet); Gnilka (3; aus 10, Anm. 34) läßt seine Unentschiedenheit erkennen: „egennethe könnte auch übersetzt werden: aus der geboren wurde. Jedoch bedeutet das Verb im Stammbaum immer: zeugen“. (Muß der Evangelist das sehr offene Wort „genna,w“ immer nur in einer Bedeutung einsetzen?). Frankemölle wechselt beliebig den Ausdruck. Zunächst übersetzt er „evx h-j evgennh,qh VIhsou/j“ auffällig so: „mit der gezeugt wurde Jesus“ (in Mt 1,3.5.6 übersetzt er „ek“ einmal mit „aus“, dann zweimal „mit“ – ohne Begründung). 1,16 selbst wird die gewählte Übersetzung nicht eigentlich besprochen. Doch ist dieser Satz bezeichnend: „Wer dieser Jesus Christus wirklich ist, kann durch seine irdische Genealogie nicht umfassend und abschließend gesagt werden, so daß Matthäus – wie bereits Vers 16 andeutete – ohne jeglichen Aufschub eigens zur Kommentierung in seiner ‚himmlischen Genealogie‘ in 1,18–25 übergeht. Sie beantwortet eine zweifache Frage: zunächst in Weiterführung der genealogischen Linie von 1,2–16: Wie wird Jesus, der Sohn Marias, Davidide? Und weit wichtiger: Wer ist der ungenannte Erzeuger in Vers 16 („aus ihr wurde gezeugt Jesus“)?“ (147). Diese Sätze stecken voll von Problemstellungen, die der matthäische Text selbst überhaupt nicht kennt. Ähnliches ist zum Text Fiedler 45 zu sagen, der ein Musterbeispiel dafür ist, daß man, bevor man einen Text ganz gelesen (und verstanden) hat, Probleme sieht und folglich „zwischendurch“ schon Lösungen bringt; in diesem Text vor allem, daß man faktisch nach einem männlichen Erzeuger (wie

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Auffassung noch in der Besprechung von 1,18–25 einzugehen haben. Da jedoch diese Verstehensweise sich als unberechtigt erweist (genna,w ist ein viel offeneres Wort, als hier anerkannt ist), deswegen treten wir für die Übersetzung „geboren aus Maria“ ein, und das aus folgenden Gründen: Das Wort genna,w hat eine große und offene Bedeutungsweite, die vom „zeugen“ eines Kindes durch Mann und Frau (im Miteinander-Wirken), vom „erzeugen“ des Kindes durch den Mann und „gebären“ des Kindes durch die Frau bis zum „Erfolg geistigen Wirkens“, ja zum „hervorbringen, hervorrufen (Frucht u. ä.)“ reicht.32 Wir werden in der Erschließung von 1,18–25 darauf stoßen, daß allein dort, in einem an sich eindeutigen Kontext, mehrere Bedeutungsvarianten verwendet erscheinen. Der jeweilige Kontext, dieser freilich im Gesamtzusammenhang des MtEv gelesen, läßt für die einzelne Stelle das richtige Verständnis erfassen – wenn nicht eine irgendwie voreingenommene Vorgangsweise das rechte Verstehen verbaut (hat).33 Unser Verständnis von 1,16 entspricht auch dem Empfinden, das Matthäus hatte, als er nach 1,17 meint noch ein erklärendes Wort für 1,16 zu formulieren, damit deutlich sei, was er als Evangelist meint sagen zu müssen. So lautet ja der ganz ungewöhnlich formulierte Satz 1,18a: „Die Herkunft des Jesus Christus war aber so: …“. Wir haben folglich jetzt auf diese Verse 1,18–25 einzugehen.

3. Die theologische Aussage von Mt 1,18–25

Was zur Frage der rechten Übersetzung dieser Verse oben vorgetragen wurde, wird jetzt vorausgesetzt, muß allerdings berücksichtigt bleiben. Wir haben jetzt auch die ganz ungewöhnliche Verstehensbreite genau zu beachten, wie 1,18–25 überhaupt beurteilt wird. Auf der einen Seite wird mit Nachdruck auf die eigenartig knappe und prosaisch-nüchterne Redeweise gerade in diesen Versen hingewiesen, etwa im Vergleich zu Lk 1–2. Auf der anderen Seite wird, sogar von den Autoren, die 1,18–25 als „Fußnote zu 1,16 so nüchtern wie nur irgend möglich“ sprechend (so Luz z.St.) ansehen, als „Erzählung“, „Geschichte“ eingestuft, als „Geburtsgeschichte“ aufgefaßt und dementsprechend das Schema der biblischen Geburtsankündigung und ihrer

man es formuliert) meint suchen zu müssen, weil ja in Maria (vorschnell, und daher falsch) der weibliche Anteil an der Zeugung Jesu schon klar angesagt erscheine. Genau diesem Fragepunkt werden wir uns intensiv zuwenden müssen; s. weiter unten. 32 Siehe dazu den ausführlichen Exkurs zur Bedeutung von „gennao“ – zeugen – gebären u. ä. Dort gehen wir auch auf Fragen ein, die sich auf die Lebensentstehung des Kindes durch den elterlichen Akt (den Wir-Akt von Mann und Frau) beziehen, wie auch auf Gebären bzw. Geburt usw. und somit auch auf den spezifischen fraulichen „Anteil“ im Werden des Kindes u. ä. 33 Einige Beispiele aus dem At und NT für die unterschiedlichste Verwendung von „gennao“ bzw. „gignomai“ bringen wir im Exkurs, auf den die vorige Anmerkung verweist.

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Folgen als hier auf Jesus Christus angewendet behauptet.34 Wir lassen jetzt alle diese Vor-Urteile ganz beiseite und den Text zunächst selbst sprechen, hören ihm zu in dem, was er direkt und klar sagt. Das geschieht in Verantwortung und nachdem wir viele Exegeten mit den Ergebnissen ihrer Forschungsarbeit gelesen und ausgewertet haben. Wir entscheiden im eigenen Beschluß, den wir offenlegen.35 a) Der Vers Mt 1,18

Der Vers 18 beginnt mit einer auf 1,16 rückverweisenden Formulierung. Daher ist ge,nesij mit dem offensten Wort „Herkunft“ wiederzugeben.36 Das sehr oft gewählte „Geburt“ ist sicher falsch, da von „Geburt“ im ganzen Kapitel 1 nicht gesprochen wird, im Blick auf 1,16 jedoch „Herkunft“ klar und angemessen erscheint, zumal Matthäus, wiederholend, mit Maria („seine Mutter“) und Josef einsetzt. Deren momentane persönlich-gemeinsame Lebenssituation wird sehr genau angegeben, und zwar als Zeitangabe für das Faktum, das, wenngleich aufs kürzeste angesagt, das Entscheidende ist, was Matthäus kündet.37 In auffallend offener und doch eindeutiger Redeweise wird der Sachverhalt ins Wort gebracht, womit nicht eigentlich das „Ereignis“ (als geschehendes), sondern das Faktum benannt wird, das vorlag. Dies wird in einer Redeweise ausgesagt, die niemand verwenden würde, der Historisches, ob Geschehen oder Faktum, berichten möchte, wie auch keiner, der „Geschichten“ erfindet und erzählt (gegebenenfalls, um einen Gedanken ins Wort zu bringen). Es beginnt mit eu`re,qh, einem im Passiv stehenden Verb, das in 18 offensichtlich auf „seine Mutter“ 34 Hier ist kein Raum, Beispiele aufzuführen, die die Vielfalt der Auffassungen hinreichend aufzeigen

könnten. Wir verweisen daher auf den Anhang II, wo diesem Anliegen entsprochen wird. Alle Varianten vorzuführen ist ohnehin unmöglich. 35 Dafür, den Text zunächst selbst sprechen zu lassen, um die Aussageabsicht des Matthäus und die Aussage selbst zu erfassen und sie dann theologisch (d. h. biblisch, als Euangelion) voll zu Gesicht zu bekommen, hat mich ein Wort des Exegeten und Theologen A. Schlatter ermahnt und ermuntert: „Von Vermutungen hielt ich mich möglichst frei und verzichtete darum auch auf die Widerlegung von solchen. Ich halte diese nicht für ein fruchtbares Geschäft. Denn Konjekturen werden nicht dadurch widerlegt, daß man andere macht. Sie versinken dann, wenn eingesehen ist, daß die Beobachtung fruchtbarer ist als die Konjektur. … Ich heiße ‚Wissenschaft‘ die Beobachtung des Vorhandenen, nicht den Versuch, sich vorzustellen, was nicht sichtbar ist. Vielleicht entsteht daraus eine Einrede gegen den Wert einer solchen Darstellung, da die ratende Vermutung anrege und unterhalte, während die Beobachtung eine schwierige, harte Arbeit sei. Richtig ist freilich, daß Spiel leichter als Arbeit ist: Das Evangelium ist aber mißverstanden, wenn aus ihm ein Spiel wird“ (Der Evangelist Matthäus, XI). 36 Frankemölle, I.129, macht in seiner Besprechung von Mt 1,1 auf die mannigfaltige Bedeutung von „genesis“ aufmerksam: „Das Substantiv genesis hat ein sehr weites Bedeutungsspektrum; es meint „Ursprung, Entstehung, Herkunft, Zeugung, Geburt, Leben, Entstehungsgeschichte, Geschichte“. Deswegen muß bei der Übersetzung mit Behutsamkeit vorgegangen werden. 37 Vgl. dazu das zuvor (im Abschnitt zur rechten Übersetzung des Textes) zum Ehestand von Josef und Maria und ihre momentane Situation damals gesagt wurde; dazu den entsprechenden Exkurs zum jüdischen Eherecht und Eheschließungsbrauch.

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II.

Zur theologischen Erfassung von Mt 1

(Maria in 1,16) bezogen ist, die als „e;cousa – habend“ angegeben wird. Ein Verb im Passiv kann gesetzt werden ohne sprachlich geforderte Angabe dessen, das oder der aktiv wirkt, tut, was in Passivform angesagt wird. In dieser Hinsicht läßt das Passiv, allein stehend, die Frage nach dem „Täter“ unbeantwortet. So im Fall 1,18: „sie wurde gefunden“ sagt nichts über den, der dies tat, „sie finden“. Das Tätigkeitswort „finden“ ist zudem, wenngleich als ein aktives Tun des „Finders“ erscheinend, tatsächlich durch eine auffällige Unbestimmtheit offen für mannigfaltige Anwendung. Man kann „finden“ aufgrund von gezieltem Suchen, aber auch ganz ungewollt „darauf stoßen“. Das „sich finden“, gelegentlich mit „sich befinden; sich fühlen“ gleich-bedeutend, kann sich auf einen Zustand beziehen, der die Person „trifft“, wie auch auf den Anwesenheitsort. Da ist „sich finden; sich befinden“ fast synonym mit „sein“.38 Was in 1,18 genau gemeint bzw. implizit, aber ein-deutig auskunftsmäßig ausgesagt ist, kann nur der weitere Kontext offendecken. Wir belassen es jedoch ausdrücklich in seiner Unbestimmtheit, um nicht für das, was hier eigentlich klären soll, doch schon ein (wenn auch eher unbewußtes) Vor-Urteil wirksam werden zu lassen.39 Das in 1,18 folgende evn gastri. e;cousa evk pneu,matoj a`gi,ou gibt einen ersten Hinweis. Denn es ist offensichtlich, wenngleich wieder aufs kürzeste (und deswegen selbst weiter erklärungsbedürftig) gesagt, der Aussagekern von 1,18: „Maria – im Schoße habend aus heiligem Geist“. Das ist es, was „sich fand; gefunden wurde“, der „Befund der Maria“.40 An diesem Satzteil fällt auf, daß für „(im Schoße) haben“ kein 38 Zerwick, Analysis, 1953, macht darauf aufmerksam, daß es sich im Fall 1,18 um einen eigenartigen

Gebrauch der Verbform handelt, die sich am Hebräischen ausrichtet: „heurethe – inventa est; pass. ‚inveniri‘ hebr. saepe sensu debiliori adhibetur, fere fieri, esse, se trouver, sich befinden“ (1). 39 Wir legen hier unsere eigene Übersetzung dieser Verse vor, die sich ganz eng an den griechischen Text hält. Wir fügen an gegebener Stelle dem Text für den Leser verdeutlichende Zusatzwörter in Klammern ein, ohne ihn selbst schon zu interpretieren: „Die Herkunft Jesu Christi aber war so: Als seine Mutter mit Josef verehelicht war, und noch bevor sie zusammengekommen waren, fand sich, daß Maria im Schoße hatte (trug) aus heiligem Geist. Josef aber, ihr Ehemann, war ein Gerechter (Gottesfürchtiger) und wollte sie nicht der (achtungslosen) Öffentlichkeit aussetzen, so gedachte (erwog) er, sie zu entlassen (aus der gemeinsam eingegangenen ehelichen Rechtsbindung freigeben). Als er das bedachte (erwog), siehe, da erschien ihm im Traum (der) Engel (des) Herrn, der sprach: „Josef, Sohn Davids, scheue (fürchte) dich nicht deswegen, Maria, deine Ehefrau, zu dir zu nehmen, weil das in ihr Gezeugte aus heiligem Geist ist. Sie wird nämlich (den) Sohn gebären, und du sollst seinen Namen JESUS nennen. Denn er wird sein Volk von ihren Sünden erretten. Alles das ist, geschehen, damit das vom Herrn (Jahwe) durch den Propheten Gesagte erfüllt wurde, der sagt: Siehe, die Jungfrau wird im Schoße haben und sie wird (den) Sohn gebären, und sie werden seinen Namen nennen IMMANUEL, das ist übersetzt: MIT-UNS-GOTT“ (1,18–25). 40 Manche Exegeten machen darauf aufmerksam, daß die Wendung evn gastri. e;cousa – „im Schoße habend“ in 1,18c aus dem Jes-Zitat 7,14 im Vers 23 übernommen sei. Das mag so sein, was aber bedeutet, daß die LXX die hebräische Wendung des Jes-Textes so wiedergegeben haben (neben der anderen Wendung lh,myesqai statt e;cein), weil Matthäus sie ja zitiert. Das bedeutet jedoch, daß für beide Texte das gilt, was wir herausgestellt haben. Matthäus hat sich für die von ihm gewählte Formulierung entschieden, die offenbar auch vom hebräischen Text möglich war. Wie für Jes 7,14 ist für Mt 1,18c.23 daher diese sehr offene Formulierung gelten zu lassen. Wir besprechen das wei-

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Objekt des Habens genannt ist: Was „hatte sie im Schoß“? Der Zusatz evk pneu,matoj a`gi,ou ist keine Objekt-Angabe für das „haben“, sondern gibt zunächst nur das Woher dessen an, was Maria im Schoße trug; dieses selbst bleibt unausgesprochen. Die Woher-Angabe ist aufrüttelnd: „aus heiligem Geist“. Im biblischen Kontext überhaupt verstanden, spricht dieser Passus jedenfalls, wenngleich auch sehr offen, von Gott (Jahwe!) bzw. Göttlichem als dem hier angesprochenen Woher.41 Was dieses sein Woher-in-oder-von-Gott-Habend genau ist, bleibt offen. Wir machen auf diese vielfältigen Unbestimmtheiten der Aussagen in 1,18, welcher Vers ja Klärungen für das Frag-würdige in 1,16 bringen soll, deswegen so engagiert aufmerksam, weil 1,18c von vielen Kommentatoren trotz seiner äußersten Kürze doch auseinanderrissen wird. Das evn gastri. e;cousa wird allein für sich genommen und mit „sie wurde schwanger erfunden“ wiedergegeben (und die Folgen reflektiert), und das evk pneu,matoj a`gi,ou als eine Auskunft angesehen, die dem aktuellen Leser des Textes gelte, nicht z. B. schon dem Josef zuteil geworden war. Das ist eine nicht zu rechtfertigende Gewaltanwendung gegen die Matthäus-Aussage. Er gibt eindeutig und klar evn gastri. e;cousa evk pneu,matoj a`gi,ou als das an, was „gefunden wurde“, ohne nähere Angabe, wer diese Kenntnis und wie er sie von wem bekommen hat.42 ter, um dem Verstehen des matthäischen Text möglichst nahezukommen. Die Wendung evn gastri. e;cousa – „im Schoße habend“ begegnet im NT mehrmals, und das in sehr verschiedener Weise. Mt 1,23 (evn gastri. e;cei), Mt 24,19; Mk 13,7); Lk 21,23 (evn gastri. evcou,saij) und in Apk 12,2 von der sonnenumkleideten Frau ausgesagt (evn gastri. e;cousa( kai. kra,zei wvdi,nousa kai. basanizome,nh tekei/n) ohne jede Zusatzangabe, nämlich des Objektes (was/wen) oder des Woher (von wem oder was) dieses Habens. In Mt 1,23, wo Jes 7,14 (in einer der LXX-Formeln) aufgegriffen ist, könnte das Was/Wen des Habens im unmittelbar folgendem kai. te,xetai ui`o,n angegeben sein, eben „Sohn“, was aber z. B. in Apk 12,2 durch das dort Folgende nicht der Fall ist. In 1 Thess 5,3 wird diese Wendung in bildlich-übertragener Bedeutung gebraucht; w[sper h` wvdi.n th/| evn gastri. evcou,sh|. In Mt 1,18 ist das Woher (wir formulieren hier sehr offen und vorsichtig) des Habens angegeben: evn gastri. e;cousa evk pneu,matoj a`gi,ou. Um das rechte Verständnis dieser verwendeten Präposition im Zusammenhang der Aussage werden wir uns zu bemühen haben. In Röm 9,10 schließlich findet sich eine Formulierung (in dem anerkanntermaßen recht unvollständig erhaltenen Satz), die e;cousa allein (ohne ein evn gastri. o. ä.) aufweist, allerdings dort mit einem Zusatz, der mit evk konstruiert ist: avlla. kai. ~Rebe,kka evx e`no.j koi,thn e;cousa. Ein Was oder Wen ist nicht angegeben, sondern nur das Woher (mit evk). Dieses bezieht sich also auf koi,th, das im direkten Kontext durch e`no.j koi,thn näher bestimmt ist. Das evk ist aber auf koi,th bezogen, nicht auf den mit e`no,j Angegebenen (Isaak) und den gar allein. Denn es ist „sie hatte aus ehelichem Akt“ zu lesen, den jedoch Mann und Frau als gemeisamen Akt setzen. Wir werden uns alle diese Beobachtungen vor Augen halten müssen, wenn es gilt, Mt 1,18 (und 1,20) richtig zu lesen und zu verstehen. Es bleibt ja zu beachten, daß die Formulierung „im Schoße haben aus heiligem Geist“ in der gesamten Bibel nur hier begegnet. Wir werden das im gegebenen Kontext noch eingehend besprechen und deuten müssen. 41 Zur Bedeutung der sehr offenen Formel „aus heiligem Geist“ vgl. den Exkurs „Heiliger Geist“. 42 Für die (unberechtigte!) Zerteilung des Satzes 1,18c und den Versuch, sie zu rechtfertigen s. folgende Textbeispiele aus den Kommentaren: Die Übersetzung von 18c im Text der Einheitsübersetzung (die übrigens Schnackenburg ohne jede Erklärung übernimmt) ist schlicht eine Textverfälschung. Sie zerreißt den eindeutigen Satz mittels trennendem Bindestrich, sie lautet ja: „… fand sich, daß sie ein Kind erwartete – durch das Wirken des Heiligen Geistes“. Der Text will aber nicht zweierlei

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Wir haben daher den Satz(teil) 18c als ganzen zu lesen und zu verstehen, was sagen, nämlich zunächst das Schwangersein der Maria (wie viele Übersetzungen das evn gastri. e;cousa unschön „verdeutschen“) und dann, durch den unberechtigten trennenden Bindestrich abgesetzt, die „Ursache“ für diesen Zustand Marias, wobei aus evk pneu,matoj a`gi,ou ein „durch das Wirken des Heiligen Geistes“ herausgelesen wird. – Schmid: „ ‚Vom heiligen Geist‘ fügt der Evangelist, dabei vorausnehmend, was Joseph erst in V. 20 erfährt, von sich aus hinzu. Joseph wird durch die ihm überbrachte Mitteilung über den Zustand seiner Verlobten in einen schweren seelischen Konflikt gestürzt … (Davon ist in keinem Vers die Rede! Freie Erfindung des Auslegers, daß dem Joseph eine Mitteilung überbracht wurde; etc.: R. S.). … wird durch eine im Traume … erfolgende Engelserscheinung aufgeklärt. Diese Mitteilung durch einen Boten Gottes hat anderes Gewicht, als es eine solche aus dem Munde Marias gehabt haben könnte … Darum bedurfte es (wer beurteilt hier was??: R. S.) des Eingreifens Gottes, um das Geheimnis der wunderbaren Empfängnis Marias auch ihrem Verlobten glaubhaft zu machen.“ (42f). – Schniewind sagt zu 1,18: „Die Verlobung gilt damals rechtlich der Heirat gleich. Marias Lage gilt demnach als Ehebruch; so wird auch von Joseph und Maria als von Mann und Frau schon vor der Heirat (V. 24) gesprochen (V. 19.20.24). Aber ehe noch die Erzählung sich löst in der Erscheinung des Engels und Josephs Gehorsam gegen dessen Befehl, setzt der Erzähler gleich zu Anfang die Lösung hinzu: vom heiligen Geist ist das Kind erzeugt. – Joseph hält seine Frau für schuldig; …“ (13). – Trilling sagt zu 1,18–25 u. a. dies: „… daß Maria gesegneten Leibes war. Joseph hat es offenbar selbst bemerkt. Was er nicht weiß, das sagt uns der Evangelist – vorausdeutend und erklärend – sofort mit: Was in ihr lebt, das stammt aus Heiligem Geist. Kein Wort über die Bestürzung … es wird uns nicht erzählt … nur das Ergebnis erfahren wir … Erst nachdem der Entschluß der Trennung schon gefaßt ist, greift Gott ein …“ (2 und 26). – Rienecker sagt es auf die kürzeste Weise: „Was Matthäus in V. 18 dem Leser schon gesagt hatte mit den Worten: ‚Sie hatte ein Kind aus Heiligem Geist empfangen‘, teilt nun der Herrenengel dem Joseph mit, indem er sagt: Was Maria erwartet, das stammt aus Heiligem Geist. Das Wort ‚Siehe‘ zeigt das Plötzliche der Überraschung an.“ (34). – Fiedler sagt zu 1,19f u. a. dies: „Verdacht des Ehebruchs … Denn er kennt den Hinweis auf den heiligen Geist (noch) nicht (anders als die Leserschaft des Mt). … Die beabsichtigte Scheidung entspricht jedoch nicht dem Plan Gottes. Deshalb läßt Mt ihn jetzt durch einen Boten = Engel selbst eingreifen … Damit er sich nicht länger davon abschrecken läßt, offenbart ihm der Engel jetzt die Herkunft des Kindes …“ (48f). – Wiefel meint dies zu 1,18: „Der nach knapper Überschrift die Exposition bietende Vers nimmt die im Wort des Engels V. 20 enthaltene Aussage schon vorweg. Man wird daraus folgern dürfen, ‚daß der Evangelist die wunderbare Empfängnis als Wahrheit voraussetzt‘ (Anm.: Vögtle)“ (31). – Luz sagt an mehreren Stellen dieses zu 1,18–20: „Die Geschichte ist keine Geburtsgeschichte, obwohl sie von der Jungfrauengeburt handelt, und keine Legende. Wie spannungslos sie erzählt wird, sieht man daran, daß sie die eigentliche Pointe, das Engelwort, bereits in V 18 vorwegnimmt.“ (42). „Der Evangelist liefert nur die nötigsten Informationen. Der die Spannung aufhebende Vorausverweis auf die Geistzeugung setzt bei den Leser/innen Kenntnisse voraus. Sie wissen schon, was Josef erst in V 20 erfährt: Der Vorausverweis ist aber kein literarischer Patzer, sondern überaus kunstvoll: Die bereits informierten Leser/innen wissen, was an der Geschichte wichtig ist, und warten darauf, daß es Josef endlich auch erfährt.“ (146; vgl. dort das Folgende). Wir beachten, mit welcher Phantasie dieser Text „verstanden“ und erklärt wird! Die Willkür und Beliebigkeit des Übersetzens zeigt sich an der Wiedergabe von Mt 1,16.18.20f in der Ausgabe des Neuentestaments von Cl. Berger und Chr. Nord (2001): „Jakobs Sohn hieß Joseph. Er war der Mann von Maria, die Jesus Christus, den Messias, geboren hat … Dies ist die Geburtsgeschichte Jesu, des Messias. Seine Mutter, Maria, war mit Joseph verlobt. Noch bevor die miteinander geschlafen hatten, stellte sich heraus, daß Maria ein Kind erwartete, und zwar durch Wirken des Heiligen Geistes … Als er noch darüber nachdachte, erschien ihm im Traum ein Engel des Herrn, der sagte zu ihm: „Joseph, du Nachkomme Davids, hab keine Angst und nimm deine Frau Maria zu dir. Das Kind, das sie unter

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übrigens durch 1,20 bestätigt wird, wo ja mit einem Zusatz das in 18c Bekundete wiederholt wird. Aus denselben Gründen halten wir an der Formulierung des Satzes im Griechischen fest, die auch deutsch gesetzt annehmbar wie verstehbar klingt: „sie hatte (wofür auch „trug“ gut und dasselbe sagend gesetzt werden kann) im Schoße aus heiligem Geist“. Wir haben nun evk pneu,matoj a`gi,ou auf seinen von Matthäus intendierten Aussagegehalt hin zu betrachten. Er enthält ja tatsächlich drei zu hinterfragende Vokabeln: evk, pneu/ma und a[gion, die bekanntlich im NT nie beiläufig gesetzt sind, sondern faktisch einen ungemein großen Bedeutungsgehalt haben, je nach dem betreffenden Kontext zu erheben. Zur Präposition evk haben wir schon für ihr rechtes Verständnis in Mt 1,2–16 sprechen müssen.43 Für a[gioj, für pneu/ma und die Wendungen Îto.Ð pneu/ma Îto.Ð a[gion ist wegen der Bedeutungsfülle und -vielfalt ein Exkurs fällig, aus dem wir die weiteren Überlegungen zu entwickeln haben.44 Wir werten die dem Herzen trägt, hat sie durch den Heiligen Geist empfangen. Es ist ein Junge, nenne ihn Jesus. Denn er wird sein Volk aus seinen Sünden befreien“ (573f). 43 Siehe dazu Näheres im Abschnitt zur rechten Übersetzung. Eine Formulierung, konstruiert mit purem evk und ohne weitere Nennung eines Verbums o. ä. begegnet öfter. Hier nur diese Beispiele: 1 Kor 8,6: avllV h`mi/n ei-j qeo.j o` path.r evx ou- ta. pa,nta kai. h`mei/j eivj auvto,n. – 1 Kor 11,12: w[sper ga.r h` gunh. evk tou/ avndro,j( ou[twj kai. o` avnh.r dia. th/j gunaiko,j\ ta. de. pa,nta evk tou/ qeou/. – 2 Kor 5,18: ta. de. pa,nta evk tou/ qeou/ tou/ katalla,xantoj h`ma/j e`autw/| dia. Cristou/ kai. … . – Auch mit dem Verb e;cein – „haben“ finden sich Formulierungen, so 2 Kor 5,1: … oivkodomh.n evk qeou/ e;comen( oivki,an avceiropoi,hton aivw,nion evn toi/j ouvranoi/j. Mit der Präposition avpo,: 1 Kor 6,19: h' ouvk oi;date o[ti to. sw/ma u`mw/n nao.j tou/ evn u`mi/n a`gi,ou pneu,mato,j evstin ou- e;cete avpo. qeou/( kai. ouvk evste. e`autw/n. – Zu fragen, was Gott jeweils getan/gewirkt hat und wie er es näherhin tat, daß dieses e;cein evk Wirklichkeit, gar bleibend erfahrbare Wirklichkeit sei, ist schlicht deplaziert. Der Text selbst spricht hinreichend deutlich das aus, was er sagen will. Er sollte dementsprechend gelesen und verstanden werden. 44 Der angesagte Exkurs befaßt sich mit allen einschlägigen ntl. Stellen, wodurch allein die ungemein große Bedeutungsvielfalt der verwendeten Wörter a[gioj, pneu/ma und ihrer unterschiedlichen Zusammenstellungen wie pneu/ma a[gion hervortritt. Doch schien es notwendig, sich dieser Aufgabe zu unterziehen, um den Texten in Mt 1 wie dann in Lk 1–2 gerecht werden zu können, zumal im Blick auf die meist sehr sorglosen Übersetzungen und Verständnisdeutungen seitens der Kommentatoren (wie der Theologen überhaupt). Hier sei das Entscheidende in Kürze vorgebracht. Wir beschränken uns dabei nur auf die Verwendung von pneu/ma bzw. pneu/ma a[gion bei den Synoptikern. Der Überblick zeigt, daß „Geist“ wie „heiliger Geist“ in Bezug auf „Gott (Jahwe)“ gesetzt (am jeweiligen Ort wie auch immer), im MtEv nur 10-mal begegnet, im MkEv ebenfalls 10mal, im Lk Ev 18mal. Ohne Artikel steht pneu/ma a[gion im MtEv nur in 1,18.20 und 3,11 (auvto.j u`ma/j bapti,sei evn pneu,mati a`gi,w| kai.puri, – „er wird euch taufen in/mit heiligem Geist und in/mit Feuer“. Offensichtlich auf Gott bezogen steht es in 3,16 (pneu/ma qeou/); 12,18 (= Jes 41,1–4: qh,sw to. pneu/ma, mou evpV auvto,n); 12,28 (evn pneu,mati qeou/). Dazu gehören auch folgende Stellen, die wohl in Bezug auf Gott stehen: 4,1 (o` VIhsou/j avnh,cqh eivj th.n e;rhmon u`po. tou/ pneu,matoj peirasqh/nai u`po. tou/ diabo,lou); 5,3 (aka,rioi oi` ptwcoi. tw/| pneu,mati), 22,43 (zu David, Ps 110,1: pw/j ou=n Daui.d evn pneu,mati kalei/ auvto.n ku,rion le,gwn). Dazu ist auch wohl folgende Wendung besonders anzugeben: 10,20 (avlla. to. pneu/ma tou/ patro.j u`mw/n). In 12,31.32 findet sich eine Stelle mit unterschiedlicher Artikelsetzung: pa/sa a`marti,a … h` de. tou/ pneu,matoj blasfhmi,a ouvk avfeqh,setai … o]j dV a'n ei;ph| kata. tou/ pneu,matoj tou/ a`gi,ou( ouvk avfeqh,setai auvtw /|…). Schließlich ist die Taufformel am Ende des MtEv anzugeben, die ja die einmalige Formel vorschreibt: bapti,zontej auvtou.j eivj to. o;noma tou/

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II.

Zur theologischen Erfassung von Mt 1

im Exkurs vorgelegten Erkenntnisse aus und entscheiden uns so verantwortet für das zu 1,18 betont zu Sagende. Der Blick ist genügend geschärft, um dabei behutsam vorzugehen. Weil sich nämlich keine absolut ein-deutige und allein gültige AussageBedeutung von pneu/ma und pneu/ma a[gion wie auch für eine beliebige bzw. gebotene Artikelsetzung im jeweiligen Fall feststellen läßt, ist keine absolut geltende, verbindliche Übersetzung angebbar. Auch eine voreilig-einseitige Fixierung von pneu/ma a[gion, etwa wegen gesetzter Artikel, auf die später eindeutig so genannte „dritte göttliche Person“ (der Heilige Geist neben Vater und Sohn) erweist sich als unangebracht; nur die betreffende Schriftstelle (z. B. im JohEv öfters) entscheidet, von wem dort genau die Rede ist (wenn diese überhaupt systematisch-definitorisch spricht).45 So ist zum patro.j kai. tou/ ui`ou/ kai. tou/ a`gi,ou pneu,matoj. In dieser Formel fällt ja der Singular o;noma in Bezug auf path,r – ui`o,j – a[gion pneu/ma besonders auf; hier zusätzlich das einmalig vor das Nomen gesetzte a[gion, dem der Artikel gegeben ist. Im MkEv begegnet artikelloses pneu/ma a[gion nur in 1,8 (wie Mt 3,11). Mit Artikel steht es in Mk 3,29 (par. Mt 12,31 und Lk 12,10.12), in Mk 12,36 (= Ps 110 (109),3); da es im Paralleltext Mt 22,43f (Daui.d evn pneu,mati kalei/ auvto.n ku,rion) heißt, dürften beide Stellen den Gottesgeist unspezifisch ansprechen. Ähnliches dürfte auch für Mk 13,11 (ouv ga,r evste u`mei/j oi` lalou/ntej avlla. to. pneu/ma to. a[gion) gelten. Im LkEv findet sich artikelloses pneu/ma a[gion öfters, vor allem im formelhaften „erfüllt vom heiligen Geist“ (dies in Lk 1,15; 1,41.67; 2,25– 27; 4,1 (für Jesus)); Ähnliches gilt für Lk 3,16 (vgl. Mt 13,11; Mk 1,8), während Lk 11,13 pneu/ma a[gion den Geist als Gabe Gottes meint (die Vulgata sagt: spiritum bonum, als Gabe Gottes). In Lk 2,25–27 wechseln alle Formulierungsweisen ab, die wohl alle von demselben sprechen, immer in Bezug auf Simeon. Damit ist wohl der Gottesgeist in (noch) nicht spezifizierendem Sinn gemeint. Ähnlich dürfte es in Lk 3,22 zu verstehen sein: kai. katabh/nai to. pneu/ma to. a[gion … evpV auvto,n( kai. fwnh.n evx ouvranou/ gene,sqai\ su. ei= o` ui`o,j mou o` avgaphto,j( evn soi. euvdo,khsa. Wenngleich hier vom Sohn und damit vom „Vater“ (mit „Stimme aus dem Himmel“) die Rede ist, dürfte hier doch der Gottesgeist in unspezifischem Sinn gemeint sein. Offensichtlich ist das ein Beispiel von zahlreichen Stellen im NT, für die es zunächst offenzuhalten und bedachtsam zu erkennen gilt, ob ausdrücklich von dem gesprochen wird, was spätere Dogmatik „göttliche Person“ (neben „Vater“ und „Sohn“) nennt, was dann von „Trinität“ zu sprechen anböte. 45 Wir bringen hier noch einige Bemerkungen, die zum gerade Besprochenen Wichtiges zu sagen haben: Es ist sicher sehr zu beherzigen, was J. Kremer schreibt: „Bei der Bestimmung des Sinnes von p. (d. i. pneuma: R. S.) ist zu beachten, daß die geläufige dt. Übersetzung mit Geist oft eine Verstehensbarriere bildet, da im Deutschen damit vielfach die Bedeutung Geist = immaterielles Wesen (Gespenst) oder Geist =  Verstand/Vernunft (nous) verbunden werden. Außerdem wird p. nicht selten unter dem Einfluß kirchl. Lehre vorschnell als ‚Person‘ aufgefaßt. Um letzterem Mißverständnis vorzubeugen, weichen viele exeget. Schriften von der für feststehende Begriffe angebrachten Großschreibung (Heiliger Geist) ab.“ (EWNT 3, 1993, 282). Gerade in Bezug auf „Heiliger Geist“ (was Kremer als Beispiel bringt), werden wir darauf zu sprechen kommen müssen. Grundsätzlich ist sein Hinweis richtig und folglich Behutsamkeit bei jedem Übersetzen walten zu lassen. Zu beherzigen ist auch die folgende wichtige Bemerkung M. Zerwick, Graecitas biblica, 1955, 51f (n.13) angeführt: „Vel si S. Paulus id quod intrinsecus expertus est, cum praedicaret evangelium Thessalonicensibus, describit dicens: ‚nostra ad vos praedicatio non verbis tantum facta est avlla. kai. evn duna,mei kai. evn pneu,mati a`gi,w| kai. ÎevnÐ plhrofori,a| pollh/|( … 1 Th 1,5, omissio articuli in evn pneu,mati a`gi,w videtur admonere, Paulum hic non tam de tertia persona divina loqui, quam de Eius actione, de quodam slc. afflatu divino, quem praedicator expertus est et quem apte ponit in una linea cum du,namij et plhrofori,a quae et ipsae sunt ordinis psychologici et divinitus datae“ mit der Anmerkung: „Simile aliquid dicendum est, ubi Lucas loquitur de ‚Spiritu Sancto‘

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Abschnitt A:

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Beispiel Mt 28,19 durchaus systematisch-streng „trinitarisch“ zu lesen, jedoch ohne damit feststehende Folgerung für alle evtl. so zu verstehen scheinende Text-Aussagen. Für Mt 1,18.20 ergibt sich daher dieser Sachverhalt: Dort liegt, aufs denkbar kürzeste formuliert, ein einziger Aussage-Gehalt vor, ob nun 1,20c als wörtliche Wiederholung von 1,18c oder aber 1,18c als Vorwegnahme von 20c (was manche Kommentatoren behaupten möchten; ob zu Recht?) angesehen wird – die Aussage selbst ist ein und dieselbe (in 20c durch vorgestelltes to. ga.r evn auvth/| gennhqe,n – ein theologisches Passiv – ergänzt bzw. noch näher bestimmt). Der Kontext suggeriert hier, das artikellose evk pneu,matoj a`gi,ou als „aus Gottesgeist“ oder „Gotteskraft“ zu lesen und entsprechend auszulegen. Daß a[gion hier auf Gott  – Jahwe verweist, dürfte unverkennbar sein; wenn auf die alt. Bibeltexte zurückgeschaut wird, wo ruach Jahwe oft im unmittelbaren Kontext mit Jahwe identisch gesetzt ist und Jahwe mit „der Heilige“ als Namen angegeben wird, ist es offenkundig. (Im üblichen theologischen Sprachgebrauch sollte deswegen im Deutschen das kleingeschriebene „heiliger Geist“ gewählt werden, weil faktisch das großgeschriebene „Heiliger Geist“ meist sogleich spezifisch für die so genannte „dritte Person“ der „Trinität“ gilt.) Wir verbleiben auch bewußt bei „Gottesgeist“ oder „Gotteskraft“ als Ein-Wort-Wendung, weil „Gottes Geist“ oder „Gottes Kraft (Macht)“, an sich mögliche Formulierungen, doch vermuten lassen könnte, daß von „zweien“ gesprochen wird: Gott und sein Geist (Kraft, Macht). Das legt jedoch die Formulierungsweise in 1,18.20 im Gesamtkontext des MtEv (und eben auch des AT) keineswegs nahe. Die Wiedergabe von evk pneu,matoj a`gi,ou schlicht mit „aus Gott“ wäre zwar nicht falsch, verkürzt aber doch den tatsächlichen Sinn, der auf seine Weise ungemein offen ist. Auch möchten wir die Wendung evk pneu,matoj a`gi,ou in 1,18c nicht mit „aus dem Wirken des heiligen Geistes“ („geistgewirkt“, wie oft formuliert wird) übersetzen. Denn es besteht für 18c keinerlei Anlaß, das evk mittels eines (wie immer bestimmten) Verbs zu interpretieren und damit ein konkret-bestimmtes Tun (Wirken, Handeln, Agieren o. ä.) zu benennen, weil das die vorliegende Offenheit der Aussage wieder beeinträchtigt. Wir werden in den folgenden Überlegungen zur theologischen Erfassung von Mt 1 erkennen, daß es wichtige Gründe gibt, die Offenheit wirklich gelten zu lassen und auszuwerten. Das ist schon an 1,20c erkennbar, wo das theologische Passiv gennhqe,n mit evn auvth/ und evk pneu,matoj a`gi,ou konstruiert ist, was ein behutsames Feststellen des dort Ausgesagten verlangt (vgl. dazu auch Stellen wie Joh 3,6.8 im dortigen Kontext wie auch in 1 Kor 2,10ff und 1 Joh 4,2). Insgesamt gesehen, bleiben wir daher bei unserer Wiedergabe „aus Gottesgeist“ oder „aus Gottesmacht“, das die rechte, reichere Auswertung und Entfaltung der Grundaussage ja nicht nur nicht verhindert, sondern als dringlich anregt.46 sine articulo e. g. 1,15.35.41.67; 2,25 (ubi sequitur bis pneu/ma cum articulo anaphorico v. 26.27) etc. „. S. dort auch die Nummern 136 und 137. 46 Dazu noch diese zusammenfassende Bemerkung: Aufs Ganze gesehen besagt artikelloses pneu/ma a[gion in den aufgewiesenen Stellen im NT oft das, was im Deutschen am besten mit „göttliches Leben“, „göttliche Macht“, „göttliche Wirkmacht“ u. ä. wiederzugeben ist, weil „Geist“ im Deut-

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II.

Zur theologischen Erfassung von Mt 1

b) Die Verse Mt 1,19–21

Der Vers 1,19 muß in unmittelbarer Weiterführung dessen gelesen und verstanden werden, was 1,18–25 als „Fußnote“, d. h. Erklärung zu 1,16 sagen will, wobei 1,18 als erster Satz steht, aber nicht für sich allein betrachtet werden darf. Dasselbe gilt für 1,19 (und die weiteren Verse). Zum rechten Verständnis der Weise, wie im folgenden der Mt-Text tatsächlich auf seinen eigenen theologischen Aussage-Inhalt hin gelesen, befragt, verstanden und ausgebreitet wird, muß vorweg ein Einblick in die ungewöhnliche Vielfalt des faktischen Verstehens von 1,18–25, und darin besonders des Verses 19 geboten werden; andernfalls würde es als ungebührliche Distanzierung von der Darbietungsweise der exegetischen Fachliteratur wie deren selbstverständlich überschen ein bedeutend engeres Sinnfeld zur Sprache bringt als pneu/ma im Griechischen bzw. x:Wr im Hebräischen. Es kann auch einfach „Gottes Geist“ in unspezifisch offenem Sinn bedeuten. Das gilt auch, wenn to. pneu/ma to. a[gion in einem betreffenden Kontext schlicht „Gott selbst“ mit/in seinem göttlichen Leben bzw. als Lebensgabe an die Glaubenden benennt (vgl. die Texte im Exkurs). Das dürfte auch der Grund sein, weswegen Mt 1,18.20 sehr oft ausdrücklich als „der Heilige Geist“ =  3. göttl. Person verstanden und dann auch nachdrücklich vertreten wird (s. dazu die Zitate aus den Kommentaren, die wir gebracht haben). Im Deutschen kann man den Varianten Bedeutungsnuancen von pneu/ma a[gion bzw. to. pneu/ma to. a[gion durch eine bestimmte Schreibweise gerecht werden (die freilich nicht vorgeschrieben worden ist, etwa durch ekklesiale Verabredung). Immer dann, wenn prononciert „der Heilige Geist“ namentlich die „dritte Person in der Trinität“ ansprechen soll, wäre prinzipiell der (deutsche) Artikel zu setzen und zugleich das „heilig“ prinzipiell groß zu schreiben. Ist er nicht gemeint, dann wäre die Kleinschreibung von „heilig“ die richtigere, weil deutlichere. Dasselbe gilt für die Setzung des Artikels, die bei der Wiedergabe von einfachem pneu/ma a[gion prinzipiell wegzulassen wäre. Gleichzeitig sollte um der Eindeutigkeit willen der Artikel vermieden werden (was nicht in allen Fällen gelingen wird). Das gilt z. B. gerade für Mt 1,18.20, die wir hier betrachten, aber auch für Lk 1,35, wo gleichsam im selben Sachverhalt zwei Sätze begegnen (offenbar in sogenanntem Parallelismus membrorum gemäß der biblischen Sprache): pneu/ma a[gion und du,namij u`yi,stou. Beide Wendungen sollten im Deutschen bewußt ohne Artikel wiedergegeben werden, um der Aussage im LkEv möglichst genau gerecht zu werden. In allen Fällen ist am jeweils zur Sprache stehenden Ort genau zuzusehen, wie das dort ausdrücklich Gemeinte schon in der Übersetzung deutlichst übertragen werden kann (und also nicht erst ein Kommentar den Sachverhalt aufschließen müßte). In Klammern sei hier auf das nicht ganz unähnliche Problem aufmerksam gemacht, das dadurch heraufbeschworen wird, daß die Nicht-Setzung des Artikels im Deutschen durch den unbestimmten Artikel „ein; eine; …“ wiedergegeben wird (das Griechische und Hebräische kennen gar keinen unbestimmten Artikel). Ob damit jeder Textaussage (zumal in der Bibel) wirklich gerecht getan wird, ist oft zu fragen. Das gilt ja gerade auch für Mt 1,23.25: dort steht artikellos „Sohn“ (die Vulgata gibt es mit „filium suum“ wieder) und wird oft übersetzt mit „einen Sohn“, obwohl es sich hier doch wirklich um einen ganz bestimmten handelt. Das werden wir noch zu besprechen haben. Mit diesen Bemerkungen und Anregungen ist allerdings der faktischen Fixierung von „heiliger Geist“ auf die (nochmals sei die wenig achtungsvolle Formel verwendet) „dritte göttliche Person“ im strengen Sinn noch keine wirkungsvolle Absage bereitet. Für unsere Stelle Mt 1,18.20 könnte aber durch die behutsame und doch eindeutig richtigere Übersetzungsweise erreicht werden, daß die Auslegung und Kommentierung der Stelle von Anfang an den richtigen Weg nehmen und Abwegiges gar nicht erst in Erwägung gezogen würde. Dazu siehe die weiteren Klärungen im Haupttext.

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Abschnitt A:

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nommenen Äußerungen in Theologie und Verkündigung erscheinen, daß wir prinzipiell anders vorzugehen beabsichtigen. Es muß zuvor eine Rechtfertigung dieser Art unseres Umgangs mit dem Text des MtEv angeboten werden, der man folgen oder sie auch zurückweisen kann, wenn man dazu glaubt hinreichende Gründe zu haben. Aufgrund der recht unterschiedlichen Auffassung der Textaussage 1,18 ergibt sich wie von selbst ein jeweils gänzlich verschiedenes Verstehen und Werten der Aussagen von 1,19 (und der weiteren dort). Wer in 1,18 ge,nesij als „Geburt“ meint verstehen zu sollen, sieht alles Folgende unter diesem vorgefaßten Blickwinkel. Wer 1,18c nicht als eine, vom Evangelisten als ganze gemeinte Aussage liest, vielmehr das eu`re,qh evn gastri. e;cousa zunächst allein gelten läßt und als rätselhafte Schwangerschaft Marias wertet, die von einer „Verlobten“ ausgesagt ist, wobei Josef sogleich immer als Nicht-gezeugt-Habender des Kindes mit-behauptet feststehe, und die Auskunft evk pneu,matoj a`gi,ou als vom Autor für den Leser des MtEv bestimmte, also als einen Einschub im Text seitens des Evangelisten betrachtet, da Josef ja erst in 1,20 durch den Engel des Herrn aufgeklärt würde, der beurteilt den ganzen Vers 19 total anders als es der Mt-Text selbst, wie zu zeigen ist, beabsichtigt. Dementsprechend werden dann auch die entscheidenden, in sich biblisch gut verstehbaren und sachgerechten Wörter und Begriffe in dieser gänzlich anderen Blickweise verstanden und ausgewertet. Das gilt tatsächlich für alle entscheidenden Wendungen in 1,19; wir werden darauf zu sprechen kommen müssen.47 Weil wir keine kommentarmäßige exegetische Darstellung der Aussagen von Mt in Zusammenstellungen auch der unterschiedlichen Auffassungen der Autoren, sondern schlicht den Text selbst sprechen lassen wollen (die Erklärung dafür haben wir mehrmals vorgebracht), deswegen brauchen wir hier auch keinen Überblick aller Sentenzen zu bringen. Nur am gegebenen Ort sollen dazu rechtfertigende Gründe genannt werden. In den Anmerkungen werden hinreichend Beispiele beigegeben; alle Behauptungen, sich von ihnen distanzierend, aufzuführen, erlaubt der Platz unserer Untersuchung nicht. Der Vers 19 bringt, im direkten Anschluß an 1,18 im Sinne der Absicht der Erklärung der zunächst ja sehr frag-würdig anmutenden Aussage in 1,16 (welche Erklärung sich ja längst als äußerst kurz formuliert erwiesen hat), mehreres zur Sprache, das biblisch-theologisch Wichtiges ansagt. Der Vers lautet: VIwsh.f de. o` avnh.r auvth/j( di,kaioj 47 Textbeispiele aus den Kommentaren, an denen das Problem der rechten Übersetzung und des

dementsprechenden Verständnisses der Aussagen in 1,19–21 klar zu erkennen ist, im einzelnen hier aufzuweisen, erlaubt der begrenzte Platz nicht. Andererseits muß für den Leser hinreichend deutlich werden, welche Positionen uns eindeutig als nicht annehmbar erscheinen und warum wir folglich die eigene Einsicht dagegensetzen. Um dem Leser die unmittelbare Möglichkeit zu bieten, wichtige Beispiele einsehen zu können (was uns als unerläßlich erscheint), bringen wir im Anhang II eine entsprechende Auswahl von Texten bei, und zwar solche für das tatsächlich bekundete Verständnis von Mt 1 überhaupt, dann solche, die sich spezifisch mit Mt 1,19–21 auseinandersetzen. Wir selbst betrachten jetzt strikt nur das, was als Text und als seine eigenen Aussageabsicht seitens des Evangelisten Matthäus bei unvoreingenommener Lesung erkennbar ist, mit dem Ziel, das rechte Grundverständnis zu erlangen.

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II.

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w'n kai. mh. qe,lwn auvth.n deigmati,sai( evboulh,qh la,qra| avpolu/sai auvth,n. Wir haben uns aus oben offengelegtem Grund für diese Übersetzung entschieden: „Josef aber, ihr Ehemann, war ein Gerechter (Gottesfürchtiger) und wollte sie nicht der (achtungslosen) Öffentlichkeit aussetzen, so gedachte (erwog) er, sie im stillen zu entlassen (aus der gemeinsam eingegangenen ehelichen Rechtsbindung freizugeben)“. „Josef “ ist hier klar als der in 1,16 genannte Ehemann Marias, dazu in seiner augenblicklichen Lebenssituation (verehelicht, das gemeinsame Eheleben gemäß dem damaligen jüdischen Recht aber noch nicht aufgenommen habend: 1,18), angesprochen. Und, eben wegen der unmittelbar auf 18c folgenden Ansage, von dem betroffen, was 18c sagt: „Maria hatte (trug) im Schoße aus Gottesgeist“. Er wird damit klar als einer benannt, auf den das eu`re,qh (selbst als Passiv ja ohne Angabe eines aktiven Subjekts, das den „Befund“ gemacht hat) zutrifft, dem also, wie und woher auch immer, zur Kenntnis gekommen war, was 18c als „Befund“ angibt; davon ist er betroffen. Er „reagiert“ als Gottesfürchtiger, d. h. als von Gott (Göttlichem) Angerührter; so jedenfalls die klare Aussage des Matthäus. Dies „Reagieren“ als Gerechter (welcher Ausdruck für sich allein ja bedeutungsoffen ist) wird durch das mh. qe,lwn auvth.n deigmati,sai näher bestimmt.48 Als erstes wird angegeben, was er nicht will. Das wird mit einem im NT nur zweimal begegnenden Ausdruck bezeichnet: deigmati,sai, dessen Bedeutung heftig diskutiert wird, wenn nicht von vornherein in ungerechtfertigtem Sinn verstanden und ausgewertet.49 Unvoreingenommen durch Mißdeutungen des in 1,18 Ausgesag48 Es sind zwei Partizipial-Aussagen, die durch kai. miteinander verbunden Josefs Bestimmtheit in

seiner momentanen Situation angeben. Diese kai.-Konstruktion darf keineswegs mißverstanden werden, so als ob der erste Teil die Begründung für den zweiten hergeben würde: weil Josef gerecht war, wollte er sie entlassen (wie viele Autoren es wie selbstverständlich formulieren; s. die vorgelegten Beispiele). Es sind vielmehr, wenn man hier zählen möchte, zwei Angaben: Josef wird als Gottesfürchtiger benannt, der er in seiner Grundhaltung ist, und als solcher in dieser momentanen Situation des Zur-Kenntnis-genommen Habens, was 1,18 angibt, erwägt (1,21), was er tun zu müssen spürt. Es ist ja zunächst nur ein Bedenken, noch kein fest-gefaßter Entschluß (s. 1,21). 49 Das Wort deigmati,zw steht im NT nur in Mt 1,19 und in Kol 2,15. Sein rechtes Verständnis ist offenbar nicht leicht zu gewinnen. G. Schneider bringt in EWNT I.671 diese kurze Formulierung: „deigmati,zw bloßstellen. Nach Mt 1,19 wollte Josef Maria nicht bloßstellen, der Schande preisgeben. Kol 2,15 von Gott, der die Gewalten und Mächte … entwaffnete und öffentlich zum Spott machte, der Schande preisgab“. ThWNT II 31f; E. Lohse, Kol (KEK) 166f.“. Bauer, Wörterbuch 342 bringt es differenzierter: „deigmati,zw (… Aor. 1 evdeigma,tisa, bloßstellen, der allgem. Verachtung preisgeben ti,na jmdn. (…) e. Frau Mt 1,19 (z. Zurschaustellung d. Ehebrecherin vgl. Heraclides (…). z. Spott machen Kol 2,15“. – Schlier schreibt in ThWNT II 31f.: deigmati,zw: „… ist ein sehr seltenes Wort und bedeutet ausstellen, in die Öffentlichkeit bringen; in der Öffentlichkeit aufzeigen, und zwar etwas, was sich verbergen will oder muß, so daß es fast bloßstellen wird … Im NT ist Mt 1,19: mh. qe,lwn auvth.n deigmati,sai klar. Joseph wollte Maria nicht der Anzeige beim Gerichtshof in die Öffentlichkeit bringen und bloßstellen, wie denn auch (einige Varianten werden genannt: R.S:) paradeigmati,zein statt des Simplex lesen. In Kol 2,15: … (Zitat) der Öffentlichkeit vorzeigen, zur Schau stellen,… durch die öffentliche Darstellung der entkleideten Mächte vor dem Kosmos vor oder wahrscheinlich im Triumphzug des Siegers …“. Bei allen hier zitierten Autoren wird für Mt 1,19 ohne jede nähere Begründung oder Erklärung von der Zurschaustellung einer Ehebre-

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ten und in der Anerkenntnis der unmittelbar folgenden Feststellungen des Matthäus – Josef „reagiert“ auf die Kenntnisnahme von evn gastri. e;cousa evk pneu,matoj a`gi,ou als Gottesfürchtiger – dürfte das, was als sein Nicht-Wollen als erstes angesagt ist, so zu verstehen sein: Josef ist nicht willens, Maria genau als die Göttliches-imSchoße-Tragende der Öffentlichkeit auszuliefern. Wenn 1,18 wirklich als ein von Matthäus bewußt formulierter Satz ganz und in sich verständlich gelesen wird, bezweckt sein Nicht-Wollen das In-Hochachtung-Halten dessen, was für ihn als Faktum vorgegeben war. Auch für 1,19 haben wir zu beachten, daß es der Text ist, den Matthäus bewußt (und nach Meinung des Exegeten auch selbst) formuliert hat, und nicht zu fragen, was Josef damals – historisch feststellbar – empfunden, gedacht und gewollt hat, sondern das zu erheben zu trachten, was Matthäus hier hat am Text ablesbar zu erkennen geben wollen und gegeben hat. Daß bei einer solchen Lesung des Textes auch faktisch oder vermeintlich Unabwägbares oder Unentscheidbares am Text sichtbar wird, muß sinnvoll niemanden irritieren, der jahrtausendalte Texte, zumal fremder Sprache, zu lesen und zu verstehen weiß. Nach der Aussage über das Nicht-Wollen des Josef wird sogleich die Ansage dessen angeschlossen, was Josef tatsächlich seinerseits zu tun erwog: evboulh,qh la,qra| avpolu/sai auvth,n – er wollte sie im stillen entlassen. Dies ist im unmittelbaren Kontext durch 1,20 noch genauer bestimmt, wo der Bote des Herrn sich ja genau auf dieses „Wollen“ bezieht: Josef scheute sich, seine Ehefrau zu sich zu nehmen. Damit ist auf die Aussage 1,18 zurückgegriffen, wo die Verehelichung und das Noch-nicht-zusammengekommen-Sein der jungen Eheleute (s. o.) angesagt wurde. Diesen Akt des ehelichen Zusammenkommmens (der ja durch den Ehevertrag von beiden nach damaligem Rechtsbrauch klar intendiert war) auszuführen, scheut sich Josef, aus dem in 1,19 angegebenen Grund: Hochachtung vor dem Gott-gesetzten Faktum, vor dem, was in Maria heilige Wirklichkeit war. Den Akt des Zusammenkommens nicht vollziehen, heißt aber, den Ehevertrag auflösen, d. h. die Ehefrau freigeben. So ist offensichtlich, dem Text gemäß, das Vorhaben Josefs zu verstehen: er will Maria nicht der Öffentlichkeit aussetzen, sondern sie freigeben aus dem gemeinsam eingegangenen Ehevertrag. Dieses will er zudem la,qra| – „im stillen“ vollziehen.50 Dazu bringt ja 1,20 sogleich eine entsprechende Verdeutlichung. Dieser cherin gesprochen, auf Maria bezogen. Das heißt: Alle verstehen 1,18 ohne jede Erklärung im für sich allein genommenen Versteil evn gastri. e;cousa als „schwanger sein“, und zwar aufgrund einer jedenfalls von Josef vermuteten Verfehlung. Wir werden auf diese sog. Verdachtshypothese noch zu sprechen kommen, wenngleich wir sie als schlicht unberechtigt, um so mehr unbegründet ansehen und sie deswegen gar nicht weiter vorstellen oder diskutieren; s. dazu am gegebenen Ort. Der Text 1,18 mit 19–21 gibt schlechthin keinen Anlaß, das zu diskutieren – freilich, wenn er nicht vor-urteilsvoll, sondern als er selbst gelesen und verstanden wird. – Zur Intention des Josef, Maria freizugeben, vgl. den reichen Aufschluß gebenden Artikel von J. M. Ford, Mary’s Virginitas PostPartum and Jewish Law, Bib 54 (1973) 269–272. Auf ihn kommen wir in Bezug auf Mt 1,24–25 zu sprechen. S. d. 50 Der griechische Ausdruck la,qra| wird meist mit „heimlich“ wiedergegeben; so Bauer 914f. An den 4 Stellen im NT wird la,qra| in der Vulgata mit „occulte“ Mt 1,19; Apg 16,37 (dhmosi,a| – pu-

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II.

Zur theologischen Erfassung von Mt 1

Vers lautet: tau/ta de. auvtou/ evnqumhqe,ntoj ivdou. a;ggeloj kuri,ou katV o;nar evfa,nh auvtw/| le,gwn\ VIwsh.f ui`o.j Daui,d( mh. fobhqh/|j paralabei/n Mari,an th.n gunai/ka, sou\ to. ga.r evn auvth/| gennhqe.n evk pneu,mato,j evstin a`gi,ou – „Als er das alles bedachte (im Herzen zu tun erwog), siehe, da erschien ihm im Traum (der) Bote (des) Herrn, der sprach: Josef, Sohn Davids, scheue (fürchte) dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen, weil das in ihr Gezeugte aus heiligem Geist ist“. Dieser Vers wird in den meisten Fällen, weil mißverstanden, unkorrekt, ja falsch übersetzt und folglich falsch verstanden und ausgelegt.51 Mit „als er das alles bedachte“ ist unverkennbar das angesprochen, was 1,18.19 aussagen (auch das richtig gelesen). Josef erwog zwar, Maria freizugeben, hatte es aber noch nicht getan. Diesem Josef gilt der Aufruf „Fürchte (scheue) dich nicht!“, in der Schrift oft von Jahwe selbst wie von seinen Beauftragten so formuliert. Da ist dieses „Fürchten“ nie als unangebracht oder gar gottwidrig aufgefaßt, sondern als das, was zumal im Deutschen „Gottesfurcht“ und „Ehrfurcht“ meint. Diese Furcht hat nichts mit Schrecken oder Erschrecken zu tun; sie wird nicht als gänzlich unbegründet erklärt, vielmehr wird dem Aufgerufenen eine „Stimmung“, d. h. Empfindungs- und Gefühlsrichtung in der betreffenden Situation angeboten und angeraten. So in Mt 1,20: Der „Bote des Herrn“, d. h. letztlich Jahwe selbst, „erschien dem Josef im Traum“. Alle drei Satzelemente sind hier genau zu lesen und auszulegen: „Bote des Herrn“, „erschien“ und „im Traum“. Die Wendung: „Der Bote des Herrn (erschien und sprach)“ begegnet im NT wie der gesamten Bibel sehr oft; es ist von Jahwe selbst die Rede.52 Der Satzteil „erschien dem Josef im Traum“ verlangt das rechte Verständblic“ gegenüber), „clam“ (Mt 2,7) und „silentio“ (Joh 11,28) übersetzt (Joh 11,8: „Martha abiit et vocavit Mariam sororem suam silentio dicens: Magister adest et vocat te“). Die Übertragung mit „heimlich“ könnte an „geheim halten; verheimlichen“ denken lassen (was seitens der Vertreter der Verdachtshypothese – Josef vermutet die Tat des Ehebruchs – auch vertreten wird), also eher „verschweigen“ suggerieren. Besser ist daher „im verborgenen; ohne Aufsehen, ohne Zeugen“ oder eben „im stillen“, was ja auch für die anderen Stellen des NT seitens der Vulgata empfohlen ist und der Kontext in Mt 1 nahelegt. Zur Klärung und weiteren Begründung des gerade Vorgestellten sei auf den Anhang II verwiesen, wo wir Textbeispiele aus Kommentaren zusammenstellen und sie in diese unsere Besprechung einbeziehen; s. d. 51 Vgl. dazu das im Kapitel zur Übersetzung zu 1,20 Gesagte. 52 Wir geben hier a;ggeloj kuri,ou bewußt und ausdrücklich mit „Bote des Herrn“ wieder, weil das allein die biblische Bedeutung sachlich richtig ansagt. Die deutsche Wendung „Engel“ ist ja ein Lehnwort, aus „a;ggeloj – angelus“ gebildet. Doch ist damit unglücklicherweise faktisch eine Sachbezeichnung gefaßt, die für den biblischen Gebrauch (hA'hy> %a;l.m;; a;ggeloj kuri,ou; angelus Domini) das Gemeinte verdunkelt, ja verfälscht. Für das Hebräische wie Griechische der Bibel ist die einzig richtige Übersetzung „Bote, Gesandter, Abgesandter“ und von daher bei entsprechender Gelegenheit „Sprecher Jahwes“. Welcher „Natur“, d. h. welchen „Wesens“ und „Seins“, physisch oder metaphysisch betrachtet, dieser „Bote Jahwes“ ist, wird in der Bibel nicht reflektiert. Vielmehr begegnet an vielen derartigen Stellen der Ausdruck „Bote Jahwes“ sogar als Jahwe selbst, wenngleich in ganz eigen-artiger Unterscheidung, die eher Identität (nicht metaphysischen Sinnes) ansagt. Ein Musterbeispiel dafür ist Gen 22. Das Wort „Engel“ hat im Deutschen faktisch eine Bedeutung, die ein Verständnis sogenannter Geistwesen suggeriert (reine Geister ohne Körper; sie sind „spiritus puri“), was an etwas ganz anderes denken läßt als an das, was „hA'hy> %a;l.m; (~yhil{a/)“ im tatsächlichen

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Abschnitt A:

Mt 1 — Der Text, seine Übersetzung und die theologische Erfassung seiner Aussagen

nis dessen, was in der Bibel häufig mit „Erscheinen“ angesagt wird. Wir brauchen hier die Problematik des Begriffs und Verständnisses von „erscheinen“ nicht zu besprechen; es sei auf die einschlägigen Lexika-Artikel verwiesen wie „Erscheinungen“, „Epiphanien“, „Auditionen“ und „Visionen“ u. ä., Hier genügt es, den Kern dessen zu beachten, was hinreichend allgemeines theologisches Wissensgut dazu zu sagen hat.53 Daher gehen wir sogleich zur Wendung „erschien im Traum“, weil dazu in den Kommentaren sehr unterschiedliche Bemerkungen gemacht werden, die für das rechte Verstehen von Mt 1,20–23 hinreichende Klärung verlangen. Oft wird nämlich „erschien im Traum“ mit „er träumte“ wiedergegeben; es wird vom Traum Josefs gesprochen, den er hatte. Es wird das, was der Text als Sachaussage vorlegt („ihm erschien im Traum der Bote des Herrn, der sprach..: „) als das angesehen, was Josef geträumt hat. Genau das sagt der Text nicht. Der Text 1,20 gibt nicht den Inhalt eines Traumes wieder; auch wird kein Traum-Geschehen oder Traum-Erlebnis berichtet. Als Beispiel für diese die Textaussage verzeichnende, gar verzerrende Auslegung kann der Satz zu 1,20 bei Luz dienen: „Josef hat einen Traum; im Traum erscheint ihm ein Engel. Der Traum ist in der ganzen Bibel ein Mittel des Offenbarungsempfangs. Die Engelerscheinung wird nicht beschrieben; es fällt alles Gewicht auf die Botschaft …“ (148).54 Der Traum wird als Offenbarungsmittel verstanden, sogar als „Mittel des OfGebrauch in der Bibel damit zur Sprache bringt. Wir bringen für a;ggeloj kuri,ou des matthäischen Textes, das eindeutig das hebräische hA'hy> %a;l.m; aufgreift, einen besonderen Exkurs, in dem ausführlich die Problematik der rechten Übersetzung and des dementsprechend richtigen Verständnisses von hA'hy> %a;l.m; besprochen wird. Denn das erscheint im Anblick der faktisch gegebenen Kommentar-Aussagen dringlich (s. die angefügten Text-Beispiele), um die matthäische Aussage in 1,20 überhaupt sachlich richtig zu verstehen und zu werten. 53 Zu einer ersten Orientierung sei auf die Lexika-Aussagen verwiesen, die hinreichende Auskunft geben über die theologischen Positionen im Verständnis von „erscheinen“ wie auch deren jeweilige Problematik. Diese zu lösen, ist hier nicht die Aufgabe und ist nicht intendiert. Tatsächlich ist ja für jede einzelne Bibelstelle, wo irgendwie von „erscheinen“ u. ä. gesprochen wird, zu erheben, was mit ihm dort gemeint ist und zur Sprache kommt. Die Bedeutungsvielfalt dieses „Erscheinens“ ist zu groß, um einen allgemein geltenden Bedeutungsgehalt angeben zu können. Dazu s. die Angaben im Exkurs I. 9 „Traum – Erscheinen – Offenbarung“. 54 Es seien einige Beispiele aufgeführt, um aufzuweisen, eine welche Vielfalt der Auslegungen dieses kurzen Passus vorliegen. Bei Luck lesen wir dies: „Die Konkurrenz zwischen leiblicher und rechtlicher Vaterschaft wird gelöst dadurch, daß Joseph als ein ‚Gerechter‘ bezeichnet wird (19). … Andererseits greift Gott selbst durch einen Engel in das Geschehen ein. Solche Engelerscheinungen, Engelstimmen oder Traumvisionen sind im Judentum ein Weg zur Lösung von Fragen, die aus der Erfahrung der Welt selbst nicht zu beantworten sind. Sie treten in der Vorgeschichte des Matthäusevangeliums (Kap. 1 und 2) ebenso wie in der Vorgeschichte des Lukasevangeliums (Kap. 1 und 2) mehrfach auf …“ (23; zu fragen ist, ob nicht schon in 1,18 Gott als „Eingreifender“ genannt ist, dazu: was meint „Gott greift durch einen Engel ein“?). – Sand schreibt zu 1,20.24: „Im Traum ergeht eine Weisung Gottes an Josef. Der Traum (V. 25 spricht allgemeiner vom Schlaf) als Mittel der göttlichen Unterweisung findet sich im NT nur bei Mt (1,20; 2,12.13.19.22; 29,19: Traum der Frau des Pilatus), und zwar immer in der Redensart katV o;nar: im Traum. Die Zurückhaltung gegenüber dem Traum-Thema zeigt sich in dem seltenen Vorkommen, vor allem in der Tatsache, daß Traumdeutungen völlig fehlen. … vormat. Tradition vorliegen, in welcher der Traum als Ver-

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fenbarungsempfanges“, und das der ganzen Bibel zugeschrieben. Hier ist nicht der Ort, das so zu diskutieren, wie es der Ernst der Sache fordert. Es soll in einem Exkurs geschehen, in dem auch die Frage zu besprechen ist, ob man in diesem Text wie in entsprechenden anderen überhaupt von „Offenbarung“ sprechen kann.55 Wir verbleiben bei der schlichten Wiedergabe der matthäischen Textaussage, die hinreichend deutlich spricht, und wenden uns dem zu, was der Bote des Herrn dem Josef zuspricht. Im Abschnitt zur rechten Übersetzung haben wir gesehen, daß 1,20 am deutlichsten, etwas paraphrasierend, aber der Sache nach richtig so wiederzugeben ist: „Josef, Sohn Davids, du fürchtest (scheust) dich, Maria, deine Ehefrau, zu dir zu nehmen, weil (da) das in ihr Gezeugte aus heiligem Geist ist. Tue es nicht! (Deine Gottesfurcht hat ihre volle Berechtigung!). Denn Gott will, daß du dieses in Maria seiende Gottgezeugte, wenn es geboren sein wird, zum Sohn Davids werden läßt (durch den in Israel allgemein vorgesehenen und ausgeübten Rechtsakt der Namengebung als Erklärung des rechtsverbindlichen Kindseins (Sohn-, Tochterseins) des Geborenen seitens des Familienhauptes (Vaters). Denn er, dieser noch von Maria Getragene, wird das sein, was du ihm als Namen zusprechen sollst: Jesus – Jahwe rettet. Der soll ja, gemäß Gottes eigener Verheißung, aus dem Hause Davids kommen. Durch diese Weise, 1,20 wiederzugeben, ist das folgende de. in 1,21 eindeutig bestimmt! Es steht nicht im Gegensatz zu ga.r, sondern zielt (man beachte die ganz offene Bedeutung mittlung von Offenbarung eine Rolle spielte. Doch ist der eigentliche Offenbarungs-‚träger‘ ein Engel des Herrn (Herr ist hier Gott, der Herr)… Traumoffenbarungen …“. In diesem Text finden sich zahlreiche widersprüchliche Aussagen: Zu Anfang wird richtig gesagt: „im Traum ergeht eine Weisung Gottes an Josef “; dann: „der Traum als Mittel der göttlichen Unterweisung“ (die ja wohl nicht „Offenbarung“ genannt werden kann). Dann wird vom Traum-Thema gesprochen (wo begegnet das im MtEv?), von Traumdeutungen, ja vom „Traum als Vermittlung von Offenbarung“ und vom „Offenbarungs-‘träger‘“ (was sollen die Anführungszeichen andeuten?). Matthäus selbst hat alles viel schlichter und, vor allem, verständlich ausgesagt! – Es soll hier auch noch auf folgendes aufmerksam gemacht werden: In der Auslegung von Mt 1,18–25 ist vielfach von Offenbarung Gottes die Rede, vor allem in bezug auf das Wort des Boten des Herrn an Josef. Wenn das Wort und der theologisch gefaßte Begriff „Offenbarung“ nicht schlicht und grundsätzlich für alles eingesetzt werden soll, was wie auch immer von Gott her biblisch-theologisch als sein Wort (welcher Art auch immer) zu gelten hat, dann ist hier entschieden größere Sorgfalt des Denkens und Redens einzusetzen. In unserem Zusammenhang der Erfassung von 1,18–25 muß jedenfalls dies festgestellt und beachtet bleiben: Kein (Teil)Satz kann rechtens mit „Offenbarung“ bezeichnet werden. Vers 18c kann deswegen nicht so genannt werden, weil es eine Fakten-angabe ist (das, was „sich fand“), und nicht ein aufklären wollender Offenbarungssatz. Was in 1,20 als Wort (einzelne Satzteile) des Boten des Herrn tatsächlich und deutlich erkennbar angegeben wird, ist zunächst ein Weisungswort, auf nach-denkliches Erwägen Josefs bezogen. Es folgt dort die futurische Ansage (keine Geburtsankündigung!) des Sohn-Gebärens der Maria, dies aber als Faktenansage für den Auftrag der Namengebung. Nichts von alle dem kann sinnvoll als „Offenbarung“ bezeichnet werden. Wir werden dem im Exkurs zu „Traum, Erscheinung, Offenbarung“ intensiver nachzugehen haben. 55 Vgl. dazu den Exkurs „Traum – Erscheinung – Offenbarung“ im Anhang I.13.

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von de, im allgemeinen und gerade auch im MtEv) auf die dem Josef aufgetragene Tat als „Sohn David“ in der in 1,1–17 vorgestellten Genealogie: Statt sich zu scheuen, Maria (und das „in ihr Gezeugte aus heiligem Geist“) aufzunehmen, und zwar genau als der Ehemann dieser Maria, soll er das tun, mit allen im Text mit-ausgesagten Folge-Aufträgen. Der Vers 1,21 gehört noch in das (eine) Wort des Boten Jahwes und ist daher streng mit 1,20 (und auch dem dort Vorausgehenden) in eins zu lesen. Der Text lautet: te,xetai de. ui`o,n( kai. kale,seij to. o;noma auvtou/ VIhsou/n\ auvto.j ga.r sw,sei to.n lao.n auvtou/ avpo. tw/n a`martiw/n auvtw/n – „Sie wird nämlich (den) Sohn gebären und du wirst (sollst) seinen Namen JESUS nennen. Denn er wird sein Volk von ihren Sünden retten“. Wir geben de, schlicht mit „ja“ oder „nämlich“ wieder. Es bezieht sich ja auf das bestätigende ga,r in 1,20, also auf das, was der Grund für die Scheu Josefs war, seine Ehefrau in diesem ihrem von Gott herrührenden „Befinden“ (1,18) heimzuführen. So bezieht es sich auf das zwar negativ formulierte („scheue dich nicht …“), jetzt jedoch positiv suggerierte, von Josef zunächst nicht beabsichtigte Tun, gemäß und im Sinne des Botenauftrags. Maria wird ja den Sohn gebären, der „aus heiligem Geist“, also „aus Gott“ ist, was/wer er ist und folglich als Auftrag seines Lebens haben und erfüllen wird. Maria soll diesen Sohn als deine Ehefrau (die sie ja rechtens ist und von Gott geachtet ist und bleibt) gebären, dem du als ihr Ehemann den gottbestimmten Namen geben sollst (Namengebung war im Falle eines jeden Kindes der vorgeschriebene religiös-rechtliche Ritus, durch den es religiös-rechtliche Aufnahme in die Familie erlangte, die durch Zeugung und Geburt allein noch nicht rechtskräftig gewirkt war).56 Damit ist zugleich eine vertiefte Einsicht in den Aussage-Gehalt von 1,18c und 1,20 gegeben. Jetzt wird ja sichtbar, was/wer eigentlich mit „im Schoße habend aus heiligem Geist“ (das ja kein Objekt des Habens nennt) in 1,18 namen-los angesagt erscheint und in 1,20.21 deutlich und in 1,23 vollends offenbar wird: in den Namen JESUS und IMMANUEL. Ihn „hatte Maria im Schoß“. Das ist übrigens der Grund, warum wir in unserer Übersetzung von 1,18 das „(Maria) fand sich im Schoße habend aus heiligem Geist“ griechisch-wörtlich beibehalten haben, wenngleich im Deutschen zunächst ungewohnt klingend. Mit der Variante „schwanger aus heiligem Geist“ wird der Blick zu sehr auf Maria gerichtet, auf ihren Zustand, der ja durchaus rechtens bei nach-denklichem Lesen zu folgern ist, aber die Nuance in der Aussage 1,18 verdeckt. Auch die Artikellosigkeit von ui`o,j in 1,21 hält noch offen, wessen „Sohn“ dieser nun genau ist: der „Sohn“ der Maria?, Gottes?, Josefs?, Davids? – oder vielleicht, ja, eines jeden der Genannten je auf besondere Weise? Die Artikellosigkeit im Deutschen immer durch den unbestimmten Artikel „ein, eine, eines“ aufzufüllen, ist zwar gängige Methode, kann aber die faktisch angezielte Aussage z. B. in der griechischen (wie hebräischen) Sprache verwässern und sogar verfehlen. (Vgl. dazu u. a. den Exkurs zu „Heiliger Geist“.) Der Grund für die Artikellosigkeit von ui`o,j in 1,21 56 Vgl. dazu das im Exkurs „Zum jüdischen Ehe- und Familienrecht“ Vorgelegte.

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II.

Zur theologischen Erfassung von Mt 1

mag am Wortlaut von Jes 7,14 (in 1,23 als sog. Erfüllungszitat gesetzt) im Hebräischen wie in der LXX liegen, wo auch kein Artikel steht. Das erlaubt aber gerade nicht, diese Artikellosigkeit sowohl in Jes 7 wie in Mt 1,21 und 23 unbeachtet zu übergehen. In Jes 7 ist ja auch, wie die Exegeten herausstellen, nicht zu erkennen, wer genau mit der „hm'l.[; – Jungfrau“ gemeint ist, noch wer eigentlich der dort angesagte Immanuel ist; das AT selbst gibt (noch) keine Antwort auf unsere Frage.57 Der Text in 1,21 läßt aber im Kontext doch deutlich genug erkennen, was hier letztlich von Matthäus selbst gemeint ist: Das, was zunächst namenlos als das genannt ist, was Maria „im Schoße habend aus heiligem Geist“ (wir belassen hier auch absichtlich die Wortfolge dieses Passus) und das in 1,21 schon deutlicher mit to. evn auvth/| gennhqe,n bezeichnet ist, das ist der zunächst noch immer offen „Sohn“ Genannte, dem Josef selbst, der „Sohn Davids“ und der Ehemann dieser Maria ist, den gott-bestimmten Namen geben soll (wobei die Namengebung des Kindes ja die Aufgabe des Familienvaters war). Und es wird vom Boten des Herrn ausdrücklich die Verleihung dieses Namens begründet: Dieser ist der und wird vollbringen, was sein Name sagt: JESUS – Jahwe rettet sein Volk von ihren Sünden. Wir werden noch ausführlich darauf zurückkommen, daß in diesem Namen, der ja ein Aussage-Satz ist, jedes einzelne in ihm gegebene Wort – Jahwe, rettet/heilt, sein Volk, ihre Sünden – beim Wort genommen werden muß, da es ja das Ins-Wort-Bringen sowohl der Tat wie des persönlichen Seins („Wesen“) dessen ist, der so heißt, also Offenbarung dessen, wer er ist und was er tun wird (welch Letzteres ja Inhalt des Evangeliums selbst ist, den Hörern/Lesern als Glauben zum Glauben und Annehmen = Leben geschenkt). c) Die theologische Aussage von Mt 1,22–23

Matthäus bringt in 1,22–23 seinerseits das in 1,16.18–21 Ausgesagte gleichsam zusammenfassend und noch tiefer ausdeutend ins Wort, mit der einleitenden Formel „dies alles ist geschehen, damit …“, nämlich als geschichtliche Erfüllung der Verheißung Jahwes, die in Jes 7 dokumentiert ist. Der Text lautet: tou/to de. o[lon ge,gonen i[na plhrwqh/| to. r`hqe.n u`po. kuri,ou dia. tou/ profh,tou le,gontoj\ ivdou. h` parqe,noj evn gastri. e[xei kai. te,xetai ui`o,n( kai. kale,sousin to. o;noma auvtou/ VEmmanouh,l( o[ evstin meqermhneuo,menon meqV h`mw/n o` qeo,j – „Dies alles ist geschehen, damit erfüllt würde das Gesagte vom Herrn durch den Propheten, der spricht: Siehe, die Jungfrau wird im Schoße haben und (den) Sohn gebären, und sie werden (man wird) seinen Namen nennen EMMANUEL, das ist übersetzt: Mit-uns-Gott“. „Dies alles“ meint eindeutig das in 1,16.18–21 gewiß in äußerster Kürze Ausgesagte, das von Matthäus als das hier 57 Siehe dazu die einschlägigen Arbeiten zum Text Jes 7. Hier seien diese ausdrücklich genannt: M.

Oberweis, Beobachtungen zum AT-Gebrauch in der matthäischen Kindheitsgeschichte, in: NTS 35 (1989) 131–149; sodann immer noch grundlegend: M. Rehm, Das Wort ’almāh in Is 7,14, in: BZ NF 8 (1964) 89–101. Siehe außerdem den Exkurs „Jes 7,14“.

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Abschnitt A:

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Festzustellende angesehen wurde, weswegen er es in diese Worte bringt. Wir beachten, daß der Evangelist hier das erste Mal in seinem Evangelium das einbringt, was als „Erfüllungszitat“ bezeichnet wird, und das genau im Sinne, wie es für ihn typisch erscheint. Dafür spricht auch die für die meisten dieser Stellen eingesetzte Einführungsformel „dies ist geschehen, damit die Verheißung … erfüllt würde“. Für hier: Das Jes-Zitat ist das Wort Jahwes, das er in der damaligen Situation durch Jesaja an das Haus David (LXX: avkou,sate dh, oi=koj Dauid) richtete, in die selbstverschuldete äußerste Krisensituation hinein und gegen die (immer wieder) Nicht-hören-Wollenden dieses Hauses. Genau das sieht Matthäus jetzt als erfüllt an! Jahwe hat erfüllt, was er damals verheißen hat (sowohl plhrwqh/| wie to. r`hqe,n sind als theologisches Passiv zu lesen). Mit-gemeint und mit-verkündet hat Matthäus dabei auch, daß das Haus David in seinen jeweiligen Repräsentanten in dem mit-beteiligt war, was damals in der historisch- faktischen Situation (wenn man es so kurz sagen darf) geschah, und worin jetzt durch den in 1,1–17 ausgewiesenen Sohn Davids mit Namen Josef und dessen Ehefrau Maria, wieder durch das Wort Jahwes, geschehen ist, dieses Mal im Hören und Gehorchen, d. i. Einstimmen in Jahwes Wort und das Sich-mitbeteiligenLassen in und an dem, was Jahwe selbst sagt und wirkt. Damals wie jetzt will Jahwe Heil schaffen, und zwar wieder in Über-Einstimmung mit namentlichen Menschen und deren Mittun im und am Werk Jahwes. Immer wieder zum Heil zuerst für diese mit Eigennamen Genannten, und in ihnen und durch sie allen und allem, denen und dem sie gott-erwählte Repräsentanten sind für alle und alles des Heils Bedürftigen. In diesem Sinn ist der Zusammenhang mit der Genealogie und deren Beabsichtigung durch Matthäus offenkundig. Das damalige Wort Jahwes, das Matthäus jetzt als erfüllt anerkennt, zitiert er ja mit der signifikanten Einleitung: „was vom Herrn (Jahwe!) durch Prophetenmund gesprochen wurde“.58 Es wird erkennbar, daß Matthäus 1,18 und 1,20 nach diesem Text gestaltet hat (nicht: das Jetzt-Geschehen aus ihm neu gebildet hat), unverkennbar um die Verheißung wörtlich die jetzige Wirklichkeit aussprechen zu lassen. Für Matthäus ist das Hauptentscheidende in diesem Verheißungssatz die unerhörte Namensnennung IMMANUEL, in der das, was JESUS kundtut, von JAHWE, dem Verheißenden und Erfüllenden des Heils, gilt. Denn das „sie werden seinen Namen IMMANUEL nennen“ ist von der neuen Jahwe-Gemeinde gesprochen, die sich aus JESUS, daher aus IMMANUEL, eben aus JAHWE herleitet und versteht: JESUS ist dieser, den wir IMMANUEL nennen (dürfen), weil wir ihn erleben und daher ihn so benennen, von Jahwe selbst dazu aufgerufen, befähigt und ermächtigt. Das ist das EUANGELION, das Matthäus aufgeschrieben hat, weil es von den Christen genau verstanden worden ist und in dem sie (neu) leben.59 58 Vgl. dazu den Artikel von R. Pesch, der allgemeine Zustimmung gefunden hat: R. Pesch, Eine alt-

testamentliche Ausführungsformel im Matthäus-Evangelium, in: BZ 10 (1966) 220–245; 11 (1967) 79–95. 59 Woher dieser Zusammenklang der Verheißungsformel in Jes 7 mit dem Matthäus-Text rührt, welcher Text welchem zuvor war/ist und ob und wie jeder Text für sich wie auch im Miteinander auf

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II.

Zur theologischen Erfassung von Mt 1

d) Die theologische Aussage von Mt 1,24–25

Nach dem erhellenden Hinweis auf das Faktum der Verheißungserfüllung durch Jahwe selbst setzt Matthäus mit wieder ungemein kurzen Sätzen seine (im Sinne des Evangeliums) berichtende Darstellung fort. evgerqei.j de. o` VIwsh.f avpo. tou/ u[pnou evpoi,hsen w`j prose,taxen auvtw/| o` a;ggeloj kuri,ou kai. pare,laben th.n gunai/ka auvtou/( kai. ouvk evgi,nwsken auvth.n e[wj ou- e;teken ui`o,n\ kai. evka,lesen to. o;noma auvtou/ VIhsou/n – „Aufgewacht vom Schlaf tat Josef, wie ihm der Bote des Herrn befohlen hatte, und er nahm seine Frau zu sich. Und er erkannte sie nicht, bis sie (den) Sohn gebar. Und er nannte seinen Namen JESUS“. Meistens wird das im Griechischen artikellose „Sohn“ mit „einen Sohn“ (unbestimmter Artikel) wiedergegeben. In der Vulgata findet sich dafür (als v. l. oder aus Lk 2,7 übernommen) „filium suum unigenitum“. Gelegentlich wird „ihren Sohn“ gesetzt (so die Einheitsübersetzung, der Schnackenburg folgt; Rösch ebenso). Bei Fiedler findet sich „den Sohn“. Allein Letzteres würde der gesamte Kontext 1,18–25 empfehlen. Denn „ihren Sohn“ trägt etwas in den Text ein, das Matthäus nicht gesagt hat, der ja sowohl für Maria wie Josef nie von „ihrem“ bzw. „seinem Sohn“ spricht, was nicht unbeachtet sein darf. In Mt 3,17 spricht „die Stimme aus den Himmeln“, also Jahwe ou-to,j evstin o` ui`o,j mou o` avgaphto,j („mein Sohn“ mit Artikel, und wiederholt „der Geliebte“!). Auf diese auffallende unterscheidende Sprechweise zu achten, scheint geboten. Die Ausführung des Gottesauftrages wird 24–25 mit den Worten im Jes-Zitat in 23 angesagt, wobei allerdings in 25 ein Zwischen-Satz eingeschoben ist, der Grund wird für zahlreiche Interpretationen. Vor allem das „bis“, das einen zeitlichen Termin anzusagen scheint (nach welchem dann anderes statthatte), hat rege Diskussionen wachgerufen, die wir hier (noch) nicht besprechen müssen. Nur dieses sei dazu bemerkt: Mit „bis sie gebar“ ist hier zwar ein Termin angegeben, womit aber keineswegs, auch nicht einschlußweise, etwas über das mit-aussagt ist, was für spätere Zeit zu gelten hat(te) bzw. geschah. Diese Feststellung gilt für alle „bis“-Angaben sowohl in der hebräischen wie in der griechischen Sprache und hat somit auch für die deutsche Übersetzung zu gelten (wenn hier vielleicht auch eher ungewohnt). Somit sagt der Versteil nur das, was er sagt: „Josef erkannte sie nicht“, nämlich im Kontext in 1,18–25 als er Maria „zu sich genommen“ hatte „bis sie gebar“. Damit ist jedenfalls über dieses „zu sich genommen“, insofern damit ja die „HeimFakten, d. h. auf lebendig-faktischem Geschichtsgeschehen (ob historisch im heutigen Verständnis verifizierbar, steht jetzt nicht zur Debatte) geäußerte und von den jeweiligen Adressaten verstandene (und befolgte oder auch nicht akzeptierte) Worte beruht, werden wir im zusammenfassenden systematischen Teil noch näher zu diskutieren haben. Es ist ja die Entscheidung fällig, ob diese Texte in Jes und im MtEv religiös-dichterische Fiktionen, einander angepaßt und zugeordnet wie auch immer, sind – oder ob sie historisch-geschichtlich Geschehenes und Gesprochenes zur Sprache bringen, in welcher schriftstellerischen Intention und Form auch immer, aber eben doch auf geschehener Wirklichkeit beruhend, und welche diese ist. Wir haben es hier offensichtlich mit denselben Fragen und Antwortversuchen zu tun, wie sie für die Auferweckung Jesu Christi intensiv durchgeführt werden und noch kein Ende gefunden haben.

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Abschnitt A:

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führung“ also der Beginn des gemeinsamen Lebens der (Jung)Vermählten im gemeinsamen Heim angesprochen ist, etwas angedeutet, das im Falle Josefs und Marias etwas bemerkenswert Besonderes, nicht allgemein Übliches gewesen ist. Wenn man nämlich alle biblischen gesetzlichen Weisungen bzgl. Eheschluß und Eheführung des Ehepaares in den Blick nimmt, läßt sich ein Verstehen dieser Stelle erreichen, die sie sogar aus den zuvor stehenden Text-Aussagen in 1,16 und 1,18.19.20 gut verstehbar macht. Darauf hat J. Massingberd Ford in einem kurzen, aber eindringlichen Artikel hingewiesen.60 Sie macht darauf aufmerksam, daß der Text 1,18–25 meist nur im Blick auf das betrachtet wird, was Maria betrifft, und erst von daher das Verhalten Josefs beurteilt wird. Doch sei es aufschlußreich, gerade in 1,25 (und also auch vorher) auf die Situation des Josef zu schauen, die ihn getroffen hat, als der Bote des Herrn ihn ermunterte, Maria, seine Ehefrau, zu sich zu nehmen, also heimzuführen im Sinne des jüdischen Rechtes. Ford weist auf die spezifischen Anweisungen in Dt 24,1–4 hin und wendet sie auf die Situation Josefs an. Entscheidend für die Applikation von Dt 24 (zumal in der Interpretation dieses Textes in den Targumim und in der Qumran-Gemeinde) auf das Verhalten Josefs ist die bemerkenswerte, nur im MtEv begegnende Formel paralamba,nw (1,20 und 1,24) im Auftrag des Boten des Herrn. Hier können wir nicht näher darauf eingehen, halten aber auf jeden Fall fest, daß unsere oben gelieferte Lese- und Verstehensweise von 1,19, Josef achte das „im Schoße haben aus heiligem Geist“ als heilige in diesem spezifischen Sinn, mit allen Folgen für sein dementsprechendes persönliches Verhalten als Ehemann Marias, schriftgemäß ist und daß 1,25 damit voll im Einklang steht (s. die Angaben in der vorigen Anmerkung). Auf das volle Verständnis des matthäischen Satzes in 1,25 brauchen wir hier nicht näher einzugehen. Er wird bekanntlich in mariologischen Themenstellung ungemein intensiv besprochen.61 60 J. Massingberd Ford, Mary’s Virginitas Post-Partum and Jewish Law, in: Bib 54 (1973) 269–272.

Ausführliche Besprechung im Anhang II (zu Mt 1,18–25). S. d. 61 Es sei dazu wenigstens auf folgende Arbeiten, die wir für unsere Thematik eingesehen haben und

die sich diesem Versteil ausdrücklich widmen, hingewiesen. A. Vögtle, Mt 1,25 und die virginitas B. M. Virginis post partum, in: ThQu 147 (1967) 28–39. Da lesen wir u. a.: „Der Evangelist, der die jungfräuliche Empfängnis Jesu als bekannte Aussage voraussetzt (vgl. 1,18b), war sich also der außerordentlichen Art und Weise, in der Jesus in die Generationenfolge eingegliedert wurde, voll bewußt und avisierte jene bereits in dem Augenblick, da er Jesus als Nachkomme Abrahams und Davids nannte (1,16). Warum äußert sich der Evangelist in dem nun folgenden Abschnitt noch ausdrücklich über die außerordentlichen und wunderbaren Umstände, unter denen Jesus der Sohn des Davidsnachkommen Joseph wurde, obwohl die Genealogie selbst mit 1,17 ihren endgültigen Abschluß erreicht hatte? Es liegt ihm an dem Nachweis, daß gerade auch dieser außerordentliche und wunderbare Umstand von Gott vorausgesehen und durch den Propheten Isaias vorausgesagt wurde: derselbe vorsehende Gott, der die mit Abraham beginnende Generationenfolge auf die Geburt des Messias Jesus hinordnete, hat auch die völlig ungeahnte wunderbare Eingliederung Jesu in die Abrahams- und Davidserbfolge vorausgeplant und verfügt, wie eben der Evangelist … in einer ‚erweiterten Fußnote‘, in einer Art ‚Exkurs‘ (1,18–25) zu dem das Schema unterbrechenden Schlußglied der Genealogie (1,16) ausführt. Im einzelnen sind an diesem Exkurs

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III.

Kernpunkte des Aussage-Inhaltes von Mt 1

III. Kernpunkte des Aussage-Inhaltes von Mt 1 In diesem Abschnitt soll der theologische Aussagegehalt des Evangelium-Textes von Mt 1 ausgewiesen werden. Nachdem wir uns bemüht haben, die rechte Übersetzung des Textes zu erreichen und ihn in seinen Aussagen theologisch zu erfassen, können wir jetzt das auf diese Weise Erkannte in seinem theologischen Aussage-Inhalt zusammengestellt vorlegen.62 Wir setzen dabei das in den Abschnitten I und II Besprochene voraus, ohne Einzelheiten nochmals zu wiederholen. Es soll jetzt herausgehoben werden, von wem genau und von was in Mt 1 explizite gesprochen wird und welche theologischen Aussage-Inhalte als vom Evangelisten selbst ausdrücklich intendiert sichtbar werden. Implizite Inhalte dagegen, die als mit-angedeutet erscheinen könn(t)en oder die durch erschließend-folgerndes Deduzieren aus dem expliziert Ausgesagten als darin eingeschlossen anzusehen oder zu vermuten sind, bleiben hier (noch) außer Betracht. Der Autor eines Textes ist ja das Subjekt des Darstellens dessen, was er in seiner Absicht aussagt. Hier wollen wir herausstellen, von wem und vor allem folgende Momente zu beachten. Die Eröffnung der vom Hl. Geist bewirkten Empfängnis begründet den vom Engel des Herrn ausgesprochenen Befehl, Maria heimzuführen und den von ihr zu gebärenden Sohn ‚Jesus‘ zu nennen (1,20f) – anstatt die Verlobte schonend zu entlassen (1,18b-20a). Primär wichtig ist aber für den Evangelisten, daß die Momente, die für die Art der Einführung Jesu in die Davidsfolge entscheidend sind …, schon in Is 7,14 miteinander verbunden sind, sich also als Postulate einer ausdrücklichen Prophetie erweisen (V. 22f). … Haben wir die Intention des Exkurses 1,18–25 getroffen, dann läßt sich das bisher noch zurückgestellte Versstück 25a ohne jede Schwierigkeit einordnen. … gibt der Engel keinen Befehl, Maria nicht zu ‚erkennen‘; … warum ist dann also innerhalb der Ausführung vom Nicht-Erkennen und vom Gebären eines Sohnes die Rede? … seit V. 24 liegt der Ton darauf und muß darauf liegen, was Joseph tat – nicht aber auf dem, was Maria tat … die Feststellung des erfolgten Gebärens im Rahmen einer Aussage über das Handeln Josephs getroffen wird: daß dieser nämlich bis zur Geburt eines Sohnes keinen ehelichen Umgang mit Maria pflog. … ist mit gutem Grund anzunehmen, daß er (d. i. der Evangelist) in unserem Kontext auf die exakte Erfüllung des Is-Wortes Wert legt; also darauf, daß Maria nicht nur als parthenos empfangen, sondern auch als parthenos einen Sohn geboren hat“ (32; 33; 35). Vögtle argumentiert dann weiter, um dann diesen Schlußsatz zu bringen: „Rein exegetisch kann man demnach jedenfalls soviel konstatieren: die Aussage Mt 1,25 läßt sich als solche sehr wohl mit der virginitas post partum vereinbaren“ (39). ––– Broer hat sich zu 1,18–25 mit folgender Bemerkung gemeldet: „fällt auf, daß zwar das erste und letzte Glied der Ausführung, also die Aufnahme Mariens und die Benennung des Kindes mit dem Namen Jesus, im Engelbefehl enthalten waren, nichts aber hatte der Engel zu Joseph über seine ehelichen Beziehungen zu Maria gesagt. – Wie erklärt sich dieser Zusatz? In dem zitierten Isaiastext hieß es: ‚die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären‘, d. h. die Jungfrau wird gebären; um der genauen Erfüllung des Isaiaszitates willen sagt Matthäus über das Verhalten des Joseph zu Maria: Und er erkannte sie nicht, bis sie einen Sohn geboren hatte. Mit diesem Verständnis des Verses 25 ist dann auch die alte Streitfrage zwischen Katholiken und Protestanten erledigt, weil es Matthäus hier nur um das Verhalten des Joseph bis zur Geburt geht, um konstatieren zu können: Die Jungfrau hat geboren, wie es von Jahwe durch den Propheten vorhergesagt worden ist“ (254f). 62 Vgl. dazu, was im Abschnitt II zu theologischen Erfassung von Mt 1 gesagt ist.

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Abschnitt A:

Mt 1 — Der Text, seine Übersetzung und die theologische Erfassung seiner Aussagen

von was im Text gemäß der Intention des Evangelisten die Rede ist, das also, was vom Autor her gesehen als Objekt seines Schreibens anzusehen ist. Was mit dieser erklärenden Vorbemerkung genau gemeint ist, zeigt sich sogleich in dem, was wir vorlegen.

1. Gott — Hauptsubjekt des in Mt 1 Bekundeten

Als erstes zeigt sich bei aufmerksamem und unvoreingenommenem Lesen, daß in Mt 1 in jedem Vers Gott das Hauptsubjekt dessen ist, was dort als Evangelium im matthäischen Sinn ausgesprochen wird.63 Schon zu 1,1–17 ist jedenfalls dies festzustellen: Es ist allgemein anerkannt, daß mittels des dort vorgelegten Stammbaumes spezifisch die ganze Geschichte Israels als durch Gott initiiert und geleitet herausgestellt werden soll. Zwar ist Gott nicht namentlich genannt, doch es ist mit dem betonten Herausheben von Abraham und David bis hin zu Jesus Christus (1,1.16.17) hinreichend deutlich der angesagt, der die gesamte Menschheitsgeschichte und speziell die Heilsgeschichte in Gang setzt und bis in das von ihm beabsichtigte Ziel führt.64 So kann und muß gesagt werden, daß in 1,1–17 Gott als das Hauptsubjekt gilt, er als Herr aller Geschichte. Die anderen in diesem Text genannten Personen sind stets angeführt, insofern sie in ihren jeweiligen heilsgeschichtlichen Positionen und Aufgaben von Gott bestimmt waren, vorab namentlich Abraham und David. Das wird durch 1,17 seitens des Evangelisten selbst deutlich erklärt. In diesem Sinn sind in 1,16 auch Josef und Maria am 63 Wir wollen mit dem nüchternen Ausdruck „Hauptsubjekt“ das meist angewendete Wort „Haupt-

person“ vermeiden. Denn das erinnert zu sehr an die Terminologie, die in den Literaturwissenschaften u. ä. in der Darstellung und Besprechung von Schauspieltexten bzw. an die in Schauspielen oder Dramen u. ä. beteiligten Spieler denken läßt, wo von handelnden oder sprechenden Personen die Rede ist. Dort begegnen Hauptpersonen oder Hauptfiguren wie auch Nebenfiguren und Nebenpersonen, die in der Haupthandlung irgendwie beteiligt sind. Diese Sprechweise möchten wir für die Evangelientexte (wie überhaupt aller Bibel-Texte) und für die festzustellenden Aussage-Inhalte von dort geschilderten Begebenheiten oder Reden vermeiden. Denn von Gott, von Jesus Christus, von Josef und Maria wie auch von Aposteln u. a. kann man nicht mit Wendungen wie „Akteure der Handlung“ o. ä. sprechen, auch dort nicht, wo es sich im NT um Darstellungen handelt, die als dramatisch oder episodisch (im üblichen Sinn) erscheinen mögen. Jesus Christus ist auch kein Rhetor, wenngleich von ihm weltbewegende Sätze überliefert sind. Auch sind die Evangelisten nicht als Schriftsteller üblichen Sinnes zu verstehen. Die Bibel, vorab die Evangelien sind alles andere als schriftstellerisch ausgerichtete, gar fiktiv ersonnene und entsprechend ausgearbeitete Texte. Für die biblischen Texte empfiehlt es sich grundsätzlich, alle dort genannten Beteiligten in ihren konkreten (nicht erdichteten) Lebenssituationen „agieren“ (wenn man das Wort hier einsetzen möchte) und sprechen zu lassen. In diesem Sinne wählen wir für das, was es hier zu sagen gilt, zunächst den ganz nüchternen, offenen Ausdruck „Hauptsubjekt“, und das auch nur in dem, was hier herausgestellt werden soll. 64 Hier sei ausdrücklich auf das hingewiesen, was wir im Abschnitt II dazu ausgeführt haben.

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III.

Kernpunkte des Aussage-Inhaltes von Mt 1

Ende des Stammbaumes, doch noch innerhalb dieses Geschichtskomplexes einbezogen. Josef und Maria wie eben auch Jesus Christus erhalten in der von Gott gewählten Verwirklichungsgeschichte des Heils ihren spezifischen Platz.65 Aufgrund unserer 65 Es ist mit allem Nachdruck darauf aufmerksam zu machen, daß wir es in der biblischen Geschich-

te in aller Wirklichkeit mit der Geschichte zu tun haben, die das gemeinsame Lebensgeschehen des Bundes Jahwes mit seinen Geschöpfen zum „Inhalt“ hat. In den Kommentaren wie überhaupt in unserer Theologie wird faktisch doch nur immer von Gott als dem Transzendenten gedacht und gesprochen, der, wie es die gängige Formel sagt, in die Geschichte der Welt „eingreift“, vielleicht auch „lenkt“ und ins „Ziel“ bringt; er ist/wird aber nie begriffen als der, der (wenn man solche Kategorien überhaupt anwenden soll) in dieser in der Bibel gemeinten Geschichte immanent-persönlich Anwesender und Mitwirkender ist und sich selbst persönlich „engagiert“. Warum wird nicht in der Weise nach-gedacht und gesprochen, wie die Heilige Schrift von der Geschichte Gottes wie Israels, ja der Welt überhaupt denkt und spricht? Nicht ist es Gott, der in den Verlauf der israelitischen bzw. der Menschheitsgeschichte gelegentlich „eingreift“ oder mit ihr einen zielorientierten Plan verfolgt. Vielmehr hat Jahwe mit der Gesamtschöpfung von Anfang an eine gemeinsame Lebensgeschichte begonnen, die er selbst mit seinen Geschöpfen er-leben, mit ihnen gestalten und führen möchte, wie es in dem recht verstandenen Bund Jahwes mit seinen Geschöpfen verstanden und ins Wort gebracht wurde. Jahwe hat mit der Gesamtschöpfung von Anfang an eine gemeinsame Lebensgeschichte begonnen, in die er selbst involviert ist. Wie sich faktisch herausgestellt hat, wurde dieses von Jahwe initiierte Leben (= Heil!), das Geschehen und also Geschichte „erfahren“ sollte, zur Unheilsgeschichte pervertiert, und zwar aufgrund des (offensichtlich wirkmächtigen) Widerspruchs des (einiger) Geschöpfes zu Gott und dessen Liebes- und Lebenswunsches (der kein fixer Ablaufplan ist!) für sich mit seinem Liebend-Erschaffenen und in die Freiheit des Zustimmens und Einstimmens Berufenen, ohne Ziel und End-Punkt. Dieses Leben des Liebesbundes Jahwe und Geschöpf erwies sich als das Leben Gottes selbst mit seinem Geschöpf und eben auch als (gottgeschenktes!) Leben des Geschöpfes mit Gott im gott-geschenkten Raum und in gott-geschenkter Zeit, die nur Gegenwart, Da-Sein, Anwesenheit, Teil-Gabe und Teil-Nahme im MiteinanderFüreinander liebender Zu-neigung kennt, Lebendig-Sein, das nicht einmal Gegenseitigkeit kennt, nur im Währen und Dauern des Ein-Herz-und-eine-Seele-Seins im Sich-aufeinander-Hingeben und antwortenden An-nehmen in der einen Liebe. Dieses Geschehen des Liebe-bestimmten und -geprägten Lebens im Währen des lebendigen (!) gott-gestifteten Lebensbundes ist das, wovon die Bibel voll ist (nicht nur erzählt!) und das „Geschichte“ genannt werden kann, wenn nicht ein vorliegender oder selbstgemachter „Begriff “ von „Geschichte“ als Kriterium angesetzt wird. Von dieser Geschichte kündet die Heilige Schrift. Sie ist die Geschichte, die Jahwe selbst mit dem Volk, das er sich in bisher unerhörter Weise auserwählt, zu führen beabsichtigt. Jahwe will es aus Ägypten (das die sündige Welt symbolisiert, was wieder voraussetzt, daß so etwas wie „Sünde“ geschehen ist (ohne daß man wüßte, was das eigentlich ist), befreien und ins „gelobte Land“ (auch zunächst ein Symbolbegriff: das Heil) hineinführen. Genauer: Jahwe bemüht sich von Anfang an um die Zustimmung dieses Volkes zum Heilsgedanken und -werk, scheitert aber immer wieder in seinem Beginnen-Wollen, weil dieses Volk sich verweigert. Die biblisch richtig verstandene „Geschichte“ ist das Geschehen des Werbens Jahwes um sein Volk und des wiederholten Sich-verweigerns. Das ist das, was Matthäus in 1,18–25 mit Jes 7 betont hervortreten läßt. Jes 7 ist doch das Verheißungswort, das Jahwe gegen den sich verweigernden Davididen sprechen ließ. Das Verheißungswort in Jes 7 (u. ö.) ist im Buch Jesaja doch quasi punktuell Wort – Widerwort – Neu-Verheißungswort Jahwes, dieses sogar in unahnbarer Überhöhung aller bisherigen Angebote auf freie Annahme antwortend-liebender Lebensgabe. Gott er-lebt und er-leidet persönlich, was sein Geschöpf verfügt, gegebenenfalls auch durch Mißbrauch der ihm geschenkten Freiheit. Dieser Gott ist es, der Verheißungen in ganz konkreten Lebenssituationen, vor die er und seine Geschöpfe sich gestellt

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Abschnitt A:

Mt 1 — Der Text, seine Übersetzung und die theologische Erfassung seiner Aussagen

Einsichten (s. Abschnitt II) können wir sagen: Gott vertraut Jesus Christus, der zu Beginn ausdrücklich und vollnamentlich als Zielpunkt der in 1,1.17 angesprochenen Gottes-Geschichte genannt wird, diesem Ehepaar im Hause Davids an, zu bestimmtem Mit-Wirken in dem und an dem, was Gott selbst vollbringen will, und dies eben durch entsprechendes Beteiligen seiner Geschöpfe, die in der Begabung und Beauftragung Gottes mit-wirken. In 1,16 wird Jesus Christus nochmals vollnamentlich genannt; sogar auf eigen-artig erklärende Weise: „aus der geboren ist Jesus, der Christus Genannte“ (vgl. neben 1,1 auch 1,18 und die Namengebungen in 21 und 23). In 1,18–25 ist wieder in jedem Vers Gott derjenige, von dem zuerst (und, wenn man will, hauptsächlich) die Rede ist. 1,18a bezieht sich auf 1,16, um das dort noch nicht klar Ausgesagte zu klären. In 18b werden Maria und Josef, die auch in 1,16 zuvor genannt wurden, in ihrer ganz persönlichen Lebenssituation vorgestellt, in der sie von Gott in Anspruch genommen werden, was 18c verdeutlichend, wenngleich immer noch ungewöhnlich offen ausgesprochen wird: „sie hatte im Schoße aus Gott“.66 So ist 1,18 von 18c her ganz Gottes-Evangelium. Genau davon betroffen wird Josef in 1,19 herausgestellt. Als (in seiner Lebenshaltung) Gottesfürchtiger erfährt er sich und seine spezifische Lebenssituation mit Göttlichem konfrontiert und bedenkt, was es für ihn zu tun gilt. Er erwägt, Gott dadurch die geforderte Ehre zu geben, daß er Maria für das Gott-Gewirkte aus dem eingegangenen verbindlichen Ehebund freigibt. Mit Vers 20 wird sodann Gottes Reagieren auf Josefs Erwägungen bekundet: Der Bote des Herrn, also Gott selbst (Jahwe) spricht Josef persönlich genau darauf an. Gott weiß, was er im Sinne hat, und er nimmt die Haltung Josefs und dessen Planen wahr, anerkennt sein Empfinden und Vorhaben, gibt mit entsprechender Erklärung die Weisung, etwas anderes zu tun, nämlich was Gottes Sinnen in Bezug auf die Beteiligung Josefs gerade an diesem besonderen und ganz eigen-artigen Wollen Gottes ist. Er erklärt die Situation und gibt einen gezielten Auftrag, dieses aber offensichtlich auf die Gehorsamshaltung Josefs vertrauend (1,20–21). Wir sollten hier nicht, wie es vielfach geschieht, von „Offenbarung“ Gottes an Josef sprechen. Es ist keine Offenbarung, auch kein Befehlen, von dem hier die Rede ist. Vielmehr lädt Gott Josef zum Mit-Wirken ein, indem er ihm kundtut, worin er ihn, der aus dem Stamm David ist (Josef wird ausdrücklich so angesprochen!), beteiligen möchte, und das ist ja nichts Geringeres als das Heil der Welt! Die ganze „Rede“ des Boten muß man als Wort Jahwes (s. in 23 das Jes-Zitat) im konkreten Gesprochen-Werden hören und dann eben auch so, nämlich evangelium-gemäß, wiedergeben und verkünden. Das to. gennhqe.n in 1,20 will ja, wie allgemein anerkannt, als theologisches Passiv gelesen sein. Von daher gesehen ist in 1,21 dies gesagt: Gott vertraut dem Josef das Kind an, das Maria erfahren, ausspricht und sie bei Zustimmung auch zu erfüllen die Macht und den Willen hat; er hält sein Versprechen (Treue Gottes zu seinem einmal gegebenen Wort – wenn es ihm gestattet wird!). Jahwe kennt nur Liebe, aber kein Sich-Aufzwingen (welcher Art auch immer). 66 Hier sei auf Abschnitt I,1 und Abschnitt II,2 rückverwiesen, wo die Frage der rechten Übersetzung bzw. des theologisch zu Erfassenden von 1,18c eingehend besprochen ist.

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III.

Kernpunkte des Aussage-Inhaltes von Mt 1

als Gottes-Seiendes im Schoße trägt und gebären wird. Weil es Gottes Plan war und in Jes 7 als Verheißung an das Haus Davids dokumentiert wurde, deswegen lädt Gott Josef ein, gerade in dem mitzuwirken, was Gott selbst und daher auch Jesus Christus als Aufgabe zuerst ihres eigenen Lebens erkennen und daher planen, aus Liebe zum Sünder (was an dem von Gott gewählten Namen hörbar und ablesbar ist: JESUS – Jahwe rettet, nämlich von der Sünde: 21). Jesus soll als Lebenstat vollbringen, was sein Name sagt, der ihm (nach seiner Geburt) durch Josef aus dem Hause Davids mit aller rechtlichen Wirkung gegeben werden soll. „Jesus“ ist kein Hoheitstitel, kein von Menschen erdachtes Programm, sondern Wort-Tat und Tat-Wort Jahwes selbst, eben der, dem es als Name durch Josef im Namen Gottes gegeben wird. Das alles bringt Matthäus in 22–23 deutlichst zur Sprache. Wir sollten auch die Parallelität der Situationen und Adressaten von dem in Jes 7 (im Kontext des ganzen Jes) und dem hier in Mt 1 Bekundeten deutlich sehen: Damals Achaz aus dem Hause Davids, jetzt Josef aus dem Hause Davids; damals sprach Jahwe durch den Propheten, hier der Bote Jahwes, also wieder Jahwe; damals Ankündigung an die sich Jahwes Denken Verweigernden, hier der gehorsam-bereite Josef; dort der zu gebärende „Sohn“ (es bleibt offen, wessen letztlich), der jedoch den Namen Immanuel erhalten soll, hier wird (spätestens in seinem Leben nach seiner Geburt) der „Sohn“ von denen Immanuel genannt, die auf Jahwe und auf diesen „Sohn“ hören und ihm gemäß leben (werden), die ImmanuelGemeinde, also Jahwe-Gemeinde = Jesus-Gemeinde. Das „Immanuel“ der Gemeinde ist somit Wort, d. h. Anerkennend-Ant-worten der „neuen“ Gemeinde auf das Wort Jahwe selbst hin, erfüllt und erkannt und anerkannt im glaubend-angenommenen Jesus. Dessen Sein, Leben und Wirken wurde offenbar (immer wieder: auf Glauben hin) seit seinem Geboren-Sein, das in der Lebensgeschichte Gottes mit der Menschheit sich ereignet hat. In 1,24–25 wird bekundet, daß Josef wörtlich das erfüllte, was Jahwe ihm einladend aufgetragen hatte. So erfüllt sich auch die Verheißung Jahwes an Achaz, wenngleich in ungeahnter Weise, was die Personen und das Geschehen selbst angeht (Jes 7 im Jes-Kontext). Maria „gebiert Sohn“ (25), nämlich was/wen sie „im Schoße hatte“ (1,18) („Sohn“ hat in 25 keinen Artikel!). Sie gebiert nicht ihren Sohn, noch Josefs Sohn, aber auch nicht „einen Sohn“, wie oft wiedergegeben wird, sondern den „Gottes“, der dieser ist jedenfalls vom Anfang seines „im Schoße Marias Seins“, weil dieses schlicht „aus Gott“ war (1,18c). Wer dieser noch genauer war und ist – der Ausdruck „Sohn Gottes“ ist ja weder in 20 noch in 21 und auch nicht in 25 verwendet –, das ist aus Mt 1,18–25 allein noch nicht deutlicher zu sagen, als es der Text tut. Diese Offenheit der Stelle kann aber anregen, im MtEv und im ganzen NT nach einer weiteren Klärung Ausschau zu halten, was jedoch hier nicht Aufgabe sein kann.67

67 Wir werden das in der zusammenfassenden Darstellung aller einschlägigen ntl. Stellen und ihrer

Aussage-Inhalte eindringlich besprechen.

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Abschnitt A:

Mt 1 — Der Text, seine Übersetzung und die theologische Erfassung seiner Aussagen

Nachdem wir die theologischen Aussage-Inhalte von Mt 1 vorgelegt haben, die Gott zum Hauptsubjekt im angegebenen Sinn haben, soll doch auch gesagt werden, daß das Wort „Gott“ (Theos) selbst in Mt 1 gar nicht vorkommt, außer im Namen Immanuel des Jes-Zitates (7,14) und dessen Übersetzung durch Matthäus (darin mit Artikel gesetzt). Im folgenden Kapitel 2 begegnet das Wort überhaupt nicht. Trotzdem haben wir herausgestellt, daß in Mt 1 ausdrücklich von Gott die Rede ist, und das in entscheidender, das Heil der Welt bedeutender Bedeutungsfülle. Den Grund und die Berechtigung eines solchen Sprechens finden wir vor allem in der Wendung „Bote des Herrn – a;ggeloj kuri,ou (die LXX-Wiedergabe von hwhy %a;l.m); “, die in 1,20.24 und in 2,13 gesetzt ist, sowie in dem Satz 1,22: „to. r`hqe.n u`po. kuri,ou dia. tou/ profh,tou le,gontoj“ mit dem Jes-Satz 7,14. Dieses ist ja das Jahwe-Wort, gesprochen durch den Mund des Propheten. Mit Jahwe, der in diesen Stellen ausdrücklich mit diesem israelitisch-biblisch unverwechselbar eigen-tümlichen Namen des Gottes Israels genannt ist, ist sogleich auch für 1,1–17 eindeutig erklärt, von wem dort die Rede ist. Verstärkt wird dies durch die betonte Nennung von Abraham und seinem Stamm, der ja spezifisch und einmalig Jahwes Gedanke und Schöpfung ist, den er bis zum Erscheinen seines Christus (Messias – x;yvim)' am Ende der Genealogie in seiner Geschichte mit Israel verwirklicht. „Christus“ muß hier ja – wie dann im ganzen Neuen Testament – stets als Kurzformel von „Christos Kyriou – hwhy x:yvim“. gelesen und so auch immer in dieser Voll-Bedeutung verstanden werden, jedenfalls wenn es auf Jesus Christus angewendet ist bzw. wird. (Von der Verwendung dieser Benennung „Christus“ z. B. in Jes 45– 48 und anderen ähnlichen biblischen Stellen hier abgesehen, wenngleich dort Cyrus auch als der Gesalbte Jahwes vorgestellt wird: Jes 45,1 u. ö.) Das macht uns darauf aufmerksam, daß vom Gott Israels wie auch der Kirche und überhaupt die Rede oder die Botschaft sein kann, auch ohne daß das Wort „Gott“ gebraucht ist bzw. wird. Mehr noch: Es erscheint geradezu angebracht, im ganzen NT, das ja Teil der einen Bibel ist, dann, wenn Gott zur Sprache kommt bzw. gebracht werden soll, immer Jahwe wenigstens zu lesen/hören und zu verstehen, mit allen offenkundigen, ja aufschlußreichen Folgen. Dafür sei auf die Sätze in Mt 3,9 und 3,16f (nur in diesen beiden Fällen kommt in Mt 3 das Wort „Gott“ vor!) als vielsagendes Beispiel hingewiesen. Im Mahnwort Johannes des Täufers in 3,9 steht dieser aufregende Satz: „Laßt euch nicht einfallen, zu denken, wir haben Abraham zum Vater. Ich sage euch, Gott kann dem Abraham aus diesen Steinen da Kinder erwecken!“. Die von Johannes angesprochenen Juden (sie sind auserwähltes Volk!) sollen sich nicht auf ihre Abraham-Kindschaft – diese wird in Mt 1,2.17 in seiner Genealogie dem Jesus Christus ausdrücklich und entscheidendwichtig zugesprochen! – berufen; denn ohne ihre entsprechende persönliche Lebensführung ist sie schlicht wertlos. Das spricht für sich. In 3,16 wird dann vom „Geist Gottes – pneu/ma qeou/ (ohne Artikel)“ gesprochen, der auf Jesus (in 3,13.15.16 namentlich genannt) herabkam. „Geist Gottes“ (offenkundig die Wiedergabe von hwhy x:Wr der hebräischen Bibel) entspricht der in Mt 1,18.20 (und in 3,11) begegnenden Wendung „heiliger Geist – pneu/ma a[gion“, über deren Bedeutung in Mt 1 wir schon 104

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Kernpunkte des Aussage-Inhaltes von Mt 1

gesprochen haben.68 Daran schließt sich unmittelbar an: „Und siehe, eine Stimme aus den Himmeln sprechend: ‚Dieser ist mein geliebter Sohn (ou-to,j evstin o` ui`o,j mou o` avgaphto,j; wir beachten: kein Artikel bei fwnh,, Artikelsetzung zu ui`o,j und sogleich wiederholt zu „geliebter“). „Stimme (Wort, Rede) vom Himmel“ ist ein üblicher biblischer Ausdruck für „Gottesrede“; somit ist hier zu lesen: Gott, besser noch: Jahwe spricht dieses Wort.69 Das bekundet das Sohn-Jahwe-Sein des genannten „Jesus“ (der Name wurde in 1,21 vom Boten Jahwe, also von Jahwe selbst gegeben und erklärt; s. o.) und das „Geliebt-Sein“, offenkundig seitens dessen, der spricht. (Man fühlt sich, wenn es hier nicht unangebracht erscheint, es zu sagen, an Joh 3,16–18 erinnert.) Mit diesen Aussagen zu Jesus bzw. zum Spruch Jahwes in Bezug auf den, den er seinen geliebten Sohn nennt, ist, auch wieder ohne daß das Wort ausgesprochen wird, vom Vater-Sein Jahwes die Kunde. An diesen Beispielen dürfte offenkundig geworden sein, daß wir für Mt 1 berechtigt Gott als Hauptsubjekt des dort Bekundeten ansprechen, wobei wir inzwischen auch gesehen haben, daß es sogar entschieden besser, weil eindeutiger wäre, statt „Gott“ stets „Jahwe“ gemeint zu sehen und insgesamt zu verstehen. Jahwe ist der Gott Abrahams. Abraham glaubt Jahwe und folgt seinen Weisungen. Johannes der Täufer spricht von Jahwe. Und Jahwe ist es, der in 3,17 Jesus („Jahwe rettet“!) seinen geliebten Sohn nennt, sich also als sein Vater bekundet, so daß dieser von seinem Vater her „Jahwe Sohn“ ist und somit auch so anerkannt werden muß. „Sohn Gottes“ oder „Gottessohn“ ist kein Hoheitstitel, am wenigsten eine „christologische Prädikation“, sondern schlicht, eben wenn im Sinne Mt 3,17 begriffen, Jesu Er-selbst-Sein und deswegen sein Name (nicht anders als es auch für Jahwe selbst gilt).70 Daß diese 68 Vgl. dazu, was oben in den Abschnitten I und II dazu herausgestellt worden ist. Dort auch ein

Hinweis auf den entsprechenden Exkurs „pneuma hagion“. 69 Zu „Stimme aus den Himmeln“ in 3,17 vgl. auch die folgenden Stellen: In Mt 17,5 (zur Verklärung

Jesu) heißt es: „Und siehe, Stimme aus der Wolke sprechend …“. In Mk 9,7 heißt es: „kai. evge,neto fwnh. evk th/j nefe,lhj“, und es wird direkt gesagt, was sie spricht. Auch auf Joh 12,27f ist hier hinzuweisen. Es zeigt sich immer dasselbe Geschehen, zugleich als Wort Jahwes selbst. 70 Ein Überblick über die Stellen, an denen das Wort „Gott“ im MtEv begegnet, ist sehr aufschlußreich. Auffällig zunächst das Vorkommen in Mt 4 über die Versuchung Jesu durch Satan. In 4,3 u. 6 wird Jesus sein Sohn-Gottes-Sein versucherisch vorgehalten: „wenn du der Sohn Gottes bist …“. Jesus entgegnet Satan mit einem -Bibelwort: in 4,4 mit Dt 8,3 („Mund Gottes“), in 4,7 mit Dt 6,16: „Du sollst Jahwe, deinen Gott nicht versuchen“ (hebr.). Ähnlich die Rückweisung in 4,10 mit Dt 61,3: „Jahwe, deinen Gott bete an …“ (hebr.). Versucherisch wird Jesus am Kreuz dasselbe seitens der Spötter vorgehalten: 27,40.43 („Wenn du der Sohn Gottes bist …“). Der Hohepriester fragt Jesus eindringlichst: „Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott … bist du der Christus der Sohn Gottes? (o` cristo.j o` ui`o.j tou/ qeou/; wir beachten die intensive Artikelsetzung)“ (26,63). Demgegenüber sagt der Hauptmann zum Tod Jesu am Kreuz: „Wahrhaftig, Gottes Sohn war dieser“ (27,54). Im Munde der Besessenen (8,29) findet sich dieser Vorwurf: „Was haben wir mit dir zu tun, Sohn Gottes (ui`e. tou/ qeou/)“. Hier sei sogleich die Antwort des Petrus an Jesus, Mt 16,16, angeschlossen: „Du bist Christus der Sohn des lebendigen Gottes (o` cristo.j o` ui`o.j tou/ qeou/ tou/ zw/ntoj; wieder die betonte Artikelsetzung)“. In den bisher zitierten Texten ist auch die Wendung „Sohn Gottes“ zu beachten, die jeweils ihre eigene Charakteristik aufweist. –– Das Wort „Gott“ begegnet oft im Munde Jesu, am ausgiebigsten in der Bergpredigt und in seinen Gleichnissen, und zwar in Bezug

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Abschnitt A:

Mt 1 — Der Text, seine Übersetzung und die theologische Erfassung seiner Aussagen

letzten Feststellungen auch schon zu Jesus Christus, wie er in Mt 1 bekundet wird, Entscheidendes aussagen, dürfte offenkundig sein.

2. Jesus Christus in Mt 1

Mt 1,1 als Überschrift über das ganze MtEv (oder jedenfalls der Genealogie mit der erklärenden „Fußnote“ 18–25) nennt Jesus Christus am Anfang betont beim Namen, auf Gottes Verhältnis zu den Menschen (als Geschöpfen, als Glaubende u. a.). In den Seligpreisungen in 5,8 (Gott sehen) und 5,9 (Söhne Gottes). In 6,24 (Gott, nicht dem Mammon dienen) und 6,30 (Gott läßt das Gras wachsen und kleidet die Lilien). Sehr oft findet sich „Reich Gottes“, auch „Reich der Himmel“ in derselben Sachbedeutung: so 12,28; 19,24; 21,31 u. 43. Öfters zitiert Jesus Bibelstellen, die „Gott“ aufweisen: 15,3.4 (Gebot Gottes für Eheleute); dann 22,29.31 gegen die ihn versuchenden Sadduzäer: „ihr kennt weder die Schrift noch die Macht Gottes … habt ihr von der Auferstehung der Toten nicht den Ausspruch Gottes gelesen, der euch sagt: ‚Ich bin der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs? Er ist doch kein Gott der Toten, sondern der Lebendigen“ (Zitate aus Ex 3,6; 22,32). Dem kann 22,36–46 angeschlossen werden, wo die Pharisäer Jesus nach dem größten Gebot fragen, und Jesus anschließend mit Ps 110,1 eine Gegenfrage stellt: „Jesus antwortet: Du sollst den Herrn deinen Gott (ku,rion to.n qeo,n = Jahwe) lieben … die Frage: Was haltet ihr von dem Christos? Wessen Sohn ist er? … ei=pen ku,rioj tw/| kuri,w| mou …“. –– Das Wort „Vater“ wird von Jesus für „Gott“ sehr oft gesetzt, und zwar als Bezug Gottes in seinem Verhalten zu den Menschen bzw. Ihm-Glaubenden. So ist „euer Vater in den Himmeln“ u. ä. eine feste Formel: 5,45.48; 6,1.15.32; 7,11; 18,14. Auch „dein Vater“ u. ä. findet sich: 6,4.6.18. So ist auch das Vaterunser in 6,9–15 zu verstehen (6,13–15 ist verdeutlichende Erklärung zu 6,12!). Jesus lehrt das Beten mit dem anredenden Eingang „Vater unser“; nie begegnet es, daß Jesus sich selbst und die Menschen „Vater unser“ zu beten lehrt oder es gar so ausspricht. Das ist bedeutsam in Bezug auf die vielen Stellen, wo Jesus von „meinem Vater“ spricht. In 10,32f heißt es, nachdem zuvor Jesus dieses gesagt hat: „Kein Sperling fällt zur Erde ohne euren Vater …“: „Wer immer mich vor den Menschen bekennt, den werde auch ich bekennen vor meinem Vater im Himmel …“. In 11,25 folgt dann der sog. Heilandsruf Jesu mit seinem unausschöpfbaren Reichtum an Aussagekraft und zugleich begeisternd die Tiefe Gottes anschaubar offenlegend. Den Text hier in seiner Länge zu bringen, erlaubt der Platz nicht: 11,25–30. – In 16,27 werden mehrere Bezeichnungen zusammengeführt; „Denn der Menschensohn wird kommen mit seinen Boten (a;ggeloi) in der Herrlichkeit seines Vaters und dann jedem vergelten nach seinen Werken“. In 18,10 sind ähnlich Jesus, der Vater und seine Boten, sowie das Antlitz Gottes zusammengeschaut: „Denn ich sage euch, ihre Boten (d. i. den Kindern zugewiesene Helfer) schauen immerdar das Angesicht meines Vaters der im Himmel ist“. 18,19.35 mögen für sich sprechen, ähnlich 20,23. Dann ist das Gleichnis der bösen Winzer zu nennen: „1,33–44“, das auch für sich spricht. In 22,41–46 wird wieder Ps 110,1 angewendet (s. o.). In 25,34 steht der Spruch: „Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters“, der in seinem Kontext spricht. In 26,29 bei der Eucharistie-Einsetzung: „… mit euch trinke im Reich meines Vaters“. In 26,39.42 wird das Gebet Jesu zum Vater in bewegenden Worten überliefert. Nach 26,53 (zu Petrus: „Mein Vater würde mir … Hilfe senden, wenn ich ihn darum bäte“) und 27,43 „Er hat ja gesagt: Ich bin der Sohn Gottes“) ist auf das letzte Wort Jesu am Kreuz hinzuweisen: „Mein Gott, mein Gott; warum hast du mich verlassen“ (27,46; Ps 22,1). Alle diese Stellen muß man auf sich wirken lassen; dann begreift man das Unbegreifliche, auch im Vater-Sohn-Verhältnis – ohne es diskutieren zu müssen.

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Kernpunkte des Aussage-Inhaltes von Mt 1

dem noch eine weitere Bestimmung beigegeben ist, die auch thematisch zu verstehen ist: Jesus Christus, Sohn Davids, Sohn Abrahams. In der Ansage „Buch der Geschichte Jesu Christi“ ist der Genitiv als genitivus obiectivus zu verstehen, nicht als genitivus subiectivus, d. h. als die Frohbotschaft, die Jesus selbst verkündet hat, Es wird ja im MtEv das bekundet, was die junge Kirche von Jesus Christus homologisch-kerygmatisch glaubt und verkündet. Das wird aus 1,16.17 deutlich: Am Ende der Genealogie wird Jesus als der genannt, den Maria geboren hat; dieser wird als „der Christus Genannte“ näher angegeben. Daß in 1,17 die Kurzform „Christus“ steht, dürfte in diesem zusammenfassenden Satz keine Bedeutung haben.71 In 1,18 ist der Ausdruck ge,nesij VIhsou/ Cristou/ im Sinne der zuvorstehenden Genealogie zu verstehen: Die Kurzangabe in 1,16 soll näher erklärt werden, was in 18–25 auch geschieht. Die ungewohnte Formulierung „Die Genesis Jesu Christi war so“ könnte neben der erklärenden Funktion in Bezug auf 1,16 auch als eine erste, nur andeutende Auskunft über das/ den bedeuten, das/den gemäß 18c Maria „im Schoße hatte“, den sie dann geboren hat und dem auf Gottes/Jahwes Weisung hin die in 1,21 und 23 genannten Namen (Jesus und Immanuel) gegeben werden. Ob tatsächlich 18a schon das/den in 18c Gemeinten 71 Es ist nicht ohne Bedeutung, wenn man folgendes feststellt: Der volle Name „Jesus Christus“ wird

im MtEv nur in 1,1 und 1,18 verwendet, in der Überschrift 1,1 mit dem einmaligen Zusatz „Sohn Davids, Sohn Abrahams“, dann in dem (ungewöhnlich formulierten) Einleitungssatz zu 1,18–25, der näheren Erklärung der Angabe 1,16: „Die Genesis Jesu Christi war so: …“. Die Formel „Jesus, der Christus Genannte“ begegnet in 1,16 („aus der geboren Jesus, der Genannte Christus“). Nur ein zweites Mal findet sich diese Formel in 27,17.22 (Pilatus fragt: „Wen soll ich euch freigeben, Barabbas oder Jesus, den Genannten Christus? Was soll ich denn mit Jesus machen, den Genannten Christus? „. – „Christus“ allein steht in 1,17 (Ende der Genealogie; keine besondere Bedeutung erkennbar), dann in 2,4 (Frage des Herodes an die Schriftgelehrten, wo „der Christus geboren werden sollte“; Antwort mit Mich 5,2, wo der Erfragte „Fürst, der mein Volk Israels regieren wird“ genannt wird). – In 11,2 „hört Johannes im Gefängnis von „ta. e;rga tou/ Cristou/“. Petrus antwortet auf die Frage Jesu: „su. ei= o` cristo.j o` ui`o.j tou/ qeou/“ (16,16); und in 16,20 verbietet Jesus, jemandem zu sagen „o[ti auvto,j evstin o` cristo,j“. In 22,42 fragt Jesus die Pharisäer „ti, u`mi/n dokei/ peri. tou/ cristou/, wessen Sohn ist er“. Jesus untersagt dann in 23,10, seinen Jüngern, sich „Meister“, jemanden „Vater“ zu nennen; „auch Lehrer laßt euch nicht nennen, denn „kaqhghth.j u`mw/n evstin ei-j o` Cristo,j“. Auch mahnt Jesus vor „yeudo,cristoi kai. yeudoprofh/tai“ (24,24). In 26,63 fragt der Hohepriester Jesus beschwörend: „su. ei= o` cristo.j o` ui`o.j tou/ qeou/“; Jesus bejaht es, indem er sich dazu den „ui`o.j tou/ avnqrw,pou“ nennt (64). Darauf wird Jesus geschlagen und man höhnt: „Weissage uns, Christus (criste,), wer hat dich geschlagen?“ (26,68). In allen diesen hier angeführten Stellen mit „Christus“ alleinstehend hat der Ausdruck seine dort jeweils gemeinte Bedeutung; nur einige Male erscheint es schlicht als Rufname. – Diesen vergleichsweise wenigen Vorkommen von „Christus (Jesus)“ stehen 165 Anwendungen des Namens „Jesus“ allein gegenüber! Grundlegend erscheint „Jesus“ in 1,21.25 als Namen-Nennung durch Jahwe selbst, die Josef in seinem Auftrag rechtlich vornimmt. Dann ist es im ganzen MtEv durchgehend der Name, mit dem Matthäus seine Schrift entfaltet. Dasselbe zeigt sich auch in den anderen Evangelien, während im übrigen NT meistens der volle Name „Jesus Christus“ u. ä. gesetzt erscheint, und zwar wirklich als Rufname. – Der Name „Immanuel“ findet sich übrigens in der gesamten Heiligen Schrift nur in Jes 7,14 und, als LXX-Zitat, in Mt 1,23 (mit dortiger Übertragung ins Griechische durch Matthäus). Eine gewisse Wiederholung ist in 28,20 zu erkennen.

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Abschnitt A:

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mit seinem vollen Namen (1,1.16) angibt, möchten wir hier (noch) nicht entscheiden, weil gerade zu den in 1,18–25 vorliegenden Aussagen im Gesamtkomplex Mt und Lk 1 sowie Gal 4,4 (und noch anderen entscheidenden Stellen) später ausführlich zu sprechen sein wird. Immerhin schreibt Matthäus etwa 20 Jahre nach Paulus und wird daher die theologischen Aussage-Inhalte der früheren ntl. Schriften sicher gekannt haben. Dazu ist in der angesagten Zusammenschau Bestimmteres zu sagen (soweit es die näher betrachteten Texte hergeben). Ähnliches gilt für die Aussagen zu Jesus Christus in 1,21–25. Dort sprechen die Namen „Jesus“ und „Immanuel“ Entscheidendes aus, zumal sie im Gesamtkontext des MtEv verstanden sein wollen.72 Was wir in den Abschnitten I (zur rechten Übersetzung von Mt 1) und II (zur theologischen Erfassung der matthäischen Evangelium- Aussagen) im einzelnen feststellen konnten, kann hier so zusammengefaßt angegeben werden: In 1,1 gibt Matthäus den Namen dessen an, über den er sein „Buch der Geschichte (der Herkunft)“ schreiben will, als das ja das MtEv als Ganzes zu verstehen ist: „Jesus Christus, Sohn Davids, Sohn Abrahams“. Damit hat er den, dessen Geschichte er vorlegen will, vorerst hinreichend deutlich angesagt. Das Gesamtevangelium wird dann Näheres zu dem vorbringen, was in 1,1 als dem Anfangssatz dieser Schrift in erster Zusammenfassung ausgesagt ist, und das weiter ergänzen. Dieser volle Name nennt mit jedem dort begegnenden Namen Einzelelemente, die Jesus Christus charakterisieren und die ihm unverwechselbar eignen. In einem ersten Gang (1,2–17) wird er mittels seiner Genealogie (damals durchaus in ihrem biblischen Sinn verstanden; sie hatte und hat nichts mit einem historischen Aufweis heutigen Sinnes zu tun) als „Sohn Davids, Sohn Abrahams“ vorgestellt. Damit waren für die ersten Leser (und so auch für spätere) ganz bestimmte glaubensprägende und daher theologisch bedeutungsvolle (Er)Kenntnisse angesagt. Jesus Christus wird als Glied innerhalb einer Generationenkette gekennzeichnet, mit der Gott selbst seinen Heilsplan 72 Matthäus bringt ja keinen Bericht über die zeitliche Aufeinanderfolge des Erreichens der Glau-

beneinsichten der ersten Gemeinde(n) und ihrer ersten Ausformulierungsversuche. Diese hatten zu Beginn ja kein theo-logisches oder gar schon christo-logisches Interesse und Ziel, waren vielmehr dankbar-preisende Glaubensbekenntnisse, Homologia. Wir stellen daher hier das, aber auch nur das heraus, was in Mt 1 tatsächlich ausgesprochen (und nicht als mit-impliziert mitausgesprochen) erscheint. Das genau herauszusuchen, zu erkennen und als Ergebnis vorzulegen darf sich folglich nicht als für den gesamten Glauben schon definitiv und daher andere zusätzliche Aussagen anderer Bibelstellen nicht (mehr) gelten lassend verstehen. Wenn wir daher im vorher Dargestellten auf die Offenheit, d. h. auf das Nicht-alles-und-endgültig-abschließend-gesagt-Habens der Mt-Aussagen bestanden, dann auch hier. Die Mt-Aussagen sind nicht gegen andere ausgerichtet. Sie sind auch keine logischen Schlußfolgerungen, mittels anderer Bibelstellen oder gar mittels „Theologie“ errungen. Deswegen rekurrieren wir hier auch (noch) nicht etwa auf Lk 1 u. ä. Das wäre hier verfrüht, besser: sachlich unzulässig. Die einschlägigen Bibelstellen müssen zuerst in sich selbst betrachtet und erklärt werden, jede in und für sich. Dann erst kann eine Zusammenschau versucht werden. Daß in diesem Vorgehen immer alles und jedes im Gesamt der Bibel als Teil-Aussage zu gelten hat und folglich zu lesen ist, dürfte selbstverständlich sein, soll aber doch eben ausdrücklich betont werden.

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III.

Kernpunkte des Aussage-Inhaltes von Mt 1

zu verwirklichen gedenkt. In 1,16 ist dieses bestimmte Gliedsein in der AbrahamDavid-Reihe ausdrücklich, wenngleich aufs kürzeste ausgesprochen. Das erfährt in 1,18–25 seine nähere (auch notwendige) Erklärung. In bestimmter Hinsicht erweist Jesus Christus sich nämlich als End-Glied dieser Generationenkette, die selbst ja weit vor ihm ihren Gott-bestimmten Anfang und ihre eigentümliche, von Jahwe selbst persönlich betreute Geschichte hatte. Dieser Geschichte wurde in Jesus Christus zu diesem Zeitpunkt ihr Ziel und Ende bereitet, und zwar dadurch, daß Jahwe selbst innerhalb ihres längst währenden Verlaufs aufgrund seiner Bundestreue einen NeuAnfang setzt, der eine bisher nicht gekannte Charakteristik aufweist. Denn Neuanfänge hat Jahwe schon öfter gewagt. In der Genealogie werden jedenfalls die genannt, die mit den Namen Abraham und David sowie mit der (Beendigung der) Babylonischen Gefangenschaft deutlich angegeben sind. Die Neuanfänge mit Noach (Gen 6,5–9,17) und Mose (Ex 2–3) und andere bleiben hier außer Betracht. Sie wären in einer vollständigen Geschichte Israels natürlich entscheidend mitzuberücksichtigen. Hier nennen wir nur die Namen derer, die in Mt 1 aufgeführt sind. Allen diesen Neuanfängen ist eine Note gemeinsam: Sie alle sind gerade dadurch bestimmt, daß Jahwe namentliche Menschen in unverwechselbarer Weise mit-beteiligt in dem, was er in der Lebensgeschichte seines Bundes mit seiner Schöpfung zu wirken gedenkt.73 Seit der Schöpfung als Ur-Anfang, die allein Gottes Tat ist, sind es Geschehnisse, die aus widersprechendem (sündigen) Entschluß und Wirken der gott-gestifteten Freiheit der Geschöpfe Wirklichkeit geworden sind, von dem Gott zutiefst getroffen wurde. Sie verfügten dem Geschaffenen selbst unvorstellbares und unabwendbares Unheil, ja den Tod, und das zu wiederholten Malen. Gott antwortet (reagiert) darauf, abgesehen zunächst von seinem eigenen Erleiden, stets durch ein bisher überhaupt nicht geplantes neues Beginnen. Dabei verbleibt er in dem von ihm trotz der Sünde ungekündigten Schöpfungsentschluß in seinem erschaffenden Sein- und Leben-Geben in Treue zu seinem im Anfang eingegangenen Bund; doch versucht er das Unheil zu wenden, indem er sogar das verunstaltete, sich den Tod bereitet habende Geschöpf einlädt, seinem Neu-Planen mit dem verdorbenen, aber von ihm immer noch im Dasein erhaltenen Gottes-Geschöpf-Sein zuzustimmen, sich in dieses neue Wirken Gottes einbeziehen zu lassen zum Mit-Wirken mit ihm. Gott erzwingt nichts, wie schon Ur-Schöpfung wesentlich in die gott-geschenkte Freiheit hineingestiftet war. So geschah es in der Abrahams-Geschichte, so in der Davids, so nach der Babylonischen Gefangenschaft, und jetzt die Beteiligung Josefs und Marias sogar im gänzlich neuen, weil endgültigen Heilswirken. Immer läßt es Gott Geschöpfe in der ihnen geschenkten persönlichen Freiheit entscheiden, ob er sein Ziel erreichen wird. Gott will jetzt trotz allem (oder gerade wegen allem) Bisherigen das Heilswerk selbst in Person sein und es persönlich vollbringen, indem er sich selbst einsetzt in einem bisher noch nie 73 Hier ist nicht der Platz, auf alle diese Fragen hinreichende erste Antworten zu versuchen; das soll

im Exkurs „Gott in Geschichte“; s. Anhang I.2.

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Abschnitt A:

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erlebten Ausmaß, welches tatsächlich auch erst, nachdem es vollbracht war, von den Gott-Glaubenden in seiner Tiefe verstanden und begriffen wurde. Hier wäre auf Gal 4.4 und Röm 8 u. ä., hinzuweisen. Von dieser Neuheit, die sich in Jesus Christus ereignet hat, von diesem unahnbaren und unberechenbaren noch je konkret ersehnten Empfinden, Denken und Sich-selbst-Verwirklichen Jahwes in diesem Geschehen kündet 1,16 und 1,18–25 in einem ersten evangelium-artigen Ins-Wort-Bringen der geschehenen und glaubend anerkannten Wirklichkeit. Das geschieht u. a. in Erinnerung an und mit Hilfe des schon viel früher geschenkten Verheißungswortes Jahwes selbst: Jes 7 u. a. Die Verse 18–25 werden meist als deutlichere Erklärung zu dem sehr kurzen, aber inhaltsschweren Schlußsatz der Genealogie (1,16) angesehen, die nachträglich angefügt wäre; sie würden die Aussagen der Genealogie vervollständigen. Dem sei nicht widersprochen. Tatsächlich führt Matthäus jedoch wohlüberlegt gleichsam schrittweise in die Fülle dessen ein, was er im ersten Kapitel seines Evangeliums aussagen will. So stellt er in 1,18–25 einzelne wesentliche Elemente dessen heraus, von dem das „Buch der Geschichte“, das Evangelium, in seiner Hauptsache spricht, in Mt 1 offenkundig mit einer ersten grundlegenden Angabe. Er, Jesus Christus nämlich ist es, zu dessen Charakterisierung auch die Genealogie als erste, einleitend-ansagende Vorstellung ihren Dienst leistet. In 1,16.18–25 werden solche wichtigen Aussage-Elemente zu Jesus Christus ausdrücklich herausgestellt, die selbst, wenngleich schon grundlegend entscheidend, noch nicht schon die alles umfassende Personbeschreibung vorbringen wollen. Was konkret genannt wird, ist zudem weder historischer Aufweis (heutigen Verständnisses) noch biographisch-detaillierende Feststellung, sondern eine erste, noch nicht endgültig-volle Angabe dessen, was es um Jesus Christus Besonderes ist. Auch die auffallend genaue Zeitangabe der persönlichen Lebenssituation Josefs und Marias, zweifellos sehr bedeutsam, darf nicht als Hinweis dafür angesehen werden, daß Matthäus hier eine chronologisch exakte Darstellung des Lebens Jesu beginnen will. Alles ist (nur) Teil des einen Evangeliums über Jesus Christus. Für unsere zusammenfassende Angabe des Aussage-Inhaltes von 1,1–25 bedeutet das: Das in 1,16.18–25 im einzelnen Aufgeführte kann und muß, zusammengeschaut und dadurch sachgerecht, wie folgt angegeben werden (die Erfassung des Textes in Hinsicht auf die rechte Übersetzung und der ersten theologischen Erfassung, Abschnitt I und II, ist dabei, weil zuvor erfolgt, wegweisend): Es ist der Bote des Herrn, also Jahwe selbst, der Josef, ausdrücklich als „Sohn Davids“ angesprochen, den Auftrag gibt, dem, den Maria gebären wird, den viel-sagenden Namen „Jesus – Jahwe rettet“ zu geben und ihn im Sinne des israelitisch-jüdischen Gesetzes und Brauches zum „Sohn David“ zu erklären, mit allen damit angesagten Rechtsfolgen (1,20f). Damit findet auch die in 20 betont mit-genannte Angabe „das in ihr Gezeugte ist aus heiligem Geist (d. i. aus Gott)“, die dem gilt, den Maria gebären wird, eine zusätzliche Klarheit. Das gilt dementsprechend und folgerichtig auch für die Aussage in 1,18c: „sie hatte (trug) im Schoße aus heiligem Geist (d. i.: aus Gott)“. Diesen Satz hatten wir ja in seiner auffal110

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III.

Kernpunkte des Aussage-Inhaltes von Mt 1

lenden Offenheit und (scheinbaren) Unentschiedenheit des Aussagens erkannt. Es ist in 18c als das angegeben, von dem Josef sich betroffen fühlte (19) und dem er gott-gebührende Ehrerbietung bereiten wollte, was der Bote des Herrn bestätigt, wenngleich zum Inhalt des Auftrags an Josef macht (20–21). Wir erkennen, daß sowohl in 18c und in dessen Folge in 19 und in 20–21 Genannte immer der ist, der „Jesus“ heißen wird. Das Offenhalten der Aussagen in 18,19 und 20–21, für das wir uns entschieden haben, findet seine volle Bestätigung, damit aber auch die Klarheit über das, was dort zunächst, wie man meist meint, höchstens entfernt angedeutet wäre, aber auch vielfältig mißgedeutet wird.74 Daß dem, den Maria gebären wird, der Name „Jesus“ gegeben werden soll, begründet der Bote des Herrn, also Jahwe selbst deutlich: Er wird der sein und das vollbringen, was der Name sagt, kündet: Jahwe rettet. Er ist also persönlich Jahwe-Heil und er erfüllt das, in seinem Lebensauftrag (hier Unterscheidungen wie „irdisches Leben und Wirken“ oder „eschatologischer Auftrag“ u. ä. zu erkennen bzw. anzubringen, ist als deplaziert anzusehen). Im Evangeliumtext wird das bei vielen Gelegenheiten offenkundig und eindeutig sichtbar. So ist es dieser „Jesus“, von dem in 18–25 eindeutig die Rede ist, den Jahwe selbst im Geschehen des Getauft-Werdens durch Johannes „seinen Sohn, den Geliebten“ nennt (3,17).75 Alles bisher in 18–21 74 Hier sei nochmals nachdrücklich auf das verwiesen, was wir in den Abschnitten I und II zu diesen

Versen herausgestellt haben. Auf anderes werden wir noch in den folgenden Darlegungen zu sprechen kommen, in denen wir die tatsächlich vorhandenen Aussagen von Mt 1 und Lk 1 sowie von Röm 1,3f und Gal 4,4 und auch von Phil 2 und Joh 1 zusammenzuschauen uns bemühen werden. 75 Hier ist auch auf die folgenden Stellen im MtEv hinzuweisen, die alle in ihrer Weise das gerade Herausgestellte betont aussagen. So wird im unmittelbar folgenden Kapitel 2 zur Flucht nach Ägypten von Matthäus dieses Schriftwort zitiert, das mit der bezeichnenden Wendung „damit erfüllt würde, was vom Herrn (u`po. kuri,ou) durch den Propheten gesagt (dia. tou/ profh,tou le,gontoj) war: ‚Aus Ägypten habe ich meinen Sohn (to.n ui`o,n mou) gerufen‘“ (2,15). In Hos 11,1, dem hier verwendeten Zitat, ist das Volk „Israel“ angesprochen, in ihm irgendwie jeder Israelit; so auch Jesus. Und doch dürfte es im matthäischen Text eine wesentlich tiefere Bedeutung haben. ––– In Mt 8,27 findet sich zum Erleben des Geschehens der Sturmstille auf das Wort Jesu dieser Satz: „Die Menschen waren voll Staunens sprechend: Wer ist dieser? Ihm gehorchen die Stürme und das Meer!“. Die Frage ist als rhetorische zu verstehen, nicht als eine, der Auskunft gegeben werden soll (vgl. ähnlich Ps 8,2 u. ä.). Der hoti-Satz im Griechischen gibt den Grund des Erstaunens für das an, was sie als Ereignis erleben. Sie stellen fest: Da geschieht, was Jahwe allein vermag; das tut Jesus; also ist Jesus Jahwe?! Diese Stelle wird meist mißverstanden. Schon allein daß „potapo,j evstin ou-toj“, mit „was für ein Mensch ist dieser“ übersetzt wird, verfälscht den Text (Gaechter, MtEv 276; auch viele andere). Ps 89,9f und Ps 107, bes. 23–31 sind hinreichender Beleg für das Recht unserer Wiedergabe des Textes; auf die Kommentare können wir hier nicht weiter eingehen. Die Stelle Mt 14,33 bringt das Bekenntnis derer, die die andere See-Begebenheit mit Petrus erlebten: „die im Schiffe waren, huldigten ihm kniefällig und sagten: ‚Wahrhaftig, Sohn Gottes bist du (avlhqw/j qeou/ ui`o.j ei=)‘“. ––– Weiters ist auf das Petrus-Bekenntnis in 16,16 hinzuweisen, das in seinem Kontext 16,13–20 gelesen werden muß, um die volle Wucht der Aussage zu begreifen. ––– Das Verklärungsereignis ist ähnlich tief zu verstehen wie das in 3,13–17 geschilderte, wo der Sprechende („Stimme aus der Wolke sprechend – fwnh. evk th/j nefe,lhj le,gousa“) sich als Vater Jesu erweist: „Dieser ist mein Sohn der Geliebte, an dem ich Wohlgefallen habe – ou-to,j evstin o` ui`o,j mou o` avgaphto,j (wir beachten wieder die Artikelsetzung) „. ––– Es kann hier auch auf das Gleichnis der

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Herausgehobene wird nochmals tiefer in 22–23 ausgesprochen. Im Rückblick auf Jes 7 kündet Matthäus davon, daß ja Jahwe selbst in dem in 1,18–21 Genannten der ist, der erfüllt (nicht die Verheißung erfüllt sich, wie meistens ganz unpersönlich behauptet wird!), was er damals verheißend angesagt hatte (Jes 7 und in Jes insgesamt). Damals sollte die Frau, die den dort Verheißenen gebären würde (wer in 7,14 mit dieser Frau und dem Neugeborenen genau, gar namentlich gemeint war, ist bekanntlich in der Zeit und im Text der Bibel nirgends klar erkannt und ausgesprochen worden; erst in Mt 1,23 ist es offenkundig), ihn „Immanuel“ nennen. Jetzt, da Matthäus schreibt, ist es die Jahwe- und Jesus-glaubende Gemeinde, die aufgrund des persönlichen Daseins und Wirkens Jesu erkannt hat und preisend anerkennt, daß er dieser „Immanuel“ in Jes 7,14 ist, es im Wirken vollbracht hat und darin bleibt, was „Immanuel“ als Wirklichkeit unaufhörlich erleben läßt: Gott-mit-uns, was ja schlicht dasselbe sagt, was „Jahwe – Ich-bin-euer (Gott)“ ausspricht (28,20).76

3. Josef und Maria in Mt 1

Es wird zwar immer wieder die Auffassung vertreten, daß in den (sog.) Kindheitsgeschichten des MtEv Josef als Hauptperson zu gelten hat, in Lk 1–2 dagegen Maria, da die dortigen Erzählungen ihre je eigen-artigen Aussagen bringen, so z. B. der Bote des Herr im MtEv mit Josef spricht, im LkEv dasselbe der Maria kundtut.77

bösen Weinbergpächter hingewiesen werden, in dem Jesus selbst bezeichnend von dem einzigen spricht, den der Weinbergbesitzer noch hat, um ihn zu senden:Mt 21,33–43. 76 Vgl. dazu nochmals das im Vorausgehenden zu Gott als Hauptsubjekt dessen, was Mt 1 inhaltlich vorbringt, Herausgestellte. Wir werden am Ende dieses Abschnittes „Der theologische Aussagegehalt von Mt 1“ nochmals darauf zurückkommen, wo auf zusätzlich anzuerkennende Aussagen wie auch auf solche Erkenntnisse kurz einzugehen sein wird, die schon als implizite, also theologisch schlußfolgernd erfaßte anzusehen sind, nicht als explizit im Text vorgegebene. 77 Hier einige Beispiele aus Mt-Kommentaren: Schiwy (Mt) schreibt: „Während Lukas die Kindheitsgeschichte mehr aus der Sicht Marias berichtet hat, erzählt Matthäus, wie Joseph die Geburt Jesu erlebt haben mag“ (35). Daß schon die Kategorie „Kindheitsgeschichte“ fehl am Platze ist, haben wir oben schon herausgestellt. Von der Geburt Jesu ist in Mt 1–2 überhaupt keine Rede, am wenigsten davon, „wie Joseph sie erlebt hat“. ––– Bei Trilling (Mt) lesen wir: „Da ist zunächst die Gestalt des Joseph. Sie steht ganz im Vordergrunde, wie in den lukanischen Berichten Maria. Alles ist von seinem Standpunkt her beobachtet …“ (24). ––– Schmid (Mt) sagt es so: „Da fällt auf, daß hier, wie schon im Stammbaum und in den weiteren Teilen der Kindheitsgeschichte, Joseph (bei Lukas Maria) in der Vordergrund tritt. Die vorliegende Szene ist vom Standpunkt Josephs aus erzählt. Wie Maria sich dabei verhielt, ist dem Erzähler unwichtig“ (41). ––– Grundmann Mt sieht es wieder ähnlich: „Die Eigenart der Erzählung bringt es mit sich, daß die Rolle des Joseph besondere Bedeutung gewinnt, während Maria, sehr im Unterschied zur lukanischen Vorgeschichte, stark zurücktritt“ (66).

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III.

Kernpunkte des Aussage-Inhaltes von Mt 1

Bei einigermaßen aufmerksamem Lesen der Texte ist jedoch unverkennbar, daß in Mt 1 in jedem Vers, der irgendwie von Josef spricht, Maria gleichfalls genannt ist. Noch genauer geschaut zeigt sich, daß jeder dieser Verse zugleich auch Jesus zur Sprache bringt, ja daß Jesus immer derjenige ist, weswegen überhaupt zu Josef und zu Maria Wichtiges vorgebracht erscheint.78 Das klar zu sehen und zu werten, ist für das Einsehen und Auswerten der tatsächlichen Aussage-Inhalte des Textes unabdingbar – an sich etwas Selbstverständliches für jedes Lesen biblischer Texte. Daher wird hier zugleich von Josef und Maria in ihrer Relation (zunächst so offen formuliert) zu Jesus Christus und dementsprechend zu Gott, Jahwe gesprochen, weil es der Text selbst so hält. Im Vers 16, dem letzten Glied der Generationenkette, die Matthäus mit Bedacht und Absicht (1,17) auf Jesus Christus hinauslaufend strukturiert hat, findet sich eine ungewohnte Fülle von Bestimmungen, die Jesus selbst und zugleich Josef und Maria betreffen. Was im einzelnen in dem äußerst kurz formulierten Satz angeführt wird, ist im Sinne der planvollen Genealogie zu lesen, zu werten und auszulegen. Obwohl Matthäus selbst den Schlußsatz 1,16 äußerst erklärungsbedürftig ansieht – er fügt ja sogleich die Verse 18–25 an, um Näheres auszusagen –, war es offenkundig 78 Vers 16 nennt Josef als letztes Glied der Genealogie „Sohn Davids“ und bestimmt ihn sogleich als

„Mann Marias“ (die damit bei ihrem ersten Genanntsein auch sogleich als „Frau Josefs“ angegeben ist); aus ihr ist Jesus geboren (die erste weitere eindeutige Charakterisierung nach „Sohn Davids, Sohn Abrahams“: 1,1). Mit Vers 17 gibt Matthäus an, wie er die Genealogie in ihrer Eigenart verstanden wissen will. Vers 18 nennt genau wie 16 in synonymer Wortwahl Maria die Frau Josefs (dem Josef verehelicht, womit Josef wieder als „Mann Marias“ bezeichnet ist). Maria „hat im Schoße aus Gott“, womit der (wenn auch in gänzlich offener Angabe) genannt ist, den Maria nach 16 und 20.21.25 gebiert, Jesus. Gemäß Vers 19 will Josef „sie“ (d. i. Maria) nicht öffentlicher Ehrfurchtslosigkeit ausgeliefert wissen um dessentwillen, den sie im Schoße trug: Jesus. Gemäß 1,20 spricht der Bote des Herrn Josef ausdrücklich als „Sohn Davids“ (16!) an und nennt Maria namentlich seine Frau (gunh,), indem er bestätigt, wovon Josef betroffen war, dem „im Schoß haben“ Marias, das/der ja Jesus ist. Vers 21 gibt als Auftrag des Boten an, was geschehen wird und wie Josef sich verhalten soll: Sie, Maria also, wird gebären und Josef soll ihn Jesus nennen. Vers 23 gibt den Verheißungstext Jes 7,14 in seiner Anwendung auf Jesus an, zugleich mit deutlichem Bezug auf Maria. Vers 24 bekundet die Auftragserfüllung durch Josef in Bezug auf seine Frau, also auf Maria in ihrem augenblicklichen Stand, nämlich den „Sohn gebären werden“, der ja Jesus ist. Schließlich gibt Vers 25 Näheres über das Verhalten Josefs an: „er erkannte sie (d. i. seine Frau Maria) nicht, bis sie den geboren hatte, dem er den Namen Jesus auftragsgemäß gab. –– Eine gleiche Weise, stets von Josef und Maria im Blick auf Jesus zu sprechen, findet sich übrigens auch im folgenden Kapitel 2 des MtEv. Bei jeder Nennung Josefs wird auch Maria angeführt (mit Ausnahme von 2,11, wo allein „Maria, die Mutter des Kindes“, das ja Jesus ist, genannt wird). In Vers 13 erhält Josef vom Boten des Herrn den Auftrag, „das Kind und seine Mutter“ (d. i. Jesus und Maria) zu nehmen und zu fliehen, was Vers 14 fast wörtlich wiederholt. Entsprechendes, wieder in derselben Aussageweise, findet sich in 2,19–21. Damit sind alle Josef-Stellen genannt. Maria, zuvor schon einmal allein mit Namen in 2,11 als „seine (d. i. Jesu) Mutter“ genannt, begegnet noch ein Mal in 13,55: „… des Zimmermanns Sohn. Heißt nicht seine Mutter Maria …“. – Etwas Ähnliches findet sich übrigens in Lk 1–2; das gleichzeitige Nennen von Josef und Maria zusammen mit Jesus ist nicht zu übersehen, sollte vielmehr voll ausgewertet werden (für das LkEv werden wir es bei dessen Besprechung auch tun).

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doch seine Absicht, die Aussage zur Herkunft Jesu Christi in dieser Darstellungsform vorzubringen und sie so in dem in 20–24 Verkündeten aufgipfeln zu lassen. (In den Abschnitten I und II haben wir das ins einzelne gehend besprochen; darauf können wir hier aufbauen.) In 1,16 wird Josef aufgrund der entscheidenden Generationenfolge als „Sohn Davids“ angegeben (und in 1,20 betont genau damit vom Boten des Herrn angesprochen). Zugleich wird er „der Mann Marias“ genannt, was in einem auch Maria als „Frau Josefs“ ansagt. Maria ist die Frau, „aus der geboren wurde Jesus, der Christus Genannte“. Wir bemerken: Josef und Maria werden in ihrem ersten Genanntwerden im MtEv überhaupt als Ehepaar im Hause Davids betont herausgestellt. Genau das wird in 18–25 deutlicher erklärt. In einer ungewöhnlich exakten Angabe wird die persönliche Lebenssituation Josefs und Marias klar angesagt: sie waren „verehelicht, aber noch nicht zusammengekommen“, was wie eine Datumsangabe klingt (und ja auch ist).79 Die Verse 20–24 geben nun eindeutig an, was von Gott her schon Wirklichkeit geworden ist und worin Josef als „Sohn Davids“ im Gedanken und Vollbringen-Wollen Gottes selbst wesentlich mit-beteiligt zu werden ausersehen ist. Das bisher in 1,16.18a.19 Ausgesprochene wird gleichsam rückwirkend bestätigt und in voller Klarheit verkündet. Es ist „aus Gott“, was Maria, die Ehefrau Josefs, „im Schoße hat“ und gebären wird (in 1,16 vorweg schon als Faktum ausgesprochen: „die geboren hat …“). Dieses soll sich ereignen zum Zeitpunkt, da Josef sie heimgeführt haben wird. Dazu wird er von Gott selbst entgegen seinen eigenen Erwägungen ermuntert, um dann zu erfüllen, wozu Gott ihn erwählt hat, daß er es tue. Das vermag nur einer, der im vollen Recht „Sohn Davids“ ist und auch persönlich vollbringt, was Gottes Auftrag ist. Es ist ja das, wozu sich Gott selbst in seinen Verheißungen (2 Sam 7; Jes 7 u. ö.) verpflichtet hatte. Josef soll dem israelitisch-jüdischen Recht entsprechend als Familienhaupt dem Kind die Rechtsgliedschaft im Hause Davids und dazu den Namen verleihen, den Gott vorgesehen hat und ihm zu geben aufträgt, mit allen Rechtsfolgen für Jesus. Von Josef hängt es ab, ob Gott das zu vollbringen vermag, was in Vers 21 in letzter Klarheit als sein eigener Entschluß angesagt ist: „sein Volk von ihren Sünden erretten“. Wir erkennen die ähnliche und doch gänzlich neue Geschichtssituation, wie sie zu der in Jes 7 angegebenen Zeit vorlag. Damals wandte sich Gott an Achaz, der sich jedoch strikt verweigerte und daher die Verheißung als Gottes Androhung verstehen mußte: Gott wird handeln und das Heil herbeiführen gegen die, die sich als von ihm Erwählte doch seinem Willen widersetzen. So wird in 79 Es ist gut, sich das gerade Betonte durch nochmalige Lektüre dessen klar vor Augen zu stellen, was

wir dazu ausführlichst in den Abschnitten I und II als Untersuchungsergebnis vorgelegt haben, weil gerade zu Mt 1 nach wie vor viel Unbegründetes und Unsachliches, ja Phantastisches behauptet wird. – Wir können hier kurz auch darauf hinweisen, daß auch in Lk 1 bei der ersten namentlichen Nennung Marias zugleich und wesentlich Josef mit-genannt wird. Von beiden wird in dieser ersten Angabe über sie gesagt, sie seien miteinander verehelicht. Mehr dazu in der Besprechung des Textes Lk 1–2 sowie in der folgenden Zusammenfassung aller einschlägigen ntl. Texte zur Herkunft Jesu Christi.

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III.

Kernpunkte des Aussage-Inhaltes von Mt 1

1,23 sogleich mit-ausgesprochen, daß dieser Jesus in seinem Leben und Lebenswerk von Anfang an „Immanuel – Gott-mit-uns“ war und es bleibend ist. Die Gemeinde derer, die glauben und Gottes Weg akzeptieren und mitgehen, nennt ihn so aufgrund ihres tatsächlichen Erlebens jedenfalls seit seinem sog. öffentlichen Auftreten, über seinen realen Tod hinweg kraft der Auferweckung durch den, der ihn dazu zuerst den Sündern ausgeliefert, ja gleichgestaltet hatte (Gal 4,4; Röm 8); und der ist Gott selbst. „Immanuel“ im Mund der Glaubensgemeinde ist anerkennendes Ant-Worten auf das Wort Jahwes selbst hin. Das stand somit auf dem Spiele, als sich der Bote des Herrn an Josef wandte: Jahwe ermuntert ihn, Maria, seine Frau, die diesen Jesus trägt, heimzuführen und in diesem Sinne den Eheschluß zu besiegeln, so daß er in der rechtlichen Lage ist, diesen Jesus rechtsverbindlich in das Haus Davids aufzunehmen. Jahwe vertraut den, den Maria gebären wird, der „aus Gott ist“ und „Jesus“ im Sinne Gottes ist und deswegen so heißen soll, dem Josef an. Und Josef erfüllt, was Gott ihn zu tun einlädt und aufträgt; er nimmt seine Frau und in ihr das Kind zu sich. Er verbleibt weiterhin dabei, diesen Jesus in seine Vater-Sorge und Vater-Schutz zu nehmen. Das „fürchte dich nicht, Maria und in ihr das Kinde heimzuführen“ (20) findet seine Entsprechung in dem mehrmaligen Auftrag des Boten des Herrn: „Nimm das Kind und seine Mutter und flieh …“: 2,13; das mit 2,15 in eins gelesen werden muß: „damit sich erfüllte, was der Herr (Kyrios – Jahwe) gesprochen hat durch den Propheten, das sagt: „Aus Ägypten rief ich meinen Sohn“ (dazu auch 2,19f). In 1,24–25 wird bekundet, daß Josef das erfüllte, was Jahwe aufgetragen hat. Damit erfüllt sich die Verheißung (Jes) im Mit-Tun des Geschöpfes. Maria „gebiert Sohn“ (25; „Sohn“ hier ohne Artikel), also was/wen sie „im Schoße hatte aus Gott“ (18c). Sie gebiert nicht ihren Sohn noch den Josefs, sondern den, der ganz „Gottes“ ist. Wer dieser „Sohn“ genauer ist – weder in 20 noch in 21 und auch nicht in 25 ist der Ausdruck „Sohn Gottes“ verwendet! –, das ist aus dieser Stelle 1,18–25 allein noch nicht deutlicher, als es im Mt-Text tatsächlich steht, ausgesprochen; die Offenheit der Rede kann aber anregen, im MtEv und im NT insgesamt eine klärende Antwort zu finden. Ein erster Hinweis steht in Mt 2,15, worauf wir schon hingewiesen haben.80 In 1,25 wird in äußerster Kürze, dazu im Nebensatz ausgesprochen, daß Maria „(den) Sohn geboren hat“, in derselben Formulierungsweise, die sich in 1,23 im Zitat Jes 7,14 findet. Es fällt auf, wie knapp und fast nebenbei diese Feststellung gemacht ist, was sich sogleich in 2,1 wiederholt. Im ganzen Kapitel 2 wird Maria nie mit Namen genannt; es gibt nur die Formel nimm das Kind und seine Mutter“, in der stets das Kind zuerst genannt, und mit „seine Mutter“ klar Maria mit-genannt ist. Nur noch einmal, in der Frage der erstaunten Nazarener „Heißt seine Mutter nicht Maria?“ (13,55), wird Maria mit Namen genannt. Das MtEv spricht somit, zusammenfassend gesagt, von Josef und Maria stets von beiden gemeinsam, niemals nur von dem einen oder dem anderen für sich allein. Das 80 Vgl. dazu, was oben in Anm. 1 auf S. 8 herausgestellt wurde.

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Abschnitt A:

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ist in Mt 1,16.18.20.25 ganz offenkundig, da sie sogleich als Ehepaar genannt werden. In 2,11 ist zwar zunächst nur „das Kind und seine Mutter“ gesagt, doch mit dieser Formel, die im Folgenden öfter wieder eingesetzt erscheint, und zwar stets mit Josef, der den an ihn ergehenden Auftrag in Bezug auf „das Kind und seine Mutter“ erhält bzw. ihn ausführt: 2,13.15.19–23. Josef und Maria werden somit ab 1,16 stets als miteinander-verehelicht vorgestellt, durch die Nennung von Josef sogleich dem Hause Davids zugehörig erklärt, was ja der entscheidende Punkt ist. Für un-voreingenommene, aber die Rechtsgewohnheit im israelitisch-jüdischen Raum kennende und beachtende Leser ist damit ausdrücklich und offensichtlich mit Absicht herausgestellt, daß Josef und Maria einen Ehevertrag geschlossen haben, gemäß dem damals üblichen Rechtsbrauch, nämlich dem Sich-Kennenlernen, Sich-Liebgewinnen und sich zur Ehe Entschlossen-Haben und so die Ehe rechtsgemäß und, was wichtig ist, rechtsverbindlich eingegangen sind. Es hat für uns hier keinen Anlaß dazu noch einen Sinn, spätere mariologische und josefologische (in der Mitte des vorigen Jahrhunderts in Frankreich versucht) Fragen und Überlegungen anzustellen oder zu bedenken. Wichtig ist hier zu sehen, wie der Text Mt 1–2 (und übrigens auch Lk 1–2) ganz konkrete Situationen im Ehe-Leben des Josefs und der Maria anführen bzw. als geschehen benennen. Neben Gott und Jesus sind sie Subjekte im Geschehen, das bekundet wird. Aus „Sach“-Gründen wird Maria (in 1,18: „im Schoße habend“) bzw. Josef (in 1,20f: Auftrag zur Heimführung und Namengebung) zunächst allein genannt, doch stets in ihrem unmittelbar mit-genannten ehelichen Miteinander als Ehepaar. Das gilt auch für die Aussage in Mt 13,55 („… ist er nicht der Sohn des Zimmermanns, heißt seine Mutter nicht Maria …“). Daher, alles in allem: Gott vertraut seinen Sohn für sein Heilswerk ausdrücklich einem Ehepaar des Hauses Davids an! Im MtEv ist dazu keinerlei Rede (auch nicht andeutungsweise) von einer Aufkündigung der Ehe Josefs und Marias, gar im Auftrag Gottes, etwa wegen ihrer (offenkundig absolut unerhörten) Weise ihrer Beteiligung am Heilswerk Gottes. Auch das in 1,24f angedeutete Sich-Verhalten Josefs Maria gegenüber ist bei Kenntnis von Dtn 24 eindeutig klar und widerspricht keineswegs dem Bestand ihrer Ehe. Vgl. zu allem hier Gesagten die Besprechung des Textes Mt 1 insgesamt in den vorausgegangenen Abschnitten.81

4. Abschließende Bemerkungen

Wir hatten uns in diesem Abschnitt „Der theologische Aussagegehalt von Mt 1“ vorgenommen, die vom Evangelisten selbst intendierten und als solche klar und explizit sprechenden Aussage-Inhalte von Mt 1 (nur um die geht es hier) zu erfassen. Die be81 Vgl. zum Ganzen den Exkurs „Das Ehepaar Josef und Maria in der ntl. Bekundung des Heilsge-

schehens“.

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Kernpunkte des Aussage-Inhaltes von Mt 1

stimmende Frage war und bleibt: Von wem und von was ist gemäß der erkennbaren Intention des Evangelisten selbst unmittelbar die Rede. In den Kommentaren und ihnen folgenden theologischen Abhandlungen finden sich nämlich sehr häufig Feststellungen, die als im Mt-Text explizit ausgesprochen herausgestellt werden, tatsächlich dort aber keine gültige Begründung haben. Sie sind daher als Text-Auslegungen in weiterem Sinne anzusehen. Sie bringen vielleicht sachlich berechtigte Folgerungsaussagen, die im Text implizit Enthaltenes (was als solches auszuweisen wäre) erschließen und entfalten. Sie werden dann explizit Gesagtem beigefügt bzw. eingemischt, dabei jedoch oft als gleichgewichtige, ja sogar als vorrangige und sinnbestimmende Text-Aussagen angesehen und vorgetragen. Damit meinen wir jetzt solche Feststellungen, die Wesentliches des Mt-Textes und seines Aussagegehaltes betreffen, es aber durch diese Beurteilungsweise mißdeuten oder überfordern, ja auch verfälschen. Das sei an einem Beispiel aufgezeigt.82 Das äußerst bedenkliche Verständnis von 1,18 82 Um den Haupttext zu entlasten, sei das Beispiel hier ausführlich vorgestellt. (Einzelbelege für das

jetzt Anzuführende beizubringen, würde den Raum sprengen. Wir verweisen auf die vielen bisher schon zitierten Kommentartexte in den vorherstehenden Anmerkungen, in den Abschnitten I und II, sowie in den Anhängen I und II, wo sich vieles dazu finden läßt.) Viele Kommentatoren sehen es in 1,16 als „ausdrücklich ausgesprochen“ an, daß Josef „nicht der leibliche Vater Jesu“ sei. Diese Feststellung ist typisch für diese Art des Auslegens biblischer Texte: als ausdrücklich ausgesprochen wird bei gegebener Gelegenheit etwas bezeichnet, was nicht der Fall ist, und auch, wie hier, was im Text selbst überhaupt nicht gesagt noch angezielt ist. Es ist in Mt 1 klar erkennbar, daß 1,16 als Endglied, besser noch: als Zielpunkt der von Matthäus in der Absicht seines Evangeliums konzipierten Genealogie eine wirklich eigen-artige Formulierung aufweist, die nicht einmal seinen eigenen Wendungen in 2–15 entspricht. Sie sagt etwas aus, das einer eigenen Erklärung bedarf, die Matthäus ja selbst unmittelbar folgend bringt: 18–25. In 1,16 wird eindeutig und klar von Josef in der Generationenfolge als Sohn des Jakobs gesprochen; er wird dazu als der Mann Marias benannt, „aus der Jesus geboren wurde, der Christus genannt wird“. Das ist eindeutige Rede. Die Spannung, die 1,16 durch diese Weise der Rede aufbaut, ist die Absicht des Autors, der weiß, daß er in 18–25 bisher absolut Unerhörtes und Nie-Erfahrenes zur Sprache bringen muß, aufgrund der ihm vorliegenden Tradition der allerersten Jahwe- und Jesus-Glaubenden, nicht aufgrund menschlicher Einsichten in den Lauf der Geschichte, sondern weil Gott selbst Neues hat geschehen lassen. Diese geschehenen Fakten bringt Matthäus in 18–25 zur Sprache, wie er es für seine Evangelium-Schrift für angemessen hält. In 1,18b wird zu Josef und Maria und deren persönlicher Lebenssituation in positiver Rede angegeben: „Sie waren verehelicht und bevor sie zusammengekommen waren, fand es sich …“. Das ist eine in damaliger Zeit und Umwelt problemlos verstandene Zeitangabe. Diese bezieht sich klar erkennbar auf das in 18c angegebene Faktum: „eu`re,qh – es fand sich …“. Der zweite Teil der Zeit-Bestimmung in 18b, „bevor sie zusammengekommen waren“, könnte, wenn er für sich allein stehend und rein sachlich betrachtet würde, durchaus als „sie waren noch nicht zusammengekommen“ verstanden werden. Doch das gäbe der Aussage in 18b.c eine neue, dazu negative Nuancierung, die der Text so nicht aufweist und auch nicht intendiert. Doch genau das geschieht in vielen Kommentaren. Denn meistens wird 18c zunächst nur in seinem ersten Teil beachtet: „sie hatte im Schoße“, was aber einfach als „sie war schwanger“ gelesen und so „ausgewertet“ wird: Maria, verehelicht und doch noch nicht mit Josef zusammengekommen, wird als schwanger erfunden. Von diesem Verständnis der (verkürzt gelesenen) Aussagen in 18.a. b. c wird dann wie selbstverständlich folgernd das verstanden, was 1,19 ausspricht: Josef schöpft Verdacht auf Ehebruch und will aus Gesetzestreue Maria nach jüdischem Recht verstoßen. Das verhindere

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(wir haben darauf in den vorigen Abschnitten nachdrücklich hingewiesen) hat dazu geführt, den eigentlichen Aussage-Inhalt von 1,16.18–25 unter die gänzlich verfehlte Überschrift „die Geburt Jesu“ zu stellen.83 Davon ist dort faktisch überhaupt keine Rede (1,25 enthält im Nebensatz nur die Zeitangabe „bis sie (den) Sohn gebar“). Mehr noch: In 1,16.18–25 sei, so das bekannte und oft unbekümmert wiederholte Ergebnis dieser „Auslegung“, im wesentlichen die „jungfräuliche Empfängnis“ wie die „jungfräuliche Geburt Jesu“ verbindlich bekundet, und zwar als Grund- und Hauptaussage des Mt-Textes selbst, so daß im Endergebnis dieses Teilstück von Mt 1 unter dem zum Schlagwort avancierten Ausdruck „Jungfrauengeburt“ nicht nur vorgestellt und interpretiert, ihm vielmehr in vielen Kommentaren sogar ein eigenständiger Exkurs gewidmet wird. Unter diesem, zum Hauptthema von Mt 1 gemachten Stichwort (übrigens nur im Deutschen vorkommend und eher als eine Wort-Mißbildung anzusehen) wird dann seitens der Exegeten die theologische Vereinbarkeit der Aussagen von Mt 1 (und Lk 1) mit den in Gal 4,4, Phil 2 und Joh 1 vorliegenden diskutiert (und oft sogar negiert). Sie ist das entscheidende Thema sogar für dogmatisch-systematische Auseinandersetzungen geworden, so daß dieser Ausdruck theologischen Tagungen

freilich der Auftritt des Engels des Herrn, der ja Josef überhaupt erst über den wahren Sachverhalt aufkläre. Nachdem das durchdiskutiert worden ist, besinnt man sich noch auf das bisher übergangene Teilstück in 18c: „… aus heiligem Geist“. Das wird freilich als Auskunft verstanden, die Matthäus für seine Leser vorzeitig eingefügt habe, was Josef ja erst in 1,20 erführe. Aus dieser (verfehlten) „Einsicht“ in den Text 1,18.20 wird jetzt gefolgert: Wenn Maria zwar „verehelicht, aber eben noch nicht mit Josef zusammengekommen war“, dann war Josef nicht der, durch dessen Zutun (wie die immer wiederverwendete Formulierung lautet) die Schwangerschaft Marias herbeigeführt wurde. Vielmehr sage dieser Kurzsatz „aus heiligem Geist“, daß er, die göttliche Schöpfermacht, das erfüllt hat, was im normal-natürlichen Geschehen der Mann vollführe. Das wird zur Sprache gebracht einerseits mit Formeln wie „vaterlose Empfängnis“, „ohne menschlichen Vater“ u. ä., andererseits mit „jungfräuliche Empfängnis“, „jungfräuliche Geburt“, „unversehrte Jungfräulichkeit“ u. ä. ausgesprochen. Alle diese Formeln werden ausgeweitet zu „vaterlose Geburt“ und „jungfräuliche Geburt“ bis hin zu „Jungfrauengeburt“, mit welchem Wort man dann den Hauptinhalt des ganzen Textes Mt 1 (wie dann auch für Lk 1) meint sachgerecht ins Wort zu bringen. Unter diesem Titel werden umfangreiche Exkurse der Auslegung von Mt 1 angefügt. Diesen zuletzt aufgereihten Formeln und der Frage nach ihrer Berechtigung werden wir uns noch angelegentlich zu widmen haben. Siehe dazu die späteren Kapitel und Abschnitte unserer Untersuchung. 83 Als Überschrift für 1,18–25 wird in den meisten Fällen „Die Geburt Jesu“ gesetzt. Einige Kommentatoren bringen ihren eigenen Vorschlag, so Schmid (Mat) 41: „Das Geheimnis der Geburt Jesu“; Schnackenburg (Mat; NEB): „Die Herkunft Jesu vom Heiligen Geist“ (19); Wiefel (Mat): „Der geistgezeugte Messias“ (30); Frankemölle (Mat): „die ‚himmlische Genealogie‘“ (148). Von der Geburt Jesu ist in 1,18–25 überhaupt keine Rede; in 1,25 steht im Nebensatz nur: „bis er geboren war“ (was 2,1 wiederholt). Warum wird nicht schlicht zur „Überschrift“ das genommen, was Matthäus selbst deutlichst angibt: „Die Herkunft Jesu war so“ (18a), wenn man schon meint, Zwischenüberschriften setzen zu müssen. Einzig fand sich (wieder einmal) die beste Möglichkeit bei Grundmann (Mat) 65: „Seine Herkunft aus Gott“, was auch sachlich sogleich deutlichst das Eigentliche benennt (mit 1,18c.20; ohne deren Mißdeutung, auf die wir aufmerksam machten). Vgl. im übrigen oben S. 2 Anm. 4 und das in Anhang II Zusammengestellte.

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und Büchern zum Titel gegeben worden ist.84 In Anbetracht dieses beispielhaft vorgebrachten Sachverhaltes – es wären noch manche weiteren beizubringen – erscheint es als geraten, die folgenden abschließend-klärenden Bemerkungen klar sprechend vorzubringen; sie sollen Wichtiges vor Augen halten. a)

Wir hatten zu Anfang von Gott als dem Hauptsubjekt in Mt 1 ausführlich gesprochen. Dazu hier noch einige klärende Bemerkungen im Sinne dieses Abschnittes. Eine Angabe von einem Sein oder Wirken o. ä., das ausdrücklich und betont Gott allein zugesprochen wird, findet sich in Mt 1 nicht. Die einzige Aussage, die Gott selbst unmittelbar und allein benennt, mit der Präposition „aus“, aber ohne Zugabe eines Verbums o. ä., ist 18c: „aus heiligem Geist“ (wir haben es als „aus Gott“ zu verstehen erkannt; s. o.), was in 1,20 mit einem Zusatz wiederholt wird: „das/der in ihr Gezeugte ist aus heiligem Geist (aus Gott)“. Wir haben auch erkannt, daß das eine ungewöhnlich offene Formulierung ist, da sie nicht einmal etwas angibt, was als „Wirken“, „Tun“ o. ä. zu lesen wäre. Die Wendung „aus Gott“ sollte auch nicht als Subjekt-Angabe, als Satzgegenstand begriffen werden, weil ja kein Satz vorliegt. Es könnte als mit-angedeutet erscheinen, was aber erwiesen sein müßte. Denn wir sahen, daß „aus Gott“ keinerlei Angabe darüber hergibt, was Gott und wie er es tat/wirkte. Wir sollten auch nicht voreilig an „Wunder“-Wirken Gottes (was nur er allein zu wirken imstande ist) denken, weil diese Kategorie ohnehin wenig klar ist. Eine Formulierung, die ausdrücklich Gott-allein angeben möchte, wäre schon als eine Auslegung weiteren Sinnes einzustufen. Auf diese (durchaus beunruhigende) Offenheit der Formulierung in 18c werden wir später intensiv eingehen; dazu mahnen nämlich einschlägige neutestamentliche Aussagen in ihren Formulierungsweisen.85 Alle anderen Stellen in Mt 1, die Gott zum Hauptsubjekt (in dem hier angegebenen Sinne) haben, beziehen in irgendeiner Weise Geschöpfe mit ein. Das versteht sich wie selbstverständlich, wenn von Gottes Sprechen, Verheißen, Beauftragen u. ä., die Rede ist, das sich ja immer an einen entsprechenden Adressaten wendet, und diesem etwas als Wort Gottes zu verstehen gibt. Das liegt vor in den Fällen, wo Gott Geschöpfe an und in dem beteiligen will, was er 84 Darauf haben wir schon oben hinweisen müssen. Hier nochmals einige eklatante Beispiele: Cam-

penhausen, Die Jungfrauengeburt in der Theologie der alten Kirche 1962); H. J. Brosch u. J. Hasenfuß (Hrsg.), Jungfrauengeburt gestern und heute (!!), 1969; K. Suso Frank, R. Kilian, O. Knoch, G. Lattke, K. Rahner zum Thema Jungfrauengeburt, 1970; so der Buchtitel selbst); R. Pesch, Über das Wunder der Jungfrauengeburt. Ein Schlüssel zum Verstehen, 2002. 85 Weil wir uns hier streng daran halten, den Aussage-Inhalt von Mt 1 zu erheben, ist ein Blick auf Lk 1 jetzt (noch) nicht angebracht, wenngleich beide Texte zusammengeschaut sich in vielem gegenseitig ergänzen. Dieses Zusammenschauen der ntl. Texte zur Herkunft Jesu Christi werden wir nach Besprechung der einzelnen einschlägigen Texte (Mt 1; Lk 1; Gal 4,4; Phil 2; Joh 1) in einem besonderen Abschnitt durchführen und dabei rückwirkend auch die Einzeltexte nochmals besser verstehen.

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selbst zu wirken beabsichtigt, es aber nur dann vollbringen will, wenn das Geschöpf sich auf sein Wort hin zu empfangen bzw. geschehen lassen öffnet, ihm zustimmt und dann sogar durch sein Mit-Tun (welcher Art auch immer) entspricht. Das sahen wir z. B. in 1,20–23 durch den entscheidenden Einbezug Josefs in das, was Gott persönlich Wirklichkeit werden lassen will, nämlich die Davidssohnschaft dessen, der schlicht „aus Gott ist“, und damit seine eigene Verheißung, die er ja in früherer Zeit versprochen hatte, nämlich gemäß dem Bericht in Jes 7 durch den in seinem Namen sprechenden Propheten, dem er das ja vor seinem Aussprechen, ihn beauftragend, eingeben mußte. Damit wäre schon die spezifische Art des Zusammenwirkens Gottes mit seinem Geschöpf benannt, die für das biblische Prophet-Sein und ProphetWirken charakteristisch ist: Gott, besser jetzt sogar: Jahwe spricht, wenn sein Prophet spricht, selbst – und doch durch den Mund seines genau dazu berufenen Propheten. Dieser wird dazu in seiner konkreten Lebenssituation von Jahwe selbst zum Zu- und Einstimmen in dem angesprochen, was Jahwe zuerst diesem individuellen Menschen kundtun „muß“ und wozu er ihn beauftragt, nämlich Zeichen und Wort Jahwes persönlich zu werden und zu sein. Jahwe „muß“ ihm zuerst zu verstehen geben, daß er und was er wörtlich verkünden (oder androhen) soll, und zwar als das Wort, das eindeutig Jahwe spricht, wenn es der Prophet ausspricht. Jahwe gibt dem Propheten das Vermögen und die Macht, im Wort seines Verkündens seine Hörer auf Glauben hin das zu hören, anzunehmen und zu verstehen zu geben, was Jahwe spricht, so daß, wer des Propheten Wort nicht annimmt, Jahwes Wort nicht annimmt. Matthäus hat diesen ganz eigen-artigen biblischen Sachverhalt formelhaft in seinen Einleitungssätzen für die Prophetenwort-Zitate der Bibel ausgesprochen, die er meint in sein Evangelium wörtlich einbringen zu sollen, weil er das Evangelium Jahwes schreiben will, das „seit dem Anfang“ war und ist, was es ist. Die erste Bibelzitation in diesem Sinne steht in 1,22f mit Jes 7: „Das alles aber ist geschehen, damit erfüllt würde das vom Herrn (Kyrios, Jahwe!) Gesprochene durch den Propheten, der spricht …“. Mit diesen Bemerkungen haben wir ins Bewußtsein gerufen, was für alle Stellen der Bibel gilt, die von den Propheten Jahwes oder den Boten Jahwes (hw"hy> %a;l.m;) oder sonstwie von Jahwe in Anspruch genommenen und beauftragten Menschen (Mose und manche andere) berichten. In ganz bestimmter Hinsicht gilt dies in Mt 1 für Josef, den Jahwe persönlich-namentlich erwählt und darauf anspricht zu vollbringen, was er selbst verwirklichen will, nämlich dem in 1,18c.20.21.25 noch ohne Namen Genannten rechtskräftig die Sohnschaft Davids und den Namen JESUS zu verleihen. Dazu hatte er sich ja selbst verpflichtet in den viel früher ergangenen Verheißungen. Das erinnert auch daran, daß die ganze Geschichte, die in 1,2–17 beispiel- und vorbildhaft angeführt wird, in Wirklichkeit die ist, die Jahwe initiierte durch seinen, ihn selbst bindenden und einbindenden Bund des gemeinschaftlichen Lebens mit seinen Geschöpfen, den er ihnen dazu angeboten, sie dahinein eingeladen hat, und ihn nur in Gemeinsamkeit, nicht in einsamen Entschlüssen und Taten sich ereignen läßt. Diese

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klärenden Bemerkungen zu dem, was wir für Mt 1 mit dem Stichwort „Hauptsubjekt“ für Gott vorgestellt hatten, finden ihre Weiterungen in dem Folgenden. b)

In Bezug auf Jesus Christus erweist es sich als wichtig, folgende Bemerkungen vorzubringen. In 1,1 wird Jesus Christus offenkundig so mit Namen genannt, wie es dem zur Zeit des Matthäus allgemein gewordenen Brauch entspricht (s. Paulus). Doch wie auch sonst im NT, so kennt dieses namentliche Nennen Jesu Christi in Mt 1 auch bezeichnende Unterscheidungen. In 1,1 dürfte es schlicht der übliche Name dessen sein, von dem Matthäus „das Buch der Geschichte“ schreiben will. In 1,16 findet sich das erste Mal eine Differenzierung: „VIhsou/j o` lego,menoj cristo,j – Jesus, der Genannte Christus“. Offensichtlich wird damit dem Jesus dieses „Christus“ zugesprochen, was nie umgekehrt vorkommt, daß Christus als „der Jesus Genannte“ gelten könnte. Der Name „Jesus“ gibt also mehr und noch anderes zu verstehen, als „Christus“ allein sagt (und ist). „Jesus“ so kann man es formulieren, ist der eigentliche, persönliche Name, den Matthäus entsprechend fast nur verwendet und der auch in dem vollen Rufnamen „Jesus von Nazareth“ seinen Niederschlag gefunden hat.86 In 1,21 gibt Jahwe persönlich den Auftrag, dem in 18c.20.21 Genannten, der geboren wird, den (Gott-gewählten!) Namen JESUS zu geben, den Jahwe selbst auch sogleich durch das erklärt, was dieser, wenn er geboren ist, wirken wird. Aus dem, was in 1,1.16.18–25 im einzelnen zu oder über Jesus ausgesagt ist, könnte erwartet werden, daß Matthäus ihn auch deutlich als „Sohn Gottes“ bezeichnen würde (was zugleich eine gewisse Antwort auf die ständige Frage wäre, wer dieser Jesus bei Matthäus überhaupt und in seinem „Wesen“ ist). Doch findet sich in Mt 1 keine derartige Angabe, was beachtet bleiben muß. Erst in 2,15, im dortigen Zitat Hos 11,1, heißt es: „Aus Ägypten rief ich meinen Sohn“, was auf das „Kind“ bezogen ist, dessen Mutter in Mt 2 immer mit-genannt wird, das Jahwe dem Josef anvertraut hatte, also deutlich Jesus meint. In 2,15 ist er somit klar als „Sohn Jahwes“ bezeichnet, wenngleich nicht im ausdrücklichen Bezug auf seine Herkunft. Alle weiteren Stellen, die im MtEv von Jesus als „Sohn“ sprechen, sind mit diesem Wort in 2,15 vor-angezielt.87 Man könnte nun meinen, das in 1,20 gesetzte „to. 86 Vgl. dazu, was wir oben in diesem Abschnittes herausgestellt haben. 87 Nach Mt 21,15 sind folgende Stellen des MtEv zu nennen, in denen wörtlich die Wendung „Sohn

Gottes“ vorkommt oder etwas hier zu Beachtendes ausgesagt ist. Satan spricht Jesus zweimal versucherisch so an: „Bist du der Sohn Gottes, so befiehl … so stürze dich hinab“ (4,3.6). Der Bericht endet so: „Engel kamen herbei und dienten ihm“, was offensichtlich sein Gott-Sein zum Ausdruck bringt. Durch den Satz 10,40: „Wer euch aufnimmt, nimmt mich auf. Wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat“ ist deutlich gesagt, wer Jesus ist und wie er sich von Gott gesandt weiß. In den ungemein reichen Versen 11,25–30 spricht Jesus deutlichst von seinem Vater und von sich als Sohn, worauf hier nur hingewiesen sei; eine hinreichend Auswertung würde den Raum sprengen. – In 25,34 sagt Jesus dieses Urteil: „Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters! Nehmt das Reich in Besitz …“, womit er klar als Sohn Gottes bezeichnet ist. – Im Garten Getsemani betet

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ga.r evn auvth/| gennhqe.n evk pneu,mato,j evstin a`gi,ou – das in ihr Gezeugte ist aus heiligem Geist (aus Gott)“ könne doch als „Sohn“ gelesen und verstanden werden. Man sollte aber, wenn es um das in Mt 1 explizit Ausgesagte geht – und das ist hier ja das Thema – die Offenheit der Formulierungen in Mt 1 gelten lassen, zumal genna,w ein viel reicheres Bedeutungsfeld abdeckt.88 Eine weitere Frage, die immer wieder auftaucht, ist es, wer genau mit „Jesus“ genannt ist. In vielen Kommentar-Aussagen wird oft spezifisch vom „Menschen Jesus“ gesprochen und das (so genannte) Mensch-Sein Jesu ausdrücklich ausgesagt behauptet. Dazu ist im Bezug auf Mt 1 dies zu sagen: In Mt 1 gibt es keine Aussagen, die unterscheidende bzw. ausschließende Differenzierungen oder Spezifizierungen in Bezug auf Jesus vorbringen oder andeuten würden. Faktisch wird nämlich in den Kommentaren oft wie selbstverständlich von der „menschlichen Natur“ Jesu, von seiner „irdischen Existenz“ und auch von seinem „Daseinsbeginn als Mensch“ gesprochen. Alle diese irgendwie abgrenzenden Kategorien in der Auslegung der Aussagen in Mt 1 anzuwenden, ist unbegründet und unberechtigt. Die werden von außen an den Text herangetragen und sind kaum als biblisch fundierte Sprechweise anzusehen. Den Namen „Jesus“ zum Beispiel auf den (sog.) „Irdischen“ beschränkt zu verstehen, wird von keiner Aussage in Mt 1 suggeriert. Den Begriff „menschliche Natur“ spezifisch für den (sog.) „irdischen Jesus“ anzusetzen, ist nirgends veranlaßt. Die Formulierungsweise des Matthäus ist, wie wir vielfältig gesehen haben, ungemein offen und trägt einen so reichen Bedeutungsinhalt, daß alle spezifizieren wollenden Begriffe oder Wörter immer zu kurz greifen. Damit soll keineswegs behauptet werden, es sei unmöglich, in dem und neben dem in Mt 1 explizit Ausgesprochenen auch implizit enthaltende Inhalte gültig erheben zu können. Es ist genau umgekehrt: Weil Matthäus so formuliert, wie es sein Text zeigt (und den hat er wohlüberlegt geschrieben!), deswegen sagen die einzelnen Sätze entschieden mehr, als es vordergründiges, übereiltes oder oberflächliches Lesen meint heraushören zu können. Wir werden das am entsprechenden Ort unserer Untersuchung zu besprechen haben. Darauf sei hier hingewiesen. c)

Wir haben schon im Punkt 4 auf das Faktum hinweisen müssen, daß in vielen Kommentaren der Text Mt 1,18–25 in den dort vorgelegten Gliederungen die Überschrift „Die Geburt Jesu“ (zu Unrecht!) trägt, die wesentlichen Aussagen von 1,16.18–25 hingegen unter dem thematischen Titel „Jungfrauengeburt“ besprochen und erklärt, ja meist sogar zusätzlich in einem ausführlichen Exkurs religionsgeschichtlich und Jesus: „Mein Vater, wenn es möglich ist …“ (26,39.42), was ihn deutlich als Sohn Gottes erkennen läßt. An diesen Stellen erscheint es nicht die Aussage zu sein, die dort jeweils das mit „Sohn Gottes“ Angesprochene als das Hauptbekenntnis herausstellen möchte; es ist aber klar ausgesagt. 88 Vgl. dazu das zum Text früher Hervorgehobene und im Anhang I.9 den Exkurs „genna,w“.

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III.

Kernpunkte des Aussage-Inhaltes von Mt 1

biblisch thematisch entfaltet und diskutiert werden. Dafür gibt das in Mt 1 explizit Ausgesprochene jedoch weder einen Grund noch das Recht. Was die Bildung dieser Wortprägung motiviert hat, sind nämlich Feststellungen zu Inhalten, die als implizit mit-ausgesagt – zu Recht oder nur vermutlich, bleibe hier offen – angesehen werden, die dann in ihrer Zusammenschau mit außerbiblischen und auch nach-biblischen Vorstellungen dazu geführt haben, auf den matthäischen Text überhaupt solche fremden Begriffe und Konzeptionen anzuwenden. Wir haben in den zuvorstehenden Abschnitten schon erkannt und hervorgehoben, was Matthäus tatsächlich ausdrücklich bekundet (und was nicht), und daß er in ungewöhnlich offenen, doch inhaltlich reichen Wendungen das vorträgt, was er meint evangelium-gemäß sagen zu sollen. Ausdrücke wie „jungfräuliche Empfängnis“, „jungfräuliche Geburt“, „Jungfräulichkeit“ u. ä. kommen bei ihm überhaupt nicht vor, auch nicht andeutungsweise. Nur einmal begegnet das Wort „Jungfrau“, nämlich in 1,23 im Jes-Zitat 7,14 LXX. Es besteht bekanntlich (noch) keine endgültige Klarheit darüber, was im hebräischen Text damit genau angesagt ist. Das gilt um so weniger für die LXX-Versionen, die ja selbst unentschieden bleiben. Bei Matthäus steht die LXX-Variante „parqe,noj“. Doch das rechtfertigt keineswegs, von daher in unseren heutigen Sprachen zur Angabe bestimmter Aussagen in 1,16.18–25 das von ihm abgeleitete Adjektiv „jungfräulich“ einzubringen, um damit den eigentlichen Aussage-Inhalt des matthäischen Textes mit ihm gültig zur Sprache zu bringen. Es überfordert den Text, aus ihm die bekannte logische (wie man meint) Folgerung zu ziehen: Matthäus will, wie schon der Jes-Text es tut (tut er das nachweislich?), ausdrücklich und betont sagen, jene „parqe,noj“ und folglich Maria habe ihr Kind „jungfräulich empfangen“ und auch „jungfräulich geboren“. Man mag meinen, das erschließen zu dürfen, ja zu müssen. Doch auch damit wäre mit-gesagt, daß der Text selbst es erkennbarerweise explizit so nicht sagt. Schaut man auf den in den Kommentaren eingesetzten Überlegungsgang, der für die Aussagen in 1,16 und dann in 1,18.23.25 zur Verwendung von „jungfräulich“ geführt hat, dann zeigt sich dies: Wegen der tatsächlich eigen-artigen Formulierung von 1,16 (wir haben sie besprochen) wird gefolgert, daß Josef nicht der leibliche Vater Jesu ist, Jesus also, wie es oft formuliert wird, „ohne Zutun eines menschlichen Vaters empfangen“ ist. Maria hingegen sei, weil sie Jesus geboren hat, seine leibliche Mutter, die ihn, weil ohne Zutun eines Mannes, „jungfräulich empfangen“ habe. Vom verneinten Faktum wird die Tatsache der Eigenart des Empfangens bestimmt! Ist das aber vertretbar und wird man so dem Text wirklich gerecht? Wir weisen hier auf die untragbare Fragwürdigkeit derartiger Bestimmungsversuche hin, die man selbst heraufbeschwört, indem man die schlichten, positiv-affirmativen Aussagen des Textes meint durch negative Abgrenzungen ausdeuten und klären zu müssen.89 Dasselbe Problem handelt man 89 Es soll nicht abgestritten werden, daß für die Feststellung bestimmter Tatsachen neben und nach

der Angabe ihrer faktischen Gründe, auch negative Abgrenzungen gegen nichtgegebene, sondern vielleicht vermutete Ursachen o. ä. klärend, ja auch verdeutlichend eingesetzt werden können.

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Abschnitt A:

Mt 1 — Der Text, seine Übersetzung und die theologische Erfassung seiner Aussagen

sich ein, wenn man, wie es oft geschieht, 1,18b voreingenommen liest und ausdeutet. Von Josef und Maria wird dort eindeutig und wegen des dort angesprochenen Sachverhaltes auch betont ihre momentane Lebenssituation herausgestellt, mittels genauer Zeitangabe: „als sie verehelicht waren und bevor sie zusammengekommen waren, fand sich …“. Wenn man das ohne weiteres negativ gewendet liest: „sie waren noch nicht zusammengekommen“ oder „sie hatten das gemeinsame Eheleben noch nicht begonnen“, und daraus dann nur dieses eine schlußfolgert: „also ist Josef nicht der leibliche Vater Jesu“ und zugleich „also hat Maria jungfräulich empfangen“, dann müßte man doch wegen der dabei angewendeten Logik eigentlich schließen: Beide waren und sind (noch) jungfräulich, jedenfalls in Bezug auf das „im Schoße haben“ Marias (1,18c). Das wird freilich nie so behauptet (warum eigentlich nicht?).90 Dasselbe fragwürdige „Verstehen“ der besprochenen Verse wird auch sogleich auf 1,19 angewendet. Da Maria in der angegebenen Zeit als „schwanger“ gefunden wurde, mußte ihre Schwangerschaft von einem anderen (unbenannt bleibenden) Mann herrühren, da Josef ja zuvor ausdrücklich ausgeschlossen war (1,16.18b). Deswegen verdächtigt Josef, so wird in dieser Voreingenommenheit 1,19 gelesen, Maria rechtens des Ehebruchs und erwägt, was für ihn zu tun sei. Auch das wird in den Text hineingelesen, der etwas ganz anderes in positiver Rede sagt. Gleichzeitig wird aber für Maria selbst wieder auf „jungfräuliche Empfängnis“ geschlossen.91 Das findet dann vermeintlich in 1,25 seine Bestätigung. Matthäus, so heißt es, habe diesen Text so formuliert, um nicht nur die „jungfräuliche Empfängnis“ Marias, sondern auch die „jungfräuliche Geburt Jesu“ aus ihr herauszustellen: „er erkannte sie nicht, bis sie gebar“. Bei der hier angewendeten Logik müßte man doch eigentlich folgern, daß von beiden, Maria und Josef die bleibende „Jungfräulichkeit“ gelte, was wieder nie geschieht. Aus all dem hier Besprochenen verstehen wir die verfehlte Erfindung des Unwortes „Jungfrauengeburt Jesu“, das den Haupt-Inhalt von Mt 1 sachlich gültig ansage. Daß der gesamte Text Mt 1, wie wir gesehen haben, Gott, Jahwe, als Hauptsubjekt nicht nur des formulierten Textes, sondern zuerst und grundlegend des bekundeten Geschehens ist, wird schlicht übersehen und bleibt unausgewertet. Darüber haben wir klare Feststellungen machen können, indem wir den Text selbst, und zunächst in seinen explizit ausformulierten Faktenangaben sprechen ließen. Wir werden auf die Probleme, auf die wir hier eindringlich aufmerksam gemacht haben, in einem späteren wichtigen Doch etwas sachlich bestimmen nur mittels Negierungen und ohne realgegebene und begriffene Angaben, ist unsinnig und wertlos. Wir werden das gerade in Bezug auf das, was man mit „Jungfrauengeburt“ glaubt sachlich richtig angeben zu können, im folgenden noch eingehend verfolgen. 90 In dieser Frage zeigt sich deutlich, daß faktisch viel später aufgekommene Fragestellungen an den früher geschriebenen Text herangetragen werden. Das ist für die eigentümliche Energie der Forschung, die man der Behauptung der „Jungfrauengeburt“ widmet, charakteristisch. Auch dem werden wir uns zuzuwenden haben. 91 Vgl. dazu, was wir oben im Abschnitt zur rechten Übersetzung und in dem zur theologischen Erfassung der Aussagen in Mt ausführlich dargelegt haben.

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III.

Kernpunkte des Aussage-Inhaltes von Mt 1

Abschnitt, dort sogleich für Mt 1 und Lk 1 zusammen, zu sprechen kommen müssen. Erst dadurch können wir zu entsprechend ausgewogenen Aussagen gelangen.92

92 Hier sei auf diesen noch folgenden Abschnitt hingewiesen, wo wir alle wichtigen ntl. Texte zur

Herkunft Jesu Christi zusammenzuschauen versuchen werden. S. d.

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Abschnitt B Lk 1–2 — Text – rechte Übersetzung – theologische Erfassung seiner Aussagen

I. Zur textentsprechenden und sachgerechten Übersetzung Anders als es für Mt 1 erachtet wurde, besteht keine Notwendigkeit, den ganzen Text Lk 1–2 Vers für Vers auf den Fragepunkt dieses Abschnittes hin durchzugehen. Daher betrachten wir jetzt nur die Stellen, wo eine eklatant inkorrekte oder schlicht falsche Übersetzung vorliegt. Wir bleiben auch hier dem Grundgebot treu, bei jedem einzeln zu besprechenden Text stets auf das Ganze des LkEv wie des jeweiligen unmittelbaren Kontextes zu achten, da isoliert betrachtete und ausgedeutete Stellen bekanntlich einseitig, wenn nicht sogar falsch verstanden werden.

1. Lk 1,11

Der Text lautet: w;fqh de. auvtw/| a;ggeloj kuri,ou e`stw.j evk dexiw/n tou/ qusiasthri,ou tou/ qumia,matoj – Es erschien ihm aber (der) Bote (des) Herrn stehend zur Rechten  des Rauchopferaltares. Wie schon zu Mt 1,20 näher erklärt wurde, so ist Wert auf die rechte Übersetzung von a;ggeloj mit „Bote, Gesandter“ zu legen, da im Deutschen das Wort „Engel“ faktisch zu massiven Mißdeutungen anleitet.1 Daß auch hier in Lk 1,11 sowohl a;ggeloj wie ku,rioj ohne Artikel stehen, sollte nicht übersehen werden, wie auch schon für Mt 1,20 und andere Stellen näher begründet wurde.2 Schürmann gibt den Vers 1,11, der absolut klar spricht, auf diese eigenartige Weise wieder: „Es erschien ihm aber ein Engel des Herrn – der stand zur Rechten des Rauchopferaltares“, ihn also durch einen trennenden Bindestrich zerreißt, ohne daß man dazu Gründe erkennt. Wir erinnern uns da an Mt 1,18c, womit oft Ähnliches geschieht und, wie wir gesehen haben, zu gänzlich unberechtigten Auslegungen des Textes führt.3 Bezüglich der 1 2

3

Vgl. dazu, was in der Besprechung von Mt 1 schon näher ausgeführt und begründet wurde. Siehe dazu die Erklärungen im entsprechenden Abschnitt zu Mt 1. Hier sei zusätzlich auch auf 1,26.38 hingewiesen, wo zweimal o` a;ggeloj erscheint. In 1,26 avpesta,lh o` a;ggeloj Gabrih.l avpo. tou/ qeou/; 1,38: kai. avph/lqen avpV auvth/j o` a;ggeloj. Vgl. die Ausführungen oben zu Mt 1,18c, die dort Essentielles herausstellen, während es hier in 1,11 keine wichtige Bedeutung hat; es soll aber doch für große Aufmerksamkeit der Text-Leser geworben sein.

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I.

Zur textentsprechenden und sachgerechten Übersetzung

Artikellosigkeit von a;ggeloj wie kuri,ou ist auch auf Lk 1,16 hinzuweisen. Dieser Text sagt wörtlich: evpistre,yei evpi. ku,rion to.n qeo.n auvtw/n – „Er wird sie hinwenden auf den Herrn ihren Gott“. Ku,rioj ohne Artikel meint in diesem wie ähnlichen Kontexten Jahwe, auch im NT. Es ist eine Formulierung, die im AT häufigst vorkommt, wie „Jahwe ist euer (oder dein) Gott“. Da ist Jahwe der eigentliche Name, während „Gott“ ihn bezeichnet mit dem, was er tut: Jahwe allein ist Gott-der-Retter. Durch die LXX wurde Jahwe meistens mit Kyrios ersetzt, niemals übersetzt. In 1,16 fällt die Artikelsetzung auf, da es ja wörtlich heißt: „zum Herrn, dem ihren Gott“, recht gut wiederzugeben mit „zu Jahwe, ihrem Gott“, da im Deutschen der Artikel im deklinierten Pronomen erkennbar erhalten ist.

2. Lk 1,27

Der Text lautet: pro.j parqe,non evmnhsteume,nhn avndri. w-| o;noma VIwsh.f evx oi;kou Daui.d kai. to. o;noma th/j parqe,nou Maria,m – (gesandt) zu(r) Jungfrau (die) verehelicht mit (dem) Mann, dessen Name (war) Josef aus (dem) Hause David, und der Name der Jungfrau (war) Maria. Was die rechte Übersetzung angeht, so ist zunächst auf die gängige, jedoch verfehlte Wiedergabe von evmnhsteume,nhn mit „verlobt“ hinzuweisen. Wir haben im Abschnitt zu Mt 1 schon darauf aufmerksam machen müssen, daß diese Wiedergabe des griechischen Wortes im NT allein schon dadurch als inkorrekt, ja als die Sache verfälschend erwiesen ist, weil es sowohl im israelitisch-jüdischen wie übrigens auch im hellenistischen Raum so etwas überhaupt nicht gab, was „Verlobung“ genannt wird.4 Auch der Text Lk 1–2 nennt Josef schlicht avnh,r – (Ehe)Mann Marias, was ja unmittelbar mit-bedeutet, daß Maria gunh, – (Ehe)Frau des Josef ist. Es ist daher richtig, wenn z. B. Schürmann evmnhsteume,nh in 2,5 mit „Frau“ übersetzt.5 Was dies alles für das rechte Verständnis von Lk 1 bedeutet, werden wir im folgenden Abschnitt zur theologischen Erfassung sehen.

3. Lk 1,34

Dieser Vers hat bei Exegeten, Theologen und vor allem Mariologen viele Fragen und entsprechende Antwortversuche ausgelöst; er wird meist sogar mit einer zum Schlagwort gewordenen Formel bezeichnet, die als Überschrift zahlreicher wis4 5

Siehe dazu die Ausführungen im entsprechenden Abschnitt oben. Außerdem sei auch hier nochmals auf den Exkurs zum jüdischen Ehe- und Familienrecht aufmerksam gemacht. Vgl. Schürmann, Lk-Kommentar, zu 2,5: Frau: S. 98.

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Abschnitt B:

Lk 1–2 — Text – rechte Übersetzung – theologische Erfassung seiner Aussagen

senschaftlicher Arbeiten dient: Die Marienfrage. In der gesamten Diskussion wird gänzlich unbeachtet belassen, daß es ein lukanischer Text ist (wie alle anderen natürlich auch), der in 1,34 steht, und keineswegs ein historisch verbürgtes Zitat einer wörtlich so gestellten Frage seitens Maria, deren Wortlaut unmittelbar die damals tatsächlich vom Boten wie von Maria gesprochenen Sätze wiederholt, die folglich auch die situationsgebundene Erlebnisstimmung Marias offen an den Tag legt. Für alle anderen Worte der sprechenden Personen im LkEv wird das selbstverständlich nie beansprucht. Für 1,34 wird dagegen jeder einzelne Sprachausdruck wörtlichst auf seinen namentlich-persönlichen Aussage-Inhalt wie geistig-seelischen Hintergrund abgehorcht, mit weitreichenden Erkenntnissen, die man meint aus ihnen für den verbindlichen christlich-kirchlichen Glauben gewinnen zu können, ja zu müssen. Dabei ist über Jahrhunderte hin jedenfalls in deutschsprachiger Exegese wie Theologie unbemerkt geblieben, daß der griechische (wie Vulgata-lateinische) Text 1,34 eine falsche Übersetzung erfahren hat, die unbesonnen immer weiter und weiter verwendet wird. Bei Lukas jedenfalls heißt es: ei=pen de. Maria.m pro.j to.n a;ggelon\ pw/j e;stai tou/to( evpei. a;ndra ouv ginw,skw. Diese absolut unproblematische Formulierung (des LkEv!) sagt daher im Deutschen schlicht dies: „Es sprach aber Maria zum Boten: Wie wird das geschehen, weil ich (den, besser noch: meinen) Mann nicht erkenne“. Die gerügte Übersetzung sagt es so: „… weil ich keinen Mann erkenne“. Wenn von Lukas wirklich „keinen Mann“ zu sagen beabsichtigt gewesen wäre, dann hätte er sicher anders formuliert, nämlich mit „ouvdei,j“, was aber das „ouv“ in 1,34 niemals hergibt oder auch nur andeutet.6 Der Fragesatz Marias im Lk-Text (!) versteht sich ohne alle Schwierigkeit oder Rätselhaftigkeit, wenn man das in 1,26–38 Gesagte im Gesamtzusammenhang von Lk 1–2 wirklich beachtet und bleibend gelten läßt. Das bewegt uns zu unserer etwas paraphrasierenden Übersetzung: „weil ich meinen Mann noch nicht erkenne“. Rein sprachlich betrachtet, ist die (erklärende) Beifügung von „noch“ berechtigt, weil es zahlreiche Beispiele dafür in anderen, aber ähnlichen Texten gibt.7 Wenn beachtet wird und bleibt, daß Maria im Text wie selbstverständlich zum Boten 6

7

Es seien einige ähnlich gelagerte Fälle auf geführt, die ouvdei,j verwenden. Lk 4,24: avmh.n le,gw u`mi/n o[ti ouvdei.j profh,thj dekto,j evstin evn th/| patri,di auvtou; Lk 16,13: Ouvdei.j oivke,thj du,natai dusi. kuri,oij douleu,ein; 1 Kor 8,4: kai. o[ti ouvdei.j qeo.j eiv mh. ei-j. – ouvdei,j mit Genitivus partitivus: Mk 11,2: evfV o]n ouvdei.j ou;pw avnqrw,pwn evka,qisen“; Lk 14,24: le,gw ga.r u`mi/n o[ti ouvdei.j tw/n avndrw/n evkei,nwn tw/n keklhme,nwn geu,setai, mou tou/ dei,pnou; Joh 13,28: tou/to Îde.Ð ouvdei.j e;gnw tw/n avnakeime,nwn pro.j ti, ei=pen auvtw/|; Apg 5,13: tw/n de. loipw/n ouvdei.j evto,lma kolla/sqai auvtoi/j; 27,34 u. a. – ouvdei,j mit evk: Lk 1,61: kai. ei=pan pro.j auvth.n o[ti ouvdei,j evstin evk th/j suggenei,aj sou o]j kalei/tai tw/| ovno,mati tou,tw|; Joh 7,19: kai. ouvdei.j evx u`mw/n poiei/ to.n no,mon; Joh 16,5; Mt 11,27: kai. ouvdei.j evpiginw,skei to.n ui`o.n …“; u. a. – Für ouvdei,j im Sinne von „niemand: Mt 6,24; 9,16; Mk 2,21f; 5,4; 7,24; Lk 5,36f.39; Joh 1,18; 1 Kor 2,11; 3,11 u. a. – Für ouvdemi,a: Joh 16,29; 18,38; Apg 25,18; 27,22; Phil 4,15 u. a. – Für ouvde,n: Joh 10,41; 15,24. Es sei auf zwei Arbeiten hingewiesen, die das genügend offendecken: J. B. Bauer, Monstra te esse matrem, Virgo singularis! Zur Diskussion um Lk 1,34, MüThZ 9 (1958) 124–135; ders., Bib 45 (1964) 535–540: Philologische Bemerkungen zu Lk 1,34.

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I.

Zur textentsprechenden und sachgerechten Übersetzung

von ihrem Mann spricht, und wenn man „ouv“ und „ouvdei,j“ nicht verwechselt oder gar vertauscht, dann liegt in 1,34 eine eindeutig klare Sprachwendung vor – und viele selbsterfundene Probleme melden sich erst gar nicht. Die weitere, ausführliche theologische Einsichtnahme wird das hier Gesagte weiter erklären, worauf hingewiesen sei.

4. Lk 1,35

Dieser Vers ist die erklärende Auskunft des Boten auf die Frage Marias, die bekanntlich vom hebräischen parallelismus membrorum geprägt ist, was für das Verständnis der Aussage bedeutsam ist; beide Glieder entsprechen sich auch dem ausgesprochenen Inhalt nach. Es wird artikelloses pneu/ma a[gion mit gleichfalls artikellosem du,namij u`yi,stou formuliert. Es zeigt sich angeraten, dies auch in der Übersetzung sichtbar zu halten. Im Deutschen ist das auch gut möglich, in dem bekanntlich artikellos gesetzte Substantive o. ä. in einem Satz nicht verwendet werden können: „Heiliger Geist wird über dich kommen und des Höchsten Macht wird dich überschatten“. Zur Bedeutung für die theologische Erfassung dieser Ansage s. weiter unten.

5. Lk 2,9

Hier steht artikelloses a;ggeloj kuri,ou. Das oben zu 1,11 Gesagte gilt auch hier, was bestätigt wird durch das sogleich folgende do,xa kuri,ou. So auch 2,13, wo es bemerkenswert so formuliert erscheint: kai. evxai,fnhj evge,neto su.n tw/| avgge,lw| plh/qoj stratia/j ouvrani,ou aivnou,ntwn to.n qeo.n kai. lego,ntwn\ do,xa evn u`yi,stoij qew/| kai. … Hier steht a;ggeloj mit Artikel, wie auch qeo,j, an den sich der Preis richtet, an dessen Anfang sich qeo,j wieder artikellos findet. In 2, 15 heißt es wieder: oi` a;ggeloi, und ebenso empfängt hier qeo,j den Artikel. In 2,20 schließlich nochmals: aivnou/ntej to.n qeo,n. Wir bemerken, daß wir der Setzung wie Nichtsetzung des Artikels im ntl. Griechisch nicht ohne genaues Zuschauen sogleich eine theologische Bedeutung zusprechen dürfen. Auch dazu wurde oben Entscheidendes gesagt.

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Abschnitt B:

Lk 1–2 — Text – rechte Übersetzung – theologische Erfassung seiner Aussagen

II. Zur theologischen Erfassung von Lk 1–2 1. Zur Absicht dieses Abschnittes

Es sei hier ausdrücklich auf das aufmerksam gemacht, was wir dazu oben zum Abschnitt „Zur theologischen Erfassung von Mt 1“ näher ausgeführt haben. Das gilt auch hier und wird nachdrücklich zur Kenntnisnahme empfohlen, weil es uns für das rechte Verständnis der Aussagen auch des Lukas entscheidend erscheint. Wir werden hier jedoch nicht den gesamten Text Lk 1–2 theologisch zu erfassen suchen, sondern wegen der besonderen Eigenart des lukanischen Evangeliums nur die für unser Hauptthema wichtigen Passagen bzw. Verse näher einsehen. Da wir nach der Herkunft Jesu Christi im Zeugnis der Heiligen Schrift und ihrer dortigen sprachlichen Bekundung Ausschau halten, genügt es, die Aussage-Stellen jetzt näher zu betrachten, die selbst genau das als Thema zeigen. Wir gehen deswegen hier auf exegetische o. ä. Fragestellungen bzw. Erkenntnisse nicht ein, betrachten daher den Text selbst, diesen freilich auch in seiner theologisch-exegetischen Erschlossenheit. Auch auf das im Abschnitt zur rechten Übersetzung Gesagte müssen wir jetzt nicht mehr eingehen.

2. Lk 1,1– 4

Lukas gibt seinem Werk, später als Evangelium bezeichnet, ein Vorwort, durch das er seine Absicht bekundet, dieses zu schreiben. Die Form und die Sprache dieses Vorwortes richtet sich an griechischen Schriftstellern aus, hat jedoch auch seine Eigenheit, sogar im Vergleich mit den anderen Evangelien, die es zu beachten gilt, wenn man das ganze Werk verstehen will. Es ist ein „äußerst prägnantes Prooemium“ und „enthält geradezu die lukanische Theologie in nuce“, wie Schürmann es benennt.8 Wir halten uns vor Augen, was Lukas ganz offenkundig als seine literarische Absicht und seine Zielsetzung betont erklärt. Er will, was zuvor schon andere taten, eine Erzählung (dih,ghsij) verfassen von den Ereignissen (pra,gmata), „die unter uns zur Erfüllung gebracht worden sind, wie sie uns die überliefert haben, die Augenzeugen von 8

Schürmann, Lukas-Kommentar 1. Der volle Text lautet: „Luk stellt seiner Schrift ein äußerst prägnantes Prooemium voran. Trotz aller Konventionalität läßt dieses erkennen, wie sehr der Verfasser sich Gedanken gemacht hat über die ihm zugewachsene Aufgabe und deren Durchführung. Enthält es doch ‚geradezu die lukanische Theologie in nuce‘“ (1; Zitat aus Klein, Lukas 1,1–4 als theologisches Programm 214).

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II.

Zur theologischen Erfassung von Lk 1–2

Anfang und Diener des Wortes (logos) gewesen sind“ (1,1–2). Mit seiner Schrift will er seinen Adressaten Theophilos (und in ihm wohl alle angesprochenen Hörer und Leser) „von der Zuverlässigkeit der Worte (lo,goi) überzeugen, über die er unterwiesen (kathch,qhj) worden ist“. In diesen Sätzen ist eine Reihe von sehr bezeichnenden Angaben enthalten. So meint „Erzählung (dih,ghsij)“ eine Darstellung oder einen Bericht von Geschehnissen, ohne daß damit an das gedacht wäre, was wir heute, zumal in wissenschaftlicher Betrachtung, in Bezug auf historisch Geschehenes und als solches Verifizierbares so nennen. Der Ausdruck ist hier entschieden weiter gefaßt, was folglich auch für das gilt, was dieser „Bericht“ des Lukas enthalten soll. Er will nämlich jene „Ereignisse“ zu Wort bringen, „die unter uns zur Erfüllung gebracht worden sind“, und zwar „wie sie uns die überliefert haben, die Augenzeugen und Diener des Wortes gewesen sind“. Das ist eine nicht zu übersehende Charakterisierung dessen, was Lukas hier „Bericht“ nennt, und damit auch für das, was dieser enthalten soll. Wir brauchen hier nicht auf die vielfältigen Erklärungsversuche dieser äußerst kurz formulierten Bestimmungen näher einzugehen, wir stellen vielmehr heraus, was tatsächlich, wenn auch aufs kürzeste, damit angesagt ist. Die Wendung „Ereignisse, die unter uns in Erfüllung gebracht worden sind“, ist theologisches Passiv (Schürmann fügt „von Gott“ in den Text ein). Damit, so können und müssen wir es sehen, ist wie selbstverständlich gesagt, daß Gott „unter uns“ so präsent und tätig war (und ist), daß davon als von erlebten, erfahrenen und daher auch aussprechbaren und erzählend mitteilbaren Geschehnissen die Rede sein kann, ja sein muß. Das ist in der unübersehbaren Zusammenfügung von „Ereignissen, die Augenzeugen hatten und die diese in den Dienst des Verkündigens eingesetzt haben“ klar ausgesagt. Das griechische Wort lo,goj ist daher sowohl für die „Ereignisse“ selbst (auch als pra,gmata bezeichnet: 1,1) wie für die Bekundungsrede (lo,goj: 1,2; in 1,4 im Plural) gesetzt und greift somit die Sachbedeutung des hebräischen rb'D' auf, das genau diese Bedeutungsfülle zeigt. Damit ist mit-behauptet, ja es ist sogar als lebendig bewußte und gewußte, und nicht erst zu begründende Überzeugung vorausgesetzt, daß Gott überhaupt „unter uns“, also mitten in unserem, der Menschen Leben und in der Welt Da-Seiender „vorkommt“ und erfahrbar/mitteilbar wirkt. Dieses „Wirken“ kann vielfältigst als von anderem Unterscheidbares, ja sogar als „Neues, bisher noch nie Erlebtes“ angesagt werden. Diese Feststellung ist ein Rufzeichen für alle, die das Wort – dies jetzt in seiner Ganzen biblischen Bedeutungsfülle gemeint – der Bibel (auch) nach historischen, literarkritischen und sonstigen (selbst-bestimmten) Gesetzen und Methoden einzusehen trachten. Lukas gibt den pra,gmata wie den ihnen entsprechenden lo,goi noch eine weitere Kennzeichnung, die aufmerken läßt: die pra,gmata in 1,1 werden von Lukas „Erfüllung(sgeschehen)“ genannt. Sie stehen als erfahren und mitteilbar/verkündbar in einem viel größeren Lebensbereich als dem, der mit „unter uns“, dieser zunächst nur als die lebende Generation verstanden, angegeben ist. Wir dürfen und müssen dieses sagen: Die gemeinten „Ereignisse“ sind geschehen innerhalb einer „Geschich131

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Abschnitt B:

Lk 1–2 — Text – rechte Übersetzung – theologische Erfassung seiner Aussagen

te“, die einen Anfang im Unvordenklichen, einen „Verlauf “ (keinen mechanisch funktionierenden Ablauf!) und ein „Wohinaus“ kennt. „Künftiges“ ist in manchem vielleicht erahnbar, aber von „uns“ im Heute nicht oder noch nicht einsehbar, verstehbar und folglich sachlich gültig bekundbar oder gar berechenbar. Dieses Künftige ist für uns heute noch ganz offen; es kann in geschenkter Hoffnung (die selbst ja immer irgendwie ein eigenartig sicheres Wissen verleiht) erwartet werden (wozu es eines freien Entschlusses bedarf, dieses Hoffen wirklich zu tun). Es wird aber oft auch als bedrückend „dunkel“ empfunden. Es ist Lebenserfahrung, daß wir uns von alle dem, wenngleich nur als Offen-Zukünftiges gewußt, real beeindruckt fühlen, da es unsere persönliche „Lebensstimmung“ im Heute wesentlich mit-bestimmt.9 Damit ist unverkennbar der Rahmen angesprochen, den die Bibel insgesamt immer mitvoraussetzt, wenn sie von „Geschichte“ handelt, eben auch als Lebensauftrag heute. Wir setzen in diesen Sätzen bewußt viele Ausdrücke in Anführungszeichen, nicht um vage Ungeklärtheiten zu signalisieren, sondern um einerseits auf ihr Gegründetsein im biblischen Text aufmerksam zu machen, zugleich aber auch auf das sicher eigenartige Faktum, daß wir genau „wissen“, was wir im menschlichen (Miteinander)Leben mit „Hoffnung“, mit „Ungewißheit aller Zukunft“ u. ä. ansprechen, im wirklich erfahrenen und anerkannten Nicht-Wissen, wie wir das alles dann „rechtfertigen“ könnten, wenn wir, mit Recht oder auch unberechtigt, nach „Erklärung“ dessen gefragt würden, wovon wir da eigentlich reden. Dem bisher Herausgestellten ist noch ein Weiteres anzufügen, das in 1,1 genannt ist und gründliche Beachtung finden muß. Es ist in dem theologischen Passiv mitangesprochen, das ja Gott selbst als den aktiven Grund für das benennt, was bekundet wird. Auch Schürmann weist darauf mit Nachruck hin, wenngleich sich zeigt, daß er es in seinen weiteren Aussagen nicht durchhält. Es heißt bei ihm: „Anders als Apg 2,11 (megalei/a tou/ qeou/) verhüllt hier Luk passivisch das Agieren Gottes. Gottes Handeln im Christusereignis sichtbar zu machen ist ihm ein wichtiges Anliegen, das seine Darstellung Seite für Seite charakterisiert“ (4f). Das „verhüllt“ in diesem Satz, 9

Wir möchten dabei hier bewußt nicht von „Eschatologischem“ (im heute exegetisch meist gebrauchten Verständnis), als gewußt End-Gültigem sprechen, das real „Schlußpunkt“, Stillstand o. ä. wäre, weil uns die Bibel sogar für den Letzt-Zeitpunkt (meist „Jüngster Tag“ oder „Tag des Herrn“ genannt) der voll-brachten Verheißung ankündigt, daß er zugleich der (Neu)Anfangspunkt für das Leben (auch „Geschichte“?) ist, da Gott der sein wird, der nach 1 Kor 15,28 dann (erst) „alles in allem“ ist, wobei Gott selbst sicher bleibend „wahrer Gott und das ewig-währende Leben“ (1 Joh 5,20) ist, jedoch „erst ab jenem (erst noch kommenden) Tag“, da sich der am Kreuz für uns gestorbene und von eben diesem Gott auferweckte Sohn Jesus Christus sich ihm, dem Vater, unterworfen haben wird (1 Kor 15,28 im dortigen Kontext). Das ist auch eine Anmerkung dazu, wie schnell wir schon dem (sog.) Christusereignis eschatologische Qualität und Bedeutung zusprechen, gar von „präsentischer Eschatologie“ reden. Es hat, ja, End-gültiges bewirkt, aber eben doch indem es wieder „Neuschöpfung“ o. ä. meint, die immer noch auf das „absolut Endgültige“ hin eröffnet ist. Wir bewegen uns hier in einer bezeichnenden Vagheit unseres „Wissens“ und seiner gültigen Auswortung, die wir deutlich erkennen, aber deswegen auch als solche werten müssen. Vgl. dazu nur, was im Artikel „Tag des Herrn“ im LThK 9 (2000) 1228–1230 gesagt wird.

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II.

Zur theologischen Erfassung von Lk 1–2

im Blick auf das theologische Passiv gemeint, ist genau so verfehlt (in der Bibel ist es gerade offenes, wenngleich ehrfürchtig zurückhaltendes Sprechen von Gott!) wie die schon hier wie selbstverständlich gesetzte Begrenzung auf das (sog.) Christusgeschehen, in dem Gott „handelt“. Das wird noch deutlicher in dem etwas später vorkommenden Satz zum Gebrauch von plhroforei/n: „(es) ist hier doppeldeutig gebraucht; es meint zunächst wie plhrou/n die ‚Vollendung‘, speziell die zeitlicher Gegebenheiten. ‚Zum Abschluß gekommen‘ sind die christologischen Heilsereignisse aber für Lukas in der Auferstehung und Erhöhung Jesu … ‚Erfüllungscharakter‘ jener Geschehnisse, … die selbst – als ntl. Ereignisse und Feste – im Licht der Verheißung stehen, werden – weil anfänglich erfüllt – zu Verheißungen der Vollerfüllung …“ (5). Auffällig ist wieder, daß von „christologischen Heilsereignissen“ gesprochen wird, obwohl doch von Gottes Wirken in Verheißung und jetzt in deren Erfüllung die Rede ist. So formuliert es Schürmann auch einen Satz später selbst: „Als ‚erfüllte‘ Ereignisse … behalten diese Gott-gewirkten Ereignisse ihre dann eschatologische Gegenwärtigkeit en hemin“ (5).10 Hier zeigt sich die eigenartige Blickverengung auf „Christologisches“ im Erklären dessen, was doch zuvor immer als Gottes Heilswirken und folglich Da-Sein Gottes (Jahwe!) in der Welt (nicht nur in der Schar der Glaubenden) angesprochen wurde. Alle Stellen, die das „Christusereignis“ erzählen bzw. künden, sind rechtens als Gottes-Ereignisse anzusprechen, das um so mehr, als ja auch schon die faktisch 10 Wir bringen hier einige der Passagen aus Schürmanns Einleitungstext ganz: „Das von ihm sonst

nicht gebrauchte Verbum plhroforei/n ist hier doppeldeutig gebraucht; es meint zunächst wie plhrou/n die ‚Vollendung‘, speziell die zeitlicher Gegebenheiten. ‚Zum Abschluß gekommen‘ sind die christologischen Heilsereignisse aber für Lukas in der Auferstehung und Erhöhung Jesu, die ja auch bevorzugt Objekt des apostolischen marturei/n zu sein haben, wobei freilich – vgl. Apg 1,21f; 10,39 wie hier – das Zeugnis vom Erdenleben Jesu eingeschlossen sein muß. Gleichzeitig will Luk aber auch wohl den ‚Erfüllungscharakter‘ jener Geschehnisse zum Ausdruck bringen, der ja in besonderer Weise in dem glorreichen ‚Abschluß‘ – der Auferweckung und Erhöhung des Gekreuzigten – manifest wird, Geschehnisse, die selbst – als ntl. Ereignisse oder Feste – im Licht der Verheißung stehen, werden – weil anfänglich erfüllt – zu Verheißungen der Vollerfüllung. … Als ‚erfüllte‘ Ereignisse der h`me,rai auvtai, (Apg 3,24) behalten diese gottgewirkten Ereignisse ihre dann eschatologische Gegenwärtigkeit evn h`mi/n. Dieses h`mei/j umgreift die ganze ‚Erfüllungszeit‘; die ‚Christuszeit‘ zwischen dem vergangenen und dem ausstehenden Christusgeschehen, meint also die Generation der Endzeit, der die Christusereignisse ob ihres Erfüllungscharakters – zumindest materialiter – immerdar ‚nahe‘ bleiben“ (5f). –– „Vermutlich war Luk ein heilsgeschichtlicher Aufriß der peplhroforhme,na pra,gmata auch darum wichtig, weil gerade in solcher Gesamtschau das ihm wichtige Handeln Gottes im Christusgeschehen herausgearbeitet werden konnte: Der Weg Jesu, der durch den Tod in die Auferstehung (und Erhöhung) führte, läßt den Erfüllungscharakter der Ereignisse besonders aufleuchten“ (13; dort auch noch einmal „Kunde von Christus-Ereignissen“). „Die Funktion seiner Schrift ist somit nicht primär als eine ‚fundamentaltheologische‘ bestimmt, als wenn mit Hilfe der historischen Vernunft die historische Zuverlässigkeit der Verkündigung erwiesen werden müsse; vielmehr handelt es sich grundlegend um eine theologisch-geistige Funktion, die der Glaubenszustimmung unmittelbar dient. … Darin wird dem Glauben … inhaltlich in besonders glaubwürdiger Weise die Gottgewirktheit des berichteten Heilsgeschehens deutlich“ (14 u. 15).

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vorgelegte „Christologie“ im Grunde von Jesus von Nazareth kündet, der mehr ist als der „Mensch Jesus“, wie es oft ausdrücklich betont wird: Er ist Sohn des Vaters, und zwar in jener Fülle des Erlebt-Seins, die tatsächlich erst in der Zeit des Lebens Jesu vor und nach seinem Tod für uns am Kreuz und der Auferweckung dieses Sohnes durch den Vater und den ihrem (gemeinsamen!) Weiter-Wirken in ihrer Glaubensgemeinde (diese historisch „greifbar“ in ersten Jüngern, als werdende Kirche, die Gott aus Juden und Heiden beruft, gestaltet und zum Neu-Leben befähigt und ermächtigt) offenbar und dadurch aussprechbar wurde, was sich im Erleben dieses Neu-Beginns als Gegenwart und Wirken des einen Geistes des Vaters und des Sohnes ins Bekenntnis- und Verkündigungswort bringen ließ. Jahwe ist der Gott Israels und der Kirche (beide sind Jahwe-Gemeinde!), wie er sich selbst im Lebensgeschehen Jesu von Nazareth zu erkennen, zu glauben und zu lieben schenkt. Diese Zeit ist „erfüllte Zeit“, der „Tag Jahwes“, der das Bisherige neu-werden ließ (oft als „Neuschöpfung“ bezeichnet, was aber gerade kein Etwas-anderes-Erschaffen, als Ersatz für das durch die Sünde Verunstaltete, ist). Diese sich als Liebe schenkende und darin Liebe stiftende Zuneigung Jahwes zu seiner Schöpfung auch noch nach deren Verweigerung zeigte sich im anerkennenden Antworten der Neu-Glaubenden in bekennendem Dank und sprach und spricht sich aus im Ja-Wort lebendiger Gottes- und Nächstenliebe. Das ist, was Lukas in seinen ersten Versen „als seine Theologie in nuce“ (nochmals Schürmann 1) bezeichnet, was er durch sein Evangelium wie auch in der Apg ins kirchliche Wort gebracht hat.11 11

Was wir gerade gerügt und zu korrigieren gefordert haben, findet sich bei Schürmann in seinem Kommentar sogleich nochmals in dem einleitend Gesagten zum Abschnitt „Präludium: Jesu Ursprünge in Gott (1,5 – 2,52)“ massiv wieder: „Luk stellt seiner Evangelienschrift mit Lk 1–2 ein ‚Präludium‘ voran. Diese Bestimmung der Funktion von Lk 1–2 im Ganzen der Evangelienschrift hilft dem theologischen Verständnis des in diesem ‚Vorbau‘ Gemeinten“ (18); dann weiter: „Luk hat Traditionen gefunden, die sein (d. i. im Kontext Jesus: R. S.) ‚Kommen‘ und sein ‚Gesandtsein‘ durchmeditiert und durchreflektiert hatten und so theologisch ausholender – von Jesu Ursprung in Gott her – verstanden … Wie schon immer im evrco,menoj (3,16) Jesu sein Gesandtsein von Gott her mitgemeint war: diese Ursprünge in Gott und das Kommen von Gott her mußten theologisch entfaltet werden. … Das Christusereignis eröffnet sich als ‚Sprachereignis‘, im Wort eben nicht nur im apostolischen Kerygma, sondern auch in der apostolischen Homologese, im Zusammenhang beider erst wird das Christusereignis zur Christusoffenbarung für uns, zu einer Zusage in Zuspruch und Anspruch … in besonderer Weise gläubiges Christusbekenntnis, nicht nur Christusverkündigung … In Jesus kommt alle Verheißung zu ihrer eschatologischen Erfüllung, darin leuchtet seine Funktion und sein Wesen auf … In diesem Bekenntnis scheint Luk die Gottessohnschaft Jesu besonders betonen zu wollen“ (19–20). Und weiter: „Das über die theologische Funktion von Lk 1–2 Gesagte mag helfen, die hier gewählte literarische Art theologisch besser verständlich zu machen und auch gattungsmäßig treffsicherer zu bestimmen. Es ist ein tiefsitzendes Mißverständnis, die jenseitig-endzeitliche Christusoffenbarung könne nur in einem historischen Bericht moderner Historiographie adäquat ins Wort kommen“ (21). Dazu sogleich weiter: „… denn es geht in Lk 1–2 darum, die Vollendung allen heilsgeschichtlichen Handelns Gottes in Christus deutlich werden zu lassen und damit die Erfüllung aller Prophetie“ (23). –– Das alles bestätigt unsere Kritik an den Kommentaren. Zur Frage der vorherrschenden christologischen

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3. Lk 1,26–38

Wie schon betont wurde, so wenden wir uns diesen Versen in der genannten Absicht zu, den lukanischen Text auf seine theologischen Aussagen hin zu befragen, insbesondere was die Herkunft Jesu Christi betrifft. Fachexegetische Fragen und dazu gegebene Antwort(versuche) wie auch die, die den Lukas-Text auf seine implizit vorhandenen oder wenigstens erschließbaren Inhalte untersuchen, bleiben hier zunächst bewußt unbeachtet, da wir seine unmittelbaren theologischen Aussagegehalte, und zunächst nur sie, erfassen wollen. a) Lk 1,26–27

Der Text selbst lautet: VEn de. tw/| mhni. tw/| e[ktw| avpesta,lh o` a;ggeloj Gabrih.l avpo. tou/ qeou/ eivj po,lin th/j Galilai,aj h-| o;noma Nazare.q pro.j parqe,non evmnhsteume,nhn avndri. w-| o;noma VIwsh.f evx oi;kou Daui.d kai. to. o;noma th/j parqe,nou Maria,m – Im sechsten Monat aber wurde der Bote Gabriel von Gott in die Stadt Galiläas namens Nazareth gesandt zu der mit dem Mann namens Josef aus dem Hause David verehelichten Jungfrau, und der Name der Jungfrau (war) Maria. Nach 1,5–25 beginnt Lukas mit der Vorstellung der Personen, die in dem hier Folgenden sprechen, hören und handeln. Zuerst wird der Bote Gabriel genannt, ausdrücklich als von Gott gesandt (an anderen ähnlichen Stellen als a;ggeloj kuri,ou benannt), mit dem Auftrag, das Wort Gottes selbst vorzutragen. Somit ist im jetzt Folgenden Gott, besser sogar: Jahwe, als der eigentlich Sprechende, seinen Antrag Stellender und Erklärender benannt, was zum theologischen Verständnis der Verse unbedingt zu beachten bleibt. Der Bote agiert hier, wie es in der Bibel an vergleichbaren Stellen gilt: er ist wesentlich „mehr“, als es z. B. die Propheten sind, die ja auch Sprecher u. ä. Gottes waren und sind.12 Sodann werden Maria und Josef auf besonders bemerkenswerte Weise vorgestellt. Der Bote war, so wird es formuliert, in die Stadt Nazareth (der Name wird ausdrücklich besonders, nachträglich, genannt) gesandt zu der mit dem Mann namens Josef aus dem Hause Davids (auch hier ist der Name besonders, wieder nachstehend genannt) verehelichten Jungfrau; dann wird der Name dieser verehelichten Jungfrau hervorhebend genannt: der Name der Jungfrau (war) Maria. Das alles läßt aufmerken, da, wie allseits anerkannt, Lukas selbst diesen Text gestaltet hat, u. a. in Parallelbildung zu der und nur selten vorkommenden theologischen Auslegungen der Evangelien (was in diesen selbst aber gerade nicht vorgegeben ist) erfordert einen Exkurs. In ihm wird diese auffallende Denk- und Sprechweise der Kommentatoren kritisch vorgestellt und beurteilt, da sich bei näherem Zusehen doch ein Defizit bemerkbar macht, das es zu überwinden gilt. S. Exkurs „Theologie – Christologie“. 12 Hier sei auf früher gegebene Erklärungen zu a;ggeloj kuri,ou verwiesen, z. B. zu Mt 1,20, was die genauere Bedeutung dieser Formel a;ggeloj kuri,ou in der Bibel angeht; s. oben …; dazu auch Anhang I. „a;ggeloj kuri,ou“.

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ähnlichen Situation des Priesters Zacharias und seiner Frau Elisabet. Die erste Spezifizierung in diesem Satz betrifft Josef. Er wird betont als aus dem Hause Davids stammend erklärt. Das ist ein untrüglicher Hinweis auf die entsprechende Jahwe-Verheißung, die Lukas in 1,32f so formuliert: „und ihm wird Kyrios, der Gott, den Thron seines Vaters David geben und er wird herrschen über das Haus Jakob in Ewigkeit“. Damit ist der Heiland/Retter, der Messias angesagt wie an ähnlichen ntl. Stellen: Mt 1; Röm 1,3 u. a. Dieser so qualifizierte Josef ist in 1,27 als „avnh,r – Ehemann der Jungfrau Maria“ (und diese folglich als „gunh, – Ehefrau“ Josefs) erklärt, zunächst noch ohne weitere Auskunft (anders als es in Mt 1,18f geschieht). (Erst in Lk 2,4f nennt Lukas Josef aufs neue, mit derselben Charakterisierung wie hier in 1,27. Dort gibt übrigens Schürmann das evmnhsteume,nh für Maria mit „Maria, seine Frau“ wieder, womit das dafür in 1,27 stehende „verlobt“ von ihm selbst korrigiert ist. Daß diese Auskunft über Josef, den Mann Mariens, von entscheidender Bedeutung ist, muß hier nicht erst herausgearbeitet werden, weil durch andere ntl. Stellen hinreichend klar. Auffallen kann in 1,27 jedoch die Zusammenfügung von „parqe,noj – Jungfrau“ mit „evmnhsteume,nh – verehelicht“. Damit hat Lukas die spezielle Lebens- und Familiensituation von Josef und Maria schon genauer angegeben, wie es sogleich aus 1,34–36 ersichtlich wird.13 Beide sind rechtskräftig verehelicht (daher für beide avnh,r bzw. gunh, gesetzt), doch noch nicht „zusammengekommen“ (einer der Fachausdrücke für den (Fest)Tag des Beginns des gemeinsamen Ehe- und Familienlebens, auch „Heimführung“ genannt); damit sind beide noch „jungfräulich“, wenngleich schon verehelicht.14 Das ist mit der für damalige Hörer/Leser des israelitisch-hellenistischen Raumes unmittelbar verstandenen, für Hörer/Leser späterer und heutiger Zeit jedoch wegen Unkenntnis des jüdischen Rahmens widersprüchlich klingenden Zusammenfügung von „verehelicht“ und „(noch) Jungfrau“ angesprochen. In 1,26 ist folglich, weil ein Ehepaar im Hause Davids angesprochen wird, ganz offenkundig die Davidssohnschaft des Verheißenen als Sinnspitze des Satzes benannt. Daher ist es auch nicht text-entsprechend, wenn man wie z. B. Schürmann hier die Jungfräulichkeit Mariens als den Hauptpunkt der Aussage bezeichnet.15 Wenn er von einer bewußten zweimaligen Setzung des Wortes Es sei wieder auf den Abschnitt zur rechten Übersetzung hingewiesen. Sodann auch auf den Exkurs zum jüdischen Ehe- und Familienverständnis. 14 Vgl. hier das im Exkurs zu „Jungfrau; Jungfräulichkeit; jungfräulich u. ä.“ Dargelegte. 15 Die einschlägigen Sätze bei Schürmann lauten: Zu 1,26 schon verkürzend: „Auch die Sendung des Engels zu einer Jungfrau – im Kontrast zu einem im Heiligtum amtierenden Priester 1,11–20 – ist für damalige jüdisches Empfinden ungewöhnlich. Gott offenbart sich nun, wo und wem er will“ (42). Dann zu 1,27: „Gleich einleitend wird zweimal betont auf Mariens Jungfräulichkeit hingewiesen, wobei schon – die Nähe zu VV 31ff und 34ff beweist das (s. dort) – an Is 7,14 LXX erinnern soll. Mariens Verlobung muß hier schon – nicht erst 2,5 – erwähnt werden, damit die Davidssohnschaft V 32 von dem verheißenen Kinde Mariens ausgesagt werden kann, die nach jüdischer Auffassung nur vom Vater her begründbar war und demzufolge im NT auch einhellig auf Josef zurückgeführt wird“ (42). Wir bemerken: Die Nennung „Jungfrau“ wird sogleich als „zweimalige Betonung der Jungfräulichkeit“ gewertet, und die Verehelichung, zumal mit einem Da13

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„Jungfrau“ spricht, eben um die „Jungfräulichkeit“ als das hier besonders Betonte hinzustellen, so wird das der tatsächlichen und offenkundigen Aussage-Intention des Lukas nicht gerecht. In 1,27a wird als die erste und eigentlich mit der Sendung und dem Ankommen des Boten anvisierte Person mit „parqe,noj evmnhsteume,nh – verehelichte Jungfrau“ angesagt und damit, wenn man da von einem Vorrang des einen vor dem anderen überhaupt sprechen will (warum eigentlich?), dann kann das, wie das unmittelbar im Satz Folgende es klar sagt, nur die Betonung des „evmnhsteume,nh“ sein, eben wegen der anvisierten Davidssohnschaft. Doch sollte man hier derartige „Wertungen“ unterlassen und den Text selbst zunächst einmal aussprechen lassen, ihn hören und dann auch gelten lassen. b) Lk 1,28–29

Der Aussage-Inhalt dieser wie der weiteren Verse dieses Kapitels wird schon seit der Zeit der apostolischen Väter allzu schnell, und dann oft sogar einseitig interessiert mariologisch gelesen, interpretiert und ausgewertet. Wegen unserer schon mehrmals betonten Absicht, zunächst den vom Evangelisten selbst erkennbar intendierten Aussage-Inhalt seines Textes theologisch zu erfassen, werden wir jetzt besonders aufmerksam sein müssen, diese unsere Intention auch aufrechtzuerhalten. Damit verhindern wir gerade nicht ein wie immer geartetes und begründetes Weiter-Suchen, etwa nach implizit mit-ausgesagten oder mit-intendierten Inhalten Ausschau zu halten und so speziellere theologische wie spirituell bedeutsame Tiefengehalte im Text des Evangelisten zu entdecken und weiter zu erschließen. In unserer Intention gewinnen wir vielmehr gerade dafür das Fundament. Wir hören daher die folgenden Verse auf ihre fundamentalen Aussagen hin ab und halten sie deswegen für weitere Erschließungen begründet offen. Und noch etwas anderes rufen wir uns jetzt bewußt in Erinnerung. Der Evangelientext, den wir hier vor Augen haben, ist erkanntermaßen ein Text, den Lukas, der in manchem auf frühere Textaussagen und -formulierungsweisen zurückgreift, gestaltet und auch sprachlich geformt hat. Wir lesen daher sachgerecht den lukanischen Text im Wissen, daß es der Evangelist selbst war, der ausgesucht und für seinen eigenen Aussagewillen auch literarisch geformt hat, was wir heute lesen und auf seine eben von Lukas selbst intendierte Bedeutung hin befragen. Wir werden sogleich sehen, eine welche grundlegende Bedeutung das hat, dafür stets wach zu bleiben. Um dabei nicht ins Uferlose der mannigfaltigen Auslegungsverständnisse der Fachexegeten vididen, wird gar nicht weiter genannt. Diese selbst, falsch als „Verlobung“ bezeichnet, „müsse hier erwähnt werden, „damit die Davidssohnschaft ausgesagt werden kann, weil nur vom Vater her begründbar“. Dem wird später aber ständig angefügt, daß Josef nicht der Vater Jesu ist, was ja, so heißt es weiter, der Grund und die Wirklichkeit der Wundertatsache sei: „vaterlose Empfängnis“! Jeder hier gesetzte Ausdruck ist auf seine reale Berechtigung zu hinterfragen, wenn man von der Herkunft Jesu Christi gemäß dem LkEv richtig sprechen will.

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(und anderer) zu geraten, beschränken wir uns in den Hauptlinien auf ein Gespräch mit dem Lukas-Kommentar Schürmanns. Der Vers 28 beginnt: „der Bote trat bei ihr (Maria) ein und sprach“, und zwar zunächst einen Gruß. Im Vergleich zu Lk 1,11, wo es heißt „der Bote erschien (w;fqh) stehend zur Rechten des Altars“, fällt diese Formulierung auf, wie auch in 1,38b die besondere Erwähnung des Weggehens des Boten. Aus beidem zu schließen, Lukas wolle hier von einem schon bestehenden „vertrauten Umgang des Engels mit der ‚Begnadeten‘“ sprechen (Schürmann 43), dürfte übertreiben, da doch von einem einmaligen (nicht gewohnten) Geschehen die Rede ist. Lukas will ja, wenngleich erzählerischgestaltend, ein „Gespräch“ Gottes mit Maria bekunden, nämlich von einem Ansinnen Gottes selbst an Maria, das diese versteht, worauf sie antwortet und das Gott verdeutlichend noch näher erklärt, wie es die folgenden Verse entfalten. Der Bote begrüßt Maria mit bemerkenswerten Worten: „Sei gegrüßt, Begnadete, der Herr (d. i. Ku,rioj – Jahwe!) ist mit dir“. Die uns geläufige Wiedergabe der Vulgata (gratia plena – voll der Gnade) übertreibt schon die griechische Formulierung „Begnadete“. Ob Lukas mit „der Herr ist mit dir“ bewußt den Namen „Jahwe“ heraushören lassen wollte (vgl. etwa Mt 1,23), lassen wir, wenngleich denkbar, hier noch offen. Es im Zusammenlesen mit den folgenden Versen eingeschlossen so zu hören, ist mit dieser ersten Feststellung nicht verhindert.16 Im Vers 29 bringt Lukas die erste Beeindruckung Marias zur Sprache. Daß dies darstellend-erzählerisch geschieht, ist wieder zu beachten. Was er da formuliert, ist auf sein Wesentliches hin zu befragen. Es ist vom Verwirrtsein Marias durch das die Rede, was der Bote als Gruß vorbringt; sie überlegt, was damit wohl für sie gemeint sein könnte. Schürmann erklärt es wieder sehr bezeichnend; er spricht von einer „ehrenden und verheißungsvollen Anrede“ (was der Text aber so sicher nicht aussagt). Dann aber deutet er den Vers als Erzählelement, das Lukas mit einer bestimmten Absicht einfügt, nämlich „um dem Engel durch diese wortlose ‚Frage‘ im folgenden Gelegenheit zu geben, seine dunkel andeutenden Worte zu erläutern“! Damit ist doch behauptet, daß die Bemerkung des Verses 29 vom Verwirrtsein Marias und ihrem 16 Was Schürmann kommentarartig zu 1,28 sagt, dürfte eine Überinterpretation bzw. ein Erschließen

von impliziten Inhalten sein: „Die schlichte und doch so große Anrede kecaritwme,nh wird V 30 durch den Engel selbst interpretiert: ‚Du hast Gnade gefunden bei Gott‘. Obgleich dieses GnadeFinden ‚im Blick auf ‘ etwas ist – also hier die messianische Mutterwürde vorausschaut –, geht doch die Begnadung (wie in Gen 6,8; 18,3) der danach erzählten göttlichen Tat voraus, besteht nicht schlechthin in dieser. Die Begrüßung des Engels muß aus der literarischen Art derartiger ‚Ankündigungen‘ heraus verstanden werden. … So ist Maria (wie Daniel in Dn 9,23: R. S. aus dem Kontext) als kecharitomene auch begnadet, die nachfolgende Engelbotschaft 1,30.35ff als Offenbarung Gottes zu empfangen und gläubig zu verstehen. … So antizipiert auch kecharitomene in gnadenhaft effektiver Weise, was im Folgenden verheißen wird: Gottes Gnade bereitet sich die jungfräuliche Messiasmutter … Das Verb meint mehr als eine bloße ‚Auserwählung‘; in welche Tiefen es aber hinabreicht, ist aus dem Wort und dem Kontext mit nur philologischen Mitteln nicht sichtbar zu machen“ (44f).

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Nachdenken dichterische Erfindung ist. Damit der Bote (!) erst Gelegenheit hat, klarer auszudrücken, was er zu sagen hat … – damit wird die schriftstellerische Darbietung für den Hörer/Leser verlebendigt! Ist daher vielleicht alles dort Gesagte erzählerische Fiktion? Wir werden auf diesen Fragepunkt noch einmal stoßen, dort sogar bei einem äußerst bedeutsamen Satz, nämlich in 1,34, wo die (sog.) Marienfrage als Stilmittel erklärt wird. Hier in 1,29 soll es eine Einfügung sein, die dem Hörer/Leser die (auch erfundene?) Sache wirksam zu Herzen gehen lassen soll? Genau diese Art des Kommentierens wollen wir ja in unserer theologischen Erfassung der genuinen Textaussagen nicht angewendet wissen (womit anderen Weisen einer theologischen Auswertung bzw. Weiterentfaltung kein Verbotsschild entgegengehalten ist; doch sollten sie als solche anerkannt sein). Daher belassen wir Vers 29 in seiner von Lukas intendierten, erzählerisch-vermittelnden Offenheit.17 c) Lk 1,30–33

Der Text beginnt: „Und der Bote sagte ihr: Fürchte dich nicht, Maria!“ Das ist das in der Bibel sehr oft begegnende Wort Jahwes bzw. seines Boten, das als erstes an den gerichtet ist, dem Jahwe sich in einer bestimmten Situation zu erkennen gibt, um ihm eine Auskunft zu geben oder einen Auftrag u. ä. zu erteilen. Damit ist das eigenartige persönliche Betroffensein des Adressaten ausgedrückt: Ehrfurcht, erregtes und staunend-erwartendes Empfinden des Sich-angesprochen-Erlebens noch vor allem Wissen, wer oder was ihn wozu an-spricht; es hat nichts mit Schrecken oder Angst zu tun. Nach diesem Vertrauen weckenden Wort sagt der Bote: „Du hast nämlich Gnade gefunden bei Gott“, eine ungemein offene Formulierung, zumal nach dem „Du Begnadete; der Herr ist mit dir“ der Begrüßung ausgesprochen. Diese Aussage in 30b kann als Wiederholung oder Bestätigung des Begrüßungswortes angesprochen werden; es bleibt aber doch immer noch offen, was dieses „du hast Gnade gefunden“ eigentlich genau besagen will. Was heißt hier „finden“, zumal „Gnade finden bei Gott“? Ähnlich aufregend offen zeigt sich „finden“ in Mt 1,18b, zumal es dort sogar im Passiv ohne jede Angabe dessen steht, der es tat, dieses dort gemeinte „finden“.18 Soll hier in Lk 1,30 von einer Tat, gar einem bewußt vollzogenen Tun, einer „Leistung“ Ma17 Wir brauchen hier zur Bestätigung unserer Auffassung und Vorgangsweise nur die Anmerkung zu

zitieren, die Schürmann selbst seinem schon zitierten Text (s. vorige Anmerkung) beifügt, nämlich zum Aussageinhalt der Formel kecaritwme,nh in 1,28, das die Vulgata mit „gratia plena“ wiedergibt: „Das gratia plene (Vg) erlaubt eine tiefere Ausdeutung. Aber Luk schreibt hier nicht wie Apg 6,8 plh,rhj ca,ritoj (vgl. auch Joh 1,14), und Verben auf o,w wie carito,w können, müssen aber nicht die Fülle ausdrücken, vgl. Campe a. a. O. 201f. Ein fülligeres Verständnis bei Cole, a. a. O., und Bourassa, a. a. O. (Daß sachlich die unbefleckte Empfängnis Mariens eingeschlossen sei, ist eine Erkenntnis, die wir nicht mit Hilfe der philologisch- historischen Methode erheben, sondern nur dem Tiefblick des kirchlichen Glaubensbewußtseins verdanken können …)“ (45, Anm. 34). 18 Vgl. dazu das oben in der Besprechung von Mt 1 dazu im Abschnitt zur Übersetzung Mt 1,18b Gesagte.

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rias die Rede sein, einem gezielten Suchen oder gar auf Gott hin Wirken, und sei es ein thematisches Gebet? Der Ausdruck „finden“ läßt von sich aus, wenn er in einem Aussagesatz erscheint, immer alles offen (übrigens nicht nur in der deutschen, sondern auch in der hebräischen, griechischen und lateinischen Sprache), wenn nicht eine irgendwie erklärende nähere Bestimmung beigegeben ist. Daher belassen wir es auch hier zunächst wieder in seiner ganz eigenartigen Offenheit; es könnte aus dem folgenden Versen gegebenenfalls offenbar werden, was genau gemeint ist. Daß hier jedenfalls etwas Entscheidendes, von Gott allein Herrührendes ins Wort gebracht ist, dürfte klar und dementsprechend zu beachten sein. Der Vers 31 bringt eine erste an Maria gerichtete Ansage: kai. ivdou. sullh,myh| evn gastri. kai. te,xh| ui`o.n kai. kale,seij to. o;noma auvtou/ VIhsou/n – und siehe, du wirst im Schoß empfangen und (den) Sohn gebären, und du sollst seinen Namen JESUS nennen. Dieser Satz ist keineswegs als „Verheißung“ oder als „Geburtsankündigung“ zu lesen. Das wird oft behauptet, weil er sich in seiner Ausformulierung an Stellen der Bibel ausrichte und von daher seinen Sinn offendecke. Vor allem wird Jes 7,14 als der Text angegeben, nach dem 1,31 fast bis aufs Wort gestaltet sei. Dort erklärt der Text jedoch eindeutig, daß es eine Verheißung ist, die der Prophet gegen den sich verweigernden Achas, also gegen das Haus David von Gott her zu sprechen hat, und zwar mit dem Inhalt, daß von Jahwe her etwas Unerhörtes geschehen wird, das zwar die Geburt des Angekündigten mitnennt, doch nicht als den eigentlichen Inhalt der Verheißung. Für Lk 1,12–17 kann die Bezeichnung „Geburtsankündigung“ gesetzt werden, zumal dort Zacharias u. a. auf sein lange währendes Bitten hin angesprochen wird, wobei aber die Geburt keineswegs als der eigentlich hervorgehobene Inhalt des Gotteswortes zu gelten hat. Hier in 1,31 handelt es sich aber im Kontext um ein Gottes eigenes, unerahnbares Ansinnen bekundendes Wort, das zunächst etwas ansagt, das Gott geschehen zu lassen plant, und gibt anschließend den Auftrag an Maria, dem Geborenen (von dem ja erst 32 Näheres ausgesagt wird) den Namen JESUS zu geben. In Jes 7,14 ist dem Achas Gottes fester Entschluß entgegengehalten, der eine dort Unbekannte nennt, für die das Prophetenwort gilt. Hier in 1,31 mag Lukas einzelne Wörter oder auch die Folge „empfangen – gebären – Namen nennen“ rezipiert haben, das mit ihnen Angesagte ist jedoch gänzlich anderes.19 Die weitere, unmittelbar folgende Auskunft über sein eigentliches, an Maria gerichtetes Ansinnen in 32 macht das überdeutlich. Für das in 1,31 Erstgenannte, „du wirst/sollst im Schoß empfangen“, ist das offenkundig. Das Gebären ist an sich eine natürliche Folge des Empfangen-Habens, während die Namennennung Auftrag ist, der persönlich und bewußt erfüllt werden soll. Aus alle dem folgt, daß „Geburtsankündigung“ eine Bezeichnung ist, die die Sache verfehlt. Gott bekundet in der lukanischen Formulierung sein Ansinnen, das Heil für Israel

19 Vgl. dazu das im Exkurs zu Jes 7,14 und seine „Verwendung“ in Mt 1 und Lk 1 Herausgestellte.

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und alle Welt zu bereiten, und dies durch Mit-Wirken derer, die er dazu erwählt und mitzutun befähigt.20 Der Vers 32 bringt das erklärend-offenbarende Wort Gottes selbst über den, den er von Maria zu empfangen wünscht, um ihn zu gebären und seinen Namen zu geben. Es sind vornehmlich Jahwe selbst bezeichnende Wendungen, die von dem JESUS zu Nennenden im Futur ausgesagt sind. Dadurch ist aufs deutlichste angegeben, wer der ist und was er als Lebensaufgabe aufgetragen bekommen hat, was er folglich persönlich erfüllen soll, wenn er geboren ist, d. h. in das Geschehen der Welt hineingestellt wird, um seinen Auftrag zum Heil eben dieser Welt zu erfüllen, der sich in seiner Eigentlichkeit erst im Kreuzesgeschehen oder gar des Geschehens, das Auferwecktwerden und Erhöhung durch Gott heißt, voll offenbart. Die aus der Bibel her geläufigen Formeln wie „groß sein“, „Sohn des Höchsten“, „Herrscher“ sind Gottesprädikate, die Gott selbst auf ihn anwendet, die also nicht als erst seitens der Glaubenden „angewendete“, eigentlich nur Gott zustehende „Begriffe“ zu gelten hätten. Diesen von Gott dem zu Empfangenden und dann zu Gebärenden Jesus zugesprochenen Gottesprädikate ordnet der Text im selben Atemzug auch „Davidsohn“ bei (Kyrios, der Gott wird ihm den Thron seines (!) Vaters David geben), auch im Futur sprechend wie die Gottesprädikate. Der von Maria zu Empfangende wird somit im einen und selben 20 Wir verwenden hier mit voller Absicht dieses recht offene Wort „Ansinnen“, da im zur Gänze

beachteten Kontext Lk 1,5–2,52 ein Planen, Erwägen und vorbereitendes Wirken Gottes selbst auf sein Ziel hin offenbar wird, das wesentlich zunächst immer ein Werben um Zustimmung und ein-stimmendes Geschehen-Lassen, ja dann auch Mit-Wirken derer ist, denen das end-gültige Heil aller Welt von ihm, Jahwe, gewidmet, nicht wortlos aufgezwungen ist. Erfüllen soll sich dieser Heilsplan nicht durch zuvor von Gott längst Festgelegtes oder ursächlichwirkendes Vor-Bestimmtes und deswegen auch unweigerlich Eintreffendes, das Gott rücksichtslos in All-Macht allein vollbringt. Im LkEv ist vielmehr alles auf das Geschehen des Kreuzesereignisses hin ausgerichtet. Das wird denen von Anfang an klar gemacht, die Gott zum Mit-Wirken an und in seinem eigenen (auch leidvollen!) Sich-selbst-Dahingeben beruft, d. h. einlädt, wenigstens durch antwortendes Geschehen-Lassen dessen, was Gott real auf sich nimmt. Dieses so verstandene Ansinnen Gottes klingt in 1,31 erstmals deutlich, wenngleich noch verhalten, an: „Du wirst (ein ganz offenes Futur), du sollst – so mein Antrag an dich – im Schoß empfangen“. Im Wort „empfangen“ ist wesentlich und zuerst ein Geben bzw. Gegebenwerden angesagt, weil es nur durch „nehmen“, „annehmen“ u. ä. getan werden kann. „Empfangen“ setzt immer jemand anderen voraus, der geben will und dieses sein Geben-Wollen auch bekunden und zum Annehmen einladen muß. „Empfangen“ ist nämlich kein Selbst-Machen, kein eigenes Produzieren, ja nicht einmal Mit-Bewirken dessen, was zum Empfangen-Werden dargereicht (keineswegs aufgezwungen) wird. Daß das Zum-empfangen-Geben zudem auch immer erst dann sich voll verwirklicht, wenn das Annehmen seitens des Empfangenden bewußt geschieht und geschehen ist, zeigt die andere Seite des Empfangens. Dieses tatsächlich willentlich vollzogene Annehmen läßt Geben sich verwirklichen und voll-bringen, läßt Gabe werden und sein. Auch dieses Wort „Gabe“ sagt immer schon wesentlich und bleibend Empfangen-worden-Sein mit aus. Wir bemerken, daß immer irgendwie Personales, etwas dem freien und bewußten Willen Entspringendes vorausgesetzt ist, wenn die Ausdrücke „Geben“ und „Empfangen“ in ernst gemeintem Gebrauch rechtens verwendet werden. Genau das sehen wir im ersten Teil des Satzes Lk 1,31 angesagt. Es ist das ganz konkrete Ansinnen an Maria. Dem werden in 31 und 32 ausführliche Elemente angefügt, die weitere Auskunft schenken.

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Satz als Gottessohn und Davidssohn zugleich angesprochen. Dieser ist folglich der, den zu empfangen Maria eingeladen und aufgerufen ist. Das bleibt für alles Weitere zu beachten und gelten zu lassen. Im Anschluß an die Besprechung der Aussagen des Verses 32 ist noch auf ein Faktum aufmerksam zu machen. Damit ist die oft begegnende Auslegung gerade dieses Verses als Messias-Ankündigung gemeint, was wir jetzt wegen unserer Hauptintention im einzelnen nicht zu betrachten haben, sondern als ungerechtfertigt aufzuzeigen, weil das eine theologisch motivierte Folgerung darstellt, die der Text selbst gar nicht aussagt, vielleicht sogar als Überinterpretation angesehen werden muß. So sagt etwa Schürmann zu 1,32f dies: „Im folgenden wird das verheißene Kind grundlegend als der erwartete Messias aus dem Hause Davids beschrieben … ‚Sohn des Allerhöchsten‘ wird das Kind sein. Der unmittelbare Kontext (VV 32b-33 im Vergleich mit 2 Sam 7,13.14.16 …) läßt zunächst nur an eine Messiasprädikation denken. Daß damit aber nicht nur ein Titel verliehen, sondern etwas Vorgegebenes zum Ausdruck gebracht wird, in dem die messianische Herrschaft erst gründet, wird im Zusammenhang mit V 35f deutlich: ‚Größe‘ und ‚Gottesherrschaft‘ eignen schon dem irdischen Jesus. … Die ‚ewige Dauer‘ seiner Herrschaft zeigt an, wie sehr hier die altisraelitisch-irdische Messiasvorstellung spätjüdisch bzw. urchristlich transzendiert ist“ (47f). Bemerken wir: Im lukanischen Text kommt der Ausdruck „Messias“ überhaupt nicht vor! „Sohn des Allerhöchsten“ als „Messiasprädikation“ anzusprechen, verfehlt den Text; schon in ihm ist sicher entscheidend mehr angesprochen: Der diese Prädikation (wenn man dieses Wort hier verwenden will) Erhaltende ist „Sohn des Allerhöchsten“, also „Sohn Jahwes“, und dieser wird das zu vollbringen haben, was „Messias“ (u. a.!) heißen kann. Nicht der Messias wird „Sohn des Höchsten“ genannt, gar seitens der Glaubenden; er ist es im Auftrag Gottes!21 Zusammenfassend heißt es bei Schürmann dann so: „Die christologische Aussage von VV 32f mit ihrer atl.-jüdischen Diesseitseschatologie bleibt zurück hinter der von VV 35f, wo zumal der Gottessohntitel vertieft verstanden ist“ (49, mit Verweisen auf weitere Stellen). Beachten wir: Im ganzen Text Lk 1–2 kommt der Ausdruck „Cristo,j“ nur zweimal vor, ohne daß Lukas aber erkennen

21 Dem sei eine weitere Passage aus Schürmanns Kommentar beigegeben: „Aufgrund seiner Gottes-

sohnschaft wird dem Kinde … der Davidsthron gegeben werden … Auch die Ordnungen dieser Welt werden dereinst durch Christus beherrscht und ihre Erfüllung finden im Königtum Christi. Seiner messianischen Herrschaft auf Erden über Israel wird ewige Dauer verheißen – in Aufnahme der Prophetie von 2 Sam 7,16 (vgl. Gn 49,10). … Zukunftsschau des Königtums Christi … Verwirklichung des Königtums Christi … daß die atl. Prophetie auch die Heilung der Ordnungen dieser Welt zum Zukunftsheil gerechnet hat und daß die Erlösung durch Christus eine totale ist“ (48 und 49). Bemerkenswert: Die vollkommen klare und konkrete Aussage in 32: „es wird ihm Gott der Herr den Thron seines Vaters David geben“ wird hier durch Schürmann abstraktpassivisch gefaßt: „Aufgrund seiner Gottessohnschaft wird dem Kinde der Davidsthron gegeben werden“! Macht das den vorliegenden Text klarer? Und ist z. B. „Davidsthron“ für „Thron seines Vaters David“ nicht eine ungute Verkürzung des Gesagten?

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II.

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ließe, ob er damit etwas Besonderes, also eine Auslegung andeuten möchte.22 Für alle anderen in 1–2 begegnenden Gottesprädikate von christologischen Bezeichnungen zu sprechen, wird den tatsächlichen Aussagen des Textes nicht gerecht. d) Lk 1,34

Wie wir schon im Abschnitt zur rechten Übersetzung der Lk-Texte herausgestellt haben, so hat dieser Vers 34 eine ungemein vielfältige Fülle an ausdeutenden Auslegungs- und Verständnisversuchen ausgelöst. Das im genannten Abschnitt Herausgearbeitete wird hier vorausgesetzt. Es sind im Grunde zwei Ursachen, die Problemfragen auslösten. Da ist einmal die Auffassung zu nennen, die sog. Marienfrage sei als „Stilmittel“ anzusehen, d. h. als vom Evangelisten schriftstellerisch gebildet, und dann zweitens die verfehlte Übersetzung des Marienwortes mit „weil ich keinen Mann erkenne“. Zu beiden Problemen sei hier nur folgendes gesagt, damit hinreichend verständlich wird, was wir selbst dann anschließend zu 1,34 als seinen theologisch erkannten Aussagegehalt angeben zu sollen meinen. Die Aussage des Verses 34 als von Lukas im Sinne eines in schriftstellerischer Absicht zwischen 1,31–33 und 1,35–37 eingefügten Satzes anzusehen, diese Marienfrage daher als ein übliches Stilmittel zu verstehen und auszulegen, die den Leser besonders aufzumerken aufruft, ist als in sich unlogisch und widersinnig anzusprechen. Wenn man nämlich zu Anfang des Kommentars für den Gesamttext des LkEv überhaupt und nachdrücklich (und das gänzlich textgerecht) festgestellt und nachgewiesen hat, daß Lukas als Autor seinen Text erkennbar kunstvoll selbst gestaltet hat, und zwar mit ausdrücklicher Widmung an den hochgebildeten Theophilos, und sich somit vor allem an eine gebildete Leserschaft wendet, dann kann man unmöglich für einige wenige Verse behaupten, sie seien bewußt als schriftstellerische Stilmittel eingesetzt, um an gegebener Stelle den Leser besonders zum Aufmerken zu bewegen. Einen einzelnen Vers als Einschub in unmittelbar zusammengehörige Sätze im Blick auf die Leser zu erklären, der insgesamt sich gezielt an seine definierte Leserschaft richtet, entbehrt jeder Logik. Man beruft sich für die besondere Redeweise des Lukas in 1,26–38 als Grund meist darauf, daß dieser Text insgesamt (wie übrigens auch 1,5–22 und ebenso Mt 1,18–25) dem atl. Schema der Geburtsankündigung nachgebildet sei, auch was seine Darstellungsweise anbelangt. Dort seien solche Einschübe in die laufende Erzählung üblich, um die Hörer/Leser um so aufmerksamer zu stimmen. Dazu ist ein Text aus dem Buch Räisänen recht aufschlußreich. Er schreibt gerade in Bezug auf 1,23 22 Die Texte, die sicher bemerkenswert sind, lauten so: 2,11: o[ti evte,cqh u`mi/n sh,meron swth.r o[j evstin

cristo.j ku,rioj (wir beachten das unmittelbare Nebeneinander „Soter“, „Christos“, „Kyrios“ im Nominativ). Dann 2,26: kecrhmatisme,non u`po. tou/ pneu,matoj tou/ a`gi,ou mh. ivdei/n qa,naton pri.n Îh'Ð a'n i;dh| to.n cristo.n kuri,ou; hier die üblichere Wendung mit Kyriou im Genitiv. Ob in diesen Texten der Ausdruck „Christos“ nur im gängig gewordenen Messias-Verständnis oder nicht doch in einem gefüllteren (und zugleich offenen) Sinne zu verstehen ist, muß gefragt bleiben.

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dies: „Zu den alttestamentlichen Annuntiationsgeschichten gehört als wesentlicher Bestandteil der Widerstand oder der Zweifel des Empfängers der Botschaft. Dieses Motiv bringt Spannung in die Erzählung und bereitet deren Klimax in der Antwort des Engels vor (es folgen Beispiele, wie Gen 17,17f; 18,21: Ex 3,11 – 4,17; Ri 6,15; Apg 10,14: R. S. aus dem Kontext). … Es wird deutlich: Die Form einer Annuntiationsgeschichte verlangt eine unverständige Frage seitens des Menschen. Die Frage der Maria muß als ein literarisches Motiv, als ein Stilmittel verstanden werden, die für den Fortgang der Geschichte sorgen soll. Der Erzähler hat den Vers 34 als Einleitung zur Botschaft des Engels (V. 35) verstanden, in der die Perikope ihren Höhepunkt findet. Die Hauptsache wird in V. 35 ausgesprochen: Gott tut sein Werk. V. 34 präzisiert und sichert den Inhalt der Engelsbotschaft“ (97f).23 Wenn für 1,34 die Kategorie „Stilmittel“ angewendet wird, dann stellt sich unvermeidbar die Frage, wie die Aussagen, die durch das Stilmittel besonders herausgehoben werden, zu bewerten sind. Welchen realen Aussagecharakter haben 1,28–33.35– 38? Woher nimmt der Evangelist die einzelnen Aussage-Elemente – oder welche von ihnen sind gleichfalls als Stilmittel, wenn auch anderer Art, zu werten? Wer eigentlich 23 Es seien zur Verdeutlichung der Problemlage einige weitere Beispiele gebracht. Schürmann sagt:

„Maria glaubt, und sie wird deswegen V 45 gepriesen. Sie begehrt auch kein beweisendes Zeichen, wie Zacharias das (1,18) tat. V 34 ist ein überrascht-verwunderter Ausruf, dem das Wie unverständlich ist und der darum danach fragt, nicht eine ablehnende Verneinung. Im Sinne des Erzählers hat die Frage … zunächst eine schriftstellerische Funktion: nämlich die nähere Erklärung VV 35ff zu ermöglichen und vorzubereiten (wie parallel die Frage nach dem Zeichen V 18 den Redegang des Engels VV 19f veranlaßt und vorbereitet hat)“ (49). Michl (1969) schreibt in seinem Beitrag „Die Jungfrauengeburt im Neuen Testament“ (165–184) u. a. dieses unter Berufung u. a. auf Gewieß: „Die Marienfrage, Lk 1,34“: „Eine Deutung sieht in der Frage ein literarisches Stilmittel; … liegt im Bericht des Lukas das literarische Schema der Verkündigung zugrunde, bei dem der Angesprochene eine Frage stellt, die zur weiterführenden Darlegung der Botschaft veranlaßt. So dient hier die Frage Marias dazu, das theologische Hauptanliegen der Erzählung herauszustellen, nämlich die von Gott gewirkte jungfräuliche Empfängnis des Messias. Der Sinn der Frage wird einzig durch die V. 35–37 folgende Antwort des Engel bestimmt. Der Evangelist legt der Jungfrau die Frage in den Mund; sie ist aber von ihm erfunden und im Hinblick auf V. 35 gewählt und dient als Wegweiser zum vollen Verständnis der Engelsmitteilung“ (160; vgl. das dort Folgende ebenso wie 171–173). ––– Schneider (1971) formuliert es in seinem Beitrag „Jesu geistgewirkte Empfängnis (Lk 1,34f)“ so: „Die Form der Geschichte entspricht atl Verkündigungsgeschichten … Die entscheidenden Verse 34–35 … gehen vermutlich auf die Hand des Lk zurück, wenn der Evangelist auch dabei … auf bereits formuliertes Bekenntnisgut zurückgriff …. Gleichzeitig hat er dabei das Stilmittel der Rückfrage Mariens an den Engel (v. 34) verwendet, das sich auch in der Zachariasgeschichte (1,19f) findet und den alt Annuntiationsgeschichten entspricht … das die Frage ein lukanisches Stilmittel ist, das den Leser auf einen wichtigen Sachverhalt hinweist … Der Hervorhebung der wunderbaren, jungfräulichen Geburt aus Hl. Geist dient … die Frage Marias 1,34. Lukas legt sie – wenigstens in dieser Form – der Jungfrau in den Mund, damit der Leser die Bedeutung dessen erfassen kann, was V. 35 verheißen wird“ (108 und 109; unter Berufung auf Gewieß; ähnlich auch in Schneider Lukas-Kommentar 50f). Weitere Kommentar-Stellen zu 1,34 als Stilmittel: Wilckens (1981) 54 (mit weiterer Entfaltung in 57f); Wiefel (Lk): 53 (mit Kontext dort); Radl (Lk): 61 u. 64f mit weiterer Erklärung; Schmithals (Lk): 27 u. 28; Beilner (1973) 96. U. a.

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hat diese „Ankündigungsworte“ und die in ihnen ausgesprochenen „Qualifizierungen“ des Kindes zuerst ausgesprochen – oder sind auch sie fiktive Darstellungsmittel? Doch wofür dann eigentlich? Einen Fingerzeig zur Beantwortung dieser Fragen geben die Kommentatoren damit, daß sie von einem Ankündigungsschema o. ä. sprechen, das schon in der atl. Bibel vorliege und dort oft verwendet sei.24 Mit dieser Auskunft wird jedoch das Problem nicht gelöst, sondern nur weiter hinausgeschoben. Denn es bleibt ja dann die Frage, wie die atl. Autoren (des biblischen Textes!) zum Aussage-Inhalt und zu diesen sprachlichen Darstellungsweisen gelangten, wie auch, wer oder was sie motiviert hat, überhaupt derartiges aufzuschreiben. Woher kamen sie auf den Gedanken, diese sog. Geburtsankündigungsschemata zu erfinden – oder lagen diese Schemata längst vor, noch ohne konkreten Inhalt, ohne namentliche Personen, auf die sie anwendbar würden? Kurz: Haben wir es prinzipiell und von Anfang an bei allem wie auch immer schriftlich Verfaßtem mit Literarisch-Fiktivem zu tun, das etwas „aus-spricht“, was ursprünglich nicht in einem real Geschehenen (ob „Ereignis“, „Tat“ oder „zu-gewirktes“ „anderes“ zu nennen) als irgendwie „Zum-Verstehen-Gegebenes“, also zu Empfangendes vor-gelegen ist, sondern dem Geist dessen entsprang, der es sogar als anderen schriftlich Mit-teil-bares zum Auf- und Anzuneh-

24 Wir bringen hier nur zwei Beispiele für das gerade Herausgestellte. Räisänen (1969) kommt öfter

auf die sog. Ankündigungsgeschichten zu sprechen, wenn er zu Mt 1,18–25 und Lk 1 etwas Wichtiges bemerken will. So zu Lk 1,34, wo er auf die „Struktur der Erzählung“ zu sprechen kommt: „Zu den alttestamentlichen Annuntiationsgeschichten gehört als wesentlicher Bestandteil der Widerstand oder der Zweifel des Empfängers der Botschaft. Dieses Motiv bringt Spannung in die Erzählung und bereitet deren Klimax in der Antwort den Engels vor (er bringt dafür alt. Beispiele; R. S.). Die Form einer Annuntiationsgeschichte verlangt eine unverständige Frage seitens des Menschen. Die Frage der Maria muß als literarisches Motiv, als ein Stilmittel verstanden werden …“ (97 u. 98). Dann: „Nach dem allgemeinen Schema der Annuntiationsgeschichten teilt der Engel ein Zeichen mit, damit Maria die Zuverlässigkeit der Botschaft prüfen kann“ (104), dann ebenso: „Die Ökonomie der Erzählung fordert hier eine Erwiderung der Maria (1,35)“ (113); und zu Lk 2,21–40 u. a.: „Es kann sich nur um ein Motiv handeln, das aus der Geburtsgeschichte Samuels stammt“ (125). Zeller (1981) stellt in seinem Beitrag „Die Ankündigung der Geburt – Wandlungen einer Gattung“ (27–48) zunächst zu „Die Strukturelemente der Geburtsankündigung und ihre Funktion“ dieses heraus: „Stellen wir die neutestamentlichen Geburtsankündigungen nebeneinander, so fällt gleich ins Auge, daß sowohl die Ankündigung der Geburt des Johannes an Zacharias (Lk 1,5–23) wie die der Geburt Jesu an Maria (Lk 1,26–38) oder an Josef (Mt 1,18–25) einen ähnlichen Aufbau zeigen. Diese Ähnlichkeit ist offensichtlich nicht darin begründet, daß es sich um dasselbe Ereignis handelt. Vielmehr folgen alle diese Erzählungen einem Schema, das wir auch schon im AT entdecken können, wo Vater oder Mutter durch einen Boten Gottes die Geburt eines Kindes – es ist natürlich immer ein Sohn! – verheißen wird. Ein Beispiel, in dem wir fast alle Elemente der ntl. Texte wiederfinden, ist Ri 13,2–24“ (27). Das wird sogleich entfaltet, und es werden „die Strukturelemente“ vorgestellt; es sind deren acht! Dazu wird dann gesagt: „Die Geburtsankündigung hat also die Funktion, ein kontingentes Geschehen – und das ist manchmal ärgerlich zufällig … – darzustellen: das Kind als Gabe Gottes. Dabei soll schon vor der Geburt die Sinnrichtung dieses Handelns deutlich werden. Die Geburt ist nur der Anfang einer die Enge des Elternhauses sprengenden göttlichen Rettungstat“ (29).

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mendes beurteilte.25 Liegt in diesem Falle tatsächlich ein „Schema“ einem Erzählten schon voraus, durch welches es zur Sprache gebracht werden kann? Dasselbe anders gewendet gefragt: Liegt dem mit-teilend zu Erzählenden überhaupt ein real Geschehenes, in seiner Wahrheit (was ist diese?) Ver-nommenes, Erfahrenes und Verstandenes (was ist „verstehen“?), irgendwie Geschautes (wofür steht „sehen“ eigentlich in seinen vielen „Varianten“?) und Gehörtes (was alles besagt „hören“?) zugrunde, also auch „zuvor“ – oder ist in seinem Ursprung alles Auszusprechende und dann auch Aus-Gesagte nur Erdichtetes, geistig „Entstandenes“ und von des Wortes Mächtigen (Dichter) in sprachlich übermittelbarer Rede Dargebotenes? (Damit sprechen wir dem wirklichen Dichterwort keineswegs seine ihm eigene Würde ab!) Aber es ist doch zu fragen, woher z. B. Lukas „weiß“, was er in seinem Werk sprachlich darbringen will. Dazu gibt uns Lukas eigentlich in 1,1–4 längst seine Auskunft. Doch auch dort beruft er sich auf „Augenzeugen“ (wer ist das? und wie geschieht das rechtens und in Wahrheit und Wahrhaftigkeit, was dieses Verbum „sagt“?) dessen, was er darbieten will. Wußten diese, was sie eigentlich „bezeugten“, sogar in Auftrag-Erfüllung (u`phre,tai tou/ lo,gou) durch jemand anderen als sie selbst? Wir kommen schließlich nicht daran vorbei, es als gültig und wahr anzuerkennen, daß Gott – und darin als er selbst, Gott, erkennbar und verstehbar! – von Menschen, die er zu Zeugen und Überbringern im selben Geschehen seinerseits berief, sie zum Wahrheit-Mitteilen befähigte und sich ihnen mitgeteilt hat, und das sogar so, daß er selbst auch das Zeugnis-Wort seiner Zeugen von Anfang an mit-beglaubigt hat und mit-trägt. Ob wir für diese Zeugenaussagen nun verschiedenste Weisen des Zur-Sprache-Bringens vorfinden, es variiert nur das eine und selbe.26 25 Wir stehen hier übrigens vor dem Grundgeheimnis unseres mitmenschlichen Miteinander-Le-

bens wie Sprechens und Hörens, nämlich dem, worin sich die erkenntnistheoretisch prinzipielle Fundamental-Frage offen zeigt: Was ist Wirklichkeit und was ist Sprechen-Können, Sprache und ausgesprochene Wirklichkeit? Sind beide „Wirklichkeiten“ sachidentisch dasselbe, oder je ein wirklich anderes? Was ist das menschliche Wort, das „etwas“ sprechend-real vermitteln, mitteilen kann, in realer Wahrheit und Wahrhaftigkeit? Wie „gültig“, „sachlich richtig“ können unsere AusSagen sein und sind sie das jemals, wenn ja in welchem „Grade“ und „Ausmaß“, in welcher Fülle? Wir wissen (in der Lebendigkeit, in der wir uns als Menschen „wissen“), daß alle diese gestellten Fragen nicht erst solche des Literaturwissenschaftlers, des Exegeten und Theologen wie übrigens auch der Naturwissenschaftlers u. a. sind, sondern eines jeden Menschen, der Mensch ist, wenn er bewußt und wissentlich sein Miteinander-Leben mit seinen Mit-Menschen im Miteinander-Sprechen und Aufeinander-Hören wie Einander-Verstehen bedenkt. Wir müssen diese erkenntnnistheoretischen (!) Fragen und (vielleicht unlösbaren) Probleme hier nicht erst selbst behandeln und aufweisbar richtig lösen. Denn sie sind im konkreten Leben durch unser „selbst-verständliches“ Vollziehen erst gar nicht gestellt! 26 Wir sind hier offensichtlich prinzipiell vor die Frage gestellt, ob wir in unseren christlichen Theologien überhaupt von einem „Gott“ sprechen (können und müssen), der in dem realen Sein und Geschehen dessen erfahrbar und deswegen auch in Wahrheit aussagbar „vorkommt“, „da-ist“ und, wie auch immer, erlebbar „wirkt“, das wir „Welt-Geschehen“ und „Welt-Geschichte“ nennen, oder ob Gott als „transzendentales Wesen“ anzusehen ist, das menschlichem „Denken“ entspringt. Es

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Die Kategorie „Geburts- und Ankündigungsgeschichten“ auf Lk 1 (wie auch Mt 1) anzuwenden, mag für das literaturwissenschaftliche Verstehen des Textes auch in seiner exegetischen Erschließung angebracht, von bedeutsamen Wert und daher unverzichtbar sein. Sie reicht jedoch zur Erfassung des theologischen (in der vollen christlichen Bedeutung dieses Wortes!) Verständnisses der konkret ganz eigenartigen Bibel-Texte nicht hin, die ja Auskunft geben über Leben, Empfindungen, Handlungen und (sprachlich oder wie immer erfolgte) Wort-Äußerungen namentlich unverwechselbarer und unvertretbarer Personen, zu denen zu allererst Gott, Jahwe, selbst gehört. Solcherart Kategorien (wie auch zahlreiche andere in der Theologie zweifellos zu verwendenden Ausdrücke und Redewendungen) sind ja durch Abstraktion gewonnene Allgemein-Begriffe (welchen Grades auch immer), die das Konkret-Einmalige gerade nicht mehr mit-aussagen (können). Für das in der Bibel überhaupt und insgesamt schriftlich Dargebotene – die Bibel jetzt ausdrücklich als „Wort Gottes“ im israelitisch- christlichen Verständnis und Gebrauch verstanden, das ja unvergleichlich eigennamen-einmalig ist wie Jahwe selbst – gilt uneinholbar: Es ist ausdrücklich und erklärtermaßen das konkret namentlich gemeinte Ereignis und Zu-Wort-Gebrachte dessen, was Jahwe-Ereignis in Wort und Tat ist, das sich mit namentlich-unverwechselbaren Menschen (Geschöpfen) in und an dem GottGeschaffenen verwirklicht hat und weiter sich verwirklicht, das „Wirklichkeit/Welt“ und „Wirk-Geschehen/Geschichte“ heißen kann. Das gilt noch einmal spezifischer – wegen seiner konkreten Faktizität! – und neu-einmalig für die neutestamentlichen Texte, die mit der anerkanntermaßen analogielosen Bezeichnung „Evangelium Gottes (Jahwes)“ in die Weltliteratur „eingeordnet“ erscheint. Unter „Evangelium“ sind da nicht nur jene vier spezifisch so genannten Schriften des NT zu verstehen, sondern alle „Evangelium“-haltigen Bekundungen im Kanon der ntl. Schriften, in welcher Weise auch immer sie das eine „Evangelium“ vermitteln, berichten, verkünden und einfordern. Zum Verstehen und theologisch-vollen Erfassen der Text-AussageGehalte der Bibel (Alten wie Neuen Testaments) ist es zwar unumgänglich, sich (sog.) menschlicher Sprache und ihrer Sprach-Wendungen und Begriffe zu bedienen. Diese sagen dann auch, sachgerecht eingesetzt, wirklich Gültiges, Biblisch-Wahres aus. Es darf dabei jedoch von diesen jeweils zweifellos rechtens verwendeten Allgemein-Begriffen und deren Bedeutungsumfang her nicht gültig bestimmt werden, was die genuin biblischen Formulierungen „ersten Grades“, d. h. die Sätze der Bibel selbst sagen (mit welchen Worten immer sie es tun), so als ob der End-Sinn in der theologischen Erfassung letztlich doch nur von jenen Begriffsverständnissen her seine mögliche und aufweisbare Gültigkeit haben kann. Dabei zeigen auch die biblischen Texte stets einen „Überschuß“ an Aussage-Fülle, die nicht ein für alle Mal ausgeschöpft sein wird, weil bleibend „Wort Gottes“, das nie aus-gesagt ist, wohl immer neu spricht. ist dieselbe Frage, die sich für das sog. Auferstehungswunder ergibt. Wir brauchen hier darauf nicht mit einer Lösung zu antworten. Vgl. das im entsprechen Exkurs zu Sagende.

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Abschnitt B:

Lk 1–2 — Text – rechte Übersetzung – theologische Erfassung seiner Aussagen

Diese Überlegungen zu Methodenfragen in der Lesung biblischer Texte zeigen deutlich, daß die Weise, wie Lk 1,34 recht erfaßt werden kann und muß, mit der Einordnung in die Kategorie „Geburts- und Ankündigungsgeschichten“ und auch die Wertung als „Stilmittel“ des Erzählens dem Text nicht gerecht wird. Es führt eher zu Mißverständnissen. Dasselbe ist in ähnlichem Sinne von jenen Auslegungen von 1,34 zu sagen, die sich an die falsche Übersetzung halten. Das muß nicht weiter begründet werden, da sinnvollerweise nur ein richtig gelesener Text eine Auslegung verdient. Daher können wir sorglos die vielfältigen Interpretationen der „Marienfrage“ hier außer Betracht lassen (und sie anderen Auswertungsansätzen zur Klärung empfehlen, die allerdings rechtens angewendet und zielführend sein müssen). Daher gilt es jetzt, an 1,34 die einzig sachgerechte Frage zu stellen: Was will Lukas als Evangelist selbst mit diesem Satz kundtun? Wir vergewissern uns nochmals des ganzen Kontextes von 1,26–38. Zu Anfang werden die Personen in ihrer momentanen Lebenssituation vorgestellt. Zuerst wird der Bote Gabriel genannt als Gesandter Gottes, der, wie das folgende zeigt, der Maria etwas von Gott eröffnen soll, somit Überbringer, vielleicht auch Erklärer dessen ist, was ihm von Gott mitzuteilen aufgetragen ist. Dann wird die Adressatin genannt als die, der der Bote Gottes Wort (dessen Inhalt zu Anfang noch offen ist) zu überbringen (und, wie sich zeigt, näher zu erklären) hat. Das wird in einer eigentümlichen Weise genau spezifiziert angegeben, und zwar in dieser Reihenfolge: Maria ist Bürgerin in Nazareth, mit einem Mann aus dem Hause Davids namens Josef verehelicht und heißt Maria. Der Lukas-Text stellt sie also vor als „mit ihrem Mann Josef verehelichte Jungfrau“. Es wird hier betont gesagt, daß dieser ihr Ehemann (so wird Josef ja schlicht wie selbstverständlich vorgestellt) aus dem Hause Davids stammt (was für damalige Leser sogleich auf etwas Besonderes aufmerksam macht!). Wenn Josef so schlicht „Ehemann der Maria“ genannt wird, folgt unmittelbar, daß Maria als „Ehefrau des Josef “ erklärt ist. Was dann in 1,34 zusätzlich hinzugefügt wird, nämlich die Aussage dieser Ehefrau Maria, daß „sie ihren Ehemann (noch) nicht erkenne“, läßt somit im Gesamtzusammenhang wie selbstverständlich die in 1,31–34 angesprochene spezifische, person- und datum-geprägte Situation Jung-Verehelichter gemäß dem israelitisch-jüdischen Recht und Brauch erkennen. Das findet sich in Mt 1,18 genauso klar und deutlich gesagt: „Sie waren verehelicht, bevor sie zusammengekommen waren“. Genauer als in Lk 1,26–34 und Mt 1,18–25 kann man eigentlich die konkrete Lebenssituation nicht mehr angeben. Daher versteht sich die Frage Marias im LukasText (!) ohne jedes Problem: Maria bekennt sich als Ehefrau und als ihren Ehemann noch nicht erkennend, beides „gleichzeitig“. Maria ist nämlich noch nicht heimgeführt, wie der andere Fachausdruck im jüdischen Recht und Brauch es bezeichnet, und somit hat das eheliche Zusammenleben mit Josef, ihrem Ehemann, noch nicht begonnen. Von daher bestimmt sich übrigens auch die Verwendung von parqe,noj für

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II.

Zur theologischen Erfassung von Lk 1–2

die verehelichte Maria in 1,27.27 Es ist auch auf die Formulierungsweise im Lukas-Text 1,34b zu achten: evpei. a;ndra ouv ginw,skw. Wir haben schon im Abschnitt zur rechten Übersetzung die richtige Wiedergabe dieses Versteils herausgestellt. Für ginw,skw ist an den einschlägigen Bibelstellen als übliche Bedeutung dieses Verbs im Gebrauch für das hier Gesagte „ehelicher Umgang“ angegeben.28 Es begegnet sowohl allein für den 27 Es ist bezeichnend, welche Akzente seitens der Kommentatoren in dem gerade besprochenen Text

herausgehoben werden – und welche nicht. Wieder Schürmann als ein Beispiel. Auch bei ihm findet sich „verlobt mit einem Manne namens Josef “. Dann sogleich zu Beginn der Auslegung von 1,26: „Auch die Sendung des Engels zu einer Jungfrau – im Kontrast zu einem im Heiligtum amtierenden Priester 1,11–20 – ist für damaliges jüdisches Empfinden ungewöhnlich. Gott offenbart sich nun, wo und wem er will“ (War das in früherer Zeit anders? Die Bibel hat von Anfang an viele Beispiele! Wozu also diese Bemerkung?) (42). Dann zu 1,27: „Gleich einleitend wird zweimal betont auf Mariens Jungfräulichkeit hingewiesen, wobei schon – die Nähe zu VV 31ff und VV 34f beweist das (s. dort) – an Is 7,14 LXX erinnert sein soll. Mariens Verlobung muß hier schon – nicht erst 2,5 – erwähnt werden, damit die Davidsohnschaft V 32 von dem verheißenen Kinde Mariens ausgesagt werden kann, die nach jüdischer Auffassung nur vom Vater her begründbar war und demzufolge im NT einhellig auf Josef zurückgeführt wird“ (42). Wo findet Sch. in 1,26 die zweimalig betonte (!) Jungfräulichkeit Mariens, zumal der Text „Jungfrau“ sagt und nicht „Jungfräulichkeit“ betont herausstellt? Und woher nimmt Sch. den Grund für seine Feststellung „Mariens Verlobung muß schon hier … erwähnt werden“? Tatsächlich sagt Lukas nicht einfach „Jungfrau“, sondern „verehelichte Jungfrau“ (evmnhsteume,nh steht als Partizip Passiv adjektivisch unmittelbar hinter parqe,noj und spezifiziert dieses folglich!). Das wird dann im Kommentar überhaupt nicht mehr beachtet. Dann heißt es 46 in der Anm. 40 u. a.: „Wer sieht, daß der Gedanke der jungfräulichen Empfängnis der ganzen Erzählung (vgl. v 35) konstitutiv innewohnt, wird nicht daran zweifeln, daß hier vor allem Is 7,14 LXX den Erzähler beeinflußt: er wird dementsprechend schon das doppelte parqe,noj VV 27f verstehen: s. dort“. Dies ist alles in den Text hinein-gelesen. In 1,26–38 insgesamt begegnet nie die sog. „jungfräuliche Empfängnis“, am wenigsten im von Sch. als Beleg genannten Vers 25! Es wird ausschließlich nur Gottes Wirken angesagt; es wird weder von „Empfängnis“ noch gar von „jungfräulicher Empfängnis“ gesprochen! Diese wäre nur als implizit angedeutet anzusprechen, wobei es jedoch die Frage bleibt, was man dafür eigentlich in 1,26–38 in berechtigten Anspruch nehmen könnte. 28 Es ist eigenartig, wie knapp die entsprechenden Wörterbücher auf ginw,skw eingehen. Im EWNT 1 (1980) findet sich unter „Sonstiges“ diese Angabe: „Mt 1,25; Lk 1,34 vom geschlechtlichen Verkehr, sowohl im Munde des Mannes als auch der Frau. Diese Redewendung ist dem AT geläufig (z. B. Gen 4,1,17.25: 19,8), aber auch dem heidnischen Hellenismus (als Semitismus?) nicht unbekannt (oft bei Plut.)“ (598f). Im ThWNT 1 (1933) findet sich nur dieser einzige Satz als uns interessierende Auskunft im Zusammenhang mit der Erklärung von [dy: „Daher kann [dy Objekte erhalten, die im Griechischen zu ginoskein kaum oder nicht gesetzt werden können wie Schläge (1 S 14,21), Kinderlosigkeit (Js 47,8), Krankheit (Js 53,3), Gottes Strafe oder Rache (Jer 16,21; Ez 25,14). Wohl ist in LXX in diesen Fällen meist ginoskein gebraucht; besser würde meist aisthanestai sein, und es ist charakteristich, daß der Unterschied zwischen ginoskein und aisthanestai nicht empfunden wird. In diesem Zusammenhang ist wohl auch der Gebrauch von [dy für den geschlechtlichen Umgang zu verstehen (Gn 4,1.17.25 etc, nicht nur vom Mann, sondern auch von der Frau gesagt Nu 31,18.35; Ri 21,12“ (696). – Bauer, Wörterbuch gibt zu ginw,skw diese Bedeutung: „5. v. Beischlaf (…) m. Akk. v. Mann (Gen 4,1.17; 1 Kö 1,18; Jdt 16,22); Mt 125 (zu Mt 2,24.25 vgl. sachl. Plut. …); v. Weib (Ri 11,39; 21,12 …) Lk 1,34 (…)“ (320). – Bemerkenswert auch, was Zerwick, Analysis zu ginw,skw in 1,34 sagt: „ginw,skw cognosco (scl per copulam maritalem; euphem. hebr.) a..;. ouv gin. describit statum virginalem cum implicita voluntate retinendi eum“ (130).

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Abschnitt B:

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Mann wie auch allein für die Frau gesetzt, auch dort wo der andere Ehepartner nicht mitgenannt wird. Was an sich wohl selbstverständlich ist, nämlich daß „ehelicher Umgang“ immer „Miteinander-Umgang-Haben“ bedeutet, das wird oft übersehen oder gar ignoriert. Deswegen ist mit „ich erkenne nicht“ hier auch „wir erkennen uns nicht“ mit-ausgesagt. Damit ist schlicht das (auch Menschen damaliger Zeit bewußte) Wissen um das Faktum angesprochen, daß es des Wir-Aktes von Mann und Frau bedarf, einem Kind das Dasein zu schenken; in ihm „agieren“ beide in gemeinsamem Akt, in dem der einzelne zwar „nur“ seinen natur-bestimmten „Anteil“ „leistet“, doch in gleich-bedeutsamer und aufeinander abgestimmter Weise. Ein Ehepartner allein zeugt nicht das Kind; auch erfüllt keiner von beiden den Hauptanteil zu dessen Werden und Daseinsbeginn. Deswegen ist die Frage des lukanischen Textes nach dem „wie geschieht das“ im Gefolge des Botenwortes „du sollst/ wirst im Schoße empfangen … und wirst gebären“ gleichsam selbstverständlich. Denn es bedarf, gemäß dem allgemeinen „Vor“-Wissen, des spezifischen Aktes, damit die Frau „empfängt“ und dann zur naturvorgegebenen Zeit „gebiert“. Deswegen verweist die Formel der Fragestellung genau darauf hin: die Verehelichten, doch noch nicht zusammengekommenen Josef und Maria (diese allein sind hier ja spezifisch gemeint!) vollziehen miteinander noch nicht den Akt, der naturbestimmt das erst ermöglicht (und bekanntlich auch nicht immer in jedem Fall bewirkt), was „Empfängnis“ genannt wird. Diese ist ja nicht das (aktiv-bewußte) Tun, das die Frau, gar allein, vollbringt.29 Nach dieser Sowohl die Bemerkung „euphem. hebr.“ befremdet, da das in den biblischen Texten nie anklingt, wie auch das dezidierte Sprechen von „status virginalis cum implicita voluntate retinendum eum“, was durch nichts gerechtfertigt ist. 29 Siehe zur Frage des rechten Verständnisses von „Empfängnis“ u. ä den Exkurs zu „genna,w „. ––– Zur Wiedergabe von 1,34b im Deutschen seien folgende Beispiele gebracht. Schmithals übersetzt so: „da ich doch keinen Mann habe“; im Kommentar dazu wird nichts weiter gesagt. ––– Rengstorf übersetzt: „da ich keine Gemeinschaft mit einem Manne habe“ und bietet dazu keine weitere Erklärung. ––– Gaechter (Lk-Kommentar) übersetzt: „weil ich einen Mann nicht erkenne“; als Kommentar dazu: „Maria glaubt, und dann erst sucht sie für die auftauchende Frage Lösung. Die Frage macht die menschliche Unmöglichkeit bewußt, Mutterschaft und Jungfrauenschaft zu vereinen … Die Frage Mariens leitet zugleich auch die göttliche Erklärung ein, die dieses Geheimnis finden soll (1,35). Lukas … die Frage schien ihm wichtig; denn die läßt aufhorchen. Wir haben auch selbst die Frage: Wie kann Jungfrauenschaft und Mutterschaft vereinigt werden?“ (45f). ––– Schneider (Lk-Kommentar) gibt den Text so wieder: „Wie soll das geschehen, da ich mit keinem Mann zusammenlebe“ (47). Das wird nicht weiter kommentiert. ––– Radl (Lk-Kommentar) bleibt bei der falschen Übersetzung „da ich keinen Mann erkenne“ und sagt zu 1,34: „Das größere Rätsel ist aber die Frage V 34. Das Problem besteht darin, daß sie ‚für eine Braut absurd ist‘ (Zitat Bultmann)“. Zur Erklärung gibt es verschiedene Theorien. … Was wir vor uns haben, ist offenbar keine dem Text über Johannes angepaßte Erzähltradition, sondern ein dem Redeabschnitt jenes Berichts nachgestalteter Verkündigungsdialog und damit ein vom Grund auf redaktioneller Text. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage Marias ein redaktionelles, im Grunde künstliches, in ihrer literarischen Funktion erklärbares Element, nämlich als gesteigertes Gegenüber zu dem vergleichbaren Einwand des Zacharias“ (57f). Dazu noch: „Bei der Frage 34 nimmt Lukas allerdings in Kauf, daß der Einwand, der sie begründen soll, wie oben festgestellt, selbst ganz unbegründet

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II.

Zur theologischen Erfassung von Lk 1–2

Klärung des tatsächlichen Inhalts von 1,34 können wir zu 1,35 weiterschreiten, mit dem auf die Frage Marias hin der Bote antwortet. e) Lk 1,35

Die Antwort des Boten lautet: pneu/ma a[gion evpeleu,setai evpi. se. kai. du,namij u`yi,stou evpiskia,sei soi\ dio. kai. to. gennw,menon a[gion klhqh,setai ui`o.j qeou/ – Heiliger Geist wird über dich kommen und des Höchsten Kraft wird dich überschatten; deshalb wird das Geborene heilig genannt werden, Sohn Gottes. Zur rechten Übersetzung brauchen wir hier nichts weiter zu sagen; wir versuchen vielmehr, den Aussage-Gehalt dieses Boten-Satzes im lukanischen Text theologisch zu erfassen, was am besten sogleich im Gepräch mit dem geschieht, was Schürmann dazu festzustellen meint. Der Bote spricht offensichtlich von dem, was Gott zu tun gedenkt. Es wird dies in einem vom hebräischen parallelismus membrorum geprägten Satz gesprochen; beide Satzglieder sagen somit dasselbe, bei dem auch auffällt, daß sowohl pneu/ma a[gion wie du,namij u`yi,stou ohne Artikel gesetzt sind. Die Formel „heiliger Geist wird über dich kommen“ ist durch ihr häufiges Vorkommen sowohl im AT wie im NT ohne Problem verständlich. Wie wir schon für Mt 1,18–25 feststellen konnten, so erweist sich das artikellose pneu/ma a[gion als ein eigenartig offener (Sprach)Ausdruck für Gott „Jahwe“ selbst, sein konkretes Da-Sein aufgrund seines Sich-gegenwärtig-Gebens mit erkennund verstehbarem Sinn- und Gehaltgeben seines konkret geprägten (eben nicht „allgemeinen“) Da-Seins (Jahwe-Seins, wenn man es so formulieren darf, um in solchen Fällen jegliche Abstraktheit auch im Sprechen zu vermeiden). Es gibt eine Fülle von möglichem Zur-Sprache-Bringen dieses Ausgesagten in seiner (von Gott selbst!) gemeinten und offengedeckten Inhalts- und Bedeutungs-„Fülle“. Es ist das jeweilige Da- und Wirk-Quellgrund-Sein Gottes selbst, das in diesen Fällen mit pneu/ma a[gion angesprochen erscheint.30 Wegen dieser großen Offenheit der Bezeichnung pneu/ma ist. Aber nur so kommt der Evangelist zu der beabsichtigten christologischen Aussage. Er braucht das Wort Marias „da ich keinen Mann erkenne“, wenn er von der geistgewirkten Empfängnis Jesu sprechen will. So unverständlich dieser Hinweis der Verlobten in der vorausgesetzten Situation auch ist, er ist literarisch notwendig, wenn Jesu Ursprung aus dem Geist Gottes und damit seine in diesem Sinn zu verstehende Gottessohnschaft zur Sprache kommen soll“ (65). Das hier Gesagte ist schon ärgerniserregendes Lesen und Mißdeuten des Textes, der dort tatsächlich steht. 30 Es sei hier wieder auf den Exkurs „pneu/ma a[gion“ in den ntl. Texten“ hingewiesen, in dem diese Sinnfülle (und folglich bezeichnend reiche Offenheit) hingewiesen wird. Hier sei nur das Folgende zu dem im Haupttext oben Herausgestellten angefügt. Tatsächlich erweist sich ja schon im AT hw"hy>-x;Wr – pneu/ma kuri,ou u. ä. als fast identische Namen-Bezeichnungen für Jahwe allein. Doch ist gerade darauf zu achten, daß wohl eine „Sach“-Identität von Jahwe allein und hw"hy>-x;Wr angesprochen erscheint, aber deswegen die Vielfalt der Weisen von dem einen und selben Jahwe zu sprechen ihren Grund sicher darin hat, daß bei einem jeden Sprechen von Jahwe und seinen Wirk-„Weisen“ schon im AT immer darauf Bedacht genommen ist, daß alles rechte (!) Reden von Jahwe immer nur „etwas“ auszusagen imstande ist und deswegen sogar für solche Wendungen wie hw"hy>-x;Wr, hw"hy> %a;l.m; der Name allein seine Fülle nicht auszusagen vermag. Das darf nicht so ver-

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Abschnitt B:

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a[gion ist folglich genau auf den Kontext zu achten, in dem diese Wendung eingesetzt ist. So dürfen und müssen wir dieses feststellen: Gemäß dem Lukas-Text ist von 1,26– 33 her eindeutig klar, von wem auch in 1,35 die Rede ist. Es ist Maria, die in ihrer momentanen Lebenssituation von Gott angesprochen ist, und das mit einer ungewöhnlich anmutenden, aber von Gott intendierten offen- und klargelegten „Sach“und „Wirk“-Absicht, die geschehen, verwirklicht und vollbracht werden soll, worin Maria „irgendwie“ ihren von Gott ausersehenen „Platz“ hat. Darauf zielt ja die Frage Marias 1.34 (ob die nun von Lukas selbst ursprünglich formuliert oder von ihm vorgefunden wurde). Vers 1,35 scheint, vorschnell gelesen, Antwort genau auf diese Frage (die meist mit viel zu engem Sinn gelesen wird) in 1,34 zu geben. Bei näherem Zusehen zeigt sich jedoch, daß schon die Frage Marias „pw/j e;stai tou/to – wie soll das alles geschehen“ das in 1,31–33 insgesamt Ausgesprochene meint, und daß auch der Bote, also Gott!, entschieden „mehr“ kundtut. Wir sollten das vor der Einsichtnahme in 1,35–38 offenhalten. Es könnte (wir vermuten jetzt aus erfolgter Zur-Kenntnisnahme der Aussagen 35–38; daher „könnte“) sich herausstellen, daß seitens Gottes „anderes“ gesagt erscheint, nämlich daß das, was wir meinen als Antwort auf 34 erwarten zu müssen, gerade nicht ausgesagt wird, wenngleich es – erstaunlich – doch der Frage gerecht wird. Der erste Teilsatz sagt: „heiliger Geist wird über dich kommen“. Wir wissen inzwischen, daß „heiliger Geist“ hier wegen seiner erkannten allgemeinen Offenheit und wegen des Kontextes in 1,26–38 schlicht als „Jahwe selbst“ zu verstehen ist (wobei wir nach wie vor die allgemeine Offenheit gelten lassen!).31 Wir betonen hier die Notwendigkeit des Offenlassens der Textaussage deswegen besonders, weil in ihn sehr oft Erstaunliches hineingelesen und er dementsprechend interpretiert und ausgedeutet wird. Ein Musterbeispiel dafür gibt Schürmann mit seinen einleitenden (!) Sätzen für die Auslegung von 1,35a: „Die Frage (d. i. 34: R. S.) hat der folgenden Erklärung des Engels den Weg bereitet: Die Verlobte wird ohne ehelichen Verkehr, eben als Jungfrau (V 27), empfangen. … die Erklärung des Wie gegeben. pneuma hagion – wegen des Parallelismus und der Artikellosigkeit gleichbedeutend mit der dynamis Gottes zu nehmen – wird das Wunder in ihr wirken, die schöpferische Allmacht Gottes, bei dem ‚nichts unmöglich ist‘ (V 37). Gemeint ist das Pneuma, das am Anfang der Schöpfung über den Wassern schwebte (Gn 1,2) und für die Zukunft als aus der Höhe herabkommend erwartet wird (Is 32,15)“ (52). Daß aus 35a als Erstes „die Verstanden werden, daß mit hw"hy>-x;Wr, hw"hy> %a;l.m; ein „anderer“ genannt würde als Jahwe und daher von „zweien“ die Rede sei. Die „Vokabeln“ „Geist Jahwes“, „Bote Jahwes“ wie hw"hy>-rb;d> – „Wort Jahwes“ geben den „einen und selben“ an, Jahwe (auf den „Monotheismus“ der Bibel hier hinzuweisen, wäre absurd, weil die nur Jahwe kennt, der allein rechtens „der Gott Israels“ ist; deswegen ist aber nicht Jahwe ein Gott). Alle diese gewählten Beispiele dafür, wie und was in der Bibel von pneu/ma a[gion gesprochen erscheint, sind u. a. auch dadurch charakterisiert, daß es sich immer um konkrete, namentlich genannte Geschöpfe/Menschen und in deren spezifischen Lebenssituation handelt, von denen diese Geist-Erlebnisse ausgesagt sind (von ihnen selbst wie auch den jeweiligen „Berichterstattern“). Das mit-zu-beachten ist zum Verständnis auch von Lk 1,35–37 unabdingbar. 31 Die Begründung ist in dem zuvor Entfalteten gegeben.

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II.

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lobte wird ohne ehelichen Verkehr, eben als Jungfrau (mit Bezug auf 1,27!) empfangen wird“ ausgesagt behauptet wird, ist ungeheuerlich. Der Text sagt „nur“: „heiliger Geist wird über dich kommen“, ohne jede (von uns erwartete) Erklärung, „was“ damit genau gesagt sein soll. Der vom Boten gesprochene Satz, dem ja noch ein weiterer (doch im Sinne des hebräischen Parallelismus der Bibel zu verstehender) Satz unmittelbar folgt, sagt alles, was Jahwe hier meint sagen zu sollen (wie übrigens Maria gemäß 1,38 auch genau versteht!). Wir nehmen dieses eine Beispiel einer Fehlinterpretation als neuerliche Aufgabe, den Text selbst zu Ende sprechen zu lassen und so herauszuhören, was er kundtut. Der soeben schon genannte Parallelsatz in 35 sagt auf seine Weise, nämlich mit „du,namij u`yi,stou evpiskia,sei soi“ das, was wir aus „heiliger Geist wird über dich kommen“ herausgehört und ausgesprochen haben: Jahwe selbst wird das Ausgesagte tun. Es ist gemäß biblisch gewohnten Sprechens (wenngleich in einzelnen, konkreten Fällen angewendet) ohne Weiteres verständlich.32 Schürmann spricht von „gleichbedeutend“ für beide Formulierungen (pneuma und dynamis). Das ist zu unterschreiben, darf jedoch nicht dazu verführen zu übersehen, daß der Text eben dasselbe in zwei sprachlichen Ausformulierungen sagt (warum?); eine hätte genügt (so sagen wir). Wir haben den Text selbst gelten zu lassen – und zunächst nur, was er und wie er es ausspricht. „pneu/ma a[gion“, so haben wir erkannt, ist ein ungemein offener Ausdruck. Dasselbe gilt übrigens für „über dich kommen“. Dieses Verb, für sich allein verstanden, kann vieles aussagen.33 Im Kontext wird hinreichend klar, 32 Das Verb evpiskia,zw steht hier in 1,35a parallel zu evpe,rcomai und ist in gleicher Weise als offen spre-

chend anzusehen. Vgl. dazu Apg 5,15. Zur Erklärung der Bedeutung dieses Verbs werden meist folgende Stellen angeführt: Apg 5,15 mit „überschatten, seinen Schatten werfen“; „bedecken“ m. Akk. d. Pers. von der Gegenwart Gottes bekundenden Wolke (vgl. Ex 40,35 …) Mt 17,5; Lk 9,34; Mk 9,7 (m. Dat.; Ps 90,4): So Bauer, Wörterbuch 590; dort fügt er Lk 1,35 mit einer ganz eigenartigen Bedeutung hinzu: „als geheimnisvoll verhüllender Ausdruck für das, was Maria befähigt, das göttl. Kind zu gebären“ (591). Das ist schon eine Ausdeutung, die zu diskutieren ist. Es bleibt dabei, daß evpiskia,zw ein offener, für Unterschiedliches im AT wie im NT eingesetztes Wort ist. Die Bedeutung in 1,35a wird im folgenden noch zu besprechen sein. 33 Im ThWNT 2 (1935) wird für evpe,rcomai diese Verwendung angegeben: „Der Gebrauch des Wortes im Neuen Testament ist von zwei Ausnahmen (Eph 2,7 u. Jk 5,1) abgesehen auf die Lk-Schriften beschränkt. In übertragenem Sinn hat es die Bdtg über jem kommen; ein Stärkerer kommt über den Schwächeren (Lk 11,22). Von dieser Bedeutung her wird der religiös-theologische Gebrauch des Wortes verständlich. Der heilige Geist, der als göttliche Kraft vorgestellt wird, kommt über die von Gott begnadeten Menschen. Von der Verheißung des heiligen Geistes, der über begnadete Menschen kommen wird, ist 2mal die Rede: Lk 1,35 (Verheißung an Maria) u Ag 1,8 (Verheißung an die Jünger bei der Himmelfahrt Jesu). Die übrigen Stellen bei Lk (…) beziehen sich auf künftiges Verderben …“ (678). Hierzu ist kritisch zu bemerken: „Der sog. religiös-theologische (was ist das?) Gebrauch wird verständlich (?) aus der (einzigen!) Stelle Lk 11,22 ‚der Stärkere über den Schwächeren‘“: das kann berechtigt nicht gesagt werden. Dann wird ‚der heilige Geist‘ ohne jede Begründung „als göttliche Kraft vorgestellt“ (wo? In 1,35a stehen „Geist“ und „Kraft nacheinander, mit je anderer Genitiv-Bestimmung. Auch widerspricht es allem ntl. Gebrauch von „(heiligem) Geist“, ihn als „Kraft die von Gott über begnadete Menschen kommt“ zu bezeichnen. Die angegebenen Beispiele allein sagen dies nicht aus. Das EWNT 2 (1981) sagt, mit Quellenangabe, dies:

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Abschnitt B:

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was es hier aussagt (und was also nicht): Es ist das Kommen des heiligen Geistes „über“ Maria angesagt, ohne Angabe eines wie immer gearteten Wirkens oder „Beeindruckens“ in oder mit diesem „kommen über“. Dieselbe Feststellung hat für „überschatten“ zu gelten, was ähnlich offenbleibend dieses sagt: „wird dich überschatten“. Auch dieses Verb gibt, für sich allein genommen, keine nähere Auskunft über „Wirkungen“ o. ä. Wieder sind wir auf den Kontext verwiesen, in dem du,namij irgendwie als Ausdruck für „Macht, Kraft, Vermögen, Fähigkeit“ klar ausgesagt ist, und zwar näher durch den Genitiv „u`yi,stou“ bestimmt: „des Höchsten“, also genauer von Gottes (Jahwes) Kraft die Rede ist, allerdings wieder so, daß deren „Wirken“ oder „Auswirkung“ mit keiner näheren Angabe versehen ist. Daher ist auch das zunächst gelten zu lassen: es ist eine offene Ansage.34 Eines ist eindeutig klar: 1,35a erklärt, daß Gott dieses zu tun gedenkt, „über dich kommen“ und „dich überschatten“, und dies der Maria in ihrer jetzigen Lebenssituation vom Boten Gottes kundgetan wurde; mehr steht da zunächst nicht. (Auf die möglichen oder auch ungerechtfertigten weiteren Auslegungen und Interpretationen von 35a müssen wir jetzt noch nicht zu sprechen kommen.) Wir wenden uns vielmehr den Aussagen von 35b zu, die der Text selbst unmittelbar anschließend vorbringt. Der Text 35b schließt mit „dio. kai. – deswegen (auch)“ an 35a an; damit ist das, was jetzt gesagt wird, irgendwie als Folge dessen angegeben, was in 35a Ausdruck fand. Dabei haben wir mitzubeachten, daß 1,35 das schon in 1,31–33 Gesagte klärend ergänzt bzw. verdeutlicht. Schon in 32 ist Jesus (!) „groß“, besser „Groß(er)“ (als Namen-Bezeichnung für Jahwe im AT) und „Das Komp. von erchomai ist lukanisches Vorzugswort. … Die neutrale Bedeutung herbeikommen liegt Apg 14,19 vor … Die Bedeutung über jemand (epi mit Akk. Lk 1,35 …) begegnet häufig im negativen Sinn … Zwei von Lukas wohl aufeinander bezogene Stellen sprechen (bei persönlicher Anrede der Verheißungsempfänger) vom „heiligen Geist“, der über Maria (1,35) bzw. die ‚Apostel‘ (Apg 1,8) kommen wird (…)“ (51f). Bauer, Wörterbuch, wiederholt dieselben Feststellungen (563f). Insgesamt zeigt sich die Offenheit der Wendung. Für 1,35 heißt das, daß sie von sich aus allein nichts Näheres herauslesen läßt. 34 Zur Bedeutung von du,namij u`yi,stou in 35a ist dies zu beachten: Für u[yistoj gibt Bauer, Wörterbuch diese, uns jetzt angehende Bedeutung an: o` u[yistoj der Allerhöchste v. Gott (…) o` qeo.j o` u[y. Mk 5,7; Lk 8,28; Ag 16,17; Hb 7,1 (Gen 14,18. Dafür o` u[yistoj der Allerhöchste (…) AG 7,48; 1 KI 29 … Dafür ohne Art. u[yistoj Lk 1,35.76. ui`o.j u`yi,stou V. 32 (v. Christus)“ (1681f). Damit ist in 35a folglich Gott genannt, wenngleich in einer besonderen Weise. Dazu steht es im Genitiv zu du,namij, was selbst durch u`yi,stou näher bestimmt erscheint. Zu diesem du,namij ist dieses festzustellen: Wir halten uns an die Bestimmungen, wie sie in EWNT 1 vorgelegt sind. „d. hat (im NT: R. S.) einen großen Bedeutungsumfang. Das zeigen die verschiedenen Worte, mit denen es verbunden oder in parallelen Aussagen gebraucht wird … Ein Kennzeichen Gottes ist seine d.: … Im AT können Macht und Name Gottes synon. gebraucht werden. Bei den Rabbinen ist ‚Macht‘ eine Umschreibung für den Gottesnamen … Auch Mk 14,62 ist d. Ersatzwort für den Eigennamen Gottes … Gottes Macht und Gottheit sind synon. Aussagen“ (861f). Es seien noch Mt 26,64 und Mk 14,62 angegeben, wo bezeichnenderweise du,namij schlicht für „Gott“ steht: o;yesqe to.n ui`o.n tou/ avnqrw,pou evk dexiw/n kaqh,menon th/j duna,mewj kai. evrco,menon … So erscheint du,namij als (ein) Name, der für Jahwe stehen kann. – Wieder zeigt sich, daß auch du,namij ein sehr offener Ausdruck ist, was für das Verständnis von 1,35a unbedingt zu beachten bleibt.

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II.

Zur theologischen Erfassung von Lk 1–2

„Sohn des Höchsten“ benannt, was in 35b vom Geborenen aufs neue ausgesprochen wird: „Heiliger (wieder Name Jahwes)“ und „Sohn Gottes“. Dies gilt, wie immer man meint 35b philologisch richtig erfassen zu müssen.35 Die Feststellung Schürmanns „to. gennw,menon ist also als Subjekt zu nehmen, a[gion als Prädikatsnomen“ gilt sicher; was er jedoch sogleich hinzusagt, „wobei ui`o.j qeou/ als lose Apposition angefügt wird“ (54f), mindert den Aussage-Gehalt doch wieder. Insgesamt ist in 1,35 das in 35a Gesagte als „sachliche“ Begründung für das in 35b Ausgesprochene anzusehen. Das heißt aber, daß ausdrücklich Gottes Tun („über dich kommen“ und „dich überschatten“) als das angesprochen ist, was Jesu (!) real-namentliche Benennung als sein „Wesen“ und Sein ansagt: Heiliger, Sohn Gottes; der Geborene ist das, weil Gott jenes tat. Wenn es als nötig angesehen wird, muß man sogar sagen: Gott allein „wirkte“ dies, was Jesus ist (nicht erst wird!). Wir sollten auch dieses in seiner eigenartigen Offenheit zur Kenntnis nehmen. Was Gott da eigentlich tat und was alles die Wirkung dieses Tuns Gottes (beachten wir nochmals: nur „über dich kommen“ und „dich überschatten“!) näherhin und genau war, kann – sofern überhaupt berechtigt – nur durch folgernde Erschließung der faktischen Text-Aussagen erhoben werden. Das ist hier (noch) nicht unsere Aufgabe. Wir versuchen hier ja zunächst das klar zu erfassen, was der Text selbst sagt.36 f) Lk 1,36–37

Von diesem Vers wird oft, ähnlich wie für 1,34, behauptet, er sei für die Leser, nicht als für Maria geltend, gebracht: „Die unerhörte Erklärung des Engels in V 35 muß gegen Zweifel – der Leser, nicht Mariens – abgeschirmt werden“, meint Schürmann (56) mit vielen anderen. „Er will demonstrieren, daß Gott auch eine jungfräuliche Empfängnis bewirken kann: Die späte, ebenfalls wunderbar gewirkte Schwangerschaft Elisa35 Schürmann geht sehr ausführlich auf dieses Problem ein (S. 54–55). Es ist für das rechte Verständ-

nis der Aussagen in 35b nicht ganz unbedeutend. Wir zitieren einige Sätze aus Schürmann: „Die mehrdeutige Formulierung ist nicht so zu verstehen, daß hinter a[gion ein e;stai kai zu ergänzen und klhqh,setai zu ui`o.j qeou/ zu ziehen ist … (es) folgt in LXX und im NT kale,sqai dem Prädikatsnomen in derartigen Wendungen regelmäßig. Letzteres spricht auch gegen den Versuch, to. a[gion zu gennw,menon zu ziehen und als Subjekt durch das Prädikatsnomen ui`o.j qeou/ bestimmt werden zu lassen. Dabei verlöre a[gion seinen Akzent; gerade das Zustandekommen der ‚Heiligkeit‘ Jesu durch das pneu/ma a[gion soll aufgezeigt werden. … ui`o.j qeou/ lose Apposition. Diese wird beigegeben … auch aus christologischen Gründen. Die christologische Aussage ist der von Röm 1,3 auffallend verwandt … Lk 1,35 ist die ‚Heiligkeit‘ und ‚Gottessohnschaft‘ aber … nicht erst mit der Auferweckung und Erhöhung (…) bewirkt, sondern schon der menschlichen Natur Jesu in ihrer irdischen Existenzphase zuerkannt“ (54f; das wird noch weiter besprochen). Nicht allen der in diesem Zitat gebrachten Feststellungen ist zuzustimmen; es sollte nur beispielhaft das philologische (und dann auch exegetische) Problem aufgezeigt sein. – 36 Wir werden uns allen diesen Auslegungsweisen noch spezifisch zuwenden, wenn wir die Wendungen „jungfräuliche Lebensentstehung“ u. ä., die sehr oft gebraucht werden, kritisch auf ihren Sinn und ihre Berechtigung betrachten werden.

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Abschnitt B:

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beths … beweist, daß Gott alles vermag (vgl. Gen 18,14a): Er kann auch eine jungfräuliche Empfängnis bewirken“, behauptet Schürmann weiter (56f). Das ist im besten Falle eine auf manchen Umwegen erreichte Folgerung aus der Text-Aussage, die selbst nicht mit einer Silbe davon spricht.37 Wir lassen gelten, was wir lesen: Der Bote (also immer noch: Gott selbst) gibt Maria diese Auskunft, mit dem sicher wichtigen Zusatz: „o[ti ouvk avdunath,sei para. tou/ qeou/ pa/n r`h/ma – denn nicht ist unmöglich bei Gott jedes Wort/Sache“ (hebr.: „ist denn etwas zu wunderbar für Jahwe?“; Lk zitiert die LXXFassung). Daß Lukas diesen Vergleich mit Elisabet in Steigerung zu 1,8–17 bringt, gilt, weil ja anerkannt ist, daß er sein ganzes (!) Evangelium kunstvoll gestaltet hat. Daraus folgt jedoch nicht, daß er im Text selbst von so etwas wie „jungfräuliche Empfängnis“ spricht. Daher belassen wir es hier zunächst bei dem gerade Festgestellten.38 g) Lk 1,38

Dieses Wort Marias bezieht sich im Kontext von Lk 1–2 auf die ganze Boten-Rede 1,28–37, nicht nur 35–37. Zum Ganzen spricht Maria dieses antwortende, ein- und zustimmende Wort. Wir beachten, daß es offensichtlich auf Gott hin gesprochen ist: „Siehe – Magd des Herrn (Jahwe).Mir geschehe gemäß deinem (Gottes!) Wort“. Damit ist – jedenfalls im Lukas-Text – klar gesagt, daß Gott etwas der Maria klar zu verstehen gegeben hat, und zwar etwas, das ihr in ihrer spezifischen Lebenssituation gesagt und zur Kenntnis gebracht wurde – und das war insgesamt etwas Unerhörtes, ja Unerahnbares (wir brauchen das hier nicht nochmals im einzelnen zu zeigen, aber doch wach vor Augen halten). Dazu spricht sie ihr „Siehe – Deine Magd“. Und: „geschehe mir“. Damit ist das Begriffen-haben Marias schlicht mit-ausgesagt, daß sie selbst keinen irgendwie gearteten Verhaltensauftrag seitens Gottes erhalten hat, und somit geschehen lassen soll (und nun auch will), was Gott kundgetan hat und selbst zu erfüllen gedenkt – wenn Maria einstimmt, es also ihrerseits geschehen läßt. Von irgendeinem Mit-Wirken o. ä. ist keine Rede. Auch Formulierungen wie „an ihr“ oder „in ihr“ geschehen lassen sind nicht gerechtfertigt, da wir ja gar nicht wissen, was mit den in 28–37 sehr vielsagenden, aber dabei doch sehr offen bleibenden Worten genau (gar ausführlich) ausgesprochen worden ist. Der weitere Text des LkEv selbst wie auch andere ntl. Texte können dann noch mehr zu dem zu sagen haben, als wir zunächst nur in 1–2 lesen. Auch sollte nicht vermutet werden, daß Lukas von allen 37 Wir werden uns den Fragen, die in bezug auf Formeln wie „jungfräuliche Empfängnis“ u. ä. und

„Gottes Bewirken dieser Art Lebensentstehung Jesu“ speziell zuwenden, wenn wir die Frage zu beantworten versuchen, aus welchen ntl. Text-Aussagen derartiges überhaupt seitens der Exegeten und Kommentatoren herausgelesen wird. Sie begegnen allzu oft, als daß man über sie hinwegsehen dürfte. Es sind aufgrund verschiedenster Vor-Einsichten selbstverfertigte Schwierigkeiten mit dem Text und seiner rechten Interpretation, die es aufzudecken und zu überwinden gilt. 38 Siehe dazu die später folgenden zusammenfassenden Feststellungen, die herausheben, was genau die Text-Aussagen aussprechen, und was eindeutig nicht ausgesagt ist.

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ihm zuvor geschriebenen ntl. Texte überhaupt keine Kenntnis hatte (er muß nicht nachweislich alles gelesen haben), so etwa von dem, was in Röm 5 und 8, in Gal 4, in Phil 2,5–11 und Joh 1 jedenfalls als konkretes Glaubenswissen der ersten Generation judenchristlicher wie heidenchristlicher Gemeinden tatsächlich (schon) vorlag. Auch wenn wir das in Einzelheiten nicht durch Lukas rezipiert vorfinden, so kann man sinnvoll nicht annehmen, er habe von alledem schlicht keine Kenntnis genommen, als er den Plan seines Werkes faßte. Wir nehmen nur nochmals davon Kenntnis, daß auch das Wort Marias in 38 eindeutig bestätigt, daß Gott ihr bekundet hat, was er Wirklichkeit werden zu lassen gedenkt.

4. Lk 1,39–80

Aus diesen Versen betrachten wir jetzt nur die Sätze und Aussagen, die bezüglich der Herkunft Jesu Christi auf ihre Weise das eine oder andere dazu Festzustellende ansagen. Wir setzen nach wie vor die aufgrund exegetisch-fachlicher Arbeiten gewonnenen Erkenntnisse voraus, um die Aussage-Inhalte theologisch zu erfassen. Im Vers 42, im Grußwort Elisabets an Maria, begegnet „o` karpo.j th/j koili,aj sou – die Frucht deines Leibes“. Im lukanischen Kontext mit 2,26–38 zusammengeschaut ist das offensichtlich als das zu verstehen, was Maria im Schoße trug nach dem antragend an sie ergangenen Worte Jahwes und ihrem einstimmenden „es geschehe mir“ (38) und noch vor ihrem Gebären. Wir können mit vollem Recht sagen: Es ist damit konkret (und ungekürzt) das angesagt, was ihr von Gott selbst zuvor in 1,31–33.35–36 insgesamt kundgetan wurde. „Frucht des Leibes“ besagt hier das „Empfangene, noch nicht Geborene“. Das wird sogleich in 43 näher bestimmt: Maria, die Elisabeth aufgesucht hat und vor ihr steht, wird von dieser „mh,thr tou/ kuri,ou mou – Mutter meines Herrn“ benannt. Streng genommen wird somit schon die „mh,thr – Mutter“ genannt, die diese Leibesfrucht empfangen, aber noch nicht geboren hatte, eben (noch) im Schoße trug. Die Genitiv-Bestimmung „meines Herrn (Kyrios – Jahwe)“ sagt, als wessen „Mutter“ Maria von Elisabeth bezeichnet wird. „Kyrios“ wird im Kontext Lk 1–2 sowohl Gott (Jahwe) wie auch der geborene Jesus genannt.39 Wenn Elisabeth „meines Herrn“ sagt, erscheint es nicht als absolut entschieden, ob „Gott“ oder „Jesus“ (etwa als der, der „Messias“ sein wird) angesprochen ist. Man könnte auf Joh 20,28 hinweisen, wo Thomas an den auferweckten Jesus den Ausruf richtet: „o` ku,rio,j 39 In Lk 1–2 sind es folgende Stellen in den ku,rioj für Gott begegnet: 1,6.9 (beide zusammen 21:1

mit qeo,j).15.16 (evpi. ku,rion to.n qeo.n).17.25.28.32 (ku,rioj o` qeo.j).38.46.58.66.68 (ku,rioj o` qeo.j tou/ VIsrah,l).76; 2,9 dort 2x, einmal in der Vulgata mit „Deus“ wiedergegeben).15.22.23.24.39. – Für Jesus in 2,11: evte,cqh u`mi/n sh,meron swth.r o[j evstin cristo.j ku,rioj; es ist zugleich die einzige Stelle in der Cristo,j direkt mit ku,rioj verbunden ist. Dann 2,26 cristo.j kuri,ou im Munde des Simeon im Anblick des Kindes Jesus.

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Abschnitt B:

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mou kai. o` qeo,j mou“, wobei beides den einen Jesus meint. Das kann für unsere Frage zu Lk 1,43 aber nicht (ohne weiteres) eindeutige Klarheit schaffen. Daher ist es hier noch offenzulassen, ob der Name „Jesus“ nicht vielleicht doch tiefer und reicher von ihm sagt, wer er (in Fülle) ist, zumal Gott selbst den Auftrag gab, ihn so zu nennen (und Matthäus gibt dazu die Erklärung: Mt 1,21; s. d.). „Jesus“ sagt ja wörtlich: „Jahwe rettet (sein Volk)“. Eigenartigerweise gehen die Kommentatoren auf diese eigenartige Formel „Mutter meines Kyrios“ gar nicht näher ein. Wir werden dem später genau nachzugehen haben, da sich die Frage ja immer wieder stellt, wer „Jesus von Nazareth“ wirklich ist, „in Fülle“ (um es unvoreingenommen zu formulieren). Der Vers 1,45 bringt nochmals einen bemerkenswerten Satz der Elisabeth: „selig, die geglaubt hat, was ihr vom Herrn (Kyrios) gesagt wurde“. Hier ist „glauben“ offensichtlich auf Kyrios bezogen, genauer auf das, was „gesagt wurde vom Kyrios“. Ob man nun mit Schürmann „vom Herrn her“ übersetzen will oder nicht schlicht „vom Herrn gesagt“ – auf jeden Fall ist es der Kyrios, der das der Maria kundgetan hat, was Elisabeth hier anspricht. Demnach hat Maria Jahwe vernommen und ihm glaubend abgenommen, was er ihr zusprach (das ist in 1,31–33.35–36 angegeben). So der Text; dazu muß man nichts weiter fragen. Im Lobgesang der Maria 1,46–55 wird im ersten Vers direkt der angesprochen, an den der Hymnus gerichtet ist: Megalu,nei h` yuch, mou to.n ku,rion( kai. hvgalli,asen to. pneu/ma, mou evpi. tw/| qew/| tw/| swth/ri, mou. Damit ist eindeutig und klar Jahwe angeredet. Sein Wirken, seine „Huld von Geschlecht zu Geschlecht“ und nun speziell die Erwählung Marias ist das Thema dieses Lobgesangs, der ganz an den Kyrios gerichtet ist, von dem bisher in Lk 1 die Rede war. Er wird „qeo,j swth,r“, „o` dunato,j“ genannt, und „a[gion to. o;noma auvtou/ „. Zugleich wird die Huld/Barmherzigkeit dieses Kyrios, den Maria lobpreist, angeführt, die er durch alle Generationen allen erwiesen hat, besonders „unseren Vätern“, dem „Abraham und seinem Samen (Nachkommenschaft)“. Hier werden alle bisher verwendeten Namen, Prädikationen usw. aufgegriffen, die uns schon in 1,30–33.35–38 aufgefallen sind. Sie erklären sich gegenseitig und nennen zugleich auch das Geschehen (Geschichte), das vom Kyrios (Jahwe!) aufgrund seiner Huld initiiert (Schöpfung), begonnen und seitdem ungebrochen gestaltet worden ist und kein Ende kennt. Wir nehmen dies hier zunächst nur als den Kern des Aussage-Gehaltes dieses Liedes zur Kenntnis. Er geht mit so vielem, im NT als Evangelium zur Sprache Gebrachten überein, daß wir das am gegebenen Ort eingehend betrachten müssen. Was gerade für 1,42–55 hervorgehoben wurde, wiederholt sich auch in den folgenden Versen 1,57–80. In 58 wird der „Kyrios“ in seiner Huld der Elisabeth gegenüber genannt und in 66 die „cei.r kuri,ou“ angesagt, die „mit dem Johannes war“. Dem folgt sogleich der Lobgesang des Zacharias, der ähnlich wie der Marias so beginnt: „Euvloghto.j ku,rioj o` qeo.j tou/ VIsrah,l“. Dessen Erlösungswirken für dieses sein Volk, seit alters durch seine Propheten verkündet und erklärt, hat jetzt „das Horn der Errettung aufgerichtet im Haus seines Knechtes David“ (69f). Wieder werden „unsere Väter“, besonders „Abraham unser Vater“ angeführt. Das Kind Johannes wird 158

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Zur theologischen Erfassung von Lk 1–2

„profh,thj u`yi,stou“ genannt werden, wofür als Begründung betont angegeben wird: Denn du wirst einhergehen „vor dem Kyrios, zu bereiten seine Wege“. Er wird „Erkenntnis des Heils seines Volkes, das in der Vergebung der Sünden besteht“ bringen, das aus dem herzlichen Mitleid unseres Gottes ergeht (76–78). Wir nehmen wieder den Gleichklang aller Namen, Prädikationen und Ausdrücke für Gottes Heilswirken zur Kenntnis; sie werden ganz „einheitlich“ in allen Versen von Lk 1–2 eingesetzt.

5. Lk 2,1–52 a) Lk 2,1–20

Dieser Abschnitt wird meistens so verstanden, wie es Schürmann formuliert: „Die Geburt Jesu in der Davidsstadt und ihre Verkündigung vor den Hirten“, welch letzteren Teil er so benennt: „Die Verkündigung vor den Hirten und ihre Bestätigung“. Wieder gehen wir auf literarische wie exegetische Untersuchungsergebnisse nicht weiter ein, setzen sie vielmehr als eingesehen voraus und erheben das, was zur theologischen Erfassung für unsere Fragestellung klar erkennbar ausgesagt erscheint.40 Die Verse 2,1–7 überschreibt Schürmann mit „Die Geburt Jesu in der Davidsstadt“ und beginnt so: „Ohne jedes biographische Interesse, aber auch ohne alle erbauliche Ausmalung wird VV 67 mit denkbar wenigen Worten das große Heilsereignis erzählt, mit erstaunlicher Verhaltenheit, als ob der Erzähler Furcht hätte, durch Mitteilung näherer Umstände und Erwähnung von interessierenden Einzelheiten das 40 Schürmann nennt 2,1–21 „Weihnachtserzählung“ und sagt dazu: „sie will weder historisierend

über die Geburt Jesu protokollarisch berichten noch als gemütvolle Legende der Erbauung dienen. Die haggadisch-apokalyptische Erzählkunst Palästinas hatte bessere Möglichkeiten, geschichtliche Geschehnisse mit erzählerischen Mitteln zur Sprache zu bringen und deren Verkündigungs- und Bekenntnisgehalt gläubig und theologisch auszudeuten. Unser Erzähler (damit ist Lukas gemeint!: aus dem Kontext R. S.) stellt ‚das Wickelkind im Futtertrog‘, von dem VV 6f schlicht erzählt wird, sinnerhellend in zwei Lichtkegel: Der erste strahlt es mehr mild und andeutend aus der Tiefe der Zeiten an, aus denen die prophetische Verheißung leuchtet. Das eigentliche Licht aber fällt ‚apokalyptisch‘, offenbarend, von oben ein. So wird in das Dunkel unserer unverständlichen Herzen zweifach Licht gebracht, daß es darin komme ‚zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes auf dem Antlitz Christi‘ (2 Kor 4,6). … Das factum historicum eröffnet sich erst als Offenbarungsgeschehen in der Wort-Offenbarung, ohne die das Ereignis nicht offenbarend eröffnet würde. Hinter unserer schlichten Erzählung steht somit ein tiefes Verständnis, wie es zu ‚Offenbarung‘ kommt: In Zusammenspiel von prophetischer Erhellung und apokalytischer Er-Öffnung“ (97). Diese eher fundamentaltheologisch klingende Auskunft vor dem Kommentieren selbst als richtungweisend zu erklären, wäre intensivst kritisch zu betrachten. Ist das, was hier zur „Offenbarung“ als theologisch eingebürgertem Fachausdruck behauptet wird, überhaupt akzeptabel? Wir lassen es dabei, darauf hingewiesen zu haben, und verfolgen unsere Weise, den Text selbst theologisch zu erfassen, weiter.

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Abschnitt B:

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Ereignis nur zu verstellen: ‚Sie gebar ihren erstgeborenen Sohn …‘. Was in VV 6–7 sonst noch … gesagt wird, dient nur der erzählerischen Vorbereitung des in V 12 gegebenen Zeichens“ (98). Wir heben heraus, was für unsere Frage bedeutsam ist. In Vers 4 werden ausdrücklich Josef und Maria, beide als miteinander Verehelichte, hervorgehoben mit Einschluß des Hinweises auf Josefs Davidssohnschaft (Bethlehem). Das war ja auch die Anfangsinformation in 1,26f. In Vers 5 wird hinzugefügt: „die schwanger (e;gkuoj) war“. Von der Geburt selbst wird mit wenigen Worten berichtet.41 In 2,8–14, der Verkündigungsdarstellung, fallen die Worte des Boten durch ihre Fülle an theologisch bedeutsamem Gehalt auf, die ungemein konzentriert angesagt erscheint. Wieder ist es der a;ggeloj kuri,ou, der an die Hirten „herantritt (evpe,sth auvtoi/j)“, diesmal so, daß „do,xa kuri,ou perie,lamyen auvtou,j – die Herrlichkeit des Herrn sie rings umstrahlte“, was sie „in große Furcht“ brachte.42 Der Bote nimmt ihnen die lastende Furcht durch die Ankündigung des Euangelion, das er mitteilt, das „dem ganzen Volk“ gewidmet ist. Denn: „o[ti evte,cqh u`mi/n sh,meron swth.r o[j evstin cristo.j ku,rioj evn po,lei Daui,d – denn geboren ist euch heute der Retter, der ist Christus-Herr, in der Stadt David“. Wir bemerken wieder die betonte Auskunft „in der Stadt David“; die Davidssohnschaft Jesu ist, wie im NT immer wieder, ein festes Element der Verheißung wie der Erfüllung. Entschieden wichtiger ist die Benennung des Geborenen mit dreifacher Wendung: Soter, Christos, Kyrios, wobei das zuerst genannte Soter genauso wie das dritte, Kyrios, Gottes-Namen sind. Damit ist deutlich der Geborene als „irgendwie“ Gott-Seiender (wenn es hier so formuliert werden darf) angegeben, während „Christos“ ja zunächst immer mit dem Genitiv „kuri,ou“ 41 Die Kommentare halten sich, wenngleich sie die Unhistorizität der Erzählung betonen, eigenartig

weitschweifend mit Überlegungen und Vermutungen auf, die Textaussagen einsichtig zu machen. Für den Zensus mag das noch Sinn haben. Die Feststellung Schürmanns, „daß das Kind gewickelt und in den Futtertrog gelegt wurde, ist als Vorbereitung auf das V 12 genannte Zeichen erzählt. Das Wickeln verdeutlicht dort nur, was die Bezeichnung bre,foj noch nicht eindeutig sagt: Die Hirten sollen einen Säugling suchen, ein erst kürzlich geborenes Kind, eben ein ‚Wickelkind‘“ (104). Ist das nicht eine absurde Vorstellung: Der Erzähler will erst später etwas für ihn Wichtiges vorbringen, und dafür bringt er zuvor eine „Vorbereitung“, damit das auch verständlich wird!? Desgleichen so ernsthaft die Frage zu stellen und zu beantworten versuchen: „Wo befand sich diese Krippe?“, kann nur ein Zeichen dafür sein, daß man den eigenen Aussagen nicht traut und sich den nebensächlichsten Fragen zuwendet (immerhin zwei Seiten bei Schürmann!). 42 Bezeichnend ist, was Schürmann einleitend zu 2,8–20 vorweg sagt: „Mag die Krippe 2,1–7 noch so sehr angestrahlt worden sein vom Lichte der Prophetie – es bleibt eine doch nur schwer zu glaubende Behauptung, das Kind in der Krippe sei der Verheißene und die Erfüllung aller Menschheitssehnsucht. Ein Wickelkind im Futtertrog – es bedarf schon eines deutenden Wortes, wenn solches Paradox glaubwürdig werden soll! Solch kurioses „Zeichen“ kann erst signifikativ werden durch ein Offenbarungswort von oben, in einer Wort-Offenbarung: Ohne eine solche ist ein Ereignis nicht personal „zugesprochen“, so daß es nicht als „Offenbarung“ ankommt. So bedarf es des Lichtes aus der Höhe. Eben solche Offenbarung wird nun mit Mitteln der haggadisch-apokalyptischen Erzählkunst der Zeit, dazu mit Hilfe vieler biblischer Reminiszenzen, zur Darstellung gebracht – eine bedeutungsgeladene Erzählweise, die sich freilich nur einer kindlichen Gläubigkeit erschließen wird“ (106f).

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verbunden steht. Das bedeutet: Der Gott-Seiende ist bestimmt, das zu sein und zu erfüllen, was/wer mit „x;yvim' Messias“ im AT benannt ist. Was damit angesagt ist, wurde ja erst im Leben Jesu von Nazareth an/in/mit ihm offenbar, ja eigentlich nach seiner Auferweckung (bzw. in letzter Wahrheit erst, wenn der „Tag Jahwes“ der Vollendung, da ist, wenn sich der sein Messias-Sein-vollendet-habende Sohn dem Vater unterworfen hat, Gott-alles-in-allem sein wird (1 Kor 15,24–28).43 Zu Vers 13–14 notieren wir, daß der Lobpreis Gott (qeo,j) gewidmet ist, in 14 noch genauer „do,xa evn u`yi,stoij qew/|“. So dürfte auch Kyrios in 15 schlicht „Gott“ ansprechen: to. r`h/ma tou/to to. gegono.j o] o` ku,rioj evgnw,risen h`mi/n, was sich in 20 wiederholt. b) Lk 2,21–40

Vers 21 scheint zunächst nur eine Information zu bringen, in Parallele zu dem in 1,59ff Ausgesprochenen. Zur theologischen Erfassung ist es allerdings unabdingbar zu beachten, wovon hier faktisch die Rede ist, spezifisch nochmals für Jesus. Tatsächlich bringt Lukas in 2,21–52 insgesamt das als Euangelion-Wort ausführlich zur Sprache, was Paulus in Gal 4,4 in (dort begründeter) Kürze so formuliert: „Als aber die Fülle der Zeit kam, entsandte Gott seinen Sohn, geworden aus (der) Frau, geworden unter (das) Gesetz, damit er die unter (dem) Gesetz (Stehenden) loskaufe, damit sie die Sohnschaft empfingen“. Das erscheint in Lk 2,21–50 wie ein ausführlicher Kommentar durch den „Bericht“ der entsprechenden Fakten ausgesprochen. Daher werden wir

43 Bedenklich erscheint die Auslegung von 2,8–11 durch Schürmann. Er sagt: „Die Hirten bieten hier

ein bedeutsames und deutungsmögliches Milieu für den Messias: Der Stammvater Jesu, der König David, weidete auf den Feldern Bethlehems seine Herden (…) und wurde von dort von Gott ins Königtum berufen (…) … als ein messianisches Motiv zu verstehen … Die Hirten … haben in der Perikope unverkennbar die erzählerische Funktion, die Messianität Jesu ins Licht zu stellen“ (108f). Beachten wir: Messianität (Abstraktum!) Jesu! Auch alles Weitere konzentriert Sch. auf das Messias-Sein Jesu. Es fallen Worte wie „messianische Freude“ (zu 9f), „das messianische Heil“ (zu V. 14), „die ‚messianische‘ (diese Anführungszeichen bei Sch. selbst: R. S.) Errettung, in der das endgültige Heil zukommt“ (11). Dann zum Soter-Titel (so Sch.): Er „begegnet im NT für Gott und den Messias erst in den späteren Schriften. … völkische Rettergestalten … Dabei ist der Titel hier so messianisch überhöht wie Lk 1,69.71.74, für Luk wie 1,77 und Apg 5,31 (13,23) die Sündenvergebung einschließend“ (111). Das wird sogleich noch so spezifiziert: „Außer in 1,43 (…) wird in Lk 1–2 nur Gott Kyrios genannt, so daß Xristos Kyrios (…) 2,11 auffällig ist … Der Kyrios-Titel erläutert so – möglicherweise nicht nur für hellenistische Ohren – den Christus-Titel … So oder so ist hier der Christus-Titel interpretiert“ (111f). Und noch dazu: „Der Engelruf V 14 begleitet als Akklamation das Kommen des Messias“ (113). Hier liegt wieder ein Musterbeispiel vor für die (unberechtigte!) Konzentration aller Aussagen zu Jesus als „christologisch“ zu verstehende. Jesus selbst bekommt „christologische“ Titel. Wendungen wie „Messias-Christologie“ werden in ihrer Absurdität gar nicht mehr erkannt. Denn sogar der Messias (des AT!) wird „christologisch“ begriffen. Diesen ganzen Fragekomplex widmen wir uns ja im Exkurs „Theologie und Christologie in den Kommentar-Texten“; s. d.

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Abschnitt B:

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dem im einzelnen genau nachgehen, was bei Lukas ausformuliert vorgelegt wird.44 In Vers 21 werden der (Fest)Tag der Namengebung und der der Beschneidung in eins genannt: Am achten Tag nach der Geburt. Die Kommentatoren widmen dem in 21 Ausgesagten kaum Beachtung (Schürmann begnügt sich mit ganzen 9 Zeilen: 119); die Namengebung gemäß dem Auftrag des Boten sei das Wichtige, die Beschneidung nur die Situationsangabe (Schürmann 119). Daß in 21 jedoch für jeden Israeliten entscheidende Lebensereignisse genannt sind, die ihn erst – gleichsam als Weiheakte – zum „wahren“ Israeliten konstituieren, bleibt im Dunklen (und wird vielleicht auch gar nicht bemerkt). Ein Kind israelitischer Eltern wurde nicht schon aufgrund von Zeugung und Geburt Familienmitglied. Das Neugeborene mußte vielmehr vom Familienvater als Familienhaupt in einem häuslichen, religiös-rechtlichen Akt zum Sohn bzw. zur Tochter dieser Eltern erklärt werden. (Nicht alle Neugeborenen wurden auf diese Weise Voll-Mitglied der namentlichen Familie! Es gab auch nicht-akzeptierte Geborene, die deswegen auch nicht die Rechte der betreffenden Familie besaßen.) Das ist ja mit dem ausdrücklichen Auftrag an Maria (Lk 1,31) bzw. Josef (Mt 1,21.25) gemeint, diesem Kind seinen (diesmal von Gott selbst) bestimmten Namen zu geben. Erst dadurch wurde der von Maria Geborene überhaupt der, was er von Gott her war, zunächst als Gabe an die Eltern (und in ihnen an die heilsbedürftige Welt) und zugleich und in einem als Lebensaufgabe für sich persönlich. Entsprechendes gilt es zu beachten, wenn von der Beschneidungsfeier eines Neugeborenen die Rede ist. Es war für Israel konstitutive Pflicht, dem neugeborenen Sohn seinen religiösrechtlichen Status als Israelit kraft der Beschneidung zu vermitteln. Die Theologie des (Alten) Bundes sieht in der pflichtmäßig zu vollziehenden Beschneidung des geborenen Knaben den (man könnte ihn durchaus sakramentalen nennen) Ritus, durch den dieser aufgrund göttlichen Gebotes in das Bundesvolk aufgenommen wird. Die Abstammung von israelitischen Eltern und somit von Abraham genügt bei aller ihrer Bedeutsamkeit noch nicht. Die Beschneidung ist Vorbedingung und Zeichen der alt.-heilvollen Zugehörigkeit zum auserwählten Volk. Sodann bedeutet die Beschneidung die Befähigung und Deputation des Israeliten zum (alt.-bundlichen) Kult. Die Beschneidung verlieh die grundlegende alt.-kultische Reinheit (vgl. Ez 44,1–9). Der innere Zusammenhang zwischen Beschneidung, Kult und Priestertum ist unübersehbar in der Verbindung, die die atl.-jüdische Theologie zwischen der Beschnei44 Vgl. zur folgenden theologischen Erfassung von Lk 2,21–52 folgende ausführliche Darlegung zu

diesem Thema: R. Schulte, Die Mysterien der „Vorgeschichte“ Jesu, in: Mysterium Salutis 111/2, Einsiedeln 1969, 23–58. Dieser Abschnitt bringt das dort Darzustellende unter dieser Gliederung: 1. Das Mysterium des Inkarnationsgeschehens: Empfängnis und Geburt Jesu Christi, 2. ‚… unter das Gesetz gestellt‘: a. Die Beschneidung Jesu Christi; b. Die Darstellung Jesu Christi im Tempel; c. Der Zwölfjährige im Tempel. Dort wird ausführlich das erarbeitet und dargestellt, was hier nur in aller Kürze geschehen kann. Zugleich sei hier auf folgende einschlägige Kapitel im selben Werk hingewiesen: R. Schulte, Die Vorbereitung der Trinitätsoffenbarung: MySal II, 1967, 49–84; ders., Das Christusereignis als Tat des Vaters: MySal III/1, 1970, 49–85.

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Zur theologischen Erfassung von Lk 1–2

dung, näherhin sogar zwischen dem in der Beschneidung vergossenen Blut und dem des Paschalammes erkennt und wertet. Das Blut der Beschneidung wurde als Blut des Bundes angesehen. Wie dem auf die Türpfosten gestrichenen Blut des Paschalammes, so wird auch dem Beschneidungsblut das huldvolle Vorübergehen Jahwes und die Rettung aus Ägypten zugeschrieben. (Wir erkennen hier schon, daß das in 1,22–24.27.39–50 ausdrücklich Herausgehobene in diesen Zusammenhang gehört.) Schließlich ist der Israelit aufgrund der Beschneidung Teilhaber der Verheißungen (Gen 17,4,14). Sie stellt gleichsam einen von Gott gestifteten „Rechtsanspruch“ auf das Erbe jener Verheißung dar, die an Abraham und dessen Nachkommenschaft im Bundesschluß ergangen und in der Beschneidung „besiegelt“ war (vgl. Jer 4,4; Ez 44,7; Dt 10,16; Röm 2,25–29). Die „Namengebung“, die ja zuerst seitens Gottes selbst geschieht, dann durch die von ihm (einladend) Beauftragten (Josef und Maria als Ehepaar im Hause Davids!) und dann durch das „Volk“, das ihn so oder so als den erfährt, der er ist und sein Lebenswerk vollbringt: JESUS – Jahwe rettet, der dann auch, im Aufgreifen des Verheißungswortes Jahwes in Jes 7 und 9 wie aufgrund lebendiger Erfahrung, IMMANUEL – Gott(Jahwe)-mit-uns heißt (Mt 1,23; 28,20), und das auch im Sinne des Geschehens der Namengebung Gottes-des-Vaters, wie es in Phil 2 ausgesprochen ist. Die Verse 22–24 werden meistens unter der Überschrift „Darstellung Jesu im Tempel“ ausgelegt. Tatsächlich wird dreierlei aufgeführt: das Reinigungsgesetz, das die Geboren-Habende betrifft, dann das, was mit „Darstellung“ (pari,sthmi/parista,nw) bezeichnet wird, mit Berufung auf Ex 22,28f; 13,2.12.15; 34,19; Nm 3,13; 8,17, wo von der „Auslösung“ der männlichen Erstgeburt gesprochen wird. Der Lukas-Text nennt die Reinigung der Wöchnerin sogar mittels des Gesetzestextes sehr genau (24b). Zur Erfüllung hatte die Frau am Nikanor-Tor des Tempels das Opfer dem Priester zu übergeben, der sie dann für kultisch wieder „rein“ erklärte. Zu diesem Akt hatte weder der Vater mit zum Tempel zu kommen, noch mußte das Kind dabei sein (Lukas bringt es im Plural: Tag ihrer Reinigung). Deswegen ist 22b genau zu lesen: „Sie brachten ihn hinauf nach Jerusalem, parasth/sai tw/| kuri,w| – um ihn dem Herrn anzubieten, bereitzustellen“.45 Dafür wird in 23a mit Ex 13,2 u. a. (s. oben) die Begründung ange45 Die Wiedergabe von parasth/sai tw/| kuri,w| mit „Darstellung Jesu im Tempel“ ist zu allgemein,

so daß kaum erkennbar wird, was hier im Grunde ausgesprochen wird. Schürmann bringt diese eigenartige Formulierung: „Dem Erzähler geht es sichtlich nicht nur darum, die gewissenhafte Gesetzeserfüllung (vgl. V 39) herauszustellen, denn die Reinigung der Mutter berichtet er nur nebenbei und den Loskauf der Erstgeburt verschweigt er, um allen Akzent auf die ‚Darstellung‘ Jesu zu legen, in deren Verlauf prophetische Stimmen das Kind als den erwarteten Messias erkannten“ (121). Vom „Messias“ ist im Text gar keine Rede; auch „verschweigt“ der Evangelist hier nichts; was „Darstellung“ nun wirklich meint, wird kaum erhoben. Was mit parasth/sai genau angesprochen ist, erklärt Reicke in ThWNT 5 (1954) 839 recht gut so: „Wenn zB Lk 2,22 über die Darstellung Jesu im Tempel parasth/sai tw/| kuri,w| sagt, ist am besten an das Aufstellen eines sakralen Dieners vor seinem Herrscher zu denken. Vermutlich meint der Erzähler, daß Jesus schon jetzt, ungefähr wie Samuel oder ein Nasiräer, grundsätzlich in den Dienst Gottes gestellt und geweiht

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Abschnitt B:

Lk 1–2 — Text – rechte Übersetzung – theologische Erfassung seiner Aussagen

geben: „Alles Männliche, das den Mutterschoß öffnet, soll Dem-Herrn-Geheiligt erklärt werden“. Wenngleich mit diesem Kurz-Zitat des vollen Gesetzestextes die „Auslösung“ angesprochen wird, so ist mit keinem Wort deren Erfüllung genannt, weder hier bei Lukas, noch sonst irgendwo im NT. Der Akt in Jerusalem, wie der Evangelist ihn beschreibt, war daher das Heilig-Erklären, d. h. das für Gott und seinen Dienst Bereitstellen. Das haben wir zu verstehen gerade als Akt von Josef und Maria, denen ja im ankündigenden Gespräch (Mt 1,21 bzw. Lk 1,31–33.35) klar gesagt war, wer der Sohn ist und welche Lebensaufgabe er zu erfüllen hatte. Den Akt im Tempel in Jerusalem müssen wir daher als konkrete Bestätigung Josefs und Marias ihres Ja-Wortes erkennen, das sie dem Boten des Herrn (also Jahwe) gegeben bzw. durch ihr gehorsames Tun bezeugt hatten. Kurz: Sie geben diesen, ihnen geschenkten Sohn frei für das, was Gott mit ihm vor-hat. Die weiteren Verse bestätigen das deutlich. (Es ist übrigens keine andere Aussage der gesamten Bibel bekannt, wo ein derartiger Akt seitens der Eltern eines Kindes erwähnt oder auch nur angedeutet ist.).46 Die Verse 25–38 berichten von der Begegnung des Simeon mit den Eltern Jesu und ihrem Kind bei deren Tempelbesuch, wo dann auch noch die Prophetin Anna hinzutritt. In Bezug auf unsere Fragestellung sei nur darauf hingewiesen, daß Josef und Maria wie selbstverständlich als Eltern Jesu benannt erscheinen. Das Loblied des Simeon richtet sich im ersten Teil an Gott (de,spota – Herr) in Dankesworten, die widerspiegeln, was in 1,26–38 ausgesprochen wurde. Die Verse 39–40 bringen gleichsam eine Abschlußnotiz in Bezug auf den zuvor geschilderten Tempelbesuch Josefs und Marias mit ihrem Sohn Jesus. Wir beachten jedoch auch, daß vom „no,moj kuri,ou – Gesetz des Herrn (Jahwe)“ die Rede ist, das sie erfüllt hatten. Es enthält wieder einen Anklang an Gal 4,4, wo „unter das Gesetz geworden“ dem „entsandt sein von Gott“ zugeordnet ist. Darauf wird noch zurückzukommen sein. c) Lk 2,41–52

Diese Verse überschreibt Schürmann eigenartigerweise mit „Finale: Erweis der Weisheit und Gottessohnschaft Jesu“ (132). Tatsächlich wird von der ersten Teilnahme Jesu an der Paschafest-Wallfahrt gesprochen, die allen Juden ab dem Jahr der Volljährigkeit, d. h. mit der Vollendung des 13. Lebensjahres aufgetragen war. Wichtig ist da zuerst die Notiz, er sei zwölf Jahre alt gewesen, da er die übliche Pascha-Wallfahrt

wird. In diesem Sinne sei hier das Gesetz über die Heiligung des Erstgeborenen (Ex 13,2.12–15) erfüllt worden (v 23)“. 46 Es sei nochmals auf den Beitrag in MySal 111/2 (R. Schulte) hingewiesen, wo das gerade Betonte noch deutlicher erklärt wird. Ebenso ist dort eine eingehende Reflexion zur Frage der Auslösung des Jesus-Knaben, die ja nicht erfolgt ist, zu finden, die den ganzen ntl. Horizont dieser Gesetzesvorschrift theologisch einordnet.

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II.

Zur theologischen Erfassung von Lk 1–2

mit den Eltern zum ersten Mal erlebte (41f).47 Alles weiter Geschilderte geschah, „als die Festtage zu Ende gegangen waren“ (43). Dem folgt die Erzählung des von diesem Jesus und seinen Eltern Erlebten, das alles bemerkenswerterweise im Tempel in Jerusalem sich ereignete. Da von „Finale (wessen eigentlich?)“ zu sprechen, ist nur möglich, wenn man eine Gliederung des ganzen LkEv bringen will, an die Lukas selbst nie gedacht hat.48 Deshalb wenden wir uns hier nur dem in 2,41–51 tatsächlich Ausgesagten zu. Da ist, wie schon herausgehoben, vom ersten Paschafestbesuch Jesu die Rede, (wobei man wissen wollen muß, was alles damit an israelitisch-jüdischer Religiosität und theologischer Bedeutung angesagt ist: Was war real-heilsgeschichtlich das Pascha Jahwes, was hatte es an konstituierendem Gewicht für Israel! Der Tempel als Ort der Präsenz Jesu (welcher Art auch immer) wird bei sehr bezeichnenden seltenen Gelegenheiten genannt, eigentlich nur hier in 2,22.27, dann durch Satan „auf die Zinne des Tempels geführt“ (4,9), dann am Ende seines Lebens, da er Einzug hielt in Jerusalem (19,45.47) und dort seinen Tod fand am Kreuz.49 Auch die Erwähnung 47 Zum Verständnis dieses ersten Paschafestbesuches gerade des Zwölfjährigen muß man wissen,

wie die jüdischen Knaben im Gesetz unterrichtet und erzogen wurden. Es war Pflicht des Vaters, den Sohn zu den ihn jeweils verpflichtend treffenden Gesetzen durch Eingewöhnung zu erziehen. Die Beobachtung aller Vorschriften war endgültig mit Eintritt in die Geschlechtsreife gefordert. Der israelitische Knabe war somit mit vollendetem 13. Lebensjahr zur Beobachtung aller Gesetze verpflichtet und trug übrigens von da auch die eigene volle Verantwortung für Gelübde u. ä. Die Verpflichtung zur Teilname am Paschafest begann mit vollendetem 13. Lebensjahr. Somit ist die in Lk 2,41–52 gemeinte Wallfahrt nach Jerusalem zum Paschafest des erst zwölfjährigen Jesus eine der Einübung und Gewöhnung. (Zivilrechtliche Mündigkeit trat mit dem 20. Lebensjahr ein.) 48 Es ist ungemein aufschlußreich, sich die Gliederung des LkEv nach Schürmann vor Augen zu halten; ob sie den Intentionen des Lukas selbst entspricht, ist anzuzweifeln. Wir geben diese Gliederung aus Platzgründen nur in ihren großen Zügen wieder: DAS PROÖMIUM (1,1–4) PRÄLUDIUM: Jesu Ursprünge in Gott (1,5 – 2,52) I. Abschnitt: Die Verheißung (1,5–56) II. Abschnitt: Die Erfüllung (1,57–2,40) 1. Die Geburt des Johannes und die Prophetie des Zacharias (1,57–80) 2. Die Geburt Jesu und die Prophetie des Simeon und der Anna (2,1–40) a) Die Geburt Jesu in der Davidsstadt und ihre Verkündigung an die Hirten (2,1–21) b) Der Prophetische Hinweis des Simeon und der Anna (2,22–24) c) Abschließender Ausblick auf die Kindheit und Jugendzeit Jesu (2,40) Finale: Erweis der Weisheit und Gottessohnschaft Jesu (2,41–52) DAS KORPUS DER EVANGELIENSCHRIFT ERSTER HAUPTTEIL: DER ANFANG VON GALILÄA AUS (3,1 – 4,44) ZWEITER HAUPTTEIL: JESU ÖFFENTLICHES WIRKEN UND LEHREN IM LANDE DER JUDEN (5,1 -19,27) usw. 49 Die (wenigen!) Stellen, an denen der Tempel genannt wird, sind diese: Lk 1,9.21f (Zacharias im Tempeldienst); 2,22 (sog. Darstellung Jesu im Tempel); 2,27.37 (Simeon bzw. Anna); 2,46 (Maria und Josef finden Jesus im Tempel); dann zweiter und letzter Tempelbesuch Jesu: 19,45.47 (Verkäufer-Austreibung; er lehrte im Tempel), so auch 20,1; 21,5 (des Tempels Herrlichkeit wird dem Jesus zur Betrachtung anempfohlen); 21,37.38 (Jesus lehrt im Tempel); für die Bereitung des Paschafestes in Lk 22 keine Erwähnung des Tempels; 22,52 (Hauptleute der Tempelwache; 22,53 (Jesu Wort

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Abschnitt B:

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Jerusalems geschieht nur an wenigen Stellen des LkEv, ähnlich aufschlußreich wie die des Tempels im Leben und eben am Ende des Lebens Jesu.50 Vom ersten Paschafestbesuch, den Jesus erlebte, wird nichts Näheres ausgesagt, nur daß die Eltern das ganze Fest mit ihm begehen. Weil auf die Pflicht der jährlichen Mitfeier aufmerksam gemacht ist, kann man vermuten, daß mit-ausgesagt sein soll, daß er sein Leben lang dieses auch tat. Ausdrücklich wird dazu nie mehr ein Wort gesagt, mit Ausnahme eben seines Letzten Ganges in den Tod. Der Nachdruck liegt in 2,41–51 auf dem Geschehen nach dem Paschafest: Sein Verbleiben im Tempel, und sein Gefundenwerden „mitten unter den Lehrern, ihnen zuhörend und sie befragend“ (46f). Man staunte „über sein Verständnis und seine Antworten“, was sicher mit Bedacht so herausgehoben sein soll, jedoch noch nichts weiter aussagt. Anders dann, als die Eltern, die ihn suchten, in dieser Situation finden und ihre Fragen an ihn richten, die auch einen Vorwurf gegen sein Verhalten enthalten. Für uns jetzt wichtig ist, wie Jesus und mit welchen Worten er sich antwortend äußert. Zunächst die Bekundung seines Staunens, in Frageform gekleidet: „Warum habt ihr mich gesucht? Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?“ Wir müssen zu verstehen trachten, das, was vom Evangelisten hier angesagt erscheint, in seiner theologischen Tiefe ein-zu-sehen. Man kann es nicht „Erweis der Weisheit und Gottessohnschaft Jesu“ nennen, was hier geschieht und eher fragend als in aufweisendem Sprechen an-gesagt ist. Was war zuvor in 1,5 – 2,38 gesprochen, gehört und im Gehorsam getan und erfüllt worden, seitens Gottes selbst wie der von ihm bestellten Boten und Menschen, also schon als offenbare Wirklichkeit begriffen? Deswegen die Antwort Jesu nur in zwei Fragesätzen, ohne jedes weitere Wort! Dazu wird sogleich in 2,15 in unmittelbarer Folge auf „daß ich sein muß in dem, was meines Vaters ist“ (dies zudem auf Maria und Josef als seine Mutter und seinen Vater hin gesprochen!) die Auskunft gegeben: „Er zog mit ihnen hinab nach Nazareth und unterwarf sich ihnen (war ihnen gehorsam)“! Wie kann das alles zusammengeschaut werden (ohne hier „theologisch“-systematisches Sich-klar-Machen zu versuchen!)? an die, die ihn gefangen nehmen: „Tag für Tag war ich bei euch im Tempel“); 23,45 (der Vorhang im Tempel zerreißt); 24,53 (nach der Aufnahme in den Himmel waren die Apostel im Tempel Gott lobend). 50 Erwähnung Jerusalems im LkEv: 2,22.25.41.43.47 (die Eltern Jesu bringen ihn nach Jerusalem; sodann zur Simeon-Begebenheit, sowie zur Pascha-Mitfeier Jesu); 4,9 (Satan führt Jesus auf die Zinne des Tempels); 5,17 u. 6,17 (Ortsangaben); 9,31 (Rede vom Ende, das Jesus in Jerusalem finden soll); 9,15 (Jesus richtet seinen Blick auf J., als die Tage seiner Aufnahme näher herankamen); 9,53 ähnlich; 10,30 (im Gleichnis vom Samaritaner); 13,4 (Bewohner von Jerusalem); 13,22 (Hingehen nach Jerusalem); 13,22(Jesus zog weiter nach Jerusalem); 13,32ff („und vollbringe Heilungen heute und morgen; erst am dritten Tag komme ich damit zu Ende. Aber heute und morgen und übermorgen muß ich wandern, denn es geht nicht an, daß ein Prophet anderswo als in Jerusalem den Tod findet“; Weherufe über J.); 17,11 (Gang nach Jerusalem); 19,11 (als er nahe bei J. war); 21,20 (Belagerung Jerusalems); 21,24 (Jerusalem von den Heiden zertreten); 23,28 (Wort an die weinenden Frauen); 24,13 Emmausjünger); 24,18.33 (ebenso); 24,52 (Jünger nach seiner Aufnahme in den Himmel).

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II.

Zur theologischen Erfassung von Lk 1–2

Wir lassen dazu alle schon angeführten Worte und Geschehen, die sich in Lk 1,1–2 finden und begriffen worden sind, wie auch das später im LkEv noch über Jesus Ausgesagte selbst sprechen. Dann gilt dies: In 49 nennt Jesus in seinem ersten im LkEv überlieferten Wort Jahwe seinen Vater (womit er sich als dessen Sohn weiß, als Jahwe-Sohn). Das tut er in seinem antwortenden Rückfragesatz an Maria, die zu ihm mit „ich und dein Vater“ gesprochen hat (dem von Jesus überhaupt nicht widersprochen wird: sie sind es). Dann spricht Jesus das (für das LkEv ungemein bedeutsame) „muß“ seines Lebens aus: „in dem sein, was seines Vaters ist“. Mit diesem Letzteren kann der Tempel gemeint sein, in dem er ja das Wort spricht. Es kann aber auch entschieden mehr zum Klingen gebracht sein: „Des Vaters (Jahwe!)“ ist ja in Lk 1–2 die Verwirklichung des Heils für Israel und alle Welt angesagt: das ist es, worin Jesus seinen ur-eigenen Platz zugewiesen bekommen hat (eben von seinem Vater!), den er im Gehorsam gegen diesen Heilswillen in aller unerhörten Konkretheit ausfüllen und vollbringen „muß“. Das ist jedenfalls, im Kontext des ganzen LkEv, schon in Lk 1–2 als reale Wirklichkeit angeklungen, wie dann auch das Wort Jesu an die EmmausJünger in 24,26 es wieder ausspricht, übrigens wieder mit einem Fragesatz: „Mußte der Messias nicht dieses leiden und so in seine Herrlichkeit eingehen?“ Darin klingt auch wieder an, was in Gal 4 aufs kürzeste ausgesprochen (und dann dort weiter entfaltet) wird. So finden wir hier das von keinem Geschöpf-Hirn je Ausdenkbare, nicht einmal Erahnbare!; denn woher hätte man etwas, das in sich wenigstens erfinderisch aus schon Vorhandenem oder Erlebtem erahnend einschlösse, das nur erschlossen zu werden bräuchte? Hinreichend deutlich ausgesprochen: Der Sohn Jahwes wird „Messias“ (eine „Erfindung“ Jahwes, wenn wir dieses Wort nicht als längst definiert „voraussetzen“), um es ein Menschenleben lang (wer bestimmt, was das real heißt?) zu sein und es als solcher menschgewordene Jahwe-Sohn durch sein konkretes (nicht vor-programmiertes!) Leben zu vollbringen. Denn Jahwe beteiligt dabei auch Menschen-des-Unheils (was ja alle seit der Ursünde sind), damit er, Jahwe, erlangen kann, was er als Heilswillen für sich festgelegt hat. Jahwe fragt dafür in Lk 1 (und Mt 1) bei Maria (und Josef) an, ob sie geschehen lassen wollen, was Jahwes Wille ist; er gibt aus Liebe seinen Sohn zum Heil der Welt dahin (Jo 3,16) (Tat des Vaters, „bevor“ er die Erlösung geschehene Wirklichkeit werden läßt) und bietet diesen, von ihm als Heilsgabe bestimmten Dahingegebenen den Menschen zur Annahme, zum Ihn-Empfangen an, auf daß sie sich ihr und der Welt Heil schenken lassen. (Gott hat weder GeschöpfSein noch Wieder-im-Heil-Sein aufgezwungen – die Macht dazu hätte er, wie wir urteilen, durchaus. Das ist ja das Wesensmerkmal göttlichen Wirkens: aus Liebe.) So wird der Maria dieser zum Dahingegeben-Sein auserkorene Sohn, der darin durch Selbstdahingabe im Gehorsam der Sohnesliebe eingestimmt hatte, zum Empfangen angetragen, indem ihr klargemacht wird, wer dieser sein und welche Lebensaufgabe er haben wird (Lk 1,32–33.35–36; dazu auch noch Lk 2, 34–35). Dem Josef trägt Jahwe an, den eigenen Plan nicht zu verwirklichen, sondern seine Frau und das Kind, das sie „aus Gott seiend“ (Mt 1,18) trägt, zu sich zu nehmen und gemäß dem israelitischen 167

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Abschnitt B:

Lk 1–2 — Text – rechte Übersetzung – theologische Erfassung seiner Aussagen

Recht zu seinem Sohn zu erklären und ihn in seine Lebensaufgabe hineinzuführen, die Davidssohnschaft heißt, in der er Jesus heißen und sein soll: Jahwe rettet. Auch Josef entspricht durch Gehorsamstat dem Ansinnen Gottes, und erst dadurch vermag dieser seinen Auftrag wirkkräftig zu erfüllen. Dieser vom Vater dahingegebene Sohn läßt es an sich und mit sich geschehen, was aller Welt zum Heile dient, indem er sich auch den Menschen im Gehorsam unterwirft, die Gott erwählt hat, durch ihr Einstimmen in seinen Willen das Heil konkrete Wirklichkeit werden zu lassen. Diese führen diesen Sohn, den Gott ihnen zum Sohn anvertraut hat, in die israelitische, dem Heilsstand dienende, ebenfalls gott-geschenkte Rechtsverpflichtung ein, erfüllen diese ihrerseits (Beschneidung) und leiten ihn an, desgleichen seinerseits selbst zu tun (Paschawallfahrt u. a.). Es fällt ja auf, mit welchem Nachdruck Lukas gerade von dem Erfüllen aller Gesetze durch die Eltern Jesu und Jesu selbst berichtet: 1,21 (Beschneidung, Namengebung); 1.22–24 (Reinigungsopfer; Bereitstellen des Kindes im Tempel Gottes); 1,27f (wiederholte Betonung der Gesetzeserfüllung); 1,39 (ebenso); 1,41ff (Paschafest-Teilnahme).51

III. Zu einigen Kernaussagen in Lk 1–2 1. Gott — Hauptsubjekt in 1– 2; bedeutsame Aussagen

Wie wir schon in Mt 1 feststellen konnten, so zeigt sich auch in Lk 1–2 die beachtliche Tatsache, daß in dem dort Bekundeten Gott als das Hauptsubjekt erscheint. Schon in 1,1 ist das für das ganze LkEv gleichsam programmatisch erklärt. In dem „äußerst prägnanten Prooemium seiner Schrift“ (so Schürmann) nennt Lukas als Grundabsicht seiner Arbeit, „von den Ereignissen, die unter uns in Erfüllung gebracht worden sind, wie sie uns überliefert sind“, aufzuschreiben. Das theologische Passiv dieses Satzes erklärt klar Gott als den, der diese Erfüllungsereignisse bewirkt hat. Schon allein daraus ist zu ersehen, daß auch das LkEv „Evangelium Gottes“ sein will, mit allem, was das faktisch bedeutet. Dieses in 1,1 Angekündigte verkürzt Schürmann, wenn er das meint so ausdrücken zu sollen: „Gottes Handeln im Christusgeschehen sichtbar zu machen ist ihm ein wichtiges Anliegen, das seine Darstellung Seite für Seite charakte51

Zur tieferen Erfassung des gerade Dargestellten vgl. R. Schulte, Die Mysterien der „Vorgeschichte“ Jesu, in Mysterium Salutis 111/2, Einsiedeln, 23–58. Dort wird noch eindringlicher auf das Erleben Jesu Christi selbst während dieser ersten Phase seines Lebens eingegangen.

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III.

Zu einigen Kernaussagen in Lk 1–2

risiert“ (5).52 Lukas will, wenn man es mit diesen leider üblich gewordenen Ausdrük52 Schürmann schreibt zur Erklärung von 1,1b (peplhroforhme,nwn evn h`mi/n pragma,twn) dies: „An-

ders als Apg 2,11 (ta. megalei/a tou/ qeou/) verhüllt Lukas hier passivisch das Agieren Gottes. Gottes Handeln im Christusgeschehen sichtbar zu machen ist ihm ein wichtiges Anliegen, das seine Darstellung Seite für Seite charakterisiert“ (4). Das theologische Passiv „verhüllt“ keineswegs, sondern gibt (in der Sprache der Bibel) klar zu verstehen, daß Gott wirkt bzw. gewirkt hat. Deswegen ist 1,1b wörtlich von dem die Rede, was Gott „unter uns“ erfüllt hat, was mit „Agieren Gottes“ richtig, wenngleich wenig schön, angegeben werden kann. Daß jedoch sogleich von „Handeln Gottes im Christusereignis“ gesprochen wird, verkürzt unberechtigt das von Lukas Gemeinte. Das „erfüllen“ meint hier mehr als nur die Erfüllung dessen, was Gott zuvor verheißen oder angekündigt hat; es ist als „vollbringen“ zu verstehen, meint also alles, was Gott „unter uns vollbracht hat“ (1,1) und was, so müssen wir hier hinzufügen, dem Lukas im Sammeln des schon von andern Berichteten bekannt geworden war, und das ist entschieden mehr als Gottes „Handeln im Christusgeschehen“. Das sagt übrigens Schürmann selbst: „So selbstverständlich geht es um die Verfasser und Leser allein bewegenden peplhroforhme,na evn h`mi/n pra,gmata (V 1), daß der Inhalt der beabsichtigten Schrift nicht einmal vorab ausdrücklich (etwa wie Apg 1,1) thematisch herausgestellt werden muß“ (3). Das schränkt er aber sogleich wieder ein, wenn er damit „alles, was Jesus getan und gelehrt hat“ meint (3 u. ö.). Diese Unentschiedenheit der Inhaltsangabe für das LkEv und dessen Aussagen zeigt sich auch in weiteren Bemerkungen Schürmanns zur Absicht und Durchführungsweise dessen, was Lukas vorträgt. Noch im selben soeben zitierten Text heißt es weiter: „Da aber das Ziel, die avsfa,leia der kirchlichen Unterweisung unter Beweis zu stellen, nur durch Rekurs auf die apostolische Paradosis erreicht werden konnte …“ (3). Von „Beweis“ und „Nachweis“ u. ä. wird dann im Kommentar öfters ausdrücklich gesprochen, so z. B. 8 („den Beweis für diese ihm wichtige Behauptung“); 10 („Kann er doch den beabsichtigten Nachweis, daß die kirchliche Unterweisung sicher gründe, nur durch einen ‚Identitätsbeweis‘ führen … Diese Aufgabe verlangt aber eine Traditionserhellung“); 14: „Damit leistet Luk der nachapostolischen Kirche einen lebenswichtigen Dienst bei der subjektiven Glaubensbegründung“; 16f: „… in Lk (und Apg) eine charakteristische Theologie greifbar wird – vermutlich nur eine reflektierte Systematisierung … der Durchschnittsanschauung der Zeit …“. In den folgenden Stellen wird das noch deutlicher gesagt, so: „Luk vermag … dieses ‚Kommen‘ Jesu nicht mehr so unreflektiert mit dessen erstem Auftreten zur Verkündigung zu identifizieren … Luk hat Traditionen gefunden, die sein ‚Kommen‘ und sein ‚Gesandt-sein‘ durchmeditiert und durchreflektiert hatten und so theologisch ausholender … verstanden … die Ursprünge (d. i. Jesu) in Gott und das Kommen von Gott her mußten theologisch entfaltet werden“ (19f; s. auch 24f). Wichtiger noch ist es, auf die einleitenden (!) Sätze Schürmanns zu 1,26–38 (die er mit „Ankündigung der Geburt Jesu“ überschreibt) hinzuweisen: „Es geht letztlich darum, die dem Glauben feststehende Messianität und ‚Gottessohnschaft‘ Jesu theologisch zu gründen (!). Das geschieht durch den Aufweis (!), wie Jesus sein menschliches Dasein der schöpferischen Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau verdankt“ (40; auf diesen Text kommen wir später kritisch zu sprechen). Zu 1,27 u. a.: … muß erwähnt werden, damit die Davidsohnschaft V 32 von dem verheißenen Kinde Mariens ausgesagt werden kann, die nach jüdischer Auffassung nur vom Vater her begründbar war …“ (42). Zu 1,26–38 wird in der Besprechung des rechten Verständnisses u. a. dies gesagt: „die Behauptung der vaterlosen Lebensentstehung steht V 35 im Dienst einer christologischen Denkbemühung, die deutlich mit dieser Begründung operiert, … kausal zu argumentieren (!)“ (63). Zu 1,28 u. a.: „Hier ist die Mutterschaft Mariens – anders als 1,27 als Messias-Mutterschaft theologisch gewertet (!)“. Zu 2,1–20 heißt es: „Das Erzählungsinteresse liegt in 2,1–20 beim Erweis (!), daß Jesus der verheißene messianische ‚Retter‘ ist …“ (118). Zu 1,36f findet sich noch diese Feststellung: „… es will demonstrieren (!), daß Gott auch eine jungfräuliche Empfängnis bewirken kann … Die hier (wie Mt 1,18–25) zutage tretende ‚apologetische‘ Tendenz beweist (!), daß das Wissen um die jungfräuliche Lebensentstehung … es

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Lk 1–2 — Text – rechte Übersetzung – theologische Erfassung seiner Aussagen

ken angeben will, das Gottesgeschehen aufschreiben. Das „Erfüllungszeit“ Genannte ist nicht „Christuszeit“ (ebd.), da die „gottgewirkten Ereignisse“ mehr sind als „Christusereignisse“ (ebd.). Die Evangelien nur „christo-logisch“ zu lesen und auszulegen, wird ihnen in keiner Weise gerecht.53 Wir verbleiben hier bewußt und ausdrücklich bei unserer Absicht, zuerst einmal das tatsächlich Ausgesprochene im LkEv zu erheben, was weiteres Nach-Denken ja keineswegs verhindert oder gar verbietet. Daher stellen wir das im Titel genannte Faktum heraus, daß in Lk 1–2 (weil im LkEv überhaupt) Gott als das Hauptsubjekt des dort Bekundeten gilt, eben weil es der Text so wird hier schon gegen Zweifel verteidigt (!)“ (56 u. 57). Daß alle diese „Beweis“-Darbietungen dem Lk-Text nicht gerecht werden, wird im folgenden noch deutlich herausgestellt. 53 Hier sei auf eine auffallende Tatsache hingewiesen: Gegenüber dem häufigen Vorkommen von „Christologie“ und „christologisch“ begegnen die Ausdrücke „Theologie“ und „theologisch“ nur an ganz wenigen Stellen des Kommentars! Sieht man von den Zitierungen anderer Autoren ab, in denen „Theologie“ und „theologisch“ angetroffen werden (so z. B. 1; 17; 64), so meinen bei Schürmann diese Ausdrücke vor allem die Tätigkeit dessen, der „Theologisches“ als seine Arbeit betreibt und entsprechend vorstellt. So wird von „fundamentaltheologischer Funktion“ gesprochen, von „theologisch-geistiger Funktion von Textstellen“ in 1–2 (14; in 18 heißt es: „Diese Bestimmung der Funktion von Lk 1–2 im Ganzen der Evangelienschrift hilft dem theologischen Verständnis des in diesem ‚Vorbau‘ Gemeinten“). Der Ausdruck „theologisch“ wird im Kommentar zu 1–2 (nur diese Kapitel haben wir jetzt im Blick) an einigen Stellen in unspezifiziert-offenem Sinn für das Bedenken, Erfassen und Darstellen eingesehener Aussageinhalte angewendet, jeweils in signifikanter Weise. Zu 1–2 heißt es u. a.: „Lukas hat Traditionen gefunden, die sein (d. i. Jesu) ‚Kommen‘ und sein ‚Gesandtsein‘ durchmeditiert und durchreflektiert hatten und so theologisch ausholender – von Jesu Ursprung in Gott her – verstanden … Diese Ursprünge in Gott und das Kommen von Gott mußten theologisch entfaltet werden“ (20). Und dazu: „Die Perikopen (d. i. die Einzelstücke in 1–2) wollen zwar die ‚Anfänge‘ Jesu theologisch meditieren und sein Verhältnis zu Gott gläubig erfassen helfen; den Sinn des Christusereignisses entbergen … Daß neben dem angegebenen theologischen Interesse Luk auch ein biologisches bestimmt, trifft nur entfernt zu“ (21). Das wird sogleich nochmals so gesagt: „Das über die theologische Funktion von Lk 1–2 Gesagte mag helfen, die hier gewählte literarische Art theologisch besser verständlich zu machen und auch gattungsmäßig treffsicherer zu bestimmen“ (21; Ähnliches findet sich 26; s. d.). Eine weitere Stelle läßt etwas Bedenkliches erkennen: „Die Erzähltendenz der Verkündigungsszene ist eminent christologisch: Es geht letztlich darum, die dem Glauben feststehende Messianität und ‚Gottessohnschaft‘ Jesu theologisch zu gründen, Das geschieht durch den Aufweis …“ (40). Daß Jesus, mit Lukas ganz konkret gesprochen, der Sohn Gottes und der Christus/Messias ist, wird durch Schürmann mittels der Abstrakta „Messianität“ und „Gottessohnschaft“ (letztere in Anführungsstriche gesetzt!) angesagt. Es sei „den Glauben Feststehendes“ (was soll damit eigentlich gesagt sein?), das aber erst noch „theologisch zu gründen“ sei (tut das Lukas überhaupt in diesem Text?). Dazu die weitere befremdende Aussage: „Die schöpferische Tat des pneu/ma a[gion im Schoße der Jungfrau wird also betont (!), um die ‚Heiligkeit‘ Jesu zu begründen (!)“ (54; muß die ‚Heiligkeit‘ Jesu überhaupt „begründet (was ist hier damit gemeint?)“ werden?). Ähnliches gilt für das zu 1,42 Gesagte: „Hier ist die Mutterschaft Mariens (Abstraktum für ein absolut Einzigartiges!) theologisch gewertet“ (68). Was mag das sein: das Persönlichste des Gott-gestifteten Geheimnisses Marias theologisch werten? Wozu ist „Theologie“ im Christlichen berufen? – Mit diesen hier angeführten Beispielen sind auch schon alle Stellen, in denen überhaupt „Theologie“ und „theologisch“ im Kommentar zu 1,2 begegnen, aufgeführt! „Theologie“ wird dort nie als Rede von oder über Gott verwendet. Demgegenüber ist für das in 1–2 Bekundete sehr oft „Christologie“ oder „christologisch“ eingesetzt.

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III.

Zu einigen Kernaussagen in Lk 1–2

sagt. Die „Gottgewirktheit des berichteten Heilsgeschehen“ (so Schürmann selbst: 15 u. ö.) ist offenkundig das, was Lukas darzustellen beabsichtigt. So überschreibt er den Text 1,5 -2,52, den er in seiner „Funktion im Ganzen der Evangelienschrift“ als „Präludium“ bzw. „Vorbau“ bezeichnet, mit „Jesu Ursprünge in Gott“ (18). (Von der Fragwürdigkeit, in dem einen „Evangelium“ von einem „Präludium“ oder „Vorbau“ zu sprechen, der immerhin 2 Kapitel umfassen soll, hier abgesehen; dazu ist andernorts hinreichend gesprochen worden.) Der Text setzt bezeichnenderweise im Tempel an, wo Gott (Jahwe) in seinem Boten selbst mit Zacharias spricht und sein Ansinnen anträgt: 1,13: „Dein Flehen ist erhört …“. Das theologische Passiv spricht ein Re-agieren Gottes als erstes offen aus, das von ihm sogleich in seinem Wirken des Errettens hineingenommen und mit ungeahnten Sinn erfüllt wird. Johannes, der Sohn des Ehepaares Zacharias und Elisabets, wird in göttlicher Berufung „vor Jahwe hergehen und so dem Herrn ein williges Volk bereiten“ (13–17). Diesem ersten Vorgang entspricht der weitere, in dem Gott sich an Maria wendet, wieder um seinen Heilsplan zu verfolgen. Im Boten kommt Gott zum Menschen mit seinem Ansinnen, Israel und aller Welt das Heil zu bringen, was sich im Grußwort an Maria in kürzester Form, doch alles, eben Gott Jahwe aus- und zusprechend, als die Wirklichkeit bekundet: Jahwe ist mit dir. Dieses Gruß-Wort kündet an, daß und wie Jahwe in neuer, bisher unerhörter Weise sich selbst und sein Schöpfungswerk verwirklichen und wahr-machen will – im Antrag an Maria zu ein-stimmender Annahme dessen, was, ja wer der ist, den Gott zum Empfangen ihr und in ihr aller Welt schenken möchte. Die Weise des Beteiligt-Werdens, die Maria er-fragt, um verantwortlich zuzustimmen, erklärt Jahwe selbst auf sich-offenbarende Art, wofür er auch nur er selbst die Begründung und Aufklärung ist und sein kann. Den Text 1,26–38 als „Ankündigung der Geburt Jesu“ zu sehen und zu bestimmen, wird dem, was da tatsächlich gesagt wird, überhaupt nicht gerecht. Es ist ein Ansinnen und ein Antrag Gottes an Maria, der sogleich auch einen Auftrag erteilt: Du sollst seinen Namen JESUS nennen. Jahwe selbst gibt den Namen kund und in und mit ihm das Sein („Wesen“) und das alles entscheidende, weil vollendende Wirken dessen, den zu empfangen (anzunehmen) und ihn zu seinem Wirken Gott zu weihen: 2,22f, Maria eingeladen, nicht gezwungen wird, das heißt ihn in dem, „was seines Vaters ist“ (Tempel: 2,49), für das bereitzustellen (frei zu geben), was wiederum und immer noch „Gottes ist“, nämlich „Gott ist mit dir/euch“, auf wirksame Wirklichkeit hin.54 Das findet seine Bestätigung im Wort Elisabeths: Selig, die geglaubt hat, daß die Erfüllung dessen geschehe, was ihr vom Herrn (Jahwe!) gesagt wurde. Damit erlangt auch die Antwort Marias in 1,39 nochmals eine beachtenswerte Klarheit: Mir geschehe, was Du gesagt hast. In allen diesen Versen ist Gott 54 In 1,26–38 ist keinerlei wie immer zu verstehendes Mit-Tun Marias an dem die Rede, was dort

Gott ihr als sein Ansinnen und folglich als seine Selbst-Bewahrheitung zuspricht. Auch nicht andeutungsweise findet sich dort solches vor. Wenn man es betont sagen will (warum eigentlich?), dann muß man sagen: Gott allein und sonst niemand und nichts!

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Abschnitt B:

Lk 1–2 — Text – rechte Übersetzung – theologische Erfassung seiner Aussagen

allein der Sich-Offenbarende, der zu-spricht, was er zu tun sich anschickt, und was folglich sein Heil-Wirken initiiert und vollbringen wird, alles einladend und um Zuund Einstimmen bittend vorgebracht. Genau dem entspricht die Antwort Marias: Mir geschehe gemäß deinem Wort. Sie beläßt es Gott allein, wozu er sein Wort gab und was er folglich zu tun sich entschlossen hat, ohne eine dem Geschehen vorhergehende Detail-Erklärung zu erwünschen, die die Zustimmung erleichtern könnte. Maria antwortet auch nicht einfach: Es geschehe! Die Formulierung „mir geschehen, was dein Wort anträgt“ ist gerade wegen ihres absoluten Offenbleibens auf Gott hin unahnbar reich in ihrem Gehalt.55 Was wir so an Einzelheiten genannt haben, die klar hervortreten lassen, was wir mit dem Wort „Hauptsubjekt“ für Gott in Lk 1–2 bezeichnen, findet seine deutliche Bestätigung in den vier Lobpreisungen Gottes allein in Lk 1–2. In allen ist es schlicht Gott, Jahwe, dem diese Lieder geweiht sind, und das stets auf Grund dessen, was erlebt und erfahren wurde (nicht: was theologisches Nachdenken herausgefunden zu haben vermeint). Was Elisabeth erfahren hat, das drängt sie zu dem bewundernden Wort: So hat der Herr (Jahwe!) mir getan! Dasselbe singt Maria in 1,46–55 in dem ungemein reichen Lied aus ihrem Herzen, wenngleich sich zunächst „nur“ ein Erstes dessen ereignet hatte, was das Wort Jahwes ihr zugesprochen hatte. Dasselbe gilt für das Preislied des Zacharias. Es richtet sich nicht nur an Gott, sondern erzählt dessen Großtaten in früherer Zeit und jetzt, in diesen Tagen, mit namentlich Genannten. Auch das Lied des Simeon hat nur dieses eine Thema: Dank für das, was er gesehen hat als Gottes Werk. Daß Maria das Kind in Bethlehem geboren hat, wird in 2,6f „mit denkbar wenigen Worten (als) das große Heilsereignis erzählt“ (Schürmann 98). Und sogleich geschieht das Wort Jahwes in der Verkündigung an die Hirten, die in das Loblied Jahwes mündet, das sein Wirken besingt. Die Hirten berichten, was sie erlebt und gehört haben, denen, die in Bethlehem weilten; dann „preisen sie Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten“ (20). Auch das, was in 2,21–52 berichtet oder ausgesprochen wird, richtet sich stets daran aus, was Jahwe früher und jetzt wirkt und als wer er sich erwiesen hat. Auf einzelnes brauchen wir hier nicht mehr einzugehen. Es sei jedoch betont daß es sich in Lk 1–2 in allem, was dort verkündet, berichtet und besungen wird, nicht um historische Aufweise und Beurkundungen im heutigen Sinn handelt (wenngleich Historisches wesentlich enthalten ist!), und auch nicht um Darlegungen christo-logischer, mario-logischer, josefo-logischer Erkenntnisse, ja auch nicht um theo-logisch Erkanntes und Begriffenes handelt, wenn unter diesen Termini unser heutiges begrifflich-einordnendes Erfassen und Entfalten der Inhalte christlichen Glaubensgutes verstanden wird (dem selbst hier ihr Recht nicht abgesprochen wird). Die Evangelien geben persönlich-namentlich gebundenes Konkretes 55 Daß hier ein Nach-Fragen fällig ist, was dies alles im konkreten Fall des Angesprochenseins Ma-

rias durch Gott in seiner Fülle bedeutet, ist offenkundig. Wir werden uns dem am gegebenen Ort zu widmen haben. Darauf sei hier hingewiesen.

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zur Sprache. Sie nennen bzw. sprechen von Jahwe, von Jesus, von Josef und Maria, von Geschehenem und Geschehendem von diesen her und durch sie Gewirktes usw.; und die Worte, mit denen diese Bekundung sich vollzieht, sind keine Begriffe, auch keine Titel, keine reflektiert gerechtfertigte sachlich „richtige“ Termini, Symbole oder Metaphern, sondern die Sprach-Ausdrücke, die die konkret geschehene Lebensgeschichte Gottes selbst mit seinen Geschöpfen ausgebildet hat, in konkret je neuer Lebenssituation, die in ihrer gar nicht seltenen Hilflosigkeit des Sagens doch voll und klar erfaßt und auch in ihrer Bedeutung für das konkret-wahre Leben verstanden wurden und werden.56

2. Jesus Christus: Bemerkenswertes in Lk 1–2

Zunächst sei auf folgendes Faktum aufmerksam gemacht: Der in den paulinischen Schriften oft begegnende „volle“ Name „Jesus Christus“ findet sich im LkEv nicht ein Mal! Ausnahmslos alle Aussagen, die Jesus und sein Wirken, Leiden und Sterben zur Sprache bringen, sind unter Verwendung des (allein stehenden) Namens „Jesus“ angesagt. Demgegenüber begegnet „Christus“ allein stehend nur an relativ sehr wenigen Stellen, und das jeweils in signifikanter Weise. So ist im Text Lk 1–2 (den allein wir hier auf unsere Frage hin untersuchen) „Christus“ in 2,11 und 2,16 in ausgesprochen spezifischem Sinn zu verstehen. Die Formulierung in 2,11 (o[ti evte,cqh u`mi/n sh,meron swth.r o[j evstin cristo.j ku,rioj evn po,lei Daui,d) ist überaus reichhaltig, was zahlreiche unterschiedliche Auslegungen findet, zumal wegen de Zusammenfügung von „Soter“, „Xristos“ und „Kyrios“ in Bezug auf das geborene Kind in der Krippe. „Christus“, hier 56 Wir werden die Frage bezüglich der rechten christlichen Glaubenssprache, d. h. des rechten Aus-

Sprechens des Glaubensgutes im hymnisch bzw. kerygmatisch bekennenden Bekunden und Verkünden wie auch in den Formen der Glaubensrede und ihrer literarischen Darstellung der exegetisch gewonnenen Erkenntnisse und ihrer intellektuell be-denkend weiter begriffenen Einsichten durch wissenschaftliches Bemühen, das sich als (christliche!) Theologie, gar Dogmatisch-Systematische Theologie, Apologie u. a. versteht, noch in einem besonderen Kapitel besprechen. Hier sei nur auf dieses eine hingewiesen: In Lk 1–2 findet sich auffallend häufig „Herr“ dann gesetzt, wenn ausdrücklich Gott selbst spricht bzw. von ihm und seinem Wirken die Rede ist. Da bekanntlich in der LXX Jahwe nie geschrieben noch ins Griechische übersetzt, sondern dafür das Wort „Kyrios“ eingesetzt ist, ist in den biblischen Texten an den entsprechenden Stellen für „Kyrios – Dominus – Herr“ im Grunde stets „Jahwe“ zu lesen und zu verstehen. Da zudem für das rechte Gottesverständnis der Bibel gilt, daß Jahwe allein der Gott Israels (und überhaupt) ist, so ist auch im betreffenden Kontext „~yhil{a/ – qeo,j – Gott“ letztlich stets als „Jahwe“ zu lesen und zu verstehen. In Lk 1–2 dürfte das für alle Stellen gelten, an denen „qeo,j“ oder „Herr“ steht; es sind diese: 1,9.1 6.25.28.30.32.38.43.46f.58.64.68; im Kapitel 2: 2,9.13f.15.20.23.26.28.37.39.40.52. In allen anderen Kapiteln des LkEv ist das entsprechende Vorkommen weitaus geringer. Für das volle und rechte Verständnis der faktischen Aussagen in Lk 1–2 dürfte diese Beobachtung sehr bedeutsam sein; sie weist jedenfalls den Weg.

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zusammen mit der Davidstadt genannt, verweist offensichtlich auf den „Messias“ im spezifischen Sinn der Davidssohnschaft und ihrer Gott-bestimmten Bedeutung. Unmittelbar angeschlossen ist „Kyrios“. Ob hier „Christus“ als Hoheitstitel, der das Kind, also Jesus näher bestimmt, oder ob „Kyrios“ als Titel zu gelten hat, der den Christustitel interpretiert (so Schürmann 111f), können wir hier als unentschieden offen lassen.57 Die andere Stelle (2,16) ist in mehrerer Hinsicht bezeichnend und aufschlußreich. Die Rede ist von der „Offenbarung vom heiligen Geist (u`po. tou/ pneu,matoj tou/ a`gi,ou; beides mit Artikel)“, die dem Simeon zu verstehen gab, er werde erst dann sterben, wenn er den „Gesalbten“ (offensichtlich x:yvim)' (leibhaftig) gesehen hat. Aus dem Kontext ist eindeutig klar, daß „Christus – Messias“ hier in seiner biblischen Bedeutung zu lesen ist.58 – Im weiteren Verlauf des LkEv ist das Vorkommen von „Christus“ allein stehend ebenso bemerkenswert. So in Lk 3,15: Aus der damals allgemeinen MessiasErwartung versteht sich die Frage des Volkes in Bezug auf Johannes den Täufer, „ob er wohl der Messias“ ist“. Wir können das hier übergehen, weil kein unmittelbarer Bezug auf Jesus gegeben ist. Anders verhält es sich mit dem Petrus-Bekenntnis in 9,20: Du bist der Christus/Messias Gottes (to.n cristo.n tou/ qeou/; beide Namen mit Artikel). Gemäß diesem Bekenntnis bei dieser Anfrage Jesu selbst an seine Jünger bezüglich der Volksmeinung ist offensichtlich ausgesagt: Jesus ist es, der als Messias Gottes erwartet wurde. Damit macht es eine deutliche Aussage darüber, wer Jesus persönlich von Gott her ist. Man sollte da nicht an einen Titel (welcher Art auch immer) denken, den „man“, also Menschen dem Jesus verliehen haben. Die unmittelbar anschließende Leidensvoraussage im Kontext des LkEv insgesamt zeigt die größere Tiefe des Christus-Bekenntnisses klar an. – Im Munde Jesu findet sich Christus/ Messias an bedeutsamen Stellen. So in 4,41, wo von den Kranken, die Jesus heilte, und den Dämonen, die ausfuhren, berichtet wird, wird dies gesagt: „Sie schrien und 57 Schürmann in seinem Lk-Kommentar: „Außer 1,43 … wird in Lk 1–2 nur Gott Kyrios genannt, so

daß Xristos Kyrios … in 2,11 auffällig ist“ (111). Er diskutiert dort verschiedene Interpretationen. Zu einer heißt es: „Der Kyrios-Titel erläutert so … den Christus-Titel. Bedenken gegen diese Lösung erheben sich aber, wenn man sieht, daß hier der neugeborene irdische Jesus so tituliert wird, wie das gerade für Luk charakteristisch ist … So könnte doch luk Redaktion vorliegen. So oder so ist hier der Christus-Titel interpretiert (wie ähnlich Lk 23,2 durch basileu,j), vermutlich doch erst für hellenistische Leser“ (111f). Hier zeigt sich die (selbsterfundene) Problematik der rechten Auslegung, wenn man überhaupt in dieser Sache von Titeln meint sprechen zu sollen. „KyriosTitel“ ist schlicht ein Unwort. Dasselbe gilt für die ganz selbstverständlich eingeführte Rede vom „irdischen Jesus“. Schürmann spricht am hier genannten Ort vom „neugeborenen irdischen Jesus“, der „tituliert wird“ (111). Woher kommt diese eigentümliche Rede vom „neugeborenen irdischen Jesus“ in Bezug auf den in 1,31–33 von Gott selbst mit reichhaltigen Worten charakterisierten Jesus (dem Kind, das Maria im Schoße haben wird, soll sie, wenn geboren, diesen Gott-bestimmten Namen geben!), von dem in 1–2 noch vieles unter diesem Namen ausgesagt wird? Wir werden zu diesen Fragen etwas weiter unten im Punkt 4 noch Stellung beziehen; s. d. 58 Was „Christus – Messias“ jeweils in seiner Bedeutungsfülle im einzelnen tatsächlich besagt, ist jeweils nur im Kontext der betreffenden Verwendung dieses Ausdruckes zu entscheiden. Die uns interessierenden Stellen werden entsprechend an ihrem Ort gelesen und ausgewertet.

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sagten: Du bist der Sohn Gottes. Und er bedrohte sie und ließ sie nicht reden, weil sie wußten, daß er der Messias war“. Damit ist „Sohn Gottes“ und „Christus/Messias“ in Jesus dieser eine, so daß beides vollgültige Ansage dessen ist, wer in Person und was als Beauftragter Gottes Jesus ist. Auf dasselbe zielt auch die Frage Jesu an die Sadduzäer und Schriftgelehrten in 20,41–43: „Wie kann man behaupten, der Messias sei der Sohn Davids? Sagt doch David selbst: … Der Herr sprach zu meinem Herrn … David nennt ihn also ‚Herr‘, wie kann er da sein Sohn sein?“ Der tiefe Gehalt wie zugleich das Offenlassen der (vollen) Antwort (die gibt ja das Leben Jesu!) sprechen für sich. Das wird nochmals, fast wie in einem Kommentar, bestätigt durch die Frage Jesu an die Emmaus-Jünger in 24,26, zusammen mit 24,46 gelesen: „Mußte nicht der Messias dies leiden und so in seine Herrlichkeit eingehen“ und „so steht geschrieben: Der Messias muß leiden und am dritten Tag von den Toten auferstehen und verkündet werden …“. Von diesen Versen her empfangen die Stellen der Passionsgeschichte ihr entscheidendes Licht: In 22,67: „Die Ältesten … sagten: Wenn du der Messias bist, so sag es uns!“; dazu noch: „Du bist also der Sohn Gottes? … Ja, ich bin es“. Dasselbe in 23,2: „Er sagt, daß er der Messias, der König sei“; und auch in 23,35: „nun rette er sich selbst, wenn er der Messias Gottes, der Erwählte ist!“, wozu auch 23,39 gehört: „Bist du nicht der Messias. Dann rette dich selbst und uns!“. Alle diese Stellen werfen ihr Licht auch zurück auf die entsprechenden Aussagen in Lk 1–2.59 Deswegen ist es klar, daß diese Namen bzw. Auftragsbenennungen „Jesus“, „Christus/Messias“, „Kyrios – Herr“, „Retter (Heiland)“ alles andere sind als Titel oder Hoheitsbezeichnungen. Lukas hat sie im vollen Bewußtsein des gewachsenen Reichtums ihrer Aussage-Tiefen vom Anfang an bis nach der Auferweckung verstanden, so daß „Jesus“ schon in 1–2 als Name (Gott-bestimmt!) in seiner Bedeutungsfülle zu lesen und zu verstehen ist, die in der (so genannten) irdischen Lebenszeit voll erst am „Ende“ auf Glauben hin geschenkt war. Diese Namen und Benennungen dürfen daher in 1–2 nicht nur von den (wirklichen oder vermuteten) Vorlagen früherer biblischer Texte in ihrem vollen Aussagegehalt gelesen und verstanden werden, sondern in dem zur Zeit des Lukas in der Kirche längst begriffenen Bedeutungsreichtum. Dasselbe gilt für „Messias/ Christos“, das vom (sog.) AT allein her nicht den vollen Gehalt dessen bringt, was Jahrzehnte nach dem Erleben Jesu jedenfalls in den Lukas schon vorliegenden ntl.

59 Wie sorglos Schürmann mit dem Text umgeht, zeigt der folgende Satz: „Luk ordnet den Sohnestitel

häufig mit dem Christustitel zusammen, so 4,41; 22,67.70; Apg 9,20.22“ (48 Anm. 58). Abgesehen davon, daß vom „Sohnestitel“ und „Christustitel“ gesprochen wird, so kommt „Christus“, wie wir gesehen haben, erstaunlich selten vor, noch weniger die angesprochene Zusammenordnung von beiden genannten „Titeln“. Es sind nur zwei Stellen im LkEv und die eine in Apg 9, so daß von „häufig“ überhaupt nicht gesprochen werden kann; auch werden beide Namen nicht von Lukas zusammengefügt, sondern von Gott in seiner Geschichte mit Israel!

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Schriften (Paulus!) bekundet und homologisch und kerygmatisch gesungen und verkündet wurde.60 In seinem ankündigenden Antrag an Maria in 1,31–35 bestimmt Gott selbst den Namen dessen, den Maria empfangen und gebären soll: „Du sollst seinen Namen JESUS nennen“ (31). Dieser Jesus wird von Gott selbst, schon bevor Maria ihren Auftrag erfüllt, durch die Angabe näher charakterisiert, wer er ist und als wer er sich erweisen wird: „Er wird Groß(er) sein und Sohn des Höchsten genannt werden“ (32a). Beide „Prädikationen“ (es sind Namen!) stehen gleichwertig nebeneinander; das „und“ bezeichnet keine zeitliche oder sonstige Folge (etwa aufgrund des Erlebens seitens Glaubender). Dazu ist festzustellen: „Groß“ und „Höchster“ sind biblische Gottesbenennungen, besser Gottesnamen, die Jahwe (und nur ihn!) nennen. Die Wendung „Sohn des Höchsten“ erklärt somit unmittelbar und eindeutig den Höchsten, also Jahwe, als „Vater Jesu“. Das Futur im Wort Gottes an Maria in 1,31–35 ist offensichtlich als Gottes Verheißungswort zu lesen, in das Jahwe sich selbst persönlich schon hineingebunden hatte (s. Jes 7,14 u. ö.), um es zu gegebener Zeit erlebbare Seins-Wahrheit werden und sein zu lassen (zum Heil der Welt, wie es in 32b.33 angesagt ist): Jahwe bewahrheitet und verwirklicht sein Wort in Geschichte. Diesem Jesus, der „Groß“ und „Sohn des Höchsten“ ist und heißt, wird „Gott der Herr“ (ku,rioj o` qeo,j – Jahwe) „den Thron Davids, seines Vaters geben“ (32b). Hier ist die Aufeinanderfolge des im einzelnen Ausgesagten bzw. mit Namen Genannten bemerkenswert: Jesus – Sohn des Höchsten – Gott der Herr – Thron und Herrschaft – David sein Vater. Das Vater-Sein Davids ist das zuletzt Genannte; das „Thron“ und „Herrschaft über das Haus Jakob“ Angesagte ist das Wesentliche. Denn diese sind ja von Gott selbst schon viel früher zunächst dem David selbst verbindlich zugesprochen, dann zu späterer Geschichtszeit dem in Jes 7 genannten Sohn (dort der Name „Immanuel“ im Verheißungswort Jahwes!), der Achaz gegen seinen Widerspruch für das Haus David und in ihm der Welt verbindlich verheißen war, durch Jahwe selbst. So ist das Sohn-Gottes-Sein dessen, der von Maria geboren und von ihr den Namen „Jesus“ erhalten soll, hier klar und eindeutig ausgesagt: Es besteht offensichtlich, „bevor“ Gott sich antragend-ankündigend an Maria wendet. Denn in, mit und durch ihn will Gott das zuvor Verheißene realwahre Wirklichkeit werden lassen. Er wird dieser ganz bestimmte Sohn Davids werden. Dabei ist das Hauptgewicht der Ankündigung nicht auf die Davidssohnschaft im Sinne der natürlichen Abstammung gelegt, sondern auf die Thron-Nachfolge und die ewige Herrschaft im Haus Jakob.61 Im Vers 35 antwortet der Bote des Herrn, also Jahwe auf 60 Den damit angesprochenen Problemen, die mit den üblich gewordenen Begriffen wie Hoheitstitel“

(meistens in den christologischen Fragestellungen verwendet), „Gottesprädikationen“ (die, wie es immer wieder formuliert wird, auf Jesus übertragen werden) u. ä. aufgestellt sind, werden wir uns in einem besonderen Exkurs zuwenden; darauf sei hier verwiesen. 61 Was Schürmann zu 1,32f als Auslegung meint sagen zu sollen, ist nicht akzeptabel: „32f Im folgenden wird das verheißene Kind grundlegend als der erwartete Messias aus dem Hause Davids beschrieben. Ganz anders als in 1,15b.c wird hier nun die ‚Größe‘ des verheißenen Kindes … als

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die Anfrage Marias mit der Ansage dessen, was er, Jahwe, zu tun sich entschlossen hat. Es ist, wie wir schon gesehen haben, Gott allein als der erklärt, der handeln/ wirken (hilflose Wörter!) wird, damit sein Verheißungswort von ihm her und aus ihm seine Erfüllung, d. h. seine Wahrheit und Wirklichkeit erlange. Dabei wiederholt Jahwe, was er selbst zuvor schon in 1,31f ausgesprochen hatte. Aufgrund des eigenen Seins und Wirkens Gottes wird das/der Geborene „heilig genannt werden, Sohn Gottes“.62 Dieses Verständnis der besprochenen Verse wird durch die Antwort Marias an Gott in 1,38 bestätigt: „Mir geschehe nach deinem Wort“. Wir erkennen: Der, dem Maria den Namen „Jesus“ (der in 1,31 nicht übersetzt oder erklärt wird; anders Mt 1,21) geben soll, wird in Lk 1 mit folgenden Wendungen näher charakterisiert (sie sprechen je als einzelne wie zusammengeschaut Bedeutungsvolles aus): „Groß“, „Sohn des Höchsten“, „Thronerbe Davids“ (32), „Herrschender über das Haus Jakob“, dessen „Reich kein Ende hat“ (33), „Heilig“ und „Sohn des Höchsten“ (35). Alle diese wie eigennamentlich klingende Benennungen gelten dem, dem Gott den Namen „Jesus“ (als Haupteigennamen) zu geben aufträgt. Sie zeigen alle das persönliche Sein und den Lebensauftrag Jesu näher an. Umgekehrt erscheint es übrigens nie, daß „Jesus“ zur Spezifizierung eines anderen angewendet würde, was auch in Bezug auf „Christus“ als (gebräuchlich gewordenen) Eigennamen gilt. Für das LkEv insgesamt haben wir dieses Auffallende schon erkannt (s. o.). In Lk 2 werden alle Begebnisse und Aussagen namentlich mit „Jesus“ oder mit entsprechenden Pronomina u. ä. („er“, „ihn“, „das Kind“) berichtet oder vorgestellt (2,11 „geboren“; 2,12.16.17.22.27.33.34.40.43). In 2,52 ist „Jesus“ alleinstehend gesetzt: „Jesus nahm an Weisheit zu …“. Eine Spezifizierung, die wir schon besprochen haben, finErfüllung der prophetischen Worte 2 Sam 7 und in Anklang an Is 9,5f näher bestimmt: ‚Sohn des Allerhöchsten‘ wird das Kind sein. Der unmittelbare Kontext (VV 32b-33 im Vergleich mit 2 Sam 7,13.14.16; 1 Chr 22; und Ps 2,7; 89,27–30) läßt zunächst nur an eine Messiasprädikation denken. Daß damit hier aber nicht nur ein Titel verliehen, sondern etwas Vorgegebenes zum Ausdruck gebracht ist, in dem die messianische Herrschaft erst gründet, wird im Zusammenhang mit V 35b deutlich: ‚Größe‘ und ‚Gottessohnschaft‘ eignen schon dem irdischen Jesus …“ (47f). Vom „Messias“ (x:yvim' – Gesalbter) ist in den angegebenen Texten überhaupt keine Rede! „x:yvim' – cristo,j“ ist ein Prädikat neben anderen, das auf Jesus angewendet wird. Hier bei Schürmann liegt ein Beispiel vor für die (leider) allgegenwärtige Engführung aller ntl. Aussagen zu Jesus auf „christo-logisch“. Hier wird in der Auslegung sogar „Groß“ (Sch. macht daraus „Größe“!), „Gottessohnschaft“ (in 32 „Sohn des Höchsten“) u. a., alles „Prädikate“, die Gott meinen, als „Messiasprädikation“ bezeichnet. Wir werden auf dieses Problem noch eigens einzugehen haben; s. d. 62 Die Auslegung von 1,35 durch Schürmann ist unzureichend und irreführend: „Das eigentliche Erzählungsinteresse der ganzen Perikope lichtet sich hier: die ‚Heiligkeit‘ und ‚Gottessohnschaft‘ Jesu bis in die Ursprünge seines Wesens in Gott zu verankern – ein Versuch, dem in anderer Weise auch der Stammbaum dienen will … so geschieht hier neue Schöpfung … Weil das Kind in seinem Ursprung gänzlich gottgewirkt ist, wird es durch und durch ‚heilig‘ sein … Die schöpferische Tat des pneu/ma a[gion im Schoße der Jungfrau wird also betont, um die ‚Heiligkeit‘ Jesu theologisch zu begründen“ (53f). Auch dem mit dieser Auslegung errichteten Problem werden wir uns im folgenden noch zu widmen haben; s. d.

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det sich in 2,11: „geboren ist euch (der) Heiland, der ist Christus Herr“ (s. o.). Die Benennung „Heiland“ kann auch in 2,30 im Lied des Simeon vorliegen: „Meine Augen haben gesehen dein Heil (to. swth,rio,n sou)“. Einmalig ist der Satz Jesu an Josef und Maria in 2,49: „Wußtet ihr nicht, daß ich in dem meines Vaters sein muß (evn toi/j tou/ patro,j mou dei/ ei=nai, me)?“ Dies bestätigt unsere Erklärung zu 1,31–35, nämlich daß dort in eindeutiger Redeweise Jahwe als der „Vater Jesu“ bekundet ist (s. o.). Daher gilt: „Christus“ ist eine Benennung, die für Jesus gilt und von ihm eine spezifizierende Aussage macht (was nie umgekehrt der Fall ist). Immer ist es Jesus, von dem einzelnes bekundet wird, das jeweils nur eine Teil-Aussage über ihn enthält. Was in den betreffenden Stellen an reichen Aussage-Inhalt ausdrücklich ausgesagt wird, haben wir schon erhoben. Alles in allem beachtet ist zu sagen: Alle Aussagen zu Jesus sind (wenn man schon meint, so unterscheidend sprechen zu müssen, was aber keineswegs geboten ist!) jesu-logischer Art und folglich jesu-logisch zu lesen und zu interpretieren, keineswegs christo-logisch. Es steht keine biblische Kategorie zur Verfügung, die Letzteres rechtfertigen würde. Wenn wir, was zweifellos geboten erscheint, vor allem theologisch-systematischen Zusammenschauen und Ausdeuten (im heutigen Sinn!) die Bibel und die Apostolische Kirche zunächst selbst und allein sprechen lassen, dann stellen sie genügend an Denk- und Sprachmöglichkeiten zur Verfügung, um die Bibel als Wort Gottes vollgültig zu verstehen (was keineswegs ein Weiterdenken mit allen seinen Folgen verhindert, sondern überhaupt erst ermöglicht und begründet, ja dazu aufruft).63

3. Josef und Maria als die Eltern Jesu

Wie wir es schon für Mt 1–2 feststellen konnten, so werden Josef und Maria auch in Lk 1–2 immer zusammen aufgeführt. Sogleich im ersten Vorkommen ihrer Namen in 1,27 werden beide ausdrücklich als Ehepaar im Hause Davids genannt.64 Auch die Anfrage Marias an den Boten des Herrn (1,34) spricht von beiden in ihrer momentanen gemeinsamen Lebenssituation: Sie sind verehelicht und haben das eheliche Miteinanderleben gemäß damaligem jüdischen Brauch noch nicht begonnen.65 In 2,4f wird berichtet, daß Josef zusammen „mit Maria, seiner Frau“ nach Bethlehem, der Stadt Davids zur Aufzeichnung zog, „weil er aus dem Hause und Stamme Davids war“. Wir bemerken die unmittelbare Zusammennennung von Josef aus der Davids63 Hier sei auf den Exkurs „Theologie – Christologie; eine Problemanzeige“ im Anhang I hingewie-

sen; dort besprechen wir das gestellte Problem sogleich im Blick auf alle ntl. Texte, die wir in dieser Untersuchung betrachten. 64 Vgl. dazu die ausführlichen Darlegungen oben A.III.3 65 Dazu sei auf unsere Besprechung von Mt 1 im Teil A hingewiesen, wo ausführlich zu dem jetzt angesprochenen Fragekomplex entsprechende Erkenntnisse vorgelegt werden.

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familie mit seiner Ehefrau, die in diesem Sinne rechtlich in den Stamm Davids eingegliedert war. Die Hirten gehen auf Geheiß des Boten des Herrn nach Bethlehem und „finden dort Maria und Josef und das Kind in der Krippe“ (2,16; wir beachten hier die Reihung der Namen). – Josef allein wird im LkEv dann noch an zwei Stellen genannt: Mit dem kurzen Satz 3,23 wird der Übergang des Berichtes des (sog.) öffentlichen Auftretens Jesu (3,1–22) hergestellt, der zugleich das erste Glied des lukanischen Stammbaumes Jesu ist: „Und Jesus war, als er begann, ungefähr 30 Jahre; (er) war (der) vermeintlich (der) Sohn (des) Josef, des Heli, des Matthat …“.66 Dieser Aussage entspricht die des Verses 4,22: „Und alle … wunderten sich … und sprachen: Ist dieser nicht Sohn Josefs?“.67 – Maria wird an folgenden Stellen allein genannt: Zunächst im Bericht von ihrem Besuch bei Elisabet in 1,39.41.56. Sodann wird der Lobpreis Marias (1,46–55) eingeleitet mit: „Und es sprach Maria: …“ (46). Daß an diesen Stellen Maria allein genannt wird, versteht sich problemlos. Dann ist die Bemerkung darüber, wie Maria sich dem Erlebten gegenüber verhält, an zwei Stellen angegeben. In 2,19 heißt es: „Maria aber bewahrte alle diese Worte (wohl das hebräische rb'D' in seiner Bedeutung Wort, Rede, Geschehnis), sie im Herzen überdenkend“. Ähnlich dann in 2,51: „Seine Mutter bewahrte alle diese Worte in ihrem Herzen“. Schließlich ist das Wort des Simeon an Maria in 2,34f anzugeben: „(er) sprach zu Maria: Siehe, dieser … und auch durch deine Seele wird ein Schwert hindurchgehen“. In den zuletzt genannten Fällen waren übrigens auch Josef und das Kind mit dabei. Daher gilt, daß beachtenswerterweise Josef und Maria in Lk 1–2 immer gemeinsam aufgeführt erscheinen, und zwar in ihrem gott-gewählten Bezug zu Jesus. Wir beachten, daß auch in Lk 1–2 von Josef und Maria ganz selbstverständlich als Ehepaar im Hause Davids die Rede ist. Es werden z. B. die ersten zwölf Lebensjahre Jesu im Sinne und in der Weise des israelitisch-jüdischen Familienlebens in ihren für Israeliten wichtigen Momenten hervorgehoben. Das gilt besonders für die penible Gesetzeserfüllung, in die der junge Israelit durch den Vater durch Unterricht und Einübung eingeführt werden mußte (vgl. dazu auch Gal 4,4). In solchem Zusammenhang sind Wendungen wie „Eltern Jesu“ voll verstehbar; sie sprechen schlicht vom Ehepaar Josef und Maria, denen ja Gott selbst seinen Sohn als ihren Sohn anvertraut hat. Daß diese, hier nur angedeutete Tatsache in den Aussagen des ntl. Textes nie Thema einer exegetischen und theologischen Überlegung angesehen worden ist, bleibt rätselhaft im Anblick auf die vielen eingehenden „mariologischen“ u. ä. Überlegungen und Abhandlungen. 66 Wir geben den Text in möglichst engem Anschluß an den griechischen wieder. Meist wird über-

setzt: „Er war, wie man annahm, ein Sohn des Josefs“. Da „ui`o,j“ ohne Artikel steht und im dort folgenden nur mittels des Genitivs das Sohn-Sein erklärt wird, sollte auch für Jesus in seinem Bezug zu Josef schlicht „Sohn“ beibehalten bleiben, da „ein Sohn“ statt des artikellosen „ui`o,j -Sohn“ Irriges suggeriert. Wir brauchen das hier nicht weiter zu verfolgen. 67 Vgl. die vorige Anmerkung. Auch hier in 4,22 steht artikelloses „ui`o,j“, das somit schlicht den tatsächlichen und offensichtlich allgemein akzeptierten Status Jesu als Sohn Josefs gemäß jüdischem Recht aussagt.

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Abschnitt B:

Lk 1–2 — Text – rechte Übersetzung – theologische Erfassung seiner Aussagen

Dadurch wird theologisch und christologisch wichtigen Aussagen Unrecht getan. Wir werden am gegebenen Ort dieses Problem noch weiter zu besprechen haben.68

4. Weitere bemerkenswerte Feststellungen a) Zu einigen befremdlichen Aussagen über Gott und sein Wirken

Wir haben oben Gott als Hauptsubjekt dessen herausgestellt, was in Lk 1–2 bekundet ist (III.1). Dem dort Aufgeführten sind einige Feststellungen der Kommentare anzufügen, die äußerst bedenklich, wenn nicht gar inakzeptabel sind. Sie entsprechen von Grund auf nicht dem in 1–2 tatsächlich Ausgesagten. Wir meinen damit das Sprechen vom Wirken Gottes, von Wundern und anderen gottgewirkten Taten, d. h. von Ereignissen, die Gott zum Urheber haben und entsprechende Tatbestände erwirken. Dasselbe gilt für das Sprechen vom Eingreifen und (Heils)Handeln Gottes in der Geschichte Israels wie des Lebens einzelner namentlich Genannter. Insbesondere das vom Evangelisten zur Herkunft Jesu Christi Bekundete wird mittels dieser Denkund Sprechweise ausgelegt und ausgedeutet. Das hat letztlich dazu geführt, den eigentlichen Hauptaussageinhalt von 1–2 mit der sachlich verfehlten (jedoch allgemein üblich gewordenen) Wortbildung „Jungfrauengeburt“ anzugeben und exegetisch und systematisch-theologisch zu diskutieren. Der Lk-Text selbst verwendet nie diese Art zu reden; er bedient sich vielmehr der biblisch begründeten Denk- und Sprechweise. Es ist das freilich ein allenthalben bedrängendes Problem, für das erzählend-bekundende Reden vom Dasein und Tätig- wie Wirksam-Sein Gottes in unseren heutigen Sprachen die rechten Allgemeinbegriffe und gültigen Sprachausdrücke zu finden und bibelgerecht einzusetzen. Noch bedrängender zeigt sich das im heutigen theologischwissenschaftlichen Sprechen, wenn es herauszuarbeiten und darzustellen gilt, was die heilige Schrift uns heute zu sagen hat. Für den Kommentar Schürmanns (wie für viele andere) ist festzustellen, daß er sich gerade an wichtigen Stellen von 1–2 nicht an die von Lukas selbst verwendeten Verben und Redeweisen hält, sondern eine Terminologie gebraucht, die in vielem sachfremd, ja sogar ausgesprochen verfehlt ist. Wir nehmen uns hier nur die Kommentar-Aussagen zu 1–2 vor, die für unsere eigentliche Untersuchungsfrage (Herkunft Jesu Christi) von entscheidender Bedeutung sind. An zwei Text-Beispielen wird deutlich sichtbar, worauf wir zu sprechen kommen müssen. In ihnen begegnet nämlich das kritisch zu Hinterfragende kumulativ.69 Das erste 68 Vgl. zum Ganzen den Exkurs „Das Ehepaar Josef und Maria in der ntl. Bekundung des Heilsge-

schehens“. 69 Wir haben oben betont, daß wir, um nicht ins Uferlose zu gelangen, hier nur auf den Kommentar

Schürmanns für Beispiele zurückgreifen, was auch für das jetzt Folgende gilt. Andere Kommentare wurden eingesehen, was hier aus Platznot nicht dokumentiert werden kann.

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III.

Zu einigen Kernaussagen in Lk 1–2

Beispiel: Einführend zur Auslegung von 1,5–56 (Überschrift: Die Verheißung) lesen wir: „Die beiden Verkündigungsperikopen 1,4–25 und 1,26–38(39–56) erzählen in mancher Hinsicht schematisch nach einer Weise, die schon im AT für Geburtsverheißungen (…) und göttliche Sendungen (…) vorgeprägt war … Die Erzählung denkt heilsgeschichtlich im Schema Verheißung – Erfüllung (s. o.): Schon die erste Erzählung über die wunderbare Lebensentstehung des Johannes scheint zwar – isoliert gelesen – mit ihrer Kumulation von Anspielungen alles zusammen und auf den Höhepunkt bringen zu wollen, was Gott in den alten Tagen an großen Männern der Vorzeit ähnlich getan hat. In Zusammenordnung mit der zweiten Verkündigungserzählung will sie aber vor allem zeigen, wie sehr Gottes bisheriges Heilshandeln am Ende in Jesus seine unüberbietbare Höhe bekommt“ (25f). – Das zweite Beispiel stammt aus den einleitenden Sätzen zu 1,26–38 („Ankündigung der Geburt Jesu“) und lautet so: „Die Erzähltendenz der Verkündigungsszene ist eminent christologisch: Es geht letztlich darum, die dem Glauben feststehende Messianität und ‚Gottessohnschaft‘ Jesu theologisch zu gründen. Das geschieht durch den Aufweis, wie Jesus sein menschliches Dasein der schöpferischen Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau verdankt. Der Bericht schildert von Anfang bis Ende … Gottes Wirken im Lichte der Prophetie Jes 7,14 LXX; … es geht aber nicht nur darum, die Verheißung der Jungfrauengeburt als erfüllt zu bezeugen; die Lebensentstehung Jesu ist dem Bericht vielmehr wichtig, weil an ihr christologische Aussagen deutlich werden: (unmittelbar) Jesu ‚Heiligkeit‘ und (mittelbar) die in Gott gründende ‚Gottessohnschaft‘ offenbaren sich darin; vgl. V 35. So wird Jesu ‚Messianität‘… gleich zu Beginn stabil fundiert, und zwar auf einem Bekenntnis, auf einer christologischen Wesensaussage: Jesus ist der ‚Heilige‘ Gottes, der aus einer Jungfrau geborene ‚Sohn Gottes‘ und als solcher ‚Messias‘“ (40). In diesen Textpassagen begegnet eine beachtliche Anzahl von Wendungen, die in ihrer sprachlichen Wortbildung und in der ihnen zugewiesenen sachlichen Bedeutung auffallen. Es sind diese: „Verkündigungserzählungen“ und „Geburtsverheißungen“; das „Schema Verheißung – Erfüllung“; „Gottes Wirken, Senden, Heils-handeln“; die „unüberbietbare Höhe des bisherigen Heilshandelns Gottes“; „schöpferische Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau“ als „Wunder“ (mit „wunderbar“); „Jesu ‚Gottessohnschaft“; „Verheißung der Jungfrauengeburt“; „Jesu menschliches Dasein“; „Lebensentstehung des Johannes und Jesu“; „christologische Wesensaussage“ und „eminent christologisch“; „aus einer Jungfrau geboren“. Auf nur befremdlich klingende Wendungen gehen wir hier nicht weiter ein, wie etwa diese: „die in Gott gründende ‚Gottessohnschaft‘ Jesu“ (40). In ihr ist das einfache und ohne weiteres gut verstehbare „Sohn Gottes“ durch das Abstraktum Gottessohnschaft (zusätzlich mit Anführungsstrichen geschrieben) ersetzt; dazu wird die umwerfende Tatsache festgestellt, daß für Jesus Sohn Gottes zu sein „in Gott gründet“! – Wir gehen jetzt den angegebenen Punkten einzeln nach.

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Abschnitt B:

Lk 1–2 — Text – rechte Übersetzung – theologische Erfassung seiner Aussagen

aa. Wir haben schon früher festgestellt und besprochen, daß die Einordnung von 1,5– 25 und 1,26–38 in das Schema der sog. Verkündigungserzählungen und Geburtsverheißungen des AT problematisch ist; es verschleiert die Sicht auf das dort tatsächlich Ausgesagte.70 Es wird von einer Überbietung der ersten durch die zweite Ankündigung gesprochen, und das dazu, die Eigenart des Wirkens Gottes in diesen Geschehen herauszustellen.71 Das wird meist so verstanden und vorgestellt, daß es ein besonderer schriftstellerischer Kunstgriff des Evangelisten sei, um die alles überragende Bedeutsamkeit Jesu herauszustellen. Lukas dagegen will, wie er in 1,1 sagt, das aufschreiben, „was geschehen ist unter uns“. Ein „Überbieten“ des einen durch ein anderes in Lk 1 zu sehen, ist eine Erfindung der Kommentatoren, die meinen, Komparative oder vom Evangelisten beabsichtigt komparativ sprechende Darstellungen aus dem Text lesen zu können oder zu müssen.72 Die aufeinander folgenden Ereignisse in der Geschichte Gottes mit Israel zeigen jedoch deutlich an, daß – wenn man schon meint, so sprechen zu müssen – Gott in seiner Treue sich-selbst überbietet im Sich70 Vgl. dazu das oben Herausgearbeitete in Bezug auf das Befolgen von Erzählschemata in dem bi-

blisch-geschichtlich zu Bekundenden und dessen Darstellung im biblischen Text. 71 Das im zitierten Text gegebene Stichwort „Überbietung in den Johannes- und Jesusbegebenheiten“

(so Schürmann 25) findet sich noch öfter. So heißt es: „Die verheißende Doppelerzählung 1,26– 38(39–56) ist geschlossener und konzentrierter als die Ankündigung 1,5–23(24–25), dazu überbietet sie den ersten Bericht inhaltlich. Man könnte das Verhältnis mit dem eines ‚klimaktischen Parallelismus‘ vergleichen: Die zweite Aussage übersteigt die erste und führt weiter. So wunderbar die Empfängnis des Johannes war: im Zusammenhang illustriert sie doch nur die Möglichkeit des noch größeren Wunders im Schoße Mariens (VV 36f.39–56). Die Doppelerzählung mit ihren beiden Teilen 1,26–38.39–56 überschattet so die in sich zweiteilige Erzählung 1,5–23.24–25, subsumiert sie und macht sie sich dienstbar … Es geht nicht mehr nur darum, die Größe des Johannes und den Verpflichtungscharakter seiner Predigt zu erweisen; vielmehr soll an der wunderbaren Lebensentstehung des Johannes deutlich werden, daß Gott selbst eine jungfräuliche Empfängnis nicht unmöglich ist (vgl. 1,36f.45). Johannes ist Jesus im Zusammenhang untergeordnet – nicht aber so sehr als dessen ‚Vorläufer‘ (das deutet Luk nur V 17 an); vielmehr wird hier die ‚Größe‘ Jesu (1,32) an dem ‚großen‘ Johannes in der Weise illustriert, daß seine Lebensentstehung als noch wunderbarer hingestellt wird“ (27f). Das wird später nochmals wiederholt: „Die Erzählung von der Geburt Jesu bildet innerhalb des zweiten Teils der Vorgeschichte das überbietende Gegenstück zu der von der Geburt des Johannes. Mit ihr kommt der siebenfältige Erzählkranz auf seinen hohen Gipfel“ (97). 72 In den in der vorigen Anmerkung vorgelegten Texten ist deutlich angegeben, was man meint komparativisch verstehen zu müssen. Formulierungen wie „wunderbare Empfängnis des Johannes“ und „das noch größere Wunder im Schoße Mariens“ haben aber im Text keinerlei Fundament. „Wunder“ gebraucht Lukas in 1–2 nie; um so weniger bringt er wertende Vergleiche zwischen dem einen und dem anderen Bekundeten als „wunderbares“ und „noch wunderbareres Faktum“. Es ist überhaupt nicht die Absicht des Lukas zu erkennen, die „Lebensentstehung Jesu“ (auch dazu: Was ist das?) mit der des Johannes oder das Geschehen der „Empfängnis des Johannes“ mit der (sog.) „jungfräulichen Empfängnis Jesu“ vergleichend-wertend zu bekunden oder das eine dazu zu benutzen, um das andere als das alles Überragende betont darzustellen („hinzustellen“ schreibt Schürmann). Auch die Wendung „unüberbietbare Höhe des Heilshandelns Gottes in Jesus“ (26) ist absolut unangebracht; denn wer will ermessen, und womit?, wann und wo Gott an seinem „Unüberbietbaren Ende“ (ebd.) angelangt ist?

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III.

Zu einigen Kernaussagen in Lk 1–2

Mühen um das Heil der Welt. In dieser Geschichte sieht man, zurückschauend, ein wiederholtes Scheitern Gottes in der Verfolgung seines Heilsverwirklichungsplanes, das jedoch aufgrund des Sich-Verweigerns derer, denen er das Heil schenken, und nicht machtvoll aufzwingen wollte und will. Davon handelt doch gerade Jes 7 (und Jes insgesamt wie die Propheten), auf das sich Lukas bezieht. Wird das berücksichtigt, dann erkennt man, daß ja auch mit der Geburt Jesu noch keineswegs der Gipfel (so Schürmann) erreicht war, sondern, gerade dem LkEv zufolge, erst auf dem Kalvarienberg im Kreuzestod dieses Heilandes. Denn wäre dieser in seinem öffentlichen Lebensauftrag zum gott-geschenkten Zeitpunkt angenommen worden (hier müssen wir aus heilsgeschichtlicher Sicht im Konjunktiv reden, der jedoch geschehene brutale Wirklichkeit bekundet), so hätte Golgota kein Heils-Ort werden müssen!73 bb. Wir haben einleitend an zwei Beispielen, denen zahlreiche weitere Texte zugesellt werden können, gezeigt, daß in den Kommentaren zur Angabe eines „Tuns“, „Tätigseins“ und „Agieren“ Gottes in dem in 1–2 Bekundeten Wendungen wie „Wirken“, „Handeln“, „Eingreifen“ u. a. eingesetzt werden, die im Lk-Text gar nicht vorkommen. Dort sind es ganz andere Verben und entsprechende Substantive wie „Gott spricht“, „er sendet“, „gibt Gnade“, „erbarmt sich“, „ist besorgt um“ und zahlreiche andere, die das mit ihnen Ausgesagte eigentlich deutlich genug zu verstehen geben.74 Durch 73 Was von Gott her im Falle der Annahme Jesu seitens derer, zu denen er im Kairos Gottes gesandt

war, Wirklichkeit geworden wäre, haben wir nicht zu reflektieren; es geht ja um die wirklich geschehene Geschichte. Zugleich muß die Feststellung des LkEv und der ganzen Heiligen Schrift beachtet bleiben, daß ja auch mit dem Kreuzestod Jesu noch längst nicht das erreicht war, auch von Gott her noch nicht, was sich erfüllen sollte in den folgenden Tagen der Auferweckung Jesu durch Gott, in der Aufnahme Jesu, der Geistsendung, der Kirchengründung durch Gott und in allen weiteren Heilsgeschehen bis hin zu dem „Termin“, den Paulus in 1 Kor 15,28 genau angibt. In alle dem jetzt Genannten muß unbedingt mit-gesehen und mit-beachtet werden, daß vom Dasein und Wirken Gottes in diesem Welt-Geschehen die Rede ist und sein muß, als historisch Sich-Ereignendes, wobei die Frage, ob wir das nach historischen Methoden und Beurteilungsweisen heutigen Verständnisses einholen können, hier deplaziert und müßig ist. 74 Ein Überblick über alle in 1–2 von Lukas verwendeten Verben und Substantive ist sehr aufschlußreich. In 1.1 begegnet „erfüllen“ im theologischen Passiv, in Bezug auf pra,gmata (pra/gma nach Bauer: das, was getan ist, Tatsache, Ereignis). Das Verb pra,ssw bedeutet nach Bauer: „vollbringen, tun (oft ohne Unterschied zu poiei/n)“. So sagt 1,1 tatsächlich: „was Gott erfüllt hat, sind die Ereignisse, die Lukas aufschreiben will“, nicht, wie oft übersetzt wird, „die geschehenen Begebenheiten“. In 1,11 ist vom Boten des Herrn (also von Gott) das Erscheinen und Sprechen ausgesagt, was bedeutet: Gott macht sich bemerkbar, hörbar, wahrnehmbar. Dazu sogleich 1,13: „Der Bote sprach: Dein Gebet ist erhört“ (theol. Passiv; also Gott erhört). In 1,19: „Ich bin Gabriel, gesandt mit dir zu sprechen und dir zu verkünden“ (wieder theol. Passiv und Sprechen-im-Namen-Gottes, was ja sagt: Gott sendet, spricht, gibt sich und sein Anliegen zu verstehen, verkündet frohe Botschaft). – In 1,20 findet sich wieder „erfüllen“ im theol. Passiv; ähnlich 1,57. – In 1,25 sagt Elisabet: „so hat mir der Herr getan“; der Dativ ist zu beachten; die gängige Übersetzung „an mir getan“ (so auch Schürmann) und deren Anwendung verfälschen die Aussage (dazu ist oben im Haupttext die Richtigstellung gegeben; s. d.). Das Verb „tun“ mit purem Dativ findet sich auch im Munde Marias 1,49: „Denn Großes hat mir getan der Mächtige“. Das erinnert an 1,38: „Mir geschehe nach deinem

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Abschnitt B:

Lk 1–2 — Text – rechte Übersetzung – theologische Erfassung seiner Aussagen

die Wortwahl und Formulierungsweise der Kommentare wird die Aussage des LkTextes selbst oft entstellt, wenn nicht gar mißdeutet. Für die Textstellen in 1–2 zur Herkunft Jesu Christi ist das von alles entscheidender Bedeutung. Das sei zunächst an zwei Beispielen aufgewiesen; wir werden dann dem damit aufgeworfenen Problem systematisch nachgehen. Ein erstes Beispiel: Der Satz der Elisabet in 1,25 „so hat der Herr (Kyrios) mir getan in den Tagen, da er gnädig darauf sah, von mir zu nehmen meine Schmach“ wird im Kommentar so wiedergegeben: „Elisabeth anerkennt ihre Schwangerschaft als Tat Gottes, der gnädig die Schmach ihrer Kinderlosigkeit von ihr nahm“ (39). Das ist schlicht eine Verfälschung der Text-Aussage. Denn dort hat das Tun (pepoi,hken) des Kyrios das „gnädig darauf schauen“, d. h. das Darum-Besorgtsein Gottes zum Inhalt, die Schmach von ihr zu nehmen (so Schürmann selbst: 39 Anm. 84). Schwangerschaft ist keine Tat, am wenigstens Gottes, sondern stets FolgeZustand eines Tuns/Wirkens (davon ist in 1,23–24 auch ausdrücklich die Rede). Was genau Gott in diesem Fall konkret getan hat (pepoi,hken), ist überhaupt nicht angegeben. Folglich ist die Offenheit der Aussage gelten zu lassen, wenn zuerst das explizit Ausgesprochene erhoben werden soll.75 – Ein zweites Beispiel: Im einleitenden Text Wort“. Zu 1,49 ist auch 1,48 bedeutsam: „er hat hingesehen auf die Niedrigkeit seiner Magd“ als Angabe dessen, was Gott getan hat (was sicher kein „Wirken“ im gängig eingesetzten Sinn bedeutet); s. dazu auch, was oben zu 1,26 herausgestellt wurde. – Das oben zu 1,28 Festgestellte („der Herr, Kyrios, ist mit dir“) läßt an Mt 1,23 und 28,20 denken: Immanuel ist Gottesname = er selbst!; es bedeutet unmittelbar Gottes persönlichen Selbstvollzug (wenn man so formulieren muß), das, worin man persönlich da-ist und es lebt. – In 1,35 ist hervorzuheben: „heiliger Geist wird über dich kommen“ und „Kraft des Höchsten wird dich überschatten“: beide Verben geben an, was Gott in dem, was in 1,35 in biblischen Wendungen formuliert ist, tun wird. Was das, näherhin spezifizierend gefragt, genau ist, was Gott da tut (um mit Lukas zu sprechen), ist nicht erklärt; auch Maria ließ es offensichtlich offen, als sie sagte: „Mir geschehe, was du gesagt hast“ (38). – In 1,51 steht: „er tat Macht(tat) – Vepoi,hsen kra,toj“, was anschließend mit „zerstreuen“, „vom Thron stürzen“ näher und offensichtlich beispielhaft bestimmt wird. – In 2,9 ist die Rede von der „Herrlichkeit (do,xa) des Kyrios, die die Hirten umstrahlte (kommt nur in Lk 2,2,9 und Apg 26,13 vor!). – In 2,15 steht; „das Wort/Faktum, das geschehen (gi,nomai) ist, das der Herr (ku,rioj) uns kundgetan hat“. 75 Zur Formel „die Schwangerschaft der Elisabet Tat Gottes“ seien noch diese Kommentar-Aussagen angefügt, weil in ihnen weitere unberechtigte Wendungen eingesetzt sind. Zu 1,57ff sagt Schürmann im gegebenen Kontext: „Mit der Geburt eines Sohnes erweist sich die Engelverheißung von 1,13 als erfüllt. In der … Verwandtschaft wird dieses Ereignis als eine Großtat der Barmherzigkeit Gottes an der betagten kinderlosen Frau gewürdigt“ (82; wir bemerken den Ausdruck „Großtat der Barmherzigkeit Gottes“, der im Text keine Begründung hat). – Zu 1,5–25 heißt es einleitend u. a.: „Johannes … weil seine Sendung ganz in Gott gründete. Das wird illustriert (!) durch das wunderbare Eingreifen Gottes bei seiner Lebensentstehung schon im Mutterschoße … an der wunderbaren Lebensentstehung des Johannes soll deutlich gemacht (!) werden, daß selbst eine jungfräuliche Empfängnis nicht unmöglich ist“ (27). Die Formulierungsweise in diesen Sätzen ist unerträglich. Von „Gottes Eingreifen im Schoße der Mutter“ zu sprechen ist sachlich und sprachlich untragbar. Und daß vom „Wunder“ in der Elisabet deswegen die Rede sei, um die „jungfräuliche Empfängnis“ als „nicht unmöglich“ zu erweisen, widerspricht dem Lk-Text auch in dessen gänzlich anderer Intention und faktischer Aussage. – Zu 1,36f liest man u. a.: „es will demonstrieren, daß Gott auch eine jungfräuliche Empfängnis bewirken kann: Die späte, ebenfalls wunderbar gewirkte Schwan-

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III.

Zu einigen Kernaussagen in Lk 1–2

zur Auslegung von 1,26–38, den wir oben schon zitiert haben, heißt es bei Schürmann: „… die ‚Gottessohnschaft‘ theologisch zu gründen. Das geschieht durch den Aufweis, wie Jesus sein menschliches Dasein der schöpferischen Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau verdankt. Der Bericht schildert von Anfang bis Ende (vgl. VV 27.30f.34ff ) Gottes Wirken im Lichte der Prophetie Is 7,14 LXX …, die Verheißung der Jungfrauengeburt als erfüllt bezeugen; die vaterlose Lebensentstehung Jesu ist dem Bericht wichtig, weil an ihr christologische Aussagen deutlich werden“ (40).76 Hier ist vieles dringend zu hinterfragen. Aus welchen Wörtern oder Aussage-Elementen des LkTextes liest (oder erschließt) Schürmann das, was er einleitend (!) zu 1,26–38 so vorbringt? Worin gründet eine solche Auslegung, und mit welchem Recht? Wie spricht dagegen der Lk-Text, und welche Ausdrücke verwendet er? Das ist für 1–2 bei unvoreingenommenem Lesen eindeutig und klar, gerade auch in Bezug darauf, was Gott „tut“. In 1,30 spricht Gott (in seinem Boten) mit Maria, die er zuvor (1,28) als „Begnadete“ begrüßt und ihr sein „Mit-dir-Sein“ zugesprochen hatte.77 In 1,32 erklärt sich „Gott der Kyrios“ als den, der „den Thron geben wird“, worin die ganze Geschichte Gottes mit Israel ins Wort gebracht ist, mit dem von Gott selbst bestimmten „Sach“Inhalt seiner Verheißung. Auf die Anfrage Marias spricht Gott (er gibt sein Wort!). Er eröffnet, was er zu tun beabsichtigt: „heiliger Geist wird über dich kommen und Kraft des Höchsten wird dich überschatten“ (35).78 Die Antwort Gottes ist im (biblisch häufig gebrauchten und stets recht verstandenen) Parallelismus membrorum formuliert. So sagt beides dasselbe eine aus: Gott gedenkt das zu tun, was dieser Satz ausspricht.79

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gerschaft der als unfruchtbar geltenden Verwandten Elisabeth, die schon im 6. Monat ist, ist nun öffentlich bekannt. Sie beweist, daß Gott alles vermag“ (56; s. dazu das zum vorher besprochenen Text Gesagte). Wir beachten, daß diese einleitend-zusammenfassenden Kommentarsätze, die sich auf 1,26–38 („Die Ankündigung der Geburt Jesu“!) beziehen, als „theologische Gründung für das dem Glauben Feststehende“ (muß das theologisch gegründet werden?) ausgegeben werden! Dieses wird in der „Messianität und ‚Gottessohnschaft‘ (in Anführungsstriche!)“ gesehen! Die Aussage erscheint zugleich reduziert auf „sein menschliches Dasein“. Von den mit „Ankündigung der Geburt Jesu“ überschriebenen Versen heißt es dann: „Der Bericht schildert (!) … Gottes Wirken …“! Die „Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau“ wird als „schöpferisch“ spezifiziert, was dann sogleich mit „vaterlose Lebensentstehung“ nochmals näher erklärt wird! Das „Begnadete“ in 1,28 ist als theologisches Passiv zu verstehen: Gott begnadet; es bekundet daher Gottes freies, persönlich-präsentisch-währendes „Tun“. Gott selbst gibt Maria diesen ihren Namen „Begnadete“ durch sein Tun. Und das in 1,28 sogleich mit dem zusätzlichen und doch dasselbe sagenden Zuspruch des eigenen Mit-dir-Seins, das ja persönlich-aktiver Seins- und Selbstvollzug ist: Ich bin, d. h. ich „tue“, „vollziehe“ mein eigenes Ich-selbst-Sein in dieser von mir frei bestimmten Weise; ich „mache“ mich-selbst zu dem, der dieser Mit-dir-Seiende ist. Das ist Gottes Immanuel-Sein, auf eine namentlich von ihm selbst genannte und angesprochene Person hin. Vgl. dazu das im Abschnitt B.II.2.3 Vorgetragene bezüglich der rechten Übersetzung und zur theologischen Erfassung von Lk 1–2. Zum rechten Verständnis der Wendungen „heiliger Geist wird über dich kommen“ und „Kraft des Höchsten wird dich überschatten“ sei auch auf den Exkurs 1.7 „Heiliger Geist“ (Geist bzw. heiliger Geist als Gottesname) hingewiesen, sowie auf folgende Lexika-Artikel: evpe,rcomai in EWNT 2,51f

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Abschnitt B:

Lk 1–2 — Text – rechte Übersetzung – theologische Erfassung seiner Aussagen

Von einem Wirken oder Bewirken, gar von einer „schöpferischen Tat im Schoße Marias“ spricht 1,35 gerade nicht! Auch andere Kommentarfeststellungen Schürmanns zu 1–2, die ähnlich sprechen, haben kein gültiges Fundament in dem im Lk-Text explizit Ausgesagten.80 Wir gehen jetzt den Kommentarstellen nach, in denen (wenngleich unberechtigt) vom Wirken Gottes spezifisch in Bezug auf die Herkunft Jesu Christi gesprochen wird.

(G. Schneider) und ThWNT II.678 (J. Schneider); evpiskia,zw in EWNT 2, 85–87 (G. Schneider). In ihnen wird auf die eigenartige Offenheit der jeweils betreffenden Wortbedeutung dieser Verben hingewiesen. S. d. 80 Folgende Text-Stellen des Kommentars Schürmanns, die ausdrücklich von „Tat Gottes“, von „Wunder“, vom „Wirken“, gar „schöpferischem Wirken Gottes“ u. ä. sprechen, ohne dafür im Lk-Text ein gültiges Fundament zu haben, seien hier zitiert und gegebenenfalls kritisch besprochen. Zu 1,5–25 heißt es u. a.: „So wunderbar die Empfängnis des Johannes war … die Möglichkeit des noch größeren Wunders im Schoße Mariens … das wunderbare Eingreifen (!) Gottes bei (!) seiner Lebensentstehung schon im Mutterschoße“ (27). – Zu 1,28 u. a.: „… geht doch die Begnadigung (wie Gn 6,8; 28,3) der danach erzählten göttlichen Tat voraus … So antizipiert auch kecharitomene in gnadenhaft effektiver (!) Weise, was im Folgenden verheißen wird: Gottes Gnade (!) bereitet sich (!) die jungfräuliche Messiasmutter (!)“ (44). – Zu 1,35 u. a.: „pneuma hagion … wird das Wunder in ihr wirken (!), die schöpferische Allmacht Gottes, bei dem „nichts unmöglich ist“ (37). „Das Bild (!) von der ‚Überschattung‘… durch die dynamis Gottes meint den gleichen schöpferischen Vorgang (!): Gottes Allmacht wird im Schoße Mariens ein Kind (!) erschaffen (!)“ (52). Dem wird sogleich hinzugefügt: „im AT und NT, wo Gott wunderbar mitwirkte (!) bei der Erzeugung (!) des Isaak … nur daß Gottes schöpferische Tätigkeit hier nun bis zur jungfräulichen Lebensentstehung (!) gesteigert (!) ist. … Weil das Kind in seinem Ursprung (!) gänzlich (!) gottgewirkt (!) ist, wird es durch und durch (!) ‚heilig‘ sein … Gottes Pneuma wird ihm schöpferisch lebenspendend (!) das Dasein (!) geben“ (52; 53f). Dazu wird sogleich (55) diese erstaunliche Feststellung gemacht: „Die Prädikation (!) hyios ist hier also charakteristisch vertieft verstanden – wenn auch noch nicht die metaphysische Tiefe (!) erreicht ist, die sie bei Paulus und Johannes hat. Die Aussage, die hier über den ‚Anfang‘ (!) Jesu gemacht ist, betrifft vordergründig nur mehr sein gottgewirktes irdisch-menschliches Sein. Das Wissen, daß Jesus als der Messias Geistträger (!) ist, ist hier (und Mt 1,18.20) überhöht bis zur Aussage über Jesu geistgewirkten (!) Ursprung (!)“. – Zu 1,38 u. a.: „Das Wort Mariens … da es in höchster Weise passive Verfügbarkeit (!) und aktive Bereitschaft (!) in einem bezeugt, tiefste Leere und höchste Fülle zugleich (!) … Die Bereitschaft (!) Mariens hat Gott Raum gegeben (!), der nun sein Wunder (!) wirkt“ (58). – Zu 1,39–45 u. a.: „Hier steigert sich das Bekenntnis zu den gottgewirkten Anfängen (!) in einem dankerfüllten Hymnus, der im kleinen schon die ganze Vollendung sieht“ (64). – Zu 1,46–49 u. a.: „Der prophetische Blick (!) sieht die Vollendung der Taten Gottes schon in ihrem kleinen Anfang. Dieser kleine Anfang aber verbirgt sich unter der Freude einer werdenden Mutter (VV 46b-49), besteht in dem, was Gott in ihrem Schoße wunderbar gewirkt hat“ (64 und 71). – Zu 1,48: „Die Heilstat Gottes … wird nun konkret genannt und als persönliche Heilstat (mou) an der jubelnden ‚Magd‘ beschrieben. Maria hat nun die Gewißheit, daß die Verheißungen des Engels VV 31ff.35 sich in ihrem Schoße erfüllt haben“ (73). Das wird sogleich weitergeführt: Zu 1,49–51: „Vom Dank für die Großtat Gottes geht das Lied dann anbetend über zum Lobpreis … Gottes Machttat (wird) nun … als ‚Erbarmen‘ charakterisiert (!)“ (74f). – Zu 1,57: „Mit der Geburt eines Sohnes erweist sich die Engelverheißung von 1,13 als erfüllt. In der Nachbarschaft … wird dieses Ereignis als eine Großtat (!) der Barmherzigkeit (!) Gottes an der betagten kinderlosen Frau (!) gewürdigt“ (82).

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III.

Zu einigen Kernaussagen in Lk 1–2

In den schon zitierten (und zahlreichen anderen) Beispielen wird in auffallender Weise von einem Wirken Gottes zu Beginn des Lebens Jesu gesprochen. Es ist von der „Lebensentstehung Jesu“ sowie von „Anfängen“ oder „Anfang“ bzw. von „Ursprüngen“ oder „Ursprung Jesu“ die Rede.81 „Ursprünge Jesu“ findet sich sogar als Überschrift zu 1,5 – 2,52 („Präludium: Jesu Ursprünge in Gott“ (18)!) Zu Beginn des Kommentars heißt es: „Luk hat Traditionen gefunden, die sein (d. i. Jesu) ‚Kommen‘ und sein ‚Gesandtsein‘ durchmeditiert und durchreflekiert hatten und so theologisch ausholender – von Jesu Ursprung her – verstanden. … Mit den ‚Ursprüngen‘ des Verco,menoj (3,16) hatte es seine besondere Bewandtnis … diese Ursprünge in Gott mußten (!) theologisch entfaltet werden“ (19f).82 Was damit genauer gemeint ist, wird in der Auslegung von 1,35 in gewisser Weise näher erklärt: „Das eigentliche Erzählungsinteresse (!) der ganzen Perikope (d. i. dort 1,32–38 „Ankündigung der Geburt Jesu“!) lichtet sich hier (d. i. in 1,35): die ‚Heiligkeit‘ und ‚Gottessohnschaft‘ Jesu bis in ihre Ursprünge seines Wesens in Gott verankern – ein Versuch, dem in anderer Weise auch der Stammbaum dienen will: Wie Adam von Gott erschaffen ward (vgl. 3,38) und dadurch in einem Sohnesverhältnis zu Gott steht, so – und doch ganz anders – geschieht hier neue Schöpfung, nachdem die Kette der Zeugungen (vgl. 3,32) abgerissen ist. Weil das Kind in seinem Ursprung gänzlich gottgewirkt ist, wird es durch und durch ‚heilig‘ sein … Gottes Pneuma wird ihm schöpferisch lebenspendend das Dasein geben, darum sein innerstes Wesen bestimmen und es ‚heilig‘ machen“ (53f; dazu 55: „Jesu geistgewirkter Ursprung“). Es fällt besonders auf, daß in Bezug auf die „Ursprünge Jesu“ gleichzeitig und im selben Kontext von den „Ursprüngen seines Wesens in Gott“ und von „neuer Schöpfung“ zur Bestimmung seines „Sohnesver81 Es ist unerfindlich, warum Schürmann von „Ursprung“ und „Ursprüngen“ wie von „Anfang“ und

„Anfängen“ in Bezug auf Jesus spricht, die Wörter einmal im Singular, dann im Plural sowie mit oder ohne Anführungszeichen setzt, und zwar im selben Abschnitt. Es zeigt sich auch daran, daß das, was er jeweils meint sagen zu sollen, oft fragwürdig ist. 82 Das wird dort noch weiter entfaltet. Auffallend dabei der Plural „Ursprünge“ und „Anfänge Jesu“, sogar „in Gott“ (20–21), dessen Sinn nicht erkennbar ist. Eine gewisse Klärung findet das in dem, was dann später mit diesen Ausdrücken tatsächlich angesprochen wird. So z. B. in der einleitenden Bemerkung zu 1–2: „… gläubige Erzählweise …, die die Ursprünge Jesu in Gott gläubig bekennt und sie mit Hilfe typologischen Schriftverständnisses … zur Ausdeutung bringt … Wie nun in Lk 1–2 Jesu ‚Anfang‘ zurückmeditiert wird in die ‚Ursprünge‘, werden auch die Anfänge des Täufers mit zurückverlegt. Das Glaubensinteresse, das die Anfänge Jesu immer schon mit den Auftreten des Täufers verknüpft hatte“ (24 und 25). Auch die folgenden Aussagen Schürmanns sind sehr aufschlußreich (doch insgesamt inakzeptabel): „Das eigentliche Erzählinteresse (von 1,33–35; R. S.) lichtet sich hier: die ‚Heiligkeit‘ und ‚Gottessohnschaft‘ Jesu bis in die Ursprünge seines Wesens in Gott zu verankern … Weil das Kind in seinem Ursprung gänzlich gottgewirkt ist, wird es durch und durch ‚heilig‘ sein … sein innerstes Wesen bestimmen“ (53f; s. dazu 55: „Aussage über Jesu geistgewirkten Ursprung“). Es sei auch auf die Aussagen zu Lk 3,1–4,44 („Der Anfang von Galiläa aus“) hingewiesen: „Für Luk liegt auf dem ‚Anfang‘ Jesu in Galiläa ein starker Akzent …“ (147); dann auch zu 3,21–22.23–28, das die Überschrift hat „Jesu Ursprung in Gott“: „Jesu ‚Kommen‘ (3,16; 4,16), seine ‚Sendung‘ (4,18) wurzelt in Gott“ (188). Das ist dort so formuliert ohne jeden Bezug zu den zu Anfang vielfältigen Bemerkungen zu den „Ursprüngen Jesu“.

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Abschnitt B:

Lk 1–2 — Text – rechte Übersetzung – theologische Erfassung seiner Aussagen

hältnisses zu Gott“ die Rede ist, das mit dem Adams verglichen wird. Die Formulierung „Gottes Pneuma wird ihm lebenspendend das Dasein geben“ wiederholt auf ihre Weise, was schon zuvor oft betont herausgestellt wurde. Dort setzt Schürmann sehr oft den Ausdruck „Lebensentstehung“ ein, jeweils mit erstaunlichem AussageInhalt, der jedoch in Bezug auf Jesus untragbar ist.83 Diese Wendung findet sich in bezeichnender Formulierungsweise zuerst in der einleitenden Erklärung zum Verständnis und zur Auslegung von 1,5–25 in Bezug auf Johannes und Jesus eingesetzt. Dort heißt es: „Die Erzählungsabsicht des – isoliert gelesenen – Berichts ist es, an den wunderbaren Anfängen des Johannes zu illustrieren, wie sehr er ‚ein Großer vor Gott‘ (1,15) gewesen ist … weil er schon ‚vom Mutterschoße an‘ mit Heiligem Geist erfüllt war (1,15) und seine Sendung gänzlich in Gott gründete. Das wird illustriert durch das wunderbare Eingreifen Gottes bei seiner Lebensentstehung schon im Mutterschoße …; (es) soll an der wunderbaren Lebensentstehung des Johannes deutlich gemacht werden, daß Gott selbst eine jungfräuliche Empfängnis nicht unmöglich ist (vgl. 1,36f.45) … vielmehr wird hier die ‚Größe‘ Jesu (1,32) an dem ‚großen‘ (1,15) Johannes in der Weise illustriert, daß seine Lebensentstehung als noch wunderbarer hingestellt wird“ (27f).84 „Erzählungsabsicht des Berichts“ meint in diesem Satz of83 Das Wort (der Begriff ) „Lebensentstehung“ ist ein gänzlich unüblicher Ausdruck und im Blick

auf namentlich-individuell genannte Menschen kaum anwendbar; er ist nicht nur in sich problematisch, sondern irreführend. „Entstehen“ ist ein intransitives Verbum und gibt, mit dem Genitiv „Leben“ vereint, das Werden dessen an, der „entsteht“. „Lebensentstehung“ könnte vielleicht für das stehen, was in den Naturwissenschaften „Urzeugung“ genannt wird, das bekanntlich „elternlose Zeugung, Abiogonie, Generatio spontanea“ meint – wobei nach wie vor diskutiert wird, ob es so etwas gab oder gibt. Somit ist diese Wortbildung absolut deplaziert, wenn es im Falle des „Werdens“ eines namentlich genannten, individuellen Menschen in Bezug auf dessen Zeugung, Empfängnis, sein Wachsen im Mutterschoß und die Geburt angewendet wird. Schürmann spricht von „Vorgängen der Lebensentstehung“ und vom „Eingreifen Gottes bei seiner (d. i. Johannes) Lebensentstehung“ (26 u. 27). Wir werden das noch weiter zu besprechen haben. – Mit „Lebensentstehung“ im Schürmann-Text wird übrigens auch das Sprechen von „Ursprüngen“ des Johannes bzw. Jesu wegen seiner Deplaziertheit als unangebracht bzw. unglücklich neuerlich erkannt. 84 Diesem zitierten Text unmittelbar zuvor finden sich diese vielsagenden Sätze: „Die Erzählung (d. i. im Kontext: 1,5–56, das mit „Die Verheißung“ überschrieben ist) denkt heilsgeschichtlich im Schema Verheißung – Erfüllung (s. o.): Schon die erste Erzählung über die wunderbare Lebensentstehung des Johannes scheint zwar – isoliert gelesen – auf den Höhepunkt bringen zu wollen, was Gott in alten Tagen an großen Männern der Vorzeit getan hat … Heilsgeschichtliche Deutungen und Wesensaussagen werden gegeben, indem Gottes Vorausbestimmung und Handeln schon vor der Geburt geschildert werden. Für ein volkstümliches, lebensnahes Denken, das gläubig sieht, haben ja die Vorgänge der Lebensentstehung von jeher eine große Transparenz; da das Geheimnis Gottes in ihnen west, sind sie befähigt, theologische Aussagen anschaulich und lebensnah zu machen“ (26). Schon dieser Text, der die Auslegung von 1,5–56 erst einleitet, ist angefüllt von kryptischen Ausdrücken und Behauptungen. Daß eine „Erzählung (!) heilsgeschichtlich denkt (!) im Schema (!) Verheißung – Erfüllung“, ist rätselhaft, zumal wenn dafür angegeben wird, „was Gott in alten Tagen (?) an großen Männern (?; in den biblischen Beispielen, die dazu im Kontext gegeben werden, ist von den Frauen Sara, von der Frau des Manoach und Hanna die Rede !) der Vorzeit (?) getan (!) hat“. Es ist von der „wunderbaren Lebensentstehung des Johannes“ die Rede.

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fensichtlich die „Sache“, die „erzählt“, d. h. bekundet sein soll. Hier wird das Eigentliche als „illustriert an bzw. durch ein anderes“ als es selbst erklärt; dasselbe meint ja wohl auch das „es soll deutlich gemacht werden“. Was also eigentlich angesagt sein soll, ist „wie sehr er (Johannes) ‚ein Großer vor Gott‘ gewesen ist“. Das wird „illustriert“ (was hier wohl „offendecken“ oder als „implizit, aber deutlicher erkennbar aus einem anderen entfaltbar“ meinen dürfte). Was etwas „illustrieren“ soll oder kann, muß entsprechend offenkundiger und irgendwie bekannter sein. Das ist hier: „Weil er schon ‚vom Mutterschoße an‘ mit Heiligem Geist erfüllt war und seine Sendung gänzlich in Gott gründete“. Und das wird sogleich auch illustriert, und zwar „durch das wunderbare Eingreifen Gottes bei seiner Lebensentstehung“! Aber auch das ist plötzlich nicht das Eigentliche der Aussage. Denn es „soll an der wunderbaren Lebensentstehung des Johannes“ etwas anderes „deutlich gemacht werden, (nämlich) daß Gott selbst eine jungfräuliche Empfängnis nicht unmöglich ist“. An diesem TextBeispiel dürfte deutlich geworden sein, eine welche Problematik mit der Wahl und dem Einsatz des (ganz unüblichen) Wortes „Lebensentstehung“ hier heraufbeschworen ist. Trotzdem ist sein Gebrauch aufgegriffen worden und beherrscht mit dem jeweils mit ihm Gemeinten die gesamte Ausdeutung des Textes 1,26–38 im Kontext des 1. Kapitels wie dann auch die von Schürmann weit ausgeführte Diskussion um die „Jungfrauengeburt“ (39–69)! Das wird deutlich durch die Übersicht über die anderen Stellen der Verwendung von „Lebensentstehung“. So findet sich im einleitenden Text zu 1,26–38 (das mit Ankündigung der Geburt Jesu“ überschrieben ist!), also noch vor der eigentlichen Auslegung des Lk-Textes, eine Reihe von Aussage-Elementen gerade im Miteinander mit „Lebensentstehung“, die überaus aufschlußreich sind.85 Es Es ist die Frage: Muß das, was in 1,5–56 zur angekündigten Geburt des Johannes klar und eindeutig gesagt ist, so verkompliziert angesagt werden, gar deswegen, um es einsichtiger zu machen? Es wird von „volkstümlichem, lebensnahem Denken, das gläubig sieht“, gesprochen. Was soll damit und ggf. gegen wen angesagt sein, zumal wenn behauptet wird, daß „die Vorgänge (!) der Lebensentstehung … befähigt (!) sind, theologische Aussagen (was meint das? biblische?) anschaulich und lebensnah zu machen (!)“ – was diese also von sich aus nicht leisten? Weiters: „es haben ja die Vorgänge (!) der Lebensentstehung von je her (?) eine große Transparenz, da das Geheimnis Gottes in ihnen west (?)“. Dazu die Frage: Gilt das für die „Lebensentstehung“ eines jeden individuellen Menschen; und wenn ja, was ist dann hier spezifisch gemeint? Soll da etwa das angesprochen sein, was z. B. Ps 139 uneinholbar eindrucksvoll ausspricht (und Ps 8 und 19 nicht weniger)? Was ist dann aber im Falle des Johannes und, vor allem, Jesu anders oder neu? An diesem Beispiel sei aufgewiesen, wie unnötige Fragen, die man an den Lk-Text stellt, und voreilige Behauptungen die schlichten und grund-verständlichen Aussagen des LkEv nur entstellen und das Offenkundige verstellen, ja zur Sprachlosigkeit verurteilen. 85 Wegen seiner Bedeutsamkeit bringen wir hier den Text nochmals (fast) ganz; die Besprechung s. oben im Text. „Die Erzählungstendenz der Verkündigungsszene ist eminent christologisch: Es geht letztlich darum, die dem Glauben feststehende Messianität und ‚Gottessohnschaft‘ Jesu theologisch zu gründen. Das geschieht durch den Aufweis, wie Jesus sein menschliches Dasein der schöpferischen Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau verdankt. Der Bericht schildert von Anfang bis Ende (vgl. VV 27.30f.34ff ) Gottes Wirken im Lichte der Prophetie Is 7,14 LXX, die ihn gänzlich und von Grund auf gestaltet. Es geht dabei aber nicht nur darum, die Verheißung der Jungfrau-

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werden Einzelangaben vorgelegt, die im Grunde alle das eine und selbe (mit jeweils anderen Worten) aussagen sollen. Sie haben jedoch im Text 1,26–38 selbst (und auch im gesamten 1. Kapitel des LkEv) kein gültiges Fundament. Es heißt: Die „Messianität und die ‚Gottessohnschaft‘ Jesu“ sollen theologisch gegründet werden.86 Diese „theologische Gründung“ geschieht durch den „Aufweis (!), wie Jesus sein menschliches Dasein (!) der schöpferischen Tat (!) Gottes im Schoße einer Jungfrau verdankt“. Dieser „Aufweis“ geschieht aber eigenartigerweise mittels des „Berichtes“, „der von Anfang bis Ende das Wirken Gottes im Lichte von Is 7,14 LXX schildert (!). Es geht (jetzt anders formuliert) darum, die Erfüllung der Verheißung der Jungfrauengeburt (die in Jes 7,14 vorliege!)“, zu bezeugen. Diese (sog.) „Jungfrauengeburt“ wird sogleich mit „vaterlose Lebensentstehung“ identifiziert, die „dem Bericht wichtig“ sei. Alle diese einzeln genannten Aussage-Elemente werden in den folgenden Sätzen und Seiengeburt als erfüllt zu bezeugen; die vaterlose Lebensentstehung Jesu ist dem Bericht vielmehr wichtig, weil an ihr christologische Aussagen deutlich werden: (unmittelbar) Jesu ‚Heiligkeit‘ und (mittelbar) die in Gott gründende ‚Gottessohnschaft‘ offenbaren sich darin; vgl. V 35. So wird Jesu ‚Messianität‘ und sein ‚messianisches‘ Wirken – von dem die Evangelienschrift des Lukas berichten will – gleich zu Beginn stabil fundiert, und zwar auf dem Bekenntnis, auf einer christologischen Wesensaussage: Jesus ist der ‚Heilige‘ Gottes, der aus einer Jungfrau geborene ‚Sohn Gottes‘ und als solcher der ‚Messias‘ (welche Reihenfolge für Lukas nicht umkehrbar ist“ (40). 86 Es ist unerfindlich, warum Schürmann in den einleitenden Sätzen zu 1,26–38 diese eigentümlichen Abstrakta-Bildungen einsetzt, die im Lk-Text nie vorkommen. Wenn er sagt, es solle die „Messianität und ‚Gottessohnschaft‘ Jesu theologisch gegründet“ sowie das „messianische Wirken“ „stabil fundiert“ werden, weil sie eine „christologische Wesensaussage“ wären, so ist dazu dies zu sagen: Von alle dem ist in 1,26–38 überhaupt keine Rede! Nicht einmal „Christos“ begegnet dort. Es sind theologische (heutiger Fachsprache!) Begriffe und Wortbildungen, die das konkret-einfache und voll verstehbar Gesagte des Lk-Textes (verständlicher?) „wiedergeben“ sollen. Zu „Messias“ (das als „christologischer Titel“ verstanden wird!) und dem von Schürmann damit Gemeinten werden wir uns im folgenden ausdrücklich zuwenden (s. u.). „Gottessohnschaft“ (wiederholt in Anführungsstrichen geschrieben und auch als „christologischer Titel“ verstanden!) ist, wenn es von „Sohn des Höchsten“ (32) abgeleitet wird, eine absolut unzulässige Abstraktion. Denn im Falle Jesu ist „Sohn Gottes“ der unverwechselbare und nie für irgend jemand anderen rechtens anwendbare Eigen-Name Jesu. Dessen „Wesen“ kann durch keinen wie immer gebildeten Allgemeinbegriff (was Abstrakta stets sind!) angegeben werden. Das gilt auch für „Vaterschaft Gottes“, wenn in Bezug auf den „Sohn Gottes“ angewendet, der Jesus (wenn man unbedingt will: die zweite göttliche Person) ist. („Sohn Gottes“ wird in der Bibel ja auch in Bezug auf bestimmte Menschen bezogen angewendet.) Gleiches ist auch zur Formulierung Schürmanns „im Schoße einer Jungfrau“ und „aus einer Jungfrau geborene ‚Sohn Gottes‘“ zu sagen. Es ist in die Erinnerung zu rufen, daß der Lk-Text von Maria (wie auch von Elisabet persönlich) spricht. Sie ist nicht „eine Jungfrau“; denn das ist ein Allgemeinbegriff wie „Jungfräulichkeit“. Was gemäß 1,26–38 bekundet ist, ist derart „neu“ und „unerhört“, daß nur das Nennen des persönlichen Namens für die gelten kann und darf, die von Gott selbst mit „Maria, Du Begnadete“ angesprochen ist. „Jungfrau“ mit unbestimmtem Artikel (!) verfälscht oder verbagatellisiert das dort Bekundete. Man muß es forciert so sagen: Jesus ist nicht von einer Jungfrau, sondern von der Gott-erwählten Maria empfangen und geboren worden. Was Maria – wenn man meint, so etwas unbedingt erfragen zu müssen – in ihrem persönlichen momentanen Lebensstand (wenn man will: nach Leib und Seele) war, ist in 1,27 (im Kontext 1,28–36) hinreichend deutlich gesagt!

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ten bestätigt und mit Nachdruck hervorgekehrt. Dazu ist vielerlei kritisch zu bemerken. So liegt in 1,26–38 überhaupt kein Fundament dafür vor, ausdrücklich von einer „schöpferischen Tat Gottes“, gar „im Schoße einer Jungfrau“ sprechen zu können oder zu müssen. Das haben wir längst erkannt und muß hier nicht wiederholt werden.87 (Wir verbleiben hier nachdrücklich in unserer Absicht, das vom Lk-Text explizit Ausgesprochene zu erheben; implizit ggf. Mit-Ausgesagtes steht hier nicht zur Diskussion.) Die „schöpferische Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau“ wird unvermutet auf „das menschliche Dasein Jesu“ bezogen. Das läßt fragen, ob sich folglich alle Stellen mit „Lebensentstehung“ nur auf dieses „menschliche Dasein“ Jesu beziehen. Die Einsichtnahme in die fraglichen Kommentarstellen vermittelt letztlich eine Unentschiedenheit, da eine Harmonisierung der Aussagen nicht möglich erscheint, zumal Schürmann im Blick auf andere einschlägige Textstellen im NT eigenartige Ansichten vertritt, die ungerechtfertig erscheinen. Wir verbleiben folglich beim Verständnis des Lk-Textes selbst und haben dafür auch schon die Begründung gegeben. So verstehen wir nach wie vor „Jesus“ und was von ihm im LkEv selbst gesagt wird (zunächst) im „vollen“ Sinn seiner-selbst, als der er, wie wir gesehen haben, in Lk 1–2 namentlich im Reichtum seines „Seins“ bekundet ist. In diesen Zusammenhängen, in denen Schürmann die Wendung „Lebensentstehung“ (des Johannes wie Jesu) ungerechtfertigt, wie wir gesehen haben, einsetzt, be87 Von Gottes „schöpferischer Tat“ u. ä. ist in Bezug auf die „Lebensentstehung“ des Johannes und

Jesu öfter die Rede. Zu 1,25 haben wir schon auf das Sprechen von der „Schwangerschaft Elisabeths als Tat Gottes“ kritisch hingewiesen, weil im Lk-Text davon keine Rede ist (s. o.). Von ihr wird auch noch später ausdrücklich gesprochen, nämlich zu 1,39f (56). In Bezug auf Jesus wird von „schöpferischer Tat (bzw. Wirken)“ erstmals im oben zitierten Text (zu S. 40) gesprochen, die dort als „Tat im Schoße einer Jungfrau“, d. h. Marias, näher spezifiziert wird. Es wird dort auch mit „Wirken Gottes“ gleichgesetzt. Diese Weise des Sprechens findet sich öfter. Zur Auslegung von 1,28 wird zur Wendung „Gnade finden“ u. a. dies gesagt: „hier (wird) schon auf die messianische Mutterwürde vorausgeschaut – geht doch die Begnadigung (wie Gn 6,8; 18,3) der danach erzählten göttlichen Tat voraus“ (44). Zu 1,35 wird u. a. dies herausgestellt: „pneu/ma a[gion wird das Wunder in ihr wirken, die schöpferische Allmacht Gottes, bei dem ‚nichts unmöglich‘ ist (V 37). Gemeint ist das Pneuma, das am Anfang der Schöpfung über den Wassern schwebte (Gn 1,2) und für die Zukunft als aus der Höhe herabkommend erwartet wird (Is 32,15) … durch die du,namij Gottes meint den gleichen schöpferischen Vorgang: Gottes Allmacht wird im Schoße Mariens ein Kind erschaffen (!)“ (52). In diesem Satz ist das letzte Teil untragbar, da er von dem Jesus ausgesagt ist, von dem in 1,26–38 deutlichst die Rede ist, was schon in der zitierten einleitenden Feststellung auf das „menschliche Dasein Jesu“ reduziert wurde. Den, den Maria gemäß 1,31.35 tatsächlich empfangen und geboren hat, so ungeschützt als „von Gottes Allmacht erschaffenes Kind“ anzugeben, widerspricht dem, was 1,26–38 bekundet. Dasselbe ist zu folgendem Text zu sagen: „Weil das Kind in seinem Ursprung (!) gänzlich gottgewirkt (!) ist, wird es durch und durch ‚heilig‘ sei … Gottes Pneuma wird ihm schöpferisch lebenspendend (!) das Dasein geben (!), darum sein innerstes Wesen bestimmen und ‚heilig‘ machen (!). Die schöpferische Tat (!) des pneu/ma a[gion im Schoße der Jungfrau (!) wird also betont, um die ‚Heiligkeit‘ Jesu theologisch zu begründen (!) … ‚Heilig‘ ist Jesus an unserer Stelle, weil er vom Heiligen Geist im Mutterschoße gebildet (!) wurde; das pneu/ma a[gion hat ihn ‚heilig‘ gemacht (!)“ (54).

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gegnet auch die Verwendung von „Wunder“ bzw. „wunderbar“ häufig. Dazu ist zu bemerken, daß der Lk-Text dieses Wort nie verwendet! Eigenartigerweise steht es bei Schürmann auch ausschließlich nur im Kommentar zu Lk 1–2. So heißt es einleitend zum Abschnitt „Die Verheißung. 1,5–56“: „Die Erzählung denkt heilsgeschichtlich im Schema Verheißung – Erfüllung: Schon die erste Erzählung über die wunderbare Lebensentstehung des Johannes scheint … auf den Höhepunkt bringen zu wollen, was Gott in alten Tagen an großen Männern der Vorzeit ähnlich getan hat“ (26). Dazu sogleich: „Die zweite Aussage übersteigt die erste und führt weiter. So wunderbar die „Empfängnis des Johannes war: im Zusammenhang illustriert sie doch nur die Möglichkeit des noch größeren Wunders im Schoße Mariens (VV 36f.39.56)… Das wird illustriert durch das wunderbare Eingreifen Gottes bei seiner Lebensentstehung schon im Mutterschoße … Es soll an der wunderbaren Lebensentstehung des Johannes deutlich gemacht werden, daß Gott selbst eine jungfräuliche Empfängnis nicht unmöglich ist (vgl. 1,36f.45) … daß seine (d. i. hier: Jesus! R. S.) Lebensentstehung noch wunderbarer hingestellt wird“ (27f).88 Im Kontext der Auslegung von 1,39–45 heißt es u. a.: „Wenn der ‚Anfang‘ (vgl. Mk 1,1) Jesu hier zurückgeschaut ist bis zu einer wunderbaren gotttgewirkten Lebensentstehung, dann wandert damit auch der Anfang dessen (d. i. des Johannes) zurück …“ (67). In allen diesen Stellen ist nicht erkennbar, warum Schürmann überhaupt diese Begriffe „Wunder“ und „wunderbar“ einsetzt. Was soll mit ihnen nach dem Lk-Text noch deutlicher herausgestellt sein? Auffällig ist allerdings, daß nur im Kontext der Aussagen zur Lebensentstehung des Johannes und Jesu diese Wörter oder Begriffe angewendet sind, und das sogar in vergleichend-wertendem Sinn.89 Letztlich dient es bei Schürmann der Charakterisierung der „jungfräulichen“ bzw. „durch den Geist bewirkten vaterlosen Empfängnis“ (s. o.), die als eigentlicher Hauptaussage-Inhalt von 1,26–38 angesehen wird. Das bestätigt 88 Weitere Text-Beispiele dazu. Zu 1,17 wird u. a. dies gesagt: „Denn Gottes Wunder in den Tagen der

Väter sollen sich in dieser Heilszeit gesteigert wiederholen. Nach dieser Einleitung, die das kommende Wunder vorbereitet … kann nun die eigentliche Erzählung beginnen“ (31).- In der Auslegung von 1,34 wird u. a. von der „Vaterlosigkeit dieser Empfängnis“ gesprochen, „daß nämlich die jungfräuliche Empfängnis stattfand … daß sich die wunderbare Empfängnis nach dem Ja-Wort Mariens V 38 ereignet hat …“ (50). Dazu sogleich im dort Folgenden: „… als Jungfrau empfangen … pneu/ma a[gion … wird das Wunder in ihr wirken, die schöpferische Allmacht des Gottes, bei dem ‚nichts unmöglich ist‘ (V 37)“ (52). Dazu wird erklärend noch angefügt: „Die Vorstellung bleibt also in den Bahnen des AT und NT, wo Gott wunderbar mitwirkte bei der Erzeugung des Isaak … Gottes schaffende Tätigkeit bis zur jungfräulichen Lebensentstehung gesteigert ist“ (53). Im Kontext der Auslegung von 1,36f finden sich diese Feststellungen: „… will demonstrieren, daß Gott auch eine jungfräuliche Empfängnis bewirken kann: Die spätere, ebenfalls wunderbar gewirkte Schwangerschaft der als unfruchtbar geltenden Verwandten Elisabeth … ist öffentlich bekannt. Sie beweist, daß Gott alles vermag (vgl. Gn 18,14a): Er kann auch wunderbar eine jungfräuliche Empfängnis bewirken“ (56). Zum Wort Marias in 1,38 lesen wir u. a.: „Die Bereitschaft Mariens hat Gott Raum gegeben, der nun sein Wunder wirkt“ (58) 89 Vgl. dazu, was wir in dem zuvor Besprochenen kritisch betrachtet haben, wo wir erkannt haben, daß der Kommentator mehr und anderes aus diesen Versen herausliest als sie selbst sagen wollen.

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der Blick auf die nähere Auslegung und Ausdeutung von 1,35 durch Schürmann. Er versteht diesen Vers ja als die Antwort Gottes (er schreibt: „Erklärung des Engels“) auf die Frage Marias „Wie wird das geschehen“ (34).90 Diese Wie-Frage sieht er ausgelöst von dem, was in 1,31–33 als Rede des Boten (also Gottes) angesagt ist.91 Dafür hatte er schon als Quintessenz herausgehoben (kaum zu Recht), daß Maria „empfangen und Mutter des erwarteten Messias werde“ (46) und daß darin auch die „Vaterlosigkeit der Empfängnis angedeutet“ sei.92 Von daher versteht sich der eigenartige erste Satz in der Auslegung von 35a: „Die Frage hat die folgende Erklärung des Engels bereitet: Die Verlobte wird ohne ehelichen Verkehr, eben als Jungfrau (27) empfangen. In parallelistischer Form und andeutenden Bildern wird die Erklärung des Wie gegeben“ (52).93 Es ist unverzeihlich, den Text 35a, die Antwort Gottes an Maria persönlich!, als konkretisierende Erklärung (die sich sogar andeutender Bilder bedient) für das zu verstehen, was Gott selbst 31–33 angesagt hat. Mit „heiliger Geist wird über dich kommen und Kraft des Höchsten wird dich überschatten“ kündet Gott selbst etwas absolut Neues und auch in 31–33 oder früher überhaupt noch nie Angesagtes oder mit real schon einmal Geschehenem Vergleichbares an, sein eigenes, auch von Gott bisher noch nie als geschichtlich sich verwirklichendes „Tun“, das sich ja überhaupt erst nach dieser Ankündigung ereignen soll – Gott gibt ja nicht irgendwem, auch keinem Propheten (vgl. dazu Jes 7, das eine Vor-Ankündigung gegen Achaz ist, ohne 90 Vgl. dazu, was wir oben in 111.2 zu 1,26–38 ausführlich dargelegt haben. 91 Zu diesem Text haben wir eine Reihe ähnlicher Aussageweisen zu den früheren Zitaten angege-

ben, die hier nicht wiederholt werden müssen; s. d. 92 Diese Formulierungen verwendet Schürmann in der Auslegung von 1,30f: 46 u. 47. Sie geben an,

was er dann eingehend weiter diskutiert. 93 Der volle Text dieser Stelle sei hier seiner Wichtigkeit wegen geboten: „Die Frage hat der folgenden

Erklärung des Engels den Weg bereitet: Die Verlobte wird ohne ehelichen Verkehr, eben als Jungfrau (27), empfangen. In parallelistischer Form und andeutenden Bildern wird die Erklärung des Wie gegeben: pneu/ma a[gion – wegen des Parallelismus und der Artikellosigkeit gleichbedeutend mit der du,namij Gottes zu nehmen – wird das Wunder in ihr Wirken, die schöpferische Allmacht des Gottes, bei dem ‚nichts unmöglich‘ ist (V 37). Gemeint ist das Pneuma, das am Anfang der Schöpfung über den Wassern schwebte (Gn 1,2) und für die Zukunft als aus der Höhe herabkommend erwartet wird (Is 32,15). Das Bild von der ‚Überschattung‘ – auch die beiden parallelen Verben müssen sinnverwandt verstanden werden – durch die du,namij Gottes meint den gleichen schöpferischen Vorgang: Gottes Allmacht wird im Schoße Mariens ein Kind erschaffen. (Dann der nächste Abschnitt in Kleindruck.) Wie eine Wolke wird Gottes Macht über ihr walten und in ihr wirksam werden – wie die Schechina nach Ex 40,35 in einer Wolke über dem Offenbarungszelt weilte und es dann erfüllte. Auch ist an die Wolke auf dem Berge der Verklärung 9,34 parr zu erinnern: Wie die du,namij Gottes hier Maria ‚überschattet‘, so dort die ‚Wolke‘ die Jünger. Die Vorstellung bleibt also im Rahmen des AT und NT, wo Gott wunderbar mitwirkte bei der Erzeugung des Isaak, Samson und Samuel (und des Johannes) – nur daß Gottes schaffende Tätigkeit hier bis zur jungfräulichen Lebensentstehung gesteigert ist. Röm 4,17–20 und Gal 4,23 werden wir belehrt, wie sehr zeitgenössische Vorstellungen diese atl. Aussagen weiterdenken konnten: gege,nnhtai … diV evpaggeli,aj (Gal 4,23), gennhqei.j … kata. pneu/ma (Gal, 4,29). Von dorther ist es nicht mehr sehr weit bis Lk 1,35“ (53).

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Abschnitt B:

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namentlich Genannte), sondern der Maria persönlich als sein Ansinnen kund, ihre Zustimmung erwartend.94 Wie Schürmann in seinem Kommentar nehmen wir uns die beiden Teile des Parallel-Satzes einzeln vor und schauen, was er meint daraus ersehen zu sollen. Zu „heiliger Geist wird über dich kommen“ wird als Aussage-Inhalt dies behauptet: „pneu/ma a[gion wird das Wunder in ihr wirken, die schöpferische Allmacht Gottes … Gemeint ist das Pneuma, das am Anfang der Schöpfung über den Wassern schwebte (Gn 1) und für die Zukunft als aus der Höhe herabkommend erwartet wird (Is 32,15)“ (52). Für die „schöpferische Funktion (!) des Geistes“ (so 54, Anm. 93) werden zahlreiche Belege vorgebracht, die sich jedoch alle als fehl am Platze erweisen. Sie haben mit dem in 1,35 Bekundeten nichts zu tun und können es um so weniger erklären.95 Es sind im Grunde nur Beispiele zum biblischen Verstehen des pneu/ma a[gion (besser noch: hw""hy> x:Wr) im allgemeinen und in den konkreten Fällen des Vorkommens im besonderen. Auf 35a angewandt verdunkeln die aus ihnen abgeleiteten Erkenntnisse nur die absolute Neuheit des von Gott her angesagten Geschehen-Werdens. Am ärgerlichsten erscheint es, wie Schürmann und viele andere mit ihm hier auf Gen 1,2 und 2,7 als Beleg für ihre Ansicht Bezug nehmen. Bekanntlich wird das rechte Verständnis von Gen 1,2 in der atl. Exegese nach wie vor diskutiert. „~yhil{a/ x:Wr (Jahwe)“ kann dort auch recht gut „Gottessturm“ meinen, „der über den Wassern schwebte“. Von 94 Vgl. dazu, was wir oben in II.2 herausgestellt haben. 95 In der Anmerkung 93 der S. 54 heißt es: „Die schöpferische und lebenspendende Funktion des

Geistes wird im AT und NT öfter erwähnt, z. B. Gn 1,2; 2,7; Ri 16,17; Ps 33,6; 104, 29f (vgl. Weish 7,22–27); 147,18; Job 27,3; 32,8; 33,4; Ez 37,1–14; Is 44,3f; Spr 8,22ff; Weish 7,22–27f; 15,11; Jdt 16,14; dann Röm 1,4; 3,11.14; Joh 3,5f; 6,63.“. Zu Gen 1,2 und 2,7 haben wir oben im Text Stellung genommen. Ri 16,17 muß ein Druckfehler sein. Es finden sich in Ri folgende Stellen mit „Geist“: Ri 3,10; 6,23; 11,29; 13,25; 14,6.16; 15,19. In allen diesen Stellen findet sich das Verb „kommen über“ (der Geist, der über die jeweils Genannten kam) und das allein geht mit 1,35 konform. Die „Sache“, um die es in 1,35 geht, ist jedoch eine gänzlich andere. Ps 33,6 ist gleichfalls kein Vergleichstext. Dort ist (wie im Parallelismus geläufig) im einen Satz vom „Wort Jahwe“ und vom „Hauch seines Mundes“ (hw"hy> rb;d> – wyPi x:Wr – pneu/ma tou/ sto,matoj) die Rede, als Gebietend-Sprechen im Sinne dieses Doppelausdrucks. Auch der Hinweis auf Ps 104,29ff ist unangebracht. Dort findet sich x:Wr in Bezug auf die Menschen (oder gar alle Lebewesen): „ihren Geist = Lebenshauch“, und für Jahwes Geist („deinen Geist“; Jahwe ist angesprochen) eingesetzt. Es ist nur die Verwendung der selben Vokabel „Geist“ (die ja sehr vieles angeben kann), die mit 1,35 konform geht. Ps 147,18 hier beizubringen, ist für das Verstehen von 1,35 absolut unangebracht (was hier nicht erst aufgewiesen werden muß). Job 27,3 kann wohl mit Gen 2,7 zusammengeschaut werden, in ihm klingt aber 1,35 überhaupt nicht an. Das gilt ähnlich für Job 32,8 und 33,4. Auch Ez 37,1–14 enthält nichts, das gerechtfertigt mit 1,35, gar erklärend, gleichgesetzt werden kann. Auch Jes 44,3f zeigt nichts an, was mit 1,35 etwas zu tun hätte: „So spricht Jahwe, der dich geschaffen und gebildet hat vom Mutterleib an … Denn ich gieße Wasser über lechzendes Land … Ich gieße meinen Geist aus auf dein Geschlecht und meinen Segen auf deine Sprößlinge“. Zur Angabe der Stellen Spr 8,22ff, Weish 7,22f und 15,11 ist nichts anderes zu sagen, als daß sie gänzlich unpassend, ja ärgerlich ist. Röm 1,4 und 8,11.14 sind genauso unangebracht (die sprechen von etwas gänzlich anderem) wie es für die Angabe von Joh 3,5f und 6,63 zur näheren Erklärung für Lk 1,35 gilt.

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III.

Zu einigen Kernaussagen in Lk 1–2

irgendeinem Beteiligtsein im erschaffenden „Wirken“ Gottes (Gen 1,3–31) ist jedenfalls mit keiner Silbe die Rede, noch weniger vom eigenen „schöpferischen Wirken“ des in Gen 1,2 genannten Geistes/Gotteshauches.96 In 2,4b-25 wird in Bildrede das Wirken Gottes (Jahwe Elohim) „beschrieben“; es liegt dort erkennbar kein Sach-Bericht vor. Es heißt: „Jahwe Gott bildete aus Staub vom Erdboden den Menschen und blies in seine Nase Lebenshauch (vp,n< – pnoh.n zwh/j – spiraculum vitae). (Darunter sind auch nicht „Leib und Seele“ als „Bestandteile“ des Menschen zu verstehen!) Schon die Zusammenschau von Gen 1,2 und 2,7 als vom selben „Geist“ sprechend ist irrig, der Hinweis auf 1,35 absurd. Die im zitierten Text (Anm.) angegebenen Stellen Ps 33,6; 104,29ff und 147,18 sagen etwas aus, das mit 1,35 überhaupt nicht vergleichbar ist.97 Die fehlgehenden Hinweise auf Röm 1,3f und 8,11.14 und auf Joh 3,5f und 6,63 (die mit 1,35 nur die Vokabel pneu/ma gemeinsam haben) lassen deutlich erkennen, daß es für 1,35 eben keine Stellen gibt, die auch nur andeutungsweise von etwas Vergleichbarem sprechen, was dort für unvoreingenommene und sich offen haltende hörwillige Leser euangelion-gemäß bekundet und verstehbar verkündigt wird. Das LkEv will ja gerade (auch) das bisher absolut noch nie Geschehene, auch von Gott her oder durch ihn nicht, das sich „unter uns ereignet hat“ (1,1), bekunden und als Evangelium festzuhaltendes Glaubensgut „aufschreiben“.98 Das gilt auch für das, was in 1,26–38 und also in 1,35 ausgesprochen ist, ohne Zweifel in Verwendung der damals üblichen Sprachen, ihrer Sprachwörter und Sprachspiele, die aber eben keine vereinbarten mathematisch-fixen Symbole sind, die festgelegt-einmalige Bedeutungsinhalte haben, sondern lebendig und so frei sind, wie es den menschlichen Sprachen eigen ist. Erst der jeweilige konkret-lebendige Sprechakt, und in ihm auch wesentlich die Betonung, der bestimmte Nachdruck, kurz die Musik des Sprechens gibt ihnen doch ihren vom Sprecher frei gewählten Sinn, der auch vom Angesprochenen herausgehört werden kann.99 96 Hier seien diese Kommentare genannt: Cl. Westermann, Genesis 1. Teilband, 1974, darin bes. 102–

152. – L. Ruppert, Genesis. Ein kritischer und theologischer Kommentar, 1. Teilband, Würzburg 1992. 97 Siehe dazu die Bemerkungen oben. 98 Es sei auf das zurückverwiesen, was wir dazu oben schon betont herausgestellt haben. 99 Nochmals verweisen wir darauf, daß es hier zunächst darum geht, das vom Lk-Text selbst Ausgesprochene klar zu erheben. Schürmann weist bei entsprechender Gelegenheit selbst darauf hin, daß „zunächst die Intention des Textes“ zu eruieren ist: 63 im dortigen Kontext. Aus „du wirst im Schoße empfangen“ (1,31) in Verbindung mit 1,35 sogleich auf eine „schöpferische Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau“ als vom Lk-Text selbst intendierte Aussage zu schließen, ist nicht gerechtfertigt. Auch das „heiliger Geist wird über dich kommen“ in 1,35 spricht nicht selbst von „einem schöpferischen Vorgang durch die dynamis Gottes im Schoße Mariens“ (52). Es ist eine eigentümlich offene Redeweise, die jedoch in der Bibel häufig begegnet und deswegen in jedem Einzelfall auf ihre dortigen klar erkennbaren (oder auch geheimnisvollen) Aussagegehalte hin abgehört werden muß. Dasselbe gilt für „dich überschatten“. Es geht nicht an, aus dieser Formulierung hier das herauszuhören, was mit ihr an anderen Bibelstellen ausgesagt erscheint. Prinzipiell muß darauf hingewiesen werden, daß die Verwendung z. B. von alttestamentliche Wendungen in der Darstellung

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Abschnitt B:

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Auch für das im Kommentar Schürmanns zu „Kraft des Höchsten wird dich überschatten“ deutend Ausgesagte gilt dasselbe Urteil. Die Rede von der „Überschattung“ betrachtet er als „andeutendes Bild“ für das mit ihm eigentlich Gemeinte, das er ja so ausformuliert: „es meint den gleichen schöpferischen Vorgang: Gottes Allmacht wird im Schoße Mariens ein Kind erschaffen“. Wir haben schon erkannt, daß die Auslegung von „heiliger Geist wird über dich kommen“ als „wird das Wunder in ihr wirken“ sich als ungerechtfertigt erweist. Die Wiederholung dieser Ausdeutung für „überschatten“ ist schon deswegen genau so unbegründet; sie ist irreleitend. Schürmann vergleicht ja im unmittelbar folgenden Abschnitt nicht das „wird dich überschatten“ des Lk-Textes, sondern das in seiner Formulierung Angegebene zum „eigentlichen“ Aussage-Sinn des Bildes „Überschattung“ durch einen doppelten Wie-Satz: „wie eine Wolke …“ und „wie die Schechina …“. Die jetzt zur weiteren Erklärung angegebenen Schriftstellen Ex 40,35 und Lk 9,34 parr sind durch das Wort „Wolke“ bestimmt, womit 35a näher gedeutet werden soll. Der erste Satzteil „wie eine Wolke wird Gott über sie (Maria) walten und in ihr wirksam werden“ läßt jedoch fragen, was dieser Vergleich eigentlich sagen will. Warum in Bezug auf „überschatten“ in 35a eine „Wolke“ zum Vergleich nehmen, da doch Gott selbst genannt ist, der das „tut“. Und warum wird das mit „überschatten“ deutlich genug Angesagte durch „walten über“ (was ist das?) und „in ihr wirksam werden“ ergänzt oder gedeutet? Was sollen die Ausdrücke eigentlich sagen? Der dort folgende Hinweis auf Ex 40,35 könnte auf den ersten Blick Klareres vorbringen, doch dieser Vers wird irgendwie willkürlich eingeführt. Schürmann gibt den Text paraphrasierend und allerdings auch (Bekundung) von später Geschehenem oder ihren Tatbeständen ihren Eigen-Charakter (noch) nicht bestimmt. Es liegen (auch schon für alt. Ereignisse) keine end-gültig fixierten Sprachmöglichkeiten bereit, mit denen die real geschehenden Ereignisse oder Tatbestände oder Neu-Gewordenes im jeweils geschichtlich neuen Geschehen hinreichend deutlich und allgemein verstehbar ausgesprochen werden können oder gar müssen. Dem Geschichtlich-Neuen, bisher Unerhörten ist kein Darstellungs-Schema voraus. Schon vorhandene Sprachwendungen und Begriffe müssen in bestimmten Fällen eine wirklich neue Bedeutung erlangen. Konkret gesprochen: Neutestamentliches kann nicht schon durch alttestamentliche Sprach-Wendungen allein voll-gültig verstanden und bekundet ausgesagt werden. Dazu dieses Beispiel: Die Rede von Geburtsverheißungen oder von Ankündigungsschemata stehen ja keineswegs vor solchen Ereignissen konkreten namentliche Ansagen zur Verfügung. Es ist das jeweilige konkrete Geschehen, das bestimmt, was ausgesagt sein soll. Da mag der faktisch geschehende oder geschehene Vorgang „gleichartig“ sein, das aber eben der Natur der Sache oder der (Teil)Vorgänge wegen, nicht wegen eines vorhandenen Erzähl-Schemas. Wenn eine Geburt angekündigt werden soll, ist es klar, daß das vorausgeht, was „Empfängnis“ genannt wird. Nur wie diese Wirklichkeit wird, ist nicht schon durch die Ankündigung der Geburt fixiert. Daher ist die Offenheit der von Lukas gewählten Formulierungen (auch wenn sie sich an atl. Texten ausrichtet oder solche Neues sagen läßt) zunächst grundsätzlich zu beachten und gelten zu lassen. Es gilt zu sehen, daß die Wendungen „heiliger Geist wird über dich kommen“ und „des Höchsten Kraft (Macht) wird dich überschatten“ nichts darüber aussagen, was da im Falle Jesu (!) genau geschieht bzw. wie der das „vollbringt“, von dem das „über dich kommen“ und „dich überschatten“ als sein (bisher unerhörtes, weil noch nie geschehenes) Tun ausgesagt wird oder werden soll.

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III.

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entstellend wieder: „wie die Schechina in einer Wolke über dem Zelt weilte und es dann erfüllte“. Der Ex-Text sagt es ziemlich anders: „Da bedeckte (LXX: evka,luyen) die Wolke das Offenbarungszelt und die Herrlichkeit Jahwes erfüllte (LXX: evplh,sqh) das Zelt. Mose konnte nicht in das Offenbarungszelt eintreten, denn es überschattete (LXX: evpeski,azen) die Wolke auf/über ihm und die Herrlichkeit Jahwes erfüllte es“. Beide Ausdrücke, die „Wolke“ (auch im Hebr. mit Artikel) und die Herrlichkeit Jahwes, benennen Jahwe namentlich. „Überschatten“ steht erst im (von Schürmann nicht mehr beigezogenen) 40,36, in ähnlicher Bedeutung wie „bedecken“ in 35. Beiden Verben ist „erfüllen“ zugesellt, das auch ein „Tun“ Jahwes (mit sich selbst) ansagt, ohne daß wieder „Genaueres“ beigefügt ist. Doch „trotz“ ihres eigenartigen Offenbleibens geben „Wolke“, „überschatten“, „bedecken“ und „erfüllen“ deutlich genug zu verstehen, was mit ihnen von Jahwe an Gewichtigem verstehbar ausgesagt ist.100 Als zweite 100 Schürmann gibt den Ex-Text „Und die Wolke bedeckte das Offenbarungszelt …“ wieder mit „Wie

die Schechina in einer Wolke über dem Zelt weilte und es dann erfüllte“. Der Ausdruck „Schechina“ kommt bekanntlich in der hebräischen Bibel gar nicht vor; er ist eine rabbinische Bezeichnung für die Gegenwart Gottes in der Welt. „Wolke“ ist im Buch Exodus der Hauptausdruck für das Gegenwärtig-Sein Jahwes bei seinem Volk, über ihm, ihm voraus, beschützend und errettend um es herum usw. So meint „Wolke“ hier (wie oft in Ex, Nm und Dt) Jahwe selbst wie ja auch du,namij u`yi,stou in 35a „Kraft Gottes“ sagt. Von der „Schechina in der Wolke“ zu sprechen und die dort eingesetzten Verben der Schechina zuzuweisen, verdunkelt jedenfalls das in Ex 40,35 Ausgesagte, vor allem wenn „bedecken“ und „erfüllen“ in zeitlicher Differenz („dann“) gelesen wird, um so mehr das „in ihr schöpferisch tätig werden“, das weder Ex 40,35 noch Lk 1,35 aussagen. Wir belassen es bei der Offenheit der lukanischen Formulierung. – Es sind übrigens nur wenige Stellen in der Bibel überhaupt, in denen „überschatten“ vorkommt. Von Gott (Jahwe) als sein „Tun“ ausgesagt, findet es sich in Ps 91,4: „Mit seinem Flügeln überschattet (beschirmt) er dich, unter seinen Fittichen bist du geborgen“. Hier ist offenkundig das Beschützen/Umsorgen der Henne (Vogelmutter) als Bild (Metapher) angewandt und damit auch angedeutet, was Gott „tut“, wenngleich es dabei auch sehr offen bleibt. Ähnliches findet sich in Ps 140,8: „Jahwe, mein Herr, du meine mächtige Hilfe, du überschattest (beschirmst) mein Haupt am Tage des Kampfes“. In Weish 19,7 heißt es: „Es erschien die Wolke, die das Lager überschattete, und es tauchte trockenes Land auf, wo vorher Wasser war“. Damit ist irgendwie das Kommen und Gegenwärtig-Sein Gottes angesagt, das auch Wirkung in der Natur hatte, wo sich Israel beim Auszug aus Ägypten unter Gottes Schutz und Hilfe befand. In Bar 5,7–9 steht: „Gott hat ja geboten, es sollen abgetragen werden alle hohen Berge und die ewigen Hügel und die Täler aufgefüllt zu ebenem Land, daß Israel sicher dahinziehen könne unter Gottes Herrlichkeit. Und Wälder und allerlei duftendes Gehölz, sie überschatten Israel auf Gottes Geheiß“. Dieser Text spricht deutlich genug. Eine Hilfe zu genauerem, d. h. artikulierterem Verstehen von 1,35a liegt in ihnen allen nicht vor. Doch geben sie Mut, die Offenheit von „überschatten“ gelten zu lassen und doch herauszuhören, was es am gegebenen Ort an Unerhörtem ausspricht. Im NT begegnet evpiskia,zw nur an drei Stellen! In Apg 5,15 in Bezug auf den gewünschten Petrus-Schatten zwecks Heilung. Dabei wird Petrus aber nicht verstanden, der durch sein willentliches Tun agiert (und also heilt), sondern dessen Schatten in seinem Vorübergehen auf Kranke fällt. Die zweite Stelle findet sich in Mt 17,5 parr (Mk 9,7 u. Lk 9,34) in der Schilderung der Begebenheit der Verklärung Jesu. Diesen Text besprechen wir oben ausführlich. Die dritte Stelle ist Hebr 9,5, wo „überschatten“ in Bezug auf die „Kerube der Herrlichkeit, welche die Versöhnungsplatte überschatteten“, steht. Damit sind alle Schrifttexte mit „überschatten“ genannt, welcher Überblick viel zu verstehen gibt.

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Abschnitt B:

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Schriftstelle bringt Schürmann Lk 9,7 parr als Beleg für „Wolke“, der 35a näher verstehen lassen soll. Er tut es in einem ärgerlichen Satz: „Auch ist an die Wolke auf dem Berge der Verklärung zu erinnern: Wie die du,namij Gottes hier Maria ‚überschattet‘, so dort die ‚Wolke‘ die Jünger“. In diesem Satz fällt besonders die bedenkenlos behauptete Gleichheit („so wie hier … so dort“), dessen auf, was Lk 35a mit „Kraft des Höchsten wird dich überschatten“ und was Lk 9,34 mit „die Wolke, die die Jünger überschattete“ aussprechen. Im Falle Marias kündet Gott selbst an, was er zu tun gedenkt, was also noch gar nicht geschehen ist. Die Begebenheit in Lk 9,34 hat sich aber längst ereignet; von ihr wird berichtet (im Sinne des euangelion). Dazu ist das Wort Gottes an Maria, die empfangen und gebären soll, auf ihre Wie-Frage hin gesprochen. Den Jüngern wird mit keiner Silbe etwas erklärt, am wenigsten etwas, das mit dem vergleichbar wäre, was Schürmann aus 35a meint heraushören zu sollen: „Gottes Macht wird über sie walten und in ihr wirksam werden“ (53). Lk 9,34 parr spricht von etwas ganz anderem; nur das Verbum „überschatten“ ist gemeinsam, das jedoch nicht etwas besagt, das nur eine einzige, mathematisch-festgelegte Real-Bedeutung hat. In Lk 9,34 parr spricht Gott aus der Wolke, so daß die „Wolke“ dort nicht einfach dasoder denselben, eben Gott benennt. Von einem irgendwie gearteten Wirken in den Jüngern ist absolut keine Rede (wie übrigens ja auch in 35a nicht).101 Eigenartigerweise wird auf andere Bibelstellen mit „überschatten“ kein Bezug zum Vergleichen oder näheren Erklären genommen, die Schürmann ja nicht unbekannt gewesen sein können. Dieselbe Beurteilung gilt auch für das Beispiel, das Schürmann mit dem Satz „Die Vorstellung bleibt also in den Bahnen des AT und NT, wo Gott wunderbar mitwirkte bei der Erzeugung des Isaak … – nur daß Gottes schaffende Tätigkeit hier nun bis zur jungfräulichen Empfängnis gesteigert ist“ beibringt. Absurd ist es, die Aussage Gottes selbst in 35a überhaupt als „in den Bahnen des AT und NT bleibend (was sind diese „Bahnen“ des AT und NT?) zu erklären. Dazu wird beispielhaft darauf hingewiesen, 101 Zu den Texten über das Verklärungsgeschehen ist hier dieses besonders herauszustellen. Bezeich-

nend ist nämlich, daß nachdem Jesus schon verklärt und als solcher in seiner Herrlichkeit geschaut war und Mose und Elija erschienen waren und mit ihm sprachen, ja Petrus sein Vorhaben, drei Hütten zu bauen, dem Herrn kundgetan hatte, dieses geschah: „während er noch redete, siehe eine leuchtende Wolke (nefe,lh fwteinh,: ohne Artikel) überschattete sie“ (Mt 17,5; Mk 9,7 sagt es so: „es geschah sie überschattende Wolke: evge,neto nefe,lh evpiskia,zousa auvtoi/j: Lk 9,34: „es geschah (evge,neto) Wolke und überschattete sie“). Mit dem Pronomen „sie“ sind alle gemeint, die zuvor genannt wurden: Jesus, Mose, Elija und die anwesenden Apostel; sie alle fanden sich in diesem Geschehen „überschattet von der Wolke“. Und dann dies weitere Geschehen: „kai. ivdou. fwnh. evk th/j nefe,lhj le,gousa – und siehe, Stimme (ohne Artikel) aus der Wolke sprechend“ (Mt 17,5; Mk 9,7: kai. evge,neto fwnh. evk th/j nefe,lhj; Lk wie Mt). Die hier genannte Wolke ist noch dieselbe eine des Ereignisses. Sie selbst „tut“ neben oder nach dem „überschatten“ nichts weiteres. Aus ihr spricht die „Stimme“ (ein Hinweis auf die Taufszene Mt 3,16f („kai. ivdou. fwnh. evk tw/n ouvranw/n le,gousa“; Mk 1,11 genau so, ohne ivdou,; Lk 3,22: „kai. fwnh.n evx ouvranou/ gene,sqai“, ist hier sicher erlaubt). Mit dieser Wendung wird zwar seitens der „Stimme“ ein Hören als Tun der Angesprochenen erwartet; sie selbst „tut“ aber ihnen nichts an, noch weniger wird sie in ihnen „schöpferisch wirksam“ (wie Schürmann es für 35a bei Maria behauptet; s. o.).

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III.

Zu einigen Kernaussagen in Lk 1–2

„daß Gott wunderbar mitwirkte bei der Erzeugung des Isaak, Samson, Samuel (und des Johannes) – nur daß Gottes schaffende Tätigkeit hier nun bis zur jungfräulichen Lebensentstehung gesteigert ist“. Wo liest das Schürmann im AT, Gottes Mitwirken bei der „Erzeugung“ eines Menschen? Und ist also das von Gott selbst angekündigte „Tun“, nämlich „überschatten“ u. ä., ein Mitwirken Gottes an dem, was jemand anderer tut, leistet, gar erzeugt? Der angeschlossene Halbsatz deckt freilich auf, was das eigentliche Interesse Schürmanns überhaupt ist: „nur daß Gottes schaffende Tätigkeit hier nun bis zur jungfräulichen Lebensentstehung gesteigert ist“. Das ist ja tatsächlich das, was die Auslegung von 1,26–38 von Anfang an bewegt und leitet, wie wir schon mehrmals gesehen und betont herausgestellt haben.102 Auf die dort noch folgende Zusatz-Feststellung gehen wir später im entsprechenden Abschnitt genauer ein. Eigenartig mutet jedenfalls die Bemerkung an, daß „von Röm 4,17–20 und Gal 4,23.29 es nicht mehr sehr weit bis Lk 1,35 ist“, da doch Lukas 20 Jahre nach Gal und Röm geschrieben hat. b) „Messias“ – „Christus“

Im Kommentar Schürmanns zu Lk 1–2 zeigt sich ein eigenartig auffallender Gebrauch der Ausdrücke „Messias“ und Christus“ und ihrer verschiedenen Kombinationen mit weiteren Bestimmungswörtern. Obwohl doch beide Benennungen den einen und selben bezeichnen, „Christus“ nämlich eindeutig das Übersetzungswort von „x:yvim' – Messias“ im griechischen ist und daher beide in gleicher Weise den „Gesalbten (Jahwes)“ nennen, wird „Messias“ im Kommentar zu 1–2 oft mit einer ihm eigenen Bedeutung eingesetzt. Gerade in den kommentierenden Sätzen zu Lk 1–2 begegnet diese eigenartige Sprechweise, die offensichtlich doch etwas zu Unterscheidendes herausstellen soll. Es herrscht oft seitenlang die eine, dann die andere Formulierungsweise vor, ohne daß dafür ein Grund erkennbar ist. Dem ist nachzugehen, weil sich dahinter doch eine bestimmte Voreingenommenheit des Kommentators kundzutun scheint, die sich allerdings schwer genau angeben läßt. Wir haben schon gesehen, daß er die Absicht des Lukas für seine Schrift, nämlich das „von Gott unter uns Erfüllte (Vollbrachte)“ (1,1) evangelium-gemäß darzustellen, auf das „Handeln Gottes im Christusgeschehen“ verkürzt bzw. eingeengt wahrnimmt und bespricht. Es zeigt sich, daß er im Sprechen über Jesus vornehmlich „Christus“ einsetzt, aber oft auch „Messias“ gebraucht, obwohl beide denselben meinen. Warum wird überhaupt das Übersetzungswort für beides, „Gesalbter“, nie bzw. nur in spezifischen Fällen 102 Schon in den einleitenden Sätzen, also noch vor der eigentlichen Auslegung von 1,26–38 ist die

Rede vom „Aufweis, wie Jesus sein menschliches Dasein der schöpferischen Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau verdankt“ (40), was noch durch die Formeln „Verheißung der Jungfrauengeburt“, „vaterlose Lebensentstehung Jesu“ und „Jesus ist der ‚Heilige‘ Gottes, der aus einer Jungfrau geborene ‚Sohn Gottes‘“ weiter erklärt ist. Auch in der Auslegung von 1,5–25 wird immer wieder auf dieses „Wunder im Schoße Mariens“ voraus-hingewiesen, wie wir gesehen haben.

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Abschnitt B:

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der Ausdeutung verwendet? Wozu gelegentlich der nochmals besondere Einsatz von „Messias“ neben „Christus“, und das an relevanten Stellen deutlich unterscheidend? Es wird von „Messianität“ (abstrakter Begriff !) Jesu, von seinem „messianischen Wirken“ gesprochen, doch nie von „Christianität“ oder „christianischem Wirken“. Tatsächlich zeigt sich dieses Auffallende: In den ersten 40 (!) Seiten des Kommentars, in denen erstaunlich wenige Male Jesus namentlich genannt wird, begegnen nur mit „Christus“ gebildete Wendungen bzw. Sätze. und zwar in allen wesentlichen und entscheidenden Kommentaraussagen dort.103 Erstmals und plötzlich finden sich in den einleitenden (!) Sätzen zur erst noch folgenden Auslegung von 1,26–38 die Abstrakta „Messianität“ und „Gottessohnschaft Jesu“ (40).104 Von diesen wird behauptet, sie seien „dem Glauben feststehend“ und seien „theologisch zu gründen“. Dazu diene der Bericht (!) 1,26–38; dieser bezwecke den „Aufweis (!), wie Jesus sein menschliches Dasein der schöpferischen Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau verdankt. … So wird Jesu ‚Messianität‘ und sein ‚messianisches‘ Wirken … stabil fundiert, und zwar auf einer christologischen Wesensaussage: Jesus ist der ‚Heilige‘ Gottes, der aus einer Jungfrau geborene ‚Sohn Gottes‘ und als solcher der ‚Messias‘“ (40). Ein erstaunlicher Satz, der nur mit Abstrakta bzw. in Anführungszeichen gestellten „christologischen Wesensaussagen“ operiert und der exegetischen Auslegung gleichsam als Themenangabe vorausgeschickt wird! Diese Formulierungen werden, wohlgemerkt, zur Charakterisierung Jesu (oder doch nur seines „menschlichen Daseins“?) eingesetzt, wenngleich sie im Lk-Text selbst nie, auch nicht andeutungsweise vorkommen.105 Be103 Das einzige Vorkommen von „Messias“ betrifft die Stelle der Geburtsankündigung Johannes des

Täufers an Zacharias, wozu der Kommentator sagt: „Die vorhergesagte Freude … wird Freude und Jubel ob der Heilsgabe Gottes … unter den künftigen Hörern und Jüngern des Johannes sein. Damit ist noch nicht gesagt, Johannes sei eine Messiasgestalt, sosehr er als eschatologische Heilsgestalt gewertet ist … das Heil des Messias kommt in Sicht“ (33). Die eingesetzten Ausdrücke sind hier eher theologische Allgemeinbegriffe, betreffen jedenfalls nichts Konkretes in Bezug auf Jesus, das hier zwar vorausgesetzt wird, wovon aber in Lk 1 (noch) nicht die Rede ist. Die beanstandete Formulierungsweise findet sich tatsächlich konzentriert auf den ersten 40 Seiten des Kommentars. Wir geben die mit „Christus“ gebildeten Stellen an und fügen die weiteren ab S. 40 noch vorfindlichen hinzu. „Christusgeschehen‘: 5; 9; 13 (Gotteshandeln im Christusgeschehen); 23 (heilsgeschichtliches Handeln Gottes in Christus); 24. Dann: 115; 117; 141. Eine Formel wie „Messiasgeschehen“ kommt nie vor! – „Christusereignisse“: 5; 13; 15; 20 (2x); 21; 24. Später: 64; 68. – „Christusbekenntnis“: 20; und 120; 131; 139. – Christus-Offenbarung“: 20; 21; dazu 115; 120 (Offenbarung Gottes in Christus). – „Christusverkündigung“: 20; 21; 24; und: 99; 131. „ChristusHomologese“ und „Christuskerygma“: 21; dann 64; 81; 139. Alle diese Formulierungen haben keine ähnlichen, mit „Messias“ gebildeten Wendungen als Korrelat. 104 Der voll zitierte Text dieser einleitenden Sätze findet sich oben S. 47, Anm. 1. 105 Dem zuletzt zitierten Satz fügt Schürmann noch dieses an: „Je stärker man sieht, daß Lk 1,26–38 eine Christuserzählung ist, desto deutlicher tritt gleichzeitig ans Licht, wie sehr hier auch ein mariologischer (Hervorhebung durch Schürmann) Aussagewille am Werke ist, der mit wenigen Strichen … und mit einer fast verstummenden Ehrfurcht ein Marienbild skizziert (!), das nicht auszuholen ist“ (40). Was zuvor „Bericht zum Aufweis …“ hieß, wird hier „Christuserzählung“ genannt, nicht „Messias-Erzählung“, was doch eher den zuvor verwendeten Abstrakta entsprochen hätte.

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III.

Zu einigen Kernaussagen in Lk 1–2

achten wir, daß die genannten Abstrakta gerade dort gehäuft und fast ausschließlich verwendet werden, wo ausgesprochen Konkret-Namentliches (z. B. auch in Bezug auf Maria), ja absolut Göttlich-Einmaliges zu verkünden und gegebenenfalls erklärend zu deuten ist. Ab dieser Auslegung von 1,26–38 (41–64) begegnen dann im Kommentartext im weiteren Verlauf des 1. Kapitels fast ausschließlich mit „Messias“ gebildete Wendungen bzw. deutende Ausformulierungen. Daß da ausdrücklich und namentlich Jesus gemeint ist, ist keine Frage. „Christus“ wird für ihn dort nur selten eingesetzt; „Messias“ herrscht vor. Das gilt z. B. auch für die Auslegung der Lobpreisungen der Elisabet beim Besuch Marias, des Lobliedes Marias (Magnificat) und des Zacharias (Benedictus) (65–94, zu 1,39–79).106 Bezeichnend ist auch, daß gerade im Anschluß an die Auslegung zu 1,26–38 seitenlang die ausführliche Diskussion über die Fragen zur „Jungfrauengeburt“ vorgelegt und beurteilt wird. Die Fragwürdigkeit der theologischen Abstrakta-Bildungen wird hier ganz offenkundig, worauf wir noch eindringlich einzugehen haben. Wir verbleiben hier noch bei der Auflistung der „Messias“bzw. „Christus“-Verwendung in Bezug auf die auffallende abwechselnde Ausschließlichkeit ihres Einsatzes. Ab Beginn der Auslegung von 2,1–52 verändert sich die Sprechweise aufs neue radikal. Es wird weiterhin von Jesus gesprochen, das jedoch in einer signifikant neuen Weise. Lukas verwendet, wie wir gesehen haben, cristo,j ganz selten.107 In Lk 1–2 steht es in 2,11 im verkündenden Satz des Boten Jahwes an die Hirten, und in 2,26 in der Ansage des Versprechens an Simeon durch den heiligen Geist. Schürmann setzt aber schon in seinen einleitenden Kommentarsätzen zur Auslegung von 2,1–7 das voraus, was erst in 2,11 und 2,26 ausgesprochen und von ihm ausgedeutet wird. Der Doch sogleich wird 1,27–37 mit „Botschaft Gottes“ bezeichnet, da diese Verse „die eigentliche Botschaft bringen“. Dieser Unausgewogenheit der Formulierungen des Kommentators werden wir im folgenden noch weiter nachzugehen haben, um die Gründe dafür zu finden. Denn die könnten sie verständlich machen. 106 Die wenigen Stellen, an denen „Christus“ gesetzt ist, sind diese: „Christuserzählung“ für 1,26–38 (dort auch „Bericht“ genannt) findet sich S. 40. – Im kleingedruckten Absatz zu 1,32f stehen, von „Messias“-Sätzen umgeben, diese Wendungen: „Königtum Christi“ (3x); „christologische Aussage von VV 32f “; dazu der Hinweis, „daß die Erlösung durch Christus eine totale ist“ (49). – Zu 1,35b heißt es in der betreffenden Bemerkung so: „… aus christologischen Gründen. Die christologische Aussage ist der von Röm 1,3f auffallend verwandt“, worauf aber der Zusatz folgt: „Das Wissen, daß Jesus als der Messias Geistträger ist, ist hier überhöht bis zur Aussage über Jesu geistgewirkten Ursprung“ (55). – Zu 1,42–45 begegnet, wieder umgeben von gehäuft eingesetztem „Messias“, „Jubel über das Christusereignis … der Gruß der Christusträgerin (!) … Christusbekenntnis … Anbruch der Messiaszeit“ (68). – Im einleitenden Satz zur Auslegung von 1,57–66 steht dies: „… in der Eulogie und Prophetie 1,67–75.76–79 …, wo in geistlicher Hellsichtigkeit die Gnadenheimsuchung des himmlischen Lichtes in Jesus (1,76–79) verkündet und gepriesen wird. In dieser ChristusHomologese ist der ‚Prophet des Allerhöchsten‘… fast überblendet von dem Weihnachtslicht …“ (81). 107 Alle Lk-Stellen mit „Christus“ haben wir oben III.2 vorgestellt und besprochen.

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Abschnitt B:

Lk 1–2 — Text – rechte Übersetzung – theologische Erfassung seiner Aussagen

entscheidende Satz lautet: „Die unverhältnismäßig breite Einleitung dazu VV 1–5 läßt … das eigentliche Glaubensinteresse erkennen; sie stellt das Geschehnis ins Licht der Verheißung: Jesus wird geboren in der Davidsstadt Betlehem (V 4; vgl. 11), was ihn als den Cristo,j erweist“ (98). Der ganz ungewöhnliche Einsatz des griechischen Wortes Cristo,j in diesem Satz, das ja in 1–7 noch gar nicht vorkommt, zeigt, daß Gewichtiges gesagt sein soll. Aus Platzgründen erheben wir das genauer in der Anmerkung.108 Die eingehende Einsichtnahme dort zeigt, daß in der Ausdeutung Schür108 Wir hinterfragen hier den oben zitierten Satz Schürmanns nicht exegetisch, sondern insofern er

seine zusammenfassende Wiedergabe des Aussageinhaltes dessen ist, was Lukas in 2,1–7 bekundet. Er beruft sich dabei selbst auf 2,11, jedoch indem er nur ein einziges Wort vom dort Gesagten aufgreift und es bestimmend sein läßt: cristo,j. Es fällt etwas auf, das im ganzen Kommentar Schürmanns nur in dieser Auslegung begegnet: Das griechische Wort cristo,j, das übrigens in 2,1–7 gar nicht vorkommt, übernimmt er in seinem deutsch geschriebenen Text und läßt es das entscheidende Stichwort sein. Tatsächlich wird mit dem oben zitierten Satz zu 2,1–7 die Aussage des Lk-Textes auf den Kopf gestellt. Nicht das Geschehen, daß Jesus in der Davidsstadt geboren wird, erweist ihn als den Xristos, sondern gemäß 2,11 (auf das sich Schürmann beruft!) offenbart Gott den Geborenen als „Soter, der ist Xristos Kyrios“. Dieser ist es, der aus den in 2,1–7 deutlich genug angegebenen Gründen in Betlehem geboren und daher dort zu finden ist. Schürmann benutzt 2,11 selektiv, um seine eigene, vorgefaßte Sicht schon in der Auslegung von 2,1–7 auszubreiten. (Auch darf doch der gesamte Aussagegehalt des 1. Kapitels nicht vergessen sein!) Das Stichwort „Xristos“ bestimmt schon die Ausdeutung von 2,1–7, nämlich mittels dessen, was erst 2,11 ausdrücklich sagt. Das bestätigt sofort dieser Satz zu 2,2f: „Jesus ist nicht nur der in der israelitischen Vergangenheit Erwartete und prophetisch Verheißene (auch das ist eine Umkehrung des Faktischen: erwartet wurde, was und weil es von Gott verheißen war!: R. S.), er ist auch der Erfüller aller bewußten und unbewußten menschlichen Sehnsüchte in der weiten Völkerwelt. Darum wird nachher (V 11) das neugeborene Kind nicht nur als der in Israel erwartete ‚rettende‘ ‚Christos‘ vorgestellt werden, sondern als Erfüller aller heidnischen Erwartung: als der ‚Kyrios‘ über Kosmos und Geschichte. Die messianische Freude (!) wird ‚allem Volk‘ zuteil werden (V 10). … Für den Erweis der Messianität Jesu ist sowohl die davidische Herkunft … wie die Geburt in Betlehem … wichtig“ (102). Das alles ist von Jesus ausgesagt, mit dem für die Auslegung von 2,1–7 charakteristischen Bleiben bei den griechischen Wörtern von 2,11. Das zeigt auch der Text zu 2,7: Vom Betlehem-Motiv und Krippen-Motiv her wird „das Kind als möglicher messianischer Prätendent charakterisiert“ (104), und so „ahnt der schlichte Glaube verheißungsvolle Zukunft, etwas Besonderes: Der Soter und Xristos (im deutschen Text bleiben die griechischen Wörter erhalten!) in einem Futtertrog VV 11f “ (105). Hier ist auch schon wieder „messianisch“ und „Messianität“ eingesetzt, was nun wieder vorherrschend wird. In der Auslegung von 2,9–11 fällt dasselbe auf, jetzt sogar in reicherer Ausdeutung: „Der Engel verkündet … daß nun die große messianische Freude anheben soll … messianisches Heil“ (119). Was Lukas so sagt: o[ti evte,cqh u`mi/n sh,meron swth.r o[j evstin cristo.j ku,rioj evn po,lei Daui,d, gibt Schürmann so wieder: „Denn es wurde euch ein Retter geboren, der Christus, der Herr – in der Stadt Davids“. Und die Auslegung dazu: „Das Heilsinteresse stellt die swth,r-Funktion betont voran. Es geht um die rettende Funktion, bevor gesagt wird, von wem das Heil kommen soll. Geboren ist nun der ‚Heiland‘ (vorher: „Retter“: R. S.), und zwar ist dieser mit dem erwarteten Messias identisch, der – wie bedeutungsvoll angefügt wird – in der Davidsstadt geboren ward. Es handelt sich also nicht um irgendeine, sondern um die ‚messianische‘ Errettung, in der das endgültige Heil zukommt“ (110). Auch diese zusätzliche Bemerkung ist wichtig zu beachten: „Cristo.j ku,rioj ist vielleicht auch palästinensisch möglich. Es könnte hier ein hA'hy> x:yvim' frei übersetzt sein, wobei der griechische Übersetzer im Sinne von Ps 2,2 LXX (= Apg 4,26) und 109,1 LXX (= Apg 2,35; vgl. 2,36) christologisch verstanden hätte. Der Kyrios-Titel (!)

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manns von 2,1–14 die Wortwahl wieder vermehrt und dann fast ausschließlich zu „Messias“, „Messianität“ und „messianisch“ tendiert. Dasselbe ist auch in Bezug auf 2,15–38 und deren Auslegung und Ausdeutung festzustellen. In 2,26 findet sich ja die zweite Stelle der seltenen Verwendung von Cristo,j im LkE. Lukas setzt dort, so wie in 2,11, Cristo,j ein und Schürmann gibt es in seiner Übersetzung mit „Christus“ (2,11) bzw. „Gesalbter“ (2,26) wieder, verwendet aber in der Auslegung meistens „Messias“ und deutet damit den Text aus. Schon zu 2,25 heißt es: „Daß Simeon … mit der ‚Tröstung Israels‘, d. h. mit dem baldigen Kommen des messianischen Heils, rechnete, ist schon in Vorbereitung auf VV 26.29–32 gesagt“ (123f). Dann zu 2,26: „Die Tatsache, daß er mit dem Kommen des Messias rechnete … liegt der ihm zuteil gewordenen Offenbarung voraus, die als ein einmaliges Geschehen verstanden wird … auf den Antrieb des Geistes (vgl. auch 4,1) gerade im rechten Augenblick in den Tempel zu gehen und dort in dem Kindlein Jesus den erwarteten Messias Gottes (vgl. Ps 89,49) zu erkennen … Anlaß einer großen messianischen Offenbarung im Tempel Gottes … hier geht die Erwartungszeit in die messianische Zeit über: Der alte Prophet erkennt und verkündet lobpreisend in dem Neugeborenen die Ankunft des Messias. Die Seligpreisung der Augen, die das ersehnte messianische Heil sehen dürfen (vgl. 10,23f), erfüllt sich. Das geistgewirkte Zeugnis enthüllt die Christuswirklichkeit in diesem Kinde“ (124–125). Am Ende dieses Passus, in dem sonst nur vom „Messias“ die Rede ist, findet sich plötzlich auch „Christuswirklichkeit“; warum nicht folgerichtig „Messiaswirklichkeit“ – oder soll doch eine neue Nuance angedeutet sein? Auch im Absatz zu 2,29f zeigt sich dasselbe: Stets ist am Anfang „Messias“, „messianisch“ u. ä. genannt, und am Ende wieder: „Im Blick auf Christus bekommt das Sterben einen neuen Sinn; des Christusheils gewiß wird der Weg in das Todesland friedvoll“ (125). In den folgenden Abschnitten ist wieder „Messias“ das Stichwort. Dort wird es auch in Bezug auf Maria eingesetzt, z. B. zu 2,34: „… ist doch das Schicksal ihres Kindes das des Messias Israels und entsprechend ihr eigenes Leid das der Messiasmutter. … Aussagen über die – die Ablehnung des Messias mitleidende – Messiasmutter“ (127 und 128; dazu auch im Text bis S. 131).109 Außer der Bevorzugung von „Messias“ erläutert so … den Christus-Titel (!) … Daß hier der neugeborene Jesus so tituliert (!) wird, wie das gerade für Luk … charakteristisch ist. So könnte doch luk Redaktion vorliegen. So oder so ist hier der Christus-Titel interpretiert (wie ähnlich Lk 23,2 durch basileu,j), vermutlich doch erst für hellenistische Leser“ (111f). Im übrigen ist der ganze Passus dieser Auslegung fast durchweg mit „Messias“ dargestellt. Es hätte aufgrund des ausdrücklichen Vorkommens von „Christus Herr“ (2,11) durchaus auch alles mit „Christus“ dargeboten werden können, ohne daß dadurch Wichtiges ungesagt geblieben wäre. 109 Die Formel „Messiasmutter“ oder „Messiasmutterschaft“ findet sich im Kommentar zu Lk 1–2 öfter, so „messianische Mutterwürde“ und „Gottes Gnade bereitet sich die jungfräuliche Messiasmutter. … die auf die Messias-Mutterschaft hin gewährte Begnadigung (vgl. V 30) in ihrer Tiefe …“ (44). Dann: „Maria ist – als Mutter des Messias – die begnadetste aller Frauen“ (67). Dazu: „Mit Maria – der ‚Mutter des Glaubens‘ – begann der Glaube auf Erden. Weil sie ‚Mutter des Glaubens‘ ist, wurde sie leiblich die Messiasmutter. Hier ist die Mutterschaft Mariens schon sehr vertieft

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gegenüber „Christus“ ist kein Sinn-Unterschied zwischen beiden festzustellen. Dem werden wir noch näher nachgehen. Im Kommentartext zu 2,41–52 (eigenartigerweise überschrieben mit „Finale: Erweis der Weisheit und Gottessohnschaft Jesu“) wird nur von „Jesus“ namentlich gesprochen (132–139). Nur auf der letzten Seite und im Zusatz-Abschnitt „Zur Traditionsgeschichte von Lk 1–2“ finden sich Wendungen wie „christologische Aussagen“, „Christusbekenntnis“, „Christuskerygma“ und „Christusgeschehen“, die vor allem ganz zu Anfang (9–25) den Kommentartext prägten (s. d.), ohne daß dafür hier ein Grund erkennbar wäre. Im Folgenden wollen wir zu erkennen versuchen, warum Schürmann diese eigenartige Bevorzugung von „Messias“ statt „Christus“ (oder überhaupt „Gesalbter“) zeigt. Was verbindet er mit „Messias“ als Besonderes, so daß er ein allseitiges Verbleiben beim lukanischen „Christus“ als nicht sinnvoll ansieht? Warum „Messias“, da es doch nur ein Hebraismus zu sein scheint, wenn für „Christos“ „Messias“ gesetzt wird? Wir befragen dazu zunächst alle Textstellen, die von „Messianität“ sprechen. Das ist ja offensichtlich ein erst späterer, theologisch neu gebildeter Ausdruck. Sein Gebrauch durch Schürmann bleibt meistens im Allgemeinen; er steht dort eher als eine selbstverständliche Kategorie. Er findet sich erstmals eingesetzt auf S. 40, und zwar als „christologische“ Kategorie: „Die Erzähltendenz (d. i. von 1,26–38) ist eminent christologisch: Es geht letztlich darum, die dem Glauben feststehende Messianität und ‚Gottessohnschaft‘ Jesu … theologisch zu gründen“.110 Was diese genauer sind, bleibt offen. Im folgenden wird dafür als „christologische Wesensaussagen“ Jesu „Heiligkeit“ und „die in Gott gründende Gottessohnschaft“ genannt und damit Jesu „Messianität“ und „messianisches Wirken“ als „stabil fundiert“ erklärt. Jesus ist als „Sohn Gottes“ der „Messias“. Nähere Angaben werden nicht geboten. In der Anmerkung 10 der Seite 42 findet sich dazu diese Feststellung: „Die Erzählung (d. i. im Kontext über das Verhältnis von Josef und Maria: R. S.) hat die Tendenz, die Davidssohnschaft von Josef her und damit die Messianität Jesu aufzuzeigen“. Was diese „Messianität Jesu“ genauer ist, wird auch dort nicht gesagt; der Hinweis auf die Davidssohnschaft gibt verstanden; sie war nicht nur eine leibliche (43), sondern zuvorkommend eine geistliche, wie in Zusammenschau mit V 38 gedeutet werden muß“ (69; wir haben hier nicht über diese Aussage exegetisch oder theologisch zu diskutieren, wenngleich Wichtigstes dazu gesagt werden muß). Es treten noch diese Stellen hinzu: „ihre Würde als Messiasmutter“ (74). In der Auslegung von 2,34–36 begegnen „Messiasmutter“ (127; 128; 129; 130; s. dazu den obigen Text). Es ist vielleicht angebracht, hier auch darauf hinzuweisen, daß nie die Wendung „Christusmutter“ begegnet, wohl ein (einziges) Mal „Christusträgerin“, allerdings bei einer Gelegenheit, die die ganze Problematik dieser Wort-Bildung aufdeckt. Zu 2,42–44 hieß es u. a.: „Hier ist die Mutterschaft Mariens … theologisch gewertet (!). … Elisabeth preist sich selig ob der Ehre des Besuches der Messiasmutter … Mit ihrer Frage setzt Elisabeth die Begrüßung fort … Gleichzeitig gibt sie – befähigt vom Heiligen Geiste (V 41) – die gültige Ausdeutung des physiologischen Geschehens (!) von V 41. Der Gruß der Christusträgerin löst die tiefen Geisteskräfte, eschatologischen Jubel und Christusbekenntnis aus … Anbruch der Messiaszeit“ (68). Der Text wäre in vielfältiger Weise zu diskutieren, wozu hier jedoch nicht der Ort ist. 110 Der voll zitierte Text dieser Stelle findet sich oben S. 128, Anm.1.

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allerdings einen Fingerzeig, dem wir aufgrund weiterer Texte folgen werden.111 Zur Geburt Jesu gerade in Betlehem werden diese ausdeutenden Bemerkungen gemacht: „Das eigentliche Glaubensinteresse … stellt das Geheimnis ins Licht der Verheißung: Jesus wird geboren in der Davidsstadt.„ was ihn als den Cristo,j erweist“ (98). Damit – auf der folgenden Seite wird es „Betlehemmotiv genannt – könnte ein Element der „Messianität“ angesagt sein, nämlich die „Davidssohnschaft“; eindeutig klar ist es nicht. Dazu gibt eher dieser Satz einige Auskunft: „Für den Erweis der Messianität Jesu ist sowohl die davidische Herkunft … wie die Geburt in Bethlehem – der Prophetie Mich 5,1 entsprechend – wichtig“ (102). In Mich 5,1 ist jedoch von einem cristo,j keine Rede, sondern vom „Herrschenden“ (a;rcwn). Die „Herrschaft“ wäre damit eine Komponente des Allgemeinbegriffs „Messianität“, was wir weiter zu verfolgen haben. Zu 2,8 sagt der Kommentar u. a.: „… das Hirtenmilieu der Geburtsgeschichte Jesu im Sinne der Erzählung als ein messianisches Motiv zu verstehen. … unverkennbar die erzählerische Funktion, die Messianität Jesu ins Licht zu stellen“ (18 u. 109). Das gibt immer noch keine befriedigende Antwort auf unsere Frage nach der Sach-Bedeutung von „Messianität“; es ist wieder ein Hinweis, nicht mehr. Ein Überblick über die Stellen, in denen „Messias“ bzw. „messianisch“ eingesetzt sind, könnte mehr aussagen. Schon die erste Stelle, wo „Messias“ begegnet, macht offenkundig, daß es sich faktisch um eine zu einem Allgemeinbegriff gebildete Benennung handelt. Im Blick auf Johannes den Täufer, dessen Geburt erst angekündigt ist, wird von „Messiasgestalt“ gesprochen, zugleich von einer „eschatologischen Heilsgestalt.112 Diesem Ausdruck gesellen sich ähnliche zu, wie „Messiasvorstellung“, „Messiasprädikation“, „Messias-

111 Zu 1,32f ist eine Bemerkung gemacht, die hier zitiert sei, da sie Hinweise zu einem rechten Ver-

ständnis von „Messianität“ enthalten, dem aber noch näher nachzugehen ist: „Im folgenden wird das verheißene Kind grundlegend als der erwartete Messias aus dem Hause Davids beschrieben … Der unmittelbare Kontext … läßt zunächst nur an eine Messiasprädikation denken. Daß damit hier aber nicht nur ein Titel verliehen ist (im Kontext „Sohn des Allerhöchsten“: R. S.), sondern etwas Vorgegebenes zum Ausdruck gebracht wird, in dem die messianische Herrschaft erst gründet, wird im Zusammenhang mit V 35b deutlich …“ (47). Zu 1,35 schreibt Schürmann in einer zusammenfassenden Bemerkung: ‚‘… hat man häufig versucht … eine ursprünglichere (judenchristliche) Form der Erzählung zu gewinnen, der es noch nicht um den Nachweis der vaterlosen Lebensentstehung Jesu, sondern nur um den Nachweis seiner davidischen Abstammung und damit seiner Messianität gegangen sei …“ (55f). Wenngleich hier keine näheren Angaben gemacht sind, so ist der Hinweis auf die „vaterlose Lebensentstehung“ und damit auf die (sog.) Jungfrauengeburt bedeutsam. Wir werden dem nachzugehen haben. 112 Zu 1,14 heißt es u. a.: „Die vorhergesagte Freude des Zacharias … ist vielmehr Freude und Jubel ob der Heilsgabe Gottes unter den künftigen Jüngern des Johannes. Damit ist noch nicht gesagt, Johannes sei eine Messiasgestalt, sosehr er als eschatologische Heilsgestalt gewertet ist; mit ihm wird … das eschatologische Heil unmittelbar Ereignis, und das Heil des Messias kommt in Sicht“ (33).

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zeit“ und noch andere.113 „Messias“ (und nicht „Christus“) ist als theologisch-ordnender Oberbegriff gebildet und wird so eingesetzt. Das gilt z. B. auch für die Bezeichnung „Messiasmutter“ für Maria in ihrem häufigen Gebrauch, obwohl in den entsprechenden Lk-Stellen der Name „Christos“ gar nicht verwendet ist oder er zu vermuten wäre.114 „Messias“ wird aber gerade auch in Bezug auf die „Lebensentstehung Jesu in Maria“ angewendet. Dafür dieses Beispiel: „Das Wissen, daß Jesus als der Messias Geistträger ist, ist hier (d. i. im Kontext zu 1,35) … überhöht bis zur Aussage über Jesu geistgewirkten Ursprung“ (55; woran sich noch zur näheren Erklärung anschließt: „Nachweis der vaterlosen Lebensentstehung Jesu … Nachweis seiner Messianität“: 56).115 Die Formel „Jesus als Messias“ (nie „Jesus als Christus“!) begegnet auch 81 („Gnadenheimsuchung Gottes im Messias Jesus“); 128 („sich zum Messias Jesus bekennende Gemeinde“ mit „Ablehnung des Messias“: 129). Die Rede ist oft vom „Kommen des Messias“ bzw. von der „Ankunft des Messias“.116 Dem entspricht 113 Zu 1,35 wird u. a. dies gesagt: „… wird hier das Messiassein von ersten Augenblick der Entste-

hung an ausgesagt (für Jesus, im Kontext: R. S.). Die ‚ewige Dauer‘ seiner Herrschaft zeigt an, wie sehr hier die altisraelisch-irdische Messiasvorstellung … transzendiert ist“ (48). Zu 1,32f hieß es zuvor: „Im folgenden wird das verheißene Kind grundlegend als der erwartete Messias aus dem Hause Davids beschrieben … ‚Sohn des Höchsten‘ wird das Kind sein … läßt zunächst nur an eine Messiasprädikation denken … in dem die messianische Herrschaft erst gründet …“ (47). Zu 1,43f findet sich u. a. dies: „Die avgalli,asij ist dabei … eschatologischer Jubel über den Anbruch der Messiaszeit …“ (68). Zu 1,78 lesen wir: „Da diese avnatolh, Israel ‚heimsuchen‘ wird, verbirgt sich hinter dieser bildhaften Andeutung Gott oder der Messias, im Text, wie er heute vorliegt, wahrscheinlich letzterer … Im griechischen Raum konnte der verfestigte Messiasname avnatolh auch vom Verbum xrz = avnate,llw – „aufgehen“ her verstanden werden … Dieses aufleuchtende Licht des Messias …“ (92; auch 126). Zu 2,8 wird diese Bemerkung gemacht: „Die Hirten bieten hier ein bedeutsames und deutungsmögliches Milieu für den Messias: Der Stammvater Jesu, der König David, weidete … das Hirtenmilieu der Geburtsgeschichte Jesu im Sinne der Erzählung als ein messianisches Motiv zu verstehen“ (108). 114 Der Ausdruck „Messiasmutter“ begegnet oft, so zu 1,28 („… die messianische Mutterwürde … jungfräuliche Messiasmutter … Messias-Mutterschaft“: 44); zu 2,42 („Maria ist – als Mutter des Messias – die begnadetste aller Frauen“: 67); dazu sogleich: zu 2,45 („Mit Maria – der ‚Mutter des Glaubens‘ begann der Glaube auf Erden. Weil sie ‚Mutter des Glaubens‘ ist, wurde sie leiblich die Messiasmutter. Hier ist die Mutterschaft Mariens schon sehr tief verstanden; sie war nicht nur eine leibliche (V 43), sondern zuvorkommend eine geistliche …“: 69; s. den Kontext 67–69); auch 2,51–55 („Im Lichte der Verheißung 1,31ff wird das 1,46–50 besungene Geschehen der Lebensentstehung des Messias im Schoße Mariens als der Anfang vom Ende verstanden“); dazu auch 74; 127; 128; 129; 130. Der (mögliche) Ausdruck „Christusmutter“ kommt nie vor; wohl begegnet 1mal „Christusträgerin“ (68 zu 1,43f!), was freilich auch ein unnötiges Gebilde ist. 115 Dazu diese Feststellung Schürmanns: „… in der Perikope (d. i. 1,26–38) hat das Faktum der vaterlosen Empfängnis seinen eigenen – das „Sohnsein“ begründenden – christologischen Aussagewillen“ (63), mit der Anm. 160 dort: „Das Judentum scheint die Erwartung einer vaterlosen Entstehung des Messias nicht gekannt zu haben; …“. Dazu dieser Satz in der Auslegung von 1,51–55: „… das besungene Geschehen der Lebensentstehung des Messias im Schoße Mariens …“ (75). 116 Dazu diese Textstellen: „Kommen des Messias“: „… das erwartete Kommen des Messias … hat Erfüllungscharakter, was Luk besonders wichtig ist (vgl. Apg 3,21): Der Messias aus dem Hause Davids wurde schon vor alters prophetisch vorherverkündet“ (87; 89). Dazu in Bezug auf 2,11:

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auch die häufige Redewendung vom erwarteten Messias“, zumal dieser meistens als „Messias für Israel“ o. ä. bestimmt wird.117 Die Zusammenschau von „Messias“ und „Rettung“ u. ä. findet sich oft. In allen diesen in diesem Sinne besprochenen Lk-Texten selbst steht das Wort „Christos“ nie; „Messias“ ist offensichtlich ein erst späterer theologisch eingeführter Oberbegriff für verschiedene Aussagen über Jesus. Auch in den oft herangezogenen biblischen Texten, die zwecks Beleg aufgeführt werden, ist keine Rede von „x:yvim' – Messias – Christos“. Die Wendung „messianisch“, ein von „Messias“ abgeleitetes Adjektiv, wird faktisch für fast alle Jesus-Aussagen angewendet, was sich dabei aber kaum auf einen entsprechenden Wortgebrauch der betreffenden Bibelstellen berufen kann. Alle Anwendungsstellen von „messianisch“ hier aufzuführen erübrigt sich.118 Die Formel „messianische Herrschaft“ lenkt den Blick auf alle die Kommentaraussagen, die vom „davidischen Thron“ und von der dem Davidshaus gegebenen Herrschaft u. ä. sprechen, die hier besonders aufschlußreich sind. Dem gehen wir näher nach und fragen, welche alttestamentlichen Bibelstellen Schürmann als (mehr oder weniger gültige) Belege beibringt. Im Kontext der Auslegung von 1,30f heißt es u. a.: „In gehobener Sprache … wird Maria, in Anspielung auf die Prophetie Is 7,14, nun verheißen, sie werde empfangen und Mutter des erwarteten Messias werden“ (46; wir bemerken die eigenartige Wiedergabe des Lk-Verses, der keine „Verheißung“, sondern Ankündigung ist und von „empfangen im Schoße und „Anbruch des eschatologischen Heils in der Ankunft des Messias … machtvolle Kommen des Heiland-Messias zur letzten Rettungstat“ (112; 113). Zu 2,26 u. a.: „Die Tatsache, daß er mit dem Kommen des Messias rechnete … in dem Kindlein den erwarteten Messias … in dem Neugeborenen die Ankunft des Messias“ (124f). 117 Dazu diese Stellen: Zu 2,11 u. a.: „Geboren ist nun der ‚Heiland‘, und zwar ist dieser mit dem erwarteten Messias identisch“ (110; vgl. dazu auch schon 47). Vgl. sodann auch noch 121 und 124. Zu „Messias für Israel“ seien diese Texte genannt: Zu 1,67–79 heißt es u. a.: „Während der erste Teil (VV 68–75) Gottes endzeitliches Handeln, die Sendung des Messias für Israel … besingt …“84). Zu 2,34a: „… ist doch das Schicksal ihres Kindes das des Messias Israels …“ (127; s. den Kontext; dazu auch 129: „Ablehnung des Messias durch Israel“, was auch 130 u. 131 genannt wird). 118 Wir geben einige Beispiele für den Gebrauch von „messianisch“, in denen ganz offen bleibt, was das sachlich genau besagt. Zu 1.35 wird im dortigen Zusammenhang von einer „messianischen Aufgabe“ gesprochen, ohne jede nähere Angabe. Zu 1,54f (Teil des Magnificat) wird von „messianischer Neuordnung“ und „messianischer Erneuerung“ gesprochen, die Israel und dann auch die Völker angeht, auch von der „Erfüllung der Verheißung an die Väter“ (wobei „im Zusammenhang an das Kommen des Messias zu denken sei“), ohne daß Näheres erkennbar wäre, ganz abgesehen davon, daß „Christos“ gar nicht, auch nicht andeutungsweise genannt ist. Zum ersten Teil des Benedictus wird gesagt, „der Psalm (ist) ein messianisches Jubellied, das auf das Kommen Jesu zurückschaut“, „da Gott seinem Volke den rettungbringenden Messias erstehen ließ“; „Christos“ findet sich überhaupt nicht, und „messianisch“ könnte als Adjektiv das „Objekt“ des Liedes angeben, das selbst aber nicht „messianisch“ ist (86; dazu auch „messianischer Lobpsalm“ 89). – Zu 2,8 heißt es: „das Hirtenmilieu der Geburtsgeschichte Jesu im Sinne einer Erzählung als ein messianisches Motiv zu verstehen … die Hirten ein bedeutsames und deutungsmögliches Milieu für den Messias“ (108). Dazu sogleich auch: „… daß nun die große messianische Freude anheben soll … messianisches Heil … der erwartete Messias“ (110): alles offene, ja willkürlich geprägte Wendungen. Wir brauchen das hier nicht weiter zu verfolgen.

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Abschnitt B:

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Sohn gebären“ spricht!). Weder in 1,30f noch in Jes 7,14 (im hebräischen wie im LXXText) ist etwas von „Messias“ gesagt! Jes 7 ist tatsächlich die Ankündigung (keine Verheißung!) Jahwes bekundet, was er, gegen den Plan des Achaz geschehen zu lassen gedenkt (wann das geschehen wird, ist ganz offen). Die ohne Namen angeführte Frau (Jungfrau, junge Frau) wird/soll empfangen und dem geborenen Sohn (der noch keinen Namen hat) den Namen IMMANUEL geben (der Text läßt offen, ob im Auftrag Jahwes oder aus eigenem oder wie immer fremdbestimmtem Willen; das Futur kann durchaus als imperatives verstanden sein). „Erwarteter Messias“ ist in den Text unbegründet hineingelesen. Dasselbe gilt für die dort folgende Aussage zu 1,32f: „Im folgenden wird das verheißene Kind grundlegend (!) als der erwartete Messias aus dem Hause Davids beschrieben (!)“ (47). Die Anmerkung 50 weist dazu auf diese Belegstellen hin: „Vgl. die Verheißungen 2 Sm 7,12–16; Jer 23,5; 33,15; Zach 3,8; Is 11,10“. Zu diesen ist festzustellen: In 2 Sm 7,12–16 kommt „Messias“ überhaupt nicht vor! Die Rede ist vielmehr, als Verheißung, von „einsetzen und sein Königtum bestätigen … Ich will den Thron seiner Königherrschaft für immer befestigen, Ich will ihm Vater sein und er soll mir Sohn sein … Dein Haus und dein Königtum sollen immerdar vor mir Bestand haben. Dein Thron soll für immer gegründet sein“. Das ist es, worauf sich 1,32f berufen könnte, und nicht ein „Messias“-Sein.119 Ähnliches wird in dem weiteren Auslegungstext zu 1,32f gesagt, mit manchen anderen Nuancen: „Aufgrund seiner Gottessohnschaft wird dem Kinde – an dessen davidische Abstammung noch einmal (vgl. V 27) erinnert wird – der Davidsthron gegeben werden. Hier ist die atl. Prophetie wie 1,68–75; 22,28–30 realistisch und ernst auf Erden erfüllt vorgestellt: Auch die Ordnungen dieser Welt werden dereinst durch Christus beherrscht und ihre Erfüllung finden im Königtum Christi. Seiner messianischen Herrschaft auf Erden über Israel wird ewige Dauer verheißen“ (48). In diesem Text wird ausnahmsweise „Christus“ gesetzt, allerdings mit der kuriosen Bemerkung, daß „Christus und seinem Königtum messianische Herrschaft auf ewig verheißen“ sei. Wir bemerken den Oberbegriff-Charakter (wie wir es nannten) von „Messias“ sogar über Christus und Jesus, den eine vermeintlich theologische Einsicht erfunden hat. In den dazu angefügten Anmerkungen werden weitere Schriftstellen zum Beleg vorgelegt, die alle das-

119 Zu den anderen „Belegstellen“ ist dieses zu sagen: Zu Jer 23,5: „Messias“ steht nicht da! Vielmehr

ist vom Sproß die Rede, „den Jahwe dem David erstehen lassen wird. Der wird als König herrschen und weise walten und für Recht und Gerechtigkeit im Lande sorgen. In seinen Tagen wird Juda Heil erfahren, und Israel in Sicherheit wohnen“. Wieder geht es eindeutig um Königtum und Herrschaft, um Heil für Israel. In Jer 33,15 ist dasselbe wiederholt gesagt. – In Sach 3,8 findet sich nichts von „Messias“; es heißt nur: „Siehe, ich lasse meinen Knecht ‚Sproß‘ kommen und ich werde die Schuld des Landes fortschaffen an einem Tag“. Es ist irgendwie von Sündenrettung die Rede, durch Jahwe selbst. – In Jes 11,10 heißt es: „An jenem Tag wird Jahwe zum zweiten Mal die Hand erheben, um sich den Rest seines Volkes zu erwerben“. Vom „Messias“ ist keine Rede; es ist nur einer der vielen Verheißungssätze, die aber hier nichts einbringen.

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selbe Fragwürdige anzugeben scheinen.120 In den von Schürmann selbst beigezogenen Stellen im obigen Text findet sich „Messias“ überhaupt nicht. Für 2 Sm sahen wir das schon; s. o. Für Gn 49,10 gilt dasselbe dort Gesagte; für Ps 89,30 und 1 Makk gleichfalls. In der Anmerkung 63 wird noch auf folgende Stellen hingewiesen: 3 Kg 9,25; Is 37,25; Mich 4,7; 1. Makk 2,57; und mit der zusätzlichen Bemerkung „Der Messias als Vollender der Davidsherrschaft“ auch auf Dn 9,11; Ez 17,22ff. Zu allen diesen Stellen ist zu sagen, daß in ihnen nie vom „Messias“ die Rede ist, sondern immer von der Herrschaft, die dem David, dem Davidsthron usw. von Jahwe gegeben bzw. zugesprochen worden sind auf ewige Zeiten. Damit haben wir einen wichtigen Hinweis, was Schürmann faktisch mit „Messias“ ansprechen will.121 Zur Auslegung von 1,79 findet 120 In der Anm. 55 der Seite 48 heißt es: „Ursprünglich kann im Lichte von Ps 2,7 an die endzeitliche

messianische Inthronisation gedacht gewesen sein“ (mit Berufung auf Hahn 288 u. 307). Dieser Psalm spricht jedoch vom „Sohn“, nicht vom „Messias“! In der Anmerkung 58 heißt es u. a.: „Luk ordnet den Sohnestitel häufig dem Christustitel zusammen, so in 4,41; 22,67.70; Apg 9,20.22“. Abgesehen davon, daß überhaupt von „Sohnestitel“ und „Christustitel (gegen deren Verständnis bei Lukas!) gesprochen wird, kann auch von „Zusammenordnung durch Lukas“ in den (wenigen!) angegebenen Stellen keine Rede sein. 121 Wir bringen hier die entscheidenden Kommentarstellen in Bezug auf die Davidssohnschaft bzw. Davidsherrschaft, die tatsächlich oder auch nur vermeintlich auf „Messias“ oder „messianisch“ hin gelesen werden können (soweit sie nicht schon zitiert wurden): Zu 1,72ff heißt es u. a.: „Gott bekennt sich zu dem mit den Vätern geschlossenen Bund und dem Abraham gegebenen Schwur (V 73) und sendet – wie verheißen (V 70) – den Messias aus dem Hause Davids (VV 68f), der Israel politische Freiheit schaffen wird (V 71), damit das Gottesvolk ungestört Gott dienen kann (V 75) … Der Psalm erwartet einen auf Erden auftretenden und wirkenden Messias aus dem Hause Davids“ (89). Zu 1,35 lesen wir u. a.: „Wie V 32 das me,gaj durch ui`o.j u`yi,stou seine nähere Bestimmung empfing, so in anderer Weise hier das a[gion durch ui`o.j qeou/. Und wie schon V 32 die ‚Gottessohnschaft‘ im Zusammenhang der messianischen Inthronisation vorgeordnet war (s. d.), so ist sie hier mit der Gottgewirktheit des persönlichen menschlichen Seins gegeben – deutlich vor einer messianischen Aufgabe“ (54). Zu 2,49 ist u. a. dieses gesagt: „Die Innigkeit dieser GottHörigkeit Jesu ist im Worte Jesu als Vater-Sohn-Verhältnis charakterisiert. Im Lichte des Gesagten ist dieses Verhältnis zunächst als ein persönlich-religiöses, nicht vordergründig als ein amtlichmessianisches geschildert. Nicht als Inhaber des Davidsthrons ist Jesus hier – wie 1,32 – Sohn; … Wird doch Jesus an unserer Stelle gar nicht unmittelbar mit der Sohnesprädikation belegt“ (136; zu diesen Aussagen wäre einiges zu sagen, wozu aber kein Platz gegeben ist). – Zum Stichwort „Heil“ seien diese Stellen genannt: „das erwartete messianische Heil“ (90; zu 1,76–79). Zu 2,9f u. a.: „V 14 wird der Rahmen Israels dann ausdrücklich gesprengt und das messianische Heil weltweit gesehen … Es handelt sich also nicht um irgendeine, sondern um die ‚messianische‘ Errettung, in der das endgültige Heil zukommt“ (110). Zu 2,25 lesen wir u. a.: „Daß er (d. i. Simeon) mit der ‚Tröstung‘, d. h. mit dem baldigen Kommen des messianischen Heils rechnete, ist schon in Vorbereitung auf VV 26.29–32 gesagt“ (123f; ähnlich 125 und 126; 131). – Zu „Retter“ und „Rettung“, in Bezug auf „Messias“ eingesetzt, sind diese Stellen zu nennen: Zu 1,68f heißt es u. a.: „… die heilbringende Gnadenheimsuchung Gottes … Diese aber hat nun begonnen, da Gott seinem Volke den rettungsbringenden Messias erstehen ließ … Der Aorist h;geiren sieht im ‚Erwecktwerden‘ des Messias dem ganzen Zusammenhang nach (vgl. 1,26–56) ein Ereignis der jüngsten Vergangenheit“ (86). Dazu sogleich dies: „Wie die lu,trwsij (V 68), die swthri,a (V 69) näherhin verstehbar ist, sagt V 71: Gottes Erlösungstat und die von diesem Messias gewirkte ‚Rettung‘ wird formelhaft mit den Worten von Ps 105,10 LXX heilsgeschichtlich-politisch beschrieben …“ (87; ähnlich 102).

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Abschnitt B:

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sich dieser bemerkenswerte, ja befremdliche Satz: „Die Aufgabe des von oben kommenden Lichtes wird die Erleuchtung sein, wie mit den Worten von Is 9,2 (und Ps 106,10) gesagt wird. Is 9 ist aber der Messias das Licht – so also auch hier. Diese messianische ‚Erleuchtung‘ meint inhaltlich das … angekündigte ‚Heil‘, genauer: die ‚Sündenvergebung‘ von V 77. … Dieses aufleuchtende Licht des Messias wird dann helfen, den ‚Friedensweg‘ zu finden … Auch Is 9 ist der Messias nicht nur Licht, sondern auch Friedensbringer“ (92). Dazu ist zu bemerken: Im Jes-Text findet sich keinerlei Grund, vom „Messias“ zu sprechen, wenn dies atl.-biblisch, und nicht theologisch-systematisch verstanden wird. Die dort tatsächlich genannten (Licht, Heil, Friedensweg, Sündenvergebung usw.) sprachlichen Ausdrücke sagen selbst deutlich genug, was gekündet werden soll; sie benötigen keine übergreifende Kategorie; diese nimmt ihnen sogar ihren Aussage-Reichtum. Alles in allem betrachtet ist dieses festzustellen: Im Kommentar Schürmanns werden die Wendungen „Messias“ und „messianisch“ in den mit ihnen vorgebrachten Aussagen als theologisch-systematisierende Kategorien zur Auslegung und Ausdeutung von Lk 1–2 angewendet, welcher Text selbst sich jedoch einer anderen, vor allem reicheren Sprache und Wortwahl bedient. Diese sind ohne Zweifel weitgehend, wenngleich keineswegs allein und ausschließlich, an Vorstellungs- und Formulierungsweisen der alttestamentlichen Bibel ausgerichtet bzw. von ihnen angeregt und auch sachlich-inhaltlich geprägt. Wir haben gesehen, daß das LkEv (und überhaupt das NT) im Grunde einen viel reicheren Wortschatz einsetzt, der mit den nivellierenden späteren Allgemeinbegriffen nicht mehr erfaßt und lebendig erkannt werden kann. Dafür ist jetzt „Messias“ ein augenfälliges Beispiel. Denn „x:yvim' – cristo,j (LXX) – Gesalbter“ wird im AT nicht nur in Bezug auf Davidssohnschaft und Davidherrschaft eingesetzt, sondern sehr oft auch für den oder die Priester (diese im alttestamentlich-vielfältigem Sinn verstanden).122 Das greift der Hebräerbrief ausdrücklich auf (vgl. bes. 1,9; dann auch, in weiterem Sinn, 3,1; 5,5f; 7,17f; 9,11). Der Kommentar greift nur auf David-Herrschaft bezogene Texte Zu 2,11 u. a.: „Das Heilsinteresse stellt die swth,r-Funktion betont voran. Es geht um die rettende Funktion, bevor gesagt wird, von wem das Heil kommen soll. Geboren ist nun der ‚Heiland‘, und zwar ist dieser mit dem erwarteten Messias identisch … ‚messianische‘ Errettung, in der das endgültige Heil kommt“ (110; dazu auch 111). „Messias“ als „Friedensbringer“ findet sich 99; 111 und 114. 122 Im AT wird „Gesalbter“ im Buch Leviticus fast ausschließlich im Bezug auf „Priester“ eingesetzt: 4,5.16; 21,10.12 u. a. In 1 und 2 Sm herrscht die Anwendung auf David und seine Berufung und Bestallung vor (wir brauchen die einzelnen Stellen hier nicht zu belegen). In den Psalmen ist auch meistens der Bezug auf David gegeben, doch auch auf ganz Israel als dem „Gesalbten Jahwes“ wie auf Joseph (in Ägypten). Bei den Propheten findet sich kein Beleg, mit der einen, beachtenswerten Ausnahme in Jes 45,1: „So spricht Jahwe zu Cyrus, seinem Gesalbten, dessen Rechte er ergriffen hat … (4) Um meines Knechtes Jakob willen, um Israels, meines Auserwählten … willen rief ich dich beim Namen …“. Wir sehen, schon im AT ist „Gesalbter“ kein festgelegtes Wort oder Begriff. – Auf die Unabgeschlossenheit des Verständnisses von „Gesalbter“ im AT weist auch der Artikel „Messias“ in LThK 7,169–171 (Hossfeld) hin, der dort sogar „Bibeltheologische Überlegungen z. alt. Messianismus“ vorlegt, also auch nicht ohne dieses Abstraktum meint operieren zu können.

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zurück.123 Selektierende Anwendung biblischer Wort- und Begriffsgehalte, die zu theologisch-systematischer Begrifflichkeit erstarrt sind, ist oft der Grund für neue, auch exegetisch-theologische Festlegungen geworden, die im Nachhinein Diskussionen ausgelöst haben, die gerade daran kranken, daß man von derartigen, allgemein üblich gewordenen Vorstellungen, Wörtern und Begriffen später nicht mehr meint sich lösen zu können. Dafür ist „Messias“ ein eklatantes Beispiel, aber auch „Jungfrauengeburt“, welche Wortbildung bekanntlich für die theologische Erfassung des Aussagegehaltes von Lk 1 (wie auch Mt 1) zum Haupt-Wort geworden ist. Dem werden wir uns im jetzt folgenden Absatz zuwenden. c) „Jungfrauengeburt“?

Wie wir schon gesehen haben, so faßt Schürmann einleitend zur Auslegung von Lk 1,26–38 zusammen, was seiner Ansicht nach dort ausgesagt wird. Er wendet in Bezug auf „Messianität“ und „Gottessohnschaft“ Jesu, die dort „theologisch gegründet“ würden, diese Formeln an: „das menschliche Dasein Jesu schöpferische Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau“; „Jes 7,14 Verheißung der Jungfrauengeburt“; „vaterlose Lebensentstehung (Jesu)“; „christologische Wesensaussage: Jesus der ‚Heilige Gottes‘, der aus einer Jungfrau geborene ‚Sohn Gottes‘“.124 Alle diese genannten Aussage-Elemente seien wesentlich bestimmend für das in 1,26–38 Bekundete und daher für Lk 1 insgesamt. Diese höchst anfechtbaren Angaben und Feststellungen sind der Anstoß dafür, nachzufragen, aus welchen Gründen für den wesentlichen Aussagegehalt von 1,26–38 überhaupt der Ausdruck „Jungfrauengeburt“ verwendet wird und als exegetisch-theologisch gültige Inhaltsangabe gilt. Was soll mit dieser Wendung sachlich ausgesagt werden? Wir fragen daher umfassend danach, aus welchen explizit sprechenden Text-Aussagen des LkEv diese fragwürdige Terminologie hergeleitet wird bzw. wo sie als gerechtfertigt und unübersehbar vorliegt. Dazu diese Feststellungen: Das Wort „Jungfrau“ findet sich im ganzen LkEv nur ein einiges Mal angewandt, nämlich für Maria in 1,27: „… gesandt zur verehelichten Jungfrau Maria“. Auch das Wort „Jungfrauschaft/Jungfräulichkeit“ ist nur einmal verwendet, nämlich in 2,36 (parqeni,a) von der Prophetin Hanna ausgesagt: „sie hat nach ihrer Jungfrauschaft sieben Jahre mit ihrem Mann gelebt“. Das Adjektiv „jungfräulich“ findet sich im gesamten NT gar nicht! Die Stelle 2,36 spricht mit Jungfrauschaft in Bezug auf Hanna offensichtlich die Zeit bzw. ihr Befinden vor der Ehe an; eine betonte „Jungfräulichkeit“ ist nicht angegeben. Für 1,27 läßt sich bei unvoreingenommenem Lesen dieses sagen: Maria wird dort „verehelichte Jungfrau“ genannt. Die Wortwiederholung 123 Man könnte durchaus begründet an Lk 2,21–29 eine Überlegung zu „Gesalbter Jahwes“ anschlie-

ßen, nämlich im Blick auf die eigenartig formulierte Schilderung der Beschneidung und (sog.) Darstellung Jesu im Tempel anstellen. Es sei verwiesen auf das oben in II.5.b Herausgestellte; s. d. 124 Der Text ist vollständig wiedergegeben oben S. 128, Anm. 1.

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„Jungfrau“ in 27c („der Name der Jungfrau war Maria“) bezieht sich klar auf die zuvor in 27a genannte verehelichte Jungfrau und gibt ihren Namen an. Dort eine „zweifache Betonung der Jungfräulichkeit Mariens“ zu erkennen, entbehrt jeder Berechtigung. Das Abstraktum „Jungfräulichkeit“ entspricht nicht dem Text.125 Die Wortkombination von „verehelicht“ und „Jungfrau“ könnte für den, der das damalige jüdische Eheund Familienrecht nicht kennt, erklärungsbedürftig sein. Dazu gibt Maria selbst in 1,34 eine einfache Klarstellung mit dem Satz: „da ich (meinen) Mann (noch) nicht erkenne“, welcher Satz freilich richtig gelesen und interpretiert werden muß. Dazu dies: Maria weiß sich vom Boten des Herrn zu der Zeit besucht und angesprochen, da ihr persönlicher Lebensstand das Verehelicht- und Noch-nicht-zusammengekommen-Sein war.126 Wenn man unbedingt will, kann man (vermeintlich deutlicher und ausführlicher) sagen: Maria wird in 1,27 schlicht und ohne sonderliche Betonung Jungfrau genannt, wie es für den sie damals betreffenden persönlichen Lebensabschnitt für damalige Juden selbstverständlich war, so auch als normal angenommen und ausgesprochen wurde: Jungfrau ist und meint die Frau vor dem Eheschluß; und auch die Jung-Vermählte, aber noch nicht „heimgeführte“ Frau war in dem Sinne Jungfrau, daß sie noch keinen ehelichen Umgang hatte; weitere, spezifizierende Elemente des Jungfrau-Seins in diesen Versen zu lesen und auszudeuten versuchen, ist deplaziert; denn der Text selbst gibt dazu keinerlei Anlaß. Ebenso unangebracht ist es, in 1,27 für das schlichte „Jungfrau“ das Abstraktum „Jungfräulichkeit“ einzusetzen (Schürmann spricht von „zweimal betonter Jungfräulichkeit“ und argumentiert da125 Schürmann sagt zu 1,27 in seiner Auslegung dieses: „Gleich einleitend wird zweimal betont auf

Mariens Jungfräulichkeit hingewiesen, wobei schon – die Nähe zu VV 31ff und VV 34f beweist das (s. d.) – an Is 7,13 LXX erinnert sein soll. Mariens Verlobung muß hier schon – nicht erst 2,5 – erwähnt werden, damit die Davidssohnschaft V 32 von dem verheißenen Kind Mariens ausgesagt werden kann, die nach jüdischer Auffassung nur vom Vater her begründbar war und demzufolge auch im NT einhellig auf Josef zurückgeführt wird. Denn von diesem – nicht von Maria oder von beiden – soll hier (wie Mt 1,20) die davidische Abstammung ausgesagt werden. Die Wortstellung läßt nur diese Deutung zu“ (42). Hier werden wieder mehrere Dinge in verkehrter Ordnung gesehen und behauptet. Nicht weil Lukas jüdischen Auffassungen entsprechen will, „muß“ (!) er zu Maria und Josef das sagen, was im Text steht, sondern weil er das berichtet (im Sinne des Evangeliums Gottes), was geschehen ist, was Gott getan und initiiert hat und tun wird. Von „zweimaliger Betonung der Jungfräulichkeit Mariens“ sprechen und mit keiner Bemerkung auf das eingehen, was der Text deutlich sagt, nämlich daß Maria mit Josef aus dem Hause Davids verehelicht (fälschlich „verlobt“!) ist, ist untragbar und verfälscht die Textaussage. Wenn in 1,27 etwas als „betont“ bezeichnet werden soll, dann ist es die Davidssohnschaft Josefs, das aber nicht aus Gründen theologischer oder sonstiger Logik, sondern weil Gott eben an Maria (und auch nicht, wie es heißt, an „eine (unbestimmter Artikel!) Jungfrau“ herantrat zu dem Zeitpunkt, da dies ihre momentane Lebenssituation war: mit Josef verehelicht. Gott läßt seinen Sohn den Sohn Davids werden, um seine Verheißung zu realisieren. Auch ist in 2,5 absolut keine Rede von „Verlobung“. 126 Vgl. dazu das oben in A. I.2 und 3 und in B.II.3 zu Mt 1,16 und 1,18 Herausgearbeitete. Matthäus spricht dort das auch in Lk 1 27.34 Ausgesagte für Josef und Maria in einem Satz aus: „sie waren verehelicht und bevor sie zusammengekommen waren“. Vgl. dazu alles, was dort zum Ehe- und Familienstand vorgetragen ist, wie auch den dort angegebenen Exkurs.

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mit), weil dadurch Fragestellungen heraufbeschworen werden, die der Lk-Text keineswegs anregt oder gar fordert. Wir halten daher weiter Ausschau nach dem, was Schürmann als explizit in Lk 1–2 ausgesprochen behauptet. Im oben zitierten Text sagt er, daß Jes 7,14 die „Verheißung der Jungfrauengeburt“ enthalte. Für diese Stelle Jes 7,14 ist bekanntlich bis heute keine einmütige Auffassung erreicht, was dort mit „parqe,noj“ genau ausgesagt sein soll, so daß der Ausdruck „Jungfrauengeburt“ (den man für Lk 1,26–38 in Bezug auf Jesus meint einsetzen zu müssen) gänzlich unangebracht ist. Somit kann der Text Jes 7,14 höchstens für die sprachliche Ausformulierung bei Lukas verglichen werden (zumal der Ausdruck ja auch dort deplaziert ist), nicht für das dort sachlich Bekundete. Im oben zitierten Kommentartext finden sich noch zwei weitere Feststellungen zu 1,26–38, die wichtig sind. Es heißt, dort werde der „Aufweis“ geliefert, „wie Jesus sein menschliches Dasein der schöpferischen Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau verdankt“ und deswegen sei von „vaterloser Lebensentstehung Jesu“ die Rede; er habe als „der ‚Heilige‘ Gottes, der aus einer Jungfrau geborene ‚Sohn Gottes‘ und als solcher der ‚Messias‘“ zu gelten. Das sei nämlich eine „christologische Wesenaussage“ (ebd.).127 Wir erkennen, daß „Jungfrauengeburt“ als formelhaft-zusammenfassende Kurzangabe für die Realbestimmung des sehr offenen Wortes „tun“ („Tat“) Gottes und dessen entscheidenden Folgen, wie sie im konkreten Fall 1,26–38 bekundet sind, dient.128 In der im Kommentar folgenden seitenlangen Diskussion zur „Jungfrauengeburt“ begegnen immer wieder diese fraglichen Feststellungen und Formulierungsweisen. Im Lk-Text wird nun tatsächlich von Gott und 127 Wir haben schon öfter auf die Problematik hinweisen müssen, die durch die eigenartig unter-

scheidenden Kategorien „christologisch“ und „theologisch“ (absolut unnötig) heraufbeschworen wird, ohne daß dafür im uns hier beschäftigenden Lk-Text selbst Sachgründe vorliegen. Es sei an die Stelle in den einleitenden Sätzen zur Auslegung von 1,28–38 erinnert; wo „die Erzähltendenz der Verkündigungsszene als eminent christologisch“ erklärt wird. Diese Charakterisierung begegnet häufig. So wird zu 1,32 dies gesagt: „Die christologische Aussage von VV 32f mit ihrer alt-jüdischen Diesseitsechatologie bleibt zurück hinter der von VV 35, wo zumal der Gottessohntitel (!) vertieft verstanden ist“ (49). Dazu auch: „… aus christologischen Gründen. Die christologische Aussage ist der von Röm 1,3f auffallend ähnlich, … die Existenzweise Jesu als erhöhter hyios Theou … durch das pneuma hagiosynes bewirkt wird …“ (55). Zu Jes 7,14 findet sich diese Bemerkung: „Erst auf einer späteren Stufe der christologischen Meditation und Explikation konnte der Beginn des Erdendaseins Jesu und damit Jes 7,14 LXX für die Unterweisung und christologische Denkbemühung interessant werden“ (60; so nochmals 61). 128 Die Wendung „Jungfrauengeburt“ wird oft ohne nähere Bestimmung pauschal für das in 1.26– 38 Ausgesagte als christologische bzw. theologische Inhaltsangabe eingesetzt, so S. 40; 56; 60: 61 (5mal). In Lk 2, das die „Geburtsgeschichte Jesu“ (so Schürmann) bringt, wird jedoch dieser Ausdruck nie verwendet. Nur für das in 1,26–38 Ausgesagte begegnet er, wie dann vor allem in der dort vorgelegten und kritisch betrachteten Diskussion um die Historizität dessen, was mit „Jungfrauengeburt“ bezeichnet ist. Die Zusammenfügung von „Tat Gottes in Schoße einer Jungfrau“ und „Jungfrauengeburt“ könnte als unangebracht angesehen werden. Doch es ist Schürmann selbst, der es in seinem Text tut: S. 40 offenkundig; in den Textstellen 27; 39 („ihre (d. i. Elisabets) Schwangerschaft als Tat Gottes“ mit 27 zusammengeschaut); 71; 74–75; diese immer in ihren unmittelbaren Kontext gelesen.

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seinem „Tun“, von seinem „Tätig“- und „Aktiv“-Sein gesprochen, allerdings mittels konkret-positiv sprechender Verben.129 Dementsprechend wird auch die jeweilige „Reaktion“ Marias auf Gottes „Tun“ zur Sprache gebracht. Es wird das konkret genannt, was Gottes „Tun“ auf Maria hin erfahrbar geschehen ließ/läßt (wenn es sich um ein Tun im Aktiv oder theologischen Passiv handelt) oder geschehen lassen will/ wird (wenn es in Ankündigung vor dem realen Geschehen ausgesagt wird). (Wir übernehmen hier bewußt das Wort Marias in 1,38 „mir geschehe nach deinem Wort“; denn „geschehen“ ist ein Verb, das eindeutig und zugleich überaus offen spricht.)130 Der Überblick über das so zur Sprache Gebrachte zeigt wieder dasselbe: Es widerspricht dem Lk-Text, das von ihm tatsächlich konkret sprechend Bekundete mittels Abstrakta oder späterer theologischer Sprachformeln vorzulegen und auszudeuten. Deswegen fragen wir weiter: Woher rührt das Faktum, daß in den Kommentaren überhaupt derart selbstverständlich von „Jungfräulichkeit“, „vaterlose, jungfräuliche Empfängnis“, „Jungfrauengeburt“ usw. die Rede ist, obwohl der Lk-Text alles das nicht kennt? Was wird mit diesen Formeln eigentlich als Aussage von 1,26–38 hervorgekehrt, um es noch weiter auszudeuten? Der Überblick über die entsprechenden Kommentarstellen könnte das aufzeigen.131 Alles in allem gesehen zeigt die Zusam129 Vgl. dazu, was wir oben S. 124, Anm. 1 und in den dortigen Anmerkungen zum Verben-Gebrauch

im Lk-Text herausgestellt haben. In 1,26–38 finden sich folgende Verben angewendet: (den Boten) senden (26); begrüßen (mit sachlich bestimmtem, Maria persönlich-betreffenden Gehalt ((28); geben (32); „kommen über sie (Maria)“ und „Maria überschatten“ (35). Alle diese Verben bezeichnen etwas Konkretes und unmittelbar Verstehbares, wenn auch in 1,26–38 zugleich geheimnisvoll-reiches Göttliches, das Gott Maria gegenüber und auf sie hin aktiv-wirksam „getan“ hat bzw. „tut“, das aber genau als solches erfahrbar war (ist) und verstanden wurde (wird). Von einem irgendwie gearteten Wirken, gar schöpferischem Wirken Gottes in Maria oder im Schoße Marias o. ä. (u. U. mit Angabe des konkret Gewirkten) spricht der Text mit keiner Silbe, auch nicht andeutungsweise. Das sollte seitens der Ausleger gesehen und beachtet werden. 130 Vgl. dazu die Angabe in der vorigen Anmerkung. Hier sind diese Verben zu nennen: gesegnet werden/sein(28): betroffen sein (vom Grußwort Gottes) (29); Sohn im Schoße empfangen werden /sollen und gebären werden (31); den Namen Jesus geben (als Auftrag Gottes: (31); „überkommen über sie (Maria)“ und „sie überschatten“ (35), beides als Ankündigung (nicht schon das Geschehen selbst) von zukünftigem „Tun“ Gottes; dieses von Gott Gesagte hört, erfaßt und versteht Maria; denn sie sagt antwortend: „mir geschehe nach deinem Wort“ (38). Sie gibt diese ihre Antwort nicht im Zusichern eines eigenen Tuns oder Mittun in dem Angekündigten, doch im Nicht- oder Noch-nicht-Genaueres-Wissen dessen, was Gott tatsächlich in oder mittels dieses „kommen über sie“ und „sie überschatten“ konkret-detailliert zu „tun“ gedenkt. Sie läßt Gott tun, was er gesagt hat, mit diesem klaren, doch gänzlich offenen persönlichen Zustimmenswort „mir geschehe“ und eben nicht „es geschehe“), was du mir gesagt und zu verstehen gegeben hast. Der pure Dativ dieses Satzes ist unbedingt zu beachten! Schließlich ist das Fortgehen und Fortgegangensein des Boten genannt (39), das Maria selbst erlebt hat, wie das Ein/Hinzutreten des Boten zu Beginn des dort Bekundeten (28). 131 Die Ausdrücke „Jungfrau“ und „Jungfrauschaft/Jungfräulichkeit“ finden sich im ganzen LkEv jedes nur einmal; „jungfräulich“ kommt nie vor. Wir bringen hier die Stellen, in denen diese Wörter im Kommentar Schürmanns begegnen (das ist oft der Fall) zusammen, mit den wichtigsten Zusätzen zum rechten Verständnis. Im schon oft zitierten Text der S. 40 wird von „Gottes schöpfe-

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menstellung dieses: In allen zitierten Kommentarstellen wird der Ausdruck „Jungfrauengeburt“ oft verwendet, doch offensichtlich als ein Oberbegriff, dessen Konzeption und Sinnbedeutung nie näher besprochen, erläutert oder gar begründet wird. Er ist eine irgendwann erfundene Floskel, die wie selbst-verständlich eingesetzt wird. Von der Geburt ist hier im jeweiligen Kontext nie die Rede; alles spricht vielmehr von der „Empfängnis Jesu“, und das in vielerlei Hinsicht. Die gesamte Diskussion um das Thema „Jungfrauengeburt“ wird schon im Kontext der Auslegung von 1,26–38, also rischer Tat im Schoße einer Jungfrau“ als „christologische Wesensaussage (Jesus ist der aus einer Jungfrau geborene ‚Sohn Gottes‘)“ gesprochen, was dort auch mit „Jungfrauengeburt“ bezeichnet wird. Dazu: „Die Sendung des Engels zu einer Jungfrau – in Kontrast zu einem Priester 1,11–20 – ist ungewöhnlich“ (42; Lukas spricht in allen diesen Stellen namentlich von Maria!). Der Text S. 46 (Anm. 36) sagt Ähnliches, wie auch 52; 60; 75. – Der Ausdruck „Jungfräulichkeit“ in Bezug auf Maria ist in der Auslegung von 1,27 in eben so offenem Sinn wie „Jungfrau“ gesetzt, allerdings ganz unberechtigt, wie wir gesehen haben („zweifache Betonung von Jungfräulichkeit“: 42; dazu in Anm. 8: „Der Gedanke der Jungfräulichkeit“). In der Darlegung der Diskussion zur sog. Marienfrage (49–52) begegnen die Wendungen „Vorsatz zur Jungfräulichkeit“ und „Jungfräulichkeitswille“ (52 3x; dazu auch „Entschluß zur Jungfräulichkeit“: 52). – „Jungfrau“ allein (womit Maria gemeint ist) findet sich neben den schon genannten Stellen noch S. 52: „Die Verlobte wird ohne ehelichen Verkehr, eben als Jungfrau (V 27), empfangen“. Dazu: „Das Wissen um die Lebensentstehung Jesu im Schoße einer Jungfrau“ mit folgendem „jungfräuliche Empfängnis Jesu“ (60). Dazu ist die Wendung „Jungfrauenkind“ (45, Anm. 36) zu nennen. – Das Adjektiv „jungfräulich“ ist oft eingesetzt, und das jeweils in bemerkenswerter Bedeutung. Unmittelbar auf Maria bezogen heißt es zu 1,28: „Gottes Gnade bereitet sich (!) die jungfräuliche Messiasmutter. Der Text läßt der gläubigen Meditation Spielraum, die auf die Messias-Mutterschaft hin gewährte Begnadigung (vgl. V 30) in ihrer Tiefe auszuloten“ (44; auf die exegetische wie theologische Fragwürdigkeit dieses Satzes können wir hier nicht näher eingehen, obwohl dringend Einspruch erhoben werden muß). „Jungfräulich“ begegnet oft mit „Empfängnis“ verbunden, wobei dieses Wort selbst eigenartig unbestimmt bleibt, ob es sich auf Maria bezieht oder auf Jesus. „Empfängnis“ meint einmal die „Empfängnis des Gottessohnes“(45), dann die „unbefleckte Empfängnis Mariens“(48, Anm. 34). Weiter: „Empfängnistermin“ (46); „wunderbare Empfängnis“(50: „daß sie sich nach dem Ja-Wort Mariens V 38 ereignet hat“); „zukünftige Empfängnis (V 31)“ (51). „Jungfräuliche Empfängnis“ an folgenden Stellen: Zu 15–25 u. a. dies: „So wunderbar die Empfängnis des Johannes war … die Möglichkeit des noch größeren Wunders im Schoße Mariens … soll an der wunderbaren Lebensentstehung des Johannes deutlich gemacht werden, daß Gott selbst eine jungfräuliche Empfängnis nicht unmöglich ist“ (27; wir bemerken den hier angesprochenen wertenden Vergleich, der S. 56 wiederholt mit „daß Gott auch eine jungfräuliche Empfängnis bewirken kann“ vorgetragen wird). Weiters diese Stellenangaben mit „jungfr. Empf.“: 46, Anm. 40; 50 (jungfr. Empf. mit „wunderbare Empfängnis“); 56; 57; 59; 60 („jungfr. Empf. Jesu“; 61 2x. Dazu gehören auch die Stellen mit „jungfräuliche Lebensentstehung Jesu“: 53 (… wo Gott bei der Erzeugung des Isaak … wunderbar mitwirkte – nur daß Gottes schaffende Tätigkeit hier nun bis zur jungfräulichen Lebensentstehung gesteigert ist“); 57; 59 (zusammen mit „Jungfrauengeburt“ (3x)); 63; 75 („Lebensentstehung des Messias im Schoße Mariens“); 118. Dazu gehören ebenso die Stellen mit „vaterloser Empfängnis“; „vaterlose Lebensentstehung Jesu“ zusammen mit „Jungfrauengeburt“ (40); „Vaterlosigkeit der Empfängnis“ (47); „Vaterlosigkeit dieser Empfängnis“ zusammen mit „jungfräulicher“ und „wunderbarer Empfängnis“ (50); „vaterlose Lebensentstehung Jesu … Aussage von der Jungfrauengeburt.-. jungfräuliche Empfängnis“ (56); „durch den Geist gewirkte vaterlose Lebensentstehung“ (62; dasselbe 2x auf der folgenden Seite, zusammen mit „jungfräulicher Lebensentstehung“); „vaterlose Lebensentstehung des Messias“ (63, Anm. 160).

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Abschnitt B:

Lk 1–2 — Text – rechte Übersetzung – theologische Erfassung seiner Aussagen

in der Ausdeutung des Ankündigungstextes vorgelegt und besprochen. Die Reflexionen und Behauptungen konzentrieren sich auf „Empfängnis“ und „Lebensentstehung Jesu“. Dabei gilt es als Hauptaussage, was dort einleitend genannt wurde: „“Jesus verdankt sein menschliches Dasein der schöpferischen Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau“ (so Schürmann 40). Dem sind diese Formulierungen als gleich-bedeutend beigesellt: „vaterlose Lebensentstehung Jesu“ und „der aus einer Jungfrau geborene ‚Sohn Gottes‘“ (ebd.). Wir haben dazu schon feststellen können, daß „vaterlose Lebensentstehung“ im jeweiligen Kontext mit „jungfräulicher Lebensentstehung“ abwechselnd verwendet wird, und daß beides auch „jungfräuliche Empfängnis“ genannt wird, im Grunde immer dieselbe „Sache“ bezeichnend. Zudem wird bei diesen verschiedenen, doch letztlich dasselbe meinenden Formeln aller Nachdruck darauf gelegt, hervorzukehren, daß das mit ihnen Ausgesagte „im Schoße einer Jungfrau“ geschehen bzw. verwirklicht worden ist, eben wie es zu Anfang ausdrücklich als „schöpferische Tat Gottes“ bezüglich des (werdenden) „menschlichen Daseins Jesu“ erklärt wird. Aus alle dem ist deutlich ersichtlich, daß „vaterlose Lebensentstehung Jesu“ tatsächlich eine negativ-abgrenzend erklärende Formulierung für „schöpferische Tat Gottes“ ist, mit der Gott als der angesagt sein soll, der dies allein gewirkt hat. Wenn und weil diese „schöpferische Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau“ Jesus „entstehen“ ließ, dann ist mit dieser schlichten Aussage eigentlich alles vollgültig und klar angegeben; es muß keineswegs ausdrücklich und betont auch noch hervorgehoben werden, was nicht der Fall war oder ist bzw. wer in dieser „Lebensentstehung Jesu“ nicht gewirkt oder mitgewirkt hat. Gerade wenn diese „Lebensentstehung Jesu“ sogar ausdrücklich als „neue Schöpfung“, zumal im Rückblick auf Adam, durch den betonten Ausschluß alles Nicht-Göttlichen (Geschöpflichen) angesagt sein soll, dann müßte sinnvollerweise von „elternloser Lebensentstehung“ die Rede sein, nicht aber von „vaterlos“. Denn das bringt nochmals einen ganz eigenartigen neuen Akzent in den Text. Offensichtlich hat die Wortwahl „vaterlos“ bzw. gleichbedeutend „jungfräulich“ einen anderen Beweggrund als die Betonung Gott-allein, d. h. schöpferisch. Diese andere treibende Motivation, im Kontext 1,26–38 betont „jungfräulich“, „vaterlos“ u. ä. einzusetzen, wird zwar nie deutlich angegeben, dürfte aber im Willen eines ausdrücklichen Sprechens von dem sein, was die spezifische „Jungfräulichkeit“ Marias ausmacht. Die gesamte Diskussion zur „Jungfrauengeburt“, die Schürmann zur Auslegung von 1,26–38 vorlegt und bespricht, also noch vor aller Beachtung des faktisch Geschehenen („Empfängnis“ und „Geburt Jesu“), zeigt das aufs deutlichste: Es geht nicht eigentlich um Gottes Tat, auch nicht um Jesus (es wird von ihm oft nur als „irdischem“ oder „historischem Jesus“ oder von seinem „menschlichen Dasein“, von „seinen Erdentagen“ gesprochen), sondern darum, das „Marianische“ herauszustellen. Es zeigt sich nämlich, daß „vaterlos“, „jungfräulich“ u. ä. zunächst immer eine negativ-abgrenzende Funktion im Hinblick auf Maria und dem Besonderen ihres

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III.

Zu einigen Kernaussagen in Lk 1–2

Einbezogenseins in dieses Geschehens erfüllen.132 Das Adjektiv „jungfräulich“ wird ja nie der Maria selbst zugeschrieben, sondern der „Empfängnis“, der „Lebensentstehung Jesu“ u. ä. Diese letztgenannten Wendungen erhalten den spezifizierenden Zusatz durch „jungfräulich“.133 Alle diese aufgeführten Beispiele der faktischen Verwendungsweisen von „Jungfräulichkeit“, „jungfräuliche“, „Vaterlosigkeit“ u. ä. im Kommentartext (Lukas selbst gebraucht sie außer den beiden Einmal-Setzungen in 1,27 und 2,36 nie) lassen erkennen, daß die Ausdrücke etwas angeben, was nicht der Fall ist, was nicht vorliegt oder geschieht bzw. der jeweils Genannte nicht gewirkt oder an ihm nicht mitgewirkt hat, was bekundet wird. Gerade auch „Jungfrauengeburt“ zeigt diesen negativen Aussagebefund. Etwas Nicht-Seiendes oder Nicht-Geschehenes als Wesensinhalt für einen tatsächlichen Zustand oder ein Wirken und Gewirktes anzugeben, entbehrt jeden Sinnes. Die „schöpferische Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau“ mit der Formel „Jungfrauengeburt“ ansagen oder erklären wollen, ist schlicht absurd. Zur weiteren Klärung dieses ganzen Problemfeldes setzen wir ein eigenes Kapitel an im Abschnitt der Zusammenschau aller neutestamentlichen Texte in Bezug auf die Herkunft Jesu Christ.

132 Die in der vorhergehenden Anmerkung zitierten Stellen zeigen das eindeutig. In diesem Kom-

mentartext zu 1,35a finden sich alle genannten Ausdrücke vereint und in ihrer logischen Zuordnung: „Die Frage (34) hat der folgende Erklärung des Engels den Weg bereitet: Die Verlobte wird ohne ehelichen Verkehr, eben als Jungfrau V 27), empfangen. … pneu/ma a[gion wird das Wunder wirken, die schöpferische Allmacht des Gottes, bei dem ‚nichts unmöglich‘ ist (V 37). Gemeint ist das Pneuma, das am Anfang der Schöpfung über den Wassern schwebte … Gottes Allmacht wird im Schoße Mariens ein Kind erschaffen“ (52). Dazu dieser Rückverweis: „… soll an der wunderbaren Lebensentstehung des Johannes deutlich gemacht werden, daß Gott selbst eine jungfräuliche Empfängnis nicht unmöglich ist“ (27, zu 1,5–25). Dazu auch: „die Vaterlosigkeit der Empfängnis“ (47), und im selben Kontext: „Vaterlosigkeit dieser Empfängnis … jungfräuliche Empfängnis … wunderbare Empfängnis“ (50; dazu auch: „… daß hier Gottes schaffende Tätigkeit (!) nun bis zur jungfräulichen Lebensentstehung gesteigert ist“ (53). 133 Es ist in diesem Zusammenhang stets mitzubeachten, daß auch die Ausdrücke „Lebensentstehung“ und ‚‘Empfängnis“ eigenartig ungeklärt und offen bleiben, dabei aber für scheinbar SelbstVerständliches oder gänzlich Eindeutiges stehen. „Empfängnis“ hat oft den Genitivus subjectivus, ebenso oft auch den Genetivus objectivus bei sich (Empfängnis Jesu – Empfängnis Marias). Damit ist einmal die Empfangende, dann der Empfangen-Werdende gemeint, wobei auch „empfangen“ nie ein eigen-bewirktes Tun bezeichnet. Mit ihm verhält es sich genau so wie mit „Entstehen“ (Lebensentstehung). Es ist zwar eine aktivisch klingende „Tätigkeit“ (Verbum – Tätigkeitswort) ausgesprochen, doch kann es selbst auch die eigentliche Ursache dieses „Entstehens“ sein, oder durch eines anderen Wirken geschehen, wie die Formel „Gottes schaffende Tätigkeit bis zur jungfräulichen Lebensentstehung gesteigert“ (53) offendeckt. In allen Fällen ist eine Adjektiv-Beifügung unsinnig.

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Abschnitt C Zur Herkunft Jesu Christi gemäß Gal 4,4f Der Text Gal 4,4f wird neben anderen Stellen der Paulusbriefe oft besonders auch dann ausgewertet, wenn die Herkunft Jesu Christi näher besprochen werden soll, zumal im Vergleich mit anderen ntl. Aussagen wie zur Zusammenschau mit diesen. Paulus bringt in Gal 4,4f im Rahmen seiner ermahnenden Argumentation in Betracht der aufgetretenen Mißverständnisse in der Galater-Gemeinde zur Sprache, was er für dringend notwendig erachtet. Er lenkt ihren Blick auf die Bekehrung zu Jesus Christus, die sie erlebt haben und zu ihrem Lebensprinzip im Glauben werden ließen. Er ruft sie in die ursprüngliche Lebenshaltung zurück. Er ruft ihnen das Evangelium in die Erinnerung, das sie von ihm empfangen haben, vor allem durch neuerlichen Hinweis auf das, was Gott für sie und alle Heilsbedürftigen längst getan hat. Das Wirken Gottes in ihrer Glaubensgeschichte ist ja eklatant das, was das Werden der Kirche überhaupt charakterisiert. Dazu beginnt Paulus in Kap. 3 mit einer Rückbesinnung auf die glaubensentscheidende Situation Abrahams vor Gott. Er beleuchtet dazu, gerade auch im Blick auf die Situation der Galater in ihrer augenblicklichen Gefährdung, das Glaubenserlebnis Abrahams, das von Gott unter die Heilsverheißung für alle Menschen gestellt ist und bleibt. Abraham hat durch sein Glauben Gott entsprochen und das Verheißene nicht durch Gesetzeserfüllung zu erreichen getrachtet. „So sollte der Segen Abrahams den Heiden durch Christus Jesus zuteil werden, damit wir den verheißenen Geist durch den Glauben empfingen“ (3,14). Das macht Paulus durch seinen Vergleich mit einem Testamentgeber und seinen Erben deutlich. Er zeigt, daß Gott den Erben den Geist geschenkt hat durch die Verheißung (3,18). Daher ist in 4,1 vom Erbe die Rede, das uns zur festgesetzten Zeit zuteil wird, die Gott bestimmt hat. Genau in diesem konkreten Zusammenhang mit der Situation der Galater steht die Überlegung in Kap. 4. Um also 4,4–7 wirklich im Sinne des Paulus zu verstehen, ist diese konkrete Argumentationsweise und ihre Beabsichtigung zu sehen; sie ist keine missionarische Bekundung allgemeinen Glaubensinhaltes, sondern wiederholendes Angebot eines für die Galater lebensnotwendigen Nach-Denkens in ihrer Gefährdetheit. Deswegen ist dieser Text in keiner Weise auf eine umgreifende Ausformulierung der Glaubensbotschaft des Paulus hin angelegt und daher auch von uns heute so zu lesen. Paulus bekundet nicht, am wenigsten umfassend, seinen Gottes- und ChristusGlauben und darf daher auch nicht daraufhin befragt werden. Wir werden sogleich erkennen, wie wichtig es ist, darauf mit Nachdruck hinzuweisen, weil dieser Text oft in einer Weise gelesen und verstanden wird, die intensiv sogar das reflektiert, was dort nicht steht (doch „eigentlich“ zu erwarten wäre?) und warum Paulus solches nicht vorbringt. Paulus argumentiert mittels der geschehenen Heilsgeschichte in Verheißung wie Erfüllung: „… ou[twj kai. h`mei/j( o[te h=men nh,pioi( u`po. ta. stoicei/a 218

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Abschnitt C:

Zur Herkunft Jesu Christi gemäß Gal 4,4f

tou/ ko,smou h;meqa dedoulwme,noi\ o[te de. h=lqen to. plh,rwma tou/ cro,nou( evxape,steilen o` qeo.j to.n ui`o.n auvtou/( geno,menon evk gunaiko,j( geno,menon u`po. no,mon( i[na tou.j u`po. no,mon evxagora,sh|( i[na th.n ui`oqesi,an avpola,bwmenÅ – Als aber die Fülle der Zeit kam, entsandte Gott seinen Sohn, geworden aus (der) Frau, geworden unter (das) Gesetz, damit er die unter (dem) Gesetz (Stehenden) loskaufe, damit wir die Sohnschaft empfingen“. Wir betrachten jetzt die Teile dieses Satzes auf ihren unmittelbaren Aussage-Inhalt hin, den Paulus ihnen offensichtlich in seinem Gedankengang gab. Was Paulus schlicht sagt („als die Fülle der Zeit kam“), liest z. B. Schlier so: „Als aber der Abschluß der Zeit kam, entsandte Gott seinen Sohn …“ und erklärt diese Aussage auf bezeichnende Weise. Er versteht und interpretiert „plh,rwma tou/ cro,nou“ als „den Abschluß, das Vollgewordensein der Zeit“, was dann weiter so ausgedeutet wird: „Der Begriff setzt voraus, daß Gott die Zeit und alle Äonen in seiner Gewalt hat, und daß er dieses Maß zur Durchführung bringt, damit das Ende dieses Äons und den Anbruch des kommenden Äons herbeiführt. Solches Vollsein der Zeit hat nach Paulus nun aber die Sendung Jesu Christi gebracht. Das Ende der Zeit ist mit der Erscheinung des Sohnes Gottes im Kosmos Ereignis geworden“.1 Hier ist zu fragen, ob diese (weite) Ausdeutung der Stelle berechtigt ist. Offenkundig bezieht sich die „Fülle der Zeit“ im Kontext auf 3,15–18 (Paulus wählt als Beispiel die Testamentsausfertigung und die entsprechende Zeitbestimmung) und 3,23.25, wie dann auf 4,1.2 („evfV o[son cro,non“ 1

Schlier, Galater-Kommentar (1989) 194f. Schlier bespricht 4,3–7 noch weiter: 196–200, was hier nicht weiter verfolgt werden muß. Wenigstens folgende Sätze mögen es zeigen, welche Fülle der Ausdeutung er bringt (was als solches nicht zu kritisieren ist, doch geht es uns hier zunächst um die Erfassung dessen, was Paulus argumentativ selbst hervorhebt). Schlier 196: „Die Erscheinung Jesu Christi beruht auf dem Akte der göttlichen Entsendung. Das evxape,steilen setzt als Ausgangspunkt natürlich die Gegenwart Gottes voraus. In solchem Zusammenhang verweist die Bezeichnung als ui`o.j auvtou/ auf die ‚Präexistenz‘ des göttlichen Gesandten hin, d. h. auf das immer schon ihm eignende göttliche Sein, vgl. Röm 1,3f; 8,3.29.32; 1Kor 8,6; 2Kor 8,9; Phil 2,6ff; Kol 1,13ff. Der Eintritt des Endtermins der Welt, die Beendigung der Zeit, offenbart sich in der Entsendung des Sohnes Gottes als des ewigen göttlichen Grundes, Mittels und Zieles des Daseins (1Kor 8,6; Kol 1,13ff ). Die Endzeit ist die Zeit, in der das göttliche ‚Prinzip‘ unseres Daseins, Christus Jesus, in dieses Dasein eingebrochen ist. Die Erscheinung Christi Jesu in diesem Äon beruht auf dem Akte der Entsendung, sie besteht in der Menschwerdung. Der Sohn Gottes ist gesandt als der in die Natur des Menschen, die durch die Frau bestimmt wird, Hineingegebene, als der ‚aus der Frau Gewordene’. Gi,nesqai evk meint die Herkunft des gesandten Sohnes vom Weib, zielt also, obwohl es ‚geworden‘ und nicht ‚geboren‘ (gennw,menon) bedeutet, auf die menschliche Geburt dieses göttlichen Gesandten, … Es betont die wahre Menschheit des Sohnes. Zu seiner Menschheit gehört nicht nur seine Natur, sondern auch seine Geschichte. Die Geschichtlichkeit seiner Erscheinung hebt der zweite Zusatz hervor: geno,menon u`po. no,mon = unter das Gesetz geworden = dem Gesetz unterworfen. Was diese Unterwerfung unter das Gesetz für den Sohn bedeutete, war schon 3,13 gesagt. Hier ist mehr an die Gleichheit des Geschickes des Gesandten mit denen gedacht, denen zugute die Sendung geschehen war. Jenes völlige Hingegebensein des Sohnes in den Kosmos, jenes durch Geburt und Leben sich vollziehende Eingehen in die konkrete Wirklichkeit des Menschen hatte das Ziel, diejenigen zu befreien, die unter dem Gesetz standen, V. 5. Das sind dem ganzen Zusammenhang nach (V. 3!) ohne Zweifel alle Menschen, d. h. aber Juden und Heiden.“

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Abschnitt C:

Zur Herkunft Jesu Christi gemäß Gal 4,4f

und „a;cri th/j proqesmi,aj tou/ patro,j“). Eine Reflexion über Gottes Geschichtsmacht sowie über Äonen-Ende wie Äonen-Anfang hat Paulus hier nicht im Sinn. Es ist der Zeitpunkt der Verheißungserfüllung angesprochen und der Zeitpunkt der Sendung des Sohnes zum gott-bestimmten Termin. Was diese Textstelle weiter andeutet, steht jetzt nicht zur Diskussion. Paulus sagt dann weiter: „Gott (ent)sandte seinen Sohn“. Dieser Passus wird oft zunächst in Bezug auf 4,4a („als die Fülle der Zeit kam“) betrachtet. Dabei wird er in seiner Schlichtheit an dieser Stelle meist überfrachtet gedeutet.2 Im Blick auf 4,5–7 kann genau gesagt werden, worauf Paulus hier mit Nachdruck hinweist, indem er dort den Zielpunkt und Auftrag dieser Entsendung im Zusammenhang seiner Mahnung an die Galater bestimmt: „damit er die unter dem Gesetz Stehenden (damit sind hier alle Menschen, Juden wie Heiden, gemeint) loskaufe, damit (2x i[na) wir die Sohnschaft empfingen (was weiter ausgeführt wird)“. Damit ist auch „Sohn“ genauer bestimmt: der, durch den wir das empfangen haben, was Gott verheißen hatte, wenngleich es jetzt für alle Christ-Gewordenen, für Paulus wie Galater, in unahnbarem und tiefem Sinn Wirklichkeit geworden ist: Die Sohnschaft (ui`oqesi,a!) ist mehr als Kindschaft, auch als Adoption! Weiteres ist hier noch nicht zu sagen. Paulus fügt aber, bevor er diese Zielsetzung der Sendung des Sohnes angibt, eine zweigliedrige 2

Als ein Beispiel für viele sei Mußner, Galaterbrief-Kommentar (1974) 269f zitiert: „Weil die Sendung des Sohnes zugleich aber die Erfüllung der Verheißungszeit ist, darum bedeutet hier plh,rwma tou/ cro,nou mehr als nur ein kalendermäßiges Zu-Ende-Kommen einer bestimmten Zeit; die Vollendung ist als Erfüllung der Zeit zugleich ihre heilsgeschichtliche Sinngebung, ihr Vollmaß. Sie ist aber nicht das ‚natürliche‘ Ergebnis, die ‚natürliche‘ Reife eines bestimmten Zeitraums (cro,noj) der Geschichte, sondern freie und unberechenbare Setzung Gottes, der allein das Geheimnis der Zeiten kennt. Mit der in der Sendung des Sohnes angekommenen ‚Fülle der Zeit‘ „wird nicht die Zeit als solche aufgehoben, sondern vielmehr das Heilshandeln Gottes unmittelbar in die Historie hineingestellt; im geschichtlichen Ereignis des irdischen Jesus … vollzieht Gott seine eschatologische Tat“ (Delling). Die Sendung des Sohnes durch Gott ist kein metahistorisches, eh und je sich ereignendes Geschehen, sondern eine einmalige, geschichtliche Tat (Aorist evxape,steilen), und der Bürge für die geschichtliche Konkretion dieses Handelns Gottes ist der fleischgewordene Sohn Gottes selbst, da er „aus einem Weib geboren wurde“ (geno,menon evk gunaiko,j), ‚dem Gesetz unterstellt‘ (geno,menon u`po. no,mon). Zur Formulierung geno,menon evk (gunaiko,j) vgl. auch Röm 1,3 (peri. tou/ ui`ou/ auvtou/ tou/ genome,nou evk spe,rmatoj Daui.d kata. sa,rka); PFlor 382, 38 (o` Vex evm@ou/# geno,menoj ui`oj @M#i,laj ovno,mati). Der Apostel betont damit die wahre und wahrhafte Menschheit des Sohnes, die durch das ‚Geborenwerden aus einem Weib‘ bestimmt ist, ‚ohne die jungfräuliche Geburt ausdrücklich ins Auge zu fassen‘ (Schlier). „Den Apostel interessiert hier … nicht, wie Jesus geboren wurde. Es genügt ihm zu verkünden, daß der Sohn Gottes Mensch wurde und daß den Menschen dadurch die Gotteskindschaft geschenkt wurde (Gal 4, 6 f)“ (H. Räisänen). Was besagt das zweite Partizipialattribut geno,menon u`po. no,mon im Hinblick auf Christus? Rein sprachlich gesehen, bedeutet gene,sqai u`po. no,mon = gestellt (unterworfen) werden unter das Gesetz (vgl. 1 Makk 10,38 tou/ gene,sqai u`fV e[na: unter den Hohenpriester). Das Gestelltwerden Christi ‚unter Gesetz‘ will neben dem ‚Geborensein aus einem Weib‘ hervorheben, daß er nicht nur Mensch unter den Menschen wurde, sondern darüber hinaus Jude und als solcher dem Gesetz unterstellt. Mit der Feststellung, daß Christus ‚unter das Gesetz gestellt‘ war, verbindet er die Aussagen des V 4 mit jenen des Kontextes (Verheißung – Gesetz; Segen – Fluch).“

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Abschnitt C:

Zur Herkunft Jesu Christi gemäß Gal 4,4f

Partizipalbestimmung für „seinen Sohn“ an, die den Sohn im Entsendetwerden und -sein näher qualifiziert. Beides wird mit demselben Partizip „geworden“ und ihm beigeordneten Präpositionsformeln in auffallender Weise formuliert. Nicht mit einem zu erwartenden Substantiv (z. B. als Bote) oder in Infinitiv-Angabe (z. B. zum Verkünden, Heilen) wird das Entsenden und also Gesandter-Sein genauer bezeichnet; es heißt vielmehr: „geworden aus (der) Frau“ und „geworden unter (das) Gesetz.“ Damit ist für „geworden“ das „was“ angegeben, was der zuvor „sein Sohn“ Genannte geworden ist, was er bis zu diesem Termin des Gesendetwerdens nicht oder noch nicht (das bleibt offen) war. Das Passivpartizip „geworden“ läßt offen, wer oder was dieses „werden“ durch sein Wirken/aktiv-Tun bestimmte und bewirkte, oder ob das „Gewordene“ es „aus sich selbst“ wurde (ein Kind wird ein Erwachsener). Der Passus „geworden unter (das) Gesetz“ läßt sich gut als „unter das Gesetz gestellt“, ihm „untergeben“ mit sachlicher Berechtigung verstehen, und zwar im Kontext durch den ihn entsendenden Gott vorgesehen und gewirkt. Das sagen die „i[na“-Sätze 4,5 deutlich aus. Offen bleibt aber immer noch, wie Gott dies tat bzw. was und wodurch er es vollführte. Das können wir hier beruhigt so offen lassen, da es andere PaulusStellen gibt, die darauf näher eingehen; hier ist klar an das gedacht, wovon wir durch diesen „Sohn“ befreit werden sollten und wurden, um in Folge davon die Sohnschaft geschenkt zu bekommen. Dazu noch diese Bemerkung: Offensichtlich deutet Paulus in 4,4b etwas in äußerster Kürze an, das er eher einleitend bzw. begleitend im Gang seiner Argumentation in seiner Auseinandersetzung mit den Galatern mit-ausgesagt wissen will. Das in der zweigliedrigen Partizipalbestimmung Herausgestellte ist für ihn wie wohl auch für die Galater kein Problempunkt und daher auch für spätere Leser dieses Briefs nicht als etwas anzusehen, das Paulus hier aufklärend-belehrend oder korrigierend vorbringt. Es ist daher mit Recht in seiner sehr offenen Redeweise zu lesen und auszuwerten und nicht für andere Problemstellungen argumentativ einzusetzen oder gar zu pressen. Paulus (wie übrigens jeder biblische Autor) muß nicht bei jeder Gelegenheit alles erschöpfend ausformulieren, was zu seiner Glaubensüberzeugung zählt. Das gerade Herausgestellte gilt auch für die erste Partizipalbestimmung „geworden aus der Frau“, und das in einem besonderen Maß, da es eine ungewöhnlich heftige Diskussion ausgelöst hat, was Paulus genau gesagt hat bzw. deutlicher hätte sagen müssen.3 Tatsächlich sind alle drei in 4,4b stehenden Wörter, „geno,menon“, „evk“ und „gunaiko,j“, je für sich genommen wie als volle Formel, zum Problem geworden. Das „geno,menon“ haben einige Kopisten, mit oder ohne Bedacht, zu „genno,menon“ erweitert. Auch in unseren Übersetzungen wird das zu schlicht empfundene „geworden“ mit „geboren“ wiedergegeben, was als möglich erscheinen mag wegen des folgenden 3

Siehe dazu die im Anhang II. vorgelegten Beispiele von entsprechenden Kommentar-Aussagen. Dort werden eine Reihe von Texten aufgeführt, die freilich eingehend zur Kenntnis genommen werden müssen, um die hier angesprochene Problematik in ihrem Gewicht zu erkennen.

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Abschnitt C:

Zur Herkunft Jesu Christi gemäß Gal 4,4f

„aus (der) Frau“ (wie für „geworden unter das Gesetz“ rechtens „unterstellt dem Gesetz“ gelesen werden kann). Es gibt gewichtige Gründe, „genno,menon“ nicht als dem Text gerecht werdend zu sehen und folglich „geno,menon“ voll gelten zu lassen; dem wollen wir zunächst folgen.4 Dann stellen sich die Exegeten die Frage, welche Bedeutung Paulus selbst dem Wort „gunaiko,j“ an dieser Stelle seiner Argumentation gegeben hat. Es werden mehrere Sinngebungen und somit Aussageinhalte benannt, zum Teil mit weitreichenden Konsequenzen zum Verständnis von Gal 4,3–7. Mit diesen brauchen wir uns für unsere spezielle Thematik nicht auseinanderzusetzen. Wir werden der Offenheit der Redeweise des Paulus an dieser Stelle am ehesten gerecht, wenn wir sie zunächst in sich selbst betrachten. Ganz anders ist es zu beurteilen, wenn Autoren meinen, Paulus hätte hier eigentlich „parqe,noj“ statt „gunaiko,j“ setzen müssen. Zumal mariologisch interessierte Theologen betrachten 4,4 bekanntlich in ihrer bezeichnenden Weise. Wir blicken jetzt zunächst nur auf die Bedeutungen, die für „gunaiko,j“ faktisch angeführt und gegebenenfalls weiter ausgewertet werden. Am schlichtesten wird es in Strack-Billerbeck III zu Gal 4,4 gesagt: „a. einfache Umschreibung für ‚Menschenkind‘ (mit Stellenangaben); b. mit verächtlichem Nebensinn = ‚hinfälliger, sündiger Mensch‘. Gleichbedeutend mit ‚Weibgeborener‘ ist ‚Erdgeborener‘ = ‚Menschenkind‘ (jeweils mit Stellenangaben)“ (570). Ähnlich offen belassen es Schelkle, Vanhoye, Campenhausen („ganz allgemein das Geschlechtswesen, von dem zu stammen das Kennzeichen aller Menschen ist“), Räisänen („ganz allgemein ‚Frau‘; Geschlechtsbezeichnung“), Knoch („Geschlechtswesen; menschliche 4

Vgl. dazu A. Vanhoye, La Mère du Fils de Dieu selon Gal 4,4, Marianum 49 (1978) 237–247, mit vielen Hinweisen auf die entsprechende Literatur in den Anmerkungen. Wir zitieren einige wichtige Sätze; sie sprechen für sich. „Saint Paul déclare donc que le Fils de Dieu est né d’une femme. Il affirme la maternité divine de cette femme … On s’est demandé pourquoi il ne s’est pas exprimé de façon plus précise et n’a pas dit ‚né de la Vierge Marie‘ ou, au moins, ‚né d’une vierge‘. Le Père Lagrange a très bien répondu que ce genre de précision n’entrait pas dans la perspectives de Jesus de Nazareth, mais de montrer l’abaissement du Fils de Dieu‘“ (240; das wird dort weiter ausgeführt: R. S.). Dann: „Si nous restions à ce point de notre analyse, nous pourrions conclure que le texte de Gal 4,4 affirme la maternité divine, mais ne dit rien de la conception virginale … phrase du A. Legault, qui estime que le texte et le contexte ‚ne comportent aucune allusion, si voilée soit-elle, à la maternité virginale de Marie‘. Nous ajouterions que cette omission n’a rien d’étonnant, car elle est exigée par la perspective particulière qui est celle de Paul en ce passage. L’omission ne peut donc être invoquée comme argument contre la conception virginale. Il y aurait plutôt lieu d’observer que la formulation utilisée par Paul s’accorde sans difficulté avec la tradition des évangiles de l’enfance, puisqu’elle presente le Christ comme le Fils de Dieu, d’une part, et comme ‚né d’une femme‘, d’autre part, sans fait aucune mention de paternité humaine. … il reste vrai que rien n’est dit explicitement de la virginité de la mère du Fils die Dieu et que la perspective du texte s’opposer à la mention de ce privilège“ (244f). Dazu noch: „… le mode d’expression montre que la notation de Paul sur la mère du Fils de Dieu appelle positivement des compléments. En eux-mêmes, les termes ne disent absolutement rien d’une conception virginale de Jésus ou d’une pureté immaculée de Marie; ils expriment uniquement le fait de l’humble naissance, sans en préciser le moins du monde les modalités. Mais le genre paradoxale de la phrase oblige à conclure que les termes choisis ne dissaint pas tout …“ (246f).

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Abschnitt C:

Zur Herkunft Jesu Christi gemäß Gal 4,4f

Mutter“). Schweizer benennt es spezieller: „der übliche jüdische Ausdruck, der die Ärmlichkeit und Schwäche des Menschen betont“. Bei Mußner findet sich spezifisch für Gal 4,4 dieses ausgesagt: „Zur Formulierung ‚genomenon ek gynaikos‘ vgl. auch Röm 1,3 (…) … Der Apostel betont damit die wahre und wahrhaftige Menschheit des Sohnes, die durch das ‚Geborenwerden aus einem Weib‘ bestimmt ist“ (269f). Was hier das auffällige „wahre und wahrhaftige Menschheit“ eigentlich ansagen soll, ist nicht klar (oder sind damit schon spätere dogmatische Festlegungen gemeint?), zumal in der dazugehörigen Anmerkung vom „natürlichen Menschen“ gesprochen wird, in Bezug auch auf Hi 14,1 und Mt 11,11. Ähnlich unbestimmt, wenn nicht fragwürdig erscheint, was Schlier genau aussagen will, wenn er zu 4,4 dieses sagt: „Der Sohn Gottes ist gesandt als der in der Natur des Menschen, die durch die Frau bestimmt wird, Hineingegebene, als der ‚aus der Frau Gewordene …‘. Es betont die wahre Menschheit des Sohnes. Zu seiner Menschheit gehört nicht nur seine Natur, sondern auch seine Geschichte“ (196). Es bleibt unklar, was Schlier als Exeget des Gal hier mit „Natur“ und dann mit „Geschichte“ ansprechen will. Dazu sei sogleich auf einen Satz bei Knoch hingewiesen, der sogar angibt, was in 4,4 nicht gemeint ist: „Hier geht es Paulus nicht um die Messianität Jesu, sondern um die Herausstellung des echten Menschseins Jesu“ (53).5 Es fällt bei allen diesen Beispielen auf, daß, soweit wir 5

Es seien hier die genannten Beispiele genauer wiedergegeben und weitere hinzugefügt. Schelkle, Theologie des NT II, 152 erklärt „Frau“ in 4,4 zunächst ähnlich wie Strack-Billerbeck, doch fügt er dort im „§ 10 Inkarnation“ doch erstaunliche Angaben hinzu: „Hinsichtlich der Niederschrift ist wohl der früheste Text Gal 4,4f von der Menschwerdung des Gottessohnes“ (151). Dem wird diese Erklärung von „geworden aus der Frau“ beigegeben: „Vielleicht ist die Sprache schon formelhaft. Geburt bedeutet den Übergang vom Nicht-Sein zum Sein. ‚Aus dem Weibe geworden‘ kennzeichnet den Eintritt dessen ins geschichtliche Sein, der schon war. Indem der Sohn Gottes das menschliche Sein annahm, trat er auch in die menschliche Geschichte ein. Dies bedeutet die Unterwerfung unter das Gesetz“ (152). Vanhoye setzt bei entsprechender Gelegenheit: „enfants des femmes, être faibles et fragiles“, in Mar 40 (1978) 242. – Mußner bringt zu 4,4 u. a.: „Zur Formulierung ‚genomenon ek (gynaikos)‘ vgl. auch Röm 1,3 (… genomenou ek spermatos David kata sarka); PFlor 382, 38 (…). Der Apostel betont damit die wahre und wahrhaftige Menschheit des Sohnes, die durch das ‚Geborenwerden aus einem Weib‘ bestimmt ist“ (269f; dazu Anm. 117: Die Wendung ‚genomenon ek gynaikos‘ entspricht in 1 QHod XIII, 14; XVIII, 12f.16 dem hebräischen ‚jilud ischah, womit der natürliche Mensch gemeint ist; vgl. auch 1 QS XI,20f (… Menschenkind … der vom Weib Geborene … seine Form ist aus Staub …‘; ein ähnlich negativer Ton liegt auf dem Ausdruck in Hi 14,1; Mt 11,11 (…); Esr-Apk 8,35)“. – Campenhausen zu Gal 4.4. u. a.: „Daß Paulus den Gottessohn hier von einem ‚Weibe‘ geboren sein läßt, soll lediglich die Erniedrigung bis zum gemeinen Los aller Menschen hervorheben … Das ‚Weib‘ bedeutet in einem solchen Zusammenhang nicht den Gegensatz zur ‚Jungfrau‘, sondern ganz allgemein das Geschlechtswesen, von dem zu stammen, das Kennzeichen aller Menschen ist, die von Haus aus eben nichts weniger als ‚göttlichen Geschlechtes‘ sind“ (13). – Räisänen zu Gal 4,4 u. a.: „der Ausdruck ‚Weib‘ ist nicht betont … gyne bedeutet ganz allgemein ‚Frau‘. Das Wort ist lediglich eine Geschlechtsbezeichnung …“ (17). – Beinert (1973) zur Stelle: „Ihm geht es darum, die wahre Menschheit Jesu hervorzuheben … Mensch ohne Abstrich … Wenn Paulus dabei auf die Geburt aus dem Weib abhebt, dann will er nur ein in der jüdischen Literatur gebräuchliches Synonym für ‚Mensch‘ verwenden“ (21). – Knoch (1970) sagt: „Hier geht es Paulus nicht um die Messianität Jesu, sondern

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sehen, keiner der Exegeten für das wie immer angesprochene Menschsein sowohl aller Menschen (auf die sich ja Gal 4 insgesamt bezieht) wie hier besonders des Sohnes Gottes das Sünder-Sein, das seit Adam Aus-der-Sünde- und In-der-Sünde-Sein als das sachlich letzt-gemeinte Mensch-Sein angesehen sein muß, von dem Paulus selbst ausdrücklich und betont in Röm 8,3–4 wie auch in 2 Kor 5,21 (s. dort den Gesamtkontext!) spricht, in Röm 8 sogar mit derselben Formulierung: „er sandte seinen Sohn im Fleisch der Sünde …“. Wenn schon „Menschsein“ aus „geworden aus der Frau“ zu erschließen sein soll, dann reicht „Natur“, „Schwachheit“, und was weiter genannt wird, gar nicht aus, um das dort gemeinte „Menschsein“ genau zu benennen. Damit soll das fach-exegetisch errungene Verständnis von Gal 4,4 nicht verurteilt sein. Doch gilt es, die Offenheit der paulinischen Formulierung gelten zu lassen, wenn dann doch der biblisch-theologische Gehalt zu sehen und zu erheben ist. Da ist es nicht nur erlaubt, sondern geboten, einen Einzelvers des NT im und aus dem Gesamtkontext der Heiligen Schrift einzusehen zu versuchen und voll auszuschöpfen. Daher gilt: In Gal 4,4 ist gerade nicht von der „Natur“ des Menschen überhaupt die Rede, sondern vom verunstalteten, durch die (Ur)Sünde (wie immer diese in der Bibel „erklärt“ sein mag) tod-geweihte konkret-geschichtliche Mensch-Sein (dieses individuell wie gesamtheitlich gesehen). Das genau dürfte Paulus in 4,4 mit der zweigliedrigen Formel „geworden aus der Frau – geworden unter das Gesetz“ im Gesamtkontext des Galaterbriefes (wie in seinen anderen Schriften) vor Augen haben, wenngleich aufs kürzeste und daher sehr offen ins Wort gebracht. Wir werden dem später noch genauer nachgehen. Dasselbe gilt für die Fragen, die das „geworden“ hier wie an den anderen Stellen des NT aufwerfen kann, wie auch nach dem genauen Wie dessen Ausschau halten, was eigentlich Gott selbst und was der Sohn selbst in dem Geschehen „getan“, „gewirkt“ (und ich möchte im Blick z. B. auf Joh 3,16–18; Lk 22,39–46 und ähnliche Stellen hinzufügen: „empfunden“, „gelitten“) haben. Eine weitere Frage meldet sich in diesem Kontext dadurch an, daß von mehreren Autoren ein wichtiger Hinweis auf die sog. „Präexistenz“ dessen behauptet wird, der als „Sohn Gottes“ „geworden aus der Frau, geworden unter das Gesetz“ gesandt wird, um die Erlösung zu bringen. Was hier als Frage gemeint ist, wird z. B. durch folgenden Satz Schliers deutlich: „Die Erscheinung Jesu Christi beruht auf dem Akte der göttlichen Entsendung. Das evxape,steilen setzt als Ausgangspunkt natürlich die Gegenwart Gottes voraus. In solchem Zusammenhang verweist die Bezeichnung des um die Herausstellung des echten Menschseins Jesu … ‚Weib‘ ist hier gebraucht im Sinne von Geschlechtswesen, menschlicher Mutter“ (53). – Schlier, Gal, sagt zu 4,4 u. a.: „Der Sohn Gottes ist gesandt als der in der Natur des Menschen, die durch die Frau bestimmt wird, Hineingegebene, als der ‚aus der Frau Gewordene‘ … Es betont die wahre Menschheit des Sohnes. Zu seiner Menschheit gehört nicht nur seine Natur, sondern auch seine Geschichte …“ (196). – Schweizer (Mt) zu Gal 4,4: „Wenn Paulus Gal 4,4 die Wendung ‚vom Weibe geboren‘ für Jesus verwendet, dann ist dies der übliche Ausdruck, der die Ärmlichkeit und Schwäche des Menschen betont, also Jesus gerade nicht von anderen abhebt …“ (15).

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ui`o.n auvtou/ auf die ‚Präexistenz‘ des göttlichen Gesandten hin, d. h. auf das immer schon ihm eignende göttliche Sein, vgl. Röm 1,3f; 8,3.29.32; 1 Kor 8,6. 2 Kor 8,9; Phil 2,6ff, Kol 1,13ff. Der Eintritt des Endtermins der Welt, die Beendigung der Zeit offenbart sich in der Entsendung des Sohnes Gottes als des ewigen göttlichen Grundes, Mittels und Zieles des Daseins (1 Kor 8,6, Kol 1,13ff ). Die Endzeit ist die Zeit, in der das göttliche ‚Prinzip‘ unseres Daseins, Christus Jesus, in dieses Dasein eingebrochen ist. Die Erscheinung Christi Jesu in diesem Äon beruht auf dem Akte der Entsendung, sie besteht in der Menschwerdung“ (196; das alles wird im dort Folgenden noch weiter besprochen). Hier drängt sich unausweichlich die Frage auf, warum das, was Paulus dort sagt, derart umständlich und wortreich problematisierend „exegetisiert“ wird.6 Daß „Entsenden“ die „Gegenwart“ (Existenz) dessen „natürlich 6

Hier sei auf die vielen Ungereimtheiten im Text Schliers aufmerksam gemacht, da sie für viele exegetischen Behauptungen auch anderer Arbeiten symptomatisch sind (den vollen Text s. o.). Im Satz vor dem oben zitierten ist gesagt: „Das Ende der Zeit ist mit der Erscheinung des Sohnes Gottes im Kosmos Ereignis geworden“ (195; zu 4,4a). Dann folgt: „Die Erscheinung Jesu Christi beruht auf dem Akt der göttlichen Entsendung“. Ob „seinen Sohn“, ohne die weiteren Spezifizierungen in 4,4b und weiterhin, so einfach mit „Jesus Christus“ identifiziert werden darf, ist bei der Offenheit des Textes sehr fraglich. „Erscheinung Jesu Christi“ ist andernorts im NT doch immer, meist „Epiphanie“ genannt, etwas prinzipiell anderes, nämlich vom sog. irdischen bzw. vom auferweckten Jesus ausgesagt (was auch wieder nicht absolut gilt, zudem in unterschiedlicher Bedeutung). Diese angemahnte Vorsicht gilt so auch dem später folgenden Satz bei Schlier: „Die Erscheinung Jesu Christi in diesem Äon beruht auf dem Akte der Entsendung, sie besteht in der Menschwerdung“. Abgesehen davon, was nach „Entsendung“ mit „Akt der Entsendung“ gemeint sein mag, zumal wenn die „Erscheinung“ „auf dem Akt der Entsendung beruht“, ist zu fragen: Was soll in diesem Kontext „Gegenwart Gottes“ als „Ausgangspunkt“ des evxape,steilen eigentlich sein, zumal wenn die „Erscheinung Christi Jesu in der Menschwerdung besteht“? Mit „Menschwerdung“ ist wieder ein späterer, dazu gleichfalls fragwürdiger Begriff gewählt, der nicht biblisch ist (wie übrigens auch „Inkarnation“), zudem nur im Deutschen sprachlich möglich und als Verbform (Inifinitiv) mit -ung einmal gebildet worden ist (die Wortform mit -ung wird sehr oft mit Recht als sprachlich unschön empfunden, zumal wenn sie sogar sachlich bedenklich ist, was für „Menschwerdung“ genau zutrifft). Was Schlier mit dieser Wortwahl ausgesagt hat, ist dringend zu hinterfragen; er schreibt: „… Menschwerdung. Der Sohn Gottes ist gesandt als der in die Natur des Menschen (!), die durch die Frau bestimmt wird (!), Hingegebene, als der ‚aus der Frau Gewordene‘.; Gi,nesqai evk meint die Herkunft des gesandten (kursiv im Text!) Sohnes vom Weib, zielt also, obwohl es ‚geworden‘ und nicht ‚geboren‘ (gennw,menon) bedeutet, auf die menschliche Geburt dieses göttlichen Gesandten … Es betont die wahre Menschheit des Sohnes“ (196). Wieder die Frage: Paulus sagt „Gott entsandte seinen Sohn“; ist damit der Gesandte „göttlich“ zu nennen und wenn ja, in welchem genauen Sinne? Und ist der Mensch-Gewordene (von „Menschwerdung“ hier abgeleitet) durch die „menschliche Geburt“ (was ist damit genau gemeint: „menschliches (Mit)Zeugen und Gebären“ oder „nur“ „menschliches Gebären“?) der „Sohn Gottes“, von dem Paulus das „Gott sandte seinen Sohn“ aussagt, der also als Sohn schon Mensch geworden war, „bevor“ er „aus der Frau geworden“ ist, so daß, um mit Schlier zu sprechen, die Herkunft des gesandten (nicht: zu sendenden!) Sohnes die „Menschwerdung“ vor diesem „aus der Frau geworden (und unter dem Gesetz geworden)“ zu sehen ist – oder ist die Geburt, das Gebären, als der Akt anzusehen, der „Menschwerdung“ war? Die Frage ist um so dringender gestellt wegen der bei Schlier noch folgenden Sätze: „Zu seiner Menschheit gehört nicht nur seine Natur (was ist das hier?), sondern auch seine Geschichte. Die Geschichtlichkeit seiner Erscheinung (!) hebt der zweite Zusatz hervor: genomenon hypo nomon

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voraussetzt“, der das tut, dürfte niemandem, der einen solchen Satz hört, ein Problempunkt sein. Jedem, der das Verb „entsenden“, das auf jemanden, der (irgendwie) mit-benannt wird, hin bezogen ist, wird auch dessen Existieren selbstverständlichst klar sein. In diesem Text wird allerdings etwas ganz Unerwartetes gesagt: „Die Bezeichnung (!) des ui`o.n auvtou/ verweist auf die ‚Präexistenz‘ des göttlichen Gesandten hin, d. h. auf das immer schon ihm eignende göttliche Sein“. Was soll „Präexistenz“, gar mit Anführungsstrichen geschrieben, hier bedeuten? Es ist offensichtlich ein vor und außerhalb dieses Textes vor-gegebener unbiblischer (philosophischer?) Begriff, den auch in unserer Umgangssprache kaum jemand bei einer solchen Gelegenheit verwenden wird. Schlier formuliert auch bezeichnend: „Die Bezeichnung … verweist auf die ‚Präexistenz‘ des Gesandten“, was sogleich „verdeutlicht“ wird: „d. h. auf das immer schon ihm eignende göttliche Sein“. Dieses Letztgenannte folgt doch wohl aus „sein Sohn“, und hat von sich selbst her keine „Erklärung“ durch „Präexistenz“ nötig. Wenn „Präexistenz“ tatsächlich „das immer schon ihm eignende Sein“ dessen sachlich aussagen soll, den Gott entsendete, dann wäre es Verunklarung der Aussage des Paulus. Es ist von „seinem Sohn“ die Rede (übrigens wird hier nicht Christus Jesus oder einfach Christus gesagt, wie Schlier es in den Text einträgt, sondern „seinen Sohn“) und darin mit-ausgesprochen Gott als Vater benannt. Damit ist an sich das „Sein“, auch das „ihm eignende Sein“ des Sohnes hinreichend deutlich mit-erklärt, ohne Betonung, aber auch ohne alle aufteilenden Zeit-Angaben. „Existenz“ und folglich „Präexistenz“ will etwas anderes sagen als „Sein“. Hier von Äonen, Beendigung der Zeit, Eintritt des Endtermins der Welt zu sprechen, ist Eintragung von Nicht-imText-Stehendem, nicht Auslegung des Gesagten (Paulus, ja überhaupt niemand muß in einem tatsächlich formulierten Satz immer alles gesagt oder auch nur angedeutet haben, was gegebenenfalls als logisch rechtens aus ihm deduziert werden kann oder auch muß). Nochmals verweisen wir auf die (vielleicht ungemein) offene Redeweise, die hier in der zweigliedrigen Formel „geworden aus der Frau – geworden unter das Gesetz“ von Paulus verwendet wird. „Präexistenz“ ist eine viel später gebildete theologische Kategorie (über deren Berechtigung wir hier nicht zu diskutieren haben), die für die theologische Ausfaltung auch bestimmter biblischer Aussagen eingesetzt worden ist. Diese aber zur exegetischen Auslegung eines biblischen Textes einzusetzen, ist prekär.7

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= unter das Gesetz geworden = dem Gesetz unterworfen“ (196). Diese Anmerkungen mögen hier genügend deutlich machen, daß für eine erste theologische Einsichtnahme in den Text des Paulus das Beachten und Geltenlassen der Offenheit der Aussage unbedingt erfordert ist; sonst werden dem Text selbst schon Inhalte zugesprochen, die erst durch Vergleiche und, vor allem, durch Weiter-Denken erschlossen werden, bei bleibender Problematik, wie sie sich hier bei Schlier gezeigt hat. Auch andere Autoren bringen in ihren exegetischen wie theologischen Auswertungen der GalStelle Ähnliches. Dazu einige Beispiele. Mußner sagt im Kommentar u. a. dieses: „So scheint es, daß in Gal 4,4f ein vorpaulinisches Verkündigungsschema vorliegt … Im ersten Teil … findet sich der Sendungsgedanke und in diesem die Präexistenzchristologie. Denn daß in den oben an-

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Von besonderem Interesse sind die besprochenen Texte zu Gal 4,4, insofern sie zum Anlass wurden für mariologische Fragestellungen. Diese sind nicht Thema unserer Untersuchung; auf sie muß hier jedoch wenigstens hingewiesen werden, weil man in Gal 4,4 Eigentümliches ausgesagt sieht. Wir bringen dieses sprechende Beispiel: Schelkle schreibt zu Gal 4,4 im HThG II.112 im Artikel „Maria. I. Biblisch“ diesen bezeichnend zusammenfassenden Satz: „Gal 4,4 nennt Paulus die Mutter Jesu ohne Namen. Da er aber die Familie Jesu und die ‚Brüder Jesu‘ mit Namen kennt (1 Kor 9,5: Gal 1,19), wird er auch den Namen der Mutter gekannt haben. Doch stellt Paulus bereits die Bedeutung der Mutterschaft Mariens dar. Sie ist der Ort, wo sich der Übergang des ewigen Sohnes Gottes in die menschliche Natur und Geschichte ereignete (/ Inkarnation; /Jesus Christus). Dies ist Marias besondere Auszeichnung vor den Menschen“.8 Das ist eine den Text Gal 4,4 aus besonderem Interesse schon

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geführten Texten (d. i. Röm 8,3f; Joh 3,16f; 1 Joh 4,9 u. Gal 4,4: R. S. aus dem Kontext) bei der Aussage über den Sohn, den Gott sendet, der christologische Präexistenzgedanke impliziert ist, ist sicher … Paulus scheint die Sohn-Gottes- und Präexistenzchristologie schon übernommen zu haben; ihre Anfänge reichen weit zurück“ (272f). Dazu sagt er in der Anm.134: „Vgl. auch Kramer, Christos – Kyrios – Gottessohn, 111: ‚Mit der Vorstellung der Sendung des Gottessohnes in die irdische Existenz ist … die seiner Präexistenz vorausgesetzt, so daß wir die Aussage der Formel als Sendung des Präexistenten in die irdische Existenz (ab „Sendung …“ gesperrt geschrieben, wohl im Befolgen der Schreibung Kramers: R. S.) umschreiben können. Damit tritt der Unterschied der Gottessohnvorstellung unserer (d. i. Kramers: R. S.) Formel zu der von R 1,3b klar zutage: Wird da der Irdische (der Messias) bei der Auferstehung zum Gottessohn eingesetzt, ‚adoptiert‘, so ist er dort der Präexistente, der in die irdische Existenz hineingesandt wird. Adoptierte irdische Gestalt – gesandte präexistente Gestalt, so können die beiden Vorstellungen umschrieben werden‘‘‘. – Eichholz bemerkt (Die Theologie des Paulus im Umriß, 126): „Immer ist der Sohnestitel bei Paulus so verstanden, daß der Träger des Titels schon von allem Anfang an der Sohn ist. Deshalb heißt es: Gott sandte seinen Sohn. Paulus hat diesen Gebrauch des Titels selbst schon der Tradition entnommen. Sendungsformel und Dahingabeformel sind schon vorpaulinisch … man könnte von einer Inkarnations-Christologie sprechen. Der Titel umgreift die ganze Geschichte Jesu Christi und haftet an keinem Datum. Er ist allen Daten voraus‘“ (272 Anm. 134). Mußner hatte im Haupttext noch nach Erwähnung des „christologischen Präexistenzgedankens“ (s. o. im Text) diesen Satz folgen lassen: „Für Joh kann das aufgrund seiner übrigen Christologie nicht in Abrede gestellt werden“. Dem folgt in Anm. 135: „Vgl. auch Schnackenburg, Joh-Ev I, 290–302. Auf das Woher der Präexistenz- und Sendungschristologie gehen wir hier nicht ein (vgl. zu ihr etwa Blank …); vielleicht hat sie ihren Ursprung in der Applikation der ‚Weisheit‘ auf Jesus Christus (vgl. dazu Schweizer …) … Was Die Applikation der alt.- frühjüdischen Aussagen über die Weisheit angeht, so müßte nach ihrer Veranlassung und Berechtigung gefragt werden. Wahrscheinlich wurde sie aus der nachösterlichen Reflexion über das Offenbarungsgeheimnis Jesu geboren, die möglicherweise ihren Ursprung in dem sich vor Ostern manifestierenden Selbstbewußtsein Jesu hat“ (272f).Ähnliches, und doch nochmals anders Formuliertes findet sich im Buch „Maria in Glaube und Frömmigkeit“ (ohne Hrsg.), Rottenburg 1954, im Unterabschnitt „II. Maria als Repräsentantin und Mittlerin“ seitens Schelkle nach Besprechung der sog. Stammbäume Jesu zu Gal 4,4 angeführt. Es heißt dort: „Diese Bedeutung der Geburt Jesu aus Maria hebt auch Paulus hervor (Gal 4,4: … Text). Gottes Sohn hatte schon immer bei Gott das göttliche Sein und teilte mit dem entsendenden Gott die Ewigkeit. Die Entsendung geschah in der Menschwerdung. Sie bedeutet ein Doppeltes,

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weiter ausdeutende Feststellung; sie ist sicher nicht exegetische Erkenntnis. Doch von dem Neutestamentler Schelkle verfaßt gibt sie eine Auskunft über das Textverständnis selbst, die beachtlich ist, aber die von Paulus unmittelbar intendierte Aussage sicher nicht trifft. Noch einmal anders verhält es sich im Beitrag Geiselmanns im oben erwähnten Buch „Maria in Glaube und Frömmigkeit“ unter dem Titel „Marienglaube und Marienmythos“ (39–91). Dort erklärt er vorab unter der Überschrift „Die dogmatische Interpretation der Heiligen Schrift“ (53–58): „Es gilt also zunächst und zuerst den marianischen Glaubensgehalt der Heiligen Schrift zu erheben. Wir gewinnen ihn auf dem Wege der dogmatischen Interpretation der Heiligen Schrift“ (53; das erklärt G. dort näher: R. S.). So haben wir daher zu verstehen, was Geiselmann dann unter „Die paulinische Christologie – die Grundlage der Mariologie“ (69–71) ausführt, dem er noch den Abschnitt „Die synoptische Mariologie – die Konkretisierung der paulinischen ‚Mariologie‘“ folgen läßt (72f). Damit erkennen wir, was G. und wie er es darbieten will; dazu brauchen wir hier nicht Stellung zu beziehen. Es ist ja das, dem wir hier nicht nachgehen; uns geht es darum, zu eruieren, was die biblischen Stellen selbst und zuerst kundtun.9 Es ist allzu offensichtlich, wie in diesem Beitrag Geiselmanns das seitens einiger Exegeten schon weiter ausdeutend Formulierte selektiv aufgegriffen und weitergedeutet, jedoch erkennbar mittels längst vor-gefaßter (viel späterer) dogmatischer Verstehens- und Redeweise ins Wort gebracht wird. Was wir schon am Text Schliers kritisch beleuchtet haben (s. oben), wird hier deutlich erkennbar als „exegetische Grundaussage“ dazu verwendet („Auswertung der Heiligen Schrift“ genannt), längst Formuliertes biblisch zu „begründen“ und zu „bestätigen“. Dem werden wir uns noch ausführlich in der zusammenfassenden Besprechung zu widmen haben. Die überschnelle Anwendung späterer theologischer (dogmatischer oder systematischer) Begriffe auf die anerkannt äußerst offene sprachliche Darstel-

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den Eintritt in die menschliche Natur wie in die menschliche Geschichte. In das menschliche Dasein tritt der Sohn ein durch die Geburt aus dem Weibe, in dem er die menschliche Natur empfängt. Den Eintritt in die Geschichte zeigt Paulus besonders an durch den Satz, daß der Sohn unter das Gesetz getan wurde. Bei Paulus findet sich keine Schilderung der geschichtlichen Einzelheiten der Menschwerdung und keinerlei mariologische Erzählung. Aber eines tritt schon hervor: Die Mutter des Christus muß genannt werden als der Ort, in dem sich der entscheidende Überschritt des ewigen Sohnes in die menschliche Natur und Geschichte vollzog. Durch dieses Tor schritt der Sohn Gottes aus der göttlichen Präexistenz in die menschliche Geschichte. Die Mutter steht zwischen Gott und den Menschen. Hier vollzog sich die heilsgeschichtliche Entscheidung. Mit Gal 4,4 bezeugt Paulus, daß die Mutter Jesu mit dem Evangelium zu verkünden ist. Er nennt ihren Namen nicht. Aber er kannte ihn sicher ebenso, wie er die ‚Brüder Jesu‘ mit Namen kannte (Gal 1,19). Das Wort von Maria als der Mittlerin, das Mt. 1,16 und Gal 4,4 implicite ausgesagt erscheint, wird an anderen Stellen des Neuen Testamentes noch offenbarer ausgesprochen“ (15). Es erübrigt sich hier für uns, die Beliebigkeit solcher Ausdeutung von Schrifttexten aus un-biblischen Interessen kritisch zu betrachten und zurückzuweisen. Der Text spricht für den, der lesen will, selbst. Für ein ausführliches Zitat der bemerkenswerten Äußerungen Geiselmanns, die dringend zu hinterfragen sind, reicht hier der Platz nicht aus. Wir bringen daher den Text im schon oben angekündigten Anhang II (Texte der Kommentare zu Gal 4,4).

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lung des Gott-Gewirkten ist dringend auf ihre Berechtigung hin zu hinterfragen, hier z. B. die unbiblischen Begriffe „Menschwerdung“, „Inkarnation“, „Präexistenz“ wie auch „jungfräuliche Empfängnis“ u. ä., die jedenfalls der Gal-Brief (wie eben auch die anderen ntl. Schriften) nicht kennt und deren Verwendung er auch keineswegs stützt. Schließlich sei noch auf eine Eigentümlichkeit der Kommentar-Aussagen aufmerksam gemacht, die kritisch zu hinterfragen ist, weil sie eine ungute Vereinseitigung der biblischen Aussagen und ihrer Auslegungen darstellt. Es sei zu Anfang in einer Kurz-Formel so angesagt, was wir meinen: Im Gal-Brief wird in einer auffallenden Deutlichkeit Gott als das eigentliche Hauptsubjekt des dort bekundeten Heilswirkens betont herausgestellt, und nicht, wie es meistens formuliert wird, Christus als Messias. Daher sind diese Texte, wenn es schon unterscheidend-spezifisch so gesagt sein soll, nicht christo-logisch, sondern theo-logisch zu lesen und auszulegen. Das sei näher begründend am Gal-Brief aufgezeigt. Paulus nennt sich dort im Briefeingang: „Paulus, Apostel nicht von Menschen, auch nicht durch Menschen, sondern durch Jesus Christus und Gott Vater, der ihn auferweckt hat von den Toten“. Sein Segensgruß lautet: „Gnade euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus, der sich für unsere Sünden dahingab, damit er uns herausreiße aus dem gegenwärtigen bösen Äon nach dem Willen Gottes und unseres Vaters. Ihm sei Ehre!“. Schon in 1,1 werden Gott Vater und Jesus Christus zusammen und zugleich in bezeichnender Unterschiedenheit genannt. Gott Vater (ohne Artikel!) wird genauer charakterisiert durch sein Auferwecken des im ersten Vers zuvor genannten Jesus Christus (das Wort „Sohn“, das man erwarten möchte, ist nicht gesetzt!). Im Segensgruß heißt Gott „unser Vater“, und „Jesus Christus“ steht zugeordnet an zweiter Stelle, mit der Charakterisierung durch sein Sich-Dahingeben „nach dem Willen Gottes unseres Vaters“; diesem gebührt „Ehre in alle Ewigkeit“. Bei aufmerksamem Lesen bemerkt man schon in den ersten Versen dieses ganz eigen-artige Nennen Gottes als „Gott Vater“, und Jesus Christus in auffallender „Relation“ zu dem „Gott Vater“ Genannten. Denn hier ist er (noch) nicht ausdrücklich „Sohn“ dieses Vaters genannt, vielmehr als der von ihm Auferweckte und der im Gehorsam ihm gegenüber für uns, die in der Sündenexistenz leben, sich dahingegeben Habender. Dieses Miteinander und zugleich eigen-artige Unterschieden-Sein beider begegnet im Gal-Brief immer wieder und stets in bezeichnender Sprechweise. So heißt es in 4,4: „Gott entsandte seinen Sohn, geworden aus (der) Frau, geworden unter (das) Gesetz, damit er die unter (dem) Gesetz (Stehenden) loskaufe, damit wir die Sohnschaft empfingen“. Hier wird der, den Gott entsendet, als „Sohn“ angegeben, und zugleich der Empfang unserer Sohnschaft als das Ziel des Wirkens dieses gesandten Sohnes angesagt. Unsere Sohnschaft ist offensichtlich als die des „Sohnes Gottes“ anzusehen, uns geschenkt. Das überhöht 4,6 noch deutlich so: „Weil ihr Söhne seid, sandte Gott (jetzt hier als „Gott Vater“ zu verstehen) den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, der ruft Abba,

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Vater“.10 Wir rufen also (als Erlöste) Gott im Geiste des Sohnes Gottes (oder: dieser Geist ruft in uns) mit „Abba, Vater“ an, so wie es dieser „Sohn des Vaters“ seinerseits schon immer tut (wenngleich im Gal-Brief das nicht ausdrücklich im Munde Jesu begegnet), eben weil wir kraft des Werkes des „Sohnes Gottes“ „Söhne“ dieses Vaters geworden sind. Die Formulierung „Gott sandte den Geist seines Sohnes in unsere Herzen“ ist besonders zu vermerken, zumal es noch öfter begegnet (s. z. B. 2,19–21!).11 Doch nicht genug: In allen diesen Versen ist auch von uns, den Menschen, den erlösungsbedürftigen wie schon erlösten, in ihrem seitens Gottes des Vaters begründeten Dasein die Rede (und nirgends ist Gott für sich und in sich gesehen das Thema). So in 1,1.3.4.5; 4,4–7 im Briefeingang und in entscheidend wichtigen Passagen. Paulus bringt keine Gotteslehre, die etwa die erste Verkündigung an die Galater aufs neue bekräftigen und ergänzen wollte. Vielmehr ist stets unmittelbar und konkret von Gott und seinem Mit-uns- und Für-uns-Sein und -Wirken die Rede, indem sein eigenes Gott-, besser noch: Jahwe-Sein in seinem persönlichsten Selbst-Engagiertsein (wenn man zunächst ganz un-theologisch einfach so sprechen darf) zur Sprache kommt, weil aus Liebe in Liebe schenkend dahingegeben, dem Schicksal gerade der verunstaltend-pervertierten Lebensgeschichte sich ausliefernd und dem eigenen Todsein nicht ausweichend.12 Manche Kommentar-Aussagen lassen es als wichtig erscheinen, alle Textstellen des Gal-Briefes, in denen Jesus Christus mit diesem seinem vollen Namen oder aber „Christus“ allein u. ä. gesetzt ist, zu beachten. Wir nehmen sie uns geordnet vor, um zu erkennen, ob es tatsächlich etwas Bemerkenswertes festzustellen gilt oder ob dort nicht doch etwas in den Text hineingelesen wird, das er selbst nicht sagt. „Jesus Christus“ wird ausdrücklich mit vollem Namen in 1,1 im Zusammen mit „Gott Vater“ 10 Im griechischen Text lautet der Ruf 4,6: „kra/zon\ abba o` path,r“. Zur rechten Übersetzung und Aus-

legung sagt M. Zerwick, Analysis philologica Novi Testamenti graeci, Romae 1953) dies: „kra/zon: ptc. neutr. clamans. – o` path,r loco vocativi serviliter reddit statum emphat. vocabuli aram. abba.“ (422). Daher ist „Vater“ schlicht als die Übersetzung von „Abba“ anzusehen; der Artikel ist daher im Deutschen ohne Bedeutung. ––– Hier seien alle Stellen angeführt, an denen „Gott Vater“ begegnet: 1,2.3.5 (die Texte stehen hier oben im Haupttext); 3,26 (Pa,ntej ga.r ui`oi. qeou/ evste dia. th/j pi,stewj evn Cristw/| VIhsou/); 4,2 zusammen mit 4,4–6 (a;cri th/j proqesmi,aj tou/ patro,j … o[te de. h=lqen to. plh,rwma tou/ cro,nou( evxape,steilen o` qeo.j to.n ui`o.n auvtou/ … ui`oqesi,an). – Qeo,j im Satz allein findet sich 1,24 (kai. evdo,xazon evn evmoi. to.n qeo,n); 2,21 (ouvk avqetw/ th.n ca,rin tou/ qeou/); 3,8 (o[ti evk pi,stewj dikaioi/ ta. e;qnh o` qeo,j); 3,18 (tw/| de. VAbraa.m diV evpaggeli,aj keca,ristai o` qeo,j); 4,8 (Valla. to,te me.n ouvk eivdo,tej qeo.n); 4,9 (nu/n de. gno,ntej qeo,n( ma/llon de. gnwsqe,ntej u`po. qeou/); 6,16 (eivrh,nh evpV auvtou.j kai. e;leoj kai. evpi. to.n VIsrah.l tou/ qeou/). 11 Der Text 2,19–21 mit seinem reichen Aussagegehalt: „Denn ich bin durch das Gesetz für das Gesetz gestorben, damit ich für Gott lebe. Ich bin mit Christus zusammen gekreuzigt. Es lebt nicht mehr Ich, es lebt in mir Christus. Was ich aber jetzt im Fleische lebe, lebe ich in dem Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich mir zugute preisgegeben hat. Ich beseitige die Gnade nicht. Denn wenn durch das Gesetz Gerechtigkeit (kommt), dann ist Christus für mich vergebens gestorben.“ Auch das in 3,2.3.5.14 Ausgesprochene ist hier zu beachten. 12 Siehe dazu nochmals Gal 2,19–21 (Text in der vorigen Anmerkung).

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genannt; in 1,3 gleichfalls, doch als „ku,rioj VIhsou/j Cristo,j“ näher bestimmt. In 1,12 sagt Paulus, daß er das Evangelium nicht von Menschen empfangen habe, sondern diV avpokalu,yewj VIhsou/ Cristou/. In 2,4 spricht er von der „Freiheit, die wir in Christus Jesus haben“. Die Umkehr der Namensfolge, die noch öfter begegnet, zeigt keine besondere Bedeutung an. In 2,16 bringt Paulus beide Namensfolgen im selben Satz, wobei in den unmittelbar folgenden Versen auch „Christus“ mehrmals allein gesetzt steht (2,16–21). Ähnliches zeigt sich in 3,1.14.22.26, wo im Kontext auch „Christus“ mehrmals allein erscheint. Die Stellen 4,14 und 5,6 werden in gewissem Sinn der Sache nach, die sie bringen, am Schluß des Briefes in bestimmter Anhäufung wiederholt; diese zeigen u. a. auch, was nicht so oft der Fall ist, das persönliche Betroffensein des Paulus, das er von Jesus Christus empfindet bzw. lebt.13 – „Christus“ allein stehend begegnet oft.14 Wir haben schon darauf aufmerksam gemacht, daß es im jeweiligen Kontext mehrmals im selben Sinn wie der voll zitierte Name „Jesus Christus“ verwendet ist, ohne daß etwas Besonderes damit ausgesprochen erscheint; es ist immer schlicht als Name gesetzt wie die anderen Wendungen auch. Für die Verwendung des Christus-Namens ist es angebracht festzustellen, daß nie ein ausgesprochen messianisches Verständnis betont angesagt erscheint, was das Messias-Amt angeht. Das wird ja, oft sogar mit alt. Zitaten begründet, von dem „Christus“ genannten Jesus seitens der Kommentatoren behauptet. Im Gal-Brief ist das aber offensichtlich kein hervorEs seien folgende Beispiele zitiert: 1,15f: „Als es aber dem, der mich von Mutterleib ausgesondert und durch seine Gnade gerufen hat, gefiel, mir seinen Sohn zu offenbaren, damit ich ihn unter den Heiden verkündige, da wandte ich mich sogleich nicht an Fleisch und Blut um Rat …“. – Den Text 2,19–21 haben wir oben schon zitiert; s. d. – In 6,14.17 heißt es: „Ich aber will mich allein des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus rühmen, durch das mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt. In Zukunft mache mir niemand mehr Mühe; denn ich trage die Wundmale Jesu an meinem Leibe“. Dieser letzte Vers ist übrigens die einzige Stelle im Gal-Brief, wo Paulus „Jesus“ allein gesetzt hat. – 14 Texte, in denen „Christus“ allein gesetzt ist: 1,22 spricht von evkklhsi,ai evn Cristw/|, dem Schlier diesen Satz widmet: „… sind die einzelnen christlichen Kirchen am Ort, wobei freilich das en Xristo nicht denselben abgeschliffenen Sinn hat wie unser Adjektiv ‚christlich‘“ (63). In 2,16 steht es mit „Jesus Christus im selben Satz, daher mit derselben Bedeutung: der Mensch „wird gerecht mittels des Glaubens an Christus Jesus, und auch wir sind zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden aus Glauben an Christus …“. In 17–21 steht „Christus“ allein noch 5mal, einmal mit dem Zusatz „unser Sterben in Christus“, dann „ich bin mit Christus zusammen gekreuzigt … es lebt in mir Christus“, dem dann noch bezeichnend folgt: „ich lebe in dem Glauben an den Sohn Gottes“. In 3,13 steht: „Christus hat uns losgekauft …“, dem in 14 „Christus Jesus“ folgt wie weiter in 17: „der eine Same, dem die Verheißung galt (Abraham), ist Christus“. In 3,26–29 folgt dem „… dem Aufseher bis auf Christus“ in 24 dies: „ihr seid alle Söhne Gottes durch den Glauben in Christus Jesus; denn alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen … Wenn ihr aber Christus gehört, so seid ihr folglich Abrahams Same“. Wir erkennen an dieser Stelle wieder, daß „Christus“ allein denselben vollen Sinn hat wie „Christus Jesus“. Ähnliches gilt für 5,1.2.3.6.24, wo manches zuvor Gesagte wiederholt wird, und zwar in gewichtigen Wendungen. Das gilt auch für 6,2.17.18. – Der Vers 17 ist die einzige Stelle, an der Paulus den Namen „Jesus“ allein nennt. 13

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Abschnitt C:

Zur Herkunft Jesu Christi gemäß Gal 4,4f

zuhebender Topos. Bedenklich mutet höchstens an, daß von einigen Kommentatoren Gal-Aussagen mit dem Namen „Christus“ belegt werden, wo im Text selbst der Name gar nicht vorkommt.15 Wir können dieserart fragwürdige Auslegungen hier wegen des eigentlichen Zieles unserer Untersuchung auf sich beruhen lassen.16

Als Beispiel sei folgender Text Schliers gebracht. Er überschreibt in seinem Kommentar 4,1–11 mit: „Die Lage der Erben vor und nach der Sendung Christi“. Er erklärt das, indem er „das Kommen Christi“ neben „das Sohnsein der Christen“ anführt (188). Dann: „Die Zeit bis zum Kommen des Glaubens, und d. h. bis zur Ankunft Christi ist die Zeit der Sklaverei unter die Weltelemente gewesen“ (190). Dazu: „Hinsichtlich des Seins sind die Menschen der Möglichkeit nach durch das Kommen Christi Söhne Gottes“ (199). Im Paulus-Text kommt der Ausdruck „Christus“ überhaupt nicht vor, vielmehr ist immer vom „Sohn“ die Rede, und davon, daß Gott seinen Sohn entsandt hat, damit wir als „Erben Gottes“ die „Sohnschaft“ und also das Erbe empfangen könnten. Dazu noch: „Solches Vollsein der Zeit (d. i. 4,4: R. S.) hat nach Paulus nun aber die Sendung Jesu Christi gebracht … Die Erscheinung Jesu Christi beruht auf dem Akte der göttlichen Entsendung, sie besteht in der Menschwerdung“ (195 und 196). –– Borse erklärt zu 4,3 u. a.: „Indem er beide Zustände der Knechtschaft gegenüber der durch Christus gebrachten Mündigkeit und Sohnschaft auf eine Stufe stellt, muß er zwangsläufig eine Wertminderung des Gesetze gelten lassen. Alles, was vor der Ankunft Christi Grund zur Unfreiheit war, … entspringt einer Epoche der Unmündigkeit“ (142). Dazu zu 4,4 u. a.: „So ist ‚die Fülle der Zeit‘ … nicht nur Abschluß, sondern auch Erfüllung der Erwartungen. Sie ist der Anbruch des messianischen Heils … Weil Christus ebenfalls dem Gesetz unterstellt worden war, konnte er die unter dem Zwang des Gesetzes lebenden Juden durch seinen Kreuzestod aus der Sklaverei freikaufen. … Christus bringt in seiner Erscheinung … gerade den Zustand des Unmündigen und Sklaven zur Darstellung …“ (143–144). Daß im Paulus-Text „Christus“ gar nicht begegnet und daß immer Gott der Handelnde ist, wird schlicht übersehen und alles auf Christus bezogen. 16 Vgl. dazu das in den Exkursen dazu Gesagte, vor allem zu „Theologie und Christologie“ im Anhang I.

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Abschnitt D Röm 1,3f und die Herkunft Jesu Christi Im Briefeingang des Römerbriefes hat Paulus in den Versen 3–4 offensichtlich eine Formel verwendet, die ihrer Aussageweise und ihrem Aussageinhalt nach dem Paulus vorgelegen hat und die er mit Absicht am Anfang seines Schreibens anführt, um seinen Adressaten in Rom den Hauptinhalt seines Evangeliums zu bekennen. Wir brauchen hier nicht auf die vielfältigen Untersuchungen einzugehen, die den Grundgehalt dieser Formel in ihrer Urfassung zu erheben suchen, wie auch die Besonderheiten, die Paulus in sie eingetragen hat. Wir nehmen vielmehr im Wissen um diese Textprobleme und die dazu vorgeschlagenen Klärungen jetzt nur zur Kenntnis, was Paulus selbst (in der nur einleitenden Rede) in 1,3–4 zur Herkunft Jesu Christi zu Wort kommen läßt. Wir lassen die Offenheit des in formelhafter Kürze Bekundeten bewußt gelten. Auch eine Zusammenschau mit den im Haupttext noch folgenden Aussagen über Jesus Christus haben wir hier (noch) nicht zu versuchen. Paulus hat ja in seiner Begrüßung keineswegs das eigentliche Thema seiner Schrift thesenhaft ansagen wollen. Der Text Röm 1,2–4 lautet so: … euvagge,lion qeou/( o] proephggei,lato dia. tw/n profhtw/n auvtou/ evn grafai/j a`gi,aij peri. tou/ ui`ou/ auvtou/ tou/ genome,nou evk spe,rmatoj Daui.d kata. sa,rka( tou/ o`risqe,ntoj ui`ou/ qeou/ evn duna,mei kata. pneu/ma a`giwsu,nhj evx avnasta,sewj nekrw/n( VIhsou/ Cristou/ tou/ kuri,ou h`mw/n – Evangelium Gottes, das er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in den heiligen Schriften von seinem Sohn, dem gewordenen aus (dem) Samen Davids dem Fleische nach, dem eingesetzten zum Sohn Gottes in Macht dem Geist der Heiligkeit nach, seit der Auferstehung der Toten, Jesus Christus unserem Herrn (eigene Übersetzung). Wir bemerken, daß Paulus vom Evangelium Gottes spricht, zuvor verheißen durch seine Propheten (also als Gottes eigenes Wort) in den heiligen Schriften, das von „seinem Sohn“ kündet, dessen voller Name erst am Ende von 1,4 genannt wird. Damit ist Jesus Christus zu Beginn des Briefes (1,1) klar als der „Sohn Gottes“ deklariert, von dem dann im ganzen Brief die Rede ist, und zwar dort im Vollverständnis und in der Sprache des Paulus selbst (gemäß seinem persönlichen Anliegen dieses Schreibens an die Römer). Die verwendete Formel betrachten wir jetzt nicht in ihrem zu vermutenden Wortlaut und Inhalt, wenngleich Paulus sie teilweise aufgegriffen hat. Was er bringt, sind Elemente einer Bekenntnisformel, die Paulus bei den von ihm Angesprochenen als bekannt oder im allgemeinen Gebrauch voraussetzt. Im Begrüßungssatz sollen sie aber nicht thesenhaft das Thema des Briefes nennen. Tatsächlich wird vom „Evangelium von seinem Sohn“(1,1.2) in 1,3–4 in einer Art Zweizeiler einführend einiges bekundet. Dieser muß nicht, wie oft behauptet, als antithetischer Parallelismus angesehen wer-

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Abschnitt D:

Röm 1,3f und die Herkunft Jesu Christi

den.1 Was Paulus einführend im Blick auf sein folgendes Schreiben ausspricht, das 1

Dazu einige Beispiele: Schlier bringt es so: „Die beiden Zeilen sind im knappen Partizipialstil gehalten und stellen … einen antithetischen Parallelismus dar. Dabei kann man eine dreifache Kongruenz feststellen: tou genomenou – tou horisthentos, ek pneumatos David – ex anastaseos nekron, – kata sarka – kata pneuma. Läßt das schon an eine fixierte Formel denken, so wird diese Annahme nicht nur durch die Passivformulierung unterstützt …, sondern auch dadurch, daß die Antithese kata sarka – kata pneuma, sofern sie Jesus Christus charakterisiert, auch sonst in überlieferten Formeln auftaucht (vgl. 1 Tim 3,16; 1 Petr 3,18; Joh 6,63). Paulus selbst kennt sonst keine christologische Aussage im Schema ‚nach dem Fleisch – nach dem Geist‘. … Wir haben also den Tatbestand vor uns, daß der Apostel … das Evangelium ‚vom Sohn Gottes‘ … zu verstehen gibt, über dessen weiteren Inhalt er ein Zweifaches und Gegensätzliches in einer von ihm überkommenen und interpretierten Formel darbietet: ‚…‘ (er zitiert nochmals 1,4: R. S.). … (nach eingehender Besprechung der Elemente dieses Verses: R. S.) unpaulinisch ist die Formulierung pneuma hagiosynes und von daher der mit ihr ausgesprochene Gegensatz zu sarx. … Dann hätte die Paulus bekannte Glaubensformel dem Sinn nach von Jesus Christus erklärt: ‚Der geworden ist aus dem Samen Davids dem Fleische nach, der bestellt wurde zum Sohn Gottes dem Geist der Glorie nach aus (= kraft) der Auferstehung von den Toten‘. Dabei wird ‚aus dem Samen Davids dem Fleisch nach‘ nichts anderes meinen als die irdische Seinsweise Jesu Christi, der aber kata pneuma hagiosynes zum Sohn Gottes eingesetzt wurde. … Die Paulus vorliegende Formel, die vielleicht in den Bereich eines hellenistischen Judentums in Rom verweist, hat sich jedenfalls von einer adoptianistischen Tendenz entfernt und kennt den absoluten Gegensatz des Jesus Christus kata sarka und, kraft seiner Auferstehung von den Toten, des Jesus Christus im Geist der Glorie. Die Interpretation des Apostels ist eine Unterstreichung dieses Gegensatzes und für die römische Gemeinde eine Kundgabe seines Evangeliums“ (24; 26; 27). ––– Lohse spricht mehreres an, wobei eine harmonisierende Zusammenschau eher erschwert ist. Es heißt zunächst: „Der Gegensatz sarx/pneuma wird vom Apostel häufig in anthropologischem Sinn verwendet, niemals jedoch zur Bezeichnung von himmlischer und irdischer Sphäre (so jedoch 1 Tim 3,16; 1 Petr 3,18; 4,6)“ (64). Dann: „Die erste Zeile spricht von Christi Herkunft von David … wird Jesu irdische Existenz durchaus als messianisch qualifiziert … Die zweite Zeile … überbietet damit die Aussage, die im ersten Satz über die irdische Existenz Jesu gemacht wird … Der Auferstandene wurde in seine himmlische Würde eingesetzt“ (65). Dann später: „Die Auferweckung entrückt ihn in einen anderen Bereich der Herrschaft, denn ‚nach dem Fleisch‘ und ‚nach dem Geist‘ unterscheiden zwei Bereiche (wie irdisch und himmlisch). … Die Überbietung der geschichtlichen Existenz Jesu durch die Erhöhung kommt durch die Einfügung des Gegensatzes kata sarka – kata pneuma stark zur Geltung“ (73 u.75). ––– Zeller sagt zu 1,4 u. a.: „Auch die hymnischen Christustexte 1 Tim 3,16 und 1 Petr 3,18 stellen den menschlichen und den durch die Auferstehung erschlossenen göttlichen Bereich einander mit den Begriffen ‚Fleisch‘ und ‚Geist‘ gegenüber. Der Gegensatz dürfte der Überlieferung zugehören“ (35). ––– Wilckens bespricht das hier zur Frage Stehende intensiv S. 56–65; es sei darauf verwiesen, da ein Zitat hier zu viel Raum in Anspruch nehmen würde. ––– Hahn bringt manche dezidierten Erklärungen zu 1,3–4; wir zitieren in kurzen Auszügen das Entscheidende: Das ek spermatos David selbst wird als unproblematisch angesehen, jedoch „das kata sarka gibt der Aussage des ersten Gliedes einen neuen Akzent, da die genealogische Wendung hierdurch eine sehr wesentliche Näherbestimmung erhält. sarx und pneuma sind in dieser Formel als Bezeichnungen der irdischen und himmlischen Sphäre verwendet … In Röm 1,3 besagt der präpositionale Zusatz, daß die Herkunft aus dem Geschlecht Davids gerade die Zeit des irdischen Jesus qualifiziert … Es ist daher nicht auffällig, daß der Titel ‚Davidssohn‘ alsbald ‚den Messias‘ im Stande seiner Menschlichkeit und Niedrigkeit‘ bezeichnet und somit dem jüdischen Hoheitsprädikat ein spezifisch christlicher Sinn aufgeprägt ist“ (253f). „Sind sarx und pneuma Bezeichnungen des menschlichen und des göttlichen Bereiches, damit also auch Bezeichnungen der irdischen und

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ist jedenfalls dieses: Für Jesus Christus (1,1), des „Sohnes Gottes“ (1,3) und „unseres Herrn“ (1,4) wird betont die davidische Herkunft hervorgehoben. Der Satz genome,nou evk spe,rmatoj Daui.d selbst sagt nichts Genaueres, dieses eine aber in hinreichender Klarheit: „geworden aus dem Samen Davids“, was in biblischer Sprechweise schlicht die (rechtsverbindliche) Herkunft aus dem Hause Davids im erwarteten, weil verheißenen Sinn (vgl. z. B. 2 Sam 7,1–16) bedeutet.2 Das „geno,menoj – geworden“ sollte nicht ohne weiteres mit „geboren“ wiedergegeben werden (das wäre schon Interpretation), sondern in seiner Offenheit verbleiben. Es gibt schon im Römerbrief selbst wie in anderen ntl. Schriften wichtige ausformulierte Aussagen, die zur Behutsamkeit mahnen (s. Röm 8, bes. 8,3–4 u. a.).3 Der zweite, wieder im Genitiv (nach peri,) gefaßte Aussa-

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himmlischen Welt, dann muß kata pneuma hagiosynes als eine Bestimmung der himmlischen Existenzweise angesehen werden. … erweist die Struktur dieses Zweizeilers, daß hinsichtlich der beiden christologischen ‚Stufen‘ ein jeweils charakteristisches Ereignis genannt wird, in V. 3 die Geburt Jesu, in V. 4 seine himmlische Inthronisation … Es geht also um den jeweiligen ‚Initiationsakt‘ dieser Zweistufenchristologie, um die Geburt als den Beginn der irdischen Wirksamkeit als Davidssohn, um die Erhöhung als Anfang der Existenzweise kata pneuma hagiosynes als Gottessohn und messianischer König, und dabei markiert die Auferstehung geradezu den zeitlichen Wendepunkt zwischen Niedrigkeit und Hoheit Jesu“ (256 u. 257). In den Kommentaren wird „geworden aus (dem) Samen Davids“ unterschiedlich interpretiert. Bei Schlier lesen wir im dortigen Kontext (zu 1,3f) nur dies: „Dann hätte die Paulus bekannte Glaubensformel dem Sinn nach von Jesus Christus erklärt: ‚Der geworden ist aus dem Samen Davids dem Fleisch nach, der bestellt wurde zum Sohn Gottes …‘. Dabei wird ‚aus dem Samen Davids dem Fleisch nach‘ nichts anderes meinen als die irdische Seinsweise Jesu Christi, der aber kata pneuma hagiosynes zum Sohne Gottes eingesetzt wurde. Es handelt sich keineswegs um eine ‚Zwei-Stufen-Theologie‘, die Jesus als den irdischen Messias (im ersten Glied) und als den Inthronisierten (im zweiten Glied) bekennt. So mag vielleicht eine Formel gelautet haben, die hinter der dem Apostel vorgegebenen stand …“ (26). ––– Stuhlmacher sagt zu 1,2–3 u. a. dies: „… deshalb hat das Evangelium einen klaren Inhalt: Es erzählt vom irdischen Weg und Werk des messianischen Gottessohnes, der als Mensch aus jener Sippe hervorging, die Träger der Verheißung von 2. Sam 7,12–14 ist …“ (22). ––– Lohse schreibt zu 1,3–4 an gegebener Stelle: „Die erste Zeile spricht von Christi Herkunft von David. Dabei handelt es sich jedoch nicht einfach um eine genealogische Angabe, zu der die sog. Stammbäume Jesu (Mt 1,1–7; Lk 3,23–38) zu vergleichen sind. Vielmehr wird Jesu irdische Existenz durchaus als messianische qualifiziert. Als Sohn Davids erfüllte er die Verheißungen der Schriften und der Hoffnung Israels …“ (65). Vgl. auch Michel zu 1,3–4 im Kommentar 73–74. ––– Hahn kommt im Abschnitt „Jesus als Davidssohn im hellenistischen Judenchristentum“ intensiv auf Röm 1,3f zu sprechen. Wir zitieren hier, was in unserer Zusammenstellung zur Frage steht: „Die erste Zeile bietet im einzelnen keine besonderen Probleme. ginesthai ek ist in genealogischen Aussagen geläufig und kommt auch in christologischen Zusammenhängen vor … sperma für die Nachkommenschaft ist im alttestamentlich-jüdischen wie griechischen Sprachgebrauch häufig … ek pneumatos David taucht im NT noch Joh 7,42; 2 Tim 2,5 … auf. Soweit enthält die Formel keine Besonderheiten und schließt sich an die alte Tradition an, die im Grundbestand der Stammbäume erkennbar geworden ist“ (252f). Alle diese hier zitierten Stellen sind auch in jeweiligen weiteren Kontext zu lesen, wo freilich einige Problem-Aussagen gemacht werden, auf die wir sogleich noch eingehen werden. Der Text Röm 8 ist ungemein reich an theologischen, christologischen und pneumatologischen Aussagen (wenn man dieserart Unterscheidung und Verdeutlichungen meint anführen zu müssen), die alle die Heilsnotwendigkeit, das Heilswirken Gottes und den Heilsstand der Glaubenden

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geteil bekennt den zuvor genau benannten „Sohn Gottes Jesus Christus“ als „eingesetzt zum Sohne Gottes in Macht seit der Auferstehung der Toten“. Auch das ist aufs kürzeste ins Wort gebracht (wohl aus der Urform mit-übernommen). Was es hier bei Paulus, wieder nur im einführenden Grußwort, an Aussage-Fülle bedeutet, wird ja im Brief selbst ausführlichst dargestellt. Das sollte aber in 1,4 nicht schon hineingelesen werden; die Offenheit des Sprechens ist auch hier anzuerkennen. Wir können das für unser Frageziel gelten lassen. Wir haben sogleich nochmals den Blick auf das Beieinander beider Genitivaussagen zu werfen, weil manche Kommentare doch meinen, hier wäre eine Entscheidung für das volle Verständnis von 1,4a unaufschiebbar. Die als „antithetischer Parallelismus“ angesprochene Doppelformulierung „kata. sa,rka“ und „kata. pneu/ma“ findet sich zweifellos vor. Beides steht ohne jedes Verbindungswort hintereinander ausgesagt. Das für 1,4 oft verwendete Stichwort „antithezur Sprache bringen. Darin ist u. a. eine unübersehbare Bekundung des Herkommens des Heilandes ausgesprochen: „Denn was das Gesetz nicht vermochte, worin es schwach war durch das Fleisch – Gott sandte seinen Sohn evn o`moiw,mati sarko.j a`marti,aj kai. peri. a`marti,aj kate,krinen th.n a`marti,an evn th/| sarki, – damit der Rechtsanspruch des Gesetzes durch uns erfüllt werde, die wir nicht nach Maßgabe des Fleisches sondern des Geistes wandeln“ (3–4). Das dürfte ein genauer Bescheid sein, wenn Näheres zu „geworden aus dem Samen Davids“ (1,4) gesagt werden muß. Ähnlich, und das sogar ebenfalls mit der Wendung „geworden“, heißt es in Gal 4.4: „Als aber die Fülle der Zeit kam, entsandte Gott seinen Sohn, geworden aus (der) Frau, geworden unter (das) Gesetz, damit er die unter (dem) Gesetz (Stehenden) loskaufe, damit wir die Sohnschaft empfingen“. Auch zu dieser Stelle kann man fragen, wie das „geworden“ genauer verstanden sein will (wir kommen darauf zu sprechen, wenn Gal 4,4 einzusehen ist); zunächst ist auch hier die Offenheit des Ausdrucks gelten zu lassen. Nicht anders verhält es sich auch in Bezug auf Phil 2,7.8. Dort findet sich „evn o`moiw,mati avnqrw,pwn geno,menoj“ und dann „evtapei,nwsen e`auto.n geno,menoj u`ph,kooj me,cri qana,tou“. Hier mag man auch fragen wollen, was Christus Jesus, o]j evn morfh/| qeou/ u`pa,rcwn, genau getan hat im Vollbringen dessen, was in Phil 2 ausgesprochen ist, und wie er das tat, etwa das Annehmen (morfh.n dou,lou labw,n) der Knechtsgestalt (und was ist diese genau?). Auch für Gal 3,13 (geno,menoj u`pe.r h`mw/n kata,ra) gilt es zu fragen, was genau damit gesagt sein soll. Diese Beispiele genügen, um zu erkennen, daß jede einzelne Stelle klärt (oder auch offen läßt), was mit ihr im entsprechenden Kontext ausgesprochen werden soll; denn keine will unmittelbar alles deutlich aussagen, was im gegebenen Fall ins Wort gebracht, gegebenenfalls ja bewußt nur andeutend, sein soll, auch wenn es mit Wendungen geschieht, die für sich selbst betrachtet reich an Aussagemöglichkeiten sind. ––– Die allzu einseitige Betonung der Auferstehung für Jesus Christus wie für das Heil findet sich im Röm-Brief gerade nicht. So heißt es in 5,8–11: „Gott erweist seine Liebe zu uns dadurch, daß Christus für uns gestorben ist, da wir noch Sünder waren … Denn wurden wir durch den Tod seines Sohnes mit Gott versöhnt, so werden wir um so sicherer, nachdem wir versöhnt sind, durch sein Leben errettet werden …“. In 8,3f lesen wir: „Gott sandte seinen eigenen Sohn in der Gestalt des Fleisches und um der Sünde willen und verurteilte dadurch die Sünde an seinem Fleische …“. Dem entspricht, was Paulus zur Taufe sagt: „Oder wißt ihr nicht, daß wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, auf seinen Tod getauft sind? Wir sind also durch die Taufe auf den Tod mit ihm begraben. Wie aber Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferstanden ist, so sollen auch wir im neuen Leben wandeln … So betrachtet auch ihr euch als solche, die tot sind für die Sünde, die aber leben für Gott in Christus Jesus … Denn der Sünde Sold ist der Tod, das Gnadengeschenk Gottes aber das ewige Leben in Christus Jesus, unserem Herrn“ (6,4.11.23; s. dazu auch 8,11.32).

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tischer Parallelismus“ hat seinen Grund in der Auffassung des Sinnes von „peri. tou/ ui`ou/ auvtou/ tou/ genome,nou evk spe,rmatoj Daui.d kata. sa,rka( tou/ o`risqe,ntoj ui`ou/ qeou/ evn duna,mei kata. pneu/ma a`giwsu,nhj evx avnasta,sewj nekrw/n“. Um das rechte Verständnis dieser (wie man meint) Doppel-Aussage wird nach wie vor gerungen. Gelegentlich begegnet neben der meist vertretenen Auffassung „antithetischer Parallelismus“ doch auch, beide Satzteile seien (auch) in ihrer Aufeinanderfolge als Nacheinander des Ausgesagten (sie stehen ja tatsächlich ohne jedes Verbindungswort hintereinander) zu verstehen. Dem ist zuzustimmen, und wir möchten jedenfalls zur Frage stellen, ob nicht dieses Nacheinander mit der Lebensgeschichte „Jesu Christi, des Sohnes Gottes, unseres Herrn“, von der Paulus im Brief ja ausführlich sprechen wird, erklärt sein kann. Für uns kann jetzt dieses gelten: Zum rechten und hinreichend klaren Verständnis des einleitend-kurzen Satzes 1,1–4 selbst genügt, das einzelne dort Ausgesagte schlicht in seiner Satzfolge zu lesen und jedenfalls zunächst einmal gelten zu lassen (was nicht hindert, weitere Erkenntnisse aufzuspüren). Dann sagt der Vers 1,4, nach „Evangelium Gottes“ (1,1) „von seinem Sohn“ (4a), als erstes dieses: „geworden aus dem Samen Davids dem Fleische nach“. Das ist eine im NT gängige Formel, die sogar in Röm 9,3.5.8 und 11,14 verwendet ist. In 9,3 heißt es: u`pe.r tw/n avdelfw/n mou tw/n suggenw/n mou kata. sa,rka. Die damit Angesagten werden in 9,4a sogleich mit Namen genannt: oi[tine,j eivsin VIsrahli/tai. Ihr spezifisch Eigenes wird in seinem Reichtum herausgestellt: „ihrer sind die Sohnschaft und die Herrlichkeit und die Bündnisse und die Gesetzgebung und der Kult und die Verheißungen“ (4b), ja „ihrer sind die Väter kai. evx w-n o` Cristo.j to. kata. sa,rka( o` w'n evpi. pa,ntwn qeo.j euvloghto.j eivj tou.j aivw/naj( avmh,n“ (5). Deutlicher kann es nicht erklärt werden, was 1,3–4 einleitend ansagt.4 Daß in der betonten Angabe der Herkunft aus dem Davidsstamm nichts Näheres über das genauere Wie dieses Abstammens Jesu ausgesagt ist, dürfte keine wirklich beunruhigende Frage aufwerfen, da es sich ja nur um den Begrüßungssatz des Briefes handelt, der allerdings Reiches bekundet. Dort sollte man nicht eine ausgeführte Theologie erwarten (dazu besser sogleich den ganzen Brief lesen). Was dann in 1,3–6 weiter, immer noch in einleitender Rede, ausgesprochen ist, muß keineswegs antithetisch zur Abstammungsaussage gelesen werden; es erscheint als weitere Angabe, die freilich irgendwie auf die Geschehensfolge in dem Gesamt-Ereignis dessen, was als „Evangelium Gottes“ verkündet wird, hindeutet und so gesehen auch einen zeitlichen Aspekt

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Was die (vermeintliche) antithetische Zuordnung von „kata. sa,rka – kata. pneu/ma“ angeht, so ist es ungemein aufschlußreich, wenn man die Wendungen „kata. sa,rka“ und „kata. pneu/ma“ und deren Verwendung bei Paulus einzeln und je für sich auf ihre Aussage-Bedeutung hin betrachtet. Es stellt sich eine erstaunliche Vielfalt des Aussagegehaltes heraus, um so mehr, wenn überhaupt „sa,rx“ und „pneu/ma“ (und manche andere einschlägige Ausdrücke) je ihren reichen Bedeutungen bei Paulus bzw. im ganzen NT (ja der Gesamtbibel) nach in den Blick genommen werden. Das kann in einer einzigen Anmerkung nicht geschehen; wir verweisen auf den umfangreichen Artikel „sarx“ im ThWNT 7 (1964) 98–151 (Schweizer, Baumgärtler, Meyer).

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hat. Für unsere Frage jedoch nach der Herkunft Jesu Christi brauchen wir darauf nicht näher einzugehen (wenngleich wir es weiter im Blick behalten).

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Abschnitt E Die Herkunft Jesu Christi gemäß Phil 2,5–11 Wir betrachten im folgenden den sog. Christushymnus Phil 2,5–11 nur im Sinne unserer Untersuchung zur Frage nach der Herkunft Jesu Christi.1 Die vielfältigen exegetischen, formgeschichtlichen und sonstigen theologischen Erkenntnisse und Feststellungen setzen wir dabei voraus und gehen ihnen nicht im einzelnen nach. Das ist als Vorarbeit geschehen, so daß wir uns jetzt direkt auf die Beantwortung unserer Hauptfrage konzentrieren: Was sagt der betreffende Text selbst, so weit es als explizit ausgesprochen klar erkennbar ist. Das zu beachten ist gerade für Phil 2,5–11 unbedingt wichtig, was jede aufmerksame Einsichtnahme in die uferlose Literatur dazu unmittelbar bestätigt. Wir lassen wie bisher die jeweils vorhandene Offenheit und Unabgeschlossenheit der unmittelbaren Textaussagen für jede weitere notwendig und sinnvoll erscheinende Betrachtung und Interpretation des Textes bestehen; wir setzen mit unseren Ergebnissen weiteren Untersuchungen keine Grenzen.

1. Einsichtnahme in die Textaussagen von Phil 2,5–11

Weil der sog. Christushymnus (in der Grundsubstanz) von Paulus vorgefunden und hier in den Kontext seines Briefanliegens eingefügt wurde, fragen wir jetzt nach dem, was der uns vorliegende Paulus-Text aussagt. Er spricht offensichtlich (wie der Vortext) in hymnischer Weise von Jesus Christus, von seinem Sein und seiner Lebensgeschichte speziell zur Zeit seines persönlichen Eingebundenseins in das Heilswerk Gottes und wie dies ihn persönlich betraf und was er „getan“ und erfüllt hat. Der Hymnus, und Paulus mit ihm, spricht von dem, was sich geschichtlich ereignet hat. Die dazu verwendete Sprache ist die des biblischen Bekundens des Wirken Gottes in und mit seiner Schöpfung; sie erzählt, was geschehen ist und wie sich die darin Beteiligten, Gott und die beteiligten Menschen, verhalten haben. Es sind keine hi1

Von der Herkunft Jesu Christi wird in Phil 2,5–11 nicht ausdrücklich gesprochen. Es ist von dem persönlichen Werden dessen die Rede, dem die Gottesgestalt eignete. Das geschieht durch die Angabe dessen, was dieser in dem dort genannten Geschehen aus seinem freien Ermessen vollbracht hat, das offensichtlich das Heilsgeschehen war (was meist verkürzt „Christusgeschehen“ genannt wird). Was faktisch in 2,5–11 näherhin ausgesprochen ist, wird gerade in der Diskussion zur „Jungfrauengeburt“ in mancherlei Hinsicht mit dem konfrontiert, was in Mt 1–2 und Lk 1–2 dazu vorgebracht erscheint und das meistens sogar als etwas miteinander nicht Harmonisierbares behauptet wird. Das ist der Grund, warum wir diesen Text 2,5–11 auf seinen Aussage-Inhalt hin befragen. Wegen der uferlosen Literatur zu Phil beschränken wir uns hier auf das Gespräch mit dem Kommentar von Gnilka, Freiburg 21976. Weitere Autoren werden ggf. hinzugezogen.

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Abschnitt E:

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storisch aufweisbaren und historisch-kritisch zu beglaubigenden Bekundungen oder Dokumentationen. Es ist die Sprache des einsehenden, folgsamen und bekennenden wie dankenden Glaubens, nicht die eines argumentierenden Abhandelns. In diesem Sinne sind auch die Zeitkategorien zu verstehen, nämlich in der Weise des Erzählens und Berichtens der alttestamentlichen Geschichtsbücher, der Evangelien, ja auch unseres eigenen Erzählens der persönlichen Lebensgeschichte. Das zu beachten erweist sich gerade für den Hymnus (!) Phil 2,5–11 als unbedingt notwendig, da in diesem Text sowohl für Gott wie für Jesus Christus und die Geschöpfe – Mächte und Gewalten, Menschen – die Zeitkategorien und Zeitangaben in gleich-bedeutendem Sinn gewählt sind. Das zeigt sich sogleich in 2,6: Das griechische mit „in der Gestalt Gottes seiend hielt er nicht daran fest, Gott gleich zu sein“ Ausgesagte wird im Deutschen meist so wiedergegeben: „er, der in Gottes Gestalt war, hielt nicht daran fest …“. Das Verständnis dieses „seiend“ bzw. „war“ hat bekanntlich eine vielfältige Diskussion ausgelöst, ob es sich dabei um das göttlich-ewige Sein handelt (kann es darin Vergangenheit geben?) und ob Jesus Christus sich hat dessen zu einem bestimmten Zeitpunkt (h`gh,sato: Aorist) entäußern können, und es tatsächlich getan hat. Es wird von einem Geschehen gesprochen, dessen „Ausgangspunkt Gott ist“ (112). „Das Interesse des Liedes ist auf das von dorther in Gang gekommene Geschehen gerichtet“ (ebd.). Dem so angesagten Geschehen „sind die VV 7 und 8 gewidmet. Der mit kai. anhebende Satz in V 7d bedeutet einen Neuansatz, in dem Sinn, daß … die ersten drei Wendungen die Menschwerdung, die folgenden das Menschsein beschreiben“ (117). Damit sind auch schon neue Stichwörter genannt, die für die Auslegung des Hymnus im Paulus-Text maßgeblich und bestimmend werden: Präexistenz, Menschwerdung, Menschsein, zu denen sogleich auch Inkarnation stößt. Dieser Eigenart des Auslegens haben wir uns eingehend zu widmen, um sie zu verstehen und richtig zu werten. Insgesamt gesehen, ist als erstes dieses festzustellen: In 2,5–11 ist von Jesus Christus die Rede, der im ganzen Brief immer derselbe ist, auch wenn er gelegentlich nur „Jesus“, dann nur „Christus“ wie auch „Jesus Christus“ und „Christus Jesus“ genannt wird. In den Paulus-Briefen liegt bekanntlich diese offene Sprechweise allgemein vor. So meint „Jesus“ nicht etwa nur den sog. „irdischen Jesus“ oder den „Menschen Jesus“ o. ä., auch wenn an der betreffenden Stelle dieses „Spezifische“ besonders angesprochen wird. Ebenso wird „Christus“ nicht allein für das sog. „Messias- Sein“ beansprucht. Auch wenn „Jesus“ im konkreten Fall als der „Sohn Gottes“ betont wird, so doch nie in gewolltem Absehen von anderem seines Seins. Auch Formulierungen wie „himmlischer Christus“ u. ä. führen zu unnötigen Problemstellungen, zumal es solche Wendungen im Paulus-Text gar nicht gibt. Daher gilt: In 2,5–11 ist immer der eine und selbe Jesus Christus gemeint, wie er zuvor schon in 1,1 – 2,4 genannt wurde, und dann in 2,5 ausdrücklich; daran schließt sich alles in 2,6–11 Ausgesagte mit Ein-

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Abschnitt E:

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satz des Pronomens „er“ an.2 Immer ist Jesus Christus ganz und persönlich gemeint, auch wenn in bestimmtem Fall nur ein „Element“ vorgehoben wird. Dasselbe betrifft sogleich besonders den Gebrauch des Wortes morfh, und seines Aussage-Inhaltes im Kommentar. Der erste Satzteil von 2,6 gibt den Ausgangspunkt dessen an, was Jesus Christus (5) in dem Geschehen, von dem die Rede ist, getan hat und in welcher „Gesinnung“ er es vollbrachte: „in der Gestalt Gottes (evn morfh/| qeou/) seiend erachtete er (sein) Gott-gleich-Sein nicht selbstsüchtig als Eigenes, sondern er entäußerte sich-selbst …“. Auf den hier anklingenden zeitlichen Aspekt bzw. die (irgendwie zu verstehende) Zeit-Folge gehen wir später ein. Zunächst schauen wir auf morfh, und das damit im Paulus-Text Angesagte, wie es in den Kommentaren ausgedeutet bzw. interpretiert wird. Im Text spricht ganz offensichtlich das „in Gottesgestalt seiend“ dasselbe aus wie das „Gott-gleich-Sein“; beides meint, wenn man es so sagen darf, sachlich dasselbe, doch je mit anderen Worten formuliert.3 Was den tatsächlichen Bedeutungsinhalt des Ausdrucks morfh, in diesem Textstück ausmacht, ist Thema

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Im Kommentar-Text sei auf folgende einander abwechselnde Aussage-Weisen hingewiesen. Zu 2,5 wird zunächst ausdrücklich und wiederholt vom „Christusgeschehen“ gesprochen, das in 2,5–11 zur Sprache komme (109). Dann heißt es: „Wenn demnach en Xristo Iesou in V 5b in der Reihe der übrigen en-Xristo-Aussagen einzuordnen ist … Auf keinen Fall wird man für Paulus einen Unterschied zwischen der Formel en Xristo Iesou und der Formel en Xristo machen dürfen, ihre Verwendungen sind völlig promiscue. In Verbindung mit Xristo bringe sie (d. i. die Formel en Xristo) das Bestimmtsein durch Jesus Christus, die mit Christus angefangene Geschichte, das eschatologische Geschehen von Kreuz und Auferstehung zum Ausdruck“ (109f). Etwas später dann: „… jener Aspekt … daß nämlich das In-Christus-Sein, das die pneumatische Seinsweise Christi und das Wirken Christi durch sein Pneuma voraussetzt, in der Weise ein Bestimmtsein durch Jesus Christus bedeutet, als ein Sich-Befinden im Einfluß- und Machtbereich des persönlichen Christus darstellt“ (110; Hervorhebung durch Gnilka). Die Wendung „der himmlische Christus“ u. ä. findet sich S. 114 („das himmlische Sein Christi“); 115 (2x „himmlischer Christus“); 117 (zu 2,6 „einai isa Theo“!). Dann steht auch „Jesus“ im selben Sinn-Gebrauch, so 121: „Was Jesus von den Sündern unterscheidet, sei sein Gehorsam … liegt die statuierte Verschiedenheit Jesu darin, daß er von der morphe Theou herkommt und den Gehorsam vollzieht … Jesu wesentliche Existenz …“ (das wird 122 weiter besprochen, doch mit „Christus“). Ähnlich abwechselnder Gebrauch auch 127: „Die neue Ausrichtung, die in Phl 2,10f gegeben ist, besteht darin, daß jetzt alles radikal auf Christus übertragen ist. Die Huldigung aller geschieht en to onomati Iesou … ‚Im Namen‘ darf nicht abgeschwächt werden, etwa derart, daß Jesus die Ermöglichung … schaffte für die Huldigung, die im Grunde genommen Gott gelte … Befremdlich mag erscheinen, daß ausgerechnet jetzt der Name des Geschichtlichen (!; ist Jesus doch nur der Irdische?) fällt … aber dann hätte man sich auch des Christusnamens bedienen können. Der Jesusnamen kann in diesem Zusammenhang nur die Realität des Menschseins dessen betonen, der hier erhöht wurde“. Ähnliches begegnet 131. Auch das Sprechen von der „Christologie des Liedes“ für 2,6–11, das ja von Jesus Christus spricht, und zwar „theologisch“, ist bezeichnend vereinfachend oder gar verkürzend. Im Kontext dieses Hymnus sind beide Wendungen eher im Sinne des Parallelismus membrorum zu verstehen. Mittels dieserart Sprechens wird ja dasselbe gleichsam zweimal gesagt, das „mit anderen Worten“. Dadurch wird die „Seins“-Fülle des Auszusagenden gleichsam voller zum Verstehen gegeben; sachlich sprechen beide Sätze vom einen und selben.

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vielfältigster Untersuchungen, auf die wir im einzelnen nicht eingehen können.4 Zur Beantwortung der Frage weisen wir auf folgendes hin: Es fällt unmittelbar in den Blick, daß meistens mit Wörtern und Begriffen Klärung gesucht wird, die auf philosophische Verständnisse und Verwendungsgebrauch zurückgreifen. Damit kann sicher die eine und andere nähere Bedeutungsnuance sichtbar werden. Doch um volle Klärung zu erreichen, ist gerade hier auf eine prinzipielle Vorbedingung allen rechten Verstehens aufmerksam zu machen: Es gilt das begrifflich uneinholbare Faktum gelten zu lassen, daß mit dem in 2,6–11 und in der Heiligen Schrift überhaupt Bekundeten etwas tatsächlich Absolut-Einmaliges zur Sprache kommt, eben Jahwe und sein Heilshandeln in und mit und durch Jesus von Nazaret (dieser in seinem vollen, begrifflich letztlich mit schon zuvor vorhandenen einsichtsvollen Worten unaussprechlichen Sein, Leben und Wirken, Sterben und Auferwecktsein gemeint!). Das 4

Hier einige Beispiele der Bemühung Gnilkas, das rechte und möglichst volle Verständnis von morphe in 2,6–11 zu gewinnen. Auf der Grundlage des Forschungsergebnisses, das J. Behm vorlegt, sagt er: „In der LXX … wird es verwendet für Gestalt, Bild, Ausdruck. Dabei ist bemerkenswert, daß er als korrespondierender Begriff zu phone und in Verbindung mit opsis in Erscheinung treten kann, was beides auf seine Weise die Orientierung an der individuellen Erscheinungsform dokumentiert. Behm überträgt das LXX-Verständnis von morphe auf Phil 2,6, indem er auch hier die sichtbare Ausprägung der göttlichen Seinsweise gekennzeichnet sieht, spezifiziert diese Erklärung aber noch dadurch, daß er morphe und doxa identifiziert … en morphe Theou hyparchon ist nach Behm schließlich gleichbedeutend mit ‚gehüllt sein in, bekleidet sein mit doxa als göttlicher Erscheinungsform (Gewand)“‘ (Gnilka 113). Käsemann weist auf einen Bedeutungswandel von morphe in hellenistischer Zeit hin mit der Feststellung: „Wie metamorphousthai jetzt nicht mehr bloß die Wandlung des Aussehens und der Gestalt, sondern des Wesens bezeichnet, so meine morphe ‚hier nicht mehr das einzelne als gestaltetes Ganzes, sondern die Daseinsweise in einer bestimmten Ausrichtung, also etwa in göttlicher Substanz und Kraft‘“ (113; Hervorhebung offensichtlich durch Käsemann). Schweizer „möchte dem Vorschlag, der für Substanzwechsel plädiert, nicht zustimmen, sondern setzt sich für Status, Position, Stellung ein. Wenn Christus sich in der Stellung Gottes befinde, weise das auf das Wesen und sei alttestamentlich empfunden, da das AT … das Wesen eines Dinges noch mit seiner Erscheinung verknüpft‘“ (113). Das diskutiert Gnilka noch weiter und befindet dann: „Die Präposition evn, noch dazu in Verbindung mit ei=nai gleichkommendem u`pa,rcein, ist im Sinn des Bestimmtseins durch etwas zu interpretieren … Das himmlische Sein Christi … kann aber nicht die Gestalt und auch nicht die Stellung oder der Status sein, es ist die das Sein von seinem Wesen her prägende Daseinsweise, ein Begriff, der an Natur herankommt, sich jedoch nicht mit ihm deckt“ (114). Dieser Überblick kann zunächst genügen. Er gibt reichlich Aufschluß für die eigenartige Hilflosigkeit in der Bestimmung der tatsächlichen AussageBedeutung von morphe in 2,6 (und 2,7). Wir beachten die einzelnen hier vorgeschlagenen bzw. eingesetzten Ausdrücke und fragen, was eigentlich genau mit ihnen erklärend angesprochen sein soll, jedoch ohne sie hier auch zu diskutieren. Denn eines fällt auf jeden Fall besonders auf: Es sind keine biblischen, sondern sehr viel später eingeführte philosophische o. ä. Wörter und Begriffe, die zum Erklären beigezogen werden. Und dabei unterbleibt es, diese eingesetzten Bedeutungen selbst klar zu bestimmen. Es sei nur auf „Sein“, „Dasein“, „Daseinsweise“, auf „Exsistenz“, „Substanz“, „Substanzwechel“ u. a. aufmerksam gemacht: Was meint z. B. „Dasein“ und daneben „Daseinsweise“, was meint das „Wesen“ eines Dinges (113), etwa „essentia“ im Gegenüber zur „existentia“ (was ja sonst oft gemeint ist)? Die oben angegebenen Beispiele zeigen das jetzt Gemeinte und Erfragte sehr deutlich an. Dem ganzen näher nachzugehen, ist hier nicht der Ort.

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kann gar nicht anders zur Sprache kommen als nur mittels der unverwechselbaren, unersetzbaren und unvertretbaren Namen, nämlich JHWH, JESUS, IMMANUEL, die in und mit sich selbst sagen, d. h. verlautbaren, wer und was die „sind“ und „tun“, die diese Namen haben und „tragen“: aufgrund ihrer eigenen unerhörten Kundgabe in Werk und Wort (rb'D'!). Mit diesen Namen, und wieder allein mit ihnen, kann auch das offen-liegende „Sein“ und „Betroffen- und Gestaltet-Sein“ derer ins gültige Wort kommen, die die Jahwe- und Jesus-Bekundung erlebt haben und dankend-lobend bekennen. Auch sie haben keine, gar vorgegebene Möglichkeit wahren Sprechens als die, die sie selbst persönlich als „Zeugen Jahwes bzw. Jesu“ geworden sind; sie müssen von sich sprechen, denn sie sind Jahwe-Glaubende, und damit wird ihr (ihnen zuteil gegebenes!) eigenes Sein in seinem „Eigentlichen“ offen-gelegt, für alle die, die bezeugte Wahrheit als diese annehmen und im Annehmen auch begreifen. Die vielgestaltete Jahwe-Wahrheit Gottes wie Jesu und aller Geschöpfe ist ursprünglich von Jahwe selbst bezeugt, kann aber aufgrund seines Zu-verstehen-Gebens von denen, die die Selbstbezeugung Jahwes hören und lebensmächtig annehmen, auch be-dacht, eingesehen und weitervermittelt werden, so hilflos die dazu gewählten Worte auch immer sein mögen; weil sie wahres Bekenntnis sind, künden sie verständliche Wahrheit. Die Verse 2,6–8 künden in hymnischem Sprechen (nicht in kerygmatischer oder argumentierender Weise!) von dem, was Jesus Christus in und mit diesem seinem InGottesgestalt- und Gott-gleich-Sein, d. h. mit sich-selbst zu bestimmtem „Zeitpunkt“ seines persönlichen Lebens tatsächlich wirkungsvoll getan hat: Im Wissen um sich selbst erachtete er es als für sich angezeigt, sich nicht selbstgewiß-selbstherrlich für sich selbst „auszuwerten“ und einsetzen zu sollen, sondern „er entäußerte sich-selbst Sklavengestalt annehmend“, er „wurde menschengleich, und in (seiner) Erscheinung als Mensch gefunden“. Auf die ausufernde Diskussion, was in diesem Satz die einzelnen Wörter und Begriffe genau bedeuten, brauchen wir hier nicht näher einzugehen.5 Auf folgendes sei jedoch mit Nachdruck hingewiesen. In allen diesen Aussage-Teilen ist offensichtlich von Jesus Christus immer im Vollsinn seines persönlichen Seins und seines geschichtlich-„punktuellen“ freien „Umgangs“ mit sich selbst die Rede. Da hat eine Unterscheidung, die das eine vom „himmlischen Christus“, das andere vom „Irdischen“ angesagt sehen will, im Text keinerlei Grund. Das ist eine wichtige Feststellung für das rechte Lesen und Auslegen dieser Stelle. Das „er entäußerte sich Sklavengestalt annehmend“ ist gleichsam der Akt, durch den und in dem er „menschengleich“ wurde („werden“ hier im aktiven Sinn verstanden) und daher „in (seiner) Erscheinung als Mensch zu finden war und gefunden wurde“. Das „e`auto.n evke,nwsen – er entäußerte sich-selbst“ ist hier für den ausgesagt, der „in Gottesgestalt

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Die Kommentare geben dazu hinreichende Feststellungen. Vgl. bes. Gnilka, 112–124; U.B Müller, 1993, 89–106.

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seiend im Gott-gleich-Sein“ lebt und bleibt, was er ist.6 Es wird mit keiner Silbe gesagt oder als seine eigene Tat angesagt, daß er etwas zu sein aufgibt, auf etwas verzichtet oder es weg-gibt o. ä. Der Aussage Gnilkas „Er gab auf, was er besaß. Gott wurde Mensch!“ (118) muß vehement widersprochen werden, weil der Text genau das nicht sagt. Das „nicht selbstherrlich-selbstsüchtig werten und festhalten“ (V 6) meint kein 6

Das Verb „bleiben“ bringt nicht der Text (der selbst deutlich genug spricht), sondern wir setzen es zur Klärung dazu, gegen jeden Gedanken von Verzicht o. ä. Denn es ist betont festzuhalten, was der Text sagt, weil in den Kommentaren meistens falsche Auslegungen geboten werden. Es sei auch auf folgende Wörterbuch-Aussagen hingewiesen: Im EWNT 2 heißt es zu 2,7 u. a.: „Vom unmittelbaren Kontext des Hymnus her und unter Beachtung von 2 Kor 8,9 (wo evptw,ceusen plou,sioj w;n geradezu pln Kurzformel für die christologisch-inkarnatorische Paradoxie ist) zielt der harte Ausdruck ab auf die sich selbst aufgebende Erniedrigung und die der göttlichen Seinsweise sich beraubende Verarmung. Daß der Tod nicht ausgeblendet, vielmehr als gehorsame Konsequenz der Menschwerdung beim Namen genannt wird, zeigt den radikalen Realismus des schon vor Pls verkündeten Heilsgeschehens“ (697; Hervorhebungen alle durch Lattke selbst). Ähnlich auch ThWNT 3. Dort lesen wir u. a.: „(Es) ist als entfernteres Obj to. ei=nai i;sa qew/| sinngemäß zu ergänzen, und dieser Begriff nimmt evn morfh/| qeou/ u`pa,rcwn gleichbedeutend auf. … Gemeint ist …, daß der himmlische Christus seine göttliche Gestalt, seine gottgleiche Seinsweise nicht selbstsüchtig ausnutzte (…), sondern kraft eigener Entscheidung sich ihrer entäußerte, auf sie verzichtete, indem er Sklavengestalt annahm, dh menschengleich wurde. Subjekt zu evke,nwsen ist nicht der Fleischgewordene, sondern der Präexistente. Die Einheit der Person wird stark empfunden. Ihr Wesen behält diese, aber ihre Seinsweise vertauscht sie, ein wirkliches Opfer!… Den besten Kommentar gibt die Parallele 2 K 8,9: …“ (661; A. Oepke). Diesen beiden Beispielen aus Wörterbüchern zum NT ist massiv zu widersprechen, wenn mit dem von ihnen Gesagten das tatsächlich ausgesprochen sein soll, was der Paulus-Text Phil 2,5–8 sagt. Das e`auto.n evke,nwsen als „harter Ausdruck“ zielt keineswegs „auf die sich selbst aufgebende (!) Erniedrigung und die der göttlichen Seinsweise (!) sich beraubende (!) Verarmung (!)“ (Lattke 697). Sich dazu auf 2 Kor 8,9 zu berufen ist absolut deplaziert (wo L. „geradezu eine pln Kurzformel für die christologisch-inkarnatorische Paradoxie (!)“ meint lesen zu können). Ähnlich sind diese Formulierungen Oepkes zu beurteilen: „Subjekt zu evke,nwsen ist … der Präexistente … Gemeint ist, daß der himmlische Christus (!) seine göttliche Gestalt (!) nicht selbstsüchtig ausnutzte …, sondern kraft eigener Entscheidung sich ihrer (!) entäußerte (im Text: e`auto.n!), auf sie verzichtete (ist „verzichten“ sachidentisch mit dem hier stehenden keno,w?), indem (!) er Sklavengestalt annahm, dh menschengleich wurde“ (661). Auch die betonte Aussage zur „Einheit der Person“ (was ist hier mit „Person“ genau gemeint, da es doch absolut kein biblischer, sondern später, dazu vielfältig verstandener Begriff ist?) gesagt wird: „Ihr Wesen behält sie, aber ihre Seinsweise vertauscht (!) sie“. Was meint da „Wesen“, was „Seinsweise“, und das zusammen mit Person?? – Zum Verständnis von evke,nwsen gerade in Phil 2,5–6 sei auch auf Folgendes aufmerksam gemacht: Phil 2,5–11 ist Teil eines Hymnus, den Paulus in seinem Anliegen gleichsam verwendet, nicht etwa als Beleg für ein bestimmtes christologisches Glaubensgut einsetzt, auf das hinzuweisen wäre. Ein Hymnus (!) spricht bekanntlich eine frei-gewählte, gelegentlich sogar neu erfundene Sprache für das zu Feiernde. Er bedient sich dabei längst vorliegender Sprechweisen und (Alltags)Wörter ebenso wie bisher ungewohnter, dichterisch neu „erfundener“ Sprachspiele. Man kann nicht mittels lexikalischer Erhebungen den Bedeutungsgehalt einzelner hymnisch eingesetzter Wörter und Metaphern eindeutig zu bestimmen versuchen, was der Dichter im betreffenden Fall ins Wort bringen wollte; man muß den Text sprechen, ja singen lassen – und kann dadurch doch klar „begreifen“, was da gesagt wird – auch wenn es lexikalisch auch später nicht „einzuordnen“ ist. Muß nicht genau das gerade auch für diesen Text beachtet bleiben?

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Entsagen, keinen Verzicht und kein Aufgeben/Ablegen. Das wird im Text 2,6–7 durch die zusätzlich-beigeordnete Angabe „Sklavengestalt annehmend“ deutlich genug gesagt. Es ist auch keine Rede von einem Tausch oder Austausch (statt Gottesgestalt Knechtsgestalt) o. ä. Das bedeutet: Jesus Christus, von dem die Rede ist, bleibt der, der er ist; er nimmt als dieser Er-selbst die Sklavengestalt an, und als dieser wird er „gefunden“, weil er als solcher „erscheint“ (was ja nicht meint: was er nur scheinbar von sich zu erkennen gab). Damit ist übrigens auch keineswegs mit-ausgesagt, daß Jesus Christus seit diesem Akt nicht mehr „in Gottesgestalt und Gott-gleich-Sein“ erscheinen konnte (weil „aufgegeben“) und erschienen ist.7 Davon singt der Hymnus überhaupt nicht. Daher ist mit allem Nachdruck festzuhalten, daß der Hymnus, zumal in der Paulus-Fassung, wohl von der Annahme der Sklavengestalt und des Menschgleichseins durch Jesus Christus (der volle Sinn dieses Namens ist aufrechtzuerhalten!), doch mit keinem Wort von einem Weggeben oder Verzichten, welcher Art auch immer, spricht. Wohl ist von der Gesinnung die Rede, in der er das vollzogen hat, was hymnisch bekundet wird. Das ist in 2,8–9 deutlich herausgestellt. (Es mag bemerkt werden, daß wir uns hier tunlichst jeglicher üblich gewordenen Terminologie enthalten und keine theologisch gängig gewordener Wendungen bedienen, wie Präexistenz, Menschwerdung, Inkarnation, Wesen u ä., eben um das Sprechen des Textes selbst, und zunächst nur das, zu hören und zu verstehen, um es dann auch voll gelten zu lassen.)8

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Zum rechten Verständnis des Ausdrucks „Erscheinung“ bzw. „erscheinen“ innerhalb des biblischen Kontextes vgl. den entsprechenden Artikel in LThK 3 (1995) 827–831 (J. Kremer). Wir verstehen und gebrauchen dieses Wort im Sinne der ntl. Texte und ihres rechten Verständnisses, zugleich im Wissen um die Schwierigkeit eines gültigen begrifflichen Erfassens des mittels dieses Ausdrucks Ausgesprochenen. Es sei auf die eigenartigen Überlegungen hingewiesen, die zu 2,6 „ouvc a`rpagmo.n h`gh,sato to. ei=nai i;sa qew/|“ angestellt werden, nämlich im Nachforschen, was Jesus Christus als der Präexistente nicht getan hat, aber hätte tun können, und statt dessen „sich-selbst entäußerte“: Gnilka 115–177. Er beginnt so: „Es sind die ersten Anfänge eines Nachsinnens über das präexistente Sein Christi, aber es ist viel mehr an dem vom Präexistenten herkommenden Heilsgeschehen als an diesem selbst orientiert. Dieses Geschehen wird im folgenden entfaltet. Die Aussagespitze liegt in einer Gegenüberstellung dessen, was nicht geschah, obwohl es hätte geschehen können und nach Lage der Dinge dem Betrachter sogar als das Erwartungsgemäße erschiene, und dessen, was sich ereignete“ (115). Es wird über einen „inneren Kampf, eine Versuchung des himmlischen Christus“ reflektiert: „Die Spielarten der auf diesem Feld liegenden Auslegungen sind mannigfaltig. Die Versuchung wird als von Gott kommende oder nur als eine angesehen, in die sich der himmlische Christus selbst hineinbringt oder nur als Möglichkeit betrachtet, sie wird zum Fall der Engel oder zur Versuchung Adams im Paradies in Parallele gesetzt“ (115). Es erübrigt sich, zu solcherart exegetischer Auslegung überhaupt ein Wort zu verlieren. Die Bibeltexte sind kein Spielfeld für experimentelle Teste oder Hypothesenversuche.

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2. „Präexistenz“, „Menschwerdung“, „Inkarnation“ – sinnvolle Kategorien für das Verständnis von Phil 2,5–11? a) Präexistenz, Präexistenter

Wir sind schon öfter auf den in der Auslegung gerade von Phil 2,5–11 eingesetzten Ausdruck „Präexistenz“ und „der Präexistente“ für Jesus Christus gestoßen; er ist eine wie ein Name eingesetzte Kategorie für den dort zu Anfang (2,5) namentlich genannten Jesus Christus. (Es sei hier sogleich zu Anfang unserer Bemerkungen die Feststellung betont, daß „der Präexistente“ in den ntl. Kommentaren tatsächlich eine nur auf Christus angewendete Wortbildung ist, die z. B. nie für den Heiligen Geist noch für Gott zu Bezug auf deren (heils)geschichtliches Wirken gebraucht wird. Näheres dazu später.) Tatsächlich ist das Wort „Präexistenz“ ein erst sehr spät eingeführter theologischer Begriff und alles andere als ein in den biblischen Sprachen und Vorstellungen begründeter Ausdruck. Ein entsprechendes Verb oder Substantiv findet sich weder im Hebräischen noch im Griechischen und Lateinischen (vom Neulatein hier abgesehen). Philosophisch gefragt und gesehen gibt es keinerlei Anlaß, mit dieserart Wörtern und Begriffen umzugehen. So fragt es sich, was mit diesem Ausdruck eigentlich gemeint und folglich wofür diese Kategorie dienlich oder hilfreich sein soll. Schauen wir auf ihren Einsatz in den Kommentartexten, so wird sie wesentlich mit dem Beginn der heilsgeschichtlichen Sendung Jesu Christi und seines entsprechenden Tätig-Werdens und Wirkens verbunden (und das, wie gesagt, ausschließlich nur auf Christus bezogen).9 Die im jeweiligen unmittelbaren Zusammen9

Im Kommentar Gnilkas zu 2,5–11 ist zunächst immer von Christus die Rede. Dieserart Wendungen herrschen vor: „Bestimmtsein durch Christus; die mit Christus angefangene Geschichte, das eschatologische Geschehen von Kreuz und Auferstehung“ (110); dann: „Bereich der Christusherrschaft; das In-Christussein, das die pneumatische Seinsweise Christi und das Wirken Christi durch das Pneuma bedeutet, als ein Sich-Befinden im Einfluß- und Machtbereich des persönlichen Christus“ (110; Hervorhebung durch Gn.) u. a. – Auch die Auslegung von 2,6 beginnt in dieser Redeweise. Doch dann wechselt das namentliche Subjekt, Jesus Christus, zu „der Prä-existente“. In der Diskussion der Bedeutung von morphe heißt es zunächst noch: „Das himmlische Sein Christi ist eben darin in einzigartiger Weise ausgezeichnet, da es nicht bloß durch Gott, sondern durch die morphe Gottes bestimmt und geprägt ist. … Es sind die ersten Anfänge eines Nachsinnes über das präexistente Sein Christi, aber es ist viel mehr an dem vom Präexistenten herkommenden Heilsgeschehen als an diesem selbst orientiert“ (114). Ab dann ist der „Präexistente“ als der andere Name für Jesus Christus gesetzt, gelegentlich abwechselnd mit „himmlischer Christus“. Dazu diese Beispiele: „Im Betrachten des Präexistenten … Versuchung des himmlischen Christus … die morphe Theou, in der sich der Präexistente befindet … der irdische Lebensweg Christi … Vorspiel der Versuchung in der Präexistenz“ (115). Im folgenden begegnen noch weitere bemerkenswerte Formulierungen; so: „… die Paradoxie der Aussage gerade darin, daß das präexistente Gottwesen seine Selbigkeit preisgebe und das annehme, was dem Göttlichen entgegengesetzt und deshalb nichtig ist“ (119) mit „… hier der Weg des Präexistenten, der von sich aus die Sklaverei

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hang begegnende Wendung „himmlischer Christus“ mit demselben Aussage-Sinn wie „der Präexistente“ weist auf eine Fährte hin, den Grund für die Erfindung dieser eigenartigen Kategorie zu finden, der allerdings hinterfragt werden muß.10 Offensichtlich geleitet vom (unbegründeten) Verständnis von 2,6, welchen Vers man vom vor-geschichtlichen, d. h. „ewigen“ Sein und Lebensvollzug Jesu Christi sprechend meint verstehen zu sollen, und dem folgenden Vers 7a.b, mit dem „das von Gott her sich in Gang setzende Geschehen“ (117) angesprochen sei, das jedenfalls von einer „irdischen Daseinsweise“ spreche, wird das „himmlische Dasein“ Jesu Christi als

des Menschen auf sich nimmt“ (120); dazu: „Vom Eintritt des Präexistenten in die Menschheit wird fortgefahren zur Betrachtung des geschichtlichen Menschen“ (121). In der folgenden Diskussion zu 2,8 finden sich diese Redeweisen: „Der Präexistenzgedanke ist dem Verfasser des Liedes nicht aus der Bibel zugewachsen, auch nicht aus der Weisheitsliteratur, … der wesentlich von biblischen Traditionen beeinflußte Verfasser mußte den Präexistenzgedanken, wenn er ihn fremden Einflüssen verdankt, notwendig umgestalten … Das gehorsame Eingehen auf die Verfaßtheit der irdischkontingenten Existenz findet seinen sprechendsten Ausdruck im Tod“ (123). Dann in der Besprechung von 2,11 u. a.: „In der epiphanen Kyriotes liegt nun auch das ‚Mehr‘, das der Erhöhte gegenüber der Präexistenz besitzt“ (129). Im Exkurs 3 („Das vorpaulinische Christuslied“) stehen diese Angaben: „Nach dem Lied ist der präexistente Christus en morphe Theou und gottgleich … während für die Theologie des Apostels das Schema Kreuz und Auferstehung prägend ist, denkt der Verfasser des Liedes im Schema Erniedrigung und Erhöhung, wobei die Erniedrigung bis in die Präexistenz Christi ausgeweitet ist … Die Offenbarung des Präexistenten in Erniedrigung und Gehorsam gewinnt durch den paulinischen Kontext gesteigerte Bedeutung“ (132 u. 133; vgl. dazu auch noch 144–147). 10 Hier sei auf die auffallende Tatsache hingewiesen, daß in den Kommentaren nie Bildungen wie „himmlischer Jesus“ oder „der präexistente Jesus“ o. ä. begegnen. Der Grund dafür dürfte darin zu sehen sein, daß „Jesus“ faktisch doch stets verkürzt den „historischen“ oder „irdischen Jesus“ bzw. den „Menschgewordenen“ in seinem „Mensch-Sein“ bezeichnet. Das wird beispielhaft an folgendem Text Gnilkas deutlich: Zu 2,10 sagt er: „Die neue Ausrichtung, die in Phil 2,10f gegeben ist, besteht einmal darin, daß jetzt alles radikal auf Christus übertragen ist. Die Huldigung aller geschieht evn tw/| ovno,mati VIhsou/. Zwar hängt das Geschehen wesentlich am Theos, insofern er den neuen Herrscher präsentiert, aber seine Intention ist es, daß die Welt dem Präexistenten huldigt. … Befremdlich mag erscheinen, daß ausgerechnet jetzt der Name des Geschichtlichen fällt … Der Jesusname kann in diesem Zusammenhang nur die Realität des Menschseins dessen betonen, der hier erhöht wurde“ (127; vgl. dazu auch 131). „Christus“ wird hier offensichtlich als der umfassendere „Oberbegriff “ eingesetzt und der Name „Jesus“ ins Christusgeschehen eingeordnet. Das ist in Wirklichkeit eine Entstellung der klaren Text- Aussage (zumal wenn man 2,5 nicht einfach vergißt). (Nebenbei bemerkt: Neben der alles beherrschenden Wendung „Christusgeschehen“ findet sich nie „Jesusgeschehen“!) Welches Subjekt der Vor-Hymnus hatte, wissen wir nicht. Der von Paulus verwendete Teil hat nur das Pronomen „er“, das jedoch in und durch 2,5 eindeutig und betont „Christus Jesus“ als den vollen, alles „einzelne“ einfassenden und umfassenden Namen hat: Christus Jesus. Dessen ungeachtet faktisch dann doch alles auf „Christus“ zu konzentrieren bzw. zu reduzieren, widerspricht eklatant dem Paulus-Text, auch dann, wenn bei ihm gelegentlich (!) „Jesus“ oder „Christus“ alleinstehend begegnen. Hier ist es gänzlich unangebracht, darauf nicht streng zu achten. Vgl. zu diesem „Problem“ das, was wir in der vorigen Anmerkung und in der Anm. 2 zu E.1 herausgestellt haben.

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„Präexistenz“ begrifflich zu fassen gesucht.11 Wir bemerken allein schon bei diesen Andeutungen eine eigenartige Zusammenfügung mehrerer Sachverhalte, die die Bildung dieses sonst gänzlich ungewohnten Ausdrucks motiviert zu haben scheint. Was wird nämlich mit ihm in Phil 2,5–11 spezifisch zur Sprache gebracht? Das „in Gottesgestalt seiend“ (2,6) Jesu Christi (meist mit „er war in Gottesgestalt“ übersetzt) gebe an, so meint man lesen zu müssen, was vor dem mit dem Satz „er erachtete nicht … sondern er entäußerte sich-selbst“ Angesagten sein realer Daseins-Zustand war. Hier wird unversehens eine eigenartige Zeit-Folge im Sein Gottes selbst wie in seinem Wirken in Geschichte angesagt (besser: erfunden), und zwar aufgrund der Darstellungsform (grammatische Zeiten des Verbs), die wegen ihrer begrifflichen Ungereimtheiten verwirrt.12 Wegen der Aorist-Bildungen – solche sind im hymnischen Singen über Eine kritische Besprechung der Frage nach dem Sinn, der Notwendigkeit und Berechtigung dieses Begriffs „Präexistenz“ wie „der Präexistente“ (in den Kommentaren zum NT ausschließlich für Jesus Christus eingesetzt!) erfordert einen Exkurs. Denn mittels dieser Wendungen werden bei den Gelegenheiten, wo sie überhaupt begegnen (es sind sehr wenige, allerdings bedeutsame), dort jedoch als bedeutungsvoll eingesetzt werden, unterschiedlichste Dinge angesprochen und erklärt bzw. theologisch-wissenschaftlich gültig ins Wort zu bringen versucht. Sie sind ja offensichtlich im Sinne von Allgemein(ober)begriffen intendiert, mit denen mehrere Sachverhalte begrifflich kategorisiert erfaßt werden sollen. Was soll aber „Präexistenz“ real erfassen und gültig zur Sprache bringen, gerade auch im Blick darauf, daß diese Kategorie ausschließlich auf Christus bezogen erscheint, bei nur wenigen Gelegenheiten, sonst aber unbekannt ist? Dazu sind die Kommentare zu den einschlägigen Stellen (vor allem Gal 4,4; Phil 2,5–11 und Joh 1,14 bzw. 1,1–18) zu befragen, und das möglichst in Zusammenschau aller dieser Stellen. S. dazu das im folgenden Abschnitt G. „Unbiblische Wörter“ Ausgesagte. 12 Es sei hier eine Zwischenüberlegung angestellt, die Hilfreiches anbieten möchte. Die Formulierung in 2,6–7 „er war in Gottesgestalt“ und „er entäußerte sich-selbst und nahm Knechtsgestalt an und wurde menschengleich“ (so meist die deutsche Übersetzung) muß im Sinne des Paulus gelesen werden. Er hat ja im Aufgreifen des Vor-Hymnus keineswegs seine eigene Verstehensweise vergessen oder korrigiert. Diese bleibt vielmehr der verbindliche Hintergrund zum Verständnis dessen, was Paulus den Philippern sagen will. Das bedeutet auf jeden Fall dies: Jesus Christus hat (für Paulus wie überhaupt) eine eigene urpersönliche Lebensgeschichte, in der das Heil Wirklichkeit geworden ist. Das bedeutet unmittelbar auch, daß Gott es ist, der das erste „Subjekt“ dieser Lebens- und Heilsgeschichte ist, die Gott selbst persönlich mit-erlebt und gestaltet. Das „er war“ und „er wurde“ (und entsprechend anderes im Text) ist, was die angewendeten grammatischen Zeiten angeht, durchaus in dem Sinne zu verstehen, wie wir unser eigenes eine Leben er-leben und davon erzählen, in seinen frühen, dann späteren „Zeiten“ (die alle „vergangene“ Zeiten sind, aber eben unser Leben sind, nicht waren), dann in der sog. Gegenwart, die Jahre dauern kann, aber als das eine Jetzt erlebt wird (um hier von der sog. Zukunft noch zu schweigen). Dieses persönlich-lebendige Wissen um sich-selbst und seine Lebensgeschehnisse im Geschehen-Sein („Vergangenes“), im Jetzt-Geschehen und im Geschehen-Werden unserer „Zukunft“ ist gerade nicht historisch-wissenschaftlich erforschbar und verstehbare und dann verstandene Geschichte. Die historische Wissenschaft hat dokumentierte (in ihrem Sinne) Zeugnisse anderer als ihre Quelle, und sie erfaßt das Geschehene und auch hinreichend eindeutig und kontrollierbar-wahrhaftig Bezeugte auf wissenschaftlich-methodische Weise, mittels selbst-gelenkter Art des Blicks und der Zeugnis-Beurteilung, um es dann in den Kategorien der historischen Wissenschaft auch darzustellen, zu „erzählen“. Auf diese Weise wird schon jede persönlich-eigene Lebensgeschichte einer menschlichen Person nie erfaßt und „verstanden“, zumal das sog. Persönliche des einzelnen In-

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Gottes Sein, Empfinden und (heils)geschichtlichem Wirken in biblischer Erzählweise selbst-verständlich und in ihrem eigenen Aussage-Sinn voll verstehbar, auch was die dabei gegebenenfalls verwendeten grammatischen Zeit-Folgen betrifft – wird hier plötzlich auf das „immer schon“, d. h. „ewige“ Sein und Leben Gottes geschaut. Es wird eine spezifische und prinzipielle Unterscheidung zwischen „Göttlichem“ und „Himmlischem“ auf der einen Seite, und „irdischem“, „geschöpflich-menschlichem Sein, Dasein und Handeln“ auf der anderen Seite ontologisch geltend gemacht und erklärt, sogar für Jesus Christus. Das „himmlische Sein“ und die entsprechende „Daseinsweise“ des „himmlischen“ Christus werden zunächst als vor dem „in Gang kommenden Geschehen“ (112) als ewig-während gesehen. Für das in Phil 2,5–11 Bekundete (das, so heißt es, dort als Heilsgeschehen berichtet werde) sei „Gott der Ausgangspunkt“ (112; wir bemerken die befremdliche Benennung Gottes als Ausgangspunkt dessen, was doch offensichtlich er-selbst im eigenen Empfinden, Erwägen, Entscheiden und Erfüllen seiner Seins- und Wirkmacht „tut“ und vollbringt!). Genau in diesem Kontext heißt es dann: „das Interesse des Liedes ist nicht auf eine Definierung des Seins Christi in der Welt Gottes gerichtet oder konzentriert, sondern auf das von dorther in Gang kommende Geschehen“ (112). Hier könnte die Unterscheidung von Göttlich-ewigem (in sich selbst als solchen währenden) „Sein“ und „Leben“ (über das nichts berichtet wird noch werden kann) noch vor allem Wirk-„Anfang“ (Entschluß zum Wirken) und dem Wirken Gottes in Geschichte gemeint sein, das sich überhaupt erst verwirklichen und sich als dieses bekunden muß, wovon folglich auch berichtet und gekündet werden kann. Alles das könnte einen Aufschluß geben und eine (erste) Antwort auf unsere Frage sein, wozu „Präexistenz“ eigentlich dienen soll. Damit wären Ausdrücke wie „Sein Gottes“, „in Gottesgestalt sein“ u. ä. und deren AussageGehalte ebenso wie auch die im Berichten verwendeten grammatischen Zeitkategorien vielleicht erfaßt. Aber schon die Wendung „Existenz“ für „Sein“ will ja im üblichen Sprachgebrauch durchaus „anderes“ sagen als bloß „sein“. „Existieren“ hat schon einen ganz bestimmten, meist einengenden Akzent. Es bedeutet Da-Sein, im unterscheidenden Gegenüber zu So- oder Dieses-Sein (Wesen im philosophischen Sinn). „Prä-existenz“ wäre dann Vor-Existenz oder Zuvor-Dasein in Bezug auf etwas (zeitlich oder auch sonst sachlich gesehen). Die in 2,5–11 gebrauchten Verben ei=nai und u`pa,rcein sind zwar lexikalisch gesehen sehr offen und entscheiden nicht schon von sich aus, was mit ihnen im konkreten Fall genau gesagt sein soll bzw. gesagt ist. Sie sprechen in diesem Fall jedoch ganz klar und eindeutig. Hier ist in ihnen nicht eine Spur von einem spezifizierten „da-sein“ oder gar „zuvor-sein“ erkennbar – es sei dividuums nur ihm selbst zugänglich ist. Daher ist für die biblische Geschichte Gottes und deren Verständnis nur das Zeugnis Gottes selbst Quelle und Verstehensgrund allen geschichtlichen Wissens der Geschichte, die die Lebensgeschichte Gottes mit denen ausmacht, mit denen er nach seiner freien Wahl diese eine Lebensgemeinschaft „eingegangen“ ist („Bund“) und der er zuerst die Wahrheit und Treue schenkt. – Diese Überlegung auf das (Schein)Problem „Präexistenz“ einmal zu realisieren, dürfte ungemein klärend wirken.

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denn, man meine damit den Geschehens-„Beginn“ des „Tuns“, das in 2,7–8 genau (mittels anderer Verben) angegeben und „berichtet“ wird: evke,nwsen, labw,n, evtapei,nwsen, geno,menoj u`ph,kooj. Für dieses „Tun“ jedoch die Existenz, gar die ZuvorExistenz des handelnden Subjekts besonders zu betonen, ist absurd. Dann wäre jeder, der handelt oder wirkt, zu Beginn dieses seines Tuns als „präexistent“ zu erklären. Dann müßte man auch für Gott seine „Präexistenz“ in Bezug auf sein Schöpfungswirken und auf sein konkret-geschichtliches Heilswirken betont herausstellen. Nur: Was bringt das ein? Muß Selbstverständlichstes, von jedem verständigen Menschen fraglos Mit-Eingesehenes erst betont vorweg-erklärt werden? Der oben gebotene Überblick (Anm. 9 dieses Abschnittes) zeigt, was den tatsächlichen Einsatz des Ausdrucks „Präexistenz“ angeht, dieses Bild: Das zu 2,6 im Kommentar Gesagte ist für unsere Frage sehr aufschlußreich. Die Rede ist dort vom „Sein des himmlischen Christus“ (auch schon eine sehr fragwürdige Formel). Von ihm wird dieses prononciert gesagt: „(es) ist eben darin in einzigartiger Weise ausgezeichnet, daß es nicht bloß durch Gott, sondern durch die morfh, Gottes bestimmt und geprägt ist … es ist die das Sein von seinem Wesen her prägende Daseinsweise, ein Begriff, der an Natur herankommt, sich jedoch mit ihr nicht deckt“ (114). Dazu sogleich: „Es sind die ersten Anfänge eines Nachsinnens über das präexistente Sein Christi“ (ebd.). Dem folgen auf der nächsten Seite noch diese befremdenden Angaben: „Eine Reihe von Exegeten verharren im Betrachten des Präexistenten und sehen in ouvc a`rpagmo.n h`gh,sato … eine Versuchung des himmlischen Christus angedeutet. … alten Streitfrage, ob a`rpagmo,j eine Sache betrifft, die schon im Besitz des Präexistenten ist … für etwas ansehen, was die morfh, qeou/, in der sich der Präexistente befindet, noch übertrifft.“ Bezeichnend ist, alle diese Aussagen zusammengeschaut, daß zunächst vom „himmlischen Sein Christi“ (dieses durch die morfh, Gotttes „in ausgezeichneter Weise bestimmt“) die Rede ist, und dann unvermittelt der „Präexistente“ gleichsam als Synonym für diesen „himmlischen Christus“ eingesetzt und auf ein „erstes Nachsinnen über das präexistente Sein Christi“ aufmerksam gemacht wird. Wo findet der Exeget im NT und frühchristlicher Zeit ein solches Nachsinnen? Jedenfalls wird plötzlich „präexistentes Sein“ als anderer Ausdruck für „himmlisches Sein Christi“, offenbar mit demselben Sach-Inhalt, gesetzt, ohne daß angegeben würde, was dieser Ausdruck hier überhaupt sagen soll. In weiteren folgenden Stellen begegnet derselbe Vorgang.13 Aufs Ganze gesehen, und noch abgesehen von der gleichfalls unbegründe13

Weitere einschlägige Stellen sind diese: Zu 2,7 heißt es u. a.: Gnilka bringt als Beispiel einen Text von Georgi; dieser „sieht die Paradoxie der Aussage in 2,7 gerade darin, daß das präexistente Gottwesen seine Selbigkeit preisgebe und das annehme, was dem Göttlichen entgegengesetzt und deshalb nichtig ist“ (119). Der Text strotzt von inakzeptablen Formeln. Phil 2,7 enthält sicher alles andere als eine „paradoxale Aussage“ (ein Tausch wird dort gerade nicht angegeben, weswegen unmöglich von einer Paradoxie gesprochen werden kann; das wäre ja genau das eigentlich Gefeierte!). Dann ist „präexistentes Gottwesen“ statt schlicht Jesus Christus des Textes untragbar, was nicht erst erwiesen werden muß. „Selbigkeit“ mag man als Wortprägung wählen; doch sollte

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ten Reduzierung der Aussagen in 2,5–11 auf „Christus“, erscheint „Präexistenz“ und vor allem „der Präexistente“ letztlich als gänzlich inhaltsleere Begriffe, die gerade für die ungemein sinnvollen Worte und Sätze des Hymnus (!) zum Hauptstichwort gewählt wurden und zu einer christologischen Kategorie geworden sind; es wird von Präexistenz-Christologie (neben manchen anderen Christologien) gesprochen.14 b) „Menschwerdung“ und „Inkarnation“ in Phil 2,5–11?

Die Ausdrücke (Begriffe) „Menschwerdung“ und „Inkarnation“ begegnen im Kommentar zu 2,5–11 mehrmals. Sie sind eingesetzt als theologisch übliche Allgemeinbegriffe, die als sachlich und gültig angesehen und auch in der Auslegung ntl. Texte gebraucht werden. Der erste Einsatz dieser Ausdrücke findet sich in der Besprechung von 2,7, welcher Text voll zitiert sei, da er in vieler Hinsicht aufschlußreich ist. Zu 2,6 hieß es zuvor: „Der Ausgangspunkt ist Gott“, und einleitend zu 7–8: „… des von Gott her sich in Gang setzenden Geschehens“ (112 u. 117). Dann: „Diesem Geschehen sind die VV 7und 8 gewidmet. Der mit kai. anhebende Satz in V 7d bedeutet dabei einen Neuansatz, in dem Sinne, daß – um es vorwegzunehmen – die ersten drei Wendungen die Menschwerdung, die folgenden das Menschsein beschreiben. Der Gedankengang verläuft so, daß die Konkretion und damit auch die Dramatik sich steigert. man dazu sagen, was das eigentlich bedeuten soll (man sollte es nicht den Leser erahnen lassen!). Dasselbe gilt für das Abstraktum „Göttlichkeit“ ausgerechnet für das in 2,5–11 Ausgesagte! ––– Zu 2,7 wird später noch dies gesagt: „Vom Eintritt des Präexistenten in die Menschheit wird fortgefahren zur Betrachtung des geschichtlichen Menschen. … Für den Weg des Geschichtlichen ist das evtapei,nwsen bestimmend“ (121). Auch hier sind die gewählten Wendungen text-widrig. Weder ist in 2,7 von einem „Eintritt des Präexistenten“ die Rede, noch kann Jesus Christus (so der Text!) einfach als „geschichtlicher Mensch“ angesehen werden, so daß er dann sogar „der Geschichtliche“ genannt werden könnte. Das alles im einzelnen zu diskutieren und zu zeigen, ist hier nicht der Raum. ––– Zu 2,11 heißt es u. a.: „In der epiphanen kurio,thj liegt nun auch das ‚Mehr‘, das der Erhöhte gegenüber seiner Präexistenz hat“ (129). Auch hier müssen wir es beim puren Zitat belassen, da ein Eingehen auf die exegetischen Probleme hier zu weit führen würde. Wir beachten die gleichsam namentliche Verwendung von „Präexistenz“. ––– Im Exkurs „Das vorpaulinische Christuslied“ finden sich u. a. diese Sätze, in denen wir nur auf die bezeichnende Verwendung des Ausdruck „Präexistenz“ aufmerksam machen: „Nach dem Lied ist der präexistente Christus evn morfh/| qeou/ und gottgleich. Paulus betont seinerseits die Überordnung Gottes Christus gegenüber“ (132, zur Frage nach dem Einfluß des Paulus in den Text, den er zitiert). Dazu auch: „Während für die Theologie des Apostels das Schema Kreuz und Auferstehung prägend ist, denkt der Verfasser des Liedes im Schema Erniedrigung und Erhöhung, wobei die Erniedrigung bis in die Präexistenz Christi zurück ausgeweitet ist“ (132). 14 Wir verweisen auf den Artikel „Präexistenz Christi“ mit seiner bezeichnenden Gliederung „I. Biblisch-theologisch; II. Systematisch-theologisch“ LThK 8 (1999) 487–491: H. Merklein; G. L. Müller. Dazu auch den Artikel „Präexistenz- vorstellungen“ (Gliederung: „I. Religionsgeschichtlich; II. Philosophie- u. theologieschichtlich; III. Neureligiös“): LThK 8 (1999) 491–493. In diesen Artikeln wird die ganze Problematik des Begriffs „Präexistenz“ offenkundig, wenngleich in vielem zu hinterfragen bleibt, was dort behauptet und als allgemein anerkannt vorgelegt wird. Dazu mehr im folgenden Abschnitt G.II.

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‚Er entäußerte sich‘ wird verdeutlicht mit der ‚Daseinsweise des Sklaven‘. Bleibt dabei auch noch unscharf, was gemeint ist, wird mit dem ‚Gleichbild der Menschen‘ der Prozeß zu einem gewissen Abschluß gebracht. Die Welt Gottes ist gänzlich verlassen, die niedere Menschenwelt ist endgültig erreicht“ (117f). Dazu folgt sogleich: „Es ist nichts Geringeres angesagt als die die Welt (Hervorhebung durch Gn.!) verändernde Tat, als das eschatologische Geschehen. … Wenn also schon e`auto.n evke,nwsen die Menschwerdung bezeichnet, stellt sich die Frage, wie diese gedacht ist. Der Gegensatz, der die VV 6 und 7 bestimmt, läßt nur die Antwort zu: Er gab auf, was er besaß. Gott wurde Mensch! Die Trennung, die zwischen der Welt Gottes der der Menschen existiert, konnte nur durch diesen Schritt überbrückt werden. … daß (das Lied) die Inkarnation des Gottwesens aussagt“ (118). Zu diesem Text sind in Bezug auf unser Anliegen eine Reihe von Fragen zu stellen bzw. kritische Bemerkungen zu machen. Zunächst widerspricht es dem Text, 2,7–8 als „dem Geschehen gewidmet“ anzusprechen (117), das „in Gang kommt“ und „Gott als Ausgangspunkt hat“ hat. 2,5–11 ist ein Hymnus; er berichtet nicht, noch beschreibt (119) oder schildert (118) er ein Geschehen. Wenn man es unbedingt so formulieren möchte, dann müßte man sagen: Er erzählt oder benennt singend das, was der und in welcher Gesinnung er es getan hat (hier ist zunächst nur das offenst sprechende Verb am Platz!), der persönlich und allein das Subjekt der in 2,7–8 eingesetzten Verben ist, auch wenn in 2,9 und 2,11 Gott (Vater) als der bekundet wird, der dem zuvor Genannten (Jesus Christus!) zuteil werden läßt, was dort angegeben ist.15 Es heißt: „Die ersten drei Wendungen beschreiben (!) die Menschwerdung, die folgenden das Menschsein“. Zunächst noch abgesehen davon, daß dort weder die Wendung „Menschwerdung“ noch „Menschsein“ steht oder auch nur angedeutet wird, so ist festzustellen, daß im Hymnus selbst eine solche Folge (die sogar einen „Abschluß“ hat: 120) mit keinem Wort angedeutet erscheint. Von „Menschwerdung“ wie von „Menschsein“ wird in 7–8, wenn man den Text wirklich selbst sprechen läßt, kein Wort gesagt. Es heißt vielmehr von Jesus Christus: „er entäußerte sich-selbst Knechtsgestalt annehmend“. Er tat das! „Entäußern“, in sich und für sich allein genommen (Lexikon-Wort), sagt nichts näher „Erklärendes“ darüber aus, was er da eigentlich an oder mit sich-selbst „gemacht“ hat.16 Im Es darf während der Auslegung eines (längeren) Textes zwischendurch nicht vergessen werden, was zu Anfang schon erkannt und festgestellt wurde. Es gilt daher für den ganzen Text 2,5–11 gelten zu lassen, daß jedenfalls in 2,5–8 Jesus Christus (nur mit „er“ im Anschluß an 2,5 benannt) das Subjekt der dort begegnenden entscheidenden Verben ist. In 2,9–11 ist Gott das Subjekt, jedoch als der, der auf das in 6–8 Bekundete „reagiert“, so daß auch für 9–11 Jesus Christus der bleibt, „um den es geht“. Daß erst in 2,11 Gott Vater genannt wird, muß gesehen werden, was freilich nicht bedeutet, er, Gott Vater, sei an oder in dem absolut nicht beteiligt, was dort Jesus Christus „tut“; denn mit der Nennung des Vaters in 2,11 (dort ohne Genitiv, d. h. ohne Nennung dessen, dem er Vater ist) ist Jesus Christus von Anfang an (2,5) auch als Sohn des Vaters (11) mit-bezeichnet zu verstehen, wenngleich er im unmittelbaren Zusammenhang so nicht genannt wird. 16 Es gilt anzuerkennen, daß 2,5–11 ein Hymnus ist, den Paulus vorgefunden und hier, mehr oder weniger vollständig und wörtlich, im Anliegen seines Briefes an die Philipper verwendet. Für ei-

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konkreten Zusammenhang 2,5–11 ist mit „sich-selbst entäußern“ eine ganz bestimmte, selbst frei (!) gewählte Gesinnungsstimmung und Haltung angegeben, in der er das tat, was „Knechtsgestalt annehmend“ ansagt. Denn „entäußern“ steht nicht einfach da, sondern zusammen mit „Knechtsgestalt annehmend“. Beides „tut“ er (Jesus Christus!) gleichsam „in einem“, wobei das „sich-selbst entäußern“ durchaus als das seelisch-emotional „Gewichtigere“ gelten kann, nämlich im Blick auf die persönliche, die Person zutiefst treffende und bestimmende Haltung, in der dieses „annehmen“ gerade der Knechtsgestalt getan wird. Auf keinen Fall dürfen diese beiden Verben als aufeinander folgende Akte angesehen werden.17 Auch zu „Knechtsgestalt annehmend“ wird nichts Näheres oder „Deutlicheres“ erklärt, wie eigentlich der Gottgleiche das vollführte und woher er die Knechtsgestalt nimmt, um sie sich persönlich anzueignen (alles hilflose Formulierungsversuche, die jedoch eingesetzt werden müssen, um das in den Kommentaren fälschlich Behauptete zurückzuweisen). Ähnliches ist sodann auch zu evn o`moiw,mati avnqrw,pwn geno,menoj festzustellen. Bekanntlich ist gi,gnomai genauso wie „werden“ ein ganz eigenartiges Tätigkeitswort. Im Deutschen wird es sowohl für die das Futur angebenden Zeitformen wie auch für Passiv-Formen verwendet, kann also den aktiven Akt des „Werdens“ angeben, aber auch das „Erleiden“ (Passiv) aufgrund der Aktion eines anderen ins Wort bringen. In beiden Fällen ist übrigens damit nicht gesagt, was genau der Werdende selbst vollbringt (wenn ein Futur angesprochen wird) bzw. wer oder was die Aktion setzt, die das „Erleiden“ des nen Hymnus gilt unbestritten, daß dessen Dichter seine eigene „Regie“ des Darstellens hat, zumal wenn es sich um ein lobpreisendes Lied handelt. Da muß man die gewählten und eingesetzten Verben wie überhaupt das Ganze selbst sprechen lassen und ihnen zuhören, was sie sagen. Man sollte bei ihnen keine theologisch oder philosophisch bestimmten Unterscheidungen und Betonungen suchen. Der Dichter wählt aus dem Sprachschatz, den er zur Verfügung hat oder den er „irgendwoher“ von anderen übernimmt, frei aus und bestimmt selbst (und allein), was er im konkreten Fall seines Singens die einzelnen verwendeten Lexika-Wörter sagen lassen will, in seinem Anliegen, oder er gibt ihnen sogar einen „neuen“, bisher so noch nicht verwendeten Sinn. Er kann Metaphern übernehmen, aber auch neu erfinden. Deswegen bestimmen z. B. nicht die Lexika noch Fachbücher, was er in 2,6 mit ouvc a`rpagmo.n h`gh,sato oder mit e`auto.n evke,nwsen genau sagen durfte und gesagt hat. Das gilt für alle diese dichterisch gestalteten Texte, was keineswegs verhindert, ihre Bedeutung vielfältig nachforschend zu ergründen zu versuchen. Maßgeblich bleibt jedoch der Text selbst. 17 Wir weisen nochmals mit Nachdruck darauf hin, daß von einem (Aus)Tausch, welchen Sinnes auch immer, nirgends die Rede ist. Dazu sei, neben dem, was wir dazu oben schon gesagt haben, auf folgende inakzeptable Sätze hingewiesen. Zu 2,7 heißt es u. a.: „ ‚Er entäußerte sich‘ wird verdeutlicht (!) mit der ‚Daseinsweise des Sklaven‘. Bleibt dabei noch unscharf, was genau gemeint ist, wird mit dem ‚Gleichbild der Menschen‘ der Prozeß (!) zu einem gewissen Abschluß gebracht. Die Welt Gottes ist gänzlich verlassen, die niedere Menschenwelt ist endgültig erreicht. … Der Gegensatz, der die VV 6 und 7 bestimmt (tut er das überhaupt? R. S.), läßt nur die Antwort zu: Er gab auf, was er besaß. Gott wurde Mensch! Die Trennung, die zwischen der Welt Gottes und der der Menschen existiert, konnte (!) nur durch diesen Schritt überbrückt werden“ (118). Dazu auch: „Das Anliegen des Satzes besteht … darin, … den grundlegenden Wandel zu veranschaulichen. An die Stelle der bestimmenden Göttlichkeit tritt die bestimmende Sklaverei“ (119).

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anderen bewirkt (Hinweis hier auf das sog. theologische Passiv). Ähnlich im Griechischen, was an ntl. Beispielen offenkundig wird. So steht geno,menoj z. B. in Gal 4,4 in passiver Verwendung: Gott handelt, seinen Sohn sendend geno,menon evk gunaiko,j und geno,menon u`po. no,mon; beides hat Gott als „Urheber“. Anders verhält es sich mit der Aussage in Joh 1,14. Sie lautet: Kai. o` lo,goj sa.rx evge,neto – Und das Wort ist Fleisch geworden, was offensichtlich als „Tat“ des Logos angesagt ist, von dem 1,1–14 spricht. Entsprechend ist auch Phil 2,7c das evn o`moiw,mati avnqrw,pwn geno,menoj, das im Gefolge von „er entäußerte sich- selbst“ gesetzt ist, zu lesen (und folglich richtiger so zu übersetzen: „zum Gleichbild der Menschen geworden“).18 Für alle diese Verben, „entäußern“, „annehmend“ und „geworden“, und was sie sagen, ist genau zu beachten, daß sie und in welcher Weise sie einander zu- und zusammengeordnet sind (mit kai. in 7d beginnt eine zweite Dreiergruppe von Verben). „Knechtsgestalt annehmend“ und „zum Gleichbild der Menschen geworden“ geben beide dasselbe zu verstehen, sagen es aber mit je anderen Worten, die dabei auch ihren eigenen Aussage-Inhalt behalten und mit-ansagen, um so „dasselbe“ in seiner unaussprechlichen Fülle ins hymnische Wort zu bringen. Wir bemerken weiters ausdrücklich, daß der Text neben dou/loj – Knechtsgestalt von „zum Gleichbild der Menschen geworden“ spricht und nicht einfach „Mensch geworden“ sagt. Damit ist es verwehrt, für 2,7–8 einfach von „Menschwerdung“ zu sprechen. – Die weitere Dreiergruppe formuliert: „und der äußeren Erscheinung nach als Mensch erfunden erniedrigte er sich-selbst gehorsam geworden bis zum Tod, Tod am Kreuz“. Diese Wendungen als „Beschreibung des Menschseins“ (nach Menschwerdung) zu begreifen, ist absurd. Der Versteil 7d erklärt das, was zuvor in 2,7a. b.c ausgesprochen war, als etwas, das für die, die Jesus erlebt haben, auch wirklich erfahrbar war und tatsächlich erfahren wurde. So wird das evke,nwsen von 7a durch evtapei,nwsen gleichsam wiederholt, durch ein anderes Wort, das sachlich dasselbe anders aussagt. Hier begegnet zudem das zweite Mal geno,menoj, das wieder das persönliche „Tun“ Jesu Christi (7.a.b) herausstellt: Er wurde gehorsam, eine Wendung, die für alle, die die Jesus-Bekundung des NT kennen, einen unüberhörbaren Klang hat. Mit „bis zum Tod“ ist entschieden mehr ausgesagt als nur „ein Leben lang“. Vielmehr ist aufs kürzeste das alles Entscheidende bekundet: Jesu Christi Tod am Kreuz, eine Formel, die aufs deutlichste auf das Pascha-Geschehen hinweist. Wieder muß betont werden, daß alle diese Aussage-Teile in 7d und 8 von entschieden mehr als bloß von „Menschsein“ Jesu Christi sprechen.

18 Die Verseinteilung von 7 und 8 ist unglücklich; sie widerspricht dem griechischen. Gnilka über-

setzt schon korrigierend, doch ungenügend. Er schreibt: „… sondern er entäußerte sich selbst, Sklavendasein annehmend, ein Gleichbild der Menschen wurde er; und im Äußern erfunden als Mensch erniedrigte er sich selbst (und) wurde gehorsam bis zum Tod …“. Richtig muß es heißen: „sondern er entäußerte sich-selbst, Knechtsgestalt annehmend, ein Gleichbild der Menschen geworden; und in der Erscheinung als Mensch erfunden erniedrigte er sich selbst gehorsam geworden bis zum Tod am Kreuz …“.

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Als Ergebnis dieses Überblicks kann festgehalten werden: Der Text Phil 2,5–11 gibt keinerlei Anlaß, seinen reichhaltigen konkreten Aussage-Inhalt überhaupt mit dem Begriff „Menschwerdung“ wie „Inkarnation“ zusammenfassend wie im einzelnen anzusprechen.19 Diese Begriffe sind in der Suche nach gültigen systematisierenden Kategorien erst relativ spät gebildet und in die theologische Sprache eingeführt worden. Es verbietet sich, das, was in Phil 2,5–11 tatsächlich ins hymnische Wort gebracht ist, unter diese Kategorien einzuordnen, das um so mehr, als es sich um die lobpreisende Bekundung eines sogar in der Geschichte Gottes selbst absolut Einmaligen handelt, das kein Vergleichbares kennt.

19 Der Begriff „Inkarnation“, der nur viermal gesetzt erscheint, wird tatsächlich als synonymes Wort

für „Menschwerdung“ gebraucht, meist sogar in einem Text, in dem „Menschwerdung“ das Stichwort ist für das, was dort verhandelt wird. Die folgenden Beispieltexte zeigen das hinreichend deutlich. In der Auslegung von 2,7 findet sich u. a. dies: „Wenn also schon e`auto.n evke,nwsen die Menschwerdung bezeichnet, stellt sich die Frage, wie diese gedacht ist. Der Gegensatz, der die VV 6 und 7 bestimmt, läßt nur die Antwort zu: Er gab auf, was er besaß. Gott wurde Mensch! … daß es die Inkarnation des Gottwesens aussagt“ (118; das wird nochmals betont: „… die Gedankenrichtung weist auf die Inkarnationsaussage“: 119). – In der weiteren Besprechung von 2,7 heißt es: „Der Duktus des gedanklichen Fortschritts … bleibt … bewahrt, wenn man o`moi,wma mit Gleichbild übersetzt. Es geht dem Dichter um die volle Inkarnation“ (121). Die eigenartige Wendung „volle Inkarnation“ versteht sich aus der Diskussion um das rechte Verständnis des MenschSeins in 2,7. Dazu diese Beispiele: Es wird vom „wirklichen Menschenleib“ gesprochen (121). Zu 2,8 wird u. a. dieses gesagt: „Präexistensgedanke … Er betont im Hinblick auf den Menschgewordenen nicht bloß den Gehorsam, sondern auch die ganze Realität des Menschseins. … die radikale Beschränkung auf menschliches Dasein im Sinne des konkreten …, konkretes geschichtliches Tun und Erleiden, tätige Anerkennung der Zufälligkeit und Begrenztheit des Menschseins in all seinem Ausgeliefert- und Bedingtsein, seiner Unabgeschlossenheit und Unvollkommenheit. Das gehorsame Eingehen auf die Verfaßtheit der irdisch-kontingenten Existenz findet seinen sprechendsten Ausdruck im Tod“ (123). Dann: „… ist die tapei,nwsij des Einen aber in der Tat nicht zur Imitation vorgegeben. Sie beruht auf sich. In ihr offenbarte sich das Gottwesen als Mensch, im Fleisch“ (124). – „Inkarnation“ findet sich noch in diesem Satz: „… macht darauf aufmerksam, daß das Schema von Inkarnation und Erhöhung, das das Lied beherrscht, mit dem paulinischen von Kreuz und Auferstehung konkurriert …“ (124). Vgl. dazu die Aussagen im folgenden Abschnitt G. V. u. VI.

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Abschnitt F Die Herkunft Jesu Christi nach Joh 1, insbesondere 1,14 Wie bei dem zuvor besprochenen Text Phil 2,5–11, so schauen wir hier auch auf Joh 1,14 im Sinne unserer Untersuchung zur Frage nach der Herkunft Jesu Christi. Wegen der Eigenart dieses Textes Joh 1,14 müssen wir allerdings auch besonders aufmerksam auf 1,1–18 insgesamt achten. Denn nur innerhalb dieses Kontextes (und natürlich des ganzen JohEv) ist hinreichend eindeutig zu erheben, was in diesem Text explizit ausgesagt erscheint.1

1. Der Aussagegehalt von Joh 1,14

Bei einem einzelnen und zudem sehr kurzen Satz wie 1,14 mag es auf des ersten Blick sinnlos erscheinen, die Frage nach dem von ihm explizit Ausgesagten zu stellen. Hier ist es aber in jeder Hinsicht angebracht, diesen Satz selbst zunächst wirklich allein sprechen zu lassen, freilich unter Beachtung seines eigenen, zumal hymnusartigen Kontextes. Wir tun es sogleich im Gespräch mit einem Kommentar (Schnackenburg), damit deutlicher hervortritt, was in 1,14 tatsächlich gesagt ist. Wir schauen dazu auf den uns faktisch vorliegenden Joh-Text, der ja offensichtlich Teile eines vorgegebenen, in das JohEv übernommenen Hymnus enthält, der zwar auch selbst als dieser exegetisch erhoben werden muß, was aber unsere Aufgabe hier nicht bestimmt. Wir schauen auf den Johannes-Text und lassen ihn sprechen. Kai, – und. Das ist unbestritten ein Neuansatz im bewußten Anschluß an 1,1–5.10. Der, von dem in 1,1–5-9–20.22 als dem Subjekt des Satzes gesprochen wird, ist auch hier wieder, dazu prononciert, als Subjekt gesetzt. So reiht sich 1,14 in die kai,-Folge von 1,1–5 ein bzw. schließt sich, mit nochmals wiederholtem kai, in 14b, an diese Folge an. (Daß diese Folge-Sätze alle mit kai, einsetzen, fällt ohne Zweifel auf und sei daher notiert, rät aber auch, es zu beachten und zu werten!) o` lo,goj – das Wort. Damit ist in 1,14 nicht nur der in 1,1 so Genannte wiederholt an den Anfang des Satzes gestellt. Vielmehr will dieses neu aufgegriffene o` lo,goj, jetzt als „dieser Logos“ verstanden, offensichtlich alles das als gesagt und als begriffen beachtet wissen, was in 1,1–13 zur Sprache gebracht wurde. Es ist ungerechtfertigt, ja 1

Wir betrachten Joh 1,14 hier wegen der kaum übersehbaren Fülle der Literatur nur beispielhaft im Gespräch mit dem einschlägigen Joh-Kommentar Schnackenburgs, Freiburg 21967.

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Abschnitt F:

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text-verfälschend, jetzt selektiv nur einiges als zuvor betont Genanntes nochmals anzuführen. So verfährt Schnackenburg, der so schreibt: „In unüberhörbarer Paradoxie wird gesagt, daß der an Gottes Seite weilende, mit göttlicher Würde bekleidete, ganz vom göttlichen Leben erfüllte Logos (gibt das überhaupt das in 1,1 Gesagte wieder??) in die Sphäre des Irdisch-Menschlichen, des Stofflich-Vergänglichen eintrat, indem er Fleisch (Hervorhebung durch Schnackenburg!) wurde“ (241). In diesen Kommentarsätzen wird einiges des in 1,1–5 Ausgesagten nicht schlicht wiederholt aufgeführt, sondern es wird durch andere Worte und kaum berechtigte Formeln „interpretiert“ vorgestellt. Natürlich ist nicht alles in 1,1–13 Gesagte nochmals zu wiederholen; aber selektiv nur einiges nochmals zu betonen, verdunkelt das in 1,14 tatsächlich Bekundete. Das wird sogleich deutlich an Folgendem: Das h=n in 1,1.2.3.4.5.9.10 ist ein imperfectum durationis (Zerwick), bedeutet also nicht einfach „war“, gar als Präteritum, sondern „währendes“ sein, somit „war“ und „ist“, mit allen Folgen für das rechte Verständnis von 1,14 (und des JohEv insgesamt). Daher gilt, daß die Aussage 1,14 nicht nur von dem „an der Seite Gottes Weilenden (auch das schon eine Verkürzung des in 1,1b Ausgesagten!)“ spricht, sondern auch von dem (es ist derselbe!), der „in der Welt war/ist, und durch den die(se) Welt geworden ist, und die ihn nicht erkannte“ (10). Schnackenburg verkürzt und verfälscht die Bekundung 1,14, wenn er schreibt, daß dieser „Logos in die Sphäre des Irdisch-Menschlichen, des Stofflich-Vergänglichen eintrat (!), indem (!) er Fleisch wurde“ (241). Das stellt die tatsächliche Aussage 1,14 auf den Kopf! In 1,14 ist eindeutigst gesagt: „Der in der Welt (von Anfang an) Seiende, durch den die(se) Welt geworden ist, die ihn jedoch nicht an- und aufnahm (warum sie dies nicht tat, wird hier nicht näher gesagt!)“ (1,10), der „wurde Fleisch“. Es sind gerade keine neuen Verben eingesetzt; auch werden keine näheren Angaben zum Wie dieses „Tuns“ („werden“) gebracht, und die „Welt“ wird nicht wertend, einengend oder genauer definierend bestimmt! (Übrigens: „In diese Welt Kommende“ sind nach 1,19 die (d. i. alle) Menschen!).2 2

Das in 1,1b ausgesprochene h=n pro.j to.n qeo,n wird mit „an Gottes Seite weilend“ eingeengt. Denn ei=nai mit pro.j bedeutet schlicht „bei, auf hin“, ob zeitlich oder räumlich verstanden, oder auch – das ist bedeutsam! – als intentionalpersönliches „Tun“ (Selbstvollzug der Person) dessen, von dem es ausgesagt wird; es hat also eine Aussage-Fülle, die offengehalten bleiben muß, auch wenn der Text selbst nichts Genaueres kundtut. Der schlichte, aber alles (wenngleich Unauslotbares!) aussagende Satz 1,1c „Gott war der Logos“ kann unmöglich mittels „mit voller göttlicher Würde bekleidet“ und „ganz vom göttlichen Leben erfüllt“ auslegend wiedergegeben werden; das tun ist eine Ungeheuerlichkeit. Wenn Schnackenburg zur Besprechung von 1,14 mit solchen Formulierungen meint beginnen zu müssen, dann müßte er folgerichtig hier alle seine zuvor gegebenen Kommentaraussagen zu 1,1–13 wiederholen – wenn sie in sich richtig und begründet gültig sind. Offenbar hat er jedoch die Absicht, die „unüberhörbare Paradoxie“ des in 1,14a Angesagten auszuformulieren. Doch 14a bringt keine paradoxale Formel, sondern ein Geschehen(es) ins Wort, wie immer man sich von diesem „Ereignis Gottes“ betroffen erleben mag. Der durch 1,1–13 reichhaltigst Charakterisierte tat es; er wurde Fleisch! – Hier kann auch auf 1,10 (mit Rückgriff auf 1,3) hingewiesen werden, wo das Verb „werden“ mehrmals begegnet, irgendwie passivisch aufgrund des „Tuns“ des Logos verstanden.

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sa.rx evge,neto – er wurde Fleisch. Beide hier eingesetzten Wörter sind gleichsam eins nach dem anderen in den Blick zu nehmen, um so hervorzuheben, was sie in diesem ihrem Kontext zur Sprache bringen. Wir beginnen mit „evge,neto – er wurde“. Wir hatten schon öfter die Eigenart gerade dieses Verbs „werden“ aufmerksamst zu beachten. Mit ihm, aktivisch verstanden, kann das „Tun“ dessen bezeichnet werden, von dem die Rede ist, meistens im Sinne des Futurs (das Kind wird ein Erwachsener); es kann aber auch, passivisch verstanden, das angeben, was durch das Agieren eines anderen zu erleiden ist (er wird gelobt; Leideform). In 1,14 ist evge,neto aufgrund des Kontextes klar im aktivischen Sinn zu verstehen; es ist die „Tat“ des Logos angesprochen. Dazu muß allerdings sogleich mit-beachtet sein und bleiben, daß „werden“, wenngleich als „Tat“ dessen genannt, von dem die Rede ist, überhaupt keine nähere Angabe mitaussagt, was der Betreffende da „tut“ oder wie (womit, wodurch?) er dieses „werden“ vollbringt. Dieses ganz eigentümliche Offensein und -bleiben der Real-Bedeutung des Verbs „werden“, wenn nach dem Was und Wie solchen „Tuns“ gefragt wird, haben wir schon öfter erkannt und darauf besonders achten müssen, weil oft Bedeutsamstes offenkundig wird.3 Gelegentlich gibt das, worauf sich das aktivisch eingesetzte „werden“ unmittelbar bezieht, schon eine nähere Auskunft, was jedoch nicht immer der Fall ist. Schauen wir daher auf 1,14, was es in seinem Kontext sagt. Es heißt: „Er wurde Fleisch“. Gibt in diesem Fall der Ausdruck „Fleisch“ eine nähere Auskunft? Die Vielfalt der Versuche, den wesentlichen und hinreichend eindeutigen AussageGehalt dieses Wortes „Fleisch“ im Kontext des JohEv zu erfassen und begründet anzugeben, ist allzu bekannt, um sagen zu können, die gewünschte Klarheit sei erreicht. Die Variationsbreite der im Kommentar vorgetragenen Feststellungen eines einigermaßen deutlich sprechenden und dazu wirklich gültigen Aussage-Gehaltes von „Fleisch“ ist unübersehbar.4 Lexikalische, religions- und begriffsgeschichtliche, 3

4

Auch der dort folgende Satz entspricht nicht dem, was 1,1–14 klar ausspricht: „Der Logos war schon (!) in einer geistigen Weise (?) in der Welt anwesend und wirksam, wenn er auch auf Ablehnung bei den Menschen stieß (VV 10f – 3. Strophe); nun aber geschieht das Unfaßbare: Er kommt sogar (!) ins Fleisch, wird Mensch und schlägt sein Zelt unter den Menschen auf “ (241). Das „h=n – war“ wird im Kommentartext durch „schon“ (das der Joh-Text nicht sagt!) doch irgendwie näher bestimmt, wohl ausgelöst durch den mißverstandenen Aorist evge,neto. Daß der Logos „in einer geistigen Weise schon in der Welt anwesend und wirksam war“, wird einfach behauptet, ohne daß erklärt würde, was unter „in einer geistigen Weise“ eigentlich verstanden werden soll. Der JohText selbst kennt keine unterschiedene „Weisen“ des In-der-Welt-Seins des Logos, etwa vor und nach dem mit evge,neto Bezeichneten. Daß er „anderes“ gemäß 1,14 gleichsam zusätzlich wurde, ist keine andere Seinsweise des Logos. Auch wird die Textaussage „die Welt erkannte ihn nicht“ mit „Ablehnung bei den Menschen“ keineswegs gültig ausgelegt. – Für die eigenartige Redeweise von Seinsweisen s. auch die bemerkenswerten Sätze S. 242, wo auch von „Veränderung der Seinsweisen“ gesprochen wird. –– Zur bleibenden Offenheit der Bedeutung des Verbs „werden“ sei auch auf unsere Besprechung von Phil 2 hingewiesen: oben E.2.b. Kommentar-Texte, die zur Bedeutung von „Fleisch“ gerade in 1,14 Näheres anzugeben versuchen: In der „Einführung in den Prolog“ lesen wir u. a.: „die Wahl von sa,rx für die Menschwerdung braucht zunächst im Hinblick auf 1 Tim 3,16a; vgl. Röm 1,3; Hebr 5,7; 10,20; 1 Petr 3,18 nicht zu

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ja auch bibeltheologische Untersuchungen können hier offensichtlich grundsätzlich nichts end-gültig Verbindliches offenzudecken versuchen. Heißt das aber, daß im Endergebnis schlicht überhaupt nicht aussprechbar ist, was sich in 1,14 als bekundet vorfindet? Unsere Antwort auf diese Frage, die wir hier geben möchten, geht von der Grund-Überzeugung aus, daß vor allen Versuchen der gültigen Angabe des eigentlichen Aussage-Inhaltes von „Fleisch“ in 1,14 das alles Entscheidende vorher und zuerst und bleibend zur Kenntnis zu nehmen und anzuerkennen ist. Damit meinen wir dies: Es handelt sich in 1,14 um ein absolut einmaliges Ereignis innerhalb der Heilsgeschichte, ja der Lebensgeschichte Gottes selbst mit seiner Schöpfung, das hier ins bekundende und bekennende, ja hymnisch zu feiernde Wort gebracht ist. Wie dem überraschen, trägt aber im Logos-Hymnus doch einen besonderen Akzent, da nicht die irdische und spätere ‚pneumatische‘ Seinsweise wie in jener alten sarx-pneuma-Christologie gegenübergestellt werden, sondern aller Nachdruck auf das Eintreten des Logos in den irdisch-stofflichen Bereich fällt …“ (207). –– Zu 1,12 wird u. a. gesagt: „Ähnlich wie in der Gnosis der Gesandte aus der himmlischen Welt inmitten der irdischen Fremde die Seinigen findet, die seine ‚Offenbarung‘ hören und Gnosis lernen, trifft im Joh der fleischgewordene Gottessohn auf Menschen, die ihm zuhören“ (237). –– Zu 1,14 finden sich bezeichnende Angaben: „In unüberhörbarer Paradoxie wird gesagt, daß der an Gottes Seite weilende, mit voller göttlicher Würde bekleidete, ganz von göttlichem Leben erfüllte Logos in die Sphäre des Irdisch-Menschlichen, des Stofflich-Vergänglichen eintrat, indem er Fleisch wurde. … Der Logos war schon in einer geistigen Weise in der Welt anwesend und wirksam, wenn er auch auf Ablehnung bei den Menschen stieß (VV 10f – 3. Strophe); nun aber geschieht das Unfaßbare: Er kommt sogar ins Fleisch, wird Mensch und schlägt sein Zelt unter den Menschen auf; … dürfte dieses geschichtlich-einmalige und besondere Kommen des Logos im Fleisch schon ab V 9 vorausgesetzt sein; jetzt wird es in seiner vollen Realität herausgestellt“ (241). Dazu sogleich weiter: „Mit evge,neto wird eine Veränderung in der Seinsweise des Logos angesagt: Vorher war er in der Herrlichkeit bei seinem Vater (vgl. 17,5.24), jetzt übernimmt er die Niedrigkeit der irdisch-menschlichen Existenz; vorher war er ‚bei Gott‘ (1,1b), jetzt schlägt er sein Zelt bei den Menschen auf, und zwar in menschlicher Gestalt, in der vollen Realität der sa,rx, um nach der Rückkehr zu seinem Vater die Herrlichkeit der himmlischen Seinsweise wiederzuerlangen (17,5). … Die Inkarnation, das ‚Kommen im Fleische‘, geschieht, um den irdischen Menschen die himmlische Offenbarung und das göttliche Leben zu bringen (vgl. 3,31–36). Das ‚Fleisch-Werden‘ des Logos bezeichnet also einen Wendepunkt in der Heilsgeschichte; … der Weg des Erlösers hinab ins Fleisch und durch das Fleisch empor zur himmlischen Herrlichkeit“ (242). Dem folgt sogleich: „Warum spricht der Logoshymnus vom ‚Fleisch‘-Werden und nicht einfach vom ‚Mensch‘-Werden? Das absolut stehende sa,rx ist nicht schlechthin eine Umschreibung für ‚Mensch‘ (wie pa/sa sa,rx 17,2), sondern im joh. Denken Ausdruck für das Irdisch-Gebundene (3,6), Hinfällig-Vergängliche (6,63), gleichsam das Typische rein menschlicher Seins-weise im Unterschied zu allem Himmlisch-Göttlichen, Göttlich-Geistigem. … Dagegen ist das Moment des sündigen, zur Sünde neigenden oder der Sünde verhafteten Fleisches (1 Joh 2,16) hier nicht gegeben; Christus im Fleische ist für Joh nicht Repräsentant. der adamitischen Menschheit wie für Paulus (Röm 8,3), sondern Heimführer der erdgebundenen Menschen in die himmlische Welt des Lebens und der Herrlichkeit … Das in der Inkarnation vom Logos angenommene ‚Fleisch‘ ist die Voraussetzung für den blutigen Kreuzestod (vgl. Joh 19,34; 1 Joh 5,6). Sa,rx sagt die volle Menschheit an; …“ (242 u. 243). Wir können zu den einzelnen Beispieltexten aus Platzgründen hier keine kritischen Bemerkungen anbringen, obwohl sie äußerst notwendig sind; wir belassen es den Lesern, die bei wachem Betrachten der Aussagen selbst auf die zu beanstandenden Aussageteile stoßen werden.

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Schöpfungswerk Jahwes, dann seinem Erlösungsratschluß kein Gedanke oder gar ein besonderes, angebbares „Tun“, Denken oder Wirken, nicht einmal in Gott selbst!, zuvor war und daher vergleichbar oder deswegen auch begrifflich erfaßbar neben und nach ihm real bestand oder bestanden hat, so auch dem in 1,14 Bekundeten nicht. Es ist in einem absoluten Sinn einzig-artig, was 1,14 ausspricht (schon „einzig-artig“ ist dafür kein adäquater Ausdruck, da er schon zu zählen scheint). Die einzig mögliche, aber voll-gültige Antwort gibt das JohEv als euvagge,lion tou/ qeou/. Besser noch: Die Antwort ist der, der als JESUS IMMANUEL erlebt wurde! Er, und einzig er war/ ist er-selbst, war/ist wer und was er ist und ließ sich selbst erkennen, um glaubend angenommen und bekenntnishaft bekundet werden zu können, in seiner, ihm allein eigenen Wahrheit, er-selbst in Person – bzw. der Vater! Dieses ein für alle Mal grundsätzlich allem Verstehen- und Begreifen-Wollen bleibend voraus-gesetzt, haben alle klärend-auslegende Versuche, das „er wurde Fleisch“ näher bzw. mit anderen Worten auszusprechen, ihre Berechtigung und sind, wenn berechtigt erfolgt, fruchtbar für die Einsichtnahme in die unauslotbare Fülle dessen, was jedenfalls die Heilige Schrift in ihrer schlichten und zugleich reichen Ausformulierungsweise bekundet und zum Er-und Mit-Leben schenkt. Mit dieser Erkenntnis des tatsächlichen Aussage-Inhaltes von 1,14 ist zugleich auch schon festgestellt, daß dann, wenn das dort Bekundete als „geschichtliches Ereignis“ (241) zu verstehen ist, innerhalb einer schon von Gott und Geschöpf her geschehenden Geschichte (meist Heilsgeschichte genannt, wenngleich sie entschieden mehr ist) geschehen, tatsächlich von einem realen Da-Sein und Wirken/Handeln Gottes selbst gesprochen wird, weil davon in Wahrheit zu sprechen ist. Gemäß 1,14 gilt das, wenn es real so gemeint ist, auch für 1,9f und 1,14 zusammengeschaut: „Er, der in der Welt war/ist, der wurde Fleisch“. Von daher gesehen ist folglich prinzipiell und vor aller theologischen Erfassung anzuerkennen, daß Gott persönlich und eben auch der Logos persönlich (da er Gott ist) in dieser Geschichte da-ist (an-wesend und sie mit-erlebend!) und somit geschichtlich erfahrbar wirkt/handelt. Wenn demgegenüber doch behauptet wird, daß Gott der Welt gegenüber (d. i. in seiner Welt lebend), nämlich transzendent ist, dann ist das ein offener, prinzipieller Widerspruch gegen eigene Auffassungen sowohl von Gott wie von Welt. Daher greifen auch sog. historische Untersuchungen (im heutig-allgemeinen Verständnis) im Falle 1,14 (wie in vielen anderen; vgl. Auferweckung Jesu Christi!) prinzipiell zu kurz, mit allen Folgen für eine Theologie, die sich dieser prinzipiellen Beschränkung (vielleicht unbewußt und unbemerkt) unterzieht. Damit haben wir im Grunde auch schon 1,14b und 14c für unsere Frage hinreichend erfaßt und verstanden. Tatsächlich findet sich dort ja das ausgesagt, was wir für 1,14 erkannt und vorgetragen und womit wir es begründet haben: „Er wohnte unter uns (!); und wir (!) haben seine Herrlichkeit geschaut (!) als des Einzig-gezeugten vom Vater, voll Gnade und Wahrheit“. Mit diesen Sätzen ist hinreichend eindeutig das Woher des Logos, der Fleisch wurde, angegeben, wie gerade auch das Woher der 260

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uns geschenkten Möglichkeit, das alles gültig zu erkennen, um es zu bekennen und zu leben.

2. „Präexistenz“, „Menschwerdung“, Inkarnation“ – sachlich gerechtfertigte Begriffe für das Verständnis von 1,1–14? a) „Präexistenz“

In seiner „Einführung in den Prolog“ (Joh 1,1–18) verwendet Schnackenburg den Begriff „Präexistenz“ auffallend häufig, ohne ihn näher zu bestimmen. In der Frage nach Absicht und Ziel dieses „Prologes“ zum JohEv heißt es sogleich so: „Außer den Versen 1,6–8 (und 15) besteht keine unmittelbare Verbindung (von 1,1–5: R. S. aus dem Kontext) zum Folgenden (etwa über die Zeit der Jugend und Zurückgezogenheit); die Präexistenz und Inkarnation des Logos wird (wenigstens in dieser oder einer ähnlichen Form) im Ev kaum reflektiert oder rekapituliert (außer 1,30; 8,58; 17,5); die ‚Schlußbemerkung‘ 20,30f nimmt darauf keinen Bezug und scheint das Ev auf die Zeit des Wirkens Jesu in der Welt (die Zeit der ‚Zeichen‘) zu beschränken“ (198). Zu einer etwas anderen Meinung über den „Prolog“ wird dieses gesagt: „Wenn Lukas seinem Ev, verglichen mit dem Mk-Ev, eine ‚Kindheitsgeschichte‘ vorausgehen ließ und Matthäus unter anderen Gesichtspunkten sein Ev mit einer Genealogie und weiteren, die davidische Herkunft Jesu stützenden Erzählungen begann, kann man verstehen, daß Joh aufgrund seines Christusbildes die ‚Geschichte‘ Jesu bis in seine Präexistenz zurückverfolgen, den ‚Anfangsbericht‘ in den ‚Uranfang‘ verlegen und davon preisend-bekennend künden wollte. Dann ist der Prolog nicht nachträglich, nicht wie zufällig zum Ev hinzugewachsen, sondern theologisch überlegt, aus christologischen Gründen vorausgeschickt …“ (198). Das alles wird noch weiter bedacht und besprochen.5 Entscheidend ist, daß noch vor der Auslegung des Joh-Textes selbst 5

Schnackenburg fügt noch eine andere Möglichkeit des Verständnisses des Prologs an, die allerdings irgendwie dasselbe, doch nochmals anders sagt: „In der Tradition der Evangelienschreibung stehend, wollte der Verf. gewiß einen Bericht geben, der das Wirken Jesu auf Erden beschreibt, wie er es im Glauben sah (20.30f); aber er wollte auch entsprechend seinem Christusglauben den üblichen Rahmen sprengen und das Geheimnis der Herkunft Jesu (das im Ev oft genug aufleuchtet) seinen Lesern gleich am Anfang enthüllen. Das lag in seiner Intention, aber diese Aufgabe zu lösen, war nicht einfach. Darum benutzte er – das muß hier gleich hinzugenommen werden (s. u. 2) – ein urchristliches Lied, das Christus in seiner Präexistenz und Inkarnation besang, kommentierte es mit einigen Zusätzen und verband es durch Klammern mit dem EvBericht“ (199). Die Fragwürdigkeiten dieses Gedankens übergehen wir hier; es wird aber sichtbar, was „Präexistenz“ eigentlich bedeuten soll und auf wen es angewendet wird. In diesem Fall nämlich auf Jesus („das Wirken Jesu auf Erden“), dann aber auf den Christusglauben, der „Geheimnis der Herkunft Jesu“ genannt wird, und „das Lied, das Christus in seiner Präexistenz und Inkarnation besang“.

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die Kategorie „Präexistenz“ gleichsam als Oberbegriff für das eingesetzt wird, was Joh in 1,1–5 zum Logos ausführt. Es wird von der „Präexistenz des Logos“ gesprochen (199 u. ö.); es wird auf die „drei Seinsweisen Christi“ in den „urkirchlichen ‚Christushymnen‘“ hingewiesen: „Präexistenz – irdisches Leben – Erhöhung“, die „auch in dem Christushymnus des Prologs zu erkennen“ seien (200). Was so zunächst nur einführend festgestellt wurde, erscheint dann ausdrücklich im Kommentar zum Text. So findet sich zu 1,1 dieser erste Satz: „Drei fundamentale Sätze beschreiben (!) das präexistente, ewiggöttliche Sein des Logos“ (209). Dann im sogleich Folgenden: „Es ist das personale ‚Wort‘, das in geschichtlicher Zeit Stunde ‚Fleisch‘ wurde, Jesus Christus, dessen Existenz hier bis in die ‚Vorzeit‘ der Welt, in die göttliche Ewigkeit zurückgeführt wird. Die Wendung (d. i. „im Anfang“) will nicht den Existenzbeginn der geschaffenen Welt markieren, sondern das vorweltliche Sein des Logos ausdrücken. Was schon ‚im Anfang‘ existierte, hat einen Vorrang vor aller Schöpfung. … Er existierte schon damals, absolut, zeitlos-ewig. Es ist eine reale, personale Präexistenz (vgl. 1 Joh 1,1; 2,13a), ein Gedanke, der sich in dieser Klarheit nur im Christusbekenntnis der christlichen Gemeinde findet“ (209).6 Im weiteren Verlauf der Auslegung wird dann anstelle von „Präexistenz des Logos“ oft auch „Präexistenz Christi“ gesetzt bzw. vom „präexistenten Christus“ gesprochen (214 u. ö.), somit „Logos“ und „Christus“ einfach synonym verstanden, was jedoch so einfach nicht dem Joh-Text entspricht. Bezeichnend ist sodann diese Formulierungsweise, die sich in der Auslegung von 1,9 findet: „Der christliche Hymnus aber besteht darauf, daß der Logos, Christus in

6

Vom Logos wird hier überhaupt nicht gesprochen, wenngleich er allein in 1,1–5 genannt ist! –– Auch die folgende Stelle ist aufschlußreich: „Die Schau der do,xa des inkarnierten Logos bleibt auch für den späteren Glaubenden durch das ‚Zeugnis‘ derer, die das Ereignis seines geschichtlichen Auftretens miterlebt haben, möglich, und unter diesen Zeugnissen ist an dieser Stelle das des Täufers wertvoll, weil es die Präexistenz des Logos, die vorher hymnisch-bekenntnismäßig hingestellt wurde, bestätigt“ (199). Wir bemerken im oben zitierten Text das oftmalige Vorkommen von „existieren“ bzw. „Existenz“, „Existenzbeginn der geschaffenen Welt“ usw., die im Joh-Text gar nicht begegnen. Der Ausdruck „Prä-Existenz“ findet hier bezüglich der mit ihm intendierten Sach-Aussage eine bestimmte Klärung, zumal da es im Text weiter heißt: „er (d. i. im Kontext der Logos in seinem „vorweltlichen Sein“: R. S.) existierte schon damals (!), absolut, zeitlos-ewig“ (im oben zitierten Text 209). Es ist zu fragen: Wo findet der Autor diese Wendungen und Begriffe „existieren“, „schon damals“, „absolut“, „zeitlos-ewig“, die ja der Joh-Text gar nicht kennt und auch nicht suggeriert? Diese Weise zu formulieren wird jedoch weiter angewendet: „VV 1–3 sind keine für sich stehende kosmologische Betrachtung, sondern die erste Strophe eines christlichen Preisliedes auf den Erlöser. So erklärt sich die Bestimmtheit, mit der vom ‚Wort‘ personale Aussagen (!) gemacht werden: er ‚war‘ schlechthin (!), wie eine Person im Selbststand existiert (!), er ‚war bei Gott‘, wie (!) Personen beieinander sind (!), ‚er war Gott‘, wie (!) man das Wesen (!) von Personen beschreibt (!). Mit dem Person-Charakter des Logos ist eine deutliche Trennlinie gegenüber der jüdisch-hellenistischen Weisheitsspekulation gegeben. … Diese ‚Vorgeschichte‘ (!) enthüllt im Ursprung das Wesen (!) und im Wesen die Vollmacht des irdischen (!) Jesus“ (209f). Diese frei erfundene Denk- und Redeweise geht dort noch weiter: 210–212; wir haben durch Zeichen deutlich gemacht, was sehr kritisch anzusehen ist.

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seiner vorirdischen Existenz, diese Fähigkeit und Kraft besaß und in seiner Heilssendung aufs neue bestätigte, weil sie ihm wesentlich eignet (fwti,zei) und weil er das ‚wirkliche‘ Licht ist“ (229). In diesem Satz ist die wie selbstverständlich formulierte Identifizierung von „Logos“ und „Christus in seiner vorirdischen Existenz“ äußerst bemerkenswert. Der „Logos“ erscheint hier mit „vorirdischer“ Christus näher definiert bzw. die „Präexistenz des Logos“ mit „Christus in seiner vorirdischen Existenz“; das ist schlicht als Unmöglichkeit anzusprechen. Auch folgender Satz in der Auslegung von 1,18 ist äußerst bezeichnend, in dem nämlich der Logos mit „Jesus“ auf eigenartige Weise in eins gesetzt wird: „Das einzigartige Sohnesverhältnis Jesu zu Gott dem Vater entfaltet Joh in den Offenbarungsreden seines Ev; für ihn ist der irdisch Sprechende identisch mit dem Logos, von dem der Hymnus sang, so daß sich die Aussagen über die Präexistenz, Gottesnähe und Göttlichkeit des Logos (1,1) in der Selbstbezeugung Jesu fortsetzen (!). Der Inkarnierte hält das unmittelbare Gotteswissen seiner Präexistenz (!) fest, der vom Himmel Herabgestiegene (!) bleibt sich seiner himmlischen Erfahrung (!) bewußt (vgl. 3,32)“ (255).7 Es ist eine Ungeheuerlichkeit, den Text 1,1 („Im Anfang war der Logos, und der Logos war bei Gott, und Gott war der Logos“!) mit der Formel „Aussagen von der Präexistenz, Gottesnähe und Göttlichkeit des Logos“ wiederzugeben. In Wirklichkeit ist das eine Bagatellisierung des unerhört reichen Aussage-Inhaltes des Prolog-Textes. Was dieser schlicht und voll verstehbar in ganz normaler Sprache aussagt, wird mittels erfundener, nichts Konkretes mehr enthaltender Abstrakta angegeben, die nur dieses eine vollbringen: Den Joh-Text in nichtssagendes Dunkel verbannen.8 7

8

Schockierend ist auch dieser Satz Schnackenburgs zu 1,1b: „Das ‚bei Gott‘ ist nach räumlicher Vorstellungsweise gesagt, von der Distanz der Welt zu Gott her gesehen: das ‚in Gott (Vater)‘ drückt vom Standpunkt des auf Erden befindlichen Sohnes seine unvorstellbar tiefe und enge Gemeinschaft mit dem Vater aus, die doch ihren Grund in jenem vorweltlichen Sein ‚bei Gott‘ hat. Im Übergang zum Ev-Bericht findet der Evangelist die beides zusammenfassende Formulierung ‚der an der Brust des Vaters ruht‘ (1,18)“ (211). Zum Begriff „Präexistenz“ bringt Schnackenburg einen besonderen Exkurs, dem er bezeichnenderweise diese Überschrift gibt: „Der Präexistenzgedanke“ (290–302). Es geht also nicht eigentlich um eine Wirklichkeit bzw. ein Ereignis oder das „Was“ (Wesen) einer „Person“, sondern um einen Gedanken, eine Vorstellung bzw. Auffassung. Der erste einleitende Satz ist sehr aufschlußreich: „Es dürfte kaum zweifelhaft sein, daß Johannes der Täufer mit seinem Zeugnis für die Präexistenz Jesu (damit ist 1,30 angesprochen: R. S.) das christliche Bekenntnis ausdrücken soll. … interessiert die religionsgeschichtliche Frage, aus welchen Voraussetzungen der Gedanke an die reale Präexistenz eines Menschen vor seiner Geburt, ja vor der Weltschöpfung (vgl. zu 1,1) auftauchen und sich festigen konnte. Auch die Präexistenz ist sicher kein neuer, vom Himmel gefallener Gedanke; aber der nähere Anknüpfungspunkt des christlichen Bekenntnisses ist nicht nebensächlich. … Sind die jüdischen Voraussetzungen des Präexistenzgedankens ausreichend, um den christlichen Glauben an den präexistenten Erlöser zu erklären, gewiß nicht im Sinne einer bloßen Anwendung jüdischer Theologumena, sondern einer eminenten Übersteigerung …“ (290; es ist äußerst bezeichnend, daß nicht von „biblischen“, sondern von „jüdischen Voraussetzungen“ die Rede ist!). So versteht sich der erste Punkt: „Jüdische Präexistenzgedanken“ (291–296). Was dort verhandelt wird, zeigen die folgenden Zitate: Es beginnt mit: „Nach der jüdischen Theologie existieren für sie bedeutsame

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Insgesamt ist dieses festzuhalten: Schnackenburg verwendet in seinem Joh-Kommentar den Ausdruck „Präexistenz“ in der in der Theologie üblich gewordenen und wie selbstverständlichen Bedeutung, zumal auf Joh 1,1–18. Der Begriff wird nirgends genauer erklärt noch der Sinn seines Einsatzes aufgewiesen. Er ist offensichtlich ein von außen an Joh 1 herangetragener Begriff. Meistens ist er im wörtlichen Sinn als „Prä-Existenz“ verstanden, wobei „Existenz“ (und entsprechend „existieren“) das Da-Sein (dem im philosophischen Sprachgebrauch an sich das So- bzw. Dieses-Sein als Korrelat zugeordnet ist) meint. Das „Prä“ betont für „Existenz“ ein „vor“, „zuvor“ im Blick auf das andere, das meist mitgenannt wird (wenngleich auch oft nur das entsprechende Adjektiv „prä-existent“ gesetzt erscheint, das aber allein für sich gar nichts Konkretes ansagt).9 Der vielfältige Einsatz von „Präexistenz“ (und „präexistent“), den wir aufgewiesen haben, macht deutlich, daß dieses gerade der springende Punkt ist: Das „vor-weltlich“ bzw. „vor-irdisch“ ist das Wesentliche. Dies ist vor allem im zeitlichen Sinn verstanden („vor der Existenz des Kosmos“; „das uranfänglich-ewige Sein des Logos“; „der Logos ist wirklich schon vor der Schöpfung da“; „vorweltliches Sein des Logos“ u.a.: 210f). Doch alle diese Formulierungen mit den von ihnen ausgesagten Sinnbedeutungen gehen, wie die Text-Beispiele erweisen, fehl. Aufs Ganze gese-

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Dinge (!) schon vor der Erschaffung der Welt, und sie bringt dafür jeweils Schriftbegründungen bei. Die Aussagen betreffen meist eine Präexistenz in den Gedanken und Plänen Gottes …“ (291). Daher wird zuerst von der „jüdischen Lehre von der Präexistenz bestimmter theologischer Größen“ (?!) gesprochen (291–294), dann von der „apokalyptischen Vorstellung vom präexistenten ‚Menschensohn‘“ (294–296), der als „präexistentes Himmelswesen“ bezeichnet wird (294). Es folgt dann als zweiter Unterpunkt „Der gnostische Präexistenzgedanke“ (297–300). Wir können hier nicht auf eine nähere Diskussion eingehen; es zeigt sich aber, was alles mit dem „Präexistenzgedanken“ bezeichnet wird, und wir können fragen, was das alles faktisch mit Joh 1 zu tun hat. Tatsächlich bringt Schnackenburg eine Zusammenfassung „Der Präexistenzgedanke im Joh-Ev“ (300–302). Die wichtigsten und uns angehenden Sätze seien zitiert: „Die Aussagen über die Präexistenz des joh. Christus (!), zu denen außer den Stellen im Prolog und dem Zeugnis des Täufers (1,30 vgl. 15) noch seine Selbstaussagen in 6,32; 8,58 und im Hohepriesterlichen Gebet (17,5.24) gehören, aber indirekt noch viele weiteren Stellen hinzukommen, in denen er seine Präexistenz voraussetzt (…), zeigen im Vergleich mit den jüdischen und gnostischen Texten eine unverkennbare Eigenart, obwohl man auch gewisse Berührungen feststellen kann. Für den jüdischen Bereich wurde auf die Ähnlichkeit des joh. präexistenten Logos mit der ‚Weisheit‘ schon genügend hingewiesen, aber auch die reale und personale Präexistenz des Logos, die keine Entsprechung findet, hervorgehoben“ (300). Dann: „Achten wir auf die Präexistenz-Aussagen selbst, so haben sie eher jüdischen als gnostischen Charakter. … Die Herkunft der joh. Präexistenz-Aussagen kann nun aber auch positiv aufgezeigt werden, nämlich aus der schon vor Joh liegenden urchristlichen Christologie. Paulus gibt wenigstens ein Beispiel dafür, wie ein Jude durch Spekulation über Schrifttexte zu Präexistenz-Aussagen gelangen konnte: in der Deutung des in der Wüste mit Israel wandernden Felsen auf Christus (1 Kor 10,4) …“ (301f). Dazu: „… nach der erkennbaren Entwicklung der Christologie kann und muß man fragen, ob die an Christus glaubende Gemeinde nicht auf andere Weise zu ihren Präexistenz-Aussagen gelangt ist … Joh jedenfalls dürfte primär an die urkirchliche Christologie angeknüpft und diese weitergeführt haben“ (302). Diese „urchristliche Christologie“ wird allerdings nie aufgewiesen! Text-Beispiele dafür finden sich im obigen Haupttext sowie in dort angegebenen Anmerkungen.

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hen müßte man nämlich, wenn der auf diese Weise verwendete (aber nie erklärte) Begriff einigermaßen sinnvoll und gültig wäre, zuerst und vor allem die „Präexistenz“ Gott zusprechen. Denn er (wenn man es so formulieren möchte) existiert allein absolut vor allem und jedem, in allen möglichen Sinnbedeutungen. Gott (mit dem JohEv gesprochen: der Vater) ist in Gottselbst der, vor allem und von dem alle und alles her „existiert“, um so mehr und absolut vor allem, das von ihm her überhaupt so etwas wie „Sein“ und „Da-Sein“ hat, das dieses Wort verdient. Weil das gerade nie begegnet, daß von Gottes absoluter „Prä-Existenz“ gesprochen wird, deswegen sind alle anderen Verwendungen von „Präexistenz“ in theologischen Kontexten nach-rangig bzw. partizipieren am Sein Gottes aufgrund seines Sich-Mitteilens.10 b) „Menschwerdung“, „Inkarnation“

Daß im Kommentar zu Joh 1,1–18 diese allgemein üblichen Ausdrücke „Menschwerdung“ und „Inkarnation“ wie selbstverständlich verwendet werden, fordert, so dürfte es allgemeine Überzeugung sein, keine besondere Aufmerksamkeit. Auch daß diese Wendungen wahrscheinlich von 1,14 her ursprünglich gebildet worden sind, wird als indiskutabel gelten. Doch bei näherem Zusehen zeigt sich eine Problematik, die schließlich Christologie und Theologie überhaupt prinzipiell betrifft. Wenn nämlich die neutestamentliche Grundlage dieser Begriffe genauer hinterfragt wird, so zeigt sich in aufregender Weise, in welchem Ausmaß diese irgendwann erstmals eingesetzten und dann allgemein übernommenen Benennungen bzw. Begriffe ganze Problemfelder betreffen, die vom Text des NT selbst her betrachtet gar nicht existieren (müß10 Wir weisen hier auch ausdrücklich auf den Artikel „Präexistenz Christi“ mit seinen Unterab-

schnitten hin: LkThK 8 (1999), 487–491, sowie auf den Artikel „Präexistenzvorstellungen“ mit den bezeichnenden Unterabschnitten „I. Religionsgeschichtlich; II. Philosophie- und theologiegeschichtlich; III. Neureligiös“: ebd. 491–493. Im erstgenannten Artikel bringt H. Merklein im Abschnitt „I. Biblisch-theologisch“ diese Aussagen zum Begriff: „Der Begriff ‚Präexistenz‘ wird im chr. Kontext in der Regel auf Christus bezogen. Er faßt dem Wortsinn nach dessen Existenz vor seinem ird. Auftreten (/Inkarnation) ins Auge. Religions- u. traditionsgeschichtlich, aber auch sachlich geht es primär um die christologisch definierte Vermittlung eines protolog. bzw. eschatolog. Gegenübers, v. dem aus die gegebene Welt (transzendentalphilosophisch od. symbolischkonstruktivistisch) mit einem letzten Sinn versehen werden kann“. Dann werden „religions- und traditionsgesch. Vorgaben“ und der „neutestamentliche Befund“ vorgelegt. Wir können hier nicht näher darauf eingehen, bemerken aber die Eigenart dieser von einem Exegeten stammenden Aussagen. Im „Systematisch- theologischen“ Abschnitt (G. L. Müller) fällt der erste Satz besonders auf: „Mit dem Begriff Präexistenz ist die Grundlagenproblematik der system. Christologie benannt. Das zentrale Bekenntnis z. /Selbstmitteilung Gottes erweist sich nur unter der Voraussetzung als logisch konsistent, wenn das Wort, das Fleisch geworden ist (Joh 1,14), v. Selbstsein Gottes getragen wird (in ihm subsistiert) u. so in der Personalrelation des Sohns z. Vater ‚der wahre ‚Gott‘ ist (1 Joh 5,20)“. Auch auf das dort weiter Vorgetragene können wir hier nicht eingehen. Bezeichnend ist, daß beide Autoren von einem ausgesprochen theologischen Begriff sprechen, den sie sogar als unaufgebbar ansehen. Wir werden auf diese Problematik später noch einmal zu sprechen kommen müssen. S. den folgenden Abschnitt G.II.

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ten). Genau hierher gehören auch „Menschwerdung“ und „Inkarnation“ (und ähnliche), vor allem im Blick darauf, wofür sie schon in der exegetischen Auslegung des JohEv eingesetzt erscheinen, obwohl sie im Text selbst nicht begegnen noch von ihm suggeriert werden.11 Wir nehmen jetzt zur klareren Einsichtnahme dieses Problemfeldes die Kommentar-Aussagen Schnackenburgs zum Anlaß, diesem Fragekomplex auf den Grund zu gehen.12 Zu 1,14 beginnt der Autor sogleich so: „Der Logoshymnus erZu „Menschwerdung“ und „Inkarnation“ als (leider) üblich gewordenen Wendungen bzw. Begriffen sei dies vorweg gesagt. „Menschwerdung“ ist eine Wortbildung, die nur im Deutschen vorkommt, in anderen Sprachen gar nicht begegnet noch überhaupt möglich ist. Die Wörterbücher weisen stets auf „Inkarnation“ im Gebrauch der anderen Sprache hin. Im LThK findet sich unter „Menschwerdung“ nur eine einzige Zeile, nämlich der Verweis auf „Hominisation“ und „Inkarnation“ (LThK 7, 1998, 137)! „Menschwerdung“, wenngleich oft gebraucht, ist neben „Fleischwerdung“ offenbar von Joh 1,14 her gebildet worden. Es bringt jedoch die dortige Aussage wesentlich verkürzt ins Wort. In seinem Kommentar bringt Schnackenburg die Frage vor: „Warum spricht der Logoshymnus vom ‚Fleisch‘-Werden und nicht einfach vom ‚Mensch‘-Werden?“ (243). Es ist schon prekär, vom Verb „werden“ das Substantiv „Werdung“ abzuleiten, nicht nur, weil es sprachlich unschön klingt (Bildungen mit der Endung -ung sind sprachlich sehr oft mißlich), sondern aus sachlichen Gründen. Mit „werden“ wird ja meist, ob im Sinne einer Futur- oder einer Passiv-Aussage in gleicher Weise, etwas eher Punktuelles, ein Faktum o. ä. angegeben, während „Werdung“ etwas suggeriert, das mit einem Allgemeinbegriff angegeben wird bzw. werden kann, das gleichsam von „mehrerem“ ausgesagt werden kann oder irgendwie etwas Dauerndes angibt. Die Aussage 1,14 ist ohne Zweifel mit dem vielfältig verwendbaren „werden“ gebildet, bekundet aber ein absolut Einmaliges der Lebensgeschichte Gottes, für das jeder Allgemeinbegriff unangebracht ist und die Bildung eines Abstraktum auf jeden Fall unmöglich. Dasselbe ist übrigens auch von „Fleischwerdung“ zu sagen, das ja gleichfalls oft verwendet wird. Man sollte daher das Wort „Menschwerdung“ prinzipiell aus der theologischen Sprache entfernen. – Zu „Inkarnation“ ist dieses zu bemerken: Die biblischen Sprachen kennen eine derartige oder ähnliche Wortbildung überhaupt nicht. Im Griechischen ist ein entsprechendes Wort unbekannt. „Inkarnation“ ist in späterer Zeit im Lateinischen erfunden worden, begegnet frühestens ab dem 3. Jahrhundert. Dasselbe gilt für das Verb „incarnare“ bzw. „incarnari“ mit „incarnatus“. Im Nizänischen Glaubensbekenntnis findet es sich griechisch so: to.n ))) dia. th.n h`mete,ran swthri,an katelqo,nta kai. sarkwqe,nta( evnanqrwph,santa( paqo,nta ))), was lateinisch schon modifizierend so wiedergegeben wird: qui propter nostram salutem descendit, incarnatus est et homo factus est et passus est; die deutsche Version sagt beides wieder anders: der um unseres Heiles willen herabgestiegen und Fleisch und Mensch geworden ist, gelitten hat … (DH 125). Die lateinische Formel allein hat „incarnatus“, was im Deutschen (bewußt?) doch mit dem dem Griechischen näheren „Fleisch (und Mensch) geworden“ übersetzt ist. Tatsächlich gibt ja „incarnatus“ sarkwqe,nta um den Preis wieder, daß das Ausgesagte doch ziemlich anders verstanden wird, vor allem wenn es allein für sich eingesetzt wird. Wir werden das oben in der Besprechung der Texte aufmerksam beachten müssen. 12 Der wichtigste Text sei hier zitiert: „Der Logoshymnus erreicht nun seinen Höhepunkt … In unüberhörbarer Paradoxie wird gesagt, daß der an Gottes Seite weilende, mit voller göttlicher Würde bekleidete, ganz vom göttlichen Leben erfüllte Logos in die Sphäre des Irdisch-Menschlichen, des Stofflich-Vergänglichen eintrat, indem er Fleisch (Hervorhebung Schnackenburg) wurde. Das ist ein neues (kai, …), einmaliges und einzigartiges Geschehen, ein wirkliches Ereignis (evge,neto). Der Logos war schon in einer geistigen Weise in der Welt anwesend und wirksam …; nun aber geschieht das Unfaßbare: Er kommt sogar ins Fleisch, wird Mensch und schlägt sein Zelt unter den Menschen auf. Im jetzigen Aufbau des Prologes … dürfte dieses geschichtlich-einmalige und besondere Kommen des Logos im Fleisch schon ab V 9 vorausgesetzt sein; jetzt wird es in seiner vol11

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reicht nun seinen Höhepunkt (wieso „Höhepunkt“? R. S.) … In unüberhörbarer Paradoxie wird gesagt, daß der an Gottes Seite weilende, mit voller göttlicher Würde bekleidete, ganz vom göttlichen Leben erfüllte (damit soll 1,1 wiedergegeben sein!) Logos in die Sphäre des Irdisch-Menschlichen, des Stofflich-Vergänglichen eintrat, indem er Fleisch wurde (Hervorhebung Schnackenburg)“ (241). Der Joh-Text sagt „nur“ schlicht „der Logos wurde Fleisch“. Von einem „Eintreten in die Sphäre (welcher Art auch immer)“ ist dort keinerlei Rede, auch nicht andeutungsweise, am wenigsten in eine solche Sphäre, wie sie Schnackenburg beschreibt (übrigens auch sehr fragwürdige Ausdrücke verwendend). Aus welcher „Sphäre“ käme denn dieser „Eintretende“; verläßt er jene um in die „neue“ zu gelangen? Alles Fragen, die hier deplaziert, ja absolut unnötig sind.13 Bezeichnend ist die Formulierung des Aussage-Inhallen Realität herausgestellt. … Das Ereignishafte des wunderbaren Vorgangs der Menschwerdung des göttlichen Logos kommt nach den vielen h=n (VV 1 4 9 10) durch das evge,neto zum Ausdruck. … Der für die Christologie fundamentale Satz kann nicht heißen: ‚Der Logos wurde zu Fleisch‘, … Er kann aber auch nicht den Sinn haben, daß der Logos nur in fleischlicher Verkleidung erschien … Mit evge,neto wird eine Veränderung in der Seinsweise des Logos angesagt. Vorher war er in Herrlichkeit bei seinem Vater (vgl. 17,5.24), jetzt übernimmt er die Niedrigkeit der irdisch-menschlichen Existenz; vorher war er ‚bei Gott‘ (1,1b), jetzt schlägt er sein Zelt bei den Menschen auf, und zwar in menschlicher Gestalt, in der vollen Realität der sa,rx, um nach der Rückkehr zu seinem Vater die Herrlichkeit der himmlischen Seinsweise wiederzuerlangen (17,5). … Die Inkarnation, das ‚Kommen im Fleische‘, geschieht, um den irdischen Menschen die himmlische Offenbarung und das göttliche Leben zu bringen (vgl. 3,31–36). Das ‚Fleisch-Werden‘ des Logos bezeichnet also einen Wendepunkt in der Heilsgeschichte, eröffnet eine letzte (‚eschatologische‘) Heilsmöglichkeit für die Menschen; der Weg des Erlösers hinab ins Fleisch und durch das Fleisch empor zur himmlischen Herrlichkeit wird auch zu einem Weg für alle, die sich ihm im Glauben anschließen (vgl. 14,2f 6)“ (241–242). Hier ist nicht der Ort, auf einzelne exegetische und Auslegungsfragen eigens einzugehen, obwohl zu zahlreichen Feststellungen dringend kritisch Stellung zu beziehen ist. Wir machen beispielhaft nur auf das im zitierten ersten Satz zu Erkennende aufmerksam: Die Aussage 1,14 wird dort auf den Kopf gestellt durch die sicher bewußte Formulierung: „der Logos trat in die Sphäre des Irdisch- Menschlichen ein, indem dem er Fleisch wurde“. Die Aussage „er wurde Fleisch“ wird eingesetzt für das, wodurch das „Eigentliche“ vollzogen wurde, das im „Eintreten in diese andere Sphäre (!)“ besteht bzw. bestand. Zudem bleibt die Charakterisierung dieser „Sphäre“ im JohEv absolut unbegründet, trotz der vorgelegten „Beweis“-Stellen. Wir kommen auf diese noch näher zu sprechen. 13 Dieses „Eintreten in …“ begegnet im Kommentar zu 1,1–18 öfter. So heißt es im Blick auf 1,1– 14 einmal: „Nach dem jetzigen Aufbau des Prologs sind eher drei Abschnitte zu unterscheiden: VV 1–5 das präexistente Sein des Logos; VV 6–13 das Kommen des Logos zur Menschenwelt, und zwar in einer andeutenden Weise schon das des inkarnierten Logos, sowie seine unbegreifliche Ablehnung; VV 14,16 bzw. 18 das Ereignis der Inkarnation und seine Heilsbedeutung für die Glaubenden. … zu der Zeit des geschichtlichen Kommens Christi, zur Inkarnation des Logos …“ (203). Ähnliches in dieser Stelle: „… sondern aller Nachdruck auf das Eintreten des Logos in den irdisch-stofflichen Bereich fällt“ (207). Dann wird zu 1,14 im betreffenden Kontext u. a. dies gesagt: „… vorher war er ‚bei Gott‘ (1,1b), jetzt schlägt er sein Zelt bei den Menschen auf, und zwar in menschlicher Gestalt … Die Inkarnation, das ‚Kommen im Fleische‘, geschieht, um den irdischen Menschen die himmlische Offenbarung und das göttliche Leben zu bringen (vgl. 3,31–36). Das ‚Fleisch- Werden‘ des Logos bezeichnet also einen Wendepunkt in der Heilsgeschichte … der

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tes von 14a, daß „der Logos in diese (andere) Sphäre eintrat, indem er Fleisch wurde“. „Er wurde Fleisch“ wird damit näher (und deutlicher?) erklärt als „Eintreten in …“. Das „evge,neto – er wurde“ wird als „einmaliges und einzigartiges Geschehen, ein wirkliches Ereignis (was soll hier mit „wirkliches Ereignis“ eigentlich prononciert angesagt sein?)“ bezeichnet. Dieses eigentümliche Verstehen von „evge,neto“ in 14a findet in den dort folgenden Sätzen seine weitere Erklärung, die zugleich auch noch anderes betont herausstellt: „Das Ereignishafte des wunderbaren Vorgangs (!) der Menschwerdung (!) des göttlichen Logos kommt nach den vielen h=n (VV 1 4 9 10) durch das evge,neto zum Ausdruck. … Mit evge,neto wird eine Veränderung in der Seinsweise des Logos angesagt: Vorher (!) war er in Herrlichkeit bei seinem Vater (vgl. 17,5 24), jetzt (!) übernimmt er die Niedrigkeit (?) der irdisch-menschlichen Existenz (!); vorher (!) war er ‚bei Gott‘ (1,1b), jetzt (!) schlägt er sein Zelt bei den Menschen auf, und zwar in menschlicher Gestalt (!), in der vollen Realität der sa,rx (!), um nach (!) der Rückkehr zu seinem Vater die Herrlichkeit der himmlischen Seinsweise (!) wiederzuerlangen (17,5)… Die Inkarnation, das ‚Kommen im Fleisch‘, geschieht, um den irdischen Menschen (gibt es auch andere Menschen? R. S.) … das göttliche Leben zu bringen (vgl. 3,31–36). Das ‚Fleisch-Werden‘ des Logos bezeichnet also einen Wendepunkt in der Heilsgeschichte; … der Weg des Erlösers hinab (!) ins Fleisch und durch das Fleisch (was meint hier „durch“? R. S.) empor (!) zur himmlischen Herrlichkeit … heilsgeschichtliche ‚Ereignisfolgen‘ (Zitat Geiselmann) – ähnlich wie in Phil 2,5–11“ (242).14 Hier wird das „Ereignishafte“ des sa.rx evge,neto als „wunderbarer Vorgang (!) der Menschwerdung (!) des göttlichen Logos“ charakterisiert, was später dann mit „Inkarnation“ bezeichnet wird. Diese wird als „das Kommen im Fleisch“ erklärt. Das „geschieht“ (evge,neto) als das „Unfaßbare: Er kommt sogar (!) ins (!) Fleisch, wird Weg des Erlösers hinab ins Fleisch und durch das Fleisch empor zur himmlischen Herrlichkeit wird auch zum Weg für alle, die sich ihm im Glauben anschließen“ (242). 14 Vom Ereignis der Inkarnation ist sehr oft die Rede. So heißt es in der „Einführung in den Prolog“ am Ende: „Nur mit dem Aufweis der göttlichen Herkunft des Offenbarers konnte seine einzigartige Heilsbedeutung ins rechte Licht gerückt werden, wie sie dann in Wort und Wirken des irdischen Jesus zur Sprache … kommt. Damit aber ist der ‚Prolog‘ eher ein theologischer ‚Anfangsbericht‘, eine gläubige Kundmachung der ‚Vorgeschichte‘, die ihre Wende zur ‚Geschichte Jesu‘ im Ereignis der Inkarnation erreicht“ (200; dazu „Ablehnung seines Wirkens in der Menschheit vor der Inkarnation … heilbringendes Ereignis der Inkarnation“: 202; ähnlich auch 203; und nochmals: „… erscheint die Inkarnation als das unerhörte neue Gnadenereignis, wie es auch die paradoxale Formulierung zum Ausdruck bringt, daß der Logos sa,rx wurde“: 204). – Zur Frage der Zeit-Folgen im Sprechen von der Inkarnation sind folgende Beispiele zu berücksichtigen: In der „Einführung in den Prolog heißt es u. a.: „… die Ablehnung seines Wirkens in der Menschheit vor der Inkarnation beklagt … Ereignis der Inkarnation …“ (202). Dann: „Hat sich ein urchristliches Lied jemals mit der Zeit vor der Inkarnation beschäftigt, wie es hier vorausgesetzt wird?“ (203). Zu 1,1 heißt es einmal im betreffenden Kontext: „Wie alles im Logoslied ist auch diese Aussage auf die Tätigkeit des Logos in der Welt, auf seine Lebens- und Lichtfunktion für die Menschen (V 4) und seine Gnadenmitteilung nach der Inkarnation (VV 14 16) hingeordnet; …“ (211). Vgl. dazu auch noch die Sätze auf den Seiten 229; 230 und 232.

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Mensch und schlägt sein Zelt unter den Menschen auf … jetzt wird das Kommen des Logos im Fleisch (!) … in seiner vollen Realität (!) herausgestellt“ (242 und 241).15 Schließlich findet sich in dieser zitierten Stelle auch die Erklärung, was mit jener „Sphäre des Irdisch-Menschlichen, des Stofflich-Vergänglichen“ gemeint ist, in die der Logos in der Inkarnation „eintrat“: „Mit evge,neto wird eine Veränderung (!) in der Seinsweise (!) des Logos angesagt“; „jetzt übernimmt (!) er die Niedrigkeit der irdisch-menschlichen Existenz (wo ist davon überhaupt die Rede? R. S.), … schlägt sein Zelt bei den Menschen auf (1,14 sagt: „unter uns“!), und zwar in menschlicher Gestalt (?), in der vollen Realität (!) der sa,rx …“ (242). Wo Schnackenburg das alles in 1,14 liest, bleibt sein Rätsel. Das alles wird im folgenden nochmals mit anderen, doch bedeutsamen Worten ausgesagt. Das beginnt mit der bezeichnenden Frage an den Hymnus-Text: „Warum spricht der Logoshymnus vom ‚Fleisch‘-Werden und nicht einfach vom ‚Mensch‘-Werden?“ (243). Die Antwort ist sehr aufschlußreich: „Das absolut stehende sa,rx ist nicht schlechthin eine Umschreibung für ‚Mensch‘ (wie pa/sa sa,rx 17,2), sondern im joh. Denken Ausdruck für das Irdisch-Gebundene (6,63), gleichsam das Typische rein menschlicher Seinsweise im Unterschied zu allem Himmlisch-Göttlichen, Göttlich-Geistigem … im inkarnierten Logos senkt sich der Himmel auf die Erde herab‘ (woher nimmt der Autor dieses Wissen? R. S.). Dagegen ist das Moment des sündigen, zur Sünde neigenden oder der Sünde verhafteten Fleisches (1 Joh 2,16) hier nicht gegeben (woher diese Auskunft über Nicht-Gemeintes im 15

Die Wendung „Menschwerdung“ wird weniger oft gebraucht als „Inkarnation“; beide Ausdrücke sind offenbar synonym verstanden, wobei aber „Inkarnation“ doch irgendwie als Oberbegriff gilt. So heißt es einmal in der „Einführung in den Prolog: „… Bekenntnis zum inkarnierten Erlöser … Inkarnationsaussage … Die Bevorzugung der Theologie des ‚Wortes‘ vor der der ‚Weisheit‘ könnte auch mit dem Offenbarungsgedanken zusammenhängen; die Wahl von sa,rx für die Menschwerdung braucht zunächst im Hinblick auf 1 Tim 3,16a; vgl. Röm 1,3; Hebr 5,7; 10,20; 1 Petr 3,18 nicht zu überraschen (der Verweis auf die angegebenen Texte verwirrt! R. S.), trägt aber im Logos-Hymnus doch einen besonderen Akzent, da nicht die irdische und spätere ‚pneumatische‘ Seinsweise wie in jener alten sarx-pneuma-Christologie gegenübergestellt werden, sondern aller Nachdruck auf das Eintreten des Logos in den irdisch-stofflichen Bereich (!) fällt“ (207; s. dazu auch diese Formulierung: „… nicht eine mythische Gestalt, sondern eine göttliche Person, die dann in Jesus Christus Mensch wurde …“: 220). Weiteres wird dann zum „Vorgang der Menschwerdung des göttlichen Logos“ in der Besprechung von 1,14 ausgesagt; s. 242–244. Dort begegnet auch die Rede von der „christlichen Lehre vom menschgewordenen Gottessohn nach der Inkarnationsaussage von 1,14“, näherhin: „Es ist ein neues, ureigenes und besonderes Bekenntnis zu dem geschichtlich gekommenen, in einer einmaligen menschlichen Persönlichkeit (!) ‚faßbaren‘ (1 Joh 1,1), in der Realität des ‚Fleisches‘ erschienenen Heilbringer“ (244). Dazu sei auch ein Beispiel aufgeführt, wo vom „menschgewordenen Logos“ gesprochen wird: In der „Einführung in den Prolog“ heißt es u. a.: „Wenn der Hymnendichter auch von der Inkarnation her denkt, so gewinnt die präexistente Wirksamkeit (und Ablehnung) des Logos doch dafür einen hohen Aussagewert: Nach dem Scheitern aller Heilsversuche in der vorchristlichen Menschheit … erscheint die Inkarnation als das unerhörte neue Gnadenereignis, wie es auch die paradoxale Formulierung zum Ausdruck bringt, daß der Logos sa,rx wurde. … die Aufnahme oder Ablehnung des menschgewordenen Gottessohnes, Glauben und Unglauben gegenüber Jesus Christus alles Interesse beansprucht“ (204).

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Text? R. S.). Sa,rx sagt die volle Menschlichkeit (was ist das?) an …“ (243). Aus allen diesen Sätzen wird deutlich, wofür „Inkarnation“ eingesetzt wird und was es aussagen soll. Äußerst bezeichnend ist diese Formulierung: „das in der Inkarnation vom Logos angenommene ‚Fleisch‘ ist die Voraussetzung für den blutigen Kreuzestod (vgl. Joh 19,34: 1 Joh 5,6). Sa,rx sagt die volle Menschlichkeit an“ (243). Mit ihm wird das Ereignis angesprochen und erklärt, was der Logos „in ihr“ getan hat: er hat „ ‚Fleisch‘ angenommen“! Dabei wird „Fleisch“ als „volle Menschlichkeit“ deklariert, ohne jede weitere Erklärung. (Die absurden Verweise auf die genannten Joh-Texte übergehen wir hier; in ihnen ist von dem, was Schnackenburg mit ihnen belegen will, nicht einmal andeutungsweise die Rede.) Wir erkennen: „Menschwerdung“ und „Inkarnation“ werden als vorliegende indiskutable Begriffe sogar zur erklärenden Auslegung von 1,14 eingesetzt! Eine Rechtfertigung für diese Wortbildungen vermißt man gänzlich. Tatsächlich hat der Begriff „Inkarnation“ ein theologisch-systematisches Gewicht erhalten, das ihm von Joh 1,14 keineswegs zusteht. Wir können hier keine fachgerechte exegetisch-theologische Diskussion über diese Auslegungsweise des Textes im einzelnen durchführen.16 Wir können allerdings und müssen auf die vielen Widersprüchlichkeiten, Fragwürdigkeiten und Unzulänglichkeiten hinweisen, um der in 1,14 bekundeten Aussage mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Als signifikant für den Einsatz von dem bekanntlich nur lateinisch und relativ spät gebildeten Wort „Inkarnation“ (mit „inkarnieren“ u. ä.) sei dieses Bespiel zitiert, in dem zugleich die oft eingesetzte Wendung „Inkarnationsaussage“ begegnet: In der „Einführung in den Prolog“, also noch vor der eigentlichen Auslegung von 1,14, heißt es in Bezug auf die Frage einer Übernahme der atl. Spekulationen über die Weisheit und Tora u. a. so: „Bekenntnis zum inkarnierten christlichen Erlöser … läuft auf die Frage hinaus, ob die Verwendung des Logostitels (statt sofi,a) und die Inkarnationsaussage (als antignostische Interpretation) zu dieser Annahme berechtigen … Die Wahl von sa,rx für die Menschwerdung braucht zunächst im Hinblick auf 1 Tim 3,16a; vgl. Röm 1,3; Hebr 5,7; 10,20; 1 Petr 3,18 nicht zu überraschen, trägt aber im Logos-Hymnus doch einen besonderen Akzent, da nicht die irdische und spätere ‚pneumatische‘ Seinsweise wie in jener alten sarx-pneuma-Christologie gegenübergestellt werden, sondern der Nachdruck auf das Eintreten des Logos in den irdisch-stofflichen Bereich fällt …“ (207; wir bemerken die Problematik, die mit den gewählten Ausdrücken auftaucht, ohne eigentliche Berechtigung im Text 1,14 selbst zu haben).17 16 Es sei hier auf das oben in Anmerkung 11 Bemerkte hingewiesen. 17 Ein weiteres Beispiel für „Inkarnationsaussage“: Im Blick auf sog. gnostische Parallelen zu dem

in 1,14 Ausgesagten heißt es im entsprechenden Kontext: „Die Idee eines Gottwesens, das in menschlicher Gestalt auf Erden erscheint (eben: erscheint!), war damals zwar weit verbreitet und konnte verschiedene Formen annehmen; aber die christliche Lehre vom menschgewordenen Gottessohn läßt sich nach der Inkarnationsaussage von Joh 1,14 nicht als Spielart unter anderen, sondern nur als Protest gegen sämtliche Ausprägungen des hellenistisch-gnostischen Erlöserglaubens begreifen. Es ist ein neues, ureigenes und besonderes Bekenntnis zu dem geschichtlich gekomme-

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Gehen wir den sich aufdrängenden Fragen systematisch auf den Grund! „Inkarnation“ ist als viel später gewählter Terminus im Lateinischen (sonst ist er ja unbekannt und ungebräulich) vielleicht nicht gänzlich von außen an Joh 1 herangetragen, sondern wohl von 1,14 her gebildet worden. Nach seinem Wortlaut und parallel zu „Menschwerdung“ betrachtet wäre eigentlich „Fleischwerdung“ zu erwarten; „incarnatio“ bedeutet nämlich gemäß der lateinischen Weise der Wortbildung eigentlich „Einfleischen“ bzw. „Einfleischung“, was aber doch einen besonderen Akzent angibt, der dem „sa.rx evge,neto“ sicher nicht entspricht. Da wäre die Formulierung des lateinischen Textes des Nizänums schon entschieden besser, wenn sie in der dortigen Aufeinanderfolge der Einzel-Aussagen statt „incarnatus est“ schlicht „caro factus est“ sagen würde. Tatsächlich wird dort aber die Aussage 1,14a durch zwei, wenn nicht gar drei Formeln wiedergegeben: „qui descendit et incarnatus est et homo factus est“ (DH 125). Die Formel „fleischgeworden“ begegnet im Kommentar mehrmals, jeweils mit bezeichnenden Zusätzen. Formelhaft wird vom „präexistenten und fleischgewordenen Offenbarer-Erlöser“ zusammen mit „inkarnierter christlicher Erlöser“ gesprochen (209; dazu auch „das ‚Wort‘, das in geschichtlicher Stunde Fleisch wurde“: 209). Dann findet sich diese Formulierung: Nach Joh 1,30 gibt Johannes der Täufer „Zeugnis für den fleischgewordenen Logos und Welterlöser (1,29 36) … daß der Evangelist hier unter dem ‚Licht‘ den inkarnierten Logos (Hervorhebung Schnackenburg) meint, sofern es zu geschichtlicher Stunde in die Welt kam (vgl. V 9)…“ (226 und 227; dazu auch: „Es ist ein christologischer, auf die Person des göttlichen Offenbarers und Erretters konzentrierter Glaube …“: 228).18 In allen bisher genannten und ähnlichen Stellen ist es stets die Frage, was genau in ihnen unter „Fleisch“ zu verstehen ist. Aus diesem in 1,14 ohne Zweifel vom Evangelisten mit ganz bewußter Absicht eingesetzten sa,rx werden recht eigenartige Sinnbedeutungen heraus-, besser hineingelesen, und das meist ohne jede Angabe einer Berechtigung oder gar Notwendigkeit solchen Verständnisses. Schon in der „Einführung in den Prolog“, vor der Auslegung von nen, in einer einmaligen menschlichen Persönlichkeit ‚faßbaren‘ (1 Joh 1,1), in der Realität des ‚Fleisches‘ erschienenen Heilbringer … Die alles tragende Inkarnationsaussage darf auch beim nächsten Wort nicht vergessen werden, das bildhaft vom ‚Zelten‘ oder ‚Wohnen‘ des Logos unter uns spricht … Der Logos hat unter uns als wirklicher Mensch verweilt“ (244). 18 Weitere wichtige Stellen mit „fleischgeworden“: Zu 1,12 heißt es u. a.: „Ähnlich wie in der Gnosis der Gesandte aus der himmlischen Welt inmitten der irdischen Fremde die Seinigen findet, die seine ‚Offenbarung‘ hören und Gnosis lernen, trifft im Joh der fleischgewordene Gottessohn auf Menschen, die ihm zuhören …“ (237; über die Berechtigung dieses Vergleiches brauchen wir hier nicht zu urteilen, möchten ihn aber nicht gelten lassen, da es dafür ihn 1,12 keine Begründung gibt). –– Zu 1,14 sagt Schnackenburg im gegebenen Kontext: „Das Ereignishafte des wunderbaren Vorganges (!) der Menschwerdung (!) des göttlichen Logos kommt … durch das evge,neto zum Ausdruck. … Das ‚Fleisch- Werden‘ des Logos bezeichnet also einen Wendepunkt …“ (242; dazu die folgenden Erklärungen 243f). –– Hierher gehören auch diese Sätze, immer noch zu 1,14: „… die christliche Lehre vom menschgewordenen Gottessohn läßt sich nach der Inkarnationsaussage von Joh 1,14 … begreifen … Fleisch-Werden … Der Logos aber hat unter uns als wirklicher (!) Mensch verweilt“ (244).

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1,14 selbst, findet sich nach dem Nennen von „inkarnierter christlicher Erlöser“ und „Inkarnationsaussage“ dieser Satz: „Die Wahl von sa,rx für die Menschwerdung (!) braucht … nicht zu überraschen, trägt aber im Logos-Hymnus doch einen besonderen Akzent … aller Nachdruck fällt auf das Eintreten (!) des Logos in den irdischstofflichen Bereich (!)“ (207). In der Auslegung von 1,14 wird das wiederholt mit dem Satz: „Indem (!) er Fleisch wurde, trat der an Gottes Seite weilende … ganz vom göttlichen Leben erfüllte Logos in die Sphäre des Irdisch-Menschlichen, des StofflichVergänglichen ein (!)“ (241). Dazu etwas später: „Menschwerdung des göttlichen Logos … Mit evge,neto wird eine Veränderung (!) der Seinsweise (!) des Logos angesagt..; jetzt übernimmt (!) er die Niedrigkeit der irdisch-menschlichen Existenz (!)… und zwar in menschlicher Gestalt (!)“ (242). Dann findet sich diese quasi definitionsmäßige Angabe: „Das absolut stehende sa,rx ist nicht schlechthin eine Umschreibung für ‚Mensch‘ …, sondern im joh. Denken (!) Ausdruck für das Irdisch-Gebundene (3,6), Hinfällig-Vergängliche (6,63), gleichsam das Typische (!) rein menschlicher (!) Seinsweise …“ (243). Dazu wird sogleich auch gesagt, was mit sa,rx nicht gemeint ist: „Dagegen ist das Moment des sündigen, zur Sünde neigende oder der Sünde verhafteten Fleisches (1 Joh 2,16) nicht gegeben“ (243; mit ausdrücklichem Ausschluß des Sinnes von sa,rx bei Paulus!).19 In allen diesen Stellen fällt auf, daß der Satz 1,14 „der Logos wurde Fleisch“ als „Inkarnation“ bezeichnet wird, diese dazu aber als „das Kommen bzw. Eintreten“ in eine andere „Sphäre“ bzw. als Übernahme der anderen Existenz (!) bzw. Seinsweise erklärt wird. Das wird noch deutlicher durch die Angabe des Woher des Kommens des Logos angesagt. Die Sphäre, in die der Logos eintritt, wird dabei ganz eigenartig beschrieben, jedoch ohne jede begründende Angabe, woher der Autor dies weiß bzw. im vorliegenden Text 1,14 liest. Von der Seinsweise des Logos vor und nach der „Inkarnation“ ist nachdrücklich die Rede.20 Es bleibt insgesamt gesehen irgendwie un19 Der Text lautet: „Dagegen ist das Moment des sündigen, zur Sünde neigenden oder der Sünde

verhafteten Fleisches (1 Joh 2,16) hier nicht gegeben; Christus im Fleische ist für Joh nicht Repräsentant der adamitischen Menschheit wie für Paulus (vgl. Röm 8,3), sondern Heimführer der erdgebundenen Menschen (!) in die himmlische Welt des Lebens und der Herrlichkeit (vgl. 6,62f; 14,6; 17,24). Auch das ist fraglich, ob im Logoshymnus schon an das Sühnopfer, an das ‚Fleisch für das Leben der Welt‘ (6,51c) gedacht ist …“ (243; zur Begründung dieserart der Verwendung anderer Joh-Stellen wäre viel zu fragen, wozu hier kein Platz ist). 20 Ausführlich wird zu „Seinsweise“ und „Veränderung in der Seinsweise“ im oben Anmerkung 12 zitierten längeren Text der S. 241–242 gesprochen. Doch auch vor- und nachher begegnet dieser Terminus, ohne daß einmal genauer erklärt würde, was er wesentlich aussagen soll. In der „Einführung in den Prolog“ wird gesagt: „… sa,rx trägt im Logos-Hymnus doch einen besonderen Akzent, da nicht die irdische und spätere ‚pneumatische‘ Seinsweise wie in jener alten sarx-pneumaChristologie gegenübergestellt werden, sondern aller Nachdruck auf das Eintreten des Logos in den irdisch-stofflichen Bereich fällt, also ein ähnlicher Akzent wie in der antignostischen Bekenntnisformel 1 Joh 4,2 (vgl. 5,6b; 2 Joh 7)…“ (207). In der Auslegung von 1,1 wird vom „vorweltlichen Sein des Logos“ gesprochen (209; ähnlich 211: „vorweltliches Sein ‚bei Gott“). Zu 1,9 heißt es u. a.: „der Logos vor seiner Inkarnation … der Logos, Christus in seiner vorirdischen Existenz“ (229; zu

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geklärt, wie Schnackenburg die „Veränderung der Seinsweise des Logos“, die er durch das evge,neto 1,14 angesagt sieht, genau versteht. Zwar wird oft vom „vorweltlichen“ oder „vorirdischen Logos“ gesprochen (209 u. ö.), doch haben wir schon gesehen, daß gerade das h=n in 1,1.2.4.9.10 unbedingt als imperfectum durationis zu verstehen und mit „war/ist“ zu übersetzen ist und daher immer zu gelten hat. Das evge,neto in 1,14 ist deutlich und klar von diesem Logos ausgesagt, der alles das war/ist, was in 1,1–5.9–11 bekundet ist! Von irgendeiner „Veränderung“ dieser „Existenzweise“ (wenn man meint, diesen unklaren Begriff verwenden zu müssen) im Sinne eines Ein-andererWerdens anstelle von dem, was er war/ist, oder einem Verlassen einer vorweltlichen Seinssphäre oder Seinsweise (242) ist absolut keine Rede.21 Das, was im Joh-Text 1,14a ausgesagt ist, wird der Logos, und zwar der, der er war/ist und also „bleibt“ (was heißt „bleiben“ im konkreten Sein und Leben einer Person?), was zuvor gesagt worden ist – „zuvor“ jetzt aber nur im Sinne der schriftlichen Darstellung! Dieses evge,neto bezeichnet, wenn man es so sagen will, das Ereignis (des Werdens), das aber in der sichereignenden Lebensgeschichte Gottes „geschehen“ ist! Alles in allem: Wenigstens die Formulierungen des Kommentars, bes. 243f, sind sehr unglücklich, wenn nicht tatsächlich falsch, da sie nämlich das Lebensgeschehen Gottes, das im JohEv überhaupt und daher in Joh 1 bekundet ist, als von Menschen erfahren und geschaut (1,14c-16)!, auslegend nicht so wiedergegeben, wie es der Joh-Text selbst sagt. Wie sehr der unglückliche Begriff „Inkarnation“ vor- und beherrschend geworden ist, zeigt sich auch an dem aus ihm gebildeten und oft verwendeten Adjektiv „inkarnierter“. In manchen Fällen mag es ja angebracht erscheinen, so zu sprechen. Doch daß diese Wendung sogar wie ein Name für den Logos bzw. sogar für Jesus eingesetzt dieser Stelle sei auch auf die schon vorher begegnende Angabe hingewiesen: „… beobachtet, daß sonst alle urchristlichen ‚Christushymnen‘ die drei Seinsweisen Christi … enthalten: Präexistenz – irdisches Leben – Erhöhung …“ (200, was dort noch weiter entfaltet wird). Folgender Text zu 1,4 ist sehr aufschlußreich: Zur Frage, warum der Logoshymnus ‚Fleisch‘-Werden und nicht einfach ‚Mensch‘-Werden sagt, wird dies erklärt: „Das absolut stehende sa,rx ist nicht schlechthin eine Umschreibung für ‚Mensch‘ …, sondern im joh. Denken Ausdruck für das Irdisch-Gebundene (3,6), Hinfällig-Vergängliche (6,63), gleichsam das Typische rein menschlicher Seinsweise (!) im Unterschied zu allem Himmlisch-Göttlichen, Göttlich-Geistigen. Für den Evangelisten verbindet sich damit der kosmische Dualismus von ‚unten-oben‘ (vgl. 3,3; 8,23), ‚Erde-Himmel‘ (3,31); im inkarnierten Logos senkt sich der Himmel auf die Erde herab (!). … sa,rx sagt die volle Menschlichkeit an. … Als reine Bekenntnisformulierung oder liturgische Prädikation (vgl. Röm 1,3f; 1 Tim 3,16, doch in Gegenüberstellung der ‚sarkischen‘ und ‚pneumatischen‘ Seinsweise Christi) wird die joh. Ausdrucksweise nicht voll gerecht“ (243f; auf die Fragwürdigkeiten, gerade auch der beigebrachten Belegstellen, können wir hier nicht näher eingehen, obwohl Widerspruch anzumelden ist). 21 Schnackenburg meint die Aussage 1,14 in eins mit dem in den Joh-Kapiteln 3, 6, 14 und 17 Ausgesprochenen interpretieren zu können bzw. zu müssen und verwendet Zeit-Kategorien, die jedenfalls für 1,14 nicht gelten. Vom Ereignis-Charakter des evge,neto her spricht er vielfältig von „vorher“, „jetzt“, vom Hinab- und Hinaufsteigen“ des „Menschensohnes“, sowie vom „Weg des Erlösers hinab ins Fleisch und durch das Fleisch empor zur himmlischen Herrlichkeit“, wovon zwar in den genannten anderen Kapiteln irgendwie die Rede ist, für 1,14 aber eine unpassende Sprechweise.

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wird, ist unerträglich. Es ist eine für die Person wie für die Sache unangebrachte, ja ausgesprochen unwürdige Sprechweise. Die in der Anmerkung beigebrachten Beispiele mögen hier zum Aufweis genügen.22

22 Wir bringen zuerst die Textbeispiele mit „inkarnierter (Logos)“ in der Folge ihres Vorkommens

und fügen gegebenenfalls Bemerkungen an. Meist genügt die einfache Anführung. In der „Einführung in den Prolog“ findet sich „Die Schau der doxa des inkarnierten Logos …“ (199). Dann „Offenbarungstätigkeit des inkarnierten Logos“ (200). Weiters: „das präexistente Sein des Logos … des inkarnierten Logos“ (203; mit „Ereignis der Inkarnation“). –– „Bekenntnis zum inkarnierten christlichen Erlöser“ mit „Inkarnationsaussage“: 207. –– „Die einmalige Größe des inkarnierten Logos“: 217. –– „Das Wirken des inkarnierten Logos … die eschatologische Offenbarung des inkarnierten Logos“: 221. –– „Der Übergang zum geschichtlichen Bericht … unter ‚Licht‘ den inkarnierten lo,goj meint …“: 227 (Hervorhebung Schnackenburg). –– „Inkarnieter Logos“ (230). –– 234 2x; 243. –– „Die Herrlichkeit des Inkarnierten“: 245. –– „Der inkarnierte Logos trägt die Fülle der Gnadengaben in sich …“: 248. –– „göttliche Gnadenwirklichkeit erst mit dem inkarnierten Logos auf die Erde kam …“: 252. Wie ein Name begegnet „Inkarnierter“, so hier: „Gewiß könnte der Hymnus … vom Logos bis dahin anonym-verhüllend sprechen, um am Ende bewußt den Namen des Inkarnierten zu nennen …“: 205. ––.“Der Prolog (bzw. Logos-Hymnus) tendiert von Anfang an auf den menschgewordenen Logos hin (Hervorhebung Schnackenburg) und macht zum Preis des Inkarnierten die unerhörte Aussage, … daß er schon ‚im Anfang‘ … existierte …“: 209). –– „Die ‚Licht‘-Wirksamkeit des Logos reicht von der Schöpfung über die Inkarnation bis zur eschatologischen Vollendung … das Wirken des inkarnierten Logos … die eschatologische Offenbarung des Logos … Zeit des Evangelisten, in der die vom Inkarnierten in die finstere Welt gebrachte Macht des göttlichen Lichtes …“: 221. –– „ein Zeugnis des Täufers, das die Vorrangstellung des Inkarnierten vor ihm selbst betont und mit seiner Präexistenz begründet … bezeugt für alle Zeit dem Inkarnierten, daß er der Größere war“: 249. –– „ist der irdisch Sprechende identisch mit dem Logos, von dem der Hymnus sang, so daß sich die Aussagen über die Präexistenz, Gottesnähe und Göttlichkeit des Logos (1,1) in der Selbstbezeugung Jesu fortsetzen. Der Inkarnierte hält das unmittelbare Gotteswissen seiner Präexistenz fest …“: 255. Vgl. zum Ganzen die folgenden Abschnitte G.V. u. G.VI.

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Abschnitt G Unbiblische und sach-fremde Wörter/Begriffe in Anwendung auf die ntl. Texte in Exegese und Biblischer Theologie

In der Erschließung und ausführlichen Besprechung der ntl. Haupttexte zur Herkunft Jesu Christi sind wir neben anderem auf eine Reihe von Wörtern/Begriffen wie auch formelhaften Wendungen aufmerksam geworden, die sich alle als unbiblisch und kaum sachgerecht, wenn nicht gar gänzlich sach-fremd erweisen. Wir haben darauf eingehend hingewiesen und auch die Gründe zu erkennen versucht, die zu diesen eigenartigen Auslegungsweisen ntl. Texte geführt haben könnten. Es handelt sich ja in den meisten Fällen um Ausdrücke/Begriffe und Formulierungsweisen, die erst in späterer nachapostolischer Zeit in die theologische Glaubensdarstellung eingeführt worden sind und oft von Anfang an als zumindest strittig empfunden wurden; wenn sie nicht gar Anlaß gaben für häretische Auffassungen und folglich entsprechende Reaktionen des kirchlichen Glaubensbewußtseins und Konzilsentscheidungen. Diese Formeln und Ausdrucksweisen entsprechen kaum den Aussage-Inhalten der betreffenden ntl. Texte selbst, wenn sie sich nicht sogar als gänzlich unangebracht zeigen und tatsächlich Probleme heraufbeschwören, die der Text des NT selbst in keiner Weise von sich aus bereitet. Es erscheint auch heute noch als dringend notwendig, die Erkenntnis dieses Sachverhaltes wirkkräftig zu gewinnen, daß und in welchem Ausmaß sie gänzlich unnötig Problemfelder und theologische Überlegungen fordern, die dem biblisch-kirchlichen Glaubensgut und seine je heutige Verantwortung der Verkündigung nicht nur nicht dienen, sondern sie oft nachhaltig verhindern. Im folgenden sollen die wichtigsten Ausdrücke/Begriffe und Redewendungen dieser Art benannt und soweit besprochen werden, wie es unsere Untersuchungsabsicht einfordert, nämlich von der Herkunft Jesu Christi biblisch und somit kirchlich-glaubensverantwortlich zu künden.

I. Wort/Begriff „Jungfrauengeburt“ und ähnliche, erklärende bzw. begleitende Bildungen („jungfräulich“ u. ä.) Obwohl Wort und Begriff „Jungfrauengeburt“ wie auch das Adjektiv „jungfräulich“ im NT nie begegnet und folglich auch die vielen Wendungen und Darlegungen, die sich von ihnen herleiten, im biblischen Text gänzlich fehlen, sind sie seit Jahrhun275

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derten zu Fach-Ausdrücken avanciert, die man einfach nicht mehr umgehen kann bzw. darf, wenn das christliche Glaubensgut angesagt und besprochen werden soll bzw. zur Verkündigung ansteht. Dem gehen wir hier näher nach, indem wir das Vorkommen und den Einsatz dieser Wendungen text-analytisch zusammenstellen. Von dieser Absicht her ist auch die dafür eingesetzte Gliederung zu verstehen, die im folgenden wirksam werden soll.

1. „Jungfrauengeburt“ – Wort und Bedeutung

„Jungfrauengeburt“ ist ein theologisch üblich gewordener und fraglos eingesetzter Ausdruck nur im Deutschen. In allen anderen Sprachen wird das, was im Deutschen mit dieser Wortbildung ausgesprochen sein soll, gänzlich anders formuliert. Auch wenn „Jungfrauengeburt“ bei deutschsprachigen Autoren öfters mit der griechischen Wendung „Parthenogenesis“ (oder „Parthenogenese“), die in den anderen Sprachen meist gebraucht wird, gleichgesetzt und synonym verwendet wird, findet sich in den anderen Sprachen keine wirkliche Entsprechung zu „Jungfrauengeburt“ und das damit Ausgesagte. Daher ist es sinnvoll, zunächst nur die deutsch-geschriebene theologische Literatur in Bezug auf „Jungfrauengeburt“ in Augenschein zu nehmen. a) Lexikalische Auskunft

Das LThK weist für den Artikel „Jungfrauengeburt“ (LThK 5, 1090–1095: G. L. Müller) folgende Gliederung auf: „I. Religionsgeschichtlich; II. Biblisch; III. Theologie- und Dogmengeschichtlich; IV. Systematisch-theologisch“. Vor den eigentlichen Angaben wird diese Begriffsbestimmung für „Jungfrauengeburt“ vorgelegt: „Dem Begriff nach bedeutet J. die Befruchtung einer weibl. Eizelle ohne männl. Samenzelle (Parthenogenesis). Eine bei Pflanzen u. einigen Tieren biologisch mögl. ungeschlechtl. Fertilisation ist beim Menschen ohne Substitution der materiellen Zeugungs- bedingungen (Chromosomen, Gene) bislang niemals beobachtet worden u. gilt gemeinhin als undenkbar. In der chr. Theologie ist J. die Kurz-Bez. für das im Glauben bekannte singuläre Ereignis der Menschwerdung des ewigen Sohnes Gottes: Jesus Christus ist als Mensch empfangen v. Hl. Geist, ohne männl. Samen, ‚sine virili semine‘, geboren v. der Jungfrau Maria (vgl. DS 10 44 62 150 189 301 368 503 533 547 619 1337)“ (1090). „Jungfrauengeburt“ wird hier als Begriff (Hervorhebung im Text!) vorgestellt und seine Bedeutung angegeben, die freilich sehr problematisch ist. Der erste Teil dieser Bedeutungserklärung könnte einem Biologie- oder Konversationslexikon entnommen sein, dort allerdings vorfindlich unter „Jungfernzeugung“, welche Angaben jedoch selbst sehr ungenau sind. Dann wird angegeben, was (in der chr. Theologie) damit angesagt sein soll: „Kurz-Bezeichnung (!) für das „singuläre Ereignis (!) der 276

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Menschwerdung (!) des ewigen Sohnes Gottes“, und das wird näher bestimmt mit „als Mensch empfangen (!) vom Hl. Geist, ohne männlichen Samen (!), geboren (!) von der Jungfrau Maria“. Wir beachten die eigenartigen Unterscheidungen und ihre Benennungen. Es wird genau angegeben, was nicht der Fall ist. Nur „geboren von der Jungfrau“ könnte auf „Jungfrauengeburt“ hinweisen, und eigentlich auch nur dieses. Es zeigt sich deutlich, daß dieser fragliche Ausdruck ungemein vieles zur Sprache bringen soll, das im Grunde von ihm her gar nicht erwartet bzw. sinnvoll erfüllt werden kann. Es ist auch darauf zu achten, daß diese Wendung als ausdrücklich von einem „singulären Ereignis“ spricht, das sich auf Gott bezieht. Kann solches jemals „auf den Begriff gebracht werden“ zumal auf einen, der auch in der Biologie angewendet werden kann und wird? Wir bemerken die äußerst bedrängende Fragwürdigkeit (Fragunwürdigkeit!) der Wortbildung für einen „theologischen Sachverhalt“. Das gilt übrigens auch für die angegebenen DS-Stellen. Uns interessiert jetzt natürlich das zu „Biblisch“ Gesagte. Wir lesen dort Erstaunliches: „Da Mt und Lk christologisch nicht bei der Sendung u. Inkarnation des präexistenten Sohnes ansetzen (wie Paulus und Joh), sondern das Persongeheimnis Jesu aus seiner Lebens-Gesch. erschließen (!), haben sie die in die Ursprünge der Jerusalemer Gemeinde … zurückreichende Trad. v. der an der Jungfrau Maria durch Gottes pneuma u. dynamis (Lk 1,35) gewirkten Empfängnis Jesu ohne geschlechtl. Mitwirkung ihres verlobten Ehegatten Josef aufgegriffen u. ihren literar. Vorlagen (Mk u. Q) vorangestellt (Mt 1,18–25; Lk 1,26–38). … Von dem um 80/90 nC. voll ausgebildeten Christusbekenntnis her wollten Mt u. Lk den nicht-menschl. Ursprung des Menschen Jesus in Gott, seinem Abba, als das durch Gottes Pneuma gewirkte Ereignis erschließen (!). Gott ist dabei nicht der biol. Vater … sondern (analog) Vater, insofern er in einem mit seinem Wesen ident. Schöpferhandeln die kreatürl. Ursachen der natürl. Zeugung (vgl. Gen 1,28; Weish 7,1f.) substituiert u. so den Menschen Jesus durch eine unmittelbare Relation zu ihm als ‚Sohn des Höchsten‘ (Lk 1,32) konstituiert (!). Die literar. Gattung der Verkündigungserzählung bei Mt u. Lk unterscheidet sich v. dem mit dem öff. Wirken Jesu ansetzenden synopt. Erzählstoff. Diese Erzählungen gehören aber z. Ev. u. wollen mit den zentralen Aussagen zu Empfängnis u. Geburt die menschl. Existenz des Messias auf ein spezif. Wirken Gottes zurückführen … Die Verheißung Jes 7,14 ist nicht ursächlich für das Bekenntnis z. J., vielmehr Reflexionszitat u. im Sinn v. LXX (parthenos) als Hinweis auf J. verstanden worden. (Es fehlt zudem der Bezug auf die Geistgewirktheit der Empfängnis.) Das Kind Marias heißt ‚Sohn Gottes‘ (Lk 1,35). Dabei wird ein lediglich messian. Verständnis v. ‚Sohn Gottes‘ schon bei den Synoptikern u. bei Q transzendiert (!), d. h.. die Sohnesrelation, die das menschl. Sein Jesu trägt (!), verweist in die innere relationale Wirklichkeit (!) v. ‚Vater, Sohn u. Geist‘ (vgl. Mt 11,25; 28,19; Lk 2,49; 10,21ff.). Gottes schöpfer. Wirksamkeit … Bei Jesu Empfängnis aber ereignet sich die absolute Überwindung (!) fehlender kreatürl. Potentialität (Lk 1,34: …)“ (1092f). Wir haben nur die wichtigsten Angaben zusammengestellt, weil vieles andere traditions-

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und formgeschichtliche Behauptungen vorbringt, die in diesem Artikel unangebracht sind. Die vorgelegte Sach-Auskunft ist schlicht unzureichend, ja in vielem falsch; das meiste sind Feststellungen eines Systematikers, der an den biblischen Text viel spätere Ansichten heranträgt und mit ihnen die biblischen Aussagen in ihren AussageInhalten überfrachtet, meist ihnen widersprechend. Als Wichtigstes ist festzustellen, daß faktisch keine einzige ntl. Stelle angegeben ist, die den zuvor vorangestellten Begriff „Jungfrauengeburt“ als Aussage-Inhalt rechtfertigt. Die eher nebenbei zugrundegelegten Texte Mt 1,18–25 und Lk 1,26–38 sprechen überhaupt nicht von der Geburt Jesu! Sie werden auch (wenngleich auch das unrichtig) als Ankündigungsstellen bezeichnet, die seitens Mt und Lk dazu dienten, das zu erschließen, wozu sie diese Aussagen verwenden wollen. Mt und Lk waren Evangelisten und keine nach-denkenden Theologen, die mit eigenen Worten auszusagen versuchen, was sie selbst zu erkennen meinen. Kurz: Die Lexikon-Antwort gibt auf unsere Frage keine wirkliche Antwort. Dasselbe ist für den Artikel „Jungfrauengeburt“ im NBL II, 419f zu sagen. Im RGG, 4. Auflage, 2001, Band 4 wird der Artikel (705–708) aufgeteilt in I. Religionswissenschaftlich; II. Biblisch; III. Dogmengeschichtlich. Alle Teile sind von katholischen Theologen verfaßt (D. Zeller, W. Radl. W. Beinert). Bezeichnend ist der erste Satz zu „biblisch“: „Nur Mt 1,18–25 und Lk 1,26–38 sprechen von einer J., näherhin von der geistgewirkten Empfängnis Jesu“ (706). Was dann faktisch geboten wird, ist die gängige Vorstellung von „Jungfrauengeburt“ ohne jeden berechtigten Verweis auf ntl. Aussagen. Wieder wird (nur!) auf Mt 1,18–25 und Lk 1,26–38 verwiesen, die selbst nicht von Geburt sprechen. Wir können damit die Einsichtnahme in die einschlägigen Lexika abschließen und müssen selbst nach den ntl. Texten suchen, die „Jungfrauengeburt“ tatsächlich aussagen – wenn es sie überhaupt gibt. Es zeigt sich somit, daß „Jungfrauengeburt“ faktisch zu einem omnipräsenten, anscheinend auch unübergehbaren Haupt-Wort für die Angabe des Aussage-Inhaltes eines biblischen Aussage-Komplexes geworden ist; es ist nicht nur zu einem Haupt-Stichwort für Lexikon-Auskünfte erhoben, sondern auch in den systematisch interessierten theologischen Untersuchungen, Werken und Beiträge aller Art. Für unsere Untersuchungsfrage, die sich ja ausdrücklich und zuerst den biblischen Text-Aussagen in ihrem eigenen, expliziten Aussage-Gehalt (und seiner sprachlichen Erst-Fassung) zuwendet, müssen wir der Sache intensiv nachgehen, was in der jetzt folgenden Weise und Reihenfolge der Teilfragen geschehen soll. Daher betrachten wir zunächst das Faktum, daß „Jungfrauengeburt“ in bibelwissenschaftlichen wie systematisch interessierten Arbeiten wie selbst-verständlich verwendet erscheint. Im folgenden bringen wir ein Beispiel von Kommentar-Texten, die „Jungfrauengeburt“ unmittelbar und wie selbstverständlich verwenden, offensichtlich als theologisch berechtigten, ja geforderten Begriff. W. Schmithals sagt in seinem Lk-Kommentar zu 1,26–38 (überschrieben von ihm mit „Ankündigung der Geburt Jesu“) dieses: „Die Ankündigung der Geburt Jesu erfolgt nach demselben aus dem Alten Testament 278

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bekannten Schema und teilweise mit denselben Worten wie die Ankündigung der Geburt des Johannes, freilich dieser gegenüber mit deutlichen Steigerungen … Die auffällige Steigerung ist die jungfräuliche Zeugung Jesu. Während Johannes nach der Empfängnis im Mutterleib mit dem Heiligen Geist erfüllt wird (V. 15), wird Jesus ohne Zutun eines Mannes aus der Kraft des Heiligen Geistes gezeugt und von einer Jungfrau geboren. Durch diese ungewöhnliche Art der Zeugung soll noch stärker als bei Johannes die Bedeutung des Kindes herausgestellt werden … In der Bibel wird nur von Jesus die Jungfrauengeburt behauptet. Das Judentum erwartet sie nicht vom Messias … Die Anschauung von der Jungfrauengeburt Jesu dürfte demnach in Kreisen eines hellenistischen Jundenchristentums zuhause sein. Sie findet sich im Neuen Testament nur noch bei Matthäus, der sie in 1,18–25 ausführlich entfaltet … Sonst begegnen im Neuen Testament andere Vorstellungen über den Ursprung der Messianität bzw. Gottessohnschaft Jesu, neben denen für den Gedanken der jungfräulichen Zeugung, schaut man auf deren Vorstellungscharakter, schlecht Platz ist. … Jedenfalls ist die Anschauung von der Jungfrauengeburt im Neuen Testament verhältnismäßig wenig bezeugt und zudem nur eine Vorstellung vom Ursprung der Gottessohnschaft Jesu unter mehreren. … Manche Forscher nehmen indessen an, V. 34–35 oder V. 34–37, in denen die Jungfrauengeburt eingeführt wird, seien im Zusammenhang sekundär. Die weisen darauf hin, daß die Weihnachtsgeschichte die Vorstellung von der Jungfrauengeburt nicht kenne (2,1–20) und erklären … Die Davidssohnschaft des Messias Jesus gewährleistet trotz der Jungfrauengeburt Joseph (V. 27), der aus dem Hause Davids stammt vgl. 2,4) … Der Hinweis Gabriels auf die Schwangerschaft der Elisabeth (V. 36f.) soll keinen Zweifel der Maria dämpfen, sondern hat wiederum literarische Funktion … Zugleich werden mögliche Zweifel des Lesers zurückgewiesen: Bei Gott ist nichts unmöglich (1. Mose 18,14 und öfter); diese Feststellung, auf die Jungfrauengeburt bezogen, bekommt ihren eigentlichen Sinn durch den in diesem wundersamen Bild angesprochenen Offenbarungswillen Gottes und seiner Liebe zu den sündigen Menschen“ (25. 26, 27, 28). Dazu auch dieses zu Lk 2,41–52 gesagt: „Jesus, der Sohn des Josef und der Maria, nennt sich in V. 49 indirekt zugleich ‚Sohn Gottes‘. Diese Hoheit ihres Sohnes wurde den Eltern Jesu in den vorhergehenden Epiphaniegeschichten noch nicht offenbart, zumal diesen ja die Vorstellung der Jungfrauengeburt fern liegt; darum verstehen Josef und Maria die Rede ihres Sohnes nicht … göttliche Zeugung (Jungfrauengeburt) …“ (47). Es wäre zu diesem Text sehr viel zu sagen, wozu hier (noch) nicht der Ort ist. Festgestellt werden soll jedoch die bedeutsame Tatsache, daß dieser Kommentartext zu „Ankündigung an Maria, 1,26–38“ verfaßt ist, wo von Geburt (noch) gar keine Rede ist! Und doch wird schon hier das Thema „Jungfrauengeburt“ eingehend besprochen! In zahlreichen Kommentaren wird ein ausdrücklicher Exkurs zum Thema „Jungfräulichkeit“ geliefert. Dafür folgende Beispiele: Im Lk-Kommentar von GrundmannHauck findet sich zu Lk 1,26–36 ein „Exkurs“ (59–61), also schon zum Ankündigungstext der Geburt Jesu! ––– Fr. Bovon fügt der Besprechung von Lk 1,26–38 („Die 279

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Verkündigung an Maria“) vor der „Analyse“ des Textes den Exkurs „Die Jungfrauengeburt und die Religionsgeschichte“ ein (64–70), der folgende Gliederung hat: I. Die Gattung der Ankündigung; II. Die Motive; III. Die Überlieferung der Erzählung; IV. Die Herkunft der Motive; V. Ergebnis“. Wieder bemerken wir, daß schon vor der lukanischen „Erzählung“ Lk 1–2, wo von der Geburt erst in Kp. 2 die Rede ist, das Thema „Jungfrauengeburt“ abgehandelt wird. ––– J. Gnilka bringt in seinem Mt-Kommentar nach der Besprechung von 1,18–25 den „Exkurs 1: Die Jungfrauengeburt“ (22–33). Er hat diese Gliederung: „a) im Matthäus-Evangelium; b) Religionsgeschichtliches; c) Theologische und historische Beurteilung“. Unter a) findet sich dieser erste Satz: „Die Zeugung Jesu aus dem Geist verbindet sich mit seiner Geburt aus dem unberührten Mädchen Maria … Die folgende Geschichte zeigt seine durch Gott gewirkte Erschaffung an … Außerhalb von Kap. 1 wird die Jungfrauengeburt Jesu im Evangelium nicht mehr erwähnt …“ (22). Im Abschnitt c) wird „Jungfrauengeburt“ oft verwendet. ––– W. Knörzer, Wir haben seinen Stern gesehen. Verkündigung der Geburt Christi nach Lukas und Matthäus (Werkhefte zur Bibelarbeit II. 1967) bringt im Abschnitt „Verheißung der Geburt Jesu (Lk 1,26–38“ noch vor der Auslegung des Textes den Exkurs „Jungfrauengeburt – Anstoß des Glaubens“ (87–90). Wieder bezeichnend, zu welchem Text über „Jungfrauengeburt“ Rechenschaft abgelegt wird. b) Verwendung als Titel für Bücher und Fach-Artikel

H. v. Campenhausen, Die Jungfrauengeburt in der Theologie der alten Kirche, Heidelberg 1962. (Keine Gliederung angegeben.) H. J. Brosch und J. Hasenfuß (Hrsg.), Jungfrauengeburt gestern und heute, Essen 1969. Die Gliederung: I. Fragen und Probleme zur Jungfrauengeburt in Religionen, Konfessionen und neuen Interpretationsversuchen (4 Beiträge, genannt seien die Titel „Die Jungfrauengeburt als theologisches Problem seit D. Fr. Strauss“, von H. M. Köster, und „Jungfrauengeburt in neuer Sicht“, von H. Döring); II. Antworten zur Frage der Jungfrauengeburt seitens katholischer Exegeten (4 Beiträge, genannt sei „Die Jungfrauengeburt im Neuen Testament“, von J. Michl); III. Diskussion zu Fragen und Problemen der Jungfrauengeburt (1 Beitrag); IV. Zur kirchlichen Glaubenswissenschaft in den Fragen der Jungfrauengeburt (1 Beitrag „Dogmatik und Exegese zur Jungfrauengeburt“, von M. Schmaus). Wir beachten den (im Grunde ärgerniserregenden) Titel „Jungfrauengeburt gestern und heute“. Wenn man bedenkt, was eigentlich zur Frage steht und auch in diesem Buch als problematisch erklärt erscheint, ist der Titel Gottes unwürdig. ––– K. Suso Frank – Rudolf Kilian – Otto Knoch – Gisela Lattke – Karl Rahner, Zum Thema Jungfrauengeburt, KBW Stuttgart 1970; 4 Beiträge seitens der Genannten. Zwei Titel seien angegeben: „Lukas 1 und die Jungfrauengeburt“ v. G. Lattke, und „Dogmatische Bemerkungen zur Jungfrauengeburt“ v. K. Rahner. R. Pesch, Über das Wunder der Jungfrauengeburt. Ein Schlüssel zum Verständnis, Verlag Urfeld, Bad Tölz 2002. 280

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Beispiele von Artikel-Titeln, die „Jungfrauengeburt“ als Haupt-Stichwort aufweisen. Es gibt bekanntlich eine Unzahl von Artikeln, die „Jungfrauengeburt“ im Titel verwenden. Hier seien nur einige, allerdings vielsagende genannt, um die Fülle dessen erkennen zu lassen, was alles unter „Jungfrauengeburt“ verstanden und wissenschaftlich verhandelt wird. Vollständigkeit ist unerreichbar. L. Scheffczyk, IKZ 7 (1978) 13–25 nennt seinen Beitrag „ ‚Jungfrauengeburt‘: Biblischer Grund und bleibender Sinn“. Der erste Satz dort: „Es ist eine wohlbegründete Annahme, daß die katholische Marienlehre heute vor allem von dem Problem der ‚Jungfrauengeburt‘ umtrieben wird“ (13). Der Ausdruck „Jungfrauengeburt“ ist stets in Anführungszeichen gesetzt. ––– R. Schnackenburg, Cath 21 (1967) 12–27, „Konkrete Fragen an den Dogmatiker aus der heutigen exegetischen Diskussion“ spricht im Punkt 2 von der „Kindheitsgeschichte Jesu und Jungfrauengeburt“ (17–20). J. J. Degenhardt, Cath 29 (1975) 164–168, „Die Jungfrauengeburt. Die Lehre der Schrift und der Kirche in kurze Thesen gefaßt“. I. Broer, BiLe 12 (1971), 248–260, „Die Bedeutung der ‚Jungfrauengeburt‘ im Matthäusevangelium“. Untertitel ebd.: „I. Die Jungfrauengeburt im Neuen Testament; II. Die Jungfrauengeburt im Matthäusevangelium (dort unter „6. Verteidigung der Jungfrauengeburt gegen bösartige Verleumdungen?“ und „7. Jungfrauengeburt und Gottessohnschaft“)“. M. Ebner, in R. Kampling Hg., ‚Dies ist das Buch …‘. Das Matthäusevangelium. Interpretation – Rezeption – Rezeptionsgeschichte. Für H. Frankemölle“, 2004, 177– 202: „Vom Versuch, einen hellenistischen Topos zu rejudaisieren. Zwei verschiedene Lesarten der ‚Jungfrauengeburt‘ in Mt 1,18–25“. O. Michel und O. Betz, BZNW 26 (1960) 3–23, „Von Gott gezeugt“, das den Unterpunkt „g) Die Zeugung kata sarka und die Jungfrauengeburt“ enthält. W. Kasper, IKZ 16 (1987) 531–535, „Brief zum Thema ‚Jungfrauengeburt“. V. Stümke, NZSThR 49 (2007) 423–444, „Die Jungfrauengeburt als Geheimnis des Glaubens – ethische Anmerkungen“. Untergliederung des Beitrags: „I. Die Grundlagen; II. Die jungfräuliche Geburt in fundamentaltheologischer Perspektive; III. Maria in christologischer Perspektive; IV. Jungfrauengeburt als persönliches Geheimnis – eine ethische Schlußbetrachtung“. Hier mag auch ein Abschnitt aus W. Beinert, Heute von Maria reden? Kleine Einführung in die Mariologie, 1973, genannt sein: „Die Theologie der Jungfrauengeburt“ (100–106). A. Lindemann bringt in „Surrexit Dominus vere. Die Gegenwart des Auferstandenen in seiner Kirche. FS für J. J. Degenhardt, Hrsg. J. Ernst u. St. Leinegruber, 1995, 365–379, den Beitrag „ ‚… ex Maria virgine‘. Konfessionsspezifische Interpretationen der biblischen Aussage der Jungfrauengeburt?“. Es wird dort das „Problem der Jungfrauengeburt“ verhandelt. R. Schulte stellt in seinem Beitrag „Spricht die Heilige Schrift überhaupt von ‚Jungfrauengeburt‘?. Ein Plädoyer für Sorgfalt bei theologi281

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scher Wort- und Begriffsbildung“ (in M. B. von Stritzky u. Chr. Uhrig (Hgg.). Garten des Lebens. FS für W. Cramer, 1999) Wort und Begriff „Jungfrauengeburt“ überhaupt in Frage, was seine Berechtigung und Verwendung für biblisches Sprechen angeht. c) Verwendung als Hauptstichwort in Kommentar-Texten bzw. in theologisch-systematischen Aussagen; einige sprechende Beispiele

Fr. Bovon in seinem Lk-Kommentar: Er bringt, eigenartigerweise vor aller exegetischen Besprechung von 1,26–38, den „Exkurs: Die Jungfrauengeburt und die Religionsgeschichte“ (!). Im Punkt „I. Die Gattung der Ankündigung“ beginnt B. so: „Das Motiv (!) der Jungfrauengeburt, besser gesagt der wunderbaren Empfängnis der Maria durch den heiligen Geist ist in eine Erzählung (!) eingebettet (!), deren Gattung wir klar bestimmen können als ‚göttliche Botschaft an eine Einzelperson‘ (!)“ (64). Hier wird „Jungfrauengeburt“ näher bestimmt durch die Formel: „besser: wunderbare Empfängnis der Maria“! Warum bleibt B. dann doch bei „Jungfrauengeburt“? Zur weiteren Verwendung des nun einmal gewählten Haupt-Ausdrucks heißt es: „daß die Legende von Anfang an das Motiv (!) von der Jungfrauengeburt enthielt“ (65). Dann im Punkt „Ergebnis“: „Lk 1,26–38 wie Mt 1,18–25 sind der neutestamentlichen Christologie nicht fremd … Auf narrative Art will die Jungfrauengeburt wie auch die Präexistenz des Messias den göttlichen Ursprung des Sohnes bezeugen“ (69). Diese Sprechweise wird auch in der „Analyse“ des Textes 1,26–38 beibehalten: „Man hat vorgeschlagen, V 34 und V 35 als Zufügung durch Lukas oder einen späteren Interpolator, der die von Mt 1,18–25 vorgetragene Jungfrauengeburt integrieren wollte, zu verstehen. Die Sprache der VV 34–35a klingt zwar lukanisch, der Inhalt des V 35b gibt sich jedoch als vor- und nicht als nachlukanisch. Ferner beherrscht der Gedanke (!) der jungfräulichen Geburt (!) die ganze Verkündigungsgeschichte und nicht nur oder erst die VV 34–35 (siehe V 27)“ (70f). Zu 1,27 heißt es: „… In diesem Fall spielt für Lukas das Wunder der Jungfrauengeburt, nicht aber die des Dauerzustand der Jungfräulichkeit eine Rolle“ (73). Noch einmal begegnet „Jungfrauengeburt“ in der Besprechung von 2,6f: „Maria erlebt eine normale Geburt. Im Unterschied zur späteren Mariologie, die das Wunder der Jungfrauengeburt nach hinten (unbefleckte Empfängnis) und nach vorn (Jungfräulichkeit in partu et post partum) erweitert, ist hier kein weiteres Wunder erzählt“ (120). H. Schürmann verwendet den Ausdruck „Jungfrauengeburt“ weniger oft als andere (s. Lk-Kommentar 39–145). Konzentriert begegnet er in der Auslegung von 1,26–45. „Jungfrauengeburt“ wird faktisch als unumgehbarer Begriff für das rechte Verständnis bes. von 1,26–38 angesehen und jedenfalls das, was mit ihm als erfaßt angesprochen wird, vehement verteidigt. Dazu einige bezeichnende Formulierungen. Zu 1,35 wird im Kontext einmal gesagt: „So sehr man den Unterschied in den Aussagen von VV 32f und V 35 sehen muß: die Annahme, in einer früheren und nicht mehr zu rekonstruierenden Form habe die Aussage von der Jungfrauengeburt gefehlt, wagt 282

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sich in unkontrollierbare Gefilde“. Im dort Entfalteten sind die spezifischen Formeln „jungfräuliche Empfängnis“, „Vaterlosigkeit der Empfängnis“, „Jesu geistgewirkter Ursprung“, „vaterlose Lebensentstehung“ u. ä. Dann, nachdem viel zu „Gedanke der jungfräulichen Lebensentstehung“ gesagt wurde: „Auch die urchristliche Homologese, die vor allem Jesu (künftige und gegenwärtige) Messianität, sein Kyrios-Sein und seine (präexistente) Gottessohnschaft bekannte, mußte keineswegs von der Jungfrauengeburt her argumentieren“ (60), und: „Ein direkter Widerspruch gegen das Theologumenon von der Jungfrauengeburt kann aus den sonstigen urchristlichen Traditionen schwerlich herausgelesen werden … Gal 4,4 hätte Paulus wohl anders formuliert, wenn er von der Jungfrauengeburt schon gewußt hätte … zu Beginn des 2. Jahrhunderts ist die Jungfrauengeburt für Antiochien als tradierte Glaubenswahrheit bezeugt … Wenn die Jungfrauengeburt als geschichtliches Faktum für denkbar gehalten und gläubig angenommen wird, sind alle religionsgeschichtlichen ‚Erklärungen‘ relativiert …“ (61). (Vieles wird noch im einzelnen zu besprechen sein.) U. Luz spricht in seinem Mt-Kommentar häufig von „Jungfrauengeburt“, bes. im Abschnitt „Die Kindheitsgeschichten (Mt 1,2 – 2,23)“. Dazu die folgenden Aussagen beispielhaft: „Die Berührungen mit der lk Geburtsgeschichte sind minimal. Gemeinsam sind Mt und Lk nur gewisse Grundaussagen, wie etwa die betlehemitische Geburt Jesu und die Jungfrauengeburt …“ (125). Dann zu 1,18–25: „Die Geschichte ist keine Geburtsschilderung, obwohl sie von der Jungfrauengeburt handelt (dieser Satz klingt wie ein Witz: R. S.)“ (142). Dann: „In der heutigen Textgestalt ist die Jungfrauengeburt nicht Skopus, sondern relativ unbetonte Voraussetzung der Geschichte. Es ist von daher unwahrscheinlich, daß sie erst in einer späteren Traditionsschicht zu einer älteren Geschichte gekommen wäre … In diesem Falle wäre die Jungfrauengeburt wohl stärker herausgehoben … Die Motive … die Verbindung von Gotteskindschaft und Geist (V 18!) ist altes Gedankengut … Das Besondere in unserem Text ist aber die Verbindung mit der Jungfrauengeburt. Geburt ohne Zutun eines menschlichen Vaters … Die Verbindung mit dem (im palästinischen Judentum nicht belegten) Gedanken der Jungfrauengeburt weist am ehesten auf eine hellenistisch-judenchristliche Gemeinde als Traditionsmilieu. Im einzelnen bleibt aber unklar, wo und wie der Gedanke der Jungfrauengeburt im griechischsprachigen Judentum Eingang fand … Auch für die Historizität der im NT nur durch Mt und Lk bezeugten Jungfrauengeburt stehen die Zeichen nicht gut … Im ganzen NT ist sie aber sehr selten bezeugt“ (144f). Und: „Die Jungfrauengeburt gehört dann zu den Mitteln des Glaubenszeugnisses und hat keinen direkten geschichtlichen Hintergrund“ (145f). Dazu auch: „Dieser Hauptskopus der matthäischen Erzählung schließt Nebenskopoi nicht aus … Insofern und nur insofern ist auch die Jungfrauengeburt wichtig“ (151). Zum Zitat Jes 7,14 in 1,23 u. a.: „Vor allem hat die Jungfrauengeburt selbst die Auslegungsgeschichte beschäftigt. Die Schwierigkeiten waren in verschiedenen Zeiten sehr unterschiedlich. Während es a) in der Alten Kirche darum ging, die Jungfrauengeburt in den übergeordneten christologischen Entwurf der Zweinaturenlehre einzuordnen, 283

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zeigte sich b) seit der Neuzeit die grundsätzliche Kritik an der Jungfrauengeburt vor allem in der protestantischen, neuerdings aber auch in der katholischen Diskussion. Was im Neuen Testament nirgendwo der Fall ist, wird altkirchlich selbstverständlich: Die Jungfrauengeburt verbindet sich mit dem Präexistenz- und Inkarnationsgedanken. In der östlichen Tradition hat die der Präexistenzchristologie zugeordnete Jungfrauengeburt zunächst einen antidoketischen Skopus. Später wird sie zu einer Hoheitsaussage nicht über Jesus, sondern über Maria … Ein besonderes Problem bildete die Verbindung der Jungfrauengeburt mit der Trinitätslehre. Oft wurde das Nebeneinander von Jungfrauengeburt und Präexistenz von der Zweinaturenlehre her gedeutet … Die Jungfrauengeburt verweist besonders auf die menschliche Natur Christi …“ (152; 153; 154). Und schließlich: „Wer die Jungfrauengeburt, wie ich, historisch angesichts des reichen hellenistischen Parallelenmaterials und angesichts ihrer schwachen neutestamentlichen Bezeugung für recht unwahrscheinlich hält, muß darüber reflektieren, inwiefern die Wahrheit der Botschaft des Texts Mt 1,18–25 an der Tatsächlichkeit der Jungfrauengeburt hängt. Matthäus … hat selber natürlich an die ihm schon überlieferte Jungfrauengeburt geglaubt; aber der Hauptskopus unseres Textes ist sie nicht. Mit der Jungfrauengeburt eng verbunden sind nur die Nebenskopoi des Textes, der Gehorsam Josefs und vor allem der Weissagungsbeweis aus Jes 7,14 … Für Matthäus ist die Jungfrauengeburt nicht zentraler Inhalt seines Glaubens, sondern eher vorstellungsmäßige Basis, die ausdrückt, wie Jesus der ‚Immanuel‘ ist … Von daher ist die Jungfrauengeburt nicht einfach eine nebensächliche Vorstellung“ (155f). J. Gnilka bringt nach der Auslegung von M1 1,18–25 (welche Verse er mit „Jesu Geburt und Namengebung“ überschreibt, obwohl von der Geburt Jesu im ganzen 1. Kap. keine Rede ist) einen Exkurs: „Die Jungfrauengeburt Jesu“ (22–33). In der Textauslegung wird“ Jungfrauengeburt“ nur zweimal genannt, eigentlich unmotiviert und eher nebenbei: Zu 1,22f mit dem Jes-Zitat 7,14 heißt es: „Das Prophetenwort Is 7,14 ist in seinem Inhalt änigmatisch … Der masoretische Text hat noch nicht die Vorstellung von einer Jungfrauengeburt, sondern redet von einer jungen Frau … Die christliche Überlieferung erblickt in der Frau Maria die Jungfrau und bezieht sich dabei auf den LXX-Text, der von einer parthenos spricht. Vermutlich hat auch die LXX noch nicht eine Jungfrauengeburt im Blick, obzwar dies im ägyptischen Milieu dieser Bibelübersetzung nicht auf Unverständnis gestoßen wäre … Es setzt mit dem Zitat zwei Akzente. Es untermauert die Geistzeugung Jesu und verdeutlicht (!) diese als Jungfrauengeburt. Von der Jungfrau Maria war bis jetzt noch nicht die Rede“ (20f). Der Exkurs macht folgende Aussagen (die wichtigsten werden aufgeführt). Im ersten Punkt, a) im Matthäusevangelium: Die Zeugung Jesu aus dem Geist verbindet sich mit seiner Geburt aus dem unberührten Mädchen Maria (von dem ist keine Rede; das ist Interpretation, die nicht gerechtfertig ist). Darin stimmt Mt mit Lk 1,26ff überein … Außer von Kap. 1 wird die Jungfrauengeburt Jesu im Evangelium nicht mehr erwähnt … (sie wird auch in Mt 1 nicht benannt, sondern ist fragwürdige „Deutung“ der dortigen Aussagen)“ (22). Im zweiten Punkt, b) Religionsgeschichtliches, wird 284

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diese Feststellung gemacht: Nach Erwähnung Philo, Cher 40–52, das besprochen wird, heißt es: „Die Vermutung könnte dadurch bestärkt werden, daß auch Paulus diese Tradition zu kennen scheint. Falls dies zuträfe, wendet er sie aber nicht auf eine Jungfrauengeburt Jesu, sondern wie Philo allegorisch auf die Patriarchenfrauen … Dies ist wichtig für die rechte Einstufung der Jungfräulichkeit Marias, unanhängig davon, ob die Jungfrauengeburt Jesu biologisch verstanden werden muß oder nicht. Das Interesse sowohl des Apostels als auch Philos liegt also nicht auf den Vorstellungen von Geisterzeugtheit und Jungfrauengeburt eines Menschen“ (25 und 26). Im dritten Abschnitt, c) Theologische und historische Beurteilung, lesen wir: „Wichtiger als die historische ist die theologische Fragestellung. Wer das Thema nur unter dem Aspekt behandelt sehen möchte, ob die Jungfrauengeburt Jesu ein biologisches Faktum sei oder nicht, verbaut sich den Zugang zu ihrem angemessenen Verständnis. … Die Tradition von der Jungfrauengeburt Jesu ist innerhalb des NT explizit nur in den Vorgeschichten des Mt und Lk vorhanden … Daneben gibt es zwei Andeutungen der Jungfrauengeburt Jesu im Text der Evangelien (es wird Mk 6,3 vorgelegt: R. S.) … wenn seine Jungfrauengeburt vorausgesetzt ist … Eine Anspielung darf vermutet werden. … Man wollte die im Johannesevangelium fehlende Jungfrauengeburt an geeigneter Stelle zur Geltung bringen (nämlich wenn Joh 1,13 so gelesen wird oder werden muß) … es ist vielmehr wohl am Platz, sich die exegetische Situation klarzumachen, im Blick auf die man die Lehre von der Jungfrauengeburt ganz abgesehen von der Wunderfrage in Zweifel ziehen kann und in Zweifel gezogen hat. Johannes, Paulus und die übrige ntl. Briefliteratur kennen diese Lehre nicht. … Darum ist jetzt der Aufweis der theologischen Zusammenhänge erforderlich. Ihre theologische Plausibilität (!) gewinnt die Jungfrauengeburt Jesu nicht aus religionsgeschichtlichen Prämissen, sondern aus der Entfaltung einer Christologie, die innerhalb des NT verdeutlicht werden kann … Jesu menschliches Sein aus dem Geist und aus der Jungfrau, wie es in den Vorgeschichten des Mt und Lk erkannt ist, setzt noch nicht seine Präexistenz und Menschwerdung voraus. Zumindest ist beides nicht in den synoptischen Evangelien greifbar … Das Handeln Gottes am Menschen Jesus soll anzeigen, daß dieser zum Emmanuel bestimmt ist. Die Bezeichnung Jesu als Gottessohn in diesem Zusammenhang kennzeichnet seine Erwählung und macht seine Geburt zum Offenbarungsgeschehen. Teilweise mögen mit diesen Überlegungen die mt Intentionen überschritten worden sein. Darum kann auch abschließend noch gesagt werden, daß im christologischen Lehrgebäude die Jungfrauengeburt ein sinnvolles Element (!) darstellt, aber nicht in dessen Zentrum steht“ (28–32, in Auszügen).1 1

J. Michl hat für das Buch „Jungfrauengeburt gestern und heute“ (Hrsg. H. J. Brosch und J. Hasenfuß, 1969) den Beitrag „Die Jungfrauengeburt im Neuen Testament“ verfaßt (145–184) verfaßt. Darin begegnen Formulierungen und Feststellungen, die für einen Neutestamentler äußerst erstaunlich sind. Wir können hier unmöglich alles aufführen; nur was für diesen unseren Abschnitt, der einen ersten Überblick über die Verwendung des Ausdrucks/Begriffs „Jungfrauengeburt“ in der theologischen Literatur zu geben versucht, unübersehbar ist, soll im folgenden vorgestellt werden. Es

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Als Beispiel für den Einsatz von „Jungfrauengeburt“ in theologisch-systematisch interessierten Beiträgen wählen wir den Beitrag von K. Rahner im Buch „Zum Thebeginnt bezeichnenderweise so: „Seit dem frühen Mittelalter (!) bekennt die Kirche von Christus: ‚Empfangen vom Heiligen Geist, geboren aus Maria, der Jungfrau‘. Damit kommt der Glaube zum Ausdruck, daß Jesus nicht wie alle anderen Menschen durch Zeugung eines Vaters im Schoß seiner Mutter empfangen wurde, sondern daß unser Erlöser auf wunderbare Weise ins Leben trat, ohne daß die Frau, die ihn gebar, Verkehr mit einem Mann hatte. Das ist die Prärogative Christi, in die seine Mutter einbezogen ist“ (145). Das klingt wie ein den „Sach-Verhalt“ von „Jungfrauengeburt“ definierender Satz. Er ist bestimmt von negativen Feststellungen: Was nicht der Fall war oder ist, ist das Bestimmende des Glaubens, den (dort auch mit DS-Angaben!) die Kirche über Christus bekennt! Der Text geht weiter: „Soll man die Aussagen buchstäblich nehmen, so daß sie ein von Gott gewirktes Faktum, ein einmaliges Wunder behaupten, oder genügt (!) eine irgendwie (!) bildliche Auffassung? Ist die Rede von der sogenannten (!) Jungfrauengeburt der Widerhall (!) eines geschichtlichen Ereignisses oder nur (!) ein Theologumenon, wie man seit längerem gern sagt? … Diese literarische Eigenart gerade jener Stücke, die von der Jungfrauengeburt handeln, verpflichtet zu einer Untersuchung, ob solche Rede wörtlich oder bildlich zu verstehen ist … Ich beschränke mich auf die jungfräuliche Empfängnis (!) Jesu aus (!) Maria, die allein in den Evangelien berichtet ist“ (147). Es folgt dort der Abschnitt „I. Die Texte von der Jungfrauengeburt“ (147–168). Darin werden Mt 1,16; 1,18–25; dann aus dem Lk-Evangelium 1,26–38; 2,5 und 3,32 betrachtet. Es folgt ein „Anhang“, in dem „das übrige NT“ vorgestellt wird. Im einzelnen seien diese Sätze zitiert: Zu Mt 1,18–25: „Die Perikope soll lediglich daraufhin abgehorcht werden, was sie zum Thema Jungfrauengeburt sagt“ (149; der Ausdruck „Jungfrauengeburt“ gibt also das Thema vor – von woher eigentlich? –, und es wird der Mt-Text befragt, was er dazu zu sagen hat!). Dann zu 1,18: „Das Stück beginnt V. 18 mit einer Angabe über die Geburt Jesu. (Im ganzen Kp. 1 ist von „Jesu Geburt“ keine Rede! R. S.) Das Kind im Schoß der Braut … ist ins Dasein getreten durch eine von Gott ausgehende Wirkung (!), nämlich in einer wunderbaren Empfängnis ohne Zutun eines Mannes (wieder eine negative Bestimmung, die der Text selbst nicht bringt! R. S.)“ (150). Es wird dann über die „jungfräuliche Empfängnis“ und die „Jungfräulichkeit Marias“ gesprochen und abschließend gesagt: „Ihm (d. i. der Evangelist) kommt es nur darauf an, die wunderbare, von Gott gewirkte, aber ohne einen irdischen Vater zustande gekommene (!) Empfängnis Christi herauszustellen“ (154). Zu Lk 1,26–38 sagt der Autor: „Auch dieses Stück soll keine Einzelerklärung erfahren, sondern es soll nur herausgeholt werden, was sich zu Thema Jungfrauengeburt ergibt (!)“ (155). Gesprochen wird dann von anderem, besonders was die Jungfräulichkeit Marias angeht. Der Ausdruck „Jungfrauengeburt“ begegnet nicht. Die (für den Autor wichtigen) entscheidenden Aussagen sind: „Die Worte der Jungfrau veranlassen V. 35 den Engel, das Geheimnis einer von Gott gewirkten Empfängnis zu enthüllen … Solche von Gott gewirkte wunderbare Empfängnis hat zur Folge, daß der Knabe, der zur Welt kommt, ‚heilig genannt wird, Sohn Gottes‘ … Nach dieser Mitteilung, wie Maria in ihrer Jungfräulichkeit empfangen soll … Sobald also Gott etwas verkündet, tritt es ein, auch wenn es den Menschen unmöglich erscheint, wie im gegebenen Fall eine Empfängnis ohne männlichen Samen“ (164). Zu Lk 2,5 und 3,32: „Im weiteren Verlauf der Kindheitsgeschichte wie des ganzen Evangeliums erwähnt Lukas so wenig wie Matthäus die Jungfrauengeburt …“ (164). Im „Anhang“ zur Besprechung von Mt 1,18–25 und Lk 1,26–38 heißt es dann: „Das übrige Neue Testament, also alle Schriften außer den Evangelien nach Matthäus und Lukas, erwähnen nie die jungfräuliche Empfängnis Jesu (der Autor wollte doch nach der „Jungfrauengeburt“ fragen! R. S.), wie sie überhaupt nur ganz selten und dann recht allgemein von der Geburt des Herrn reden“ (166). Der Autor hat damit faktisch aufgewiesen, daß überhaupt nirgends „Jungfrauengeburt“ als Thema oder auch nur Aussage-Inhalt im NT begegnet, vielmehr nur von außen an den NT-Text herangetragen wird, und das offensichtlich ohne jeden berechtigten Grund. Daß das an der Wortund Begriffsbildung liegt, zeigt, daß der Ausdruck gänzlich zu vermeiden ist.

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ma Jungfrauengeburt“ (das wir oben vorgestellt haben), „Dogmatische Bemerkungen zur Jungfrauengeburt“ überschrieben. Für K. Rahner war das Stichwort „Jungfrauengeburt“ wahrscheinlich vorgegeben. Von daher versteht sich die Weise, wir er sein Thema abhandelt. Im ersten Abschnitt bringt er „bibeltheologische Vorbemerkungen“ (121–129). Er schreibt: „Für die dogmatisch-systematischen Überlegungen seien folgende Ergebnisse aus der Bibeltheologie vorausgesetzt: 1. Mt 1,18 und Lk 1,35 sagen eine (!) Jungfrauengeburt aus. Dieser Satz muß deutlich bleiben, auch wenn damit noch nicht in jeder Hinsicht die Fragen eindeutig beantwortet sind, was a) ganz genau damit gemeint sei, und b) welch dogmatisch verpflichtendes Gewicht die biblischen Aussagen bei Matthäus und Lukas haben, wenn wir einerseits nur das dogmatische Gewicht der biblischen Aussage als solcher für sich allein würdigen und wenn wir auf der anderen Seite damit rechnen, daß eine solche Bestimmung des Aussagegewichtes einer Aussage, die zweifellos gegeben ist, von der genaueren Bestimmung des literarischen Genus abhängt, innerhalb dessen diese Aussage gemacht wird. 2. Es ist richtig und ist unbefangen zuzugeben, daß diese Aussagen von der Jungfrauengeburt einen bestimmten Traditionszug repräsentieren, der insofern partikulär ist, als eine explizite Aussage über die Jungfrauengeburt nicht überall im Neuen Testament zu jener Christologie gehört, die vor den Schriften des Neuen Testaments liegt und sich in diesen Schriften widerspiegelt“ (121f). Das wird dort etwas näher entfaltet. Wir erkennen, in welchem Maß sich Rahner an „Ergebnisse der Bibeltheologie“ ausrichtet und die Antwort auf gestellte Frage zunächst ganz offenhält. Eines zeigt sich jedoch ganz klar: Er verwendet den Ausdruck „Jungfrauengeburt“ in der damals (und immer noch) üblichen Selbst-Verständlichkeit; diesen Begriff selbst auf seine Angemessenheit und (gerade biblisch begründeten!) Berechtigung hin zu hinterfragen, sieht er sich nicht veranlaßt. Es begegnen Formulierungen entsprechender Art: „Man kann durchaus sagen: Paulus weiß nichts von einer Jungfrauengeburt. Er hat sich vielleicht (!) theologisch nie damit auseinandergesetzt. … Es kann durchaus sein …, Daß die verschiedenen Traditionsströme, von denen vielleicht (!) einer in seiner Formulierung, ja in seiner ganzen Konzeption von der Jungfrauengeburt nichts gewußt hat, nicht so in einer absolut fertigen, endgültigen Weise positiv miteinander ausgeglichen sind, daß dieser Ausgleich gleichsam nahtlos auch in den Formulierungen selber erschiene“ (122 u. 123). Dann weiter: „3. Die kirchliche Lehre über die Jungfrauengeburt ist sicher rückbezogen auf die Lehre darüber im Neuen Testament … Man wird wohl schon hier sagen dürfen, daß unter diesen Gesichtspunkten das genaue Verhältnis der lehramtlichen Aussagen zur Schriftaussage über die Jungfrauengeburt nicht ganz eindeutig klar ist. – 4. Man wird – im Unterschied zur früheren Konzeption der traditionellen katholischen Exegese – aus verschiedenen Gründen nicht mehr annehmen müssen oder können, daß die Aussage über die Jungfrauengeburt unmittelbar auf eine Aussage der Mutter des Herrn zurückgeht“ (123f; das wird dort etwas entfaltet). Dann folgt: „5. Die kerygmatische Absicht der Aussage über die Jungfrauengeburt geht bei Matthäus und Lukas zweifellos auf Jesus (und nur mittel287

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bar auf Maria) und will ihn aussagen als jemanden, der ein einmaliges Verhältnis zu Gott hat und der radikale Neuanfang der Heilsgeschichte ist. Rein bibeltheologisch allein wird sich vielleicht (!) nicht eindeutig entscheiden lassen, ob das, was mit der Jungfrauengeburt bei Matthäus und Lukas gemeint ist, identisch ist mit der Grundaussage von dem radikal einmaligen Verhältnis Jesu zu Gott und von ihm als dem radikalen Neuanfang der Heilsgeschichte, oder ob diese Aussage von der Jungfrauengeburt eine davon ableitbare, aber sachlich verschiedene theologische Folgerung ist“ (127; auch das wird weiter ausgeführt: 127–129). Es ist offenkundig, daß Rahner hier jene biblischen Ergebnisse zugrunde legt, die er meint als solche bestimmten Exegeten abnehmen zu können, auch was den offensichtlich als unverzichtbar angesehene Terminus „Jungfrauengeburt“ angeht, ohne sie zu hinterfragen. Es ist doch zum Beispiel höchste Zeit nachzufragen, wo man meint in Mt 1 und Lk 1 überhaupt etwas von „Jungfrauengeburt“ als explizit ausgesprochen zu finden. Es ist doch ein von außen herangetragenes, dazu noch ein sinn-loses Wort (wie wir im weiteren noch deutlich sehen werden) für das, was in Mt 1 und Lk 1 tatsächlich ausgesprochen ist. – Bei Rahner folgt der Abschnitt „Verstehenshorizonte der Jungfrauengeburt“ (129–134). Dort bespricht er im einzelnen: „1. Die Einheit des Menschen in seinen verschiedenen Dimensionen; 2. Die Differenz zwischen Wunder und Mirakel (bezeichnend dort das Verständnis von „Wunder“: „Wunder meint die zeichenhafte Erscheinung des Heilshandelns Gottes in der Dimension seiner leibhaftigen Geschichtlichkeit, die Erscheinung, die vom Glauben gedeutet (!) ergriffen wird in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis zwischen der durch den Glauben gedeuteten Erscheinung des Heilshandelns Gottes und dem durch das Zeichen ermächtigten Glauben … Es ist z. B. eben nicht von vornherein klar, ob eine ‚massiv‘ in ganz bestimmter Weise verstandene Jungfrauengeburt ein geglaubtes, wenn auch nicht glaubensbegründendes Wunder und als solches glaubbar … ist: 131f “); 3. Bescheidenheit gegenüber der individuell und epochal-geschichtlich bedingten Glaubenssituation“. – Es folgt der Abschnitt „Die Lehre der Kirche über die Jungfrauengeburt“ (134–139). Das brauchen wir hier nicht näher vorstellen. Es sei doch dieser eine Satz angeführt, der Bedenkenswertes sagt: „(Es) darf nicht übersehen werden, daß die Definitionsabsicht der Kirche nie direkt und explizit auf die Jungfrauengeburt als solche zielte, sondern diese schlicht als Eigentümlichkeit der Herkunft Jesu bekannte“ (136). Wir können das abschließen, bemerken aber, daß im ganzen Beitrag Rahners kein einziges Mal eine Sacherklärung angeboten wird, was eigentlich mit „Jungfrauengeburt“ genau angesprochen sein soll. Es wird auch hier schlicht als selbst-verständlicher theologischer Ausdruck eingesetzt, über den gar keine Rechenschaft abzulegen ist. Dem werden wir uns intensiv zu widmen haben. K. S. Frank bringt im Buch „Zum Thema Jungfrauengeburt“ (s. o.) den Beitrag „Geboren aus der Jungfrau Maria. Das Zeugnis der alten Kirche“ (91–120). An sich befassen wir uns in unserer Untersuchung ausdrücklich mit biblischen Aussagen, auf die „Jungfrauengeburt“ angewendet wird, und fragen nach der sachlichen Begrün288

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dung solchen Sprechens. Im Beitrag Franks finden sich aber Feststellungen, auf die aufmerksam zu machen ist. Der erste Abschnitt ist überschrieben: „Jungfrauengeburt und Dogma“ (92–107). Dort wird ständig von der „Jungfrauengeburt“ gesprochen, doch findet sich dieser Satz: „Schon hier (d. i. bei Ignatius von Antiochien) wird deutlich, daß die ‚Jungfrauengeburt‘ in der Überlegung der ältesten Kirchenväter eigentlich (!) mehr die ‚jungfräuliche Empfängnis‘ des Gottessohnes im Schoße Mariens meinte. Eine nähere Deutung der Jungfrauengeburt … versagten sie sich. Sie lag gar nicht im nächsten Fragebereich. Das Bekennen der wunderbaren Empfängnis dagegen entsprach genau dem christologischen Anliegen des Ignatius, sieht er doch Christus vorab als Inkarnation des göttlichen Geistes“ (93) Hier zeigt sich ein erstes Bemühen um begriffliche Klärung, wobei hinzugesagt werden muß, daß ja der Ausdruck „Jungfrauengeburt“ überhaupt viel später aufkommt. Auch die Formel „jungfräuliche Empfängnis des Gottessohnes im Schoße Marias“ findet sich bei Ignatius (noch) nicht. Es sei noch der Satz aus dem „Schluß“ vorgelegt: „Das Bekenntnis zu ‚Jesus, geboren aus Maria‘ gehört zur Glaubensüberzeugung der Kirche von Anfang an … Doch wäre es ganz verfehlt, aus dem immer vorhandenen und allenthalben zu findenden Bekenntnissatz sofort auch das Bekenntnis zur ‚Jungfrauengeburt‘ herauslesen zu wollen (der ganze Satz kursiv). Die Deutung der Formel kann nur im Lichte der ganzen theologiegeschichtlichen Entwicklung erfaßt werden. Vertreter der in der frühen Kirche weit verbreiteten Geist-Christologie hatten keine Not mit dem Bekenntnis zur ‚Empfängnis aus Heiligem Geist‘ – im Gegenteil, gerade darin fanden sie ihren Glauben ausgedrückt. Die Jungfrauschaft Mariens in ihrer Empfängnis gehörte notwendigerweise zu ihrer Überzeugung … So konnte sich die Symbolformel erweitern und präzisieren zum Bekenntnis zu ‚Jesus Christus, empfangen vom Heiligen Geist, geboren aus der Jungfrau Maria‘. Diese doppelte Bestimmung über Jesus Christus entsprach im Lichte altkirchlicher Theologie vollauf den Forderungen rechten Christusglaubens: Christi Gottheit und Menschheit waren damit bekannt“ (118f). H. Gese kommt in seinem Artikel „Natus ex virgine“ (in: Probleme biblischer Theologie. G. v. Rad zum 70. Geb.-Tag, Hrsg. von H. W. Wolff, 1974) in mehrfacher Weise auf „Jungfrauengeburt“ zu sprechen; er betrachtet als Bibelwissenschaftler die Frage. Er argumentiert in großem Ausmaß mittels theologischer Begriffe, die nicht biblisch sind, vielmehr in viel späterer Zeit üblich wurden, so z. B. mit „Präexistenz“, „Transzendenz“ u. ä. Wir geben einige wichtige Sätze wieder: „Unter den verschiedenen christologischen Aussagen des Credo bereitet die der Jungfrauengeburt dem Verständnis besondere Schwierigkeiten. Eine solche Aussage, die sich im Neuen Testament nur auf die Darstellungen der Geburt Jesu in Mt 1 und Lk 1 berufen kann, scheint nicht ganz unproblematisch zu sein, wenn sie nirgendwo sonst ausdrücklich bezeugt wird. Sie gehört zweifellos zu den späteren christologischen Bildungen, und doch stellt die Inkarnationschristologie mit ihrer Präexistenzaussage eine weitere Stufe dar. Von Seiten der Dogmatik wird unter Bezug auf Schleiermacher gern betont, daß die christologische Aussage von der Jungfrauengeburt keine notwendige und 289

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unaufgebbare sei, und man ist sich dessen bewußt, daß hier recht spezielle theologische Interessen, geprägt von zeitgenössischen Anschauungen und Vorstellungen, in der Traditionsbildung zu Worte kommen … Es soll hier also über die unmittelbaren neutestamentlichen Beiträge zu diesem Thema hinausgegangen werden … wie eine solche Traditionsbildung sich im Gesamten der biblischen Theologie hat entwickeln können. Deutungen wie die, daß in den Legenden von der Jungfrauengeburt der Begriff des Sohnes Gottes veranschaulicht oder der Geistbesitz der Person Jesu begründet oder der Anfang der neuen Schöpfung dargestellt werden soll, mögen durchaus zutreffen, aber sie sind viel zu summarisch, als daß sie erklären könnten, warum die Tradition diese und keine andere Gestalt annahm. … Es bleibt also die Frage, wie und warum die Tradition von der Jungfrauengeburt hat entstehen können, und eine Antwort scheint nur vom Ganzen der biblischen ‚Traditionsbildung her möglich zu sein“ (73 u. 74). Zu Lk 1,30–33 im Kontext 1,5–38 sagt Gese: „Die Jungfrauengeburt und das Wunder der Geburt bei bisheriger Unfruchtbarkeit und in hohem Alter können hier also parallelisiert werden. Die Jungfrauengeburt wird wohl als etwas Größeres, nicht aber unvergleichlich Anderes empfunden. Wir sehen also, daß es selbst in der schon sehr entwickelten Überlieferung von der Jungfrauengeburt bei Lukas nicht prinzipiell um das biologische Paradox einer vaterlosen Geburt geht und nicht um die Geburt irgendeines Heroen …, sondern um den neuen David, den Messias … Es geht … in der Geburtsgeschichte nicht primär um die Virginität der Mutter Jesu, sondern um die Geburt des neuen David, des Gottessohnes, die eben nur als Jungfrauengeburt verstanden werden kann (!)“ (76f). Dazu dann später: „Damit war die Vorstellung eines natus ex virgine erreicht. Das Motiv der Einwohnung Gottes in dieser Welt wurde bis zur letzten Konsequenz geführt: das Heilige tritt ein in diese Welt, der lebenschaffende Geist … Es genügte nicht, daß die Autorität eines menschlichen Vaters stark zurücktrat … es mußte hier die totale Zuwendung Gottes zur Welt ihren Ausdruck finden … Dieser Transzendenzcharakter der Jungfrauengeburt könnte nicht stärker mißverstanden werden als im Sinne doketischer Entleiblichung und Sublimation. Nicht Heraushebung Jesu aus dem Menschlichen ist Sinn dieser Überlieferung, sondern das Gegenteil, Hineinsenkung des Heiligen in diese Welt“ (88f). Zu allen diesen beachtenswerten Überlegungen und Feststellungen ist zu fragen, ob der Ausdruck „Jungfrauengeburt“ überhaupt notwendig ist – oder ob nicht mit den genuin biblischen „Wörtern“ alles entschieden besser darzustellen ist.

2. Das Wort „Jungfrau“, „Jungfräulichkeit“ u. ä. im NT; Vorkommen und Bedeutungsinhalt

Im Neuen Testament begegnet parqe,noj – Jungfrau ganz selten: Mt 1,23 im Jes-Zitat 7,14; wird ansonsten nicht gebraucht. Mt 25,1.7.15 im Gleichnis von den 10 Jungfrauen; ohne besondere Sinngebung. 290

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Lk 1,27 im einleitenden Satz zum Besuch Gabriels bei Maria in Nazaret. Oft wird von betonter Nennung Marias als Jungfrau in den Kommentaren gesprochen, doch gegen den offenkundigen Aussage-Sinn. Es heißt: „… gesandt der Bote Gabriel … zu(r) Jungfrau verehelicht (dem) Manne, dessen Name Josef, aus dem Hause Davids, und der Name der Jungfrau Maria“. Wenn Schürmann in diesem Text eine zweimalige Betonung von „Jungfrau“ für Maria lesen will, wird er dem schlichten Wortlaut nicht gerecht. Maria wird nicht einfach, gar betont, „Jungfrau“ genannt, und das zweimal; vielmehr ist Maria in 1,27a als „verehelichte Jungfrau“ genannt mit ausdrücklicher Angabe des Mannes, Josef, der zudem (und das ist, wenn man will, betont gesagt, eben wegen der Absicht Gottes, die den kommenden Messias im Blick hat) als „aus dem Haus Davids“ bezeichnet wird. In 1,27b folgt die Angabe des Namens der „verehelichten Jungfrau“ mit wiederholtem, aber nicht betontem „Jungfrau“. Der Satz 1,27 gibt auf seine Weise Maria als Adressatin der Botschaft Gabriels an; dazu wird ihr augenblicklicher persönlicher Lebens-Status genau angegeben, mit „Jungfrau“ und verehelicht, was im damaligen familiären Verständnis von jedem klar begriffen wurde. (S. dazu unsere Text-Analyse im Teil zu Lk 1–2). Apg 21,9, wo von dem „Evangelisten Philippus“ und seinen „vier Töchtern, parqe,noi profhteu,ousai“ die Rede ist. 1 Kor 7,25–38, ein Text, in dem Paulus zum Problem des Lebensstatus der Gläubigen in Korinth Stellung bezieht, indem er seinen Rat gibt. Parqe,noi spricht dort sicher von (noch) Unverheirateten bzw. Verlobten, ob Mann oder Frau. 2 Kor 11,2: „Ich habe euch einem Manne verlobt, um euch als reine Jungfrau (parqe,non a`gnh,n) Christus zuzuführen“; offensichtlich übertragener Sinn. Apok 14,4: „… Hundertvierundvierzigtausend, die von der Erde erkauft sind. Das sind die, die sich nicht mit Frauen befleckt haben, denn sie sind parqe,noi = jungfräuliche Menschen“. Wir bemerken, daß das Wort „Jungfrau“ im ganzen NT auffallend selten verwendet ist. Der Einsatz dieses Ausdrucks in Bezug auf Maria begegnet nur im Satz Lk 1,27, und das eindeutig mit dem oben herausgestellten Aussage-Sinn. Daher müssen wir jetzt der Frage nachgehen, warum dieses Wort und seine verschiedenen Zusatz-Bildungen in den zuständigen Kommentaren und in deren Gefolge in den weiter ausholenden Auslegungen und theologischen Aussagen so ungewöhnlich oft und Wesentliches des Bibeltextes aussagen sollend verwendet wird, gleichsam schlechthin notwendigerweise. Einen hinreichend guten Einblick gewinnen wir durch Aussage-Beispiele aus einzelnen Kommentaren. So spricht z. B. P. Gaechter in seinem Mt-Kommentar in dieser Weise mittels „Jungfrau“: Zu 1,22f: „Zunächst ist zu fragen, ob sich Is 7.14 als Zitat hauptsächlich auf die Jungfrau oder auf ihren Sohn bezieht. Mt 1,18–21 ist ohne Zweifel in erster Linie christologisch ausgerichtet. Es geht darum, in Ausdeutung von 1,16 zu zeigen, in welchem Verhältnis Joseph und Jesus zueinander standen. Dazu ist unabweislich, daß Maria genannt wurde … Auf Jesus liegt ganz klar der Hauptton 291

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der Erzählung. Durch die Art, wie er aus der Jungfrau Mensch geworden ist, steht er vor uns, ohne irdischen Vater und weit erhaben über Joseph. Das Zitat aus Is 7,14 wird daher als ein Urteil über Jesus zu verstehen sein. Darum folgt es nicht erst nach v. 25, sondern schon nach v. 21, wo Göttliches in Jesus enthüllt wird … Im Urtext von Is 7,14 steht überhaupt nicht ‚Jungfrau‘, hebr. bethula, sondern ‚alma, dem das griechische nea/nij, entspricht … Aber an keiner Stelle (d. i. des AT), auch nicht in Is 7,14, wird das junge Weib unter dem Gesichtspunkt seiner Jungfrauschaft genannt; die Wiedergabe durch parqe,noj ist zwar materiell richtig, aber formell nicht genau. Damit ist gesagt, daß Isaias selbst in 7.14 nicht explizit an eine Jungfrau gedacht hat. … Erst die unabhängig von Is 7,14 erfolgte jungfräuliche Geburt Jesu ließ rückschauend in der LXX-Form der Prophetie eine Weissagung der Jungfrauengeburt des Messias sehen“ (52–53). Dazu die weitere Erklärung: „Wie das Zitat v. 23 zeigt, hat Matth den ihm übermittelten Bericht dahin aufgefaßt, daß in Jesus Gott selbst zu den Menschen gekommen ist. Für Joseph … bedeutete es eine vorgegebene, unverrückbare Tatsache, daß Jesus ohne Mitwirkung eines Mannes durch unmittelbare Einwirkung Gottes von der Jungfrau empfangen und geboren worden ist. … Tatsache der göttlichen Empfängnis Jesu …“ (54f). Wir halten fest: Nicht aufgrund von Jes 7,14 (mit dem LXXAusdruck parqe,noj) wird von Matthäus Maria als „Jungfrau“ in Mt 1 zu verstehen gegeben, sondern von der Tatsache der erfolgten „jungfräulichen Geburt her“ wurde Jes 7,14 als „Weissagung der Jungfrauengeburt des Messias“ angesehen (auch „Tatsache der göttlichen Empfängnis“). Daher ist zu fragen, wo der Kommentator in MT 1 gerade dieses liest: „jungfräuliche Geburt“ bzw. „göttliche Empfängnis“. Das wird im folgenden Abschnitt zu klären versucht. J. Gnilka sagt in seinem Mt-Kommentar zu Mt 1,23 u. a. dies: „Die christliche Überlieferung erblickt in der Frau (in Jes 7,14) Maria die Jungfrau und bezieht sich dabei auf den LXX-Text, der von einer parqe,noj spricht. Vermutlich hat die LXX noch nicht eine Jungfrauengeburt im Blick … wohl aber ist die parqe,noj als unberührtes, jungfräuliches Mädchen zu interpretieren“ (21). Dann im Exkurs: „Die Zeugung Jesu aus dem Geist und aus der Jungfrau stellt den Schlußpunkt eines christologischen Erkenntnisprozesses dar … Jesu menschliches Sein aus dem Geiste und aus der Jungfrau, wie es in den Vorgeschichten des Mt und Lk erkannt ist … Was aber bedeutet dann das Sein Jesu aus dem Geist und aus der Jungfrau, wenn seine vorausliegende Präexistenz noch nicht mitbedacht ist?“ (31). Die Fragen bleiben unbeantwortet. I. Broer setzt, wohl auf Grund seiner Thematik („Die Bedeutung der ‚Jungfrauengeburt‘ im Matthäusevangelium“, BiLe 12, 1971), verschiedene fragliche Wendungen ein, so „Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria“ (249), „Jungfrauengeburt“ (oft), „dauernde Jungfräulichkeit“ (255) u. a. Dann: „So eindeutig also in unserer Perikope die übernatürliche Erzeugung Jesu aus der Jungfrau Maria vorausgesetzt wird …“ (257); und … die Geburt Jesu aus einer Jungfrau gegen anderslautende Angriffe verteidigen“ (258); dann: „die jungfräuliche Geburt … den Akzent eindeutig auf die Jungfrauenschaft Mariens gesetzt … Verteidigung der jungfräulichen Empfängnis“ (258). 292

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Und: „Erzeugung Jesu aus Heiligem Geist … den Ausdruck Jungfrau … den Gedankenkreis der jungfräulichen Empfängnis … jungfräuliche Geburt“ (259 u. 260). Nie wird erkennbar, warum diese und dann eine andere Formel eingesetzt wird. U. Luck schreibt in seinem Mt-Kommentar zu 1,18–25 u. a.: „Die Geburtsgeschichte muß daher zweierlei miteinander verbinden: Gottessohnschaft als unmittelbare Zeugung durch den Geist Gottes und den Zusammenhang mit der Geschichte. Der Zeugung aus dem Geist Gottes … steht gegenüber die Geburt von Maria, die aber als Jungfrau Mutter wurde ohne Mitwirkung einer irdischen Vaters … daß es Matthäus nicht auf die Geburt aus der Jungfrau in erster Linie ankommt“ (22). Es bleibt offen, wieso „Jungfrau“ in dieser Weise eingesetzt wird. U. Luz bringt den Ausdruck „Jungfrau“ nur einmal in seinen Mt-KommentarText ein. Zu Mt 1,24 heißt es u. a.: „Der gerechte Josef erfüllt die Weissagung von Jes 7,14 auch darin, daß Maria als Jungfrau gebären wird“ (151). Sonst begegnen Formeln wie „Jungfrauensohn (z. B. 137; 148; 149 („der Jungfrauensohn ist Sohn Gottes“) und manche andere. Außer der Feststellung, daß der Ausdruck „Jungfrau“ in den Kommentaren zu Mt 1–2 und Lk 1–2 mehrmals begegnet, manchmal sogar wie ein Maria zukommender Eigenname (sehr oft steht dort, wo eigentlich Maria persönlich gemeint ist, anstelle ihres Namens einfach „die Jungfrau“), kann nur konstatiert werden, daß dieser Usus sich ausgebildet hat, ohne daß seine tatsächliche Bedeutung in einzelnen Fall klar wäre. Im Mt-Text kommt jedenfalls „Jungfrau“ überhaupt nicht vor, außer im Jes-Zitat.

3. ‚alma – parqe,noj – virgo – Jungfrau — Parthenogenesis in den Kommentaren zu Mt 1–2 und Lk 1–2; wichtige Beispiele

In den Kommentaren zu Mt 1–2 und Lk 1–2 wird öfters eingehend die Frage gestellt, wie dort das Wort parqe,noj, zumal es sich dort von Jes 7,14 LXX übernommen zu zeigen scheint, sachlich richtig zu verstehen ist, was ja für die exegetische und theologische Auslegung der entsprechenden Texte von entscheidender Bedeutung ist. Wir bringen dazu zunächst einige Beispiel-Texte aus einigen Kommentaren bzw. einschlägigen Abhandlungen, die das Problem ausdrücklich anschneiden, um dann dazu insgesamt Stellung zu beziehen. J. Schniewind sagt zu Mt 1,22 (mit Jes 71,4) dieses: „Alles Gesagte ergibt die Deutung der Geburt Jesu, wie Mtth. sie in V. 22 und 23 mit dem Spruch Jesaja 7,14 bringt. Im hebräischen Text steht nicht das Wort Jungfrau, sondern der dort gebrauchte Ausdruck kann sowohl die verheiratete wie unverheiratete junge Frau bezeichnen … Und schon in der griechischen Übersetzung des A. T. wird das Wort für junge Frau in Jes 7,14 durch das Wort ‚Jungfrau‘ ersetzt. Wahrscheinlich spricht schon dort eine uralte Menschheits-Hoffnung, die den kommenden Jungfrau293

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ensohn erwartet (Kittel); und wahrscheinlich sind auch andere messianische Stellen (…) schon in ihrem Urtext so gemeint, daß der kommende Messias mehr als menschlichen Ursprungs ist (Gunkel)“ (14). Gaechter sagt in seinem Mt-Kommentar zum Jes-Zitat in 1,22 dieses: „‚Siehe, die Jungfrau wird empfangen ist demnach nicht die Spitze des Zitates, um derentwillen es angeführt wird. Das bedeutet keinen Verlust, weil die jungfräuliche Menschwerdung Jesu in der Perikope ohnehin mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck kommt und nicht vom Zitat aus Is 7,14 abhängt. Im Urtext von Is 7,14 steht überhaupt nicht ‚Jungfrau‘, hebr. bethulla, sondern ‚alma, dem das griechische nea/nij entspricht; so wird ‚alma tatsächlich in der LXX an vier Stellen wiedergegeben. Die etymologische Bedeutung von ‚alma ist ‚junges Weib‘. An fünf von den neun Stellen aber, wo das Wort im A. T. vorkommt, läßt sich mühelos feststellen, das eine Jungfrau gemeint ist … Aber an keiner Stelle, auch nicht in 7,14, wird das junge Weib unter dem Gesichtpunkt seiner Jungfrauschaft genannt; die Wiedergabe durch parqe,noj ist zwar materiell richtig, aber formell nicht genau. Damit ist gesagt, daß Isaias selbst in 7,14 nicht explizite an eine Jungfrau gedacht hat. Auch nach ihm bis ins N. T. hinein hat niemand seine Weissagung so verstanden; das damalige Judentum wußte nichts von einem jungfräulich geborenen Messias. Erst die unabhängig von Is 71,14 erfolgte jungfräuliche Geburt Jesu ließ rückschauend in der LXX-Form der Prophetie eine Weissagung der Jungfrauengeburt des Messias sehen“ (53). P. Fiedler geht in seinem Mt-Kommentar auf Jes 7,14 in 1,23 ausdrücklich ein; u. a. sagt er: „Wir haben es also mit einer spezifisch vom Christusglauben ausgehenden Deutung zu dieser Bibelstelle zu tun. Sie bot sich Mt besonders an, weil er sie als Schriftbeleg dafür verwenden konnte, daß das Christusbekenntnis der geistgewirkten Empfängnis zur Messianität gehörte“ (52; s dort den Kontext). W. Grundmann sagt zu 1,23 u. a. dies: „Zitiert wird Jes 7,14 in einer der Septuaginta nahestehenden Form, allerdings sich darin unterscheidend, daß nicht die Mutter, sondern Gott in der 3. Person Plur. verborgen, dem Kinde den Namen gibt … Die Gottesverheißung ist aus ihrem geschichtlichen Zusammenhang gelöst und eschatologisch-messianisch verstanden. Dazu hilft der Unterschied der Septuaginta: ‚Jungfrau‘ gegenüber dem hebräischen Text: ‚junge Frau‘. Die Septuaginta hat also aus ihrem hellenistischen Lebenskreis heraus das Wort auf die Geburt des göttlichen Retters durch eine Jungfrau gedeutet … der Ton liegt auf dem Messiasnamen Immanuel, der im Unterschied zur Deutung des Jesusnamens wörtlich übersetzt wird“ (70). A. Schlatter bringt bei Gelegenheit der Besprechung von 1,21–23 diese bemerkenswerten Sätze: „Hier, wo für das eigene Wort Jesu noch kein Raum ist, treten die Worte der Propheten ein. Sie sind deshalb wichtig, weil sie zeigen, daß in dem, was sich mit Jesus zutrug, Gottes Wille geschah. … to. r`hqe.n steht neben rm;a/N,v, hm' und wird nicht weniger gebraucht als ge,graptai = bWtK'. … Es war aber nicht ohne Bedeutung, daß die Aufmerksamkeit immer auch auf ‚das Gesprochen-werden‘ gerichtet blieb, das dem ‚Geschrieben-werden‘ vorangeht. Als Bringer des Wortes tritt der Prophet auf, nicht 294

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als Schriftsteller; denn Gottes Gabe an das Volk besteht darin, daß sein Wort zu ihm kommt, durch das sein Handeln zu dem Gott dargebrachten Gehorsam wird. … Das parqe,noj der LXX hat Mat. beibehalten, obwohl ihm der Gedanke, der griechische Text sei den Übersetzern inspiriert worden, fremd geblieben ist … parqe,noj berührt sich aber für ihn enger mit dem Geschehen als ‚alma und war darum nach seinem Urteil deutlicher. Ähnlich verhielt sich Jesus, als er sich auf Ps, 8,3 berief, 21,16. … Der Exeget vollzieht seinem Text gegenüber die Arbeit des Historikers; das heißt, er verdeutlicht sich, was geschah, als Mat. dies erzählte. Daran ist aber nicht zu denken, daß uns Mat. seine eigene Dichtung erzähle, zu der erst ihn dieser prophetische Spruch angeregt habe. Wie alt die Verbindung von Jes 7,14 mit dem Rückblick auf die Geburt Jesu ist, wissen wir schon deshalb nicht, weil wir nicht wissen, wie Jesus selbst Jesaja 7 las. Nur dies ist gewiß, daß Jesus ein göttliches Wort mit der unbedingten Zustimmung gelesen hat, die er als die schaffende Kraft bejaht. Nur bei der Auslegung des griechischen Jesaja hat die Erwägung Grund, ob der in Ägypten lebende Rabbiner des dritten Jahrhunderts, der hier parqe,noj einsetzte, einer Spekulation folgte, die als Mythos, etwa den aivw,n oder Legenden über von Göttern erzeugte Könige mit der jesajanischen Verheißung kombinierte. Bei der Deutung des Mat. haben solche Erwägungen keinen Raum; denn von Reflexionen auf das, was jenseits des Judentums von Mythos und Religion vorhanden war, zeigt sein Bericht nicht die geringste Spur“ (21 und 22). A. Vögtle verwendet den Ausdruck „Parthenogenesis“ in seinem Artikel „Offene Fragen zur lukanischen Geburts- und Kindheitsgeschichte“ (aus A. Vögtle, Das Evangelium und die Evangelien. Beiträge …“, 1971) öfter. So heißt es z. B.: „Es ist nicht zu bezweifeln, daß die beiden Großevangelisten unabhängig voneinander die Aussage der geistgewirkten Empfängnis Jesu der Überlieferung entnahmen“ (44). Dazu dann: „… für die Übersetzung von Is 7,14 … ‚alma aufgrund einer spiritualisierten Vorstellung von der Zeugung eines Sohnes durch einen Gott absichtlich mit parqe,noj (als Titel der Mutter des göttlichen Kindes) wiedergab. Wenn das zuträfe, wäre eine direkte Ableitung der Parthenogenesis aus Is 7,14 LXX schon deshalb denkbar unwahrscheinlich, weil das hellenistische Judentum so wenig wie das palästinensische de facto die Erwartung einer wunderbaren, gar geistgewirkten Empfängnis des Messias jedenfalls nicht kannte … Insofern verdient H. Schürmann … volle Zustimmung: ‚Da … Is 7,14 im zeitgenössischen Judentum nicht messianisch verstanden worden zu sein scheint, ist die Annahme, ein erzähltes Faktum erst habe urchristlichen Kreisen Is 7,14 LXX verständlich gemacht, an sich nicht unwahrscheinlicher als die gegenteilige, die christliche Meditation und der Schriftbeweis aus Is 7,14 LXX hätten das Faktum erzeugt‘ (60f.): ‚an sich nicht unwahrscheinlicher‘ – ja (obgleich das biologische Faktum der Parthenogenesis und eine spätere Erzeugung dieses Gedankens sehr unterschiedliche „Wunder“ wären, die sich unter dem Gesichtspunkt der Wahrscheinlichmachung nur schwer vergleichen lassen)“ (45–46). In dieser Weise wird weiter diskutiert, wobei die Formeln „geistgewirkte Empfängnis“, „jungfräuliche 295

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Empfängnis“ und „Parthenogenesis“ als sachlich dasselbe aussagend angesehen und wechselseitig verwendet werden (vgl. dazu 48; 49; 51 (mit Anm. 38); 52). Wir erkennen: „Parthenogenesis“ wird stets als Fachwort wie als Stichwort gebraucht, synonym mit „geistgewirkte bzw. jungfräuliche Empfängnis“. Diese selbst wird als „vaterlose Lebensentstehung“ begriffen, welche „Tatsache“ aus dem faktischen Text Lk 1 (wie auch Mt 1) herrührend und begründend gilt. Dem werden wir noch intensiv nachzugehen haben. H. Räisänen verwendet diesen fragwürdigen Ausdruck in seinem Buch „Die Mutter Jesu im Neuen Testament“ oft; aus der jeweiligen Stelle ist erkennbar, was er genau damit meint – oder auch offenläßt. So zu Gal 4,4 diese bezeichnenden Aussagen: „Es ist offenkundig, daß Paulus den Gedanken der jungfräulichen Empfängnis nicht gekannt hat. Wenn man nämlich bedenkt, wie viele und mannigfaltige christologische Formeln und Aussagen die Briefe des Apostels enthalten, kann man das Fehlen des Parthenogenesis-Gedankens kaum für einen Zufall halten. Paulus hätte etwa innerhalb der Allegorie Gal 4,21–31 gute Gelegenheit gehabt, eine Anspielung auf den geisterzeugten Sohn Gottes als Haupt der Christen einzuschalten“ (21; hier wird offensichtlich „Parthenogenesis“, „jungfräuliche Empfängnis“ und „geisterzeugter Gottessohn“ synonym verstanden). Dann: „… Unklarheiten hinsichtlich der jungfräulichen Empfängnis … Was Markus betrifft, so scheint er nicht einmal von einer Jungfrauschaft der Maria ante partum gewußt zu haben. … Die Anfänge des Lebens Jesu … Als Gegenstück zur Parthenogenesis scheint er auch die Präexistenz nicht vorauszusetzen“ (49). Dann: „Die eigene Auffassung des Matthäus tritt deutlich hervor im folgenden Abschnitt 1,18–25, in dem er die jungfräuliche Empfängnis als bekannt hinstellt (wo tut das Matthäus dort? R. S.). Welche Lesart auch ursprünglich ist, die Genealogie enthält den Gedanken der Parthenogenesis wenigstens implicite. Aber darin besteht das Problem des Matthäus …“ (56). Ähnliches sodann S. 72. Zu Lk 1 u. a.: „Es ist aber sehr wohl möglich, daß der Sohnestitel hier nur eine nähere Bestimmung des Attributes ‚heilig‘ ist; er braucht keineswegs auf eine substantielle Wesenheit zwischen Vater und Sohn als Folge (!) der Parthenogensis zu verweisen“ (144; dazu auch 148). Einige Beispiele der Verwendung von „Parthenogenesis“ in jüngsten Veröffentlichungen Fr. Zinniker bringt in seinem Buch „Probleme der sogenannten Kindheitsgeschichte bei Matthäus“ gleichsam eine Definition für das, was in diesen Fragestellungen mit „Parthenogensis“ (oft auch „Parthenogenese“) angesprochen sei soll: Im Exkurs 1 „Ist Mt 1,18–25 ein christologischer Midrasch?“ beginnt er mit diesem bezeichnenden Satz: „Die Perikope Mt 1,18–25 steht als biblischer Text im Feuer einer heißen Diskussion. Es geht um das Thema ‚Jungfrauengeburt‘, d. h. um die Frage: Empfängnis Jesu ohne menschlichen Samen, also eine von göttlicher Kraft gewirkte Parthenogenesis – ein biologisches Wunder. Er ist klar, daß es sich hierbei, wenn auch nicht um die Kernfrage, so doch um ein gewichtiges Problem der Christologie handelt“ (96). 296

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Dazu noch dieser eine Satz im dort Folgenden: „Bei Matthäus 1,18–25 geht es um etwas Einmaliges und völlig Neues, um eine wunderbare Empfängnis, eine Empfängnis ohne irdischen Vater. Mit Recht schreibt hier Pesch: ‚Die jungfräuliche Empfängnis hat keine Vorstufe in der haggadischen Mosesliteratur …‘“ (99). Es ist offenkundig, was wir einleitend festgestellt haben. V. Stümke macht bemerkenswerte Aussagen in seinem Artikel „Die Jungfrauengeburt als Geheimnis des Glaubens – ethische Anmerkungen“ (NZSThR 49, 2007, 423- 444), die insgesamt zu beachten sind. Hier zitieren wir einige Sätze, die zu „Parthenogenesis“ sprechen. So heißt es im Abschnitt I. „Die Grundlagen“: „Ich folge dem unpräziseren Sprachgebrauch und verwende den Begriff Jungfrauengeburt gleichbedeutend mit der exakteren Bezeichnung Parthenogenese … Doch zuvor muß noch eine zweite Begriffsklärung festgehalten werden: Die Rede von der Jungfrau Maria enthält eine durchaus intime Aussage über einen eindeutigen biologischen Sachverhalt, nämlich daß die Mutter Jesu bis zur Geburt ihres Sohnes unberührt war. Und diese Aussage beansprucht eindeutig Historizität – darin besteht eine klare Parallelität zur Ostergeschichte vom leeren Grab Jesu. Würde man von der gynäkologischen Pointe komplett absehen, hätte der Glaubenssatz ‚geboren von der Jungfrau Maria‘ keine erkennbare Extension mehr …“ (424; s. auch die dort folgenden Angaben!). Dann: „Die lukanische Intention bei seiner Rede von einer Parthenogenese (wo spricht Lukas davon?) kann man mit Wilfried Eckey als ‚narrative Empfängnis-Christologie‘ bezeichnen …“ (425f; vgl. 430). Dann: „Maßgeblich für Barths Interpretation des ‚natus ex Maria virgine‘ ist die Unterscheidung zwischen dem Geheimnis der Inkarnation und dem Wunder der Parthenogenese als der Form oder dem Zeichen, in dem dieses Geheimnis Gestalt annimmt“ (431). Die weiteren im genannten Artikel Überlegungen verwenden stets „Jungfrauengeburt“ als das Haupt-Wort. W. Beinert spricht in seinem Buch „Heute von Maria reden? Kleine Einführung in die Mariologie“ (1973) im Abschnitt „VIII. ‚Geboren von der Jungfrau Maria‘“ von der „Geburt Jesu von einer Jungfrau und damit die Jungfräulichkeit seiner Mutter“ als umstritten an; dazu dann: „Von naturwissenschaftlicher Seite wird geltend gemacht, daß bei höheren Lebewesen eine Parthenogenese ausgeschlossen ist. Es handelt sich beim christlichen Glauben um eine Wundererzählung, die naturwissenschaftlich nicht belegt werden kann. … Aus der Exegese der neutestamentlichen Berichte selbst ergeben sich schwerwiegende Fragen. Ein so einschneidendes Ereignis wie die Geburt von einer Jungfrau wird nur an zwei Stellen berichtet … bei den nämlichen Evangelisten, die die Jungfrauengeburt kennen …“ (88ff; vgl. die weiteren Aussagen 103–106). K.-H. Menke gebraucht den Ausdruck „Parthenogenesis“ oft, offensichtlich anstelle von „Junfrauengeburt“ bzw. synonym auch mit „jungfräuliche Empfängnis“ (er benutzt auffallend die griechische Wendung „Parthenogenesis“). Beispiele für dieses Sprechen: „… um die Beantwortung der folgenden Fragen: a) …; b) War der historische Jesus so als der Christus erkennbar, daß die spätere Reflexion – im Lichte 297

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‚der Schrift‘ (der Hebräischen Bibel!) – von einem notwendigen Zusammenhang der Präexistenz des Erlösers mit seiner Parthenogenesis sprechen kann? c) Rechtfertigt eine Zusammenschau der alttestamentlichen Aussagen mit der neutestamentlich bezeugten Empfängnis ‚durch den Heiligen Geist‘ die Bezeichnung der Präexistenz des Erlösers als Sachgrund der Parthenogenesis? (19). Dann: „Einmal abgesehen davon, daß es an semantischen Betrug grenzt, wenn Exegeten den aus den Systematischen Theologie stammenden Begriff ‚Theolegumenon‘ in einer gänzlich anderen Weise als die Dogmatiker verwenden, beruht die nicht nur von Schürmann und Vögtle konstruierte Alternative ‚entweder auf historischer Überlieferung beruhenden Deutung‘ oder ‚Deutung ohne Faktum‘ auf der mangelnden Unterscheidung zwischen Sachund Erkenntnisgrund der Parthenogenesis des Erlösers. Denn es ist etwas völlig anderes, – ob ich sage, die Bezeichnung der Menschwerdung des Sohnes Gottes als parthenogenetisch impliziere das an und für sich (prinzipiell) verifizierbare Faktum des Nichtgezeugtseins durch Josef oder einen anderen Mann, – oder ob ich sage, die Bezeichnung der Menschwerdung des Sohnes als parthenogenetisch setze eine historisch zuverlässige Bezeugung des Nichtgezeugtseins Jesu durch Josef oder einen anderen Mann voraus“ (66f; wir brauchen hier nicht auf die weitere Argumentation einzugehen; wir bemerken nur die eigenartige Verwendungsweise von „Parthenogenesis“). Dann wieder sehr aufschlußreich: „Bei den frühen Vätern … ist die Behauptung der Parthenogenesis das nicht nur gegen den Adoptianismus, sondern auch gegen den Doketismus gerichtete Zentralargument … der Sohn Gottes selbst ist Mensch geworden. Seine Selbst-Mitteilung erfolgt nicht an einen schon vorhandenen Menschen; nein, diese seine Selbst-Mitteilung ist Konstitutivum der Menschwerdung als solcher. Anders gesagt: Die Parthenogenesis ist der biologische Ausdruck der nicht nur indirekten (instrumentellen), sondern direkten Fleischwerdung … Warum kann der Erkenntnisgrund nicht verschieden sein vom Sachgrund der faktischen Parthenogenesis Jesu Christi?“ (68f; s. auch 70, dort synonym mit „jungfräulicher Empfängnis“); 71 und 72; 76. Dann folgt bei Menke der Unterabschnitt „Inkarnations-Christologie und Parthenogenesis“ (95–104) mit entsprechendem Gebrauch des fraglichen Begriffs, dann der Unterabschnitt „Der präexistente Sohn (Messias) und die Parthenogenesis“ (104f) und „Geist-Christologie und Parthenogenesis“ (105–111). Diese Überschriften sprechen schon für sich; wir werden auf alles später noch zurückkommen müssen. Hier sei auf „Parthenogenese“ im Artikel LThK „Jungfrauengeburt“ aufmerksam gemacht, wo der Autor in der Begriffserklärung für „Jungfrauengeburt“ zuerst auf diesen Ausdruck als Begriff zu sprechen kommt, in einer ungemein befremdenden Weise. Wir zitieren zunächst diese einleitenden Erklärungen zum Begriff „Jungfrauengeburt“, die Erstaunliches sagen: „Jungfrauengeburt. Dem Begriff nach bedeutet J. die Befruchtung einer weibl. Eizelle ohne männl. Samenzelle (Parthenogenesis). Eine bei Planzen u. einigen Tieren biologisch mögl. ungeschlechtliche Fertilisation ist beim Menschen ohne Substitution der materiellen Zeugungsbedingungen (Chromo298

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somen, Gene) bislang niemals beobachtet worden u. gilt gemeinhin als undenkbar. In der chr. Theologie ist J. die Kurz-Bez. für das im Glauben bekannte singuläre Ereignis der Menschwerdung des ewigen Sohnes Gottes: Jesus Christus ist als Mensch empfangen v. Hl. Geist, ohne männl. Samen, ‚sine virili semine‘, geboren v. der Jungfrau Maria (vgl. DH 10 44 62 …).“ Bezeichnend ist auch, daß im ganzen weiteren Verlauf der Aussagen des Artikels sowohl „Jungfrauengeburt“ wie auch „Parthenogenesis“ kein einziges Mal vorkommen! Die hier vorgelegte Begriffserklärung für „Jungfrauengeburt“ ist in vielem ärgerniserregend. Zunächst weil das, was, wie es heißt, „in der christlichen Theologie so bezeichnete singuläre Ereignis der Menschwerdung des ewigen Sohne Gottes“ überhaupt als Kurzbezeichnung damit als ausgesprochen behauptet wird; denn „Jungfrauengeburt“ ist, wie wir an den Kommentar-Beispielen hinreichend deutlich erkannt haben, das denkbar unsinnigste Wort dafür und zudem auf keine biblische Bekundung anwendbar. Daß aber in einem theologischen Lexikon zur Begriffserklärung zuerst auf eine biologische Feststellung zurückgegriffen wird, und das durch eine ungenaue bzw. sogar falsche Erklärung eines biologischen Phänomens, ist unerträglich. Ein einfacher Blick in ein Konversationslexikon genügt, um das bestätigt zu sehen. Tatsächlich wird die Sache nämlich gängig „Jungfernzeugung“ genannt, in Klammern manchmal auch als „Parthenogenese“ bezeichnet. Das aber ist in Wirklichkeit eine mehrerer Arten von natürlicher Fortpflanzung (Vermehrung) von Lebewesen, diese in naturwissenschaftlich-biologischer Weise betrachtet und beschrieben. Schon der Ausdruck „Jungfernzeugung“ ist sinnlos und mißverständlich. Denn was meint in der Biologie: „Jungfrau“? Auch „Zeugung“. ist für das Gemeinte kein gültiges Wort. (Daß in den Naturwissenschaften recht oft sehr beliebig gebildete Fachausdrücke eingesetzt werden, ist ein bekanntes, allerdings auch erstaunliches Faktum. Man denke nur an „Urknall“, „Geburt einer Galaxie“ oder „Eizelle“ für den sog. weiblichen Gamet, der ja weder „Ei“ noch „Zelle“ (da nur haploid) ist, und manche andere.) Außerdem ist darauf zu verweisen, daß die Arten der Fortpflanzung bei den Lebewesen ganz natürliche, alltägliche „Geschehen“ sind. Daß nun ausgerechnet ein solcher naturwissenschaftlicher (unglücklicher) Begriff für das „singuläre Ereignis der Menschwerdung des Gottessohnes“ eingesetzt sei, ist als Lexikon-Auskunft absurd. Wir brauchen dem hier nicht weiter nachzugehen, noch weniger uns an solcher Sprechweise zu beteiligen.

4. Jungfräulichkeit / Jungfrauschaft

Das Wort parqeni,a – Jungfrauschaft/Jungfräulichkeit begegnet im ganzen NT nur ein einziges Mal: Lk 2,36 in Bezug auf die Prophetin Anna, die Witwe war. Zu ihrer Lebensgeschichte wird gesagt: zh,sasa meta. avndro.j e;th e`pta. avpo. th/j parqeni,aj auvth/j – sieben Jahre hatte sie zusammengelebt mit (ihrem) Mann von ihrer Jungfrauschaft ab 299

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(gerechnet) (Übersetzung Schürmann). Im dortigen Zusammenhang ist es eindeutig, was mit „Jungfrauschaft“ ausgesagt ist: ihr Lebenszustand (um es ganz offenlassend zu formulieren) vor ihrem Ehestand. Dieser war im damaligen israelitisch-jüdischen Raum eindeutig klar: der Lebensstand der (noch) nicht-verheirateten jungen Frau (damals ca. 12–15 Jährige). Im jeweiligen (alt.) Zusammenhang können dazu nähere Bestimmungen angefügt sein; das Noch-Nicht ist dabei keine negative Bestimmung; sie meint einfach das junge Mädchen, wenn nichts Näheres dazu gesagt wird. Eine Aussage über die ethisch-„moralische“ Haltung dieser jungen Frau ist nicht notwendig impliziert, wenn es auch im bestimmten Kontext doch erkennbar mitausgesprochen sein kann. – Bei diesem biblisch-sprachlichen Befund stellt sich im Blick auf die Aussagen der Kommentare die Frage, warum und wozu das Wort „Jungfrauschaft/ Jungfräulichkeit“ in Bezug auf Maria derart häufig verwendet wird, obwohl der ntl. Text selbst es nie einsetzt (Lk 2,36 ist klar verstehbare Ausnahme). Es muß an den Kommentar-Aussagen, die „Jungfräulichkeit“ gebrauchen, zu erkennen versucht werden, für welche ntl. Text-Aussage dieses text-fremde Wort verwendet wird. Wir geben dazu im folgenden nach Einsichtnahme in viele (!) Kommentare bzw. in den Text besprechende theologischen Werke diese Auskunft, indem wir die KommentarTexte selbst sprechen lassen; wir ordnen die Beispiele soweit sie es zulassen. Es kommen verständlicherweise vor allem Texte zu Mt 1–2 und Lk 1–2 in Frage. „Jungfräuchlichkeit/Jungfrauschaft“ wird oft einfach und alleinstehend eingesetzt: Suhl bespricht für Mt 1,18–25 u. a. die Vermutung einer Vorlage für Matthäus und sagt: „Die Vorlage erzählte ursprünglich nämlich nur von der Zeugung durch den Geist. Dabei spielte die Jungfräulichkeit noch keine besondere Rolle … Die Jungfräulichkeit der Maria ist hier lediglich implizit als biologische Tatsache vorausgesetzt und dem Motiv ‚Zeugung durch den Geist‘ untergeordnet. Erst Matthäus greift diese Implikation seiner Vorlage auf und erhebt sie als Erfüllung einer Weissagung zu einem selbstständigen theologischen Motiv, das nun neben dem der Zeugung durch den Geist steht“ (68f). ––– Bovon (Lk-Kommentar) sagt zu 1,35 u. a.: „V 35 fügt der Aussage des Engels vor dem beweisenden Zeichen (VV 36–37) eine Antwort auf Marias ‚wie?‘ hinzu … auf ihre Jungfräulichkeit … die Jungfräulichkeit der Maria ist also innerhalb der Legende unentbehrlich … das Motiv von der Jungfrauengeburt …“ (64 u. 65). Dann: „Die Frage der Herkunft der Motive … dort wird sie mit Jes 7,14 LXX in Verbindung gebracht, auch gehören Jungfräulichkeit und Vaterschaft Gottes zusammen“ (66). Und zu 1,27: „Bei parthenos denken die Tradenten sicher an Jungfräulichkeit … vielleicht zu einer Reformbewegung und waren an der Jungfräulichkeit Marias als solcher interessiert … bei Jes an eine Jungfrau als Mutter des Messias gedacht … Zustand der Jungfrau Maria“ (72; dazu noch 76). ––– Räisänen („Die Mutter Jesu …“)  sagt am ggb. Ort: „Die Vorstellung von der jungfräulichen Empfängnis kann nicht aus der Reflexion über Jes 7,14 hergeleitet werden … Matthäus betont die Jungfrauschaft der Maria jedoch ausschließlich im Zusammenhang mit der Geburt des Kindes. Die Bedeutung dieser Jungfrauschaft besteht darin, daß das Wort Gottes 300

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sich erfüllt. Nach der Geburt heißt Maria mh,thr … Matthäus ist an der Jungfrauschaft Marias nur insofern interessiert, als er zeigen kann, daß sie Teil des göttlichen Planes gewesen ist. Christus mußte eben auf diese Weise geboren werden; das Interesse konzentriert sich auf das Kind“ (72). Dann zu Lk 1: „Lukas hat aus seinen Quellen die Vorstellung von der jungfräulichen Empfängnis übernommen. Er betont, daß Maria eine Jungfrau ist (1,27), die ‚von keinem Manne weiß‘ (1,34) (diese Verse sagen, wie wir schon gesehen haben, anderes aus). Die Jungfrauschaft der Maria ist eng mit der Christologie verknüpft. Der Evangelist interessiert sich jedoch nicht für das biologische Wunder als solches … Von einen theologischen Wert der Jungfräulichkeit ist keine Rede“ (97; der Text ist dringend zu diskutieren; s. dazu später). Dazu noch: „Die Jungfrauschaft der Maria aber ist verstanden im Sinne einer schöpferischen Wundertat Gottes. Die jungfräuliche Empfängnis bleibt in der Christologie des Lukas ganz im Hintergrund“ (197f; s. dort den ganzen Text des „Rückblicks“ 195–198). Wir bemerken, daß mit „Jungfrauschaft“ stets ein anderes angesprochen wird und deswegen nicht bestimmt ist, was jeweils genau gemeint ist. W. Knörzer („Wir haben seinen Stern gesehen“) sagt im gegebenen Kontext u. a.: „Jungfräulichkeit ist nicht aus dem Judentum herzuleiten … Jungfräulichkeit ist erst eine gültige Lebensform seit Christus. Als Maria Mutter des Erlösers wurde, bejahte sie die bleibende Jungfräulichkeit, wie auch Josef auf das Christusgeschehen hin jungfräulich lebte. Erst ‚die Stunde der Empfängnis Christi ist die Geburtsstunde der christlichen Jungfräulichkeit‘ (Guardini 91f); daß das alles Auslegung von vielleicht implizit Ausgesprochenem ist, muß klar bleiben). „Jungfräulichkeit“ im Zusammenhang mit „Jungfrauengeburt“: In seinem „Exkurs: Jungfrauengeburt“ findet sich im betreffenden Kontext: „Anders gewendet, bedeutet dies, daß der Mensch, den Gott beansprucht, sich ihm gänzlich zur Verfügung stellen muß. Dies ist wichtig für die rechte Einstufung der Jungfräulichkeit Marias, unabhängig davon, ob die Jungfrauengeburt Jesu biologisch verstanden werden muß oder nicht. Das Interesse sowohl des Apostels als auch Philos liegt also nicht auf den Vorstellungen von Geisterzeugtheit und Jungfrauengeburt eines Menschen …“ (J. Gnilka, 26). Von „bleibender (dauernder, ewiger) Jungfräulichkeit“ wird öfters gesprochen. So bei U. Luz zu Mt 1,24f u. a.: „Ein zweiter Punkt in der Auslegungsgeschichte berührt vor allem die katholische Exegese: Mt 1,25 spielt bis heute in der Diskussion über die bleibende Jungfräulichkeit Marias auch nach der Geburt Jesu eine Rolle … Die Diskussion darüber wurde bereits in der Alten Kirche sehr heftig geführt, wo die bleibende Jungfräulichkeit Marias … verworfen wurde“ (52f). W. Grundmann sagt in seinem Mt-Kommentar zu Mt 1,18–25 im Kontext u. a.: „An eine dauernde Jungfrauenschaft Marias denkt Matthäus, der 13,55 von Brüdern Jesu redet, nicht. Getreu dem göttlichen Befehl, gibt Joseph dem Kinde den ihm von Gott bestimmten Namen“ (71). 301

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M. Krämer verwendet den Ausdruck „Jungfräulichkeit“ einige Male; sonst redet er vor allem von „jungfräulicher Empfängnis“ und „jungfräulicher Geburt“. „Jungfräulichkeit“ zu Mt 1 insgesamt im dortigen Kontext: „… die sonst allgemein anerkannte These, Mt wolle mit der Erzählung von Josefs Lage angesichts der jungfräulichen Mutterschaft Marias die Jungfräulichkeit der Geburt Jesu verteidigen, zu erschüttern …“ (2). Dann wieder „Jungfräulichkeit der Geburt Jesu … im Rahmen der Eingliederung Jesu in das Haus Davids“ (10). Zu Mt 1,24f u. a.: „… Beides, die Geburt eines Sohnes und die Jungfräulichkeit seiner Mutter, ist das Ausgesagte“ (21). Dann nochmals: „Jungfräulichkeit der Geburt Jesu‘ (34). Dann: „… könnte die traditionelle Beweisführung dafür, daß Mt zur Jungfräulichkeit der Ehe (!) Josefs mit Maria hier … wirksam angewendet werden“ (37). W. D. Davies (The Gospel according to Saint Matthew”) schreibt zu Mt 1,22–25 im dortigen Kontext: „The location of 1,22–3 is a bit awkward … the position of the citation would seem to indicate that Matthew is as interested in Joseph‘ naming of Jesus as he is in Mary’s virginity“ (213); und dazu: „At the same time, had Matthew held to Mary’s perpetual virginity …“ (219). P. Gaechter sagt in der Diskussion des rechten Verständnisses von Jes 7,14 in Mt 1,18–25 u. a. dies: „Aber an keiner Stelle (d. i. der beigezogenen alt. Texte), auch nicht in Is 7,14 wird das junge Weib unter dem Gesichtspunkt seiner Jungfrauschaft genannt“ (53). R. Schnackenburg: Zu Mt 1,24f im Kontext: „Es ist ein prophetisch-vorhergesagtes, tiefsinnvolles Geschehen, das die jungfräuliche Empfängnis einschließt und im Zusammenhang mit der Erlösung steht. Die letzten beiden Verse (24f) erzählen die Heimführung und Josefs Achtung ihrer Jungfräulichkeit und die Namengebung“ (19). J. Ernst spricht in seinem Lk-Kommentar zu 1,26–38 u. a. vom Motiv der Jungfräulichkeit („Motiv“ literarisch verstanden); so zu 1,27: „Das Jungfräulichkeitsmotiv steht am Anfang der Erzählung zwar in gehobener Position, für eine direkte Herleitung von Jes 7,14 (LXX) besteht jedoch kein Anlaß“ (59; dazu auch S. 60f). Motiv der Jungfräulichkeit auch bei Suhl; s. o. das Zitat. „Jungfräulichkeit“ – keinen ehelichen Umgang: Dazu finden sich Äußerungen bei A. Vögtle im Artikel „Mt 1,25 und die virginitas B. M. Virginis post partum“ (ThQu 147,1967, 28–39): „Denn dieses Beweisziel verlangte auch dann die spezielle und ausdrückliche Feststellung, daß während der ganzen Zeit bis zur Geburt Jesu kein ehelicher Umgang stattfand, wenn der Evangelist seinerseits die jungfräuliche Lebensweise Josephs und Mariens auch für die Zeit nach der Geburt Jesu voraussetzt“ (38, Anm. 21). Ähnlich auch im Artikel „Die Genealogie Mt 1,2–16 und die matthäische Kindheitsgeschichte“ (BZ NF 8, 1964, 45–58; 239–262; BZ 9, 1965, 32–49): „Mit der Feststellung, Joseph habe die beiden Anweisungen (Heimführung und Namengebung) ausgeführt, verbindet der Evangelist die Bemerkung, dieser habe bis zur Geburt eines Sohnes keinen ehelichen Umgang gepflogen (2,24f.; gemeint ist sicher 1,24f). Diese ausdrückliche Bemerkung ist verständlich“ (246, Anm. 66). – Im Un302

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terabschnitt „Virginitas in partu“ (in „Dogmatische Bemerkungen zur Jungfrauengeburt“, 1970) argumentiert K. Rahner im dortigen Kontext: „2. Es geht wohl doch nicht, wenn Mitterer, und wie mir scheint, z. B. auch Ott, den Inhalt der virginitas in partu auf eine – wie Mitterer sagt – ‚geschlechtsaktive Jungfrauenschaft‘ und auf eine ‚samenaktive Jungfrauenschaft‘ zurückführt; denn das ist – deutsch und einfacher gesagt – eben das, was die virginitas ante partum, die jungfräuliche Empfängnis Jesu durch Maria, beinhaltet. Wenn wir die virginitas in partu einfach darauf reduzieren, dann haben wir, im Grunde genommen, diese Lehre abgelehnt, wenn vielleicht auch mit sehr höflichen Worten. … Dabei ist es dann letztlich gleichgültig, ob für das, was man sagen wollte, der Begriff Jungfräulichkeit und der Jungfrauschaft sehr geeignet ist oder nicht“ (151f). ––– Es seien noch folgende Beispiele gebracht, die alle Bedeutsames zur Sprache bringen (was nicht in allem akzeptabel ist!). So schreibt J. Michl in seinem Beitrag „Die Jungfrauengeburt im Neuen Testamen“ (in „Jungfrauengeburt gestern und heue“, 1969) im Unterabschnitt „Im Matthäusevangelium“ folgendes: „Nicht anders steht es mit der griechischen Wiedergabe für ‚alma in der Septuaginta; hier wird das Wort parqe,noj gewählt, das von seiner Verwendung in den neutestamentlichen Kindheits- geschichten her an eine Jungfrau denken läßt, die unter Wahrung ihrer Jungfrauschaft wunderbar empfängt. Aber für die griechisch sprechende Welt war parthenos allgemein eine junge Frau; wenn von einer parthenos Schwangerschaft und Geburt ausgesagt wurde, so mußte damit keineswegs ein Vorgang gemeint sein, wie Matthäus ihn im Auge hat“ (151f). ––– F. Bovon spricht in seinem Lk-Kommentar gelegentlich von „Jungfräulichkeit“. So im Text zu 1,27 u. a.: „Die zukünftige Mutter ist als parthenos vorgestellt, und Maria selbst bestätigt diesen Tatbestand. Im folgenden wird verschiedentlich von der Schwangerschaft der Maria und von der Geburt Jesu gesprochen, aber nie vom Ende ihrer Jungfräulichkeit … Neben das Motiv der Jungfräulichkeit tritt also das der Vaterschaft Gottes …“ (65; zuvor schon 64; dann nochmals 66). Dann: „Einzelne Kirchenväter haben unter dem Druck des Ideals der Jungfräulichkeit geschlossen, Maria habe das Gelübde abgelegt, nie einen Mann zu ‚erkennen‘ (dauernder Wert des Präsens)“ (76; zuvor noch 72). ––– L. Scheffczyk bringt in seinem Büchlein „Maria im Glauben der Kirche“, 1980) einiges in Bezug auf das Geheimnis der Jungfräulichkeit. „Die Gottesmutterschaft Marias ist für das Mariengeheimnis grundlegend und fundamental … (sie ist) seit den Ursprüngen ergänzt und verbunden mit der Anerkennung der Jungfräulichkeit Mariens. Ja, im Vergleich mit dem ausdrücklich geprägten Titel ‚Gottesmutter‘ ist die Kennzeichnung Marias als Jungfrau die ältere und ursprünglichere. Schon die heilsgeschichtliche Uridee der Eva-Maria-Parallele sagt ja von Maria die Jungfräulichkeit aus. Dabei ist das Besondere, Geheimnishafte dieser Jungfräulichkeit natürlich in der Verbindung mit ihrer Mutterschaft gelegen … Die Bedeutung der Jungfräulichkeit für das Entstehen und Bestehen des Mariengeheimnisses kann nicht hoch genau veranschlagt werden. Tiefer gesehen, wäre es ohne die Jungfräulichkeit der Mutter Jesu gar nicht zur Ausbildung eines eigenen und besonderen Mariengeheimnisses gekommen; denn 303

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wenn Maria – was als rein-theoretische Möglichkeit nicht auszuschließen wäre – den göttlichen Erlöser auf rein natürlichem Wege empfangen hätte, wäre Christus der Sohn von menschlichen Eltern … Natürlich kommt diese Bedeutung nur dann zustande, wenn man die Jungfräulichkeit auch im natürlich-leibhaften Sinn (der Ausdruck ‚biologisch‘ wird in diesem Zusammenhang oft schon mit einem negativen Unterton gebraucht) versteht … Immer ist hier die Jungfräulichkeit im vollendeten und formellen Sinne gemeint. Sie schließt in sich die stete jungfräuliche und gläubige Gesinnung und die leibliche Unversehrtheit ein. Das kirchliche Dogma handelt von beiden, von der leiblichen physischen Jungfräulichkeit und von der Hingabe im Glauben …“ (18f; dazu s. den weiteren Textverlauf). Trotz dieser Angaben wird auch hier nicht sichtbar, was genau mit „Jungfräulichkeit“ angesprochen sein soll.

5. Das Adjektiv „jungfräulich“ und die mit ihm gebildeten Formulierungen

Das Adjektiv „jungfräulich“ kommt im ganzen NT nicht ein einziges Mal vor. Trotzdem begegnet es ungemein oft in den Kommentaren, besonders zu Mt 1–2 und Lk 1–2. Es wir dort wie selbverständlich gebraucht, um den ersten Aussage-Gehalt des jeweiligen Textes herauszustellen. Daher steht zur Frage, was genau dieses Adjektiv dort besagt bzw. besagen soll, wenn es zur Auslegung der Aussage-Inhalte von Mt 1–2 und Lk 1–2 eingesetzt wird, gar für das, was Matthäus und Lukas selbst ausdrücklich und betont vorgebracht haben und dementsprechend zu verstehen geben wollten. Schaut man auf die entsprechenden Kommentar-Passagen, so ist dieses festzustellen: Für Mt 1,16.18.23.25 meint man erkennen zu müssen, daß Matthäus in diesen Versen ausdrücklich aussagt, Josef sei nicht der „leibliche Vater“ Jesu. Jesus sei, so sage es der Text, „ohne Zutun eines menschlichen Vaters empfangen worden“, was auch als „vaterlos empfangen“ formuliert wird; Maria sei, weil sie Jesus geboren hat, seine „leibliche Mutter“. Sie habe Jesus, weil „ohne Zutun eines Mannes“, „jungfräulich empfangen“ (vgl. dazu unsere ausführliche Besprechung des Textes Mt 1 im obigen Kapitel II „Die ntl. Haupttexte zur Herkunft Jesu Christi“). Jesus sei, so wird formuliert, „vaterlos empfangen“ und daher auch „vaterlos geboren“ worden. Beide Feststellungen, so heißt es, sprächen somit ausdrücklich von „jungfräulicher Empfängnis und Geburt Jesu“. Wir bermerken: Was im Mt-Text selbst nicht ausgesagt ist, wird als „ausdrücklich hervorgehoben“ angesehen und als Aussage-Inhalt benannt. Und was dieses Nicht-Dastehende auf diese Weise betont ansagen soll, wird wieder selbst negativ bestimmt: „ohne Zutun eines Mannes und „vaterlos“. Genau das soll deutlich aussagen, was „jungfräulich“ hier als Sach-Bestimmung ausspricht! Die Aussage-Bedeutung dieses Adjektivs „jungfräulich“ wird also offensichtlich nur mit negativen Bestimmungen in seinem wesentlichen Bedeutungsinhalt erklärt. Irgendeine positive, affirmative Bestimmung sucht man vergeblich. Nicht anders als für Mt 1 304

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ist die Argumentation in den entsprechenden Kommentaren zu Lk 1–2. So liest z. B. H. Schürmann aus Lk 1,27 dieses heraus (besser: hinein): „Maria wird ohne ehelichen Verkehr, eben als Jungfrau, empfangen“ (Kommentar 52). Bezeichnend ist die Formulierung zu Lk 1,26–38 ebenda: „Es soll an der wunderbaren Lebensentstehung des Johannes deutlich gemacht werden, daß Gott selbst eine jungfräuliche Empfängnis bewirken kann“ (56). Und: „… daß Gottes schaffende Tätigkeit hier bis zur jungfräulichen Lebensentstehung gesteigert (!) ist“ (57). Hinzutreten Formeln wie „Vaterlosigkeit dieser Empfängnis“ zusammen mit „Jungfrauengeburt“ (60) und „durch den Geist gewirkte vaterlose Lebensentstehung Jesu“ (62 und 63). Auch hier wird von „vaterlos“ u. ä. (das im Lk-Text nie vorkommt) auf „jungfräulich“ geschlossen bzw. beide Ausdrücke miteinander als sach-identisch angesehen. Wir erkennen: Alle diese als Beispiele angeführten Kommentaraussagen mit ihrer Verwendungsweise und -begründung von „jungfräulich“ lassen erkennen, daß dieser Ausdruck etwas angibt und aussagt, was nicht der Fall ist, was nicht vorliegt oder nicht gewirkt wurde. Etwas Nicht-Seiendes oder Nicht-Geschehenes als Wesensinhalt des im Text selbst Bekundeten zu erkennen und erklärend auszusagen, entbehrt jeden Sinnes. Warum begnügt man sich nicht schlicht mit dem tatsächlich vom Text Ausgesagten, wenn es darum geht, zunächst den Aussage-Inhalt der biblischen Bekundung selbst zu erkennen und eben auch auszuformulieren?2 Wir bringen jetzt im folgenden die wichtig2

Weitere Kommentar-Text-Beispiele, in denen das im Mt-Text und im Lk-Text Nicht-Ausgesagte vorgebracht und argumentativ besprochen wird: E. Schweizer bringt diese Sätze (Mt-Kommentar): „Auffällig ist, daß das Wunder der jungfräulichen Empfängnis nicht erzählt, sondern vorausgesetzt wird. Es ist Matthäus also aus der, wohl mündlichen, Tradition der Gemeinde bekannt … Weder Empfängnis (1,18) noch Geburt Jesu (2,1) werden direkt berichtet, sondern nur deren Folgen … Mehr will er damit kaum sagen, als daß diese Geburt so von Gott gewollt und bewirkt … ist“ (12). Warum wird dieses Letztere, „was Gott gewollt und gewirkt hat“, das ja der Text schlicht sagt, nicht so zur Kenntnis genommen? Warum muß das, was da nicht steht (und das weiß der Kommentator genau und spricht es aus!), ausdrücklich zur Sprache kommen und der Diskussion anheimgestellt werden? Dann etwas später: „Darum berichtet Mt 1,18 auch so zurückhaltend vom Wunder dieser Geburt und ohne die geringste Andeutung eines Gedankens an einen göttlichen Liebhaber“ (12). Der Text 1,18c spricht nicht „vom Wunder der Geburt“, gibt vielmehr genau an, was Faktum (geworden) war! Dann weiter zu 1,23: „Die Geburt Jesu von der Jungfrau. Es fällt bei der Weihnachtsgeschichte und den damit zusammenhängenden Erzählungen (wo steht etwas davon im Text?) besonders schwer zu erkennen, daß das wirkliche Wunder der Geburt Jesu nicht an allerlei Einzelheiten und zeit-gebundenen Vorstellungsweisen hängt: Matthäus und Lukas bezeugen dieses Wunder je in einer Weise, die ihrem Glauben an Jesus Christus entspricht … Wunder der Jungfrauengeburt … beschrieben wird es nirgends; nur von ihrer Ankündigung ist die Rede“ (14 u. 15). –––W. Wiefel (Mt-Kommentar) schreibt dieses: „Vielmehr ist die Aussageabsicht, die Herkunft Jesu aus dem schöpferischen Geist anzuzeigen … Auf der Basis der … haggadischen Erzählweise geschieht die Form der Geburtsankündigungsgeschichte. Die Geburt selbst bleibt ausgespart … Die Erzählung selbst setzt das Wissen um die jungfräuliche Empfängnis voraus, will sie nicht erst stiften …“ (31). Auch hier wieder: Wie kann man als Text-Kommentator vom „Wunder der jungfräulichen Empfängnis Jesu“ sprechen, ohne irgendeinen Rückhalt im Text selbst? ––– P. Gaechter (Mt-Kommentar) spricht ausführlich vom Wunder der jungfräulichen Empfängnis Jesu“ (S. 44–55); dazu: „Dieses Geheimnisvoll-Göttliche muß (!) schon von Joseph … empfunden

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sten Kommentartext-Beispiele für Formulierungen mit „jungfräulich“ als Hauptwort, um einen hinreichenden Überblick zu gewinnen. a) „Jungfräulich“ in eher unbestimmter, allgemeiner Bedeutung findet sich z. B. im Mt-Kommentartext von E. Schweizer zu Mt 1,18–25: „Auffällig ist, daß das Wunder der jungfräulichen Empfängnis nicht erzählt, sondern vorausgesetzt wird. Es ist Matthäus also aus der wohl mündlichen Tradition der Gemeinde bekannt. Der Ausdruck für ‚schwanger sein‘ und die Formulierung von 21a stammt aus dem alttestamentlichen Zitat … Weder Empfängnis (1,18; wo steht das dort?) noch Geburt (2,1; die worden sein, jedoch fehlten ihnen dafür Begriff und Ausdruck. ‚Sohn Gottes‘ wie hier hätte ausgesagt werden können (!), existierte damals in der spätere Bedeutungsfülle noch nicht, und Matth., dem der Ausdruck geläufig war, wollte ihn dem alten Bericht nicht einfügen …“ (52). ––– U. Luz (Mt-Kommentar) sagt zu Mt 1 u. a.: „Natürlich erzählt das Proömium zunächst den Anfang der Geschichte Jesu … Wenn die Leser des MtEv antike Biographien kennen, wird ihnen auffallen, daß wichtige Episoden fehlen. Von der Geburt Jesu selbst ist nicht die Rede, von für ihn charakteristischen Kindheitsgeschichten auch nicht; schließlich fehlt ein Bericht über den Bildungsgang Jesu … Die Lücken stellen vor die Frage nach dem Sinn der Stoffwahl …“ (122). Dann zu 1,2–2,23 (mit „Kindheitsgeschichte“ überschrieben) u. a.: „In 1,18 – 2,23 fällt am meisten auf, daß die Geburt Jesu übergangen wird: In 1,18–25 wird sie angekündigt (was auch nicht der Fall ist!); in 2,1 wird sie vorausgesetzt … Der Erzählzyklus 1,18- 2,23 ist also nicht vollständig; die Leser/innen wissen mehr, als der Erzähler erzählt … Was für Kenntnisse über Jesu Geburt vorausgesetzt sind, können wir nicht mehr sagen“ (125). Und zu 1,18–25: „Diese Geschichte ist so prosaisch und nüchtern wie nur irgend möglich erzählt … Der Partizipialstil deutet an, daß Mt hier noch nicht erzählt, sondern nur Voraussetzungen nennt … Die Geschichte ist keine Geburtsschilderung, obwohl sie von der Jungfrauengeburt handelt, und keine Legende … Übergewicht christologischer Belehrung. Unser Text setzt also anhand eines Stoffes, der nur angedeutet und bei den Leser/innen als bekannt vorausgesetzt ist, bestimmte lehrhafte Akzente …“ (142). Etwas später nochmals: „In der heutigen Textgestalt ist die Jungfrauengeburt nicht Skopus, sondern relativ unbetonte Voraussetzung der Geschichte“ (144) Und: „Für Matthäus ist die Jungfrauengeburt nicht zentraler Inhalt des Glaubens, sondern eher vorstellungsmäßige Basis, die ausdrückt, wie Jesus der ‚Immanuel‘ ist“ (156) ––– Fr. Bovon (Lk-Kommentar) schreibt zu Lk 2,1–21 u. a.: „Die heutige Geburtsgeschichte ist überlieferungsgeschichtlich nicht die ursprüngliche Fortsetzung von 1,26–38. Maria wird in V 5 neu vorgestellt; trotz der Botschaft des Engels in 1,26–38 versteht sie die Größe der Ereignisses erst nach dem Besuch der Hirten: mit keinem Wort wird die Jungfrauengeburt oder die göttliche Zeugung durch den heiligen Geist angedeutet. … In einer homogenen Legende hätte man die Situation der Unterkunft vor dem Ereignis erzählt … Narrativ ist die Zensurepisode unnötig, die Geschichte könnte erst in V 6 (natürlich mit der präziseren Ortsangabe) beginnen … Sie ist eine Verkündigungsgeschichte, keine Geburtsgeschichte, eine Hirten-, keine Jesusgeschichte …“ (115). Zu 2,8–13: „Weshalb Lukas die Geburt Jesu nicht ausführlich erzählt, bleibt ein Rätsel … Ein Rätsel bleibt auch das Verständnis der Hirten“ (122). ––– H. Räisänen kommt in seinem Buch mehrmals auf das hier zur Frage Stehende zu sprechen; so etwa S. 60–61; 67; 72; 116f; 128; 134 u. 135. Später sagt Räisänen: „Johannes schweigt von der Geburt Jesu. Das Philippus-Bekenntnis (1,45) legt die Annahme nahe, daß er von der jungfräulichen Empfängnis nichts weiß oder wissen will … Auf jeden Fall ist die Vorstellung von der jungfräulichen Empfängnis kein unentbehrlicher Bestandteil der johanneischen Christologie … Der Gedanke der Präexistenz setzt die Vorstellung von einer jungfräulichen Empfängnis keineswegs eo ipso voraus; das zeigt auch die paulinische Theologie“ (184; dort Weiteres dazu).

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steht dort auch nicht) werden direkt berichtet, sondern nur deren Folgen … Darum berichtet (!) Mt. 1,18 auch so zurückhaltend vom Wunder dieser Geburt …“ (11f). – R. Schnackenburg schreibt in seinem Mt-Kommentar zu 1,10 „Die vier Frauen im Stammbaum sind Signale für das Wunder der jungfräulichen Empfängnis Jesu, der dennoch über den Daviden Josef in die königliche Linie … einbezogen wird“ (18). Dann zu 1,18–25 u. a.: „Es (d. i. Jes 7,14) ist ein prophetisch-vorhergesagtes, tiefsinnvolles Geschehen, das die jungfräuliche Empfängnis einschließt und im Zusammenhang mit der Erlösung steht“ (18f). Dazu auch: „Der Gedanke (!) der jungfräulichen Empfängnis vom Heiligen Geist ist beiden Evangelien (d. i. Mt und Lk) gemeinsam … Der Gedanke der geisterzeugten (!) jungfräulichen Empfängnis hat eher an jüdisch- hellenistischen Vorstellungen einen Anhalt … Erst in dem von Mt hinzugefügten Erfüllungszitat wird die Empfängnis durch eine Jungfrau hervorgehoben (23); doch sind Geistzeugung (!) und jungfräuliche Empfängnis in der übernommenen Glaubensanschauung eng verbunden“ (20). – W. Wiefel sagt zu 1,18–25 u. a.: „… Herkunft Jesu aus dem schöpferischen Geist … Die Geburt bleibt ausgespart … Die Erzählung selbst setzt das Wissen um die jungfräuliche Empfängnis voraus, will es nicht erst stiften …“ (31). – G. Schneider gibt seinem Aufsatz in ThPrQ 119 (1971) den Titel „Jesu geistgewirkte Empfängnis (Lk 1,34f)“ und verwendet „jungfräuliche Empfängnis“ u. ä. oft. So: „Die Empfängnis Jesu wird durch den Hl. Geist bewirkt … geschah zu einer Zeit, da Maria … Da aber das Zeugnis von der geistgewirkten Empfängnis nur in den beiden sog. Kindheitsgeschichten begegnet …“ (105; und so im dort folgenden sehr oft). Im Abschnitt „3. Tradition und Redaktion“ lesen wir u. a.: „Im Hinblick auf diese Frage muß betont werden, daß in beiden Fällen die argumentierende Tendenz nicht eigentlich auf die jungfräuliche Empfängnis ausgeht. Vielmehr wird die Glaubensüberzeugung von der geistgewirkten Empfängnis im Fall des Mt-Evangeliums für eine Argumentation verwendet … auf eine Beantwortung des Wie der jungfräulichen Empfängnis, sondern gipfelt in der Prädikation des Kindes als des ‚Heiligen‘ und des ‚Sohn Gottes‘“ (111; so auch im dort Folgenden weiterhin). Wir können damit die Beispiel-Vorlage beenden; sie könnte vervielfältigt werden. Doch dürfte hinreichend deutlich geworden sein, mit welch allgemeiner Bedeutung diese Wendung „jungfräuliche Empfängnis“ u. ä. gebraucht wird. b) Text-Beispiele mit gewichtigeren Aussagen und Erklärungen

P. Gaechter schreibt in seinem Mt-Kommentar zu Mt 1,18–25 u. a. dies: „… der in Mt 1 und übereinstimmend damit in Lk 1 gebotene Bericht über Jesu Menschwerdung. Sie besteht in einer jungfräulichen Empfängnis und Geburt auf Grund einer unmittelbaren, wunderbaren Einwirkung Gottes auf die Mutterkraft Marias“ (49). Dazu später: „Jesus hatte die Aufgabe, etwas auszuführen, was nur Gott zu tun vermochte. Das entsprach der unerhörten und unfaßlich engen Beziehung, welche ihn kraft seiner Empfängnis aus dem Heiligen Geist mit Gott verband. Dieses Geheimnisvoll307

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Göttliche muß schon von Joseph … empfunden worden sein, jedoch fehlten ihnen dafür Begriff (!) und Ausdruck. ‚Sohn Gottes‘, wie hier hätte ausgesagt werden können, existierte damals in der späteren Bedeutungsfülle noch nicht (!), und Matthäus, dem der Ausdruck geläufig war, wollte ihn dem alten Bericht nicht einfügen“ (51f; es ist erstaunlich, was Gaechter hier vom Wollen und Können des Matthäus aussagt!). Dann weiter: „ ‚Siehe, die Jungfrau wird empfangen‘ ist demnach nicht die Spitze des Zitates (d. i. Jes 7,14), um derentwillen es angeführt wird. Das bedeutet keinen Verlust, weil die jungfräuliche Menschwerdung (!) Jesu in der Perikope ohnehin mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck kommt. … Desgleichen tritt hervor, daß Joseph die Tatsache der göttlichen Empfängnis (!) Jesu von Anfang an als eine höchst unerwünschte, schwere seelische Belastung empfand“ (53 und 55). P. Fiedler verwendet die Formulierung mit „jungfräuliche Empfängnis“ in folgenden Sätzen zu Mt 1,18.25: „Die Abweichung vom Schema der Genealogie ausgerechnet beim Schlußglied in V. 16 wird nun geklärt. Selbstverständlich geht es auch, ja gerade hier um die Lebensentstehung, also die Zeugung, und nicht … um die Geburt … Jetzt wird die jungfräuliche Empfängnis Jesu Christi in ihrer Verknüpfung mit der Davidsohnschaft erläutert …“ (46). Dann: „Jes 7,14 wird in der LXX-Fassung zitiert … Sie bot sich Mt besonders an, weil er sie als Schriftbeleg dafür verwenden konnte, daß das Christusbekenntnis der geistgewirkten Empfängnis zur Messianität gehörte … stand Mt als hellenistischem Juden ein Zugang zur Vorstellung (!) von der jungfräulichen Empfängnis und Geburt Jesu Christi offen“ (52). M. Krämer verwendet den fraglichen Ausdruck in seinem Aufsatz „Die Menschwerdung Jesu Christi nach Matthäus (Mt 1). Sein Anliegen und sein literarisches Verfahren“ (Bib 45, 1964, 2–50) sehr oft. So schon in den einleitenden Erklärungen: „… Mt wollte mit der Erzählung von Josefs Lage angesichts der jungfräulichen Mutterschaft Marias (vv.-18–25) die Jungfräulichkeit der Geburt Jesu verteidigen …“ (2). Dann zu 1,20: „… womit Josef über die Jungfräulichkeit der Empfängnis aufgeklärt wird … für die Verteidigung der jungfräulichen Empfängnis … Jungfrauensohn Emmanuel … Absicht einer Verteidigung der jungfräulichen Empfängnis … das Geheimnis der Jungfrauengeburt“ (4 u. 5). Denn zu 1,19–22 u. a.: „… Rahmen des Themas: Eingliederung Jesu in das Haus Davids … Nach ihr soll damit der Leser auf die Jungfräulichkeit der Geburt (!) Jesu aufmerksam gemacht werden …“ (10; 12–15 wiederholt). Dazu: „… daß er Emmanuel … als Titel betrachtet, den er für den Jungfrauensohn Jesus beansprucht … durch die Geburt des Jungfrauensohnes Jesus erhielt die Emmanuel-Prophezeiung ihre Erfüllung … daraus ist ersichtlich, daß es ihm nicht um die Verteidigung der jungfräulichen Empfängnis ging, sondern um die Verteidigung der Messianität Jesu“ (17; dazu dort die Anm. 1). Und zu 1,25: „obwohl auch hier, ganz nach der Erwartung, beides, die Geburt eines Sohnes und die Jungfräulichkeit seiner Mutter Ausgesagte ist … der Kern der Botschaft des Engels … und die jungfräuliche Empfängnis ihr nur als Ausgangspunkt und als Untermalung diente (vv 18–25)“ (21). 308

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Räisänen äußert sich in seinem Buch „Die Mutter Jesu im Neuen Testament“ zur Frage der „jungfräulichen Empfängnis“ u. ä. Es seien folgende Text zitiert: „Matthäus setzt auch die jungfräuliche Empfängnis Marias als bekannt voraus. Er weist auf sie hin, als sei sie eine Selbstverständlichkeit: eu`re,qh evn gastri. e;cousa evk pneu,matoj a`gi,ou … Man hat sich an den Gedanken der wunderbarem Empfängnis gewöhnt. Es liegt nicht in der Absicht des Matthäus, seinen Lesern zu schildern, wie Jesus gezeugt und geboren wurde. Das wissen sie bereits. Mt 1,18–25 ist keine ‚Geburtsgeschichte‘“ (60f). Dann: „Lukas unterstreicht stark die Theozentrizität der Heilsgeschichte. Im Christusereignis ist von Anfang bis Ende Gott allein tätig … Er setzte auch allein den Anfang des Lebens Jesu … Die Empfängnis der Maria war eine creatio ex nihilo, eine neue eschatologische Schöpfungstat … Lukas betont die göttliche Tat so sehr, daß der Anteil der Maria im Hintergrund bleibt. Die biologische Seite interessiert Lukas nicht. Auf das Faktum der Empfängnis weist er möglichst feinfühlig hin. Für ihn ist es wichtig, daß die Jungfrau schwanger wird, nicht, wie dies geschieht“ (102f). Dazu noch im „Rückblick“ der Arbeit: „Matthäus setzt die jungfräuliche Empfängnis, aber nicht die Präexistenz voraus. Maria ist diejenige parthenos, der im Plan Gottes die Aufgabe vorbehalten war, Mutter des Messias zu sein. In ihrer jungfräulichen Empfängnis sind die Schriften erfüllt … Anders als für Matthäus ist der Gedanke der jungfräulichen Empfängnis für ihn (d. i. Ignatius) nicht mehr problematisch. Er ist fester Bestandteil der Tradition … Die Jungfrauschaft der Maria aber ist verstanden im Sinne einer schöpferischen Wundertat Gottes. Die jungfräuliche Empfängnis bleibt in der Christologie des Lukas ganz im Hintergrund“ (197f). G. Schneider bringt in seinem Lk-Kommentar einen ausdrücklichen Exkurs: „Die jungfräuliche Empfängnis und Geburt Jesu“ (52–53). Dort heißt es u. a.: „Bedenkt man, daß im Vordergrund der Aussage die vom heiligen Geist bewirkte Erzeugung bzw. Geburt Jesu steht, so wird man zunächst an Ps 2,7 erinnert, wo Gott dem messianischen König sagt: ‚Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt!‘. Die göttliche ‚Zeugung‘ macht Jesus zum Messias und Sohn Gottes … Die entscheidende Frage jedoch wird lauten: Wie kam es dazu, daß man Empfängnis Jesu mit dem Wirken des heiligen Geistes in Zusammenhang brachte?“ (52). Dazu der Antwortversuch: „Eine ihrer Wurzeln (d. i. der Erzählung Lk 1,26–38) liegt eben in der Schriftstelle Jes 7,14, die in der LXX auf eine Jungfrau im engeren Sinn wenigstens bezogen werden konnte … Was hier als Wunder der Allmacht Gottes angekündigt wird, findet seine unvergleichliche Überbietung, wenn das Kind aus einer Jungfrau geboren wird. Dieses Kind ist der Messias. Lukas wird dann von sich aus – in Analogie zu 1,15 – die Ursächlichkeit des Geistes Gottes in dieses Stück eingefügt haben, von der er aus der Tradition wußte. Jesus … verdankt seine Existenz diesem Gottesgeist (1,35)“ (52f). J. Radl bringt in seinem Buch „Der Ursprung Jesu. Traditionsgeschichtliche Untersuchung zu Lukas 1–2“ (1996) mehrere zu bedenkende Aussagen, die hier aufgeführt seien. In dem Großabschnitt „E. Zum traditions- und religionsgeschichtlichen Hintergrund“ wird unter „2. Geistgewirkte Empfängnis“ u. a. dieses gesagt: Zunächst 309

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fällt schon die Überschrift auf („Geistgewirkte Empfängnis“). Dann: „Sohn Gottes ist Jesus nach Lukas … vom ersten Augenblick seines irdischen Daseins. Er verdankt sich (!) nach Lk 1,34f neben (!) seiner Mutter ausschließlich (!) dem Wirken der schöpferischen Kraft Gottes. Wie kommt es zu dieser christologischen Konzeption von der geistgewirkten Empfängnis, deren ‚Kehrseite‘ die Geburt aus der Jungfrau ist? Im Neuen Testament ist sie sonst nur noch in Mt 1 bezeugt. … Hat jeder eine andere traditionelle Erzählung von Jesu Empfängnis vorgefunden und bearbeitet?“ (348–350). Dann zu Jes 7,14 bei Mt und Lk u. a.: „Tatsächlich sieht Matthäus in der jungfräulichen Empfängnis Jesu die Erfüllung von Jes 7,14 … Auch Lukas spielt ja offensichtlich mit 1,31 – wohl auch schon mit ‚Haus David‘ und ‚Jungfrau‘ in 1,27 – auf Jes 7,14 an. Damit aber gehört die Verbindung der jungfräulichen Empfängnis Jesu mit dieser Stelle zum gemeinsamen Grundbestand der matthäischen und lukanischen Erzählung“ (354f). Dazu: „Auf den ersten Blick ist das urkirchliche Christologumenon von Jesu geistgewirkter Empfängnis von den Zeugnissen des ägyptischen Mythos weit entfernt … Damit erscheint die Tatsache, daß die Septuaginta die ‚junge Frau‘ von Jes 7,14 eindeutig als ‚Jungfrau‘ (parqe,noj) bezeichnet, in einem neuen Licht“ (359). A. Stöger in seinem Lk-Kommentar („Geistliche Schriftlesung. Erläuterungen zum Neuen Testament“ 3/1, 1963) meint dieses zu Lk 1,26–38 schreiben zu sollen: „Jetzt spricht der Engel nur zu Maria: Sie wird empfangen und gebären und den Namen geben. Ein Mann und Vater wird nicht genannt. Das Geheimnis der jungfräulichen Empfängnis wird vorbereitet. Du wirst im Schoß empfangen. Der Prophet Sophonias hat zweimal gesagt: Der Herr in deiner Mitte … Gott wird im Innern, im Schoß der Jungfrau, wohnen. Er wird mit ihr sein (Emmanuel). Maria wird der neue Tempel sein …“ (4). Und: „Das Wunder der vaterlosen und jungfräulichen Empfängnis des Christus ist höchste Offenbarung der schöpferischen Freiheit Gottes. Mit ihr beginnt Neues, das ganz und gar Machterweis Gottes ist. Ein neuer Stammvater ersteht durch Gottes freie Schöpfertat, aber unter dem Mitwirken (!) der alten Menschheit durch Maria (!). Jesus ist Sohn Gottes wie sonst niemand (3,38)“ (47); dazu: „Die Herrlichkeit Gottes, die Kraft ist, erfüllt Maria und wirkt in ihr das Leben Jesu. In Jesus offenbart sich die Herrlichkeit Gottes durch die Menschwerdung aus Maria. Sie ist der neue Tempel … Die jungfräuliche Empfängnis durch den Geist und die Kraft des Allerhöchsten weist darauf hin, daß Jesus, das, was geboren wird, heilig, Sohn Gottes ist …“ (48). P.-G. Müller schreibt in seinem Lk-Kommentar zu 1,26–38 u. a.: „Der Engel antwortet ihr, daß ‚Heiliger Geist‘ auf Maria kommen und ‚Kraft des Höchsten‘ sie überschatten wird, daß die Empfängnis eines Kindes in ihr also ihren wundergewirkten Ursprung in Gottes Allmacht, Geschichtsmächtigkeit und Schöpferkraft hat. Das von Gott in Maria geschaffene Kind wird ‚heilig‘ und ‚Sohn Gottes‘ genannt werden, weil sein Ursprung im schöpferischen Akt Gottes selbst liegt … so daß sich Gottes Wort

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sofort an ihr erfüllt und sie die verheißene Empfängnis des Gottessohnes in sich erfährt …“ (33f). c) Kommentar-Texte mit Angabe von Gründen für die Wahl von „jungfräulich“

In den zuvor beispielhaft zitierten Kommentar-Texten, die „jungfräulich“ in verschiedenster Weise gebrauchen (obwohl kein ntl. Text das Wort kennt), ist kaum einmal sichtbar geworden, warum eigentlich „jungfräulich“ eingesetzt und nicht schlicht mit den biblischen Formulierungsweisen gesprochen wird. Die einzige Ausnahme wäre, daß davon die Rede ist, Maria habe allein aus Gottes Schöpfermacht das Kind empfangen, und zwar ohne jedes Wirken oder Zutun eines Vaters oder überhaupt eines Mannes. Deswegen, so heißt es, sei das Kind als „jungfräulich empfangen“ anzusehen. Abgesehen von diesem einige Male angegebenen Grund, der übrigens nur eine negative Bestimmung angibt („ohne Vater“), zeigte sich sonst keiner in hinreichender Deutlichkeit. Daher bringen wir jetzt Beispiele von Kommentar-Texten, die selbst Gründe für Wortbildungs- und ihre Einsatz-Wahl angeben bzw. jedenfalls hinreichend deutlich andeuten. Es läßt sich nicht vermeiden, daß wir oft längere Texte zitieren müssen; das ist von der Sache her gefordert. Zuerst bringen wir Texte, die von Bibelwissenschaftlern verfaßt sind (weil wir uns ja selbst zuerst um das Verständnis der biblischen Aussagen bemühen), um dann auch Texte von eher systematisch interessierten Theologen beispielhaft beizubringen. A. Sand schreibt in seinem Mt-Kommentar zu 1,18: „Daß Mt nicht an einer Schilderung der Rechtslage und deren Konsequenzen gelegen ist, ergibt sich aus der unmittelbar folgenden Hinzufügung ‚aus heiligem Geist‘. Nur hier und V. 20 ist im ‚Prolog‘ vom heiligen Geist die Rede. Das Pneuma ist bei Mt die Gotteskraft … ‚Schwanger aus heiligem Geist‘ heißt hier: Gott handelt an Maria, kraft seines Geistes erweckt (!) er ‚sich‘ einen Sohn. Mt will sagen: Der Sohn Marias ist in Wirklichkeit Gottes Sohn“ 47f). Diese Aussage wird im Laufe der weiteren Auslegung von 1,18 – 2,23 aufgegriffen und spezifiziert. So im Exkurs „Die theologische Eigenart der matthäischen ‚Kindheitsgeschichte‘“. In Bezug auf Mt und Lk heißt es: „Beide Berichte befassen sich mit der ‚Geburt‘, genauer: dem Anfang und der Herkunft Jesu … daß Mt und Lk in einer Reihe von Aussagen übereinstimmen … die Empfängnis aus dem heiligen Geist …“ (58). Dann: „Das Interesse des Mt richtet sich dabei (d. i. in V. 1) vornehmlich auf Jesus als den ‚Sohn‘. Sohn hat hier aber nicht biologisch-genealogische Bedeutung (im Sinne von Kind), sondern bezeichnet Jesus entsprechend seiner Aufgabe in der Abfolge heiliger bzw. unheiliger Geschichte. Der ‚Prolog‘ ist somit keine Kindheitsgeschichte im eigentlichen Sinne“ (59). Im Unterabschnitt „3. Die Geburt Jesu aus Maria, der Jungfrau“ begegnen diese Satzstücke: „… historisches Faktum der jungfräulichen Empfängnis … Mt spricht von der Geburt Jesu aus Maria, der Jungfrau, eindeutig in 1,18–25 (Das steht dort gerade nicht! R. S.) … wo eine Trad. greifbar wird, die von einer vaterlosen Zeugung Jesu nichts weiß … nach V. 18b wurde Maria 311

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schwanger befunden vom heiligen Geist, noch bevor sie zusammengekommen waren (das ist falsche Wiedergabe des Mt-Textes! Der sagt, wenn man die Formulierungsweise übernehmen will: Maria wurde als ‚schwanger aus heiligem Geist befunden‘! R. S.). „Dies, aber auch nur dies, zu sagen, ist dem Evangelisten wichtig … ihm (d. i. dem Matthäus) vorgegebene Trad. aufgreift, die das Thema der ‚Geburt aus heiligem Geist‘ schon geformt hatte … Diese theologische Absicht kommt vor allem in V. 18 zur Sprache. Es geht dem ersten Evangelisten um die Abstammung, die Herkunft Jesu, konkret um die Frage: ‚Wessen Sohn ist er?‘ Seine Antwort lautet: Jesus ist Sohn Davids und steht in der Linie der dem David von Gott gegebenen Verheißung. Aber Jesus ist Davids Sohn nicht durch natürliche Geburt, durch biologische Abstammung, sondern aufgrund einer Adoption durch Josef … Doch bleibt Mt bei dieser Antwort nicht stehen, sondern er überhöht die Davidssohnschaft durch die Gottessohnschaft: Jesus ist nicht nur Davids-, sondern zugleich auch der Gottessohn‘ (Zitat Broer). Dieser christologische Entwurf war schon 1,16 durch das theol. Passiv zum Ausdruck gekommen (vgl. ebenfalls 1,20). 1,18.20 führen dann aus, daß das von Maria geborene Kind ‚aus heiligem Geist‘ ist, d. h. daß es aus der Kraft Gottes empfangen und geboren wurde … Nicht einem irdischen Erzeuger verdankt dieses Kind seine messianische Existenz, sondern einzig Gott allein; dieses Kind ist nicht Sohn eines Elternpaares, sondern ist Sohn Gottes …“ (60–62). Wir bemerken, daß hier die Formeln „Gott allein“ und „vaterlose Zeugung“ bzw. „nicht ein irdisches Elternpaar“ als Gründe erscheinen, „jungfräulich“ einzusetzen; d. h. negative Feststellungen zeigen den Sinn von „jungfräulich“ auf. Das wird im folgenden zu besprechen sein. I. Broer kommt in seinem Artikel „Die Bedeutung der ‚Jungfrauengeburt‘ im Matthäusevangelium“ (BiLe 12, 1971) oft auf die hier gestellte Frage nach Gründen für die Wortbildung „jungfräulich“ in ntl. Texten zu sprechen. Im Abschnitt „II. Die Jungfrauengeburt im Matthäusevangelium“ sagt er zunächst wie selbstverständlich: „Unzweifelhaft ist von der jungfräulichen Empfängnis Jesu in Mt 1,18–25 die Rede“ (250; man wäre froh, wenn er erklärt hätte, wo er das dort findet. R. S.). Dann bringt er eine „Analyse“ von Mt 1,18–25. Dort begegnet der Ausdruck „Jungfrau“ bzw. „jungfräulich“ zunächst gar nicht. Am Schluß stellt Broer dann zu 1,25 diese Frage: „Wie erklärt sich dieser Zusatz (d. i. „er erkannte sie nicht bis …“ in 1,25)? In dem zitierten Isaiastext hieß es: ‚Sie – die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären‘, d. h. die Jungfrau wird gebären; um der genauen Erfüllung des Isaiaszitates willen sagt Matthäus über das Verhalten des Joseph zu Maria: Und er erkannte sie nicht, bis sie einen Sohn geboren hatte. Mit diesem Verständnis des Verses 25 ist dann die alte Streitfrage zwischen Katholiken und Protestanten erledigt, ob hier ein Zeugnis für oder gegen die dauernde Jungfräulichkeit Mariens vorliegt“ (254f). Dann weiter: „In 1,18 und 20 wird nun unverhüllt gesagt, daß das Kind Mariens ‚aus Heiligem Geist‘ ist, womit nicht schon an die dritte Person Gottes, wohl aber an die lebenbewirkende Schöpferkraft Gottes … an einen Schöpfungsakt Gottes gedacht ist, mit dem die Einzigartigkeit Jesu angedeutet werden soll. Nicht einem menschlichen Vater verdankt 312

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dieses Kind seine Existenz, sondern Gott selbst, dieser Sohn ist nicht ein Menschen-, sondern er ist Gottes Sohn, will Matthäus sagen … Dieser von Maria zu gebärende und von Joseph mit dem Jesusnamen zu benennende und dadurch in den Davidsstamm einzugliedernde Knabe ist nicht nur nicht durch die geschlechtliche Vereinigung zweier Menschen, sondern von Gottes Schöpfermacht in Maria erzeugt worden, in ihm erfüllen sich auch in einzigartiger Weise die Zusagen Gottes an sein Volk, es von seinen Sünden zu erlösen und bei ihm zu sein. So eindeutig also in unserer Perikope die übernatürliche Erzeugung Jesu aus der Jungfrau Maria vorausgesetzt und auch ausdrücklich bezeugt wird, so eindeutig steht meines Erachtens dieses Motiv nicht im Vordergrund, sondern es geht dem Matthäus in erster Linie um Jesus, den er in 1,18 ausnahmsweise als Jesus Christus bezeichnet, um seine Davidssohnschaft und um seine Gottessohnschaft“ (256 und 257). Vgl. dazu auch die weiteren Aussagen in 258–260. Insgesamt ist dazu zu sagen, daß hier sehr viel Richtiges, aber auch manches Unannehmbare gemischt zusammengeschaut wird. Vor allem wird keine wirkliche Begründung für die Berechtigung oder gar Notwendigkeit angegeben, anzunehmen, Matthäus selbst habe von „jungfräulich“ im hier angedeuteten Sinn sprechen wollen. Wieder wird aus der Schöpfermacht Gottes auf „vaterlos“ geschlossen. Das Argument „nicht durch geschlechtliche Vereinigung zweier Menschen“ müßte doch, wenn es ernst genommen wird, als Folgerung (und Forderung) „jungfräulich“ auf beide, auf Maria und Josef hin ausgewertet werden. Wenn „Gott allein“, gar „schöpferisch“ die Empfängnis „bewirkt“, dann ist damit eigentlich erfaßt, was Matthäus aussagt: „bevor sie, also beide zusammengekommen waren“. „Jungfräulichkeit“ im Blick auf das Kind (das später Jesus genannt werden soll!) erschlossen und ‚als ausdrücklich ausgesagt erklären‘, hieße, nicht nur Maria, sondern auch Josef war in dieser Hinsicht „jungfräulich“. Warum wird das nicht auch herausgestellt, wenn es um das geht, was in Mt 1,18–25 verkündet ist? Wir werden das weiter zu beachten haben. U. Luck macht in seinem Mt-Kommentar zu 1,18–25 u. a. diese eigenartige Bemerkung: „In Jesus gewinnt Gottes Geist Gestalt. Er ist der ‚Sohn‘ schon mit seiner Geburt (Mt 11,27); … Man sollte daher im Verständnis der Geburtsgeschichten diesen Gedanken der Gestaltwerdung, ja der Menschwerdung des Geistes im Vordergrund sehen. Die Gotteskindschaft als eine unmittelbare Geburt aus Gott … Die Geburtsgeschichte muß daher zweierlei miteinander verbinden: Gottessohnschaft als unmittelbare Zeugung durch den Geist Gottes und den Zusammenhang mit der Geschichte. Der Zeugung aus dem Geist Gottes … steht gegenüber die Geburt von Maria, die aber als Jungfrau Mutter wurde ohne Mitwirkung eines irdischen Vaters. Die Belegung dieses von Matthäus weniger dargestellten als verkündeten Geschehens wird möglich durch die Übersetzung der griechischen Bibel“ (22). E. Lohmeyer sagt zu Mt 1,18–25 (überschrieben mit „Von der Geburt Jesu“, obwohl von ihr keine Rede ist!) u. a.: „Zwei Motive bestimmen die Erzählung, das der Geistzeugung und Jungfrauengeburt und das der Namengebung … Der Gedanke der Jungfrauengeburt ist innerhalb des Berichtes nicht der entscheidende. … ihm kommt 313

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es darauf an, daß das Kind keinen menschlichen Vater hat, d. h. ‚vom Heiligen Geist gezeugt‘ ist. Für das Motiv der jungfräulichen Geburt ist eine Fülle von religionsgeschichtlichen Analogien gesammelt worden … Der Gedanke einer göttlichen Urheberschaft oder der Geistzeugung ist gewissen jüdischen Kreisen nicht völlig fremd gewesen …“ (13). Dem kann noch dieses hinzugefügt werden in Bezug auf atl. Motive: „Wie der Gedanke der Geistzeugung, so haftet also auch der der Namengebung nicht an dem des Messias, sondern umfängt gleicherweise Anfänger und Vollender des jüdischen Volkes und Glaubens … Man begreift von hier aus, daß die Erzählung in ihren verschiedenen Motiven eine Einheit bildet … zugleich auch in welchem Sinne Joseph der Vater heißen kann und muß: Er gab ihm von Gott her den Namen, Maria vom Geist her das irdische Leben. Durch dieses Vatertum ist das Kind in gleichem Sinne Davidsohn wie in Jubil 15,19 Isaak der Sohn Abrahams“ (14); und: „Ein einziges Wort hebt diese Unbegreiflichkeit auf und begründet sie zugleich fester: Gottes Geist hat das Kind gezeugt; was kein Denken vereint – Heiliger Geist und menschliche Zeugung, das ist hier wundersame Wirklichkeit“ (15).3 3

Alan C. Clerk schreibt in seinem Artikel „The Virgin Birth: A Theological Reappraisal (ThS 34, 1973, 578–593) dieses: „Any description of what Catholics believe will inevitably include belief in the Virgin Birth … There are still many dissentient voices. But over and above the controversy, there is considerable misunderstanding as to what precisely is being disputed. It is quite clear that when some people, perhaps the majority, speak of the Virgin Birth, they are really speaking about the virginal conception of Our Lord. When, an the other hand, theologians speak to this theme, they are probably speaking of the circumstances and conditions of Our Lord’s birth in so fare as these affected the virginity of His mother. It is one thing to say that Our Lady conceives by the Holy Spirit and therefore without the agency of man – a miracle of God’s omnipotence, one aspect of the supernatural intervention of God in human history which we call Incarnation. It is quite another to say that God intervened at the time of Our Lord’s birth in order to preserve the physical signs of virginal integrity in the person of Our Lady. The latter point finds its place in the history of dogma and can be put in the form of a question: Does the faith of the Church in the perpetual virginity of Mary require this intervention of God in the actual birth of His Son at Bethlehem? Common teaching asserts it does. At this point it may be felt that the question is to a large extent academic for the ordinary Christian who approaches Our Lady as virgin and mother without embarrassment of the advent of God to the world is accepted, then questions about the particular effects of His being the real child of His mother are of secondary importance and could indicate an attempt to rationalize a mystery. On the other hand, this was not the attitude of the great figures of the formative period of the Church who discussed these questions without inhibition and judged it of great importance to find a way of reconciling the apparent contradiction of true virginity with equally real motherhood in one person. In some respects they were forced to do this because of the controversies of the time, which were centered primarily on the person of Christ, truly God and truly man. Almost as a by-product of these controversies (though this word is ill-suited to convey the deep insights of the early Church into the mystery of Mary herself), the Fathers were drawn to consider the person of His mother. It was not till 649 that the Church by conciliar decree felt it opportune to express the common mind in a definitive formula: … (Zitat Lateran Council I. can 3 (DS 503)) Theologians and ecclesiastical writers from this time on are … unanimous in there submission that it is of Catholic faith that Our Lady was ever a virgin, i. e., before, in, and after the birth of Christ … From the point of view of systematic theology, the Virgin Birth refers exclusively

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d) Beiträge von systematisch interessierten Theologen

M. Ebner, Vom Versuch, einen hellenistischen Topos zu rejudaisieren. Zwei verschiedene Lesarten der ‚Jungfrauengeburt‘ in Mt 1,18–25 (aus: „Dies ist das Buch …“. Das Matthäusevangelium. Interpretation – Rezeption – Rezeptionsgeschichte. Für H. Frankemölle, 2004). Daraus folgende Aussagen. Zu Mt 1,20 wird festgestellt: „Im Blick auf die Erzählung, die Matthäus in Mt 1,18.24f verarbeitet hat, ergibt sich damit: (1) Die Erzählung von der Zeugung Jesu durch göttlichen Geist (Mt 1,18.20) hat ätiologische Funktion im Blick auf die christliche Behauptung der Gottessohnschaft Jesu …“ (185; das ist sicher eine Fehlinterpretation der Absicht des Mt-Textes). Dann später: „Wer im Evangelium weiter liest, merkt schnell: Matthäus verbindet den Gottessohntitel mit ganz anderen Kategorien. Das wird bereits aus Mt 2,15 ersichtlich … Die theologische Absicht ist klar: Das Schicksal Israels und Jesu werden überblendet. Wie Gott seinen ‚Sohn‘ Israel (vgl. Ex 4,22) aus Ägypten rettet, so auch seinen ‚Sohn‘ Jesus. Wie schon die beiden Titel ‚Sohn Davids‘ und ‚Sohn Abrahams‘ wird auch der Titel ‚Sohn Gottes‘ geschichtstheologisch verankert. Jesus wird als Sohn Gottes erkennbar, indem er sich, wie Israel, von Gott retten läßt. Der Ursprung der Gottessohnschaft Jesu wird also bei Matthäus nicht durch die kreative Schöpfertätigkeit Gottes begründet, sondern analog zur Gottessohnschaft Israel soteriologisch: im rettenden Handeln Gottes. Diese Linie der Israeltypologie im Blick auf den Gottessohntitel wird im Matthäusevangelium streng durchgehalten. … Summa: Der Titel ‚Sohn Gottes‘ wird im Matthäusevangelium soteriologisch (Rettung durch Gott) und ethisch (Toragehorsam) qualifiziert. Gerade im Zusammenhang mit der verdächtigen Erzählung in Mt 1,18–25 entsteht dadurch geradezu ein Gegenentwurf zu einer Sohn-Gottes-Vorstellung, die auf der göttlichen Zeugung bzw. Schöpfung eines Menschen basiert, oder im mattäischen Vokabular formuliert: auf der Jungfrauengeburt ohne Zutun eines menschlichen Partners“ (188f). Dann weiter zu Jes 7.14 in 1,23: „Wie die Erzählung Mt 1,18–25 von Jes 7,14 her über den großen geschichtstheologischen Bogen des Mattäusevangeliums gelesen, dann verlagert sich der Akzent von der Zeugung (traditionelle Geschichte) auf die Geto virginitas in partu and indicates an unserving belief that the actual birth of Our Lord in no way impaired the virginity of His mother …“ (576f). Weitere Texte mit wichtigen Kommentar-Aussagen seien ohne Zitation angegeben: R. H. Gundry, Matthew. A Commentary on His Literary and Theological Art, Michigan 1983, zu Mt 1,18–25 (Überschrift: „The Birth of Jesus Christ an the Son of David and God-With-Us”). Brian M. Nolan, The Royal Son of God. The Christology of Matthew 1–2 in the Setting of the Gospel, OBO 23, 1979, Dies ist zur Gänze zu beachten. J. A. Fitzmyer, The Virginal Conception of Jesus in the New Testament, TS 34, 1973, 541–575. Desgleichen insgesamt einzusehen. X. Léon-Dufour, Études d’Evangile, Parole de Dieu, 1965, darin „Étude II: L’annonce à Joseph“, 67–81. A. Léon-Dufour, L’annonce à Joseph, Melanges biblique, rédigé en l’honneur de André Robert, Paris 1957, 390–403. R. E. Brown, The Birth of the Messiah. A Commentary an the Infancy Narratives in Matthew and Luke, 1977. Insgesamt von großem Wert.

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burt und Bedeutung des angekündigten Kindes für die Gemeinde (mt Intention). Man muß sogar noch präziser sagen: Erst durch die Ratifizierung von Mt 1,22f. durch die Gemeinde, also in ihrer Benennung Jesu als Emmanuel, was wiederum heißt, in ihrer Völkermission und der Taufe ‚auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes‘ (Mt 28,19), kommt das zum Zuge, was nach Mt 1,18.20 evk pneu,mato,j evstin a`gi,ou angelegt ist. Es könnte noch ein anderer Grund mitspielen, weshalb Matthäus ausgerechnet Jes 7,14 für sein Reflexionszitat und damit als Interpretationsinstanz dieser Geschichte ausgewählt hat. Innerhalb des Jesajatextes bleibt nämlich merkwürdig offen, wer eigentlich Vater und wer eigentlich Mutter des verheißenen Kindes sind … Auch diese Möglichkeit fällt aus. R. Kilian resümiert den Textbefund: ‚Legt sich angesichts der Verschleierung der Vaterschaft bei Immanuel nicht doch die Annahme nahe, Jesaja habe den Vater des Kindes nicht gekannt?‘ Und das entspricht durchaus der Strategie der Immanuelverheißung. Denn für den angekündigten ‚Davidsnachkommen‘ ist nicht die Vaterschaft, also die biologisch korrekte Genealogie entscheidend, sondern allein die Namensgabe durch König Ahas – und das heißt: die Adoption dieses Kindes in die Davidsgenealogie. Erst durch diesen Akt wird die Geburt des angekündigten Kindes als ‚Zeichen ‚Gottes‘ ratifiziert. Ob nicht gerade diese Konstellation auf die vorliegende Genesiserzählung des Matthäusevangeliums projiziert werden soll? Denn auch in Mt 1,18–25 ist es durchaus nicht klar, wer der menschliche Erzeuger Jesu sein soll. Josef ist es jedenfalls nicht. Für Mt soll diese Frage auch gar nicht ausschlaggebend werden. Auf dem Hintergrund von Jes 7,14 ist für ihn allein die Geburt dieses Kindes entscheidend – sowie seine Benennung als Emmanuel durch die Gemeinde, wodurch Gottes heilsgeschichtlicher Wille ratifiziert wird. Das wäre pointiert zugespitzt die spezifisch matthäische Auslegung der Genesis Jesu ‚aus heiligem Geist‘“ (190–192). Dieser Text und das, was er sagt, kann für sich sprechen, auch wenn nicht alles so gesehen werden muß, wie der Autor es vorgestellt hat. L. Scheffczyk bringt in seinem Büchlein „Das biblische Zeugnis von Maria. Maria in der Heilsgeschichte“, 1979, folgende Aussagen, die offenkundig aus mariologischem Anliegen geschrieben sind. Wir betrachten darin nur das, was zu unserer Frage nach den Gründen gesagt wird, bei ntl. Texten von „jungfräulich“ u. ä. zu sprechen, obwohl dort dieser Ausdruck nie begegnet. Im Abschnitt „2. Die Jungfrau und Magd“ lesen wir u. a.: „Die Evangelien bezeichnen Maria häufig im gleichen Zusammenhang als Jungfrau und Mutter. Sie sprechen in vielen Fällen von der ‚jungfräulichen Mutterschaft‘ Marias (Mt 1,16f; 18–25; Lk 1,26–38.43; 2,1–7.34). Für sie steht außer Zweifel, daß die Mutterschaft Marias aus einer jungfräulichen Empfängnis kommt und daß sie in einer vaterlosen Zeugung aus Heiligem Geiste gründet“ (13). Dieser Satz ist voll von mißlichen Angaben: Es sind nicht „viele Fälle“, sondern faktisch nur zwei, nämlich Mt 1 und Lk 1! Von „jungfräulich“ spricht keiner dieser genannten Texte; von „Mutterschaft“ ebenfalls nicht; im besten Fall ist vom „gebären“ bzw. „geboren“ die Rede. Daß die Mutterschaft Marias „aus einer (!) jungfräulichen Empfängnis kommt (!)“, sagen die Texte auch nicht; und „daß sie in (!) einer (!) vaterlosen (wo steht das?) 316

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Zeugung (!) „aus Heiligem Geist (!) gründet (!)“, gibt der Text nicht an! Wenn wir die Formeln „die Mutterschaft Marias kommt aus einer jungfräulichen Empfängnis“ und „sie gründet in einer vaterlosen Zeugung aus Heiligem Geist“ zusammenschauen, erkennen wir die negative Bestimmung „vaterlos“ als das in diesem Fall Spezifische, womit auch das „jungfräulich“ als bestimmt erscheint. Der zitierte Text lautet weiter: „Nach Matthäus, der über das Wunder der Jungfrauengeburt vom Standpunkt Josephs her berichtet, ‚stammt das Kind, das sie im Schoße trägt, vom Heiligen Geist‘ (Mt 1,20; der Vers formuliert nur: „das Gezeugte in ihr ist aus Heiligem Geist“!). Auch in der marianischen (!) Perspektive des Lukas ist die Jungfrau, die von sich sagt, daß sie ‚keinen Mann erkenne‘ (der Text sagt: „da ich (meinen: 1,27!) Mann nicht erkenne“!), und welche die ‚Kraft des Höchsten überschatten wird‘ (Lk 1,34f.), die Gebärerin (wo steht das?) des Gottessohnes. So ist das Urteil gültig: ‚Die klaren Angaben in Mt 1,18–25 und Lk 1,27.34–35) zwingen den echten christlichen Glauben, die Jungfräulichkeit Marias vor der Geburt Jesu zu bekennen‘ (M. Thurian)“. Hier wird auch wieder anderes und mehr gesagt, als die Texte hergeben: R. S.. Die ersten Zeugen und Hörer der Botschaft von der Menschwerdung Gottes (!) aus (!) Maria haben diese Botschaft nicht anders verstanden denn als ein von Gott gewirktes Wunder (warum hier „Wunder“?) an (!) der Jungfrau. Sie haben sie als Heilszeichen aufgefaßt, das schon im Alten Testament vorbereitet und vorbedeutet war. Deshalb weist Matthäus auf das Prophetenwort Jes 7,14 hin, das sich an Maria erfüllt …“ (13). Dann heißt es nach einigem anderen: „Aber die Jungfräulichkeit der Mutter Jesu wird von den Evangelien auch noch auf andere Weise und mit anderen Gründen bezeugt. Bei Matthäus, der Maria auch in der Ahnenreihe Jesu aufführt (Mt 1,16; daß dort das Endglied der Ahnenfolge angegeben wird, scheint nicht erkannt zu werden), ist dieses Zeugnis für die Jungfräulichkeit Marias (wo steht etwas davon?) mit dem Bericht über die Zweifel Josephs verbunden (Mt 1,19–22; das ist kein Bericht, auch ist von keinem „Zweifel des Josefs“ die Rede!). … Beim Evangelisten Lukas aber ist es Maria selbst, die in der für das Marienbild des Neuen Testamentes in vieler Hinsicht bedeutsamen Verkündigungsszene (was sie gerade nicht ist!) ihre Jungfräulichkeit behauptet, wie das in der Frage geschieht: ‚Wie wird dies geschehen, da ich keinen Mann erkenne?‘ (Lk 1,34)“ (14; wir haben schon darauf hingewiesen, daß die Frage anders lautet; zudem diese Frage als „Behauptung (!) der Jungfräulichkeit Marias“ anzusehen, ist absurd; sie ist eine schlichte Feststellung!). Dann: „Aber im Zusammenhang mit der Erklärung des Engels über die wunderbare Empfängnis (wo ist davon die Rede?) betrachtet, die aus Heiligem Geist geschehen und im ‚Überschatten durch die Kraft des Höchsten‘ erfolgen (!) wird (der Text sagt: „Kraft des Höchsten wird dich überschatten“!), erfolgt hier doch eine Bekundung der jungfräulichen Empfängnis des Gottessohnes aus dem Munde Marias selbst, die damit zugleich diese Berufung (?) bejaht und annimmt. In diesem Sinn bezieht auch der Evangelist das Wort Marias in seine Darstellung ein, der es schließlich um nichts anderes geht als um die schon Matthäus festgestellte jungfräuliche Empfängnis zu einem Zeitpunkt, ‚als Maria mit 317

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Josef verlobt war, bevor sie zusammenkamen‘ (Mt 1,18)“ (14 und 15). Schließlich sei noch dieser Text zitiert: „An den biblischen Aussagen über die Jungfräulichkeit Marias ist ja zu ersehen, daß es sich hierbei nicht um eine aszetische Leistung zur Steigerung der eigenen Vollkommenheit handelt, aber erst recht nicht um eine Verachtung der Welt und ihrer gottgeschenkten Güter. Maria nimmt vielmehr die Berufung zur Jungfräulichkeit und diese Lebenshaltung an als Ausdruck der vollkommenen Hingabe an ihren Sohn. Die Jungfräulichkeit der Mutter ist also auf den vorbehaltlosen Dienst an Christus bezogen. Die ist Ausdruck der Ganzhingabe an den Herrn und Erlöser, die durch keine andere Hingabe an Menschen geteilt und gebrochen werden sollte. Sie sollte keinen anderen Partner und Adressaten haben als Christus selbst. So stellt sich ihre Jungfräulichkeit als Dienst an Christus dar und als Ermöglichung einer restlosen Hingabe an den Erlöser. Aber auch für diesen hat die vaterlose menschliche Geburt eine tiefe Bedeutung. Man kann zwar nicht behaupten, daß Gott das Kommen seines Sohnes in die Menschheit nicht auch unter Beanspruchung eines natürlichen menschlichen Vaters hätte ins Werk setzen können. Aber die Tradition war im Recht, wenn sie behauptete, daß allein die vaterlose Geburt des menschgewordenen Sohnes sein einzigartiges Verhältnis zum göttlichen Vater in seiner Besonderheit und Ausschließlichkeit offenbaren konnte. Auch unter diesem Blickpunkt kommt der ‚Jungfrauengeburt‘ eine das Geheimnis Christi entfaltende und erhellende Bedeutung zu“ (21). Auch dazu wäre vieles kritisch zu bemerken. Es sei nur darauf aufmerksam gemacht, daß Maria eben nicht veranlaßt wurde, ihren Ehebund mit Josef und allen daraus folgenden Haltungen und aktiven Treue-Erweisungen zu kündigen, um „allein Christus zu dienen“. Genau das zeigt, in welche „logischen“ Folgen man sich selbst bringt, wenn man die ntl. Texte „erklären“ zu müssen in der Weise, wie es hier geschehen ist, meint.4 4

M. Schmaus schreibt in seinem Beitrag „Dogmatik und Exegese zur Jungfrauengeburt (in „Jungfrauengeburt gestern und heute“, hrsg. v. H. J. Brosch und J. Hasenfuss, 1969) im Abschnitt II. u. a. dies: „Was den Sinn der Texte betrifft (d. i. die Schrifttexte, die zu „Jungfrauengeburt“ Aussagen machen), so sagen sie unmittelbar nach ihrem Wortlaut, Maria habe von Gott die Offenbarung empfangen, daß sie ohne männlichen Samen Mutter werden solle (Wo das überhaupt im NT gesagt wird, zeigt Schmaus nicht auf! R. S.). In negativer Hinsicht wird die Beteiligung eines Mannes verneint. Positiv schließt dies in sich, daß Maria sich vorbehaltlos dem göttlichen Ratschluß anheimgibt. Es wäre eine unwürdige, ihre Personalität verletzende Vorstellung, wenn man Maria nur unter biologischen Aspekt sähe und ihre personale Hingabe an Gott nicht als konstitutives Element betrachtete. Die Jungfräulichkeit der Empfängnis hat zwei Komponenten, eine göttliche und eine menschliche. Durch Gottes Eingreifen wird jener Prozeß gewirkt, den in einer gewöhnlichen Empfängnis der männliche Samen hervorruft (!). Durch Marias vorbehaltlose Bereitschaft für den göttlichen Heilsplan wird der Vorgang ein wahrhaft menschlicher Akt. Maria nahm Gottes Entscheidung auf “ (220). Dann: „Wenn in diesen Überlegungen die göttliche Ursächlichkeit (!) im Blick steht, so gewinnen wir doch das volle Verständnis für die These von der jungfräulichen Empfängnis erst, wenn wir auf den Grund und die Bedeutung des Vorgangs hinschauen. Die Schrift beantwortet die Frage nach dem Warum der jungfräulichen Empfängnis nicht. Wir sind auf theologische Vermutungen (!) angewiesen (!). Diese lassen sich mit einem gewissen Grad von Wahr-

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e) „Jungfräuliche Mutterschaft Marias“ in den Kommentaren

Auf den ersten Blick kann es aussehen, daß dazu kaum etwas zu sagen bzw. kritisch zu bemerken ist. Wenn Maria ohne Zweifel Jesus „im Schoße hatte“ (1,18 in seinem Kontext verstanden) und ihn geboren hat (Mt 1,25 wie auch Lk 2,1–20 im Kontext Lk 1–2), dann scheint es problemlos klar zu sein, was der Muttertitel für Maria in Bezug auf Jesus meint. Doch zeigen viele Kommentartext-Beispiele, daß es gut ist aufzumerken. Es mag daran erinnert werden, daß das Konzil von Ephesus sich intensiv Gedanken gemacht hat und nicht ohne Grund den Ausdruck „qeoto,koj“ für Maria eingesetzt hat und nicht „mh,thr tou/ qeou/“, was deutsch „Gottesgebärerin“ und nicht „Mutter Gottes“ heißt. (Auf den allgemein üblich geworden Ausdruck „Gottesmutter“ u. ä. reflektieren wir hier ausdrücklich nicht, weil wir uns um den expliziten Aussagegehalt der nt. Texte kümmern.) Meistens werden beide Wendungen, „Gottesgebärerin“ und „Mutter Gottes“, als sachlich dasselbe aussagend verstanden und verwendet, eben auch von Exegeten des NT und den Kommentatoren dieser Texte. Tatsächlich wird Maria im MtEv Mutter Jesu genannt, 1,18; später dann noch öfter in zweifellos wichtigen Kontexten, wie Mt 2,11.13.14.20.21 in der stereotypen Formel „das Kind und seine Mutter“. Andererseits hat Mt 12,46–50 par immer drängende Fragen ausgelöst, da einerseits von Jesu Mutter und seinen Brüdern (und Schwestern) wie selbstverständlich gesprochen wird. Jesus fragt dort jedoch: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?“ und weist dazu auf die ihn Hörenden hin mit dem bezeichnenden Satz: „Wer den Willen meines Vaters, der in den Himmeln ist, tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter“! Das scheint nach einem Sich-Distanzieren Jesu von seiner Mutter zu klingen (so wird es auch oft interpretiert, doch zu Unrecht), scheinlichkeit aus einer umfassenden Sicht des christlichen Glaubens gewinnen. In der Perspektive des Gesamtbildes der christlichen Offenbarung läßt sich auf jeden Fall in negativer Abgrenzung sagen, was nicht der Grund der jungfräulichen Empfängnis gewesen sein kann. Mit Entschiedenheit muß die Meinung zurückgewiesen werden, daß ein irdischer Vater in der Menschwerdung des ewigen Gottessohnes ein Konkurrent zur ewigen Vaterschaft Gottes gewesen wäre. … Außerdem würde eine solche Begründung außer acht lassen, daß es sich bei Gottes Vaterschaft um die ewige Hervorbringung des göttlichen Logos in der Lebensfülle Gottes d. h. immerwährenden Akt hervorgebrachten Logos die Ergreifung eines von einer irdischen Mutter empfangenen und geborenen Menschen besagt, und zwar die Ergreifung mit einer solchen Kraft, daß der ewige Logos das personale Selbst dieses von ihm ergriffenen Menschen ist“ (221f.) Dann: „Endlich drückt sich in der jungfräulichen Empfängnis aus, daß Gott einen Menschen (Maria) personal-existentiell völlig für eine Heilsaufgabe beanspruchen kann, ohne daß dessen Fruchtbarkeit für die Rettung der Welt auszufallen braucht. Diese Momente bedeuten, um es noch einmal zu sagen, keine zwingende Gründe für die jungfräuliche Empfängnis Jesu. Sie lassen diese aber sinnvoll und heilsbedeutsam erscheinen. Nicht nur um das Faktum an sich geht es, sondern auch um seine Bedeutsamkeit. Diese würde ein leeres Wort, wenn sie nicht in der Realität verwurzelt wäre. … Diese Sinnerklärung der jungfräulichen Empfängnis zeigt, daß diese in das Kerygma von Gottes rettender Heilstat hineingehört und nicht bloß eine interessante Erzählung von einem Mirakel ist. Als solches erscheint es in den apokryphen Evangelien“ (223).

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zeigt aber gerade auf, daß diese Ausdrücke wie „Vater“, „Mutter, „Brüder“ usw. auch „metaphorischen“ Sinn haben können, wenn sie vom Sprecher im konkreten Fall so eingesetzt werden. Wir sind damit aufmerksam gemacht, daß Wörter, „Titel“ und „Zuordnungen“ in Bezug auf Jesus Christus behutsam zu wählen bzw. zu verstehen sind. Der Mutter-„Titel“ in Mt 1,18 könnte, da 1,18–25 ja als erklärende Fußnote zu lesen und zu verstehen ist, sich auf die Angabe in 1,16 stützen, wo es von Maria heißt: „aus der geboren wurde Jesus, der Christus Genannte“. Das würde mit dem in 1,25 Gesagten („bis sie den Sohn gebar“) korrespondieren, aber auch mit den Worten des Boten des Herrn in 1,21 und dem folgenden Jes-Zitat. Tatsächlich zeigt sich jedoch, daß 1,18 als eine Problemstelle angesehen wird, auch und gerade was der Ausdruck „Mutter“ hier an realem Bedeutungsgehalt ausspricht. Bezeichnend ist ja, daß die Kommentare hier stets das herausstellen, was der Mt-Text nicht sagt, was aber, wie man meint urteilen zu sollen, unbedingt gesagt, jedenfalls klärend hinzu-gesagt werden müsse, damit keine Mißverständnisse auftreten bzw. suggeriert werden. Wir zeigen das Problem beispielhaft am Kommentar-Text von J. Gnilka auf. Er überschreibt 1,18–25 mit „Jesu Geburt und Namengebung“, obwohl von „Geburt“ dort überhaupt nicht gesprochen wird. Dann: „Gemäß der Überschrift (die Gnilka erfunden hat!) will die Geschichte von der Geburt Christi berichten (!)“ (16), was sofort so erklärt wird: „Obwohl wir schwerpunktmäßig (!) von Ereignissen hören, die sich davor (!) zutragen, wird die Geburt, diesmal mit dem Zusatz ‚in Bethlehem in Judäa‘, in 2,1 wieder aufgegriffen (!)“ (16f). Dann zu 18b-19: „Als Maria Josefs Braut, seine Verlobte, war, ereignete sich das Berichtete (!), womit hier das in 18b Gesagte gemeint ist: „daß sie ein Kind trug, aus heiligem Geist“ (17). Es wird hinzugefügt: „Ausdrücklich (!) wird festgestellt, daß Marias Empfängnis (davon ist keine Rede!) nicht auf Josef zurückgeführt werden kann“. Der Satz in 18b sagt demgegenüber: „evn gastri. e;cousa evk pneu,matoj a`gi,ou“! Das sagt nicht einmal ein „Tun“ oder „Getan-haben“ Marias aus. Die Aussage dieses Passus ist so offen zu lassen, wie sie spricht. Sie sagt in aller Klarheit aus, was der Fall war/ist, und zugleich, wer hier etwas „getan“ hat bzw. aus dem das der Fall ist, was klar gesagt ist: heiliger Geist (sachlich = Gott). Der Kommentator behauptet jedoch, es sei dort „ausdrücklich festgestellt“, wer nicht tätig war; er wird namentlich benannt, Josef, auf den nicht zurückgeführt werden könne, was „Empfängnis Marias“ genannt wird. Der Mt-Text spricht nichts in negativer oder verneinender Rede aus, sondern von Gott und seinem „Tun“, das in der Präposition „evk – aus“ ausgesagt ist bzw. ganz offen gelassen anklingt, aber in hinreichend positiver Sprechweise. Im Kommentar jedoch heißt es weiter: „Nicht daß ein Kind, sondern wie es geboren wird, steht im Vordergrund. ‚Aus heiligem Geist gezeugt‘ (wo steht das im Text?) präzisiert (!) 1,16b, wo alles noch rätselhaft bleibt. Die griechische Formulierung (ek) bezieht sich auf den Zeugungsvorgang (!) und ist im Vergleich mit Lk 1,35 insofern ungeschützter, als sie an einen übernatürlichen Samen denken lassen könnte, der sich substanzhaft (!) mit der Frau verbindet (!). Ihr Sinn ist: das Kind stammt aus heiligem Geist und (!) aus Maria“ (18). Dazu wird im Exkurs „Die Jung320

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frauengeburt Jesu“ gesagt: „Die Zeugung aus dem Geist verbindet sich (!) mit seiner Geburt aus dem unberührten Mädchen (!) Maria. Darin stimmt Mt mit Lk 1,26ff überein. Der Akzent liegt auf dem ersten, es geht um eine christologische Aussage. In der Genealogie ist sie vorbereitet (1,16b), in 1,18ff wird sie entfaltet (!) … so erfüllen die beiden einführenden Einheiten die Funktion (!), Jesus dem Leser nach Art einer ‚Zweistufen-Christologie‘ vorzustellen. Die Genealogie ordnet ihn in die Menschheit ein (!), die folgende Geschichte zeigt seine durch Gott gewirkte Erschaffung (!; wieder ein ganz neuer Begriff !) an … als aus dem Geist Erzeugter ist er Sohn Gottes“ (22). Das Ganze ist Phantasie-Erfindung des Kommentators, der die Formulierungen des Mt-Textes gar nicht erkannt zu haben scheint. Der Text nennt Maria ausdrücklich Ehefrau des Josef aus dem Hause Davids, die „im Schoße hatte aus heiligem Geist“, er sagt somit klar, daß Gott auf dieses Ehepaar des Hauses Davids zugeht (auf Josef) bzw. ein-gegangen ist (Maria, 18a. b.), um den Immanuel dem Volk Israel zu schenken und damit aller Welt (Mt 2). Der Kommentator aber legt Wert darauf, herauszustellen, was nicht der Fall ist. Er spricht lieber von einem „unberührten Mädchen“ (negative Aussage!) und von Erzeugung bzw. sogar Erschaffung dessen, der so Sohn Gottes ist, was nicht hindert zu betonen, daß „das Kind aus heiligem Geist und aus Maria stammt“, beide also, wie in der Genealogie es für alle Zugehörigen des Davidstammes in 1,2–17 formuliert worden war, die Eltern des Kindes sind (für beide in der ganz eigenartigen Weise der Sätze in Mt 1–2 aufgrund des dort genau benannten Wirkens Gottes). Wir bemerken, daß dies alles von einem Exegeten zur ersten Auslegung des Mt- Textes und dessen, was dieser selbst explizit sagt, vorgebracht wird. Auf die fehlenden Angaben zur Klärung der Aussage des Evangelisten und auf die vielen Vermutungen, die aber einfach als „ausdrückliche Feststellungen“ des Textes behauptet werden, haben wir hinreichend hingewiesen; weiteres wird später noch zu sagen sein. P. Gaechter erklärt zu 1,18 u. a. dies: „ ‚vom heiligen Geist‘ (evk pneu,matoj a`gi,ou!). In diesem Wort liegt der ganze Verkündigungsbericht Lk 1,26–38 enthalten, doch ist der Ausdruck recht allgemein. Er besagt soviel wie: Es ist Gott, indem sich Gott hier als Quelle des Lebens geoffenbart hatte. … daß an ihr ein Wunder Gottes geschehen war … Die dritte Person der Gottheit hatte in ihrer Funktion (!) als ‚Geist des Lebens‘ (Rm 8,2) in Marias Schoß durch Gottes Allmacht das Kind ins Dasein gerufen und ihm göttliches Leben mitgeteilt. Die Verwendung des Ausdrucks ‚heiliger Geist‘ erklärt sich letztlich aus der Botschaft des Engels an Maria (Lk 1,35) …“ (46). Dann: „Gott habe an ihr etwas Wunderbares vollbracht … nachdem Gott seine (d. i. Josefs) Braut zu einer so unerhörten und unbegreiflichen Mutterschaft ausersehen hatte“ (47). Dann heißt es weiter: „Im vorliegenden Fall sollte dieser rechtliche Akt (d. i. das Zu-sich-Nehmen seiner Frau durch Joseph) engste Beziehung zum Messias haben; nur um seinetwillen hatte sich der Gottesgeist in Maria ausgewirkt (!) … to. gennhqe.n betont nicht das Gezeugtsein als solches …, sondern besagt einfach (!) das im Mutterschoß zum Leben gebrachte Kind. … der in Mt 1 und übereinstimmend damit in Lk 1 gebotene Bericht (!) über die Menschwerdung (!) Jesu … Die besteht in einer 321

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jungfräulichen Empfängnis und Geburt aufgrund einer unmittelbaren, wunderbaren Einwirkung Gottes auf die Mutterkraft Marias (!). So wird verständlich, warum es Gott selbst war, der dem Joseph hierüber volle Gewißheit gab“ (49). Dem ist noch hinzufügen: Zu 1,25 sagt Gaechter abschließend: „Für Joseph, wie für die späteren Träger und Former der Tradition, bedeutete es eine vorgegebene, unverrückbare Tatsache, daß Jesus ohne Mitwirkung eines Mannes, durch unmittelbare Einwirkung Gottes, von der Jungfrau Maria empfangen und geboren ist. … die Tatsache göttlichen Empfängnis (!) Jesu …“ (54f). E. Lohmeyer sagt zu Mt 1,18 – 2,23 zu Anfang dieses: „Der Gedanke einer göttlichen Urheberschaft oder der Geistzeugung ist gewissen jüdischen Kreisen nicht völlig fremd gewesen … Auch Mt 1,18–25 ist das nicht anders … Neben diesem ersten Motiv steht … mit größerem Gewicht das zweite der Namengebung. Namen der alten Zeit gelten als vom heiligen Geist gewirkt (Gen R. 37, f.22); die bestimmen Leben und Werk ihrer Träger wie ihrer Umwelt … Wie der Gedanke der Geistzeugung, so haftet auch nicht der der Namengebung an dem des Messias … Wenn der erste die Mutter des Kindes begnadet, so der zweite den Vater. Man begreift von hier aus, daß die Erzählung in ihren verschiedenen Motiven eine Einheit bildet, aus der man nichts herausnehmen darf; zugleich auch, in welchem Sinne Joseph der Vater heißen kann und muß: Er gab ihm von Gott her den Namen, Maria vom Geist her das irdische Leben“ (14). Das ist inakzeptabel: Maria gibt nicht, auch nicht aus Gnade, das irdische Leben (was ist damit überhaupt bei Jesus gemeint?), gar gerade so, wie Joseph, der Vater Jesu, „den Namen von Gott her gibt“; er gibt den gott-befohlenen Namen „Jesus“, wobei dieser Name ja nach 1,21 sagt, was er ist und wirkt: Jahwe rettet. Das gibt nicht Joseph!, auch nicht „aus Gnade“. Auch was Lohmeyer dann zu 1,18f sagt, kann nicht durchgehen: „Gottes Geist hat das Kind gezeugt; was kein Denken vereint –, Heiliger Geist und menschliche Zeugung, das ist hier wundersame Wirklichkeit … Der Gedanke dieser Geistzeugung … die schöpferische Macht, die menschlich-göttliches Leben im Schoße einer Jungfrau erzeugt“ (16 und 18). Das ist keine Auslegung des Mt- Textes; worin hätte die ihre Berechtigung? Sie ist im besten Fall eine meditativfreie Weiterführung dessen, was Mt aussagt. „Menschlich-göttliches Leben im Schoße Marias“, das als „Geistzeugung“ verstanden wird, bleibt frei erfunden und unerklärt (und ist so unannehmbar). M. Krämer spricht in seinem Artikel „Die Menschwerdung Jesu Christi nach Matthäus (Mt 1)“ auch ausdrücklich von der „jungfräulichen Mutterschaft Marias (vv. 18–25) und der „Jungfräulichkeit der Geburt Jesu“ (2). Zu 1,18–25 sagt er im betreffenden Kontext: „… durch die Geburt des Jungfrauensohnes erhielt die EmmanuelProphezeiung ihre Erfüllung … Und daraus ist ersichtlich, daß es ihm (d. i. Matthäus) nicht um die Verteidigung der jungfräulichen Empfängnis ging, sondern um die Verteidigung der Messianität Jesu … stellte er seinen Lesern diese Geburtsgeschichte dar, aus der ersichtlich ist, wie die Emmanuel-Prophezeiung die Art der Menschwerdung Jesu bedingte und umgekehrt, wie die Geburt Jesu ihrerseits die Prophezeiung ver322

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wirklichte, d. h. sie erfüllte. Und zwar nicht nur inwiefern diese Geburt die jungfräuliche Empfängnis realisierte, sondern im weiteren und vollerem Umfang, inwiefern sie die rettung-verheißende Emmanuel-Prophezeiung zu einer Wirklichkeit machte. Nun kann auch dem Aspekt: Jungfräuliche Empfängnis mit fundierter Sicherheit sein Platz in dieser Perikope zugewiesen werden“ (17f). Dann spricht Krämer „von dem Anteil des Heiligen Geistes an der Mutterschaft Marias … weil das Kind aus dem Heiligen Geiste empfangen ist“ (25). Von einem „Anteil an der Mutterschaft Marias“ zu sprechen, ist unerhört und schlicht abzuweisen. A. Müller formuliert in seinem Buch „Glaubensrede über die Mutter Jesu“ im 8. Kapitel einmal so seine Äußerung zur „Jungfräulichen Mutterschaft Marias“: „Es gibt mehrfach bezeugte urchristliche Glaubensrede, daß Jesus der Sohn einer Jungfrau war, die ihn kraft des Heiligen Geistes empfing … die Rede von der jungfräulichen Messiasmutterschaft … eine Mutterschaft, bei welcher ‚Gott der Vater ist‘, ist eine Mutterschaft, die ganz in Transzendenzperspektive zu sehen ist, nicht nur vom Gezeugten, sondern auch von der Mutter und der Mutterwerdung her …“ (96; vgl. dazu noch die weitern Ausführungen 98f dazu). K.-H. Menke kommt in seinem Buch „Fleisch geworden aus Maria“ im einleitenden Teil „Exkurs: Die Mariologie als Brennpunkt der theologischen Erkenntnislehre“ (15–20) auf die „Jungfräuliche Mutterschaft Marias“ näherhin zu sprechen. Da fällt diese Formulierung auf: „Dabei steht das Dogma von der jungfräulichen Empfängnis nicht nur deshalb im Mittelpunkt, weil es zumindest von Mt und Lk explizit bezeugt ist (wo er das dort findet, sagt er nicht), sondern auch, weil der Streit um das Zueinander von Sach- und Erkenntnisgrund, von Faktum und Deutung, von faktischer Fleischwerdung Gottes und faktischer Parthenogenesis, die gesamte Mariologie involviert“ (19). Dazu ist auf die Anmerkung 14 (S. 18) zu achten, wo dieser Satz steht: „Wenn man die Gottesmutterschaft Mariens als das ‚objektive Fundamentalprinzip‘ und das stellvertretende Ja-Wort als das ‚subjektive Fundamentalprinzip‘ der Mariologie bezeichnet, dann läßt sich rasch erkennen, daß das eine vom anderen untrennbar ist. Denn ihr Empfangen (ihr Mutter-Werden) war zugleich das ganz personale (immakulate) Ja-Wort“. In diesem Satz fällt die erklärende Klammeraussge zu „Empfangen“ auf. Was heißt und bedeutet genau „empfangen“ (hier für die Frau in dem hier angedeuteten Geschehen), und was heißt dabei genau „Mutter-Werden“? Ist die Frau irgendwie aktiv tätig bzw. mit-tätig? Das ist gerade wichtig im Blick auf das zu erkennen, das hier als „Ja-Wort“ genau gemeint ist. – Dann lesen wir zu Mt 1,1–25 u. a. diesen Satz: „Mt weiß um die jungfräuliche Mutterschaft Marias; aber er weiß auch, daß der Messias aus der Wurzel Jesse stammt, Nachkomme Abrahams, Nachkomme Davids ist“. Die Frage: Woher, meint Menke, daß es Matthäus weiß, zumal eben die „jungfräuliche Mutterschaft Marias“? Der Text selbst sagt nur das, was er auch uns hergibt; alles Weitere sind gegebenenfalls berechtigte oder auch nicht berechtigte Folgerungen, die aber ausgewiesen werden müßten.

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L. Scheffczyk formuliert in seinem Büchlein „Das biblische Zeugnis von Maria. Maria in der Heilsgeschichte“ im Abschnitt „2. Die Jungfrau und Magd“ zu Beginn so: „Während die Messiasmutterschaft gleichsam die Wurzel und den Stamm der biblischen Marienwahrheit darstellt, bildet die Jungfräulichkeit ihre Blüte. Die Evangelien bezeichnen Maria häufig im gleichen Zusammenhang als Jungfrau und Mutter. Sie sprechen in vielen Fällen von der ‚jungfräulichen Mutterschaft‘ Marias (Mt 1,16f.; 18–25; Lk 1,26–38.43; 2,1–7.34). Für sie steht außer Zweifel, daß die Mutterschaft Marias aus einer jungfräulichen Empfängnis kommt und daß sie in der vaterlosen Zeugung aus Heiligem Geiste gründet. Nach Matthäus, der über das Wunder der Jungfrauengeburt mehr vom Standpunkt Josephs her berichtet, ‚stammt das Kind, das sie im Schoße trägt, vom Heiligen Geist‘ (Mt 1,20). Auch in der marianischen Perspektive des Lukas ist die Jungfrau, die von sich sagt, daß sie ‚keinen Mann erkenne‘, welche die ‚Kraft des Höchsten überschatten wird‘ (Lk 1,34f.), die Gebärerin des Gottessohnes. So ist das Urteil gültig: ‚Die klaren Aussagen in Mt 1,18–25 und Lk 1,27.34–35 zwingen den echten christlichen Glauben, die Jungfräulichkeit Marias vor der Geburt zu bekennen‘ (M. Thurian)“ (13). In diesem Text fällt vieles auf: So die Aussagen über das, was die zitierten Texte selbst wirklich sagen; das zeigt die Einzelanalyse, die wir oben gegeben haben, eindeutig auf. Es sind auch nicht „viele Texte im NT“, die die „jungfräuliche Mutterschaft Marias“ aufweisen; denen, die tatsächlich genannt werden, ist dieses „Fachwort“ von außen als Inhaltsangabe zugesprochen! Was Scheffczyk im einzelnen aufweist, ist schon auswertende Interpretation, die nur implizit Mit-Ausgesagtes bedenkt. Dasselbe gilt für anderes des Behaupteten, so z. B. für „Wunder der „Jungfrauengeburt“, „Jungfräulichkeit“ usw. f) „jungfräuliche Empfängnis“ = „vaterlose Zeugung Jesu“

Beispiele von Kommentar-Texten H. Schürmann, Lk-Kommentar: Er bringt zu Lk 1,26–35 u. a. folgende Formulierungen: „Die Erzählungstendenz der Verkündigungsszene ist eminent christologisch: Es geht letztlich darum, die dem Glauben feststehende Messianität und ‚Gottessohnschaft‘ Jesu theologisch zu begründen. Das geschieht durch den Aufweis, wie Jesus sein menschliches Dasein der schöpferischen Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau verdankt. Der Bericht schildert von Anfang bis Ende … Gottes Wirken im Lichte der Prophetie Jes 7,14 LXX, die ihn gänzlich und von Grund auf gestaltet. Es geht dabei nicht nur darum, die Verheißung der Jungfrauengeburt als erfüllt zu bezeugen; die vaterlose Lebensentstehung Jesu ist dem Bericht vielmehr wichtig, weil an ihr christologische Aussagen deutlich werden: (unmittelbar) Jesu ‚Heiligkeit‘ und (mittelbar) die in Gott gründende ‚Gottessohnschaft‘ offenbaren sich darin; vgl. V 35)“ (40). Dazu: „Daß der Name wiederum von Gott festgesetzt wird (vgl. schon 1,13), zeigt, daß Gott seine Hand auf dieses Kind gelegt hat. Anders als 1,13 (vgl. Mt 1,21) wird die Mutter zur Namensgebung aufgefordert (…), worin sich vielleicht auch die Vater324

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losigkeit der Empfängnis andeutet, besonders, wenn man den Rückbezug auf Is 7,14 anerkennt“ (46f). Dann: „Denn eben die Vaterlosigkeit dieser Empfängnis, die V 27 (2mal parthenos; s. dort) erzählerisch vorbereitet ist und sich V 31 (s. dort) schon andeutete, will V 35 sicherstellen …“ (50). Dazu: „35a. Die Frage hat der folgenden Erklärung des Engels den Weg bereitet: Die Verlobte wird ohne ehelichen Verkehr, eben als Jungfrau (27), empfangen“ (52; vgl. dazu ähnlich die Stellen auf den Seiten 60; 61; 62; 63; 64, wo jeweils dieselbe Formulierung eingesetzt erscheint. Wir beachten, daß diese Sätze zu den Versen der Ankündigung der Empfängnis Jesu gemacht sind, zumal zu 1,28 (!!); 1,30f; 1,34 und 35a und b. Die weiteren Sätze begegnen in den langen Besprechungen zu „Jungfräulichkeit“, „Vaterlosigkeit u. ä. A. Stöger (Lk-Kommentar) sagt zu Lk 1,26–38 u. a.: „Unerhört neu ist das göttliche Handeln. … Jetzt soll eine Jungfrau Mutter werden, ohne jedes Mitwirkens eines Mannes … In dieser Empfängnis und in diesem Wirken Gottes ist alles übertroffen, was bisher an den Großen der Heilsgeschichte geschah … Der Geist ist Schöpferkraft Gottes. Das Wunder der vaterlosen Empfängnis des Christus ist höchste Offenbarung der schöpferischen Freiheit Gottes … Ein neuer Stammvater entsteht durch Gottes freie Schöpfertat, aber unter dem Mitwirken der alten Menschheit durch Maria. Jesus ist Sohn Gottes wie sonst niemand“ (3,38)“ (37). Dazu sogleich: „Die Herrlichkeit Gottes, die Kraft ist, erfüllt Maria und wirkt in ihr das Leben Jesu. In Jesus offenbart sich die Herrlichkeit Gottes durch die Menschwerdung aus Maria …“ (48; usw.). W. Schmithals (Lk-Kommentar) bringt zu Lk 1,26–38 u. a. dies vor: „Die auffällichste Steigerung ist die jungfräuliche Zeugung Jesu. Während Johannes nach der Empfängnis im Mutterleib mit dem Heiligen Geist erfüllt wird (V. 15), wird Jesus ohne Zutun eines Mannes aus der Kraft des Heiligen Geistes gezeugt und von einer Jungfrau geboren. Durch diese ungewöhnliche Art der Zeugung … soll die Bedeutung des Kindes herausgestellt werden: Man muß Jesus von Gott her verstehen. In der Bibel wird nur von Jesus die Jungfrauengeburt behauptet …“ (25). Vgl. dort auch das Folgende 26–28. Fr. Bovon (Lk-Kommentar) schreibt zu Lk 1,26–38 u. a. dieses: „Das Motiv der Jungfrauengeburt, besser gesagt der wunderbaren Empfängnis der Maria durch den heiligen Geist ist in eine Erzählung eingebettet, deren Gattung wir klar bestimmen können … Schwangerschaft und Geburt sind mit dem üblichen Wortschatz ausgedrückt (1,31; 2,5–7.11.21.23), in 1,35 jedoch ersetzt Gott durch die Wirkung seines Geistes den männlichen Vater, so daß ‚Sohn des Höchsten‘ (V 32) nun im buchstäblichen Sinn zu verstehen ist. Neben das Motiv der Jungfräulichkeit tritt also das der Vaterschaft Gottes und schließlich das der Verheißung des Engels. V 35 wiederholt den Titel des Sohnes (in Verbindung mit qeou/ statt u`yi,stou, V 32, und fügt das kultische a[gion hinzu“ (65). Dazu sogleich: „Die Frage der Herkunft der Motive ist von erheblicher Bedeutung, denn diese Thematik findet sich im Neuen Testament sonst nur noch in Mt 1,18–25. Dort wird sie mit Jes 7,14 LXX in Verbindung gebracht, auch dort gehören Jungfräulichkeit und Vaterschaft zusammen. … Die Jungfraugeburt 325

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steht am Ende dieser Entwicklung, wie die späten Legenden von Mt 1–2 und Lk 1–2 auch formgeschichtlich bezeugen … Die Rolle des Gottes war so entscheidend, daß die Figur des Vaters manchmal verdrängt wurde …“ (66). Dazu auch zu Lk 1,35 u. a.: „Beide Verben besitzen als solche keine sexuelle Komponente, erklären hier aber, wie die göttliche Kraft die männliche Zeugung ersetzen wird. … Es ist hier einfach von Gott die Rede, weil u[yistoj im hellenistischen Judentum verbreitete Gottesbezeichnung ist. Damit wird die Erhabenheit des göttlichen Vaters Jesu ausgesprochen“ (76). W. Knörzer (in „Wir haben seinen Stern gesehen. Verkündigung der Geburt Christi nach Lukas und Matthäus“) schreibt zunächst pauschal zu Mt und Lk: „Beide Evangelien betonen, daß das Jesuskind nicht von Josef gezeugt, sondern vom Heiligen Geist empfangen wurde (Mt 1,28–35 und Lk 1,26–38)“ (66). Im „Exkurs: Jungfrauengeburt – Anstoß des Glaubens“ (67–90) spricht er dann so: „Die Zeugung des Messias durch Gottes Geist aus der Jungfrau Maria ist immer wieder kritischen Bedenken unterzogen worden. Wie kann geschehen, daß ein Kind ohne Vater gezeugt wird? Und warum sollte Gott für unsere Erlösung einen solchen Weg wählen, wenn Erlösung auch ohne wunderbare Geburt denkbar wäre? … Die Jungfrauengeburt gehört zum Glauben. Aber sie ist nicht Zentrum des Glaubens“ (87). Das wird im folgenden an „Jungfrauengeburt“ weiter besprochen, auf die gestellten Fragen aber keine Antwort gegeben. A. Vögtle (in „Offene Fragen zur lukanischen Geburts- und Kindheitsgeschichte“, 1971) fragt innerhalb der Problemstellung seines Artikel: „Warum begegnet im Kerygma dann nicht geno,menoj evk pneu/matoj a`gi,ou – evk parqe,nou oder äquivalente Aussagen, wenn als historischer und überlieferter Kern der Umstand vorausgesetzt ist, daß das Werden Jesu im Schoße Mariens nicht durch das Zutun eines Mannes, sondern durch die schöpferische Kraft Gottes verursacht wurde?“ (47). Das wird im dort Folgenden diskutiert, stets unter Verwendung von „jungfräuliche Empfängnis“ als Hauptstichwort und folgende Formeln: „Das urapostolische Kerygma … bedurfte dieser Verkündigung des Hinweises auf die vaterlose Lebensentstehung nicht“ (48; 49); s. dort die gesamte Diskussion S. 47–52). ––– A. Vögtle (in „Unnötige Glaubensbarrieren“, 1998) sagt im dortigen Unterabschnitt „Warum Geburtsankündigungen im Lukas- und Matthäusevangelium?“ (119–130) u. a. dies zu Mt 1,18ff: „Der anschließend genannte Entschluß des im Gesetz ‚gerechten‘ Josef, Maria ohne Strafanzeige zu entlassen (1,19), setzt denn auch voraus, daß dieser nur mit der Zeugung durch einen Mann, nämlich durch einen anderen Mann, rechnet“ (127). Dazu etwas später: „… Konzipierung des unüberbietbaren Wunders der geistgewirkten Empfängnis … Die in ihrer Art analogielose Empfängnis- und Geburtsankündigung von Jes 7,14 konnte einem christlichen Schriftexperten eines Tages durchaus auffallen … Als mögliche Potenzierung der göttlichen Initiative blieb ohnehin nur die Schöpfermacht Gottes als empfängniswirkende Kraft übrig“ (133). Weiteres dazu s. im dortigen Kontext.

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Text-Beispiele aus eher zusammenfassenden Werken von Bibelwissenschaftlern und systematisch schauenden Theologen: H. Räisänen (in seinem Buch „Die Mutter Jesu im Neuen Testament“) spricht öfter in der fraglichen Formel. Im Unterabschnitt „Die Bedeutung der jungfräulichen Empfängnis für die Christologie des Matthäus“ fragt er zunächst: „Welche Stellung hat der Gedanke der jungfräulichen Empfängnis in dem Gesamtbild der matthäischen Christologie? Beruht etwa die Gottessohnwürde darauf, daß der menschliche Vater keinen Anteil an seiner Geburt hatte? Eine überzeugende Antwort auf diese Frage ist schwer zu finden, da Matthäus hierüber schweigt … So kommt auch der Gottessohn-Titel in dieser Erzählung nicht vor; Jesus erhält dagegen den Titel Christus und Immanuel. Matthäus macht keine Aussagen über das Wesen Jesu. Wenn die Gottessohnschaft sich auf diese Weise der Empfängnis gründen soll, dann setzt Matthäus diesen theologischen Schluß voraus“ (73; dazu auch 75f). Dann: „… den Gedanken der jungfräulichen Empfängnis … Die Empfängnis der unfruchtbaren Greisin ist ein Wunder, das nur durch die Schwangerschaft einer Jungfrau ohne Zutun eines Mannes übertroffen wird. Der Hinweis auf Elisabeth zeigt, daß der Erzähler die jungfräuliche Empfängnis voraussetzt (zu Lk 1,26–38) … Darauf weist auch schon die Tatsache hin, daß Maria, eine Jungfrau, die Erscheinung erfährt. Hätte das Original nur die Ankündigung der Geburt des Messias ohne den Gedanken einer außerordentlichen Empfängnis enthalten, dann wäre der Vater des Kindes – ebenso wie im Falle des Zacharias – der natürliche Empfänger dieser Botschaft gewesen …“ (83). S. dann weiter auch 153; 182; 190f (zu Ignatius v. A.). O. Knoch (in seinem Beitrag „Die Botschaft des Matthäusevangeliums über Empfängnis und Geburt Jesu …“ (in „Zum Thema Jungfrauengeburt“, 1970) schreibt im dortigen Kontext: „Die beiden Kindheitsgeschichten stimmen … in der Aussage überein, die beide Male betont herausgestellt wird: daß nicht Josef der Vater dieses Kindes ist, sondern Gott selbst, durch ein wunderbares Eingreifen unter Ausschaltung des Josef und jedes anderen Mannes (vgl. Mt 1,16.28–25; Lk 1,34f)“ (38). Dann zu Mt 1,18–25 u. a.: „Demnach sagt der Text V. 16 am Höhepunkt des Stammbaumes Jesu, daß Jesus nur kraft Adoption des Davididen Josef zur Sippe Davids gehört, nicht aber durch die biologische Vaterschaft Josefs … daß Josef zwar der Mann Marias, nicht aber der biologische Vater des Messiaskindes ist, sondern dessen Adoptivvater … Gerade dies aber ist von Josef nicht ausgesagt, daß er aus Maria den Jesus zeugte“ (45). Dazu sogleich weiter: „Gott muß also neu anfangen, soll der Messias nicht einfach der Höhepunkt und Erbe dieser Kette von Sündern sein“ (46). Vgl. 47–49 dazu. Zu Gal 4,4 heißt es: „… echten Menschseins Jesu. Nach einhelliger Auffassung der Ausleger will Paulus hier nichts über die besondere Herkunft Jesu aus einer Jungfrau bzw. einer jungfräulichen Mutter ohne menschlichen Vater sagen“ (53). Dann: „Die übrigen Aussagen des vierten Evangelisten über die Herkunft Jesu scheinen der Überlieferung von der jungfräulichen Empfängnis und Geburt Jesu geradewegs zu widersprechen. Sie werden daher vor allem von jenen Theologen herangezogen, wel327

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che die Aussage von der vaterlosen Empfängnis Jesu nur als theologische Einkleidung der Glaubensüberzeugung verstehen: Jesus ist Gottes Sohn, und so wahrer Gott und wahrer Mensch“ (54). Als „Ergebnis“ hält Knoch fest: „Matthäus schöpft ebenso wie Lukas aus einer Überlieferung, welche die Vaterschaft Josefs und auch die eines anderen menschlichen Vaters ausdrücklich verneint und das Werden Jesu im Schoße Marias auf das schöpferische Eingreifen Gottes zurückführt“ (56; dazu auch 57 und 58). J. Michl schreibt in seinem Beitrag „Die Jungfrauengeburt im Neuen Testament“ (in „Jungfrauengeburt gestern und heute“, 69) im dortigen Kontext: „Damit kommt der Glaube zum Ausdruck, daß Jesus nicht wie alle Menschen durch Zeugung eines Vaters im Schoß seiner Mutter empfangen wurde, sondern daß unser Erlöser auf wunderbare Weise ins Leben trat, ohne daß die Frau, die ihn gebar, Verkehr mit einem Mann hatte …“ (145). Dann: „… sondern ist ins Dasein getreten durch eine von Gott ausgehende Wirkung, nämlich in einer wunderbaren Empfängnis ohne Zutun eines Mannes“ (150). Und: „Ihm kommt es nur darauf an, die wunderbare, von Gott gewirkte, aber ohne einen irdischen Vater zustande gekommene Empfängnis Christi herauszustellen (154, zu Mt 1,18–25). Dazu weiter: „Sobald also Gott etwas verkündet, tritt es ein, auch wenn es den Menschen unmöglich erscheint, wie im gegebenen Fall eine Empfängnis ohne männlichen Samen“ (64). Dazu: „Die untersuchten Texte bei Mattäus und Lukas erweisen für das erste Jahrhundert n. Chr. eine Tradition, daß Jesus nicht, wie andere Menschen, in einem geschlechtlichen Umgang eines Vaters mit seiner Mutter gezeugt wurde, sondern daß diese als Jungfrau ihn durch ein Wunder Gottes ohne männlichen Samen in ihrem Schoß empfangen hat … Tradition von seiner jungfräulichen Empfängnis …“ (168f; s. dazu auch die Ausführungen zu Philo: 176; dann 168 mit Ps 2,7; 179). Dann noch: „Heidentum und Judentum weisen Gedanken auf, die zu der neutestamentlichen Lehre von der Jungfrauengeburt anregen konnten. Aber wenn auch Ähnlichkeiten zwischen dort und hier bestehen, so hat das besondere der neutestamentlichen Vorstellung, nämlich die in einer Jungfrau ohne sexuellen Verkehr mit einem Mann von Gott gewirkte Empfängnis Jesu, keine Vorlage“ (181 mit dortiger Anm. 186; dazu noch 182f mit den dortigen weiteren Feststellungen). U. Wilckens stellt in seinem Beitrag „Empfangen vom Heiligen Geist, geboren aus der Jungfrau Maria“ (in „Zur Theologie der Kindheitsgeschichten“, 1981) im dortigen Kontext dieses fest: „(durch) ihre Gegenfrage 1,34 provoziert (sie; d. i. Maria) den Engel zu einer Erklärung darüber, wie es denn überhaupt zu einer Empfängnis und Geburt kommen könne, wo sie doch im Stande der Jungfrau noch keinerlei Verkehr mit einem Manne habe. Und seine Antwort auf diese Frage in 1,35 geht über den messianischen Erwartungshorizont von 1,32f. weit hinaus: … wird Jesu Geburt ein Wunder der schöpferischen, lebensschaffenden Kraft Gottes sein. … Von diesem Josef aber verlautet im folgenden gar nichts mehr!‘ (60). Dann noch: „Der Erzähler schließt auf diese Weise ausdrücklich aus, daß Jesu Messianität menschlich-genealogischer Art sei – so wie er zugleich ausdrücklich herausstellt, daß Maria ihren Sohn als Jungfrau 328

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empfangen und gebären sollte, ohne mit einem Mann Verkehr zu haben, also ohne Zutun des Davididen Josef “ (61). M. Schmaus bringt in seinem Beitrag „Dogmatik und Exegese zur Jungfrauengeburt“ (in „Jungfrauengeburt gestern und heute“, 1969) sehr bedenkliche Formulierungen in Bezug auf den hier besprochenen Fragepunkt. So: „Wenn wir die Lehre von der jungfräulichen Empfängnis Jesu erhellen wollen, dürfte es sich empfehlen, zuerst das Faktum und dann den Sinn zu besprechen … Was den Sinn der Texte betrifft, so sagen sie unmittelbar nach ihrem Wortlaut, Maria habe von Gott die Offenbarung empfangen, daß sie ohne männlichen Samen Mutter werden sollte. In negativer Hinsicht wird die Beteiligung eines Mannes verneint. Positiv schließt dies in sich, daß Maria sich vorbehaltlos dem göttlichen Ratschluß anheimgibt. Es wäre eine unwürdige, ihre Personalität verletzende Vorstellung, wenn man Maria nur unter biologischem Aspekt sähe und ihre personale Hingabe an Gott nicht als konstitutives Element betrachtete. Die Jungfräulichkeit der Empfängnis hat zwei Komponenten, eine göttliche und eine menschliche. Durch Gottes Eingreifen wird jener Prozeß gewirkt, den in einer gewöhnlichen Empfängnis der männliche Samen hervorruft. Durch Marias vorbehaltlose Bereitschaft für den göttlichen Heilsplan wird der Vorgang ein wahrhaft menschlicher Akt. Maria nahm Gottes Entscheidung in ihre eigene freie Entscheidung auf. Die erste Komponente, die göttliche Wirksamkeit kann man nur annehmen, wenn man ein göttliches Eingreifen in eine bestimmte geschichtliche Situation für möglich hält. … Die genannte Voraussetzung ist verbunden mit dem Verständnis der Welt als einer Schöpfung. … Das Geschöpf ist immer Zweitursache. In den Sonderfällen, die wir Wunder nennen, fällt die Zweitursache, d. h. die unmittelbare Relation zwischen zwei geschaffenen Energien in der Schöpfung aus. Gott tritt nicht an die Stelle der Zweitursache. Das Wunder besteht darin, daß Gottes schöpferische Kraft unmittelbar und allein ohne die auf einen bestimmten Effekt hin gerichtete geschaffene Ursache den Effekt hervorbringt … Die Schrift beantwortet die Frage nach dem Warum der jungfräulichen Empfängnis nicht. Wir sind auf theologische Vermutungen angewiesen. … Mit Entschiedenheit muß die Meinung zurückgewiesen werden, daß ein irdischer Vater in der Menschwerdung des ewigen Gottessohnes ein Konkurrent zur ewigen Vaterschaft Gottes gewesen wäre. … Außerdem würde eine solche Begründung außer acht lassen, daß es sich bei Gottes Vaterschaft um die ewige Hervorbringung des göttlichen Logos in der Lebensfülle Gottes handelte, während die Menschwerdung dieses von Gott in einem ewigen, d. h. immerwährenden Akt hervorgebrachten Logos die Ergreifung eines von einer irdischen Mutter empfangenen und geborenen Menschen besagt, und zwar die Ergreifung mit einer solchen Kraft, daß der ewige Logos das personale Selbst dieses von ihm ergriffenen Menschen ist“ (220–221). Dazu folgen einige Überlegungen, auf die hier nur hingewiesen sei. Wichtig noch: „Die jungfräuliche Empfängnis ist ein Zeichen für die Gnadenhaftigkeit der Erlösung … Sie kann nicht durch menschliches Mühen, sondern nur durch Gottes Schöpferkraft gewirkt werden. … Hinzu kommt, daß durch Jesus 329

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im Ablauf der Weltentwicklung etwas völlig Neues gesetzt wurde … Dieser Anfang eines neuen Lebens wird durch die jungfräuliche Empfängnis versinnbildet“ (222f). L. Scheffczyk bringt in seinem Büchlein „Das biblische Zeugnis von Maria“ („Maria in der Heilsgeschichte I“) einige zu beachtende Sätze. So im dortigen Kontext: „So stellt sich ihre Jungfräulichkeit als Dienst an Christus dar und als Ermöglichung einer restlosen Hingabe an den Erlöser. Aber auch für diesen hat die vaterlose Geburt eine tiefe Bedeutung … Die Tradition war im Recht, wenn sie behauptete, daß allein die vaterlose Geburt des menschgewordenen Sohnes ein einzigartiges Verhältnis zum göttlichen Vater in seiner Besonderheit und Ausschließlichkeit offenbaren konnte“ (!; s. d. das Weitere; und 22f). ––– In „Maria im Glauben der Kirche. Maria in der Heilsgeschichte II“ (1980) lesen wir im dortigen Kontext: „Als zusätzliches Argument wurde damals (d. i. bei Athanasius und danach) auch schon der Gedanke konzipiert, daß es höchst unangemessen gewesen wäre, wenn Christus, der einziggeborene Sohn des Vaters, auch einen menschlichen Vater gehabt hätte … (Jesus) kann daraufhin auch als Mensch nur zu einer einzigen Person ‚Vater‘ sagen: Das ist der Vater im Himmel. Die vaterlose Geburt des Erlösers rückt sein menschliches Verhältnis zum Vatergott in eine so einzigartige und mit keinen Menschen zu vergleichende Ausschließlichkeit, daß man sagen kann: ‚Das Wort Gottes, das seit langem von Gott her am Kommen war und im Menschen Jesus sich verkörpert, wäre in seinem Wesen und seiner Kundgabe völlig verunklärt, wenn dieser Mensch zwei Väter hätte, sich zweien verdanken müßte, einem im Himmel und einem auf Erden‘ (H. U. v. Balthasar)“ (20; ob diese Argumentation akzeptabel ist, ist höchst zweifelhaft!). Es sei auf die weitere Darstellung Scheffczyks hingewiesen: 23–29, die kaum akzeptiert werden kann; sie hat mit den ntl. Aussagen selbst kaum etwas gemein, ist vielmehr Spekulation. H. U. v. Balthasar gibt in seinem Beitrag „Empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria“ (in „Ich glaube. Vierzehn Betrachtungen zum Apostolischen Glaubensbekenntnis“, 1975) dieses zu bedenken: „… es mußte einfach gefragt werden, wer denn dieser Mann (d. i. Jesus) in Wirklichkeit war … die Frage nach seiner Herkunft … Angesichts solcher Texte (wie Mk 14,36), die für viele andere stehen, fragen wir nun ganz abrupt: Konnte dieser Mann, der in einem so einmaligen Verhältnis zum ‚Vater im Himmel‘ stand, dem er sich in jeder Hinsicht verdankte, anvertraute, zurückgab – konnte er sich gleichzeitig noch einem anderen Vater verdanken? Konnte er, grob gesagt, zwei Väter haben, was ihn menschlich gezwungen hätte, sich zwei Vätern zu verdanken?“ (41 u. 42; auf das Weitere dort brauchen wir hier nicht zu sprechen kommen). Im gemeinsamen Buch „Maria – Kirche im Ursprung“ von J. Kard. Ratzinger und H. U. v. Balthasar (1980) sagt Balthasar im Vorwort u. a.: „Die jungfräuliche Geburt ist, wie sich versteht, primär eine christologische Aussage: Jesus ist so einzigartig der Sohn des ewigen Vaters, daß er nicht auch noch einen irdischen Vater haben konnte … Das aber heißt, daß ihr Jawort an den Engel die überbietende Zusammenfassung des ganzen alttestamentlichen hoffenden Glaubens Abrahams war, also ein Einbezogensein des Alten Bundes in den Neuen, des Juden330

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tums in die Kirche, was gar nicht anders möglich ist, wenn Gottes Heilswirken ein einheitliches und unzerspaltenes sein soll“ (5f). Aus dem von Balthasar geschriebenen Teil III (Maria in der kirchlichen Lehre und Frömmigkeit“ zitieren wir nur diese wenigen Sätze, die jedoch Bedenkliches vorbringen: (Nach Hinweis auf „den Aspekt des Verhältnisses zwischen Mutter und Kind wie ihn die neuere dialogische Philosophie und Soziologie recht ins Licht gestellt haben“): „Dies geschah in der endgültigen Überwindung einer alten, aus dem griechischen Denken stammenden aber vom christlichen nicht energisch genug überwundenen Meinung, wonach beim Entstehen des Kindes nur dem Vater eine aktive, der Mutter dagegen lediglich eine passive Rolle zukäme … (welche Feststellung übrigens nicht stimmt; s. unseren Exkurs: R. S.) … Dies besagt, daß auch Jesus sein menschliches Selbstbewußtsein vornehmlich seiner Mutter verdankt“ (46f). Dann: „… diese Qualität von Marias Jawort ganz von der Christologie her bedingt … Die Jungfräulichkeit sichert die christologische Tatsache, daß Jesus nur einen Vater, den im Himmel, als den einzigen anerkennt, wie klar aus der Antwort des Zwölfjährigen ersichtlich wird (…). Zwei Väter kann ein Mensch unmöglich haben, sagt schon in betreffender Kürze Tertullian, deshalb muß die Mutter Jungfrau sein. Diese christologisch motivierte Jungfräulichkeit hat ihre Sinnspitze nicht in einer geschlechtsfeindlichen nur-leiblichen Integrität …, sondern in der Mutterschaft Marias; um die Mutter des messianischen Gottessohnes sein zu können, der außer Gott keinen andern Vater haben kann, muß sie vom Heiligen Geist überschattet werden und dazu das besagte, ihre ganze leibseelische Person umfassende Jawort sprechen“ (50f; vgl. auch das dort Folgende). Insgesamt ist zu sagen, daß hier Denk-Prozesse eine Einsichtnahme und ein Verstehen der Gedanken und Werke Gottes beanspruchen, die ungeheuerlich sind. Stets von „muß“, „kann nicht anders als“ u. ä. in Bezug auf Gott sprechen, ist inakzeptabel, als ob wir beurteilen könnten (und dürften!), was Gott in seiner Geschichte mit seiner Schöpfung alles „können“ konnte und durfte! Weitere Texte zur Formulierung „ohne Zutun eines Mannes“ u. ä. P. Gaechter (Mt-Kommentar): Zu 1,16: „Jesus konnte in der Genealogie nur Platz finden als Sproß aus Davids Blut, stammte aber, wie in 1,18ff. eigens hervorgehoben wird, nicht von Joseph, seinem unmittelbaren Vorgänger in der Genealogie, überhaupt nicht von einem Manne … adoptiert“ (39). Zu 1,23: „Jesus … durch die Art, wie er aus der Jungfrau Mensch geworden ist, steht er vor uns ohne irdischen Vater und weit erhaben über Joseph“ (52). E. Schweizer (Mt-Kommentar) zu 1,18.23 u. a.: „Einerseits war also die Erzählung von einer Geburt ohne menschlichen Vater, ja sogar die Vorstellung von einer göttlichen Schöpferkraft, die die Zeugung vollzieht, auch außerhalb der christlichen Gemeinde verbreitet …“ (15). U. Luz (Mt-Kommentar) zu 1,18–25 u. a.: „Das Besondere an unserem Text ist aber die Verbindung mit der Jungfrauengeburt. Geburt ohne Zutun eines menschlichen 331

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Vaters findet sich oft in hellenistischen und vor allem ägyptischen Berichten …“ (144). G. Schiwy (Mt-Kommentar) zu 1,23 (mit Jes 7,14) u. a.: „Erst das Wunder der Geburt Jesu öffnete der christlichen Urgemeinde den Blick für den Sinn der Prophezeiung. Indem Maria den Erlöser vaterlos empfängt, ist von Gott ein neuer Anfang gesetzt“ (42). W. Wiefel (Mt-Kommentar) sagt zu 1,16f u. a.: „Daß es sich dabei um den Stammbaum des Joseph handelt, der rechtlicher, aber nicht biologischer Vater Jesu ist, steht für Matthäus fest und wird durch die Formulierung 1,16 abgesichert“ (27). A. Sand (Mt-Kommentar) zu 1,16: „Nach V. 16 ist Josef das vorletzte Glied in der Geschlechterfolge; die Aussage selbst hebt hervor, daß Josef nicht der leibliche Vater Jesu ist. Doch ist nach jüdischem Recht der gesetzliche Vater der Geschlechterfolge …“ (45). U. Luck (Mt-Kommentar) zu 1,18: „Die Geburtsgeschichte muß daher zweierlei miteinander verbinden: Gottessohnschaft als unmittelbare Zeugung durch den Geist Gottes und den Zusammenhang mit der Geschichte. Der Zeugung aus dem Geist Gottes … steht gegenüber die Geburt von Maria, die aber als Jungfrau Mutter wurde ohne Mitwirkung eines irdischen Vaters“ (22). W. Trilling (Mt-Kommentar) zu 1,21 u. a.: „Doch im Falle Josephs ist das Recht eingeschränkt: Er hat nicht nur keinen Anteil an der Zeugung des Kindes, sondern auch kein Recht, den Namen zu bestimmen. Er ist von oben gegeben …“ (27). J. Gnilka (Mt-Kommentar) zu 1,16 u. a.: „Die Geschichte ist nach vorn mit dem Stammbaum, aber auch in loserer Form nach rückwärts mit Kap. 2 verknüpft. Sie bietet die Erklärung der in V 16 angezeigten Zeugung Jesu aus Maria, der Frau Josefs, an der dieser aber nicht beteiligt ist“ (15; dazu auch 25ff.). Fr. Bovon (Lk-Kommentar) zu Lk 1,35 u. a.: „Schwangerschaft und Geburt sind mit dem üblichen Wortschatz ausgedrückt (…), in 1,35 jedoch ersetzt Gott durch die Wirkung seines Geistes den männlichen Vater, so daß ‚Sohn des Höchsten‘ nun im buchstäblichen Sinn zu verstehen ist“ (65; dazu auch 66 und 76). L. Legrand (im Buch „Jungfräulichkeit nach der Heiligen Schrift“) zu Joh 8 im dortigen Kontext: „Völlig ohne ein aktives menschliches Zeugungsprinzip aus einer Jungfrau geboren, war er aus Gott geboren: Er stammte von oben (Joh 3,31). … Bei der Erzeugung Jesu war der Geist das aktive Zeugungsprinzip …“ (139). W. Beinert (im Buch „Heute von Maria reden …“) zu Mt 1,18–25 und Lk 1,26–35 im dortigen Kontext: „Von hier aus kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Erzählung von der Geburt Jesu ohne Zutun eines Mannes auch, ja sogar in erster Linie ein Theologumenon ist. Eine theologische Wirklichkeit soll uns vor Augengestellt werden“ (94). Dazu: „Wo Gott selbst die Initiative ergreift, kann kein menschlicher Vater mehr tätig werden … (101); und: „Der Kern des Dogmas ist nicht der Umstand, daß Jesus keinen irdischen Vater hatte, sondern daß der göttliche Vater als Urheber

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und Quelle allen Lebens und Seins der einzige und alleinige Grund seiner menschlichen Existenz ist …“ (105). Fr. Zinniker (in seinem Buch „Probleme der sogenannten Kindheitsgeschichte bei Matthäus“, 1972) zu Mt 1,18–25: Die Perikope Mt 1,18–25 steht als biblischer Text im Feuer einer heißen Diskussion. Es geht um das Thema ‚Jungfrauengeburt‘, d. h. um die Frage: Empfängnis Jesu ohne menschlichen Samen, also eine von göttlicher Kraft gewirkte Parthenogenesis – ein biologisches Wunder …“ (96). Dazu: „Mt 1,25 berichtet von der geschlechtlichen Enthaltsamkeit Josefs bis zur Geburt Jesu, um die natürliche Vaterschaft Josefs auszuschließen“ (103). H. Gese (im Artikel „Natus ex virgine“ im Buch „Vom Sinai zum Sion“, 1974): Zu Mt 1 und Lk 1 im dortigen Kontext: „Wir sehen also, daß es selbst in der schon sehr entwickelten Überlieferung von der Jungfrauengeburt Jesu bei Lukas nicht prinzipiell um das biologische Paradox einer vaterlosen Geburt geht … sondern um den neuen David, den Messias … Der Davidismus wird dazu geführt haben, daß dieses Ereignis nur als jungfräuliche Geburt vorgestellt werden konnte“ (133; s. dazu auch 134). R. Schnackenburg schreibt in seinem Artikel „Konkrete Fragen an den Dogmatiker aus der heutigen exegetischen Diskussion“ (Cath 21, 1967, 12–27) dies: „… Theologumenon … Wie ist der exegetische Tatbestand? In den beiden … Perikopen Mt 1,18–25 und Lk 1,26–38 läßt sich an dem buchstäblichen Verständnis der Empfängnis aus heiligem Geist und der Geburt aus Maria der Jungfrau nicht zweifeln … doch bleiben nähere geschlechtliche Vorstellungen … fern. 2. Die Vaterschaft Josephs wird ausdrücklich ausgeschaltet; Mt 1,18 (…)“ (17f; wo das dort steht, wird nicht angegeben!). J. R. Geiselmann sagt im Abschnitt „Die jungfräuliche Empfängnis“ (in „Maria …): „Theozentrisch und heilsgeschichtlich ist auch der zweite Zug bestimmt: das Mutterwerden der Jungfrau Maria ohne Mannes Zutun.“ (76, ebenso 77; 79). K. H. Schelkle im Beitrag „Die Kindheitsgeschichte Jesu“ (in „Bibel und zeitgemäßer Glaube“, 1967) sagt dieses: „Eine wesentliche Aussage der Kindheitsgeschichte ist jene von der Geburt Jesu aus der Jungfrau … Dieses Bekenntnis besagt, daß Jesus keinen menschlichen Vater hat. Durch den schöpferischen Geist Gottes ist er geschaffen. Es ist unerhört wunderbar“ (23; das wird 24–26 näher erklärt). ––– K. H. Schelkle in seinem Beitrag „Maria im Neuen Testament“ (in: „Maria in Glaube und Frömmigkeit“, 1954) formuliert im dortigen Kontext: „Nach den Evangelien des Matthäus und des Lukas hat Maria Jesus als Jungfrau empfangen und geboren. Jesus hat also als Mensch keinen Vater …“ (19; dazu 27). R. E. Brown schreibt in seinem Buch „The Virginal Conception and Bodily Resurrection of Jesus“ (1974) im gegebenen Kontext: „… through Jesus God was acting in the course of history. But a virginal conception could be personally attested only by Mary. No one in the New Testament claims to have seen the resurrection of Jesus, and only believers claim to have seen the risen Jesus. A conception without a human father and a bodily resurrection from the dead imply unique divine interventions from outside the flow of history …“ (1; s. dazu 22–30). Eine Information gibt Brown 333

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selbst: „I am concerned with the belief that Jesus was conceived in the womb of a virgin without the intervention of a human father, i. e., without male seed; and every time I use the expression ‚virginal conception‘, I use it in the same sense. I have chosen ‚virginal conception‘ rather than ‚virgin birth‘ in order not to confuse this matter with another …“ (27). g) jungfräuliche Geburt Jesu

Hier seien Beispiele für „jungfräuliche Geburt“ gebracht, die für sich sprechen sollen; es wird so hinreichend klar, was zu beachten ist. E. Lohmeyer (Schmauch) schreibt dieses zu 1,18–25: „Zwei Motive bestimmen die Erzählung, das der Geistzeugung und Jungfrauengeburt und das der Namengebung … Der Gedanke der Jungfrauengeburt ist innerhalb des Berichtes nicht der entscheidende, denn es fehlen alle mythischen oder physiologischen Züge, das Motiv begegnet nur in einem at.lichen Zitat des Erzählers … Ihm kommt es also darauf an, daß das Kind keinen menschlichen Vater hat, d. h. ‚vom Heiligen Geist gezeugt‘ ist. Für das Motiv der jungfräulichen Geburt ist eine Fülle von religionsgeschichtlichen Analogien gesammelt worden … Aus solchen freilich dürftigen Quellen geht wohl hervor: Der Gedanke einer göttlichen Urheberschaft oder der Geistzeugung ist gewissen jüdischen Kreisen nicht völlig fremd gewesen“ (13). Dazu dann: „Aber diese Frömmigkeit hat auch ihre Eigentümlichkeiten, besonders an den Gedanken der jungfräulichen Geburt und der Zeugung aus Heiligem Geiste; beide sind nicht ihrer Möglichkeit, sondern ihrer jetzt und hier geschehenen Wirklichkeit nach rätselhaft … Deshalb bedarf es keiner Erklärung, was denn Geistzeugung überhaupt sei, sondern nur der Berufung auf Engel- und Schriftwort … Der Gedanke dieser Geistzeugung scheint zu der gleichen Folgerung zu führen; er ist die Kraft, die schöpferische Macht, die menschlich-göttliches Leben im Schoße einer Jungfrau erzeugt …“ (18). Trilling sagt in seinem Mt-Kommentar zu 1,22 u. a. dies: „… denn in ihr ist ein Wunder geschehen: Die Frucht des Leibes stammt nicht aus einer irdischen Begegnung … Es geht um göttliche Dinge … Nur eine einzige Tatsache wird zur Erklärung genannt: das Wirken Heiligen Geistes. Auf ihn geht als letzte Ursache das Wunder in Mariens Schoß zurück …“ (26f): dazu: „Die geheimnisvollen Umstände … sind nicht so erregend neu, hat sie doch der Prophet schon angedeutet, wenn er von einer ‚Jungfrau‘ spricht, die einen Sohn gebären wird. Die geistgewirkte jungfräuliche Geburt des Messias ist schon im Alten Testament angedeutet“ (29). W. Grundmann schreibt in seinem Mt-Kommentar zu 1,16.18 u. a.: „… wird seine Herkunft aus Gottes schöpferischem Geiste ausgesagt … durch den christlichen Glauben an die jungfräuliche Geburt Jesu verursacht … Diese Geburt ist von Gott gewirkt … ihre Schwangerschaft rührt vom heiligen Geist her“ (66f). M. Krämer erklärt in seinem Artikel „Die Menschwerdung Jesu Christi nach Matthäus (Mt 1) sein Anliegen und sein literarisches Verfahren“ mehrfach mittels dieser 334

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Formel. So zu 1,18–25: „… Mt wolle mit der Erzählung von Josephs Lage angesichts der jungfräulichen Mutterschaft Marias (1,18–25) die Jungfräulichkeit der Geburt Jesu verteidigen …“ (2). Dann zu 1,21ff u. a.: „… Rahmen des Themas: Eingliederung Jesu in das Haus Davids … Nach ihr soll damit der Leser auf die Jungfräulichkeit der Geburt Jesu aufmerksam gemacht werden“ (10); mit: „Reflexionszitat … Die geläufige Verwendung dieser Stelle (d. i. Jes 7,14) in der Dogmatik als Schriftbeleg für den Beweis der jungfräulichen Geburt Jesu“ (12) und: „die Geschichte von der jungfräulichen Geburt …“ (13). Dann: „Die Frage nach der Jungfräulichkeit der Geburt konnte in jüdischen Kreisen unmöglich eine Schwierigkeit für die Messianitätsansprüche Jesu erheben … seine vaterlose Geburt …“ (45). Dazu: „Dieser Umstand der jungfräulichen Geburt, der das Mitwirken des Samens Davids ausschloß …“ (47; vgl. 50). I. Broer verwendet den Ausdruck „jungfräuliche Geburt“ in seinem Artikel „Die Bedeutung der ‚Jungfrauengeburt‘ im Matthäusevangelium“ meist im Wechsel mit „Jungfrauengeburt“, als gleichbedeutend und sehr offen; s. S. 248 u. 249. Dazu treten „Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria“ (250) u. ä. Dann wird auch die „jungfräuliche Geburt Marias“ in ihrem eigentümlichen Miteinander mit der „jungfräulichen Empfängnis Marias“ genannt, die beide jedoch auch unterschieden werden (257; 258f). G. Schneider gebraucht den gefragten Ausdruck gelegentlich, jedoch bezeichnend: Zu Lk 1,34 sagt er mit J. Gewieß:, „Der Hervorhebung der wunderbaren, jungfräulichen Geburt aus Hl. Geist dient die Frage Marias 1,34. Lukas legt sie … der Jungfrau in den Mund, damit die Leser die Bedeutung dessen erfassen, was V. 35 verheißen wird“ (111). Vgl. Dazu auch die Ausführungen auf S. 111ff. H. Frh. v. Campenhausen verwendet die Formel „jungfräuliche Geburt“ oft und in erklärender Weise. So zur Thematik seiner Untersuchung: „Es geht mir in diesem Bericht ausschließlich um die Aussagen … über Maria, und auch um diese nur insoweit, als sie mit dem Thema der jungfräulichen Geburt Christi im Zusammenhang stehen“ (6). Dazu: „Abschnitt über das Aufkommen der Jungfrauengeburtsüberlieferung … die Legende von der jungfräulichen Geburt Jesu nichts weniger als der Ausgangspunkt der frühchristlichen Verkündigung … Jungfrauengeburtsgeschichte … die die jungfräuliche Geburt Jesu noch nicht kennt …“ (7; vgl. dazu 42 Anm. 6).

6. „geistgewirkte Empfängnis“ = jungfräuliche Empfängnis“

„Jungfräuliche Empfängnis“ wird in den Kommentaren sehr oft als identisch angesehen bzw. bezeichnet mit „geistgewirkte Empfängnis“, „geistgezeugte Lebensentstehung“ und ähnlich formulierten „Sachverhalten“, die beispielhaft aufzuführen sind. Wir gehen ihnen in einigermaßen systematischer Zusammenstellung nach, um den wichtigen Überblick zu erleichtern; auf die die Wendungen vielfältig kombinieren-

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den Aussagen brauchen wir dann nicht weiter einzugehen, wenn nicht Bestimmtes doch näher besprochen sein muß. a) „geistgewirkte Empfängnis“ – „geistgewirkte Geburt Jesu“

Das kurze Teilstück des Verses 1,18 „evn gastri. e;cousa evk pneu,matoj a`gi,ou“, wiederholt in 1,20 (evn auvth/| gennhqe.n evk pneu,mato,j evstin a`gi,ou) hat trotz seiner Kürze eine ungewöhnliche Mannigfaltigkeit in der Übersetzung wie dann in der Auslegung und in der Ausformulierung dessen ausgelöst, was man meint in 1,21 als eigentlichen Aussage-Inhalt feststellen zu können. Ohne Zweifel geht es um den, dem gemäß 1,21 der Name JESUS gegeben werden sollte und dann auch gegeben wurde (1,25). Wir bringen hier die Formel, die „geistgewirkt“ bzw. „geist-gezeugt“ lautet (die anderen werden im folgenden aufgeführt; vgl. zu allem auch unseren Großabschnitt zu Mt 1–2. P. Fiedler schreibt in seinem Mt-Kommentar zu Jes 7,14 in 1,23 u. a.: „Wir haben es mit einer spezifisch vom Christusglauben ausgehenden Deutung dieser Schriftstelle zu tun. Sie bot sich Mt besonders an, weil er sie als Schriftbeleg dafür verwenden konnte, daß das Christusbekenntnis der geistgewirkten Empfängnis zur Messianität Jesu gehörte“ (52; etwas später dasselbe so: „Vorstellung von der jungfräulichen Empfängnis und Geburt Jesu Christi“, ebd.). E. Lohmeyer spricht in seinem Mt-Kommentar zu 1,18–25 so: „Namen sind im AT wie überhaupt im Altertum voller Bedeutung … Namen der alten Zeit gelten als vom heiligen Geist gewirkt (Gen R. 37, f.22); sie bestimmen Leben und Werk ihrer Träger wie ihrer Umwelt … Wie der Gedanke der Geistzeugung, so haftet also auch der der Namengebung nicht an dem des Messias, sondern umfängt gleicherweise auch Anfänger und Vollender des jüdischen Volkes und Glaubens … in welchem Sinne Joseph der Vater heißen kann und muß: Er gab ihm vom Geist her den Namen, Maria vom Geist her das irdische Leben … daß Maria vom Heiligen Geist schwanger war“ (14). A. Sand bringt in seinem Mt-Kommentar diese Formel: „die „Empfängnis (Marias) aus Heiligem Geist“ (58; vgl. dazu auch 48f). E. Schweizer bemerkt in seinem Mt-Kommentar zu Mt 1,18 u. a.: „Weder Empfängnis (1,18) noch Geburt Jesu (2,1) werden direkt berichtet … daß die Geburt in Bethlehem statt fand (2,1ff.) und vom heiligen Geist gewirkt war … der Geist mit Gottes Schöpfermacht, die Leben schafft verknüpft … Wunder dieser Geburt“ (12; s. auch 14f). E. Nellessen schreibt in seinem Buch „Das Kind und seine Mutter“ (SBS 39) im dortigen Kontext: „Hat die Perikope (d. i. Mt 1,18–25) von der Legimitation des vom Heiligen Geist empfangenen Kindes durch Joseph ebenfalls apologetischen Charakter? Bestritten wird dies von F. Hahn, weil seiner Meinung nach gerade die vermeintlichen Züge im besonderen die gottgewollte Verknüpfung des vom Heiligen Geist

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gezeugten Kindes mit dem Geschlecht Davids herausstellen … Motiv der Jungfrauengeburt …“ (85f; vgl. dazu auch 97–112). L. Legrande sagt in seinem Buch „Jungfräulichkeit nach der Heiligen Schrift“ im Kapitel „Jungfräuliche Fruchtbarkeit“ im Kontext dies: „Marias wunderbare Mutterschaft ist ein Werk des Geistes: Das lehren die Kindheitsgeschichten des Matthäus und des Lukas … Grundwahrheit von der jungfräulichen und ‚geistlichen‘ Zeugung Jesu übereinstimmen (Mt 1,18; Lk 1,34f) …“ (119; dazu dann 120; 124; 126f; 132; 134 (mit Anm. 20); 135). W. Radl bringt in seinem Buch „Der Ursprung Jesu. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu Lk 1–2“ einen eigenen Abschnitt mit dem Titel „Geistgewirkte Empfängnis“ (348–360). Dort begegnet der hier in Frage gestellte Ausdruck öfters. „Sohn Gottes ist Jesus nach Lukas nicht erst seit seiner Auferweckung und Erhöhung, sondern vom ersten Augenblick seines irdischen Daseins an. Er verdankt sich nach Lk 1,34f neben (!) seiner Mutter ausschließlich (!) dem Wirken der schöpferischen Kraft Gottes. Wie kommt es zu dieser christologischen Konzeption von der geistgewirkten Empfängnis, deren ‚Kehrseite‘ die Geburt aus der Jungfrau ist? Im Neuen Testament ist sie sonst nur noch in Mt 1 bezeugt. … Wenn neben Lukas auch Matthäus von Jesu geistgewirkter Empfängnis berichtet, stellt sich die Frage der literarischen Beziehung … denn das Entscheidende ist, daß Jesus nicht menschlich ‚gezeugt‘ ist (wie V. 20 deutlicher als Lk 1,35 sagt), sondern vom Heiligen Geist stammt, wird in V. 18 (bei Mt) vorweggenommen“ (348f). Zu Lk 1,35 mit Ps 2,7 heißt es bei entsprechender Gelegenheit: „Was in Mk 1,1 noch nicht geschieht … das wird offenbar in dem vorlukanischen Theologumenon von der geistgewirkten Empfängnis Jesu wirksam. Dieses verbindet die göttliche Sohnschaft mit der göttlichen Zeugung nach dem Wortlaut von Ps 2,7: ‚Mein Sohn bist du; heute habe ich dich gezeugt‘“ (354). Dazu sogleich zu Jes 7,14 LXX ähnlich: „(das von Lukas verarbeitete Theologumenon oder Christolegumenon) spricht nämlich neben der geistgewirkten ausdrücklich und betont auch von der jungfräulichen Empfängnis … Prophetie mit der Überzeugung von Jesu Ursprung aus dem Geist verband …“ (354f; vgl. auch 357). G. Schneider spricht schon im Titel seines Beitrag von „Jesu geistgewirkter Empfängnis“ (105) Dann oft: „Die Empfängnis Jesu wird durch den Hl. Geist bewirkt … zu einer Zeit, da Maria bereits mit Josef verlobt war … Diese (d. i. Traditionen über die Geburt Jesu) haben neben den Namen der Eltern die davidische Abstammung und die geistgewirkte Empfängnis Jesu im NT …“ (105; auch 106). Dann: „… das besondere Interesse an der Gottessohnschaft Jesu (Lk 3,23.38). Die Tatsache der Gottessohnschaft Jesu folgt aus der geistgewirkten Empfängnis (1,35)“ (107; auch 108). Und: „Maria wird durch das Wirken des heiligen Geistes schwanger“ (110; vgl. weiter bis 116). A. Sand bringt diese Formel in seinem Mt-Kommentar mehrmals. So im Exkurs „Die theologische Eigenart der matthäischen ‚Kindheitsgeschichte‘“ u. a.: „Die Frage drängt sich auf, ob hier Mt eine ihm vorgegebene Trad. aufgreift, die das Thema der 337

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‚Geburt aus heiligen Geist‘ schon geformt hatte … Es ist aber die Frage, ob Mt hier bereits die Geburt Jesu aus heiligen Geist gegen andere Ansichten oder gar gegen antichristliche Angriffe verteidigt … Die Geburt aus heiligem Geist wird nicht verteidigt, sondern aus einer Trad. übernommen und im ‚Prolog‘ vorausgesetzt, um Jesus als den Messias Israels und Sohn Gottes zu bestimmen“ (62f). W. Trilling schreibt in seinem Mt-Kommentar zu Mt 1,18–25 u. a.: „Was in ihr lebt (1,18), das stammt aus Heiligem Geist … Nur eine einzige Tatsache wird zur Erklärung genannt: Das Wirken Heiligen Geistes. Es ist der Geist, der die Macht und Größe des göttlichen Wirkens ausdrückt … die Jungfrau ein Gefäß der Erwählung, eingetaucht in das Wehen des Geistes Gottes …“ (26f). Dazu: „Die geistgewirkte jungfräuliche Geburt des Messias ist schon im Alten Testament angedeutet (29). U.Wilkens spricht in seinem Beitrag „ ‚Empfangen vom Heiligen Geist, geboren aus der Jungfrau Maria‘ – Lk 1;26–38“ auch von „geistgewirkter Geburt“, so z. B.: „So weist er (d. i. Gott) ihr (d. i. Maria) den Platz des endzeitlichen Gottesvolkes zu, in dessen Mitte Gott selbst ewig gegenwärtig sein will. In Maria ist er gegenwärtig – indem nämlich durch die Kraft seines Geistes der Messias, Gottes Sohn, in ihrem Leib entstehen und aus ihr geboren werden soll“ (46). Dazu: „… was angesichts des großem Gewichts, das der Engel in der annuntiatio Lk 1 diesem Wunder der geistgewirkten Geburt Jesu beimißt … Die geist-gewirkte Empfängnis und Geburt Jesu ist eine sekundär entstandene Legende, deren Verbreitung im ersten Jahrhundert nur sehr begrenzt gewesen ist … Die sachlich primäre, entscheidende Aussage liegt in dem Thema der geistgewirkten Geburt Jesu, die Jungfrauengeburt ist ein dem zugeordnetes, an Bedeutung ihm nachgeordnetes Moment …“ (64); und: „Die Legende der geistgewirkten Geburt Jesu ist nun eine Weise, in der innerhalb urchristlicher Theologiegeschichte diese Einheit der Person Jesu mit Gott und Gottes mit Jesus ausgeführt worden ist (66 u. 67; vgl. auch 70). b) „Geistzeugung“ -“ Zeugung durch den Geist“ u. ä.

Die im Titel aufgeführten Wendungen begegnen, oft auch wechselnd im selben Satz, auch mit „Jungfrauengeburt“, „jungfräuliche Empfängnis“ u. a. Zunächst Bildungen mit „Erzeugung Jesu“: R. Schnackenburg sagt es zu Mt 1,18–25 so: „Die als ‚erweiterte Fußnote‘ oder Erläuterung zu 1,16 angefügte Darstellung, wie die Erzeugung Jesu durch den Heiligen Geist Josef offenbart wurde, ist eine in Erzählform urchristlicher Kreise gewisse Tatsache, daß nicht Josef, sondern der Heilige Geist der wahre Erzeuger Jesu ist, wird schon in 1,18 ausgesprochen … Der Gedanke der jungfräulichen Empfängnis … Erst in dem von Mt hinzugefügten Erfüllungszitat wird die Empfängnis durch eine Jungfrau hervorgehoben“ (23); „doch sind Geistzeugung und jungfräuliche Empfängnis in der überkommenen Glaubensanschauung eng verbunden“ (19 u. 20). Diese Kommentar-Aussagen zeigen eine erschreckende Gleichgültigkeit gegenüber der tatsächlichen Aussage des Mt-Textes, abgesehen noch von dem wür338

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delosen Gebrauch von „Erzeugung“ (welcher Ausdruck an Werkprodukte erinnert, die im täglichen Wortgebrauch so genannt werden). J. Gnilka sagt in seinem Mt-Kommentar zu 1,18–25 u. a. dies: „E setzt mit dem Zitat zwei Akzente (zu Jes 7,14 in 1,22f). Es untermauert die Geistzeugung Jesu und verdeutlicht diese als Jungfrauengeburt (!). Von der Jungfrau Maria war bis jetzt noch nicht die Rede (21). Zuvor heißt es zu 1,16: „Jesus ist der Sohn Marias. Die PassivForm aber umschreibt das Handeln Gottes. Die Zeugung aus dem heiligen Geist muß freilich im folgenden noch erläutert werden“ (11). Zu 1,18–25, das mit „Jesu Geburt und Namengebung“ überschrieben ist, heißt es: „Die Geschichte bietet die Erklärung der in V 16 angezeigten Zeugung aus Maria, der Frau Josefs, an der dieser aber nicht beteiligt ist (!)“ (15). Dann zu 18b-19: „Die vorzeitige Enthüllung in V 18b ist keine Information, über die Josef verfügt. Sie gilt dem Leser, vor dem die Zeugung Jesu aus heiligem Geist sichergestellt werden soll … Nicht daß ein Kind, sondern wie es geboren wird, steht im Vordergrund … ‚Aus heiligem Geist gezeugt‘ präzisiert 1,16b, wo alles noch rätselhaft bleibt. Die griechische Formulierung (evk) bezieht sich auf den Zeugungsvorgang (!) und ist im Vergleich zu Lk 1,35 insofern ungeschützter, als sie an einen übernatürlichen Samen denken lassen könnte, der sich substanzhaft (!) mit der Frau verbindet. Ihr Sinn ist: das Kind stammt aus heiligem Geist und aus Maria“ (18). Im folgenden Exkurs „Die Jungfrauengeburt Jesu“ heißt es dann: Die Zeugung Jesu aus dem Geist verbindet sich mit seiner Geburt aus dem unberührten Mädchen Maria … Als Nachfahre der Stammväter … ist er Sohn Abrahams und Davids, als aus dem Geist Erzeugter ist er Sohn Gottes“ (22). W. Rothfuchs formuliert es in seinem Buch „Die Erfüllungszitate des Matthäusevangeliums. Eine biblisch-theologische Untersuchung“ so: „Wie Mt Jesu Sohnesverhältnis zu Gott verstanden wissen will, zeigen aber auch die Kindheitsgeschichten: Jesus ist von seiner Erzeugung und Geburt an Gottes Sohn; als solcher ist es Emmanuel (1,23). Auch 2,15 denkt der Evangelist an den durch den Geist gezeugten Sohn Gottes. Damit aber stehen wir fraglos im Bereich urchristlichen Bekennens. Hier ist Jesus immer der von Gott gezeugte und proklamierte Sohn, zu dem sich die Jünger bekennen … Der Irdische wird deshalb schon als Kind Sohn Gottes genannt“ (122). Dazu: „Als der durch den Geist Gottes in Maria Gezeugte und von ihr Geborene ist Jesus der ‚Gott mit uns‘ (1,23) … Als der Sohn steht Jesus in einer direkten Beziehung zu Gott“ (132). Wir beachten den Wechsel zwischen „erzeugen“ und „zeugen“; beide Wendungen sprechen dasselbe aus (was in den heutigen Sprachen keineswegs der Fall ist). Für „Geistzeugung“ bzw. „Zeugung durch den Geist“ seien diese Beispiele genannt: E. Lohmeyer schreibt in seinem Mt-Kommentar zu 1,18–25 („Von der Geburt Jesu“ überschrieben) u. a.: „Zwei Motive bestimmen die Erzählung, das der Geistzeugung und Jungfrauengeburt und das der Namensgebung … Ihm kommt es also darauf an, daß das Kind keinen menschlichen Vater hat, d. h. ‚vom Heiligen Geist gezeugt‘ … Jungfrauengeburt … Aus solchen freilich dürftigen Zeugnissen geht wohl hervor: 339

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Der Gedanke einer göttlichen Urheberschaft bei der Geburt … oder der Geistzeugung ist gewissen jüdischen Kreisen nicht völlig fremd gewesen“ (13; vgl. dazu auch 14). Dazu: „Aber diese Frömmigkeit hat auch ihre Eigentümlichkeiten, sichtbar besonders an dem Gedanken der jungfräulichen Geburt und der Zeugung aus Heiligem Geiste; beide sind nicht ihrer Möglichkeit, sondern ihrer jetzt und hier geschehenen Wirklichkeit nach rätselvoll …“ (18). U. Luck schreibt in seinem Mt-Kommentar zu 1,18–25 u. a.: „Hier wird die Liste der Generationen mit der Geburtsgeschichte, besondern mit Mt 1,18 vermittelt. Rechtliche Vaterschaft Josephs und Geistzeugung des Davidssohnes durch den heiligen Geist sind für den Evangelisten kein Widerspruch … durch den heiligen Geist selbst geschaffen“ (20). Und: „Die Geburtsgeschichte muß daher zweierlei miteinander verbinden: Gottessohnschaft als unmittelbare Zeugung durch den Geist Gottes und den Zusammenhang mit der Geschichte. Der Zeugung aus dem Geist Gottes … steht gegenüber die Geburt von Maria, die aber als Jungfrau Mutter wird ohne Mitwirkung eines irdischen Vaters … Schwergewicht bei der Zeugung durch den Geist …“ (22 u. 23). W. Wiefel spricht von Geistzeugung in seinem Lk-Kommentar zu 1,26–38 u. a. von diesem: „Für das Bekenntnis zur geisterzeugten Lebensentstehung und zur Geburt aus der Jungfrau hat neben der vorliegenden Perikope Matth. 1,18–25 grundlegende Bedeutung. Dabei ist zu beachten, daß Matth. 1,18–25 von apologetischer Tendenz bestimmt ist … Die gesamte sonstige neutestamentliche Überlieferung weiß von der Geistzeugung und von der Jungfrauengeburt nichts … Daß neben der Geistzeugung die Geburt aus der Jungfrau entscheidende Bedeutung erlangte, ist auf das Gewicht von Jes. 7,14 zurückzuführen … Die Jungfrauengeburt tritt als veranschaulichendausdeutendes Moment hinzu“ (51). Dann zu Lk 1,35 u. a.: „Entsteht Johannes aus dem Wunder des Fruchtbarwerdens altgewordener und unfruchtbar gewesener Menschen, so empfängt Jesus sein Leben durch Gottes Schöpferhandeln anstelle menschlicher Zeugung. Die Berufung zur Sohnschaft in v. 32 ist hier als Erzeugung aus heiligem Geist interpretiert …“ (53). G. Schneider spricht in seinem Lk-Kommentar im Exkurs „Die jungfräuliche Empfängnis und Geburt Jesu“ (52–53) von „göttlicher Zeugung“ u. a. so: „Bedenkt man, daß im Vordergrund der Aussage die vom heiligen Geist gewirkte Zeugung bzw. Geburt Jesu steht, so wird man zunächst an Ps 2,7 erinnert … Die göttliche ‚Zeugung‘ macht Jesus zum Messias und Sohn Gottes … Die entscheidende Frage wird lauten: Wie kam es dazu, daß man Empfängnis und Geburt Jesu mit dem Wirken des heiligen Geistes in Zusammenhang brachte? Die Antwort wird wohl von der Taufoffenbarung ausgehen müssen, die Jesus als den Sohn Gottes prädiziert … Nach der oben (zu 1,26–38) vorgetragenen Hypothese gab es bereits vorlukanisch eine Verkündigungsgeschichte, die Jesu Geburt durch die Jungfrau Maria ankündigte, allerdings ohne Jesu Empfängnis mit dem heiligen Geist in Verbindung zu bringen (Lk 1,26–33) … Was hier jeweils als Wunder der Allmacht Gottes angekündigt wird, 340

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findet seine unvergleichliche Überbietung, wenn das Kind aus einer Jungfrau geboren wird … Lukas wird dann von sich aus – in Analogie zu 1,15 – die Ursächlichkeit des Geistes Gottes in dieses Stück eingefügt haben, von der die Tradition wußte. Jesus … verdankt seine Existenz diesem Gottesgeist (1,35)“ (52f). H. Räisänen verwendet die Wendung „Zeugung durch den Geist“ öfters in seinem Buch „Die Mutter Jesu im Neuen Testament“. Zu Lk 1,34f heißt es: „Der Engel erklärt, daß es nicht um eine gewöhnliche Empfängnis geht: … Die Zeugung des Messiaskindes ist ein Werk des Geistes“ (99). Dazu: „Lukas schildert Jesus als einen Pneumatiker seit seiner Taufe (4,1ff.). In 1,35 zeigt er jedoch, daß die Wurzeln der Geisteskraft Jesu tiefer liegen. Bei der Taufe wird ein schon vorhandener Geistbesitz aktiviert“ (191). Und zu Lk 1,35 nochmals: „Der Text deutet jedoch nicht an, daß Lukas an eine physische Zeugung denkt, die Gott durch das Pneuma ausführt … Der Heilige Geist steht hinter dem Vorgang. Maria ist der erste Mensch, der das Werk des Geistes … in seinem Leben erfährt“ (103f). Vgl. auch die Ausführungen S. 183 und 197f). J. Riedl schreibt im Biblischen Forum 3, „Die Vorgeschichte Jesu. Die Heilsbotschaft von Mt 1–2 und Lk 1–2“ (1968) im dortigen Kontext zu Mt 1,16–25 u. a. dies: „Die Gottessohnschaft Jesu kann nur von seinem himmlischen Vater geoffenbart werden (vgl. Mt 16,16f). Daß Jesus für Matthäus Sohn Gottes ist, und nicht nur Davids- bzw. Abrahamssohn, steht außer Zweifel. Als Erzähler spricht Matthäus nur ganz verhüllend von Jesu Gottessohnschaft in 1,18c: Es zeigte sich, daß sie (Maria) in anderen Umständen war aus heiligem Geist, und in 1,20d: Denn das in ihr Gezeugte entstammt dem heiligen Geist. Dieses ‚zeugende‘ Handeln Gottes ist bereits in 1,16b in Form des theologischen Passivs … angeklungen. Da aber durch 1,18–26 nur 1,16b näher erklärt werden soll, ist klar, daß die ‚Zeugung aus Heiligem Geist‘ (1,20d) nichts anderes besagt als ‚Zeugung aus Gott‘ (1,16b) … Es scheint, daß der gesamte Stammbaum bei Matthäus gerade auf den theologischen Gehalt in 1,16b hinausläuft. Dort dürfte bereits das Geheimnis der Zeugung Jesu als Gottessohn aufklingen … Für Matthäus ist aber Jesus mehr als nur Davids- (bzw. Abrahams-)sohn. Dieses ‚Mehrsein‘ Jesu, das in seiner Gottessohnschaft besteht, dürfte in 1,16b angedeutet sein. So scheint es wenigstens der griechische Text nahezulegen, der … nicht von der Geburt Jesu spricht, sondern von dessen ‚Zeugung‘, von dessen Abkunft im Sinne der genealogischen Aussagen von Mt 1,2–16a, die immer von der Sicht des Vaters aus zu verstehen sind“ (23f). Dazu sogleich etwas später: „Deshalb redet die erklärende ‚Fußnote‘ in 1,18–25 nicht mehr von der ‚Zeugung‘, sondern setzt sie als bekannt voraus. So erfährt man in V. 18 nur, daß Mariens Kind mit dem heiligen Geist in Beziehung gesetzt wird, was dann in V. 20d als ‚Geistzeugung‘ charakterisiert wird“ (26; s. dazu noch 2ff ). W. Rothfuchs in seinem Buch „Die Erfüllungszitate des Matthäus Evangelium“ schreibt im dortigen Kontext zu 1,6.18–25 u. a.: „Es ergibt sich also. daß der Evangelist mit Hilfe dieses Zitates (d. i. Jes 7,14) und seines Wortlautes die Überlieferung von der Empfängnis Jesu durch den Geist Gottes in der Jungfrau Maria in einer Weise 341

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interpretiert, die über die Anknüpfung dieses Zitates an jene Tradition hinaus die Gemeinde Jesu mit in ihre Aussage einbezieht“ (60). Dann zu 1,18–25 (was er „Bericht von der Empfängnis Jesu durch den Heiligen Geist“ nennt) dieses: „Wie Mt Jesu Sohnesverhältnis zu Gott verstanden wissen will, zeigen aber auch die Kindheitsgeschichten: Jesus ist von seiner Erzeugung und Geburt an Gottes Sohn; als solcher ist er Emmanuel (1,23). Auch 2,15 denkt der Evangelist an den durch den Geist gezeugten Sohn Gottes. Damit aber stehen wir fraglos im Bereich urchristlichen Bekennens. Hier ist Jesus immer der von Gott gezeugte und proklamierte Sohn“ (122; s. auch noch 132). c) Herkunft / Lebensentstehung Jesu durch den Geist

Offensichtlich im Anschluß an Mt 1,18 wird von manchen Autoren ausdrücklich von der „Herkunft“ Jesu gesprochen und diese als „Lebensentstehung Jesu“ verstanden; beides wird als „aus heiligem Geist gewirkt“ angesehen. Wir konnten schon auf die Eigenartigkeit der Wendung „Lebensentstehung“ als gänzlich ungebräuchlichen, doch auf Jesus gezielt eingesetzten Ausdruck hinweisen, wie auf die spezielle Problematik, die er in der Exegese bzw. in den Kommentaren auslöst. In den folgenden als Beispiele angeführten Kommentartexten wird deutlich erkennbar, was alles mit diesen Wendungen behauptet wird, ohne daß eine eigentliche Begründung im Text selbst angegeben würde, die diese Weise zu sprechen rechtfertigt oder gar fordert. Wir lassen die Stellen selbst sprechen und geben nur, wo es nötig erscheint, Bemerkungen dazu. H. Frankemölle sagt in seinem Mt-Kommentar u. a. dies: „… (daß es) unumgänglich war, in einer irdischen Genealogie (1,2–17) seine (d. i. Jesus Christus: 1,1) Herkunft vom Heiligen Geist … zu entfalten“ (I.154). Dazu dann: „Von diesem zentralen theozentrisch-christologischen Titel her (d. i. ‚Gott mit uns‘: 1,23) gewinnt auch das Bekenntnis zur Herkunft Jesu Christi vom heiligen Geist seine Ermöglichung und seine Tiefendimension – nicht umgekehrt (was immer damit behauptet sein soll. R. S.). Weil vom Glauben der ersten Jünger an Gott sich in Jesus offenbart hat, matthäisch gesprochen: Jesus der Immanuel ist, mußte über die Herkunft dieses Immanuel reflektiert werden. Dies tat Matthäus in der Tradition der Jungfrauengeburt“ (I.156). R. Schnackenburg gibt in seinem Mt-Kommentar der Stelle 1,18–25 die Überschrift „Die Herkunft Jesu vom Heiligen Geist“, sagt dazu aber in der Anmerkung selbst: „ ‚Geburt Jesu Christi‘, besser ‚Abstammung, Herkunft‘ (Er verwendet ja die Einheilsübersetzung, die in 1,18 „Geburt“ bringt)“. Er spricht dann von „Geheimnis der Herkunft Jesu“, von „Erzeugung Jesu“, ohne weitere Begründung oder gar Auswertung. W. Wiefel sagt in seinem Mt-Kommentar zu Mt 1,18–25 (überschrieben mit „Der geisterzeugte Messias“) im dortigen Kontext: „Die Charakterisierung als apologetische Legende trifft nur einen Seitenaspekte … die Aussageabsicht, die Herkunft Jesu aus dem schöpferischen Geist anzuzeigen und von seiner Eingliederung in 342

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das erwählte Davidsgeschlecht Zeugnis abzulegen … die Geburt selbst wird ausgespart …“ (31). Dazu: „Die Lebensentstehung aus der Kraft des Heiligen Geistes gilt als von Gott gewirkt (!)“ (33; der Mt-Text selbst spricht einfach und voll verständlich! R. S.). –– In seinem Lk-Kommentar sagt Wiefel u. a. dies: „Für das Bekenntnis zur geisterzeugten (!) Lebensentstehung und zur Geburt aus der Jungfrau hat neben der vorliegenden Perikope (Lk 1,26–38) Matth. 1,18–25 grundlegende Bedeutung. Dazu ist zu beachten, daß … Lk 1,34–37 mit der Verheißung des eschatologischen Königs verbunden (hat) und deutet seine Entstehung als die des zweiten Adam. Die gesamte sonstige neutestamentliche Überlieferung weiß von der Geisterzeugung und von der Jungfrauengeburt nichts … Die Sohnschaft Jesu ist auch für den lukanischen Bericht nicht in der Jungfrauengeburt begründet, sondern im Wort und Geist Gottes“ (51; vgl. dazu auch 53f). P. Fiedler schreibt zu Mt, 1,18 u. a.: „Selbstverständlich geht es auch, ja gerade hier um die Lebensentstehung, also (!) die Zeugung, und nicht, wie viele Übersetzungen weis machen wollen, um die Geburt. Deshalb greift Mt ausdrücklich auf das Substantiv genesis von 1,1 zurück: Jetzt wird die jungfräuliche Empfängnis Jesu Christi in ihrer Verknüpfung mit der Davidsohnschaft erläutert … Mt nennt gleich noch den Ursprung der Schwangerschaft Marias: ‚aus heiligem Geist‘ … ‚Heiliger Geist‘ zielt auf die göttliche Schöpferkraft (…). In Mt 1,18–25 (und in Lk 1) ist das Wirken der göttlichen Schöpferkraft auf die Lebensentstehung Christi bezogen …“ (46 u. 47). P.-G. Müller sagt in seinem Lk-Kommentar zu Lk 1,26–38 im dortigen Kontext u. a.: „Marias Kind ist nicht nur wie Johannes ‚groß vor dem Herrn‘, sondern ‚Er wird groß sein‘, es ist nicht nur vom Mutterschoß an mit Geist Gottes erfüllt, sondern selbst aus Heiligem Geist geschaffen (!). Maria glaubt sofort vollkommen … Marias Antwort … so daß sich Gottes Wort sofort an ihr erfüllt und sie die verheißene Empfängnis des Gottessohnes in sich erfährt“ (34). Dazu im Abschnitt „Die lukanische Christologie“ u. a.: „Nach Lukas hat Jesus seinen menschlichen Ursprung in Gott selbst, weil der Heilige Geist in Maria die irdische Existenz (!) des Gottessohnes begründet (1,35) … Jesus ist von seiner Entstehung her unauflöslich mit Gott und seinem Geist verbunden, kommt aus Gott und geht auf Gott hin“ (51 und 52). J. Kremer schreibt in seinem Beitrag „ ‚Dieser ist der Sohn Gottes‘ (Apg 9,20). Bibeltheologische Erwägungen zur Bedeutung von ‚Sohn Gottes‘ im lukanischen Doppelwerk“ im dortigen Kontext dies: „(zu Lk 1,35) … antwortet der Bote Gottes, daß die Lebensentstehung des verheißenen Kindes durch den göttlichen Lebensodem, eine Kraft Gottes, erfolgen werde. Dies ist der Sinn der beiden ganz der biblischen Diktion verpflichteten, bildhaften Aussagen über das ‚Herabkommen‘ des Heiligen Geistes und das ‚Überschatten‘ durch die ‚Kraft des Höchsten‘ … ‚Sohn Gottes‘. Dieser den Lesern vertraute Hoheitstitel (!) wird ihm also wegen seiner wunderbaren Lebensentstehung verliehen (!) werden“ (143; 144 viermal dieselbe Formel). Dann: „… seine geistgewirkte Empfängnis … aufgrund seiner geistgewirkten Lebensentstehung“ (145; 105 ebenso; 155). –– Im Beitrag „Das Erfassen der bildsprachlichen Di343

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mension als Hilfe für das rechte Verstehen der biblischen ‚Kindheitsevangelien‘ und ihre Vermittlung als lebendiges Wort Gottes“ (QD 126) schreibt J. Kremer im dortigen Kontext zu Lk 1,34f: „Der Bote Gottes antwortet: ‚Heiliger Geist wird auf dich herabkommen‘. Im Bild (!) des Herabkommens wird Maria das jede menschliche Vorstellung übersteigende und sie betreffende Wirken des göttlichen Lebensodem – pneuma ist eine verblaßte Metapher (!) – zugesagt … Sie besagen in metaphorischer Diktion eines: Maria wird den verheißenen Sohn durch Gottes Kraft empfangen. (Daß dies ohne Mann geschehen wird, ist vorausgesetzt, aber nicht Schwerpunkt der Aussage.)“ (96). Dazu auch: … Hinweis auf seine geistgewirkte Lebensentstehung begründet … außergewöhnlichen Lebensentstehung und Geburt …“ (97; dasselbe wiederholt 99; 102; 104; 106f). Br. M. Nolan schreibt in seinem Buch „The Royal Son of God. The Christology of Matthew 1–2 in the Setting of the Gospel (OBO 23) im betreffenden Kontext zu Mt 1,18–25 und Lk 1,30–35 dies in eigenartiger Formulierungsweise (im Englischen begründet?): „Turning to the first narrative element, the begetting of the Davidic Liberator through a holy spirit, it is necessary to keep two preliminary facts in mind. The tradition of Jesus‘ conception from a spirit antedates both Matthew 1,18–25 and Luke 1,30–35. Moreover, it is not in dispute within the community of faith. The pericope is not an apologia for the virtue of Mary. Rather does it stress the significance of the begetting from the spirit, and the virtue of Joseph the just. Secondly, three points common to the passages from Matthew and Luke have no essential interdependence, namely, divine sonship, generation by a holy spirit, and the exclusion of human fatherhood“ (64). Ähnliches vgl. S. 65 und 70 u. ö. G. L. Müller bringt in seinem Buch „Maria – Die Frau im Heilsplan Gottes“ (Mariol. Stud. XV, 2002) folgende „Auswertungen“ und theologische Überlegungen, die erkennen lassen, was aus einem falsch verstandenen exegetischen Befund alles werden kann. Im dortigen Kontext heißt es: „In der Mitte ihrer (d. i. im Kontext Matthäus und Lukas) theologischen Begründung (!) des Glaubens an Jesus den Christus, die sie in Form einzelner Erzählungen (!) in den Einzelaspekten entfalten, steht die Aussage über das Ereignis, wodurch Gott die Existenz des Menschen Jesus und damit seine Heilspräsenz in der Welt verwirklicht. Gottes Geist (pneuma) ist Gottes wirkende Macht (dynamis), die über die Grenzen kreatürlicher Möglichkeiten hinaus aus Maria das Menschsein annimmt. Dies geschah eben nicht in der Weise geschlechtlicher Zeugung, sondern in der Singularität eines Aktes der Annahme und damit der absoluten metaphysischen Konstitution des Menschseins Jesu ohne zweitursächlich-kreatürliche Vermittlung eines menschlichen Zeugungsaktes. Der Mensch Jesus existiert also ausschließlich durch Gottes Offenbarungsgegenwart in seinem Geist, der Gott selbst in der Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn ist (Mt 28,19) (!). Dies begründet die einmalige Relation dieses Menschen Jesus zu Gott als seinem bleibenden Grund (‚Vater‘), aus dem er und auf den hin er in der Einheit seines geist-leiblichen Menschseins existiert (‚Sohn‘). Die geistgewirkte Entstehung Jesu aus der Jungfrau 344

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Maria ohne menschlichen Zeugungsakt will also nicht eine erläuternde und interpretierende Veranschaulichung dafür sein, daß die Menschheit Jesu vom Geist geheiligt und durch seine Gegenwart nun auch ‚Sohn Gottes‘ genannt werden kann. Es geht vielmehr gerade um das von Gott gewirkte Ereignis, wodurch die Menschheit Jesu in ihrer Relation zu Gott konstituiert wird, daß sie nun ‚Sohn Gottes‘ heißen kann. Dies weist auch die grammatische Struktur des Verses Lk 1,35 aus. Auf Marias Frage, wie das geschehen solle, da sie doch keinen Mann erkenne, antwortet der Engel, daß der Heilige Geist in ihr das Menschsein wirke. Daran schließt sich kausal der Satz an: ‚Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden‘. Eine Halbierung der Jungfräulichkeit Marias in eine theologische und eine biologische Dimension legt sich von den Texten selbst nicht nahe …“ (118f). Dazu etwas später: „Dies ist mit der geistgewirkten Lebensentstehung Jesu gemeint … Daß Jesus aber das Menschsein aus der geistig-leiblichen Konstitution einer menschlichen Person (als Frau) empfängt, ist zugleich der Ausweis für seine uneingeschränkte Konnaturalität mit den Menschen. Der Akt der Annahme des Menschseins enthält damit aber auch die Einlösung der Verheißung Gottes, selbst das Heil zu sein (Messiasgedanken), und ist insofern schon soteriologisch ausgerichtet“ (119). – Auf die damit angeschnittenen Probleme werden wir am gegebenen Ort zurückkommen, wo auch ihre Beurteilung geliefert wird. d) „Gottessohnschaft“ – Folge der „geistgewirkten Empfängnis“

G. Schneider sagt in „Jesu geistgewirkte Empfängnis (Lk 1,34f)“ (ThPrQ 119, 1971, 105– 116) zu 1,34f im Kontext dort dieses: „Die Vorgeschichte des Lk-Evangeliums läßt in besonderer Weise das Interesse an der Gottessohnschaft Jesu erkennen, die mit dem Hl. Geist in Verbindung gebracht wird. Daß Jesus der Sohn Gottes ist, wird nicht nur in der Verkündigungsszene (1,32.35) ausgesprochen, sondern steht indirekt auch in der Geschichte, die das Ende des ganzen Zyklus bildet, in einem ersten Jesuswort (2,49). Schließlich zeigt auch die Genealogie, die traditionsgeschichtlich den Vorgeschichten nahesteht (vgl. Mt 1,1–17), das besondere Interesse an der Gottessohnschaft Jesu (Lk 3,23.38). Die Tatsache der Gottessohnschaft Jesu folgt aus der geistgewirkten Empfängnis (1,35). Wenn Jesus nach seiner Taufe in der Kraft des Geistes wirkt (4,1– 14.18), so zeigt 1,35, daß das Fundament der Geisteskraft Jesu nicht erst in der Taufe gelegt wurde. ‚Bei der Taufe wird ein schon vorhandener Geistbesitz aktiviert … Im Kontext des Lukas nimmt sich 1,35 wie ein Kommentar zur Taufperikope aus‘ (Zitat Räisänen)“ (107). P. Fiedler formuliert in seinem Beitrag „Geschichten als Theologie und Verkündigung …“ (in „Zur Theologie der Kindheitsgeschichten“, 1981) im dortigen Zusammenhang: „Die Aussage von Jesu Herkunft aus dem Wirken des Gottesgeistes in den beiden Synoptiker-Prologen verlegt zwar den Beginn der Gottessohnschaft an den ersten Augenblick seiner menschlichen Existenz. Darin ist aber noch nicht die Da345

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seinsweise bei Gott vor der Menschwerdung beinhaltet“ (13). Dazu dann: „Selbstverständlich kann da auch beides zusammengekommen sein, um Mt zur Abfassung des Bekenntnisses zu Jesus als dem Messias und dem Gottessohn in erzählerischer Gestalt zu bewegen, der diese seine Gottessohnschaft durch Zeugung aus heiligem Geist in der Jungfrau Maria erhalten hatte“ (21). Dazu noch: „Da zu diesem Christusglauben für den Evangelisten auch die Aussage von der durch geistgewirkte Empfängnis begründeten Gottessohnschaft Jesu gehörte“(24). D. Zeller schreibt in „Die Ankündigung der Geburt – Wandlungen einer Gattung“ (im Buch, das im zuvorgehenden Beitrag angegeben ist) zu Lk 2,34ff u. a. dies: „(im) Wortwechsel V. 34ff. kündigt der Engel in diskreten alttestamentlichen Bildern die geistgewirkte Empfängnis an. Der Satz mit ‚deshalb‘ zeigt, daß sie als Ätiologie (!) für die Heiligkeit und Gottessohnschaft des Kindes gedacht ist … er wird Sohn Gottes genannt werden“ (43). Dazu auch: „In der Überbietung der Täufergeschichte arbeitet aber nun Lk 1,26ff das Neue und Endgültige heraus, das mit Jesus in die Welt gekommen ist. In ihm geschieht die volle und letzte Selbstmitteilung Gottes. Deshalb wird das Kind nicht nur ‚Prophet des Allerhöchsten‘ (Lk 1,76) genannt werden wie Johannes, sondern ‚Sohn Gottes‘. Es verdankt schon seine Existenz dem Geistwirken Gottes. So fängt in ihm eine neue Schöpfung aus dem Geist an. Oder mit Mt: Jesus ist der Gott-mit-uns“ (45). U. Wilckens sagt in seinem Beitrag „Empfangen vom Heiligen Geist, geboren aus der Jungfrau Maria – Lk 1,26–38“ (im zuvor genannten Buch) dieses: „Die Legende von der geistgewirkten Geburt Jesu ist nur eine Weise, in der innerhalb der urchristlichen Theologiegeschichte diese Einheit der Person Jesu mit Gott und Gottes mit Jesus ausgeführt worden ist … Die Legende enthält als christologische Wirklichkeit nichts anderes als die Einheit Jesu mit Gott und Gottes mit Jesus, wie sie in der Ostererfahrung zuerst und grundlegend erfahren worden ist. … ist Jesus nach Lk 1 in seiner Konstitution als Person Gottes Sohn; darum wird nicht seine Geistbegabung … sondern seine geistgewirkte Geburt als Beginn seines irdischen Lebens herausgestellt. Jesus handelt als Gottes Sohn, … weil er Gottes Sohn ist, und zwar als der Mensch Jesus“ (67). Dazu: „… die Geburt des Menschen Jesus, die in ihrer geistgewirkten Wunderbarkeit ihn als Gottes Sohn ausweist. Dort wird der göttliche Logos Mensch, hier dagegen entsteht das Leben des Menschen Jesus durch Gottes Schöpferkraft … Jesus ist Gottes Sohn, weil er als der Mensch, der er ist, von Gott stammt“ (68). H. Räisänen formuliert in seinem Buch „Die Mutter Jesu im Neuen Testament“ im dort gegebenen Zusammenhang so: In „Gesichtspunkte aus der Christologie des Lukas“: „Den Gedanken der jungfräulichen Empfängnis hat Lukas nun in 1,35 expressis verbis zum Ausdruck gebracht … Anspielung auf die wunderbare Empfängnis … Welche Bedeutung hat die Vorstellung von der jungfräulichen Empfängnis für die lukanische Christologie? Schafft dieses Ereignis etwa den Grund für die Gottessohnschaft Jesu, die dann als ‚metaphysisch-substantiell‘ gedacht wäre? Hat die Sohnschaft ihren Grund in der Art der Empfängnis? … Die Konsequenz aus dem Eingriff Gottes 346

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bei der Empfängnis der Maria ist dann vor allem, daß Jesus heilig ist, weil seine Geburt auf das Werk des Heiligen Geistes zurückgeht. Es ist also sehr wohl möglich, daß der Sohnestitel hier nur die nähere Bestimmung des Attributes ‚heilig‘ ist, er braucht keineswegs auf eine substantielle Wesenseinheit zwischen Vater und Sohn als Folge der Parthenogenesis zu verweisen“ (142; 143; 144). Das wird 144–149 weiter diskutiert. F. Hahn sagt im betreffenden Zusammenhang in seinem Buch „Christologische Hoheitstitel“ u. a.: „In dem Motiv der Jungfrauengeburt lagen jedoch sehr andere Tendenzen beschlossen, die alsbald zum Durchbruch kamen. Dies läßt sich an Lk 1,26– 38 und Mt 2,1ff. erkennen. Die Ankündigung der Geburt Jesu an Maria Lk 1,26–38 kann … als einheitlich betrachtet werden. Der Akzent liegt in diesem Traditionsstück darauf, daß die besondere Art der Empfängnis zugleich die Gottessohnschaft begründet … Wohl geht es noch nicht um eine Gottessohnschaft im physischen Sinne …“ (275f). W. Radl (Lk-Kommentar) sagt zu Lk 1,32ff im dortigen Zusammenhang: „Wie die christologischen Aussagen des Paulus in Apg 13,16–37 nicht spezifisch paulinisch, aber auch nicht lukanisch sind, so repräsentiert auch V 32f nicht das Spezifische der lukanischen Christologie. Dies tut vielmehr V 35. Die Vorstellung von der Gottessohnschaft auf Grund des geistgewirkten Ursprungs ist zwar nicht die Schöpfung des Lukas. Sie findet sich auch bei Matthäus (1,18–25), liegt also beiden Evangelien voraus“ (58). Dazu auch: „Jesu Gottessohnschaft gründet nicht in der Adoption durch Gott, sie ist aber auch keine physische im Sinne einer – für das biblische Gottesbild undenkbare – göttlichen Zeugung, sondern er ist Gottes Sohn, insofern er seinen Ursprung in Gottes Schöpfergeist hat. Darum wird er auch nicht erst als ‚Großer‘ Sohn Gottes heißen, sondern schon als Kind, als ‚Geborenes‘. V 34c soll also das Vorhergehende präzisieren und ergänzen, ja sogar steigern und vollenden. Mit dem Gottessohntitel am Ende ist der Satz, obwohl formkritisch ein Anhängsel, das Ziel der Engelbotschaft, auch das unmittelbare Ziel der vorgeschalteten Marienfrage samt ihrer Beantwortung“ (67). Vgl. dazu auch W.Radl (1996) 346–365. G. Schneider schreibt in seinem Lk-Kommentar zu 1,34f u. a. dieses: „Die Antwort des Engels geht entsprechend daraufhin, eine wunderbare Empfängnis und Geburt zu begründen, wenngleich die Zielrichtung der Antwort weniger eine Vaterlosigkeit intendiert, als positiv auf die göttliche Ursächlichkeit der Empfängnis und auf die Gottessohnschaft des Kindes abhebt. ‚Heiliger Geist‘ wird auf Maria kommen und ‚Kraft des Höchsten‘ sie überschatten. Die beiden Sätze von V 35a interpretieren sich gegenseitig. Gottes Schöpferkraft – so wurde der Geist Gottes vor allem im hellenistischen Judentum verstanden – wird im Schoß der Jungfrau die Schwangerschaft bewirken. Der Nachsatz V 35b ist dabei das Ziel. Weil Gottes Geist das Kind schuf, wird es ‚heilig‘ (sein und) genannt werden und in einem Sinn ‚Sohn Gottes‘ sein, den man fast ‚seinshaft‘ nennen darf. Die vom Glauben bekannte Gottessohnschaft wird vom Ursprung Jesu aus erklärt und begründet. Sie wird nicht ‚funktional‘ oder ‚adoptianistisch‘ verstanden. … Die Perikope (d. i. Lk 1,26–38) gründet den Ursprung 347

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Jesu ganz in Gott und zeigt damit, daß seine Gottessohnschaft nicht erst seit irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens datiert (etwaige Berufung, Taufe), sondern vielmehr von Anfang an sein Wesen ausmacht“ (50f.52). Diese Feststellungen Schneiders finden sich auch in seinem Aufsatz „Jesu geistgewirkte Empfängnis (Lk 1,34) in ThPrQ 119, 1971, 105–116. So: „Zur Antwort verweist er (d. i. der Evangelist) auf Gottes Allmacht (vgl. VV. 35b.36.37). Gottes Geist wird im Schoß der Jungfrau ein Kind erschaffen … besonderer Hinweis auf die ursächliche Wirkung des göttlichen Geistes …“ (111). e) „Wunder der jungfräulichen Empfängnis und Geburt Jesu“ – „Wunder der Jungfrauengeburt“ – „Wunder der Menschwerdung“

Es fällt bei der Einsichtnahme in die Kommentare gerade zu Mt 1–2 und Lk 1–2 besonders auf, daß zur Auslegung und Erklärung des in diesen Bibel-Stellen Ausgesagten die Kategorien „Wunder“ bzw. „wunderbar“ gebraucht werden, und zwar in Konzentration auf das, was „Empfängnis und Geburt Jesu“ angeblich herausstellen, ein Faktum dieses eigenartigen Sprechens, das sonst höchstens in Bezug auf die Auferweckung Jesu Christi angewendet erscheint. Wir bringen dazu im folgenden eine Reihe von Beispielen, um dann auch aufzuzeigen, daß sich die Bibelwissenschaftler und dann eben auch die systematisch engagierten Theologen selbst Rechenschaft geben in Bezug auf die Berechtigung oder gar Notwendigkeit des Einsatzes dieser Kategorie. A. Schlatter sagt in seinem Mt-Kommentar zu Mt 1,16 u. a. diese beachtenswerten Sätze: „Beide griechischen Textformen verbinden den Stammbaum, der Jesus von David herleitet, mit seiner wunderbaren Erzeugung und dies war die Meinung des Mat., da die folgende Erzählung ihm unzweifelhaft angehört und diese vom Wunder in der Erzeugung Jesu spricht. Mat. hielt beides für unentbehrlich, den Zusammenhang Jesu mit Israel, der ihn in die Reihe der Geschlechter hineinsetzt, und seine Herkunft aus der schöpferischen Tat Gottes, der der Menschheit mit dem Christus das gibt, was die Geschichte nicht hervorzubringen vermag und die Gemeinde nicht aus sich selbst erzeugen kann. Dieses Beisammensein von Natur und Wunder, von Geschichte und Schöpfertat, kehrt im ganzen Bericht über Jesus wieder und gehört zu den Fundamenten, auf die das religiöse Verhalten dieser Christenheit gegründet war“ (59). Dem folgt zu 1,18–25: „Unmöglich sagt uns das Stück vollständig, was Mat. und seine Kirche über den Anfang Jesu gesagt haben. Denn das an Maria geschehene Wunder bildet zwar die Voraussetzung für das Erzählte, wird aber nicht selber zum Gegenstand des Berichts. Zwischen dieser Erzählung und der nächsten, die den alten König neben den neugeborenen stellt, liegt Jesu Geburt. Diese steht in derselben Weise nur als Voraussetzung vor dem Berichteten wie die Empfängnis Jesu im ersten Stück …“ (7). Dann weiter, zu ‚di,kaioj‘ in 1,19: „Das stellt fest, daß Mat. den Entschluß Josefs, auf Maria zu verzichten, nicht mit dem Verdacht verband, sie sei mißbraucht worden und gefallen. ‚Weil er gerecht war‘, das heißt: er war entschlossen, den Willen 348

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Gottes zu tun. Darum weicht er zurück vor dem Wunder, das Maria für Gottes Werk in Anspruch nimmt … Wie könnte er Maria für sich begehren, nachdem Gott sie in seinen Dienst berufen hat?“ (13). Die Bemerkungen Schlatters fallen durch ihre Nüchternheit auf, und dadurch, daß nur von Gottes Willen in allem die Rede ist. „Wunder“ meint hier Gottestat“. Die Wendung „jungfräulich“ wird im ganzen Kommentar zu Mt 1 nie gebraucht, und das nicht, weil Matthäus nach Schlatter es ablehnen würde, vielmehr weil Schlatter das, was Matthäus selbst sagt, genau und ganz und wörtlich beim Wort nimmt. Das zeigt auch dieser Satz: „Mat. hat nicht deshalb vom Wunder in der Erzeugung Jesu gesprochen, weil er den natürlichen Vorgang, durch den wir werden, verabscheut hätte (dazu bringt er als Mt 6,25 als Beleg für das Gott-Gewollte an Mann und Frau: 19. R. S.). Das Wunder in der Geburt Jesu hat seinen Grund in seiner besonderen Sendung. Er kann nur dadurch zum ‚Sohn Davids‘ werden, daß er durch Gottes Wirken als Gottes Sohn entstand. Daraus ergibt sich das mh. fobhqh,sai, weil das Kind, da es durch Gottes Geist geschaffen wurde, auch unter seinem Schutz steht“ (19). Wir werden das für unsere weiteren Einsichtnahmen stets zu berücksichtigen haben. A. Schlatter bemerkt in seinem Lk-Kommentar Ähnliches wie zuvor hervorgehoben wurde. Zu Lk 1,32f u. a.: „Der ewige König ist Gottes Sohn; Maria empfing ihn durch Gottes Schöpfermacht. Deren Träger ist ‚Geist‘, mit Gott eins seiender Geist, also pneu/ma a[gion … Vom Gedanken, daß durch die wunderbare Art des göttlichen Wirkens die Davidsohnschaft Jesu beseitigt oder wenigstens erschüttert sei, zeigt sich keine Spur … Die Richtung des Blicks auf das schöpferische Wirken Gottes, aus dem der Christus entsteht, hat anderes zur Folge, daß der Erzähler nur bei der Mutter verweilt … Das supranaturale Wirken Gottes und das natürliche Werden des Lebens berühren sich nicht im Vater, sondern in der Mutter. In ihr wird das Menschliche geheiligt und das Natürliche mit der göttlichen Wirkung erfüllt“ (164f). H. Schürmann sieht in seinem Lk-Kommentar die Sache ziemlich anders an. Wir zitieren einige Sätze; grundlegende kritische Bemerkungen haben wir oben im Abschnitt zu Lk 1–2 insgesamt vorgelegt; s. d. In den einleitenden Aussagen zu Lk 1,5–56 (überschrieben mit „Die Verheißung“) lesen wir: „Die Erzählung denkt (!) heilsgeschichtlich im Schema Verheißung – Erfüllung: Schon die erste Erzählung über die wunderbare Lebensentstehung des Johannes scheint zwar – isoliert gelesen – alles auf den Höhepunkt bringen zu wollen, was Gott in alten Tagen an großen Männern der Vorzeit (!) ähnlich getan hat. In Zusammenordnung mit der zweiten Verkündigungserzählung will sie aber vor allem zeigen, wie sehr bisheriges Heilshandeln am Ende in Jesus nunmehr eine unüberbietbare Höhe bekommt (!) … die Vorgänge der Lebensentstehung … So wunderbar die Empfängnis des Johannes war: im Zusammenhang illustriert (!) sie nur die Möglichkeit des noch größeren Wunders im Schoße Mariens (VV 36f.39–56). … Das wird illustriert (!) durch das wunderbare Eingreifen Gottes bei seiner (Johannes) Lebensentstehung schon im Mutterschoß … vielmehr soll an der wunderbaren Lebensentstehung des Johannes deutlich gemacht werden, daß Gott 349

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selbst eine jungfräuliche Empfängnis nicht unmöglich ist (vgl. 1,36f.45). … daß seine (d. i. Jesu) Lebensentstehung als noch wunderbarer hingestellt wird“ (26; 27; 28). Dann heißt es zu 1,35: „Die Verlobte wird ohne ehelichen Verkehr, eben als Jungfrau (V 27), empfangen. Pneu/ma a[gion wird das Wunder in ihr wirken, die schöpferische Allmacht Gottes, bei der ‚nichts unmöglich‘ ist (V 37). Gemeint ist das Pneuma, das am Anfang der Schöpfung über den Wassern schwebte (Gn 1,2) und für die Zukunft als aus der Höhe herabkommend erwartet wird (Is 32,15). Das Bild von der ‚Überschattung‘ … durch die du,namij Gottes meint den gleichen schöpferischen Vorgang: Gottes Allmacht wird im Schoße Mariens ein Kind erschaffen“ (52). Dazu: „Wie eine Wolke wird Gottes Macht über ihr walten und in ihr wirksam werden … nur daß Gottes schaffende Tätigkeit hier nun bis zur jungfräulichen Lebensentstehung gesteigert ist … Das eigentliche Erzählinteresse der ganzen Perikope lichtet sich hier: die ‚Heiligkeit‘ und ‚Gottessohnschaft‘ Jesu bis in die Ursprünge seines Wesens in Gott zu verankern – ein Versuch (!), dem in anderer Weise auch der Stammbaum dienen will: Wie Adam von Gott erschaffen ward (vgl. 3,38) und dadurch in einem Sohnesverhältnis zu Gott steht (!), so – und doch ganz anders – geschieht hier neue Schöpfung … Gottes pneu/ma wird ihm schöpferisch lebenspendend das Dasein geben … Die schöpferische Tat des pneu/ma a[gion im Schoße der Jungfrau wird so betont, um die ‚Heiligkeit‘ Jesu theologisch (!) zu begründen“ (53 und 54). Dann ähnlich weiter: „Gott kann auch wunderbar eine jungfräuliche Empfängnis bewirken … daß das Wissen um die jungfräuliche Lebensentstehung Jesu nicht erst diesem Bericht (und dem des Mt) eigen war … unabhängiger Gemeindeglauben“ (57; s. auch 58; 59; 60; 61). – Wir bemerken die eigentümliche Konzentration der Aussagen auf „jungfräuliche Empfängnis“! Im folgenden stellen wir die Beispiele einigermaßen geordnet vor und geben erklärende Bemerkung nur dort dazu, wo es besonders wichtig zu sein erscheint. „Wunder der jungfräulichen Empfängnis“ – „wunderbare Empfängnis“: E. Schweizer (Mt-Kommentar) zu Mt 1,18–25: „Auffällig ist, daß das Wunder der jungfräulichen Empfängnis nicht erzählt, sondern vorausgesetzt wird, wohl aus mündlicher Tradition der Gemeinde bekannt“ (11; dazu auch 14). G. Schneider (im betreffenden Beitrag Th PQ 1971): „Sowohl Lk 1,34f als auch Mt 1,18.20 erwecken den Eindruck, daß die Aussage von der wunderbaren Empfängnis Jesu bereits verteidigt wird … Zur Antwort verweist er (d. i. Lukas) auf Gottes Allmacht (vgl. VV 35b.36.37). Gottes Geist wird im Schoße der Jungfrau ein Kind erschaffen …“ (111; Hinweis auf die ursächliche Wirkung des göttlichen Geistes). W. Trilling (Mt-Kommentar): „Durch ein einzigartiges Wunder geschah die Empfängnis und Geburt Jesu“ (19). Dazu zu Mt 1,18–25: „Dieses Stück berichtet von der Geburt des Messiaskindes … die näheren Umstände, die Vorbereitungen des Ereignisses und das Geschehen selbst werden fast nicht dargestellt … setzt voraus, daß uns der Hergang der wunderbaren Empfängnis und Geburt bekannt sind“ (24). Und zu 1,20: „Maria … denn in ihr ist ein Wunder Gottes geschehen: Die Frucht ihres Leibes 350

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stammt nicht aus einer irdischen Begegnung … das Wirken des Heiligen Geistes … der die Macht und Größe des göttlichen Wirken ausdrückt“ (26u. 27; s. auch 29). P. Bonnard (Mt-Kommentar) schreibt zur Frage des Verständnisses von ‚ek‘ in Mt 1,18: „Il ne faut pas donner à la préposition evk (litt., hors de) une valeur partitive (par une parcelle de l’Esprit saint), ni la signification unique d’une émananation (par une émanation de l’Esprit saint), ni le sens causal-instrumental (par le moyen de l’Esprit saint), mais le sens causal-historique (par une action unique de l’Esprit saint; Bible de Jérusalem. par le fait de l’Esprit saint). Dans Luc 1.35 …; l’expression matthéenne est plus reservée, plus juive; elle se contente d’affirmer le fait de la conception miraculeuse sans indiquer un mouvement de l’Esprit saint vers ou en Marie“ (20). L. Legrande (in seinem Buch „Jungfräulichkeit …“, 1966) zu Lk 1,46–55 u. a.: „Zur Darstellung dieses Fruchtbarkeitswunders entwickelt der Lobgesang den Gegensatz zwischen den Großtaten Gottes und der Niedrigkeit seiner Magd … Die Großtat kann nichts anderes sein als die wunderbare Zeugung, die sich in ihr ereignet hat … Die jungfräuliche Mutterschaft Marias … das Kind wird kraft seiner Zeugung aus Gott und dem Geist auch von einem neuen Leben beseelt und Sohn Gottes sein“ 132). A. Vögtle schreibt in seinem Artikel (1971) im dortigen Kontext zu Lk 1 u. a.: „… hätten die Täuferverehrer die eschatologische Bedeutung des Johannes überzeugender dadurch begründen können, daß sie der geistgewirkten Empfängnis Jesu ein ungleich ‚bescheideneres‘ Empfängniswunder entgegenstellen können?“ (54). Und im Buch „Unnötige Glaubensbarrieren“ (1998) heißt es: „Berichtet die Erzählung Lk 1,26–38 von einem der höchsten Gottesboten Maria angekündigten, von ihr gläubig und gehorsam akzeptierten und durch die nachfolgende Geburt eines Sohnes bestätigten Empfängniswunder, somit ein von Maria bezeugbaren biologischen Faktum ihres Lebens? Oder …“ (110; im folgenden oft „geistgewirkte Empfängnis“). Und: „Ohne die Entdeckung eines Anhaltspunktes in der Schrift selbst wäre es … nach Ostern nicht zur Konzipierung des unüberbietbaren Wunders der geistgewirkten Empfängnis gekommen. Die in ihrer Art analogielose Empfängnis- und Geburtsankündigung von Jes 7,14 … heraushören können, daß Maria als jungfräuliches Mädchen, somit ohne sexuellen Verkehr, den ‚Gott mit uns‘ empfangen und gebären konnte. Als mögliche Potenzierung der göttlichen Initiative ohnehin nur die Schöpfermacht Gottes als empfängniswirkende Kraft übrig …“ (133). J. Schmid (Mt-Kommentar) zu Mt 1,18–25: „… Die Hauptsache ist dem Evangelisten … das Geheimnis der wunderbaren Empfängnis Jesu und die in dieser liegende Erfüllung der atl. Weissagung. … Darum bedurfte es des Eingreifens Gottes, um das Geheimnis der wunderbaren Empfängnis Marias auch ihnen Verlobten glaubhaft zu machen … wunderbare Empfängnis Marias durch die schöpferische Kraft Gottes (vgl. zu Luk 1,35) …‘ (41f; 43). J. Michl (Beitrag „Jungfrauengeburt im NT“, 1969) formuliert: „ ‚Empfangen vom Heiligem Geist …‘ Damit kommt der Glaube zum Ausdruck, daß Jesus nicht wie alle 351

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anderen Menschen durch Zeugung eines Vaters im Schoß seiner Mutter empfangen wurde, sondern daß unser Erlöser auf wunderbare Weise ins Leben trat, ohne daß die Frau, die ihn gebar, Verkehr mit einem Mann hatte … Jungfrauengeburt … ein von Gott gewirktes Faktum, ein einmaliges Wunder … (145; dazu 147; 149; 150. Und: „die ntl. Kindheitsgeschichten an eine Jungfrau denken lassen, die unter Wahrung ihrer Jungfrauenschaft wunderbar empfängt“ (152; dazu 154; 161–163). „Wunder der Jungfrauengeburt“ Fr. Rienecker (Mt-Kommentar) zu Mt 1,16: „Das Jesuskind ist also rechtlich geschützt … zwar nicht nach der Regel der menschlichen Zeugungsfolge, sondern durch das einzigartige und einmalige Wunder der Jungfrauengeburt. Unsere Kindlein werden uns von Gott auf natürliche Weise geschenkt, das Jesuskindlein wurde dem Joseph auf übernatürlichem Wege geschenkt“ (31). Fr. Bovon (Lk-Kommentar) zu Lk 1,27f: „Obwohl diskret (vgl. 1,34), ist der Text doch nicht nur am Wunder der göttlichen Zeugung, sondern auch am Zustand der Jungfrau Maria interessiert“ (72). Dazu: „In diesem Fall spielt für Lukas das Wunder der Jungfrauengeburt, nicht aber der Dauerzustand der Jungfräulichkeit eine Rolle“ (73). Und: „Maria erlebt eine normale Geburt. Im Unterschied zur späteren Mariologie, die das Wunder der Jungfrauengeburt nach hinten (unbefleckte Empfängnis) und nach vorn (Junfräulichkeit in partu et post partum) erweitert“ (120). H. Gese (Beitrag „Natus ex virgine“, 1974): „Unter den verschiedenen christologischen Aussagen des Credo bereitet die der Jungfrauengeburt dem Verständnis besondere Schwierigkeiten … daß in den Legenden von der Jungfrauengeburt der Begriff des Sohnes Gottes veranschaulicht oder der Geistbesitz der Person Jesu begründet oder der Anfang der neuen Schöpfung dargestellt werden soll …“ (73). Dazu: „Die Jungfrauengeburt und das Wunder der Geburt bei bisheriger Unfruchtbarkeit und in hohem Alter können hier also parallelisiert werden. Die Jungfrauengeburt wird wohl als etwas Größeres, nicht aber als etwas unvergleichlich Anderes empfunden …“ (133; wiederholt „Jungfrauengeburt). Und: „Dieser Transzendenzcharakter der Jungfrauengeburt könnte nicht anders mißverstanden werden als im Sinne doketischer Entleiblichung und Sublimation“ (89). V. Stümke (Artikel „Jungfrauengeburt“, 227) zur Frage: „(K. Barth) stellt das Wunder der Jungfrauengeburt in Parallele zum Wunder des leeren Grabes und behauptet, daß beide Wunder zusammengehören und ein einziges Zeichen bildeten“ (433f). Dazu: „… Barths Verankerung der Notwendigkeit des Inkarnationsdogmas samt der Jungfrauengeburt als dessen unverzichtbares Zeichen … christologische Implikationen der Jungfrauengeburt“ (435; s. auch 443). „Wunderbare Erzeugung Jesu“ A. Schlatter (Mt-Kommentar) verwendet diese Formel öfter: Zu Mt 1,16: „Stammbaum, der Jesus von David herleitet, mit seiner wunderbaren Erzeugung (zusam352

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menschaut) … Wunder in der Erzeugung Jesu spricht … aus der schöpferischen Tat Gottes …“ (5). Dann: „Mat. hat nicht deshalb vom Wunder in der Erzeugung Jesu gesprochen, weil er den natürlichen Vorgang, durch den wir werden, verabscheut hätte … Das Wunder in der Geburt Jesu hat seinen Grund in seiner besonderen Sendung“ (19). Fr. Bovon (Lk-Kommentar) zu Lk 1,27: „Obwohl diskret (vgl. 1,34), ist der Text doch nicht nur am Wunder der göttlichen Zeugung, sondern auch am Zustand der Jungfrau Maria interessiert“ (72). W. Schmithals (Lk-Kommentar) zu Lk 2,41–52 u. a.: „… Parallele zu analogen Aussagen … von seiner Göttlichen Zeugung (Jungfrauengeburt) … Sohn von Gott erwählt …“ (47). R. Pesch spricht in seinem Buch „Über das Wunder der Jungfrauengeburt“ (2002) oft vom „Wunder der Jungfrauengeburt“, welche Textstellen hier auch angegeben werden können, weil sie sachlich hierher gehören. Schon im Buchtitel begegnet diese Wendung. Dann 50; 85f; 92; 105f; 116; 140; 151; 158f; 167; 175. L. Legrand (im Buch „Jungfräulichkeit …“) zum Magnificat im dortigen Kontext: „Zur Darstellung dieses Fruchtbarkeitswunders … kann die Großtat Gottes nichts anderes sein als die wunderbare Zeugung, die sich in ihr ereignete“ (130). Fr. Zinniker (im Buch „Probleme der sog. Kindheitsgeschichte bei Matthäus“, 1972) im Exkurs „Ist Mt 1,18–25 ein christologischer Midrasch?“ zu Beginn: „Die Perikope Mt 1,18–25 steht als biblischer Text im Feuer einer heißen Diskussion. Es geht um das Thema ‚Jungfrauengeburt‘, d. h. um die Frage: Empfängnis Jesu ohne menschlichen Samen, also eine von göttlicher Kraft gewirkte Parthenogenesis – ein biologisches Wunder‘‘ (96; s. dort den ganzen Exkurs). „Wunder in Maria – Wunder an Marias“, nämlich jungfräuliche Empfängnis W. Trilling (Mt-Kommentar) zu Mt 1,20: „denn in ihr (d. i. Maria) ist ein Wunder Gottes geschehen: Die Frucht des Leibes stammt nicht aus einer irdischen Begegnung … Es geht um göttliche Dinge … das Wirken Heiligen Geistes. Auf ihr geht als letzte Ursache das Wunder in Mariens Schoß zurück … Alle Einzelheiten werden hier sorgsam vermieden“ (26f). G. Lattke (in ihrem Beitrag in „Zum Thema Jungfrauengeburt“) zu Lk 1,34f u. a.: … heißt es, daß Maria das Kind nicht durch Zeugung empfangen soll, sondern durch die Macht Gottes, die geheimnisvoll an ihr wirkt“ (66f). W. Knörzer (im Buch „Wir haben seinen Stern gesehen“, 1967) zu Lk 1,32–35 u. a.: „Auch Maria wird gesagt, daß bei Gott kein Ding unmöglich ist. Wie Abraham glaubt sie dem Wort des Engels … Sie sagt Ja zu diesem Gott, der das Wunder in ihrem Schoß wirken wird. ‚Siehe, ich bin die Magd des Herrn“ (100). P. Gaechter (im Mt-Kommentar) zu Mt 1,18 u. a.: „Es ist von Gott, indem sich Gott hier als Quelle des Lebens geoffenbart hat. Joseph sollte daraus das Wichtige entnehmen, daß Maria … daß an ihr ein Wunder Gottes geschehen war. Näheres wurde ihm 353

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offenbar nicht mitgeteilt“ (46). Dazu: „durch unmittelbare Einwirkung Gottes von der Jungfrau empfangen und geboren worden ist“ (55). A. Schlatter (Mt-Kommentar) zu Mt 18–25 u. a.: „Denn das an Maria geschehene Wunder bildet die Voraussetzung für das Erzählte …“ (7). Fr. Bovon (Lk-Kommentar) zu Lk 1,34f u. a.: „… die schöpferische Kraft Gottes … vom Handeln Gottes an Maria …“ (76). „Das Wunder der Geburt Jesu“ A. Schlatter (Mt-Kommentar) zu Mt 1,20f u. a.: „Mat. hat nicht deshalb vom Wunder in der Erzeugung Jesu, gesprochen, weil … das Wunder in der Geburt Jesu hat seinen Grund in seiner besonderen Sendung …“ (19). E. Schweizer (Mt-Kommentar) zu Mt 1,18.23 u. a.: „Die Geburt Jesu von der Jungfrau … daß das wirkliche Wunder der Geburt Jesu nicht an zeitgebundenen Vorstellungen hängt; Matthäus und Lukas bezeugen dieses Wunder je in der Weise, die ihrem Glauben an Jesus Christus entspricht … Tatsache der Geburt durch die Jungfrau in Betlehem … Jungfrauengeburt …“ (14; 15 u. ö.). J. Ernst (Lk-Kommentar) zu Lk 1,26–35 u. a.: „Die Wundergeburten in der Geschichte Israels finden in der Lebensentstehung durch den göttlichen Schöpfergeist eine dramatische Überbietung“ (58; dazu auch 59; 62; 63). J. Schniewind (Mt-Kommentar) zu Mt, 18–25 u. a.: „Das Wunder der Geburt Jesu wird noch eindringlicher als bei Matth. bei Lk. verkündet …“ (15). U. Wilckens (in seinem Beitrag in „Zur Theologie der Kindheitsgeschichten“, 1981) zu Lk 1,26–38 im dortigen Kontext u. a.: „Ein entsprechender Unterschied zeigt sich auch in der Größe des Wunders der Geburt dieser beiden ‚Großen‘: Johannes … Doch dieses Wunder wird durch das der Empfängnis und Geburt Jesu unendlich übertroffen … Die Jungfrauengeburt bedeutet so eine Steigerung der Größe des Wunders …“ (52f; dazu 61). Dann: „Gewicht, das der Engel in der annuntiatio Lk 1 diesem Wunder der geistgewirkten Geburt Jesu beimißt … Die sachlich primäre, entscheidende Aussage liegt in dem Thema der geistgewirkten Geburt Jesu, die Jungfrauengeburt ist ein dem zugeordnetes, an Bedeutung ihm nachgeordnetes Moment“ (64). Dazu auch: „Das Wunder der geistgewirkten Geburt Jesu ist in Maria geschehen, das hebt sie heraus aus allen Menschen“ (71). P. Stuhlmacher sagt in seinem Buch „Die Geburt des Immanuel“ zu Mt 1,18–25 und Lk 1,26–38 im dortigen Zusammenhang dieses: „… Gemeinde, die sich des von Gott gefügten Schöpfungswunders der Geburt des Christus Jesus erinnert … die von Gott wunderbar gefügte Erfüllung von Jes 7,14: In und mit der Jungfrauengeburt wird die Immanuel-Verheißung des einzig-einen Gottes Wirklichkeit …“ (70; so dort weiter 71;.74; 76). J. Schildenberger in seinem Beitrag „Die jungfräuliche Mutter Maria im Alten Testament“, 1969, schreibt im dortigen Kontext zu Jes 7,14 in Mt 1,22f dieses: „Jahwe selbst sagt zu Sara: ‚Ist für Jahwe etwas zu wunderbar?‘ (Gn 18,14). … Sollte er nicht 354

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auch einem jungen Mädchen ohne Zutun eines Mannes Leibesfrucht schenken können? Die ‚almah wird aber damit für Jesaja keineswegs zu einem ‚Gottesweib‘, sondern bleibt das schwache Mädchen, in dem jedoch Jahwes Wundermacht wirksam wird“ (133; dazu auch 134). „Wundercharakter der Menschwerdung“ E. Nellessen schreibt in seinem Buch „Das Kind und seine Mutter“ im Exkurs „Jungfrauengeburt – ein Theologumenon?“ im dortigen Kontext: „In den Berichten des Matthäus und Lukas über die Empfängnis und Geburt Jesu sind drei Aussagen von besonderem Gewicht enthalten. Alle drei betreffen den Wundercharakter der Menschwerdung und gehen über das der natürlichen Erfahrung Erreichbare hinaus: Jesus ist Gottes Sohn (…); seine Empfängnis ist vom Heiligen Geist bewirkt (…); seine Mutter Maria ist und bleibt in der Empfängnis Jungfrau (…)“ (97). P. Fiedler (in seinem Beitrag „Geschichten als Theologie und Verkündigung“, 1981) schreibt im betreffenden Kontext: „Denn bekanntlich stehen die beiden Evangelienprologe gleichsam in der Mitte zwischen der ‚Adoptions‘-Christologie des Mk (vgl. 1,9–11) und der Präexistenz-Christologie des Joh, wie sie bereits der Prolog kennt. Die Aussage von Jesu Herkunft aus dem Wirken des Gottesgeistes in den beiden Synoptiker-Prologen verlegt zwar den Beginn seiner Gottessohnschaft an den ersten Augenblick seiner menschlichen Existenz. Darin ist aber eben noch nicht die Daseinsweise bei Gott vor der Menschwerdung beinhaltet. … als Endpunkt eines Prozesses, der die nachösterliche Christusaussage der Einsetzung Jesu zum Sohn Gottes aufgrund der Auferweckung zurückverlegte, und zwar zunächst zur Taufe Jesu und schließlich zur Geburt bzw. Empfängnis. Die göttliche Proklamation bei Jesu Sohnwerdung und die Tätigkeit des Heiligen Geistes seien auf jeder Stufe dieses Prozesses vereint anzutreffen“ (13 und 14). P. Stuhlmacher sagt in seinem Buch „Die Geburt des Immanuel“ im betreffenden Kontext dies: „… daß das biblische Zeugnis von der Jungfrauengeburt … neutestamentliches Urgestein ist. In der Tat berichten Matthäus und Lukas … sie bezeugen das Schöpfungswunder der Menschwerdung Jesu …“ (9). L. Scheffczyk (in „Das biblische Zeugnis von Maria“, 1979) formuliert so: „Sie (d. i. die Evangelien) bezeichnen Maria häufig als Jungfrau und Mutter. Für sie steht außer Zweifel, daß die Mutterschaft Marias aus einer jungfräulichen Empfängnis kommt und daß sie in einer vaterlosen Zeugung aus Heiligen Geist gründet … Die ersten Zeugen und Hörer der Botschaft von der Menschwerdung Gottes (!) aus Maria haben diese Botschaft nicht anders verstanden denn als ein von Gott gewirktes Wunder“ (13). Dazu: „Die Bedeutung der Jungfräulichkeit … ist nur im Lichte der Menschwerdung Gottes ‚in der Fülle der Zeit‘ (Gal 4,4) zu verstehen …“ (22). J. Kremer sagt in seinem Beitrag „Das Erfassen der bildsprachlichen Dimension als Hilfe für das rechte Verstehen der biblischen ‚Kindheitsevangelien …“ (QD 126, 1990) im dortigen Kontext dies: „… Verkündigung Jesu als ‚Sohn Gottes‘ … mit dem 355

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Hinweis auf seine geistgewirkte Lebensentstehung begründet: Er ist ein direkt von Gott stammender Sohn und hat Gott zum Vater … Der Sohn Mariens kann aufgrund seiner außergewöhnlichen Lebensentstehung und Geburt ‚Sohn Gottes‘ heißen …“ (97); und dazu: „Die angekündigte geistgewirkte Lebensentstehung in der Jungfrau ist dafür ein tiefsinniges Symbol …, das uns heute wie früheren Generationen zu denken gibt. Es verweist uns auf das Wunder der nie zu begreifenden, in Gottes Schöpferkraft gründenden Menschwerdung des ewigen Sohnes, die ein besonderes, aber im einzelnen nicht näher zu bestimmendes Wirken Gottes in der Geschichte impliziert, wie es die Bibel mit dem Hinweis auf den Heiligen Geist ausspricht“ (104). „Schöpfung – Neuschöpfung – Schöpferisches Wirken Gottes im Geschehen der jungfräulichen Empfängnis/Geburt Jesu“ A. Schlatter (Lk-Kommentar) schreibt zu Lk 1,26–38 im dortigen Kontext dieses: „Ein ewiges Königtum ist nicht das Werk des Menschen; es wird empfangen, und der Ewige, der es empfängt, erhält das Leben durch Gottes schöpferisches Wirken. Der ewige König ist Gottes Sohn; Maria empfing ihn durch Gottes Schöpfermacht. Deren Träger ist ‚Geist‘, mit Gott eins seiender Geist, also pneu/ma a[gion … die Richtung des Blicks auf das schöpferische Wirken Gottes, aus denn Christus entsteht, hat aber zur Folge, daß der Erzähler nur bei der Mutter verweilt. Das supranaturale Wirken Gottes und das natürliche Werden des Lebens berühren sich nicht im Vater, sondern in der Mutter“ (164). Dann zu Lk 2,41–52: „Den Erzähler beschäftigt die doppelte Sohnschaft, aus der das Leben Jesu entsteht. Er lebt zugleich als der Sohn Gottes und als Sohn seiner Eltern … Die Gestalt des ewigen Königs steht hoch über allen. Deshalb wurde Maria durch Gottes Geist zur Mutter, weil sie nicht über oder neben ihrem Sohn steht, sondern den empfängt, der über allen ist … entspricht der Weise, wie in der Geburtsgeschichte das schöpferische Wirken des Geistes und Marias Mutterschaft nicht gegeneinander gekehrt, sondern als die aneinander gebundenen Bedingungen des Lebens Jesu gewürdigt sind“ (203 u. 204). Bei aller Anerkennung der tiefen Auslegung des Textes bleibt doch die Frage, wo genau der Autor das von ihm so genannte „schöpferische“ Wirken Gottes bzw. des Geistes im Lk-Text ausgesprochen findet. Diese Frage stellt sich auch für die jetzt folgenden Text-Beispiele immer wieder. E. Schweizer (Lk-Kommentar) überschreibt Lk 1,26–38 mit „Gottes neue Schöpfung: Ankündigung Jesu“. Dann: „Freies Schöpferhandeln Gottes wie zu Beginn der Welt läßt den erstehen, der nicht mehr Vorläufer eines noch größeren Ereignisses ist, sondern dessen Herrschaft kein Ende kennt“ (17). Dazu: „Jedenfalls ist vom einmaligen Einbruch Gottes in die Geschichte der Menschen die Rede, und zwar in Jesu Regentschaft, nicht in seinem Leiden“ (19; Dazu sogleich: „Glauben an den Geist, der den Anfang einer neuen Schöpfung setzt“ mit dem 21 Gesagten). Dazu später noch diese ganz eigenartige Aussage: „Einen Augenblick lang wird aber gewissermaßen der Vorhang weggezogen, so daß Gottes Welt sichtbar wird, aus der alles kommt,

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auch was für Menschen erst zukünftig ist. Wir nennen das die Transzendenz Gottes (!)“ (34). Insgesamt: Wieder kein Nachweis, wo das steht! J. Ernst (Lk-Kommentar) zu Lk 1,26–38 einleitend u. a.: „Die Wundergeburten in der Geschichte Israels finden in der Lebensentstehung durch den göttlichen Schöpfergeist eine dramatische Überbietung“ (58; dazu 59). Dann: „Wenn Gott den erstorbenen Mutterschoß der Elisabeth erwecken kann, ist er auch in der Lage, das für den Messias angemessene Wunder der Lebensentstehung aus Gottes Geist und Kraft zu wirken. … bildhaft mit heilsgeschichtlichen Motiven, welche auf Gottes Schöpferkraft abheben, angedeutet“ (63; dazu 64). H. Frankemölle (Mt-Kommentar) muß hier erwähnt werden, weil er (und offensichtlich er allein) von einer „absoluten Neuschöpfung“ spricht, häufig mit „jungfräuliche Empfängnis“ verbunden; so z. B. zu Mt 1,18–25: „die Vorstellung, daß ein Sohn … ohne Zutun eines Mannes allein durch das schöpferische Wirken des Geistes Gottes empfangen wird …“ (1.150; dort weitere Erklärung dazu). Dann: „… Anweisung zum ‚richtigen‘ Verstehen des Matthäus hinsichtlich der Geistzeugung und Jungfrauengeburt deutlich. Der Gedanke einer absoluten Neuschöpfung durch Gottes Geist in einer Jungfrau …“ (I.153; ähnlich I.159). In II. 145 so zu Mt 12,25–30: „Wenn schon der mt Jesus den Jüngern der Pharisäer konzediert, daß auch sie … Exorzismen in der Kraft Gottes bewirken, so erst recht ‚Jesus‘, dessen Existenz sich absolut dem schöpferischen Geist Gottes verdankt (1,18–25), bes. 20), auf den ‚Geist Gottes‘ bei der Taufe herabgekommen ist (3,16)“. P. G. Müller (Lk-Kommentar) sagt zu 1,26–38 u. a.: „Der Engel antwortet ihr, daß ‚Heiliger Geist‘ auf Maria kommen und ‚Kraft des Höchsten‘ sie überschatten wird, daß die Empfängnis eines Kindes in ihr also ihren wundergewirkten Ursprung in Gottes Allmacht, Geschichtsmächtigkeit und Schöpferkraft hat. Das von Gott in Maria geschaffene Kind wird ‚heilig‘ und ‚Sohn Gottes‘ genannt werden, weil sein Ursprung im schöpferischen Akt Gottes selbst liegt …“ (33f). A. Stöger (Mt-Kommentar) sagt zu Lk 1,35–38 u. a.: „Ein neuer Stammvater ersteht durch Gottes freie Schöpfertat, aber unter Mitwirken der alten Menschheit durch Maria. Jesus ist Sohn Gottes wie sonst niemand (3,38)“ (47; vgl. dazu 48). O. Knoch schreibt im „Exkurs: Über Herkunft und Eigenart Jesu (1,18–25)“ (im Beitrag in „Zum Thema Jungfrauengeburt“, 1970)) im dortigen Kontext: „Es bedarf dazu eines göttlichen Eingreifens, um Josef von der Wahrheit des V. 18 und V. 20 je im Satzanhang Gesagten zu überzeugen: das schöpferische Prinzip, welches zum Werden des Kindes im Schoß Marias führte, ist ‚heiliger Geist‘, hier als Schöpfermacht Gottes verstanden“ (47). Dazu: „Überlieferung, welche … das Werden Jesu im Schoße Marias auf das schöpferische Eingreifen Gottes zurückführt“ (56). R. Laurentin (im Buch „Struktur und Theologie der lukan. Kindheitsgeschichte“) sagt zu Lk 1,35 im betreffenden Kontext u. a. dies: „Tatsächlich wird der Heilige Geist in der Bibel ganz allgemein und besonders in Lk 1–2 (…) mit dem schöpferischen Wirken Gottes in Zusammenhang gebracht, hier also bei der jungfräulichen Emp357

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fängnis. Der Vergleich mit Mt 1,18 und 1,20 … bestätigt diese Deutung. Es handelt sich um Maria, die vom Heiligen Geist empfangen hat. Aber Lukas fügt dem Gedanken von Mt 1,18 und 1,20 eine interessante Nuance hinzu: die Gegenwart des Geistes über Maria; sie erinnert an das Schweben des Geistes über den Wassern am Anfang der Schöpfung (Gn 1,2)“ (90). P. Stuhlmacher (im Buch „Die Geburt des Immanuel“) bringt die fragliche Formulierung öfter, so: „Matthäus und Lukas bezeugen das Schöpfungswunder der Menschwerdung Jesu und geben zu bedenken, daß der Christus Jesus von seinem Ursprung her wahrer Gott und wahrhaftiger Mensch in einer Person ist“ (9; dazu 11; 22f). Dann zu Mt 1,18 u. a. „Denn das in ihr heranwachsende Kind entstamme der Schöpferkraft des Heiligen Geistes“ (67). Im Exkurs „Zum Verständnis der Jungfrauengeburt“ u. a.: „Erzählungen der beiden Evangelisten entstammen der (juden)christlichen Gemeinde des Anfangs, die sich des von Gott gefügten Schöpfungswunders der Geburt des Christus Jesus erinnert. Im Zentrum steht die von Gott wunderbar gefügte Erfüllung von Jes 7,14 … Schon in Mt 1,18–25 wird das Wunder der Jungfrauengeburt vor dem Mißverständnis bewahrt …“ (70–71; dazu: „Die … Bekenntnisrede … sieht in dem Geburtswunder den einzig-einen Schöpfergott am Werk … Seine Geburt ist ein einmaliges und unerhörtes Schöpfungswunder“ (76). H. C. Waetjen schreibt in seinem Beitrag („The Genealogy as the Key to the Gospel according to Matthew”, JBL 95,1976) u. a.: „… sense in Matt 1,20 does authenticate the possibility of such a concept of creative generation by the Spirit … It is entirely the work of the Spirit who generates Jesus by a direct act of creation. The procreation of Jesus, therefore, is a supreme eschatological event … At the same time, however, it is independent of that history for it is a new act of creation and thus the commencement of a new history“ (224). Dazu: „According to 2 Sam 7,11–14 and Ps 2,7, David’s heir is to become God’s son by adoption. The very opposite takes place in the first gospel. Jesus, who is a new creation of the holy Spirit and as a result the lordly Son of Man/ Son of God, is adopted by David’s descendant Joseph in order to fulfill the promises made to Israel …”(228). U. Wilckens sagt in seinem Beitrag „Empfangen vom Heiligen Geist, geboren aus der Jungfrau Maria …“ (1981) zu Lk 1,26–38 im Kontext: „ ‚Wie dies geschehen wird‘, darauf gibt es nur eine Antwort: Durch Gottes wunderbares, schöpferisches Handeln wird es geschehen … So wie am Tage der Schöpfung des ersten Menschen aus einem Lehmkloß ein lebendiger Mensch wurde …“ (57; vgl. noch 60; 65; 68; 71). L. Scheffczyk formuliert im Büchlein „Maria im Glauben der Kirche“ II (1980) so: „So ist die ‚Jungfrauengeburt‘ zuerst ein Zeichen für die Souveränität Gottes und die Übermacht seiner Gnade im Heilsgeschehen. Die gnadenhafte Wiedergeburt der Menschheit konnte geziemenderweise nicht anders verwirklicht werden als in einem Ereignis, das den über-natürlichen Charakter und seine alle menschlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten überragende Gnadenhaftigkeit erweise. In der jungfräulichen geistgewirkten Empfängnis des Erlösers sollte die Souveränität Gottes im Gnaden358

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geschehen genauso realistisch ausgewiesen werden … So ist die ‚Jungfrauengeburt‘ ein Zeichen für die Schöpfermacht Gottes, die in Parallele zu sehen ist mit der ersten Schöpfungstat …“ (27; das wird 28–29 weiter besprochen). K. H. Schelkle (in „Maria in Glaube und Frömmigkeit“, 1954) sagt zu Jes 7,14 in Lk 1,26–38 u. a.: „So bliebe zuletzt keine andere Erklärung als die, daß Isaias in prophetischer Inspiration spricht. Die Jungfrauengeburt ist aber dann Heilszeichen nicht einfach als stupendes Naturwunder, sondern wegen des Sinngehaltes des Wunders. Die Jungfrauengeburt macht offenbar, daß Gott es ist, der das Heil wirkt. Denn das Kind und das Heil, das mit ihm kommt, kommen nicht von und durch Menschen, sondern als Gottes Werk allein. Und dessen Zeichen ist eben die Jungfrauengeburt als Geburt aus vaterloser Schöpfung (!)“ (22; dazu noch: „Die Jungfrauengeburt ist eine der größten Heilstaten Gottes im Neuen Testament und eines der größten Wunder“: 24; s. auch 27). H. Rengstorf (Lk-Kommentar) sagt zu Lk 1,34f im dortigen Kontext u. a. dies: „Wie Zacharaias (1,18) steht auch Maria vor der Frage, wie es möglich sein kann, was der Engel verkündigt. Sie bekommt aber nicht nur eine Auskunft über das Wie, sondern auch ein ‚Zeichen‘, das ihr letzte Gewißheit vermitteln soll … Fragt man nach ihrer Art, so bietet sich dar, daß hinter dem werdenden Leben hier und dort ganz unmittelbar Gottes Schöpfermacht steht … So bringen die Worte auch hier zum Ausdruck, daß über dem schöpferischen Wirken Gottes, das an Maria sich vollziehen soll, das göttliche Geheimnis gewahrt bleibt …“ (20; vgl. die weiteren Erklärungen 22). H. Räisänen (in seinem Buch „Die Mutter Jesu im Neuen Testament“, 1969) schreibt zu Mt 1.28–25 u. a.: „Matthäus setzt auch die jungfräuliche Empfängnis Marias als bekannt voraus … Lukas weist feinfühlig und verhüllt auf die schöpferische Kraft Gottes hin, der die Geburt Jesu zuzuschreiben ist (Lk 1,35) … Damit verglichen ist die Ausdrucksweise des Matthäus unbeholfen. Man hat sich an den Gedanken der wunderbaren Empfängnis gewöhnt“ (60). Dazu zu Lk 1,34: „Die Jungfrauschaft der Maria ist eng mit der Christologie verknüpft. Der Evangelist interessiert sich jedoch nicht für das biologische Wunder als solches. Wesentlich ist das souveräne Schöpfungswerk Gottes. Jesus ist der Christus Gottes von Anfang an. Von einem theologischen Wert der Jungfräulichkeit ist keine Rede“ (153); und im Rückblick (195–198): „Die Jungfrauschaft der Maria aber ist verstanden im Sinne einer schöpferischen Wundertat Gottes …“ (197f). Zum „Wunder-Charakter“ der „Jungfrauengeburt“ in eher systematischer Fragestellung Hier seien folgende bezeichnend sprechende Autoren-Texte als (einige) Beispiele aufgeführt: H. v. Campenhausen (in „Die Jungfrauengeburt in der Theologie der alten Kirche“) bringt im dortigen Kontext diese Sätze: „Einmal, im Proömium zum Römerbrief, erwähnt Paulus … die Davidsohnschaft des Herrn, die sonst in seinem Denken keine Rolle spielt; aber von der Jungfrauengeburt schweigt er auch hier. Dies alles läßt sich kaum anders deuten als so, daß Paulus ein derartiges Theologumenon 359

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noch schlechterdings unbekannt war. Jedenfalls wird bei ihm die Erzeugung ‚nach dem Geist‘ auch nicht ansatzweise als ein physiologisches Wunder gedacht“ (13f). Dann zu Mt 1–2 und Lk 1–2 u. a.: „Der Geist Gottes hat ihn nicht bloß erweckt und erfüllt, sondern seine irdische Person schon im ersten Akt ihres Werdens bestimmt und erzeugt … Die unmittelbar Erzeugung durch den Geist aus einer Jungfrau kann von hier aus wie eine überschwengliche Bedeutung Jesu angemessene, äußerste Steigerung des älteren Motivs erscheinen. … Die unberührte Jungfrau – nicht eine beliebige Ehefrau – erscheint als das passende Werkzeug einer wunderbaren, göttlichen Erzeugung, die des menschlichen und männlichen Zutuns nicht mehr bedarf “ (20 u. 21). Und: „Die Geburt Christi rückt damit (d. i. bei Ignatius v. A.) – ebenso wie die Davidsohnschaft – durchaus auf die Seite des Menschlichen, mit dem das göttliche Wesen allerdings eins geworden ist. Aber diese Blickrichtung verhindert bis zu einem gewissen Grade doch eine stärkere Entfaltung des Geburtswunders als solchen. Die Menschlichkeit der ‚Geburt‘ ist Ignatius wichtiger als die Geburt aus der Jungfrau. Aber im Rahmen seiner Theologie bleibt es dennoch in höchstem Maße sinnvoll, daß das Urwunder des Eingangs Gottes ins Fleisch und seiner Verbindung mit der menschlichen Natur gerade an dieser Stelle durch ein augenfälliges Wunder, eben die Jungfrauengeburt, dokumentiert ist“ (23). J. R. Geiselmann schreibt (in „Maria in Glaube und Frömmigkeit“, 1954) unter „Mariens Stellung in der Heilsgeschichte“ im entsprechenden Kontext: „Dieses Mutterwerden ist Gottes Schöpfungstat, geschehen in der Kraft des Allerhöchsten und mehr noch Gnadenwunder, gewirkt aus heiligem Pneuma Gottes. Hier tritt der Gottesgeist von Gen. 1,1 u. 2 in Aktion in einer neuen Genesis. Ein Gotteswunder (Luk. 1,37) schafft den neuen Menschen, der die Verheißung von Gen. 3,15 verwirklicht. Wie der Urvater Adam (Luk 3,38), so kommt auch der neue Mensch von Gott her. Mit diesem Schöpfungswunder greift Gott in die Geschichte zum Heile des Gottesvolkes und aller Völker ein. … Unter allen ragt aber die Jungfrau aus Nazareth hervor, weil sie als Jungfrau ohne Mannes Zutun ein Kind empfangen soll, und stellt so mit dem Wunder der jungfräulichen Empfängnis ein absolut Neues unter den Frauengestalten des alttestamentlichen Volkes, die Gottes Eingreifen ihren Sohn verdanken, den Höhepunkt der Heilsgeschichte dar“ (76 u. 77; vgl. auch das dort Folgende 78–80). G. L. Müller sagt (in „Maria – Die Frau im Heilsplan Gottes, 2002) im dortigen Kontext: „Daß der Begriff der Allmacht Gottes in einem deistischen Modell, wo Gott und Welt sich wie Konstrukteur und Maschine gegenüberstehen, nicht in seinem ursprünglichen Sinn zu vermitteln war, wurde übersehen. Es fehlte ein wirklich theologisch geklärter Begriff des Wunders, d. h. des Handelns des transzendenten Gottes in seiner Schöpfung. Gott muß aber gerade wegen seiner absoluten Transzendenz als Schöpfer so allwirksam der Welt nahe gedacht werden können, daß er ohne eine Aufhebung oder Zerstörung der Eigenwirksamkeit der Schöpfung ihre Potentialitäten über ihre natürliche Reichweite hinaus lenken kann und dabei sich selbst als Heil

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zeichenhaft nahebringt, ohne selbst zu einem kategorialen Glied der natürlichen Kette von Ursachen und Wirkungen zu werden“ (121). R. Pesch bringt in seinem Buch „Über das Wunder der Jungfrauengeburt“ (2002) ein besonderes Kapitel „Ein Schlüssel zum Verstehen des Wunders“, aus dem folgendes zitiert sei: „Der Sinn der Heiligen Schrift wird nur erkannt, wenn wir beachten, daß in ihm Menschenwort und Gotteswort, die Einmaligkeit historischen Geschehens und das Immerwährende des ewigen Wortes ineinandergreifen, das jeder Zeit gleichzeitig ist. Das biblische Wort kommt aus einer realen Vergangenheit, aber nicht nur aus Vergangenheit, sondern zugleich aus der Ewigkeit Gottes. Es führt uns in die Ewigkeit Gottes hinein, aber wieder auf dem Weg über die Zeit, zu der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehören‘ (Zitat Ratzinger, Geleitwort, 1995, 92). Die biblische Überlieferung bedient sich gerade um der Tiefendimension ihrer Wahrheit willen nicht alltäglicher, sondern eher dem Außerordentlichen verpflichteter Gattungen. Sie muß ja von Wundern erzählen, z. B. vom Wunder der Geburt des Messias, des Immanuel, in dem der ewige Gott in der Zeit selbst Mensch wurde … Ursprungs-, Gegenwarts- und Zukunftserfahrung des Gottesvolkes als eine Erfahrung der Gnade des Wunders lassen sich am ehesten in legendärem Erzählen abbilden, in welchem dem Erfahrenen die Strukturkongruenz seiner Erfahrung aufscheint … Wer nicht erfahren hat oder versteht, daß jeder zum Glauben Gekommene, wie es im Johannesprolog heißt, ‚aus Gott gezeugt ist‘ (Joh 1,13), der hat auch keine Möglichkeit, das Wunder der Jungfrauengeburt zu verstehen. Der Erfahrene aber versteht, daß von einer stärkeren, umfassenderen, tragenderen Realität die Rede ist, als in allen Alltagsreportagen …“ (151f). Dazu später: „Die Kirche hat immer durch die Wunder, welche sie gegenwärtig erlebt – wenn sie diese Wunder wirklich annimmt –, alle Möglichkeiten, auch das Wunder der Jungfrauengeburt zu verstehen. Andernfalls könnte sie sich selbst nicht verstehen … Die Kirche selbst ist ja als Wunder des Heiligen Geistes Schlüssel des Verstehens aller Wunder – und in der Mitte ihres Lebens das Fest der Eucharistie. Dieses ‚Geheimnis des Glaubens‘ erschließt wichtige Zugänge auch zum Verstehen des Geheimnisses der Jungfrauengeburt …“ (169). K. Rahner widmet dem Thema „Das Wunder der Jungfrauengeburt“ in seinem Beitrag „Dogmatische Bemerkungen zur Jungfrauengeburt (im Buch „Zum Thema Jungfrauengeburt“, 1970) der Frage einen besonderen Abschnitt: „Verstehenshorizonte der Jungfrauengeburt, 2. Die Differenz zwischen Wunder und Mirakel“ (130– 133). Dem liegt das heutige Verständnis von „Wunder“ in der Theologie, zumal in der Fundamentaltheologie zugrunde, das ja faktisch auch in den exegetischen Bemerkungen, zumal zu Mt 1–2 und Lk 1–2 leitend ist. Wir geben hier die wichtigsten Feststellungen Rahners an; ihre Bedeutung für die (Erst)Exegese von Mt 1–2 und Lk 1–2 ist gegebenenfalls später zu erheben: „Es geht bei diesen Verstehenshorizonten auch um die Differenz zwischen Mirakel und Wunder. Das Wunder gehört in den Bereich des Glaubens, der das Mirakel als gegen den Glauben verstoßend ablehnt … (das wird näher erklärt) … Wunder meint daher die zeichenhafte Erscheinung und Auswirkung 361

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des Heilshandelns Gottes in der Dimension seiner leibhaftigen Geschichtlichkeit, die Erscheinung, die vom Glauben gedeutet und ergriffen wird in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis zwischen der durch den Glauben gedeuteten Erscheinung des Heilshandelns Gottes und dem durch das Zeichen ermächtigten Glaubens. Und eben derselbe Glaube verwirft das Mirakel. … (das wird weiter besprochen, gerade auch im ausdrücklichen Blick auf die „Jungfrauengeburt“, bei welchem Ausdruck Rahner bleibt“ (130–133). Dann auch: „Zwar kann in einer bloß begrifflichen Deduktion mit dieser abstrakten Überlegung die Jungfrauengeburt im traditionell-biologischen Sinne nicht zwingend abgeleitet werden, aber es kann von daher gewiß gefragt werden, was eigentlich dagegen spreche, das auf jeden Fall gegebene Wunder dieser real leibhaftigen Andersheit gerade in der traditionellen Weise konkret zu denken, und es kann gefragt werden, ob nicht eine gar zu selbstsichere Ablehnung der Jungfrauengeburt eben letztlich doch die auf jeden fall gegebene Andersheit des Werdens Jesu übersehe, d. h. implizit mindestens eben doch leugne, daß es sich hier beim Werden des Gottmenschen um eine Initiative Gottes handele, die eben nicht einfach diejenige der geschichtlich-irdischen Welt allein ist“ (142; s. dort das Weitere). Wir können hier auch auf den Artikel „Jungfräulichkeit Marias“ (Schriften Bd. 13, 361–377) hinweisen, zumal auf die „Methodischen Vorüberlegungen“, wo es zu Anfang so heißt: „Wenn das letzte Sprachproblem einschließlich und vor allen auch die vap (d. i. bei Rahner „virginitas ante partum“)) heute dogmatisch und kerygmatisch richtig behandelt werden soll, kann dann die Frage nach einem sachlich und apologetisch richtigen Verständnis eines ‚Wunders‘ nicht ausgeklammert werden, weil wenigstens die vap im traditionellen ‚biologischen‘ Sinn dieser vap ein solches Wunder einschließt. Sowohl von der Sache her (d. h. von einem richtigen und geklärten Begriff Gottes und seines Verhältnisses zur Welt), wie von der heutigen Mentalität her, die zwar an sich kein Wahrheitskriterium ist, aber für eine effiziente Glaubensverkündigung nicht unberücksichtigt bleiben darf, ist der Begriff des Wunders (in sich und hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit) als einer Durchbrechung und Aufhebung der ‚Naturgesetze‘ ein höchst problematischer Begriff geworden, ganz abgesehen von der Frage, ob Wunder in diesem Sinne als gegeben empirisch nachweisbar sind“ (362f). Eine weitere, entscheidende Frage für uns ist dann immer noch die Frage an die Exegese, mit welcher inneren Notwendigkeit dieser „Wunder“-Begriff für die erste Auslegung des ntl. Textes eingesetzt wird, und wofür genau. f) „Gott bzw. der Heilige Geist anstelle des Vaters“

Wir haben bisher jene Kommentar-Texte sprechen lassen, die das „vaterlos“ o. ä. nachdrücklich herausstellen und manchmal auch weiter interpretieren. Hier sollen Beispiele gebracht werden, die ausdrücklich und reflektiert davon sprechen, daß Gott selbst bzw. der Heilige Geist (oder einfach „Geist“) das im „Entstehen Jesu“ als Menschen gewirkt (geleistet) haben, was im sog. natürlichen Geschehen von Empfängnis 362

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und Geburt des Kindes des Vaters Anteil bzw. (wie es immer wieder formuliert wird) Zutun genannt wird. Das „vaterlos“ findet in diesen Texten die Sach-Erklärung durch die Angabe dessen, der tatsächlich das „erfüllt“ habe, was „an sich“ das Zutun des (oder eines) Mannes ist. Wir lassen die entsprechenden Beispiele zunächst selbst zu Wort kommen. Fr. Bovon schreibt in seinem Exkurs „Die Jungfrauengeburt und die Religionsgeschichte“ (in seinem Lk-Kommentar) u. a.: „Das Motiv der Jungfrauengeburt, besser gesagt der wunderbaren Empfängnis der Maria durch den heiligen Geist ist in eine Erzählung eingebettet, deren Gattung wir bestimmen können … Schwangerschaft und Geburt sind mit dem üblichen Wortschatz ausgedrückt (1,31; 2,5–7.21.23), in 1,35 jedoch ersetzt Gott durch die Wirkung seines Geistes den männlichen Vater, so daß ‚Sohn des Höchsten‘ nun im buchstäblichen Sinn zu verstehen ist. Neben das Motiv der Jungfräulichkeit tritt also das der Vaterschaft Gottes und schließlich das der Verheißung des Engels“ (64f). Das wird im Folgenden noch weiter erklärt: „In Werken wie den Targumim … finden sich nachbiblische Legenden über von Wundern begleiteten Geburten wie die von Isaak oder Mose. Die Rollen Gottes (!) war so entscheidend, daß die Figur des Vaters manchmal verdrängt wurde“ (66). Zu 1,35 wird dazu dies erklärt: „Beide Verben (d. i. „herabkommen“ und „überschatten“) besitzen als solche keine sexuelle Komponente, erklären hier aber, wie die göttliche Kraft die männliche Zeugung ersetzen wird. Damit wird die Erhabenheit des göttlichen Vaters ausgesprochen“ (76). W. Wiefel (Lk-Kommentar) formuliert zu Lk 1,26–35 u. a.: „Die Gestaltung der Erzählung ist in erheblichem Maße durch alttestamentliche Stellen beeinflußt … Für die gattungsmäßige Bestimmung sah man das Urbild vor allem in den Geburtsgeschichten des Alten Testaments Gen 16,7–14 … Der christliche Haggadist könnte sie als äußerste Steigerung der alttestamentlichen Wundergeschichten (vor allem des Isaaks durch Sara) aufgefaßt haben: der göttliche Schöpfergeist wirkt nicht mit irdischer Vaterschaft zusammen, sondern tritt an die Stelle irdischer Vaterschaft“ (50). Zu 1,35 heißt es dann: „Der Träger der ewigen Herrschaft kommt aus einem an der Jungfrau wirksam werdenden wunderbaren Handeln Gottes … Entsteht Johannes aus dem Wunder des Fruchtbarwerdens alt gewordener und unfruchtbar gewesener Menschen, so empfängt Jesus sein Leben durch Gottes Schöpferhandeln anstelle menschlicher Zeugung“ (53). H. Klein (Lk-Kommentar) sagt zu Lk 1,35: „Die Antwort des Gottesboten will das Wie der Entstehung dieses Gottessohnes aufzeigen. In zwei parallel gebauten Sätzen … wird aber mehr verhüllt als beschrieben. Ihnen folgt ein Satz, der das Ziel des Geschehens, die Gottessohnschaft, aussagt. An die Stelle des menschlichen Vaters tritt Gottes Geist, der als den Menschen durchdringendes Fluidum gedacht ist … Man hat den Vorgang, der hier beschrieben wird, als Schöpfungsakt Gottes bezeichnet, bis hin, daß man von einer creatio ex nihilo sprach …“ (98.99–100).

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G. Schneider schreibt in seinem Artikel „Jesu geistgewirkte Empfängnis“ (ThPrQ, 1971, 105–116) zu Mt, 1–18–25 bzw. Lk 1,26–38 im dortigen Kontext: „Die Ursache dafür, daß Maria ihr Kind empfängt, wird im Wirken des HL Geistes gesehen. … Die Präposition evk in Verbindung mit dem Verbum genna,w, das an unserer Stelle mit ‚zeugen‘ zu übersetzen ist, läßt die Wirksamkeit des göttlichen Geists nach Analogie der Zeugung durch den Mann verstehen. Anders verhält es sich bei Lukas. Lk 1,35 spricht zurückhaltender vom ‚Kommen‘ des göttlichen Geistes ‚auf ‘ Maria, von einer Überschattung‘ der Jungfrau durch die Kraft des Höchsten. Damit wird nicht euphemisch ein Zeugungsakt umschrieben, sondern das Wirken des Geistes gekennzeichnet. Der Zielpunkt der Aussage ist die Folge des Geisteswirkens: das Kind wird (mit Recht) als ‚heilig‘ und als ‚Sohn Gottes‘ bezeichnet … Der Gedanke an eine zeugende Tätigkeit ist weniger direkt vorhanden als bei Mt. … Der Nachdruck liegt ursprünglich nicht auf der ‚vaterlosen‘ Lebensentstehung, sondern auf der Tatsache, daß die Existenz Jesu, des Heilbringers, ganz dem Wirken des HI. Geistes zu verdanken ist“ (112; dazu wird in Anm. 44 dies gesagt: „Die zeugende Tätigkeit des Mannes wird in der griechischen Antike als die eigentlich aktive und entscheidende Ursache bei der Entstehung eines Menschen angesehen; vgl. D. M. Balme, Zeugungslehre, in Lexikon der alten Welt, Zürich 1965, 3331–3333“. Genau diese Wiedergabe der Auskunft Balmes ist schlicht falsch! S. den Text dort). Durch eher systematisch schauende Autoren wird es so ausgesagt: O. Knoch schreibt in seinem Beitrag „Die Botschaft des Matthäusevangeliums über die Empfängnis und Geburt Jesu …“ (in „Zum Thema Jungfrauengeburt 1970) im dortigen Kontext u. a.: „Obwohl die beiden Kindheitsgeschichten (d. i. Mt 1–2 und Lk 1–2) in den übrigen Einzelzüge zum Teil erheblich voneinander abweichen, stimmen sie über die angegebenen Gemeinsamkeiten hinaus weiterhin in einer Aussage überein, die beide Male betont herausgestellt wird, daß nicht Josef der Vater dieses Kindes ist, sondern Gott selbst, durch ein wunderbares Eingreifen unter Ausschaltung des Josef und jedes anderen Mannes (vgl. Mt 1,18–25; Lk 1,34f). … fragt die theologische Forschung: Ist die Aussage dieser Texte von der wunderbaren Empfängnis Jesu durch Gottes schöpferische Kraft unter Ausschaltung eines männlichen Prinzips nur theologisch zu verstehen, als bildhafte Darstellung der Glaubensüberzeugung: Jesus ist der Sohn Gottes, oder auch historisch in dem Sinne: Jesus hat keinen menschlichen Vater? Diese Frage ist aber entscheidend nur von der Eigenart der biblischen Texte im Ganzen der neutestamentlichen Überlieferungen her zu beantworten“ (38). Dazu sagt er dann zu Jes 7,14 später: „Die Juden verstanden beispielsweise Jes 7,14 (= Mt 1,23) damals nicht als messianische Weissagung und schon gar nicht als Hinweis auf eine vaterlose Zeugung Jesu (‚Jungfrauengeburt‘)“ (41; s. auch 48ff ). H. Döring sagt in seinem Beitrag „Jungfrauengeburt in neuer Sicht?“ (in „Jungfrauengeburt gestern und heute“, 1969) im gegebenen Kontext dies: „Es hat sicher Zeiten gegeben, in denen der physisch-biologische Aspekt der Jungfrauengeburt eine 364

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wesentliche Rolle gespielt hat. Eine gewisse Unterbewertung des Geschlechtlichen ging nicht selten Hand in Hand damit. … Für viele Menschen war – oder ist noch immer – die Geschlechtsgemeinschaft Marias mit Josef schon von vorneherein eine Denkunmöglichkeit, abgesehen davon, daß Jesus für viele deshalb Gottes Sohn ist, weil Gott selbst bei der Empfängnis als Vater fungierte …“ (100). Dazu später: „Seine (d. i. Jesu) Geburt konnte nur aus Gnade und Verheißung sein. Sein Kommen verdankt die Menschheit allein dem Geiste Gottes … Das ist der tiefe Sinn des Glaubensartikels ‚geboren aus einer Jungfrau‘ … Diesen Verheißungen hat die Menschheit letzten Endes niemand anderem zu verdanken als dem Geiste Gottes. Sein Ursprung ist weder aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott; aus unendlicher Höhe, aus unendlicher Ferne … Jesu wunderbare Empfängnis soll die Neuschöpfung enthüllen, die nicht zu verwechseln ist mit der Zeugung durch Gott, als ob Jesus Gott zum biologischen Vater hätte. Mit der Gottessohnschaft des christlichen Glaubens ist eben nicht, auch wenn die Theologen den Terminus ‚physische‘ Gottessohnschaft verwendet … ein biologisches Faktum zum Ausdruck gebracht, sondern ein ontologisches: ‚kein Vorgang in der Zeit, sondern in Gottes Ewigkeit‘“ (105). S. dort den Kontext. F. Hahn vertritt in seinem Buch „Christologische Hoheitstitel“ im dort gegebenen Kontext zu „Jungfrauengeburt“ folgende Auffassung: „Eine nicht unwesentliche Vorstufe (d. i. im Kontext: „Gottessohnschaft im physischen Verständnis“) dazu hat das hellenistische Judenchristentum allerdings mit dem Theologumenon der Jungfrauengeburt geschaffen. … Das ist im einzelnen an dem wichtigen Text Lk 1,26ff. aufzuzeigen. … ‚Die Tatsache der göttlichen Zeugung steht im Vordergrund; der Vollzug selbst bleibt Geheimnis und soll Geheimnis bleiben; alles wird nur andeutend umschrieben‘ (Dibelius). Wohl greift der göttliche Geist unmittelbar ein und es wird eine Empfängnis unter Ausschaltung des Mannes bewirkt, aber nicht so, daß die heidnische Vorstellung eines hieros gamos aufgenommen wäre und der übernatürliche Same an die Stelle des natürlichen träte, sondern daß durch die schöpferische Macht Gottes eine Zeugung ohne jeden Samen ermöglicht wird. Hier ist von dem Eintritt einer Schwangerschaft gesprochen, wie dies ähnlich im hellenistischen Judentum auch von der wunderbaren Mutterschaft bestimmter Frauen des Alten Testamentes ausgesagt wurde …“ (305). Dann auch: „Die Erzählung Mt 1,18–25, die im Hinblick auf die Davidssohnschaft Jesu eine ältere Traditionsstufe repräsentiert, hat das Motiv der jungfräulichen Geburt sehr viel unbekümmerter formuliert und von einem evn gastri. e;cein evk pneu,matoj a`gi,ou bzw. einem genneqh/nai evk pneu,matoj a`gi,ou (V. 18.20) gesprochen. Bei derartigem Sprachgebrauch lag es nun allerdings sehr nahe, die Aussage als Bezeichnung eines Zeugungsvorganges zu verstehen, bei dem sich ein übernatürlicher Same substanzhaft mit der Jungfrau verbindet …“ (314). M. Schmaus sagt in seinem Beitrag „Dogmatik und Jungfrauengeburt“ (in „Jungfrauengeburt gestern und heute“, 1969) im dort gegebenen Zusammenhang einmal dieses: „Was den Sinn der Texte betrifft (gemeint sind Mt 1–2 und Lk 1–2), so sagen 365

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sie unmittelbar nach ihrem Wortlaut, Maria habe von Gott die Offenbarung empfangen, daß sie ohne männlichen Samen Mutter werden sollte. In negativer Hinsicht wird die Beteiligung eines Mannes verneint. Positiv schließt dies in sich, daß Maria sich vorbehaltlos dem göttlichen Ratschluß anheimgibt. Es wäre eine unwürdige, ihre Personalität verletzende Vorstellung, wenn man Maria nur unter biologischem Aspekt sähe und ihre personale Hingabe an Gott nicht als konstitutives Element betrachtete. Die Jungfräulichkeit der Empfängnis hat zwei Komponenten, eine göttliche und eine menschliche. Durch Gottes Eingreifen wird jener Prozeß bewirkt, den in einer gewöhnlichen Empfängnis der männliche Samen hervorruft. Durch Marias vorbehaltlose Bereitschaft für den göttlichen Heilsplan wird der Vorgang ein wahrhaft menschlicher Akt“ (220). K. Rahner gibt in seinem Beitrag „Dogmatische Bemerkungen zur Jungfrauengeburt (in „Zum Thema Jungfrauengeburt“, 1970) im dortigen Kontext dieses zu bedenken: Unter „Weitere Überlegungen“ (139–146), die sich mit der Jungfrauengeburt und ihrem rechten Verständnis befassen, heißt es: „Es ist deutlich zu sagen … daß der formale und abstrakte Begriff der hypostatischen Union die Jungfrauengeburt nicht fordert. Die hypostatische Union als solche könnte auch eine menschliche Wirklichkeit zu der des Logos machen, die durch die Tat von Frau und Mann entsteht. Man kann also nicht sagen: Wenn man die Jungfrauengeburt leugnen würde, dann wäre die wahre, substantielle Gottessohnschaft des Menschen Jesus nicht mehr aufrechtzuerhalten, da diese jene impliziert … Daß Jesus als der Sohn Gottes von der ‚Erbsünde‘ frei gewesen wäre, auch wenn er sein Dasein der Tat von Mann und Frau verdanken würde, ist ebenso verständlich …“ (140; auch 141). Beachte alle weiteren Überlegungen dort (141–146). Als Ergebnis gilt: „Wäre Josef der menschliche Vater Jesu, müßte ihm – und zwar gerade bei der theologischen Rolle, die ihm bei Matthäus sehr deutlich zuerkannt wird – dieselbe heilsgeschichtliche Funktion wie Maria zugesprochen werden … dann müssen wir konsequent sagen: Wäre Josef genauso der menschliche Vater Jesu, wie Maria seine Mutter ist, dann müßte ihm, der bei Matthäus als gerechter Mann, der eine Rolle in der Heilsgeschichte besitzt, beschrieben wird, schlechterdings dieselbe Position einmaliger Art in der Heilsgeschichte zuerkannt werden, wie sie die Kirche Maria zuerkennt. Davon kann doch ernsthafterweise keine Rede sei, weil das dem Glaubensbewußtsein der Kirche über die Struktur der Heilsgeschichte radikal widerspricht“ (145f). R. Pesch schreibt in seinem Buch „Über das Wunder der Jungfrauengeburt“ unter „IV. Der Sohn der Jungfrau: Immanuel, Mt 1,18–25“ dies: „Wer ist der Vater Jesu? Von Abraham bis Josef, dem Mann Mariens, war der matthäische Stammbaum dem genealogischen Schema ‚A zeugte den B‘ gefolgt. Dann war in Mt 1,16 die durch die bisherige Monotonie erzeugte Hörer-Erwartung durchbrochen worden; es hieß nicht, wie zu erwarten gewesen wäre: ‚Josef zeugte Jesus‘. Dies ist eine Überraschung, die ein Rätsel, eine Frage aufgibt: Wer ist der Vater Jesu?… Das theologische Passiv in Mt 1,16 hatte dem Kundigen freilich schon eine Antwort gegeben. ‚Jesus wurde ge366

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zeugt‘ war zu verstehen als ‚Gott zeugte Jesus‘. Doch, wie läßt sich davon erzählen? Wie zeugt Gott? Reden von so etwas nicht die heidnischen Mythen? Kann Israel so von Gott sprechen, dem Schöpfer des Himmels und der Erde?… Matthäus erzählt nicht mythisch, er formuliert streng theologisch. Er achtet und schützt das Geheimnis des Wunders“ (72). Dann etwas später: „In der Erzählung des Matthäus ist Josef, der Mann Mariens, der Handelnde und Empfänger der Botschaft: Daß Gott der ‚Vater‘ Jesu ist, des Immanuel, des Messias, des Sohnes Gottes. Jesus von Nazaret ist der in Jes 7,14 verheißene Jungfrauensohn“ (74). Und: „Matthäus verwendete in Mt 1,16 das theologische Passiv … Gottes Handeln zu umschreiben … Mit dem versteckten Hinweis am Ende des Stammbaums war also der ‚Erzeuger‘ Jesu genannt: Gott in seiner schöpferischen Kraft, in seinem Heiligen Geist … Erfüllung der Verheißungen Gottes … Gott selbst wird kommen, um sein Volk zu erlösen. In Jesus, dem Sohn Davids und Sohn Abrahams, war Gott selbst gekommen, der Sohn Gottes, der Immanuel, der Jungfrauensohn“ (5f; vgl. dazu noch 91f und 105). g) Josef nur rechtlicher, d. h. Adoptivvater Jesu

Als allgemeine Tatsache fällt in den Kommentar-Texten gerade zu Mt 1–2 und Lk 1–2 auf, daß meistens die nähere Angabe zur Sohnschaft Jesu in Bezug auf Jesus in zweigliederigem Satz zum Ausdruck kommt; es wird, in einem einzigen Satz, eine negative und eine positive Feststellung gemacht, d. h. zuerst etwas als nicht gegeben bzw. vorliegend, und dann das andere als das allein Geltende betont herausgestellt: Josef ist nicht der wirkliche, sondern nur der gesetzliche Vater Jesu (oder wie es jeweils variiert ausgesprochen wird). Jesus ist nicht von Josef (oder irgendeinen anderen Mann) gezeugt, sondern kraft Adoption Sohn Josefs und also Davids. Was so herausgestellt ist, wird mit recht unterschiedlichen Kategorien zur Sprache gebracht, die äußerst fragwürdig sind, hier zunächst noch abgesehen von der Frage, wo die Kommentatoren im NT lesen und finden, was nicht der Fall ist und folglich nicht behauptet wird noch werden kann. Man muß die Texte einmal daraufhin betrachten und zur Kenntnis nehmen. Warum wird überhaupt etwas stets so betont und sogar als Erst-Auszusagendes hervorgehoben (und behauptet!), was der ntl. Text selbst gar nicht sagt bzw. was in ihm nicht als Reales, Wirklich-Gültiges zu verstehen vorgegeben wird? Es ist wichtig, hier die Fülle von Feststellungen gerade auf diese Nicht-Sachverhalte hin abzuhören und die langen Diskussionen zu dem Nicht-Gesagten zu verfolgen, das jedoch als Wichtigstes des Bekundeten behauptet wird. Vor allem die Nicht-VaterErklärungen werden in mannigfaltigen Variationen aufgeführt. Es wird immer wieder betont festgestellt, was Josef in Bezug auf Jesus nicht ist bzw. nicht tat: „vaterlos“, „ohne Zutun eines Mannes“ u. ä., womit sogar die Formel „jungfräuliche Empfängnis und Geburt“ begründet wird! Den so gearteten, oft ausschließenden Angaben sind dann die positiven gegenübergestellt, stets im selben einen Satz. Es wird von „rechtlicher“ oder „gesetzlicher Vaterschaft“ gesprochen. Ein Musterbeispiel dafür, zugleich 367

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mit Begründung dieser eigentümlichen Sprechweise ist der Satz im Mt-Kommentar von J. Schmid: „Daß dieser Stammbaum, obgleich er der Josephs ist und Joseph gar nicht der wirkliche Vater Jesu war (V. 16), doch den vom Evangelisten beabsichtigten Zweck erfüllt, folgt daraus, daß Joseph nach jüdischem Recht als der Ehemann der Mutter Jesu dessen gesetzlicher Vater war. Denn Jesus wurde von Maria in ihrer Ehe mit Joseph geboren. Und weil nach jüdischen Recht Josef der rechtliche Vater Jesu war, darum sind Josephs Ahnen auch die Ahnen Jesu, ist Jesus Sproß des Geschlechts Davids“ (38). Dem könnten viele Beispiele zugesellt werden. In den bisher betrachteten Zitaten zur rechtlichen Vaterschaft Josefs wie auch in anderen weiteren Kommentar-Stellen begegnet oft die Adoption als Erklärung dafür, wodurch Jesus vollbemächtigter Erbfolger in der Davidsfamilie durch Josef geworden sei. Das ist eine oft vorgetragene Sicht und sie scheint eine elegante Lösung des Problems zu sein. Dem steht jedoch entgegen (was nie berücksichtigt wird!), daß es in Israel überhaupt keine Rechtsinstitution der (andernorts möglichen und vollzogenen) Adoption gegeben hat! Der entsprechende Sachartikel im LThK I (1993) 167f beginnt mit diesem Satz: „Die Rechtsinstitution der Adoption ist in den atl. Rechtssammlungen nicht belegt“. Darum kann mit ihr gar nicht argumentiert werden. Wir haben den Mt-Text besser, d. h. richtiger zu verstehen zu trachten als es allgemein geschieht. Wenn wir den Text Mt 1,18–25 ganz lesen, erklärt sich alles ohne jede Schwierigkeit. In jedem Vers ist von Gott und seinem „Tun“ und „Wollen“ die Rede. 1,18 spricht von Gott als dem, „aus dem“ das/der ist, was/wen Maria „im Schoße hatte“, wie 1,20 bestätigt. Das ist dem Josef zur Erkenntnis gekommen (wie es auch immer geschehen sein mag). Heiliges/Heiliger Gottes war zu begreifen und zu achten! Aus Gottesfurcht meint Josef Maria freigeben zu sollen. Der Bote des Herrn erscheint, also gibt Gott selbst kund, was sein Sinnen mit dem zu Gebärenden und daher mit Josef war (1,20f), was Gottes Absicht mit dem Leben und der Lebensaufgabe dessen war, den Maria „im Schoße hatte“. Genau dazu trägt Gott selbst dem Josef dessen Mitwirken(-Sollen) in diesem Gottes-Geschehen als Aufgabe (zur freien Erfüllung!) an. Das war und ist aus der Anrede an Josef als „Sohn Davids“ und als Mit-Maria-Verehelichten (1,18!) klar heraushörbar, jedenfalls für Juden damals deutlichst verstehbar. Gott ist es, der diesen noch zu Gebärenden (der das „aus dem heiligen Geist“ ist!) in die Verfügungsgewalt Josefs als Familienhaupt geben wollte, auf daß er, Josef, diesen Gott-Bestellten zu dem Sohn Davids einsetzte, der Gottes Heilsplan (Jes 7!) zu erfüllen als Lebensbestimmung bekomme, die rechtsgültig im Heilswirken Gottes die Zukunft Israels und aller Welt heraufführe, die in Jes von eben diesem einen Gott angesagt, d. h. versprochen und also einzulösen war, damit wirkliche und erlebbare Tatsache werde, was „Gottmit-uns“ namentlich und als Realität bekundet! Im Blick auf diese Aussagen 1,18–25 von „nur rechtlicher Vaterschaft und Sohnschaft“ zu sprechen, ist Blasphemie. Der Artikel „Adoption“ im LThK 1 (1993) bringt unter „I. Schrift“ folgende Auskunft: „Die in der Umwelt Israels bezeugte Rechtsinstitution der A. (vgl. Codex Hammurapi 185–193) ist in den atl. Rechtssammlungen nicht belegt. Die in erzählenden Texten 368

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überlieferten Akte, bisweilen als A. od. adoptionsähnl. Entscheidungen bezeichnet – so z. B. die rechtl. Gleichstellung der von der Sklavin geborenen Kinder (Gen 16,2; 30,3). –, sind Akte familienrechtl. Legitimation. Als Gründe für das Fehlen einer A. als Rechtsinstitution im AT können gelten die Möglichkeit der Mehrehe (vgl. Dtn 21,15–17) sowie die Einsetzung v. Töchtern in die Erbfolge (Num 27,8–11) u. die Institution der Leviratsehe (Dtn 25,5–10). Der theol. Grund ist die Einschätzung der Nachkommenschaft als ‚Zeichen und Ausdruck göttlichen Segens‘ (Boecker). A. im übertragenen Sinn liegt vor bei der durch Jahwe ausgesprochenen Proklamation des Kg. als ‚mein Sohn‘ (Ps 2,7; 2 Sam 7,14). Paulus gibt dem Begriff A. (ui`oqesi,a), als Bez. der ‚Kindschaft‘ der Glaubenden, soteriol. Sinn (Gal 4,5; Röm 8,15.23; auch Eph 1,5; ui`. bezogen auf Israel: Röm 9,4)“ (167, L. Oberlinner). Diese Auskunft ist deutlich genug. In Bezug auf den sog. „übertragenen Sinn“ ist die Auskunft jedoch schlicht falsch. Wo es gar keine Adaption gab, konnte der Begriff auch nicht auf anderes „übertragen“ werden. In den beigezogenen atl. Stellen handelt es sich schlicht um die Einsetzung in das angesprochene Amt. Auch ui`oqesi,a in Gal 4,5 und den anderen angegebenen Stellen meint nicht Kindschaft, sondern Sohnschaft, nämlich der Sohnschaft Jesu Christi verpflichtet, die aber eben nicht Adoption ist (auch wenn es oft so gedeutet wird). Auch Röm 1,3f spricht für den Auferweckten keine Adaption aus, sondern Amtseinsetzung (wenn man dieses Wort dafür gebrauchen will, was dort formelhaft zur Sprache gebracht ist). Was dort wie auch in Röm 8,15.23; Eph 1,5 und Röm 9,4 angesprochen wird, ist nicht Adoption, sondern die ganz unvergleichliche „WesensNeuheit“ des Christ-Gewordenen, die über Rechtliches wesentlich hinausgeht, eben (seitens Gottes des Vaters) Teilgabe und (seitens Gottes des Sohnes) Teilhabe an dem, was „Sohn“ streng und einzigartig vom (wenn man es unbedingt so gesagt wissen will) „inner-trinitarischen“ Sohn her. Das ist alles andere als Adoption! Es seien einige Text-Beispiele aus den Kommentaren angefügt, aus denen ersichtlich ist, wie gleichsam selbstverständlich „Adoption“ als klärende Angabe eingesetzt wird: J. Schmid (Mt-Kommentar) bemerkt, „daß der Adoption die nämliche rechtliche Wirkung zuerkannt wurde wie die leibliche Abstammung“ (40). Das kann nur dort gelten, wo es diese Rechtsinstitution überhaupt gibt! W. Grundmann (Mt-Kommentar) sagt zu Mt 1,18–25 u. a.: „Joseph soll sie (Maria) als seine Frau in sein Haus aufnehmen. Dadurch wird das Kind nicht nur vor dem Schicksal der Waise bewahrt, sondern zugleich in Davids Geschlecht hineingenommen, denn der adoptierte Sohn hat das gleiche Recht wie der leiblich erzeugte. Der schützende und geleitende Gott wird sichtbar. Er ist zugleich der schaffende und handelnde Gott; denn der Engel enthüllt vor Joseph das Woher der Schwangerschaft der Maria: Nicht sündiger Verirrung, sondern göttlichem Schaffen entstammt das Kind. Das ist eine Steigerung sowohl gegenüber der Möglichkeit jüdischer Theologie (vgl. Gen 15,2: …) als auch gegenüber ältester christlicher Theologie, die von der Adoption Jesu durch seine Auferweckung (Röm 1,3f.; Apg. 13,33) und durch den Empfang des Geistes in seiner Taufe spricht. Für das Kind der Maria, das sie gebären wird, wird 369

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Joseph als Vater eingesetzt; er wird dem Kind den Namen geben …“ (69). In diesem Text behauptet Grundmann mehr und anderes, als Matthäus selbst klar sagt. Vgl. dazu das zuvor zum Lexikonartikel Gesagte. P. Gaechter (Mt-Kommentar) meint zunächst zum Verständnis von Lk 3.23 dieses sagen zu können: „Josef Sohn des Heli … daß Lk den physischen Stammbaum Josephs bietet, läßt sich begreifen als Adoption“; dann zu Mt 1,16: „Daß sie ihn innerhalb der Ehe mit Joseph gebar, machte Jesus rechtlich zum Sohne Josephs … Seine Stellung zu Joseph war mithin analog zur Stellung jener, welche von einem König adoptiert und zum Nachfolger gestimmt wurden …“ (39). Daß es im Falle Jesu (und folglich bei Josef) gänzlich anders gelegen ist, muß deutlich und korrigierend gesagt werden. Warum wird nicht schlicht anerkannt, daß es sich in Mt 1,18–25 um etwas absolut Neues und Einmaliges und daher Unvergleichbares handelt? Was dort gesagt wird, ist gerade keine kategorial einzuordnende und folglich aus „Gründen“ nicht zu erklärende „Sache“, die als „Evangelium“ (!) verkündet wird. G. Schiwy (MtKommentar) schreibt dies: Der Stammbaum „betont, daß Joseph der Mann Marias ist, d. h. nach jüdischem Recht der gesetzliche Vater auch eines Kindes seiner Frau, das nicht von ihm stammt. Des Pflegevaters Recht und Pflichten, die Schulden und Gutschriften seines Geschlechtes gehen rechtlich auch auf das Kind über, das er nicht selbst gezeugt, sondern adoptiert hat (durch Heirat oder ohne sie)“ (33). Was Schiwy so vorlegt, entspricht gerade nicht dem jüdischen Recht, noch weniger der Aussage in Mt 1,16.18–25! W. Wiefel (Mt-Kommentar) sagt zu Mt 1,18–25 u. a. dies: „Das Kind soll nicht schutzlos zur Welt kommen, sondern in Davids Geschlecht hineingenommen werden. Damit wird die mit der Namengebung verbundene Adoption, durch die der angenommene Sohn dem leiblichen gleichgestellt wird, vorbereitet …“ (33). Wieder eine Mißdeutung des Mt-Textes! Braucht der Gott-Gezeugte (1,18.20) einen Schutz, wenn er in die Welt kommt? Wird hier überhaupt den Grundaussagen des NT zu Jesus entsprochen? I. Broer (in seinem Beitrag „Die Bedeutung der ‚Jungfrauengeburt‘ im Matthäusevangelium“, BiLe 12, 1971) macht folgende Aussagen: „Aber, so betont Matthäus zugleich sowohl durch Vers 16 wie durch unsere Perikope (1,18–25), Jesus ist ein Sohn Davids, nicht durch natürliche Geburt, sondern durch Adoption durch den Davidssohn Joseph, der seine schwangere Verlobte zu sich nahm und dadurch deren Sohn als sein Kind anerkannte“ (33). Wieder wird etwas behauptet, das im Mt-Text gerade nicht steht. Hier sei noch dieses angemerkt. Die ganze Diskussion um das rechte Verständnis der Vaterschaft Josefs Jesus gegenüber, in der Vater-Sein „im eigentlichen Sinne“ immer zuerst als zeugender Mann bzw. in Bezug auf dieses gezeugt-habender Mann hin verstanden wird, zeigt auf, daß „Vater“ wie viele andere entsprechenden Wendungen in den biblischen Texten selbst eine offene Wendung ist und nicht nur eine einzige „eigentliche“ Bedeutung hat. Es gibt viele Stellen mit „Vater“, wo dieses Wort 370

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durchaus „üblich“ und rechtens eingesetzt ist, die nicht sogleich als „Metapher“ oder „übertragener Sinn“ gesprochen und verstanden werden. So z. B. nennt Paulus in 1 Kor 4,14–18 sich selbst Vater der (gläubig gewordenen) Korinther, und dazu auch Timotheus seinen Sohn! Auch in unserem heutigen faktischen Sprachgebrauch ist „Vater“ wie „Sohn“ u. ä. ein Wort mit recht offenem Sinngehalt, der im konkreten Geschehen der Rede keinerlei Verstehensprobleme mit sich bringt. (Man denke z. B. an „Doktorvater“, mit dem der Doktorand den benennt, der ihn führt und betreut, wobei niemand sich selbst auch entsprechend „Doktorsohn“ nennt!) Daher sollte Josef in Bezug auf Jesus nicht „Nährvater“, „Pflegevater“ o. ä. benannt werden, da die ntl. Texte selbst ganz klar angeben, was sie sagen wollen. „Vater“ meint oft „Familienhaupt“ mit seiner reichen Bedeutung. Muß man ständig einschränkende Bemerkungen anfügen, wenn „Vater“ wie selbstverständlich auf Josef angewendet erscheint? Wir haben früher auf ähnliche „Probleme“ hinweisen können und müssen, wo Ausdrücke wie „Verlobung“, „verlobt“, „Braut“ und „Bräutigam“ im Deutschen fraglos gesetzt werden, obwohl der entsprechende „Sachverhalt“ im israelitisch-jüdischen Kontext überhaupt nicht vorkommt und z. B. „Ehe“ im Hebräischen kein Wort als rechtes Gegenstück kennt. S. dazu den Exkurs: „Isrealitisch-jüdisches Eherecht“.

7. Mit-Wirken des Geschöpfes im alleinigen Wirken Gottes durch Bereitschaft

In den Kommentaren zu Mt 1–2 und Lk 1–2 wie auch in Aussagen anderer Autoren fällt gelegentlich auf, wie sie gerade in Bezug auf Tätigkeiten bzw. auf Wirkvermögen angewendet werden, von denen gleichzeitig, im einen und selben Wirk-Ereignis, von Gottes alleinigem Wirken(-Können) gesprochen wird. Es seien einige dieserart Aussagen vorgestellt, die in dieser Weise vorbringen, was sie als eigentlichen Aussage-Kern aussagen zu können bzw. zu müssen dessen, was er ntl. ins Wort gebracht hat. Der Sache selbst ist dann am gegebenen Ort näher nachzugehen, um sie richtig beurteilen und einordnen zu können: H. Räisänen sagt in seinem Buch „Die Mutter Jesu im Neuen Testament“ im Abschnitt „Die Stellung der Maria in der Theologie des Matthäus“ im dortigen Zusammenhang dieses: „Matthäus ist nicht an der Person der Maria, sondern an ihrem Auftrag, ihrem ‚Amt‘, interessiert (dieser ganze Satz ist kursiv gesetzt!). Maria ist die vom Propheten geweissagte parqe,noj (1,23). Sie ist die Mutter, die dem Messias das Leben schenkt (!). Als jungfräuliche Gebärerin ist sie eine notwendige Figur (!) im Plan Gottes. Der Evangelist läßt sie jedoch als völlig passiv (!) erscheinen, die in keiner Weise (!) in den Lauf der Ereignisse eingreift (!). Sie ist Gegenstand des Werkes Gottes (!). Was oberflächlich gesehen wie ein Anstoß wirkt – daß nämlich der die davidische Sukzession vermittelnde Joseph zunächst aus seiner Vaterrolle ausgeschlossen wird –, wodurch die Davidssohnschaft Jesu fragwürdig wird – ist letzten Endes 371

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ein notwendiger Bestandteil (!) des göttlichen Planes (1,18–25). Vielleicht trägt der jüdische kulturelle Hintergrund des Matthäus dazu bei, daß die Frau möglichst im Hintergrund bleibt. Maria ist die ‚Mutter des Kindes‘ (2,11 u. a.), die dort ist, wo sich das Kind befindet. Der Gedanke der jungfräulichen Empfängnis gehört allein (!) in die Christologie. … daß Jesus schon seinem Wesen nach der Sohn Gottes ist“ (75f). J. Ernst (Lk-Kommentar) schreibt zu Lk 1,26–38 abschließend-deutend: „Das Herzstück der Erzählung ist das lk Bekenntnis zu Jesus, dem Sohn Gottes ‚von Anfang an‘. Das ‚wie und auf welche Weise‘ ist bildhaft mit heilsgeschichtlichen Motiven, welche auf Gottes Schöpferkraft abheben, angedeutet. Dem entspricht das Fehlen von Begriffen aus dem Sexualbereich bzw. von Andeutungen des Zeugungsaktes. Das christologische Thema ist durch den Geist, der Anfänge setzt, in den großen heilsgeschichtlichen Rahmen gestellt und perspektivisch auf den Beginn der Kirche hin (Apg 1,8) ausgeweitet. Gottes Geschichte geht weiter, die Herrschaft des Messias ist ohne Ende (V. 33). Dem Wirken Gottes durch seinen Geist entspricht das passive Mit-Wirken (!) einer Frau. Gott schafft Heil mit (!) den Menschen“. Dazu s. den Exkurs „Die menschlichen Anfänge des Gottessohnes im Bekenntnis des Lukasevangeliums“ (63–65). Darin u. a.: „Lukas ist … einen Schritt weitergegangen. Das Sohn-Gottes-Sein wird zurückverfolgt bis zu den irdischen Lebensanfängen vor der Geburt. Die wachsende Einsicht in die Identität Jesu führt im 4. Evangelium zurück in die Ewigkeit Gottes … Lk hat diesen Schritt noch nicht vollzogen. Für ihn ist das Sohn-Gottes-Sein begründet in der Überschattung Marias mit der Kraft des Höchsten in der Herabkunft des heiligen Geistes (V. 35) … Der entscheidende Punkt ist die Begründung des Sohn-Gottes-Seins Jesu in Gottes schöpferischer Kraft (!); die Jungfrau symbolisiert (!) die menschliche Mitwirkung (!) in einer auf das schöpferische Handeln Gottes (!) ausgerichteten Begrifflichkeit …“ (64). M. Schmaus sieht es in seinem Beitrag „Dogmatik und Exegese zur Jungfrauengeburt“ (in „Jungfrauengeburt gestern und heute“) so: Die Texte (d. i. Mt 1,18–25 und Lk 1,26–38) „sagen unmittelbar nach ihrem Wortlaut, Maria habe von Gott die Offenbarung empfangen, daß sie ohne männlichen Samen Mutter werden solle. In negativer Hinsicht wird die Beteiligung eines Mannes verneint. Positiv schließt dies ein (!), daß Maria sich vorbehaltlos dem göttlichen Ratschluß anheimgibt. Es wäre eine unwürdige, ihre Personalität verletzende Vorstellung, wenn man Maria nur unter biologischem Aspekt sähe und ihre personale Hingabe an Gott nicht als konstitutives Element (!) betrachtete. Die Jungfräulichkeit der Empfängnis hat zwei Komponenten (!), eine göttliche und eine menschliche. Durch Gottes Eingreifen (!) wird jener Prozeß gewirkt (!), den in einer gewöhnlichen Empfängnis (!) der männliche Samen hervorruft. Durch Marias vorbehaltlose Bereitschaft (!) für den göttlichen Heilsplan (!) wird der Vorgang (!) ein wahrhaft (!) menschlicher Akt (!). Maria nahm Gottes Entscheidung in ihre freie Entscheidung auf (!)“ (220; vgl. die dortigen Aussagen). L. Scheffczyk schreibt in seinem Büchlein „Maria im Glauben der Kirche. Maria in der Heilsgeschichte II“ im dortigen Kontext: „Aber eine solche intensivere Bean372

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spruchung des Menschlichen beweist nicht nur die Intensität und Eindringlichkeit der göttlichen Erlösung an der Menschheit. Da es sich hier auf seiten der für die Menschheit stehende Frau (!) um ein aktives Tun (!) und ein tätiges Mitwirken (!) mit Gott in Jesus Christus handelt, wird in der Gottesmutterschaft auch das tätige Eingehen (!) des Menschen in die Erlösung (!) begründet, d. h. Maria fällt hier auch schon eine aktive Bedeutung (!) im Vollzug (!) der Erlösung zu …“ (17; das wird dort weiter ausgeführt). Dann: „Auch wenn in den Kindheitsgeschichten der Evangelien die Jungfräulichkeit Mariens vornehmlich in christologischer Sinnrichtung (!) ausgesagt wird, so deutet sich gerade bei Lukas in dem marianischen ‚fiat‘ (Lk 1,38) schon die heilsgeschichtlich-soteriologische Repräsentanz (!) der Mariengestalt (!) wie auch dieses ihres personalen Vollzugs (der Jungfräulichkeit) (diese Klammerbemerkung schreibt Scheffczyk selbst) an. … Da diese Sicht aber von dem Geschehen (!) der jungfräulichen Empfängnis Mariens ausgehen (!) mußte, die immer klarer als ein aktives und ganzmenschliches Tun (!) von seiten Mariens verstanden wurde, erklärt sich auch die Bedeutungssteigerung (!) des Momentes (!) der ‚Jungfräulichkeit‘ der Mutter des Herrn“ (24). Dann noch: „Und doch empfängt dieser Gedanke seine Kraft (!) vorzüglich aus dem naturhaft-leiblichen Aspekt (!) auf die jungfräuliche Empfängnis Mariens, die eben den Ausschluß (!) der natürlichen Ordnung (!) und ihrer Kräfte aus dem ursprünglichen Gnadengeschehen (!) der Menschwerdung (!) besagt. … Der andere Aspekt nimmt das geistig-personale Moment (!) der ‚Jungfrauengeburt‘ in den Blick. Er sieht Jungfräulichkeit als Ausdruck der Empfänglichkeit und Hingabe (!) an den Gott des Heils und den Erlöser Jesus Christus. Die geistige (!) Jungfräulichkeit Mariens als Haltung (!) gänzlicher Offenheit (!) und gläubiger Hingabe (!) an ihren Sohn (!) läßt die Mutter in einem Licht erscheinen, die sie geradezu in die Rolle (!) einer positiven Partnerin (!) im Gegenüber (!) zum Sohn erhebt; denn sicher (!) war dieses ‚fiat‘ in die Erlösungsordnung (!) als fester Bestandteil (!) eingebaut (!) und seine personale Innigkeit (!) wie Intensität (!) konnte um so radikaler (!) ausfallen, als die jungfräuliche Mutter keine andere gleichartige personale Bindung an einen Mann kannte (!)“ (27; die weiteren Feststellungen s. 28). L. Scheffczyk formuliert im Hauptteil „III. Maria in der kirchlichen Lehre und Frömmigkeit“ (in „Maria – Kirche im Ursprung“, 1980) im Kontext dort einmal so: „Aber schon bei der Empfängnis Jesu ist ein Glaubensakt gefordert, der denjenigen Abrahams … unendlich übersteigt. Das Wort Gottes, das in Maria Fleisch annehmen will, braucht (!) ein empfangendes Ja, das mit der ganzen Person, Geist und Leib, schlechthin ohne jede (auch unbewußte) Einschränkung gesprochen wird und die gesamte Menschennatur (!) zum Ort der Menschwerdung (!) anbietet (!). Empfangen und Zulassen brauchen nichts Passives zu sein. Gott gegenüber ist es, wenn im Glauben vollzogen, immer höchste Aktivität (!). Wäre im Jawort Marias auch nur der Schatten eines Bedenkens, eines ‚bis dahin und nicht weiter‘ gewesen, so hätte an ihrem Glauben ein Makel gehaftet, und das Kind hätte nicht von der ganzen menschlichen Natur (!) Besitz ergreifen (!) können“ (49). 373

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II. „Präexistenz Christi“ 1. Die Auskunft der theologischen Lexika

Wer das LThK nach „Präexistenz“ und der Bedeutung dieses Wortes befragt, erhält diese Antwort: „Präexistenz“ findet sich nur als Artikel vor, der mit „Präexistenz Christi“ überschrieben ist. Schon daran erweist sich das Faktum, daß dieser fragliche Ausdruck tatsächlich nur in Bezug auf Jesus Christus angewendet wird, und das in einer auffallenden Weise. Der genannte Artikel hat diese Gliederung: „I. Biblisch-theologisch“; die Untertitel lauten: „1. Der Begriff ‚Präexistenz‘; 2. Religions- und traditionsgeschichtliche Vorgaben; 3. Neutestamentlicher Befund“. Dieser ganze Abschnitt ist von einem Bibelwissenschaftler verfaßt (H. Merklein), und man ist erstaunt, was zur „biblisch-theologischen“ Bedeutung als grundlegend ausgesagt wird: „Der Begriff (Hervorhebung im Text) ‚Präexistenz‘ wird im christlichen Kontext in der Regel auf Christus bezogen. Er faßt dem Wortsinn nach dessen Existenz vor seinem irdischen Auftreten (Inkarnation) ins Auge. Religionsgeschichtlich, aber auch sachlich geht es primär um die christologisch definierte Vermittlung eines protolog. bzw. eschatolog. Gegenübers, von dem aus die gegebene Welt (transzendentalphilosophisch oder symbolisch-struktivistisch) mit einem letzten Sinn versehen werden kann“ (487). Wir bemerken dazu: Diese Lexikon-Angabe bedient sich nicht eines einzigen biblischen Wortes und gibt mittels philosophischer, nicht einmal theologischer Begriffssprache an, was mit „Präexistenz“ angesprochen sein soll. Im Abschnitt „2. Religions- und traditionsgeschichtl. Vorgaben“ heißt es dann: „Die ntl. P.-Aussage steht v. a. unter dem Einfluß der alttestamentlich-frühjüd. Weisheit, die ihrerseits im Rahmen einer gemeinoriental., bes. ägypt. Weisheit (Ma’at) zu sehen ist. Die Problematisierung des Tun/Ergehen-Zusammenhangs, den die ältere Weisheit (Spr 10,22.25–29) voraussetzte, führte zur Theodizeefrage (Ijob) oder zur Skepsis (Koh). Letztlich bleibt die bibl. Weisheit menschl. Einsicht verborgen und nur in der Furcht Gottes zugänglich. Unter Rückgriff auf mytholog. Vorstellungen (vgl. Weish 9,4), und unter Einfluß philos. Denkens kam es zur Hypostasierung der Weisheit, deren angestammte Ordnungsfunktion als Schöpfungs- und Erlösungsmittlerschaft artikuliert wurde (Spr 8,22–36; Weish 9; Sir 24,1–22). Biblischer Schöpfungsglaube, Gesetzesgehorsam und Kult-Trad. konnten so unter dem Aspekt der Weltordnung bedacht und z. T. auch nach außen vermittelt werden (…). Ihren Höhepunkt fand die Entwicklung bei Philon v. Alexandrien, der das Verhältnis von Gott (Vater), Weisheit (Mutter und Tochter) und Logos (Sohn Gottes) reflektierte, wobei Weisheit und Logos z. T. funktional austauschbar sind (…). – Die P. des Menschensohnes läßt sich ursprünglich nur indirekt aus seinem Charakter als vom Himmel kommendes Engelwesen erschließen 374

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II.

„Präexistenz Christi“

(…), wurde aber bald auch direkt thematisiert (äthHen 48,21; 62,7)“ (487f). Wir können das damit Behauptete hier nicht im einzelnen diskutieren, fragen vielmehr nur danach, an welchen der angegebenen Schrifttexte tatsächlich von „Präexistenz“ die Rede ist.5 Als Ergebnis ist festzuhalten: Der Ausdruck „Präexistenz“ begegnet in den 5

Wenn man die oben angegebenen Stellen der Schrift nach „Präexistenz“ als berechtigt anwendbarem Ausdruck anschaut, so zeigt sich dieses Bild: In Spr 8,22–36 mag man eine Hypostasierung der Weisheit sehen, auch ihre „angestammte Ordnungsfunktion als Schöpfungs- und Erlösungsmittlerschaft artikuliert“ finden, doch was dabei „Existenz“ oder gar „Präexistenz“ bedeuten soll, ist nicht erkennbar. Die dichterisch-bildreiche (mythologische?) Redeweise des Textes gibt keinen Anlaß, ihn nach philosophisch-denkerischen Inhalten zu befragen. Vers 20 „Mich hat Jahwe hervorgebracht als Erstling seiner Wege vor seinen Werken von damals …“ sowie Vers 30 „Da war ich bei ihm als Pflegling (oder: Werkmeister) und ich war seine Wonne Tag für Tag spielend …“ deuten zwar ein gewisses „vor“ und „bei“ allen (anderen) Werken Jahwes an, das aber keineswegs diese „Daseinsebene“ (philosophischer Terminus!), wie Jahwe sie ist bzw. „einnimmt“, anspricht, die „Existenz“, gar „Präexistenz“ bedeutet. Ähnliches ist für Weish 9 zu bemerken. Es begegnen zwar bestimmte Präpositionen wie „durch“ oder „bei dir (die an deiner Seite thront)“, was man auch als „existieren“ und „mit-wirken“ ansehen und bezeichnen mag; doch ist das, was „Existenz“ als „Dasein“ o. ä. meint, als notwendige „Voraussetzung“ („thronen“ setzt das Existieren/Dasein dessen voraus, von dem es ausgesprochen wird), nicht der Kern der Aussage. Das wäre keine sinnvolle Art, die bildreichen Bibeltexte zu analysieren auf ihren eigentlichen „Wirklichkeitsgehalt“ hin. Zu Sir 24,1–22 ist Ähnliches zu sagen. Es mag die „Weisheit“ personifiziert aufgefaßt werden; doch was faktisch ins Wort gebracht ist, hat mit „Päexistenz“ nichts gemein. Dasselbe Urteil ist zu Ausführungen zu fällen, die G. Schimanowski vorlegt in seinem Beitrag „Die frühjüdischen Voraussetzungen der urchristlichen Präexistenzchristologie“ (in: Gottes ewiger Sohn. Die Präexistenz Christi, hrsg. von R. Laufen, 1997, 31–55). Im dortigen Abschnitt „2. Präexistenz der Weisheit“ finden sich folgende bemerkenswerte Aussagen: „Während in der älteren Weisheitsliteratur die Weisheit als ein für den Menschen erstrebenswertes alltägliches Gut vorgestellt wird, erscheint sie in späteren Texten als eine eigenständige Größe, über die ausführlich reflektiert wird. Sie erhält personale Züge und steht als eigenständiges Wesen Gott und Menschen gegenüber. Ähnlich wie bei Gott selbst werden ihr präexistente Züge zugesprochen. (Dazu sei bemerkt, daß Schimanowski diesem Abschnitt „Präexistenz der Weisheit“ den Abschnitt „Präexistenz Gottes“ vorausgehen läßt: 32–36. R. S.) In der Sprache des Hymnus wird sie Gegenstand selbständiger Reflexion und Vorordnung. Besonders eindrücklich wird das am Beginn des Weisheitshymnus Spr 8,1ff erkennbar. Zum Abschluß des jüngsten Teiles der Lehrreden (Spr 1–7) wird sie selbst als Höhepunkt noch einmal thematisiert. Die Rede endet mit der betonten Herausstellung ihres unüberbietbaren Wertes sogar für die Schöpfung und darüber hinaus im Dunkel der Urgeschichte. Spr 8,22ff (wird zitiert). … Die beiden entscheidenden Aspekte hierbei sind zum einen der zeitliche, ihr Alter, ihre Würde, und zum anderen der relationale, ihre Mittlerfunktion zwischen himmlischer und irdischer Welt. Als ‚mediatrix Dei‘ ist die Weisheit beiden Bereichen zuzurechnen; sie ist einerseits – wie der Schöpfer – präexistent und transzendent außerhalb der von Raum und Zeit geschaffenen Welt, andererseits Teil der sichtbaren Welt der Menschen und in ihr zu finden. … So ist sie auf der einen Seite eine himmlische, transzendente Gestalt – deutlich unterscheidbar von allen Geschöpfen; auf der anderen Seite aber Gottes erkennbare und sichtbare Gabe an die Menschen – deutlich unterscheidbar von ihm selbst und der menschlichen Verfügbarkeit entzogen. Diese unterschiedlichen, vielfältigen Funktionen berechtigen es, von ihr als ‚Mittlerin‘ oder ‚Mittlergestalt‘ zu sprechen, als der ‚Offenbarungsgestalt‘ katexochen. … Insgesamt kann man sagen, daß die Tendenz der Weisheit zu selbständigen Schöpferaussagen verstärkt wird. Die Weisheit wird als eine himmlische Größe dargestellt, von ihrem eigenen transzendenten Thron (V. 27) wird sogar ausdrücklich

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dafür angegebenen atl. Schriftstellen selbst gar nicht; seine Anwendung für das damit Gemeinte stiftet nur Verwirrung und leitet das Erschließen des dort tatsächlich Gesagten fehl. Um so mehr ist man auf den Abschnitt „Neutestamentlicher Befund“ gespannt. Dort werden zwar eine Reihe von Texten auf „Präexistenz“ hin abgehört, doch nicht einer genannt, wo dieses Wort (Begriff ) wirklich begegnet oder jedenfalls als angebracht zu verstehen ist. Es sind vielmehr ntl. Textstellen, für die von außen her diese Begrifflichkeit als vorgegeben vermutet wird. So werden zunächst eine Reihe von Logien aus der Spruchquelle Q aufgeführt, die „Jesus mit der Weisheit in Verbindung bringen“, „ohne diese Relation eindeutig zu bestimmen“ (488).6 Dazu

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gesprochen. … Noch einmal mehr werden hier die transzendenten Anteile der Weisheit aufgegriffen, verstärkt und in Aufnahme und Abgrenzung zu philosophischem Gedankengut eingebracht“ (36–38, um einige Sätze verkürzt). Wir bemerken auch in diesem Text Schimanowskis die vielen bibelfremden Erklärungsbegriffe. Zu „präexistent“ wird zudem „transzendent“ hinzugezogen und immer wieder von einer „himmlischen Gestalt“ bzw. „Größe“ u. ä. gesprochen. Wir lassen es damit hier bewendet sein. Schaut man sich die im Artikel aufgeführten Belegstellen genauer an, so zeigt sich, daß nirgends das Wort, noch weniger der Begriff „Präexistenz“ aufgewiesen wird. Zuerst werden Stellen genannt, die Logien aus Q vorbringen, in denen die „Weisheit“ spricht bzw. auf sie verwiesen wird: Lk 7,31–35 (Gleichnis, dem der Abschlußsatz „Und doch ist die Weisheit von allen Kindern anerkannt worden“ angefügt ist); Lk 11,49ff (Strafrede gegen die Schriftgelehrten mit dem Zusatz „Darum hat die Weisheit Gottes gesprochen …“); 13,34f par (Klageruf Jesu: „Jerusalem, Jerusalem! Du mordest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind! Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln wie eine Henne …“). Für „Präexistenz“ findet sich nicht die kleinste Andeutung. – Dann wird auf die sog. Sendungsformel hingewiesen, zunächst auf das Winzergleichnis Jesu Mk 12,1–12, doch als fraglich erklärt. Als eigentliche Sendungstexte werden genannt: Gal 4,4f; Röm 1,3f; Joh 3,16f; 1 Joh 4,9. Auf Gal 4,4f werden wir gesondert zu sprechen kommen; s. d., wo zugleich auch Röm 8,3f besprochen wird. Dann Joh 3;16f, wo es heißt: „Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn dahingab … Denn Gott hat seinen Sohn nicht dazu in die Welt gesandt, daß er die Welt richte, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde“. Dazu gehört auch 1 Joh 4,9: „Gottes Liebe zu uns hat sich darin geoffenbart, daß Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn das Leben haben“. Auch darauf werden wir als „Sendungsformel“ am gegebenen Ort zurückkommen. Jedenfalls ist „Präexistenz“ ein von außen herangetragener Ausdruck und für die genannten Stellen fremd. Sodann wird auf die tradierten und eingefügten Hymnen(teile) hingewiesen, die alle von „Präexistenz“ sprechend erklärt werden: Phil 2,6–11 (das wir speziell besprechen); Kol 1,15–20: „er (d. i. Jesus Christus, der geliebte Sohn) ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes … in ihm hat er alles erschaffen …“. Dazu ist dasselbe festzustellen: Das fragliche Wort/Begriff „Präexistenz“ wird von außen herangetragen. Dann Joh 1,18, ungemein wichtiger Text, den wir ausführlich betrachten werden; „Präexistenz“ findet sich dort nicht; trotzdem wird der Text mit diesem Begriff zu verstehen und auszudeuten versucht; s. u. – Dann Hebr 1,3: „… sein Sohn … durch ihn hat er auch die Welt geschaffen. Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens. Er trägt das All durch sein mächtiges Wort …“. Das werden wir im Zusammenhang mit Joh 1,1–18 besprechen. Wo in diesem Text etwas von „Präexistenz“ angedeutet sein soll, ist nicht erkennbar: es wird von außen her eingesetzt. Schließlich 1 Tim 3,16, das als Christushymnus angesehen wird: „Anerkannt groß ist ja das Geheimnis der Frömmigkeit: Er ist erschienen im Fleische, beglaubigt durch den Geist, kundgeworden den Engeln, verkündet den Völkern …“. Hier gilt das, was zu den zuvor angegebenen Texten zu sagen ist, gleichfalls. – Die weiter aufgeführten Stellen werden vom Autor des Abschnittes selbst

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„Präexistenz Christi“

noch: „Im Zusammenhang mit den für Q typischen Menschensohnaussagen wird man die P.-Vorstellung nicht ausschließen können“ (ebd). Dann heißt es: „Einigermaßen sicheren Boden (!) betritt man mit der sog. Sendungsformel (Gal 4,4f.; Röm 8,3f.: Joh 3,16f.; 1 Joh 4,9), den tradierten Hymnen (Phil 2,6–11 Kol 1,15–20; Joh 1,1–18; Hebr 1,3; 1 Tim 3,16) und anderen traditionell bestimmten Aussagen (1 Kor 8,6; 10,4). Die soteriologische Abzweckung der Sendungsformel und der Hymnen (Kol 1,20; Hebr 1,3; z. T. mit direktem Bezug auf den Tod Jesu: Phil 2,8; Kol 1,20) lassen vermuten (!), daß die P.-Aussage im Zuge einer Reflexion der Heilsbedeutsamkeit des Todes Jesu (durch die sog. Hellenisten?) entstanden ist. Die P.-Aussage hätte (!) demnach zunächst die Funktion gehabt, den eschatologisch-universalen Charakter der Heilssendung Jesu zum Ausdruck zu bringen“ (488). Es werden dazu und darüber hinaus weitere Stellen vorgelegt und auf dieselbe Weise „eingeordnet“, was wir hier nicht im einzelnen durchgehen müssen. Anzugeben ist jedoch noch dieses: „Als Sinnkonzept vermag der Gedanke der Präexistenz vor allem einer vom Chaos bedrohten Welt entgegenzusteuern …“ (489).7 Insgesamt halten wir dieses fest: Dieser Abschnitt „Bi-

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unter „Vermutung“ eingeordnet, wo der Lexikonartikel deutlich spricht: „… daß die P.-Aussage im Zuge einer Reflexion der Heilsbedeutsamkeit des Todes Jesu … entstanden ist. Die P.-Aussage hätte demnach zunächst die Funktion gehabt, den eschatologisch-universalen Charakter der Heilssendung Jesu zum Ausdruck zu bringen …“ (488). Charakteristisch sind die verwendeten Ausdrücke; „Funktion der P.-Aussage“, „Reflexion über die Heilsbedeutsamkeit“, „protologische Implikate“, „sprachliche Möglichkeit zur Formulierung“ usw. Entscheidend ist aber dies: Nirgends begegnet der Ausdruck „Präexistenz“ o. ä. noch wird er vom Schrifttext her suggeriert. Dieser Ausdruck wird als „sprachliche Möglichkeit“ (ist er das?) angesehen, etwas „mit anderen Worten“ wiederzugeben, was der Grundtext aussagt, um es so einleuchtender (gar besser?) zu verstehen zu geben. Wir werden auf dieses Problem noch eingehend zu sprechen kommen, weil es auch theologisch von größter Bedeutung ist. Es ist aufschlußreich, daß der Autor dieses Abschnittes „Biblisch-theologisch“ in seinem Literaturhinweis als erstes ThWNT 8, 355f. 364–395 401f. nennt, das jedoch im Artikel „hyios“ steht! Dort wird unter „C. Judentum I. Hellenistisches Judentum 1. Septuaginta; 2. Josephus; 3. Philo“ (355– 357) dieser Ausdruck „Präexistenz“ nie verwendet und also davon auch nicht gesprochen. Unter „D. Neues Testament II. Jesus als Sohn Gottes in der Gemeindetradition vor der Abfassung der neutestamentlichen Schriften 4. Die Sendung des präexistenten Gottessohnes“ (376–378) begegnet der fragliche Ausdruck unter diesem Titel und es wird folgendes gesagt: „Daß ein traditionelles Denkschema oder sogar eine Formel schon vorpaulinisch von der Sendung des Gottessohnes sprach, zeigt die Übereinstimmung von GI 4,4; R 8,3f; J 3,(16) 17; 1 Joh 4,9 in der Formulierung ‚Gott sandte seinen Sohn, damit …‘. Was bedeutet Gottessohn in diesem Denkschema? Himmlische Präexistenz ist an sich keineswegs eingeschlossen … Da aber die Sendungsformel nur bei Paulus und Johannes erscheint, die beide eine schon vor ihnen ausgebildete Christologie voraussetzen, in der der Präexistente nach dem Bilde des Logos oder der Weisheit vorgestellt war, ist die Formel vermutlich ursprünglich im gleichem Bereich verwurzelt. … Im hellenistischen Judentum ist weder der Sohn so mit dem Vater noch so mit den Menschen zusammengesehen worden wie von der christlichen Gemeinde, darum fehlt auch die historische Einmaligkeit wie die eschatologische Bedeutung der Sendung. Aber die Konzeption des schon im Himmel präexistenten und von dort auf die Erde gesandten Sohnes Gottes im Neuen Testament wird auf das stärker in räumlichen als in zeitlich-eschatologischen Kategorien denkende hellenistische Judentum zurückgehen“ (377f). Wir bemerken an diesem Text die auffallende Bemühung, irgendwie doch so

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blisch-theologisch“ im Lexikon bemüht sich darum, auf irgendeine mögliche Weise das aufzufinden und vorzulegen, was das NT vielleicht doch zu dem fraglichen, offenkundig verbindlich gewordenen (woher eigentlich?) und daher unvermeidbaren Wort/Begriff „Präexistenz“ beitragen könnte. Dazu bedient er sich philosophischer Begrifflichkeit (die hier keineswegs zu gelten hat). Dabei wird nicht bemerkt, daß das biblisch Ausgesprochene doch am deutlichsten und gültigsten mit den Worten des ntl. Textes selbst ausgesagt ist und daher auch weiterhin ausgesprochen werden kann. Hält man sich daran, so werden von vornherein alle Schwierigkeiten des Verwendens und Verstehens von „Präexistenz“ als ungeeigneten Begriff ausgeschlossen.

etwas wir „Präexistenz“ aufzuweisen und mit Vermutungen zu operieren. Die ntl. Texte selbst gaben und geben offensichtlich keinen Anstoß, von „Präexistenz“ sachlich notwendig sprechen zu müssen. – Unter „III. Die Interpretation der Gottessohnschaft Jesu durch die neutestamentlichen Verfasser 4. Paulus b. Die Sendung des Gottessohnes (Gl 4,4f; R 8,3f)“ heißt es so: „Paulus übernimmt hier ein traditionelles Denkschema, prägt es aber völlig um. Hat schon die Übertragung der zeitlos gültigen oder ein mythisches Urereignis beschreibenden Weisheitsaussagen auf Jesus diese Aussagen über ein einmaliges, endgültiges Gotteshandeln umgestaltet, so macht Paulus dies G1 4,4 durch seinen Hinweis auf die Fülle der Zeiten bewußt. Ferner wird die Sendung durch das Prädikat geno,menoj evk gunaiko,j interpretiert. Der Ausdruck ist traditionell für den Menschen überhaupt, findet sich aber sonst bei Paulus nicht. Vermutlich ist er also schon vor Paulus mit der Aussage von der Sendung verbunden, obwohl er in den übrigen neutestamentlichen Beispielen fehlt. … Dh die Formel, die vor Paulus auf die Menschwerdung des präexistenten Sohnes gedeutet war, wird von Paulus auf den stellvertretenen Tod Jesu am Kreuz (3,13b) bezogen. Der Satz von der Menschwerdung genügt Paulus wohl nicht. Man könnte sie als bloßes Kommen eines himmlischen Lehrers und Offenbarers mißverstehen. Ähnlich ist R 8,3f zu verstehen (…). Auch hier wird die Formel durch den Zusammenhang neu interpretiert. Der grammatikalisch unverbunden voranstehende Hinweis auf die Unfähigkeit des Gesetzes zeigt gerade in der Abruptheit, wie wichtig dieser Gedanke dem Paulus ist. … Paulus entreißt also die Sendungsformel entschlossen der hellenistisch-jüdischen Logostheologie, in der sie wurzelt. War dort keine Verbindung mit dem Handeln Gottes in der Geschichte Israels gegeben, so wird hier der Gottessohn wieder als Abrahamerbe (Gl 3,13–16), vor allem aber als der Überwinder des Fluches des Gesetzes verstanden“ (385f). Dann unter „c. Der leidende Gottessohn (R 5,10; 8,32; G1 2,20)“ findet sich dieses: „So sehr Paulus also die Präexistenz des Gottessohnes voraussetzt, so wenig betont er doch diesen aus der Tradition übernommenen Topos … Die Vertiefung des Verständnisses der Gottessohnschaft gegenüber der Tradition liegt … darin, daß diese nicht mehr erst durch die himmlische Herrlichkeit des Erhöhten, auch nicht durch die allgemeine Einsetzung zum König der Endzeit oder durch apokalyptische Erwartungen begründet und ausgewiesen wird, sondern gerade durch sein Leiden und Verworfenwerden“ (386). Sodann ist im Abschnitt D. III 5b (Die Sendung des Gottessohnes nach Joh) zu lesen: „Auch Johannes liegt daran, die Sendung des Sohnes von der der Propheten und Engel abzuheben. Auch er setzt die Präexistenz voraus. Auch er drückt die Einzigartigkeit Jesu nicht eigentlich damit aus; ja, er kann – weniger scharf in der Terminologie als Paulus – formal gleich von der Sendung des Täufers wie Jesu sprechen … Das beweist, daß alles Gewicht darauf, nicht etwa auf einer metaphysischen Feststellung über den Stand des Präexistenten, wie dort aber von der Sendung ans Kreuz geredet ist“ (388). Wieder erkennen wir, daß die Ausdrücke „Präexistenz“ wie „der Präexistente“ an die besprochenen Schrifttexte von außen herangetragen werden, in ihnen selbst gar nicht begegnen bzw. von ihnen zur rechten Interpretation auch nicht gefordert sind. Ohne den Einsatz dieses Begriffs finden alle Texte ihre klare Ausdeutung.

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II.

„Präexistenz Christi“

Der Abschnitt „II. Systematisch-theologisch“ krankt an demselben Problem. Es ist bezeichnend, was hier zunächst zum Begriff „Präexistenz“ formuliert erscheint: „1.  Mit dem Begriff Präexistenz (P.) Christi ist die Grundlagenproblematik der system. Christologie benannt. Das zentrale Bekenntnis zur Selbstmitteilung Gottes erweist sich nur unter der Voraussetzung als logisch konsistent, wenn das Wort, das Fleisch geworden ist (Joh 1,14), vom Selbstsein Gottes getragen wird (in ihm subsistiert) und so in der Personalrelation des Sohnes zum Vater ‚der wahre Gott‘ ist (1 Joh 5,20). Allein dann, wenn die Person bzw. Hypostase des Gott-Logos das Subjekt des Aufgenommenseins der vollständigen geist-leiblichen menschlichen Natur Jesu Christi ist, kann (soteriologisch) von einer durch Jesus vermittelten Anteilnahme an seinem Sohnesverhältnis zum Vater im Hl. Geist (Röm 8,15; Gal 4,4ff.) und einer Koinonia jedes einzelnen Menschen (in Glaube und Liebe) mit der Koinonia des Vaters, Sohnes und Geistes (1 Joh 1,1ff.) die Rede sein. 2. Präexistenz meint nicht die ideelle Vorausexistenz eines Heilsmittlers im göttlichen Heilsplan … Auch steht die präexistente Hypostase des Logos nicht (…) anstelle des empirischen Ich-Bewußtseins und des menschlichen Willens Jesu, vielmehr stellt sie die ontologische Konstitution der gott-menschlichen Einheit und den Seinsgrund der menschlichen, geistlichen Natur Jesu dar, durch den Jesus sein menschliches Bewußtsein selbstreflexiv, voluntativ und transzendental auf den Vater hin im ‚Gehorsam‘ vollzieht. (Nur wenn ‚Jesus‘ als Name die Hypostase der gottmenschlichen Einheit bezeichnet, kann gemäß der Idiomenkommunikation auch von einer Präexistenz Jesu gesprochen werden.)“ (489f). Wir bemerken dieses Eigenartige: Im LThK gibt es nur den Artikel „Präexistenz Christi“; „Präexistenz“ erscheint also nur (gar ausschließlich?) in Bezug auf Christus theologisch betrachtet, obwohl dieser Ausdruck auch sonst verwendet wird.8 Beide Abschnitte von „Präexistenz Christi“, sowohl der biblisch-theologische wie der systematisch-theologisch bedienen sich in ihren einführenden Bemerkungen zunächst philosophischer bzw. theologisch-systematischer Gründe, um diesen offensichtlich üblich gewordenen Fachausdruck zu erklären und dementsprechend zu behandeln, ja ihn als unübergehbar und notwendig herauszustellen. Gleichzeitig ist festzustellen, daß es doch schon seit langem, jedenfalls seit Harnack, Barth und Bultmann sehr intensiv und kontrovers als Problem angesehen und diskutiert wird, ob dieses Fachwort und das mit ihm Angesagte überhaupt als rechtens eingesetzt und die mit ihm gemeinte Sache unumgehbar zu reflektieren und festzuhalten zu gelten hat – oder ob es nicht angebracht erscheint, diesen Ausdruck überhaupt auszuscheiden, da er für die biblisch zu begründenden Glaubensaussagen theologisch-verbindlich überhaupt 8

In RGG 6 (2003; 4. Aufl.) finden sich zwei Artikel: „Präexistenz“ mit den Untertiteln „I. Zum Begriff “, „II. Religionsphilosophisch“, „III. Judentum“, „IV. Islam“ (1534–38); dann „Präexistenz Christi“ mit den Untertiteln „I. Neues Testament“, „II. Dogmengeschichtlich und dogmatisch“ (1538–1541). Auch dort wird z. B. von der (freilich nur gelegentlich aufgeführten) Präexistenz Gottes nichts gesagt, desgleichen nicht von der oft behaupteten, wenngleich nicht zu vertretenden Präexistenz der (menschlichen) Seele.

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keinerlei Recht auf Verwendung hat. Dazu ist vor einiger Zeit eine Untersuchung erschienen, die sich dieser Frage thematisch stellt und zu beantworten sucht.9 Sie trägt den Titel „Gottes ewiger Sohn“ und hat den Untertitel „Die Präexistenz Christi“, was beides schon die Ungeklärtheit der verwendeten christologischen Fachausdrücke offenbart (was heißt dort „Sohn“, was „ewig“; und was dann „Präexistenz“ gerade in Bezug auf „Christus“?). Das wird im sogleich folgenden ersten Beitrag noch deutlicher, der lautet „Der anfanglose Sohn. Eine christologische Problemanzeige“ (9–29: R. Laufen). Was hat Sohnsein mit „Anfang“ oder „Ende“ zu tun – oder sagt „Sohn“ nicht doch unmittelbar, ohne jede Erklärungsnotwendigkeit, auch schon „Herkunft“ (von einem Vater, einer Mutter, von Eltern o. ä.) aus? Zu beachten ist, daß der genannte Artikel eine „christologische“, nicht theologische „Problemanzeige“ aufzeigen will: damit werden auch die dort folgenden Beiträge des Buches angesagt. Diese sprechen tatsächlich fast alle genau davon: „Präexistenzchristologie“: „Die frühjüdischen Voraussetzungen der urchristlichen Präexistenzchristologie“; „Gottes Sohn von Anfang an. Präexistenzchristologie bei Paulus und den Deuteropaulinen“ (Hier bemerken wir wieder „Sohn von Anfang an“ als zu Hinterfragendes!); „ ‚Licht vom Licht‘ – Die Präexistenz Christi im Hebräerbrief “ (Die Wendung „Licht vom Licht“ für Christus begegnet in Hebr gar nicht, sondern im ganzen Artikel nur einmal, als Zitat aus Johannes Chrysostomus, der damit Hebr 1,3a zu verstehen gibt; Hebr 1,3a selbst sagt: o]j w'n avpau,gasma th/j do,xhj kai. carakth.r th/j u`posta,sewj auvtou/); „Präexistenzchristologische Aussagen im Johannesevangelium“; usw. Es ist sodann sehr aufschlußreich, wie Laufen die „Problemanzeige“ beginnt: „1. Eine Plausibilitäts- und Akzeptanzkrise. Vor zwanzig Jahren erschien … der Beitrag ‚Jesus Christus – Gottes Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit‘ von W. Löser. Der Autor versucht dort ‚die Vielzahl der Auffassungen über den Sinn der Präexistenzaussagen in der gegenwärtigen systematischen Theologie zu ordnen, wobei sich für ihn drei Gruppen abzeichneten. Die erste Gruppe … hält an der schultheologischen Deutung der neutestamentlichen und konziliaren Präexistenzaussagen fest … Auch der zweiten Gruppe, die die alten Präexistenzaussagen ‚historisch relativiert und faktisch aufgibt‘, steht Löser kritisch gegenüber, da es ihr durch Verzicht auf die Präexistenz- und damit zugleich auf die Trinitätschristologie (!) nicht wirklich gelinge, ‚die Einmaligkeit und universale Bedeutsamkeit Jesu zu wahren‘ … Die dritte Gruppe beschreibt Löser als eine solche, die nach einer genuin christlichen Begründung der Präexistenzaussagen suche und damit ‚den allein verantwortbaren Weg der Vermittlung‘ gehe. … Der Aufsatz von W. Löser endet mit der etwas resignierenden Feststellung, daß der Abstand zwischen den gegenwärtigen Deutungen der Präexistenz Christi – trotz deren entscheidender Bedeutung für die Christologie und christliche Theologie insgesamt – zum Teil groß sei und man nicht sehe, ‚wie er überbrückt werden könnte‘“ (9f). Wir bemerken, daß stets vom Problem der Deutung der Präexistenzaussagen die Rede ist, diese selbst also 9

Rudolf Laufen (Hrsg.), Gottes ewiger Sohn. Die Präexistenz Christi. Paderborn 1997.

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nicht das Problem darstellen. Es wird nicht nach der Berechtigung gefragt, bestimmte biblische Aussagen unter die Kategorie „Präexistenz“ stellen zu dürfen oder zu müssen. Sprechen solche Stellen wirklich von dem, was „Präexistenz“ mit Recht genannt werden kann? Der Ausdruck (Begriff ) „Präexistenz“ selbst wird nie als problematisch oder gar als unglücklich gewählt angesehen; er wird als unverzichtbar schon für die bibelwissenschaftlichen Untersuchungen gewertet, so sehr, daß man ihn als letztlich unaufgebbar erklärt. Wir gehen dem hier (noch) nicht im einzelnen nach, weil es das ganze „Problem“ offenkundig neu zu betrachten gilt. Dazu die folgenden Feststellungen und Überlegungen. Wir gehen aus von dem (meist unbeachtet bleibenden) Faktum, daß der Ausdruck (Begriff ) „Präexistenz“ tatsächlich erst zu sehr viel späterer Zeit gebildet wurde, um mit ihm Bestimmtes sachgerecht aussprechen zu können. Offensichtlich ist er kein biblisch vorgegebener oder aus den biblischen Texten gültig zu erschließender Ausdruck (Begriff ). Ein Blick in das Historische Wörterbuch der Philosophie läßt dieses klar erkennen: „Präexistenz taucht zuerst im Griechischen als Substantiv zum Verb prou?pa,rcein auf. Beides waren ursprünglich keine philosophischen Termini, sondern alltagssprachliche Ausdrücke mit der Bedeutung ‚schon vorhanden sein‘ bzw. ‚früher/zuvor existiert haben‘. In dieser Bedeutung begegnet das Verb auch in philosophischen Texten; entsprechend bezeichnet das Partizip prou?pa,rcwn ein Früheres gegenüber einem (im Sinne zeitlicher Sukzession) Späteren, z. B. die ‚vormals geltenden Gesetze‘ … – In der Ontologie ist der Terminus ‚P.‘ seit dem Neuplatonismus als Bezeichnung der Priorität in nicht-temporalen Relationen gebräuchlich. So verwendet ihn Proklos (412–485) beim Referat der platonischen Konzeption des Urbild-Abbild-Verhältnisses … Gleichbedeutend gebraucht er auch den Ausdruck prou?festa,nai, den sein mittelalterlicher Übersetzer Wilhelm von Moerbeke mit ‚preexsistere‘ wiedergibt. Die Ausdrücke ‚praeexistentia‘ und ‚praeexsistere‘ sind im Mittelalter als Bezeichnungen des Seinsmodus ‚esse essentiae‘ (im Gegensatz zum ‚esse existentiae‘) geläufig. – Porphyrios nimmt mit Hilfe des Ausdrucks proupa,rcein eine Differenzierung des Seinsbegriffs vor. Er unterscheidet a) das Sein (to. ei=nai), das in der ontologischen Hierarchie ‚vor dem Seienden existiert‘ (prou?pa,rcei tou/ o;ntoj), von b) Sein, das verbunden (su,zugoj) mit dem Seienden existiert. Als Unterscheidung der Existenzweisen Gottes, der aller Existenz vorangeht, und der Dinge, die ihm ihre Existenz verdanken, findet diese Denkfigur und mit ihr der Terminus ‚P.‘ Eingang in die Theologie der Patristik: Für Marius Victorinus (* zw. 281–291, † bald nach 362) ist Gott, das Sein selbst (ipsum esse), das kein Seiendes ist (‚non o;n‘), eher als ‚P.‘ denn als ‚Existenz‘ (‚praeexistentiam quam existentiam‘) zu bezeichnen und damit so sehr dem dem Verstand (‚intelligentia‘) zugänglichen Seienden entrückt, daß es einer ‚praeintelligentia‘ bedarf, um ihn zu erfassen. – Ähnlich Maximus Confessor (580–662): ‚Existenz wird im eigentlichen Sinne nicht von Gott ausgesagt. Denn er ist P., d. h. er ist vor der Existenz selbst; alle Existenz ist ja aus ihm‘ (u[parxij me.n kuri,wj Vepi. qeou/ ou. le,getai\ kai. ga,r evsti prou?,parxij( toute,sti kai. pro. auvth/j u`pa,rxewj\ evpeidh. 381

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de. pa/sa u,`parxij evx auvtou/)“ (1228f; die Lebensdaten sind von R. S. mitangegeben, um sogleich miterkennen zu lassen, zu welcher Zeit diese Terminologie entstanden ist). Was das Historische Wörterbuch dann zu „Präexistenz“ im Judentum und Christentum angibt, ist zu pauschal und wenig aufschlußreich: „Wie das Judentum die P. des Messias, so kennt das Christentum die Pr. Christi als Glaubenssatz, der sich aus dem Johannesprolog und weiteren Stellen des NT (vgl. bes. 1 Petr 1,20: Christus war ‚ersehen, ehe der Welt Grund gelegt ward‘) herleiten ließ“ (1229f). Wir werden sehen, daß zwar so etwas wie „Präexistenz“ später aus diesen u. ä. Stellen herausgelesen (besser: hineingelesen!) wurde, sie selbst aber dieses Wort, um so weniger den (später erst festgelegten) Begriff enthalten; s. dazu weiter unten). Auch was dann weiter festgestellt wird, ist fragwürdig: „In den christologischen Debatten schon der frühen Patristik wird eine dogmatische Fixierung der betreffenden biblischen Aussagen mit Hilfe des P.-Begriffs versucht. Der Terminus prou?,parxij wird indessen nicht einheitlich gebraucht, sondern bezeichnet die P. Christi in verschiedenen Hinsichten“ (1230). Wir müssen dem hier nicht weiter nachgehen, da es im folgenden thematisch aufgegriffen und kritisch zurechtgerückt wird. Wir bemerken: Die dort angeführten Beispiele verhandeln meist theo-logische, keine christo-logischen Fragestellungen bzw. geäußerte Lehren, die überhaupt sog. innergöttliche Wesensfragen betreffen (später so genannte trinitarischen Aussage-Möglichkeiten oder -Notwendigkeiten), gelegentlich auch Fragen nach den später so genannten „Naturen“ in Jesus Christus, u. a. auch die Frage nach der „Zeit“ ihres „Beginns“.

2. Präexistenz-Aussagen in der Heiligen Schrift?

Die Einsichtnahme in die Fach-Lexika läßt erkennen, daß das später mit dem Ausdruck (Begriff ) „Präexistenz“ Bezeichnete erst ab dem 2. Jht. n. Chr., in den sog. mittelplatonischen Fragestellungen zaghaft, dann in den neuplatonischen Denkbemühungen überlegt systematisch in das philosophische und dann auch christlichtheologische Denken und Sprechen eingeführt worden ist. Daher fragen wir jetzt ausdrücklich nach den Aussage-Inhalten der Bibel, die seit dem 19. Jht. und heute seitens der erst-zuständigen Bibelwissenschaftler als solche angesehen, herausgehoben und eingeordnet werden, so daß sie folglich begründet unter das Fachwort Präexistenzaussagen gestellt und eingegliedert werden können oder gar müssen. Da ist der entsprechende Beitrag der schon genannten Untersuchung „Gottes ewiger Sohn. Die Präexistenz Christi“ ein erstes Beispiel: „Die frühjüdischen Voraussetzungen der urchristlichen Präexistenzchristologie“ von G. Schimanowski (31–55). Dort heißt es einleitend; „Die Präexistenzaussagen als Elemente der neutestamentlichen Christologie sind in der jüngsten Zeit aufs neue in die Diskussion geraten … Die Texte über die Präexistenz Christi sind im Neuen Testament nicht breit gestreut …; trotzdem haben 382

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sie durch die darauf folgende Wirkungsgeschichte bis in die Dogmenbildung der Kirche hinein bis heute einen tiefen Nachhall hinterlassen … In diesem Beitrag geht es nun weniger um das Aufzeigen und die Begründung der neutestamentlichen Zusammenhänge, als vielmehr um das – erneuerte – Zusammenstellen der Denkvoraussetzungen, die – speziell im Frühjudentum – die christologischen Aussagen ermöglicht haben“ (31 u. 32). Dazu ist zu bemerken: Eine urchristliche Präexistenzchristologie findet sich im NT überhaupt nicht! Das ist eine theologie-geschichtliche Kategorie, deren Berechtigung ja gerade als fragwürdig erkannt ist. Ob es überhaupt sinnvoll ist, von „Elementen einer neutestamentlichen Christologie (etwas später auch „Bausteine“ genannt!)“ zu sprechen, sei dahingestellt. Gehen wir aber der gestellten Frage einmal nach, was „Denkvoraussetzungen“ sind, die „die christologischen Aussagen ermöglicht haben (sollen)“. Aus praktischen Gründen folgen wir dazu dem Beitrag von Schimanowski, wie dann auch den weiteren Beiträgen im Buch „Gottes ewiger Sohn. Die Präexistenz Christi“. a) Frühjüdische Denkvoraussetzungen zu den ntl. Präexistenz-Aussagen?

Der Beitrag „Die frühjüdischen Voraussetzungen der urchristlichen Präexistenzchristologie“ ist schon dadurch überaus signifikant, daß er, ganz ungewohnterweise, im ersten Abschnitt von „Gottes Präexistenz“ spricht (32–36). Sogleich der erste Satz läßt aufhorchen: „In der hebräischen Bibel wird an vielen Stellen (!) Gottes uranfängliches Sein (!) vorausgesetzt (!), gepriesen und verherrlicht. Besonders häufig lassen sich solche Bestimmungen (!) im Zusammenhang mit Schöpfungsaussagen in den Psalmen erkennen, wie z. B. in Ps 90,2: ‚Ehe noch die Berge geboren wurden und Erde und Festland in Wehen lagen – von Ewigkeit zu Ewigkeit bist du, Gott‘“ (32f: Hervorhebung im Text). Schon da ist zu bemerken: Die „vielen Stellen“ werden gar nicht angegeben! In einer Anmerkung dazu werden Textstellen genannt, die anderes aussagen: „Zu seiner ‚Universalität‘ und in seinem nicht zu begrenzenden ‚Wirkungsbereich‘ vgl. allein den Ausdruck ‚Gott in Ewigkeit‘ in so unterschiedlichen Texten wie in Jes 40,28; Gen 21,33; Dtn 33,27; aber auch Ps 92,8f; 102,12f.“ (32 Anm. 8). Weiter zum Text: Die Wendung „uranfängliches Sein“, die Gott zugeschrieben wird, bleibt ungeklärt. Was soll da genau mit „sein“ angesagt sein, „esse“, „existere“? Ist „sein“ als Verb oder als Substantiv begriffen („Sein“ soviel wie „Wesen“, essentia, das, was eine Person oder ein Ding ist? Was meint dann aber „anfängliches“, gar „uranfängliches Sein“? Der Ausdruck „Anfang“ ist an sich verständlich; er verlangt jedoch im jeweiligen Kontext die Angabe, wessen Anfang oder wovon es angesprochen ist. „Anfang“ hat ja Bezug auf irgendwie Folgendes bzw. Weiteres. Dasselbe ist vom Verb „anfangen“ als „Tun“ zu sagen: Es verlangt ein irgendwie objektivisch Mit-zu-Benenndes/ zu-Verstehendes. Was soll „anfängliches Sein“ ansagen, etwa „zu sein anfangen“? Die Wendung gar als „ur-anfängliches Sein“ zu verstehen ist ein Rätsel, zumal wenn damit „Präexistenz“ zur Sprache kommen soll. Sie wird jedoch öfters gebraucht: „Die 383

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‚uranfängliche‘ Vorordnung Gottes vor der Schöpfung“ (33; wir beachten die Anführungszeichen in der Formel; was sollen die bedeuten?). Davon heißt es sogleich: sie „bekommt in der Übersetzung der LXX noch einmal eine etwas andere Qualität (!), indem hier dann ausdrücklich sein ‚uranfängliches Sein‘ programmatisch (!) herausgestellt wird. Ps 90,2 LXX: „Ehe die Berge entstanden … und von Ewigkeit her … bist du!“ (34). Das wird verdeutlicht: „Gott wird damit noch einmal aus den Zeitstrukturen (!) und irdischen Gegebenheiten (!) herausgenommen (!). Damit wird seine Freiheit (!) vom Werden und Vergehen (!) und sein Herrsein (!) über alle Zeitlichkeit (was ist diese hier?) betont an den Anfang (von was?) gestellt, ohne daß allerdings die Frage nach den allerersten Anfängen (Plural! Was sind „allererste“ Anfänge??) dabei eine zusätzliche (!) Eigenständigkeit bekäme oder eine Spekulation aufgebaut würde“ (34). Dasselbe wird nochmals weiterführend so ausformuliert: „Diese Aussagen über Gottes uranfängliches Sein, der Vergänglichkeit seiner Schöpfung entnommen (?!), verfestigen sich dann mehr und mehr zur Vorstellung über seinen (präexistenten) Thron; seine Transzendenz (!), gegenwärtige Präsenz (!), Herrschaft, Einfluß (!) und Triumph (!) gewinnen hierdurch ihren metaphorischen (!) Ausdruck und ihre Schärfe (!) und Prägnanz (!)“ (35; in einem einzigen Satz wird alles unter dem Ausdruck/ Begriff „Präexistenz“ zusammengeschaut!) „ ‚Präexistenz‘ bedeutet hier trotzdem grundsätzlich (?) keine spekulative Suche (!) nach einem abstrakten, metaphysischen Sein, einem irgendwie gearteten Grundprinzip von Wirklichkeit überhaupt (was ist das?); sondern eine Vorordnung (was soll das hier sagen?) gegenüber den von Gott erschaffenen Dingen und den irdischen (!) Kategorien (!) von Raum und Zeit, aber immer in irgendeiner Relation zu ihnen“ (34f). Ein Überblick über die unter „Präexistenz“ eingeordneten Aussage-Elemente verdeutlicht unsere Feststellungen. Dazu gehört zunächst die Wendung „ewig“ bzw. „Ewigkeit“; es ist von den „Zeitbestimmungen“ die Rede, „die später im Ps (d. i. Ps 90) noch weiterhin im Mittelpunkt stehen und auf die Menschen (!) bezogen werden: ‚… von Ewigkeit‘…., wozu in der Anmerkung noch gesagt wird: „jedenfalls bezeichnet olam nirgends einen abgeschlossenen frühesten Zeitraum, sondern auch in der Übersetzung ‚von Urzeit her‘ den äußersten terminus a quo“ (33 u. Anm. 13 ebd.; wir verweisen zurück auf die oben schon zitierten Sätze zu Ps 90,2). Dazu auch noch: „Die ‚Zeitspanne‘ reicht nun von einem aller Schöpfung (!) vorausliegenden bis hin zu einem alles hinter sich lassenden Bezugspunkt (?). Auf diese Weise werden also Aussagen gefördert und verstärkt, die Gottes Sein vor aller Schöpfung und Zeit (sind dies zwei Größen?) doxologisch überhöhen und transzendieren (!)“ (34). Der Bezug auf „Schöpfung“ (dieser Ausdruck wird ungeklärt einfach eingesetzt) ist, wie wir schon gesehen haben, öfters genannt, wobei sogar von „Gottes Schöpfertum“ gesprochen wird: „Gottes Schöpfertum … Er allein hat das Geschick der Welt (!) in seinen Händen; aber er, als ihr Schöpfer, hat keinen Anteil (!) an ihrer Vergänglichkeit (!). Dies wird in doppelter Weise zum Ausdruck gebracht, zum einen durch die abgrenzende Bestimmung gegenüber der Schöpfung, exemplifiziert (!) an der Beständigkeit der Berge (Ps 90,2) … zum anderen durch die 384

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Zeitbestimmungen, die später im Psalm noch weiterhin im Mittelpunkt stehen“ (33; vgl. auch die schon zuvor zitierten Stellen). Sodann ist auf die Sätze hinzuweisen, die von Gottes „Universalität“ (!) und von „seinem nicht zu begrenzenden ‚Wirkungsbereich‘ (!; in Anführungszeichen)“ sprechen (32, Anm. 8). Hierher gehören dann auch die Aussagen zur „Transzendenz“ Gottes (im Verständnis des Autors des Textes). Auch ist auf den Ausdruck „Vorordnung Gottes“ zu achten, der mit „Herrschaft“ u. a. bestimmt wird: „Vorordnung (Gottes) gegenüber (!) den von Gott erschaffenen Dingen (!)“ (35), als „Herrsein über alle Zeitlichkeit“ (34) oder „Souveränität Gottes“ erklärt. „Gott ist vor der Welt da. Die Welt ist also (!) nicht ewig wie Gott“ (33, Anm. 11). Wir können auf weitere Zitierungen verzichten, da hinreichend deutlich geworden ist, was hervorgekehrt werden sollte. Eine eigentliche Begründung dafür, den viel später gebildeten Ausdruck (Begriff ) „Präexistenz“ sogar für Gott selbst überhaupt anzuwenden, ist nicht zu erkennen und auch nicht erbracht. Was im einzelnen in den angeführten Beispielen alles unter diesen Ausdruck gestellt wird, ist entschieden klarer und einsichtgewährender in den biblischen Texten selbst offenkundig. Die Notwendigkeit irgendwelcher wissenschaftlich-systematischer Wendungen oder gar Begriffe zur besseren und ergiebigeren Erfassung der Bibel-Aussagen zeigt sich nirgends.10 Sie trotzdem einzusetzen führt zu schlimmen Verbiegungen des biblisch Bekundeten. „Präexistenz“, auf Gott angewendet, ist einfach absurd. 10 Spr 8,22–31 wird verkürzt, wörtlich und doch paraphrasierend so wiedergegeben (wir zitieren in

Klammern die Übersetzung Plögers): „Jahwe schuf mich als Anfang seines Waltens (Pl.: Jahwe hat mich hervorgebracht als Erstling seiner Wege), vorlängst, früher als seine (Schöpfungs-)Werke (Pl.: vor seinen Werken von damals). Seit der Urzeit bin ich (auf wunderbare Weise) gebildet, von Anfang an, seit dem Ursprung der Erde … (Pl.: Vor der Zeit bin ich eingesetzt worden, vor Beginn, vor den Anfängen der Erde), als er dem Meer seine Grenzen setzte … als er die Fundamente der Erde legte (Pl.: als er die Grundfesten der Erde festlegte) – da war ich ihm zur Seite als Liebling (Pl.: da war ich bei ihm als Pflegling), war sein Entzücken Tag für Tag (Pl.: und ich war seine Wonne Tag für Tag), spielend vor ihm alle Zeit, spielend auf seinem Erdenrund (Pl.: und spielend tätig vor ihm zu jeder Zeit, war spielend tätig auf seinem Erdkreis), und mein Entzücken war bei den Menschen (Pl.: und hatte meine Wonne an den Menschenkindern)“. Hier ist nicht der Ort, die Übersetzung im einzelnen zu diskutieren; es ist bekannt, ein wie schwieriger Text hier vorgegeben ist. Es ist jedoch bezeichnend, wie er paraphrasiert und dann argumentativ für die eigene Auffassung näher interpretiert wird: „In äußerst kunstvoller Weise dient dieser letzte Abschnitt der Selbstrede der Weisheit als Untermauerung und Verstärkung für alle vorherigen Abschnitte. Die Weisheit ist die Erstgeschaffene der ganzen Schöpfung (dies ist eine widersprüchliche Wiedergabe! Die Weisheit gehört zur Schöpfung, wenn mit „Schöpfung“ das (alles) angesprochen sein soll, was Gott erschafft bzw. erschaffen hat; Gottes Wirken als „Erschaffen“ kennt ja kein Präteritum als einmalige Tat eines sog. „Anfangs“, also als abgeschlossenen Akt; Gott ist „Schöpfer“; er war (Praeteritum!) es nicht an irgendeinem Zeit-Punkt, sondern er bleibt „Schöpfer“. Dazu mag der Ps 104 zum Verstehen herangezogen sein; er spricht stets im Präsens, sagt, was Gott tut, immer, solange es Erschaffen gibt, d. h. Gott Geber/Schöpfer „bleibt“! R. S.). Der Text weiter: „Die Weisheit … war bei der Schöpfung des Kosmos (warum jetzt „Kosmos“? In Spr 8 wird von der Erde gesprochen. R. S.) beflügelnd (?) zugegen und bildet schließlich (?) die intensive Verbindung (was ist das?) zwischen himmlischer und irdischer Welt (wo findet sich im Text diese Unterscheidung??). Weiteres wird im Haupttext gesagt; weitere Beispiele s. Anhang II: Texte zu Präexistenz.

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Abschnitt G:

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Der zweite Abschnitt dieses Beitrags G. Schimanowski ist überschrieben mit „2. Präexistenz der Weisheit“. Dazu wird unter „a) Im Alten Testament“ dieses gesagt: „Während in der älteren Weisheitsliteratur (damit sind bestimmte Texte der Bibel gemeint!) die Weisheit als ein für den Menschen erstrebenswertes alltägliches Gut vorgestellt wird, erscheint sie in späteren Texten als eine eigenständige Größe, über die ausführlich reflektiert wird. Sie erhält personale Züge (!) und steht als eigenständiges Wesen (!) Gott und Menschen gegenüber (!). Ähnlich wie bei Gott (!) selbst werden ihr präexistente Züge (!) zugesprochen. In der Sprache des Hymnus wird sie Gegenstand (!) selbständiger Reflexion (!) und Vorordnung (!). Besonders eindrücklich wird das am Beginn des Weisheitshymnus Spr 8,1ff erkennbar … Die Rede endet mit der betonten Herausstellung ihres unüberbietbaren Wertes sogar für die Schöpfung (!) und darüber hinaus (!), im Dunkel (!) der Urgeschichte (!)“ (36). Dazu wird auf Spr 8,22f hingewiesen und dieser Text verkürzt (Spr 8,22f.29a. c.30f) wörtlich und doch paraphrasierend zitiert. Das wird dann so erklärt und „ausgewertet“: „Die Weisheit ist die Ersterschaffene der ganzen (!) Schöpfung (!), war bei der Schöpfung des Kosmos (wieso jetzt „Kosmos“?) schon (!) beflügelnd (?) zugegen und bildet schließlich die intensive Verbindung (!) zwischen himmlischer (?!) und irdischer (?!) Welt. Die beiden entscheidenden Aspekte hierbei sind zum einen der zeitliche (Hervorhebung im Text), ihr Alter (!), ihre Würde (!), und zum anderen der relationale (Hervorh. im Text), ihre Mittlerfunktion (!) zwischen himmlischer (?) und irdischer (?) Welt. Als ‚mediatrix Dei‘ (!; wieso lateinisch geschrieben; ist das ein bestimmter Begriff ?) ist die Weisheit beiden Bereichen (!) zuzurechnen (!); sie ist einerseits – wie der Schöpfer – präexistent (!) und transzendent (!) außerhalb der von Raum und Zeit geschaffenen Welt (!), andererseits Teil (?) der sichtbaren (!) Welt der Menschen und in ihr zu finden (!)“ (37). Das alles wird nochmals wiederholt, doch zugleich auch mit neuen und eigenartigen Aussageinhalten variiert: „… sie bleibt auf Gott bezogen und auf die Beziehung des Schöpfers (!) zu seinen Geschöpfen (!). Ihre Schöpfung selbst (!) bleibt dem menschlichen Auge und der kreatürlichen (?) Erkenntnis gegenüber verborgen (!). So ist sie auf der einen Seite eine himmlische Gestalt (!) – deutlich unterscheidbar von allen (!) Geschöpfen: auf der anderen Seite aber Gottes erkennbare und sichtbare (!) Gabe (!) an die Menschen – deutlich unterscheidbar von ihm selbst (!) und der menschlichen Verfügbarkeit (!) entzogen (?). Diese unterschiedlichen Funktionen (!) berechtigen es (!), von ihr als ‚Mittlerin‘ oder ‚Mittlergestalt‘ (woher jetzt diese Ausdrücke/Begriffe?) zu sprechen, als der ‚Offenbarungsgestalt‘ (?!), besser ‚Offenbarungsmittlerin‘ katexochen (!)“ (37) Dann wird Spr 8,22f als der „für die Präexistenzfrage entscheidende Abschnitt“ angesagt(37). Dann: „Insgesamt kann man sagen, daß die Tendenz der Weisheit (!) zu selbständigen (!) Schöpfungsaussagen (!) verstärkt wird. Die Weisheit wird als eine himmlische Größe (!) dargestellt, von ihrem eigenen (!) transzendenten Thron (!) (V. 27) wird sogar ausdrücklich gesprochen“ (38). Auch in diesem Abschnitt wird der Ausdruck „Präexistenz“ nur ganz wenig eingesetzt: 36 („präexistente Züge“); 37 („Weisheit ist prä386

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existent und transzendent“; „Präexistenzfrage“); 39 („auch wenn darüber hinaus ihre ‚Präexistenz‘ aus der aktiven Schöpfertätigkeit noch zu erschließen ist“). Wir können es bei diesen Textbeispielen bewendet sein lassen. Sie sprechen für sich. Es wurde an bemerkenswerten Stellen durch (!) u. ä. auf die großen Fragwürdigkeiten aufmerksam gemacht, was für jetzt genügen kann. Es sei nur noch angemerkt, daß z. B. O. Plöger in seinem Kommentar zu Spr 8 entschieden vorsichtiger und zurückhaltender ist (BK XVII, 91–96). – Die weiteren Unterabschnitte im Beitrag Schimanowskis sprechen in derselben Weise, wie bisher festgestellt. Wir bringen dazu, entsprechend gekürzt, was er als „Ergebnisse“ vorbringt: „… eine bunte Vielfalt ist für die Entstehung des Urchristentums vorauszusetzen … war die Situation in der Anfangszeit der Ausprägung der christologischen Aussagen des Neuen Testaments ausgesprochen ‚pluralistisch‘ … Die Frage nach dem ursprünglichen Anfang (?) gehört zu den entscheidenden Strukturen jüdisch-christlichen Denkens. In der Grundsatzfrage nach dem ‚woher‘ läßt sich eine vielgestaltige Verbindung zwischen dem Alten und Neuen Testament und darüber hinaus zu ihrem religionsgeschichtlichen Umfeld feststellen. Man wird davon auszugehen haben, daß die Frage nach der Macht und Herrlichkeit Gottes (wer hat die damals gestellt?), seiner Raum und Zeit entnommenen (?) Existenz und seinen grundlegenden, unvergleichbaren, besser: alles überbietenden, Kosmos und Geschichte umfassenden Dimensionen (hat Gott „Dimensionen“ solcher Art??) in den Mittelpunkt (von was eigentlich?) gerückt oder noch weit öfter einfach selbstverständlich vorausgesetzt wird (das dürfte damals gerade nicht der Fall gewesen sein; man hat keine Philosophie o. ä. getrieben, sondern Gott und seinem Da-Sein und Wirken Glauben geschenkt und dann zuerst Dank und Lob gesungen! Schimanowski sucht nach dem Vorhandensein von Gedankengängen heutiger religionsgeschichtlicher Kategorisierungen in Texten der Bibel. Alles, was er heraushebt, zeigt eindeutig, daß der Einsatz des Begriffs „Präexistenz“ absolut unangebracht ist. R. S.). Der Text weiter: „Auf der einen Seite kann die Souveränität Gottes und seiner Mittlergestalten (!) durch einen besonderen, mächtigen Eingriff (!) oder Schöpferakt (was ist das?) betont herausgestellt werden (Wer wollte das in der urchristlichen Zeit? Es war geschehen, was berichtet wurde!). Weiterhin richtet sich immer wieder (?) einmal der Blick auf das Ursprungsgeschehen (was ist damit hier genau gemeint?), um dadurch in besonderer Weise die Zuverlässigkeit und den Bestand der göttlichen Ordnung (!) und Fürsorge in den Mittelpunkt (wieder: wovon?) zu rücken … ‚Es kann als einigermaßen gesichert (!) gelten, daß für die Ausgestaltung dieser hohen (!) Christologie die jüdische Weisheit (Hervorhebung im Text) eine ausschlaggebende Rolle (!) gespielt hat: Wesensaussagen (was ist das hier?) und Funktionen (!) der Sophia wurden auf Christus übertragen (?!)‘ (Zitat S. Vollenweider). Bei seinen Untersuchungen zu den Präexistenzaussagen hat schon Jürgen Habermann in seiner Schlußzusammenfassung zu Recht (wer urteilt hier?) das Ostergeschehen und die Erhöhung Christi als den besonderen, eigenständigen (?) Kern der christologischen (!) Praäexistenzaussagen (!) festgemacht. … So sind die Aussagen über die 387

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Präexistenz Gottes (!) selbst, seiner Weisheit und seinen besonders erwählten Boten und Mittlern (!?) zu wichtigen Elementen geworden, um eine nicht mehr zu überbietende (wer will hier was oder wen überbieten?) Vorordnung (!) auszudrücken. Im Zuge dieser Vorstellungswelt (!) und Denkvoraussetzungen (!) wird Christus bereits in die Uranfänge der Schöpfung (!) eingezeichnet (!) … Die Vorstellung (!) der ‚Präexistenz Christi‘ (warum plötzlich Anführungszeichen?) hat nicht weniger Gewicht (wer wägt hier ab?) als andere Grundaussagen über Christus … durch sie konnte in einer unüberbietbaren Weise (was ist hier „unüberbietbar“, das Geschehen oder dessen Darstellung?) der einmalige, unwiederholbare (wer weiß hier was genau?) Offenbarungscharakter (was ist das?) von Jesu Tod und Auferweckung als ein ein für allemal gültiges – endgültiges (was ist damit hier gemeint? In 1 Kor 15,28 nennt Paulus etwas anderes als „End-Geschehen“!) Handeln Gottes ausgesagt werden“ (53–55). Auch diese Zusammenfassung („Ergebnisse“) zeigt das Unberechtigte dieser ganzen Konstruktion mittels des Ausdruck „Präexistenz“ deutlichst an. b) Alttestamentliche und frühjüdische Voraussetzung für eine „Präexistenz“-Christologie?

Weil es uns in unserer Untersuchung um die Herkunft Jesu Christi geht, wie schon öfter betont wurde, interessiert uns das Problem der sog. „Präexistenz“-Christologie nur in Bezug auf ntl. Texte, die beide Problemkreise in ihrer Zuordnung zueinander enthalten bzw. als solche behauptet werden. Das gilt auch für diesen Abschnitt. Daher besprechen wir im folgenden nur ein Beispiel: Samuel Vollenweider, Christus als Weisheit. Gedanken zu einer bedeutsamen Weichenstellung in der frühchristlichen Theologiegeschichte: EvTh 53 (1993) 290–310. Dieser Beitrag sei hier vorgeführt als Beispiel einer besonderen Betrachtung des angesprochenen Problems. Was dort ausdrücklich zu „Weisheit“ des AT in Bezug auf die Inanspruchnahme für „Präexistenz Christi“ gesagt wird, sei in kurzen Zitaten angegeben. Ganz ohne diesen problematischen Begriff scheint auch V. sein Thema nicht verhandeln zu können. Es sind Zitate, die einigermaßen losgelöst aus ihren Kontext erscheinen können. Das wird aus Platzgründen in Kauf genommen. Er schreibt: „In eine viel weiter gespannte Fragestellung werden wir dort versetzt, wo in der Weisheitstheologie die Brücke zwischen Jesus als messianischem Weisheitslehrer und der nachösterlichen Christologie identifiziert wird“ (291). „Für unsere Fragestellung ist die Wende in Israels Weisheitsüberlieferungen (Hervorhebung im Text), die sich noch im Alten Testament anbahnte (Spr 8; Ijob 28) und sodann die theologische Entwicklung des Frühjudentums nachhaltig bestimmte, von großer Tragweite … weitreichende Feststellungen: In der Gestalt der göttlichen Weisheit kommt der transzendente Gott der Welt erneut nahe. Die Welt wird im Spiegel der göttlichen Weisheit wieder transparent für die gütige, lebensermöglichende und ordnungsstiftende Seite Gottes. … Entgegen einer oft zu vernehmenden Meinung darf man nicht von einem festen jüdischen Weisheitsmythos ausgehen, der sich in jener Zeit herausgebildet hätte und vom Christentum übernom388

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„Präexistenz Christi“

men worden wäre. … Etwas zugespitzt kann man den Sachverhalt dahingehend formulieren, daß Nomos und Logos (Hervorhebung im Text) zunehmend die Sophia in ihren Bannkreis ziehen … Im Christentum wandert die bereits mit dem Logos verschmelzende Sophia in die Gestalt Christi ein“ (293; 294; 295). Dann: „Die synoptische Tradition enthält in einem erstaunlichen Ausmaß weisheitliches Gut, manchmal in ausgesprochen verfremdeter Gestalt, oft aber auch in durchaus genuiner weisheitlicher Stoßrichtung im Sinne einer Bewältigung der konkreten Lebenssituationen. Ein guter Teil dieser weisheitlichen Traditionen stammt von Jesus selbst her; er muß ein ungemein eindrücklicher Weisheitslehrer gewesen sein. … Die Rede ist von einer geheimnisvollen Sophia-Christologie in der alten Spruchquelle. … In keinem Text der Logienquelle wird aber Jesus mit der göttlichen Weisheit identifiziert. Vielmehr ist er als deren letzter, werbender und drängender Bote anzusprechen. Von solcher letztgültigen Offenbarung bis hin zur Identifizierung (Hervorhebung im Text) mit der hypostatisch vorgestellten Weisheit Gottes selbst ist es noch ein weiter Weg, der auch im Matthäusevangelium nicht beschritten worden ist. … Aber von Jesus als personifizierter oder gar inkarnierter Weisheit läßt sich hier kaum sprechen … Zusammenfassend läßt sich festhalten: Weder die alte Spruchquelle noch die synoptischen Evangelien präsentieren Jesus als Inkarnation der Weisheit im Sinne einer göttlichen Wesenheit, die vom Himmel auf die Erde kommt und wieder dorthin zurückkehrt. … Erst das Johannesevangelium wird beides, Jeusgeschichte und Präexistenzchristologie, verbinden. Von der Boten-‘Sophialogie‘ der Logienquelle führt kein direkter Weg zur hohen Christologie der Briefliteratur“ (297; 298). Dann: „Im Neuen Testament bringt sich aber nun ein ganz anderer Typ des Redens von der Weisheit Gottes zu Gehör, das just vom Kreuzestod Jesu ausgeht, nämlich die grundsätzlichen Ausführungen von Paulus zum Verhältnis von Weisheit und Kreuz (Hervorhebung im Text) in 1 Kor 1,18 – 2,16. Paulus macht hier das Kreuz Christi gerade zum Siegel und zur Signatur der göttlichen Weisheit. … Die vom Kreuz herkommende und bleibend auf das Kreuz zurückbezogene Weisheit aber orientiert sich an der österlichen Kreativität Gottes, die aus dem Nichts neues Sein erschafft (1,27f). Die am Kreuz orientierte Weisheit greift kritisch hinter die Ordnungsgestalten dieser Weltzeit zurück auf den eigenen Grund, auf die Kreativität Gottes, die aus dem Nichts ins Sein ruft“ (300). Dann: „In der Briefliteratur … hohe Christologie (Phil 2,6–11; Kol 1,15–20; Hebr 1,1–4; Joh 1,1–16: 1 Tim 3,16; ferner 1 Kor 8,6 und die Sendungsformeln Gal 4,4f; Röm 8,3; Joh 3,16f; 1 Joh 4,9“ (300; dazu in Anm. 40: „Die Sendungsformeln … setzen doch wohl die Präexistenz des Sohnes voraus, auch wenn ihre Zielrichtung primär soteriologisch ist …“). Dem zuletzt zitierten Text folgt unmittelbar dies: „Der hier entstehende Typ einer ‚hypostatischen‘ Christologie überflügelte in den ersten zwei oder drei Jahrhunderten alle anderen noch erkennbaren Christologien (etwa messianische und adoptianische Christologie, Engelchristologie). Es kann als einigermaßen sicher gelten, daß für die Ausgestaltung dieser hohen Christologie die jüdische Weisheit (Hervorhebung im Text) eine ausschlaggebende Rolle gespielt hat: Wesensaussagen 389

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und Funktionen der Sophia wurden auf Christus übertragen. … Bewegung, die nun mehr und mehr die Würdetitel von Weisheit und Tora ergreift und in Christus verortet: Präexistenz, Schöpfermittlerschaft, Geschichtswirksamkeit und Erlösungsmacht. Die Bedeutsamkeit Christi wird derart vom Auferstehungs- bzw. Erhöhungsgeschehen aus immer weiter nach rückwärts in den Ursprung aller Zeit extrapoliert. Die Herrschaft des erhöhten Christus über die Welt wird bereits für den Schöpfungsbeginn proklamiert“ (300f). Den folgenden Text möchten wir auf keinen Fall unterschreiben; er spricht Erstaunliches aus: „Im Christentum geschieht dies (d. i. im Kontext „das elementare Fragen nach dem tragenden Grund der Welt und ihren Ordnungen“, so 301) im Bannkreis der Gestalt Christi, und zwar in gottesdienstlichen Formeln, also in gänzlich unpolemischer Färbung. Für das alte Christentum war der Gottesdienst eine Quelle theologischen Erkennens! Die Ausweitung der Bedeutsamkeit Christi in universale, Zeit und Raum übergreifende Dimensionen entsprang dem Herzstück der Verkündigung jener frühen griechischsprachigen Christen, nämlich Christus als Herrn von Himmel und Erde zu bekennen und zu denken“ (302). Dazu ist zu sagen: Mit einer solchen Sicht wird die faktische Realität auf den Kopf gestellt: Das Erkannte, besser noch: das Erkennen und persönliche Betroffensein vom Erkannten (und Anerkannten!) bringt zum Singen. Nicht was und wenn es gesungen wird, läßt Erkenntnis erst gewinnen bzw. erlangen. Auch feiert der christliche Gottesdienst aus zuvor geschenktem und erfahrenem Sich-zu-erkennen-Geben und also Erkannt-Haben Gottes eben diesen Gott und sein „Werk“! Der Text geht dann so weiter: „Sie suchten die neue Erkenntnis von Christus in ein Verhältnis mit den ihnen vertrauten Formeln der Theologie zu setzen. Dabei handelt es sich um eine bedeutsame Exploration theologischen Denkens (Hervorhebung im Text) in einen Kontext hinein, der bisher von der Christusbewegung noch kaum tangiert worden war. Das ‚Ordnungsgeheimnis der Welt‘, wie es vordem in Weisheit, Gesetz und Logos vernehmbar war, spricht nun in Gestalt und Geschichte Christi. Was heißt das? Ein hervorstechendes Merkmal unserer Texte ist die Präexistenz Christi (Hervorhebung im Text); sei sie nun eigens expliziert oder nur gerade vorausgesetzt. Die Herkunft des Motivs aus den Weisheitsvorstellungen ist deutlich. … Indem die liturgischen Sprachformen Jesu kontingente Geschichte in der Ewigkeit orten, bringen sie die alle Zeiten übersteigende Treue Gottes zum Ausdruck (Hervorhebung im Text)“ (302; das diesem vehement zu widersprechen ist, haben wir schon gesagt). Nochmals sei betont, daß alle diese Erklärungsversuche den Ausdruck (Begriff ) „Präexistenz“ meinen unbedingt in ihre Überlegungen einbeziehen zu müssen. Dabei ist offenkundig geworden, daß alles Vorgebrachte und Bedachte ohne Inanspruchnahme des viel später erfundenen Ausdrucks ungeschmälert ausgesprochen werden kann und dadurch wirklich bei dem bleibt, was die Bibel selbst sagt. Das muß freilich gesagt werden! Daß auch das christliche Glaubensgut kaum vorgetragen/bekundet werden kann, ohne daß man dazu schon vorhandene Sprachen, Sprachspiele wie auch vorgebildete denkerische Sichtweisen einbezöge, ist damit keineswegs geleugnet. Aber es ist zu sehen, 390

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„Präexistenz Christi“

daß eben absolut Neues im Geschichtsgeschehen Jahwes mit seinen Geschöpfen damals geschehen ist, sich ereignete, das als dieses absolut Neue in schon vorhandenen Wörtern und Sprachgebilden, wenn vielleicht auch absolut hilflos und zunächst nur versuchsweise, ins begeisterte und bekennende, ja auch gültig verkündende Wort gebracht werden konnte und tatsächlich wurde. Die Ur-Christenheit (wenn man es sagen will) hat es bekundet, daß nicht ihr eigenes Denken, auch nicht das ihrer rechtmäßigen Vorgänger sie befähigte und beauftragte, aller Welt zu verkünden, als wen sich Jahwe ganz neu erwiesen hat und weiter erweist, sondern der Geist eben dieses JHWH. c) „Präexistenz Christi“ in Aussagen des Neuen Testaments? (i) Das Problem

In unserer Untersuchung zur Herkunft Jesu Christi müssen wir uns dieser Frage stellen, weil in den Kommentaren zu den ntl. Schriften immer wieder von einer Vielzahl von Christologien schon in der urchristlichen Kirche und ihren Glaubensbekundigungen und in den Bekenntnissen die Rede ist, die oft als in gegenseitiger Konkurrenz stehend angesehen werden. Das gilt insbesondere in Bezug auf die Bekundungen zur (sogenannten!) Jungfrauengeburt (dazu zählen Mt 1–2 und Lk 1–2) auf der einen Seite und den (sog.) Präexistenzchristologien auf der anderen Seite, die im Grunde als nicht miteinander harmonisierbar begriffen werden. Wir gehen im folgenden das Problem von Aussagen zur „Präexistenz Christi“ an, indem wir bei den letztgenannten Texten zusehen, was genau mit „Präexistenz Christi“ bezeichnet wird in den Textstellen, die ausdrücklich auch von der Herkunft Jesu Christi sprechen, und die mit den anderen Texten, zumal mit Mt 1–2 und Lk 1–2 zusammengeschaut werden (müssen). Nur in dieser Einschränkung thematisieren wir das Problem „Präexistenzchristologie“ im NT. Worum es geht, läßt sich am einfachsten und zugleich klar an zwei einschlägigen Beispielen demonstrieren. (ii) G. Schneider, Präexistenz Christi. Der Ursprung einer neutestamentlichen Vorstellung und das Problem der Auslegung.

Es ist äußerst aufschlußreich, auf welche Weise sich der Bibelwissenschaftler G. Schneider dieser Frage nähert und sie thematisch behandelt. Sein entsprechender Beitrag hat zum Titel: „Präexistenz Christi. Der Ursprung einer neutestamentlichen Vorstellung und das Problem der Auslegung“ (in: Neues Testament und Kirche. FS Schnackenburg, hrsg. von J. Gnilka, 1974). Wir zitieren die einleitenden Passagen, weil an ihnen unmittelbar deutlich wird, was zu diesem Problem prinzipiell zu sagen ist. Es heißt dort: „Die Hermeneutik der christologischen Präexistenzsätze ist, wenngleich die Präexistenz-Christologie nicht den Ausgangspunkt der christologischen 391

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Reflexion im Neuen Testament bildet, eine dringende Aufgabe. Denn diese Sätze haben das kirchliche Credo von Nikaia und damit die dogmatische Tradition entscheidend bestimmt: ‚et in unum Dominum nostrum Iesum Christum Filium Dei, natum ex Patre unigenitum …, per quem omnia facta sunt, quae in caelo et in terra, qui propter nostram salutem descendit, incarnatus est et homo factus est, et resurrexit tertia die, et ascendit in caelos, venturus iudicare vivos et mortuos‘ (Anm. dazu: Lateinische Übersetzung des Hilarius von Poitiers nach D 125; ebd. auch der griechische Text (dafür wäre anzufügen, daß beide Versionen einander nicht genau entsprechen, was beachtet sein will: R. S.)). Hier werden Geburt aus dem Vater, Schöpfungsmittlerschaft, Abstieg (κατελθόντα) und Inkarnation (σαρκωθέντα) (der griechische Text fügt noch evnanqrwph,santa hinzu, welche griechischen Ausdrücke wörtlich „eingefleischt und eingemenscht“ sagen, womit offensichtlich Joh 1,14 aufgegriffen sein soll, gleichsam durch Doppelung der Joh-Formel: R. S.), Auferstehung und Himmelfahrt (avnelqo,nta) (der Text sagt: aufgestiegen in die Himmel, was doch wohl beachtet sein sollte: R. S.) sowie das Kommen (evrco,menon) zur Parusie auf eine Linie gebracht. Der geschichtliche Bogen wird nicht nur bis zur künftigen Parusie hin ausgezogen, sondern auch bis zur ewigen Geburt (von „ewig“ spricht das Credo nicht: R. S.) aus dem Vater ausgespannt. Die prägende Kraft solcher Aussagen für Lehrtradition und Glaubensbewußtsein liegt auf der Hand. Doch wird man sagen dürfen, daß eine Neuinterpretation von der Schrift her notwendig ist. Im Neuen Testament, das an keiner Stelle christologische Einzelaussagen in der genannten Weise homogen anordnet und zusammenfaßt, stehen sogar einige dieser Christologumena in Konkurrenz miteinander“ (399; dazu in Anm. 2: „Siehe indessen das Symbolum Konstantinopel D 150, das bei der Geburt aus dem Vater die Worte pro. pa,ntwn tw/n aivw,nwn anfügt und somit das ‚Vor‘ auf die Aeonen bezieht. In Nikaia war also die Prä-Existenz noch nicht explizit in das Symbolum aufgenommen, wohl hingegen die Schöpfungsmittlerschaft (div ou= ta. pa,nta evge,neto, D 125). Die Inkarnation wird in dem späterem Symbolum durch die Zusatz evk Pneu,matoj Agi, ` ou kai. Mari,aj Parqe,nou interpretiert. Dazu die Anm. 3: „Die geistgewirkte Empfängnis und Geburt Jesu (das steht da auch nicht! R. S.) wird nicht mit der Präexistenz zusammengebracht. Der Hymnus Phil 2,6–11 nennt wohl Kenose und Erhöhung, nicht aber die Auferweckung. Die Erhöhungschristologie setzt nicht die himmlische Präexistenz und den Abstieg zur Erde voraus“. Wir bemerken, wie schon hier in den einleitenden Sätzen zur Präexistenzfrage Problematisches vorweg eingestuft wird. Dann heißt es zu Beginn des zweiten Absatzes: „P. Althaus hat die Problematik der Präexistenz-Vorstellung für die Dogmatik benannt: ‚Da die P(räexistenz) eine in der vor- und außerchristlichen Religionswelt verbreitete Aussage ist, muß gefragt werden, ob und inwiefern der Gehalt des Glaubens an Jesus zur Aufnahme des P(räexistenz)-Gedankens führt und ob er ein angemessener und verbindlicher Ausdruck ist oder ein zeitgebundener, für uns überholter 3 mythologischer Satz‘ (Anm.: Wilckens, U. – Althaus, P.: Präexistenz Christi, in: RGG V Sp. 471–473). Die Frage der Verbindlichkeit steht und fällt nun keineswegs mit der 392

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„Präexistenz Christi“

nichtgegebenen beziehungsweise belegten Übernahme von Vorstellungen, die nicht originär christlich sind. Die rechte Auslegung hängt vor allem davon ab, welche Ansätze zu der ausdrücklichen christologischen Präexistenz-Aussage führten. In diesem Sinne kennzeichnet P. Schoonenberg die Aufgabe: ‚Wir müssen … das theologische und lehramtliche Wort vom Sohn als göttlich transzendenter und präexistenter Person in jenen Zusammenhang zurückversetzen, in dem es ursprünglich stand, und entsprechend dem interpretieren, was es in jenem Zusammenhang sagen wollte‘. Es muß indessen gefragt werden, ob die neutestamentlichen Aussagen über die Präexistenz Christi völlig gleichen Sinn und gleichartige Voraussetzungen haben“ (400). Wir können uns mit vielem identifizieren, was hier zur Problemstellung vorgebracht ist. Wir fragen freilich im folgenden in umgekehrter Frageweise: Welche Aussagen des NT sprechen selbst von dem, was zu Recht schon seitens der erstzuständigen Exegeten mit „Präexistenz Christi“ angegeben wird. Ähnliches ist zum zweiten Beispiel zu bemerken. (iii) J. Habermann, Präexistenzaussagen im Neuen Testament.

In seinem Buch „Präexistenzaussagen im Neuen Testament“ (Europäische Hochschulschriften Reihe XXIII Theologie, Bd./Vol. 362, 1990) schreibt Jürgen Habermann zur „Einführung“ dies: „Die folgende Untersuchung trägt den Titel ‚Präexistenzaussagen im Neuen Testament‘. Der bestimmte Artikel ‚die‘ wird dabei bewußt vermieden, da die Arbeit nicht den Anspruch erhebt, alle Präexistenzaussagen des Neuen Testaments zu behandeln. … wir teilen nicht die Ansicht, daß es im Neuen Testament so viele Aussagen dieser Art gibt … Es werden die Texte Phil 2,6–11, 1 Kor 8,6, 1 Kor 10,1–13, Kol 1,15–20, Hebr 1,1–4 und Joh 1,1–18 untersucht und ferner ein Blick auf den gesamten Hebräerbrief geworfen. Diese Texte scheinen uns am sichersten Aussagen über die Präexistenz Christi zu machen. Andere Texte wie 1 Tim 3,16 oder 1 Kor 1 und 2 klammern wir bewußt aus, da die Präexistenz dort, wenn überhaupt, nur implizit vorhanden ist. Nicht behandelt werden auch die sog. Sendungsformeln (Gal 4,4; Röm 8,3; Joh 3,16f; 1 Joh 4,9f). Diese fordern eine eigene Untersuchung. Phil 2,6–11, 1 Kor 8,6, 1 Kor 10,1–13, Kol 1,15–20, Hebr 1,4 und Joh 1,1–18 sind Stücke, die schon ganz oder z. T. vor der Abfassung der Schrift existierten, in der sie jetzt zu finden sind. Das bringt die Notwendigkeit mit sich, daß wir versuchen, die früheste Fassung herauszuarbeiten, und daß wir davon die Bearbeitung und/oder Integration durch den Verfasser des jeweiligen Briefes oder Evangeliums unterscheiden. – Ein besonderes Ziel ist ferner der Vergleich der behandelten Texte, besonders der Präexistenzaussagen. Es ist zu prüfen, ob diese Texte unterschiedliche Ansätze der Präexistenzchristologie bieten. Dabei ist vor allem die Thematik der Schöpfungsmittlerschaft von Gewicht. Auch dazu werden die Texte verglichen. Bei den zu behandelnden Texten wird eine Konzentration auf die Teile bzw. Aspekte angestrebt, die für die Thematik der Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft in Frage kommen. Daher treten andere Teile der zu exegetisierenden Texte in den Hintergrund. Zuletzt sei darauf hingewiesen, daß 393

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wir keine bestimmte und damit einengende Definition von ‚Präexistenz‘ zur Voraussetzung machen. Wir gehen bei der Verwendung des Begriffs lediglich von einem Sein vor dem irdischen Dasein aus, ohne damit sofort ein Sein vor der Schöpfung und/oder in der Ewigkeit zu verbinden“ (19f). Dieses zu „Einführung“ Ausgesprochene macht deutlich, daß der Autor zwar genaue Rechenschaft über Ziel und Weise seiner Arbeit angibt, jedoch erklärtermaßen mit einem festgelegten, wenngleich sehr offenen Verständnis von „Präexistenz“ an die ntl. Texte herantritt und zuvor bestimmt, was er finden möchte (und evtl. nicht). Schon zuvor weiß er, welche Texte „am sichersten Aussagen über die Präexistenz Christi machen“, wobei offensichtlich zu Beginn schon feststeht, daß diese und was sie zu diesem „Begriff “ (!) „Präexistenz Christi (!)“ Entscheidendes sagen. Das ist es, was uns veranlaßt, zuerst nachzuschauen, was das NT selbst sagt und wie es gesagt und kommentiert wird, und dadurch ein Ausdruck wie „Präexistenz“ vom Text selbst her eingefordert ist oder auch nicht. Es seien einige Beispiele für die Art von Vorweg-Festlegungen des Aussage-Gehaltes des Ausdrucks/ Begriffs „Präexistenz“ im Text der genannten Arbeit J. Habermanns aufgeführt, die er selbst bringt bzw. aus von ihm besprochenen Werken angibt (nicht immer, um sich mit ihnen zu identifizieren). Neben der schon zitierten „Definition“ (S. 20) heißt es S. 21: „… es ist verfehlt, wie das Dictionnaire de Theologie Catholique (E. Amann, Art. Préexistence, DThC XIII/1, Paris 1936, S. 1) die Präexistenz Christi so definiert: ‚On parle de la préexistence du Christ, en ce sens que le Verbe de Dieu, existant de toute éternité, a assumé, au moment de l’incarnation une nature humaine, à laquelle il s’est uni hypostatiquement. Cette nature humaine ne préexistait pas; mais en vertu de la communication des idiomes, an peut dire du Christ-Jésus, qu’il préexistait‘. Es geht vielmehr darum, ausschließlich den Texten zu folgen und nur mit Begriffen zu operieren, die hier benutzt werden“ (21f; daß sich H. selbst dann doch nicht streng daran hält, sei gemerkt). Zu Schenkel wird dies gesagt: „Sein Buch verdient Beachtung, da er erst spät im Neuen Testament die Präexistenz feststellen zu können glaubt. Es bleibt zwar bei seiner Darstellung eine gewisse Unsicherheit zurück, da er nicht klar definiert, was er unter Präexistenz versteht, d. h. ob er damit eine persönliche vorweltliche Seinsweise oder ein Sein als geistiges Prinzip meint, dennoch darf man auf dem Hintergrund seiner gesamten Ausführungen für ihn Präexistenz mit realer, persönlicher, vorweltlicher Seinsweise gleichsetzen. Schenkel scheint weiter die ideelle Präexistenz mit der Prädestination zu identifizieren“ (33). Von Harnack bringt er diese Auffassung: „Neben der jüdischen kennt Harnack als zweite eine ‚hellenistischphilosophische‘ Präexistenzvorstellung, die im Gegensatz zu jener eine Independenz vom Gedanken Gottes aufweise … Obwohl beide Konzeptionen ‚toto coelo‘ verschieden sind, gibt es doch s. E. neben formellen Gemeinsamkeiten im Judentum eine Gestalt der Präexistenzvorstellung, die den Weg zu der griechischen bahnt und eine spätere Verschmelzung ermöglicht. Es handelt sich um den Urbild-Abbild-Gedanken, der ursprünglich nicht zur Präexistenzvorstellung gehört; er führe … zur Personalisierung der Präexistenz und zur Abwertung des Abbildes … ‚Spekulationen‘ über 394

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II.

„Präexistenz Christi“

Inkarnation, Assumptio carnis und dergleichen seien damit aber noch nicht verbunden. Die Präexistenz erstrecke sich nun nur noch auf den pneumatischen Teil (!) Jesu und deminuiere die Souveränität Gottes“ (37). Zu Hengel meint er u. a.: „(es) ist auch fraglich, ob sich wirklich zwei Stufen der Präexistenzchristologie in der frühen Zeit finden lassen. Es sind u. E. doch Zweifel berechtigt, ob das Christentum nach der Einführung der Präexistenz erst in einem zweiten Anlauf die Schöpfungsmittlerschaft und Heilsmittlerschaft für Jesus behauptete“ (68). Diese Beispiele geben hinreichend Auskunft darüber, mit welchen Vorverständnissen und Vor-Überzeugungen an die Besprechung der als einschlägig erklärten NT-Texte herangetreten wird. Daß man die Texte zunächst wirklich einmal selbst sprechen läßt und zunächst ihnen allein zuhört, scheint nicht in den Sinn zu kommen. Wir betrachten im folgenden jene ntl. Texte, die zur Herkunft Jesu Christi auf ihre Weise Wichtiges sagen, und die zugleich für „Präexistenz Christi“ in Anspruch genommen werden; die weiter dafür genannten Texte brauchen wir hier nicht zu beachten. d) „Präexistenz Christi“ in Gal 4,4f?

In seinem Kommentar des Gal-Briefes setzt H. Schlier zu Gal 4,4f „Präexistenz“ in einer betonten und recht eigenartigen Weise ein, obwohl dieser Ausdruck selbst dort wie überhaupt bei Paulus nie vorkommt noch vom Text her suggeriert erscheint. Es ist bezeichnend, wie der Kommentator von „Präexistenz“ spricht und welche Folgerungen er daraus zieht. Er schreibt: „Die Erscheinung Jesu Christi beruht auf dem Akte der göttlichen Entsendung. Das evxape,steilen setzt als Ausgangspunkt natürlich die Gegenwart Gottes voraus. In solchem Zusammenhang verweist die Bezeichnung als ui`o.j auvtou/ auf die ‚Präexistenz‘ des göttlichen Gesandten hin, d. h. auf das immer schon ihm eignende göttliche Sein, vgl. Röm 1,3f 8,3.29.32; 1 Kor 8,6; Phil 2,6ff; Kol 1,13ff. Der Eintritt des Endtermins der Welt, die Beendigung der Zeit, offenbart sich in der Entsendung des Sohnes Gottes als des ewigen göttlichen Grundes, Mittels und Zieles des Daseins (1 Kor 8,6;Kol 1,13ff ). Die Erscheinung Christi Jesu in diesem Äon beruht auf dem Akte der Entsendung, sie besteht in der Menschwerdung“ (196). Es ist erstaunlich, was aus dem schlichten Satz „Gott sandte seinen Sohn“ herausgehoben, besser: hineingelegt wird. Was soll mit dem schwerfälligen Satz „die Erscheinung (?) Jesu Christi beruht (!) auf dem Akt (!) der göttlichen Entsendung“ eigentlich gesagt werden? Aus „Gott sandte seinen Sohn“ wird „göttliche Entsendung“, die als „Akt“ bezeichnet wird, auf dem diese Entsendung „beruht“, die selbst „in der Menschwerdung besteht“! Das ui`o.j auvtou/ (d. i. qeou/) wird eine „Bezeichnung“ genannt, die auf „die ‚Präexistenz‘ (warum in Anführungstriche geschrieben?) des göttlichen Gesandten (!) verweist (!)“. Es wird dann genauer angegeben, was, jedenfalls für Schlier hier, mit „Präexistenz“ angesagt sein soll: „d. h. das immer schon (?) ihm eignende (?) göttliche Sein (!)“. Paulus spricht von „seinem, d. i. Gottes Sohn“. Von einem „göttlichen Sein“ ist keine Rede; es wird aus „Sohn“ gefolgert. Am ehesten könnte man 395

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„Gottes Sohnsein“ sagen; aber was wäre damit, gar besser und klarer als „seinen Sohn“ ausgesagt? Was soll das „immer schon“ zusätzlich rechtens eigentlich aussagen; wofür steht diese Auskunft? Paulus spricht von der „Fülle der Zeit“, womit im Kontext eindeutig auf den vom Vater festgesetzten Zeitpunkt des Erbantritts dessen die Rede ist, den der Vater festgelegt hatte (es ist ja ein Vergleich mit dem Geschehen eines Erbschaftsvorganges, den Paulus bringt!). Es bleibt zu fragen, was hier, in Gal 4, mit dem „Prä-“ in „Prä-existenz“ überhaupt angesprochen sein soll. Daß im Geschehen eines Sendens und entsprechend des Gesandtwerdens/seins die Existenz, das Da- und Zugegensein beider vorliegt, ist so selbstverständlich, daß kein vernünftiger Mensch das ausdrücklich ausgesagt verlangt. Das „Prä-“ kann aber sinnvoll auch nicht das „immer schon“ (so Schlier im Text) ansagen. Denn „Prä“, „vor“ oder „zuvor“ verlangt ein mit-genanntes Bezugsobjekt zeitlicher, sachlicher oder logischer Art. Was sollte das hier sein? Weil im Kontext des Kommentars „Präexistenz“ auf den dort so genannten „göttlichen Gesandten“ hinweist, dazu in Anführungszeichen gesetzt ist, kann es von einem „Vor-Existierenden“ oder „Vorher-Existierenden“ sprechen sollen, wobei jedoch ganz offen bleibt, auf wen oder was sich das hier beziehen soll. Auch die eigenartige Bemerkung zu Anfang des Zitierten („das evxape,steilen setzt als Ausgangspunkt (!) natürlich (!) die Gegenwart Gottes voraus“) gibt keine Antwort. Denn was meint da „Gegenwart“, Existenz, Zugegensein, Anwesenheit, Präsenz? Muß das betont gesagt werden, wenn von jemandem ein „Tun“ wie Senden, Ansprechen u. a. festgestellt wird? Wenn das hier von besonderer Bedeutung wäre, müßte es doch mitangesagt werden. Auch der Akt des Sendens als dieses gibt keinen Anlaß, ausdrücklich von Existenz oder gar Präexistenz zu sprechen in Bezug zu dem, der gesandt wird. Es fällt dieses Eigenartige auf, daß nur im Blick auf Jesus Christus diese Wendung „Präexistenz“ in ntl. Texten seitens der Kommentatoren eingesetzt wird. Es müßte ja z. B sogleich in der Auslegung von Gal 4,6 dasselbe geschehen, zumal dort sogar dieselbe Formel benutzt erscheint: evxape,steilen o` qeo.j to. pneu/ma tou/ ui`ou/ auvtou/ eivj ta.j kardi,aj h`mw/n – Gott sandte den Geist seiner Sohnes in eure Herzen. Dort wird, obwohl dieser „Geist seines „Sohnes“ doch der „Geist Gottes“ selbst ist, nicht auf so etwas wie „Präexistenz“ geschlossen oder diese auch nicht als mit-zu-vermuten behauptet. Ein Grund dafür, daß ausdrücklich und nur in Bezug auf Jesus Christus, der hier als Sohn Gottes genannt wird, von Präexistenz im Zusammenhang mit seinem Gesandtwerden/sein gesprochen wird, läßt sich schlechterdings nicht finden. Hier ist auch noch zu bemerken, daß die von Schlier zu 4,4 aufgeführten Stellen (s. o.) mit Gal 4,4f in dieser Hinsicht überhaupt nicht vergleichbar sind. Sie sprechen zwar alle irgendwie vom „Sohn Gottes“ (in Röm 8,3 auch vom Senden des Sohnes), doch daß sie auf so etwas wie „Präexistenz“ dieses Sohnes, eben Jesus Christus, hin zu lesen wären, ist nicht erkennbar. Daher ist jetzt ausdrücklich zu fragen, was mit „Präexistenz“ in Gal 4,4f eigentlich herausgehoben wird. Die Auskunft, die Schlier selbst gibt („ ‚Präexistenz‘, d. h. das ihm schon immer eignende göttliche Sein“, s. o.), läßt die Antwort offen. Wenn die Formel „göttliches Sein“ in Bezug auf den „Sohn“ und damit 396

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II.

„Präexistenz Christi“

doch wohl auch auf „Gott“ selbst (von dessen Sohn her er hier ja als Vater dieses Sohnes mit-genannt zu gelten hat) ausgesagt wird, und wenn damit das Vater- und Sohnes-Verhältnis beider als „immer schon existierend“ angesagt und reflektiert sein soll, dann bliebe der Einsatz des Ausdrucks „Präexistenz“ immer noch ungeklärt und unverständlich. Wenn hier in Gal 4,4f von einem „innergöttlichen“ Seinsverhältnis gesprochen werden sollte, dann würde man sich theologiegeschichtlich schon ins 2. Jahrhundert n. Chr. und später begeben, was allerdings für die Exegese von Gal 4,4f selbst unangebracht ist. – Auch die Kommentaraussagen im Umfeld dieses „Präexistenz“-Satzes geben keine Auskunft, was genau mit dieser Bemerkung gesagt sein soll. Es heißt ja dort: „Der Eintritt des Endtermins der Welt (!), die Beendigung (!) der Zeit (Paulus spricht vom Termin des Erbantritts) offenbart sich (!) in der Entsendung des Sohnes Gottes als des ewigen Grundes, Mittels und Zieles des Daseins (1 Kor 8,6; Kol 1,13ff; was meint hier „Dasein“?). Die Endzeit ist die Zeit, in der das göttliche ‚Prinzip‘ unseres Daseins (?), Jesus Christus, in dieses Dasein (?) eingebrochen (!) ist“ (196; zuvor schon 195). Da stellt sich die Frage, was damit angesprochen sein soll, das Existieren der Menschen und ihre Geschichte? Kann darin „eingebrochen“ werden? Warum werden in diesen Kontext 4,4f plötzlich Kategorien wie „Sohn Gottes als ewiger (!) Grund, Mittel und Ziel des Daseins“ oder „göttliches ‚Prinzip‘ (Anführungsstriche!) unseres Daseins“ überhaupt eingeführt, die im GalKontext gar nicht vorgegeben und auch nicht gefordert sind? Der Kommentar sagt weiter: „Die Erscheinung (!) Christi Jesu in diesem Äon (wieder ein neuer Terminus!) beruht (!) auf dem Akte der Entsendung (!), sie besteht (!) in der Menschwerdung (von der im Kontext überhaupt nicht gesprochen wird). Der Sohn ist gesandt als der in die Natur des Menschen (was ist hier „Natur des Menschen“), die durch die Frau bestimmt wird (?), Hineingegebene, als der ‚aus der Frau Gewordene‘. gi,nesqai evk meint die Herkunft (!) des gesandten (Hervorhebung Schlier) Sohnes vom Weibe, zielt also (!) … auf die menschliche Geburt dieses göttlichen Gesandten (warum nicht einfach „des Sohnes Gottes“ wie Gal 4,4?). Es betont (!) die wahre Menschheit des Sohnes (wo liest der Kommentator das im Text?). Zu seiner Menschheit gehört (!) nicht nur seine Natur, sondern auch seine Geschichte. Die Geschichtlichkeit (was ist hier damit gemeint?) seiner Erscheinung (!) hebt auch der zweite Zusatz hervor … Jenes völlige (!) Hineingegebensein des Sohns in den Kosmos (wieder eine neue Kategorie; immer noch für 4,4f!), jenes durch Geburt und Leben sich (!) vollziehende Eingehen in die konkrete Wirklichkeit des Menschen (was ist das? Gibt es auch eine abstrakte oder ideelle menschliche Wirklichkeit?) hatte das Ziel, die zu befreien, die unter dem Gesetz standen“ (196). Alle diese hier abrupt eingesetzten Kategorien haben etwas zum Inhalt, von dem der Gal-Text selbst gar nicht spricht. Mit allen diesen Wendungen und angefügten Erklärungen soll irgendwie der Gebrauch von „Präexistenz“ gerechtfertigt werden. Wir könnten hier eigentlich die Überlegungen zur Kommentar-Aussage Schliers abschließen und zur Kenntnis nehmen, daß dort offensichtlich von außen her eine Zwischen-Überlegung mit „Präexistenz“ eingeschaltet 397

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Unbiblische und sach-fremde Wörter/Begriffe in Anwendung auf die ntl. Texte

worden ist, die auch nur hier und im ganzen sonstigen Kommentartext überhaupt nicht mehr berücksichtigt wird, und die folglich auch der Leser des Kommentars schlicht überlesen und vergessen kann. Doch sei noch auf einige Aussagen des Kommentars hingewiesen, die irgendwie erkennen lassen könnten, was trotz allen Dunkelbleibens mit „Präexistenz“ genauer angesprochen sein sollte, wenn vielleicht auch nur andeutungsweise. Zu 4,4 heißt es bald nach der schon zitierten Stelle: „Jenes völlig Hingegebensein des Sohnes in den Kosmos, jenes durch Geburt und Leben sich vollziehende (!) Eingehen in die konkrete (was ist damit angesprochen?) Wirklichkeit des Menschen hatte das Ziel, diejenigen zu befreien, die unter dem Gesetz standen. … Die Sendung des Sohnes hat also (!) als der eschatologische Akt (!) Gottes die Knechtschaft der Menschen unter das Gesetz der elementaren Kräfte (!) der Welt (!) beendet und die Annahme an Sohnes Statt gebracht. Mit diesem neuen Stand der Söhne Gottes ist freilich die Gabe Gottes nicht erschöpft. Sondern sie ist die Vorbedingung (!) und die Ursache (!) dafür, daß Gott nun auch noch den Geist ins Herz (Hervorhebung im Text) gibt, der ja das verheißene Gut und der Segen Abrahams ist, V. 6. Die Sohnschaft, die mit der Sendung seines Sohnes objektive (!) Tatsache (!) wurde, hat Gott bewogen (!), auch den Geist seines Sohnes in unsere Herzen zu senden (!). Gott schenkt uns also nicht nur den Stand (!) der Söhne, sondern auch die Art (!) und das Wissen (!) der Söhne … Nicht umsonst ist hier zweimal evxape,steilen gesetzt. Gott begnügt (!) sich nicht mit einer Tat, Gott sandte seinen Sohn … Es ist nicht beim objektiven. Sohnsein (!) geblieben (!), sondern es ist auch zur subjektiven (!) Erfahrung und Äußerung des Sohnseins gekommen. Es ist zur vollen Verwirklichung (!) des Sohnseins gekommen, nachdem (!) und weil (!) das Kommen des Sohnes das Sohn-Sein als solches (!) gebracht hatte (!)“ (196; 197; 198; das wird dort noch weiter entfaltet bis 200). Dem sind auch noch diese Sätze anzuschließen: „Paulus kennt also im Blick auf den einzelnen Christen einen doppelten Sinn der Feststellung, daß er Sohn Gottes ist. Hinsichtlich ihres Seins (!) sind die Getauften Söhne Gottes als (!) Getaufte. Hinsichtlich ihres Wandels (!) aber, also (!) ‚existentiell‘, sind die Getauften Söhne Gottes erst dann (!), wenn sie sich dem Zeugnis und der Führung des in ihre Herzen eingefallenen (!) Geistes überlassen … Das eine Mal blickt er auf das esse, das zweite Mal auf das existere der Söhne Gottes“ (200). Hier fällt die ausdrückliche Unterscheidung von esse und existere auf, die sonst nie zur Sprache kommt, auch nicht im Gal-Brief. Es wäre von entscheidendem Interesse, ob Schlier meint, diese Unterscheidung auch auf „Präexistenz“ anwenden zu sollen und somit das „Prä-“ auch und gerade auf das „existere“ des Gottessohnes, also auf dessen „Wandel“ im Unterschied zu seinem bloßen „esse“ zu verstehen. Das soll hier nicht entschieden werden. Doch ist die Frage unabwendbar, was nun genau mit „Präexistenz“ in Gal 4,4f ausgesagt sein soll. Kurz: „Präexistenz“ ist eine viel später gebildete theologische Kategorie (über deren Berechtigung wir hier nicht zu diskutieren haben), die für die theologische Ausfaltung auch biblischer Aussagen eingesetzt worden ist. Diese Kategorie jedoch zur ersten exegetischen 398

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II.

„Präexistenz Christi“

Auslegung des biblischen Textes selbst einzusetzen, erweist sich erwiesenermaßen als äußerst prekär, ja als unangebracht.11 e) „Präexistenz Christi“ in Phil 2,6–11?

Der Text Phil 2,6–11 gilt bekanntlich als ein Hauptbeispiel für das Vorkommen des „Präexistenz“-Gedankens im NT. Wir betrachten diesen Text zunächst unter der 11

Pohl schreibt in seinem Gal-Kommentar der Wuppertaler Studienbibel seine Auslegung von Gal 4,4f auf ganz eigene Weise, gerade auch was den Stil seiner Rede angeht. Zugleich fällt die große religiöse Nüchternheit des Aussprechens dessen auf, was er, durchaus text-kommentierend, vorbringt. Wir zitieren hier nur die für unsere Untersuchung wichtigen Passagen, die genügend zu denken hergeben, indem sie den Gal-Text selbst beim Wort nehmen. Zu Gal 4,4ff: „In diesen Versen behandelt Paulus den ‚Termin des Vaters‘ und den Umschwung von der vorchristlichen Existenz als ‚Unmündige‘ zur christlichen Existenz als ‚Erwachsene‘ (V. 1–2). Dabei werden wir stark an die Auswertung des Bildes vom ‚Aufpassersklaven‘ in 3,25–28 erinnert. Während dort allerdings der Aspekt des Glaubens herrschte, geht der Blick hier auf das erlösende Handeln des trinitarischen Gottes zu Weihnachten (V. 4), Karfreitig (V. 5) und (Ostern und) Pfingsten (V. 6). Diese gewaltigen Inhalte sprengen allerdings das kleine Gleichnis aus dem Vormundschaftsrecht. Wir versuchen nicht, dies Zug um Zug aufs Bild zurückzuführen, denn auch Paulus ist nicht Gefangener seiner Bilder. Paulus beginnt die Erlösung zu bekunden, indem er sie in ihren universalen Rahmen stellt. Als aber die Fülle der Zeit kam. Die Zeit gleicht einem Gefäß, in das Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre hineintropfen … Der Augenblick, in dem das Gefäß voll ist, ist die Fülle der Zeit, in diesem Fall der ‚Termin‘ des Vaters von V. 2 … Doch eine quantitative Zeitauffassung erfaßt an dieser Stelle nicht den Vollsinn. Paulus registriert hier überhaupt nicht die irdische Entwicklung und Abschnitte, sondern beachtet nur Gott. Nicht die Zeit setzte Gott in Bewegung, sondern Gott setzte die Zeit in Bewegung … Zeit kann durch gottgewirkten Inhalt ungeheuer verdichten, unvergeßlich werden und darum für immer erzählenswert bleiben, während sonst ganze Jahrzehnte verblassen … Dann aber kam diese Zeit ohnegleichen, allerhöchstens vergleichbar mit dem ‚Anfang‘ in 1Mo 1,1. Gott schuf … Er nahm sich Zeit für die Welt und schritt erlösend ein. … Da sandte Gott seinen Sohn. Gott der Schöpfer sandte schon so manches. Er sandte jedes Jahr Sonnenschein und Regen … Er sandte auch immer wieder besondere Menschen … Gott hat die Welt eben nicht nur erschaffen und dann sich selbst überlassen, sondern er mischte sich laufend ein, um sie zu erhalten … Nun aber die einmalige, völlig aus dem Rahmen fallende Sendung seines Sohnes. Es gibt dafür keine bessere Deutung als die durch das Gleichnis von den bösen Weingärtnern, Mk 1,21–10. … Es war so, als ob er sagte: Jetzt gehe ich selbst. Jesus von Nazareth ist der GottSelbst (vgl. Mt 1,23). Nur so erklären sich die Evangeliengeschichten: Die Menschen begegneten Jesus und prallten auf Gott. Paulus sagt 2 Kor 5,19 … ‚Gott war in Christus‘. Ein Gesandter hat die Botschaft seines Herrn zu überbringen. So kündete Jesus den Willen Gottes in Wort und Tat. Aber seine Aufgabe ging noch darüber hinaus, und darauf liegt der Ton: Er kam auch deswegen zu den Menschen, um einer von ihnen zu werden. Er, der als der Gott-Selbst auf die Seite des Schöpfers gehörte, wurde zugleich ein Geschöpf. Das wird hier zweifach ausgedrückt. Zunächst: Geboren von einer Frau. … Es geht um die durchaus menschengleiche Geburt des ewigen Sohnes. Schon darum kommt die menschenungleiche Zeugung von Mt und Lk nicht zur Sprache. Wiederum gibt es keinen Menschen abstrakt, ohne Volkszugehörigkeit. So wurde Jesus Jude, am achten Tag beschnitten, mit sieben Jahren in die Knabenschule der Synagoge gebracht usw., also geboren unter das Gesetz …“ (170–172). Wir bemerken, daß auch in diesem Kommentar-Text das Wort/Begriff „Pärexistenz“ nicht eingesetzt, demgegenüber von Gott und seinem Sohn gesprochen wird, von dem Gott-Selbst in der Sprache der Bibel. Dem ist sicher zu folgen.

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Unbiblische und sach-fremde Wörter/Begriffe in Anwendung auf die ntl. Texte

Führung des Kommentars von J. Gnilka, da er ausführlich Stellung bezieht und sogar einen eigenen Abschnitt „Der Präexistenzgedanke“ in seinem Exkurs „Das vorpaulinische Christuslied“ bringt. Auf weitere Kommentare kommen wir je nach Wichtigkeit nachher zu sprechen. Gnilka setzt in seinem Kommentar zu 2,6–11 den Ausdruck „Präexistenz“ bzw. „der Präexistente“ sehr oft ein. Wir zitieren die entscheidenden Aussagen und fügen, wo es sinnvoll erscheint, Bemerkungen hinzu. Gnilka nennt 2,6–11 „Das Christuslied“. Das schon zeigt die Gefahr an, diesen Text spezifisch auf „Christus“ hin zu betrachten, ohne nähere Erklärung dazu. Tatsächlich ist mit dem „der“ zu Anfang von 2,6 offenkundig „Jesus Christus“ benannt. Dieser volle Name wie auch „Jesus“ oder „Christus“ wird im Phil-Brief stets mit gleicher (voller) Bedeutung verwandt, nicht irgendwie unterscheidend oder spezifizierend. Er meint folglich keineswegs ein jeweils besonderes (Teil)“Element“ dessen, was er in ganzer Fülle ist. Mit „Christus“ allein könnte ja näherhin das Messias-Sein (Amt) Jesu bezeichnet sein, wie nicht selten in ntl. Textstellen. Für das rechte Verständnis von 2,6–11 ist es jedoch unabdingbar, „Jesus Christus“ im Vollsinn seines Namens zu sehen und also z. B. in 2,6 nicht auf den „ewigen Sohn“ oder den „Logos“ bzw. auf den sog. „irdischen Jesus“ einzuschränken. Das sei unbedingt beachtet, wenn wir jetzt die einschlägigen Sätze in den Blick nehmen. Gnilka verunklart sogleich zu Anfang die Hymnus-Aussage, und zwar durch das simplifizierende „Christus“ wie auch durch die Aufteilung des einen Textes unter „Die Erniedrigung“ (6–8) und „Die Erhöhung“ (9–11). Er wählt nur ein deutlich Gesagtes jeweils heraus, wobei zudem das Erstgenannte Jesus Christus zum Subjekt hat, das Zweitgenannte aber Gott. Das wird durch „-ung“-Bildung überspielt. (Wir machen im Folgenden durch (!) auf Bedenkliches aufmerksam.) Zu 2,6 heißt es: „Mit formelhaftem relativischen o]j beginnt der erste Satz, der den Ausgangspunkt (!) nennt. Es besteht kein Zweifel, daß die Beschreibung (!) Christus und nicht irgendeinem anderen gilt. Das gilt auch für das Lied an sich. Sein Inhalt macht es klar. Der Ausgangspunkt (!) ist Gott. Man sollte hier nicht zu lange verweilen, weil das Interesse (!) des Liedes nicht auf eine Definition des Seins Christi in der Welt Gottes (?) gerichtet oder konzentriert ist, sondern auf das von dorther (!) in Gang kommende Geschehen. Dennoch muß die reichlich unklare (!) Feststellung, daß er evn morfh/| qeou/ sich befand (!), möglichst präzise erfaßt werden, weil davon der richtige oder falsche Gang (?) der Interpretation weitgehend (!) abhängt“ (112). Zu morfh, qeou/ in 2,6 wird dann u. a. dies gesagt: „Das himmlische Sein (?) Christi ist eben darin in einzigartiger Weise ausgezeichnet (!)), daß es nicht bloß durch Gott, sondern durch die morfh, qeou/ bestimmt und geprägt (!) ist. Das kann dann aber nicht die Gestalt und auch nicht die Stellung oder der Status sein, es ist die das Sein von seinem Wesen her (!) prägende Daseinsweise (?), ein Begriff (!), der an Natur herankommt (!), sich jedoch nicht mit ihm deckt (?). Jedoch muß man, um Mißverständnisse auszuschließen (wer will hier mißverstehen?), gegenüber dogmatischen Interessen mit aller Deutlichkeit sagen, daß hier nicht ein Spekulieren über die Naturen Christi vorliegt (gegen wen ist das gerichtet; und warum?). Es sind die ersten Anfänge eines 400

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II.

„Präexistenz Christi“

Nachsinnens (?: es ist ein singender Hymnus!) über das präexistente Sein Christi (woher hier diese Formel?), aber es ist viel mehr an dem vom Präexistenten (Name?) herkommenden Heilsgeschehen (wo steht hier etwas davon?) als an diesem selbst orientiert (?)“ (114). Es ist ärgerniserregend, wie hier ein Exeget, der selbst Wörter und Begriffe einträgt, die nichts Biblisches sagen noch biblisch begründet sind („Präexistenter“, „Natur“, „Wesen“ u. a.), über sog. „dogmatische Interessen“ ein (Vor)Urteil fällt, ohne jede Erklärung, woher er seine eigenen Wörter und Wendungen herholt. Das gilt z. B. für „himmlisches Sein Christi“: Wo, in welcher Textstelle (von der Verkürzung des Namens zunächst abgesehen) steht dafür ein entsprechender Ausdruck, der rechtens so wiedergegeben werden kann? Was soll eine Formulierung wie „bestimmt und geprägt von der morfh, qeou/“ überhaupt aussagen? Das alles holt Gnilka irgendwoher, und sicher nicht aus der Bibel. Dasselbe gilt für „die das Sein von seinem Wesen her prägende Daseinsweise“ wie für „das präexistente Sein Christi“. Im Kommentar-Text geht es dann so weiter: „Eine Reihe von Exegeten möchte jetzt noch länger im Betrachten (!) des Präexistenten (!) verharren und in ouvc a`rpagmo.n h`gh,sato ktl. einen inneren Kampf … des himmlischen Christus (!) angedeutet sehen. Diese Erklärung ist verbunden mit der alten Streitfrage, ob a`rpagmo,j eine Sache betrifft, die schon im Besitz des Präexistenten (Name! für Christus!) ist, oder als erst zu erlangende Beute … was die morfh,, in der der Präexistente sich bereits befindet (!), noch übertrifft“ (115). Eine Diskussion dieser Aussagen erübrigt sich nach dem bisher Gesagten. Wir zitieren noch folgende Stellen als Beispiele des Sprechens, dessen Unbegründet- und Ungerechtfertigtsein wir schon herausgestellt haben. Noch zu 2,6: „… Daß Christus sich ganz von Gott bestimmen läßt …, der nie darauf aus war, in die Reservatrechte Gottes (!), wie sie sich aus dessen Vaterschaft ergeben (!), einzugreifen. Neu hier, daß direkt vom Präexistenten ausgesprochen werde, was sich aus anderen Stellen nur erschließen ließe“ (116). Dann begegnen diese Formulierungen: „(es) rückt das ei=nai i;sa qew/| auf die gleiche Ebene wie das evn morfh/| qeou/ u`pa,rcwn. Es geht beide Male grundsätzlich um das gleiche Anliegen, nur wird jetzt … nicht die Daseinsweise, sondern die Stellung betont … Denn sie spricht nicht von der Eigenschaft der Göttlichkeit (!), sondern von der gottgleichen Würdestellung“ (117). Im folgenden Text werden dann noch andere, viel später gebildete Wörter und Begriffe eingesetzt: „Wenn also schon e`auto.n evke,nwsen die Menschwerdung (!) bezeichnet (!), stellt sich die Frage, wie diese gedacht (!) ist. Der Gegensatz, der die VV 6 und 7 bestimmt, läßt nur die Antwort zu: Er gab auf, was er besaß (!). Gott wurde Mensch! Die Trennung, die zwischen der Welt Gottes (?) und der der Menschen existiert (!), konnte nur durch diesen Schritt überbrückt werden (Gnilka weiß, was Gott konnte und nicht konnte!). Dabei muß nochmals gesagt werden, daß es dem Lied nicht darum geht, zu den ‚Naturen‘ Christi (!) im Sinne späterer Dogmatik Stellung zu nehmen, daß es vielmehr die Inkarnation (!) des Gottwesens (!) aussagt …“ (118). Dazu etwas später noch dieses: „Begriff der Selbigkeit (D. Georgi)… Die Selbigkeit wird definiert als ‚das eigentliche Selbst‘, ‚die ewige Wirklichkeit des Göttlichen‘ (!)… daß das prä401

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Abschnitt G:

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existente Gottwesen (!) seine Selbigkeit preisgebe (!) und das annehme, was dem Göttlichen entgegengesetzt (!) und deshalb (!) nichtig ist (was soll „nichtig“ hier heißen? nichts? Nichtexistentes? Kann man solches annehmen?) … Daseinsweise Gottes“ (119; wohlbemerkt: Nicht Gnilka bildet diese eigenartigen Wendungen; doch er greift sie auf, um als Exeget (!) dem Phil-Text gerecht zu werden! Sind sie nicht entschlossen abzulehnen, weil für die „Sache“, um die es geht, absolut unangebracht, ja entwürdigend)? Kurz danach wird zu 2,7 u. a. dieses gesagt: „Das kann aber nur bedeuten, daß das Menschsein als doulei,a verstanden ist. Auch ist hier nicht der Weg des atl. Gerechten beschrieben, sondern der Weg des Präexistenten (wieder Name!), der von sich aus die Sklaverei des Menschseins (das steht in 2,7 nicht!) auf sich nimmt. … Mit evn o`moiw,mati avnqrw,pwn geno,menoj kommt die Beschreibung (!) der Menschwerdung (!) zu ihrem Abschluß. … o`moi,wma mit Gleichbild übersetzt. Es geht dem Dichter um die volle (!) Inkarnation (!). … Vom Eintritt (!) des Präexistenten (!) in die Menschheit wird fortgefahren zur Betrachtung (!) des geschichtlichen Menschen (wo ist von dem die Rede?) … Für den Weg des Präexistenten (wieder Name für Christus!) ist das evtapei,nwsen bestimmend“ (121). Zu 2,8 wird dann dies gesagt: „Der Präexistenzgedanke (!) ist dem Verfasser des Liedes nicht aus der Bibel zugewachsen, auch nicht aus der Weisheitsliteratur (!) … Der wesentlich von biblischen Traditionen beeinflußte Verfasser mußte den Präexistenzgedanken, wenn er ihn fremden Einflüssen verdankt, notwendig umgestalten“ (123): dazu ist zu sagen: Der Liedverfasser hat den Präexistenzgedanken überhaupt nicht gehabt noch ihn angewendet; er ist mit der Wortbindung „Präexistenz“ viel später von „Theologen“ gebildet und seitdem offensichtlich zu einem Fachwort geworden. Gnilka bringt in seinem Exkurs „Das vorpaulinische Christuslied“ diese Punkte: „1. Die vorpaulinische Abfassung; 2. Die strophische Gliederung: 3. Der religionsgeschichtliche Hintergrund“, wo „a) der Heraklesmythos, b) der Menschensohn, c) der Ebed Jahwe, d) der alttestamentliche Gerechte und e) die Weisheit besprochen werden. Im letztgenannten Punkt finden sich diese uns hier interessierenden Sätze: „Hatte in bezug auf die Präexistenzidee schon früher die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gelenkt, so versucht neuerdings D. Georgi das Christuslied in den größeren Zusammenhang zum sapientialen Denken zu rücken … So soll die Präexistenz, die in Phil 2,6 besungen (!) wird, ihre Entsprechung in der Syzygie und Symbiose der Weisheit mit Gott haben. Der Abstieg des Präexistenten (von dem dort keine Rede ist!) sei mit der Menschenfreundlichkeit der Weisheit zu vergleichen … Problematisch ist die Verknüpfung von präexistierender Weisheit und bedrängtem Gerechten … Die Sapientia ist zwar präexistent, nicht aber ist das der Gerechte …“ (142f). Wir bemerken die ganz eigentümliche Sprache, mit der diese Sätze operieren: „präexistierende Weisheit“; dann, daß Phil 2,6 die Präexistenz besingt (wo steht das dort, zumal dieses „Lied“ als „Christuslied“ bezeichnet und verstanden wird). Im Abschnitt „f) der Anthroposmythos“ findet sich dieser Schlußsatz, der zum Punkt „Der Präexistenzgedanke“ überleitet: „Das Interesse verlagert sich auf den Hintergrund der VV 6f und damit den Präexistenzge402

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danken und seine Herkunft“ (144). Die Darlegungen zum „Präexistenzgedanken“ berufen sich z. Tl. auf den umfänglichen Exkurs, den Schnackenburg in seinem JohKommentar vorgelegt hat. Wir zitieren hier jetzt nur einige Passagen, die Gnilka mit eigenen Sätzen bringt, um zu erkennen, wie er meint, in Bezug auf Phil 2,6–11 davon handeln zu müssen. Er will „die entscheidenden Unterschiede im Präexistenzverständnis des Judentums und der Gnosis herausstellen“ (144) und sagt: „Ein Hauptzug des jüdischen Denkens besteht darin, alles Geschaffene und Vergängliche, alles Sein und Geschehen in den Gedanken Gottes zu begründen. In besonderer Weise gilt das für theologische und heilshafte Größen (!) wie die Tora, den Gan Eden, den Thron der Herrlichkeit, den Namen des Messias usw. Diese zumeist ideelle (?), weil in den Gedanken Gottes begründete Präexistenz (!) will verdeutlichen (!), daß das Heil mit Sicherheit eintreffen wird. Diese ideelle Fassung kann erweitert werden zu einem wirklichen (!) ‚präexistenten‘ Erschaffensein. … In der Gnosis dagegen hat die Präexistenzaussage grundsätzlich andere Bedeutung. Das geschichtlich-heilsgeschichtliche Denken der Bibel spielt keine Rolle. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich nicht auf die Aufeinanderfolge von Zeiten, sondern auf die Aufgabe, zu sich selbst zu kommen, sein Wesen zu erfassen. Der Mythos vom Anthropos sucht das Wesen Mensch von seinem Ursprung her zu begreifen“ (144f). – Für die johanneische Theologie hat Schnackenburg die Herkunft des Präexistenzgedankens aus dem Jüdischen in hohem Grad wahrscheinlich gemacht … ‚Wenn eine personale Präexistenz (Hervorhebung durch Schnackenburg) und Göttlichkeit (!) des Heilsbringers dem Judentum auch fernlag, so übersteigt dieses christliche Bekenntnis jüdisches Denken doch nur in der gleichen Weise, wie es beim Messiasverständnis überhaupt der Fall ist‘. Ein wichtiges Argument für die Ableitung aus dem Jüdischen ist die Betonung des zeitlichen Moments, das als charakteristisch für jüdisches Denken in diesem Zusammenhang gilt und auch den johanneischen Präexistenzgedanken (I) prägt (!)“ (145). Dann: „Der Eindruck ist unvermeidlich, daß der Dichter des Christusliedes mindestens die Terminologie für die Beschreibung (!) des Präexistenten (!) und seines Abstiegs jenem Traditionsfeld entnimmt, das die oben genannten Schriften widerspiegeln. … Sehr wahrscheinlich haben wir hier die älteste Aussage von der Präexistenz Christi vor uns … Für den Dichter ist der Präexistente (!) jener, der in unnachahmlicher Weise (!) in ein konkretes (!) menschliches Schicksal (!) bis zum Tiefpunkt des Todes erniedrigte, um (!) von Gott als Lohn (!) für das Gehorsamsein (!) zum Kosmokrator (!) erhöht zu werden. Diese Anschauung von Erniedrigung und Erhöhung aber ist biblisch und jüdisch. Und diese biblisch-jüdische Anschauung prägt (!) auch die Präexistenzidee (!) mit, die allerdings in ihrer Gegensätzlichkeit von göttlicher Hoheit und menschlicher Versklavung als im Grunde nicht jüdisch wird angesprochen werden müssen“ (146–147). J. Ernst überschreibt in seinem Phil-Kommentar 2.5–11 mit „Christuslied“ (65). Das ist, wie wir schon gesehen haben, eine Verkürzung. Denn der Hymnus beginnt mit „o]j – der“, das sich auf Jesus Christus bezieht. Er singt von dem, den dieser Name 403

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in ganzer Fülle angibt. Dann begegnet „Präexistenz“ sogleich in der Vorstellung des Schemas des Hymnus-Textes: „Das christologische Schema ‚Tod- Auferweckung‘ ist durch das Dreistufenmodell (!) ‚Präexistenz-Erniedrigung-Erhöhung‘ ersetzt: der soteriologische Aspekt spielt keine zentrale Rolle“ (66). Zu 2,6 wird dies gesagt: „Inhaltlich macht der Vers drei Aussagen, die sich auf den Präexistenten beziehen: a) er ist ‚in Gestalt Gottes‘; b) das bedeutet: er ist ‚gottgleich‘; c) er verstand das aber nicht als Raub. Solche Implikationen sind für Paulus ungewöhnlich … Wenn man die sachliche Priorität der ‚Gestalt des Knechtes‘ (V. 7) erkannt hat, wird deutlich, daß es nicht um die Beschreibung (!) der Seinweisen Christi (!), sondern um die Darstellung des Heilsgeschehens in Christus (!) geht … Wir können lediglich konstatieren, daß hier zum erstenmal – und dazu in einem Nebengedanken – über die Präexistenz reflektiert (!) wird. Dazu werden Begriffe herangezogen, die zwar gewisse religionsgeschichtlichen Analogien erkennen lassen, aber den tatsächlichen sachlichen Gehalt nicht voll und ganz zu erklären vermögen … Dasselbe gilt auch für den nachfolgenden Satz, der sich auf den Präexistenten bezieht: ‚nicht als Raub verstand er das Gottgleich-Sein‘ … Der Satz (d. i. 2,7) bezieht sich auf die Inkarnation (!), die allerdings nicht, wie im Johannesprolog, von ihrer positiven Seite (!) her gesehen wird, sondern den negativen Aspekt (!) des Geschehens beleuchtet. Die Inkarnation ist die ‚Kenosis‘ dessen, der in ‚Gestalt Gottes‘ ist … Es wird lediglich gesagt, daß die Inkarnation auf die totale Selbsthingabe hinzielt, die im freiwilligen Tod ihren letzten Ausdruck gefunden hat“ (66–68). Zu 2,8 wird gesagt: „Das Stichwort ‚Gehorsam‘ darf unter keinen Umständen dazu verleiten, die Selbsterniedrigung des Präexistenten‘ als ethisches Modell zu verstehen, der Hymnus spricht vielmehr von den einzelnen Phasen eines objektiven Heilsgeschehens. Das Kreuz ist die letzte Station jenes Weges, den der Präexistente in der Inkarnation (!) beschritten hat“ (69). Zu 2,9 heißt es: „Die tiefe Erniedrigung des Präexistenten ist die Voraussetzung für die Erhöhung …“ (69). Und zu 2,10 ist noch dieser Satz bezeichnend: „… der Kniefall und das Bekenntnis geschehen jetzt ‚im Namen Jesu‘. Natürlich ist hier Gott das Objekt der Verehrung und Anbetung, aber Gott ist auf einzigartige Weise ‚im Namen Jesu‘ anwesend. Es gibt nach der Erniedrigung des Präexistenten keine Anbetung sozusagen an Jesus vorbei (!)“ (70). Wir bemerken in den zitierten Texten insgesamt, daß der Kommentator das Wort (Begriff ) „Präexistenz“ oft gebraucht, offenbar als eine irgendwie fixierte Sprachwendung, doch auf der anderen Seite wird dabei ein gewisses Unbehagen sichtbar, so daß er bestimmte Korrekturen am gewohnten Verständnis anbringt. Besonders fällt auch auf, wie der Autor „Präexistenz“ mit „Inkarnation“ (ebenfalls ein offensichtlich festgefahrener Begriff ) zusammenschaut, was am gegeben Ort zu besprechen ist. U. B. Müller verwendet den Ausdruck „Präexistenz“ in der Besprechung zur Beurteilung der Frage nach dem vorpaulinischen Hymnus eher nebenbei. In Bezug auf Vorbilder für die Eigenart des Sprechens des Hymnus heißt es: „Nicht alttestamentlich-jüdische Hymnen seien die nächsten Parallelen, sondern die von antiken Theore404

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„Präexistenz Christi“

tikern beschriebene Gattung des Eukomions als der lobenden Darstellung von Menschen … Die Problematik gerade dieser Herleitung verrät sich jedoch sofort angesichts der These: ‚Die gattungsmäßigen Analogien beziehen sich alle auf das Lob von Menschen. Vorbilder sind gerade nicht Götterhymnen‘ (Zitat Berger). Schwierigkeiten muß dann natürlich die Präexistenzaussage von 2,6 bereiten, weshalb die Behauptung notwendig wird: Aus der Analogie zu den Vergleichstexten ‚folgt für Phil 2,6, daß es sich dort primär um Hoheitsaussagen handelt und keineswegs notwendigerweise um Präexistenz auszusagen. Daß es sich hier um eine Inkarnationsaussage (!) handeln soll, halte ich für unbeweisbar‘ (Berger)“ (92). In der eigenen Auslegung von 2,6–11 gebraucht Müller diesen fraglichen Ausdruck selbst nie. Wo es andere tun, spricht er in anderer, sicher berechtigteren Weise. So z. B. zu 2,6: „6 setzt bei der Göttlichkeit des Subjekts ein, um anschließend die Preisgabe des göttlichen Seins in das Menschliche auszusagen. V. 6a macht dabei zunächst eine Zustandsbeschreibung, die die Voraussetzung für das folgende Handlungsverb bildet (6b): ‚der in Gottesgestalt war …‘“ (93). So dann auch im folgenden: „Die Präposition evn ist im Sinne des Bestimmtseins durch etwas zu interpretieren. Die Person ist durch die Göttlichkeit bestimmt, aber in welchem Sinne? … Die göttliche Person hielt nicht daran fest, ‚Gott gleich zu sein‘. ‚So, wie ‚jedermann‘ erwarten sollte, hat Jesus die Gottgleichheit nicht angesehen‘ (Zitat Gnilka). Die Aussage über die Gottesgestalt der ersten Zeile wird also durch die zweite Zeile, das Gottgleichsein, interpretiert. … Die Gottgleichheit eignet der Gestalt des Hymnus als vorgängige Realität. Zwei präzisierende Feststellungen sind dabei wichtig: a) wird man die Wendung von der ‚Gottesgestalt‘ primär als Aussage über die Würdestellung Christi verstehen müssen … Der Ausdruck meint folglich nicht die bloß äußere Erscheinungsform …, andererseits auch nicht die Substanz. … Jedenfalls spricht die adverbiale Form i;sa (im Unterschied zum Adjektiv i;soj) nicht von der Eigenschaft der Göttlichkeit, sondern von der gottgleichen Würdestellung; b) Die Gottgleichheit – das, was sonst niemandem außer Gott zukommt – eignet Christus bereits als ursprünglicher Besitz, ja als Voraussetzung der Selbsterniedrigung … Der Hymnus läßt dabei erkennen, daß die göttliche Würdestellung die sachliche Voraussetzung dafür ist, daß der Gottgleiche sich in dieser erstaunlichen Weise verhält. Der Gedanke der Präexistenz ist also implizit vorhanden, wenn auch nicht betont entfaltet. Das sachliche Prä schließt auch ein zeitliches ein, hier aufgezeigt durch die Fortsetzung des zuständlichen Partizipialsatzes mittels des Aoristes“. In der dort beigefügten Anmerkung findet sich: „Zur Bestreitung der Praexistenzvorstellung in Phil 2,6–11 vgl. C. H. Talbert … Für das Vorliegen einer Präexistenzchristologie plädieren … Dazu als Schlußsatz: Der Anschluß der Aoriste in V. 6b.7ab spricht dafür, daß es sich bei den präsentischen Seinsaussagen um Aussagen über die Vergangenheit Christi und somit um Präexistenzaussagen handelt‘ (96, Anm. 148). Daß dieser letztzitierte Satz in sich selbst widersprüchlich ist, muß jeder erkennen. Präsentische Seinsaussagen (diese Wendung ist schon irreführend) werden nicht als diese aufgehoben, wenn Aoriste folgen; diese machen das Präsens des zuvor Gesagten nicht zu 405

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Vergangenheit! Insgesamt können wir festhalten: Die Verwendung des Ausdrucks „Präexistenz“ ist in 2,6–11 durch nichts gefordert; er erübrigt sich in der Erstexegese der Stelle. Zudem suggeriert er eine falsche Interpretation. N. Walter (NTD 8/2, 1998) verwendet in seiner eigenen Auslegung den Ausdruck „Präexistenz“ selbst gar nicht. Beispielhaft seien einige Sätze zitiert, in denen er auf die von anderen eingebrachte Präexistenzvorstellung zu sprechen kommt. Zu 2,6 sagt er: „Die ersten drei Zeilen (V. 6a–c) zeigen die Ausgangsposition. Der Unbekannte befand sich im ‚Stand‘ Gottes. Dabei meint ‚Stand‘ (‚Status‘; das griechische Wort morphe bedeutet zunächst ‚Gestalt‘) nicht ein ‚Als-ob‘, eine nur scheinbare oder auswechselbare ‚Einkleidung‘, sondern das zu einem bestimmten Status (oder ‚Rang‘) unablösbar gehörende Erscheinungsbild (…), während das deutsche Wort ‚Gestalt‘ zu sehr an das (äußere) Aussehen einer Person (und seine Verwandlung) denken ließe, worum es hier nicht geht. … ‚Er‘ sah seinen Status – eben das Gott-gleich-Sein – nicht als Besitz an …“ (59–60). In dem nach der Auslegung gebrachten Text heißt es dann: „Die Christologie unseres Lehrgedichtes (Hervorhebung im Text) stellt sich also so dar, daß der in der ersten Hälfte noch nicht mit Namen Genannte, mit göttlichem Wesen Ausgestattete aus eigenem Antrieb den Himmel verließ und sich in das Menschenlos auf Erden, das letztlich das Todeslos ist, einfügte“ (61; wir bemerken dazu, daß in 2,6f weder der Himmel noch die Erde genannt sind; auch das ist schon eine Interpretation, zwar üblich, jedoch massiv zu hinterfragen). Dem wird dann hinzugefügt: „Auch zur Präexistenz-Vorstellung des Lehrgedichts ist ein Wort zu sagen. Es spricht ja nur indirekt von einer (himmlischen) Präexistenz des Sohnes, nämlich von der Seinsweise, die er hinter sich läßt, da er das ‚Sein wie Gott‘ verläßt und sich in die Menschheit einreiht (einige Ausleger, so schon manche altlutherischen Dogmatiker, nehmen sogar an, in Phil 2,6–8 sei eigentlich gar nicht an Präexistenz gedacht, es werde vielmehr von Anfang an vom irdischen Jesus geredet). Ein ‚Werk‘ des Präexistenten, sei es als Mittler bei der Schöpfung der Welt, sei es als Wirken zu Zeit der Väter Israels … spielt in Phil 2,6–8 jedenfalls keine Rolle. Vielmehr können wir vielleicht eine Spur davon erkennen, wie der Gedanke an eine Präexistenz Jesu (der ja z. B. mit der Vorstellung von der Jungfrauengeburt ursprünglich noch gar nicht vorhanden ist) überhaupt erwachsen sein mag: aus der Aussage, daß Jesus ‚vom Himmel her‘, ‚von Gott‘ gesandt wurde (Hervorhebung im Text), ja als der Sohn Gottes in schlechthin einmaligem Sinne, Gottes irdischer ‚Repräsentant‘ war … Als eine wichtige gedankliche Voraussetzung für die christologische Präexistenzaussage ist die vom hellenistischen Judentum (Ägypten?) entwickelte Vorstellung von einer Schöpfungsmittler-Wesenheit abstrakter Art (dem ‚Logos‘/Wort oder der Sophia/ Weisheit) zu nennen …, was dann – unter Aufnahme der anderen Vorstellungslinie vom ‚Gesandtsein‘ Jesu – zum Gedanken der persönlichen himmlischen Präexistenz Jesu führte (vgl. Joh 5 und 8), der dann nach der Auferweckung/Erhöhung/Rückkehr Jesu zu Gott eine gleichartige himmlische Postexistenz entspricht“ (61 u. 62). Wir erkennen und beachten, wie Walter hier akrobatisch sich doch mit der „Präexistenz“406

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„Präexistenz Christi“

Vorstellung plagt und sie nicht einfach ablehnen möchte. Auch darauf werden wir noch zu sprechen kommen müssen. f) „Präexistenz Christi“ im Joh-Kommentar von R. Schnackenburg

Das Johannesevangelium wird in einem besonderen Ausmaß als gleichsam grundlegend für die sog. „Präexistenz-Christologie“ herangezogen. Wir fragen im folgenden nur nach dem, was sich unter diesem Stichwort tatsächlich im Joh-Kommentar Schnackenburgs vorfindet, als Beispiel, weil eine Beachtung mehrerer Kommentarwerke ins Uferlose gehen würde. Zugleich bemühen wir uns, auch wegen der Fülle dessen, was herausgestellt werden muß, die Gründe aufzudecken, die den Autor bewogen haben, um als Exeget sich dieses Wortes bzw. Begriffs zu bedienen, obwohl das Wort/Begriff „Präexistenz“ im ganzen NT nie verwendet wird. Im Hebräischen wie im Griechischen und Lateinischen der biblischen Zeit gibt es „praeexistentia“ überhaupt nicht; es ist eine Neubildung späterer Zeit. Im Joh-Kommentar Schnackenburgs findet sich schon vor der eigentlichen Auslegung des Textes die Verwendung dieses fraglichen Ausdrucks als eines solchen, der schlicht als selbst-verständlich gilt und entsprechend eingesetzt wird, ohne daß überhaupt über seine Berechtigung und Gültigkeit reflektiert würde. Das wird in der „Einführung in den Prolog“ (197–207) ganz deutlich. Wir bringen dazu einige, allerdings charakteristische Sätze und besprechen sie sogleich. In der Frage, wie der JohProlog literarisch einzuordnen und zu werten ist, heißt es: „Steht er dem Ev als gedankliche Vorbereitung und Einstimmung (‚Ouvertüre‘) … voran, oder will er als integrierender Teil des Ev als ‚Anfang‘ der Botschaft verstanden werden, weil der Evangelist die ‚Geschichte Jesu‘ nicht erst mit dem öffentlichen Auftreten Jesu, auch nicht mit seiner Geburt beginnen will, sondern die Existenz und den Weg des Erlösers bewußt auf den ‚Anfang‘ vor der Schöpfung, das ewige Sein ‚bei Gott‘ zurückführt?“ (197; wir bemerken hier schon eine eigenartige Benutzung von Zeit-Kategorien, „ ‚Anfang‘ vor der Schöpfung“; „das ewige Sein“; „Existenz“, die der Text selbst nicht bringt). Dann wird in der Diskussion der dort genannten Verstehensvorschläge zum ersten u. a. dies gesagt: „Die Präexistenz und Inkarnation des Logos wird (wenigstens in dieser oder einer anderen Form) im Ev kaum reflektiert oder rekapituliert; die ‚Schlußbemerkung‘ 20,30f nimmt darauf keinen Bezug und scheint das Ev auf die Zeit des Wirkens Jesu in der Welt (die Zeit der ‚Zeichen‘) zu beschränken“ (198; wir bemerken hier die Zusammenschau von „Präexistenz“ und „Inkarnation“). Zum zweiten Vorschlag: „Wenn Lukas seinem Ev … eine ‚Kindheitsgeschichte‘ vorausgehen ließ … die davidische Herkunft Jesu stützende Erzählung begann …, kann man verstehen, daß Joh aufgrund seines Christusbildes (d. h. „sein Christusbild“ (!) ist der Grund des dann Ausformulierten! R. S.) die ‚Geschichte‘ Jesu bis in seine Präexistenz zurückzuverfolgen, den ‚Anfangsbericht‘ (!) in den ‚Uranfang‘ (!) verlegen … wollte. Dann ist der Prolog nicht nachträglich … sondern aus christologischen (!) 407

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Gründen vorausgeschickt …“ (198). Weiter dazu: „Darum benutzte er … ein urchristliches Lied, das Christus in seiner Präexistenz und Inkarnation besingt (!), kommentierte es mit einigen Zusätzen und verband es durch Klammern mit dem Ev-Bericht“ (199; die Frage: wo besingt der Hymnus die „Pr.“ und Inkarnation Christi? Er handelt vom Logos!). Der Ausdruck „Präexistenz“ wird dann noch öfter eingesetzt. Dann: „V 18 … Führt genau zu dem Punkt, bei dem das Ev mit seiner Botschaft einsetzen kann (gehört also das in 1,1–14 nicht zum Ev? R. S.): der Offenbarungstätigkeit des inkarnierten Logos (!) … richtig beobachtet, daß sonst alle urchristlichen ‚Christus-Hymnen‘ (!) die drei Seinsweisen Christi (!) (und entsprechend drei Strophen) enthalten: Präexistenz – irdisches Leben – Erhöhung, und er möchte sie auch noch in dem Christushymnus des Prologs erkennen … Daran erkennen wir nochmals das christologische (!) Anliegen, das den Evangelisten bewogen hat, dem eigentlichen EvBericht (!) diesen Prolog voranzustellen: Nur mit dem Aufweise der göttlichen Herkunft des Offenbarers konnte (!) seine eigenartige Heilsbedeutung ins rechte Licht gerückt werden, wie sie dann im Wort und Wirken des irdischen Jesus (!) zur Sprache und Darstellung kommt. Damit aber ist der ‚Prolog‘ eher ein theologischer (!) ‚Anfangbericht‘ (warum in Anführungszeichen? R. S.), eine gläubige (!) Kundmachung der Inkarnation (!) erreicht“ (200). Es fällt auf, in welchem Maße hier an Joh 1 Kategorien herangetragen werden, die der Text selbst nie gebraucht noch suggeriert. Es sind viele Hinweise enthalten, was eigentlich mit „Präexistenz“ angesprochen werden soll (ob zu Recht, lassen wir hier noch offen) bzw. als ausgesprochen behauptet wird, und zwar schon vor der Auslegung des Textes des JohEv selbst, dessen eigener Aussagegehalt doch eigentlich von den exegetischen Wissenschaften zuerst erhoben werden muß. – Im Abschnitt 2 der Einführung, „Prolog und LogosHymnus“ überschrieben, finden sich folgende Sätze: „Nach dem jetzigen Aufbau des Prologs (Hervorhebung durch Schn.) sind eher drei Abschnitte zu unterscheiden: VV 1–5 das präexistente Sein des Logos; VV 6,13 das Kommen des Logos zur Menschenwelt, und zwar in einer andeutenden Weise schon das des inkarnierten Logos, sowie seine unbegreifliche Ablehnung; VV 14–16 bzw. 18 das Ereignis der Inkarnation und seine Heilsbedeutung für die Glaubenden. Der hauptsächlich theologische Umbruch (!) besteht also darin, daß der Evangelist durchweg auf den Inkarnierten Logos hinblickt … zu der Zeit des geschichtlichen Kommens Christi (!), zur Inkarnation des Logos hinführen, um diese dann in V 14 im vollen Akkord (!) zu nennen (!) … Hat sich ein urchristliches Lied jemals mit der Zeit vor (!) der Inkarnation beschäftigt, wie es hier vorausgesetzt ist?“ (203; wir bemerken wieder die angesagten Zeitabschnitte!). Das wird im folgenden noch weitergeführt: „… im Anschluß an die Weisheitsspekulation konzipiert. Die Weisheit stieß bei ihrem Kommen zu den Menschen auf Ablehnung, ein in der Sapientialliteratur stets wiederkehrender Topos. Im gleichen Schrifttum, das den Haupthintergrund für das Logos-Lied bildet, werden aber auch die Präexistenz und die Rolle der Weisheit bei der Schöpfung stark hervorgekehrt, und dann erscheint es als durchaus möglich (!) und sinnvoll, daß die christli408

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che Gemeinde auch dem präexistenten Wirken (!) des Logos (wo ist davon in Joh 1 die Rede? R. S.) größeren Raum (!) gewährte, eben an Stelle (!) der Weisheit. Wenn der Hymnusdichter auch von der Inkarnation her (?!) denkt (!), so gewinnt die präexistente Wirksamkeit (und Ablehnung) des Logos doch dafür einen hohen Aussagewert: Nach dem Scheitern aller Heilsversuche in der vorchristlichen Menschheit, konkret in Israel, erscheint die Inkarnation als das unerhörte Gnadenereignis, wie es auch die paradoxe Formulierung (ist die Formulierung „paradox“? R. S.) zum Ausdruck bringt, daß der Logos sarx wurde …“ (204; im Text werden Heilsversuche – was ist damit gemeint? – als „präexistentes Wirken des Logos“ angesprochen!). – Im Abschnitt 3 der „Einführung in den Prolog“, der mit „Herkunft und Hintergrund des Logos-Hymnus“ überschrieben ist, wird intensiv mit dem Wort bzw. Begriff „Präexistenz“ argumentiert. So heißt es: „… es ist sehr problematisch, ob die (mit den Christen konkurrierenden) Johannesjünger zeitig den gnostischen Mythus vom himmlischen Gesandten auf ihren Meister übertragen und den Zachariassohn für den präexistenten und fleischgewordenen Offenbarer-Erlöser gehalten haben“ (206). Dann weiter: „… für den von ihm aufgenommenen Hymnus läuft die Frage darauf hinaus, ob die Verwendung des Logostitels (statt h` sofi,a) und die Inkarnationsaussage (als antignostische Interpretation) zu dieser Annahme berechtigen. Die Bevorzugung der Theologie des ‚Wortes‘ vor der der ‚Weisheit‘ könnte auch mit dem Offenbarungsgedanken zusammenhängen; die Wahl von sa,rx für die Menschwerdung braucht zunächst im Blick auf 1 Tim 3,16a; vgl. Röm 1,3; Hebr 5,7; 10,20; 1 Petr 3,18 nicht zu überraschen, trägt aber im Logos-Hymnus doch einen besonderen Akzent, da nicht die irdische und spätere ‚pneumatische‘ Seinsweise wie in jener alten sarx-pneumaChristologie gegenübergestellt werden, sondern aller Nachdruck auf das Eintreten des Logos in den irdisch-stofflichen Bereich fällt, also ein ähnlicher Akzent wie in der antignostischen Bekenntnisformel 1 Kol 4,2 (vgl. 5,6b; 2 Joh 7) oder in der antidoketischen Aussage der Ignatiusbriefe (…) spürbar wird“ (207). Schließlich: „Der theologische (!) Hintergrund des Hymnus aber ist entscheidend von der jüdisch-hellenistischen Weisheitsspekulation bestimmt, allerdings wohl nicht so weit, daß sich der Dichter unmittelbar an das Modell und die Struktur im Buche Sirach anschließt, aber doch permanent unter dem Einfluß jener Texte. … Mit der Aufnahme eines von der Gemeinde gesungenen Hymnus erweist sich der 4. Evangelist der urchristlichen Tradition verpflichtet, um dann in seinem Ev und seiner eigenen (!) Theologie (!) das christologische (!) Verständnis noch weiter zu führen und zu vertiefen“ (207). Wir bemerken insgesamt: Die „Einführung in den Prolog“ ist zur Gänze geprägt von Wort und Begriff „Präexistenz“, schon bevor der Joh-Text selbst angeschaut und besprochen wird. Wenn das in dieser „Einführung“ Vorgelegte nach der Auslegung des Textes, etwa als Ergebnis dargeboten wäre, dann wäre seine Beurteilung eine ganz andere, immer natürlich unter der Voraussetzung, daß im Joh-Text selbst in dem dort explizit Gesagten die sog. „Präexistenz“ tatsächlich als gültiger Leitbegriff vorgefunden wird. Wir wenden uns daher der Auslegung des Textes durch Schnackenburg zu; wir wer409

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den sehen, wie sehr „Präexistenz“ tatsächlich die Brille ist, durch die der Text von Anfang bis zum Ende betrachtet und interpretiert wird. Joh 1,1 sagt dieses: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“ (man kann auch Logos beibehalten, wie Schnackenburg es tut). Dieser (wenn man will: dreiteilige) Satz gibt seinen Aussage-Gehalt unmittelbar zu erkennen, weckt freilich auch alle Erwartung auf das, was folgen wird. Der Kommentar Schnackenburgs zu diesem Satz lautet: „Drei fundamentale Sätze beschreiben das präexistente Sein des Logos“ (209). Dazu ist zu sagen: Von einer „Beschreibung“ (ein Hymnus beschreibt nicht, er singt!), gar des „präexistenten Seins des Logos“ findet sich in 1,1 gar nichts! Das dort eingesetzte Verb „h=n – war“ ist als Imperfectum durationis zu lesen, bedeutet also „ist“ und gibt, für sich betrachtet, ein „sein“ (Verb!) an, das Zeitartiges („sein“, „währen“), das aber auch eine Bestimmung (vielerlei Art) des Was, das „Wesen“ dessen ansagen kann, von dem die Rede ist, ohne dabei überhaupt Zeitliches (welcher Art auch immer) zu implizieren (man sollte es nicht als „zeitlos“ verstehen, weil auch das nicht impliziert ist). Denn sowohl „h=n – war“ wie auch „evsti, – ist“ allein trägt oder impliziert in sich gesehen keinerlei Zeit-Akzent. Im Falle 1,1 ist o` lo,goj das Satzsubjekt; deswegen ist hier „h=n – war“ als „evsti, – ist“ zu lesen. Denn vom Logos ist die Rede, wenn zunächst auch „nur“ gesagt wird „er war – ist“. Auch sogleich schon ein „er war und ist und wird sein“ herauszulesen, wäre schon eine, in einem entsprechenden Kontext vielleicht mögliche, Interpretation, weil „er war und ist und wird sein“ faktisch doch schon als Zeitkategorie gehört wird. Das müßte aber am Text erwiesen sein. Ebenso ist „h=n – war“ bzw. „evsti, – ist“ in 1,1 auch nicht als substantiviertes Tätigkeitswort zu verstehen, das durch ein Adjektiv spezifiziert werden kann (bei Schnackenburg „präexistentes“). Dem Satz 1,1 muß man, zunächst jedenfalls, seine Aussage-Offenheit belassen. In 1,1 findet sich jedoch eine zusätzliche Bestimmung, mit der der Vers anhebt: „Im Anfang“. Das bestimmt ohne Zweifel das, was 1,1 insgesamt ansagt, wohl auch schon irgendwie das in 1,2–4 Folgende. Dazu sagt Schnackenburg dieses: „Hinter der Wendung ‚im Anfang‘ steht keine Reflexion über den Begriff und die Problematik der Zeit. Sie ist in Anlehnung an Gn 1,1 gewählt, mit vollem Bedacht; denn der Logos, von dem der Hymnus kündet, ist das ‚Wort‘, durch das Gott alles geschaffen hat (V 3). Aber dieses ‚Wort‘ übersteigt das ‚Sprechen‘ Gottes am Schöpfungsmorgen, es ist das personale ‚Wort‘, das in geschichtlicher Stunde ‚Fleisch‘ wurde, Jesus Christus, dessen Existenz hier bis in die ‚Vorzeit‘ der Welt, in die göttliche Ewigkeit zurückgeführt wird“ (209). Wir bemerken, daß der Kommentator beginnt nicht, indem er 1,1 zunächst selbst sprechen läßt, zuhört und wiedergibt, was der Text deutlich genug ausspricht, sondern mit einer Erklärung anfängt, wie der Text nicht verstanden werden dürfe: „keine Reflexion über den Begriff und die Problematik der Zeit“. (Daß sich der Autor selbst nicht an diese seine Erklärung hält, ist offenkundig. Denn im unmittelbar Folgenden (s. Zitat) finden sich Wendungen wie „Vorzeit der Welt“, „Schöpfungsmorgen“, „göttliche Ewigkeit“, „geschichtliche Stunde“ sowie zu Beginn sogar „präexistentes Sein des Logos“. Dazu 410

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später.) Statt dessen behauptet der Autor zu 1a zu Beginn sogleich richtunggebend, daß „die Wendung ‚im Anfang‘ in Anlehnung (!) an Gn 1,1 gewählt (!), mit vollem Bedacht“ sei. Das ist freilich pure Behauptung (wenngleich diese Auffassung von fast allen Kommentaren vertreten wird), die vom Text 1a her keinerlei Begründung hat. Nur der volle Satz sowohl in Gen 1,1 wie in Joh 1,1a läßt erkennen, was „im Anfang“ im jeweiligen Kontext hinreichend deutlich sagt. In Joh 1,1a folgt auf „im Anfang“ nur „h=n – war (evsti, – ist)“; dann folgen mehrere mit kai. angeschlossene Kurzsätze mit ihren eigenen Angaben. In Gen 1,1 folgt auf „im Anfang“ das Tätigkeitswort „barah – schuf “ zugleich mit der Objektangabe dieses Tuns/Wirkens: „die Himmel und die Erde“. Außerdem ist in diesen Sätzen das Satz-Subjekt je ein anderes: In Gen 1,1 Gott (elohim, Jahwe), in Joh l,1a o` lo,goj – das Wort. Die beiden Sätze sind also je ganz eigener Art der Struktur wie dem Aussageinhalt und der Aussageweise nach. Das nur durch die Nebeneinanderstellung erscheinende einzige Gemeinsame dieser beiden Verse (1,1a ist sogar nur ein Versteil) ist nur der Einsatz von „im Anfang“, wobei jedoch „Anfang“ jeweils auf ein anderes bezogen ist; besser noch formuliert: in Joh 1,1a ist es völlig offengelassen, wessen Anfang gemeint ist, ja was es „eigentlich“ meint, während in Gen 1,1 das Objekt des „barah – schuf “ genannt ist.12 Daher ist die Begründung Schnackenburgs für sein Verständnis von Joh 1,1a durch Bezugnahme auf Gen 1,1 inakzeptabel. Er sagt: „Denn (!) der Logos, von dem der Hymnus kündet (ein Hymnus ist ein Lied, kein Kerygma!), ist das ‚Wort‘ (jetzt wählt er 12 Hier ist daran zu erinnern, daß Gen 1,1 nach wie vor in der Diskussion steht, was seine gültige

Übersetzung und folglich sein rechtes Verständnis angeht. Es sei für das Folgende auf C. Westermann, Genesis I.1, BKAT 1974 hingewiesen, besonders das dort 104–141 von ihm Vorgelegte. Zu den intensiven Forschungsergebnissen diese Bemerkungen: Der Vers Gen 1,1 wird von einigen Forschern als Nebensatz begriffen, dem als Hauptsatz 1,2 folgt. Dann wäre zu lesen: „ ‚Als Gott die Himmel und die Erde erschuf …“. Andere, heute wohl die Mehrheit der Alttestamentler, lesen 1,1 als Hauptsatz, der dem ganzen Gen-Buch vorangestellt ist. Mit „im Anfang“ in diesem Text ist der Anfang schlechthin von allem gemeint, „Anfang“ daher ganz inderterminiert zu lesen und auszuwerten. Gen 1,1 ist gleichsam ein alles umfassender Satz, der allem gilt, allem Geschehen, sei es das Schöpfungsgeschehen, das Weltgeschehen (Geschichte), Persönliches allen freiheitsbegründeten Werdens, Seins, Lebens, Empfindens. Deswegen gibt die Wendung „im Anfang“ zunächst nichts irgendwie Spezifisches an, ist vielmehr von und für alles gesagt, was in der Bibel bekundet erscheint, wovon die Bibel auf ihre Weise erzählt bzw. einfach spricht. Gen 1,1 als einleitender Satz des (sog.) Schöpfungsberichtes anzusehen, ist daher verfehlt. Die Folgen für die Anwendung dieses Bibeltextes sind sehr bedeutsam, wenngleich sie selten beachtet werden. – Sodann ist hier auf das ganz eigentümliche Verb „barah“ hinzuweisen, das ja dem „im Anfang“ als erstes Wort folgt. Es muß nachdrücklich beachtet werden und bleiben, daß dieses Tätigkeitswort, das in Gen 1,1, aber auch sonst im AT eingesetzt ist, im ganzen AT ausschließlich Jahwe zum Subjekt hat und haben kann/darf. Dazu kommt, daß dieses Tätigkeitswort (!) außerhalb Israels überhaupt nicht vorkommt, unbekannt ist, was ein absolut einmaliger Fall in den vielen Sprachen und in der Sprachgeschichte ist. Es gibt daher auch prinzipiell keine Möglichkeit, in anderen Sprachen ein wirklich entsprechendes Übersetzungswort zu finden oder auch neu zu bilden, das diese Eigentümlichkeit des alt. Hebräisch wiedergeben könnte. Unser „erschaffen“ kann es nicht leisten, weil es für viele aktiv Tätigen und ihr Tun aussagbar ist und entsprechend eingesetzt wird.

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‚Wort‘, durch Anführungsstriche betont, statt „Logos“, das er in seiner Übersetzung von 1,1–18 beibehalten hat), durch das Gott alles geschaffen hat (V 3). Aber dieses ‚Wort‘ übersteigt (!) das ‚Sprechen‘ Gottes am Schöpfungsmorgen …“ (209). Dazu ist zu sagen: In Gen 1,1 findet sich kein „Sprechen“ Gottes (s. unsere Anm.)! Schnackenburg greift zur Auslegung von 1,1a auf 1,3 voraus, das aber noch gar nicht zur Frage steht. In Gen 1,1 ist keinerlei Rede von einem Wort (dabar – logos). Erst in Gen 1,3–26 steht wiederholt die Formel „und Gott sprach, es werde …“, was dort jedoch etwas gänzlich anderes aussagt als „Logos“ in Joh 1,1a, wo es Subjekt des Satzes ist. In Gen 1 steht „Gott sprach“ in einem Kontext, der zwar oft als („erster“) „Schöpfungsbericht“ angesprochen wird, der das aber überhaupt nicht ist und auch im AT nie so angesehen wurde. Gen 1,1–2,3 ist vielmehr eine dichterisch konzipierte Darstellung nicht des Geschehens des Schöpfungs-„Vorganges“, sondern des währenden Schöpfungsgeheimnisses, eben barah, das ja durch alle Zeiten gleichsam präsentisch Wirklichkeit ist, eben solange Gott bei und in seinem Wirken/Tun, das barah ansagt, bleibt, was wir „hilflos“ mit „erschaffen“ wiedergeben: vgl. dazu Ps 104 u. a. In Gen 1–2 begegnet die (auch unauslotbare) Wendung dabar – logos – Wort überhaupt nicht, sondern die Formel „Gott sprach: Es werde …“. Schnackenburg verschärft seine Mißdeutung von 1,1a und Gen 1,1 durch folgende Behauptungen, die alles dazu Dargelegte noch bekräftigen, d. h. die Ungültigkeit seiner Ausdeutung nochmals offenbarer machen: Logos in 1,1a „ist das personale (!) ‚Wort‘, das in geschichtlicher Stunde (was mag das hier sagen wollen?) ‚Fleisch‘ wurde, Jesus Christus, dessen Existenz (wo ist davon die Rede?) hier bis in die ‚Vorzeit‘ der Welt (was mag „Vorzeit“ hier und überhaupt sagen, zumal in Anführungsstrichen geschrieben). So sagt auch das ‚im Anfang‘ mehr als im Schöpfungsbericht … die Wendung will das vorweltliche (!) Sein (vorher: Existenz) des Logos ausdrücken. Was (!) schon ‚im Anfang‘ existierte (!), hat seinen Vorrang (was soll hier diese Kategorie ansagen?) vor aller Schöpfung (ist „vor“ hier eine zeitliche oder eine Würde-Bestimmung? Wieso hier erstmals „Schöpfung“ im Bezug auf Joh 1,1a?)“ 209).13 13

Wir zitieren hier, um den Haupttext nicht zu überfrachten, die weiteren, sehr aufschlußreichen Sätze Schnackenburgs: „Auch die Rabbinen lehrten, daß sieben Dinge ‚vor der Welt‘ geschaffen wurden; aber der Logos wurde überhaupt nicht geschaffen, sondern ‚er war‘, d. h. er existierte schon damals, absolut, zeitlos-ewig. Es ist eine reale, personale Existenz (vgl. 1 Joh 1,1; 2,13a), ein Gedanke, der sich in dieser Klarheit nur im Christusbekenntnis der christlichen Gemeinde findet (vgl. Exkurs 2), freilich nicht erst im joh. Prolog, sondern schon in anderen Hymnen und christologischen Formulierungen (Phil 2,6; Kol 1,15; Hebr 1,3). Das drückt vom Standpunkt der Christus Bekennenden das gleiche aus, was dieser selbst 8,58 im zeitlosen Präsens von sich sagt: ‚Ehe Abraham ward, bin ich‘ (Hervorhebung Schn.). Das ‚im Anfang‘ bezeichnet nichts anderes als das ewige und unendliche Sein‘ (Anm.: Joh. Chrysostomus). Der Prolog (bzw. Logos-Hymnus) tendiert von Anfang an auf den menschgewordenen (Hervorhebung Schn.) Logos hin und macht zum Preis des Inkarnierten die unerhörte Aussage, daß er ohne Fleischesleib schon ‚im Anfang‘, noch vor der Schöpfung existierte. … Er ‚war‘ schlechthin, wie eine Person im Selbtstand existiert, er ‚war bei Gott‘ wie Personen beieinander sind, er ‚war Gott‘, wie man das Wesen von Personen beschreibt. Mit dem Person-Charakter des Logos ist eine deutliche Trennungslinie gegenüber der

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Die Art, wie Schnackenburg schon in der ersten Phase der Auslegung von Joh 1,1 den Text mit Aussagen des JohEv überfrachtet, die erst später in ihrem eigenen Kontext sagen, was dort zu bekunden ist, ist nicht Auslegung sondern eine Interpretation, die sachlich unvertretbar ist, zumal dazu Wörter und Begriffe eingesetzt werden, die un-johanneisch, ja unbiblisch sind und in philosophischen Kontexten gegebenenfalls berechtigt sein mögen. Wir zitieren den Text relativ ausführlich; das Problematische wird für jeden sichtbar und muß nicht ausdrücklich herausgestellt werden. Zu Joh 1,1b sagt Schnackenburg: „So spricht die zweite Aussage (d. i. 1,1b) auch gleich von der persönlichen Gemeinschaft des Logos mit Gott; denn dies will der Satz ‚und der Logos war bei Gott‘ ausdrücken. … Die enge Verbundenheit mit dem Vater im Denken, Wollen und Handeln, ein völliges Eins-Sein (10,30; 17,10), bekundet auch der menschgewordene Gotteslogos immer wieder. Eine Bewegung auf ein Ziel hin, einen innergöttlichen (!) Lebensvorgang (!) drückt die Präposition hier sicher nicht aus, sondern ist in der Sprache der Koine gleichbedeutend para. tw/| qew/|. Wenn Jesus auf Erden (!), im Hohepriesterlichen Gebet, auf die Herrlichkeit zurückschaut, die er ‚beim Vater‘ vor der Existenz (!) des Kosmos (!) besaß (!) (17,5), so ist das der gleiche Gedanke (!): Die ‚Herrlichkeit‘, die er damals (!) besaß (!), liegt in der Nähe zu Gott (!), in der Lebensgemeinschaft mit ihm, die ihm aus der Liebe des Vaters geschenkt wurde (!) (vgl. 17,24) als von Gott herkommende, von Gottes Leben erfüllte (vgl. 5,26) und an seiner jüdisch-hellenistischen Weisheitsspekulation, der Logos-Lehre Philos und erst recht gegenüber gnostischen Auffassungen von Schöpfungspotenzen, die aus Gott hervorgehen und nacheinander emanieren, gegeben. Das Zurückschauen auf den Schöpfungsanfang ermöglicht es dem Evangelisten, den ewig-göttlichen Ursprung des Offenbarers und Retters aufzuzeigen, der ‚beim Vater‘ war (vgl. 17,5) und, ‚von oben‘ kommend, vollgültiges Offenbarungszeugnis und Heilskunde bringen konnte (3,31f), aus Ewigkeitswissen und unmittelbarer Kenntnis (vgl. 8,14). Diese ‚Vorgeschichte‘ enthüllt im Ursprung ihr Wesen und im Wesen die Vollmacht des irdischen Christus“ (209f). Wir beachten besonders die Aussagen, die irgendwie Bezug zeigen auf „Präexistenz“. Das kann helfen aufzudecken, was genauer mit diesem fraglichen Ausdruck bei Schnackenburg angesprochen sein soll. Da ist zuerst der wiederholte Einsatz des Ausdrucks „existieren“ bzw. „Existenz“ zu nennen. Im Satz Schnackenburgs heißt es z. B.: „… nicht geschaffen, sondern ‚er war‘, d. h. er existierte“ und zwar „schon damals, absolut, zeitlos“. Damit wird das „war“ in 1,1 doch als Zeit-Kategorie interpretiert. „Damals“ gibt ja eine Zeit an in einem Ablauf (welcher Art auch immer), auch wenn es vergleichend (oder unterscheidend) mit „ewig-zeitlos“ näher bestimmt wird. Weiters: „war“ ist mehr und anderes als „existierte“. Deswegen spricht auch Schnackenburg sogleich von „personaler und realer Existenz“, ohne freilich zu sagen, was er damit ausgesprochen versteht. Das wird deutlich an der eigenartigen Erklärung von 1,1b „er war bei Gott und er war Gott“. Der angeschlossene Vergleich mit Personen (was das hier meint, bleibt ungesagt) ist in Bezug auf Gott und Logos unerträglich: Wie 1,1 genau zu verstehen ist, wird mit der (besser bekannten?) Wirklichkeit des Bei- und Miteinanders von „Personen“ erklärt! „Person-Charakter“, „Wesen von Personen“ und wiederholtes „so – wie“ sind die bestimmenden Kategorien, um Joh 1,1 in seiner Aussagenfülle zu erfassen. Dazu kommt, daß alle diese Überlegungen angestellt werden, um „Präexistenz“ als Kategorie zu verstehen, unter der das im biblischen Text Ausgesagte verständlich werden soll. Es sei auch auf die Wendung „Vorgeschichte“ (Schn. schreibt es zudem in Anführungsstriche) aufmerksam gemacht. Was ist damit gemeint; was ist „Geschichte“? Und: Warum wird hier vom „irdischen Christus“ gesprochen? Weiteres später.

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Herrlichkeit partizipierende Existenz (!) bestimmt, die erste Aussage als inhaltlich (!) gefüllt und gesteigert. Es ist eine bildhafte Ausdrucksweise (!) … Die Sophia (Chokma) ist bildlich (!) Gottes Gefährtin und Mitarbeiterin (!) bei (!) der Erschaffung aller Dinge (!); der Logos ist wirklich (!) schon vor (!) der Schöpfung da (!), in persönlicher Gemeinschaft mit Gott, in Gott und aus Gott lebend. Es ist nicht nur eine tätige Partnerschaft (!), sondern mehr: eine personale Verbundenheit, so daß alles ‚Beieinander‘ auch ein ‚Ineinander‘ (vgl. 14,11f.29 u. ö.) impliziert (!). Das ‚bei Gott‘ ist nach räumlicher Vorstellungsweise (!) gesagt, von der Distanz der Welt (!) zu Gott her gesehen; das ‚in Gott (im Vater)‘ drückt vom Standpunkt des auf Erden befindlichen Sohnes (!) seine unvorstellbar tiefe und enge (!) Gemeinschaft mit dem Vater aus, die doch ihren Grund (!) in jenem vorweltlichen Sein (!) ‚bei Gott‘ hat (210f). In der gleichen, bedenklichen Weise wird auch 1,1c ausgelegt: „Den Höhepunkt stellt der dritte Satz über den präexistenten (!) Logos dar: ‚Und Gott war der Logos‘. Das letzte Wort von V 1b aufnehmend (!) und auf dieses den vollen Ton legend (!) spricht er dem Logos das Gott-Sein selbst zu (!) … ist der Logos ebenso (!) ‚Gott‘ wie derjenige, mit dem er in engster (!) Seins- und Lebensgemeinschaft (!) steht (!). Damit wird qeo,j nicht ein Gattungsbegriff, sondern bezeichnet das dem Logos und Gott gemeinsam eignende (!) Wesen (!). Nur die Fülle göttlichen Wesens (!), die der Sohn aus der Liebe des Vaters empfängt (!), gibt die Gewähr (!) für eine volle (!) Offenbarungsund Heilsmacht (vgl. 3,35) (!). Wie alles im Logoslied ist auch diese Aussage auf die Tätigkeit (!) des Logos in der Welt, auf seine Lebens- und Lichtfunktion (!) für die Menschen (V 4) und seine Gnadenmitteilung (!) nach der Inkarnation (V 14 16) (!) hingeordnet; aber sein göttliches Wesen (!) ist der Grund dafür, und darum ist qeo,j nicht nur eine Funktionsbezeichnung (!). Mit der qeo,j-Prädikation (!) beginnt tatsächlich eine christologische (!) Wesensbetrachtung (!), wenn sie auch noch immer im Dienste (!) des soteriologischen Gedankens (!) steht (vgl. Joh 20,28 ‚mein Gott‘; 1 Joh 5,20 ‚der wirkliche Gott und ewiges Leben‘) (Hervorhebungen durch Schn.). (211). Dem wird im kleingedruckten Zusatz noch einiges beigefügt, auf das wir aufmerksam machen müssen: „Der Satz des joh. Prologs steigert (!) die Aussage ‚der Logos war bei Gott‘ zum Bekenntnis seiner eigenen (!) Gott-Natur (!), d. h. seiner vollen (!) Göttlichkeit (!)“ (212). Nach der Einsichtnahme in die Kommentaraussagen Schnackenburgs zu Joh 1,1, die sich in auffallender Weise des Wortes/Begriffs „Präexistenz“ bedienen, wenden wir uns jetzt seinen Auslegungen des weiteren Textes von Joh 1 zu. Wir zitieren die wichtig erscheinenden Aussagen und fügen ggf. Bemerkungen dazu. Die Auslegung von 1,2 ist wieder bezeichnend durch sachlich unberechtigte Vorgriffe auf Aussagen späterer Joh-Stellen, was sich sogleich im ersten Satz zeigt: „Nach dieser Wesensaussage (!) über den Logos von 1,1 kehrt der Evangelist nochmals zum vorigen Satz zurück. Er will damit wohl (Vermutung!) den Ausgangspunkt (!) des Erlöserweges Jesu (!) markieren: Er war beim Vater (vgl. 1 Joh 1,2) und ist vom Vater ausgegangen (8,42; 13,3; 16,27f 30; 17,8), um nach seiner irdischen (!) Wirksamkeit dorthin (!) wie414

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der zurückzukehren (17,24). Der Ursprung (!) des eschatologischen (!) Gottgesandten liegt vor aller Zeit (!) bei Gott; das bestimmt sein Wesen (!), seine Würde, seine Vollmacht“ (212). Es ist bezeichnend, daß Schnackenburg zunächst selbst betont, 1,2 wiederhole die Aussage 1,1b; das ist ja der Fall. Dann bringt er jedoch eine gänzlich neue Auslegung, d. h. Ausdeutung mit der befremdlichen Einleitung „Er will damit wohl den Ausgangspunkt des Erlöserweges Jesu (!) markieren“. Dazu bringt er eine Fülle von Angaben aus dem späteren Textverlauf des JohEv, die in 1,1b nicht angesagt sind. Der Evangelist muß ja in den ersten Versen nicht sogleich schon den vollständigen Inhalt seines Evangeliums ansagen, auch nicht implizite. Wir bemerken auch die Angaben mit „vor“ und „nach“, den „Erlöserweg“ betreffend. Ebenso eigenartig mutet für diesen Text 1,2 der Ausdruck „Ursprung des eschatologischen Gottgesandten“ an, wovon 1,2 sicher nicht spricht. Zu 1,3 heißt es: „Erst (!) dieser Vers führt das Logoslied weiter. Der Logos ist an der Schöpfung (Hervorhebung Schn.) beteiligt; aber das Wie wird nicht näher beschrieben, sondern durch die Tatsache (!) hervorgehoben: ‚alles ist durch ihn geworden‘. Die durch die Präposition dia. angedeutete (!) Tätigkeit läßt für die Interpretation mehrere Möglichkeiten offen“ (212). Dazu ist zu sagen: Der Text 1,3 selbst spricht nicht von „Schöpfung“, sondern sagt „werden“ und „Gewordenes“. Auch von Beteiligung, gar an der Schöpfung, ist keine Rede. Logos (allein) ist das Subjekt dieses einfachen Satzes. Was genau in 1,3 mit „werden“ und mit „alles“ vom Evangelisten gemeint ist, ist offen zu belassen, wie er es sagt. Ob man mit Schnackenburg die „Möglichkeiten für die Interpretation“ bedenken will, ist zunächst nicht Sache dessen, der den Text als solchen abhört, um dann „wiederzugeben“, was er sagt, eventuell (wie wir das nennen) „mit anderen Worten“, soweit das gelingt. Alles Weitere ist schon Ausdeutung. Die darf jedoch, wenn man dem Text gerecht werden will, nicht mit Nicht-Gesagtem aufgefüllt werden; das wäre schon der Versuch einer theologischen Auswertung und systematischen Einordnung. Anschließende Überlegungen sind als solche vorzustellen; sie müssen allerdings als berechtigt erwiesen werden. Das gilt auch für das, was Schnackenburg als Vermutung vorstellt: „Zunächst wird man sich an den biblischen Schöpfungsbericht erinnern, nach dem Gott die Welt durch sein Wort erschaffen hat“ (213). Dazu: Wir haben schon gesehen, daß in Gen 1–3 (was übrigens auch kein „Schöpfungsbericht“ ist!) davon nichts steht, weder „Wort“ noch „Welt“. Das gilt um so mehr, als Schnackenburg doch wieder vom „personalen und absoluten Logos-Begriff “ spricht, der „die atl. Aussagen übersteigt (!)“, obwohl weder in Gen 1–2 noch in Joh 1,3 so etwas gesagt ist (s. o.). Auch zur Präposition dia. in 1,3 sagt Schnackenburg Inakzeptables: „Die durch die Präposition angedeutete Tätigkeit …“. Daß dia. ein sehr offener Ausdruck ist, dürfte bekannt sein (Schn. gebraucht ihn ja selbst: „durch die Präposition angedeutet“: ein erstes Beispiel). dia. muß aber keineswegs eine „Tätigkeit“ angeben bzw. einen „Täter“ oder „Mit-Täter“ bezeichnen oder andeuten. Auch „Mittel“, „Mittler“ oder „Urbild“, „Exemplarursache“ u. ä. kann gelegentlich gemeint, aber nicht prinzipiell unübersehbar angesagt sein. Der Aussage-Sinn des Wortes dia. 415

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muß vielmehr offen gelassen bleiben und aus dem jeweiligen Kontext verstanden werden. Die weiteren Ausdeutungen durch Schnackenburg, die auch von anderen Autoren angenommen und vertreten werden, im Textverlauf des Kommentars dokumentiert, sind jedenfalls äußerst fragwürdig. Das brauchen wir hier im einzelnen nicht mehr aufzuweisen, weil im Blick auf „Präexistenz“ das Notwendige schon gesagt ist: Dieser Begriff ist durch 1,1–3 unbegründet und keineswegs gefordert. 14 Für den Kommentar zu Joh 1,14 sind in Bezug auf unsere Frage zur „Präexistenz“ diese Sätze aufschlußreich: „Der Logoshymnus erreicht nun seinen Höhepunkt. Schon daß der Logos jetzt wieder ausdrücklich genannt wird, verbindet ihn mit V 1; aber auch innerlich spannt sich der Bogen zurück. In unüberhörbarer Paradoxie wird gesagt, daß der an Gottes Seite (!) weilende (!), mit voller göttlichen Würde bekleidete, ganz vom göttlichen Leben erfüllte Logos (wir bemerken, wie hier 1,1 „zitiert“ wird, doch total paraphrasierend und eigenartig spezifizierend! R. S.) in die Sphäre des Irdisch-Menschlichen, des Stofflich- Vergänglichen eintrat (!) indem (!) er Fleisch (Hervorhebung Schn.) wurde. Das ist ein neues (kai. …), einmaliges und einzigarti14 In Ergänzung zum zitierten und besprochenen Text seien einige wichtig erscheinende weitere Aus-

sagen im Kontext angefügt. Wir reihen diese Texte hier aneinander und geben, wo es angebracht erscheint, eine Bemerkung dazu. Zu 1,3 heißt es: „Nach Hebr. 1,2 hat Gott durch seinen Sohn die Äonen erschaffen, und eine Reihe von Schriftzitaten soll die gottgleiche Würde des Sohnes beweisen … Gerade dieser christologisch mit dem joh. Prolog verwandte Eingang des Hebr läßt keinen Zweifel daran, daß der Logos, der nach V 1b (und 2) in engster Gemeinschaft mit Gott steht, in V 3 als der aktiv Mitwirkender bezeichnet werden soll. Auch das Logoslied überträgt ähnlich wie Hebr. 1,10ff Gottes schöpferische Tätigkeit auf den präexistenten Christus (!) und hält doch durch den Logosbegriff (!) das Wissen fest, daß Gott der Schöpfer ist, der durch sein ‚Wort‘ alles ins Dasein rief “ (214). Dann etwas später: „Damit ist das, was über den schöpferischen Logos gesagt und gemeint ist, über alle Gedanken eines Demiurgen oder ein Zwischenwesen zwischen Gott und Welt erhaben und jeglicher Mythus überwunden … kein bloßer Ausdruck für die schöpferische Potenz Gottes oder für die Urbilder, nach denen Gott die Welt schuf … Nochmals sei betont, daß die Aussage von V 3 nicht um ihrer selbst willen gemacht wird, sondern nur, um die einmalige Größe des inkarnierten Logos aufzuzeigen und zu preisen“ (217). Diese „Auslegung“ von V 3, die betont erklärt, warum dieser Text überhaupt eingesetzt wurde („nur, um zu …“) ist unerträglich, zumal wenn man die Aussage V 3 in ihrem Gewicht voll gelten läßt. Was hier die (in sich sehr bedenkliche und durch nichts begründete) Formel „inkarnierter Logos“ überhaupt bedeuten soll, ist ein Rätsel. Wir werden diesem Problem nachzugehen haben, wenn wir 1,14 besprechen. –– Zu 1,14 werden u. a. folgende, für unser Anliegen wichtige Aussagen gemacht, die wir zitieren, ohne hier auf ihre Problematik näher einzugehen: „Mit V 4 setzt eine neue Strophe des Logos-Hymnus ein, die das Verhältnis des Logos zur Menschenwelt beschreibt (!). Wie er für die ganze Schöpfung der Vermittler (!) ihrer Existenz (!) war, so für die Menschen der Übermittler (!) alles dessen, was ihrer besonderen Existenz erst die Fülle und Sinnerfüllung gibt: Leben und Licht (Hervorhebung Schn.) … Das Leben, das im Logos war, bedeutet für die Menschen das Licht …“ (217). Dann: „Er (d. i. der Logos) wird für sie zur Quelle des Lebens und zum Spender des göttlichen Lichtes. Er hatte diese heilbringende (!) Funktion (!) für die Menschen seit (!) der Schöpfung übernommen (!) und sollte sie für alle Geschlechter ausüben (!) (vgl. V 9). So blickt V 4 noch auf den Schöpfungsmorgen (!), beschreibt (!) aber nicht etwa nur die Paradieseszeit (!), sondern überhaupt die Schöpfungsordnung, nach der dem Logos jene Aufgabe zufällt (!)“ (218).

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ges Geschehen, ein wirkliches Ereignis (evge,neto). Das kai. zeigt im ursprünglichen Logoshymnus einen geschichtlichen (!) Fortschritt an … Der Logos war schon (!) in einer geistigen Weise (?!) in der Welt anwesend (!) und wirksam, wenn er auch auf Ablehnung bei den Menschen stieß (VV 10f – 3. Strophe); nun aber geschieht das Unfaßbare: Er kommt sogar ins Fleisch, wird Mensch und schlägt sein Zelt unter den Menschen auf. Im jetzigen Aufbau des Prologs, wie ihn der Evangelist geschaffen hat, dürfte dieses geschichtlich-einmalige und besondere Kommen des Logos im Fleisch schon ab V 9 vorausgesetzt sein; jetzt wird es in seiner vollen Realität herausgestellt. … Das Ereignishafte des wunderbaren Vorgangs (!) der Menschwerdung des göttlichen Logos kommt nach den vielen evn (VV 1 4 9 10) durch das evge,neto zum Ausdruck. Es ist ein anderes gi,nesqai als das ‚Auftreten‘ Johannes’ d. T. (V 6), aber auch als das ‚Werden‘ der Schöpfungswerke (VV 3 10b); allein durch den Kontext wird es richtig erfaßt. … Mit evge,neto wird eine Veränderung in der Seinsweise (!) des Logos angesagt: Vorher war er in Herrlichkeit bei seinem Vater (vgl. 17,5 24), jetzt übernimmt er die Niedrigkeit der irdisch-menschlichen Existenz; vorher war er ‚bei Gott‘ (1,1b), jetzt schlägt er sein Zelt bei den Menschen auf, und zwar in menschlicher Gestalt, in der vollen Realität der sa,rx, um nach der Rückkehr zu seinem Vater die Herrlichkeit der himmlischen Seinsweise (!) wiederzuerlangen (V 17,5). Das ist eine heilsgeschichtliche Betrachtung, die sich auch in der Redeweise vom Hinabund Hinaufsteigen des Menschensohnes Ausdruck verschafft (3,13.31; 6,62) … Das ‚Fleisch-Werden‘ des Logos bezeichnet also einen Wendepunkt in der Heilsgeschichte, eröffnet eine letzte (‚eschatologische‘) Heilsmöglichkeit für die Menschen …“ (241–242). Wir haben innerhalb des Zitates durch (!) kenntlich gemacht, was als zu hinterfragende Wörter, Begriffe oder Sätze anzusehen ist. Es sei dazu jetzt auf Bestimmtes aufmerksam gemacht, was das Verständnis von „Präexistenz“ nach Schnakkenburg impliziert. Der Ausdruck selbst begegnet ja in dieser Kommentarpassage nicht. Genannt sei zuerst der eigenartige Gebrauch der Wendungen „Geschehen“, „Ereignis“ „das Ereignishafte“ u. ä. in Bezug auf 1,14. Dazu gehört auch, für diesen Vers „Geschichte“ und „Heilsgeschichte“ einzusetzen, um z. B. vom „geschichtlicheinmaligen Kommen des Logos“ zu sprechen. Dem entspricht, daß dieses alles durch ein „Vorher – Nachher“ vorgestellt wird, das sich gerade auch auf die verschiedenen „Seinsweisen“ des Logos bezieht. Die Frage ist dabei aufgeworfen, wie das „Vorher“, nämlich „beim Vater sein“ mit „Seinsweise“ des Logos zusammengeschaut werden kann oder muß, um das Nachher überhaupt aussagbar zu machen: „Rückkehr zu seinem Vater, die Herrlichkeit der himmlischen Seinsweise wiederzuerlangen (!)“. Auch sei auf den Ausdruck „Existenz“ aufmerksam gemacht, der mehrmals begegnet, z. B. „irdisch- menschliche Existenz“: Was bedeutet da genau „Existenz“? Auf alle diese Fragepunkte kommen wir zurück, wenn wir die systematische Zusammenschau zu geben versuchen. In den Kommentaraussagen zu 1,15–18 finden sich nur einige, freilich wichtige Beispiele für den Gebrauch von „Präexistenz“. So zu 1,15: „Noch schärfer als VV 6–8 417

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durchbricht V 15 den Zusammenhang. Obwohl V 16 eng an V 14 anknüpft, schiebt der Evangelist ein Zeugnis Johannes‘ des Täufers ein, das die Vorrangstellung des Inkarnierten von ihm selbst mit seiner Präexistenz begründet. Den in 1,6 begonnenen Geschichtsbericht will er damit nicht fortsetzen … Johannesjünger … Demgegenüber läßt der Evangelist Johannes selbst versichern, daß der zeitlich nach ihm Kommende dem Range nach über ihm stehe (e;mprosqe,n mou), weil er in Wirklichkeit vor ihm (prw/to,j mou) existierte“ (249f). Wir bemerken die Wortwahl des Kommentators (statt „war“ sagt er „existierte“ u. a.) und die Einordnung der Verse unter „Geschichtsbericht“, der gar nicht im JohText vorkommt. Jedenfalls ein Beispiel, für was „Präexistenz“ eingesetzt wird. Zu 1,18 wird u. a. dieses gesagt: „Der Offenbarer kann autoritativ künden, weil er der Einzigerzeugte ist und in engster, auch während seines Erdenlebens nicht aufgehobener Verbundenheit mit dem Vater steht, ihm wesensgleich und im Wirken geeint. Das einzigartige Sohnesverhältnis Jesu zu Gott dem Vater entfaltet Joh in den Offenbarungsreden seines Ev; für ihn ist der irdisch Sprechende identisch mit dem Logos, von dem der Hymnus sang, so daß sich die Aussagen über Präexistenz, Gottesnähe und Göttlichkeit des Logos (1,1) in der Selbstbezeugung Jesu fortsetzen. Der Inkarnierte (!) hält das unmittelbare Gotteswissen seiner Präexistenz fest, der vom Himmel Herabgestiegene bleibt sich seiner himmlischen Erfahrung (!) voll bewußt (vgl. 3,32) … Am Ende seines Prologs will der Evangelist noch einmal die göttliche Dignität, aber auch Offenbarungsfähigkeit des auf Erden erschienenen Gottessohnes ausdrücken“ (255f). Zusammen mit dem zu Joh 1,18 Gesagten (s. o.) wird hier wieder dasselbe deutlich, nämlich daß ein bibelfremder Begriff leitend wird für das Verständnis des Joh. Textes. Im Kontext des Kommentars zu 1,29–30 finden sich diese bezeichnenden Sätze: „Der theologisch so tief gefüllte Ausruf Joh 1,29 muß auch neben den nicht minder tiefen theologischen Ausspruch 1,30 (vgl. 1,15) gestellt werden, der mit seiner Bezeugung der realen Präexistenz Jesu das gleiche Problem aufwirft … bezeugt Johannes: ‚Er war früher als ich‘ (zu prw/to,j mou s. 1,15). Damit kann auch in dieser Situation (wie in V 15) nur die reale Präexistenz Jesu gemeint sein … Die tiefen christologischen Aussagen der Urkirche schon im Munde des Täufers! Für den Glauben an die Präexistenz des Messias bietet die EbedJahwe-Prophetie … keinen Anhaltspunkt. Nur in der Apokalyptik … wird eine himmlische reale Präexistenz des Messias (des ‚Menschensohnes‘) zur Zeit Jesu gelehrt, und hier wird auch eine Wurzel für den zeitig nachweisbaren Glauben der Urkirche an die Präexistenz ihres Messias liegen (vgl. Exk. 2). Auch bei Joh könnte der Gedanke in die Darstellung verflochten sein, der so charakteristisch für die apokalyptische Anschauung ist, nämlich daß der Messias aus der (himmlischen) Verborgenheit hervortritt und sich offenbart (Hervorhebung Schn.)… (…); aber die Präexistenz hat darüber hinaus – aufgrund des Logos-Hymnus – ein eigenes Gewicht. Sollte der Täufer nur den apokalyptischen Präexistenz-Gedanken aufnehmen, müßte V 30 anders formuliert sein; er bezeugt die Präexistenz Jesu, wie schon V 15 verrät, im christlichen Sinn. Da ihm weder die übliche jüdische Messiasdogmatik (!) diesen Gedanken ein418

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„Präexistenz Christi“

gab noch auch eine Herleitung aus der Himmelsstimme bzw. der ihm zuteil gewordenen Gottesoffenbarung für uns erkennbar wird (vgl. V 33), werden wir auch hier (wie in V 29) mit einer verdeutlichenden Interpretation des Evangelisten rechnen (!) müssen. Die Grundlage und das Recht dazu gewann er aus dem Zeugnis des Täufers für die Überlegenheit Jesu, die für ihn in letzter Konsequenz zum Präexistenzgedanken führte (!)“ (288 und 289f). Wieder bemerken wir die Eigenart, daß ein Begriff für das Verständnis des Joh-Textes herangezogen wird, der unbiblisch ist und nur durch „theologisches Nachrechnen“ (s. im Text) als gültig „bewiesen“ wird. Zu diesen bisher besprochenen Kommentar-Aussagen mittels „Präexistenz“ sei der „Exkurs 2: Der Präexistenzgedanke“ (290–302) genannt, den er nach der Auslegung von 1,29–30 bringt. Bezeichnend ist schon, daß über den „Präexistenzgedanken“ gehandelt wird. Wichtig ist, wie Schnackenburg die Notwendigkeit eines solchen Exkurses angibt: „Es dürfte kaum zweifelhaft sein, daß Johannes der Täufer mit seinem Zeugnis für die Präexistenz Jesu das christliche Bekenntnis ausdrücken soll. Abgesehen von der historischen Frage, ob das für ihn möglich oder wahrscheinlich ist … interessiert die religionsgeschichtliche Frage, aus welchen Voraussetzungen der Gedanke (!) an die reale Präexistenz eines Menschen vor seiner Geburt (!), ja vor der Weltschöpfung (vgl. zu 1,1) auftauchen (!) und sich festigen konnte. Auch die Präexistenz ist sicher kein völlig neuer, vom Himmel gefallener (!) Gedanke; aber der nächste Anknüpfungspunkt des christlichen Bekenntnisses ist nicht nebensächlich. Auch hier geht es bei der Frage (!) nach der Herkunft des Logostitels vor allem um die Hypothese, daß der Christusglaube einen gnostischen Mythus aufgenommen und seine Christologie (wenigstens äußerlich) in eine gnostisch-mythologische Sprache gekleidet hat. Sind die jüdischen Voraussetzungen des Präexistenzgedankens ausreichend, um den christlichen Glauben an den präexistenten Erlöser zu erklären, gewiß nicht im Sinne einer bloßen Anwendung jüdischer Theologumena, sondern einer eminenten Übersteigerung, oder muß man von vornherein den Ausgangspunkt bei jenem alten, letztlich heidnischen Mythus nehmen?“ (290f). Schnackenburg unterteilt seine Darlegungen so: Zunächst wird gesprochen über „1. Jüdische Präexistenzgedanken“, wo es zu Beginn heißt: „Nach der jüdischen Theologie existieren bestimmte für sie bedeutsame Dinge schon vor der Erschaffung der Welt, und sie bringt dafür jeweils Schriftbegründungen bei“. Dann wird das zu Sagende dargeboten: „a) Die jüdische Lehre von der Präexistenz bestimmter theologischer Größen“ (darunter werden zahlreiche „Wesen“ aufgeführt, für uns besonders: die Tora „als (wirklich) erschaffene präexistente Größe“; „Präexistenz der Heilsgüter“; die „Präexistenz des Heilsführers bzw. des ‚Namens des Messias‘, „Präexistenz der Seelen (und auch der Seele des Messias)“). Dazu zum Abschluß: „In der Auslegung selbst (d. i. Schnackenburgs) wurde genügend auf die Präexistenz-Vorstellung für die göttliche Weisheit bzw. Tora hingewiesen, die eine eigentümlich bildhafte ‚Verdinglichung‘ (in personifizierender Redeweise) der Gedanken Gottes für Schöpfung und Menschengeschichte ist. Es handelt sich zwar weder um eine wirkliche Personifizierung noch auch eine reale, ‚außerhalb‘ Gottes be419

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stehende Präexistenz; aber auch die Kategorie einer rein ‚ideellen‘ Präexistenz scheint nicht ganz unangemessen zu sein“ (293f). Dann folgt „b) Die apokalyptische Vorstellung vom präexistenten ‚Menschensohn‘ (darin „ihn als präexistentes Himmelswesen‘ erscheinen lassen“ (295) und „Es zeigt jedenfalls die Fähigkeit des Judentums, verschiedene Präexistenzgedanken in sich aufzunehmen und für seine Theologie fruchtbar zu machen“ (296)“. Dann folgt „2. Der gnostische Präexistenzgedanke“ (297–309), dem dann schließlich das Wichtigste folgt: „3. Der Präexistenzgedanke im Joh-Ev“ (300–302). Daraus seien diese Sätze vorgestellt: „Die Aussagen über die Präexistenz des joh. Christus (!), zu denen außer den Stellen im Prolog und dem Zeugnis des Täufers (1,30 vgl. 15) noch seine Selbstaussagen in 6.62 (‚wo er vorher war‘); 8,58 (‚ehe Abraham ward, bin ich‘) und im Hohepriesterlichen Gebet (17,5 24) gehören, aber indirekt noch viele weitere Stellen hinzukommen, in denen er seine Präexistenz voraussetzt (…), zeigen im Vergleich mit den jüdischen und gnostischen Texten eine unverkennbare Eigenart, obwohl man auch gewisse Berührungen feststellen kann. Für den jüdischen Bereich wurde die Ähnlichkeit des joh präexistenten Logos mit der ‚Weisheit‘ schon genügend hingewiesen, aber auch die reale und personale Präexistenz des Logos, die keine Entsprechung findet, hervorgehoben (vgl. Exk. 1) … Es ist beachtlich, daß sich der Präexistenzgedanke im Joh-Ev an den Titel ‚Menschensohn‘ bindet (vgl. 3,13; 6,62)“ (300). Dann „Achten wir auf die Präexistenz-Aussagen selbst, so haben sie eher jüdischen als gnostischen Charakter. Das Zeugnis des Täufers vergleicht zwei irdische Menschen, Johannes und Jesus, und stellt den einen (Jesus) über den anderen, ‚weil er eher war als ich‘. Diese geschichtlich gesehene und ganz real gedachte Präexistenz paßt nicht in gnostisches Denken, ist aber für jüdische Denkansätze nicht unmöglich … Die Herkunft der joh. Präexistenz-Aussagen kann nun aber auch positiv aufgezeigt werden, nämlich aus der schon vor Joh liegenden urchristlichen Christologie (!). Paulus gibt wenigstens ein Beispiel dafür, wie ein Jude durch Spekulation über Schrifttexte zu Präexistenz-Aussagen gelangen konnte: in der Deutung des in der Wüste mit Israel wandernden Felsens auf Christus (1 Kor 10,4)“ (301: 302: dazu zitiert er E. Schweizer: „Paulus ist die – selbstverständlich vorausgesetzte – Vorstellung von der Präexistenz Jesu durch die Weisheitsspekulation vermittelt worden …“, was inakzeptabel ist). … Nun kann man sicher von Joh nicht unmittelbar auf Paulus rekurrieren; aber die Bezugnahme auf die Weisheitsspekulation ist auch in Hebr 1,3 mit Händen zu greifen (vgl. Weish 7,25f) und für den (vorpaulinischen) Hymnus Kol 1,15ff mit guten Gründen zu vermuten. … Daran hat der 4. Evangelist angeknüpft, die Präexistenz-Aussagen freilich dann auch im Sinne seiner Christologie unterstrichen und vertieft. … Freilich bleibt die Möglichkeit, daß schon das hellenistische Christentum vor Joh den gnostischen Mythus aufnahm. Aber nach der erkennbaren Entwicklung der Christologie kann und muß man fragen, ob die an Christus glaubende Gemeinde nicht auf andere Weise zu ihren Präexistenz-Aussagen über Christus gelangt ist …“ (302). Wir bemerken den ganz eigenartigen Vermutungscharakter aller dieser Überlegungen, wobei nie überlegt wird, ob die als Präexi420

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„Präexistenz Christi“

stenz-Aussagen bezeichneten Auffassungen des NT nicht doch sogar aus der eigenen Offenbarungsquelle unmittelbar herrührten und folglich der Einsatz dieses fraglichen Wortes/Begriffs „Präexistenz“ absolut unberechtigt erfolgt. Das ntl. Geschehen dürfte doch auch einige absolut neue Erkenntnisse gebracht haben, die dementsprechend überhaupt als „bisher unerhört“ begriffen wurden, so daß man sie zunächst noch unbeholfen ins Wort brachte!

3. Aussage-Inhalte von „Präexistenz“ in den Kommentaren

In den eingesehenen und besprochenen bibelwissenschaftlichen Arbeiten begegnet seltenst eine Definition oder doch hinreichend klare Bestimmung dessen, was mit dem Ausdruck (Wort, Begriff ) „Präexistenz“ gemeint und angesprochen sein soll. K. H. Kuschel gibt eine entsprechende Angabe: „Die Frage soll untersucht werden: Ist es evident, daß Paulus eine Präexistenzchristologie vertreten hat? Unter Präexistenzchristologie ist terminologisch präzise folgendes zu verstehen: Nicht nur eine gelegentliche Präexistenz-Aussage, sondern eine konzeptionell durchdachte Vorstellung von einer selbständigen vorweltlichen Existenz und Rolle des Gottessohnes Jesus Christus in Gottes Ewigkeit vor seiner Menschwerdung wie sie in den johanneischen Schriften des Neuen Testamentes bezeugt ist, wie man sie in den Schöpfungsmittlerschaftsaussagen von Kolosser 1 und Hebr 1 findet und wie sie später unter dem Stichwort ‚Gottheit Christi‘ als dogmatischer Topos gefaßt werden wird“ (143 in seinem Beitrag „Exegese und Dogmatik – Harmonie oder Konflikt?“ in R. Laufen (Hrsg.), „Gottes ewiger Sohn. Die Präexistenz Christi“ 1997). J. Habermann, „Präexistenzaussagen im Neuen Testament“ im zuvor genannten Buch spricht es so aus: „Zuletzt sei darauf hingewiesen, daß wir keine bestimmte und damit einengende Definition von ‚Präexistenz‘ zur Voraussetzung machen. Wir gehen bei der Verwendung des Begriffs lediglich von seinem Sein vor dem irdischen Sein aus, ohne damit sofort ein Sein vor der Schöpfung und/oder in der Ewigkeit zu verbinden“ (20). W. Thüsing bringt eine Art Bestimmung für „Präexistenz“ innerhalb seiner Überlegungen, die aber nicht als allgemeine, gar verbindliche Definition gelten will (K. Rahner – W. Thüsing, Christologie – systematisch und exegetisch. QD 55, 1972, im Abschnitt „Zum Sinn des Begriffs ‚Präexistenz‘, 249): „Präexistenz bedeutet: Gott ist von vornherein so, daß er Selbstmitteilung in diesem intensivsten Sinn der Jesusoffenbarung wollen kann: Er ist ‚Jahwe‘ – in dem Sinn, wie dieser Name von der Selbstmitteilung in Jesus her verstanden werden kann. (Das wird noch weiter besprochen.) Man kann fragen, ob man die Chiffre ‚Präexistenz‘ heute nicht anders übersetzen kann. Das dürfte möglich und pastoraltheologisch zweckmäßig sein …“ (249 und 250). Wir erkennen an den zitierten Autoren ein großes Problembewußtsein, das die meist vorgefundene Leichtfertigkeit und Selbst-Verständlichkeit kritisch bewerten läßt. Wir haben damit 421

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Unbiblische und sach-fremde Wörter/Begriffe in Anwendung auf die ntl. Texte

hinreichend deutlich gemacht, daß es im hier folgenden nur um den beispielhaften Aufweis gehen kann, was alles mit diesem fragwürdigen Ausdruck angesprochen wird. Das sehen wir uns näher an. a) Formelhafter Gebrauch von „Präexistenz Christi“

Hier sei als ein Beispiel U. B. Müller mit seinem Buch „Die Menschwerdung des Gottessohnes“ (SBS 140) zitiert: „Die synoptischen Evangelien … sie artikulieren ein vergleichbares Interesse, wie es im Gedanken der Inkarnation des präexistenten Gottessohnes zum Ausdruck kommt. Nur daß die Problematik sich im Rahmen einer Präexistenzchristologie noch verschärft“ (13). Dann: „Allein im Rahmen der Präexistenzchristologie konnte das Problem wirklich auftauchen, weil hier zum ersten Mal Vorstellungen über die göttliche Sendung bzw. das Sein des Gottessohnes impliziert sind, der dann Mensch werden mußte, um das Heilswerk gegenüber den Menschen durchzuführen … Im Kontext geht es um die Botschaft, die von ‚seinem (d. h. Gottes) Sohn‘ handelt, der nach paulinischen Verständnis der präexistente Gottessohn ist (Gal 4,4f; Röm 8,3), der aber zufolge der Formel erst aufgrund der Auferstehung dazu erhöht wurde. Wenn nun Paulus die erste Zeile der Formel: ‚geboren aus Davids Samen (nach dem Fleische?)‘ im Zusammenhang seiner Präexistenzchristologie übernimmt, so ist mit ihr implizit eine Aussage über die Menschwerdung gemacht“ (14; zuvor ist die Rede von „einer wesensmäßig gedachten Gottessohnschaft“: ebd.). Dann: „… so hätte die Menschwerdung des präexistenten Gottessohnes bereits vorausgesetzt, da der Präexistenzgedanke zur Formel gehört“ (15). Dann: „Die Problematik verschärft sich, wenn man die Rede von der göttlichen morphe (Gestalt) näher betrachtet, die der Präexistente innehat, die er aber zugunsten der Sklavengestalt aufgibt (Phil 2,6f). Beide Male taucht derselbe Begriff auf, wenn auch in verschieden nuancierter Verbindung: a) Der Präexistente ist ‚in Gottesgestalt‘, d. h. was seine Göttlichkeit bestimmt …“ (21; diese Sprechweise wird auch S. 22 und 23 beibehalten, wo besonders dies auffällt: „die neue menschliche Existenz des Präexistenten“!). Dann noch zu Phil 2,6f: „Daß sogar ein Gottwesen (!) sich soweit erniedrigt, sprengt die Voraussetzungen antiken Denkens (!) völlig … Die Menschwerdung des Präexistenten begegnet in Phil 2,6f als Selbstkenose des Gottgleichen, der seine Göttlichkeit aufgibt … Menschwerdung des Gottgleichen“ (28). Weitere wichtige Stellen: 34; 37; 40; 62f („Nach dem hymnischen Bekenntnis Joh 1,14.16 vermitteln sich präexistenter und auf Erden wandelnder Logos so, daß der Logos Fleisch ‚wird‘, d. h. als Mensch erscheint, ohne daß dies eine Aufgabe seiner Göttlichkeit bedeutet … Daß und wie der präexistente Sohn, ‚der an der Brust des Vaters ist‘ (1,18), Mensch wurde, – darüber fehlen 1,14 analoge Aussagen im sonstigen Evangelium. Es dominiert vielmehr der Sendungsgedanke“). Wir bemerken an allen zitierten Stellen, daß die text-eigenen Namen „Jesus Christus“, „Logos“, „Sohn“ alle mit „Präexistenter“ ersetzt werden. Daß damit eine Textverfälschung geschieht, wird offensichtlich nicht bemerkt. 422

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„Präexistenz Christi“

b) „Präexistenz“ – ein „Gedanke“ – eine „Idee“ – „Vorstellung“?

In den bis jetzt mit ihrer Vielzahl von Auffassungen und Verwendungen des Ausdrucks „Präexistenz“ angeführten Beispielen begegnet immer wieder, daß mit diesem Wort wohl theologisch Wichtiges zur Sprache gebracht werden soll, dabei jedoch oft von „Präexistenz“-Gedanke, -Idee und -Vorstellung u. ä. die Rede ist. Da ist die Frage unvermeidbar, ob mit „Präexistenz“ nun eine reale Wirklichkeit, Vorgegebenheit bzw. Tatsächlichkeit benannt wird, oder ob etwas gemeint ist, das denkend bzw. nachdenkend ersonnen und gefunden ins Wort gekommen ist, mittels dessen etwas Reales als dieses herausgestellt wird. Ein Gedanke, eine Idee oder Vorstellung kann auch frei ersonnen sein, vielleicht um versuchsweise etwas ins gemeinsame Erkennen zu heben und verständlich darüber sprechen zu können. Solchem Gedanken muß dabei nicht a priori eine Realität entsprechen, der er gerecht wird. Das wird an den Beispielen des Schnackenburg-Kommentars des JohEv recht deutlich. Abgesehen noch davon, von wessen „Präexistenz“ in Joh 1,14 tatsächlich die Rede ist – Logos, Christus, Jesus, Inkarnierter – so wird schon in der „Einführung in den Prolog“, der Auslegung vorweg, in dieser Weise geredet (vgl. die Zitate oben im entsprechenden Abschnitt). Unter „drei Seinsweisen Christi“ wird als erstes die „Präexistenz“ genannt (200). Es begegnen die Formeln „das präexistente Sein des Logos“ (203), das „präexistente Wirken des Logos“ (204) sowie „die Präexistenz und die Rolle der Weisheit“ als VorbildVorstellung (204). Es wird vom „christlichen Logosgedanken“ gesprochen (213), der „das vorweltliche Sein des Logos“ (209) vorstelle. Dann: „Ein Wirken des Logos in der vorchristlichen Zeit ist für das urchristliche, jüdische Präexistenzgedanken und Weisheitsspekulationen aufnehmende Denken (!) nicht fernliegend … hellenistische Logos-Gedanke, angewendet auf den präexistenten Christus (1 Kor 10,4)“ (232). Weiters: „Nur in der Apokalyptik … wird eine himmlische reale Präexistenz des Messias (des ‚Menschensohnes‘) zur Zeit Jesu gelehrt, und hier wird auch die Wurzel für den zeitig nachweisbaren Glauben der Urkirche an die Präexistenz ihres Messias liegen. Auch bei Joh könnte der Gedanke in die Darstellung verflochten sein … apokalyptischer Präexistenzgedanke …“ (289f). Sehr bedeutsam ist dann, daß Schnackenburg einen Exkurs mit dem Titel „Der Präexistenzgedanke“ folgen läßt (der Exkurs zuvor heißt „Die Herkunft und Eigenart des joh. Logos-Begriffs“!)). Äußerst aufregend sind sogleich die ersten Sätze: „Es dürfte kaum zweifelhaft sein, daß Johannes der Täufer mit seinem Zeugnis für die Präexistenz Jesu das christliche Bekenntnis ausdrücken soll. … interessiert die religionsgeschichtliche Frage, aus welchen Voraussetzungen der Gedanke an die reale Präexistenz eines Menschen vor seiner Geburt, ja vor der Weltschöpfung (vgl. 1,1) auftauchen (!) und sich festigen konnte. Auch die Präexistenz ist sicher (!) kein völlig neuer, aus dem Himmel gefallener (!) Gedanke; aber der nähere Anknüpfungspunkt (!) des christlichen Bekenntnisses ist nicht nebensächlich. … Sind die jüdischen Voraussetzungen des Präexistenzgedankens (!) ausreichend (!), um den christlichen Glauben (!) an den präexistenten Erlöser (!) zu erklä423

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ren …“ (290). Im dortigen Abschnitt „3. Der Präexistenzgedanke im Joh-Ev“ findet sich: „Es ist beachtlich, daß sich der Präexistenzgedanke im Joh-Ev auch an den Titel ‚der Menschensohn‘ bindet (vgl. 3,13; 6,62)“ (300). Dazu auch: „Das Zeugnis des Täufers vergleicht zwei irdische (!) Menschen, Johannes und Jesus, und stellt den einen (Jesus) über den anderen, ‚weil er eher war als ich‘. Diese geschichtlich gesehene (!) und ganz real gedachte (!) Präexistenz paßt nicht in gnostisches Denken, ist aber für jüdische Denkansätze (!) nicht unmöglich“ (301; s. auch das Weitere dort302). ––– G. Schneider sagt in seinem Buch „Präexistenz Christi. Zum Ursprung einer neutestamentlichen Vorstellung und das Problem ihrer Auslegung“ (s. o.) dies: „P. Althaus hat die Problematik der Präeixstenz-Vorstellung für die Dogmatik benannt: ‚Da die P(räexistenz) eine in der vor- und außerchristlichen Religionswelt verbreitete Aussage ist, muß gefragt werden, ob und inwiefern der Gehalt des Glaubens an Jesus zur Aufnahme des P(räexistenz)-Gedankens führt und ob er ein angemessener und verbindlicher Ausdruck ist oder ein zeitgebundener …‘ (das wird dort weitergeführt))“ (400). Dazu: „Wer der Frage nach dem Ursprung der Präexistenz-Vorstellung nachgehen will, hat vornehmlich die beiden Topoi (!) zu prüfen, die vorpaulinisch noch unverbunden begegnen, die Aussage von der Schöpfungsmittlerschaft Christi (!) Kor 8,6) und das Christuslied, das beschreibend (!) die Erniedrigung und Erhöhung Christi besingt (Phil 2,6–11)“ (401; s. auch 409f). ––– Aus dem Phil-Kommentar von J. Gnilka seien folgende Beispiele genannt: „Der Präexistenzgedanke ist dem Verfasser des Liedes nicht aus der Bibel zugewachsen, auch nicht aus der Weisheitsliteratur … Der wesentlich von biblischen Traditionen beeinflußte Verfasser mußte den Präexistenzgedanken, wenn er ihn fremden Einflüssen verdankt, notwendig umgestalten“ (123; s. dazu auch 142f und 144f). ––– N. Walter, Phil-Kommentar NTD 8/2 schreibt u. a.: „Auch zur Präexistenz-Vorstellung des Lehrgedichts ist ein Wort zu sagen. Es spricht ja nur indirekt von einer (himmlischen) Präexistenz des Sohnes, nämlich von der Seinsweise, die er hinter sich läßt, da er das ‚Sein wie Gott‘ verläßt und sich in die Menschheit einreiht. … Als eine wichtige gedankliche Voraussetzung für die christliche Präexistenzaussage ist die vom hellenistischen Judentum … entwickelte Vorstellung von der Schöpfungsmittler-Wesenheit abstrakter Art … zu nennen, die im jüdisch-hellenistischen Urchristentum auf Jesus gedeutet (!) wurde …“ (62). c) „Präexistenz“ – Grund, bzw. Begründung der Gottessohnschaft?

Dazu seien folgende Text-Beispiele aus den Kommentaren bzw. Abhandlungen angeführt. So schreibt A. Müller, „Glaubensrede über die Mutter Jesu“ im Kapitel „Marias Messiasmutterschaft“ im dortigen Kontext dieses bzgl. der Adoptivvaterschaft Josefs: „Nach einer exegetischen Meinung war Johannes, der ‚Präexistenzchristologe‘ (!), genau wie Paulus am Thema der Empfängnis vom Heiligen Geist nicht interessiert (!), insofern für ihn die Gottessohnschaft Jesu in der Präexistenz und Inkarnation des Logos gründete. Der Befund ist gesamthaft jedenfalls der, daß Josef nicht in die Tran424

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szendenzbedeutung Jesu einbezogen wird … So gilt andererseits: Mt, Lk und Joh bauen die Transzendenzbedeutung des personalen Ursprungs ausdrücklich auf seine Mutter auf … Theologisch ist uns also die Aufgabe gestellt, den ‚Transzendenzwert‘ zu ermessen, der in der gläubigen Messiasmutterschaft Marias liegt“ (93). F. Hahn kommt in seinem Buch „Christologische Hoheitstitel“ ausdrücklich auf diesen Fragepunkt zu sprechen. Wir zitieren die wesentlichen Aussagen, ohne das Gesagte näher kritisch zu besprechen. Im Großabschnitt „§ 5. Gottessohn“ finden sich diese Sätze (wir bringen diese für unsere Fragestellung aufeinanderfolgend in verstehbaren Zusammenhang): „Erwogen wurde, ob die Gottessohnvorstellung nicht in den Rahmen der spätjüdischen Menschensohnvorstellung hineingehört und dann von ihrem Ursprung her schon im Sinne einer seit Ewigkeit bestehenden metaphysischen Sohnschaft zu verstehen sei“ (282). „Die Aussagen über die Gottessohnschaft Jesu sind nicht aus dem heidnischen Hellenismus erwachsen und sollten dagegen auch geschützt bleiben … Nirgends ist an den behandelten Stellen von einer Gottessohnschaft im physischen Sinn gesprochen“ (303 u. 304; dort in Anm. 1: „ursprünglich stand die Davidssohnschaft in Korrelation zur Gottessohnschaft des Erhöhten, auf Grund der Jungfrauengeburt wurde die Gottessohnschaft dann aber dem Irdischen zuerkannt“). „Das Motiv der Sendung des Gottessohnes erhält aber in dem Augenblick einen ganz neuen Akzent, wo es mit dem Gedanken der Inkarnation verbunden wird, denn dadurch gewinnt es seinen Bezug zur Vorstellung der Präexistenz. … Hier zeigt sich wohl am deutlichsten, wie sich das alte Sendungsmotiv mit der Anschauung von einer Herabkunft des Erlösers aus dem Himmel und seinem Erscheinen auf Erden verbunden hat, wie die Präexistenz- und Offenbarungsvorstellungen nun aber in urchristlicher Tradition im Gegensatz zu allem doketischen Denken des Hellenismus konsequent am Inkarnationsgedanken ausgerichtet worden ist“ (316 u.317). „Matthäus hat die alte Anschauung preisgegeben und die Gottessohnschaft von der jungfräulichen Zeugung her verstanden. Das zeigt die Tauferzählung 3,16f, die er zu einer durch den Geist und die Himmelsstimme vollzogenen öffentlichen Proklamation umgeformt hat. Für ihn besitzt somit die Jungfrauengeburt ein viel stärkeres Gewicht und begründet die Gottessohnschaft. – Daß Johannes den Gedanken der Sendung des Gottessohnes und die Inkarnation aufgenommen hat, braucht nur noch einmal erwähnt zu werden. Bei ihm ist die Christologie von der Präexistenz her entworfen und Auferstehung und Erhöhung als Rückkehr in die Himmelswelt verstanden“ (319). d) „Präexistenter“ als „Name“ für „Logos“, für „Jesus Christus“

Die Bildung „präexistent“ ist Partizip Präsens von „präexistieren“. Als dieses kann es (auch) adjektivisch eingesetzt und als attributives bzw. prädikatives Eigenschaftswort verwendet werden. Da „praeexsistere“ in den biblischen Sprachen und somit im biblischen Text unbekannt ist, wird dieses Verb und seine verschiedenen Ableitungen 425

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praeexsistentia u. ä. in den exegetischen Wissenschaften (und folglich in der Theologie) offensichtlich für andere Wörter und Vorstellungen, nämlich der Bibel selbst, von außen an den Text und sein Verständnis herangetragen. Der in den hymnisch-artigen Texten mit seinem eigenen Namen eindeutig Genannte wird in der exegetischen Auslegung dieser Texte mit „Präexistenter“ benannt, also mit einem bibelfremden Eigenschaftswort, das selbst das Partizip-Präsens eines Verbums ist, das auch der Bibel fremd ist. Mit diesem Wort, das faktisch als Name fungieren soll gerade für den, der bzw. von dem im Hymnus gesungen wird, und zwar aufgrund des ur-eigenen „Seins“ und „Wirkens“ dessen, der dort „Jesus Christus“ bzw. „Logos/Sohn Jahwes“ mit persönlichem Namen heißt! Das bibelfremde „Präexistenter“ ersetzt also den ureigenen Namen gerade dessen, der in der gesamten Geschichte Jahwes und seiner Geschöpfe ein (wenn man es unbedingt so sagen will und muß) absolut „Einmaliger“ und „Einzigartiger“ ist und als solcher lebt und agiert (jenseits von Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft, was immer diese sein mögen!). Ist das aber der Sinn der Auslegung des biblischen Textes seitens wissenschaftlicher Inaugenscheinnahme dieser erkanntermaßen geheimnis-vollen Text-Aussagen, zumal hymnischen Charakters, die „Sache“ des so Erfahrenen und Erkannten des Glaubens ins Wort zu bringen, das wissenschaftlich „standhalten“ soll? – Es seien für den Einsatz von „Präexistenter“ einige Beispiele angeführt (eine vollständige Erfassung ist hier nicht möglich und auch nicht anvisiert). J. Gnilka verwendet „Präexistenter“ in den wichtigsten Abschnitten seines Kommentars. Zu Anfang: „Das Christuslied (!) ist in vielerlei Hinsicht problematisch (!)“ (111). Dann: „Es sind die ersten Anfänge eines Nachsinnens über das präexistente Sein Christi, aber es ist viel mehr an dem vom Präexistenten herkommende Heilsgeschehen als an diesem orientiert“ (114; zuvor hieß es: „Das himmlische Sein (!) Christi ist eben darin in einzigartiger Weise ausgezeichnet (!), daß es nicht bloß durch Gott, sondern durch die morphe Gottes bestimmt und geprägt (!) ist“). Dann: „Eine Reihe von Exegeten möchte jetzt noch länger im Betrachten des Präexistenten verharren und in ouvc a`rpagmo.n h`gh,sato ktl. einen inneren Kampf, eine Versuchung des himmlischen Christus (!) sehen … für etwas ansehen, was die morphe Theou, in der sich der Präexistente befindet (!), noch übertrifft … Versuchung in der Präexistenz …“ (114 u. 115). Dann, immer noch zu 2,6: „Neu sei hier, daß direkt vom Präexistenten ausgesprochen werde, was sich aus anderen Stellen nur erschließen (!) ließe. Der sich an verschiedenen Stellen ‚bekundende Gehorsam Christi muß schon dem Präexistenten zu eigen gewesen (!) sein‘ (Zitat Gewieß)“ (116). Und: „… sieht Georgi die Paradoxie gerade darin, daß das präexistente Gottwesen (!) seine Selbigkeit (!) preisgebe und das annehme, was dem Göttlichen (!) entgegengesetzt und deshalb (!) nichtig ist“ (119). Und zu 2,7 u. a.: „Auch hier ist nicht der Weg des atl. Gerechten beschrieben, sondern der Weg des Präexistenten, der von sich aus die Sklaverei des Menschseins auf sich nimmt“ (120). Im Kommentar von J. Ernst findet sich dieselbe Sprechweise. So schreibt er zu 2,6: „Inhaltlich macht der Vers drei Aussagen, die sich auf den Präexistenten beziehen: 426

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a) er ist ‚in Gestalt Gottes‘; b) das bedeutet: er ist ‚Gottgleich‘; c) er verstand das aber nicht als Raub. Solche Prädikationen sind für Paulus ungewöhnlich …“ (66). Zu 2,7 u. a.: „Wir können lediglich konstatieren, daß hier zum ersten Mal – und dazu nur in einem Nebengedanken – über die Präexistenz (!) reflektiert (!) wird … Dasselbe gilt auch für den nachfolgenden Satz, der sich auf den Präexistenten bezieht: ‚Nicht als Raub verstand er das Gott-Gleich-Sein‘“ (67). Dazu: „die beiden folgenden Aussagen müssen zueinander in Beziehung gesetzt werden; beide Male ist vom Menschen die Rede. Zuerst wird gesagt: der Präexistente ist ‚gleich Menschen‘ geworden … Gedankenführung des Kontextes, dem es um das ‚Mensch-Werden‘ des Präexistenten geht“ (68). Zu 2,8: „Das Kreuz ist die letzte Station jenes Weges, den der Präexistente in der Inkarnation (!) beschritten hat. Eine christliche Gemeinde, welche den Niedrigkeitsweg Jesu (!), des präexistenten Gottessohnes beschreibt (!), kann nicht bei der allgemeinen Feststellung: er ist gleich Menschen‘ geworden, stehenbleiben … Die tiefe Erniedrigung des Präexistenten ist die Voraussetzung (!) für die Erhöhung“ (69; diese Rede weiter 70–71). ––– Auch in U. B. Müller, Menschwerdung Gottes, findet sich diese Weise zu sprechen. Wir bringen dieses Beispiel: Zu 2,6f wird im dortigen Kontext gesagt: „Denn die wirkliche Menschwerdung eines Gottwesens (!) die eine Aufgabe seiner Göttlichkeit (!) einschließt, ist für die Antike ein ungewöhnlicher Gedanke, so daß sich das Bemühen (!) des Hymnus erklären (!) läßt, in wiederholtem Ansatz (!) den schwierigen Gedanken der Inkarnation (!) auszudrücken. Auch das Fehlen einer festgeprägten Terminologie (!) spielt eine wichtige Rolle. Die sprachlichen Probleme des Hymnus (!) sind mit den inhaltlichen (!) eng verklammert. Um deren abschließende Präzisierung (!) soll es im folgenden gehen. Fragt man nämlich nach dem theologischen Stellenwert (!) der Inkarnationsaussage (!) im Hymnus, so ist das erstaunliche Wunder (!) zu betonen, daß der Präexistente (!) freiwillig seine gottgleiche Stellung aufgibt (!), um die Sklavengestalt des Menschseins anzunehmen … Der Präexistente tut damit von Anfang an (!) nicht das, was jedermann erwarten sollte, nämlich das Gottgleichsein für sich selbst auszunutzen …“ (27; wir bemerken, was dem Hymnus (!) hier zugemutet wird und wie alles unter dem Namen „Präexistenter“ durchreflektiert erscheint). e) „Präexistenz“ – eine „reale“ – „ideelle“ – „personale“?

Es fällt auf, daß der Ausdruck „Präexistenz“ oft mit bestimmten Adjektiven näher bezeichnet wird; was im einzelnen Fall genau ausgesagt sein soll, ergibt sich aus dem Zusammenhang. Wir bringen einige Beispiele, die offendecken, daß jeweils Wichtiges festgestellt sein soll. Im Joh-Kommentar von R. Schnackenburg sind folgende Beispiele zu finden. Zu Jo 1,1: „… der Logos existierte schon damals, absolut, zeitlosewig. Es ist eine reale, personale Präexistenz (vgl. 1 Joh 1,1; 2,13a), ein Gedanke, der sich in dieser Klarheit nur im Christusbekenntnis der christlichen Gemeinde findet“ (209). Dazu aus dem Kontext: „Person-Charakter des Logos … persönliche Gemein427

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schaft des Logos mit Gott … Im Prolog wird damit das uranfänglich-ewige Sein des Logos (V la) als von Gott und seiner Liebe herkommende, von Gottes Leben erfüllte (vgl. 5,20) und an seiner Herrlichkeit partizipierende (!) Existenz (!) bestimmt … der Logos ist wirklich schon vor der Schöpfung da, in persönlicher Gemeinschaft mit Gott, in Gott und aus Gott lebend“ (210). Dazu auch: „Der Logos ist nicht eine Potenz oder mythische Gestalt, sondern eine göttliche Person, die dann (!) in Jesus Christus (!) Mensch wurde …“ (220). Ähnlich dann: „Es ist ein christologischer, auf die Person des göttlichen Offenbarers und Retters konzentrierter Glaube“ (228). Dann mehrere Stellen mit „reale Präexistenz“: „Der theologisch so tief gefüllte Ausruf Joh 1,29 muß auch neben den nicht minder tiefen theologischen Ausspruch 1,30 (vgl. 1,15) gestellt werden, der mit seiner Bezeugung der realen Präexistenz Jesu das gleiche Problem aufwirft“ (288). Dazu: „Damit kann auch in dieser Situation (wie in V 15) nur die reale Präexistenz Jesu gemeint sein – ebenso überraschend wie die Andeutung des Sühnetodes Jesu … Nur in der Apokalyptik … wird eine himmlische reale Präexistenz des Messias zur Zeit Jesu gelehrt“ (289). Und: „Die Aussagen betreffen meist eine Präexistenz in den Gedanken und Plänen Gottes, lassen sich aber nicht einfach als ‚ideelle Präexistenz‘ bestimmen …“ (291). Und: „Daß in den angeführten Stellen eine reale Präexistenz der Heilsgüter gemeint sein will, darf nicht geleugnet werden; sie sind nicht bloß geplant, sondern wirklich da. In diesen Zusammenhang gehört auch die Präexistenz des Heilsführers bzw. des ‚Namens des Messias‘ … Damit ist freilich nur eine ‚ideelle‘ Präexistenz des Messias gegeben“ (293). Sehr bezeichnend ist die folgende Passage: „Immerhin zeigt sich hier die Offenheit des Judentums für die verschiedenen (!) Präexistenzgedanken. In der Auslegung selbst wurde genügend auf die Präexistenz-Vorstellung für die göttliche Weisheit bzw. Tora hingewiesen, die eine eigentümliche bildhafte ‚Verdinglichung‘ (in personifizierender Redeweise) der Gedanken Gottes für Schöpfung und Menschengeschichte ist. Es handelt sich zwar weder um eine wirkliche (!) Personifizierung noch um eine reale, ‚außerhalb‘ Gottes bestehende Präexistenz; aber auch die Kategorie einer ‚ideellen‘ Präexistenz scheint nicht ganz angemessen zu sein. Nach dem Sinn und Gehalt ist die Präexistenz-Vorstellung wieder etwas anderes als die vorher besprochene, wenn sich die wurzelhaft verschiedenen Gedanken im Judentum auch leicht vermischen“ (294). Im Unterabschnitt „3. Der Präexistenzgedanke im Joh-Ev“ wird dies gesagt: „Für den jüdischen Bereich wurde auf die Ähnlichkeit des joh. präexistenten Logos mit der ‚Weisheit‘ schon genügend hingewiesen, aber auch die reale und personale Präexistenz des Logos, die keine Entsprechung findet, hervorgehoben“ (300). Dann: „Diese geschichtlich gesehene und ganz real gedachte (!) Präexistenz paßt nicht in gnostisches Denken … Wenn eine personale Präexistenz und Göttlichkeit des Heilbringers dem Judentum auch fern lag, so übersteigt dieses christliche Bekenntnis jüdisches Denken doch nur in der gleichen Weise, wie es beim Messiasverständnis überhaupt der Fall ist“ (301; dort wird das noch weiter besprochen). Weitere Beispiele anzuführen, erübrigt sich.

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II.

„Präexistenz Christi“

f) „Präexistenz“ – Seins- bzw. Daseinsweise u. ä.

In den bisher besprochenen Kommentartexten begegnen immer wieder Stellen, die mit den Wendungen „Seinsweise“, „Daseinsweise“ „Existenzweise“ formulieren und argumentieren, um das Verständnis der betreffenden ntl. Aussagen herauszustellen. Es kommt ganz selten vor, daß der betreffende Autor eine nähere Erklärung gerade für solche Wort- und Begriffsbildungen vorlegt; meistens werden sie einfach wie selbst-verständlich gebraucht, offensichtlich im (vermeintlichen) Bewußtsein, damit das vom jeweiligen Bibeltext selbst Gemeinte und ins Wort Gebrachte für „heutiges“ Verständnis besser und leichter begreiflich auszusprechen. Daher ist es unausweichlich geboten, genauer nachzuschauen, wofür eigentlich dieserart Wendungen als berechtigt, hilfreich und sachlich richtig eingesetzt werden. Wir betreten dabei ein Problemfeld des Sprechens überhaupt, nämlich ob wir als Menschen überhaupt etwas ins Wort bringen und gültig aussprechen können, was wir jeweils anderen sagen, mitteilen, bekunden, als Aufgabe auftragen möchten, wobei zugleich immer schon vorausgesetzt ist und bleibt, daß der andere überhaupt hören, vernehmen, verstehen und begreifen kann (und will!), was wir als Aussage-Inhalt klar und eindeutig ausdrücken zu können meinen. Das war zu allen Zeiten das Problem, vor allem im Kommunizieren mittels jeweils ganz anderer, unterschiedlichster Sprachen und Formulierungsweisen. Das wurde auch schon zur atl. Zeit als problematisch empfunden, wie die LXX und ihr Werdegang zeigen. Dieselbe, fast unlösbare Aufgabe stellte sich in der Zeit der allerersten Christen (Urchristentum genannt), und sie bestimmte das verbindliche Sprechen in der jungen Kirche und in den folgenden Jahrhunderten bis heute (und weiter). Wir können hier unmöglich auf die damit angesprochenen erkenntnistheoretischen und sprachwissenschaftlichen Forschungen bis hin zur Metaphorologie u. ä. eingehen, sind uns dessen aber hell bewußt. Wir beschränken uns hier im Sinne unseres Untersuchungszieles auf die Frage, was die Bibel selbst in Bezug auf die Herkunft Jesu Christi ausspricht und wie das dort explizit Ausgesagte von der heutigen Exegese in erster Auslegung des Textes herausgehoben und dargeboten wird, was mittels weniger, allerdings sprechender Beispiele dargeboten werden kann. Da sei zunächst auf Phil 2,6–11 geschaut, weil die Kommentatoren in diesem Text ganz bewußt das zu lesen meinen was sie als „Seinsweise“ u. ä. dem Verständnis näherbringen möchten. So sagt J. Gnilka in Bezug auf morfh, in 2,6a dies: „… in der morfh, qeou/ befindliche Christus … Das himmlische Sein Christi ist eben darin in einzigartiger Weise ausgezeichnet, daß es nicht bloß durch Gott, sondern durch die morfh, Gottes bestimmt und geprägt ist. Das kann aber nicht die Gestalt und auch nicht die Stellung oder der Status sein, es ist die das Sein von seinem Wesen her prägende Daseinsweise (Hervorhebung R. S.), ein Begriff (!), der an Natur herankommt, sich jedoch nicht mit ihr deckt … die ersten Anfänge eines Nachsinnens (!) über das präexistente Sein (!) Christi“ (114; wir bemerken, daß „Sein“, „Wesen“, „Dasein“, „Daseinsweise“ und „Natur“ begrifflich un429

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erklärt bleiben). Dazu dann auch dies: „Dabei rückt das ei=nai i;sa qew/| auf die gleiche Ebene wie das evn morfh/| qeou/ u`pa,rcwn. Es geht beide Male grundsätzlich um dasselbe Anliegen, nur wird jetzt in der Tat nicht die Daseinsweise, sondern die Stellung betont“ (117; 118 wird dann auch von „Daseinsweise des Sklaven“ gesprochen, und für Christus „Gottwesen“ statt „Natur“, die nicht gemeint sei, gesetzt). Dazu noch: „Die Entäußerung findet ihre erste Erläuterung im morfh.n dou,lou labw,n … muß hier die morfh, im gleichen Sinne interpretiert werden wie dort. War es dort die Daseinsweise Gottes, so hier die des Sklaven“ (119). Zu Phil 2,6 bemerkt übrigens J. Habermann, „Präexistenz … im Neuen Testament“ (s. o.) abschließend dies: „Morfh, bedeutet in Phil 2 nicht einfach das göttliche Wesen … (es werden fünf andere „Versuche“ es zu fassen, genannt: R. S.). So wirkt am überzeugendsten nach unserem Verständnis die Übersetzung von morfh, als ‚Daseinsweise‘. Gemeint ist die spezifische Art und Weise des Seins Gottes und die eines Knechtes. Es geht aber nicht besonders um das Wesen, denn dann hieße die entscheidende Frage: Was ist das Wesen, was ist die Substanz eines Knechtes (daß diese Frage natürlich auch für Gott gestellt wäre, übersieht der Autor: R. S.). Richtig aber dürfte sein, daß mit der Daseinsweise auch etwas über das Sein ausgesagt wird. Der in der göttlichen Daseinsweise befindliche (!) Christus hat damit u. E. Anteil (!) am göttlichen Wesen … es geht bei morfh, primär (!) um die Daseinsweise“ (118; wir bemerken, daß alle eingesetzten Termini selbst ganz un-bestimmt bleiben). ––– R. Schnackenburg spricht öfter von „Seinsweisen“, jedoch auch ohne eine Erklärung dazu zu geben. So im Kontext seiner „Einführung in den Prolog“ eher nebenbei: „Schließlich ist noch eine Beobachtung für die Zuordnung von Prolog und anschließendem Ev-Bericht wichtig: V 18 … führt genau zu dem Punkt, bei dem das Ev mit seiner Botschaft einsetzen kann: der Offenbarungstätigkeit des inkarnierten Logos. S. de Ausejo hat richtig beobachtet (der Artikel wird angegeben), daß sonst alle urkirchlichen ‚Christushymnen‘ die drei Seinsweisen Christi (und entsprechend drei Strophen) enthalten: Präexistenz – irdisches Leben – Erhöhung, und er möchte sie auch noch in dem Christushymnus des Prologs erkennen …“ (200). Ähnlich findet sich die Wendung dann so: „… die Wahl von sa,rx für die Menschwerdung braucht zunächst … nicht zu überraschen, trägt aber im Logos-Hymnus doch einen besonderen Akzent, da nicht die irdische und spätere ‚pneumatische‘ Seinsweise wie jener alten sa,rx – pneu/ma – Christologie gegenübergestellt werden, sondern aller Nachdruck auf das Eintreten des Logos in den irdisch-stofflichen Bereich fällt“ (207). Sehr wichtig erscheint dem Autor dieser Passus zu sein: Zu 1,14 heißt es: „Mit evge,neto wird eine Veränderung in der Seinsweise des Logos angesagt: Vorher war er in der Herrlichkeit bei seinem Vater (vgl. 17,5.24), jetzt übernimmt er die Niedrigkeit der irdisch-menschlichen Existenz; vorher war er ‚bei Gott‘ (1,1b), jetzt schlägt er sein Zelt bei den Menschen auf, und zwar in menschlicher Gestalt, in der vollen Realität der sa,rx, um nach der Rückkehr zu seinem Vater die Herrlichkeit der himmlischen Seinsweise wiederzuerlangen (17,5). Der Hinab- und Hinaufsteigende ist der gleiche, der himmlische Menschensohn, der auch auf Erden in beständiger Verbindung mit 430

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„Präexistenz Christi“

dem Himmel ist (1,51)“ (242). Wir bemerken, daß „Seinsweise“ für wichtige Aussagen eingesetzt wird, als sei es eine selbst-verständliche Kategorie. ––– Ähnlich wird auch in anderen Kommentaren diese Ausdrucksweise verwendet, ohne daß erkennbar wäre, was sie jeweils genau ansagen soll. So etwa bei H. Schürmann, Luk-Kommentar, zu Lk 1,35b: „Die christologische Aussage ist der von Röm 1,3f auffallend verwandt, wo eine alte Glaubensformel verarbeitet ist und wo die Existenzweise Jesu als erhöhter ui`o.j qeou/ evn duna,mei, durch das pneu/ma a`giwsu,nhj bewirkt wird. Verwandte Formeln beschreiben … Lk 1,35 ist die ‚Heiligkeit‘ und ‚Gottessohnschaft‘ aber … schon der menschlichen Natur (!) Jesu in ihrer irdischen Existenzphase zuerkannt“ (55). ––– Fr. Hahn, Christologische Hoheitstitel, sagt im dort gegebenen Kontext zu Röm 1,4 u. a. dies: „Daß pneu/ma nicht individuell und kata. nicht instrumental verstanden werden darf, bedarf bei der Parallelität zu kata. sa,rka in V. 3 keines weiteren Beweises (!), damit also auch die Bezeichnungen (!) des menschlichen und himmlischen Welt (!), dann muß (!) kata. pneu/ma a`giwsu,nhj als eine Bestimmung (!) der himmlischen Existenzweise angesehen werden. Zwar ist sofort zu präzisieren, daß diese Aussage keinesfalls im Sinne himmlischer, göttlicher ‚Natur‘ ausgedeutet werden darf, denn eine derartige Vorstellung ist der Formel und der ihr zugrunde liegenden jüdischen Denkweise fremd. Man darf auch nicht die Antithese von Körperlichkeit und Unkörperlichkeit hineinbringen … In seiner himmlischen Existenzweise hat der aus dem Samen Davids Geborene und von den Toten Auferweckte die machtvolle Funktion (!) des Gottessohnes übernommen (!) und das messianische Amt angetreten“ (256). Wir bemerken, was alles angesprochen sein soll; Worterklärungen oder gültige Bestimmungen werden jedoch nicht dargeboten. Th. Söding spricht in seinem Artikel „Davidssohn und Gottessohn“ (zu Röm 1,3f) das Problem an, bleibt aber weiter dieser Sprechweise verhaftet. Er sagt: „Die Suche nach Alternativen ist nicht leicht. Wer zwei ‚Existenzweisen‘ sieht, sucht die Zwei-Naturen-Lehre im Gespräch mit der existentialen Philosophie zu übersetzen. Kann aber die große Kluft zwischen dem modernen Existenz-Begriff und der Biblischen Theologie kaum überbrücken … Ein Neuansatz bleibt problematisch, kann nie alle Aspekte einfangen und braucht eine hermeneutische Reflexion auf die philosophisch-theologischen Kategorien der Begriffsbildung, die letztlich biblisch fundiert sein müssen … (354f). Zwei Seiten weiter heißt es dann aber: „Im Blick auf verwandte Texte wie 1 Tim 3,16 mag man daran denken, von zwei Erscheinungsweisen Jesu zu sprechen … Die christologische Einheit, die in der Verschiedenheit liegt (?), ließe sich gut in der Metapher zweier Pole ausdrücken; doch kommt dann die Zeitstruktur der ‚Formel‘ zu kurz. Darf man von einer zweidimensionalen Christologie sprechen? …“ (356). Wir bemerken die Hilflosigkeit des Suchens nach „anderen“ gültigen Kategorien. Warum bleibt man nicht bei der Sprache der Bibel, die eindeutig ist? ––– H. J. Schoeps hat sein Buch „Paulus – Die Theologie des Apostels im Lichte der jüdischen Religionsgeschichte“ (1959) erklärtermaßen als Religionshistoriker (im Kontext bezeichnet er sich als „nicht christlicher Theologe, als ungläubig oder anders 431

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gläubiger Religionswissenschaftler“: V), den als solchen das Thema interessiert. In allem kritischen (meist sehr berechtigten!) Schauen und das Erkannte Aussprechen scheint jedoch auch er den Ausdrücken „Präexistenz“, „Seinsweisen“ u. ä. nicht entraten zu können (oder zu wollen). Dazu einige Textbeispiele, die für sich sprechen. Im Unterabschnitt „Der paulinische Sohn-Gottes-Glaube“ heißt es: „Wir haben bereits ausführlich besprochen, daß Paulus nicht wie die Synoptiker an den irdischen Erscheinungsformen Jesu, sondern am erhöhten pneumatischen Christus orientiert gewesen ist. Die göttliche Seinsweise Jesu, die übernatürliche Herkunft und Zukunft des Gekreuzigten und damit auch seine substantielle Gottessohnschaft ist das eigentliche Thema seiner Christologie … Erst Paulus hat in der Reflexion der messianischen Gestalt aus dem Würdetitel eine ontologische Aussage gemacht und diese in die mythische Denkform erhoben … Das Judentum der Zeit hat den Gedanken einer ideellen Präexistenz des Messias – besser seines Namens – sehr wohl gekannt … Aber eine reale Präexistenz des Messias, die es erlaubt hätte, mit Paulus von einer realen Gottmenschlichkeit des Messias oder auch des Menschensohnes zu sprechen, hat das Judentum – auch das hellenistische – niemals gelehrt“ (153f; daß Paulus zwanzig Jahre vor den Synoptikern geschrieben hat, scheint Schoeps nicht zu bemerken; auch das er hymnusartige Vorlagen verwendete, wird nicht beachtet: R. S.). Dann: „Die Röm 1,3 erwähnte davidische Abstammung Jesu, vom Weibe geboren (Gal 4,4) und an den Gebärden wie ein Mensch erfunden (Phil 2,7), verschwindet bei Paulus gänzlich hinter der anderen Herkunft und Seinsweise, daß er präexistenter Gottessohn und Kyrios ist, durch die Auferstehung dazu bestellt (…) … Der geläufige Titel ui`o.j qeou/ … ist bei Paulus häufig durch typologische Bezugnahmen, die Christus in das AT hineintragen, mit seiner Präexistenz und vormenschlichen Wirksamkeit verbunden worden (so 1 Kor 10,4), daß er der zum Erlösungswerk vom Himmel gesandte Gottessohn sei“ (154f). Dem schließt sich sogleich dies an: „Als ui`o.j qeou/ erscheint Jesus bei Paulus ‚als ein überweltliches, in engster metaphysischer Beziehung zu Gott stehendes Wesen‘ (Zitat Bousset). In seiner fleischlichen Existenz Davidssohn, ist er in seiner pneumatischen Gottessohn, da pneu/ma bei Paulus so etwas wie die himmlische Sphäre oder ihre Substanz bezeichnet“ (156). Und dann: „Dieser himmlische Christus scheint den geschichtlichen Jesus ganz in sich aufgesogen zu haben. Als präexistenter Gottessohn und Schöpfungsmittler ist er nahezu eine mythische Größe, deren Berührung mit der irdischen Sphäre nur noch schwach ist … Die Jerusalemer synoptische Tradition weiß jedenfalls von Präexistenz und Schöpfermittlerschaft nichts“ (157; dazu auch 158). g) „Präexistenz“ als „vorzeitliche“ bzw. „vorirdische“ Existenz Christi

Wenn in den Kommentaren von „Präexistenz Christi“ die Rede ist, so werden recht unterschiedliche Aussage-Elemente angegeben, die dieser Ausdruck zur Sprache bringen soll und die gleichsam unter ihm als umfassenden Begriff eingeordnet er432

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scheinen. Da sei jetzt auf „vorzeitlich“, „vorirdisch“ und „vorweltlich“ hingewiesen. So heißt es z. B. bei U. B. Müller in seinen einleitenden Sätzen: „Eines ist bei den hier zu untersuchenden Texten jeweils vorausgesetzt, die mehr oder minder deutlich reflektierte (!) Vorstellung der Präexistenz Christi: Denn nur dann (!) kann im strengen Sinn von der Menschwerdung geredet werden, wenn Christi ‚vorzeitliche‘ Daseinsweise (!) wenigsten ansatzweise (!) mitbedacht ist. Allein dort, wo das Anliegen (!) der Präexistenzidee (!) gilt, daß das Heilsgeschehen betontermaßen seinen Ursprung in Gott selber hat, nicht in innerweltlichen Voraussetzungen, daß uns im ‚Sohn‘ Jesus der ‚Vater‘ ganz begegnet …, kann auch das Problem zugespitzt auftauchen, das mit der Präexistenz gegeben ist …“ (12; wir bemerken, daß hier auch die Wendung „innerweltlich“ begegnet). Auch die dort unmittelbar folgenden Sätze decken auf, daß hier etwas von außen an den ntl. Text Herangetragenes zur Bedingung erklärt wird, diese Texte richtig zu exegetisieren: „Bei den synoptischen Evangelien zeichnet sich die Problematik schon ab, auch wenn dort der Präexistenzgedanke (!) keinen Ausdruck findet … Immerhin schildern die ersten Evangelien den irdischen Jesus (!) im Lichte seiner Würde als den himmlischen Herrn (!) der Gemeinde; das Bild (!) des Erhöhten dominiert … Sie artikulieren ein vergleichbares Interesse, wie es im Gedanken der Inkarnation (!) des präexistenten Gottessohnes zum Ausdruck kommt. Nur daß die Problematik sich im Rahmen (!) der Präexistenzchristologie noch verschärft“ (12f). ––– G. Schneider schreibt in seinem Kommentar zu Lk 1,26–38 u. a.: „Auch wird die Gottessohnschaft Jesu nicht mehr im Sinne einer Adoption verstanden (…). Anzumerken bleibt, daß der Text (und sein lukanischer Kontext) nicht über eine vorzeitige Existenz (Präexistenz) dieses Gottessohnes nachdenkt“ (50). In diesem Text wird sogar ausdrücklich betont, was in ihm nicht gemeint ist; und dazu wird „Präexistenz“ nicht nur genannt, diese vielmehr als „vorzeitige (wohl „vorzeitliche“) Existenz“ definiert! ––– U. Wilckens schreibt in seinem Beitrag unter der Abschnittsüberschrift „Zum sachlichen Verhältnis von Geistzeugung und Jungfrauengeburt“ zu Lk 1,26–38, übrigens auch negativ abgrenzend, dies: „Sämtliche Zeugnisse der alten Überlieferungen … kennen eine wunderbare Geburt Jesu nicht, weder Paulus noch die vielerlei vorpaulinischen Traditionen … zeigen irgendeine Kenntnis von diesem Geburtswunder. Sie alle nämlich singen, verkündigen und denken den ‚Anfang‘ Christi in der Ewigkeit der Präexistenz (Hervorhebung im Text) und sehen in der Menschwerdung, sei es die Voraussetzung (!) des Sühnetodes Christi wie Paulus (…), sei es das Wunder (!) der Sendung Jesu in die Welt (Joh 1,14)“ (63; später noch einmal: „Das gleiche Ziel hat auch die Präexistenz-Aussage des johanneischen Prologs. In beiden verschiedenen ‚Anfängen‘ des Lukas- wie des Johannesevangeliums geht es um das Persongeheimnis Jesu als des Sohnes Gottes. Doch während die Präexistenzaussage des johanneischen Prologs den Ursprung (!) Jesu in seiner uranfänglichen (!) Einheit mit Gott, bevor er als der Logos Fleisch wurde, herausstellen will, ist es in der lukanischen Vorgeschichte die Geburt des Menschen Jesus durch Gottes Schöpferkraft (!)“ (68). ––– Im Kommentar von R. Schnackenburg begegnet, wie wir oben 433

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schon gesehen haben, „Pärexistenz“ von Beginn an in allen möglichen (und unmöglichen) Variationen. Nur ein Beispiel dafür: Zu Joh 1,1 heißt es: „Drei fundamentale Sätze beschreiben (!) das präexistente, ewiggöttliche Sein des Logos … Jesus Christus, dessen Existenz (!) hier bis in die ‚Vorzeit‘ der Welt, in die göttliche Ewigkeit zurückgeführt (!) wird …,d. h. er existierte schon damals (!), absolut, zeitlos-ewig“ (209; weitere Bespiele in den schon früher zitierten Stellen). „Präexistenz“ im eher räumlichen Sinn findet sich z. B. im Kommentar Schnackenburgs mehrmals, so zu 1,1 u. a.: die Herrlichkeit, die er damals (!) besaß, liegt in der Nähe zu Gott … partizipierende Existenz … Das ‚bei Gott‘ ist nach räumlicher Vorstellungsweise gesagt, von der Distanz der Welt zu Gott gesehen“ (210f; s. auch die Ausführungen S. 229; 242– 245 und andere). –––- Auch M. Theobald, Die Fleischwerdung des Logos, spricht von einer „räumlich konzipierten Präexistenz-Vorstellung“ zunächst in einer Anmerkung zu 1,1, dann selbst so: „Wenn er freilich vom Logos sagt, daß er ‚im Anfang war‘, dann impliziert das notwendigerweise, daß er schon immer bei Gott war … von einem Sein des Logos bei Gott und gehörte nicht zum Gewordenen … In 1b scheint es an Eigengewicht zu verlieren, da jetzt der Akzent auf einer ‚räumlichen‘ Aussage ruht … In V. 1b ist der Umstand des ‚Orts‘ nur Ausdruck für die personale Bezogenheit des Logos auf Gott … Im Ur-Anfang war er, d. h. bei Gott war er. V. 1b bestätigt demnach, was schon in 1a die ‚Zeit‘ zum ‚Raum‘ wird, nämlich zum ‚Raum‘ Gottes“ (220; 221; 222; in der genannten Anmerkung 37 (220) wird auf ThWNT VIII 377 hingewiesen, wo es heißt: „die Konzeption des schon im Himmel präexistenten und von dort zur Erde gesandten Sohnes Gottes … wird auf das stärker in räumlichen als in zeitlicheschatologischen Kategorien denkende hellenistische Judentum zurückgehen“). Ähnliches gilt von den Kategorien „vorirdisch“, „vorweltlich“ u. ä. Dazu seien folgende Beispiele angeführt. Bei Schnackenburg findet sich: „… Logos vor seiner Inkarnation … in seiner vorirdischen Existenz“ (229); „Veränderung in der Seinsweise des Logos: Vorher (zu 1,4) war er in der Herrlichkeit bei seinem Vater, ‚bei Gott‘; jetzt schlägt er sein Zelt bei den Menschen auf “ (240T). U. B. Müller, Die Menschwerdung, spricht von der „jenseitigen Wirklichkeit Gottes“ (zu Hebr 1 u. 5); es heißt: „Alle irdischen Erscheinungen sind ‚Schatten‘ und- ‚Beispiel‘ der allein wirklichen jenseitigen Welt (8,5; 9,23): Im Gegensatz dazu ist der Sohn als Ausprägung des einzigen wirklichen Seins (1,3) die Offenbarung der jenseitigen Wirklichkeit Gottes. Deutlich reflektiert Hebr 5,7 das paradoxe Verhältnis zwischen Göttlichem und Menschlichem bei der Person Jesu: Jesus bringt als Menschgewordener ‚Bitten und Geschrei‘ vor Gott … obwohl er doch der präexistente Sohn ist …“ (33). ––– F. Hahn sagt auf seine Weise dasselbe: „Präexistenzvorstellung … der Gedanke himmlischer Präexistenz … göttliches und menschliches Wesen in eine angemessene Beziehung zueinander gesetzt … wie sich das alte Sendungsmotiv mit der Anschauung von der Herabkunft des Erlösers aus dem Himmel und seinem Erscheinen auf Erden verbunden hat, wie die Präexistenz- und Offenbarungsvorstellung … in urchristlicher Tradition … konsequent am Inkarnationsgedanken ausgerichtet worden ist“ (317). Diesen verschiedenen Aus434

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„Präexistenz Christi“

sage-Elementen des Ausdrucks „Präexistenz“ zugehörig ist auch die Wendung „vorweltlicher Status Christi“, wie sie z. B. bei J. Laufen, Gottes ewiger Sohn, 11 verwendet ist; dazu dort auch „der Gedanke der Vorausexistenz Christi“ (ebd.). ––– Bei 0. Knoch lesen wir: „Der vorpaulinische Hymnus Phil 2,6–11 spricht die vorweltliche Existenz Jesu (!) deutlich aus: ‚Er war in der Daseinsweise (morphe) Gottes … (was eben nicht „vorweltliche Existenz“ ist noch bedeutet, wie wir gesehen haben!)“. Dazu auch: „Es (d. i. das Joh-Evangelium) hebt im einleitenden Prolog, 1,1–18, sowohl auf die gottheitliche (!) Präexistenz des Logos, den er mit Jesus von Nazareth identifiziert (!), wie auch dessen echte (!) Menschwerdung ab …“ (52 u. 53). Hierher gehören auch Wendungen wie „himmlisches Sein“ für den „Präexistenten“, sein „Kommen aus der Welt Gottes in die Menschenwelt“ u. ä. Außer den schon aufgeführten Textbeispielen seien noch diese genannt: Bei J. Gnilka begegnet das „Sein Christi in der Welt Gottes“ (112); das „himmlische Sein Christi“ (114); die „Trennung, die zwischen der Welt Gottes und der der Menschen existiert (!), konnte nur durch diesen Schritt (d. i. dort die Menschwerdung) überbrückt werden“ (118); „Eintritt des Präexistenten in die Menschheit“ (121); zu 2,8: „Christus wird in die himmlische Welt erhöht, nicht so sehr, weil er von Anfang an dahin gehört, sondern weil er das einer gnadenvollen Tat Gottes verdankt (!)“ (122). – Bei R. Schnackenburg findet sich das „präexistente Sein des Logos … das Kommen des Logos in den irdisch-stofflichen Bereich“ (207) und „das vorweltliche Sein des Logos“ (209). – Bei U. B. Müller (s. o.) kommen diese Formulierungen vor: „… weiß sich Jesus als den alleinigen, kompetenten Gesandten aus der Welt Gottes“ (66); „die himmlische Dimension Jesu“ (68); „Dem JohEv liegt ein Dualismus zwischen irdischer und oberer himmlischer Welt zugrunde“ (69, Anm. 171); „Jesus als himmlischen Offenbarer sehen“ (70); „Der, der vom Himmel herabkommt, ist der, der der Welt Leben gibt … Wie sich himmlische Herkunft, Gottgleichheit … mit seinem Menschsein vermitteln … der Glaubende schaut die außerweltliche Herkunft des Gesandten“ (71); „Der Evangelist will angesichts dieses Unglaubens die himmlischen Dimensionen (!) Jesu darstellen“ (74); „johanneische Christologie, in der die himmlischen Züge (!) des Offenbarers so dominieren“ (77). In allen diesen Beispielen stellt sich die Frage, was eigentlich genau mit „Welt Gottes“ und „Welt des Menschen“, was mit „himmlisch“, „irdisch“ und „weltlich“ jeweils sachlich verantwortet gemeint sein kann und soll. Dem werden wir am gegebenen Ort noch weiter nachzugehen haben. h) „Präexistenz“ und Schöpfungsmittlerschaft und Vorrang vor allem

In den besprochenen Kommentaren wird sehr oft der Ausdruck „Präexistenz“ mit „Schöpfungsmittlerschaft“ dessen zusammengesehen, der in den ntl. Texten für den ausgesagt behauptet wird, dem „Präexistenz“ als wichtiges bzw. entscheidendes Sein zukommt, das auch seine Schöpfungsmittlertätigkeit wie seinen darin begründeten „Vorrang“ vor allem erkläre. Wir haben inzwischen hinreichend klar erkannt, daß der 435

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Unbiblische und sach-fremde Wörter/Begriffe in Anwendung auf die ntl. Texte

unbiblische Ausdruck „Präexistenz“ (und „Präexistenter“) unberechtigt, ja sachlich verunklarend ist und daher jedenfalls in der ersten Exegese und Auslegung der betreffenden Schriftstellen unangebracht und folglich auszumerzen ist. Entsprechendes gilt für die Stellen, als deren Sinn-Inhalt das bezeichnet wird, was man „Schöpfungsmittlerschaft“ nennt. An den folgenden Beispielen läßt sich unmittelbar das ablesen, was es zu hinterfragen gilt. R. Schnackenburg spricht in seinem Joh-Kommentar in entscheidenden Sachzusammenhängen mittels dieses Ausdrucks. In der „Einführung in den Prolog“ heißt es im dortigen Kontext: „… das Logoslied … im Anschluß an die Weisheitsspekulation konzipiert ist …: werden aber auch die Präexistenz und die Rolle der Weisheit bei der Schöpfung stark hervorgekehrt, und dann erscheint es als durchaus möglich und sinnvoll, daß die christliche Gemeinde auch dem präexistenten Wirken des Logos größeren Raum gewährte, eben an Stelle der Weisheit“ (204; Vermutung!). Dann zu Joh 1,3: „Erst dieser Vers führt das Logoslied weiter. Der Logos ist an der Schöpfung beteiligt (!); aber das Wie wird nicht näher beschrieben, sondern nur die Tatsache hervorgehoben: ‚Alles ist durch ihn geworden‘. Die durch die Präposition dia. angedeutete (!; von „Schöpfung“ ist dort keine Rede!) Tätigkeit (!) läßt für die Interpretation (!) mehrere Möglichkeiten offen … Zunächst wird man sich an den biblischen Schöpfungsbericht halten, nach dem Gott die Welt durch sein Wort erschaffen hat …“ (212; wir haben oben schon gesehen, daß genau das in Gen 1 nicht steht; s. d.). Dazu noch: „Um das joh. dia. richtig zu deuten (!), muß man … von den anderen christologischen Aussagen des Urchristentums ausgehen. Eine alte Formel dürfte Paulus im 1 Kor 8,6 verwenden … (214; auch für 1 Kor 8,6 ist „Schöpfung“ schon Deutung; der Satz dort ist ohne jedes Verbum formuliert!). Dasselbe ist zum Verweis auf Hebr 1,2 zu sagen; jedenfalls gilt nicht, was Schnackenburg dazu sagt: „Auch das Logoslied überträgt ähnlich wie Hebr 1,10ff Gottes schöpferische Tätigkeit (!) auf den präexistenten Christus (!) und hält doch durch den Logosbegriff (!) das Wissen fest, daß Gott der Schöpfer ist, der durch sein ‚Wort‘ alles ins Dasein ruft“ (214; wo wird das überhaupt im NT so ausgesprochen?). Dann wird vom „schöpferischen Logos“ gesprochen (217). Die Unbegründetheit, solches in 1,1–10 ausgesprochen zu erklären, ist klar und eindeutig. ––– G. Schneider spricht in seinem Beitrag „Präexistenz Christi“ (s. o.) Ähnliches wie Schnackenburg und doch anders aus. Er sagt: „Wer der Frage nach dem Ursprung der Präexistenz-Vorstellung nachgehen will, hat vornehmlich die beiden Topoi (!) zu prüfen, die vorpaulinisch noch unverbunden begegnen, die Aussage von der Schöpfermittlerschaft Christi (1 Kor 8,6) und das Christuslied, das beschreibend (!) die Erniedrigung und Erhöhung Christi besingt (Phil 2,6–11)“ (401; wir haben schon gesehen, daß diese Stellen gerade nicht davon sprechen, s. o.). Dann: „Die wohl älteste christologische Schöpfungsmittler-Aussage findet sich in 1 Kor 8,6 in einer vorpaulinischen Formel …“ (402; das dort Folgende diskutiert die Frage. Bezeichnend diese Sätze: „… gegenwärtige Weltwirksamkeit Gottes … Das Mitwirken Christi wird zwar prinzipiell als von Gott ausgehend verstanden, erhält aber in dem zweiten Bekenntnissatz eigenständige Bedeutung … Ist dann aber das diV ou- ta. pa,nta 436

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„Präexistenz Christi“

nicht ebenfalls auf die gegenwärtige Schöpfungsmittler-Tätigkeit des Kyrios zu beziehen und nicht (allein oder primär) auf die Urschöpfung zu beziehen ist, kann man an dieser Stelle kaum den Präexistenz-Gedanken vorausgesetzt finden“). Später, immer noch zu 1 Kor 8,6, diese bedeutsamen Feststellungen (die freilich noch viel intensiver auszuwerten wären!): „Man kann dabei auf jene Ansätze der Weisheitsspekulation verweisen, die bereits Präexistenz-Aussagen mit der Vorstellung von der Schöpfungsmittlerschaft verbinden. Jedoch geschah dies niemals unter Verwendung der Präposition dia.. Erst von dem soteriologischen ‚durch Christus‘ her konnte das auf die Schöpfung bezogene dia. gefunden werden (was dort weiter besprochen wird) … Sie (d. i. die vorpaulinische Formel selbst) sieht die ganze Schöpfung als Gottes Werk und schreibt dem Kyrios Jesus Christus die ausschließliche (?) Vermittlung (?) des ganzen von Gott herkommenden Heils zu. Daß sie dabei auch an die Vermittlung (!) der creatio originalis denke, läßt sich nicht zwingend beweisen. Dennoch ist die Vorstellung von einem diese Urschöpfung (!) vermittelnden präexistenten Schöpfungsmittler wenigstens impliziert (!)“ (404f). Dazu noch folgende Sätze zu 1 Kor 8,6 und Phil 2,6–11: „Ließ sich weder 1 Kor 8,6 noch Phil 2,6–11 eine auch nur relativ selbständige Präexistenz-Vorstellung oder gar -Aussage finden, so wird man dennoch die beiden (frühen) Texte als Vorläufer einer ausdrücklicheren Präexistenz-Christologie ansehen müssen, insofern sie die zwei wichtigen Wurzeln derselben aufzeigen: die Schöpfungsmittler-Funktion (!) und die Vorstellung vom Abstieg Christi (!) in die Menschwerdung (!). Die beiden noch unabhängig voneinander auftretenden Ansätze sind als genuin (!) christologische ‚Hintergrund‘-Aussagen (!) zu begreifen“ (409; s. auch 411). Alle diese Sätze sprechen für sich selbst; sie decken ja selbst die Unbegründetheit der (gewünschten und deswegen gefundenen) Aussagen mittels (oder geleitet von) der Präexistenz“-Vorstellung (auch „Präexistenz“-Idee oder -Gedanke genannt) auf. Daß „Präexistenz“ auch unmittelbar „Vorrang-Stellung“ mit-ausspricht, betont (mit manchen anderen Autoren) R. Schnackenburg in seinem Joh-Kommentar. Zu Joh 1,1f sagt er: „Drei fundamentale Sätze beschreiben (!) das präexistente, ewiggöttliche (!) Sein des Logos … So sagt das ‚im Anfang‘ mehr als im Schöpfungsbericht. Die Wendung will nicht den Existenzbeginn der geschaffenen Welt markieren, sondern das vorweltliche Sein des Logos ausdrücken. Was schon ‚im Anfang‘ existierte (!), hat einen Vorrang vor aller Schöpfung“ (209: dort keine weiteren Erklärungen zu „Vorrang“, was mit ihm gemeint ist). Dann heißt es zu 1,15: „Noch schärfer als VV 6–8 durchbricht V 15 den Zusammenhang. Obwohl V 16 eng an V 14 anknüpft, schiebt der Evangelist ein Zeugnis Johannes‘ des Täufers ein, das die Vorrangstellung des Inkarnierten (!) vor ihm selbst betont und mit seiner Präexistenz begründet (!) … Demgegenüber läßt der Evangelist Johannes selbst versichern, daß der zeitlich nach ihm Kommende dem Range nach über ihm stehe (…), weil er in Wirklichkeit vor ihm (pros mou) existierte (!) … den ‚Stärkeren‘ … deutet er als den Ranghöheren und Präexistenten“ (249f). Weitere Bespiele erübrigen sich hier. Was genau mit „Rang“ in

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diesen Zitaten und ihrem Kontext angesprochen sein soll und im Joh-Text (u. a.) mit eigenen Worten hinreichend deutlich gesagt ist, bleibt ein Rätsel. i) „Präexistenz“ und Sendung Jesu

Wir haben in der Besprechung von Gal 4,4f in Bezug auf „Präexistenz“ feststellen müssen, daß es völlig unangebracht ist, das Sendungsmotiv (wie es oft bezeichnet wird) als Grund dafür anzusehen, von der „Präexistenz-Christi“ sprechen zu müssen. Wir sahen dort auch, daß diese Überlegung ausschließlich nur im Blick auf Jesus Christus angestellt wird, und nicht z. B. auch für das pneuma, den Geist, der als von Gott gesandt im NT wenigstens ebensooft genannt wird wie der Sohn (von der Sendung des Pneuma im AT ganz zu schweigen), in Gal 4,6 sogar mit genau derselben Formulierung wie für den Sohn: evxape,steilen o` qeo.j to. pneu/ma tou/ ui`ou/ auvtou/. Das Befremdliche dieses Faktums haben wir genügend herausgestellt. Hier seien diese Textstellen als (weitere) Beispiele aufgeführt: In seinem Beitrag „Empfangen vom heiligen Geist, geboren aus der Jungfrau Maria – Lk 1,26–38 schreibt U. Wilckens im dort gegebenen Zusammenhang: „Nicht dagegen Johannes, nicht der 1 Petr und der Hebrbrief … zeigen irgendeine Kenntnis von diesem Geburtswunder. Sie alle nämlich singen, verkündigen und denken den ‚Anfang‘ Christi in der Ewigkeit der Präexistenz und sehen in der Menschwerdung, sei es die Voraussetzung des Sühnetodes Christi wie Paulus (…), sei es die Selbstentäußerung des Gottessohnes (…), oder das Wunder der Sendung Jesu in die Welt (…) (Hervorhebungen durch W.). Die einzigen Zeugen der Jungfrauengeburt, Lukas, Matthäus und Ignatius … weisen nach Syrien, als der offenbar einzigen Region der Urkirche, in der das Geburtswunder ein christologisches Thema der Überlieferung war …“ (62f). ––– W. Schmithals (Lk-Kommentar) sagt zu Lk 2,41–52 im dortigen Kontext u. a: „Diese Aussagen bilden eine Parallele zu analogen Aussagen, die sich in anderen theologischen Entwürfen des Urchristentums finden, so zur Anschauung von Jesu göttlicher Berufung durch seine Auferweckung oder bei der Taufe, von seiner göttlichen Zeugung (Jungfrauengeburt) oder von der Sendung des Präexistenten in die Welt“ (47). ––– F. Hahn, Hoheitstitel, sagt im entsprechenden Kontext: „Nun enthält der Begriff der Sendung als solcher zunächst nur den Gedanken der Beauftragung, und in diesem Sinne konnte von Jesu Werk als einer ‚Sendung‘ gesprochen werden, ohne daß dabei der Gedanke himmlischer Präexistenz eine Rolle spielte“ (315). ––– U. B. Müller, Die Menschwerdung des Gottessohnes, schreibt im dortigen Zusammenhang u. a.: „Die Sendungsaussagen Röm 8,3; Gal 4,4 hat man nun im Zusammenhang entsprechender johanneischer Stellen (Joh 3,16.17; 1 Joh 4,9) zu sehen, die miteinander jeweils strukturell wie inhaltlich übereinstimmen (‚Gott sandte seinen Sohn, damit …‘). Jedes Mal handelt es sich um die Sendung des Gottessohnes in die Welt mit soteriologischer Zielsetzung (‚damit‘); seine Präexistenz scheint dabei vorausgesetzt zu sein …“ (17). Dazu dann etwas später: „Speziell die Präexistenzchristologie hat hier ihren Ort … ist die Verbindung 438

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„Präexistenz Christi“

des Sendungsgedankens mit der Annahme wirklicher Inkarnation“ (18). Beachte insgesamt das im Abschnitt „Paulus und die vorpaulinische Sendungschristologie“ S. 14–19. Entsprechend sei auch auf S. 62 hingewiesen. j) „Existenz“ – „Präexistenz“ – „Postexistenz“ – „Proexistenz“ – Einige kritische Bemerkungen

Hier sollen einige wenige Bemerkungen zu diesen eigentümlichen Wendungen, alle speziell auf Jesus Christus und nur ihn eingesetzt, angefügt werden. Denn in den inzwischen zitierten (wie auch in manchen nicht-zitierten) Kommentar-Texten fällt dieser befremdliche Gebrauch dieser Wendungen wie Fachausdrücke auf. Für „Präexistenz“ haben wir das schon in Überfülle feststellen müssen. Doch auch dann, wenn „Existenz“ oder „existieren“ allein (ohne ein „Prä-“ o. ä.) steht, ist Entsprechendes zu sehen. Dazu folgende Beispiele: Zu „Existenz“ (allein stehend): Wir führen einige Stellen an, die sich im Joh-Kommentar von R. Schnackenburg finden, den wir ja vor allem für „Präexistenz“ betrachtet haben. Zu Joh 1,4 heißt es: „Mit V 4 setzt eine neue Strophe ein, die das Verhältnis des Logos zur Menschheit beschreibt (?). Wie er für die ganze Schöpfung der Vermittler ihrer Existenz war, so für die Menschen der Übermittler alles dessen, was ihrer besonderen Existenz erst die Fülle und Sinnerfüllung gibt: von Leben und Licht“ (217). In dieser Stelle scheint „Existenz“ schlicht „Da-Sein“ auszusagen, wobei freilich „Vermittler ihrer Existenz“ rätselhaft bleibt. Dasselbe gilt für „besondere Existenz“ für die Menschen; denn damit wird doch irgendwie eine vergleichende Qualität angesagt, zumal dann von „Fülle und Sinnerfüllung“ für die Menschen gesprochen wird. Ist „Schöpfung“ als solche sinn-los? Und was meint „Fülle der Existenz“? Diese Fragen stellen sich besonders dann, wenn wir auf den Gebrauch von „Existenz“ schon im Kommentar zu Joh 1,1 schauen: „Jesus Christus, dessen Existenz hier bis in die ‚Vorzeit‘ der Welt … zurückgeführt wird … Die Wendung will nicht den Existenzbeginn der geschaffenen Welt markieren … ‚er war‘, d. h. er existierte schon damals“ (209; dazu 210: „die Herrlichkeit, die er ‚beim Vater‘ vor der Existenz des Kosmos besaß (17,5) … Im Prolog wird damit das uranfänglich-ewige Sein des Logos (1a) als von Gott und seiner Liebe herkommende, von Gott erfüllte (vgl. 5,26) und an seiner Herrlichkeit partizipierende (!) Existenz bestimmt“). Ähnliches im folgenden Text zu 1,10: „Der Kosmos in V 10 ist die Welt als Wohnraum der Menschen und geht dann in die Bedeutung ‚Menschenwelt‘ (= Menschheit) selbst über. Der Logos war nicht nur dem göttlichen Plane nach, grundsätzlich und allgemein, die Existenz und Weg der Menschen erhellende Macht, sondern er wurde es auch in der geschichtlichen Wirklichkeit, in ihrem Lebensraum, in ihrer Welt“ (231). Es sei auch dieser Satz angeführt: „Der christliche Hymnus aber besteht darauf, daß der Logos, Christus in seiner vorirdischen Existenz, die Fähigkeit und Kraft besaß (nämlich zu erleuchten)“ (229). 439

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„Präexistenz“: Zu dieser Wendung (Ausdruck, Begriff, Vorstellung usw.) ist im Vorausgehenden vieles herausgestellt worden, das wir auch intensiv besprochen heben, um herauszufinden, was tatsächlich mit ihm angesprochen sein soll. Daher wenden wir uns sogleich dem folgenden und offensichtlich mit „Präexistenz“ korrespondieren sollenden Ausdruck „Postexistenz“ zu. „Postexistenz“: Diese selten vorkommende Wendung müßte eigentlich, d. h. wenn „Präexistenz“ mit „vorirdischer Existenz“ in Bezug auf den Herabgestiegenen und dann Erhöhten Christus (wie es oft formuliert wird), identifiziert wird, als selbstverständliche Folge-Kategorie angewendet werden. Denn für (den hier immer verkürzt so genannten) Christus in seinem „irdischen Dasein“ fand ja durch die Erhöhung der Wieder-Eintritt in die „himmlische Welt“ durch Gottes Wirken statt. Da begann korrespondierend seine „Post-Existenz“, aus der heraus er ja in der (sog.) „Menschenwelt“ weiterwirkte, als Kyrios. Das wird aber ganz selten auch so zur Sprache gebracht. Dazu folgende Beispiele. In seinem Phil-Kommentar (NTD 8(2, 1998) bringt N. Walter zu Phil 2,6–11 diesen Zwischenpassus: „Vielmehr können wir hier eine Spur davon erkennen, wie der Gedanke an eine Präexistenz Jesu … überhaupt erwacht sein mag: aus der Aussage heraus, daß Jesus ‚vom Himmel her‘, ‚von Gott‘ gesandt wurde, ja daß er der ‚Sohn Gottes‘ in schlechthin einmaligem Sinne, Gottes irdischer ‚Repräsentant‘ war. … Als eine wichtige gedankliche Voraussetzung für die christologische Präexistenzaussage ist die vom hellenistischen Judentum (…) entwickelte Vorstellung von einer Schöpfungsmittler-Wesenheit abstrakter Art … zu nennen, die im jüdisch-hellenistischen Urchristentum auf Jesus gedeutet wurde … was dann zum Gedanken der persönlichen himmlischen Präexistenz Jesu führte (…), der dann nach der Auferstehung/Erhöhung/Rückkehr Jesu zu Gott eine gleichartige himmlische Postexistenz entspricht …“ (62). ––– J. Habermann schreibt in der „Zusammenfassung“ seines Beitrags „Präexistenzchristologische Aussagen des Johannesevangeliums“ (s. o.) u. a. dieses: „Die Präexistenz ist der unbestreitbare Hintergrund der christologischen Aussagen des Evangeliums … bestehen keine Zweifel am vorinkarnatorischen, ewigen Sein des Logos, der in Jesus Christus die Doxa des Vaters erscheinen läßt und doch wahrer Mensch wird. Weniger für die Vater-Sohn-Begrifflichkeit und das abstrakte Sohnsein, aber um so mehr für die Sendung des Sohnes ist die Präexistenz – immer betrachtet vom Standort des Lesers aus, der Christus als Erhöhten und Verherrlichten in seiner Postexistenz weiß – die Herkunft und der Urgrund des gesandten Offenbarers. Damit mitgesetzt ist die Feststellung, daß die ‚vor-offenbarungshafte‘ Daseinsweise des Sohnes keine selbständige, vom Offenbarungs- und Heilsgeschehen losgelöste Bedeutung hat, sondern immer relational auf dieses hin verstanden werden muß. Präexistenzaussagen werden bei Johannes nicht um ihrer selbst willen gemacht,

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„Präexistenz Christi“

wollen das Geheimnis des ewigen Logos nicht erforschen, sondern das Extra nos, das Unvordenkliche des Offenbarers zum Ausdruck bringen“ (114f). „Proexistenz“: Diese vergleichsweise noch junge Wendung wird in den von uns herangezogenen Texten selten und eher nebenbei eingesetzt, dort allerdings doch mit wichtiger Bedeutung. „Proexistenz (wörtlich Für-Sein) meist synonym für „Stellvertretung“ u. ä. Termini, oft in Korrespondenz zu „Koexistenz“ oder „Solidarität“, theologisch und christologisch begründet in der Präexistenz des menschgewordenen Gottessohnes …“, das findet sich in LThK 8,1999,613 angegeben (L. Ullrich). Th. Söding spricht von „Proexistenz“ in seinem Beitrag „Gottes Sohn von Anfang an“ (in Laufen, Gottes ewiger Sohn. Die Präexistenz Christi), wo es im Abschnitt „Zum Thema“ u. a. heißt: „Christologie und Soteriologie sind in der theozentrischen Perspektive untrennbar verbunden: Die Personwürde Jesu gründet in seiner Theozentrik und seiner Proexistenz. Freilich spricht Paulus auch von der Präexistenz Christi …“ (57). Ausführlicher dann im Beitrag „Davidssohn und Gottessohn“. Dort wird dieses gesagt: „Die SohnGottes-Christologie des Apostels ist tief und reich. Daß Paulus den Hoheitstitel relativ selten gebraucht, darf nicht täuschen. Die Akzente, die er setzt, sind scharf. Zwei Aspekte treten hervor: die Verbindung mit Gott, dem Vater, und die Verbindung mit den Menschen, die Kinder Gottes sind und als solche in brüderlicher Gemeinschaft mit Jesus Christus gerettet werden sollen. Beides, die theozentrische Zugehörigkeit zu Gott und die proexistente Zugehörigkeit zu den Menschen macht in seiner untrennbaren Verbindung das Leben Jesu als Gottessohn aus“ (334). Dazu unter „2. Die Proexistenz des Gottessohnes“: „Ebenso stark wie die Theozentrik betont Paulus die Proexistenz des Gottessohnes, indem er eine soteriologische Relation zwischen ‚dem Sohn‘ und den ‚Söhnen‘ Gottes nachzeichnet … Wie die Theozentrik des Gottessohnes auf seine Proexistenz zielt, ist seine Beziehung zu den Menschen in seiner Beziehung zu Gott und in Gottes Beziehung zu ihm begründet“ (336; was im weiteren verbos entfaltet wird). Auch bei J. Laufen, Gottes ewiger Sohn. Die Präexistenz Christi, findet sich in dem einleitenden Passus „Eine Plausibilitäts- und Akzeptanzanzeige“ ein entsprechender Satz: „… wird man nicht daran vorbeikommen, den traditionellen Begriff der Präexistenz zu reflektieren und ihn auf seinen Wahrheitskern und seine Sicherungsfunktion hin zu überdenken. Was gesichert werden soll, ist die Singularität der ‚Grundlage‘ der Sendung des absoluten Heilsmittlers in Gott selbst. ‚Diese Singularität Jesu aber‘, so greift Franz Mußner den Gedanken Thüsings auf und führt ihn weiter, ‚beruht vor allem darin, daß Gott und sein Heilswille wie nie zuvor im Menschen Jesus von Nazareth manifest wurde. Das heißt, Jesu ‚Präexistenz‘ ist unlösbar von seiner ‚Proexistenz‘ (H. Schürmann). Das prae impliziert das pro! Und das pro setzt das prae voraus! Denn Jahwe ist Gott, der da ist ‚für‘. Man könnte also sagen: Die christologische Präexistenzlehre über den Menschen und Propheten Jesus von Nazareth verkündigt nichts anderes als das schon immer, ‚seit Ewigkeit‘ vorhan441

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dene Da-Sein-Für Jahwes, das sich definitiv in dem Menschen Jesus von Nazareth offenbart hat – ‚offenbaren‘ dabei im strengsten Sinnes des Wortes verstanden‘“ (13).

III. Anfang /Anfänge Jesu – Ursprung/Ursprünge Jesu H. Schürmann stellt in seinem Lk-Kommentar das „Präludium“, womit Lk 1,5–25 gemeint ist, unter die bezeichnende Überschrift „Jesu Ursprünge in Gott“. Da fällt sogleich der Plural „Ursprünge“ auf. Doch diese Wendung wird oft für Wichtiges eingesetzt, wie die folgenden Beispiele zeigen. Es heißt: „Diese Bestimmung der Funktion von Lk 1–2 im Ganzen der Evangeliumschrift hilft dem theologischen Verständnis des in diesem ‚Vorbau‘ Gemeinten. … Die kerygmatische Überlieferung sah seit alters den ‚Anfang‘ im ‚Kommen‘ Jesu … Luk vermag freilich dieses ‚Kommen‘ Jesu nicht mehr so unreflektiert mit dessen erstem Auftreten zur Verkündigung zu identifizieren, wie das die Evangeliumsschreibung vor ihm tat. Luk hat Traditionen gefunden, die sein ‚Kommen‘ und sein ‚Gesandtsein‘ durchmeditiert und durchreflektiert (!) hatten und so theologisch ausholender (!) – von Jesu Ursprung in Gott her – verstanden … Mit den ‚Ursprüngen‘ des evrco,menoj (1,16) hatte es eine besondere Bewandtnis … diese Ursprünge in Gott und das Kommen von Gott her mußten (!) theologisch entfaltet (!) werden … dazu gehören vor allem die Fakten, aus denen sich das ‚Kommen‘ Jesu aufbaut, die seinen ‚Anfang‘ vom ‚Ursprung‘ her erhellen helfen“ (19–20; wir beachten den Singular bzw. Plural für dieselbe „Sache“). Das wird dort weiter besprochen (21–25). Später heißt es dann zu 1,35 u. a.: „Das eigentliche Erzählungsinteresse der ganzen Perikope (d. i. 1,26–38) lichtet sich hier: die ‚Heiligkeit‘ und ‚Gottessohnschaft‘ Jesu bis in die Ursprünge seines Wesens (!) in Gott zu verankern (!) – ein Versuch, dem in anderer Weise auch der Stammbaum dienen will“ (53; was meint hier „sein Wesen in Gott“?). Dazu noch: „Die Prädikation (!) ui`o,j ist hier (d. i. 1,32) also charakteristisch vertieft verstanden … Die Aussage, die hier über den ‚Anfang‘ Jesu gemacht ist, betrifft vordergründig nur mehr erst sein gottgewirktes irdisch-menschliches Sein. Das Wissen, daß Jesus als der Messias Geistträger ist, ist hier (und Mt 1,18.20) überhöht (!) bis zur Aussage über Jesu geistgewirkten Ursprung“ (55). Dazu ist auch S. 64 weiteres Beachtliches gesagt: „Man verweist besonders auf Gal 4,4, eine Stelle, die an die Gewöhnlichkeit (!) des Ursprungs Jesu interessiert sein soll“. Dann: „Wenn der ‚Anfang‘ hier zurückgeschaut (!) ist bis zu seiner wunderbaren gottgewirkten Lebensentstehung, dann wandert (!) damit auch der Anfang dessen zurück, der in der urchristlichen Verkündigung unlöslich mit diesem Anfang verbunden war. Johannes gehört schon in die Geburtsgeschichte Jesu, weil Gott ihn eben an den ‚Anfang‘ gesetzt hatte … von Anfang an – d. h. von Gott her – war Jo442

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hannes die Aufgabe gesetzt, auf Christus hinzuweisen“ (67). Wir bemerken, daß stets von Jesus die Rede ist, ohne jede Erklärung, wer genau gemeint ist. Im Verlauf des Kommentars wird sehr oft Christus als der genannt, dessen Lebensgeschichte erzählt wird. Wir haben das im Abschnitt zu Mt 1–2 ausführlich besprochen; s. d. Wir beachten das auch deswegen, weil hier von der „gottgewirkten Lebensentstehung Jesu“ die Rede ist, von seinen „Ursprüngen“ und „Anfängen“, wieder ohne daß genauer angegeben wäre, was damit herausgestellt sein soll. J. Ernst schreibt in seinem Lk-Kommentar im dortigen Kontext unter der Überschrift „Das Evangelium und Jesus Christus“ nach anderem dies: „Das Mensch-Sein ist nur die eine Seite, der kontrastierend das Geheimnis des Gottessohnes gegenübergestellt wird. Man hat mit Verwunderung festgestellt, daß die lk Christologie statische Züge aufweist, die bereits auf der Linie der dogmatischen Formulierung von Chalzedon liegen: Jesus ist vom Beginn seiner menschlichen Existenz an der Kyrios; der Titel wird bereits dem Ungeborenen zugesprochen (1,43) und über den Neugeborenen ausgerufen (2,11)“ (23). Im Kommentar zu Lk 1,26–38 sagt er u. a.: „… das für den Messias angemessene Wunder der Lebensentstehung aus Gottes Geist und Kraft. Es ist richtig bemerkt worden, daß die kurze Notiz deutlich apologetische Züge trägt. Daraus kann gefolgert werden, daß trotz Zurückhalten der urchristlichen Verkündigung in Fragen, welche die Anfänge Jesu betreffen, das Thema als solches diskutiert wurde“ (62f). Es folgt dort ein „Exkurs: Die menschlichen Anfänge des Gottessohnes im Bekenntnis des Lukasevangeliums“, aus dem folgende Sätze zitiert seien: „Die Anfänge des Sohnes Gottes liegen Mk am Beginn des Evangeliums und im ersten Auftreten Jesu. Lk ist entsprechend seinem geschichtsorientierten Evangeliumsverständnis einen Schritt weitergegangen. Das Sohn-Gottes-Sein wird zurückverfolgt bis zu den irdischen Lebensanfängen (!) vor der Geburt … Der entscheidende Punkt ist die Begründung des Sohn-Gottes-Seins Jesu in Gottes schöpferischer Kraft; die ‚Jungfrau‘ symbolisiert (!) die menschliche Mitwirkung (!) in einer auf das schöpferische Handeln Gottes ausgerichteten Begrifflichkeit. … Der Lebensanfang am Beginn der Jesusgeschichte und am Neubeginn im Werden der Kirche sind neuralgische Punkte“ (64). Wir beachten in diesen Zitaten wieder das Sprechen von „Anfang“ und „Ursprung“ im Singular und Plural, wie auch das Offenbleiben dessen, was genau angesprochen sein soll. Ebenso ist das Zusammen von „Anfang“ und „Lebensentstehung“ zu sehen, wobei letzteres hier wohl das Menschsein Jesu betreffen soll. W. Radl spricht in seinem Lk-Kommentar auch in bezeichnender Weise vom „Anfang Jesu“. Zu Lk 1,26–38 schreibt er im dortigen Kontext: „… V 35c ist eine Weiterführung und Präzisierung der christologischen Aussage V. 32, die der Evangelist erst nach der Beschreibung des Ursprungs Jesu in V 36b hat einbringen können. Erst mit dem Gottessohntitel (!) am Schluß von V 35 ist die vollgültige Christusaussage der Engelbotschaft erreicht … Die Vorstellung von der Gottessohnschaft auf Grund des geistgewirkten Ursprungs ist zwar nicht die Schöpfung des Lukas. Er macht sie sich hier zu eigen (vgl. auch Lk 3,32). … Dort (in Apg 1,18) wird gewissermaßen in 443

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Entsprechung zum Anfang der Existenz Jesu, auch für den Anfang der Kirche das Herabkommen des Heiligen Geistes verheißen, nun aber nicht Maria, sondern die Apostel“ (58). Dann heißt es zu Lk 1,34 nach anderem: „Erst die Beschreibung des Ursprungs Jesu macht nun eine Aussage möglich, die über jene von V 32 hinausgeht: Jesus ist Sohn Gottes, nicht nur so wie David und sein Nachfolger, sondern in einem tieferen Sinn. Erst durch V 35b bekommt ‚Sohn Gottes‘ in V 35c eine andere Bedeutung als ‚Sohn des Höchsten‘ in V 32 bzw. wird eindeutig, was V 32 für den Leser noch mehrdeutig sein könnte: Jesu ‚Gottessohnschaft‘ gründet nicht in der Adoption durch Gott … sondern er ist Gottes Sohn, insofern er seinen Ursprung in Gottes Schöpfergeist hat …“ (67). Dann wird zu Lk 2,1–21 zu Beginn dies gesagt: „Mit 2,1 wechselt der Evangelist wieder zu den Anfängen Jesu, um nun mit der bekannten Weihnachtsgeschichte von seiner Geburt zu erzählen“ (103. Wieder beachten wir die eigenartige Rede in oftmaliger Verwendung des Plurals „Anfänge“ u. ä. Wir können aus W. Radl, Der Ursprung Jesu (HBS 7, 1996) noch dieses anfügen, zu Lk 1,5 – 2,52 im entsprechenden Kontext: „Wie deutlich er seine Vorstellungen zu erkennen gibt, zeigt sein Bild vom Wirken des Heiligen Geistes. Verstärkt wirksam ist dieser im lukanischen Werk jeweils am Beginn bzw. Übergang der beiden Schriften. In der Vorgeschichte … verdankt Jesus der über Maria kommenden ‚Kraft des Höchsten‘ (1,35) sogar seinen Ursprung“ (63). Fr. Bovon bringt in seinem Lk-Kommentar einen Exkurs: „Die Jungfrauengeburt und die Religionsgeschichte“; darin unter „IV. Herkunft der Motive“ u. a. dieses: „Schnell konzentrierte sich dann die Reflexion auf den ‚Anfang‘ Jesu: Die Christologie der griechisch sprechenden Christen übertrug (!) die Sophia-Lehre des hellenistischen Judentums auf den präexistenten Messias, Jesus, andererseits projizierte (!) die Christologie der synoptischen Tradition – weniger spekulativ – die Messianität Jesu in das Leben Jesu hinein (bis auf die Taufe Jesu und schließlich auf seine Geburt). Die Jungfrauengeburt steht am Ende dieser Entwicklung, wie die späten Legenden von Mt 1–2 und Lk 1–2 auch formgeschichtlich bezeugen“ (66). Dann zu Lk 2,1–12 im dortigen Kontext: „dogmengeschichtlich gesehen suchen die Geburtsgeschichte und Hirtenerzählung die Frage (!) des ‚Anfangs‘ Jesu zu beantworten. Von der Auferstehung ausgehend verlief die christologische Reflexion rückwärts – in gebildeten Kreisen mit Hilfe der Sophia-Spekulation und der Präexistenzvorstellung, in anderem Milieu oder für einen anderen Zweck in der narrativen Schilderung der Geburt des ‚Helden‘ … die das messianische Recht Jesu sowie seinen göttlichen Ursprung bestätigen wollte. Die Hirtenepisode will weniger etwas beweisen als eine himmlische Offenbarung bezeugen, die den christlichen Anspruch und die kerygmatische Botschaft stützt“ (117). G. Schneider sagt zu Lk 1,5 – 2,52 („Geburt und Kindheit Jesu, des Sohnes Gottes“) einleitend dieses: „Der Zyklus von Erzählungen über die Herkunft Jesu aus Gott, den die beiden ersten Kapitel des Lk bieten, ist mit dem Terminus ‚Kindheitsgeschichte‘ unzulänglich beschrieben, weil er nicht biographisch, sondern homolo444

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gisch orientiert ist. Es geht darum, die Herkunft Jesu erzählend ins Wort zu heben und damit dem Christgläubigen das göttliche Wesen des Sohnes Gottes (1,35; 2,49) nahezubringen …“ (42). Dazu später zu 1,38 u. a.: „Im Sinne des Evangelisten dient die Erzählung … der Vorbereitung der Erzählung von der Geburt Jesu … sie gründet den Ursprung Jesu ganz in Gott und zeigt damit, daß seine Gottessohnschaft nicht erst seit irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens datiert (etwaige Berufung, Taufe), sondern vielmehr von Anfang an sein Wesen ausmacht“ (51f). Dann: „Die Kindheitsgeschichten insgesamt lassen den Leser des dritten Evangeliums erkennen, daß der Ursprung Jesu, des Christus, in Gott liegt. Er ist Gottes Sohn (1,32.35; vgl. 3,23.38) … und zwar ist Jesus ‚Sohn Gottes‘ in seinshafter Weise (!) von Anfang an. Der Grund dafür, daß er nicht nur ein Geistbegabter ist wie Johannes, sondern dem Gottesgeist seine Existenz verdankt, liegt in seiner geistgewirkten Empfängnis (1,35) …“ (78f). Dazu noch im „Exkurs: Die lukanische Christologie“: „Die Gottessohnschaft Jesu datiert nach Lukas nicht erst seit der Auferweckung Jesu oder schon von Ewigkeit (vgl. Röm 1,3f.), sondern seit dem ersten Augenblick seiner (menschlichen) Existenz (1,35) … Lukas verbindet mit dem Titel ‚Sohn Gottes‘ den Ausgangspunkt (1,35) und das Ende (22,69f) des Weges Jesu: Aus der geistgewirkten Empfängnis resultiert die Sohnschaft …“ (96). P. G. Müller bringt in seinem Lk-Kommentar (EKK NT 3) im betreffenden Kontext: „Der Engel antwortet ihr (d. i. Maria: 1,35), daß ‚Heiliger Geist‘ auf Maria kommen und ‚Kraft des Höchsten‘ sie überschatten wird, daß die Empfängnis eines Kindes in ihr also ihren wundergewirkten (!) Ursprung in Gottes Allmacht, Geschichtsmächtigkeit und Schöpferkraft hat. Das von Gott in Maria geschaffene Kind wird ‚heilig‘ und ‚Sohn Gottes‘ genannt werden, weil sein Ursprung im schöpferischen Akt (!) Gottes selbst liegt“ (33f). Dazu auch im Abschnitt „Die lukanische Christologie“ (51–52) dies: „Nach Lukas hat Jesus seinen menschlichen Ursprung (!) in Gott selbst, weil der Heilige Geist in Maria die irdische Existenz des Gottessohnes begründet (1.35). Daher ist Jesus zuerst und vor allem ‚Sohn Gottes‘, wie in der Vorgeschichte … deutlich wird. Nicht erst in Auferstehung und Erhöhung wird Jesus zum Sohn Gottes inthronisiert, und er wird auch nicht in Präexistenz von Ewigkeit her in seiner Würde bekannt, vgl. dagegen Röm 1,3f.; Phil 2,6–11) … Jesus ist von seiner Entstehung her unauflöslich mit Gott und Gott auf Gott hin …“ (51f). Wir beachten hier auch die polemischen „Klarstellungen“ anderen Positionen gegenüber, deren Notwendigkeit unersichtlich ist. J. Riedl bringt im Abschnitt „Die ‚Anfänge‘ Jesu“ in seinem Buch „Die Vorgeschichte Jesu“ (BF 3, 1968) einleitend dieses: „Vom ‚Anfang‘ Jesu scheint es im Urchristentum sehr früh Berichte gegeben zu haben, die um den ‚doppelten Anfang‘ wußten. Man erzählte von einem indirekten Anfang Jesu, der mit der Taufe Jesu am Jordan begann, und von einem direkten Anfang Jesu, der nach der Taufe Jesu angesetzt wurde und das selbständige Wirken Jesu in Wort und Tat zum Inhalt hatte. Diesen ‚Anfängen‘ Jesu stellten Matthäus und Lukas eine (je verschieden gestaltete) 445

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‚Vorgeschichte‘, eine sogenannte Kindheitsgeschichte, voraus, in der jeder Evangelist auf seine Art die Frage (!) nach dem ‚Wer‘ und ‚Was‘ dieses Jesus von Nazareth … verkündigungsmäßig zu beantworten sucht“ (11f). Wir erkennen die eigenartige Weise, wie ein „Problem“ vorgestellt und angegangen wird; es wird sogar von einem „doppelten Anfang“ gesprochen! Alle beispielsweise beigebrachten Texte sprechen in Bezug auf Jesus Christus von „Anfang/Anfängen“ bzw. „Ursprung/Ursprüngen“. Dabei fällt auf, was im einzelnen dazu aufgeführt wird. Auf niemanden sonst, wer oder was immer es sei, ob Gott oder Mensch, ein Sachverhalt oder Geschehen, wird dieses Wort als Begriff, Terminus oder Kategorie in den Kommentaren eingesetzt.15 Diese Tatsache eines ganz eigenartigen Reflektierens gerade (und ausschließlich) über das, was zu Jesus Christus im NT gesagt bzw. von ihm verkündet und auch gesungen wird, mittels „Anfang“ bzw. „Ursprung“ durch Bibelwissenschaftler werden wir auch in Bezug an andere Wortbildungen aufmerksam, wie auf „Lebensentstehung“, dem wir uns im folgenden Abschnitt widmen.

IV. Lebensentstehung Jesu Die Wortbildung „Lebensentstehung“ ist im allgemeinen Sprachgebrauch kaum vorhanden; der Duden führt sie nicht auf. „Entstehen“ ist ein intransitives Verb. Es wird für Sachen, Zustände, Sachverhalte, Tatsachen u. ä. eingesetzt, für die ein anderer/anderes als Grund, Anlaß oder Movens gilt. Für ein personartiges Seiendes/Wesen ist es faktisch unanwendbar; „Selbstentstehung“ als „Selbst-Tun“ gibt es nicht, wenngleich die Wendung „etwas entsteht von selbst“ wohl gebraucht wird, jedoch von einem Un15

Schürmann (und in seinem Gefolge offensichtlich auch andere) spricht von „Anfang Jesu Christi“ wohl aufgrund des ersten Wortes im MkEv, das als erstes der Evangelien angesehen wird. Dort heißt es 1,1: Varch. tou/ euvaggeli,ou VIhsou/ Cristou/ – Anfang des Evangeliums Jesu Christi. Er liest daraus „Anfang Jesu Christi“ und deswegen auch „Anfang“ des Evangeliums als Darstellung des Wirken Jesu Christi (vgl. das oben gelieferte Zitat, Kommentar 19–22). Der Text Mk 1,1.2.4 sagt aber „Anfang des Evangeliums Jesu Christi, des Sohnes Gottes: Wie im Propheten Jesaja geschrieben steht … (so) geschah …“ (vgl. dazu den Mk-Kommentar von R. Pesch). Daher ist das Sprechen von „Anfang Jesu Christi“, wie es sich bei Schürmann findet, mit Mk 1,1 nicht begründet; er bringt seine eigene Auffassung; s. o. Daher ist auch zu verstehen, daß „Anfang“ im Kommentar Schürmanns zu Lk 1 auch in Bezug auf Johannes den Täufer eingesetzt wird, aber eben nur im Kommentar zu Lk 1. Der Grund ist der gottbegründete spezifische Auftrag an Johannes als Vorläufer des Herrn, was u. a. auch mit dem Termin und der Art seiner Geburt wesentlich herausgestellt wird, eben in entsprechend ähnlicher Weise wie für Jesus Christus. Dazu wurde oben das Entscheidende gesagt, wie es auch noch in anderen Abschnitten unserer Untersuchung geschieht.

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bekannten bzw. Unerklärbarem spricht. Bezeichnend ist, daß dieser Ausdruck „Lebensentstehung“ in der Bibel nirgends begegnet und faktisch nur in den Kommentaren zu Mt 1–2 und Luk 1–2 erscheint, und das auch nur für Jesus Christus und – wenn wir es hier einmal so sagen dürfen – für sein Persongeheimnis. Wir werden das an den folgenden Beispiel-Texten erkennen. Wir zeigen den Einsatz dieser Wortbildung zunächst im Lk-Kommentar von H. Schürmann auf, der sie auffallend oft einsetzt. Weiteres wird dann anschließend dazu gesagt. Im „Präludium: Jesu Ursprünge in Gott (1,5 – 2,52)“ – so die bezeichnende Überschrift – heißt es einleitend, noch vor der Text-Auslegung: „Die beiden Verkündigungsperikopen 1,5–25 und 1,26–38 erzählen in mancherlei Hinsicht schematisch nach einer Weise, die schon im AT für Geburtsverheißungen (Isaak: Gn 17,15–22; 18,9–15; 21,1–17: Samson: Ri 13,2–25; Samuel: 1 Sm 1,9–20) und göttliche Sendungen (Moses: Ex 3,1–12; Gideon: Ri 6,11–17) vorgeprägt war. Eine derartige schematische Erzählweise ist ein ‚Hinweis …, daß die Beschreibung der Vorgänge … nicht nur durch das dargestellte Ereignis, sondern auch durch eine die Tradition leitende Gesetzlichkeit bestimmt wird‘ (Zitat Gewieß), in der ein theologischer Aussagewille ans Licht drängt. Die Erzählung denkt (!) heilsgeschichtlich im Schema Verheißung – Erfüllung (s. o.): Schon die erste Erzählung über die wunderbare Lebensentstehung des Johannes scheint zwar – isoliert gelesen – mit ihrer Kumulation von Anspielungen alles zusammen und auf den Höhepunkt bringen zu wollen, was Gott in alten Tagen (!) an großen Männern (!) der Vorzeit (!) ähnlich getan hat. In der Zusammenordnung mit der zweiten Verkündigungserzählung will sie aber vor allem zeigen, wie sehr Gottes bisheriges Heilshandeln am Ende (!) in Jesus nunmehr seine unüberbietbare Höhe bekommt“ (25f). Dann weiter: „Wie in den atl. Vorlagen, auf die angespielt wird, wird dabei in beiden Erzählungen eine volkstümlich-semitische Darstellungsweise (!) benutzt. Heilsgeschichtliche Deutungen (!) und Wesensaussagen (!) werden gegeben, indem Gottes Vorbestimmung und Handeln schon vor der Geburt geschildert werden. Für ein volkstümliches (!), lebensnahes Denken (!), das gläubig sieht (!), haben ja die Vorgänge der Lebensentstehung von jeher (!) eine große Transparenz (!), da das Geheimnis Gottes (!) in ihnen west (!), sind sie befähigt, theologische Aussagen anschaulich und lebensnah zu machen“ (26).16 Das wird nochmals 16 Zu diesen einleitenden Sätzen ist einiges zu sagen. Lukas selbst hat 1,1–3 erklärt, daß er berichten

will, was sich „in diesen Tagen“ ereignet hat und wie es schon einige andere darzustellen sich bemüht haben. Der Kommentator schreibt, Lukas richte sich an einem schon atl. vorhandenen Schema aus, was den Inhalt seines Berichtes ausmache. Als Beispiele für eine solche Darbietungsweise werden gerade drei Geschehnisse im AT vorgelegt, ein Jahrtausend zurückliegend! Diese seien nach einem festen Schema verfaßt. Da ist die Frage unvermeidbar, ob ein zuvor-liegendes Erzählschema bestimmend wurde zur Erzählung eben dieser Ereignisse, nach dem sich also die tatsächlich geschehenen Begebenheiten ausrichteten – oder ob nicht doch das Geschehen aus der Natur der Sache so in seiner realen Abfolge zu erzählen war, und daß also die Fakten aufgrund ihres Sachverhaltes einander „ähnlich“ waren. Daß drei solcher Begebenheiten in Jahrhunderten von Jahren zuvor nun für etwas absolut Neues in der Geschichte maßgeblich wären, wenn auch

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betont so herausgestellt: „Die verheißende Doppelerzählung 1,26–38 (39–56) ist geschlossener und konzentrierter als die Ankündigung 1,5–23 (24–25), dazu überbietet sie den ersten Bericht inhaltlich. Man könnte das Verhältnis mit einem ‚klimaktischen Parallelismus‘ vergleichen: Die zweite Aussage übersteigt die erste und führt sie weiter. So wunderbar die Empfängnis des Johannes war: Im Zusammenhang illustriert (!) sie doch nur (!) die Möglichkeit des noch größeren Wunders im Schoße Mariens (VV 36f.39–56)“. Zu Lk 1, 5–25 (Die Ankündigung der Geburt des Johannes …) schreibt Schürmann: „Die Erzählungsabsicht des – isoliert gelesenen – Berichts ist es, an den wunderbaren Anfängen des Johannes zu illustrieren (!), wie sehr er ‚ein Großer vor Gott‘ (1,15) gewesen ist. … Das wird illustriert (!) durch das wunderbare Eingreifen Gottes (!) bei seiner Lebensentstehung schon im Mutterleib … Wenn man dann freilich die Erzählung im Zusammenhang (Hervorhebung im Text) … liest und in der Überleitung VV 24f mit 1,39–56 vergleicht, zeigt sich, wie sehr der ganze Bericht in Dienst genommen ist: Es geht nicht mehr nur darum, die Größe des Johannes und den Verpflichtungscharakter seiner Predigt zu erweisen; vielmehr soll an der wunderbaren Lebensentstehung des Johannes deutlich gemacht werden, daß Gott selbst eine jungfräuliche Empfängnis nicht unmöglich ist (vgl. 1,36f.45). Johannes ist Jesus im Zusammenhang untergeordnet – nicht aber so sehr als dessen ‚Vorläufer‘ …; vielmehr wird hier die ‚Größe‘ Jesu (1,32) an dem ‚großen‘ Johannes (1,15) in der Weise illustriert (!), daß seine Lebensentstehung als noch wunderbarer hingestellt wird“ (27f). Hier wird erstmals von „Lebensentstehung Jesu“ gesprochen, wobei klar ist, daß die zuvor genannte „Lebensentstehung des Johannes“ von der Jesu her verstanden ist nur für die Weise ihrer literarischen Darstellung, ist schlicht absurd. Nicht ein Schema, noch eine zuvorliegende „theologische“ Erkenntnis haben Lukas dazu geführt darzustellen, was „in diesen Tagen geschehen war“, und zwar als absolut Unerhörtes und bisher nie Erfahrenes. (Es bleibt, nebenbei gesagt, doch unbedingt anzufragen, ob die Kategorie „Geburtsankündigungen“ überhaupt zu Recht gebildet ist. In allen, den alt. wie ntl. Stellen ist nicht eine Geburt noch ihre Ankündigung der Bekundungsinhalt, sondern die jeweiligen Personen und deren Lebensaufgabe.) Nicht die Darstellung bringt alles in das (vorliegende!) Schema „Verheißung – Erfüllung“, sondern Gott hat gehandelt, gesprochen; und wenn man meint, eine „Überbietung“ des einen Faktums über das andere feststellen zu können bzw. zu müssen, so, daß dann auch die Darlegung diese vergleichende Erzählweise zu befolgen hätte, dann hat Gott sein „früheres“ Denken, Sagen, und Tun überboten! Dazu wäre noch manches klärend und richtig-stellend zu sagen. Dasselbe ist zur Darstellungsweise zu bedenken, die Schürmann „volkstümlich-semitisch“ nennt, und wie er sie einschätzt. Was dort zur „Schilderung von Gottes Vorbestimmung und Handeln“ behauptet wird, befremdet. Sie seien besonders „befähigt, theologische Aussagen (!) anschaulich und lebensnah zu machen“ (welch‘ ein Vorwurf für alle Theologen!). Das soll besonders auch für die Darbietung von „heilgeschichtlichen Deutungen (!) und Wesensaussagen (!)“ gelten! Das wird betont herausgestellt für die „Vorgänge der Lebensentstehung“, die „von jeher“ (!) deswegen eine „große Transparenz für das Geheimnis Gottes, das in ihnen west (!)“, habe. Wenn dieses hier so behauptet wird, dann gälte das für jede „Lebensentstehung“, und dann wäre folglich für Johannes und für Jesus gerade nicht mehr etwas Besonderes zu berichten. Jahwe kann immer absolut Neues geschehen lassen, das jedoch dann auch eine absolut neue Darstellungsweise wie sprachliche Vermittlung in Homologie und Verkündigung verlangt.

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Lebensentstehung Jesu

und nicht umgekehrt. In beiden Fällen ist diese Wortwahl ganz ungewöhnlich, da in keiner Sprache dieser Ausdruck auf eine personal-individuelle Person angewendet wird. In diesem Kontext wird von „wunderbarer Lebensentstehung“ (durch Gottes „wunderbares Eingreifen“!) im Zusammen mit „Empfängnis des Johannes“ gesprochen und damit „Lebensentstehung“ irgendwie „erklärt“. Wir beachten schon hier diese eigenartige Schau und Zusammenfügung. – Die nächste Stelle mit dem Ausdruck „Lebensentstehung“ findet sich in den einleitenden Sätzen zur Auslegung von 1,26–38 („Die Ankündigung der Geburt Jesu …“). Es heißt dort: „Die Ankündigung der Geburt des Johannes und Jesu sind einander in mancher Form verwandt; die Ankündigung an Maria ist der an Zacharias in allerlei Einzelheiten nacherzählt. Einer genialen Vereinfachung aber in der Form, die sich auf das Wesentliche zu beschränken versteht, entspricht die gewaltige Steigerung der Aussage. Die Erzähltendenz (!) der Verkündigungsszene ist eminent christologisch. Es geht letztlich (!) darum, die den Glauben feststehende (!) Messianität und ‚Gottessohnschaft‘ Jesu theologisch zu gründen. Das geschieht durch den Aufweis, wie Jesus sein menschliches Dasein (!) der schöpferischen Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau verdankt … Es geht dabei aber nicht nur darum, die Verheißung der Jungfrauengeburt als erfüllt zu bezeugen; die vaterlose Lebensentstehung Jesu ist dem Bericht vielmehr wichtig, weil an ihr christologische Aussagen deutlich werden“ (39f). In diesem Satz wird von der „vaterlosen Lebensentstehung Jesu“ gesprochen, obwohl davon dort keinerlei Rede ist!, und diese wird zuvor als „schöpferische Tat (!) Gottes im Schoße einer Jungfrau“ (das sagt der Text selbst auch nicht!), der Jesus sein menschliches Dasein verdankt (!). Wir bemerken die eigentümliche Redeweise: die „Lebensentstehung Jesu“ betrifft hier (nur) das „menschliche Dasein“ Jesu! Von beidem werde deswegen berichtet, „weil christologische Aussagen deutlich werden“ sollen! Wir belassen es hier zunächst beim einfachen Zitat, verweisen jedoch auf die Wendung „Vaterlosigkeit der Empfängnis“, die einiges klar werden läßt (47; dazu sei auch auf die S. 50 vorkommenden Formeln „Vaterlosigkeit dieser Empfängnis“; „jungfräuliche Empfängnis“ und „wunderbare Empfängnis“ hingewiesen, die alle zum Verständnis dessen beitragen, was Schürmann mit „Lebensentstehung Jesu“ genauer meint bzw. meinen könnte). – Sehr aufschlußreich sind sodann die folgenden Feststellungen Schürmanns zu 1,35a: „meint den gleichen schöpferischen Vorgang: Gottes Allmacht wird im Schoße Mariens ein Kind erschaffen … Die Vorstellung bleibt also in den Bahnen des AT und NT, wo Gott wunderbar mitwirkte (!) bei der Erzeugung (!) des Isaak, Samson, Samuel (und des Johannes) – nur daß Gottes schaffende Tätigkeit (!) hier nun bis zur jungfräulichen Lebensentstehung gesteigert (!) wird … Das eigentliche Erzählungsinteresse der ganzen Perikope lichtet sich hier: die ‚Heiligkeit‘ und ‚Gottessohnschaft‘ Jesu bis in die Ursprünge seines Wesens (!) in Gott verankern … Weil das Kind in seinem Ursprung gänzlich gottgewirkt ist, wird es durch und durch ‚heilig‘ sein“ (53). Entsprechendes gilt für die Formeln „Nachweis der vaterlosen Lebensentstehung Jesu“ und „jungfräuliche Empfängnis“ auf S. 56; „er kann auch eine jungfräuliche Empfängnis 449

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bewirken (!)“ mit „das Wissen um die jungfräuliche Lebensentstehung Jesu“ auf S. 57; „der Gedanke der jungfräulichen Lebensentstehung“ mit „jungfräuliche Empfängnis“ auf S. 59. Im Text S. 60–64 begegnen alle diese Formulierungen gehäuft wieder. Besonders zitiert mögen noch folgende Stellen sein, wo Bemerkenswertes zusätzlich gesagt wird: „Wenn der ‚Anfang‘ (vgl. Mk 1,1) Jesu hier zurückgeschaut ist bis zu seiner wunderbaren gottgewirkten Lebensentstehung, dann wandert damit auch der Anfang dessen zurück, der mit diesem Anfang verbunden war, Johannes“ (67). Zu Lk 1,51 (Magnificat) wird dies in einem Satz gesagt: „Im Lichte der Verheißung 1,31ff wird das 1,46–50 besungene Geschehen der Lebensentstehung des Messias im Schoße Mariens als der Anfang vom Ende verstanden. Im Grunde ist die neue Welt Gottes, das Ende, schon da“ (75). Dazu noch: „die jungfräuliche Lebensentstehung …“ (118). J. Ernst verwendet in seinem Lk-Kommentar den Ausdruck „Lebensentstehung“ in Bezug auf Jesus mehrmals. Zunächst heißt es einleitend zu Lk 1,26–38 so: „Die Wundergeburten in der Geschichte Israels finden in der Lebensentstehung durch den göttlichen Schöpfergeist eine dramatische Überbietung … Der zentrale Gedanke des machtvollen Eingreifens Gottes in den natürlichen Ablauf von Zeugung und Empfängnis ist in jüdisch-hellenistischen Kreisen der jungen Gemeinde unter dem Einfluß von Jes 7,14 (LXX) anschaulich illustriert, aber nicht entfremdet worden“ (58f). (Dies klingt fast wörtlich wie die Formeln Schürmanns; s. die Zitate oben.) Der Text geht weiter: „Die Argumentationslinie führt von V. 32f zu V. 35 und gipfelt in V. 37f. Lk wollte ‚beweisen‘, daß es um mehr geht als nur um die ‚normale‘ Lebensentstehung des Messias. Das Kind, das Maria angekündigt wird, ist der Sohn Gottes im exklusiven Sinn“ (59). Zu 1,35 wird gesagt: „Der durch die Rückfrage aufgeweckte Leser (!) wird zum entscheidenden Punkt des lk Christusbekenntnisses weitergeführt: Der Messias aus dem Hause Davids ist der Sohn Gottes von Anfang an; er ist von Gott selbst vollmächtig ins Leben gerufen. Lk greift hier auf eine traditionelle christologische Formel judenchristlich-hellenistischen Ursprungs (vgl. Mt 1,18–25) zurück, vergleichbar mit dem vorpaulinischen Bekenntnis Röm 1,3f, aber durch das alternative, von den Lebensanfängen ausgehende Evangeliummodell doch eigenständig geformt … das für den Messias angemessene Wunder der Lebensentstehung …“ (62), Dem wird noch dies angefügt: „Das Herzstück der Erzählung ist das lk Bekenntnis zu Jesus, dem Sohn Gottes ‚von Anfang an‘. Das ‚wie und auf welche Weise‘ ist bildhaft mit heilsgeschichtlichen Motiven, welche auf Gottes Schöpfermacht abheben, angedeutet … Das christologische Thema ist durch den Geist, der Anfänge setzt, in den großen heilsgeschichtlichen Rahmen gestellt … dem Wirken Gottes durch seinen Geist entspricht das passive Mit-Wirken (!) einer Frau. Gott schafft Heil mit den Menschen“ (63) In dem „Exkurs; Die menschlichen Anfänge des Gottessohnes im Bekenntnis des Lukasevangeliums“ finden sich mehrere Formulierungen, die Nuancierungen bringen, auf die wir später zu achten haben (wie z. B. schon im Titel des Exkurses: „die menschlichen Anfänge des Gottessohnes“). Dazu hier noch: „… wenn man nur auf die Frage nach den anthropologischen bzw. biologischen Bedin450

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gungen (!) der Menschwerdung (!) Jesu abhebt und den theologischen und christologischen Zusammenhang aus den Augen verliert … Christologische Bedeutung (!) kommt den Begriffen (!) ‚Sohn Gottes‘, ‚in Kraft‘, ‚Geist der Heiligkeit‘ und ‚Nachkommenschaft Davids‘ zu … Die Anfänge des Sohnes Gottes (!) liegen für Mk am Beginn des Evangeliums und im ersten Auftreten Jesu. Lk ist entsprechend seinem geschichtsorientierten Evangeliumsverständnisses weiter gegangen. Das Sohn-Gottes-Sein wird zurückverfolgt bis zu den irdischen (!) Lebensanfängen vor der Geburt (!) … Für ihn ist das Sohn-Gottes-Sein begründet in der Überschattung Marias mit der Kraft des Höchsten und in der Herabkunft des Heiligen Geistes (V. 35) … Der entscheidende Punkt ist die Begründung des Sohn-Gottes-Seins in Gottes schöpferischer Kraft; die ‚Jungfrau‘ symbolisiert (!) die menschliche Mitwirkung (!) in einer auf das schöpferische Handeln (!) Gottes ausgerichteten Begrifflichkeit (!)“ (63f). W. Wiefel spricht in seinem Lk-Kommentar in folgender Weise von „Lebensentstehung“: „Für das Bekenntnis zur geisterzeugten (!) Lebensentstehung und zur Geburt aus der Jungfrau hat neben der vorliegenden Perikope (d. i. Lk1,26–38) Math. 1,18–25 grundlegende Bedeutung. Dabei ist zu beachten, daß Math. 1,18–25 von apologetischer Tendenz bestimmt ist … Lk 1,34–37 hingegen ist mit der Verheißung des eschatologischen messianischen Königs (!) verbunden und deutet seine Entstehung als die des zweiten Adams“ (51; s. dort den Text). P. Fiedler bringt in seinem Mt-Kommentar zu Mt 1,18 u. a. dies: „Die Abweichung vom Schema der Genealogie ausgerechnet beim Schlußglied von V. 16 wird nun erklärt. Selbstverständlich (!) geht es auch, ja gerade hier um die Lebensentstehung, also die Zeugung (!), und nicht … um die Geburt. Deshalb greift Mt ausdrücklich auf das Substantiv genesis von V. 1 zurück: Jetzt wird die jungfräuliche Empfängnis Jesu Christi in ihrer Verknüpfung mit der Davidssohnschaft erläutert …“ (46). Im folgenden seien einige Beispiele für die Verwendung von „Lebensentstehung“ in systematisch interessierten Büchern bzw. Artikeln aufgeführt, die zeigen, wie selbstverständlich mit diesem Ausdruck umgegangen wird. So sei auf den Abschnitt „Die Ankündigung der Geburt Jesu für Maria“ von D. Zeller im Buch „Zur Theologie der Kindheitsgeschichten“ (R. Pesch, Hrsg., 1981) hingewiesen, wo es zu Lk 1,34f so heißt: „Der Satz mit ‚deshalb‘ zeigt, daß sie als Ätiologie für die Heiligkeit und Gottessohnschaft des Kindes gedacht ist … Das besondere Gottesverhältnis des endzeitlichen Davidskönigs (V. 32f.) wird hier in der Weise der Lebensentstehung begründet. Hier schlägt wohl doch eine griechische Denkungsart durch“ (43f). K. Rahner spricht in seinem Beitrag „Dogmatische Bemerkungen zur Jungfrauengeburt“ (in „Zum Thema Jungfrauengeburt“, Stuttgart 1970) zur Frage im dortigen Kontext dieses aus: „… es kann gefragt werden, was eigentlich dagegen spreche, das auf jeden Fall gegebene Wunder dieser leibhaftigen Andersheit gerade in der traditionellen Weise konkret zu denken, und es kann gefragt werden, ob nicht eine gar zu selbstsichere Ablehnung der Jungfrauengeburt eben letztlich doch die auf jeden Fall gegebene Andersheit des

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Werdens Jesu übersehe, d. h. implizit mindestens eben doch leugne, daß es sich hier beim Werden des Gottmenschen um eine Initiative Gottes handelt, die eben nicht einfach diejenige der geschichtlich-irdischen Welt allein ist“ (142). ––– K. Menke sagt in seinem Buch „Fleischgeworden aus Maria“ im dortigen Kontext zu Mt 1,18–25 und Jes 7,14 dies: „Eine ganz andere Frage ist, ob die Übersetzung des hebräischen ‚alma‘ mit dem griechischen ‚parthenos‘ die Erzählung von der geistgewirkten Lebensentstehung Jesu erst evoziert hat …“ (44). ––– J. Kremer schreibt in seinem Artikel „ ‚Dieser ist der Sohn Gottes‘ (Apg 9,20). Bibeltheologische Bemerkungen zur Bedeutung von ‚Sohn Gottes‘ im lukanischen Doppelwerk“ u. a. diese bezeichnend formulierten Sätze zu Lk 1,35: „Auf die Frage Mariens ‚Wie wird das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?‘ (1,34) antwortet hier der Bote Gottes, daß die Lebensentstehung des verheißenen Kindes durch den göttlichen Lebensodem, eine Kraft Gottes, erfolgen werde. Dies ist der Sinn der beiden ganz der biblischen Diktion verpflichteten, bildhaften Aussagen über das ‚Herabkommen‘ des Heiligen Geistes und das ‚Überschatten‘ durch die ‚Kraft des Höchsten‘. Wegen (dio.) dieser außergewöhnlichen Empfängnis wird auch ‚das Kind‘ (to. gennw,menon) ‚heilig‘, d. h. in besonderer Weise Gott zugehörig (vgl. 2,23), heißen; außerdem wird es deshalb, wie die am Schluß stehende Apposition betont, ‚Sohn Gottes‘ genannt werden. Dieser den Lesern vertraute Hoheitstitel Christi wird ihm also wegen seiner wunderbaren Lebensentstehung verliehen werden. Die Partikel dio (deshalb) zeigt sicherlich eine kausale Verbindung an, die nicht abgeschwächt werden darf. Daher drängt sich der Gedanke auf, daß Jesus nach Lk 1,35 seine Gottessohnschaft der geistgewirkten Lebensentstehung verdanke … Sicher aber ist, daß die hier erwähnte geistgewirkte Lebensentstehung nicht nach Art einer Zeugung durch Gott aufgefaßt werden darf … Gegen eine solche Interpretation sprechen – abgesehen von der Unvereinbarkeit mit der Transzendenz JHWHs – das Fehlen jeglicher Schilderung einer göttlichen Zeugung … außergewöhnliches Wirken Gottes, nicht aber aufgrund göttlicher Zeugung. Der sprachliche Befund erlaubt sogar die Deutung, daß der Evangelist die geistgewirkte Lebensentstehung (etwa als schöpferischen Akt der Erwählung und Aussonderung schon im Mutterschoß) hier bloß als Grund für die Jesus zukommende Würde als ‚Sohn Gottes‘ (im Sinne eines Amtstitels) betrachtet, nicht aber als Grund für seine ‚Gottessohnschaft im physischen Sinn‘ (Zitat Hahn). Für die Bewertung von V. 35 ist vor allem zu beachten, daß in Lk/Apg sonst niemals die Gottessohnschaft Jesu mit dem Hinweis auf seine geistgewirkte Lebensentstehung begründet wird. Dies berechtigt zu der Vermutung: Der Evangelist wertet die ihm (und seinen Lesern) schon bekannte (vgl. Mt 1,18–25) Redeweise von der geistgewirkten Lebensentstehung Jesu bloß als eine Möglichkeit, die Wahrheit der kirchlichen SohnGottes-Verkündigung anschaulich zu begründen“ (143f).17 17 Der oben relativ ausführlich zitierte Text Kremers enthält sehr viele Aussagen und Behauptungen,

die dringend zu hinterfragen sind. Hier soll es an Hand des obigen Textes für einzelnes geschehen, was freilich etwas unbeholfen wirken wird; das sei in Kauf genommen. Es soll nur auf die Problema-

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Menschwerdung

V. Menschwerdung „Menschwerdung“ – eine Wortbildung, die es nur im Deutschen gibt – wird wie ein schlechthin selbst-verständlicher Ausdruck und Begriff allgemein in der Theologie und Verkündigung, aber auch in ausgesprochen bibelwissenschaftlich-exegetischer Fachsprache in einem derart häufigen Ausmaß gebraucht, daß es müßig erscheint, das überhaupt in Frage zu stellen. Demgegenüber ist es Faktum, daß dieser ganz übliche Terminus im LThK erst in seiner 3. Auflage überhaupt einen eigenen Artikel tik aufmerksam gemacht werden. Wir legen den oben zitierten Text, weil er einsehbar ist, zugrunde. Daher: Zu Lk 1,35:“… antwortet der Bote Gottes, daß die Lebensentstehung des verheißenen Kindes durch den göttlichen Lebensodem … – erfolgen werde“. Das sagt der Text gerade nicht! Keine Rede von Lebensentstehung; von einem „verheißenen Kind“ wird nicht gesprochen, und auch nicht vom „göttlichen Lebensodem“. Vielmehr, wie Kremer selbst dann weiter sagt, heißt es: „heiliger Geist wird über dich kommen und Kraft des Höchsten wird dich überschatten“. Zu „Lebensodem“ war zuvor „eine (!) Kraft Gottes“ zur Erklärung angegeben, was auch dem biblischen Befund widerspricht (s. dazu unsere Erklärungen im Abschnitt „Lk 1–2; Übersetzung; theologischer Gehalt“). Dann wird von „bildhaften (!) Aussagen über (!) das ‚Herabkommen‘ des Heiligen Geistes und das ‚Überschatten‘ durch (der Text selbst hat kein „durch“ o. ä.!) die ‚Kraft des Höchsten‘. Lk 1,35 selbst spricht von einem „Tun“ (um dieses ganz allgemein und offen klingende Verb hier einmal zu gebrauchen) Gottes (pneu/ma a[gion und du,namij u`yi,stou stehen, wie wir früher erwiesen haben, für „Gott“ (Jahwe), nicht als Synonyma, nicht als Gottesprädikate, sondern gleichsam als Namen, wie Jahwe selbst; das haben wir früher schon aufgewiesen; s. d.). Dann wird, gänzlich vorbei am Text, dieses „Tun“ Gottes (das in biblisch bekannten Parallelismus mit „kommen über“ und „überschatten“ angesagt ist) als „außergewöhnliche Empfängnis“ erklärt! (Das hier zu diskutieren, ist nicht der geeignete Ort; s. dazu unsere späteren zusammenschauenden Ausführungen). „Deswegen sei das „Kind“ „heilig“, wobei dieses „heilig“ als „in besonderer (?) Weise Gott zugehörig“ (!) erklärt wird, mit 2,23 als Beleg, wo etwas gänzlich anderes steht! Dann wird das „Sohn Gottes“ in 35c als „den Lesern vertrauter Hoheitstitel Christi“ angesprochen, der Jesus „wegen seiner wunderbaren Lebensentstehung verliehen (!) wird“. „Sohn Gottes“ ist kein Titel (wenngleich das oft behauptet wird), sondern namentliche Angabe dessen, was er ist. Kremer verschlimmert das alles mit der Aussage: „Nach 1,35 verdankt (!) Jesus seine (!) Gottessohnschaft (!) der geistgewirkten Lebensentstehung (die plötzlich so bezeichnet wird). Was diese eigentlich ist, wird nicht näher bestimmt; dazu auch in späteren Ausführungen. Zuvor sprach Kremer ein Verbot zur Auslegung aus („darf nicht abgeschwächt werden“; wer will das warum tun?). Dem entspricht eine eigenartige Erlaubnis: „Der sprachliche Befund (!) erlaubt sogar die Deutung (!), daß der Evangelist die geistgewirkte Lebensentstehung (etwa als schöpferischen Akt (!) der Erwählung (!) und Aussonderung (!) schon (!) im Mutterschoß) hier bloß (!) als Grund (!) für die Jesus zukommende Würde (!) als ‚Sohn Gottes‘ (im Sinne eines Amtstitels) (!) betrachtet“. Dem wird dann im weiteren noch eine Möglichkeit (!) des rechten Verständnisses beigesellt, wieder mit „bloß“ angegeben, nämlich die Wahrheit (!) der kirchlichen (!) Sohn-Gottes-Verkündigung (!) anschaulich (!) zu begründen“. Wir belassen es hier bei diesen Feststellungen; in dieser Weise sind im Grunde alle exegetischen Auslegungs-Aussagen einmal genau auf ihre Berechtigung und gültige Begründung hin zu befragen. S. dazu zunächst unsere Feststellungen zu den ausführlich besprochnen ntl. Texten oben in den entsprechenden Abschnitten. ––– Zu den zu Beginn vorgelegten Text-Stellen aus dem Lk-Kommentar von H. Schürmann s. auch seinen Artikel „Die geistgewirkte Lebensentstehung Jesu. Eine kritische Besinnung auf den Beitrag der Exegese zur Frage“, in: Erfurter Studien 32 (1974) 156–169.

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bekommen hat; das RGG der 2. und 3. Auflage kennt ihn gar nicht. Im LThK wird man schlicht mit diesem Hinweis bedient: „Siehe /Hominisation; /Inkarnation“ (7, 1998, 137)! Auf der anderen Seite ist die Tatsache festzustellen, daß in der ganzen Bibel keine einzige Stelle begegnet, die diese Wortbildung selbst kennt und gebraucht oder sie wenigstens als sinnvoll suggerieren würde. „Menschwerdung“ ist offensichtlich angeregt von Joh 1,14: „und das Wort ist Fleisch geworden (kai. o` lo,goj sa.rx evge,neto)“. Dieser Satz könnte dazu animiert haben, von „Fleischwerdung“ zu sprechen; doch diese Bildung begegnet höchst selten. So ist „Menschwerdung“ üblich geworden. Joh 1,14 hat ja auch zur Bildung „Inkarnation“ angeregt, die übrigens in den meisten anderen Sprachen häufigst vorkommt. Tatsächlich wird ja auch im Deutschen sowohl „Inkarnation“ wie „Menschwerdung“ als theologischer Fachausdruck in einfach gleicher Bedeutung wie selbstverständlich verwendet. Zu „Inkarnation“ wird eigens ausführlich das Entscheidende besprochen. Hier gehen wir jetzt dem Einsatz von „Menschwerdung“ speziell in den Kommentaren zum NT, also schon in der exegetischen Erschließung und Auslegung des Bibeltextes selbst nach. Es zeigt sich, daß dieser Ausdruck häufigst verwendet wird und mit ihm Unterschiedlichstes zur Sprache gebracht erscheint. Eine einigermaßen systematische Erfassung aller einschlägigen Aussagen erweist sich als nicht durchführbar. Daher werden wir an Beispielen aufweisen, wo und für was dieser Ausdruck tatsächlich angewendet erscheint, und zwar um Wichtigstes der ntl. Verkündigung zur Sprache zu bringen. Wir beginnen mit U. B. Müller, der ja seinem Buch den Titel „Die Menschwerdung des Gottessohnes. Frühchristliche Inkarnationsvorstellungen und die Anfänge des Doketismus“ gegeben hat (SBS 140, 1990). Schon in diesem Buchtitel ist unverkennbar „Menschwerdung“ mit „Inkarnation“ als ein und dasselbe gesehen; sie gelten irgendwie als gleichbedeutend und austauschbar. Das zeigt auch das Inhaltsverzeichnis: in ihm kommt „Menschwerdung“ nicht vor, dafür wird stets mit „Inkarnation“ angegeben, worüber gesprochen werden soll. Auch die Sätze der „Einleitung“ (71ff ) überraschen. Müller weist sogleich auf Joh 1,14 als Schlüsselsatz hin. Dann erklärt er mittels Zitation einer Stelle aus Athanasius „De incarnatione 54“ (Mitte des 4. Jh.), was die eigentliche Frage ist: „Athanasius beantwortet deshalb mit Wesensaussagen die Frage, warum der Logos Mensch geworden ist. Der göttliche Logos selbst muß einen Leib annehmen, um so die Verwandlung des Menschen aus der Vergänglichkeit zur Unsterblichkeit herbeizuführen. Am Schluß seiner Schrift De incarnatione 54 sagt Athanasius deshalb: ‚Denn er (der Logos) wurde Mensch, damit wir vergöttlicht würden. Er offenbarte sich im Leibe, damit wir zur Erkenntnis des unsichtbaren Vaters gelangen …‘“. Ähnlich dachte der Sache nach Ignatius von Antiochien. Erlösung hat sich geradezu in kosmischen Dimensionen realisiert, indem Gott als Mensch erschien zu einem neuen ewigen Leben … In gewissem Sinn entspricht die Menschwerdung Gottes (!) durchaus der Gottwerdung des Menschen, auch wenn Ignatius den Begriff noch nicht kennt. Für die Entwicklung vor Ignatius scheint das Thema Menschwerdung des Präexistenten keine unmittelbare Funktion zu besitzen, 454

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weil die Inkarnation nicht die entsprechende soteriologische Bedeutung hat“ (9–10). Dann etwas später: „Aber das antike Denken ermöglichte die Vorstellung eines göttlichen Wesens in Menschengestalt. Dennoch gilt: Wenn Christen von der Menschwerdung ihres Erlösers (!) im (!) irdischen Jesus von Nazaret sprechen wollten, mußten Schwierigkeiten auftreten, insofern dabei Unvereinbares einen Ausdruck finden sollte. Der Gedanke realer Inkarnation (!) widerspricht hellenistischem Denken … Vom Wunder der Menschwerdung Gottes (!) in Christus (!) betroffen, preisen die Christen in hymnischer Form den neuen Anbruch der Geschichte Gottes mit den Menschen … Eines ist bei den hier zu untersuchenden Texten jeweils vorausgesetzt, die mehr oder minder deutlich reflektierte Vorstellung der Präexistenz Christi: Denn nur dann kann im strengen Sinn (!) von der Menschwerdung geredet werden, wenn Christi ‚vorzeitige‘ Daseinsweise (!) wenigstens ansatzweise mitgedacht ist. Allein dort, wo das Anliegen der Präexistenzidee (!) gilt, daß das Heilsgeschehen betontermaßen seinen Ursprung (!) in Gott selber hat, nicht in innerweltlichen Voraussetzungen … Der Gedanke (!) der Menschwerdung will dieses Problem lösen (!)“ (11–12). Im Haupttext zeigen eine Reihe von Stellen, was mit „Menschwerdung“ herausgestellt sein soll. So heißt es zu Phil 2,6–11 im Kontext: „Die Redundanz in der Ausdrucksweise ist keineswegs zufällig … Sie soll die wirkliche Menschwerdung (!) Jesu Christi zur Sprache bringen … die reale Inkarnation eines Gottwesens (!) … Primär der Kontext präzisiert das beabsichtigte Verständnis im Sinne realer (!) Menschwerdung …“ (21; in Phil 2.,6–11 ist von alle dem keine Rede; s. dazu unsere Feststellungen oben). Zu Joh 1,14 sagt der Autor im dortigen Kontext: „Oder zielt der Text im Kontrast dazu auf die reale Fleischwerdung (!) des Logos, die eine grundlegende Veränderung seines Wesens bedeutet?“ (40; 43: „die Menschwerdung des Logos)“. Dann: „Dennoch ist der Satz von der Fleischwerdung noch ganz unproblematisch verstanden … Die Inkarnation bedeutet keine grundsätzliche Veränderung des Logos … unterscheidet sich eindeutig von Phil 2,6f., wo die Menschwerdung des Präexistenten sich als Selbstentäußerung und Aufgabe der Göttlichkeit darstellt (!)“ (45). Dann: „Die ‚Fleischwerdung‘ (warum jetzt in Anführungsstrichen?) des Logos bewirkt (!) die Offenbarung des Göttlichen (was ist das hier?) auf Erden, insofern in Jesus die göttliche Doxa des Logos transparent wird (!) für die, die ihn annehmen … (48). Im „Rückblick und Ausblick“ (123–129) lesen wir: „Im frühen Christentum zeichnet sich die für antikes Denken (!) bestehende Problematik der Menschwerdung des Gottessohnes unübersehbar ab. Der Hymnus Phil 2,6–11 sucht allererst nach Worten, um in wiederholtem Anlauf (!) zur Sprache zu bringen, was ihn bewegt … Der Hymnus hat dabei offensichtlich Mühe, die Inkarnation (!) auszusagen, weil es für die Antike unerhört ist, von einer Erscheinung in Menschengestalt … obwohl er Sohn ist … als Menschgewordener wird er den Menschen solidarisch (!)“ (123; alles Aussagen, die im Text nicht stehen und von ihm auch nicht suggeriert werden). Dasselbe gilt für diesen Satz: „Der Verfasser des 1 Joh hat die in seiner Zeit entstandene (!) Problematik erkannt. Gegenüber den häretischen Abweichlern in den Gemeinden insistiert er auf 455

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der wahren (!) Fleischwerdung des Christus … Ignatius von Antiochien vermag es, die Heilsfolgen (!) speziell der Menschwerdung Gottes (!) eindringlich zu schildern (Eph 19) … die immer schon vorausgesetzte Betonung der Gottheit (!) Christi … die ungetrübte Gottheit des Christus …“ (125). Wir bemerken, in welchem Ausmaß die Aussagen der ntl. Texte verfremdet werden („Der Hymnus Phil 2,6–11 sucht nach Worten, in wiederholtem Anlauf …“!). Text-Beispiele aus Kommentaren zu ntl. Schriften, in denen ausdrücklich „Menschwerdung“ zur Auslegung verwendet wird. P. Gaechter gebraucht in seinem Mt-Kommentar diesen Ausdruck an wichtigen Stellen, obwohl der Mt-Text ihn nicht kennt noch zu seiner Auslegung wenigstens empfehlen würde. Zu Mt 1,16 findet sich dies: „Der ‚Mann Marias‘ besagt an sich also nicht, daß Maria und Joseph zur Zeit der Menschwerdung Jesu (!) verheiratet gewesen seien“ (39). Zu 1,10f lesen wir: „Darum wird auch hier so wenig wie sonst im Kindheitsbericht die Funktion (!) des Hl. Geistes zur Tätigkeit des Mannes (!) bei (!) der Menschwerdung in Parallele gesetzt, während das in den Göttermythen regelmäßig geschieht … Weder von heidnischen Anschauungen, noch auch von jüdischen läßt sich der in Mt 1 und übereinstimmend damit in Lk 1 gebotene Bericht (!) über Jesu Menschwerdung herleiten“ (49). Dann zu 1,23: „ ‚Siehe, die Jungfrau wird empfangen‘ ist demnach nicht die Spitze des Zitates (Jes 7,14), um derentwillen es angeführt wird. Das bedeutet keinen Verlust, weil die jungfräuliche Menschwerdung (!) Jesu in der Perikope ohnehin mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck kommt und nicht vom Zitat aus Jes 7,14 abhängt“ (53). Dem Zitat zu 1,20 ist das dort weiter Gesagte noch anzufügen: „Jesu Menschwerdung. Sie besteht (!) in einer jungfräulichen Empfängnis und Geburt (!) aufgrund einer unmittelbaren Einwirkung Gottes (!) auf die Mutterkraft Marias“ (49). Dazu ist zu fragen: Was ist diese „Mutterkraft Marias“, kraft derer Jesus Mensch wird (Mt sagt, daß Josef dem geborenen Kind den Namen ‚Jesus‘ geben soll). Der Kommentator ist offensichtlich (doch sachwidrig) der Meinung, daß in allen Fällen des „Werdens“ eines neuen Menschen, also in allen Fällen natürlichen Werdens der Kinder, die Eltern persönlich-aktiv das vollziehen, wenn sie einen neuen Menschen zeugen, ihn also „werden“ lassen. Gaechter spricht ja von der „Tätigkeit des Mannes bei der Menschwerdung“, die aber im Falle Jesu nicht erfolgt sei. Ist also mit „Mutterkraft Marias“ doch jedenfalls das persönlich-aktive Mit-Wirken der Frau behauptet, da ja das eines Mannes ausgeschlossen ist? Auf diese und ähnliche Fragen werden wir später zurückkommen müssen, wenn wir alle Aussagen ntl. Texte zusammen-schauen. Hier, zu Mt 1, ist die Problemfrage nicht vom Text heraufbeschworen, sondern vom Kommentator, durch den hier absolut deplazierten Einsatz des Ausdrucks „Menschwerdung“ in Bezug auf Jesus. U. Luck schreibt in seinem Mt-Kommentar (ZBK, 1993) zu Mt 1,18 u. a. dies: „An dieser Stelle der Generationenliste (d. i. 1,16) ist das zusammengefaßt, was die ‚Geburtsgeschichte‘ bei Matthäus ausführt und austrägt: In Jesus gewinnt Gottes Geist Gestalt (!). Er ist der ‚Sohn‘ schon von seiner Geburt (Mt. 11,27); er wird es also nicht 456

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erst auf dem Wege zur Vollkommenheit, wie sie jeder erlangen kann, der den Weg des Gesetzes im Judentum geht. Man sollte daher im Verständnis der Geburtsgeschichten diesen Gedanken der Gestaltwerdung, ja der Menschwerdung des Geistes (!) im Vordergrund sehen. Die Gotteskindschaft als eine unmittelbare Geburt (!) aus Gott ist auch im Judentum nicht unbekannt gewesen … Die Geburtsgeschichte muß daher zweierlei miteinander verbinden: Gottessohnschaft als unmittelbare Zeugung (!) durch den Geist Gottes und den Zusammenhang mit der Geschichte. Die Zeugung durch den Geist Gottes … steht gegenüber die Geburt von Maria, die aber als Jungfrau Mutter wurde ohne Mitwirkung eines irdischen Vaters“ (22). Der Text mag für sich sprechen. A. Stöger verwendet den fraglichen Ausdruck in seinem Lk-Kommentar in folgenden Aussagen: Zu Lk 126–38 heißt es u. a.: „Der Bote ist wieder Gabriel. Er kommt vom Antlitz Gottes her … er erscheint nicht bloß wie in der Verkündigung des Johannes, sondern er kommt. Was beginnt, ist Kommen Gottes zu den Menschen – in der Menschwerdung … Das Gesetz der Menschwerdung heißt: ‚Jesus … hat sich selbst entäußert‘ (Phil 2,7)“ (48). Zu Lk 1,35: „Die Herrlichkeit Gottes, die Kraft ist, erfüllt Maria und wirkt in ihr das Leben Jesu (!). In Jesus offenbart sich die Herrlichkeit Gottes durch die Menschwerdung aus Maria …“ (48). H. Schlier bringt in seinem Gal-Kommentar eine Zwischenbemerkung wichtigen Inhaltes und verwendet den Ausdruck „Menschwerdung“ auf eigene, befremdende Art: „Die Erscheinung Jesu Christi beruht (!) auf dem Akte der göttlichen Entsendung … Die Endzeit ist die Zeit, in der das göttliche ‚Prinzip‘ unseres Daseins, Christus Jesus, in dieses Dasein eingebrochen (!) ist. Die Erscheinung Christi Jesu in diesem Aeon beruht auf dem Akte der Entsendung; sie besteht (!) in der Menschwerdung …“ (196; das ist zu Gal 4,4f gesagt!). Wir verweisen hier auf unsere eingehende Besprechung im oben vorgelegten Abschnitt zu Gal 4,4 und die dort vorgelegten Bedenken, auch in Bezug auf die Position von Schelkle und dessen Erklärung zu Gal 4,4f). 18 18 In dieser Anmerkung seien einige Text-Stellen vorgelegt, die von Bibelwissenschaftlern bzw.

Exegeten in Beiträgen geschrieben sind, die nicht eigentlich Kommentar-Aussagen sind, doch zu einzelnen ntl. Stellen im Anliegen ihres Artikels beachtenswerte Bemerkungen in Bezug auf „Menschwerdung“ vorbringen. G. Schneider verwendet „Menschwerdung“ in seinem Beitrag „Präexistenz Christi“ (1974) in folgenden Sätzen zu Phil 2,2–11 im dortigen Kontext: „Sie (d. i. die gnostisierende Terminologie) als Hintergrund für die ältere und verbreitete christologische Erhöhungsaussage, die wiederum die Erniedrigung (im gehorsam übernommenen Todesschicksal) auf ihre Heilsbedeutung hin auslegt. Insofern also die erste Strophe den Gedanken an eine vor der Menschwerdung geschehene Tat Christi impliziert, bringt sie auch dessen Präexistenz ins Spiel … Sie wird an den traditionellen Satz von der Menschwerdung Christi (vgl. evn o`moiw,mati avnqrw,pwn geno,menoj mit Gal 4,4: geno,menon evk gunaiko,j( geno,menon u`po. no,mon) anknüpfen, der vor allem an die Gottgesandtheit Christi dachte“ (407f; dazu dann: „… Vorläufer einer ausdrücklicheren Präexistenz-Christologie ansehen … zwei wichtige Wurzeln derselben aufzeigen: die Schöpfungsmittler-Funktion und die Vorstellung vom Abstieg Christi in der Menschwerdung“ (409). Wir bemerken, daß „Menschwer-

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Text-Beispiele aus Arbeiten von Bibelwissenschaftlern zu Stellen mit Aussagen in Bezug auf die Herkunft Jesu Christi mittels „Menschwerdung“. J. Riedl bringt in seiner Arbeit „Die Vorgeschichte Jesu“ (BF 3, 1968) im dortigen Kontext diese Aussagen: „Die Urkirche bezog nicht nur Leiden und Sterben und das öffentliche Wirken Jesu in ihr Osterbekenntnis zu Jesus als Kyrios ein, sondern auch seine Menschwerdung, seine Geburt und seine Kindheit. Die Vorgeschichte Jesu ist mindestens genau so vom eschatologisch-österlichen Aspekt geformt und getragen wie die restliche ‚Geschichte‘ des Jesus von Nazareth“ (8). Wir bemerken, daß für Jesus eine „Vorgeschichte“ behauptet wird, in der „seine Menschwerdung, seine Geburt und seine Kindheit“ ausgesagt seien. Mit „Menschwerdung“ dürfte hier in der Zusammenstellung die Empfängnis Jesu angesprochen sein, die „Lebensentstehung Jesu“, wie es andere oft nennen. Ob das Sinn macht, bleibt zu fragen. E. Nellessen beginnt sein Vorwort zu „Das Kind und seine Mutter“ (SBS 39, 1969) so: „Jahr für Jahr stehen alle, die mit der Glaubensverkündigung beauftragt sind, vor der Aufgabe, im Weihnachtsfestkreis die neutestamentliche Botschaft von der Menschwerdung Christi auszulegen“ (5). Im Unterabschnitt „1.2. Bekenntnishafte und erzählende Rede von der Menschwerdung“ wird gesagt: „Damit ist nicht gesagt, daß man sich etwa bis zur Abfassung des Mk die weiter zurückführende Frage nach dung“ zum wichtigen Text Phil 2,6–11 eingesetzt wird, obwohl dieser selbst es nicht gebraucht noch seinen Einsatz nahelegt. Th. Söding spricht von „Menschwerdung“ in seinem Beitrag „Davidssohn und Gottessohn. Zur paulinischen Christologie von Röm 1,3f “ (2000) im dortigen Zusammenhang in „4.2 Die Menschwerdung des Gottessohnes“ so: „Die Menschwerdung des Gottessohnes, die Röm 1,3f. durch das Motiv der Davidssohnschaft qualifiziert, ist ein wesentlicher Aspekt des christologisch strukturierten Heilshandeln Gottes. Paulus setzt Akzente: die Sendung und die Erniedrigung Jesu … kata. in Röm 1,3f weist die Ähnlichkeit und Entsprechung aus, mithin die Realität der Menschwerdung Jesu. Röm 1,3 ist nicht allzu weit von einer Inkarnationsaussage entfernt … Geschichte, in die der Fleischgewordene eingeht … der Menschgewordene ist der, der die Hoffnungsgeschichte Israel bejaht … So wichtig in Röm 1 die Menschwerdung des Gottessohnes als Davidssohn ist, so wichtig seine Auferstehung von den Toten … Entscheidend ist, daß die christologische Tradition von Röm 1,3f. in den Augen des Apostels von großer christologischer Substanz ist: Es hält die Identität des Menschgewordenen mit dem Auferstandenen, des Messias mit dem Präexistenten, des Davidssohnes mit dem Gottessohn fest … bleibt die Vorstellung eines menschgewordenen Gottessohnes dem Frühjudentum fremd“ (338–345; die entscheidenden Sätze wurden herausgestellt; der dortige Kontext ist bedeutsam für das rechte Verständnis der zitierten Sätze). J. Kremer spricht in seinem Beitrag „Das Erfassen der bildsprachlichen Dimensionen als Hilfe für das rechte Verstehen der biblischen ‚Kindheitsgeschichten‘ und ihre Vermittlung als lebendiges Wort Gottes“ (QD 126, 1990, 78–109) mehrmals von Menschwerdung in bezeichnendem Kontext. So zu Lk 1,26–38: „Demnach wird die Verkündigung Jesu als ‚Sohn Gottes‘ … mit dem Hinweis auf seine geist-gewirkte Lebensentstehung begründet: Er ist ein direkt von Gott stammender Sohn und hat Gott zum Vater … Herkunftsbezeichnung … Der Sohn Mariens kann aufgrund seiner außergewöhnlichen Lebensentstehung und Geburt ‚Sohn Gottes‘ heißen …“ (97): dazu dann: „Es verweist uns auf das Wunder der nie zu begreifenden, in Gottes Schöpferkraft gründenden Menschwerdung des ewigen Sohnes, die ein besonderes, aber im einzelnen nicht näher zu bestimmendes Wirken Gottes in der Geschichte impliziert“ (104; dazu ebenso 106).

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dem Lebensbeginn Christi gar nicht gestellt hätte. Im Galaterbrief (4,4) schreibt Paulus. … Die Ausdrucksweise, die Paulus wählt, zielt ‚auf die menschliche Geburt dieses göttlichen Gesandten, ohne die jungfräuliche Geburt ausdrücklich ins Auge zu fassen … Das sicher vorpaulinische Christuslied Phil 2,6–11 enthält in V. 7 eine Beschreibung (!) der Menschwerdung und des Menschseins Christi … Die gottesdienstliche Bekundung des Glaubens an (!) die Menschwerdung geht also weit in die Geschichte des Urchristentums zurück. Das alles ist natürlich eine kurze, bekenntnishafte Rede von dem Eintritt des Messias ins irdische Leben, weit von aller Erzählung entfernt. Solche begegnet uns erst in den Einleitungskapiteln der Großevangelien Matthäus und Lukas“ (14 u. 15). Im „Exkurs: Jungfrauengeburt – ein Theologumenon?“ (97– 112) beginnt Nellessen so: „In den Berichten des Matthäus und Lukas über Empfängnis und Geburt Jesu sind drei Aussagen von besonderem Gewicht enthalten. Alle drei betreffen den Wundercharakter der Menschwerdung und gehen über das der natürlichen Erfahrung Erreichbare hinaus: Jesus ist Sohn Gottes (Lk 1,35; Mt 1,22f; 2,15); seine Empfängnis ist vom Heiligen Geist bewirkt (Lk 1,35; Mt 1,18.20); seine Mutter ist und bleibt in der Empfängnis Jungfrau (Lk 1,27.34; Mt 1,23.25). Die Aussagen stehen miteinander im Zusammenhang, jedoch nicht in einem notwendigen. Die zweite und dritte erklären die Art und Weise, wie die Gottessohnschaft Jesu verwirklicht (!) wurde, wären aber nicht unerläßliche Voraussetzungen (?)“ (97). Dieser letzte Passus ist äußerst fragwürdig. Wir werden darauf zurückkommen. U. Wilckens schreibt in seinem Beitrag „Empfangen vom Heiligen Geist, geboren aus der Jungfrau Maria – Lk 1,26–38“ (in „Zur Theologie der Kindheitsgeschichten“, Hrsg. R. Pesch, 1981) im Unterabschnitt „Zum sachlichen Verhältnis von Geistzeugung und Jungfrauengeburt“ nach anderem: „Sämtliche Zeugnisse der alten Überlieferungen … kennen eine wunderbare Geburt Jesu nicht … Nur die lukanische und matthäische Vorgeschichte erzählen sie; und danach wird sie nur von dem antiochischen Märtyrerbischof Ignatius mit Verve als christologisches Argument für die volle Wirklichkeit der Menschwerdung des Gottessohnes ins Feld geführt. Nicht dagegen Johannes, nicht … zeigen irgendeine Kenntnis von diesem Geburtswunder. Sie alle nämlich singen, verkündigen und denken den ‚Anfang‘ Christi in der Ewigkeit der Präexistenz und sehen in der Menschwerdung, sei es die Voraussetzung des Sühnetodes Christi wie Paulus (…), sei es die Selbstentäußerung des Gottessohnes (…) oder das Wunder der Sendung Jesu in die Welt (…). Die einzigen Zeugen der Jungfrauengeburt, Lukas, Matthäus und Ignatius, weisen nach Syrien …“ (62f). P. Fiedler sagt in seinem Beitrag „Geschichte als Theologie und Verkündigung …“ in dem hier zuvor genannten Buch (R. Pesch Hrsg.) im dortigen Kontext: „Die Aussage von Jesu Herkunft aus dem Wirken des Gottesgeistes in den beiden SynoptikerPrologen verlegt zwar den Beginn seiner Gottessohnschaft an den ersten Augenblick seiner menschlichen Existenz. Darin ist aber eben noch nicht die Daseinsweise bei Gott vor der Menschwerdung beinhaltet. Die göttliche Proklamation bei Jesu Sohnwerdung (!) und die Tätigkeit des Heiligen Geistes seien auf jeder Stufe dieses Pro459

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zesses (d. i. des Fortschritts in der christologischen Entwicklung) vereint anzutreffen“ (13 u. 14). O. Knoch formuliert in seinem Beitrag „Die Botschaft des Matthäusevangeliums über die Herkunft und Geburt Jesu …“ (im schon genannten Buch „Zum Thema Jungfrauengeburt (s. vorige Anmerkung) in seinem Kontext dieses: „Das Johannesevangelium … hebt im einleitenden Prolog, 1,1–18, sowohl auf die gottheitliche Präexistenz (!) des Logos, den er mit Jesus von Nazareth identifiziert, wie auch auf dessen echte (!) Menschwerdung ab …“ (53). M. Krämer überschreibt seinen Beitrag in Bibl 45 (1964) 1–50 ausdrücklich so: „Die Menschwerdung Jesu Christi nach Matthäus (Mt 1)“. Er gibt zu dieser bewußt gewählten Formulierung seine nähere Erklärung, nämlich in der Anmerkung 1 S. 17. Der Text im dortigen Zusammenhang: „In harmonischem Einklang mit dieser Absicht läßt er (d. i. Matthäus) den Ausdruck Jesus Christus (Hervorhebung im Text) wie einen goldenen Faden durch das ganze Gewebe seiner Erzählung ziehen (vv. 1.16.18). Und um diese innere und untrennbare Zusammengehörigkeit der messianischen Bezeichnung: Jesus Christus zu beweisen, stellte er seinen Lesern diese Geburtsgeschichte dar, aus der ersichtlich ist, wie die Emmanuel-Prophezeiung die Art der Menschwerdung Jesu bedingte und umgekehrt, wie die Geburt Jesu ihrerseits die Prophezeiung verwirklichte, d. h. sie erfüllte“ (17f). Zu „Menschwerdung“ in diesem Satz sagt die Anmerkung: „Die Erklärung des Wortes ge,nesij in v. 18 bereitete der Exegese nicht geringe Schwierigkeiten … den Aspekt der jungfräulichen Empfängnis … Aber auch diese ist im Text eigentlich nur nebenbei erwähnt, während das Hauptargument die Eingliederung und die Benennung mit dem Namen behandelt. Und gerade diese zwei Hauptanliegen des Textes sind im Wort ge,nnesij (Geburt) nicht mehr enthalten, während ge,nesij sowohl die jungfräuliche Geburt als auch die Abstammung und Namengebung umfaßt. Aus diesem Grund bevorzugten wir im Titel das Wort ‚Menschwerdung‘ anstatt Geburt. In ihm sind alle die genannten Aspekte, ähnlich wie in ge,nesij erfaßt. Das Wort soll aber nicht in seinem spezifischen dogmatischen technischen Sinn verstanden sein, von der Menschwerdung der Zweiten göttlichen Person, sondern von dem Eintreten des Messias in die Welt als Sohn der Jungfrau Maria und des Davidssohnes Josef “ (18f). Was hier so vorgestellt wird, muß man nicht unterschreiben; es bleibt zu beachten.19 19 Wir fügen hier noch einige weitere Beispiele mit Aussagen von Bibelwissenschaftlern an. R. Lau-

rentin verwendet in seinem Buch „Structure et théologie de Luc I-II“ wohl stets „incarnation“, was aber in der deutschen Übersetzung mit „Menschwerdung“ wiedergegeben wird (obwohl es ja im Deutschen die Wendung „Inkarnation“ gibt). („Struktur und Theologie der lukanischen Kindheitsgeschichten“, Stuttgart 1967). Wir haben beide Ausgaben in Bezug auf diese Wortbildungen verglichen und zitieren entscheidende Aussagen in der deutschen Wiedergabe, weil es ein Zeugnis für die übliche, jedoch unzulässige Anwendung von „Menschwerdung“ aufzeigt, auch zur Wiedergabe von Texten, die die fragwürdige Wendung selbst gar nicht bringen. So im Abschnitt „Die Theologie der Entfaltung der Offenbarung“: „Die beiden Strömungen vereinen sich in Dn 7. Der Messias trägt hier menschliche Züge (er ist ‚wie ein Menschensohn‘). Zugleich jedoch gehört er

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P. Stuhlmacher spricht von „Menschwerdung“ in seinem Buch „Die Geburt des Immanuel“ (2005) mehrmals, und das in bezeichnender Weise. In der Einleitung heißt es: „In der Tat berichten Matthäus und Lukas keineswegs von einer seltsamen Begebenheit, die moderne Leser/Hörer ganz anders sehen oder auf sich beruhen lassen können. Sie bezeugen das Schöpfungswunder (!) der Menschwerdung Jesu und geben zu bedenken, daß der Christus Jesus von seinem Ursprung her wahrer Gott und wahrhaftiger Mensch (!) in einer Person ist“ (9). Dann in „Die lukanische Vorgeschichte“: „Die von Lukas und Matthäus wiedergegebenen Weihnachtsgeschichten (!) berichten von dem einzigartigen Erfüllungsgeschehen der Menschwerdung des der Sphäre Gottes an, denn er erscheint am Himmel, genauer: auf der Wolke, dem Zeichen der Gegenwart Gottes. Dies scheint eine erste Andeutung der Theologie der Menschwerdung zu sein, noch sehr unvollkommen, aber auf Entfaltung angelegt …“ (151). Dazu: „Zur Zeit Jesu erreichen die beiden Tendenzen ihren Höhepunkt. Es war alles gegeben, sie zu einer Einheit zu verbinden. Die Theologie der Menschwerdung konnte sich der Bausteine, die der Heilige Geist bereitet hatte, bedienen …“ (52), und: „Endlich ist bei Johannes die Beziehung zwischen Gottessohnschaft und menschliche Sohnschaft ausdrücklich bezeugt: ‚Das Wort ist Fleisch geworden‘. Die Theologie der Menschwerdung – dieser Begriff geht auf Joh 1,14 zurück: sa.rx evge,neto – ist grundgelegt“ (167). Wir gehen hier nicht auf die exegetisch-theologischen Fragen ein, die diese Sätze anzeigen. Wichtig ist, daß „incarnation“ (frz.) mit „Menschwerdung“ übersetzt erscheint, eine Wortbildung, die es ja nur im Deutschen gibt und faktisch „Inkarnation“ bedeuten soll. H. Räisänen kommt auf „Menschwerdung“ besonders im Abschnitt „Gesichtspunkte aus der Christologie des Paulus“ zu sprechen, und zwar dort, wo besonders der Ausdruck „Präexistenz“ eingesetzt erscheint. Dazu etwa: „Das Zweistufenschema der Präexistenz-Aussagen weicht entscheidend von Röm 1 ab: Präexistenz – Inkarnation. … Phil 2,6–11 schließlich ist die Präexistenz Teil einer Dreistufenchristologie geworden: Präexistenz – Erniedrigung – Erhöhung … Die vom Präexistenz- gedanken beherrschte Tradition richtet ihre Aufmerksamkeit auf die Menschwerdung des Gottessohnes im allgemeinen. Man betont das Daß, ohne die Frage nach dem Wie zu stellen“ (23). L. Legrand macht in seinem Buch „The Biblical Doctrine of Virginity“ mehrere Aussagen, die für uns hier von Bedeutung sind. Jedenfalls in der deutschen Übersetzung („Jungfräulichkeit nach der Heiligen Schrift“, Mainz 1966) finden sich folgende Sätze mit Verwendung von „Menschwerdung“ (im Englischen wird „incarnation“ stehen, was wieder bezeichnend wäre für den Einsatz von „Menschwerdung“ anstelle von „Inkarnation“): „Marias wunderbare Mutterschaft ist ein Werk des Geistes. Das lehren die Kindheitsevangelien des Matthäus und Lukas … Wie haben sie nun die Rolle des Geistes bei der Menschwerdung aufgefaßt? Matthäus sagt uns nicht viel darüber …“ (119). Dazu dann: „Im Einklang mit der besten biblischen Tradition hat Lukas in der Zeugung Jesu das Werk des Schöpfergeistes erblickt … Lukas hat an die Rolle des Geistes bei der Menschwerdung erinnert und so die Theologie des neuen Adam und der neuen Schöpfung … bis zu den ersten Anfängen des Lebens Jesu zurückverfolgt. Zwischen der Menschwerdung und der Auferstehung hat Lukas eine bedeutsame Entsprechung erblickt: Für ihn beruhen beide auf der Schöpfermacht des Geistes …“ (124; dazu noch 126f). Dazu dann weiter: „Wie soll man das dio. (in Lk 1,35) erklären? Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Gottessohnschaft Jesu und der Funktion des Heiligen Geistes bei der Menschwerdung? Für gewöhnlich verstehen die Exegeten unter der Gottessohnschaft Jesu in 1,35 die ewige Sohnschaft des Wortes im Schoße der Dreifaltigkeit. Wenn man das annimmt, ist es nur schwer erklärlich, wieso die Verwirklichungsweise der Menschwerdung in der Zeit etwas mit der ewigen Relation des Sohnes zum Vater zu tun haben kann …“ (132–133; vgl. dazu auch noch das Folgende).

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Sohnes Gottes …“ (24). Dazu etwas später: „Das Magnificat … Das heilsentscheidend Neue an ihm ist die Tatsache, daß Maria die in der Erschaffung (!) des Christus Jesus bestehende Großtat (!) Gottes preist. Für sie ist die Menschwerdung Jesu das messianische Erfüllungs- und Heilsgeschehen schlechthin. Seiner Erscheinung hat der einzigewige Gott den Weg bereitet …“ (40). A. Vögtle bringt in „Offene Fragen zur lukanischen Geburts- und Kindheitsgeschichte“ (in der Aufsatzsammlung „Das Evangelium und die Evangelien“, 1971) die Verwendung von „Menschwerdung“ mehrmals in bedeutendem Text. So „Die allem nach schon vorpaulinische und von Paulus auf das Kreuz bezogene Konzeption (!) von der Menschwerdung einer präexistenten Gestalt bedurfte der Parthenogenesis in der Tat nicht … Der präexistente Sohn (!) gab seine himmlische Existenz auf, wurde Mensch und unterwarf sich dem Gesetz. Nach Paulus besteht das Christus-Geschehen aus zwei Phasen: Erniedrigung und Erhöhung. Die Menschwerdung ist dabei gerade ‚der Tiefpunkt der Entäußerung‘. Der Gedanke der jungfräulichen Empfängnis würde diese Argumentation … belasten und sie damit entkräften …“ (48f). – In seinem Buch „Unnötige Glaubensbarrieren …“ (SBS 174, 1998) sagt Vögtle im Abschnitt „Christuserzählungen zweier Evangelienprologe“ u. a. dieses: „Zur Erklärung, warum die Begründung der Gottessohnschaft Jesu durch die geistgewirkte Empfängnis in der nachösterlichen Verkündigung nicht aufgenommen wurde, wurde schon geltend gemacht, das Bekenntnis zur Menschwerdung des Präexistenten habe jener weiteren Begründung nicht bedurft. Es ist in der Tat beachtlich, wie bald sich die Reflektion der apostolischen Generation der Frage nach der Herkunft Jesu zuwandte … In hymnisch-poetischem Stil sprach sodann schon das Paulus überkommene Christuslied Phil 2,6–11 davon, daß Christus vor seiner Menschwerdung bei Gott existierte … Ja man darf fragen, ob es in diesem Fall überhaupt zur Konzipierung der Vorstellung von der Menschwerdung des vor der Geburt bei Gott existierenden Sohnes gekommen wäre, die doch zugleich in stärkster Spannung zur geistgewirkten Empfängnis Jesu steht. Während die durch Gottes schöpferische Kraft bewirkte Empfängnis die Menschwerdung Jesu als einen Höhepunkt sondergleichen konstituiert, kann die durch natürliche Empfängnis begründete Menschwerdung des Präexistenten doch nur als größtmöglicher Tiefpunkt der Entäußerung verstanden werden“ (113). Wieder gehen wir hier noch nicht auf die in den zitierten Texten im einzelnen ausgesprochenen Aussagen und Behauptungen näher ein; es genügt zunächst den vielfältigen und unterschiedlichsten Gebrauch dieses Terminus „Menschwerdung“ festzustellen. Sachlich dazu später. Die Verwendung von „Menschwerdung“ seitens eher systematisch fragender Autoren/ Theologen K. Rahner formuliert in seinem Beitrag „Dogmatische Bemerkungen zur Jungfrauengeburt“ (im Buch „Zum Thema Jungfrauengeburt“, s. o.) einmal so: „Wir werden sagen müssen: wie immer jemand über die biologische Wirklichkeit des Werdens 462

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Jesu denken sollte … dann muß ein solcher auf jeden Fall sagen: bei aller echten Menschlichkeit der Menschwerdung Jesu ist er anders geworden, als wir werden. Denn Werden ist von dem her zu bestimmen, was das Ergebnis des Werdens ist. Es besteht eine absolute Korrelation zwischen der adäquaten Eigentümlichkeit des Gewordenen und des Werdens selbst. Durch dasselbe Werden können nicht zwei ganz verschiedene Geworden entstehen … Deswegen muß man notwendigerweise sagen: bei aller echten Menschlichkeit des Werdens Jesu ist er auf andere Weise geworden als wir. Ist Jesus der Gottessohn, dann ist sein Werden selber gottmenschlich, während unseres menschlich ist … Es bedeutet einen schöpferischen Neuanfang aus der ursprünglichen Initiative Gottes und nicht die einfache Fortsetzung der Geschichte aus Mitteln der Welt …“ (141). Auf die damit vorgelegten Überlegungen und Feststellungen gehen wir hier noch nicht näher ein; das geschieht später im größeren Zusammenhang. Doch sei bemerkt, wie Rahner hier denkerisch und argumentierend vorgeht, indem er das Werden dessen reflektiert, der ein Gewordener ist. Was er vorträgt, ist offensichtlich schon in Bezug auf das „Werden“ eines „neuen“ Menschen aufgrund des „Tuns“ der Eltern, d. h. der Zeugenden unzureichend. Man denke nur an die Lehre der Kirche, daß jede einzelne persönliche „Seele“ „unmittelbar von Gott erschaffen wird“ (wie es ausdrücklich definiert ist). Ein „neuer“ Mensch ist nicht die „einfache Fortsetzung der Geschichte aus Mitteln der Welt“. Weiteres dazu in der noch folgenden Zusammenschau der ntl. Aussagen. L. Scheffczyk sagt in seinem Büchlein „Das biblische Zeugnis von Maria. Maria in der Heilsgeschichte“ (1979) im dort gegebenen Zusammenhang: „Die ersten Zeugen und Hörer der Botschaft von der Menschwerdung Gottes aus Maria haben diese Botschaft nicht anders verstanden denn als ein von Gott gewirktes Wunder an (!) der Jungfrau. Sie haben es als ein Heilszeichen (!) aufgefaßt, das schon im Alten Testament vorbereitet und vorbedeutet (?) war …“ (13). Dazu heißt es später: „Gnade und Heil kommen nicht aus der Leistung, aus der Initiative oder aus der Sehnsucht des Menschen, sondern entspringen allein aus dem souveränen Willen Gottes. Weil dies für die ganze Heilsgeschichte gilt, darum sollte es an ihrem entscheidenden Neuansatz, bei der Menschwerdung Gottes (!) in Erscheinung treten … Die Bedeutung der Jungfräulichkeit, zu der sich das alte Judentum nur mühsam durchzuringen vermochte, ist nur im Lichte der Menschwerdung Gottes (!) ‚in der Fülle der Zeit‘ (Gal 4,4) zu verstehen“ (22). Auf sachlich Wichtiges kommen wir wieder später zu sprechen. Wir bemerken aber hier schon, das wiederholt von der „Menschwerdung Gottes“ gesprochen wird. K. H. Menke gebraucht den Ausdruck „Menschwerdung“ in seinem Buch „Fleisch geworden aus Maria …“ (1999) mehrmals in wichtigem Zusammenhang. So in der „Einführung“ in diesen Sätzen: „… theologische Bedeutung … Weil der Erlöser seine Menschwerdung im Sinne des Bundesgedankens an das Ja-Wort des Menschen bindet, durch den er eintritt in diese Welt, ist Maria der heilige Rest Israels, Urbild und Stellvertreter aller Gläubigen“ (12). Dann: „Dies zu zeigen, ist das primäre Anliegen 463

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der folgenden Ausführungen. Dabei steht das Dogma von der jungfräulichen Empfängnis nicht nur deshalb im Mittelpunkt, weil es zumindest von Mt und Lk explizit bezeugt wird, sondern auch, weil der Streit um das Zueinander von Sach- und Erkenntnisgrund, von Faktum und Deutung, von faktischer Fleischwerdung Gottes (!) und faktischer Parthenogenesis, die gesamte Mariologie involviert … Faktum der realen Selbstmitteilung Gottes (!) in (!) Jesus Christus …“ (19). Im Abschnitt „Maria im vierten Evangelium“ lesen wir: „… Inkarnationschristologie … daß sich Gott in (!) Jesus Christus von Anfang an (!) als er selbst ganz und gar (!) mitgeteilt hat. Von daher müßte man eigentlich meinen: Johannes ist mit Sicherheit auch derjenige, der das größte Interesse an dem ‚Wie‘ der Fleischwerdung des Wortes (an der Fleischwerdung des Sohnes) hat … Fleischwerdung des Wortes“ (45). Im Abschnitt „Die historische Maria und die jungfräuliche Mutter Zion“ diskutiert Menke im dortigen Zusammenhang: „Es ist etwas völlig anderes, – ob ich sage, die Bezeichnung der Menschwerdung des Sohnes Gottes als parthenogenetisch impliziere das an und für sich (prinzipiell) verifizierbare Faktum des Nichtgezeugtseins durch Josef oder einen anderen Mann, – oder ob ich sage, die Bezeichnung der Menschwerdung des Sohnes Gottes als parthenogenetisch setze eine historisch zuverlässige Bezeugung des Nichtgezeugtseins Jesu durch Josef oder einen anderen Mann voraus … Wie Schürmann … unterstreicht, ist die Bezeichnung der Menschwerdung des Sohnes Gottes als parthenogenetisch völlig mißverstanden, wenn ihr Doketismus oder gar Bezweiflung des vollen Menschseins Jesu unterstellt wird“ (67 und 68). Unter „InkarnationsChristologie und Parthenogenesis“ findet sich sodann häufiger Gebrauch dieses fraglichen Ausdrucks: 94–95. Wir bemerken, daß offensichtlich „Menschwerdung“ (auch „Fleischwerdung“) ein unverzichtbares Element der Christologie wie der Mariologie geworden ist und peinlichst immer zur Anwendung kommt (kommen muß)! Zu den mit „Menschwerdung“ hervorgehobenen Aussage-Absichten und spezifischen Aussage-Weisen der zitierten Autoren Wenn man die Rede von „Menschwerdung“ in den beispielhaft angeführten Texten, ob sie nun eigentliche Kommentar-Feststellungen oder aber theologisch-systematische Darlegungen sind, auf ihre unmittelbaren Aussage-Inhalte zusammenschauen und einigermaßen geordnet herausstellen möchte, zeigt sich eine eigenartige Vielfalt, doch auch eine gewisse Einheit der sachlichen Aussage-Richtung. Es lassen sich folgende spezifischen Auffassungen und die ihnen eigenen sprachlichen Fassungen angeben. Das soll jetzt beispielhaft geschehen. Wir werden anzugebende Positionen in den beigegebenen Anmerkungen mit den Namen der Autoren der oben zuvor zitierten Texte belegen. So wird häufig von der „Menschwerdung Gottes“20, von der

20 „Menschwerdung Gottes“: Müller 11f u. ö.; Scheffczyk 22 u. ö.

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Menschwerdung Jesu“21, bzw. „Menschwerdung Christi“, wie auch von der „Menschwerdung des Präexistenten“22 oder „… des Gottessohnes“23 gesprochen. Zu „Menschwerdung Gottes“ gehören auch die spezifizierenden Formeln „Menschwerdung Gottes in Jesus“24 u. ä. Die so herausgestellte „Menschwerdung“ erhält in zahlreichen Fällen auch näher bestimmende Angaben. Es ist die Rede von „realer“, „wirklicher“, „echter“ wie auch „faktischer Menschwerdung“25, gar von „Menschwerdung im strengen Sinne“ (Müller 11f, was immer darunter verstanden sein soll). Weil diese so genannte „Menschwerdung Gottes bzw. Jesu“ meist auf den in Mt 1–2 und Lk 1–2 bekundeten sogenannten „Lebensbeginn“ Jesu bzw. Christi bezogen ausgesprochen wird, verstehen sich Wendungen wie „Menschwerdung aus Maria“ und ähnliche Formeln.26 Sehr auffällig ist da z. B. folgender Satz bei Menke: „Weil der Erlöser seine (!) Menschwerdung im Sinne des Bundesgedankens an das Ja-Wort des Menschen bindet, durch den er eintritt in diese Welt, ist Maria der heilige Rest Israels …“ (12). Diesen Formulierungen, die Maria namentlich mit-benennen, sind jene anzufügen, die vom „Wundercharakter“ bzw. vom „Schöpfungswunder der Menschwerdung“ sprechen.27 Da nimmt es nicht wunder, wenn auch so befremdende Formulierungen begegnen wie „jungfräuliche (!) Menschwerdung“ und „Zeit der Menschwerdung“ (womit die Angabe in Mt 1,18 gemeint ist) (Gaechter 53 bzw. 39) wie auch „Tätigkeit des Mannes 21 „Menschwerdung Jesu“: Müller (M.-W. Jesu Christi) 21 und zu Phil 2!; Gaechter 39; 49: Krämer 1

mit 18; Riedl 8; Stuhlmacher 24 u. 40. 22 „Menschwerdung des Präexistenten“: Müller 11f; Vögtle 48f bzw. 113; Schneider 407f; Müller 45. 23 „Menschwerdung des Sohnes Gottes“ u. ä.: Stuhlmacher 24; Söding 338ff; Krämer 104; Räisänen 23;

Menke 67f; Müller 123. 24 „Menschwerdung in Jesus“: Müller 11f; „Menschwerdung des Erlöser im irdischen Jesus von Na-

zareth“: 11. 25 „Menschwerdung“ mit bestimmenden Zusätzen wie „real“, „wirklich“ usw.: „reale: Müller: 11f;

21 (zu Phil 2!), Menke 19; Müller 125: „wahre Fleischwerdung“; „wirkliche“: Wilckens 62f („volle Wirklichkeit der Menschwerdung des Gottessohnes“): Söding 338ff („Realität der Menschwerdung“): „echte“: Knoch 53; Rahner 141 („echte Menschlichkeit der Menschwerdung“): „faktische“: Menke: 19 (zusammen mit „faktischer Parthenogenesis“). 26 Stöger 48 („Menschwerdung aus Maria“ als Offenbarung der Herrlichkeit Gottes“); Krämer 18f („Art der Menschwerdung – jungfräuliche Empfängnis“); Scheffczyk 13 („Menschwerdung Gottes aus Maria – ein gottgewirktes Wunder an der Jungfrau“); Menke 12 („Weil der Erlöser seine Menschwerdung … an das Ja-Wort des Menschen bindet, Maria“). 27 Zum Wundercharakter der „Menschwerdung“: Nellessen 97 („betreffen den Wundercharakter der Menschwerdung und gehen über das der natürlichen Erfahrung Erreichbare hinaus“); Wilckens 52f („Jungfrauengeburt bedeutet eine Steigerung des Wunders“; 57: „Gottes wunderbares, schöpferisches Handeln; Geburtswunder“; 60: „ein Wunder der schöpferischen, lebenschaffenden Kraft Gottes“; ähnlich 64); Stuhlmacher 24 („sie bezeugen das Schöpfungswunder der Menschwerdung Jesu … Erfüllungs- und Heilsgeschehen“); Vögtle 113 (die durch Göttes schöpferische Kraft bewirkte Empfängnis konstituiert die Menschwerdung Jesu als einen Höhepunkt sondergleichen“); Rahner 141 („echte Menschlichkeit des Werdens Jesu … auf andere Weise geworden als wir … einen schöpferischen Neuanfang aus der ursprünglichen Initiative Gottes“); Kremer 97 („das Wunder der nie zu begreifenden, in Gottes Schöpferkraft gründenden Menschwerdung des ewigen Sohnes“).

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bei (!) der Menschwerdung“, die allerdings nicht erfolgt sei (Gaechter 49). Eigentümlich klingen auch folgende Sätze: Stöger spricht vom „Gesetz der Menschwerdung“, dieses heiße: „ ‚Jesus hat sich selbst entäußert‘ (Phil 2,7)“ (48). Diesem Satz zuvor sagt Stöger zu Lk 1 dies: „Was beginnt, ist das Kommen Gottes zu den Menschen – in der Menschwerdung“ (48). Eines ist auf jeden Fall deutlich geworden: überwiegend, ja fast für alle Anwendungen des Ausdrucks „Menschwerdung“ finden sich in Kommentar-Texten, die Mt 1–2 und Lk 1–2 besprechen bzw. das dort Bekundete herausstellen möchten (das selbst aber gänzlich anderes ist als das in Joh 1,14 Ausgesprochene!). Nur gelegentlich bezieht sich „Menschwerdung“ auf Phil 2,6–11 (auch gänzlich unberechtigt). „Menschwerdung“ hat somit, wenn in Bezug auf Mt 1–2 und Lk 1–2 angewandt, eine total andere Sachbedeutung als das in Joh 1,14 tatsächlich Ausgesprochene (dort eher von „Fleischwerdung“ zu sprechen, doch mit dem Sinn-Inhalt von 1,14 zu sehen!). Aus allen diesen Beobachtungen ist letztlich die Unbegründetheit, ja Unzulässigkeit dieser Wort- und Begriffsbildung offenkundig, wenn mit ihr das wahre Person-Geheimnis gerade Jesu Christi angesagt sein soll, wobei klar sein muß, daß in Joh 1,14 im dortigen Kontext etwas wesentlich anderes zur Sprache gebracht ist. Weiteres findet sich im folgenden Abschnitt „Inkarnation“.28 28 Die hier aufgewiesene Problematik wird auch an manchen Buchtiteln u. ä. klar erkennbar. Wir

erinnern zunächst an das ausgewertete Buch von U. B. Müller „Die Menschwerdung des Gottessohnes. Frühchristliche Inkarnationsvorstellungen und die Anfänge des Doketismus“ (SBS 140, 1990). Dazu kann auch das Buch von M. Theobald „Die Fleischwerdung des Logos“ (NTA Neue Folge 20, 1988) genannt werden. Weiters sei angegeben: D. Zeller (Hrsg.), Menschwerdung Gottes – Vergöttlichung von Menschen (NTOA 7, 1988). Dann: „Wurde Gott Mensch? Der Mythos vom fleischgewordenen Gott“, hrsg. von J. Hick, 1979 (Titel der englischen Originalausgabe: The Myth oft God incarnate). Weitere einschlägige Werke werden im folgenden Abschnitt „Inkarnation“ aufgeführt. Hier ist auch der Ort, auf den Artikel „Menschwerdung“ in NBL 2, 772 hinzuweisen. Während, wie wir gesehen haben, das LThK unter „Menschwerdung“ auf „Inkarnation“ verweist, ist es in NBL 2 genau umgekehrt: Bei „Inkarnation“ werden wir auf „Menschwerdung“ hingewiesen. Was dort faktisch vorgestellt wird, ist unerträglich, in allen seinen Angaben, die man kaum als biblisch formuliert ansehen kann: „Menschwerdung. (I) Tatsache. Der mit dem (im NT nicht gebräuchlichen) Begriff M. gemeinte Sachverhalt wird in allen (!) ntl. Schriftengruppen ausgesagt bzw. vorausgesetzt. Frühe (Gal 4,4, 2 Kor 8,6, Phil 2,6f) und späte Formulierungen (Joh 1,14, 1 Joh 4,2, 2 Joh 7) stimmen darin überein, daß das ‚Kommen Jesu im Fleisch‘ in engster Verbindung mit seiner Präexistenz gesehen wird. Wo im Abstiegs-/Aufstiegsschema gesprochen wird, ist die M. in ihrer christologischen (Phil 2,6–11) bzw. soteriologischen (Eph 4,9; vgl. 1 Tim 3,16) Bedeutsamkeit gesehen. Die Kindheilsgeschichten sprechen in narrativer Form von der ‚Geburt‘ Jesu; bes. die auffällige Betonung göttlicher Einwirkung bei der Empfängnis Jesu (Mt1,18–20 Lk 1,35; vgl. Mt 1,16) macht sie für eine Theologie der M. relevant. (II) Heilsgeschichtliche und heilstheologische Betrachtung. Nach Gal 4,4 erfolgte die M., als die ‚Fülle der Zeit‘ gekommen war. Die M. bringt die Zeit zu ihrer Fülle als Inauguration (!) des Christusereignisses, das seinerseits die ‚Mitte der Zeit‘ konstituiert (!) (H. Conzelmann). In der M. erreicht die unaufhaltsame Tendenz (!) des Göttlichen (!), sich zu offenbaren, als kreatürlich-personale (!) Selbstaussage Gottes (!) ihren Höhepunkt. Der aus Jes 7,14 auf Jesus bezogene (!) Name Emmanuel (Mt 1,23) bezeugt den Glauben

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VI. Inkarnation Während für „Präexistenz Christi“, einen, wie wir gesehen haben, unbiblischen Ausdruck (Begriff ), im LThK im entsprechenden Artikel folgende Gliederung zugrundegelegt wurde: „I. Biblisch-theologisch (1. Der Begriff Präexistenz; 2. Religions- und traditionsgesch. Vorgaben; 3. Neutestamentlicher Befund) und II. Systematischtheologisch“, hat der Artikel „Inkarnation“ dort diese bezeichnende Gliederung: „I.  Begriffs- u. Religionsgeschichte (1. Christliche Begriffsgeschichte (498–500); 2. Religionswissenschaftlicher Gebrauch (500; 10 Zeilen)“. Ein eigentlicher bibeltheologischer Abschnitt findet sich nicht! Das läßt insgesamt aufhorchen. Daher zeigt es sich sinnvoll, den Beginn des ersten Abschnitts wörtlich zu zitieren, weil das sehr aufschlußreich ist für unser Untersuchungsthema. Daher: „I. (Inkarnation) bedeutet, wörtlich übersetzt, Fleischwerdung (nämlich des göttl. Wortes), eine Bez., welche zu jenen frühen Formeln gehört, welche Jesus Christus als Offenbarung der unüberbietbaren Zuwendung u. Gnade Gottes thematisieren (vgl. Joh 1,14; Phil 2,6–11; Kol 1,15–20; Hebr 1,3f; 1 Tim 3,16 u. ö.). Unter ihnen gewinnt Joh 1,14: o` lo,goj sa.rx evge,neto (vgl. 1 Joh 4,3; 2 Joh 7) wegen seiner Prägnanz früh den Charakter eines hermeneut. Schlüssels: N‚Fleisch‘ bez. biblisch die volle Wirklichkeit des Menschen u. die Sphäre des endlichen, Sterblichen; ‚Wort‘ bez. den sich mitteilenden Gott (NWort Gottes). In Abwehr doket. Tendenzen nennt NIgnatius v. Antiochien Christus evn sarki, geno,menoj qeo,j (fleischgewordener Gott) (Ign. Eph 7,2); NJustinos zieht z. Verständnis die mittelplaton. Logoslehre (NLogos) heran u. charakterisiert Christus als dia. lo,gou qeou/ sarkopoihqei,j (Just. 1 apol. 66,2: ‚durch das Wort Gottes zu Fleisch gemacht‘). an den in seinem Träger nicht nur anwesenden, sondern tätigen, sein Volk erlösenden Gott. Als (raum-zeitlicher) Ausgangspunkt des Christusweges begreift die M. die Etappen dieses Weges und damit die Heilstatsachen in sich. Das ‚Kommen im Fleisch‘ ist Zeichen (vgl. Lk 2,12, Jes 7,14) dafür, daß die Situation der adamitischen Menschheit eine grundlegend neue geworden ist. Die Adam-Christus-Typologie (Röm 5,12–21, 1 Kor 15,21f.45–49; Adam-Typologie) zieht diese Linie kräftig aus: unter Berücksichtigung des Denkschemas der ‚Korporativen Persönlichkeit‘ ist danach der Christusweg von M. bis (und mit) Erhöhung bestimmend für den Weg des Christen: dem, der glaubend ‚Christus anzieht‘ (Gal 3,27, Röm 13,14), erschließt sich die M. das Sein in Christus, die kainh. kti,sij (2 Kor 5,17), den Zutritt zu Gott (Eph 2,18; 3,12; vgl. die ntl. Soteriologie); sie ermöglicht es dem Menschen, zu seiner Eigentümlichkeit (!) zu kommen, und bezweckt (exemplarisch und wirkursächlich) (!) die M. des Menschen (!), der ‚nach Gott geschaffen ist‘ (vgl. Eph 4,24 Kol 3,10). Die Pastoralbriefe (1 Tim 6,12fff, 2 Tim 1,9ff, Tit 2,11ff ) erblicken in der M. Christi und im Christusereignis die Epiphanie Gottes, die auf die Parusie ausgerichtet ist und mit dieser zusammen die ‚Zwischenzeit‘ bestimmend umgreift, wobei die Epiphanie die Rolle (!) eines Erziehungsfaktors übernimmt (E. Pax). – Es folgen 8 Zeilen Lit.-Hinweise.“ (J. Pfammatter) (772f). Es ist im Grunde erschütternd, was hier mittels eines selbst-erklärt unbiblischen Begriffs an biblischen Aussage-Inhalten dieser Kategorie „Menschwerdung“ zugeordnet bzw. ihr untergeordnet wird, wobei auch diese biblischen Inhalte in Kategorien vorgestellt werden, die jenseits allen biblischen Sprechens ihren Ort haben.

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Dagegen findet sich bei NIrenaeus das Substantiv sa,rkwsij, Fleischwerdung (Iren. haer. 111,18,3), bezogen auf den Logos als Subjekt (ebd. 1,9,3). Die Aussage, v. Irenaeus in einer Nregula fidei (ebd. I,10,1) überliefert, wird schnell rezipiert. Die begriffl. Unschärfe zeigt sich u. a. darin, daß Origenes die I. als Sonderfall der evnswma,twsij … behandelt (…) zugleich aber auch v. evnanqrw,phsij (Menschwerdung) spricht (…). … Nach dem Konzil v. Nizäa (325), das die Fleisch- und Menschwerdung des dem Vater gleichwesentl. Sohnes bekennt (DH 125), erfolgt eine durchgängige Identifikation von I. u. Menschwerdung (…). Incarnatio als die lat. Übersetzung v. sa,rkwsij bürgert sich seit dem 3. Jh. ein und wird – wie im Osten – in die liturgische Sprache übernommen“ (498f). Wir können das Zitat abschließen; es ist deutlich genug geworden, daß diese fachliche Lexikonauskunft „Inkarnation“ jedenfalls als einen erst später, in nachapostolischer Zeit gebildeten Ausdruck/Begriff ausweist, daß er also nicht als biblisch zu gelten hat. Auch in nachapostolischer Zeit begegnet ein entsprechend griechischer Terminus noch nicht, noch weniger ein lateinischer. Von daher versteht sich, daß Theologen, ob Bibelwissenschaftler oder wer immer, das, was mit „Inkarnation“ gültig ausgesprochen sein soll, mit hinreichendem Recht auf biblische Formulierungen zurückführen müssen. Im zitierten Artikel werden dazu ja einige genannt: Joh 1,14; Phil 2,6–11; Kol 1,15–20; Hebr 1,3f; 1 Tim 3,16 u. ö. (wobei es von großem Interesse wäre zu hören, welche anderen Stellen wirklich gemeint sind). Zu Joh 1,14 haben wir oben im Abschnitt über Joh 1 ausführlich und detailliert Stellung bezogen. Dort haben wir erkannt, daß Joh 1, und spezifisch 1,14 selbst nicht dafür in Anspruch genommen werden können, solange es darum geht, das dort explizit Ausgesprochene zu betrachten und inhaltlich anzugeben (was ja nicht hindert, nach sogenannten Implikationen Ausschau zu halten). (Daß im Lexikonartikel zu 1,14 zusätzlich noch auf 1 Joh 4,3 und 2 Joh 7 hingewiesen wird, verändert die Sachlage nicht.) Zu Phil 2,6–11 haben wir gleichfalls im entsprechenden Abschnitt Stellung bezogen und nachweisen können (und müssen), daß „Inkarnation“ auf das dort Ausgesprochene anzuwenden, sachlich keinerlei Recht hat; s. d. Entsprechendes ist um so nachdrücklicher für die anderen Schriftstellen zu sagen. An sie wird von außen herangetragen, was man (später!) mit diesem Ausdruck meint bezeichnen zu können. Auch ist hier auf die total verkürzte Auskunft zur Bedeutung von sarx in 1,14 hinzuweisen. (‚Fleisch‘ bezeichnet biblisch die volle (!) Wirklichkeit (!) des Menschen und die Sphäre (!) des Endlichen, Sterblichen). Hier genügt es, allein auf das JohEv selbst aufmerksam zu machen, eben auf dessen Gebrauch von sarx zu sprechen: Joh 1,13.14; vor allem 6,52–57 (6mal!) in der dortigen „eucharistischen“ Bedeutung; 8,15 („Ihr urteilt dem Fleisch nach“); 17,2 („Macht über alles Fleisch“). Hier ist nicht der Ort, alle biblischen Stellen mit sarx (basar) aufzuweisen. Es genügt, daß in 1,14 dieses Wort in einem absolut einmaligen, unerhörten und nur durch sich selbst (im johanneischen Vollsinn: wer vermag ihn anzugeben?) Aussage-Sinn anerkannt, gehört und angenommen werden kann. Dazu haben wir a. ggb. Ort ausführlich gesprochen. Das in Joh 1,14 Bekundete spricht in seiner eigenen Weise etwas aus, daß sich im gesamten Leben und Lebensgeschehen 468

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Inkarnation

Jahwes (!) und folglich im Geschehen und in der Geschichte allen Erschaffenen in einem unerhört-einmaligem „Ereignis“ „verwirklicht“ hat, daß dafür schlechthin keine Sprach-Kategorien oder Sprachbilder (Metaphern u. a.) zur Verfügung standen noch rechtens und gültig „erfunden“ werden können, die irgendwie anders, gar als Allgemein-Wörter/Begriffe gelten können als solche, die ausgesprochen Eigennamen-Charakter haben, nämlich mit Jahwe und seinem ureigenen „Tun“, „Empfinden“, „Erleiden“ wesentlich-unverwechselbar aus Jahwes Sich-selbst-Erweisen und „Aus-“ und „Zusprechen“ (Offenbarung genannt) stammen und in diesem Sinne im Grunde nur in der Bibel vor-gegeben sind. Dabei gibt es für absolut Neues, das z. B. im sog. NT bekundet wird, nicht einmal verbindliche Sprachbilder im AT! Es geht um etwas absolut unerhört Neues, das auch im Sich-Bekunden Jahwes in der Zeit „vor“ Jesus Christus noch keine Aussprache-Möglichkeiten vor-bereitet finden konnte. Genau das ist es übrigens, was die apostolische Zeit in ihrer unverwechselbaren Eigen-heit charakterisiert, in der die junge Christus-, nein Jahwe-Gemeinde die rechte Sprache, Wörter und „Vorstellungen“ erst neu gewinnen mußte, nicht ohne auf vorhandene Formen zurückzugreifen, ihnen jedoch den neuen Sinn eingebend. Das ist ja, was sich etwa in Mt 10,19f und manchen anderen Stellen von Jesus ausgesprochen findet: „… seid nicht besorgt, wie oder was ihr reden sollt. Denn nicht ihr seid es, die da reden, sondern der Geist eures Vaters redet durch euch“.29 29 Es seien hier einige Text-Beispiele (es können nur einige wenige sein, da es Bibliotheksbände an-

zugeben gälte, die Abhandlungen zur „Inkarnation“ enthalten), die Bibelwissenschaftler genauso wie andere Theologen geschrieben haben, die beispielhaft deutlich werden lassen, in welcher Vielfalt, auch des Sprechens, „Inkarnation“ zu einem Allerweltswort geworden ist. So heißt es bei R. Schnackenburg (den wir schon vielfältig beigezogen haben) in seinem Büchlein „Die Geburt Christi ohne Mythos und Legende“ (1969) unter der Überschrift „Inkarnation des Logos“ so: „Den reifsten Ausdruck aber findet das Weihnachtsgeheimnis im Prolog des Johannesevangeliums. Auch hier ist ein Christuslied aufgenommen, das in tiefer Ergriffenheit vom Kommen Gottes zu den Menschen kündet und in dem Satz gipfelt: ‚Der Logos ist Fleisch geworden … und wir haben seine Herrlichkeit geschaut (Jo 1,14). Hier hat die theologische Besinnung (!), angereichert (!) durch Gedanken (!) an Gottes Weisheit, die Schöpfung und Menschenwelt durchwaltet, das einmalige, unbegreifliche Geschehen in gültige (!) Worte gekleidet (!). Der ewige Logos, der bei Gott war, selbst Gott, Gottes einziger Sohn, ist ‚Fleisch‘ geworden, Mensch in aller ‚Nutzlosigkeit‘ des Fleisches (Jo 6,63; dort bedeutet sarx etwas gänzlich anderes als in 1,14!!). Und doch ist es Wohnung des Erbarmens und der Treue Gottes (!), Offenbarung seiner Herrlichkeit in dieser Welt (in 1,14 so gerade nicht; dort ist von seinem, des Logos eigenem Fleisch-Geworden-Sein, die Rede!). Die Paradoxie der Anwesenheit (!) Gottes in einem Menschen (!; genau das steht in 1,14 nicht!) kann nicht schärfer (?) zum Ausdruck kommen als in der anstößigen Redeweise von der Inkarnation des Logos (genau die gab und gibt es ja gerade nicht)“ (19; der weitere Text ist weiterhin sehr fragwürdig). W. Beinert in „Heute von Maria reden? Kleine Einführung in die Mariologie“ (1973) im Unterabschnitt „ ‚Geboren von der Jungfrau Maria‘“ (87–106) schreibt dies: „Diese echt menschliche Haltung Gott gegenüber zeigt in Vollendung die Frau, die Mutter des Heilandes werden sollte … Der zeichenhafte Ausdruck dieser inneren Haltung ist die Jungfräulichkeit (!). Maria zeugt Jesus nicht, sie ist nicht Gottes Koprinzip. Dann hätte sich eine Götterzeugung ereignet wie sie die Mythen kennen. Sie ist die in Freiheit Empfangende. So bleibt sie Jungfrau als Mutter und wird Mutter als

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Abschnitt G:

Unbiblische und sach-fremde Wörter/Begriffe in Anwendung auf die ntl. Texte

Jungfrau. Dieses Geschehen vollzieht sich in der Kraft des Heiligen Geistes, dessen Wesensgabe (?) die Heiligung ist. In ihrem Ja zum Heilsplan Gottes wird Maria gleichsam konsekriert (!) für ihn. Das ist der Kerngedanke der bleibenden Jungfräulichkeit (!), an dem die Kirche festhält … wer glaubt, wird in die Gemeinschaft mit Christus aufgenommen … Das ist ein Vorgang, der sich immer und überall vollzieht, wo jemand glaubt. In Maria ist er in höchster Transparenz (!) geschehen. Damit wird ihre jungfräuliche Hingabe an Gott nicht nur Grund ihrer Gemeinschaft mit Christus, sondern brachte dessen Inkarnation in Gang (!!) … jenes Heil, das in der Inkarnation in Fülle der Welt zuteil geworden ist“ (106). J. Ernst schreibt in seinem Phil-Kommentar zu 2,7 u. a. dies: „Was im vorhergehenden Vers ‚mitklang‘, wird jetzt in direkte Aussage gegossen: er entäußerte sich, er nahm die Gestalt eines Knechtes an, er wurde den Menschen gleich und in der Erscheinung als Mensch erfunden. Eine Häufung von Umschreibungen also, die alle dasselbe Geschehen meinen. Der Satz bezieht sich (!) auf die Inkarnation, die allerdings nicht, wie im Johannesprolog von ihrer positiven Seite her gesehen wird, sondern den negativen Aspekt (!) des Geschehens beleuchtet (!). Die Inkarnation ist die ‚Kenosis‘ dessen, der in ‚Gestalt Gottes‘ ist … Es wird … ausgesagt, daß die Inkarnation auf die totale Selbsthingabe hinzielt (!), die im freiwilligen (?) Tod ihren letzten Ausdruck gefunden hat“ (67f). K.-H. Menke spricht in seinem Buch „Fleisch geworden aus Maria“ (1999) im Abschnitt „5. Maria im vierten Evangelium“ unter „b) Die Bezeugung der jungfräulichen Mutterschaft“ so: „Es bleibt die Frage: Ist Johannes an der jungfräulichen Mutterschaft Marias nicht interessiert? Die Antwort, die ich auf diese Frage gebe, distanziert sich von den … dominierenden Positionen … Johannes ist der große Theologe der Inkarnation; von daher geht es ihm nicht um die Perspektive Marias oder Josefs, sondern um das Herabsteigen des Sohnes; und in diesem Kontext auch um das Ankommen des Herabgestiegenen in dieser Welt …“ (48; es wird dann ausführlich die Frage des Plurals oder Singulars für 1,13 diskutiert, was hier nicht weiter zitiert werden muß). U. B. Müller zeigt schon im Titel seiner Untersuchung die Offenheit und Ambiguität von „Inkarnation“ an, wie dann auch in der Gliederung mit ihren Angaben: „Die Menschwerdung des Gottessohnes. Frühchristliche Inkarnationsvorstellungen und die Anfänge des Doketismus“. Wir bringen einige auffallende Textstellen: „Die inhaltlichen Schwierigkeiten, die der Inkarnationsgedanke noch Paulus bereitet, merkt man dem sprachlichen Bemühen an … Andernorts allerdings kommt das grundlegende Anliegen (!) des Inkarnationsgedanken bei Paulus der Sache nach voll zur Geltung, auch wenn die speziellen Aussagen über die Menschwerdung noch zurücktreten … Identifikation Christi mit den Sündern realisiert sich die Intention inkarnatorischer Theologie (!), wobei das Thema der Menschwerdung Gottes sich auf den Aspekt des Todes konzentriert“ (18f). Im Abschnitt „Die Bedeutung der Inkarnation in nachpaulinischer Tradition“ beginnt Müller so: „Im Blick auf Paulus ist zu verzeichnen, daß wegen der theologischen Konzentration auf Kreuz und Auferstehung Jesu Christi die explizite Inkarnationsaussage noch keine eigenständige theologische Funktion (!) gewinnt. … Bei den Paulusschülern scheint der Inkarnationsgedanke zunächst auch der Sache nach keine Bedeutung zu erreichen … (zu Kol 1) an die Inkarnation ist nicht zu denken (vgl. aber die Parallele Joh 1,14.16). Erst in den Pastoralbriefen gewinnt die Inkarnationsthematik (!) insofern ein gewisses Gewicht, als die Menschheit Jesu Beachtung findet …“ 29). Im Abschnitt „Die Inkarnation des Logos in Joh 1,14“ findet sich zu Beginn: „Als zentrale ntl. Inkarnationsaussage gilt gemeinhin Joh 1,14. Allerdings ist die Interpretation der Stelle noch immer höchst umstritten, so daß nähere Ausführungen nötig werden“ (40). Dann: „Will man den Stellenwert (!) des Inkarnationsgedankens genauer bestimmen, hat man das Gefälle der Einzelaussagen von Joh 1,14.16 zu beachten. Dabei zeigt sich eine Abfolge von Gedanken, die sich in einer Art Dreischritt vollzieht. Der erste Parallelismus V. 14ab hat die irdische Epiphanie des Logos im Auge, die sich als Fleischwerdung darstellt (!) … Es bleibt die Erkenntnis, daß die Inkarnation des Logos noch nicht die letzte Zielaussage des Textes darstellt, sondern die Art und Weise aufzeigt, wie es zum Heilsempfang für die Gläubigen kommen konnte“ (44). Dazu sogleich: „Dennoch ist

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VII.

Zusammenfassend-abschließende theologie-kritische Bemerkung

VII. Zusammenfassend-abschließende theologie-kritische Bemerkung Nach der Besprechung der unbiblischen und sach-fremden (wie wir sie genannt haben) Wörter/Begriffe, die schon in der Erst-Auslegung des ntl. Textes seitens der Exegeten und dann auch der Bibeltheologen wie selbstverständlich eingesetzt werden, stellt sich unausweichlich die Frage, wie es zur Wahl dieser Ausdrücke überhaupt gekommen ist, obwohl sie faktisch doch als unangebracht und nur unnötige Probleme heraufbeschwörend anzusehen sind – wenn man sie nicht einfach diskussionslos als gültig und sachlich notwendig ansieht. Für einige dieser monierten Wendungen hat sich in unserer Einsichtnahme gezeigt, daß sie jedenfalls für die verbindliche Erstauslegung der Texte schlicht unangebracht sind, da sie etwas aussprechen, das der betreffende ntl. Text selbst überhaupt nicht aussagt, das vielleicht im besten Fall als impliziert mit-ausgesagt anzusehen ist. Dazu gehört sicher die (Miß)Bildung „Jungfrauengeburt“ und ihre ganz selbstverständliche Verwendung in exegetischen wie theologischen Darlegungen. Diese Unangebrachtheit erweist sich auch für alle mit „Jungfrauengeburt“ zusammenhängenden Aussagen und den darin verwendeten Wörter und Begriffe wie „jungfräulich“ u. a. Auch für „Präexistenz“ hat sich erwiesen, daß es ein späterer philosophischer Terminus ist, der dem in der Bibel Ausgesprochenen einfach nicht entsprechen kann. Das brauchen wir hier nicht neuerlich aufzuzeigen. Die Wendungen „Anfang/Anfänge Jesu“ wie „Ursprung/Ursprünge Jesu“ (bezeichnend die Verwendung des Singulars wie des Plurals in Bezug auf Jesus!) sind eine Sprechweise, die im Grunde in keiner unserer Sprachen überhaupt auf eine lebendige Person angewendet wird. In den Kommentaren erscheint sie nur auf Jesus bezogen. Es ist das eindeutig eine nicht text- und sachentsprechende und zudem äußerst unwürdige Redewendung für das Geheimnis Jesu. Dasselbe ist zu „Lebensentstehung“ in Bezug gerade auf Jesus zu sagen. Das Wort findet sich nicht einmal im Duden; noch weniger gibt irgendein biblischer Text einen Anlaß, dieses Wort für die der Satz von der Fleischwerdung noch ganz unproblematisch verstanden, was sich im folgenden zeigen wird. Die Inkarnation bedeutet keine grundsätzliche Veränderung des Logos. Er behält sein himmlisches Wesen, auch wenn er auf Erden erscheint und unter den Menschen Wohnung nimmt. Ja, er muß es bewahren, damit diese seine göttliche Doxa schauen können …“ (45; für alle weiteren Diskussionsschritte wird dann meistens „Menschwerdung“ eingesetzt, was wieder zeigt, wie beide – bibelfremde! – Ausdrücke im Grunde dasselbe meinen). Beispiele für sehr bezeichnende Titel von entsprechenden Abhandlungen zu dem hier angesprochenen Thema: M. Theobald, Geist- und Inkarnationschristologie. Zur Pragmatik des Johannesprologs (Joh 1,1–18), ZKTh 112 (1990) 129–149; R. Miggelbrink, Verbum Caro. Inkarnation als Schlüsselbegriff christlicher Weltdeutung, TrThZ 115 (2006) 200–215. Dazu den Teil „§ 10 Inkarnation“ in K. H. Schelkle, Theologie des Neuen Testaments II. Gott war in Christus, Dü 1973. (Andere entsprechende Arbeiten wären auch zu beachten; sie aufzuführen ist hier nicht der Ort.) – Es sei hier auch auf folgendes Buch aufmerksam gemacht, das wichtige Erkenntnisse vermitteln will: Ulrich Mauser, Gottesbild und Menschwerdung. Eine Untersuchung zur Einheit des Alten und Neuen Testaments, Tübingen 1971.

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Abschnitt G:

Unbiblische und sach-fremde Wörter/Begriffe in Anwendung auf die ntl. Texte

Herkunft Jesu Christi zu gebrauchen. Das Ausdruck „Inkarnation“ kann als von Joh 1,14 hergeleitet angesehen werden; doch ist diese Wendung sicher nicht text-gerecht und im Grunde absolut unbrauchbar für das, was mit ihr ausgesagt sein soll, wenn das in Joh 1,14 Bekundete damit gültig angesagt sein soll. Das ist deswegen mit Nachdruck zu sagen, weil „Inkarnation“ tatsächlich allenthalben und wie selbstverständlich in der christlichen Theologie angewendet und intensiv und vielfältig reflektiert wird. Das haben wir klar eingesehen und aufgezeigt. Dabei übersehen wir nicht, daß diese Wortbildung erstmals für die lateinische Übersetzung des Nikaia-Textes durch Hilarius von Poitiers „erfunden“ wurde (im alten Latein sind „incarnare“ und „incarnatio“ unbekannt) und eben nicht einmal dem griechischen Text von Nikaia wirklich entspricht. Dasselbe gilt übrigens auch für die sehr bald eingesetzten griechischen Wendungen „sarkothenta“ und „enanthropesata“ (s. DS 41; 42; 44; 44; 46: 61 u. a.). Sie sollen sicher das in Joh 1,14 (und andernorts) Ausgesprochenen irgendwie aussagen. Doch auch diese Wendungen sind wenigstens als unglücklich anzusprechen. Der eigentliche Grund dafür, daß wir meinen so hart über alle diese Wörter/Begriffe und Wendungen urteilen zu müssen, ist in folgendem zu sehen: Was in allen den besprochenen ntl. Texten selbst zur Herkunft Jesu Christi wie auch immer bekundet ist, erweist sich bei aufmerksamem Lesen als etwas, das in der gesamten Geschichte Gottes selbst und dem von ihm Erschaffenen absolut einmaligen Charakters ist, etwas durchaus in (heute so genannter) geschichtlicher Zeit Geschehenes, dabei aber eben jeweils so „Neues“, „bisher noch nie Erfahrenes und Erlebtes“ und daher derart „Einmaliges“ wie auch überhaupt „Erstmaliges“ und auch Unwiederholtes/Unwiederholbares in der Bibel bekundet und ausgesagt ist. Daher ist es auch etwas absolut Un-Vergleichliches, ja gänzlich Un-Ähnliches im Blick auf was auch immer, von dem rechtens gesprochen wird oder werden kann. Es handelt sich ja auch nie um etwas, von dem, wie wir oft sagen, der Mensch jedenfalls wenigstens so etwas wie eine „Idee“, einen VorBegriff, ein Urbild oder einen „Gedanken“ hätte, und noch weniger ein entsprechendes Wort oder auch nur die Möglichkeit des verständnisvollen Sprechens. Wenn man z. B. meint, die Aussage von Mt 1–2 und Lk 1–2 als mit anderen sogenannten Geburtsankündigungen und Kindheitsgeschichten der Bibel vergleichbar und, im Sinne eines schon vor-liegenden Darstellungsschemas verstanden, erklären zu können, so verkennt man die tatsächlichen Aussagen des NT. Dort wird Maria namentlich genannt, mit ihrem Namen, ihrem Wohnort und mit der übergenauen Angabe ihres momentanen Lebensstandes („mit Josef, dem Sohn Davids, verehelicht, aber noch nicht zusammengekommen“; s. dazu unsere Erklärung oben in der Besprechung dieser Texte), also gleichsam datumsmäßig, und ebenso auch das, was der Bote Jahwes ihr im entscheidenden Gespräch ansagt. Das aber ist etwas unerhört Un-Vor- oder Ausdenkbares, so daß jeder Versuch eines Vergleichens mit einem anderen von vornherein unmöglich ist, eben weil es Gottes eigenes „neues“ Planen und persönlichstes „Tun“ ist, dem absolut überhaupt nichts, wie auch immer Vergleichbares zugeordnet werden kann. Die z. B. von H. Schürmann gegebene Erklärung zu Lk 1,5–38 wider472

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spricht eklatant dem dort Bekundeten, wenn er meint feststellen zu können: „es soll an der wunderbaren Lebensentstehung des Johannes (1,2–25) deutlich gemacht werden, daß Gott selbst eine jungfräuliche Empfängnis nicht unmöglich ist (vgl. 1,36f.45) … die ‚Größe‘ Jesu (1,32) wird an dem ‚großen‘ (1,15) Johannes in der Weise illustriert (!), daß seine Lebensentstehung als noch wunderbarer hingestellt wird“ (Lk-Kommentar 27f; vgl. dort den ganzen Text zu 1,5–45). Nicht einmal ein bisher von Gott selbst her Geschehenes oder Gewirktes ist dem vergleichbar oder zuzuordnen, was zur Herkunft und zum „Sein“ Jesu Christi in Lk 1 gesagt wird. Denn in diesem wirklich absolut „Neuen“ wird doch von Jahwe eine Antwort-Tat auf den wirksamen Widerspruch des Geschöpfes zum Erschaffen-Sein und der Beabsichtigung durch Gott angesagt, als von Jahe selbst her „neu“ Erdachtes und Ersonnenes, das zu „tun“ er sich zunächst selbst entschließt und worin er die schon genannte Maria persönlich mit-einbeziehen will. Dazu haben wir oben schon genügend gesagt; wir werden darauf noch einmal zu sprechen kommen müssen (s. das folgende Kapitel). Entsprechendes ist zu dem zu sagen, was Mt 1–2 bekundet: Matthäus stellt fest, daß in Jesus sich erfüllen soll und wird und dann tatsächlich erfüllt, was Jahwe selbst „durch den Propheten gesprochen hat: Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären; man wird ihm den Namen Immanuel geben, das heißt ‚Gott-mit-uns‘“ (Jes 7,14). Es war also und ist schon von Gott selbst her etwas absolut „Neues“, „Unerhörtes“, „Unausdenkbares“, nämlich daß Jahwe als „Gott-mit-uns“ in Jesus namentlich geboren und er dann auch so erlebt und genannt wird. Jahwe selbst ist, wenn man es einmal so gewagt formulieren darf, als Er-Selbst „neu“ geworden! Wir haben auch das oben aus Mt 1–2 heraushören können, eben weil es dort so bekundet wird. Nichts eigentlich anderes ist für die Wendungen „Lebensentstehung Jesu“ und „Anfang/Anfänge bzw. Ursprung/Ursprünge Jesu“ zu sagen. Der von Josef JESUS zu Nennende „entsteht“ nicht erst im Schoße Marias in seinem ihm „neuen“ eigenen „Sein“ und Leben. Vielmehr ist er es, was dieser Name sagt, nämlich aufgrund dessen, was z. B. in Joh 3,16, in Gal 4,4f, Phil. 2,6–11 und Joh 1,14 bekundet ist: Der Sohn wird gesandt als der Logos, der Fleisch wird; keineswegs „verdankt Jesus sein menschliches Dasein einer schöpferischen Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau“ (so H. Schürmann, LkKommentar 40, dem viele Exegeten folgen). Das steht im ganzen NT nirgends! Vielmehr: Der Vater läßt den Sohn einen von den vielen Erlösungsbedürftigen werden; er erschafft gerade kein neues „menschliches Dasein im Schoße einer Jungfrau“ anstelle des Zur-Sünde-gewordenen-Menschseins, sondern Er wird dieser selbst; Er übernimmt dieses Sünder-Sein und macht es zu seinem eigenen „Sein“. Alles in allem: Es geht in allen diesen Texten des NT zur Herkunft Jesu Christi zuerst um Gottes eigenes Neu-Werden in seinem Jahwe-Sein – wenn man meint, das damals Geschehene überhaupt anders als die ntl. Texte selbst aussagen und bekundend ins Wort bringen zu müssen. Denn irgendein „anderes“ Wort, welcher Sprache auch immer, oder gar ein Begriff liegen nicht schon vor und sind bereit noch können sie gewonnen werden, um dazu zu dienen, dieses im NT Bekundete zu erfassen und in ein gültiges Wort zu 473

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Abschnitt G:

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bringen. Und trotzdem: Es ist so geschehen, wurde so erlebt und dann eben auch bekundend-verkündet (vgl. dazu nochmals Joh 1,14 u. a.) und dann sogar schriftlich aufgezeichnet und im Schrift-Kanon fest-gelegt. Damit kann und muß (wenn man meint, es so sagen zu müssen) jeder Mensch und alle Welt sich begnügen und es wirklich voll-genug sein lassen – und das heißt (es geht ums Wort Gottes selbst: die Bibel!): wir müssen und dürfen uns beschenken lassen und so genau das „begreifen“ wollen, ohne es je theologisch-denkerisch einholen und also vereinnahmen zu können – und wer will das überhaupt (außer sich „wissenschaftlich verantworten“ wollende „Theologen“)?

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Zweiter Teil Zusammenfassender Überblick über die ntl. Aussagen zur Herkunft Jesu Christi

I. Zur Zielsetzung dieses Kapitels Es ist allgemein üblich geworden, in Bezug auf die recht zahlreichen Einzelaussagen der neutestamentlichen Schriften zur Bekundung des Heilsgeschehens durch Gott in Jesus Christus und ihre Auswirkungen auf die junge Kirche und dann ihrer unmittelbaren Umwelt sogleich von vielen Theologien und Christologien zu sprechen, wenn die Aussage-Inhalte herausgearbeitet und ausgebreitet werden. Das jeweils im betreffenden Text Bekundete wird, schon seitens der Bibelwissenschaftler, sogleich als etwas angesehen und dargestellt, das schon auf irgendeine Weise „wissenschaftlich“, d. h. fachkundig und in systematischer Sichtweise erkannt ist oder jedenfalls vorgestellt und damit behauptet wird. Jede Einzelaussage im NT, vielleicht auch nur in einem einzigen Satz im Text zur Sprache gebracht, wird sogleich begrifflich gelesen und so als Theo-logie bzw. Christo-logie gewertet, beurteilt, erfaßt und wiedergegeben. Das haben wir, ohne daß immer darauf aufmerksam gemacht werden konnte, bei allen Einsichtnahmen in den Text bzw. in die entsprechenden Kommentare und Abhandlungen gesehen. Dabei sollte eigentlich von Anfang an und dann ständig bewußt sein: Für alle ntl. Schrifttexte gilt, daß sie ihr jeweils eigenes, meistens sehr begrenztes „Thema“ haben, von dem in bekundender und verkündender, nicht selten sogar in singender und lobpreisender Rede gesprochen wird. Keine ntl. Schrift zielt darauf ab, eine Art begrifflicher Zusammenschau einzelner Fakten oder „Lehr“-Aus475

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Zur Zielsetzung dieses Kapitels

sagen darzubieten. So behandelt z. B. Paulus im Römerbrief ohne Zweifel das Thema „Rechtfertigung“, auch argumentativ. Trotzdem bringt er dort keine einigermaßen vollständige Lehrauffassung vor. Am Römerbrief allein die sogenannte paulinische oder gar christliche Rechtfertigungslehre ablesen zu wollen, wäre verfehlt. Ähnliches – und das ist jetzt für uns das Wichtige – gilt für alle Aussagen über Jesus Christus, ob nun von ihm berichtet wird oder seine Worte aus der Erst-Überlieferung wiedergegeben werden. Eine Christologie in Einzelaussagen finden zu wollen, ist absurd, auch wenn es immer wieder geschieht, ganz abgesehen davon, daß die betreffenden Schriftstellen selbst gerade kein derartiges Gepräge zeigen. Auffällig ist auch, daß nie von Jesu-logie die Rede ist, obwohl doch immer Jesus der ist, von dem, neben Gott selbst natürlich, zu sprechen ist. So fühlt man sich nicht gehindert, sogar über Jesus ausdrücklich christo-logische Feststellungen machen zu können oder zu müssen. Umgekehrt findet sich der Terminus „messsianische Christologie“, ohne daß die Schreiber dabei bemerkt zu haben scheinen, daß „christos“ doch nur das griechische Übersetzungswort für maschiach (Gesalbter) ist.1 Deswegen ist dieses jetzt festzuhalten: Der jeweilige Aussage-Inhalt der ntl. Texte, vor allem natürlich der Briefe, rührt aus einem jeweils zeitlich und örtlich bestimmten Anlaß, der auch die (Einzel)“Thematik“ festlegt. Und auch das, was jeweils konkret sprachlich, auch schriftlich, zum Ausdruck kommt, hat seinen spezifisch eigenen Grund für die Auswahl dessen, was den meistens namentlichen Adressaten tatsächlich zu Gehör gebracht wird. Erst die (später so genannten) Evangelien (es sind derer 1

Es seien hier einmal einige der „vielen Christologien“ genannt, die uns in der einschlägigen Literatur begegnet sind; ein Nachweis, wo sie sich finden, wäre zu aufwendig. Daher: Inkarnations-Christologie; Präexistenz-Christologie; Davidssohn-Christologie; Zweistufen-Christologie; Dreistufen-Christologie; Sohn-Gottes-Christologie; Deszendenz- und Aszendenz-Christologie; Erhöhungs-Christologie; Subordinations-Christologie; „hohe“ Christologie; Messias-Christologie; Sophia-Christologie; Weisheits-Christologie; Logos-Christologie; Engel-Christologie; sogar Trinitäts-Christologie. Im Jahr 2010 erschien das Buch von H. J. Eckstein mit dem Titel: „Perspektiven einer christologischen Theologie“! Wir verweisen hier auch auf den Exkurs „Theologie und/ oder Christologien“ s. d. ––– Wir zitieren hier ein einziges Bespiel für die eigenartige Sprechweise. Es findet sich im Lk-Kommentar von H. Schürmann in den einleitenden Passagen zur Auslegung von Lk 1,26–38, noch vor der eigentlichen Vorstellung und Auslegung des Lk-Textes: „Die Erzähltendenz der Verkündigungsszene ist eminent christologisch (Hervorhebung im Text selbst!): Es geht letztlich darum, die dem Glauben feststehende Messianität und ‚Gottessohnschaft‘ Jesu theologisch zu gründen. Das geschieht durch den Aufweis, wie Jesus sein menschliches Dasein der schöpferischen Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau verdankt … Es geht dabei aber nicht nur darum, die Verheißung der Jungfrauengeburt als erfüllt zu bezeugen; die vaterlose Lebensentstehung Jesu ist dem Bericht vielmehr wichtig, weil an ihr christologische Aussagen deutlich werden: (unmittelbar) Jesu ‚Heiligkeit‘ und (mittelbar) die in Gott gründende ‚Gottessohnschaft‘ offenbaren sich darin; vgl. 1,35. So wird Jesu ‚Messianität‘ und sein ‚messianisches‘ Wirken … gleich zu Beginn stabil fundiert, und zwar auf einem Bekenntnis, auf einer christologischen Wesensaussage: Jesus ist der ‚Heilige‘ Gottes, der aus einer Jungfrau geborene ‚Sohn Gottes‘ und als solcher ‚Messias‘ … Je mehr man sieht, daß Lk 1,26–38 eine Christuserzählung ist, desto deutlicher … auch ein mariologischer Aussagewille (Hervorhebung wieder im Text selbst) am Werk ist …“ (40).

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nur vier, dazu jeweils sehr eigen-artig konzipierte Schriften!) und auch die Apg bedienen sich für ihre Bekundungen, offenbar Anlaß- und Adressaten-gebunden, einer gewissen Weise der zusammenschauenden und entsprechend zusammenfassenden Sprache für die Aussage-Inhalte. Sie folgen auf ihre je eigene Darstellungsweise der Aufeinanderfolge des konkreten Geschehens im Sich-ereignet-Haben des Heilsereignisses „in den Tagen seines Fleisches“ (um mit dem Hebr 5,7 zu sprechen, das ja auf Jesus Christus zielt). Das alles ist jedoch auf keinen Fall ein hinreichender Grund, bei ihnen sogleich und entscheidend von dem zu sprechen, was heute faktisch „Christologie“ bzw. „Theologie“ meinen. Noch weniger Grund zeigt sich dafür, sogar von „vielen Christologien“ bzw. „vielen Theologien“ zu sprechen, welche Formulierungen aber immer wieder begegnen. Es wird dann, auch seitens der Bibelwissenschaftlern, sogleich diskutiert und entschieden, ob die ntl. Einzelaussagen zunächst christologisch und dann erst theologisch zu lesen und zu deuten sind, und umgekehrt, und welche Aussage-Richtung als erst-gültig anzusehen sei. Von daher versteht sich die oft gestellte Frage, schon bei der Auslegung der Texte selbst, ob sie theo-zentrisch oder zunächst christo-zentrisch zu verstehen seien. Das alles gibt den Grund dafür an, daß wir jetzt aus den ntl. Texten, die zur Herkunft Jesu Christi in irgendeiner Weise sprechen und die wir betrachtet haben, zusammenschauend blicken und zu erkennen versuchen, was sie tatsächlich selbst sagen. Es soll dabei nicht darum gehen, einen systematischen Gesamt-Überblick über die einschlägigen ntl. Aussagen zu gewinnen. Vielmehr sollen alle Aussagen des NT selbst, in ihren Anliegen, abgehört werden, um dadurch zu einem Gesamtblick auf die Bekundung des NT selbst, in seiner Sprache, zur Herkunft Jesu Christi, zunächst relativ offen-bleibend, zu bekommen. Wir übernehmen übrigens das Wort „Herkunft“ aus Mt 1,18a, weil es dort in einem noch sehr offenen, aber eindeutig klaren Sinn eingesetzt ist, fast sogar thematisch. Wir wollen hier also keine Biblische Theologie, um so weniger eine systematisch-theologische Darstellung bringen, sondern vor allen diesen sicher berechtigten weiterführenden Ausdeutungen der ntl. Texte sie selbst sprechen lassen, dabei genau und engagiert zuhören und das dadurch Erkannte noch vor aller systematisierenden Arbeit in sinnvoller, zusammenschauender Weise nach-sprechen. Dabei sollen die vielen Text-Aussagen auch nicht eigentlich harmonisiert werden. Wir folgen vielmehr in der Darbietung dem Vor-Gang des damals tatsächlich Geschehenen, das sich ja im Sich-Ereignen selbst als das erwiesen hat, was es ist und wie dann die Bibel selbst meint es wieder-geben zu sollen. Aufeinanderfolge im Sich-Ereignen soll leitend sein. Es soll auch noch kein strukturiertes Ganzes, das der Leser der Texte für sich (oder auch für andere) gewollt und sich gebildet hat, ausgebreitet werden, sondern alles in der Geschehensordnung damals zusammengestellt werden, was im einzelnen ja zunächst als Einzelnes bekundet ist. Die Fragen, die sich da ohne Zweifel melden, wären dann in einem zweiten Überlegungsgang zu behandeln und ihre Lösungen gegebenenfalls darzustellen. Das aber gehört nicht mehr zu unserer Aufgabenstellung hier. – Wir bedienen uns dazu 477

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auch in allem ganz bewußt und reflektiert noch einer vor-theologischen Sprache. Wir versuchen das Auszusagende in durchaus heutiger, aber eben doch „normaler“ (was nicht heißt: banaler!) Wortwahl und Sprechweise auszusagen, was wir erkannt haben, um den zu be-denkenden und ihnen nach-zudenkenden Schrift-Aussagen in ihrer Weise gerecht zu werden. Wir gehen jetzt in der Weise vor, daß wir zunächst die Aussage-Inhalte der einschlägigen Text-Stellen des NT abhören und dabei herausstellen, was sie sagen. Dann stellen wir dar, in welchem Ausmaß gerade für die Aussage-Inhalte dieser ntl. Texte eine faktische Unvereinbarkeit miteinander oder Nichtharmonisierbarkeit behauptet wird, was Wichtiges zu Beurteilung der Kommentare offen deckt. Dann soll der Versuch gewagt werden, einen zusammenschauenden Überblick zu gewinnen, der den hier zuvor vorgelegten Bedingungen gerecht werden könnte.

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Die wegweisenden ntl. Texte für die Zusammenschau

II. Die wegweisenden ntl. Texte für die Zusammenschau 1. Texte mit „senden“ als Tat Gottes des Vaters bzw. mit „Gesandt-Werden“ oder „GesandtSein“ des Sohnes durch Gott a) Joh 3,16.17

Der Text lautet: „So sehr nämlich (ou[twj ga.r) hat Gott die Welt (ko,smoj) geliebt (hvga,phsen), daß er seinen Sohn, den einziggeliebten (monogenh/, wiederzugeben mit „einziger, einziggezeugter“, aber auch „einziggeliebter“) gab (e;dwken), damit jeder, der an (eivj) ihn glaubt, nicht verlorengehe (avpo,lhtai), sondern ewiges (aivw,nion) Leben habe. Denn nicht hat Gott den Sohn in die Welt gesandt (avpe,steilen), daß er die Welt richte (kri,nh|), sondern daß die Welt durch ihn gerettet werde (swqh/|)“. In diesem unauslotbaren Satz ist jedes Wort voll klingen zu lassen und zu werten. Schon der Beginn ist bezeichnend eindringlich: „So sehr nämlich …“. Damit wird das Folgende betont und mit Nachdruck eingeleitet: „Gott hat die Welt geliebt“. Dieses Wort muß in seinem, zumal in den johanneischen Schriften ungewöhnlich betonten Sinn gehört und begriffen werden. Es ist dasselbe Wort, das Jesus, der Sohn, zuerst von seinem Vater in Bezug auf sich einsetzt: Joh 3,35: „Der Vater liebt den Sohn und gibt ihm alles in seine Hand“; s. dazu noch 10,17; 15,9–10; 17,22–25. Jetzt wird die Welt als das/der genannt, das von Gott Vater geliebt wird, schon immer! „Welt“ ist hier umfassender zu verstehen als nur „Menschenwelt“ oder „Menschheit“ (wie oft in den Kommentaren behauptet wird); es verkürzt den Aussage-Gehalt, wenngleich die Menschen oder das „auserwählte Volk, Israel“, in der Bibel oft in bestimmtem Kontext mit „Welt“ spezifisch gemeint sind. Hier in Joh 3,16f ist mit „Welt“ sicher alles angesprochen, das zum Erschaffenen seit allem Anfang gehört. Hier ist auch und gerade die Welt der Sünde, d. h. die sich verweigernde und selbst negierende Welt mit-gemeint. Das erklärt sogleich auch, was Gott als Liebender aus Liebe getan hat: Er schenkte seinen Einziggeliebten (monogenh,j), seinen Sohn. Da ist auf e;dwken zu achten. Es sagt hier schlicht „er schenkte“ und benennt damit eindeutig das Faktum, das, was Gott in seiner Lebensgeschichte mit allem Erschaffenen getan hat (Zerwick: „factum historicum“), von Anfang an. In diesem Satzteil wird noch nicht ausdrücklich gesagt, wem er den Sohn schenkte. Vielmehr „Er schenkte seinen Sohn, damit jeder, der an ihn glaubt (d. h. annimmt), das ewige Leben habe“. Damit ist Gott Vater als der bezeichnet, der die „Welt“ so sehr liebt, daß er deswegen nicht nur seine übergroße Liebe, sondern sogar den Einzigen, Einziggeliebten (das ist hier der unverwechselbare Name des Sohnes, der dessen persönliche Wirklichkeit ausspricht) schenkt. Es ist damit noch nicht näher angesagt, was dieses „Schenken“ als Tat Gottes 479

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II.

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alles implizierte und von Vater und Sohn einforderte, auf daß es geschehende und geschehene Wirklichkeit werde und sei. Wir werden hier aber unüberhörbar an Jes 5 und Hos 11 erinnert.1 Das wird dann in 3,17 spezifiziert durch den Satz: „Gott sandte den Sohn in diese Welt, auf daß sie durch ihn gerettet werde“. Wir lassen hier zunächst die in 16 wie 17 jeweils mit-ausgesagten negativen Zusätze noch unbeachtet, in denen gesagt wird, was nicht der Sinn und das Ziel des Tuns Gottes war und ist. Das soll jedoch nicht übersehen sein, vielmehr soll zunächst das Eigentliche, das Tun und die Absicht Gottes klar hervorgehoben sein. So formuliert ja auch 1 Joh 4,9 mit denselben Worten schlicht: „Dadurch ist Gottes Liebe unter uns offenbar geworden, daß Gott seinen Sohn, den Einziggeliebten, in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn zum Leben kämen“. Durch die Wendung „senden“ wird näher angegeben, wie das „geben/ schenken“ geschehen ist. „Senden“ nennt ja sogleich auch ein Wohin und Wozu, womit ein „Bereich“ (nicht notwendig der Zeit oder des Raumes), der nicht der Bereich Gottes selbst (sein „Inneres“) von absoluter Bedeutung ist. Durch den unmittelbaren Kontext ist eindeutig die Welt angesprochen, die sich selbst Gott verweigert hat und verweigert, und in diesem Sinne Gott-Ferne meint (nicht Gottverlassenheit; denn das wäre ja Tat Gottes!), weil sie aus ihrem Willen an der Lebensgeschichte des Bundes Gott-Erschaffenes nicht teilhaben will (andernorts Sünde genannt). Das wird in 1

Dazu ist nachzulesen, was wir im Exkurs „Gott in der Geschichte“ reflektiert und besprochen haben. Es ist bedeutsam, das hier nur kurz Angedeutete recht einzusehen. Diese Weise, von der Liebe Gottes zur Welt zu sprechen, findet sich nicht erst in diesen johanneischen, also relativ späten ntl. Schriften, sondern von Anfang an. Wir bringen einige sprechende Beispiele: Röm 5,5.7–8: „Die Hoffnung aber läßt nicht zuschanden werden. Ist doch die Liebe Gottes ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben worden ist … Kaum wird einer für einen Gerechten sterben. Vielleicht wird einer eher für einen Guten zu sterben bereit sein. Gott jedoch erweist seine Liebe zu uns darin, daß, als wir noch Sünder waren, Christus für uns gestorben ist“. Wir bemerken den Nachdruck auf diese Tatsache durch das „jedoch“; zugleich beachten wir die eigentümliche „Identifikation“ Gottes mit Christus: Gott ist der Liebende, und Christus ist der, der die entsprechende „Tat“ ausführt. Es ist die ähnliche „Unterscheidung/Identifikation“, die wir auch in Joh Joh 8,16f gesehen haben. Röm 8,31–39: „Was sollen wir dazu sagen? Wenn Gott für uns ist, wer ist dann gegen uns? Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben (pare,dwken; in Joh 3,16 e;dwken). Wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken (cari,setai) … Wer sollte uns trennen von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Angst oder Verfolgung … oder Schwert? … Doch all das überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin überzeugt: weder Tod noch Leben, weder Engel noch Herrschaften … noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes in Christus Jesus, unserem Herrn“. Wieder erkennen wir, was es um die große Liebe Gottes zu uns ist, und zugleich, daß Jesus Christus das Geschenk Gottes in Person ist. 2 Kor 5,14f: „Denn die Liebe Christi drängt uns, seitdem wir zu folgender Überzeugung kamen: Einer ist für alle gestorben. Und zwar ist er für alle gestorben, damit die Lebenden nicht mehr für sich selbst leben, sondern für den, der für sie gestorben ist“. Eph 5,1–2: „Seid gegeneinander gütig und barmherzig und vergebt einander, wie auch Gott euch in Christus vergeben hat. Ahmt dem Beispiel Gottes nach als seine geliebten Kinder. Wandelt in der Liebe, wie auch Christus euch geliebt und sich für uns als Opfergabe hingegeben hat, Gott zum lieblichen Wohlgeruch“. Wieder begegnet uns in diesem späten Text dieselbe Weise, von Gottes Liebe und ihrer „Identität“ mit Christus zu sprechen und zum Vorbild zu nehmen.

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3,19b sogleich so formuliert: „Das Licht ist in die Welt gekommen, aber die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht“. Wir halten fest: In Joh 3,16.17 ist ein „Tun“ Gottes (und folglich auch seines Sohnes) angesagt, das (schon) vor der Welt war/ist, doch sich in Bezug zur Welt „ereignete“: Liebe-Leben. Erst aus der Sicht der Welt bzw. der Menschen wird ein „Nacheinander“ bzw. eine Geschehens-Folge benannt. „Senden“ impliziert dieses gewisse „Vorher“, ohne daß damit Zeit- oder Raum-Kategorien des Weltgeschehens als solche gemeint sein müssen, ein „Vorher“ und „Nachher“ im Lebensgeschehen Gottes selbst. In Gott gibt es kein „Vorher“ und „Nachher“, kein „Nebeneinander“ von „Selbständigem“. Man kann auch sagen: Alle diese Raum- und Zeit-Kategorien bzw. das mit ihnen Anvisierte ist im Präsens des Seins, des Lebens, des Einander-Zu-einander-Liebens in Gott „aufgehoben“, im Sinne des „Immer-Jetzt“ und „Überall-hier“ Gottes selbst ganz. Erst aus dem Erlebnis und aus der Sichtweise des Menschen, der Welt gesprochen, zeigt sich ein „Nacheinander“ oder „Auseinander“ und entsprechende „Aufeinander“-Folgen. Der Sendende, so meinen wir denken und sprechen zu müssen, sendet jemand anderen oder etwas von sich weg, woandershin, wobei der zu Sendende schon „zuvor“ existiert, um gesendet werden zu können. Bei Gott aber und seinem Sohn in ihrem „Verhältnis“ zueinander wie zur Welt, zu dem von ihm Erschaffenen, ist das nicht so! Der Aussage von Joh 1,10f („Der Logos, der Gott ist, war in der Welt; die Welt ist durch ihn geworden“) widerspricht 1 Joh 4,10 gerade nicht („Gott hat seinen Sohn in die Welt gesandt“). Auch von einem Verkündigungsschema Erniedrigung – Erhöhung bzw. Hinabsteigen/Hinaufsteigen des Sohnes, des Menschen- und Gottessohnes zu sprechen, ist biblischsachlich unangebracht. Der „vom Himmel Herabgestiegene“ (Joh 3,13) hat den Himmel durch sein Hinabsteigen gerade nicht verlassen, wie er auch im „Hinaufsteigen in den Himmel“ (ebd.) nicht von der Welt weg-gegangen ist (vgl. dazu die Texte Joh 7,33–36; 8,14–19.26–29.42.58 u. a.). Wenn wir der verkündigenden (euvagge,lion!) Aussage-Weise selbst folgen, dann ist mit dem biblischen Zeugnis und seiner Sprache die Wahrheit und Wirklichkeit eindeutig ins Wort gebracht und gibt unsere GlaubensEinsicht klar zur Sprache (was ja gerade nicht hindert, dieses biblische Sprechen für uns je heute aufschließen zu müssen und eben auch zu können). Wir brauchen dazu hier nur an das christliche Glaubensbekenntnis zur Heiligen Schrift als Wort Gottes zu erinnern, um das soeben Ausgesprochene als die vom Glauben begriffene Wirklichkeit und ihr (zuvor geschehendes) ereignishafte Geschehen für das Glaubensleben einzusehen und zu befolgen (was, wieder sei es gesagt, ein Nach- und Bedenken und Ins-Wortbringen gemäß unserer je heutigen Sprache (Sprachen!) keineswegs verhindert noch als überflüssig erklärt).2 2

Stellen im JohEv, wo dieselbe grundlegende Aussage und ihre Ausformulierung wie in Joh 8,16.17 begegnet, seien hier aufgeführt. Sie bekräftigen auf ihre Weise, was wir schon festgestellt haben. So Joh 10,17: „Deshalb liebt mich der Vater, weil ich mein Leben hingebe, um es wieder zu nehmen. Niemand nimmt mir, sondern ich gebe es freiwillig hin. Ich habe die Vollmacht, es hinzugeben“. Joh 6,32: „Da sprach Jesus zu ihnen: Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Nicht Mose hat euch das

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b) Gal 4,4–7

Der Text lautet: „Als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte (evxape,steilen) Gott seinen Sohn, geworden aus (der) Frau, geworden unter (das) Gesetz, damit er die unter (dem) Gesetz (Stehenden) loskaufe, damit wir die Sohnschaft (ui`oqesi,an) empfingen. Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, der da ruft: Abba, Vater. Du bist demnach nicht mehr Sklave, sondern Sohn. Wenn aber Sohn, (dann) auch Erbe“. Diese Textstelle gehört zu den frühen schriftlichen Bekundungen des Neuen Testaments. Schon in ihnen findet sich die Formulierung von der Sendung seines Sohnes durch Gott, der im Kontext ausdrücklich als Vater verstanden wird, was die ganze Argumentation des Paulus in diesem Brief bestimmt.3 Daher ist zum rechten Verständnis von Gal 4,4ff auf den spezifischen Anlaß und die dementsprechende Aussage-Absicht des Paulus zu achten. Es geht nicht um die ErstVerkündigung des christlichen Glaubensgutes, nicht um kerygmatisch-katechetische Darlegungen oder gar um auf Vollständigkeit des christlichen Glaubensgutes zielende („systematische“) Darlegung, sondern um das spezifische Anliegen des Paulus gerade in Bezug auf die Galater, christ-gewordene Heiden, denen gewisse Missionare auch die jüdische Gesetzeserfüllung auferlegen wollten. Das muß nachdrücklich beachtet bleiben, was in der Vorgangsweise mancher exegetischen Untersuchungen und Auslegungen des Textes vermißt wird. Was Paulus hier faktisch als Glaubensgut vorlegt und eindringlich bespricht, ist allerdings von großem Gewicht für die christliche Glaubenseinsicht überhaupt. Es geht um das spezifische Problem der Galater. Ihnen war ja als zwingend eingeredet worden, das Jude-Sein durch Beschneidung und Gesetzeserfüllung gleichsam noch nachholen zu müssen, damit ihnen das Heil wirklich

3

Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel. Denn das Brot Gottes ist der, welcher vom Himmel herabkommt und der Welt das Leben gibt … Jesus sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, wird nimmermehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nimmermehr dürsten. Alles, was mir der Vater gibt, wird zu mir kommen, und den, der zu mir kommt, werde ich gewiß nicht verstoßen. Denn ich bin vom Himmel herabgekommen, nicht um meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat“. Joh 15,9–11: „Wie mich der Vater geliebt hat, so habe ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe. Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe. Das habe ich zu euch geredet, damit meine Freude in euch sei und eure Freude vollkommen werde“. – Joh 17,22.24.26: „Und ich habe die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, ihnen gegeben, damit sie eins seien wie wir eins sind. Vater, ich will, daß, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, damit sie meine Herrlichkeit schauen, die du mir gegeben hast, weil du mich geliebt hast vor Grundlegung der Welt. Und ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn weiterhin kundtun, damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen sei und ich in ihnen“. Es sei hier ausdrücklich auf unsere Besprechung dieser Gal-Stelle im betreffenden Abschnitt „Gal 4,4“ oben im Haupttext hingewiesen. Wir brauchen das dort Herausgearbeitete zum Text-Verständnis hier nicht zu wiederholen; es muß aber hier voll berücksichtigt werden, um das jetzt Auszusagende zu verstehen.

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voll zuteil werde. Paulus hat in 3,1–29 klar argumentiert, was es um die entscheidenden Erfordernisse des rechten Christ-Seins ist.4 Das wendet Paulus an und formuliert dann den Text Gal 4,4ff. Der (wenn man es so sagen will und darf) Kern, das Wesen des Christ-Seins überhaupt ist dort mit dem Getauft-Sein in (eivj) Christus ausgesprochen. Das erklärt sogleich auch das in 4,4 Bekundete über den Sohn Gottes als den von Gott Gesandten. Paulus gibt als erstes den genauen Termin dieses Sendens Gott an: „als die Fülle der Zeit gekommen war (h=lqen)“. Damit ist ohne Zweifel ein Zeit-Punkt angesprochen. Dieser Zeitpunkt ist hier im Sinne des zuvor in 4,2 genannten Termins (proqesmi,a) des Vergleichs anzusprechen, nämlich als das vom Vater/ Familienhaupt als Erblasser in seiner Testamentsanordnung festbestimmte Datum, ab welchem der rechtsmäßige Erbe, der ja zunächst noch unter „Vormündern und Verwaltern“ (4,2) zu leben hatte, das Erbe tatsächlich definitiv antreten kann und 4

Der Text Gal 3,6–29, den wir oben zugrundelegen und näher besprechen, lautet so: „Es ist so: ‚Abraham glaubte Gott und es wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet‘. Ihr erkennt folglich, daß die (Menschen) aus Glauben diese Söhne Abrahams sind. Da aber die Schrift vorhersah, daß Gott die (Heiden)Völker aus Glauben rechtfertigen wird, verkündete sie dem Abraham das Evangelium im voraus: ‚In dir werden gesegnet werden alle Völker‘. Die (Menschen) aus Glauben werden demnach zusammen mit dem gläubigen Abraham gesegnet. Denn alle, die aus Werken des Gesetzes sind, die sind unter dem Fluch. Denn es steht geschrieben: ‚Verflucht (ist) jeder, der nicht in allem verbleibt, was im Buch des Gesetzes geschrieben steht, um es zu tun‘. Daß aber im Gesetz bei Gott niemand gerechtfertigt wird, ist offenkundig; denn ‚Der Gerechte wird aus dem Glauben leben‘. Das Gesetz ist aber nicht ‚aus Glauben‘, sondern (es gilt:) ‚Wer es getan hat, wird in ihnen leben‘. Christus hat uns aus dem Fluch des Gesetzes losgekauft, geworden für uns Fluch. Denn es steht geschrieben: ‚Verflucht jeder, der am Holze hängt‘ – damit über die Völker der Segen Abrahams käme in Christus Jesus, damit wir den verheißenen Geist durch den Glauben empfingen. Brüder, ich sage nach Menschenart: Schon das rechtsgültig gemachte Testament eines Menschen setzt niemand außer Kraft oder fügt (etwas) hinzu. Die Verheißungen aber wurden Abraham zugesprochen und seinem Samen. Es heißt nicht: und den Samen, als ob es sich um viele handelt, sondern so, daß es sich um einen handelt, ‚und deinem Samen‘, das ist Christus. Ich sage aber dieses: Ein Testament, das von Gott bereits rechtskräftig ausgefertigt ist, macht das nach 430 Jahre gekommene Gesetz nicht ungültig, so daß es die Verheißung vernichtete. Denn wenn das Erbe aus dem Gesetz käme, käme es nicht mehr aus Verheißung. Dem Abraham aber hat Gott sich durch Verheißung gnädig erwiesen. Was soll nun das Gesetz? Um der Übertretungen willen ist es hinzugefügt, bis der Same käme, dem verheißen wurde, angeboten durch Boten (a;ggeloi) in der Hand eines Mittlers. Einen Mittler gibt es nicht bei einem, Gott aber ist einer. Ist also das Gesetz gegen die Verheißungen Gottes? Keineswegs. Denn wenn ein Gesetz gegeben worden wäre, das lebendig machen könnte, dann käme die Gerechtigkeit in der Tat aus dem Gesetz. Aber die Schrift hat alles unter die Sünde eingeschlossen, damit die Verheißung den Glaubenden aus (dem) Glauben an Jesus Christus gegeben werde. Bevor aber der Glaube kam, wurden wir unter dem Gesetz verwahrt, eingeschlossen bis zu dem Glauben, der offenbart werden sollte. Daher ist das Gesetz unser Aufseher geworden bis auf Christus, damit wir aus Glauben gerechtfertigt würden. Nachdem aber der Glaube gekommen ist, unterstehen wir nicht mehr einem Aufseher. Denn ihr alle seid Söhne Gottes durch den Glauben in Christus Jesus. Denn alle, die ihr getauft worden seid, habt Christus angezogen. Da gibt es nicht einen Juden und einen Griechen, da gibt es nicht einen Sklaven und einen Freien, da gibt es nicht Mann und Frau: denn ihr alle seid einer in Christus Jesus. Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr auch Abrahams Same, Erben kraft der Verheißung“.

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antritt. Wer oder was der/das war, unter dessen Aufsicht alle, die in 4,4ff gemeint sind, zunächst zu leben hatten, obwohl sie längst rechtmäßige Erben waren, das hat Paulus zuvor in 3,15–25 deutlichst gesagt. Man sollte diesen Text vielleicht sogar zuerst rückwärts lesen, um die Wucht des dort Ausgesagte wirklich einzusehen. Dort wird ja klar gesagt, was alle, die getauft werden wollen, vor ihrem Getauft-Werden sind bzw. waren. Paulus argumentiert gegen die unverständigen (avno,htoi) Galater mit dem entscheidenden Hinweis auf die Verheißung an Abraham, die in ihm auch seinen Nachkommen zuteil werden sollte. Um das richtig bewerten zu können, müssen wir heute mit-bedenken, was damals noch hinreichend klar bewußt war, daß Gott ja nicht erst mit Abraham seine Lebensbund-Geschichte beginnt, diese vielmehr schon entscheidende „Phasen“ erlebt hatte.5 In und nach Abraham soll ja nach dem Ur-Anfang Jahwes mit dem von ihm Erschaffenen (repräsentiert zunächst in Adam und Eva), zu dem das Erschaffene sich ja zunächst in Wider-Spruch und Verweigerung sündigend und also abweisend gesetzt hatte und Gott z. B. schon mit Noach versucht hatte, das Unheil zu wenden, das Heil doch Wirklichkeit werden zu lassen, was aber durch die Sünde gleichsam verunmöglicht war – bis daß ein Glauben-inund-an-Gott endlich doch vom Erschaffenen dem Wunsch Gottes entsprechen, antwortend-liebend zusagen würde. Mit Abraham versucht Jahwe also aufs neue zu beginnen, indem er auch von ihm dazu zuvor Zu-Stimmung zum Lebensbund für alles Erschaffene erbittet. Er möge mit Glauben an und in die Liebe Jahwes ein- und zustimmen und dadurch Gott verwirklichen zu gestatten, was aller Welt zum Heil gereicht. So spricht Jahwe ja den Abraham nochmals auf neue Weise an, gleichsam als Vertreter alles und jedes einzelnen Erschaffenen, sein Ja (= Glaube) zur Lebenswunsch-Erfüllungstat Jahwes zu sprechen. Jahwe tut das in einem Ausmaß, wie es noch nie geschehen war. Jahwe bindet sich selbst und liefert sich-selbst aus, in einer bisher noch nie erfahrenen „Intensität“. Das ist sichtbar geworden an dem Auftrag zum Isaak-Opfer an Abraham, der ja dazu aufgerufen war, seinen Erst- und Einziggeborenen und also Einzig-Erben dahinzugeben. Im Nachhinein, also nach dem geschehenen und bekundeten „Verhalten“ und „Handeln“ Gottes im Kreuzesgeschehen ist sichtbar geworden, wie Jahwe selbst in seinem Entschluß zur Dahingabe seines eigenen, einziggeliebten Sohnes für das Leben des bisher sich stets verweigernden Erschaffenen ausliefert. Jahwe „erprobt“, nein erbittet den Glauben des Abraham, und der läßt seinen Sohn ihm durch das Ja Abrahams weiter-leben. Abraham glaubt, und so eröffnet er damit Jahwe den „neuen“ Weg seiner Liebe! Doch die Geschichte, die im Glauben Abrahams und in der Liebe Jahwes neu angesetzt hat, verläuft weiter wie bisher, in wiederholter Verweigerung und neuerlichen Versuchen Jahwes. Dafür ist die Geschichte, in der Jahwe seinen Antrag an Mose zur Herausführung des Gottesvolkes aus Ägypten (das die Sünde „symbolisiert“) hinein in das „gelobte“, d. h. ver5

Hier sei auf den Exkurs „Gott in der Geschichte“ hingewiesen, wo das jetzt Angesprochnen thematisch betrachtet wird. Eine Einsichtnahme ist auch für das hier Folgende dringend notwendig.

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sprochene Land stellen ließ, ein sprechendes Beispiel. Paulus erwähnt das in Gal 3–4 durch den Hinweis auf die Gesetzgebung am Sinai, die spezifisch dem aus Ägypten befreiten Israel, seinem ins Heil führenden Weg unter der Begleitung Jahwes gegeben wurde. Jahwe verhandelt also zunächst nur mit einem Volk, dem ausdrücklich dazu erwählten aus allen Völkern. Doch ist damit letztlich das Heil aller angezielt. Aber auch die Geschichte Israels verläuft weiter wie bisher, aufgrund der Sünde dieses Volkes. Es braucht da nur an die Wegführung ins Babylonische Exil erinnert zu werden, wie auch an die weiteren Versuche Jahwes mittels seiner Propheten. Schließlich – dieses Wort können wir hier aufgrund des Geschehens mit Jesus Christus anwenden, wenngleich es die End-Gültigkeit ja noch nicht hat – beginnt Jahwe nochmals ganz neu, und das in einem „Ausmaß“ und in einer Weise, die alles Denken übersteigt. Die tatsächliche geschichtlich-historische Weise der Durchführung läßt es offenbar werden. Warum zu diesem Zeit-Punkt (den Paulus in 4,4 angibt und der richtig verstanden sein muß)? Dazu kann und muß man antworten: Jahwe tat es so! Mehr oder anderes kann man nicht sagen. Doch man kann und muß auch festhalten, daß das sogar historisch genau zu bekennen ist: „Unter Pontius Pilatus“, womit der „Termin“ der realen Kreuzigung Jesu Christi eindeutig angegeben ist. Paulus bekundet das mit dem unauslotbaren Satz: „Da sandte Gott seinen Sohn, geworden aus der Frau, geworden unter das Gesetz, damit wir die Sohnschaft empfingen“. Was meint hier „wir“ in diesem Satz? Offensichtlich sind im Kontext alle die genannt, die durch die dem Sohn aufgetragene Lebenstat und von daher kraft der „Taufe in Christus“ der Sohnschaft rechtskräftig und definitiv teilhaftig werden können (wenn sie sich der Taufe unterziehen) bzw. schon teilhaftig geworden sind. Mit 3,28 gesprochen sind es alle Menschen, die noch unter fremder Macht standen oder stehen. Denn durch das Getauft-Sein sind alle Unterschiedenheiten unter den Menschen beseitigt, aufgehoben, eben weil alle diese „einer sind in Christus Jesus“ (3,28). Woher aber kam und kommt das Unterworfen-Sein unter die verschiedensten „Mächte“ und daher die Unterschiedenheit des Mensch-Seins, wovon hier die Rede ist? Das wird durch den Rückblick auf Abraham klar. Wir werden zurückverwiesen auf die Geschichte seit dem Ur-Anfang Jahwes und der „Antwort“ des Menschen auf das Angebot der Schöpfungswirklichkeit im Garten Eden (der ja „am Anfang“ die ganze Erde war: Gen 1–2). Diese „Antwort“ war Wider-Spruch zum Lebensangebot Jahwes im Lebensbund mit ihm, mit allen Wirklichkeitsfolgen für den Menschen und für die Erde. Diese Folgen trafen aber, was meist gar nicht beachtet wird, zuerst die Schöpfer-Liebe Jahwes, der ja sich-selbst in die Hand des Menschen geschenkt hat (ohne dabei je an Ausgeliefert-Sein zu denken). Sein Wort, das Jahwe gab, war Zu-Spruch seiner-selbst: JHWH Ich-Bin-Euer/ Dein. Mit Abraham und mit dem Gesetz bzw. mit „Jude oder Grieche, Freier oder Sklave, Mann und Frau“ in 3,28 sind faktisch alle Menschen seit dem (sog.) Sündenfall gemeint, zugleich mit allen Unterworfenheiten und Unterschiedenheiten, die sich der Mensch selbst bereitet hat, jeweils mit den entsprechenden Folgen für alle Nachkommenschaft seit Adam. Das dürfte aus Gal 3,1–4,7 klar hervorgehen. Daher ist 485

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„Sohn, geworden aus der Frau, geworden unter das Gesetz“ so zu verstehen: Gott sandte seinen Sohn als den einen der vielen Gewordenen, denen das Heil eigentlich von Anfang an zugedacht, zugewünscht und zu-gewirkt, also jetzt neu gegeben werden sollte. Als einer der vielen Gewordenen sollte sich der Sohn jetzt, Gott zustimmend, diesem „Werk“ widmen, d. h. dieses sein Geworden-Sein selbst leben, er-leben und – er-sterben! Denn allen war das wahre Leben neu bereitet und angeboten durch Gott, in diesem Jesus Christus. Sie „mußten“ es sich aber geben lassen (jetzt: getauftwerden wollen). Das Ziel der Absicht Gottes war, daß alle Unterworfenheit und Unterschiedenheit zunichte würde und so zunächst wenigstens einer der real im Nein Lebenden das „neuerlich“ angebotene Leben annehme, indem er durch Zu-Stimmung in diesen „neuen“ Lebens-Wunsch Jahwes ein-stimmt und sich geben läßt. Bedenken wir, um was es hier geht! Der Mensch ist Mensch kraft des wirksam-erschaffenen ZuSpruch-Seins durch Jahwe: Gen 1: Ebenbild, ja DU Jahwes, ihm ähnlich. Dieses Zuspruch-Sein ist ihm ja als namentlich-zugesprochenes Sein- und Lebensvermögen zugesprochen, auf daß er sich als Angesprochener erkenne, der namentlich Er-Selbst sein kann, der selbst zu sich selbst Ja sagen kann und, so der Wunsch Jahwes, es auch tue. Der Mensch, das namentliche Amen Jahwes zu ihm, möge zu diesem seinem Amen-Jahwes-Sein selbst Ja sagen, gleichsam sich als Amen Jahwes selbst aus- und zusprechend: Amen Amen! Genau diesem Vermögen wider-spricht der sich-verweigernde Mensch. Da zeigt sich das „eigentlich“ Undenkbare: Der Wider-Spruch muß, um sich-selbst auszusprechen, sich des Zu-Spruchs Jahwes bedienen. Er hat kein Wort zur Verfügung, mit dem er sich-selbst ver-neinen könnte als eben nur das JaWort Jahwes! Er muß Nicht-Ich sagen, weil „nein“ allein wirklich nichts sagt. Das ist die totale In-sich-selbst-Verkehrtheit dessen, der meint, sich-selbst verneinen zu können. Das Nicht-Ja des Menschen als Selbst-Aussage ist das Nichts-seiner-selbst. Ein Un-Ding? Die Sünde hat es fertiggebracht! Das „gibt es nicht“? Der Sohn Gottes wird es und lebt es, und als solcher wird er gesandt, damit alle das Leben haben! Da verstehen wir, was in diesem Sohn Gottes verwirklicht werden mußte und sich tatsächlich verwirklicht hat: Der Sohn Gottes ist gehorsam bis zum Tod am Kreuz, ja zum ImTod-Begraben-Sein. Das spricht Paulus ja schon in der Begrüßung in seinem Brief an die Galater ausdrücklich aus (wie auch immer wieder in allen seinen Briefen): „Paulus, bestellt durch Jesus Christus, der sich für unsere Sünden hingeopfert hat, um uns aus der gegenwärtigen bösen Welt zu erretten, und Gott, dem Vater, der ihn von den Toten auferweckt hat: Gnade euch und Friede von Gott!“. Das bedeutet: Der Sohn hat in und durch sein Von-Gott-gesandt-Sein als Mensch-im-Widerspruch-sein-Gewordener sein Leben selbst führen und leben müssen. Er mußte als dieser So-Gewordene in Zu-stimmung zum Vater („Gehorsam“) das Wider-spruch-Sein, also das Nicht-JaSein in das Tot-Sein hinein leben, um ihm das Sterben zu bereiten und es auch zu vollbringen. Dann, erst dann können die vielen, die im Widerspruch-Seienden und Handelnden, ihre Erlösung finden, ihr Befreit-Werden und -Sein aus allen Unterworfenheiten und Unterschiedenheiten. Erst nachdem dieser So-Gewordene Sohn tot ist, 486

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begraben ist, kann Jahwe (endlich) vollbringen, was er seit allem Anfang versucht hat zu erfüllen: Leben-Schenken im Erfahren der Zustimmung und Annahme, so lange, wie Jahwe selbst lebt und Er-Selbst ist und bleibt: JHWH – Ich-Bin-Euer/Dein. Das alles ist in diesem Brief des Paulus ausgesprochen in dem Satz: „Er war gesandt, damit wir die Sohnschaft empfingen“, dem der unmittelbar mit ihm verbundene Satz „Weil ihr (so) Söhne seid, sandte Gott in unsere Herzen den Geist (dieses) seines Sohnes, der ruft: Abba, Vater“ folgt. Das ist es, weswegen ab jetzt auch die Erlösten Abba, Vater sagen dürfen, können und es auch tun, indem sie jetzt auch zu sich-selbst, im neu-frei-gewordenen Selbst auf Jahwe hin „Amen, ja Amen“ sagen und es auch sind und vollbringen: Amen, und nur noch Amen, solange sie sind. In Gal 4,4 ist besonders hervorgehoben auch gesagt, daß der Sohn „unter das Gesetz geworden“ ist. Das bedeutet sicher die konkrete Weise des Jude-Seins. Dies Israelit-geworden-Sein erforderte vom Sohn somit die dem Israeliten aufgetragene spezifische Lebensführung in der Befolgung der Gesetze. Davon wird in den ntl. Texten vielfach berichtet. Die Implikationen dieses Sachverhaltes sind offenkundig; sie hier jetzt im einzelnen aufzuführen erübrigt sich. Ein anderes aber muß jetzt doch noch betont gesagt werden, gerade auch wegen mancher Kommentar-Aussagen zu Gal 4,4. Im Gal-Brief und speziell in 3–4 wird ja von einem „werden“ bzw. „geworden sein“ gesprochen, den gesendeten Sohn betreffend, was sich dort als sehr bedeutungsoffene Wendung erweist (z. B. „geworden aus der Frau, geworden unter das Gesetz“). Es wird nicht spezifiziert, auch im Kontext gelesen, vor allem nicht in der Frage, wer oder was dabei aktiv bzw. passiv beteiligt war oder ist, auf daß dieses Werden bzw. Geworden-Sein Wirklichkeit sei. Das Verb „werden“ hat ja, wie wir schon öfter feststellen und beachten mußten, eine eigentümliche Offenheit der Aussage, so daß oft unklar bleibt, was genau von wem getan oder gewirkt wurde bzw. von wem her es geschehen ist, daß überhaupt von einem Werden oder Geworden-Sein die Rede sein kann oder muß. (Im Deutschen wird „werden“ auch als Hilfsverb eingesetzt, zur Angabe des Futur-Aktiv wie andererseits in den Tempora des Passivs.) So erscheint es z. B. unangebracht, für Gal 4,4 vorschnell die Begriffe „Menschwerdung“ oder „Inkarnation“ für das dort vorfindliche „geworden“ (geno,menon) zur näheren Erklärung heranzuziehen (noch abgesehen davon, ob diese Begriffsbildungen selbst überhaupt berechtigt sind). Für Ga 4,4 gilt sicher, daß die Offenheit belassen bleiben muß. Erst die Zusammenschau mit anderen ntl. Texten ermöglicht (vielleicht) eine eindeutige Einsicht. Es ist ja gerade die Frage nicht zu umgehen, ob und wie das Senden des Vaters als dieses mit dem dortigen zweimaligen „geworden“ zusammengehört: Wer hat dieses „geworden“ bewirkt, der Sendende? Und: Was ist gegebenenfalls mit-angesagte zeitliche oder sachlich-logische Folge in diesem Beisammen von „senden“ und zweimaligen „geworden“? Oder ist „senden“ eines, das Bewirken von „geworden“ ein anderes? Wir werden in unserer Zusammenschau aller einschlägigen ntl. Texte, die auf irgendeine Weise von der Herkunft Jesu Christi sprechen, zu erkennen versuchen, was hier zu antworten ist. Darauf sei hier verwiesen. 487

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c) Röm 8,3–4. – Dazu auch 8,12.14–17.28–30.32.37–39

Der Text lautet: „Denn was das Gesetz nicht vermochte, worin es schwach war, durch das Fleisch – Gott sandte seinen Sohn in der Gestalt (evn o`moiw,mati) des Fleisches der Sünde (sarko.j a`marti,aj kai. peri. a`marti,aj) und verdammte die Sünde im Fleisch (kate,krinen th.n a`marti,an evn th/| sarki,), damit der Rechtsanspruch des Gesetzes durch uns erfüllt werde, die wir nicht nach Maßgabe des Fleisches, sondern des Geistes wandeln“. Dann: „Wir sind also, Brüder, nicht dem Fleische verpflichtet, dem Fleische gemäß zu leben. Denn welche sich vom Geiste Gottes führen lassen, die sind Söhne Gottes. Ihr aber habt nicht den Sklavengeist empfangen, so daß ihr wieder Angst haben müßtet, sondern ihr habt den Geist der Sohnschaft empfangen, in welchem wir rufen: Abba, Vater! Der Geist selbst bezeugt unserem Geist: Wir sind Kinder (te,kna) Gottes. Wenn aber Kinder, dann auch Erben, Erben Gottes, Miterben Christi, wenn wir auch mitleiden, damit wir auch verherrlicht werden … Wir wissen aber, daß Gott denen, die ihn lieben, alles zum Guten wirkt, denen, die nach seinem Ratschluß Gerufene sind. Denn die er zuvor erkannt hat, die hat er auch verherrlicht … Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern für uns alle dahingegeben. Wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken (cari,setai) … Doch alles das überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin überzeugt: weder Tod noch Leben, weder Boten noch Herrschaften, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, noch Kräfte, weder Höhe noch Tiefe, noch irgend eine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes in Christus Jesus, unserem Herrn“. In Röm 8,3 ist wieder von „Gottes Senden seines Sohnes“ (o` qeo.j to.n e`autou/ ui`o.n pe,myaj) die Rede, wieder wie in Gal 4,4 ohne direkte Angabe, zu wem er sendet, doch wieder mit einem bemerkenswerten Zusatz sowie mit der Angabe, wozu er den Sohn sendet. Der Sendende ist Gott; durch „seinen Sohn“ ist er als Vater verstanden. Der Sohn wird im unmittelbaren Kontext „Jesus Christus“ genannt. Die Zusatzbemerkung „in der Gestalt des Fleisches der Sünde wegen der Sünde“ ist voll zu werten. „Gestalt“ ist hier als „Gleichheit“, „Selbigkeit“, „Gleichbild“ zu verstehen, womit entschieden mehr ausgesagt ist als nur ein Vergleich („ähnlich“ im Sinne „ein anderes“, aber doch ein „gleich wie“ ansagen soll). Hier ist auf Grund des Kontextes ein wesentliches Gleich-Sein angesprochen, dessen Wesenskern nur aus dem Kontext eindeutig bestimmt werden kann. Die Formel wird ja sogleich nochmals für das Wozu dieser Sendung, nämlich „th.n a`marti,an evn th/| sarki,“, so daß „Sündenfleisch“ wohl am ehesten das Richtige sagt, wenn klar ist, was die Wendung bei Paulus aussagt. Jedenfalls ist das, wohinein der Sohn gesandt ist (3b), das, was verurteilt werden sollte und wurde. Es kann damit durchaus das gemeint sein, was der Widerspruch zur Schöpfungstat, die sog. Ur-Sünde, an realer Wirkung für alle Welt eingebracht hat. Gegen diese „Welt des Widerspruchs“, die „Macht der Sünde“ wendet sich Gott seit dem Anfang seines Heil-bringen-Wollens. Davon berichten die Schriften des AT immer wieder. Von daher versteht sich somit der Auftrag des Vaters an dem Sohn in 488

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seinem Senden: Das Im Fleisch-der-Sünde-Sein aller Welt sollte er selbst er-leben, ertragen sein Leben lang, und es so auch durch sein Voll-bringen er-sterben, d. h. bis in den Tod und ins Tot-Sein hinein erfüllen. Damit würde durch diese Gottes-Tat dem Fleisch-der-Sünde und dem darin Leben-Müssen das wahre Ende bereitet. Nach diesem voll-brachten Sterben dieses gesandten Sohnes konnte eben dieser tote und begrabene Sohn aufgenommen werden in die Leben-schenkende Hand Gottes des Vaters: Auferweckung zum ewigen Leben (8,2.11). Das wird in 8,14–22 noch näher zu verstehen gegeben. Von daher ist dann auch klar, was Paulus in 8,14–22 aussingt: „Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben. Wer sollte uns trennen von der Liebe Christi? … Wir überwinden alles weit durch den, der uns geliebt hat … Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes in Christus Jesus, unserem Herrn“. Wir beachten auch wieder und nachhaltig das Wort von der Liebe Gottes und Christi, die für alles Urgrund und Begründung ist, was uns in ihr und aus ihr zuteil geworden ist und unbegrenzt zuteil wird. Dann haben wir die Aussage in Röm 8 richtig verstanden – und verbleiben wir in bleibendem Erstaunen und Dank-Sagen. Dazu können wir hier auch ausdrücklich auf 2 Kor 5,18–21 hinweisen: „Das alles kommt von Gott. Er hat uns durch Christus mit sich versöhnt; er rechnet ihr die Sünden nicht mehr an … Gott hat den, der von Sünde nichts wußte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir durch ihn vor Gott gerechtfertigt werden“. d) Abschließende Bemerkungen zu den Sendungstexten

Die bisher besprochenen Texte sprechen alle vom Senden des Sohnes durch Gott, den Vater. Wir haben gesehen, daß in den einzelnen Beispielen der Bedeutungssinn von „senden“ hinreichend deutlich erkennbar ist. An Gal 4,4 haben wir erkannt, daß ein Text durchaus auch Fragen aufwirft. Wir haben das für Gal 4,4 deutlich gemacht und dabei auf spätere Abschnitte unserer Untersuchung verwiesen. Allgemein ist zu sagen, daß gerade die spezifische Frage, nämlich was genau und wie Gott das Senden „gewirkt“ oder „bewirkt“ hat und welche „Wirkung“ das gegebenenfalls spezifisch Genannte für das Sein bzw. für die Seinsweise des Gesendeten hatte, offen bleiben muß oder nur durch Rekurs auf andere Texte festgestellt werden kann. Es bleibt im Grunde nur zu sagen: Der Ausdruck „senden“ hat seine eigentümliche Offenheit, die es an jeder Stelle zu sehen und zu werten gilt. In den vorgelegten Texten wird durch den Einsatz des Wortes „senden“ auf diese Weise vom „Beginn“ (wenn wir es so formulieren dürfen) des spezifischen Wirkens Jesu Christi für das Heil der Welt gesprochen, nämlich wie Gott sein heilsgeschichtliches Wirken in Jesus Christus einsetzen läßt. Von Seiten des erlösungsbedürftigen Menschen her gesehen tritt die Geschichte des Lebensbundes Gottes mit allem Erschaffenen in eine neue, entscheidende Phase, und zwar hier auf Erden, unter uns. So kennt diese Geschichte auch angebbare Zeit- und Ortsbestimmungen, die gleichsam von datumsmäßigen Fakten-Vorgängen sowie von den anderen beteiligten Personen und Konstellationen Kunde bringen, in 489

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bzw. mit denen Gott sein Heilswirken erfahrbar vollbracht hat. Das ist im Falle von „senden“ selbstverständlich. Denn „senden“ spricht immer notwendig von einem Sendenden, von einem „Zeitpunkt“ und von einem Gesendeten, wie auch von einem „woher“ und „wohin“ wie „zu wem“ und „wozu“. In den bisher besprochenen Texten ist stets Gott als Sendender bzw. Wirkender genannt, insofern er einen anderen mit entsprechendem Auftrag sendet. Im Falle der Sendung Jesu Christi wird unübersehbar deutlich von einem vorliegenden innigen „Verhältnis“ des Sendenden zum Gesandten gesprochen, was für „Sohn“ klar ist. Es ist ungemein aufschlußreich, das Vorkommen von „senden“ in Bezug auf Jesus Christus in einem Überblick zusammenzuschauen. Dazu seien folgende Stellen aufgeführt und, wo es sinnvoll erscheint, Bemerkungen dazu gegeben; meistens sprechen die Texte für sich selbst deutlichst aus, was beachtet sein will. Im MtEv begegnet nur eine Stelle, in der Mahnung Jesu für bestimmte Lebenssituationen: Mt 10,40: „Wer euch aufnimmt, nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat“ (ähnlich Lk 9,48 par; und 10,16 par). – In Lk 4,43 findet sich diese bemerkenswerte Stelle: „Er entgegnete ihnen: Auch den anderen Städten muß ich die frohe Botschaft bringen; denn dazu bin ich gesandt“. Im Gleichnis von den Winzern spricht Jesus etwas aus, das wir schon in Joh 8,16f erkannt haben; es klingt wie ein ausdrücklich dafür erzähltes Gleichnis. Die Pächter mißhandeln die schon zuvor gesandten Knechte des Besitzers; „da sprach der Herr des Weinbergs: Was soll ich tun? Ich will meinen Sohn, den Geliebten, senden; vor ihm werden sie wohl Achtung haben. Als ihn die Pächter sahen, überlegten sie miteinander und sagten: Das ist der Erbe; wir wollen ihn töten, dann ist das Erbgut unser. Sie warfen ihn aus dem Weinberg hinaus und töteten ihn. Was wird nun der Herr des Weinbergs mit ihnen tun? Er wird kommen und diese Pächter zugrunde richten und den Weinberg anderen geben“ (Lk 20,9–16). Sehr bedeutsam dann auch Lk 24,49: „Ihr seid Zeugen davon (d. i. das Paschageschehen). Seht, ich sende die Verheißung meines Vaters auf euch herab. Bleibt in der Stadt, bis ihr mit der Kraft von oben ausgerüstet seid“. – Im JohEv gibt es eine Fülle der Vorkommen von „senden“ in Bezug auf Jesus Christus, und das in einer ganz typischen Redeweise. Wir bringen die wichtigsten Stellen. In Joh 1,33 heißt es: „Ich kannte ihn nicht. Aber der mich mit Wasser zu taufen gesandt hatte, sprach zu mir: Auf wen du den Geist herabsteigen siehst, der ist es, der mit dem heiligen Geist tauft“ (so Johannes der Täufer dort). Alle anderen Stellen sprechen von der Sendung des Sohnes. So 5,23f: „Alle sollen den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren. Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt auch den Vater nicht, der ihn gesandt hat.“ Dann 5,30: „Ich richte, wie ich höre. Mein Gericht ist gerecht; denn ich folge nicht meinem Willen, sondern dem Willen dessen, der mich gesandt hat“. Dazu: 5,36–37: „Ich habe ein Zeugnis, das höher steht als das des Johannes: Die Werke, die der Vater mir zu vollbringen gegeben hat, ja eben die Werke, die ich vollbringe, geben Zeugnis von mir, daß der Vater mich gesandt hat. So hat der Vater, der mich gesandt hat, für mich Zeugnis abgelegt“: Bemerkenswert, wie hier von der Einheit von Vater und Sohn und deren „Verhältnis“ zueinander die Rede 490

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ist. Das zeigt sich auch an weiteren Stellen immer wieder. So 6,29: „Jesus antwortete ihnen: Das ist das Werk Gottes, daß ihr an den glaubt, den er gesandt hat …“; und 6,38f: „Ich bin ja nicht vom Himmel herabgekommen, um meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. Das aber ist der Wille dessen, der mich gesandt hat, daß ich von all dem, was er mir gegeben hat, nichts verloren gehen lasse, sondern es auferwecke am Jüngsten Tag“ (ebenso heißt es in 6,40.44). Ähnlich eindringlich in 7,16.18.27–29.33; 8,16.26; 9,4; 11,42. Das Kapitel 12 bekundet Ähnliches, bes. 44–45.49: „Jesus verkündete laut: Wer an mich glaubt, der glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat. Ich bin in die Welt gekommen, damit niemand, der an mich glaubt, in der Finsternis bleibe … Denn ich habe nicht aus mir selbst geredet, sondern der Vater, der mich gesandt hat, hat mir geboten, was ich reden und verkünden soll. Und ich weiß, sein Gebot ist ewiges Leben. Was ich also rede, das rede ich so, wie der Vater mir geboten hat“. In 13,20: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer einen aufnimmt, den ich sende, der nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat“. Ähnlich in 14,24.26. in 15,21.26: „Aber all das werden sie euch antun um meines Namen willen, weil sie den nicht kennen, der mich gesandt hat. Wenn aber der Beistand kommt, den ich euch vom Vater senden werde, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, so wird er Zeugnis von mir geben“. In den Versen 17,8,12.21.23.25 wiederholt sich diese markante Sprechweise Jesu bei Johannes. Wir bemerken, in welch großer Innigkeit vom Vater und dem Sohn und dem Geist und ihr ständiges Miteinander die Rede ist. Das haben wir hier zunächst nicht weiter zu besprechen; es ist aber sicher unbedingt zu beachten, wenn wir das „Senden“ richtig und voll verstehen und einsehen wollen. – Neben diesen johanneischen Texten begegnet im Grunde nur noch in Gal 4,4.6 diese Redeweise vom Senden des Sohnes durch den Vater. Wir haben diese Stelle oben schon intensiv besprochen; darauf kann hier zurückverwiesen werden.

2. Texte, in denen Jesus Christus das Subjekt der Aussage ist a) Phil 2,5–9

Der Text lautet: „Christus Jesus. Er, in (der) Gestalt Gottes seiend (o]j evn morfh/| qeou/ u`pa,rcwn), erachtete sein Gott-gleich-Sein (to. ei=nai i;sa qew/|) nicht als Selbstsüchtigfür-sich-Festzuhaltendes, sondern er entäußerte sich-selbst Knechtsgestalt annehmend; im Gleichbild der Menschen geworden (evn o`moiw,mati avnqrw,pwn geno,menoj) und in der Erscheinung als Mensch erfunden (gefunden) (kai. sch,mati eu`reqei.j w`j a;nqrwpoj) erniedrigte er sich-selbst, gehorsam geworden (geno,menoj u`ph,kooj me,cri qana,tou) bis zum Tod, ja Kreuzestod“. Darum hat ihn Gott auch überaus erhöht und ihm den Namen, der über jedem Namen (ist), geschenkt“. 491

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Wir haben den Text Phil 2,5–11 im entsprechenden Kapitel „Neutestamentliche Texte zur Herkunft Jesu Christi“ schon eingehend besprochen. Dabei haben wir erkannt, daß gerade zu diesen Text in den Kommentaren unterschiedlichste Auffassungen und Verstehenserklärungen vorgelegt und diskutiert werden, wozu wir dort auch Stellung genommen haben. Darauf können wir hier hinweisen; es ist nämlich wichtig, das dort Ausgesagte jetzt genau zu beachten. Wir heben jetzt das heraus, was der Text selbst klar und hinreichend deutlich ausspricht. Von der Herkunft Jesu Christi wird in Phil 2,5–11 nicht eigentlich ausdrücklich und thematisch gesprochen. Es ist vielmehr von dem persönlichen Werden dessen die Rede, dem, so der Text grundlegend, die Gottesgestalt eignete (welcher Ausdruck sogleich auch Gott-gleich-Sein genannt wird). Es wird hymnisch-erzählend angegeben, was dieser in dem dort genannten Geschehen aus freiem Ermessen vollbracht hat, was faktisch vom Heilsgeschehen kündet. Das, und zunächst nur das betrachten wir hier. Alle weiteren berechtigten oder auch verfehlt interpretierenden Überlegungen, zumal zu den im Text verwendeten Ausdrücken und Begriffen, seien sie nun eher philosophischer, ontologischer Art oder theologische Aufschließungen, lassen wir jetzt bewußt beiseite. Der Text soll, wie ihn Paulus im Anliegen seines Briefes an die Philipper vorbringt, zunächst selbst sprechen. Es ist angeraten, dazu unsere oben genannte Besprechung von Phil 2 stets zu Rate zu ziehen. Wir werten jetzt unsere dortigen Ausführungen aus, vor allem was sie zur Frage der Herkunft Jesu Christi aussagen. Der Text spricht ja in hymnischer Sprache von dem, was geschehen ist. Dem Paulus-Text liegt ein Hymnus vor, den er für den Zweck seines Briefes an die Philipper in seiner eigenen Sprache verwendet. Wozu der (Erst)Dichter selbst diesen Lobpreis abfaßte, wissen wir nicht. Jedenfalls gilt: Er doziert nicht; er bringt keine kerygmatisch gemeinte und zu verstehende Aussage, so wie er auch keinen Missions-Text zur Erstinformation seiner Hörer über das christliche Glaubensgut ausspricht. Er singt vielmehr sein Lied. Die „Inhalte“ selbst waren wohl schon allgemein das christliche Glaubensgut, die wahrscheinlich in den Gemeindegottesdiensten ihren Platz hatten und der Sache nach Bekanntes ins preisende Wort brachten. Dementsprechend ist auch die Wortwahl des Dichters zu werten. Sie entspricht wohl der Weise des damaligen religiösen Sprechens in der Gemeinde. Ob sie aus einem jüdisch-christlichen Denk- und Sprachbereich stammen oder ob die Wortwahl schon ausgesprochen hellenistische oder noch andere Einflüsse zeigt, können wir hier als Frage auf sich beruhen lassen. Daher heben wir hier zunächst das heraus, was der paulinische Text klar erkennbar aussagen will und tatsächlich aussagt, und zwar spezifisch zur Herkunft Jesu Christi. Paulus spricht (wie wohl der zuvor liegende Hymnus) in 2,6 erkennbar vom Beginn des Geschehens des Auftretens Jesu Christi in der Geschichte Israels und daher der Welt. Die (hymnische!) Erzählung weist gleichsam eine Abfolge dessen auf, was sich ereignet hat, jedenfalls in der Lebensgeschichte Jesu Christi selbst. Es wird in gewissem Sinn eine Aufeinanderfolge von Bestimmtem benannt, und zwar mittels des Aorists. Einzelnes wird mit „Zeit“-Angaben versehen, was wann geschah und so geworden war, von 492

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vielen Menschen erfahren oder sogar mit-erlebt. Das zeigt auch die Eigenart des Einsatzes der grammatischen Tempora, die genau beachtet sein will. Vers 2,6 beginnt mit der Benennung dessen, von dem gesungen wird: „ER, der in Gottesgestalt Seiende …“. Aus dem unmittelbaren Kontext ist klar, daß Jesus Christus gemeint ist. Dabei muß beachtet bleiben, daß die Verwendung dieses Namens überhaupt bei Paulus eindeutig ist, auch wenn „Jesus Christus“ gelegentlich nur „Jesus“ oder nur „Christus“ (wie auch „Christus Jesus“) genannt wird. Im Phil-Brief ist „Jesus Christus“ letztlich immer im vollen Aussage-Sinn verstanden und nie unterscheidend, etwa zwischen dem (sog.) „Menschen Jesus“ als dem „irdischen Jesus“ und dem „himmlischen Jesus“ u. ä. Daher verbleiben wir hier bewußt bei dem puren „ER“, wie es in 2,6 lautet. Der ganze Hymnus spricht nur von „IHM“. Der Name selbst war in 2,5 genannt. Auch noch in 2,9 heißt es, daß „IHM der Namen gegeben wurde, der über alle Namen ist“. Es wird dann in 2,6 sogleich im Aorist weitergesprochen: „Er erachtete …“; es wird Geschehenes „berichtet“. Im Satzteil, der mit „er erachtete …“ anhebt, wird der als „in Gottesgestalt Seiender“ Bezeichnete sogleich auch „Gott-gleich-Seiender“ genannt; beide Wendungen meinen den/dasselbe. Es wird vom „Gott-gleich-Sein“ (eine andere, dasselbe bedeutende Wendung für „in Gottesgestalt Seiender“) gesprochen. Auf dieses Gott-gleich-Sein bezieht sich die Aussage über die Gesinnung, aus der und in der ER gehandelt hat: ER erachtete es nicht als Selbst-süchtig-Festzuhaltendes-undEinzuforderndes; er tat vielmehr etwas gänzlich Unerwartetes: „ER entäußerte sichselbst Knechtsgestalt annehmend“. Wieder ist der Aorist gesetzt; also wird von Geschehenem gesprochen. Das „sich-selbst entäußern“ ist sogleich durch „Knechtsgestalt annehmend“ genau bestimmt. Dieses steht im Partizip Präsens und gehört damit zur Aorist-Aussage. Das Sich-Entäußern ist daher nicht als ein in sich selbst stehendes und sich erklärendes „Tun“ zu werten, etwa als „sich aufgeben“, „auf sich gänzlich verzichten“, als „weg-geben“ oder „ganz ablegen“ u. ä., wie es in den Kommentaren sehr oft behauptet wird. Es ist vielmehr auf die beigegebene Partizip-Aussage zu achten, die ja deutlich sagt, was ER als und im „sich-selbst entäußern“ getan hat: „Knechtsgestalt annehmend“. Man kann, was hier in 2,7 ausgesprochen ist, durch eine übliche deutschsprachige Wendung so formulieren: „selbstlos“, „sich-selbst vergessend“ tat ER dieses Annehmen-der-Knechtsgestalt. Damit ist nicht gesagt, er habe sein währendes bewußtes (Partizip Präsens!) Sein verleugnet und durch ein gänzlich anderes, gar gegensätzliches Sein ersetzt, das eine also mit dem anderen eingetauscht. Bedenken wir doch: Wenn wir (in unserer Sprache) in einem bestimmten Fall von einer Mutter sagen, sie habe sich selbstlos, ihrer-selbst vergessend ihrem kranken Kind gewidmet, dann sagen wir doch: sie bestätigt und verwirklicht in diesem Sichdem-Kind-Widmen ausdrücklich ihr Mutter-Sein; sie bleibt Mutter und tut jenes nicht irgendwie „nebenbei“ auch! Es wird damit nicht gesagt, daß sie sich-selbst aufgibt, auf ihr Mutter-Sein verzichtet, um des Dienens willen. Genau das ist auch in 2,6f von Jesus Christus gesagt! Der Gott-gleich-Seiende nahm die Knechtsgestalt als erselbst, in und mit seinem Sein an, er machte sie sich zu eigen, so daß er-selbst Knecht 493

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wurde und, wie es sogleich 2,7 bekundet wird, es sein Leben lang war und blieb: bis zum Tod! ER vollbrachte das in der in 2,6 genannten Gesinnung: selbstlos, sich-selbst vergessend, was aber gerade sagt: ER tat und wurde es selbst (so wie es im Beispiel der Mutter formuliert wurde). Die Knechtsgestalt lebte er nicht „nebenbei“, gar als Schauspieler. Der Annahme-Akt war und ist kein Einzelakt, so daß von ihm im Präteritum zu reden wäre. Vielmehr nahm der Gott-gleich-Seiende gleichsam zusätzlich, aber in voller Realität das Sein des Knechtes an. Denn, so 2,7–8, so wurde er „erfunden“, erlebt und erfahren.In diesem Währen der Knechtsgestalt (mit allem, was es ist und bedeutet!) wird ausdrücklich gesagt: „bis zum Tod, ja Kreuzestod“:6 Damit ist doch offensichtlich die ganze Lebensgeschichte Jesu Christi bezeichnet (wobei hier in Phil 2 nicht mit-erzählt werden muß, was nach dem Tot-Sein Wirklichkeit wurde). Das alles singt der Hymnus aus, nicht als ontologische Feststellung, die ihrem SachInhalt nach zu diskutieren wäre, sondern als von diesem Lebensereignis höchst begeistert, so daß eben gesungen werden muß. Die Aussage der Annahme der Knechtsgestalt spricht neben dem „annehmen“ von etwas, das so vorlag, daß es angenommen werden konnte, als etwas Vorhandenes, Bestehendes. Die Wendung „Knechtsgestalt“ entspricht der in 2,6–7 genannten „Gottesgestalt“, indem beide Male morfh, eingesetzt wird. So entspricht auch das Gott-Sein dem Knecht-Sein (beides wird dort genannt). Was hier dou/loj genau meint, wird seitens der Exegeten intensivst diskutiert. Es dürfte durch die weiteren Angaben in 2,7–8 eine erste gültige Deutung finden können. Denn dort ist angegeben, wer/was in und von Jesus Christus erlebt und erfahren wurde, so daß man davon Kunde zu geben in der Lage war: Mensch unter Menschen (evn o`moiw,mati avnqrw,pwn geno,menoj), „im äußeren Erscheinungsbild (was hier nicht „Äußerlichkeit“ oder „dem Schein nach“ bedeutet!) wie (jeder) Mensch, der sich-selbst erniedrigte, bis zum Tod am Kreuz“. Das ist hier (im Hymnus wie bei Paulus) ganz konkret von Jesus Christus gesagt. Im Blick auf andere, entsprechende Paulus-Aussagen können wir sogleich feststellen: Er wurde nicht einfach „ein Mensch“, wenn damit die philosophisch verstandene Menschen-Natur gemeint sein soll. Denn er wurde „einer von uns“, nämlich den mit ihm zur gleichen Zeit lebenden und wirkenden Menschen. Damit ist bei Paulus eindeutig der erlösungsbedürftige Mensch zu dieser Zeit „unter Augustus“ angesagt, der (um mit einem heutigen theologischen Fachausdruck zu sprechen) erbsündlich belastete und verunstalte Mensch, der des Todes ist. 6

Als Beispiel einer ungerechtfertigten Aussage sei diese Stelle aus dem Phil-Kommentar von J. Gnilka aufgeführt: „Wenn also schon e`auto.n evke,nwsen die Menschwerdung bezeichnet, stellt sich die Frage, wie diese gedacht ist. Der Gegensatz, der die VV 6 und 7 bestimmt, läßt nur die Antwort zu: Er gab auf, was er besaß. Gott wurde Mensch! Die Trennung, die zwischen der Welt Gottes und der der Menschen existiert, konnte nur durch diesen Schritt überbrückt werden. Dabei muß nochmals gesagt werden, daß es dem Lied nicht darum geht, zu den ‚Naturen‘ Christi im Sinne späterer Dogmatik Stellung zu nehmen, daß es vielmehr die Inkarnation des Gottwesens aussagt. Diese Aussage würde durch die Annahme nur eines Wechsels der Erscheinungsweise verflüchtigt werden“ (118). –

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Wir müssen uns vor Augen halten (was stets vergessen wird), daß es ja nach der UrSünde den Menschen, wie ihn Gott ursprünglich gedacht und erschaffen hat, gar nicht mehr gab noch gibt; alle sind zutiefst im Mensch-Sein verunstaltet. Paulus spricht daher in Röm 8,2f dieses aus: „Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus hat dich vom Gesetz der Sünde und des Todes frei gemacht. Was nämlich das Gesetz des Fleisches nicht vermochte, weil es wegen des Fleisches schwach war, das tat Gott. Er sandte seinen eigenen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der Sünde willen und verurteilte dadurch die Sünde im Fleisch“. Das dürfen und müssen wir auch als in Phil 2 Gesagtes herauslesen und –hören, zumal auch hier vom Tod Jesu die Rede ist, in den hinein Jesus Christus im Gehorsam lebte. Damit ist zum Ausdruck „Knechtsgestalt“ in seinem Seins-Verständnis hinreichend Klares angegeben. Weiteres können und müssen wir hier entsprechend offen-halten; andere ntl. Stellen geben weitere Auskunft, auf die wir am gegebenen Ort eingehen. Wir stellen für jetzt aber auch fest, daß hier nicht gesagt wird, „woher“ Jesus Christus diese Knechtsgestalt „genommen“ hat, „wo“ sie ihm vor-lag, so daß er sie annehmen konnte. Auch wird nicht näher erklärt, durch was für ein eigenes „Tun“ Jesu Christi dieses „annehmen“ vollzogen wurde, was also geschehen ist und wie er sich diese Knechtsgestalt zu eigen machte. Auch hier müssen wir es bei dem verwendeten Verbum bewendet sein lassen, wenngleich die Frage bedeutsam ist und beachtet bleiben muß. Wir werden darauf zurückkommen müssen, wenn alle einschlägigen ntl. Aussagen zur Weise der Herkunft Jesu Christi zusammengeschaut werden und in ihrem jeweils eigenen Sinn miteinander „harmonisiert“ werden sollen. b) Joh 1,14 (im Kontext 1,1–18)

Der Text lautet: „Im Anfang war (h=n) das Wort, und das Wort war (h=n) bei Gott, und Gott war (h=n) das Wort. Dieses war (h=n) im Anfang bei Gott. Alles ist durch es geworden (evge,neto), und ohne es ist nicht eines geworden, das geworden ist (evge,neto ouvde. e[n o] ge,gonen). In ihm war (h=n) (das) Leben, und das Leben war (h=n) das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet (Präsens) in der Finsternis … Es (d. i. das Wort) war (h=n) das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der in die Welt kommt. Es war (h=n) in der Welt, und die Welt ist durch es geworden (evge,neto) und die Welt erkannte es nicht … Und das Wort ist Fleisch geworden (kai. o` lo,goj sa.rx evge,neto) und es hat unter uns gewohnt (evskh,nwsen evn h`mi/n) und wir haben seine Herrlichkeit (do,xa) geschaut, die Herrlichkeit als des Einziggezeugten vom Vater, voll Gnade und Wahrheit“. Wenngleich wir in diesem Abschnitt nur Joh 1,14 betrachten wollen, so haben wir doch den ganzen Kontext 1,1–5a.9–10.14 zitiert. Denn 1,14 kann nur dann richtig verstanden werden, wenn es in seinem genuinen Zusammenhang im Text gelesen wird. Wir verweisen auf unsere ausführliche Besprechung des Textes im obigen Abschnitt „Neutestamentliche Texte zur Herkunft Jesu Christi“; dort sind wichtige Erkenntnis495

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se gewonnen worden, die wir hier zugrunde legen. Der Text 1,14 ist von äußerster Kürze und auf den ersten Blick scheinbar problemlos verständlich, was freilich nicht der Fall ist. Das zeigen schon die recht unterschiedlichen Deutungsvorschläge in den Kommentaren, wie wir feststellen mußten. Daher sei dieses hier gesagt: In 1,14 wird in Bezug auf den Logos offensichtlich eine Aussage im Aorist gebracht, womit ein Ereignis, nicht ein währendes Sein oder dauerndes Geschehen ausgesagt wird. Dieser Aorist ist hier in 1,14 nachdrücklich für den Logos, gesetzt, über den zuvor in 1,1– 5a.91.10 Aussagen im Imperfectum durationis (so M. Zerwick, Analysis 211) gebracht wurden. Dieses Imperfectum-Tempus gibt bekanntlich neben dem (scheinbaren) Präteritum (Vergangenheitsform) einen (bleibenden) Ist-Zustand an. Das im Deutschen meist nur mit „war“ wiedergegebene h=n muß als „war und ist“, also während verstanden werden, was für 1,1–14 offenbar gilt. Das bedeutet: Alle zuvor ausgesagten Angaben zum Logos in 1,1–5a.9.10 haben als präsentisch-währende Tatsache/Wirklichkeit zu gelten für den Logos, über den in 1,14 eine im Aorist ausgesprochene Ereignis-Angabe gemacht wird (evge,neto). Der, von dem zuvor gesagt wird, daß er im Anfang ist, bei Gott ist, Gott ist, durch den alles Gewordene geworden ist (evge,neto), in dem das Leben ist, das das Licht der Menschen ist und das in der Finsternis leuchtet (Präsens!), der das wahre Licht ist, das jeden Menschen erleuchtet (fwti,zei), der in die Welt kommt, der (d. i. der Logos) in der Welt ist und die Welt durch ihn geworden (Aorist) ist und den die Welt nicht (an)erkannte, der ist es, der Fleisch geworden ist (Aorist; also ereignishaft). Erst wenn man das (alles) voll gelten läßt und auswertet, kann die Aussage in 1,14 richtig gelesen und ausgelegt werden. Im Kommentar zum Joh-Ev von R. Schnackenburg ist die Bekundung 1,14 total verfälscht gelesen und interpretiert. Das sei hier beispielhaft ausführlich zitiert, weil daran Typisches der Kommentar-Aussagen offenkundig wird. Zu 1,14 heißt es: „In unüberhörbarer Paradoxie wird gesagt, daß der an Gottes Seite weilende (!), mit voller göttlichen Würde bekleidete (!), ganz vom göttlichen Leben erfüllte (!) Logos in die Sphäre des IrdischMenschlichen, des Stofflich-Vergänglichen eintrat (!), indem (!!) er Fleisch wurde. Das ist ein neues (kai, …), einmaliges und einzigartiges Geschehen, ein wirkliches Ereignis (!). Er kommt (!) sogar ins Fleisch, wird Mensch und schlägt sein Zelt unter den Menschen auf. … Das Ereignishafte des wunderbaren Vorgangs (!) der Menschwerdung (!) des göttlichen Logos (!) kommt nach den vielen h=n (VV 1 4 9 10) durch das evge,neto zum Ausdruck … Mit evge,neto wird eine Veränderung (!) in der Seinsweise (!) des Logos angesagt: Vorher war er in Herrlichkeit bei seinem Vater (vgl. 17,5 24), jetzt übernimmt (!) er die Niedrigkeit der irdisch-menschlichen Existenz; vorher war er „bei Gott“ (1,1b), jetzt schlägt er sein Zelt bei den Menschen auf, und zwar in menschlicher Gestalt (!), in der vollen Realität der sa,rx, um nach der Rückkehr (!) zu seinem Vater die Herrlichkeit der himmlischen Seinsweise (!) wiederzuerlangen

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(17,5)“ (241–242).7 Mit solcherart Aussagen ist die Bekundung in 1,14 in ihrem Zusammenhang in Kp. 1 total auf den Kopf gestellt und massiv mißdeutet. Das sei an einigen Aussagen aufgewiesen (wir haben ja im Zitat durch (!) auf vieles aufmerksam gemacht), insofern es die Frage dieses Abschnittes angeht. So wird vom Logos zwar ereignishaft im Aorist gesprochen, jedoch so, daß damit die Ist-Aussagen gerade nicht aufgehoben oder abgelöst würden durch gänzlich anderes. Vielmehr ist doch deutlichst gesagt, daß der Logos, der in der Welt ist und als Licht leuchtet, Fleisch geworden ist. Das hat mit einem Eintreten in diese Welt gar nichts zu tun, noch weniger mit den Aussagen zu „vorher – jetzt – nachher“ oder zur Seinsweise des Logos. Er bleibt, was er ist und wo er ist; er ist etwas geworden, wenn man unbedingt will: „zusätzlich“ zu dem, was er war/ist. Daß dieses in dieser unseren Welt („wir haben geschaut“!) geschehen ist, und zwar offensichtlich zu einer geschichtlich angebbaren Zeit, das spricht gerade nicht aus, daß das währende „in der Welt Sein und als Licht und Wahrheit Erleuchten“ außerhalb von Raum und Zeit dieser Welt erfahrbare Wirklichkeit war und ist. Für die Bibel gibt es keine zwei Welten, die miteinander nichts zu tun haben, die Welt, in der Gott lebt, und die Welt der Menschen!8 Auch die Charakterisierung der Welt, in die der Logos eingetreten sein soll, als „irdisch-menschliche, stofflich-vergängliche Sphäre“, entbehrt jeder sachlichen und sprachlichen Rechtfertigung im johanneischen Text. – Zur Wendung „werden“ in 1,14 (es steht da nicht „wurde“, wie evge,neto oft wiedergegeben wird, sondern „er ist geworden“: Aorist!) ist dies zu sagen: R. Schnackenburg meint in seinem Kommentar, das evge,neto als „das Ereignishafte des wunderbaren Vorgangs (!) der Menschwerdung des göttlichen Logos“ verstehen zu müssen (242). Dem ist zu widersprechen. Wir hatten schon öfter die Eigenart gerade dieses Verbs „werden“ aufmerksam zu beachten. Wird es aktivisch verstanden, kann das „tun“ dessen bezeichnet werden, von dem die Rede ist, meistens im Sinne des Futurs. Passivisch verstanden gibt es das an, was durch des Tun eines anderen zu „erleiden“ ist (Passivform). In 1,14 ist evge,neto aufgrund des Kontextes klar im aktivischen Sinn zu verstehen, da in ihm stets vom Logos in diesem Verständnis gesprochen wird. Es ist die „Tat“ des Logos angesprochen, wobei sogleich hinzugefügt werden muß, daß keine näher erklärende Angabe mit-ausgesagt ist, was genau der Betreffende da „tut“ oder wie, womit oder wodurch er dieses „werden“ vollbringt. Dieses ganz eigentümliche Offensein und -bleiben der Real-Bedeutung des Verbs „werden“ müssen wir in 1,14 zunächst zur Kenntnis nehmen. Der kurze Satz allein gibt jedenfalls keine Auskunft. Sodann: Was meint in 1,14 „Fleisch“? Diese Frage stellt R. Schnackenburg sogleich voreingenommen problematisierend so: „Warum spricht der Logoshymnus vom ‚Fleisch‘-Werden und nicht einfach vom MenschWerden?“ (243). Dazu sagt er dann: „Das absolut stehende sa,rx ist nicht (!) schlecht7 8

Es sei hier zurückverwiesen auf den Abschnitt zu Joh 1,14 in „Neutestamentliche Texte zur Herkunft Jesu Christi“, wo vieles ausführlich zitiert und besprochen wird. Siehe dazu unseren Exkurs „Transzendenz Gottes?“ im Anhang I.

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hin eine Umschreibung für ‚Mensch‘, sondern im joh. Denken Ausdruck für das Irdisch-Gebundene (3,6), Hinfällig-Vergängliche (6,63), gleichsam das Typische rein menschlicher Seinsweise (!) im Unterschied zu allem Himmlisch-Göttlichen, Göttlich-Geistigem … Dagegen ist das Moment des sündigen, zur Sünde neigenden oder der Sünde verhafteten Fleisches (1 Joh 2,16) hier nicht gegeben; Christus im Fleische ist für Joh nicht Repräsentant der adamitischen Menschheit wie für Paulus (Röm 8,3), sondern Heimführer (!) der erdgebundenen Menschen in die himmlische Welt des Lebens und der Herrlichkeit.“ Dazu ist zu sagen: Diese genau und deutlich sein wollenden Auskünfte sind in Wirklichkeit schon eine (mögliche oder auch nicht mögliche) Interpretation des johanneischen Textes. In Vers 1,14 allein bleibt der Ausdruck „Fleisch“ zunächst sehr offen; er kann, wenn auf das ganze JohEv geschaut wird, sicher näher bestimmt werden. Das ist aber hier nicht der Ort dafür; wir fragen ja nach dem Aussage-Sinn des Textes selbst, an betreffender Stelle. Ähnlich ist zu beurteilen, was Schnackenburg zuvor geschrieben hat: „Die Inkarnation, das ‚Kommen im Fleische‘, geschieht (!), um den irdischen Menschen die himmlische Offenbarung und das göttliche Leben zu bringen vgl. 3,31–36). Das ‚Fleisch-Werden‘ des Logos bezeichnet also einen Wendepunkt in der Heilsgeschichte (!), eröffnet eine letzte (‚eschatologische‘) Heilsmöglichkeit für die Menschen; der Weg des Erlösers hinab (!) ins Fleisch und durch das Fleisch (!) empor (!) zur himmlischen Herrlichkeit wird auch zu einem Weg für alle, die sich ihm im Glauben anschließen (vgl. 14,2f 6)“ (242).9 Auch in diesem Text wird eine weiterführende Interpretation, über die Textaussage selbst weit hinausgehend gebracht. Wir verbleiben, das sei abschließend gesagt, hier zunächst bei der unmittelbaren Bekundung in 1,14 und belassen das erkannte Offenbleiben für jede nähere Auskunft hier auf sich beruhen. Wenn wir den Vers 14 voll berücksichtigen, dann sind jedenfalls noch diese aufschlußreichen Angaben unbedingt auch schon zu sehen: Es heißt ja: „er hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des Einziggezeugten vom Vater, voll Gnade und Wahrheit“. Da ist eindeutig klar ausgesagt, wer und was von den Zeitgenossen Jesu Christi erfahren worden ist. Es ist der Logos, der Fleisch geworden ist, unter seinen Zeitgenossen wohnte. Das bedeutet: Er wurde einer von ihnen, d. h. als Mensch wie sie alle. Dazu schaute man auch seine Herrlichkeit, was ja letztlich Gott bedeutet; dieser, in 1,1 als Gott genannte, so wird hier erstmals gesagt, der als der Vater dieses Logos, der Fleisch geworden ist, erkannt und begriffen, der Logos somit als sein Sohn, und zwar als „einziggezeugter“, von dem wir schon gehört haben, daß das „der einziggeliebte“ bedeutet. Dieser Sohn wurde erlebt als „voll Wahrheit und Gnade“, was im JohEv dann sehr viel deutlicher ausgesprochen wird. Damit ist klar, eine welche Fülle an Aussage-„Elementen“ allein in diesem einen Vers als Erlebtes und Begriffenes bekundet ist. 9

Auch hier sei zurückverwiesen auf die ausführliche Besprechung dieses Textes im Abschnitt „Neutestamentliche Texte zur Herkunft Jesu Christi“.

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3. Texte mit Aussagen zu Herkunft Jesu Christ in Mt 1–2 und Lk 1–2 a) Texte aus Mt 1–2

Wir führen nur die Text-Stellen auf, die zur Herkunft Jesu Christi ausdrückliche Aussagen enthalten. Diese lauten (in eigener Übersetzung): 1,1.16.18–25: „Buch der Geschichte Jesu Christi, (des) Sohnes Davids, (des) Sohnes Abrahams. Abraham zeugte den Isaak … Jakob zeugte den Josef, den Mann Marias, aus der geboren wurde Jesus, der Christus Genannte. … Die Herkunft Jesu Christi war so: Als seine Mutter Maria mit Josef verehelicht war, noch bevor sie zusammengekommen waren, fand es sich, daß sie im Schoße hatte aus heiligem Geist. Josef aber, der ein Gerechter war und nicht willens, sie der Öffentlichkeit auszusetzen, wollte sie in aller Stille freigeben. Als er das alles bedachte (im Herzen erwog), siehe da erschien ihm im Traum (der) Bote (des) Herrn, der sprach: Josef, Sohn Davids, scheue (fürchte) dich nicht, Maria, deine Ehefrau, zu dir zu nehmen, weil, wahrhaftig (in der Tat), das in ihr Gezeugte aus heiligem Geist ist. Sie wird einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Jesus geben, denn er wird sein Volk von ihren Sünden erretten. Dies alles aber ist geschehen, damit erfüllt würde das Gesagte vom Herrn durch den Propheten, der spricht: Siehe, die Jungfrau wird im Schoße haben und (den) Sohn gebären, und sie werden (man wird) seinen Namen nennen EMMANUEL, das ist übersetzt: Mit-uns-Gott. Aufgewacht vom Schlaf tat Josef, wie ihm der Bote des Herrn befohlen hatte, und er nahm seine Frau zu sich. Und er erkannte sie nicht, bis die (den) Sohn gebar. Und er nannte seinen Namen JESUS“. 2,1.4.13f.15.19.22b.23: „Als aber Jesus zu Betlehem in Judäa in den Tagen des Königs Herodes geboren war, siehe, da kamen Weise aus dem Morgenland in Jerusalem an … Er versammelte alle Hohenpriester und Schriftgelehrten des Volkes und erkundigte sich bei ihnen, wo der Messias geboren werden sollte … Als die fortgegangen waren, siehe, da erschien (der) Bote des Herrn im Traum dem Josef, der sprach: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten und bleibe dort, bis ich es dir sage. Denn Herodes will das Kind suchen, um es umzubringen. Er aber stand auf … damit erfüllt werde, was vom Herrn durch den Propheten gesagt war, der spricht: Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen. … Als aber Herodes gestorben war, siehe da erschien (der) Bote des Herrn im Traum dem Josef in Ägypten, der sprach: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und zieh in der Land Israel … Als er aber im Traum Weisung erhalten hatte, begab er sich in die Gebiete Galiläas und kam und ließ sich nieder in einer Stadt, die Nazaret heißt, damit erfüllt werde, was gesagt ist durch die Propheten: Er soll Nazoräer heißen“. Aus diesem Text – wir haben alle als relevant erscheinenden Verse aus Mt 1–2 zitiert – heben wir hervor, was in Bezug auf die Frage nach der Herkunft Jesu Christi als wichtig erscheint. Die Formulierung unserer Untersuchungsfrage ist wörtlich aus 499

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Mt 1,18a übernommen. Wir schauen jetzt auf das Festzustellende in ausdrücklichem Rückbezug auf das in unserer eingehenden Besprechung dieses Textes näher Herausgearbeitete, ohne auf alle die dort behandelten Einzelheiten nochmals zurückzukommen und sie neuerlich zu diskutieren. Es ist daher dringend angeraten, jetzt stets das dort ausführlich Verhandelte sich vor Augen zu halten und mitzubedenken. Matthäus beginnt sein Evangelium, das er schlicht die Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams nennt, mit einer damals üblichen Genealogie, die auf Jesus hinausläuft, der (später) Christus genannt wurde (1,1 und 1,16). Aus 1,20 (Josef wird dort ausdrücklich mit „Sohn Davids“ angesprochen) und in Verbindung mit 2,1.6.19 und weiteren Stellen des MtEv ist ersichtlich, daß die in 1,1 genannte Davidssohnschaft (wie die Abrahamssohnschaft) besonders betont wird. Offensichtlich wurde damals von Anfang an besonderer Wert darauf gelegt. Die Genealogie verläuft wie üblich, bis im letzten Glied eine bemerkenswerte Modifikation der sprachlichen Formulierung erfolgt: Für Jesus wird betont herausgestellt, daß er von Maria geboren wurde, die selbst als Ehefrau Josefs bezeichnet wird. Jesus wird damit ausdrücklich als Sohn Davids benannt. Dieser Jesus wurde später, in seinem Leben unter seinen Zeitgenossen, „Christus“ genannt, für damals eine sinn-trächtige Benennung. Eine nähere Spezifizierung dieses Ausdrucks wird hier (noch) nicht gebracht. Diesem so eigentümlich formulierten Vers 1,16 widmet Matthäus sogleich, verständlicherweise, in 1,18–25 eine ausführliche Erklärung. Diese beginnt: „Mit der Herkunft Jesus, dem Christus Genannten, war es so (hat es diese Bewandtnis)“. Diese Erklärung setzt an mit der genauen Angabe des Lebens-Standes von Josef und Maria, die in 1,16 im letzten Glied der Genealogie genannt waren. Beide, so heißt es, waren „verehelicht aber noch nicht zusammengekommen“. Wir haben oben gesehen, daß damit ein genauer Termin des Geschehens angegeben wird, von dem dann in 1,18b gesprochen wird auf eine Weise, die für damalige Hörer problemlos verstanden wurde. Es ist da ja der Zeitraum angegeben, der bei Jung-Verehelichten zwischen dem Tag ihrer Verehelichung und dem Tag der „Heimführung“ (wie es damals hieß) währte, die den Beginn des ehelich-familiären Zusammenlebens bedeutete; das waren ein bis zwei Jahre. Dann folgt der ungemein einfache Satz: „Da fand sich, daß Maria im Schoße hatte aus heiligem Geist“. Wir haben oben schon diese erstaunliche Offenheit und Besonderheit dieser Auskunft ausdrücklich bedacht und diskutiert. Es ist jetzt das genau zu hören, was in diesem Satz so schlicht ausgesagt erscheint, ohne etwas hineinzulegen, was er nicht oder noch nicht sagt: Maria hatte im Schoße aus heiligem Geist. Es wird nichts Weiteres dazu gesagt, was man eigentlich erwarten oder sich ausdenken möchte, nämlich im sogenannten natürlichen Verständnis dessen, was jedenfalls andeutend dazu zu sagen wäre, etwa „empfangen“ oder „schwanger-sein“ o. ä. Es ist vielmehr auf das „sie waren noch nicht zusammengekommen“ zu achten, was ja deutlich bedeutet, daß Josef und Maria, beide, noch nicht den Akt vollzogen hatten, der „normalerweise“ dazu gefordert ist, daß ein Kind zu leben beginnt, und zwar im Schoß der Frau. Es wird weder die Ursache noch das Objekt des „im Schoße haben (tragen)“ benannt, 500

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außer der Beifügung „aus heiligem Geiste“, was aber bezüglich Ursache und Objekt nichts verdeutlicht. Wir haben in unserer eingehenden Besprechung dieses Satzes schon herausgearbeitet, daß damit wohl irgendwie ein „Tun“ bzw. der „Ursprung“ für das „im Schoße Getragene“ genannt ist, das jedoch gänzlich ohne näher Erklärtes und deswegen Verstehbares verbleibt. Das pure „evk aus“ in Bezug auf „heiliger Geist“, d. h. „Gott“, dürfte wenigstens sagen, daß Gott das „bereitet“, was Maria zu tragen bekommt. Es wäre aber schon Überinterpretation, hier von einem „Wirken Gottes“, welcher Art auch immer, zu sprechen. Wir müssen es schlicht offen-lassen. Auch die bestätigende Formulierung in 1,20 („das in ihr Gezeugte ist aus heiligem Geist“) hilft nicht weiter. Denn genna,w, mit dem dieses „Gezeugter“ formuliert ist, ist eine allzu offene Wendung („zeugen, „gebären“, „vollbringen“, „hervorrufen“ laut Lexikon), als daß hier Klarheit zu gewinnen wäre. Wir belassen es daher bei dem Annehmen der Aussage von 1,18 als Bekundung eines, das sich klar von Gott herleitet, doch in seinem Wie (hier zunächst!) offen bleibt. Es ist jedenfalls das/der, den Maria zur gegebenen Zeit gebären wird und dem Josef den Namen Jesus geben und ihn also als Sohn Davids rechtsgültig erklären wird, auch wieder im Auftrag Gottes selbst. Wir beachten auch, daß in 1,18 keinerlei „Tun“ oder „Mit-tun“ Marias genannt oder auch nur angedeutet wird, daß das sogenannte „Empfangen-haben“ als ihr Werk oder jedenfalls als ihr Mit-Tun bedeutet. Es bleibt in dieser Formulierung „sie hatte im Schoße“ absolut offen. Wir nehmen dieses hier Offen-Bleiben schlicht, aber ganz bewußt zur Kenntnis und erwarten in der Zusammenschau mit den anderen ntl. Stellen eine vielleicht sich zeigende weitere Auskunft. Was in den andern, zusätzlich zitierten Versen ausgesprochen und bekundet ist, brauchen wir hier nicht (mehr) weiter zu besprechen. Es sollte den Rahmen hergeben für die Aussagen, die ausdrücklich zur Herkunft Jesu Christi vom Beginn dieses „Herkommen“ spricht. Weiteres wird dann in der Zusammenschau der Text- Aussagen zu sagen sein. b) Texte aus Lk 1–2

Wir zitieren hier alle jene Verse dieser Kapitel, die ausdrücklich Angaben zur Herkunft Jesu Christi vorbringen, ohne dabei die anderen unberücksichtigt zu lassen. Wir bringen diese Verse in eigener Übersetzung mit gelegentlichen Zitaten des griechischen Textes, damit sachlich der Sinn-Inhalt klar hervortritt. 1,26–38.41–45; 2,4–7.11–12.21: „Im sechsten Monat war der Bote Gabriel von Gott (qeo,j) in (die) Stadt Galiäas mit (dem)Namen Nazaret gesandt zu (der) Jungfrau (die) verehelicht war mit (dem)Mann, dessen Name (war) Josef aus (dem) Hause David, und der Name der Jungfrau (war) Maria. Und er trat bei ihr ein und sprach: Sei gegrüßt, Begnadete, der Herr ist mit dir. Sie aber war verwirrt über das Wort und überlegte, was für ein Gruß das sei. Und es sprach der Bote zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria; denn du hast Gnade gefunden bei Gott (para. tw/| qew/|). Und siehe, du wirst 501

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empfangen (sullh,myh| evn gastri.) und (den) Sohn gebären (te,xh| ui`o.n), und du sollst seinen Namen JESUS nennen. Dieser wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden, und es wird ihm (der) Herr, der Gott den Thron seines Vaters David geben (dw,sei). Und er wird herrschen über das Haus Jakob für immer (eivj tou.j aivw/naj) und seiner Herrschaft wird kein Ende sein. Es sprach aber Maria zu dem Boten: Wie wird das sein (geschehen), da ich (meinen) Mann (noch) nicht erkenne? Und es antwortete der Bote und sprach zu ihr: Heiliger Geist (pneu/ma a[gion) wird über dich kommen, und (die) Macht (des) Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Geborene heilig (a[gion) genannt werden, Sohn Gottes (ui`o.j qeou/). Und siehe, Elisabet, deine Verwandte, auch sie hat einen Sohn empfangen (sunei,lhfen ui`o.n) in ihrem Alter, und dieses ist für sie, die unfruchtbar genannt wurde, der sechste Monat. Denn nichts ist für Gott unmöglich. Es sprach aber Maria: Siehe, die Magd des Herrn (ivdou. h` dou,lh kuri,ou); mir geschehe gemäß deinem Wort. Und es schied von ihr der Bote. … Und erfüllt mit heiligem Geist (pneu,matoj a`gi,ou) wurde Elisabet und sie rief mit lauter Stimme und sprach: Du bist die Gesegnetste unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes. Und woher kommt mir das, daß die Mutter meines Herrn (h` mh,thr tou/ kuri,ou mou) zu mir kommt. Denn siehe, als der Klang deines Grußes an meine Ohren drang, hüpfte das Kind in meinem Leibe frohlockend. Und selig, die geglaubt hat, daß zur Erfüllung kommen werde, was ihr vom Herrn gesagt wurde. … Es zog aber auch Josef von Galiläa aus der Stadt Nazaret hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heißt, weil er aus dem Hause und dem Geschlechte Davids war, um sich aufzeichnen zu lassen mit Maria, seiner Frau, die schwanger war. Es geschah aber, während sie dort waren, erfüllten sich die Tage, daß sie gebären sollte, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen, und sie wickelte ihn und legte ihn in (die) Krippe, weil sie (sonst) keinen Platz hatten in der Unterkunft. … Und es sprach zu ihnen der Bote des Herrn: Fürchtet euch nicht. Denn siehe, ich verkünde euch große Freude, welche dem ganzen Volk zukommen wird: Denn es wurde euch heute (der) Retter (swth,r) geboren, der ist Christus Herr (o[j evstin cristo.j ku,rioj) in (der) Stadt David. … Und als acht Tage voll waren, ihn zu beschneiden, und sein Name wurde genannt JESUS, der genannt worden war von dem Boten, bevor er empfangen war im Schoße (pro. tou/ sullhmfqh/nai auvto.n evn th/| koili,a|)“. Wir betrachten jetzt das in diesen wenigen Versen Ausgesagte zunächst für sich selbst, noch nicht mit Einbezug sogenannter Parallel-Aussagen, aber in ausdrücklichem Rückbezug auf das in unserer ausführlichen Besprechung von Lk 1–2 im Abschnitt „Neutestamentliche Texte zur Herkunft Jesu Christi“ näher Herausgearbeitete. Auf die dort behandelten Einzelheiten kommen wir hier nicht nochmals zurück und diskutieren sie nicht aufs neue. Das dort Entfaltete wird vielmehr jetzt vorausgesetzt, ist allerdings stets mitzubedenken. Als erstes ist dies festzustellen: Der ganze Text hat Gott zum Hauptsubjekt! Es ist wichtig, das zu sehen und gelten zu lassen. Gott sendet seinen Boten; dieser spricht in Gottes Namen; letztlich spricht dort also Gott selbst. Das „Thema“ des Gesprächs mit Maria ist das, was Gott selbst zu tun sich 502

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entschlossen hat. Er stellt an Maria die entscheidende Frage, ob sie das geschehen lassen will, also ob sie einstimmt in das, was Gott selbst zu tun gedenkt, insofern sie davon betroffen ist. Maria wird nicht mit einem Faktum Gottes konfrontiert, sondern es wird mit ihr gleichsam vor der Verwirklichung verhandelt. Das Gott-Geplante ist das, was Gott selbst zu tun sich entschlossen hat. Daher wird der Antrag, der an Maria gestellt wird, genau in dem erklärt, was das „Ergebnis“ des Wirken-Wollens Gottes sein wird, wie auch, wozu das alles dienen soll. Maria, und auch sonst niemand wird aufgefordert, seinerseits etwas für Gott und seinen Heilsplan zu tun oder daran aktiv mitzuwirken. Gott bittet vielmehr, man möge es zulassen, was er zu tun bereit ist, gegebenenfalls mit den entsprechenden Folgen für die einzelnen Mit-Einbezogenen. So lautet dann auch die zustimmende und einstimmende Antwort Marias: Mir, und damit aller Welt geschehe, wozu Du, Gott, dein Wort gibst, um es auch zu halten, was immer es Dir, Gott, kosten wird. Gott wendet sich an die, die mit Josef aus dem Hause David verehelicht ist; sie selbst lebt noch in Nazaret und stammt auch wohl daher. Wenn wir hier sogleich auch einbeziehen, was Maria in 1,34 Gott zu bedenken gibt, nämlich daß „sie (ihren) Mann nicht erkenne“ – eine Bemerkung, die uns heute, die wir die damaligen Usancen der Eheschließung nicht kennen, unverständlich erscheint –, dann ist damit die Lebenssituation Marias (und somit auch Josefs) nochmals genauer determiniert: Maria ist nämlich mit Josef verehelicht, aber noch nicht heimgeführt (zwischen Eheschließung und Heimführung lagen damals ein bis zwei Jahre; vgl. dazu auch Mt 1,18). Zu genau dieser, so genau bezeichneten Zeit spricht Gott Maria an, was ihren Lebensstand essentiell betrifft und als dementsprechend bedeutsam anzusehen ist, und dann eben auch für ihren Ehemann Josef. Deswegen wird es so besonders betont formuliert. Dabei darf aber auch nicht übersehen werden, daß es auch für Gott selbst entsprechende Folgen hat. Wir haben mit-zu-bedenken, wer der ist, der geboren werden soll, und in welchem menschlichen Umfeld ihm folglich zu leben und seinen Auftrag zu erfüllen aufgetragen wird. Wir bemerken: In diesen wenigen Versen ist alles Entscheidende der Gott-geplanten Geschichte der Heilsverwirklichung in Jesus Christus zur Sprache gebracht, wenngleich in äußerster Kürze, und zwar im Gespräch Gottes mit dieser Maria. Daher können wir hier mit vollem Recht auf parallele Aussagen zu Gott, zu Jesus Christus und zum Heilswerk für alle Welt verweisen, wo Ähnliches betont herausgestellt ist, wie etwa auf Röm 1,3–5 oder auf Mt 1 und manche andere Stellen im NT (und somit auch im AT). Der Satz „Du wirst empfangen und (den) Sohn gebären, dem du den Namen JESUS geben sollst“ ist keine Verheißung (wie es etwa Jes 7,14 und andere atl. Stellen sind) noch eine Geburtsankündigung (die z. B. in Lk 1,5–14 vorliegt, wo Gott einem langjährigen Wunsch des Zacharias und seiner Frau Elisabet entspricht, auch wenn Gott mit dem Kind seine besonderen Absichten verfolgt). Der Satz in Lk 1,31 sagt etwas gänzlich anderes. Maria erhält auch keinen Auftrag (außer der Namengebung). Bedenken wir: „empfangen“, von dem hier wie an vergleichbaren anderen Stellen faktisch die Rede ist, ist von Natur kein aktiv-willentliches Tun (oder Tun-Können) der Frau. „Empfan503

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gen“ bzw. meistens richtiger „empfangen-haben“ stellt den normalen Natur-Vorgang fest, daß die Frau, wie es eigentümlich und bemerkenswerterweise in allen Sprachen formuliert wird, empfangen hat; es ist geschehen, ohne daß sie selbst genau daran einen willentlichen Anteil hat. Vor-Bedingung dafür ist dafür natürlich ein zuvor geschehender gemeinsamer (!) Akt von Mann und Frau, was z. B. hier in Lk 1 „sich erkennen“ (1,34) und in Mt 1,18 „zusammenkommen von Mann und Frau“ genannt wird. Aber an dem „empfangen“ selbst und folglich an dem (gerade nicht immer eintretenden!) „empfangen-haben“ hat die Frau keinen frei-willentlichen bewußten Anteil. Das ist allen Menschen zu allen Zeiten und in allen Völkern klar bewußt und wird so verstanden.10 Dasselbe gilt übrigens für das „gebären“. Dieses ist ja die natürliche Folge des Empfangen-Habens der Frau und daher kein willentlich-freies Tun der Frau. Dieser Vorgang ist, in sich gesehen, Natur-Geschehen, in das als solches die betreffende Frau keinen willentlichen Wirk-Einfluß ausüben könnte (welche Feststellung nicht hindert zu wissen, daß die Gebärende das Geschehen mit ihrem ganzen persönlichen Sein wach begleitet und empfindet). Ganz anders verhält es sich mit dem Auftrag der Namengebung. Der Name JESUS selbst wird der Maria von Gott vorgegeben. Mit ihm ist tatsächlich das eigentliche persönliche Sein wie auch der Lebens-Auftrag seines Trägers ausgesprochen: „Jahwe heilt/rettet“. Den Auftrag der Namengebung selbst kann Maria aber erst erfüllen (oder auch nicht erfüllen) nach der geschehenen Geburt des Kindes. Das wird dann ja auch in Lk 2,21 berichtet. Gott erklärt aber schon vor dem Empfangen- und Geboren-Werden dieses Kindes, was dieser Name JESUS und folglich sein Namensträger selbst sein wird und in seinem Leben zu wirken aufgetragen bekommt. Das sprechen näher alle die in 1,32–33 u. 35 von Gott selbst genannten „Bezeichnungen“ des Geborenen aus (wir möchten ausdrücklich nicht von „Titeln“ u. ä. sprechen, womit ja meistens das hier Gemeinte angegeben wird). Es handelt sich bei allen eindeutig um Jahwe-„Bezeichnungen“! Es wird genannt: „Groß“; „Sohn des Höchsten“; „mit dem Thron Davids begabt“; „Herrscher über das Haus Jakob“, welches „Herrscher“-Sein „kein Ende haben wird“; „Heilig“ und „Sohn Gottes“. Das ist der, den Maria (erst) „empfangen und gebären wird“ (Futur-Angabe offensichtlich für den, der das alles ist und als solcher wirken wird). Aufgrund der Frage in 1,34 erklärt Gott selbst auch, „wie das alles geschieht“. Die dort gegebene Auskunft ist schlicht, eindeutig und umfassend: Gott selbst „tut“ das alles selbst. Dieses „Tun“ Gottes“ (wir verbleiben hier wie schon andernorts bei diesem gänzlich offenen Tätigkeitswort) selbst wird mit damals bekannten biblischen Aussage-Weisen angesagt: „heiliger Geist wird über dich kommen und Kraft des Höchsten wird dich überschatten“ (1,35). Mehr wird nicht gesagt noch anders formuliert. Das müssen wir voll gelten lassen. Alle die ausschweifenden und eigentümlich-spezifizierenden Ausdeutungen, die zu diesen Versen in den Kommentaren üblich sind, haben, 10 Hier sei auf unsere Besprechung von Lk 1–2 insgesamt verwiesen, wie auch auf den Exkurs „gen-

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so zeigt es der unvoreingenommene Blick auf deren tatsächliche Aussagen, keinerlei Berechtigung und Gültigkeit. Ihre seitenlang vorgelegten Behauptungen entbehren aller Berechtigung im Lk-Text, wie dieser vorliegt. Wir brauchen das hier im einzelnen nicht mehr weiter herauszustellen und können uns auf unsere ausführliche Besprechung von Lk 1–2 berufen.11 Es gilt daher, schlicht zu akzeptieren, was in 1,31–35 klar ausgesagt ist und was nicht, und folglich den Text in seinem Aussage-Gehalt so offen zu belassen, wie wir ihn vor uns haben. Weiteres wird am gegebenen Ort bedacht und entfaltet. Jedenfalls gilt dies: Gott hat sich selbst etwas zu „tun“ entschlossen, das er, im Falle der Zustimmung der Beteiligt-werden-Sollenden, offene Wirklichkeit werden lassen wird, was dann alle Welt erfahren wird (so der ganze Kontext in Lk 1–2 und entsprechend andernorts). Was wir hier „zusätzlich“ betonen könnten, ist dieses: Dem Wortlaut von Lk 1,26– 38 folgend, kann man durchaus sagen, daß Gott vor dem Gespräch mit Maria bei sich und gleichsam mit sich selbst beschlossen hat, was er zu seinem neuerlichen Heilsversuch „tun“, d. h. Wirklichkeit werden lassen will und auf welche Weise er das erreichen möchte. Deswegen kann man sogleich sagen: Vor dem „empfangen-werden“ im Schoße Marias ist das Entscheidende „in Gott selbst“ geschehen. Das/der, das/ den Maria gemäß Mt 1,18 „im Schoße hatte“, genau dieser war der schon, der er ist, auf daß er von Maria „im Schoße getragen“ und zur gegebenen Zeit geboren werden sollte; er war und ist der, der in Lk 1,32f.35 mit seinen ihm eigenen Namen („Bezeichnungen“ haben wir oben vorsichtig formuliert) genannt wird: „Groß“, „Sohn des Höchsten“, „Heilig“, „Sohn Gottes“. Er wird das nicht erst im Schoße Marias, wie es etwa H. Schürmann in seinem Lk-Kommentar, 40 u. ö., formuliert: „Jesus verdankt sein menschliches Dasein der schöpferischen Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau“. Dieser, den Maria „im Schoße empfangen hatte“ (Mt 1,18) und den sie gebären und ihm den Namen JESUS geben wird, der war und ist der so Benannte und wird nicht erst in ihrem Schoß durch seine „Lebensentstehung kraft einer schöpferischen (!) Tat Gottes“ (wie Schürmann es auch nennt). Er wird zu dem, der längst war und ist, nicht erst „im Schoß Marias durch die „absolut neue Schöpfung“ (so H. Frankemölle, MtKommentar I.152). Vielmehr – so sagt es der Lk-Text – ist er „schon“ ganz der, der der Maria zum Tragen, Austragen und Gebären eingesenkt wird. Das ist er als „von Maria Empfangener und zu Gebärender“ durch den, dessen „Sohn“ er durch diesen selbst genannt wird, durch „den Höchsten“, „Gott“. Von dessen „Tun“ kündet ja 1,35 ausdrücklich auf die Frage nach dem Wie! Im Lk-Text jetzt doch schon Unterscheidungen wie „menschliche Existenz“ u. ä. erkennen zu sollen oder zu müssen, die auf JESUS anzuwenden seien, entbehrt jeder Berechtigung. Man mag im Nachhinein ruhig spezifizierend fragen wollen, „woher“ Jesus sein „Mensch“-Sein zu eigen habe. 11

Zum vollen Verständnis des hier Ausgesagten ist es dringend notwenig, unsere Ausführungen im Abschnitt zur Herkunft Jesu Christi in Lk 1–2 zu beachten; andernfalls erscheint das hier Gesagte als pure, unbegründete Behauptung. Daher sei darauf mit Nachdruck hingewiesen.

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II.

Die wegweisenden ntl. Texte für die Zusammenschau

Dafür eine befriedigende Antwort zu bekommen, reicht der Lk-Text allein und für sich nicht hin. Wir werden jedoch im sogleich folgenden Abschnitt auf andere ntl. Texte zu sprechen kommen (müssen), die dieses „Manko“ durchaus auffüllen. Darauf kann hier hingewiesen werden. Die Auskunft aber, die Lk 1,32f.35 schon gibt, sagt eigentlich schon alles: Gott wird es „tun“; wenn man unbedingt will: Gott allein! „Was“ genau Gott da „tut“, bleibt, wie wir schon gesehen haben, im Lk-Text offen, worauf man es aber in aller Ruhe belassen bleiben lassen kann und muß.

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III.

Zusammenschau der ntl. Aussagen zur Herkunft Jesu Christi

III. Zusammenschau der ntl. Aussagen zur Herkunft Jesu Christi 1. Unvereinbarkeit / Widersprüchlichkeit der Aussagen? Konkurrenz der ntl. Christologien?

Es geht in diesem Abschnitt gezielt um das Problem der Vereinbarkeit bzw. Harmonisierbarkeit der verschiedenen „Christologien“ (schon dieser Plural weist das ganze Problem auf) in der urchristlichen Zeit und also um die verschiedenen TeilAussagegehalte der einschlägigen ntl. Stellen zur Herkunft Jesu Christi (bei welchem Ausdruck wir hier als biblischem, ganz offenen weiterhin verbleiben, um möglichen Vor-Verständnissen keine begründende bzw. unberechtigte Vorentscheidung einzuräumen). Dieser Fragepunkt wird vehement verhandelt und ausgebreitet gerade in Bezug auf die „Jungfrauengeburt“, die allein durch Mt 1–2 und Lk 1–2 ausgesprochen sei. Dieserart Aussagen ständen in erkennbarem Widerspruch zu den Positionen der sog. Präexistenz-„Christologien“, die selbst auch untereinander recht verschieden gesehen und beurteilt werden. Vor allem gelten diese Aussagen der sog. Kindheitsgeschichten gemäß Mt 1–2 und Lk 1–2 überhaupt als eher fremde oder damals kaum bekannte Ansichten innerhalb der Schriften des NT; es wird von Unvereinbarkeit oder gar Widersprüchlichkeit dieser „Christologien“ untereinander gesprochen bzw. nachdrücklich behauptet. Für einige Autoren ntl. Schriften wird sogar ausdrücklich das Nicht-Kennen der „Jungfrauengeburt“ bzw. des damit gemeinten Sachverhaltes behauptet. Zu einem ersten Einblick in die problematischen, aber oft vertretenen Erklärungen der Bibelwissenschaftler zu diesem Fragepunkt können die Feststellungen von H. Räisänen dienen, die von vielen Biblikern aufgegriffen wurden und werden. Wir legen dazu einige Passagen aus seinem Buch „Die Mutter Jesu im Neuen Testament“ vor, an denen alles sehr deutlich abgelesen werden kann. Bei Räisänen lesen wir im Abschnitt „I. Die Mutter Jesu in den Briefen des Paulus“ zu Gal 4,4 dieses: „Der Ausdruck ‚Weib‘ ist nicht betont. Es fehlt der Artikel; der Name der Mutter wird nicht genannt. Die Tatsache, daß Paulus von einem ‚Weib‘ und nicht von einer Jungfrau spricht, hat den Auslegern seit den ersten Jahrhunderten viel zu schaffen gemacht … Der Wortlaut von Gal 4,4 weist nicht auf den Gedanken der jungfräulichen Empfängnis hin, wenn er auch diesen nicht ausschließt. Die Leser des Briefes haben aus der Formel geno,menoj evk gunaiko,j ein Bekenntnis zur Lehre von der jungfräulichen Empfängnis nicht heraushören können. Wenn Paulus auch nur nebenbei auf ein solches Stück Christologie hätte anspielen wollen, wäre es einfach gewesen, die Formel evk parqe,nou zu wählen. Das tut er nicht. Den Apostel interessiert einfach nicht, wie der Sohn Gottes Mensch wurde und daß den Menschen dadurch die Gotteskindschaft geschenkt wurde (Gal 4,6f)“ (17f und 20). Dazu dann: „Paulus geht in Gal 4,4 auf 507

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die Frage nach der Geburt Jesu nicht ein. Die Frage beschäftigt ihn auch sonst nicht. Die jungfräuliche Empfängnis wird in seinen Briefen – und dasselbe gilt von der pseudopaulinischen Literatur – niemals erwähnt. Es ist offenkundig, daß Paulus den Gedanken der jungfräulichen Empfängnis nicht gekannt hat. Wenn man nämlich bedenkt, wie viele und mannigfaltige christologische Formeln und Aussagen die Briefe des Apostels enthalten, kann man das Fehlen des Parthenogenesis-Gedankens kaum für Zufall halten. Paulus hätte etwa innerhalb der Allegorie Gal 4,21–31 gut Gelegenheit gehabt, eine Anspielung auf den geistgezeugten Sohn Gottes als Haupt der Christen einzuschalten … Eine eigene Christologie sucht man bei Paulus vergeblich …“ (21). Dazu auch dieses: „Das Zweistufenschema der Präexistenz-Aussagen weicht entscheidend von Röm 1 ab (davon war zuvor die Rede): Präexistenz – Inkarnation. Erscheint Jesus in Röm 1,3f als ‚adoptierte Gestalt‘, so ist er in Gal 4,4 eine ‚gesandte präexistente Gestalt‘. In dem vorpaulinischen Christushymnus Phil 2,6–11 schließlich ist die Präexistenz Teil einer ‚Dreistufenchristologie‘ geworden: Präexistenz – Erniedrigung – Erhöhung. … Es fällt auf, daß keine dieser christologischen Traditionen auf die Geburt Rücksicht nimmt … Die vom Präexistenzgedanken beherrschte Tradition richtet ihre Aufmerksamkeit auf die Menschwerdung des Gottessohnes im allgemeinen. Man betont das Daß, ohne die Frage nach dem Wie zu stellen … Die kurzen Ausführungen zeigen, daß Paulus die jungfräuliche Empfängnis nicht voraussetzt. Im Gegenteil – man muß fragen, ob sich die Erwähnung eines solchen Ereignisses überhaupt mit seiner Theologie vertragen hätte … Da die Vorstellungen von der jungfräulichen Empfängnis keinen Raum in der Christologie des Paulus hat, ist es verständlich, daß er keinerlei Interesse an der Person der Mutter Jesu verrät“ (23f). Dann begegnen noch Sätze, die zu zitieren sind. In Bezug auf das MkEv heißt es u. a.: „Was Markus betrifft, so scheint er nicht einmal von der Jungfrauschaft der Maria ante partum gewußt zu haben. Jesus heißt für Markus zwar ‚Sohn Gottes‘ (…), doch interessiert sich der Evangelist nicht dafür, auf welche Weise der himmlische Gottessohn in die Welt kam. Er versucht nicht den Schleier zu entfernen, von dem die Anfänge des Lebens Jesu umhüllt sind. Er spekuliert nicht über den Ursprung Jesu noch über den präzisen Inhalt des Gottessohntitels. Als Gegenstück zur Parthonogenesis scheint er auch die Präexistenz nicht vorauszusetzen“ (49). Im Abschnitt „B. Setzt Johannes die jungfräuliche Empfängnis voraus?“ findet sich: „Johannes geht nirgends ausdrücklich auf die Frage nach der jungfräulichen Empfängnis ein … Mehr zu denken gibt 1,45. Philippus ruft Natanael zu Jesus und spricht: ‚Den, von welchem Mose im Gesetz geschrieben hat und die Propheten, haben wir gefunden: Jesus, den Sohn Josephs aus Nazareth‘“ (181). Dann etwas später: „Johannes schweigt von der Geburt Jesu. Das Philippus- Bekenntnis (1,45) legt die Annahme nahe, daß er von der jungfräulichen Empfängnis nichts weiß oder wissen will. Jedenfalls ist die Vorstellung der jungfräulichen Empfängnis kein unentbehrlicher Bestandteil der johanneischen Christologie. Der Jesus des vierten Evangelisten ist vor allem der aus dem Himmel herabgestiegene Sohn Gottes … Jesus ist der ewige Sohn Gottes, der präexistente Logos. Der Gedanke 508

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der Präexistenz setzt die Vorstellung von einer jungfräulichen Empfängnis keineswegs eo ipso voraus; das zeigt auch die paulinische Theologie. Dem vierten Evangelisten liegt an der Bezeugung dessen, daß der Logos Fleisch wurde“ (183; 185). Weitere Kommentar-Texte finden sich im Anhang II: „Texte“. 1 Nach diesen ausführlichen Zitaten aus den Überlegungen des Biblikers, die deutlich genug zeigen, was in diesem Abschnitt von Interesse ist, soll auch ein Dogmatiker zur Sprache kommen. An seinem Text zeigt sich, wie beherrschend die vorgetragenen Ansichten der Bibelwissenschaftler geworden sind, so daß sich sogar Systematiker der Problematik stellen, ohne freilich der Sache auf den Grund zu gehen. So schreibt K. Rahner zu Beginn seines Beitrages „Dogmatische Bemerkungen zur Jungfrauengeburt“ (im Buch „Zum Thema Jungfrauengeburt“, KBW 1970) dieses: „Für die dogmatisch-systematischen Überlegungen seien folgende Ergebnisse aus der Bibeltheologie vorausgesetzt: 1. Mt 1,18 und Lk 1,35 sagen eine Jungfrauengeburt aus. Dieser Satz muß deutlich bleiben, auch wenn damit noch nicht in jeder Hinsicht die Fragen eindeutig beantwortet sind, was a) ganz genau damit gemeint sei, und b) welch dogmatisch verpflichtendes Gewicht diese biblischen Aussagen bei Matthäus und Lukas haben. … 2. Es ist richtig und ist unbefangen zuzugeben, daß diese Aussagen von der Jungfrauengeburt einen bestimmten Traditionszug repräsentieren, der insofern partikulär ist, als eine explizite Aussage über die Jungfrauengeburt nicht überall im Neuen Testament zu jener Christologie gehört, die vor den Schriften des Neuen Testaments liegt und sich in diesen Schriften widerspiegelt. Wenn somit diese Matthäus- und LukasTradition auch partikulär ist und andere Aussagen über Jesus Christus im Neuen Testament so gemacht werden, daß sich dabei eine Unkenntnis dieser Traditionen erkennen läßt, so kann man doch nicht sagen, daß solche Aussagen anderer Art, d. h. eines anderen Traditions- und Theologiestranges, die Jungfrauengeburt positiv ausschließen wollen oder sogar einem solchen Ausschluß dogmatisches Gewicht geben wollen. Diese verschiedenen Traditions- und Theologiestränge gegeneinander ausspielen zu wollen, ist eine falsche, wenngleich vielleicht heute auch eine da und dort übliche Methode. Man kann die Pluralität der Theologie nicht so übertreiben, daß eine einheitliche Konzeption der Theologien schlechterdings ausgeschlossen wäre. Würde man das tun, dann wäre im Grunde genommen schon die Kanonbildung, also die Überzeugung der alten Kirche unmöglich, daß diese verschiedenen Schriften trotz ihrer verschiedenen theologischen Ansätze, trotz der Verschiedenheit der Theologien eben doch zusammen ein Glaubenszeugnis der einen Kirche auszumachen. So etwas gilt grundsätzlich auch bei dieser Frage. Man kann durchaus sagen: Paulus weiß nichts von einer Jungfrauengeburt. Er hat sich vielleicht theologisch nie damit auseinandergesetzt, er war vielleicht niemals in Kontakt mit einer palästinensischen Tradition der Jungfrauengeburt, wie sie bei Matthäus und Lukas greifbar ist. Das aber beweist natürlich nicht, daß man im Namen des Paulus explizit sagen könnte, 1

Wir verweisen auf unsere Ausführungen dazu im Anhang II.

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so etwas sei für den Glauben der Kirche von vornherein uninteressant, denn sonst hätte Paulus darüber sprechen müssen … Das gesamte Neue Testament ist bei aller Differenz der Wichtigkeit und Stellenwerte der Aussagen eben doch für die Theologie verpflichtend“ (121–123). Wir lassen diesen Text hier für sich sprechen. Auf viele Problem-Punkte sind wir in unseren Überlegungen schon eingegangen bzw. werden es im folgenden noch tun. Diesem Text des Dogmatikers K. Rahner sei noch ein zweites Beispiel angeschlossen, an dem sichtbar wird, daß die Probleme nicht eigentlich in der Sache, sondern in der fehlleitenden Begrifflichkeit liegt, die allgemein angewendet wird, ohne sie kritisch zu hinterfragen. So schreibt W. Beinert in seinem Buch „Heute über Maria reden? Kleine Einführung in die Mariologie“ (1973) unter „VII. Geboren von der Jungfrau Maria. 1. Die Problemlage“ u. a.: „Warum ist die Geburt Jesu von einer Jungfrau und damit die Jungfräulichkeit seiner Mutter umstritten? Von drei Seiten her werden Einwände erhoben. a) Von naturwissenschaftlicher Seite wird geltend gemacht, daß bei höheren Lebewesen eine Parthenogenese ausgeschlossen ist … b) Die Religionswissenschaftler machen darauf aufmerksam … Das aber ist mythologische Rede, die nicht wörtlich-biologisch verstanden werden darf. c) Aus der Exegese der neutestamentlichen Berichte selbst ergeben sich schwerwiegende Fragen. Ein so einschneidendes Ereignis wie die Geburt von einer Jungfrau wird nur an zwei Stellen berichtet. Weder Paulus noch Markus verlieren ein einziges Wort darüber. Auch Johannes kann nicht als Zeuge herangezogen werden. Bedenklicher noch ist es, daß es neben der in den Vorgeschichten bei Matthäus und Lukas erwähnten Tradition offenbar eine zweite gibt, die mit größter Selbstverständlichkeit annimmt, daß Josef der Vater Jesu, er und Maria also im ganz normalen Sinne seine Eltern sind. Sie findet sich sogar bei den nämlichen Evangelisten, die die Jungfrauengeburt kennen. Mt 13,35 nennen die Nazarener Jesus den Sohn des Zimmermanns. Lukas nennt an verschiedenen Stellen der Kindheitsgeschichte Josef und Maria die Eltern Jesu ohne jeden Kommentar (2,27.41.43.48). Hat er das erste Kapitel seines Evangelium vergessen? … Es gibt also zwei Traditionen. Diejenige, welche die Jungfrauengeburt hält, bleibt merkwürdig isoliert im Rahmen des gesamten Neuen Testaments. Es wird an keiner anderen Stelle mehr ein Rückbezug auf sie vorgenommen. Das muß ebenso mißtrauisch gegen die Jungfrauengeburt machen wie die beiden anderen Instanzen. Alle zusammen dürfen nicht auf die leichte Schulter genommen werden …“ (88–90). Die folgenden Überlegungen Beinerts in „2. Analyse der Gegenargumente“ (90–100) wird zwar auf „die exegetischen Einwände“ reagiert, doch mit einer Begrifflichkeit, die sich weitgehend doch an den festgefahrenen Verstehenskategorien ausrichtet und daher kaum befriedigen. Es bleibt bei Formulierungen wie „Das Kind, das Maria erwartet, ist nicht von ihrem Mann, sondern vom Heiligen Geist“ (95) Es wird auf ein Theologumenon abgehoben, um das es dem Evangelisten gegangen sei. Das Fazit: „Die Jungfrauengeburt aus dem Heiligen Geist ist das Zeichen für den Anbruch des neuen Himmels und der neuen Erde. Sie ist ein Akt der Neuschöpfung, und dennoch verbunden mit 510

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der ersten Schöpfung … Der Vater erweckt durch den Geist den Schoß der Jungfrau, damit das Heil in Christus Wirklichkeit werde“ (105). Wir belassen es hier bei diesen hilflosen Worten.

2. Eine erste Stellungnahme zu den Behauptungen

Zu den vorgelegten Beispieltexten aus den Kommentaren und Theologen in Bezug auf die dort festgestellte Nicht-Vereinbarkeit, Nicht-Harmonisierbarkeit bzw. Konkurrenz oder gar Widersprüchlichkeit, die für bestimmte ntl. Text-Aussagen untereinander zu gelten habe, können folgende erste Feststellungen gemacht werden. Wir verbleiben hier selbstverständlich im Rahmen des Aussagebereichs unserer Grundthematik, nämlich, „Zur Herkunft Jesu Christi. Biblische Einsichten“. Faktisch werden ntl. Aussagen vor allem in Mt 1–2 und Lk 1–2, die man meint unter dem Stichwort „Jungfrauengeburt“ (zusammen mit Ausdrücken wie „jungfräuliche Empfängnis und Geburt“ und deren „Vaterlosigkeit“) zusammenfassen zu können, auf der einen Seite und ntl. Texte, die unter „Präexistenz“, „Menschwerdung“ u. ä. zusammengeschaut werden, auf der anderen Seite betrachtet. Was allerdings wichtiger, ja entscheidend ist, das ist die Feststellung, daß bei dieser Beurteilung nicht die tatsächlichen ntl. Text-Aussagen selbst in ihrer ursprünglichen Aussage-Weise miteinander verglichen werden, sondern das, was die gewählten Fachausdrücke und „theologischen“ Begriffe, die, wie man meint, in den ntl. Texten ihre Begründung zu haben (was freilich dringend zu hinterfragen ist!), besagen. „Präexistenz“-Christologie“ wird gegen „Jungfrauengeburt“-Christologie gestellt; die behaupteten „Sachverhalte“, festgemacht gerade mit diesen fragwürdigen „Stichwörtern“, werden in Wirklichkeit als sich widersprechend herausgestellt. Das ist offensichtlich der Grundfehler aller dieser Behauptungen. Das sei in einer gleichsam systematisierenden Übersicht aufgewiesen. Als erstes ist darauf hinzuweisen, daß namentlich genannten Autoren, z. B. Paulus, die Unkenntnis, das Nicht-Wissen bzw. die Uninteressiertheit an bestimmten Aussage-Inhalten vorgehalten oder für sie behauptet wird, die sich bei anderen ntl. Autoren (vermeintlich) vorfinden. Es wird argumentiert: Wenn der betreffende ntl. Autor das und das gewußt oder gekannt hätte, dann hätte er davon schreiben müssen. Demgegenüber ist dringend festzuhalten: Wovon ein ntl. Autor nichts aussagt, kann man begründet nicht als für ihn Unbekanntes oder gar von ihm Abgelehntes bezeichnen. „Er sagt nichts davon“ ist eine Feststellung, die ohne Zweifel gilt, wenn es so tatsächlich der Fall ist. Aber damit ist eben nicht gesagt, daß er es nicht gewußt hat, oder daß er es sogar erkennbarerweise ausdrücklich weggelassen habe, gar leugnet oder ablehnt. Das Nicht-Sagen/Schreiben ist übrigens auch nicht schon identisch mit „verschweigen“, was ja einen willentlichen Akt meint, oder Nicht-WissenWollen. Dazu sind z. B. die Kommentar-Aussagen zu Gal 4,4 ein Musterbeispiel, wo 511

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man meint wissen zu können, warum Paulus so und nicht anders formuliert hat, wie wir es vorfinden, und was er damit hat sagen und was auch nicht sagen wollen.2 Alle ntl. Autoren schreiben, wie wir schon gesehen haben, aus konkreten Anlässen und somit in konkret bestimmten Absichten, was gegebenenfalls auch Beschränkungen impliziert (wenn man es so formulieren will). Es werden keine „Christologien“, auch keine „Theologien“ gebildet und zur Kenntnisnahme vorgelegt, sondern es wird Gott und sein Werk bzw. Jesus Christus und sein Werk bekundet, wie es die sog. Evangelien sogar thematisch vollbringen. Es gibt in der Bibel nie die Aussage „Gott existiert“ (obwohl sie „sachlich“ absolut richtig ist). Es ist gleichsam prinzipiell grund-anders: Gott wird bekundet, über ihn gesungen, doch nie diskutiert! Konkret auf die beigebrachten Beispiele geschaut: Von „Präexistenz“, von „Lebensentstehung Jesu“, von „Jungfrauengeburt“, von „Inkarnation“ und „Menschwerdung“ spricht schlechterdings kein einziges Bibelwort, das das irgendwie so aussagen möchte. Es sind stets Wörter und Begriffe, die erst in späterer Zeit und in einem gänzlich anderen Milieu seitens Nach-Denkender und Nach-Sprechender (die nicht sogleich schon als „Theologen“ 2

Liest man einmal Gal 4,4–6 im Kontext aller Paulus-Aussagen mit Mt 1 zusammen, dann zeigt sich eine volle Einheit der Sicht der Verkündigungstexte, die sich von selbst bekundet. Paulus spricht in diesem Text von Gott. Er ist der, der das Heil aller Menschen bereiten will. In Gal 3 findet sich der Hinweis auf das spezifische Unheil Israels wie aller Welt. Er läßt seinen Sohn „aus der Frau werden“ und „unter das Gesetz werden/stellen“. Gott „tut“ das, „als die Fülle der Zeit kam“, d. h. als er es für sinnvoll hielt, nämlich seinen Heilsratschluß Wirklichkeit werden zu lassen. Dieser Termin ist von keiner menschlichen oder kosmischen Bestimmung. Der, den Gott senden will, bekommt den Lebensauftrag, „die dem Gesetz Unterworfenen loszukaufen“. Es wird in Gal 4 nicht näher gesagt, wie und durch was er es „tun“ soll; aber er soll es tun. Auch ist nicht gesagt, wer genau das „tut“, das zum Heil aller gereicht, ob Gott selbst oder der gesandte Sohn – oder ob beide in eins es vollbringen (vgl. dazu 1 Kor 6,19–20). Zu diesem Tun läßt Gott seinen Sohn, ihn sendend, „aus der Frau werden“ (auch hier wird nicht genauer gesagt, wie Gott das „tut“ und ob es Gott selbst tut oder, in Bezug auf das Gesetz, die dazu in Israel beauftragte Instanz). Alles dieses in Gal 4 Ausgesprochene findet sich genau so in Mt 1 wieder. Es wird zwar anders ins Wort gebracht, aber mit denselben sach-gerechten Ausdrücken, die dasselbe gültig aussagen: Gott ist es, von dem die sog. Genealogie letztens spricht; es ist die Treue Gottes in der Geschichte Israels und der Welt, die trotz aller Widerstände (Sünde) seine Grund-Absicht doch zur Erfüllung bringt, von Matthäus durch die kunstvolle Periodisierung der Generationen zur Sprache gebracht. Sie läuft auf den Davididen Josef hinaus. Gott hatte sich verheißend verpflichtet. Auch in Mt 1 ist es Gott, der das/den Gewordenen (gennhqe,n) im Schoße Marias „sein“ läßt, so daß sie es/ihn „im Schoße hatte“, und zwar „aus heiligem Geist“, d. h. „aus Gott“ (Mt 1,18.20). Das/der sollte im Schoße Marias zu dem werden, der „Jesus“ sein und daher so heißen wird: Jahwe rettet. Dazu mußte er „unter das Gesetz gestellt“ werden, was in Mt 1 der Auftrag Gottes gerade an den Davididen Josef war, damit sich die Verheißung erfülle (1,22f; Jes 7,14). Denn das bedeutet in Israel der entsprechende Ritus: Durch den in Israel vorgesehenen und vorgeschriebenen rechtlich-religiösen Akt seitens des Familienhauptes wurde das geborene Kind überhaupt erst ein rechtsgültiges Familienmitglied, durch die Namen-Gebung mit entsprechender Rechtserklärung; denn nicht schon durch Zeugung und Geburt allein wurde das Kind vollberechtigter Israelit. Wie das alles Gott gemäß Mt 1 gewirkt und Wirklichkeit werden ließ, was er selbst da genau „getan“ hat, bleibt offen wie in Gal 4; das haben wir bei der Besprechung hinreichend deutlich erkannt. Das ganze MtEv ist von Gott selbst beglaubigtes Zeugnis für die geschehene Wirklichkeit: IMMANUEL-JESUS.

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zu bezeichnen sind) versuchsweise eingeführt wurden, doch stets sogleich diskutiert worden sind, was ihre Berechtigung und „Gleichbedeutung“ angeht, noch später dann auch allgemein üblich wurden, wobei wir heute feststellen müssen, daß sie eher eine erschwerende Last als eine Hilfe darstellen. Diese späteren Wörter und Termini für die Erstauslegung des ntl. Textes anzuwenden, widerspricht einfach dem Sinn christlich-theologischer Glaubensbekundung. „Erniedrigungs- und Erhöhungschristologien“, „Zweistufen- und Dreistufen-Christologie“, gar aufeinander-folgende und sich einander ablösende „Christologien“ einzuordnen, kann dem ntl. Bekundeten schlechterdings nicht entsprechen. Dasselbe gilt übrigens auch für „Jungfrauengeburt“, für „Inkarnation“, „Präexistenz“ und andere, zu Fachwörtern erhobene FehlBildungen. Dann sogar von Nicht-Harmonisierbarkeit bzw. von gegenseitiger Konkurrenz solcher „Christologien“ zu sprechen, kann der zu damaliger Zeit geschehenen Wirklichkeit nie entsprechen.

3. Zum Vor-Gang des Geschehens des Heils in Jesus Christus als Leitfaden für die Zusammenschau a) Zur Vorgangsweise in der folgenden Darstellung

Wir betrachten jetzt alles, was hier an ntl. Aussagen zu besprechen sein wird, nicht in der Weise des Historikers oder Geschichtswissenschaftlers, sondern schlicht als den Bekundungen des NT glaubend Nach-denkende. Wir schauen dabei auch nicht in der Weise, wie die Wissenschaftler der Geistesgeschichte, der Religionsgeschichte, Philosophiegeschichte oder der Literatur- und Ideengeschichte ihren „Stoff “ betrachten, werten und darstellen. Es soll auch nicht einfach in der Weise einer theologischen Geschichte des Wirkens Jahwes gesprochen werden, wie es etwa für eine Biblische Theologie als angemessen angesehen wird oder werden kann. Wir wollen vielmehr in der Weise, wie die Bibel selbst als Heilige Schrift, als Wort Gottes das bekundet/kundtut, was geschehen und Wirklichkeit geworden ist. Davon wird in den thematisch sehr unterschiedlichen Schriften des NT bei entsprechender Gelegenheit „berichtet“. Nur in den sog. Evangelien-Schriften und in der Apg liegt eine Art der erzählenden Darstellungsweise vor, deren Ziel es ist aufzuzeigen, was z. B. Lukas mit „was sich in diesen Tagen unter uns ereignete“ bezeichnet (vgl. Lk 1,1; 24,18–27), was auch ein „wie es sich ereignete“ einbezieht. Das meist gebrauchte Wort „offenbaren“ läßt irgendwie doch immer an zunächst Verhülltes oder gar Geheimgehaltenes denken, obwohl das im NT jeweils „Berichtete“ ein öffentlich Geschehenes ins Wort bringt. Deswegen sagen wir auch nicht sofort „verkünden“ „verkündigen“, wie auch nicht „bezeugen“, obwohl diese Ausdrücke durchaus Richtiges sagen und wiedergeben. Es geht uns vielmehr hier zunächst „nur“ darum, zusammenstellend das vorzubringen, 513

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was sich gemäß biblischer Bekundung selbst zu erkennen und zu verstehen gegeben hat, das sich sehen und hören ließ als das von Gott her Wirklichkeit Gewordene, was als „Geschichte Gottes“ durchaus sachgerecht bezeichnet werden kann: sehen, hören, erkennen, verstehen als von Gott selbst dazu befähigt und berechtigt. Das müssen wir hier nicht erst erkenntnistheoretisch erklären und begründen. Dieserart Aussagen des NT, um die es jetzt geht, bringen ja faktisch etwas „Unglaubliches“ zur Sprache: Wer oder was ist Gott? Und wer oder was sind wir? Und doch: Gott gab/gibt tatsächlich sich-selbst zu sehen und als Gott auch zu verstehen! Damit kein Mißverständnis geschieht: Wir sagen nicht, daß wir Gott so erkennen und verstehen können, daß wir ihn in begrifflich-beglaubigbarer Rede ins Wort bringen könnten. Von Gott und über Gott kann nur namentlich gesprochen werden, da er in einem absolut einmaligen Sinn un-vergleichlich ist und daher in wissenschaftlicher oder philosophischer Sprechweise eben doch „un-ausprechbar“ ist und bleibt. Nur Jahwe allein ist Jahwe! Wir fragen jetzt hier nach dem „Gehalt“ und dem „Inhalt“ der Aussagen über dieses Geschehen und seinen Verlauf, insofern damit das Geschehen, die Geschichte Gottes selbst gemeint ist. Die biblischen Sätze sprechen aber nicht nur, gar zuerst vom „Wirken“ Gottes, sondern schlicht von ihm, von seinem Sein, vom Leben Gottes, also von ihm-selbst. Dazu gehört auch, und zwar wesentlich – wenngleich es meist unberücksichtigt bleibt – auch das Empfinden, Fühlen, Ertragen-Wollen und Ertragen-Müssen des Seins und Handelns anderer, nämlich der von ihm Erschaffenen. Es ist vom SichFreuen Jahwes wie auch von seinem Leiden die Rede. Das alles kommt in der Bibel zur Sprache, da Gott lebt, sich er-lebt und erfährt, auch Liebe, die „Gegen“-Liebe erfährt bzw. nicht geschenkt bekommt. Es wird bei entsprechender Gelegenheit deutlich vom Schmerz Gottes gesprochen, sogar davon, daß es ihn reute, die Menschen erschaffen zu haben (Gen 6,6!). Wir haben folglich auch jene Schriftstellen mit-zu-beachten, die von Gottes Erfahrung des Widerspruchs, der Sünde und ihren Folgen künden, die Gott selbst im Verlauf seiner Lebensgeschichte mit dem Erschaffenen machen mußte, und wie er darauf „re-agiert“ hat. Wir denken dabei an Texte wie Gen 6,6, Jes 5,1–7 und Hos 11 u. ä. Denn das im NT von Gott zu Bekundende hat ja einen Grund in dem, was Gott in seiner Geschichte selbst beabsichtigte oder eben was er zu tragen und zu ertragen bekommen hat, zusammen mit dem, wie er jeweils seinerseits antwortete, was ja oft durch neue Verheißungen geschehen ist. b) Zur Sprechweise der ntl. Texte

Wir verbleiben hier ganz bewußt bei der Sprech-Weise der ntl. Texte selbst, die wir hier zugrunde legen. Aller Wörter, Begriffe, Redewendungen, die erst zu späterer Zeit in der Kirche gebildet wurden, um die Aussagen des NT auszudeuten und zu erklären, d. h. auf den jeweiligen zeitgemäßen Begriff zu bringen, enthalten wir uns zunächst bewußt und nachdrücklich. Daher ist die folgende Darbietung der ntl. Aussagen zunächst nur die dem ntl. Geschehen folgende Zuordnung dieser ntl. Aussagen 514

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selbst zueinander, in ihrer Aussageweise. Es ist vielleicht gut, hier noch dieses ins Bewußtsein zu rufen: Die biblische Bekundung oder „Erzählung“ der GeschehensGeschichte der gott-gestifteten Lebens- und Schicksalsgemeinschaft von Gott und Erschaffenem geht so vor, daß die Erzähl- und Bekundungsweise wie selbstverständlich sich der einen und selben Sprache und Sprechweise bedient. Es werden für Gott nicht prinzipiell eigene Wörter, Sprachbilder, Redewendungen und Formulierungsweisen verwendet und für alles, was Erschaffenes meint bzw. betrifft, prinzipiell entsprechend andere Wörter und Sprechweisen eingesetzt. So kennt die Bibel z. B. keine Transzendenz Gottes im Gegenüber zur (sog.) Welt, so daß über „beides“ mit entsprechend unterschiedlicher Sprechweise zu reden wäre. Der Bibel geht es gerade nicht um zwei Welten und deren je eigene Gesetze, nämlich um die Welt und das Leben Gottes im sog. Jenseits auf der einen Seite und der Welt und das Leben des Erschaffenen als Diesseits auf der anderen. Beide sind im Erzählen nicht jeweils von fundamentaler Andersheit. Das wird oft, vielleicht unbewußt, vorausgesetzt, wenn z. B. wie selbstverständlich vom Eingreifen Gottes in das Geschehen und die Geschichte des von ihm Erschaffenen gesprochen wird – und das geschieht in der Exegese und Theologie ständig und ohne Bedenken. Dagegen muß festgestellt und gelten gelassen werden, daß in der Bibel für Gott wie für das Erschaffene ein und dieselbe Denk- und Sprechweise vorausgesetzt und eingesetzt ist, ohne daß jedoch damit das Jahwe-Sein bzw. das Erschaffenes-Sein und damit eine auch eingesehenen und begriffene, zu unterscheidende Eigen-heit geleugnet oder übersehen würden. Das Sprechen über das Lebensgeschehen Gottes und des Erschaffenen im gott-gestifteten Miteinander oder auch Gegen-einander und Zum-Schicksal-Werden ist ein einziges. Für Gott sind keine anderen Wörter, Sprachbilder, Redewendungen und die Darstellung von Empfindungen wie Liebe und Leid u. ä. nicht dieses und für das Erschaffene nicht etwas fundamental anderes. Unterscheidungen, die aus philosophischer und dann auch theologischer Sicht und Denk- und Sprechweise als notwendig mit-zu-berücksichtigen anzusehen wären, finden sich prinzipiell nicht in der Bibel, und das nicht deswegen, weil das biblische Erzählen solcherart Sprechen bewußt ablehnen oder gar als unzulässig erklären würde, sondern weil sie aus ihren Gründen dazu keinen Anlaß und noch weniger eine Notwendigkeit empfindet, wenn sie um das zu Bekundende und zu „Erzählende“, die Lebensgeschichte Gottes mit dem von ihm Erschaffenen, ins Wort bringt, nicht selten sogar aussingt. In dieser Hinsicht kann gar nicht anders als in ein und derselben Sprache von Gott und seinem Erschaffenen in ihrem gemeinsamen Miteinander-Leben gesprochen werden. Wir betrachten daher die einzelnen ntl. Aussagen zur Herkunft Jesu Christi jetzt in ihrer Geschehensfolge im Ereignis damals selbst und stellen sie in dieser Folge und Sprechweise dar. Das gilt auch für den Einsatz von Namen bzw. Ausdrücken wie Jahwe, Gott, Geist, Herr u. ä., wenngleich wir Unterscheidungen, die die Texte selbst suggerieren, dort zu beachten haben, wo sie selbst vorgegeben werden. Wie die Einzeltexte dabei in welcher Weise einander zugeordnet werden, ist somit nicht abhängig von ihrem Ort in der Folge der Bücher des 515

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NT, sondern bewußt von dem, was sie zum damaligen Geschehensablauf vorbringen. Auch die Abfassungszeit der einzelnen ntl. Schriften ist jetzt nicht bestimmend. Was wir so als Aussage-Richtung formuliert haben, erklärt sich durch die Texte, die wir heranziehen, von selbst. Wichtig ist dieses: Wir verwenden zunächst keine theologische Sprache im heute gängigen Verständnis, sondern verbleiben bei der „einfachen“ Sprechweise der Bibel selbst. Wir verwenden aus allen genannten Gründen jetzt auch vornehmlich den Namen Jahwe anstelle von „Gott“. Denn „Gott“ ist faktisch doch allzu sehr in der Weise und Bedeutung eines Allgemeinbegriffs verstanden. Das Wort „Gott“ ist auch im NT sehr oft eingesetzt, ist allerdings in fast allen Stellen als „Jahwe“ zu lesen und zu verstehen. Wo im ntl. Text „Gott“ steht, belassen wir es natürlich so; es sei nur eindringlich darauf aufmerksam gemacht, daß es dort stets als Name und nicht als Begriff vorgefunden wird.3 c) Die ntl. Aussagen zur Herkunft Jesu Christi gemäß der Folge des damaligen Geschehensablaufes

Wir folgen jetzt dem damaligen Geschehens-Vorgang, indem wir dem Aufeinanderfolgen des jeweiligen Einzelnen in seinem „sachlichen“ Zusammenhang nachgehen und es nach-sprechen, nach-erzählen. Dabei wird gelegentlich von einem „vorher“ und einem „dann“ bzw. „somit“ u. ä. zu sprechen Sein. Damit ist jedoch nicht sogleich und notwendigerweise an ein zeitliches Vorher und Nachher, gar „in“ Gott zu denken, wie auch nicht immer sogleich an eine logisch eingesehene Aufeinanderfolge (wie z. B. „Wirkung“ auf „Ursache“ folgt). Es gibt, wie wir sehen werden, in der Bibel auch andere „Arten“ der Zuordnung von „vorher“ und „dann“ bzw. „somit“ u. ä. Auch in unserem eigenen Sprechen von uns selbst und den Erfahrungen unseres Lebens-Vorganges machen wir oft auffallende „Unterscheidungen“, die aber stets deutlich ein und denselben, eben uns-selbst wie auch unser Leben als lebendig erfahrenes meinen. Als ein Beispiel dafür mag die bekannte Formel dienen, die wir oft gebrauchen: „Mein Herz rät mir eigentlich anderes; ich weiß noch nicht, wie ich mich entscheide“. In solcherart Sätzen werden keine Zeitkategorien, die meßbar eingeordnet werden könnten, verwendet, sondern dieses Hin- und Her-Erwägen ausgesprochen, um, vielleicht 3

Für die jetzt folgenden Feststellungen zu den ntl. Aussagen zur Herkunft Jesu Christi setzen wir unsere ausführlichen Besprechungen der einschlägigen Texte ausdrücklich voraus; sie liegen vor im II. Kapitel „Die ntl. Haupttexte zur Herkunft Jesu Christ“ auf den Seiten xxx bis xxx (zu Mt 1; Lk 1–2; zu Gal 4,4; Röm 1,3; Phil 2,6–11; Joh 1,14 und weitere). Im III. Kapitel „Zusammenfassender Überblick über die ntl. Aussagen zur Herkunft Jesu Christi“ ist ausdrücklich im Abschnitt II „Die wegweisenden ntl. Texte für die Zusammenschau“ Entscheidende herausgestellt: s. Seite xxx bis xxx. Alles das ist im folgenden vorausgesetzt, und wird nicht nochmals wiederholt. Es sei dringend angeraten, dieses voraus Besprochene sich stets vor Augen zu halten; andernfalls würde das jetzt zu Sagende als gänzlich unbegründet aufgefaßt werden können.

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nach Tagen, eine Entscheidung zu fällen. Mit dem Satz „ich weiß noch nicht“ oder „mein Herz widerspricht mir“ ent-zweie ich mich nicht. „Ich“ bleibt der eine, einzige, der sich-selbst meint und doch „gleichzeitig“ sagt: „Ich bin mir noch nicht klar“. So gibt es eine Reihe von Bibelstellen, die den Beweggrund nennen, der Gott gleichsam zum Nach-denken, zum Überlegen und Erwägen bewegt. Es sei nur an Joh 3,16f und an Gal 4,4 erinnert. Zu dem zunächst nur in Gedanken erwogenen Senden des Sohnes sagt Joh 3,16f: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen Sohn dahingab …“. Da wird nicht in einem wie immer gearteten Präteritum gesprochen (er hat geliebt), sondern der erste und währende Beweggrund genannt: Liebe, und zwar die Liebe, die die Welt (!) als ihr „Objekt“ nennt (Gott liebt aber mehr als nur die Welt). Wir haben schon im Exkurs „Gott in Geschichte“ die vielen Implikationen dieser Formel in der ganzen Bibel aufgezeigt. Es werden „Liebe“ und deren „Objekt“ benannt als „Motiv“ des Erwägens und Handelns Jahwes, dazu ein „wofür“ und „wozu“; es werden zugleich die oder das mit-genannt, auf die bzw. auf das sich Gottes Erwägen bezieht, gegebenenfalls zum Mit-Tun an dem und in dem, was im Grunde nur Jahwe allein überhaupt tun und wozu er sich entscheiden kann. Weiters ist zu bemerken: Jahwe entschließt sich gleichsam „in sich-selbst“ und „mit sich-selbst“. Das ist deutlich erkennbar an der Aussageweise, daß es „in“ Jahwe gleichsam mehrere „Beteiligte“ gibt: Vater und Sohn, und Entschluß „beider“ im einen Geist. Wir gebrauchen hier jetzt nicht solche Wendungen, die heute meist sogleich von „innertrinitarischem“ Leben und entsprechenden Vorgängen sprechen, gar von zu unterscheidenden Personen. Wir verbleiben vielmehr bei der hinreichend deutlichen Sprechweise der Bibel, die ja alles vor-begrifflich, eben namentlich zur Sprache bringt. Sodann gilt: „Senden“ und folglich „Gesandt-Werden“, dazu mit einem Lebensauftrag, sprechen nicht automatisch von Zweien oder mehreren. Bei Texten wie Joh 3,16f und Gal 4,4 u. a. handelt es sich um Aussagen, die Erstaunlichstes ins Wort bringen. So heißt es schon in Jes 35,3–4: „Stärket die erschlafften Hände und festigt die wankenden Knie! Sagt den verzagten Herzen: Mut, fürchtet euch nicht! Seht da euer Gott! Es kommt die Rache, es naht die Vergeltung. Er selber kommt, euch zu erlösen!“. Ähnlich Jes 41,14: „Fürchte dich nicht, du armer Wurm Jakobs, du Würmchen Israel! Ich selber helfe dir, spricht Jahwe; dein Erlöser ist der Heilige Israels“. Dazu gibt es zahlreiche weitere Text-Beispiele.4 An ihnen kann abgelesen werden, wie sehr 4

Es seien zu dem oben zitierten Text Jes 35 und 41 auch folgende zitiert; sie sprechen dasselbe deutlich aus; Zusatzbemerkungen erübrigen sich hier. Jes 62,10 – 63,10: „Zieht aus, zieht aus durch die Tore! Bahnt dem Volk den Weg! Schüttet die Straße auf und macht sie von Steinen frei! Pflanzt ein Panier für die Völker auf! Seht, Jahwe läßt es verkünden bis an die Grenzen der Erde: Saget der Tochter Zion: Siehe, es kommt dein Erretter. Siehe, sein Lohn ist mit ihm, und seine Vergeltung geht vor ihm her! Man wird sie nennen: Heiliges Volk, Erlöste Jahwes. Du aber wirst heißen: Gesuchte, nie verlassene Stadt. Wer ist dieser, der von Edom kommt, in roten Kleidern von Bozra, prangend in seinem Gewand, ausschreitend in seiner strotzenden Kraft? Ich bin es, der Gerech-

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es Jahwe persönlich am Herzen lag/liegt, was er und warum er es Wirklichkeit werden lassen will. Er ent-schließt sich-selbst und beschließt mit sich-selbst! Jahwe kann sagen und sagt es: Ich selbst, Jahwe; oder: Ich, Jahwe, bin euer Gott. Nichts anderes ist gesagt, wenn der Text scheinbar dasselbe für Jahwe und dann für Jahwe-Sohn und Jahwe-Geist einsetzt. Das bestätigen auch die mannigfaltigen Verheißungstexte. Letztlich gilt immer: Jahwe entscheidet in sich und mit sich selbst im Eins-Sein seiner selbst zum Mit-sich-eins-werden, so daß es scheinen mag, es sei von mehreren die Rede. Erinnern wir uns da nochmals an unsere eigenen Lebens- und Selbst- Erfahrungen! Wir kennen es: Wir sprechen uns-selbst nicht immer nur mit dem einfachen „ich“ aus, sagen auch nicht immer einfach „mir“ und „mich“, sondern verwenden für uns-selbst oft andere Worte, die aber uns-selbst eindeutig ins Wort bringen. So etwa: ‚Das geht mir an die Seele“, „das geht mir zu Herzen“: „an die Nieren“. Es gibt auch die Formel: „Was müssen da meine Augen sehen?“ Das ist kein Fragesatz; ich sehe ja selbst, daß ich und was ich sehe. Auch wird mit einem solchen Satz kein Unverstehen ausgesprochen und also nachgefragt. Wir bringen uns vielmehr distanzierend von uns-selbst ins Wort, weil wir so betroffen sind. Wir sind das immer selbst, der, der sich von seinem Herzen, seiner Seele, seinen Augen als ganz anderer zu unterscheiden oder zu distanzieren scheint, in Wirklichkeit aber sich-selbst um so intensiver und sprechender ins Wort einbringt. Auch der Hörer solcher Sätze hört und versteht genau diese eigenartige Intensität der Rede. Ich multipliziere mich damit gerade nicht. tigkeit redet und Macht besitzt, zu retten. Warum ist dein Gewand und sind deine Kleider wie die eines Keltertreters? Die Kelter habe ich allein getreten, von meinem Volk war niemand bei mir. Ich trat sie nieder in meinem Zorn und zerstampfte sie in meinem Grimm, daß ihr Blut an meine Kleider spritzte und ich mein Gewand besudelte. Denn ein Tag der Rache lag mir im Sinn, und das Jahr meiner Vergeltung war gekommen. Ich schaute aus, doch es fand sich kein Helfer; ich staunte, doch es fand sich kein Beistand. Da half mir mein eigener Arm, und mein Grimm war meine Stütze. So zertrat ich die Völker in meinem Zorn und zermalmte sie in meinem Grimm. Ich ließ ihr Blut zur Erde rinnen. – Die Gnaden Jahwes will ich preisen, die Ruhmestaten Jahwes nach allem, was Jahwe uns getan, und die reiche Güte, die er uns erwiesen nach seiner Erbarmung und nach der Fülle seiner Liebe. Er sprach: Sie sind ja mein Volk, sind Kinder, die nicht treulos werden. Darum ward er ihnen zum Retter in all ihrer Drangsal. Kein Bote und kein Engel, sondern sein Antlitz rettete sie. In seiner Liebe und Erbarmung erlöste er sie, hob sie auf und trug sie alle Tage der Vorzeit. Sie aber empörten sich und betrübten seinen Geist … Der Geist Jahwes führte sie zur Ruhe“. S. auch Jes 66,5–16. Ps 40,5–11: „Selig der Mann, der seine Hoffnung setzt auf Jahwe, der nicht folgt den Dienern der Götzen, noch denen, die falschem Trug sich ergeben. Viel der Wunder hast du getan, Jahwe, du mein Gott; in den Gedanken, die du hegest für uns, kommt keiner Dir gleich. Wollte ich sie melden alle und künden, ihrer sind mehr, als man zählen kann. Schlachtopfer und Speiseopfer forderst du nicht, aufgetan aber hast du mein Ohr. Brandopfer willst du nicht noch Opfer der Sühne; da sprach ich: Siehe, ich komme. In der Buchrolle ist mir geschrieben, deinen Willen zu tun. Freude habe ich, Gott, an deiner Weisung, mitten in meinem Innern. Deine Gerechtigkeit habe ich verkündet in großer Gemeinde; siehe, ich hab nicht gewehrt meinen Lippen; Jahwe, du weißt es. Dein gerechtes Walten habe ich nicht verschlossen in meinem Herzen, ich habe deine Treue gepriesen und deine Hilfe. Ich habe nicht geschwiegen von deiner Gnade, vor großer Gemeinde nicht deine Treue verhehlt“.

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Und doch: Ich bin eben mehr als einfach „ich“. Und ich gebe diesem Mehr seinen verbalen Ausdruck. Daß genau das in der Bibel in Bezug auf Jahwe oft der Fall ist, wenn auch auf nochmals andere, eben seine Weise, das wird schon im AT deutlich ausgesprochen, was viel zu wenig in der Exegese und Theologie beachtet wird. Die vielleicht sprechendste und beeindruckendste Stelle ist Hos 11,1.4.7–9, die hier zitiert sei: „Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb, und aus Ägypten rief ich meinen Sohn … Mit Banden der Güte zog ich sie, mit Seilen der Liebe; ich war wie einer, der einen Säugling an seine Wange hebt. Ich beugte mich und gab ihm zu essen … Aber mein Volk ist krank an seinem Abfall, zum Baal rufen sie, doch der hebt sie nicht auf. Wie könnte ich von dir lassen, gleich Adma, dich gleichstellen Zebojim? Mein Herz kehrt sich um in mir gegen mich, und zugleich regt sich mein Mitleid. Nicht will ich tun, was die Glut meines Zorns mir eingibt, nicht Ephraim verderben. Denn Gott bin ich, nicht ein Mensch, heilig in deiner Mitte; ich liebe es, nicht zu verderben“. Wir bemerken, wie innig Jahwe von seiner Liebe spricht und mit welch bewegenden Worten; er besinnt gleichsam sich-selbst auf sein Gott-Sein. Schauen wir weiter zu! In Gal 4,4ff und Joh 3,16f und in manchen anderen Stellen ist dieses herausgestellt: Der Heil-bringen-wollende Entschluß Jahwes geschah/geschieht vor der Verwirklichung. Das „senden“ erfolgt nach der Beschlußfassung Jahwes mit sich selbst. Damit ist sogleich mehreres mit-ausgesagt. Jahwe bestimmt das konkrete Beauftragt-Werden des Sohnes näher dadurch, daß er ihn „aus der Frau werden“ und „unter das Gesetz werden (stellen)“ läßt, als eine neue Weise seines Selbst-Seins. Nach Joh 3,16f wird der Sohn von Jahwe her Gabe. Die Definition (wenn man so sagen darf) von „Sohn“ ist schlicht „Sohn“. Das Gabe-Sein gehört nicht zum Sohn-Sein als solchen. Aber der Sohn wird von Jahwe her Gabe, letztlich Dahingabe, Opfer, am Kreuz! Der Text schließt ausdrücklich aus, daß er Richter werden würde. Er bringt in diesen Fall also sogar eine negative Bestimmung ins Wort. So erkennen wir: Mit „zuvor bedacht haben“ wird ein Erwägen und Erwogen-Haben ausgesprochen, das bestimmte Möglichkeiten miteinander verglichen hat, ein Für und Wider, und zwar für Jahwe, Vater und Sohn im einen Geist. Jahwe ist somit keine simple Einzigkeit (simplex unitas sagt leider der Dreifaltigkeitshymnus), die sich in sich selbst verkreiselt. Weiters ist festzustellen: Alle Sendungs-Texte geben immer auch sogleich ein „wozu“ bzw. „damit“ des Sendens an, sogar einen persönlichen Lebensauftrag für den Gesendeten. Immer ist dieser Grund genannt: „damit er rette“ (Joh 3,16f); „damit er die, die unter dem Gesetz waren, loskaufe“ (Gal 4,4); „Gott sandte seinen Sohn, und verurteilte dadurch die Sünde an seinem Fleisch, um das Gesetz zu erfüllen“ (Röm 8,3). Im Grunde ist damit etwas angesagt, das in der gesamten Geschichte Jahwes mit dem von ihm Erschaffenen absolut erstmalige Wirklichkeit werden soll und tatsächlich wird. Bisher gab es zwar zahlreiche Weisen des Berufen- und Gesandt-Werdens wie z. B. bei den Propheten oder, doch sehr anders, bei Mose. Auch gab es schon Sende-Beauftragungen, die das persönliche Leben der Betreffenden zutiefst trafen 519

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und veränderten. Dafür ist Hosea ein sprechendes Beispiel. Aber daß der Gesendete, der der Sohn Gottes ist, in der Radikalität des Eingriffs in sein persönliches Sein (und was ist das!) mit seinem eigenen Leben, mit sich-selbst eingefordert, dahin-gegeben, in den Tod hinein geopfert wird, das ist ohne jedes auch nur annäherndes Vor-Bild, ja derart unerhört, daß es schwer fällt, dafür überhaupt das geeignete Wort zu finden, um es zu bekennen und zu bekunden. Und doch: Es wird im NT sogar ausgesungen! Wir müßten jetzt alle die Texte sprechen lassen, die das herausstellen und bekunden. Wir lassen es aber hier mit dem Hinweis genügen.5 Allerdings wird dann, wenn das alles einmal gesehen und voll gewertet wird, deutlich, was in den aufgeführten Texten noch zusätzlich und genauer erklärend mit-ausgesagt ist. Es sei wieder beispielhaft auf Gal 4,4f (im Kontext von Gal 3–4) aufmerksam gemacht: „seinen Sohn, geworden aus der Frau, geworden unter das Gesetz, die unter dem Gesetz Stehenden loszukaufen“; und Röm 8,3: „Er sandte seinen Sohn in der Gestalt (Wirklichkeit) des sündigen Fleisches und um der Sünde willen, und verurteilte dadurch die Sünden an seinem Fleisch“. Damit sind wir aufgefordert, jetzt jene ntl. Stellen sprechen zu lassen, in denen nicht so sehr Gott bzw. der Vater das Subjekt ist, sondern dieser Sohn selbst. Dazu ist Phil 2,6–11 (dort ohne Nennung des Sohnes als diesen) und Joh 1,1–14 anzuführen. In diesen Texten ist offensichtlich etwas ausgesagt, das in der Geschehensfolge, die wir zur Darstellungsweise verwenden, vor der eigentlichen Verwirklichung geschehen ist, wozu der Sohn gesendet werden sollte und gesandt worden ist. Es ist dabei zu beachten, daß in den genannten Leit-Texten eine ziemlich andere Sprechweise vorliegt, die mit dem bisher Besprochenen wohl zusammmengeschaut werden kann, aber doch einen je anderen Aussage-Duktus aufweist. Daher sprechen wir das, was diese Texte auf ihre Weise formulieren, entsprechend anders aus; sachlich ist eindeutig von demselben die Rede. In Phil 2,6–11 wird von dem gesungen, „der in der Gottesgestalt war/ist““, und was er erwogen und bedacht hat, um dann in der Folge das zu tun, was im Text bekundet wird: „Er nahm Knecht-Gestalt an und wurde den Menschen gleich“. So wurde er auch erlebt und verstanden (2,8). Es ist dabei zugleich entscheidend von der „Erniedrigung seiner selbst“ die Rede, wie auch von seinem Gehorsam, in dem er das alles vollbrachte. Im Text selbst ist nicht ausdrücklich mit-ausgesagt, wem er Gehorsam geleistet hat, wie auch nicht genauer, was diesen seinen Gehorsam charakterisierte, gerade im Sein und Leben dieses „In-Knecht-Gestalt-Seienden“ Gott-Gleichen. Gott selbst wird namentlich erst nach dem in 2,6–8 Ausgesprochenen in 2,9 genannt, und „Vater“ nochmals später: 2,11. Wir können somit sagen: In Phil 2,6–8 wird die geschehene Lebensführung dessen bekundet, der die Knecht-Gestalt angenommen hatte, das, was dieser Gott-Gleiche zuvor, nämlich vor der Verwirklichung erwogen hat (2,6). Das impliziert unfraglich, daß es mit dem, was wir als 5

Hier sei nochmals auf unsere ausführlichen Feststellungen zu den ntl. Schriftaussagen zur Herkunft Jesu Christi hingewiesen; vgl. das dazu in Anm. 3 betont Gesagte.

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Erwägen Jahwes in Gal 4,4 bzw. in Joh 3,16 schon besprochen haben, „gleichzeitig“ mit diesem Erwägen des Gott-Gleichen geschah/geschieht. In Berücksichtigung des gewichtigen Wortes „Gehorsam“ in diesem Kontext können wir daher sogleich sagen: Beides, das Erwägen Gottes und das Erwägen des Gott-Gleichen, geschah in und als Absprache miteinander, vor der Verwirklichung des Annehmens der Knecht-Gestalt. Ähnlich müssen wir offensichtlich auch Joh 1,14 verstehen. Dort ist ja vom Logos die Rede, der Gott ist (1,1). Auch dort wird ausdrücklich von dem gesprochen, was vor diesem Ereignis des „der Logos ist Fleisch geworden“ schon Wirklichkeit war bzw. „durch ihn geworden“ und geschehen war und geschieht (1,3–5.9–12). Was gemäß 1,14 sich ereignet hat und Wirklichkeit geworden ist, das wurde auch gesehen, erlebt (1,14b): Der Fleisch-gewordene Logos als dieser „wohnte unter uns, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen“, d. h. das Sein, das er immer schon hatte/ist (1,1–3), und das des Fleisch-Gewordenen, „beides“ in diesem einen und als dieser eine. Das wurde und wird dann nochmals auf seine Weise das besondere Erlebnis derer, die ihn annahmen/annehmen und sich ihn zu eigen werden ließen/lassen. Wieder können und müssen wir sagen: Vor dem Ereignis 1,14 selbst war/ist es das Ziel dessen, der Gott ist, zu dem er sich zuvor entschlossen hat, auf daß es Wirklichkeit werde und bleibend sei. In Jahwe geschah somit vor der Verwirklichung das Erwägen und Entscheiden über das, was geschehen sollte, seitens des Vaters und des Sohnes, gleichsam im EinsWerden und Eins-geworden-Sein im Blick auf das absolut Neue, in der Geschichte Jahwes mit dem Erschaffenen bis jetzt Unerhörten. Das ist dann auch geschehen, in dem und durch das Sich-Ereignen-Jahwes-selbst, auf schlechthin neue Weise. Als nächste sind jetzt jene ntl. Texte zu nennen und einzuordnen, in denen ausdrücklich die Rede davon ist, daß Jahwe vor dem tatsächlichen Beginn der Verwirklichung seines Heilsplanes, der in Joh 3,16f und Gal 4,4 angegeben ist, eben diesen seinen Heilsplan auch Menschen eröffnet und mit ihnen besprochen hat, das nämlich, was er, Jahwe, zu „tun“ beabsichtigte. Er will sie in besonderer Weise mit-beteiligen in dem, was er selbst „tun“ will. Davon ist in Mt 1 und Lk 1 die Rede, Texte, die in gewissem Sinn thematisch bekunden, was wir jetzt einzuordnen haben. Wir beginnen wegen unserer Absicht des Zusammenschauens mit dem in Lk 1 Ausgesagten. Unsere eindringliche und ausführliche Besprechung des Textes setzen wir jetzt voraus, halten uns aber das dort Festgestellte nachhaltig vor Augen. Nach Lk 1 besprach Jahwe das von ihm Geplante als erster mit Maria. Sie wird im Text, sicher gezielt erwogen, in ihrer ganz konkreten momentanen Lebenssituation vorgestellt. Sie ist nicht irgendein Mensch, sondern eine Israelitin, die in Nazaret lebt und mit Josef, einem Glied aus dam Hause David verehelicht ist; so ihre Charakterisierung (1,27) zu Beginn des Gespräches. Es sind sodann Futur-Angaben, die Jahwe in 1,32 ausspricht, und zwar an die gerichtet, die er Begnadete nennt und als von ihm auserwählt für das erklärt, was er ihr genau und klar eröffnet: „Du wirst im Schoße empfangen und (den) Sohn gebären; ihm sollst du den Namen JESUS geben“. Die beiden ersten Verben im Futur sagen, was geschehen wird; die dritte Futur-Angabe ist der Auftrag für das, was Maria 521

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ihrerseits „tun“ soll: dem Geborenen nicht einen, sondern den Namen geben, den Jahwe selbst für ihn bestimmt hat: JESUS, d. h. Jahwe rettet/erlöst: Zur Erklärung sei gesagt: Empfangen und Gebären als solche sind ein naturales Geschehen, nicht ein persönlich-willentlich bestimmtes freies Tun der Frau (s. dazu unsere eingehende Erklärung im Exkurs „genna,w“). Maria hat das übrigens, so sagt es der Text, gewußt und so die Eröffnung Jahwes verstanden, wie ihre Ein- und Zustimmung es selbst ausspricht: nicht „ich tue, was du gesagt hast“, sondern „mir geschehe, was du gesagt hast“ (1,39). Dann sagt Jahwe selbst, wer und was dieser JESUS, der geboren werden wird, ist und somit sein wird und welchen Lebensauftrag er erhält: „Er wird Groß(er) sein. Das bedeutet in der Sprechweise des AT: „Er wird Jahwe sein“; denn „Groß(er)“ ist eine oft wie ein Name eingesetzte Bezeichnung Jahwes; so z. B. in Mal 1,11: „Mein Name ist ‚Großer‘ unter den Völkern“.6 Das übersehen die Lk-Kommentare fast alle. Sie sehen „großer“ in 1,32 nur mit der Charakterisierung Johannes des Täufers in 1,35 („groß sein vor dem Herrn“) im Vergleich. Es tritt in 1,32 die weitere Bezeichnung, bessser: der Name für den, der geboren wird, hinzu: „Sohn des Höchsten“. Gemäß anderen Stellen im NT ist „Sohn des Höchsten“ wieder gleichbedeutend als „Sohn Jahwes“ zu hören: Mk 5,7 (par Lk 8,28); Lk 1,32 mit 35; Lk 1,76 (Benedictus: „Höchster“ = Herr, Gott); Lk 6,35; Apg 7,48 (= Gott); Apg 16,17 (Diener des höchsten Gottes): Hebr 8,1 (Melchisedech ist Priester Gottes des Allerhöchsten. In Lk 1,32 wird das alles sogleich mit „Kyrios Theos“ wiederholt und bestätigt. Das bedeutet: Diese „Bestimmungen“ dessen, was bzw. wer der Geborene ist (und daher durch die Geburt auch sein wird) sind alle Jahwe-Namen, sprechen also letztlich „Jahwe-Sohn“ für JESUS aus. – Sodann: In 1,32 steht nicht „Er wird ‚Großer‘ und ‚Sohn des Höchsten‘ erst im Schoße Marias werden“, womit ja gleichsam der „Zeitpunkt“ seines „Entstehens“ in ihrem Schoße angesagt wäre. Vielmehr ist gesagt: Er ist das, er nämlich, den Maria empfangen wird, um ihn dann auch zu gebären. Das Futur „er wird so genannt werden, er wird so heißen“ meint nicht, daß der Geborene erst im Schoße Marias zu sein und zu leben beginnt (so faßt es H. Schürmann auf, der schreibt: „durch Gottes 6

Wir bringen noch folgende Beispiele: Jes 12,6 heißt es: „Jubelt und jauchzt, ihr Bewohner Zions! Denn Groß in eurer Mitte der Heilige Israels“. – Dan 9,4: „Ich flehte also zu Jahwe, meinem Gott, dem Herrn, bekannte unsere Schuld und sprach: ‚O du mein Herr, du Großer und furchtbarer Gott, der den Bund und die Huld denen bewahrt, die ihn lieben und seine Gebote halten‘“. – Dan 14,40f: „Am siebten Tag kam der König, um Daniel zu betrauern. Er ging zur Grube und schaute hinein: Siehe, Daniel saß da! Nun rief er mit lauter Stimme: ‚Groß bist du, Herr, Gott Daniels; es gibt keinen außer dir!‘ Er ließ ihn herausziehen …“. – Ps 48,10–14: „Wir gedenken, o Gott, deiner Gnade im Heiligtum deines Tempels. So wie dein Name, o Gott, so reich ist dein Ruhm bis an die Enden der Erde. Voll der Gerechtigkeit ist deine Rechte; darum möge sich freuen der Zion. Jauchzen sollen die Töchter von Juda ob deiner Gerechtigkeit. Durchwandert den Zion, umschreitet ihn und zählt seine Türme. Achtet auf seine Wälle, in seinen Burgen geht umher! Auf daß ihr dem Geschlecht der Zukunft es saget. So Groß ist Gott! Unser Gott für immer und ewig: er, ja er wird uns führen“. – Ps 138,4–6: „Alle Könige der Erde sollen dich preisen, wenn sie vernehmen, Jahwe, das Wort deines Mundes. Sie werden singen von den Wegen Jahwes: ‚Groß ist die Herrlichkeit Jahwes!‘“.

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schöpferische Tat“: 40 u. ö.). Wir können und müssen sagen: Mit Lk 1,32 ist ausdrücklich und eindeutig gesagt. daß der, den Maria „empfangen“ wird und dann auch gebären wird, das längst ist, was die beigegebenen Namen ja auch aussprechen: JahweSohn. Es widerspricht eindeutig dem Lk-Text, wenn Schürmann meint behaupten zu können und zu müssen, daß „Jesus sein menschliches Dasein (wo steht das im LkText; und was soll das eigentlich heißen?) der schöpferischen Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau verdankt (!)“ (40). Es ist allerdings sogleich auch festzustellen, daß zum Wie des „Empfangen-Werdens“ hier (noch) keine näheren Erklärungen mitausgesagt sind. Man sollte das auch nicht vorzeitig erwarten, sondern den Text selbst erst einmal aussprechen lassen und zunächst „nur“ gut zuhören. Die Frage nach dem Wie stellt Maria in 1,34, nämlich auf das von ihr Gehörte, Verstandene, Akzeptierte, das in 1,32–33 angegeben ist. Die Antwort auf die Frage wird in 1,35 geben. Wir bleiben aber zunächst noch bei dem, was in 1,32 der Maria eröffnet wurde. Zu „er wird Großer sein“ und „Sohn des Höchsten“ wird mehreres hinzugesagt: „Gott wird ihm den Thron seines Vaters David geben“. Das ist durch die Bestimmung Josefs in 1,26 schon erklärt; es ist von Anfang an die Verheißung Jahwes für David (und Nachfolger) mit-angesagt. Der, den Maria empfangen und gebären wird, muß ja und soll zum rechtmäßigen Sohn Davids durch den entsprechenden, damals vorgeschriebenen Ritus erklärt und als solcher eingesetzt werden, was ja nur mit dem geborenen Kind vollzogen werden kann. Das gibt Lukas übrigens in 2,21 als am 8. Tag nach der Geburt geschehen an. Die weiteren Bestimmungen, wer der ist, den Maria empfangen und gebären wird, sind: „Herrscher über das Haus Jakobs alle Zeit und seines Königtum wird kein Ende sein“ (1,33). Das sind wieder bekannte Bestimmungen für Jahwe, wie es z. B. in Mi 4,7 und Dan 7,14 ausgesprochen ist. Alles in allem gesehen ist also der, den Maria empfangen wird, Jahwe selbst, Jahwe-Sohn. Wir stellen dazu hier nicht schon die theologisch-systematische Frage, wie „beide“, nämlich Jahwe und JahweSohn „gleich/identisch“ und doch zugleich nicht derselbe-eine, sondern eben JahweVater und Jahwe-Sohn und „beide“ der Eine ist/sind. Das sind die späteren und heutigen sogenannten innertrinitarischen Fragestellungen, die wir jedoch in der Besprechung der ntl. Texte und ihren eigenen Aussagen als unangebracht und unberechtigt beiseite lassen. Es sei hier nur an Sätze wie Joh 14 erinnert, wo der Text diese Frage kennt und auf seine Weise beantwortet bzw. offen läßt. Das steht aber hier jetzt nicht zur Diskussion, weil wir feststellen wollen, was der Text Lk 1 selbst klar ausspricht und mit welchen Worten. Das wagen wir mit unserer Weise des Sprechens von Jahwe-Vater und Jahwe-Sohn wiederzugeben: Jahwe selbst zeigt sich und erklärt sichselbst auf diese Weise. – Nach Lk 1,34 stellt Maria auf die Eröffnungsworte Jahwes die Frage, „wie das sein wird“. Sie begründet ihre Frage, die in aller Ruhe gestellt ist, mit dem Hinweis auf ihre momentane eigene Lebenssituation mit den Satz: „weil ich (meinen) Mann nicht erkenne“, was für damalige israelitisch-jüdische Ohren schlicht heißt: „weil wir uns (noch) nicht erkennen“, obwohl wir schon verehelicht sind; sie haben, wie es damals selbstverständlich war, noch keinen ehelichen Umgang mit523

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einander. Sie spricht also aus dem damals wie heute selbstverständlichen Wissen um das aus, was natürlicherweise die Vorbedingung zur Entstehung eines neuen Menschen ist, nämlich der entsprechende gemeinsam-persönliche willentliche Akt von Mann und Frau, damals „sich erkennen“ oder „zusammenkommen“ genannt. Das ist ja ein gemeinsam-persönlicher Akt der Ehepartner. Man wußte damals wie heute eben auch, daß dieser einzelne Akt keineswegs „natur“-automatisch die tatsächliche Empfängnis des Kindes als Folge hatte; darauf ist zu hoffen und zu warten. Das reale Werden/Entstehen des Kindes, so wußte man damals wie man es heute weiß, kein willentlich bestimmter Vorgang, sondern es geschieht nach Gesetzen, die nicht mehr dem Willen der Eltern unterliegen. Wir sollten daher hier dieses beachten, daß Maria offenbar Jahwe voll verstanden hatte und also für sich selbst keinen irgendwie gearteten Auftrag heraus- oder mitgehört hat, ihrerseits etwas zu „tun“ oder im Wirken Jahwes mit-zuwirken. Die Frage nach dem Wie, die sich ja auf Empfangen- und Gebären-Werden bezieht, ist in sich eindeutig. Das zeigt auch die Antwort Jahwes klar an: 1,35. Die in diesem Vers aufgegriffenen Sprachwendungen sind alttestamentlich geläufig. Sie alle bedeuten klar dies eine: Jahwe wird selbst etwas „tun“. Das ist ausgesprochen mit „Heiliger Geist wird über dich kommen“ und „Kraft des Höchsten wird dich überschatten“. Was genau, auf deutlichere Weise gesagt, Jahwe im Blick auf Maria „tut“, das bleibt hier (noch) offen. Es wird im Text selbst nichts näher angegeben oder erklärt. Jedenfalls ist es aber hinreichend eindeutig ausgesagt und kann und muß auch so verstanden werden, nämlich: Jahwe (nur er wird genannt), und er allein „tut“, daß es Wirklichkeit werde und sei, was in 1,32 angesagt ist. Es erhält aber noch Zusätze, die freilich dasselbe, mit anderen Worten, besagen wie die zuvor verwendeten Ausdrücke und Sprachbilder. Der Gewordene wird „Heilig“ und „Sohn Gottes“ heißen, eben weil er das ist und nicht erst im Schoße Marias wird/entsteht. So spricht der Lk-Text es aus; er sagt nicht mehr, als was im Worte Jahwes so formuliert ist. Was die Kommentatoren aus Lk 1,32–35 alles heraushören, besser: hineinlesen, ist unglaublich vieles, was jedoch keinerlei Begründung im Text hat, sondern der Phantasie der Autoren, aus welchen Beweggründen immer, entsprungen ist. Es sind das erwiesenermaßen Ausdeutungen, die aufgrund viel späterer theologischer oder spiritueller Gedanken erwogen und mittels viel späterer Sprachwendungen und Begriffe leider auch Eingang in die exegetischen Darlegungen gefunden haben und bekanntlich mit immensem Eifer behauptet werden. Wir können unsere Einsichtnahme in die Aussagen von Lk 1 und deren Einordnung in die Geschehensfolge abschließen, indem wir schlicht gelten lassen, was Maria abschließend ausgesprochen hat: „mir geschehe, was du gesagt hast“. Es wird noch angefügt: „und der Bote schied von ihr“ (1,38). Das Eröffnungsgespräch Jahwes mit Maria endet damit. Wir können folglich festhalten: Jahwe hat sich selbst vor der faktischen Verwirklichung seines Heilsplanes mit Jesus Christus einem darin zu beteiligenden Menschen, Maria, eröffnet und mit ihr besprochen, was er zu „tun“ gedenkt und auf welch konkrete Weise sie darin beteiligt sein soll. Diese Weise bedeutet kein Beteiligt-Sein durch Mitwirken im Entstehen524

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Lassen des Seins und Lebens des Kindes, sondern das Sich-bereit-Erklären, das Kind, von dem Jahwe so deutlich gesprochen und sein Sein benannt hat, im Schoße aufzunehmen, es zu tragen, es sich nähren zu lassen im naturgegebenen Organ, es auszutragen und zur naturgegebenen Zeit (vgl. Lk 2,5–7) zu gebären. Dieses Kind aufgrund des „Tun“ Jahwes sich ein-geben zu lassen und in diesem Sinne zu empfangen (nicht mit-zu-zeugen oder überhaupt entstehen zu lassen) ist Maria bereit. Sie lädt ja Jahwe gleichsam ein, seine Absicht zu erfüllen, indem sie sagt: „Mir geschehe, was du gesagt hast“. Wir sollten, wenn wir dies aussprechen, nicht übersehen oder zu wenig achten, daß Maria tatsächlich in ihrem Frau-Sein, ja mit Josef Verehelicht-Sein von Gott „in Anspruch genommen“ wird, worin sie ja, wenn man es so sagen kann, mit Leib und Seele eingefordert ist. Das alles nochmals anders formuliert: In Lk 1 wird bekundet, daß Jahwe den in 1,32f genannten „Sohn“ durch sein (alleiniges) „Tun“ in den Schoß Marias ein-geben wollte und nach der Zustimmung Marias auch eingesenkt hat, auf daß sie genau dieses Kind trage und gebäre (und ihm weiterhin und immer „Mutter“ sei in dem Sinne, der sich aus Lk 1–2 erklärt und wovon in den Evangelien noch öfters die Rede ist). Wir dürfen uns hier ohne Zweifel an Gal 4 erinnern, wo letztlich nichts anderes, sondern genau dieses von Paulus in seiner Argumentation bekundet wird. Die Frage, was genau Jahwe „getan“ hat, mag als immer noch unbeantwortet angesehen werden. Durch unser Zusammenschauen der einschlägigen Texte wird sich zeigen, daß auch sie eine Antwort erhält. Wir lassen sie hier noch offen; es wird im weiteren Verlauf unserer Überlegungen ein hinreichendes Verständnis des damals Geschehenen und im NT Bekundeten möglich werden. Dabei wird sich auch erweisen, ob die Frage nach dem genauen Verständnis des „Tuns“ Jahwe überhaupt sinnvoll und berechtigt gestellt ist. Als nächster Text für die Zusammenordnung der ntl. Aussagen zur Herkunft Jesu Christi ist Mt 1 heranzuziehen. Der Vers 1,18 spricht in aller Deutlichkeit aus, was jetzt von Bedeutung und somit zu beachten ist. Matthäus formuliert: „Mit der Herkunft Jesu Christi war es so …“. Hier wird also schon „berichtet“ (dies im biblischen Sinn verstanden), was geschehen war/ist. Auch hier wird, ähnlich wie in Lk 1, die persönliche Lebenssituation von Josef und Maria als „Termin“ angegeben, und das in einem Satz, der offenbar bedacht und mit Absicht eine ausgesprochene Zeitangabe macht: „Als seine Mutter Maria mit Josef verehelicht war, bevor sie zusammengekommen waren, fand sich, daß sie im Schoße hatte aus heiligem Geist“ (1,18). Offensichtlich ist damit ein historisches Faktum genannt. Es schließt an den letzten Satz der Genealogie an, die selbst als eine geschichtliche Folge gelesen sein will. Wenn wir hier jetzt bewußt von einem historischen Faktum sprechen, so ist es wörtlich gemeint, weil es so offensichtlich die Absicht des Evangelisten ist. Mit der gängigen Methode der heutigen historisch-kritischen Wissenschaften mag es nicht erwiesen werden können. Im Hören auf die biblische Bekundung dessen aber, was man meint als „Christusereignis“ bezeichnen zu sollen, kommen wir nicht umhin (und warum auch?), es gelten zu lassen, daß Jesus von Nazaret real gelebt hat, erlebt wurde und offenbar auch die dazu 525

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gehörenden Fakten, die jedenfalls das NT meint bekunden zu müssen. Mt 1,18 sagt, daß das dort genannte Faktum erkannt und begriffen worden ist. Nicht ohne SachGrund ist Wert darauf gelegt, dieses bestimmte „Datum“ festzuhalten, nicht anders als es Paulus mit seiner Angabe „als die Fülle der Zeit gekommen war“ eingeordnet hat (Gal 4,4). Was „sich fand“, war, daß Maria, wie es behutsam, aber eindeutig formuliert wird, „im Schoße hatte aus heiligem Geist“. Wir haben oben schon gesehen (s. unsere eingehende Besprechung von Mt im entsprechenden Kapitel, die hier stets beachtet bleibt), daß dieser Satz wörtlich anerkannt und gewertet werden muß, auch in dem, was er vermeintlich nicht, jedenfalls nicht klarer sagt. In Mt 1 ist etwas genannt, das schon in Lk 1, dort allerdings als Futur-Angabe, ausgesprochen ist. Wir können somit sagen: Maria hatte empfangen; das Gebären stand noch bevor. Das nehmen wir beim Wort. Denn damit ist ja gesagt, daß Jahwe inzwischen begonnen hat, das in Lk 1 der Maria eröffnete Geschehen Wirklichkeit werden zu lassen. Was dort mit „du wirst empfangen“ ausgesagt ist, wird hier durch „sie hatte im Schoße aus heiligem Geist“ als geschehen und als auch schon anderen Menschen zur Kenntnis gekommen ausgesprochen. Es war auf die ein- und zustimmende Antwort Marias, in der sie sich persönlich, als Ehefrau Josefs, zu ihrem bestimmten Beteiligt-Werden im „Tun“ Jahwes entschieden und bereit erklärt hatte, so daß Jahwe begann zu „tun“, was er wollte, daß es Wirklichkeit werde und sei. Es war somit, wenn wir dem in Mt 1 Bekundeten folgen, ein entsprechendes aufklärendes Gespräch Jahwe auch mit dem Ehemann Marias zu führen, zumal dieser seinerseits wegen der Zur-Kenntnis-Nahme des in 1,18 genannten Faktums überlegte, was ihm jetzt sinnvoll zu tun erschien. Auf das entsprechende Bedenken Josefs hin tritt Jahwe an ihn heran, nicht unähnlich wie nach Lk 1, ihm zu eröffnen, wozu er selbst ausersehen war. Daran wird deutlich, daß Jahwe sich zuerst an Maria gewendet hatte, die persönlich, wenn man es so sagen will, als Frau sogar intensiver betroffen war von ihrer Aufgabe. Jahwe gab dem Josef ausdrücklich als dem Ehemann Marias seinen Grund-Entschluß kund, zugleich mit dem ihn betreffenden Auftrag. Dieser bezog sich auf den, den Maria schon „im Schoße hatte“. So versteht sich, daß und wie Jahwe mit Josef ins Gespräch eintritt. Ihm wird bestätigt, daß er das Faktum, das schon geschehen war, richtig verstanden und eingeschätzt hatte und seine eigene Überlegung und seine Absicht von Jahwe verstanden und akzeptiert wurde. Jahwe spricht Josef ausdrücklich als Sohn Davids an; als solcher soll er den, den Maria „im Schoße hatte“, zu dem rechtswirksam erklären und einsetzen, der in Person die Einlösung der Verheißung Jahwes an David ist. Matthäus nimmt dazu Jes 7,14 als gültigen Hinweis, der das, was jetzt geschehen wird, vor-angekündigt hatte. Jahwe selbst hatte, sogar gegen den Widerstand des Hauses David, es als sein eigenes zukünftiges Wirken verheißen. Das wird durch den Namen JESUS klar, den auch hier Jahwe zuvor bestimmt, den Josef dem damaligen Gesetz in Israel entsprechend dem Kinde zu geben hatte, damit das Kind überhaupt rechtsmäßig und rechtsmächtig der verheißene Sohn Davids werden kann. Der Name JESUS, der schon Maria im Vorgespräch Jahwes aufgetragen war, wird hier auch dem zuständi526

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gen Familienhaupt vor-bestimmt und zugleich als Erklärung angesagt, nämlich als Lebensauftrag Jahwes an den, der geboren werden wird. Das alles wird dem Josef von Jahwe angetragen, auf daß er es im Gehorsam zu Jahwe auch erfülle. Wieder sehen wir die Parallelität von Jes 7 und Mt 1, wo allerdings der eine Angesprochene sich weigert, Josef aber tut, was der Wunsch Jahwes an ihn sagt. Jahwe macht es ja in Realität vom Mit-Tun Josefs abhängig, was er für alle Menschen und Welt selbst vorgesehen hatte, Wirklichkeit werden zu lassen. Josef, so steht es im Text, re-agiert als Gerechter, d. h. Gottesfürchtiger im Sinne des AT auf das von Jahwe „Getane“ (1,18.20) und auf den Auftrag Jahwes. Das alles wird im ganzen MtEv entsprechend als bestätigt bekundet. Wir erkennen übrigens auch wieder unmittelbar und zwanglos, daß Mt 1 in gewissem Sinn ein erklärender Kommentar zu Gal 4 darstellt, und umgekehrt Gal 4 den Aussage-Inhalt von Mt 1 auf seine Weise bestätigt, erklärt und vertieft. Auf die Herkunft Jesu Christi als solche geschaut, harmonieren Lk 1 und Mt 1 in erstaunlicher Weise. Was bekundet wird, benennt zwar der eigenen Text-Absicht gemäß jeweils nur ein Element des bestimmten „Zeitpunktes“ im damaligen Geschehen, doch drängt sich deren Zusammenfügung von selbst auf und stellt keine willkürliche Ansicht dar. So ist es offenkundig und gleichsam selbstverständlich, daß von der „Sache“ her gesehen das Gespräch Jahwes mit Maria vor dem Gespräch mit Josef stattgefunden hat, was auch bestätigt, daß tatsächlich Geschehenes in seiner eigenen Aufeinanderfolge zur Sprache gebracht ist. Das ist eklatant im Blick auf die Aussagen in Lk 1 und Mt 1 in der Zusammenschau beider Aussage-Inhalte. Was in Lk 1 als Erklärung auf die Anfrage Marias in Futur-Aussagen gesagt wird, nämlich „heiliger Geist wird über dich kommen“ und „Kraft des Höchsten wird dich überschatten“, findet sich in Mt 1 als inzwischen geschehen ausgesprochen, indem nämlich die Folge genannt wird: „sie hatte im Schoße aus heiligem Geist“. (Wir brauchen hier nicht die üblichen Fragen der Exegeten und Geschichtswissenschaftler zu stellen noch weniger sie zu beantworten, welcher Evangelist vielleicht von welchem Kenntnis hatte, wer von wem abhängt, woher sie ihre Informationen haben u. ä. Wir haben uns hier ja entschlossen, die ntl. Aussagen selbst, verstreut in einzelnen Schriften, zusammenzuschauen und sie so zusammengefügt auch auszubreiten.) Wie in 1,18 vom geschehenen „Tun“ Jahwes in äußerster Kürze der Rede bekundet wird, muß allerdings genau beachtet bleiben. Es heißt ja nur: „sie hatte im Schoße aus heiligem Geist“. Da ist nicht einmal ein Verb eingesetzt und nur mit purem „evk – aus“ Jahwe angesagt, wobei die Präposition evk/aus nicht zu erkennen gibt, ob mit ihr ein Verb (und welches) wenigstens anklingen soll. Auch in der Wiederholung der Aussage-Formel in 1,20 findet sich nur das pure „evk – aus“. Auch die Wendung gennhqe,n in 1,20 sagt nicht mehr aus; sie ist in der offenen Bedeutung „Hervorgebrachtes, Entstandenes“ zu lesen und zu verstehen, keineswegs als „Gezeugtes“, das sich ja an die Formulierungen in Mt 1,2–15 anschließen würde, was aber gerade nicht der Fall ist. Die Übersetzung von „evgennh,qh“ in 1,16 mit „gezeugt“, die einige Autoren bringen, ist erkanntermaßen falsch (s. unsere obige Besprechung des Textes). Der Vers 1,18 hätte dann ohne Schwierigkeit darauf zurück527

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greifen können, was aber nicht geschieht, obgleich 1,18 ja 1,16 genauer erklären will. Das bedeutet: Die Offenheit der Formulierungen in Mt 1,16,18.20 ist, wie schon für Lk 1 erkannt, genau in dem Sinn zu lesen, zu werten und auszuwerten, den sie selbst aussprechen. Was Jahwe – er allein ist Subjekt des „Tuns“ – genau „getan“ hat, wodurch oder womit er etwas (und was?) „gewirkt“ hat, das bleibt in Mt 1 genau so offen, wie wir es schon für Lk 1 wie auch für Gal 4 und Joh 1,14 u. a. erkannt haben. Dem haben wir uns zu fügen. Gewünschte nähere Bestimmungen müßten durch biblische Texte und ihre Sprachwendungen aufgewiesen und begründet werden – falls man sie findet. Damit wären alle ntl. Aussage-Inhalte zur Herkunft Jesu Christi angegeben, erfaßt, zusammengeschaut und in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge dargestellt. Wir haben auf jeden Fall klar erkannt, daß von einer Unvereinbarkeit, Nicht-Harmonisierbarkeit miteinander oder gar von einer Widersprüchlichkeit der ntl. Aussagen untereinander zur Herkunft Jesu Christi zu sprechen, gänzlich unbegründet, ja absurd ist. Das Gegenteil zeigt sich vielmehr; wir haben es an einigen Texten ausdrücklich herausgestellt. Was sich tatsächlich widerspricht, das sind nicht die ntl. Text-Aussagen, sondern die Begrifflichkeit und die Redewendungen, mit denen man meint, diese Aussagen rechtens zu erfassen, einzusehen und das so vermeintlich Erkannte ins Wort zu bringen. Das sind oft unglücklich gewählte Ausdrücke und Redeweisen, wenn nicht gänzlich unangebrachte Wendungen oder Begriffe, die aus anderen, oft philosophischen Überlegungen herrühren, jedoch als Mißbildungen für christlichtheologisches Sprechen anzusehen sind. Ein Musterbeispiel dafür ist „Präexistenz“, aber auch „Menschwerdung“ und „Inkarnation“ u. a. Dasselbe ist für Wort und Begriff „Jungfrauengeburt“ wie für „geistgewirkte Empfängnis“ u. ä. zu betonen. Wir haben das vielfältig in unseren Text-Besprechungen herausstellen müssen; wir können auch auf eine Reihe von Exkursen verweisen, wo wir entsprechende Sach- und Begriffsklärungen ausführlich vorlegen. Alle diese hier angemahnten Begriffe und Redewendungen sind zu hinterfragen, weil sie Probleme aufwerfen, die die Bibel selbst und das ihr entsprechende Glaubens-Wissen gar nicht bereiten. Dem werden wir noch im einzelnen nachzugehen haben. Es kann hier auf unsere zahlreichen Exkurse vorläufig verwiesen sein. Eines ist vielleicht als unbedingt noch frag-würdig anzusehen übriggeblieben, das auch als Wichtiges angesehen werden mag. Es ist ja noch nicht erkannt und daher noch nicht geklärt und ausgebreitet, wann Jahwe in diesem betrachteten Geschehensablauf, den wir zur Darstellung heranziehen, das „getan“ hat, von dem die Rede ist. Das betrifft ja wesentlich ihn selbst. Das gilt insbesondere für die Zusammenschau von Gal 4,4, Röm 8,3 und Joh 1,14 auf der einen Seite mit Lk 1,35 und Mt 1,18.20 auf der anderen Seite, wo ja die „zeitliche“ Abfolge ausdrücklich herausgestellt wird. Man kann (und muß wahrscheinlich) die Frage auch konkret so stellen: „Wann geschah real, was Joh 1,14 mit „der Logos wurde (evge,neto) Fleisch“ oder Röm 8,3 mit „Gott 528

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sandte seinen Sohn in der Gestalt (d. i. das Sein) des sündigen Fleisches“ und Phil 2,7 mit „der Gott-Gleiche nahm Knecht-Gestalt an“ ausgesagt ist, wenn man diese Angaben mit Lk 1,35 (Futur-Angaben) und mit Mt 1,18 (als Geschehenes) zusammenschauen will. In der Sprechweise, die wir hier gewählt haben, gefragt: Wer war der, den Gott in den Schoß Marias gegeben, eingesenkt hat? War es sein Sohn als der, der Gott ist (Gott-Sohn), bzw. der Logos, der Gott ist (Joh 1,1) – oder der, der Fleisch geworden war bzw. dem Gott-Vater die „Gestalt (das Sein) des sündigen Fleisches“ vorher auferlegt hatte? Dasselbe nochmals anders gefragt: Wen „empfing“ Maria durch das „Tun“ Gottes (Lk 1,35) und trug ihn bis zu seiner Geburt in ihrem Schoße, den Gott-Seienden Sohn Gottes – oder diesen Sohn Gottes, der dazu vorher der „FleischGewordene“ (Joh 1,14) bzw. der „die Gestalt(Sein) des sündigen Fleisches“ (Röm 8,3) schon aufgetragen bekommen hatte? Oder dasselbe nochmals anders, nämlich in der heute üblichen theologischen Sprechweise (die wir ja erklärtermaßen hier vermeiden) gefragt: Wann geschah die Menschwerdung des Logos, vor dem, was nach Lk 1 und Mt 1 als geschehenes Ereignis des Empfangens Bekundete? Oder wurde der Sohn Gottes überhaupt erst im Schoße Marias „Mensch“, wie es z. B. H. Schürmann sagt. Wir sollten auch bemerken, daß hier nach einer Zeitfolge und Zeitpunkten gefragt wird, die Jahwe selbst betreffen und von ihm her auch das von ihm Erschaffene. Damit ist faktisch – und das sollte man deutlich sehen -in Bezug auf Jahwe von einer Geschehensfolge im Leben und so auch im Sein Jahwes mit dem von ihm Erschaffenen die Rede. Es wird da irgendwie doch vorausgesetzt, daß das Leben Jahwes einzelnes auch in seinem Aufeinanderfolgen kennt, sogar so, daß „in“ Jahwe Beweggründe für bestimmtes „Tun“ (oder Lassen) erkennbar sind und also „vorlagen“, und „vorliegen“, die bestimmtes „Tun“ und „Wirken“ seitens Jahwes gleichsam in Gang gesetzt haben. Das hat (jedenfalls logisch) zur Folge, daß erkannt wurde und also erkannt werden kann (von wem, das lassen wir zunächst offen), daß das Leben Jahwes und daher er-selbst so etwas wie einen Lebens- und Geschehens-Verlauf, eine gewisse Aufeinanderfolge von verschiedenen „Ereignissen“ und deren „Auswirkungen“, auch auf Jahwe selbst, erfährt, die dabei auch in ihrer realen Zuordnung zu- und aufeinander verstanden werden und daher ein-gesehen werden können. Alles das aber erscheint unserer gängigen Theologie mit ihrem herrschenden Gottesverständnis undenkbar und unvereinbar. Denn dieses meint unbedingt und zweifel-los von Gottes ewigen Sein, seiner Transzendenz, Unveränderlichkeit u. ä. sprechen zu müssen, so daß im Grunde wegen dieses absolut eigen-artigen Seins Gottes „in“ ihm selbst von keiner Geschehens-Folge die Rede sein kann, so, daß es eine „Geschichte“ des Lebens Gottes und also Gottes selbst gar nicht geben kann. Für Gott kann nur mit der Vokabel „ist“ gesprochen werden; ein „er war“ oder ein „er wird sein, was er jetzt noch nicht ist“ würde der Wirklichkeit, dem „Wesen“ Gottes (im gängigen, allgemein akzeptierten Sinn verstanden) prinzipiell widersprechen. Kurz: Wenn wir die gestellte Frage nach dem „Wann“ des „Tuns“ Gottes für bestimmtes Einzelnes „in“ bzw. für Gott überhaupt sinn-voll beantworten wollen, dann haben wir, ohne es vielleicht zu bemerken, schon 529

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vorausgesetzt, jedenfalls denkerisch, daß es überhaupt möglich ist, in Bezug auf Gott solche Fragen nach „geschichtlichen Verläufen und Folgen“ stellen zu können und zu dürfen, und daß solches tatsächlich von uns erkannt werden kann und erkannt wird, was auch ein „Erzählen“ oder „Bekunden“ solcher Geschichte ermöglicht. Wir hatten uns in diesem Abschnitt dazu entschieden, den Aussagen der ntl. Texte selbst zur Herkunft Jesu Christi nach-zugehen und sie nachzuerzählen. In diesen Texten selbst ist, ohne daß sie es argumentativ absichern, schlicht vorausgesetzt, daß von Jahwe nicht nur irgendeine, sondern genau seine „Geschichte“ erzählt werden kann, ja erzählt werden muß, weil wir Jahwe-Glaubende sind. Deswegen versuchen wir jetzt, auf die gestellte Frage mittels eben dieser Text-Aussagen eine Antwort zu geben, und wir „vergessen“ dabei, jedenfalls vorläufig, eine theologische oder philosophische und geschichtswissenschaftliche Begründung dieser Bibel-Aussagen und ihrer Verwendung durch uns. Wir halten es hier nicht für nötig, uns gegenüber denkerischen Vor- und Einwänden zu rechtfertigen oder zu verteidigen, sondern antworten durch schlichtes Nach-Erzählen der biblischen Aussagen selbst (denen wir allerdings zuvor nachgedacht haben). Daß es sich stets um einzelne Aussage-Stücke der Texte handelt, weil jede Schrift des NT ihren jeweils eigenen Anlaß und daher entsprechende Erst-Interessen hat, ist offenkundig und soll nie unbeachtet sein. Das hindert aber nicht, das zu leisten, was wir hier bewußt erreichen möchten: die gültige, text-entsprechende Zusammenschau dieser Aussagestück-Aussagen. Wenn dazu die Aussage-Inhalte in ihrer sachlichen, durch das damalige Geschehen begründeten Aufeinanderfolge zusammengestellt und eingeordnet werden, setzen wir keine selbstgewählten Mosaiksteine nach unserem, evtl. theologischen Gestaltungswillen zusammen, um uns ein anschauliches und bewegendes Bild zu schaffen. Wie das Leben und Wirken Jahwes zusammen mit dem von ihm Erschaffenen nicht aus frei ausgewählten Mosaikteilen zur faktischen Geschichte Jahwes geworden ist, die auch Schmerz und Leid für Jahwe selbst kennt, so soll auch unsere Zusammenschau diesen Geschichts-Fakten, und nicht zuerst einer Theologie gelten, so berechtigt diese auch sein mag. Wir beginnen wieder bei dem Entschluß Jahwes, den Sohn zu senden. In Joh 3,16f wird das noch spezifizierter ausgesprochen: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen einziggeliebten Sohn dahingab …“. Es wird das „Motiv“, der Beweggrund, die treibende Kraft für das Senden ausdrücklich herausgestellt: die Liebe Jahwes der Welt gegenüber. Damit ist das genannt, was den ganzen Verlauf der Geschichte Jahwes mit seinem von ihm Erschaffenen von Anfang an bestimmt hat. Was in Gen 1,1 und in Joh 1,1 als Anfang von allem angesagt ist, wiederholt auf seine Weise Eph 1,5 mit dem Satz: „Aus Liebe hat er uns nach seinem freien Willensentschluß durch Jesus Christus zur Sohnschaft vorherbestimmt“. Damit ist offenbar das bleibend-herrschende Movens für das ausgesprochen, was Jahwe zu „tun“ sich-selbst ent-schließt und ent-schlossen hat. Das bedeutet: Die Grund-„Tat“ im Anfang (Gen 1,1) von allem, was Jahwe seit Anfang an selbst „tut“ und dem von ihm Erschaffenen zu sein und mit-zu-„tun“ als Vermögen/Gabe/Begabung schenkt, ist: lieben. Auf die Frage, was man da genau „tut“, 530

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wenn man „liebt“, findet sich keine Antwortmöglichkeit, die es erklärend verdeutlichen, beschreiben, gar definieren würde. „Lieben“ als Tätigkeitswort ist, nicht anders wie „sein“, „leben“ u. a., das Sprachwort für das „Tun“ (es bezeichnet ja tatsächlich ein „aktives“ Tun), das im Sprechen bzw. Hören jeder versteht und weiß (!), was damit angesagt ist, wofür sich aber keine Möglichkeit zu einem „genaueren“, ausdeutenden Erklären findet. Die scholastische Philosophie sprach von einem conceptus per se notus, von einem „Begriff “, der von sich selbst her seine eindeutige Bedeutung hat, die alle frag-los begreifen – und doch nicht deutlicher auszuformulieren imstande sind. Wenn wir sagen „er ist“, dann tut der Betreffende das: sein; ebenso spricht „er lebt“ von nichts weiterem als nur, daß er das tut: leben; ebenso sagt „er liebt“ nur dieses „er liebt“. Nur aufgrund des konkreten Zusammenhangs im Satz und dem weiteren Satzgefüge des erzählenden Sprechens (das ja Geschehendes oder Geschehenes aussagt) wird verstanden, was hier „sein“, „leben“, „lieben“ näher bestimmt bzw. worin dieses mit „sein“, „leben“, „lieben“ Angesagte sich zeigt, manifestiert, auswirkt usw. Das macht darauf aufmerksam, daß wir das unbedingt sehen und beachten müssen, weil schlichte Formeln wir „er ist“, „er lebt“ usw. allein ja buchstäblich nichtssagend sind. Auf die Auskunft „er ist“ allein wird stets sogleich die Frage gestellt; „was“ oder „wer genauer“ angesagt sein soll. So gibt etwa der Satz „er existiert“ statt nur „er ist“ schon entschieden mehr zu verstehen, nämlich „da-sein“, „zugegen-sein“ u. ä. Ähnliches gilt für „er lebt“, was in einem bestimmten konkreten Fall sagen soll „er ist noch nicht tot“ o. ä. Entsprechendes gilt für „er liebt“; diese Formel verlangt gleichsam nach einer ausdrücklichen Auskunft darüber, wen oder was er „liebt“ oder worin sich das „lieben“ zeigt, manifestiert oder auswirkt. Es sind bekanntlich vielerlei Wörter und Wendungen, und vor allem Tätigkeitswörter, die jeweils im konkreten Fall offenlegen, was dort „lieben“ jeweils „genauer“ meint bzw. was oder wie der dieses „tut“: lieben. Bei solchen „Taten“ und Bezeugungen der Liebe sprechen wir dann auch von „Liebes-Taten“, von denen sogar erzählt werden kann und erzählt wird. Dabei sagt das jeweils gewählte andere Tätigkeitswort aus, was der Liebende „getan“ hat bzw. „tut“, und es wird mit der Zusatzbestimmung „aus Liebe“ die „eigentliche“ Wirklichkeit benannt. Wer solches selbst erlebt und erfahren hat, was „lieben“ bzw. „geliebt-sein“ ins Wort bringt, der vermag auch davon zu erzählen, es zu bekunden. Entsprechend kann auch der, dem eine solche Erzählung oder Bekundung zuteil wurde, weiter-erzählen, was er vernommen und dem er offenbar auch Glauben geschenkt hat. Genau das geschieht in der Bibel in Bezug auf Gott und seine Geschichte und Geschichtstaten. Alles dieses so Bedachte und in hilflosen Worten Ausgesprochene zeigt an, was gerade im Vernehmen der biblischen Bekundungen über das Sein und Wirken Jahwes „aus Liebe“ vor Augen gehalten ist und wird, damit diese Bezeugungen in ihrem vollen, beeindruckenden Aussage-Gehalt verstanden und eben auch geglaubt werden können; denn sie berichten ja tatsächlich „Unglaubliches“ (wie wir solches zunächst spontan benennen).

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Mit dem Satz „Jahwe sandte seinen einziggeliebten Sohn“ in Joh 3,16 ist eine erste Auskunft gegeben über den, der von Jahwe gesendet wird. Von diesem und seinem „Verhältnis“ zu Jahwe, seinem Vater, ist ausdrücklich und ausgiebig im ganzen JohEv die Rede. Diese dort entfaltete Charakteristik haben wir uns vor Augen zu halten, wenn wir den, der gesendet wird, wirklich verstehen wollen. Er ist ja offensichtlich auch in Gal 4,4ff (vgl. Gal 1,1–5) wie in Röm 8,1–11 der, von dem das Heil-Entscheidende bekundet wird, stets bezeichnenderweise im Miteinander mit dem Vater, dem Sendenden. Jahwe sendet somit nicht einen Menschen, den er dazu beruft und ihn ermächtigt, wie es bisher öfters in der Geschichte Jahwe geschehen ist, besonders im Falle der Propheten, die im Namen Jahwes ihn und sein Wirken zu verkünden oder sogar zu verheißen gesandt wurden, in einigen Fällen auch indem sie in ihrem persönlichen Sein tiefgreifend in Anspruch genommen wurden. Dafür sind Jer 1,4–10, Amos 7,14 und vor allem Hos 1,2–9 (s. das ganze Buch Hos) sprechende Beispiele. In Jesus Christus aber geschieht etwas absolut Neues, Erstaunlichstes, und das überhaupt erstmals und in unerhörter Weise und Einmaligkeit: Jahwe sendet seinen Sohn, den, der in Joh 3,8 „Einziggeborener“ wie mit seinem Eigennamen genannt wird (auch als Einziggeliebter zu lesen). Nach Joh 1,1–4.18 ist er der „Logos, der Einziggeliebte, der am Herzen des Vaters ruht“. Das bedeutet letztlich: Jahwe-Vater sendet JahweSohn. Das wurde damals auch genau so erlebt und als die Wirklichkeit erfahren (Joh 1 u. ö.). Dem Philippus sagt Jesus: „Wer mich sieht, der sieht den Vater“ (vgl. Joh 14,9). Als Sohn ist er „aus dem Vater“ und dabei „mit dem Vater“ auf unsagbare Weise „eins“. Was in diesen Versen wie im Gesamt-Text des JohEv mit so schlichten Worten „zur Sprache“ gekommen ist (wir wollen bemerken, daß wir so formulieren, weil wir wissen, daß es wirklich un-aussprechbar ist!), das verstehen und begreifen wir, ohne jedoch dafür jemals eine philosophisch oder gar natur-wissenschaftlich vollgültige Formel zu finden, ja wir versuchen es auch nie, so etwas zu erreichen. Das ist vielmehr das ganz offene (!) Geheimnis unseres Erkennen- und Verstehen-Könnens, daß der jeweils andere sich-selbst uns zu erkennen geben kann und tatsächlich gibt und wir ihn-selbst hörend-sehend vernehmen, an- und aufnehmen. Der Sich-Mitteilende teilt sich dabei nicht, gibt sich nicht weg, verliert sich dabei nicht und bleibt also ganz beisich, obgleich er durch das Sich-Geben bei und in dem ist, dem er sich zu erkennen gibt und gegeben hat. Sich-Mitteilen ist auch keine Verdoppelung seiner-selbst. Es sind nicht Zwei, der Sich-Zusprechende und der Erkannt-Angenommene, sondern es ist ein-und-derselbe, der Sich-Zu-Sprechende und der Angenommene. Wir sollten hier erst gar nicht auf das Zusätzliche in diesem „Phänomen“ aufmerksam machen (obwohl es gut ist, das auch stets mit-zu-beachten), nämlich daß es sich bei „beiden“ um ein Freiheitsgeschehen handelt. Der Sich-Zusprechen-Wollende ist frei dazu, zu tun, was er kann, sich zu erkennen geben; im und wegen dieses „Tuns“ verliert er sich nicht und geht sich-selbst dabei, wenn er es tut, nicht verlustig. Entsprechend verhält es sich auch mit der Freiheit des Hören-Erkennen-Könnens. Es steht ihm frei, ob er es „tun“ will und es tut oder nicht, das Erkennen und das oder den in-sich-aufnehmen, 532

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der/das zum Erkennen-Annehmen gegeben hat. Man kann es auch durch freiwilliges „Tun“ überhören. Alles das so Herausgestellte ist nochmals „geheimnisvoller“ (wir wissen es, daß ein Geheimnis, in seiner gegebenen vorliegenden Schlichtheit oder in seiner un-sagbaren „Fülle“ erkannt (!) wird) in dem, was wir „lieben“ nennen. Das um so mehr, wenn es hier um Jahwe und sein Lieben geht. Alles ist, so sagt es u. a. das JohEv immer wieder, „aus Liebe“, alles, wozu Jahwe sich-selbst ent-schließt. Jahwe geht als der Liebende gleichsam aus sich selbst hinaus, hinein in das, was er erschafft und „aus Liebe“ zu sein gibt. Jahwe widmet sich-selbst und sein Leben diesem AusLiebe-Erschaffenen. Er gibt sich in die Hand dessen, den er gerade dazu und dergestalt er-schafft, daß er ihn, Jahwe, in seinem „Tun“, Lieben, auch zu erkennen, zu begreifen und zu verstehen gibt, das er sich-selbst schenkt, und so auch verständig-lebendig anund aufgenommen werden kann und wird. Das aus Liebe Sich-Schenken bedeutet ja alles, nur kein Sich-weg-Geben, kein Sich-Aufgeben, Sich-Verlieren und VerlustigGehen. Lieben aus und in Liebe ist das „Tun“, in dem und durch das der Liebende sich gerade im Angenommen/Aufgenommen-Werden seitens des Geliebten/Beschenkten geehrt, erfreut und geborgen weiß, gleichsam liebend aufbewahrt und behütet, und so neuer „Besitz“ seiner-selbst. Das gilt nochmals mehr und inniger für das „Verhältnis“ von Jahwe Vater und Sohn: Der Vater verliert sich-selbst nicht an oder in den Sohn, wenn er ihn ganz in und mit dem eigenen Liebe-Sein Sohn werden und sein läßt. „Sohn“ ist auch keine Verdoppelung des „Vaters“, wenngleich der Sohn, wie es in der deutschen Sprache oft so ausgesprochen wird, „ganz der Vater“ ist. Der Vater liebt den Sohn als sein Ein-und-alles. Dem liebenden Vater ist der Einzig-geliebte Sohn in einem gewissen Sinne sogar wert-voller als der Vater sich selbst wert ist. Der Liebende schenkt ja sich-selbst als Preis der Liebe, und er weiß um sich-selbst als den, der sich selbst ge-schenkt, nicht ver-schenkt hat und als dieser in der Hand des Sohnes geborgen bleibt im Sohn, dem er mit sich-selbst alles schenkt, was des Vaters ist. Wenn es heißt „Vater und Sohn sind eins“, dann handelt es sich nicht um eine mathematische Summe: „Vater“ und „Sohn“ sind keine Summanden, die man zusammenzählen kann oder möchte („V + S = 1“). Das alles wird bei bestimmter Gelegenheit von Paulus einmal so ausgesprochen: „Wißt ihr nicht, daß euer Leib (d. i. ihr-selbst, in diesem Fall den Korinthern gesagt) Tempel des in euch wohnenden Heiligen Geistes ist, den ihr von Gott habt, so daß ihr euch nicht selbst gehört? Ihr seid um einen teuren Preis erkauft! Darum verherrlicht Gott in eurem Leib!“ (1 Kor 6,19–20). (Was diese kurze „Überlegung“ in Bezug auf unsere gängige sog. Trinitätstheologie zum Nach- und Bedenken, ja zum Um-denken andeutet, wäre zu entfalten, wozu jedoch hier nicht der Ort ist.) Von diesem Sohn ist auch in Röm 8,3 und Gal 4,4 ausdrücklich die Rede. Dieses Gesendet-Werden des Sohnes, der mit dem Vater eins ist, findet in Jes 35,3–4 und Jes 41,14 seine gültige „Erklärung“: „ich selber werde kommen zu erlösen“. Das muß somit auch hier ausdrücklich festgestellt und festgehalten werden. Es werden nun aber zusätzliche wesentliche Angaben gemacht, die den betreffen, der gesendet werden wird. Das ist in Gal 4,4 und in Röm 8,3 ganz eindeutig als 533

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wesentlich und entscheidend für die „Konstitution“ des Gesendet-werden-Sollenden angegeben: „geworden aus der Frau, geworden unter das Gesetz“ bzw. „in der Gestalt (= Sein) des sündigen Fleisches um der Sünde willen, und er verurteilte dadurch die Sünde in seinem Fleisch“. Dasselbe wird in Phil 2,7–8 ausgesagt mit den Wörtern „Knecht-Gestalt“ und „er erniedrigte sich-selbst und wurde gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz“. In Joh 1,14 ist es mit „und der Logos ist Fleisch geworden“ angesagt. Mit allem, in diesen Formeln Bezeichneten ist, wenn man es so sagen darf, der Sohn zum Gesandt-Werden „aus-gestattet“ worden, vor der tatsächlichen Entsendung, und zwar in seinem Selbst-Sein. Es wird ihm gleichsam als zu sein, zu tragen und ins Ende zu bringen zu seinem Sohn-Sein (= Gott-Sein) hinzu-aufgeladen, ohne freilich daß sein Selbst-Sein als Sohn als Abzugebendes oder Suspendierendes bestimmt worden wäre. Der Sohn ist auch noch seit dieser Vor-Bereitung zum Gesendet-Werden bleibend der „einziggeliebte Sohn am Herzen des Vaters“, dazu jetzt, kraft der genannten Vor-Bereitung, der zum „Sündenfleisch Gemachte“ bzw. „Fleisch-Gewordene“. Das alles ist er nicht erst nach dem Entsendet-Sein geworden. So sagen es die Texte eindeutig selbst und unmißverständlich. Kein einziger Text sagt, der Sohn und Logos sei Mensch geworden. Das läßt aufmerken. Die tatsächlich eingesetzten Wörter dafür, wie zu verstehen gegeben wird, was der Sohn und Logos vor seinem Gesandt-Werden geworden ist (bzw. wozu er gemacht wurde) sind: „Fleisch“, „sündiges Fleisch“, „Knecht“, ja „in der Gestalt (= im Sein) des sündigen Fleisches um der Sünde willen“. Wir haben in der ausführlichen Besprechung von Gal 4,4 in seinem Kontext in Gal 3–4 klar erkannt, daß der Sohn zu einem von denen geworden ist, die die Erlösung und also die Heils-Tat Jahwe erfahren sollten, um dadurch sogar „Söhne Gottes“ im und durch den Sohn Gottes werden zu können, wenn sie glauben, d. h. in den Heilswillen Gottes einstimmen und seiner Wirkweise zustimmen. Das macht hinreichend deutlich darauf aufmerksam, daß alle Menschen seit dem sog. Sündenfall nicht mehr Menschen waren noch wurden oder werden konnten, so, wie sie Gott nach Gen 1,26 ursprünglich erschaffen hat. Allen wurden die Folgen der Ursünde gemäß Gen 3 zum unausweichlichen Schicksal. Kraft dieser Sündenmacht wurde jeder neugezeugte Mensch „sündiges Fleisch“, womit ja nicht nur etwas am Menschen, sondern der ganze leib-geistige Mensch namentlich-persönlich gemeint ist. Der Mensch zu allen Zeiten überall auf der Welt war und ist seit und kraft der Ursünde, wenn man es so sagen darf, „von Natur“ Sünder, da von Sündern gezeugt. Dadurch waren und sind sie alle unmittelbar und unentrinnbar Tod-Geweihte. Gott hatte den Menschen zum Leben, ja zum Zusammenleben mit ihm gemeinsam im Gottesgarten erschaffen. Das hat die Sünde durch ihre Verweigerung und ihren wirkmächtigen Widerspruch zunichte gemacht, für alle Nachfahren der ersten Sünder. Es muß viel mehr, als es faktisch geschieht, darauf geachtet werden, daß alle ntl. Aussagen über den Menschen nicht von einem Mensch-Sein sprechen, das philosophisch die sog. Natur als Wesensbegriff meint. Es ist vielmehr stets das Wesen „Mensch“ gemeint bzw. vorausgesetzt, das von der sog. Ursünde bis in seinen „Wesenskern“ hinein getroffen, ja zerstört ist. 534

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Das ist die allgemeine unausweichliche Wesensbestimmtheit eines jeden Menschen seit Adam (hier einmal so formuliert), und daher eher sein „Unwesen“ zu nennen. Nicht der Mensch als der Von-Jahwe-Erschaffene ist im NT mit „Mensch“ gemeint, sondern der Zu-Erlösende, weil im Un-Stand, in der Sünder-Sein-Existenz-Lebende es ist, von dem in allem die Rede ist, im So-Geworden-Sein kraft der Ursünde. Nur so ist überhaupt zu verstehen, warum die Erlösung das tatsächlich verunstaltete Mensch-Sein aller Menschen schlechthin zur Zeit Jesu Christi zur Gänze betraf (und z. B. durch die christliche Taufe wieder- und zurückgeschenkt wird: Röm 6,1–14). Dieses Mensch-Sein, nämlich das durch die Ursünde gestiftete und kraft der Erbsünde stets und unausweichlich durch menschliche Zeugung weiter-gegebene UnwesenSein ist das, das dem Sohn Gottes (gemäß Röm 8,3ff ) zu leben und zu er-sterben aufgetragen worden ist, was er allen zum Heil im Gehorsam voll-bracht hat: Kreuzestod und als Toter-begraben-Seiender. Es ist die Frage, was gemeint sein kann und muß, wenn z. B. so schnell von der menschlichen Natur Jesu Christi gesprochen und dabei die jeweils gängige philosophische Begrifflichkeit zu Grunde gelegt wird. Kann mit ihr überhaupt das „Wesen“ des Menschen gültig zur Sprache kommen, das im biblischen Sinne mit „Mensch“ faktisch-konkret ausgesprochen wird? Kann damit rechtens und dann auch maßgeblich das erbsündliche Sein (bei aller Fragwürdigkeit auch dieses Ausdrucks) angesagt werden? Jedenfalls meint „Fleisch“ in Joh 1,14 und, wenn dort auch etwas anders, Röm 8,1–11 den durch Jahwe in Jesus Christus zu erlösenden, an sich zunächst un-gestalteten, todgeweihten konkreten Menschen seit Adam und keineswegs eine wie immer begrifflich bestimmte „Natur“. Christlich-theologisch gesprochen ist, wenn sach-gültige Sprechweise gefordert ist und wirklich vom damals lebenden Jesus die Rede sein soll, stets und nur dieses erbsündlich-verunstaltete „Wesen“ eines jeden Menschen seit Adam und folglich auch zur Zeit Jesu vor dem Kreuzes- und Auferweckungsereignis gemeint sein. Nur so werden die Aussagen in Röm 3,24–26 (mit Röm 4,24f und 5,8–11 zusammengeschaut), in Röm 4,11–17; 5,12–21; 7,17–25 und Kp. 8 ganz recht verstehbar und verstanden. „Der Tod ist der Sold der Sünde“ (6,23) meint eindeutig und unmißverständlich den Menschen, der seit der Ursünde auf Erden lebt; er ist, weil Mensch dieser Zeit seit Adam‚ unausweichlich ein Tod-Geweihter, was der Mensch als von Jahwe Erschaffener gerade nicht ist, da er von Jahwe her Zum-Leben-in-Jahwe-Gemeinschaft ermächtigt und berufen-befähigt ist. Mensch gemäß dem Jahwe-Geschenk ist das unbezahlbare Vermögen, es selbst zu sein, und zu vollbringen. Ob das jeweils in unserem gängigen theologischen Denken und Sprechen hinreichend klar ist und beachtet bleibt, ist leider sehr zu bezweifeln. Deswegen waren nach der Ursünde und somit zur Zeit der Gesandt-Werdens des Sohnes keine Menschen am Leben, wie sie ursprünglich von Gott erdacht, erschaffen und von ihm als Gegenüber-in-Liebe-Gewünschte. Doch genau in diesem Fehl-Sein des Menschseins, Sünder-Sein und Tod-Geweihter-Sein zu sein und zu leben wird dem Sohn auferlegt – bis ins Selbst-tot-Sein hinein (Phil 2 u. a.). An ihm und in ihm wollte Gott die Sünde verurteilen (Röm 8), d. h. sie er-sterben lassen. Wir können hier 535

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zur Bestätigung des Gesagten, das ja „Unglaublichstes“ angibt, als weiteres Beispiel für die Radikalität solcher Existenz-Auflage an die Versuchung Jesu durch Satan nach seiner Taufe durch Johannes den Täufer, doch noch vor seinem Wirkensbeginn hinweisen (Mt 4,1–11; Mk 1,12f; Lk 4,1–13). Wir haben uns für die Zusammenschau der ntl. Texte zur Herkunft Jesu Christi – es sei wegen der folgenden wichtigen Überlegungen nochmals darauf aufmerksam gemacht – die damalige Geschehensfolge der Geschichte Jahwes in Jesus Christus als Darstellungsschema gewählt und sind dieser Absicht bis jetzt gefolgt. Zuletzt haben wir ausdrücklich, den tatsächlichen Textaussagen entsprechend, das in den Blick genommen und besprochen, was offenbar vor dem tatsächlichen, historischen Gesandt-Werden des Sohnes zuvor „in“ Gott bedacht, erwogen, vor-besprochen und für die konkreten Vollzug festgelegt wurde. Deswegen haben wir Gewicht auf die Feststellung zu legen, daß nicht nur der Entschluß zum Handeln vor der Ausführung gefaßt wurde, sondern offensichtlich auch das geschehen ist, was in Röm 8 und Joh 1 die „Sündenfleisch-Werdung“ des Sohnes (Logos) genannt wird. Gleichsam vor dem realen Eintritt in die Welt der zu Erlösenden hat Jahwe-Vater und Jahwe-Sohn das Entscheidende des Heil-Wirkens Wirklichkeit werden lassen und begonnen, es zu „tun“, was „Erlösung“ ist und wirkt. Das harmoniert vollkommen und ohne Verstehensschwierigkeit mit dem, was in Mt 1–2 und in Lk 1–2 bekundet ist, sogar auch mit dem, was dort nicht ausgesprochen ist (aber meist von den Kommentaren, wie sie meinen notwendigerweise, in diese Texte hineingelesen wird). Das sei jetzt näher herausgestellt. Wir erinnern uns an das oben schon eindringlich Besprochene zu diesen Texten, das wir hier nicht wiederholen müssen, nämlich daran, daß für Josef und Maria deren persönliche Lebenssituation ausdrücklich und datumsmäßig angegeben wird: beide waren „verehelicht, aber noch nicht zusammengekommen“. Für Josef wird herausgehoben, daß er aus dem Hause Davids ist, und für Maria wird Nazaret als ihr derzeitiger Wohnort genannt. Genau an diesen Orten und „in diesen Tagen“ (eine Formel, die Lk 1,3 und 24,10 vorgibt) tritt Jahwe, so heißt es in Lk 1 und Mt 1, zuerst an Maria und dann an Josef heran, um ihnen vorzulegen, was er, Jahwe, zu „tun“ sich entschlossen hat, um sie sich darin auf die dort näher erklärte Weise mit-beteiligen zu lassen. Maria, die vielleicht am meisten in ihrem persönlichen Sein Betroffene, versteht, was Jahwe ihr kundtut: sie wird den „empfangen und gebären“, der JESUS ist und dem sie folglich diesen Namen geben soll, den Jahwe vorbestimmt. Im selben Satz wird noch mehr zur Charakterisierung dessen gesagt, den Maria „empfangen“ wird: „Er wird Großer sein und Sohn des Allerhöchsten genannt werden“. Das Futur in diesem Satz schließt an das Futur „du wirst empfangen“ an; mit ihm wird gerade nicht gesagt, daß dieser das erst im Schoße Marias wird, also „jetzt“, zur Zeit der Ankündigung noch nicht ist. Genau das sagt nämlich Jahwe nicht, er sagt vielmehr, wer der ist, den Maria empfangen wird. Wir haben oben schon gesehen, daß in diesen Sätzen Lk 1,31–36 alles Jahwe-„Bezeichnungen“ verwendet werden, so daß sogleich klar ausgesprochen ist: Er ist Jahwe-Sohn, und den wird Maria „emp536

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fangen“ – falls sie zustimmt, ist nach 1,38 zu ergänzen. Dasselbe wiederholt sich in der Antwort auf die Wie-Frage Marias: „das Gewordene wird Heilig, Sohn Gottes genannt werden“. Auch damit ist nicht gesagt, der, den sie empfangen wird, werde in ihrem Schoß erst der werden, als der er „Heilig“ und „Sohn Gottes“ genannt werden wird, sondern er ist der Heilige, der Sohn Gottes. Das spricht wieder von „Jahwe“ und „Jahwe-Sohn“ in einem. So wird er dann auch als der, der ist, genannt werden, von denen nämlich, die ihn erleben werden, ihn als diesen erfahren, erkennen und ihn glaubend annehmen. Maria hat das alles verstanden und auch begriffen, daß sie selbst keinerlei Auftrag bekommen hat, ihrerseits etwas durch persönliches Tun mit-zuverwirklichen. „Empfangen“ ist ja im Bezug auf das Kind kein willentlich-persönliches, aktives Vollbringen, sondern pures Entgegennehmen, was wie auch immer gegeben wird. Daß eine Frau „empfangen hat“, nämlich das Kind, wird als natural Geschehenes erst post factum an anderem als ihm selbst offenbar. Ähnlich ist auch das Gebären ein naturales Folge-Geschehen (vgl. auch Lk 2,6), das die Frau an sich erfährt, aber nicht als persönliche Tat leistet. Maria weiß das, der Lk-Bekundung nach, und fragt deshalb auch nach dem Wie dessen, was Jahwe als Geschehen-Werdendes (durch sein erst später genanntes „Tun“) ansagt. Die Antwort Jahwes auf Marias Frage lautet, daß er-selbst es „tun“ wird, was in Lk 1 mit gängigen atl. sprachbildlichen Wendungen für bestimmtes „Tun“ Jahwes ausgesprochen wird („über dich kommen“, „dich überschatten“: 1,35). Mehr findet sich im Lk-Text als Antwort an Maria nicht ausgesagt. Sie aber hat es offensichtlich für sich selbst voll verstanden und begriffen, wie ihr ein- und zustimmender Satz es sagt: „Mir geschehe gemäß deinem Wort“. Das alles findet seine weitere Bestätigung in dem, was in Lk 2 zur Geburt und über das geborene Kind bekundet und wovon sogar gesungen wird: Lk 2,9–14. In diesem Text ist besonders der Satz des Boten des Herrn, der aufmerksam macht: „Heute ist euch geboren der Retter, der Christos Kyrios ist, in der Stadt Davids“. Der Geborene ist Kyrios, Jahwe, und hat heute die Geburt aus Maria so real-leiblich erfahren, wie er es als „in Windeln gewickeltes Kind“ klar zu erkennen gibt. Er war es folglich, den Maria zuvor empfangen hatte, von/durch Jahwes Einsenken des Sohnes in ihren Schoß. Auch noch Lk 2,30ff.40 bestätigt dieses Verständnis der herausgehobenen Besonderheit des Empfangen- und Geboren-Werdens dessen, der JESUS ist und daher diesen Namen als Geborener auch erhält.7 Was wir so an Lk 1 erkennen konnten, ist entsprechend zur Herkunft Jesu Christi und der Beteiligung Josefs in Mt 1–2 ausgesprochen. Nach Mt 1,18 erkennt er, daß 7

Wir fragen hier nicht im Sinne einer datumsmäßigen Fragestellung noch nach dem von Lukas vorgelegten Termin in exegetisch-historischer Weise, sondern im „Verlauf “ des im NT bekundeten Geschehens des Bereitens des Heils. Zur exegetischen Frage, wie Lukas sich das vorgestellt hat, was er in Kap. 1–2 „berichtet“, vgl. beispielhaft M. WoIter, Wann wurde Maria schwanger? Eine vernachlässigte Frage und ihre Bedeutung für das Verständnis der lukanischen Vorgeschichte (Lk 1–2), in: „Von Jesus zum Christus“ (FS für Paul Hoffmann) hrsg. von R. Hoppe und U. Busse, BZNW 93, 1998, 405–422.

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„Maria im Schoße hatte aus heiligem Geist“. Das wird in 1,20 wiederholt mit „Das Gewordene in ihr ist aus heiligem Geist“. Damit ist hinreichend deutlich ausgesprochen, daß allein durch das „Tun“ Gottes der „gebildet“ worden ist, den sie im Schoße trägt und zur naturgegebenen Zeit gebären wird. Der Text 1,18.20 kennt nicht einmal ein Verb, das irgendwie gültig als „Wirken“ verstanden werden könnte; es ist nur die Präposition „evk – aus“ eingesetzt. Somit ist klar, daß das Empfangen-Haben allein „aus Gott“ herrührt und geschehen ist. Wir haben oben in der ausführlichen Besprechung der Texte Mt 1–2 und Lk 1–2 betont darauf aufmerksam gemacht, daß in beiden Texten absolut offen bleibt, was man gern über dieses „Tun“ näher erklärt haben möchte. Deswegen zeigt sich aber auch, daß die Bekundungen in Mt 1–2 und Lk 1–2 ganz offen sind für das Zusammenschauen mit anderen ntl. Aussagen zur Herkunft Jesu Christi. Mehr noch: Die Offenheit der Mt- und Lk-Aussagen entspricht auf frappante Weise den Angaben in Ga14,4f und Röm 8,3, Joh 1,14 und Phil 2, freilich wenn diese Texte mit ihren eigenen Aussage-Inhalten und nicht nach Kommentarauslegungen gelesen werden. Was wir bei diesen letztgenannten Texten gesehen haben, nämlich daß Jahwe bzw. Jahwe-Vater und Jahwe- Sohn gemeinsam das Heil-Wirken vor-besprechen und seine Ausführung im einzelnen planen, das wird in Mt 1 und Lk 1 als im tatsächlichen historischen Geschehensbeginn herausgestellt und bekundete, gleichsam einführend in das, was in der weiteren Geschichte Jahwes mit der todgeweihten Menschheit und Welt Wirklichkeit wurde und in den Evangelien sogar thematisch ausgebreitet wird – bis ins Todesgeschehen im Pascha-Ereignis Jesu Christi und dem weiteren, nochmals unerhörteren „Tun“ Jahwes: Auferweckung des toten Jahwe-Sohnes durch Jahwe-Vater.8 8

Dieses inzwischen mehrfach erkannte problemlose Harmonieren der betreffenden ntl. Textaussagen zumal in ihren Aussage-Inhalten zeigt nicht nur ein Zusammenpassen und Kongruieren dieser Inhalte; sie ergänzen sich auch einander und erklären sich näher gegenseitig. Das sieht und begreift man allerdings nur dann, wenn alle diese Einzelaussage-Inhalte in ihrem eigenen Aussage-Gehalt und nicht in den allzu häufig mißdeutenden Kommentar-Auslegungen gelesen und einander zugeordnet werden. Das sei an einem eklatanten Bespiel demonstriert, nämlich an den Kommentar-Aussagen von H. Schürmann in seinem Lk-Kommentar zu Lk 1,26–38, dem viele andere Exegeten folgen und das auch von systematisch arbeitenden Theologen fraglos übernommen worden ist. Vgl. dazu unser ausführliche Besprechung von Lk 1,26–38 oben in Kapitel II A. und B., S. xxx–xxx sowie unsere Exkurse „gennao“ und „Unbiblische unsachgemäße Wörter/Begriffe in ihrer Anwendung in Exegese und biblischer Theologie“ (mit den Stichwörtern „Jungfrauengeburt“, „Lebensentstehung Jesu“ u. a.). Wir haben dort schon auf die gänzlich mißdeutende zusammenfassend-einleitenden Sätze noch vor der eigentlichen Auslegung des Lk-Textes in 1,26–38 hingewiesen; sie seien hier kurz wieder aufgeführt: „Die Erzählungstendenz der Verkündigungsszene ist eminent christologisch: Es geht letztlich darum, die dem Glauben feststehende Messianität und ‚Gottessohnschaft‘ Jesu theologisch zu gründen. Das geschieht durch den Aufweis, wie Jesus sein menschliches Dasein der schöpferischen Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau verdankt. Der Bericht schildert von Anfang bis ins Ende Gottes Wirken im Lichte der Prophetie Is 7,14 LXX, die ihn gänzlich und von Grund auf gestaltet“ (40). Als Stichwort bzw. Haupt-Satz heißt es dort: „Jesus verdankt sein menschliches Dasein der schöpferischen Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau“. Das ist im gesamten Text Lk 1 nicht mit einer Silbe, nicht einmal andeutungsweise ausgesprochen.

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Wir können jetzt zusammenfassend dieses festhalten: In seiner eigenen Lebensgeschichte hat Jahwe seit der Ursünde, beginnend mit Noach, versucht, dem zerstörerischen Widerspruch des Erschaffenen zu seinem von ihm zu Anfang intendierten Lebens-Sinn entgegenzuwirken. Auf das grundlegend Zerstörerische der Ursünde, das das erstrebte Miteinander-Leben Jahwes mit dem Erschaffenen stets aufs neue vereitelte, antwortet Jahwe seinerseits nicht mit machtvollem Widerspruch und also mit dem absoluten Auslöschen alles erschaffenen, aber zutiefst verunstalteten Seins (vgl. Gen 6,5–7.13). Er versuchte vielmehr immer wieder wenigstens ansatzweise einen Zugang hin auf die im Unheil Lebenden, um sie aus dem Elend ihres selbstverschuldeten Unheils und Tod-Geweiht-Seins herauszuführen, hinein in das Land und in die Zeit, deren Wesenscharakter nur mehr Heil und Leben in gegenseitigem Vertrauen und Einander-Lieben bedeutet und ist. Auch in den Versuchen des HeilBereitens und -Bringens hat Jahwe nie einfach seine Allmacht und seinen Willen durchgesetzt, sondern stets aufs neue um Zu- und Einstimmung gerade auch bei den im Widerspruch und Verweigerung Lebenden geworben, um erreichen zu können, was seine Liebe ihm zu erstreben eingab. Es sei dazu nochmals auf Jes 5,1–4 und vor allem auf Hos 11 hingewiesen. Jahwe selbst fragt um Rat, was er denn tun solle, damit die Erlösungs- und Heil-Bedürftigen auch ihrerseits zu seinem Erlösungsgeschehen ja sagen, ihm zustimmen und ihn als Jahwe wirken lassen als den, der allein imstande Wir haben gesehen, daß es zwei eher bildsprachliche Wendungen sind, mittels derer ausgesagt ist, was Jahwe zu „tun“ gedenkt: „heiliger Geist wird über dich kommen“, das Schürmann absolut ungerechtfertigt mit Gen 1,2 u. ä. Bibelstellen meint erklären zu können. Denn in 1,35 ist auch nicht andeutungsweise gesagt, der „Geist Gottes“ sei am Schöpfungswerk Jahwe wie auch immer beteiligt. Auch der Hinweis auf Jes 32,15 ist da fehl am Platze. In Apg 1,8 verwendet Lukas wohl diese Formel in Bezug auf die „auserwählten Apostel“ im Munde Jesu vor seiner Aufnahme in den Himmel: „Ihr werdet die Kraft des heiligen Geistes empfangen, der auf euch herabkommt“. Das sagt aber nichts zu 1,35 aus. Ähnliches ist zu dem „Überschatten der Kraft des Allerhöchsten“ zu sagen. Schürmann weist für sein Verständnis auf atl. Texte hin, die Lk 1,35 erklären würden. Doch nur in zwei Fällen ist das bildhafte Verb „überschatten“ auf Jahwe angewendet, nämlich in Ps 91,4 und 140,8, wo aber eindeutig vom „Behüten und Schutzgeben über den Beter“ gesprochen wird und in keiner Weise von einer schöpferischen Tätigkeit Jahwes. Im gleichfalls beigezogenen Text Lk 9,34 wird von einer Wolke gesprochen, die über (den verklärten!) Jesus, den Moses und Elias und die Jünger kam und sie überschattete, und aus dieser Wolke „erklang eine Stimme“, nämlich des Vaters in Bezug auf Jesus, den Sohn. Von irgendeinem Wirken, gar schöpferischer Art ist nichts angedeutet. Daß zur Ausdeutung von Lk 1,31–38 in den Kommentaren derart eindringlich von Neuschöpfung in Bezug auf die (dort sog.) Lebensentstehung Jesu bzw. seines „menschlichen Daseins“ gesprochen wird, ist schlechterdings von den Text-Aussagen her nicht gerechtfertigt; ja es verfälscht die ursprüngliche Bekundung. Wenn man aber so von „schöpferischem Wirken des Geistes“ bzw. Jahwe in Lk 1 spricht, dann versteht man, daß das mit Gal 4,4f, Röm 6 und 8 wie mit Joh 1,14 nicht harmoniert, sondern eins dem anderen widerspricht. Das liegt aber an den Fehlgriffen des Auslegens und Kommentierens der Texte und nicht an diesen selbst. „Fleisch“ in Röm 6 und 8 und in Joh 1 ist nie das, was Gott neu erschafft, um es zur Vernichtung des ursündlichen Seins wirken zu lassen. Vielmehr liebt Gott die Sünderwelt (Joh 3,8) und eint sie sich selbst, um die Sündenschuld selbst mit sich-selbst einzulösen. Dazu haben wir hinreichend klar gesprochen und es wird noch weiter davon die Rede sein müssen.

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und willens ist, Heil und Leben zu ermöglichen und zu bringen. Die ganze Geschichte der Welt und auch noch des auserwählten Volkes Israel ist davon grundlegend geprägt und bestimmt. Über allem steht das Eigenbekenntnis Jahwes: „Ich liebe! Wie könnte ich davon lassen? Mein Herz kehrt sich um in mir gegen mich. Denn ich bin Gott und nicht ein Mensch“ (Hos 11,1.8–9). Davon ist auch der ganz neue und bisher absolut unerhörte Versuch zuinnerst geprägt, mit dem Jahwe „im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius, als Pontius Pilatus Statthalter von Juda war, unter dem Hohenpriester Hannas und Kajaphas“ (Lk 3,1f) das Heil zu bringen beschließt und dieses Werk auszuführen beginnt. Wir haben gesehen, daß er den Beschluß zuvor erwogen, bedacht und entschieden hat, es zu vollbringen zu versuchen. Wieder spricht Jahwe dazu namentliche Menschen an, um sie einzuladen, diesem seinem Vollbringen-Wollen zuzustimmen und sich darin beteiligen zu lassen. Die gänzlich neue Verwirklichungsweise zeigt sich an dem, was Jahwe in Jesus Christus Wirklichkeit werden ließ und sowohl sein eigenes Heil-Bringen wie auch das SichHeilschenken-Lassen der Glaubenden vollbrachte. Wegen der faktischen Aussagen der ntl. Texte sollten wir uns nicht scheuen, hier jetzt nicht in der theologisch üblichen Redeweise zu sprechen, sondern in der Rede wahren Mitempfindens dessen, was die biblischen Texte selbst und wie sie es sagen (vgl. nochmals Jes 5 und Hos 11, aber auch z. B. Lk 19,42). Jahwe nimmt selbst das liebe-verweigernde Sünder-Sein, in Röm 6 und 8 und in Joh 1,14 Sündenfleisch genannt, aus und in Liebe so innig in seine Arme, daß er es sogar mit sich-selbst eins-werden läßt, im Sohn und Logos, der Jahwe ist. Auch diesem Sohn, dem er aus Liebe zu den sich-verweigernden Sündern den Widerspruch voll anzunehmen, für sich gelten zu lassen, ja sich mit ihm seinsmäßig zu einen auflastet, bleibt die Freiheit des Gehorsams geschenkt. Jahwe möchte im und mit dem fleischgewordenen Sohn die Erfüllung und Einlösung des Willens des Widerspruchs dieses Sünder-Seins selbst vollbringen, nämlich sterben und tot sein. Gerade ihn, seinen Einziggeliebten, gibt er als Entgeld des Todes (Röm 6,23) dahin (Joh 8,3), indem er ihm anträgt, bis in die undenkbarste Realität des Selbst-des-TodesSeins zu leben und deren Sterben und Tot-Sein zu vollbringen. Dieses gänzlich neue Selbst-Sein wird dem Sohne vom Vater nicht aufgezwungen, vielmehr angetragen, daß er es vollbringe, es anzunehmen und sich in Person zu einen (Phil 2), ja daß er es selbst werde, Fleisch (Joh 1,14), um es in persönlicher Zu- und Einstimmung zu erfüllen, was Jahwe glaubt nur durch das Er-sterben und das wahre Tot-Sein Wirklichkeit werden lassen zu können: die Kreuzes-Opfer-Dahingabe seiner-selbst im einziggeliebten, im Fleisch der Sünde geborenen Sohn. Übersehen wir dabei nicht, daß die Kreuzigung im römischen Reich damals die schändlichste Hinrichtungsweise war, die man überhaupt kannte. Um mit Paulus zu sprechen: „Wie durch den einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und durch die Sünde der Tod und so der Tod auf alle Menschen übergegangen war, weil alle gesündigt haben … Durch den Fehltritt des einen verfielen die vielen dem Tode. … So ist also durch die Sünde eines einzigen Menschen über alle die Verurteilung gekommen. Aber durch den einen, 540

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der gerecht war, kam auch die Rechtfertigung und das Leben. Denn wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen zu Sündern geworden sind, so sollen durch den Gehorsam des einen die vielen zu Gerechten gemacht werden. Wie also die Sünde durch den Tod ihre Herrschaft ausübte, so sollte auch die Gnade kraft der Rechtfertigung zum ewigen Leben ihre Herrschaft ausüben durch Jesus Christus unsern Herrn“ (Röm 5,12–21). Jahwe sah offensichtlich keinen anderen, keinen leichteren und sichereren Weg als diesen. Zwischen Jahwe-Vater und Jahwe-Sohn herrscht offenbar von Anfang an und immer dieses ganz eigen-artige Verhältnis der Liebe, das Miteinander in allem, was kommen mag, das Eins-Sein-Wollen in gegenseitigem Sich-Schenken und Annehmen, aus Liebe, im Glauben, der dem anderen geschenkt wird, in dem man sich ganz auf den andern hin „verlassen“ darf und es auch real tut. Dieses Eins-Sein im Lieben und Glauben nennt das NT den „Geist Jahwes“, der „zwischen“ Vater und Sohn das „Ein-Herz-und-eine-Seele-Sein“ ist. Wenn wir den Aussagen in Gal 4,4–7 und Röm 6 und 8 folgen, dann ist auch der Weg der Durchführung des Entschlusses zuvor bedacht und abgesprochen. JahweSohn sollte „aus der Frau werden“ und „unter das Gesetz (gestellt) werden“. Das bedeutet, wie wir gesehen haben, daß Jahwe-Sohn zunächst selbst einer der vielen Heilsbedürftigen werden sollte, näherhin Israelit, wegen der zuvor geschehenen faktischen Geschichte Jahwes mit Abraham und mit dem Auserwählten Volk. Daraus wird verständlich, daß das erste Gespräch mit einem zu beteiligenden Menschen, mit Maria, als der dazu erwählten Frau stattfand; wir haben das im einzelnen gesehen. Daraus ist auch ersichtlich, zumal wenn wir auf die Formulierungsweise in Lk 1 achten, daß die Einung von Sohn (Logos) mit dem ursündlich-verunstalteten MenschSein vor diesem Antragsgespräch mit Maria geschehen ist. Der Maria wird ja in Lk 1 genau erklärt, wer der ist, den sie empfangen wird, falls sie zustimmt. Alle entsprechenden näheren „Bestimmungen“ dessen, den sie empfangen und tragen soll, sind gewissermaßen Jahwe-Namen (s. o.). Den das Sünder-sein-gewordenen Sohn (Logos) senkt Jahwe in den Schoß Marias, auf daß dieser sein „Einer-der-vielen-Sünder-geworden-Sein“ lebenslang zu sein, zu leben und zu erfüllen hatte, also (wenn es unbedingt so ausgesprochen werden soll) vom Embryo-Sein an im Schoße heranwächst, um zur gegebenen Zeit geboren zu werden. Das war der Maria zu verstehen gegeben, damit sie wisse, was die ihr zugewiesene Aufgabe ist. Das wird dann in Lk 1 und 2 im einzelnen als geschehen herausgestellt. Entsprechend ist das Gespräch Jahwes mit Josef als dem Sohn Davids zu begreifen. Zu seinen Pflichten dem geborenen Kind gegenüber, das ja der fleischgewordene Sohn ist, gehört die Einführung und Einübung in der Gesetz und dessen Erfüllung, für die der Vater, das Familienhaupt, zuständig war. Besonders zu nennen sind die Beschneidung und Namengebung und vor dem Erreichen des zwölften Lebensjahres die Einführung in den jährlichen Mitvollzug des Paschafestes in Jerusalem (Lk 2,41–50), zu dem ja die Mitglieder des auserwählten Volkes spezifisch verpflichtet waren. Alle dem unterzieht sich folglich der nach seiner Geburt JESUS genannte fleischgewordene und aus der Frau geborene 541

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Sohn. Wir sollten beachten, daß diesem zum Israeliten gewordenen Jahwe-Sohn die Mitfeier des Pascha-Lamm-Opferns aufgetragen worden ist, das er ja selbst am Ende seines Gesandt-Seins mit sich selbst end-gültig erfüllen sollte, er, der vom Vater aus Liebe zur Welt dahin-gegeben worden ist. Er lebt somit die Dauer seines Lebens lang als das bereitete Pascha-Lamm, das sein ihm aufgetragenes Jahwe-Opfer-Sein für das Heil der Welt persönlich ohne jeden Abstrich „allein“ und doch vom Vater her und mit dem Vater eins einzulösen hatte (Joh 8,16 u. 16,32). In diesem Zusammenhang ist noch auf etwas anderes mit Nachdruck hinzuweisen, zumal es von den Exegeten nie berücksichtigt wird und offensichtlich überhaupt nicht bemerkt worden ist. Gemeint ist die Verpflichtung zur Auslösung des erstgeborenen männlichen Kindes der Frau, welche Auslöse durch den leiblichen Vater zu leisten war bzw. vom Erstgeborenen selbst, auch noch als Erwachsener, falls er nicht ausgelöst worden ist, aus welchen Gründen auch immer. Lukas deutet zwar in 2,22f mit Hinweis auf Ex 13,2 in gewissem Sinn darauf hin, ohne jedoch irgendwann die Auslöse Jesu Christi als vollzogen zu bekunden, wie sie auch sonst nirgends im NT als damaligem israelitischen Ritus ausgesprochen ist. Das läßt erkennen, daß diese Auslöse Jesu Christi als dem Erstgeborenen nie erfolgt ist. Wir suchen jetzt nicht dafür nach Gründen, sondern schauen wie bisher, was tatsächlich geschehen und daher auch bekundet ist. Dann dürfte sich zeigen, daß das, was wir vielleicht zu voreilig als nicht geschehen und daher nicht bekundet ansehen, auf eine Weise des Berichtens vorgelegt und bezeugt ist, die wir zunächst übersehen bzw. nicht richtig deuten.9 Das tatsächlich Geschehene gibt Einsicht, wenn dieses Auslöse-Gesetz und seine Erfüllung genau betrachtet wird. Daß die Erstgeburt in besonderer Weise Jahwe gehört und deswegen ihm zu weihen war, wird durch das Gesetz und seine geschichtliche Einsetzung klar. Sie hängt wesentlich mit der Herausführung Isarels aus Ägypten, dem Land des Todes, durch Mose unter dem Geleit Jahwes zusammen. Wir müssen hier den inneren Zusammenhang zwischen Erlösungsgeschehen, der Erstgeburtsloskaufpflicht und dem Paschlamm sehen. Alle Erstgeburt und daher alle Menschen schlechthin sind „vor“ dem PaschaOpfer und dem Auszug aus Ägypten „im Tode“, dem Tod grundsätzlich verfallen, und das aufgrund der unheilvollen, den Tod fordernden Sünde der Menschheit. Nur ein von Gott herkommendes und wirkendes Heilswerk konnte, wenn überhaupt, Heil und Leben verheißen und bringen. (Wir finden diese Möglichkeit nicht durch unser Nachdenken, sondern das uns un-denkbar Erscheinende ist in der Heiligen Schrift bekundet; dem denken wir nach.) Wenn also die Erstgeburt und damit der Mensch überhaupt Leben haben und behalten sollte, dann mußte – so zeigt es die reale Geschichte Jahwes – zuvor das Lamm geschlachtet sein, als von Jahwe selbst dazu be9

Für die hier folgenden Überlegungen vgl. unseren grundlegenden Beitrag in „Mysterium Salutis. Grundriß heilsgeschischtlicher Dogmatik“ III/2 „Das Christusereignis“ mit dem Titel „Die Mysterien der ‚Vorgeschichte‘ Jesu. 2. ‚unter das Gesetz gestellt …‘“, S. 37–57. Dort wird alles biblisch und theologisch bedacht, worum es hier geht.

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III.

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stelltes Heil-Mittel und -Zeichen. Dem heilsgeschichtlichen Plan Jahwes gemäß sollte jenes „erste“ Paschalamm in Ägypten wie dann überhaupt das atl.-jährliche PaschaFest seine Heilskraft haben erst aufgrund ihrer Erfüllung und Vollendung in dem Lamm, in dem Heilsmittler, der gerade dazu von Jahwe selbst gesandt und den Menschen geschenkt wurde. Sowohl Paschalamm und Pascha-Feier wie auch die Erstlingsopfer und Auslösungen waren demnach alt.-sakramentale, zeichenhafte Vorhinweise und Vorweggabe. Sie sollten und mußten gerade deswegen einmal geschichtlich-wahre, vollendende Erfüllung erfahren. Keinerlei Auslösung konnte erfolgen, es sei denn in dem von Jahwe selbst gewährten Hinblick auf eine einmal geschichtlich in Fülle zu leistende Einlösung dessen, was zeichenhaft durch die Schlachtung des atl. Paschalammes gleichsam noch hinausgeschoben und durch jede Auslösung vorweggenommen war: Die durch die Sünde in die Welt gekommene Todesverfallenheit aller Menschen (Röm 5,12) und damit das Unheil waren einmal, so war es Jahwes Heilswille, von einem Erstgeborenen bis zu Ende auszuhalten (vgl. Joh 13,1; Jes 42; 49; 50; 52–53) und so einzulösen, daß sie dadurch zugleich auch end-gültig überwunden sein würden. Dieser Erstgeborene war ‚von Anbeginn‘ dazu bestimmt, und er sollte in der Erfüllung dieses seines Lebensauftrages, eben durch die Dahingabe seines Lebens in jenen Tod, der Erstgeborene in vollendetem Sinn sein, und so auch der ‚Erstgeborene aus den Toten‘ (Kol 1,18), der ‚Erstgeborene aller Schöpfung‘ (Kol 1,15). Damit sind wir auf den letzten und eigentlichen Grund dessen gestoßen, warum Jesus weder durch Josef, noch durch sich selbst, noch auch von Jahwe-Vater ausgelöst wurde: Er war Gottes Erstgeborener (vgl. Joh 1,1ff; Phil 2,6), war schlechthin Gottes, und somit im vollendeten Sinn heilig, da immer schon und seinem „Wesen“ nach pro.j to.n qeo,n (Joh 1,2). Aber gerade das ist das Geheimnis Jahwes und daher Jesu Christi, daß dieser als dieser Erstgeborene dahin-gegeben, geopfert wird, auf daß die „vielen“ alle im Hinblick auf dieses Paschlamm und daher, aufgrund der Einlösung jenes Schuldscheines (Kol 2,14) und Todverfallenheit durch den Erstgeborenen, jenen Preis hätten, der ihre Erstgeburt und damit sie alle zu wahrem und end-gültig freiem Leben auszulösen vermöchte. Denn es stand in keines Menschen Macht, ein Lösegeld so wert-voll werden zu lassen oder zu machen, daß es von sich aus vor Gott, auf das Leben hin, Sünde und Tod hätte einlösen können. Jahwe selbst ist es, der den Preis erlegt! Das theologischbegrifflich fassen zu können, wird nie gelingen. Es bleibt nur die Bekundung der Liebe Gottes durch eben diese Liebe das Zeugnis der Wirklichkeit: „Gott ist die Liebe. Gottes Liebe zu uns hat sich darin offenbart, daß Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn das Leben haben. Darin zeigt sich die Liebe Gottes: Nicht wir haben Gott geliebt, sondern er hat uns geliebt und seinen Sohn gesandt als Sühnopfer für unsere Sünden. Wir haben gesehen und bezeugen, daß der Vater seinen Sohn als den Heiland der Welt gesandt hat. Wir haben die Liebe Gottes zu uns erfahren und sind so zum Glauben gekommen. Gott ist die Liebe“ (1 Joh 4,9– 10.14–16).

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Abschluß und Ausblick Aufgrund vor-gegebener theologischer Aufgaben- und Themenstellung war es Ziel unserer Untersuchung, die Bekundung der Heiligen Schrift zur Herkunft Jesu Christi aufs neue und genauer zu vernehmen, aufmerksam zu erfassen und im Ergebnis das darzustellen, was wir erkannt zu haben glauben. In welchem Maß unser Bemühen, zu gültigen Aussagen zu gelangen, gelungen ist und wir unser Ziel erreicht haben, kann und muß der Beurteilung der Leser dieses Buches überlassen bleiben. Wir brauchen hier nicht mehr auf einzelnes einzugehen, da es im Laufe unserer Darstellung entsprechend entfaltet, ausgebreitet wurde und wir unsere Feststellungen jeweils auch zu begründen versucht haben. Wir haben uns in unserer Arbeit bewußt nachhaltig und kontrolliert von der Heiligen Schrift selbst als dem einen Wort Gottes leiten lassen, uns an ihm grund-legend ausgerichtet und versucht, das – und zunächst nur das – zu erheben, was die Heilige Schrift selbst explizit aussagt und das, was thematisch mit der Herkunft Jesu Christi zu tun hat. Wir haben das Thema, wie schon betont, nicht von außen an den biblischen Text fragend herangetragen, um zu erfahren, was die Bibeltexte zu unserer Thema-Frage zu sagen haben. Wir haben vielmehr die schrifteigenen Aussagen und dazu auch deren eigene Formulierungsweise in Bezug auf unser Thema aufgegriffen und eingesetzt: „Mit der Herkunft Jesu Christi aber war es so“ (Mt 1,18). Wir haben während unserer Arbeit je länger desto mehr erkannt, daß im Laufe der Jahrhunderte an den Bibeltext und seinen Aussagen wie auch AussageWeisen ungemein viel an Fragen und Problemstellungen herangetragen worden sind, die man auch heute immer noch meint berücksichtigen und diskutieren, ja sie als Leitfaden für biblische Untersuchungen gelten lassen zu müssen, um zu wirklich berechtigten Lösungen zu gelangen. Diese Fragestellungen und eben auch ihre Antworten (Antwort-Versuche!) erweisen sich jedoch oft als gänzlich außerhalb der biblischen vorgegebenen Bekundungsaussagen stehend, vor allem was die Anwendung bibelfremder Begrifflichkeiten angeht. Man ist jedoch bis heute in seinen Denk- und Forschungsweisen von ihnen derart beeinflußt, daß man gar nicht mehr bemerkt, wie sehr man sich selbst auf Problemfelder eingeengt und konzentriert hat, die den oft sehr offenen, aber an sich eindeutigen Aussagen der Schrifttexte in keiner Weise entsprechen und ihnen daher auch nicht gerecht werden können. Sie sind der eigentli544

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chen „Sache“ der Bibel-Auslegung weder dienlich noch angemessen. Das betrifft auch die Weise, wie man das biblisch Bekundete je heutig und den jeweils zeitbedingten Lebens- und Verstehens-Situationen gemäß meint zur Sprache bringen zu müssen. Wir stießen in unseren Bemühungen auf eine Reihe von Wörtern/Begriffen und Denk-Prinzipien, die, vielleicht zeitbedingt, in den wissenschaftlich-theologischen Denk- und Sprachgebrauch eingeführt wurden, die faktisch derart bestimmend geworden sind, daß sogar bis in die Erst-Auslegung der Texte der Heiligen Schrift hinein sie als selbst-verständlich und verpflichtend angesehen und vor-herrschend geworden sind und bis heute als maß-geblich geltend eingesetzt werden. Neben eigentlichen Übersetzungsfehlern, die wir – es ist erstaunlich – auch für einige Bibelstellen aufdecken konnten, fanden sich Text-Ausdeutungen, die dem im Text selbst Gesagten ausgesprochen zuwiderlaufen. Es galt und gilt daher, von manchen festgefahrenen Wendungen, Wörtern/Begriffen und Formulierungsweisen loszukommen und das in der Schrift Gesagte „neu“, d. h. jetzt: schriftgerecht zu verstehen. Dazu ließen und lassen wir das in der Schrift tatsächlich Gesagte zunächst einmal selbst aus-, d. h. zu-ende-sprechen und wir wach zu-hören, was das ursprüngliche Gotteswort uns zuspricht. Unsere Aufgabe als christliche Theologen sehen wir gerade heute auch darin, die überschnelle Anwendung viel späterer Begriffsweisen, auch systematisch-dogmatischer Art, zu hinterfragen, d. h. im Rückbezug auf die Schrift-Aussagen zu klären. (Dieses „Programm“ glauben wir übrigens auch -wenn es recht verstanden wird – auf kirchlich-verbindliche Lehr-Formeln anwenden zu sollen, nicht negativ-kritisierend, sondern das jeweils Zeit- und Anlaß-Bedingte einer jeden kirchlich-verbindlichen Erklärung zu erkennen, und darin eben auch seine daraus herrührenden Grenzen.) So ergab sich die Aufgabe, zur sachgerechten Darstellung der tatsächlichen Aussagen der Heiligen Schrift zur Herkunft Jesu Christi sich radikal von Fehldeutungen und Fehl-Wörtern und Formulierungen zu trennen und sich aus allen diesen unguten Fixierungen zu befreien, aber eben mit Bedacht und wirklich gültigen Argumenten. Wir haben dabei erkannt, daß die biblische Sprechweise in vielen Fällen völlig ausreichend deutlich und klar sprechend und dazu allein schon voll hinreichend ist, auch dann, wenn es um die Wieder-Gabe der biblischen Bekundung in heutiger Sprache geht. Beispielhaft sei einmal auf einige heute gängige Formeln hingewiesen. Es wird stets „Christus-Ereignis“ genannt, was sich, wie es heute immer heißt, in und mit Jesus von Nazaret ereignet hat, wobei es doch – wenn man meint in dieser Redeweise sprechen zu sollen – dem biblischen Text gemäß Jahwe-Ereignis war und ist. „Christusereignis“ verkürzt ungut die Bekundung dessen, was tatsächlich geschehen ist und im Text bekundend auch ausgesprochen ist. Es ist Jahwe, der da-war und gewirkt hat, nicht in Jesus von Nazaret, sondern dieser ist, wenn man will: persönlich „Jesus = Jahwe (rettet)“. Jesus von Nazaret ist somit nicht ein Medium des Handelns Jahwes, sondern Jahwe-selbst („wenngleich“ Jahwe-Sohn). Dazu sogleich das weitere Beispiel: Die Wendung „Sohn Gottes“ bzw. „Sohn den Vaters“ braucht keine „verdeutlichende“ Erklärung dafür, was das heißen soll. Es wird von einem „innergöttlichen Vorgang“ 545

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und somit von einem „intimen Verhältnis Gottes zu dem, der Jesus geworden ist“, gesprochen. Sagt „Verhältnis“ mehr und besser das, was „Sohn“ sagt? Und muß man von einem „innergöttlichen Lebensvorgang“ sprechen und die in Joh 1,1–3 schon hymnisch geschilderte Realität (!) des „Logos“-Seins mit „das uranfänglich-ewige Sein des Logos als von Gott und seiner Liebe herkommende, von Gottes Leben erfüllte und an seiner Herrlichkeit partizipierende Existenz“ noch weiter ausmalen, um den Text „verstehbarer“ und „einleuchtender“ sprechen zu lassen (vgl. Schnackenburg, Joh-Kommentar 210)? Oder muß man von Jesus, wenn von ihm z. B. in den Evangelien die Rede ist, erklärender sagen, daß „in ihm Gott selbst wesenhaft (!) und redend gegenwärtig ist“ und so „in Jesu Erscheinen (!) Theophanie geschieht (!)“ (Grundmann, Mt-Kommentar 403)? Und kann eigentlich mit Formeln wie „historischer Jesus“, „geschichtlicher“ oder „vorösterlicher und nachösterlicher Jesus“ gesprochen werden, um das im NT deutlich Ausgesagte besser und verständlicher zur Sprache zu bringen? Wir möchten dazu auf Folgendes aufmerksam machen: Jahwe hat sich-selbst nie „definiert“ oder sich-selbst „wesensgerecht“ mit Namen angegeben und benannt. Daher kann man nie von seinem „Wesen“ als Wesen Gottes sprechen, d. h. angeben, „wie er und was er an und für sich ist“. Jahwe hat sich auch nie als „Ich bin, der ich bin“ genannt (wie es leider die LXX meinten wiederzugeben zu können, was Jahwe „eigentlich“ heißt). Jahwe hat sich-selbst mit seinem Eigen-Namen (den ja nicht andere ihm gegeben haben!) uns kundgetan, sich uns mit ICH-BIN-DEIN/ EUER zugesprochen. Dieser „persönliche“ Name (!) nennt sogar, vor und mit allem, den Adressaten seiner Namen-Angabe mit sich-selbst in eins! Er nennt sich-selbst zugleich mit seinem Erschaffenen, mit denen, die kraft seines Zu-Spruchs aus Liebe selbst sein können, im Mit-Sein mit ihm. Jahwe benennt sich-selbst bei Namen als den Sich-aus-Liebe-Zuwendenden (nicht Für-sich-Seienden!), in dem „DEIN/ EUER“ Sich-Zuwidmenden, zugleich als Aufruf und Einladung zum Ent-Sprechen des jetzt Selbst-sein-Könnenden und daher Sich-selbst-antwortend-Zuwenden-Könnenden auf diesen ICH-BIN-DEIN/EUER hin. Diese Gott-geschaffene Realität (!) können wir nie in unser festes, beherrschtes „Wissen“, gar wissenschaftlich begründbar, heben und „erfassen“ (und wer will das überhaupt? vielleicht eine gewisse Art von „Philosophen“ oder „Theo-logen“?). Gott sich „aus-denken“ wollen, eine „Gottesvorstellung“ oder Gott enthaltenden „Gedanken“ zu gewinnen, ist ein absurdes Beginnen. Das alles einmal beispielhaft mit uns mit-bedacht läßt wohl deutlich erkennen, warum wir im Laufe unserer Darlegungen für bestimmte eingefahrene „theologische“ Wendungen/Begriffe und Verstehenserklärungen für manche biblischen Aussage-Komplexe empfohlen oder sogar gefordert haben, sie gänzlich aus unserem theologisch-berechtigten Denk- und Sprachgut zu verbannen. Sie erweisen sich als absolut fehl am Platze und stiften nur Verwirrung. Ausdrücklich nennen möchten wir dazu „Jungfrauengeburt“, „Präexistenz Christi“, „Ursprünge Jesu“, „Lebensentstehung Jesu“, „Menschwerdung“, „Inkarnation“ und manche andere, abgesehen hier

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von den festgefahrenen Fehlübersetzungen. Das möge als abschließende-Bemerkung genügen; es war nur eine kurze Rekapitulation und sollte nicht mehr sein. Zum Ausklang unserer Darlegungen sei dieses zu bedenken gesagt: Die eine Heilige Schrift, das eine Wort Gottes sagt uns das, was es sagt, nicht weniger und nicht mehr. Aber das, was es sagt, ist die Wirklichkeit Gottes und aller Welt. Dieses eine Wort Gottes ist das, das Gott spricht, nicht irgendwann einmal gesprochen hat. Es ist für die, an die Gott sein Wort richtet, für das Leben aus ihm verständlich gesprochen und daher für alle verstehbar, die es hören wollen. Gott zwingt sich nicht auf, am wenigsten argumentativ. Denn Gott wollte und will als Wahrheit und in Wahrhaftigkeit sich-selbst bekunden, sich-selbst zu-sprechen und in diesem Wort sich-selbst schenken. Das Hören und Annehmen dieses Wortes seitens derer, an die Gott es richtet (das sind alle und die ganze Welt!), ist das Leben; und das ist der eine Wunsch Gottes für alle und alles! Gott schenkt in seinem einen Wort die entsprechen-könnende Freiheit. Er tönt das Erschaffene = ins Leben Gerufene nicht mit irgend etwas oder gar wildem Lärm an, der verstört und nichts-sagend noch von irgendeiner Bedeutung ist. Sein Wort ist – wenn man es im Vergleich so sagen darf – eine Musik, die uns etwas zu sagen hat, das uns ans Herz und dann erst an den Intellekt geht. Gott selbst be-sorgt das; denn sein Wort ist geist-voll. Und das läßt sich vernehmen in eben diesem selben Geist, den Gott seinem Wort eingibt, womit er sein Wort immer begleitet und auf bleibende Stimmigkeit hin behütet. Es sind nicht menschliche oder sonstige Mächte, die über dieses Wort wachen und es stets stimmig halten und jeden Mißklang abwehren. Vielmehr ist es der Geist der Wahrheit und Wahrhaftigkeit Gottes, der das Hören und Verstehen, und dann auch das „richtige“, d. h. das stimmige Weiter-Geben des gehörten Klanges des Wortes Gottes ermöglicht und umsorgt. Diese Lebens-Stimmung sollen wir uns von Gott selbst schenken lassen und selbst darüber wachen, daß wir die rechte Stimmung nie verlieren. Gegebenenfalls müssen wir uns neu ein-stimmen lassen in den Klang Gottes und aller Welt. Gott ist es, der uns ermöglicht und ermächtigt, ihm zuzustimmen und so einzustimmen in sein Wort und seinen Klang und ihn dann auch in alle Welt hinaus wieder-klingen lassen: Wie herrlich bist Du, du mein ICH-BIN-DEIN. Ich sehe Dich und was Du erschaffen hast! Und ich höre und nehme in mich auf, was „die Himmel erzählen: die Herrlichkeit Gottes, und was die Himmelsfeste als Werk Deiner Hände verkünden“ (Ps 19).

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Anhang I: Exkurse Exkurs 1: Euaggelion – Evangelium WORT – BEGRIFF – BEDEUTUNG Eine kritische Einsichtnahme

Was im folgenden herauszustellen ist, befaßt sich nicht mit literarischen und literaturwissenschaftlichen Fragen, wie sie für jeden Text selbstverständlich gestellt und beantwortet sein müssen, so weit es den Text als Text angeht. Das wird für das Anliegen unserer eigentlichen Untersuchung als Vor-Arbeit der exegetischen Wissenschaften für die systematisch arbeitende Theologie angesehen. Die exegetisch-wissenschaftlich errungenen Einsichten und Ergebnisse werden von uns im möglichen großen Umfang zur Kenntnis genommen und dem Weiteren zugrunde gelegt. Hier ist ausdrücklich an die christlich-exegetisch-theologische Arbeit und die ihr folgende und verpflichtete systematisch-theologische Einsichtnahme gedacht, innerhalb der das literaturwissenschaftlich wie sprachwissenschaftlich zu Beachtende seinen spezifischen Ort hat. Dem werden wir uns in dem Ausmaß zuwenden, wie es sich aufgrund unserer theologisch-systematischen Untersuchungsabsicht als notwendig und unabdingbar erweist; anderes, exegetisch nicht minder Wichtiges muß hier im Hintergrund bleiben, wird freilich stets mitberücksichtigt, auch wenn das nicht immer mittels Einzelbelegen nachgewiesen zu werden braucht.1 Fassen wir hier zunächst das zusammen, was nach Auskunft der zuständigen Bibelwissenschaftler zum Wort und Begriff „Evangelium“ und zur entsprechenden Begriffs- und Verwendungsgeschichte von „Evangelium“ als Ergebnis langjähriger 1

Für die Offenlegung unseres eigenen hermeneutischen Horizontes für diese unsere thematische (monographisch begrenzte) Untersuchung insgesamt bedienen wir uns nur einiger, allerdings einschlägiger Werke und Arbeiten, da die entsprechende Literatur ins Uferlose reicht. Die Beschränkung zunächst nur auf Vor-Arbeiten, die wir genau angeben, und allein auf deren Ergebnisse hat den Vorteil klarer Darstellungsmöglichkeit und Rechenschaftsablage für die von uns eingenommene Position.

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Exkurs 1: Euaggelion – Evangelium

Forschung als anerkannt und gültig vorgestellt wird. Denn zum rechten Verständnis dessen, was mit „Evangelium“ als sprachlichem Ausdruck, dann als eigentümlich biblischen Begriff und als literarische Gattung näherhin gemeint ist und damit als „Evangelium“ in seinem genuin-christlichen Sinn eingesehen und verstanden sein will, ist auf die Begriffsgeschichte näher einzugehen. Ebenso ist auf das je spezifische, in den einzelnen neutestamentlichen Schriften je unterschiedliche Verständnis zu achten. Was so im Blick auf das Forschungsanliegen unserer Untersuchung als wichtig und unabdingbar zu beachten erscheint und worauf folglich in der ganzen Arbeit konsequent geachtet wird, sei hier in aller Kürze, jedoch in gebotener Eindringlichkeit vorausgestellt. Als zusammenfassende Feststellung zum spezifisch christlich-biblischen Verständnis und Gebrauch des Ausdrucks „Evangelium“ darf zunächst das gelten, was in dem entsprechenden Artikel des LThK ausgesprochen wird, der den letzten Forschungsstand und sein Ergebnis darbietet.2 Begriffsgeschichtlich ist die geistesgeschichtlich ungemein bedeutsame Tatsache anzuerkennen, die für EUAGGELION gilt: „Eine Genealogie des spezifisch christlichen Gebrauchs (als Christusbotschaft und als literarische Gattung) ist nicht nachzuweisen … Weder im hebräischen noch im griechischen AT, noch bei Philon hat das Wort eine theologische Bedeutung … Der ntl. Begriff „Evangelium“ ist semantisch ohne jede Analogie, geschaffen wurde er … in der vor-mk. und vor-pln. Tradition, um die Heilsbotschaft von der Singularität der Selbsterschließung Gottes an einen konkreten Menschen, Jesus, zu bekennen. Was die Transformierung von Evangelium als mündliche Heilsbotschaft zur Gattung Evangelium betrifft, so belegen nicht erst Markion oder Justinos die Wende, vielmehr ist sie bereits in Mk 1,1 und Mt 24,14 angelegt, ohne daß damit beide in ihrem Werk auf den unliterarischen Begriff Evangelium verzichten“.3 Bibeltheologisch ist dies zu sagen: „Da begriffsgeschichtlich Evangelium als Substantiv auf griechisch-hellenistischen Sprachgebrauch zurückzuführen ist, erhält Evangelium die spezifisch theologische Prägung über das Verbum euvaggeli,zesqai (hebr. rF;Bi) aus dem Bibel und aus dem mit dem Begriff im NT verbundenen Inhalt, der an die Person Jesu Christi gebunden ist. Dabei ist im NT deutlich nicht nur eine Vielfalt (Evangelium als eine mündliche oder schriftliche Heilsbotschaft und als Titel einer biographisch orientierten Erzählung), sondern auch eine inhaltliche Entwicklung festzustellen … Evangelium ist die Botschaft Jesu Christi von der Herrschaft Gottes bzw. die Botschaft von ihm und Gottes Wirken durch und an ihm. So ausschließlich dieser Glaube ist, so analogielos ist semantisch der Begriff Evangelium“. Evangelium wird so „im NT ausschließlich im Sin2

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Der Artikel im LThK 3 (1995) 1058–1063 von H. Frankemölle: „Evangelium. Evangelien“. Wir berufen uns des weiteren auf folgende seiner Arbeiten: Frankemölle, Evangelium – Begriff und Gattung. Ein Forschungsbericht. Zweite, aktualisierte, stark erweiterte und durchgesehene Auflage, Stuttgart 1994; ders., Jahwebund und Kirche Christi. Studien zur Form- und Traditionsgeschichte des „Evangeliums“ nach Matthäus (NTA 10), Münster2 1984. Dazu noch weitere. LThK 3, 1058. – In diesem wie in den folgenden Zitaten aus den Lexika-Artikeln schreiben wir die dort abgekürzt geschriebenen Ausdrücke zur leichteren Lesbarkeit voll aus.

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Anhang I: Exkurse

gular theologisch (Botschaft, die von Gott kommt oder über Gottes Wirken spricht)“ verstanden und steht „in der Regel als terminus technicus für die Christusbotschaft vom Wirken Gottes durch ihn und in seinem Geschick (Tod, Auferweckung). Diese kann in Hymnen, Credo-Formeln, aber auch in der kerygmatischen Biographie der Evangelien entfaltet werden“.4 Als besonders bedeutsam für das rechte Verständnis alles dessen, was, wie im einzelnen auch immer, als das „Evangelium“ Bezeichnete oder Angesprochene erscheint, dürfte das sein, was mit Frankemölle gesprochen das Analogielose und das geschichtlich gesehen Singuläre im ntl. Wort und Begriff „Evangelium“ zu gelten hat. Dies liegt vor in der auffallend betonten Rückbindung (um es zunächst so zu formulieren) des „Evangeliums“ an Jesus von Nazaret und so an die Geschichte des Heilshandelns Gottes in bzw. durch Jesus Christus. Der Ausdruck „Evangelium“ erscheint als der Inbegriff dessen insgesamt, was das NT in allen seinen Schriften verkündet, betont herausstellt, berichtet und erzählt, wie auch als Forderungen an die Lebensführung derer stellt, denen dieses „Evangelium“ gilt, wozu letztlich alle Menschen zu zählen sind. Damit ist die grundsätzliche Vorbedingung für das rechte Verständnis nicht nur der ausdrücklich als „Evangelien“ genannten Schriften des NT angegeben, sondern des NT insgesamt und prinzipiell. Von Anfang an macht sich darum im christologisch strukturierten und bestimmten Begriff deutlich eine heilsgeschichtliche Denkweise bemerkbar, indem sich die Urgemeinde zur Explikation der Heilsbotschaft vom Messias eines heilsgeschichtlich gerahmten und gemeinten christologischen Darstellungsschemas bediente. Kennzeichnend für die Bekenntnisformulierungen jeder Art ist von Anfang an die Einheit von Glauben und Geschichte … Euvagge,lion als Heilsereignis ist immer mit einer geschichtlichen Person verknüpft gewesen. Allein die alttestamentlichen heilsgeschichtlichen CredoFormulierungen sind eine wirkliche Analogie zu dieser Einsicht von Kerygma (Glaube) und Geschichte; hinzutreten die kerygmatischen Geschichtserzählungen des AT. Wie der Begriff Evangelium ist die Gattung „Evangelium“ eine genuin christliche Schöpfung. Als kerygmatische Geschichtsschreibung, die den Glauben an Gottes Handeln bezeugen will (Joh 20,31), steht sie in Kontinuität zu alttestamentlichen Ge4

Ebd. 1058. Siehe dazu auch Frankemölle, Evangelium 251 u. 253. – Eine Übernahme aus dem Kaiserkult konnte nie verifiziert werden. „Da im Gegensatz zur griechisch-römischen Verwendung in der Kaiserideologie (falls man dies bei den vereinzelten Stellen so formulieren darf) im Neuen Testament einzig der Singular belegt ist, dürfte dieser Singular eher in der Singularität des einzigartigen Handeln Gottes in und durch Jesus Christus begründet sein als in einer bewußten Absetzung vom religionspolitischen Sprachgebrauch“ (ebd. 252). Weiter: „Die Frage, ob im griechisch-römischen Bereich der Begriff euvagge,lia formbestimmend für die Gattung „Biographie“ etc. gewirkt hat und ob an diesem Punkt nicht mit einer Einwirkung auf die Gattung „Evangelium“ zu rechnen ist, läßt sich wie folgt beantworten: Zwar beziehen sich die euvagge,lia auf Geburt, Mündigkeitserklärung, Proklamation und Thronbesteigung des Kaisers, jedoch stammen die Belege alle aus der neutestamentlichen Zeit. Vor allem kommt es an keiner Stelle zu einer erzählenden Struktur, d. h. zu einer Zusammenstellung verschiedener biographischer Elemente und Erzählungen. Gänzlich fehlt die kerygmatische Grundorientierung in den außerneutestamentlichen ‚Parallelen‘“ (252f).

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Exkurs 1: Euaggelion – Evangelium

schichtsschreibungen.5 Damit mag eine erste Einsicht in den historischen-faktischen Ausdruck „Evangelium“ als Wirklichkeit, als Begriff und als literarische Gattung aufgewiesen sein. Als vor allem und über alles bedeutsam und für alles bleibend-grundlegend dürfte der analogielose Rückbezug auf Jesus von Nazaret sein, was ja, wenngleich es meist zu wenig bedacht, ja sogar problematisiert wird, gleichbedeutend ist mit dessen real-geschichtlich wirkungsvollen, persönlich-namentlichen historischen Existenz wie mit deren Folge-Geschichte. Von ihr her wurden gleichsam neuanfänglich alle kerygmatisch wie bekenntnishaft verkündeten und historisch-real gelebten neuen Lebens-Formen ausgesprochen christlichen Charakters entscheidend geprägt. Zu diesen aus der zitierten Fachliteratur übernommenen Feststellungen sind manche kritischen Bemerkungen bzw. Klarstellungen vorzubringen. Die in ihnen gewählten Formulierungen sind in nicht wenigen Punkten solcherart, daß sie den um systematische Zusammenschau bemühten Theologen auffallen, gerade weil sie von erstzuständigen Bibelwissenschaftlern so gebildet sind. Sie bedürfen einer grundsätzlichen Klärung, wenn nicht sogar der Korrektur. Beispielhaft seien dazu einige Kurzformeln aufgeführt, deren anvisierter Voll-Sinngehalt gerade auch für unser Untersuchungsziel wichtig erscheint.6 So heißt es bei Frankemölle: „Der neutestamentliche Begriff ‚Evangelium‘ ist semantisch ohne jede Analogie … Hellenistische Missionare in der vor-mk. und vor-pln. Tradition haben (beim Substantiv angeregt durch ihre griechische Umwelt) in Analogie zum Verb das Substantiv im Singular gebildet, um den Basissatz des Christusgeschehens (Tod, Auferweckung; vgl. 1 Kor 15,3ff ), die Summe der christlichen Missionspredigt (1 Thes 1,5 – 2,9), den Glauben an die Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen und an die Erhöhung Jesu (Röm 1,1– 4), die Summe der jesuanischen Verkündigung (Mk 1,15; 8,35; 10,29; 13,10) oder eines einzelnen Aspektes des sprachlichen und nichtsprachlichen Handelns (Mk 14,9) zu umschreiben“.7 In diesen Sätzen ist jeder einzelne Ausdruck bedenklich und drängt 5

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Zu den soeben angegebenen Feststellungen zum Wort und Begriff „Evangelium“ bedienten wir uns der Darlegungen der zuvor genannten Autoren, vor allem derer, die Frankemölle im Lexikonartikel wie im genannten Buch „Evangelium“ verwendet. Darauf sei nochmals verwiesen. Unbezweifelt ist, daß sich ein Lexikonartikel immer einer kürzest-möglichen Formulierung bedienen und sich so in die Gefahr begeben muß, einen an sich wesentlich komplexen Sachverhalt allzu vereinfachend auf den Begriff und ins Wort zu bringen. Daher dürfen die Aussagesätze des Lexikonartikels nie gepreßt werden. Das hindert aber nicht, sondern fordert, die Kurz-Formeln des betreffenden Artikels auf den von ihm ausgesprochenen Voll-Inhalt zu befragen. Kurzformeln sind zwar keine Simplifizierungen der Sache, müssen diese jedoch so klar und eindeutig wiedergeben, wie es nur möglich ist. So im Lexikon-Artikel 1058 u. 1059; sodann im Buch „Evangelium“ 254. – Zu beachten ist auch, was Frankemölle selbst schreibt: „Die Frage, ob bei Paulus oder Markus die älteste Tradition vorliegt, ob dahinter eine einzige Trägergruppe steht, ist (noch) nicht zu beantworten. Da die These von der Lehreinheit des ältesten Urchristentums sich nicht als tragfähig erwiesen hat, ist von einer Vielzahl von Gemeinden, Schulen und deren Versuchen auszugehen, das Christusgeschehen unter verschiedenen Aspekten je neu auszulegen“ (254). Dazu noch: „daß die urchristliche Traditionsgeschichte nicht erst mit dem hellenistischen Missionschristentum begann, sondern bereits im pa-

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Anhang I: Exkurse

zu entsprechendem Nachfragen. Wenn man um die faktische Behutsamkeit und gewissenhafte Vorsichtigkeit für Aussagen über den sog. „historischen Jesus“ weiß, ist man erstaunt über die so sichere Feststellung in Bezug auf die Bildung des Begriffs „Evangelium“ und auf das, was er zum Inhalt haben soll. Nach den zitierten Stellen sollen es hellenistische Missionare gewesen sein, die den christlichen Begriff „Evangelium“ gebildet haben. Sie werden „Tradenten der vormarkinischen und vorpaulinischen Tradition“ genannt, die den Aussage-Gehalt des „Evangeliums“ zu „umschreiben“ bzw. „das Christusgeschehen unter verschiedenen Aspekten je neu auszulegen“ suchten. Hier sind doch wohl der angesprochene Zeitraum (der vorpaulinisch heißen mag) und die Situation ganz am Anfang der sich organisierenden Gemeinden zu hinterfragen, nämlich in den Jahren 30–50 n. Chr., im Kontext oft als „frühestes Urchristentum“ bezeichnet. Es sind doch zuerst die nach dem historischen (!), real sich ereignet habenden Pascha-Geschehen (Tod und Auferweckung Jesu Christi) wieder neu Glaubende gewordenen ersten und weiteren Jünger Jesu und dann die ersten Christ-Gewordenen, d. h. Urgemeindemitglieder innerhalb der sich erst auszubilden beginnenden Kleinst-, Klein- und dann auch Großgemeinden, die ihre spezifische Sprechweise für die vorbildlose, noch keineswegs fest-geschriebene Glaubenssprache gesucht, gefunden und ausgebildet haben, im Aufgreifen biblischer Sprechweise zuerst, dann auch der näheren Umwelt. Nach ihrem eigenen Zeugnis dazu befähigt und ermächtigt durch den Geist Jesu Christi, den Geist Jahwes, der sich auf sie herabließ, begannen einzelne, für uns heute anonyme ihrer Glieder (es sind ja nur wenige, deren Namen wir kennen), mittels in der Bibel vorliegender Wörter und Sprechgewohnheiten und auch neu „erfundener“ Wendungen eine möglich erscheinende, noch nicht immer vollgeglückte spezifisch christliche „Terminologie“ und Sprachform für das gewonnene Glaubensgut zu finden und untereinander zu verwenden, zunächst in aramäischer Sprache, dann auch seitens griechisch sprechender Juden, um so auch Außenstehende, Juden und Heiden, auf diesen neuen Glauben anzusprechen. Es waren die allerersten Glieder der neuen, sich erst selbst finden müssenden „Kirche“, die lästinischen Raum über ein großes Spektrum von Erzähltraditionen und Logienüberlieferungen verfügte“ (256). Und: „Die Schriften des Neuen Testamentes entstammen bekanntlich nicht dem ersten Jahrzehnt nach Christi Tod und Auferweckung, vielmehr ist ihre Entstehung zur vorliegenden Form zwischen 45 und 120/130 n.Chr. anzusetzen. Es ist somit deutlich eine literaturlose Zeit festzustellen zwischen dem Wirken Jesu (etwa 30–33) und den ältesten Schriften des Urchristentums. Diese stammen vom Apostel Paulus …“ (Frankemölle I. 53). Ob bei dieser Sicht die Dinge nicht übertrieben dramatisch angesprochen werden? Paulus schreibt z. B. den Philipperbrief um 50–53 und zitiert dort einen Hymnus (und in welcher Sprache spricht der !), der offensichtlich früher gedichtet und dann „irgendwann“ ihm zur Kenntnis kam, mit dem er die Philipper ermahnen konnte in einer Weise, die diesen Hymnus oder doch Sätze daraus auch seinen Adressaten bekannt gewesen sein muß, da darin ja eine tiefe Theologie eingeborgen ist. Und Paulus „operiert“ mit diesem Hymnus-Zitat ja gerade nicht „christologisch-argumentativ“ oder bekenntnis-fordernd, sondern zur Angabe der Lebensmaxime für die Philipper in ihrer momentanen Lebens- und Glaubenshaltung.

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Exkurs 1: Euaggelion – Evangelium

den geschenkten Glauben zuerst lebten, dann auch be-dachten und untereinander zur Sprache brachten, früh schon in Homologien und Hymnen, zur gegenseitigen Erbauung und mahnender Ermunterung. Dabei muß stets mitbeachtet bleiben, daß dieses erste ur-christliche Glauben und das Be-denken seines Aussage-Inhaltes sich nicht auf menschlich-erfundene Ideen, Entdeckungen, nicht auf denkerisch erfundene Einsichten bezog und berief, sondern auf erlebte Tatsachen, historisch selbsterlebte Personen und deren namentlich-unverwechselbare Worte und Taten wie deren eigene Äußerungen über ihre Tat- und Rede-Intentionen, denen sie glauben „mußten“. Und alles das war tatsächlich bisher Unerhörtes, Ungedachtes! Dieses ganze Geschehen wurde und war Wirklichkeit aufgrund entsprechender Beauftragung, Befähigung und Sendung durch den Urheber des „Evangeliums“ selbst (Mt 28,18–20 u. a.).8 Ein zweites hier Anzusprechendes ist im Vorausgehenden schon mehrfach angeklungen, nämlich was „Evangelium“ als Wort und als Begriff im NT gemäß den Feststellungen der Kommentatoren an Aussage-Bedeutungen hat. Diese sind faktisch zahlreich und dazu recht unterschiedlich. Daher ist von einer bezeichnenden Offenheit des Ausdrucks zu sprechen. Wenn man den Überblick über die Verwendung des Wortes „Evangelium“ in den neutestamentlichen Schriften genau betrachtet, so erkennt man, daß das zunächst einfach zum Wortschatz der Umgangssprache im jüdischen wie hellenistischen Raum gehörende Wort in der Glaubenssprache der christlichen Gemeinschaft (die ja erst seit dem Christus-Pascha-Geschehen gebildet wurde) einen absolut neuen Aussage-Sinn erhalten hat, aber eben ohne daß die semantische 8

Was im Vorstehenden herausgestellt wurde – die Folge Heilsgeschehen als Anfang – glaubende Annahme seitens der Erstzeugen – Glauben, Getauftwerden und entsprechend neuer Lebensvollzug seitens der Christgewordenen – Be-denken des Glaubensinhalts zunächst durch den je namentlich Einzelnen in der Glaubensgemeinschaft im Heiligen Geist, der jedem frei zuteilt (1 u. 2 Kor u. a.) – Feiern des Glaubens – Verkündigung dessen, was Gott, Jahwe, „in diesen Tagen“ gewirkt hat (Apg 3,24; Lk 24,18) untereinander und nach außen, in alle Welt – ist von H. Schlier in seinem Beitrag „Euvagge,lion im Römerbrief “ (in: Wort Gottes in der Zeit, FS Schelkle, hrsg. von H. Feld u. J. Nolte, 1973) an Röm 10,14f aufgezeigt: „Die Abkunft des Evangeliums von Gott wird noch einmal in dem Kettenschluß 10,14f erwähnt … im Blick auf den Gesamtvorgang der Verkündigung. Ausgangspunkt des Evangeliums und darin eingeschlossen die Bevollmächtigung zu ihm ist die Sendung durch Gott. Das khru,ssein beruht auf dem avposte,llesqai. Durch das khru,ssein kommt es zum avkou,ein, das avkou,ein ermöglicht das pisteu,ein, und dieses mündet in das evpikalei/sqai … Aber ‚das Evangelium Gottes‘ heißt es nicht nur, weil Gott es durch Vorherbestimmung, Berufung und Sendung in Gang gesetzt hat, sondern auch deshalb, weil Gott in ihm und durch es am Wirken ist … Man muß hier das Grundsätzliche und die Prägnanz der Aussage beachten, mit der das Evangelium als konkrete Rettungsmacht Gottes bezeichnet wird … es ist ‚Macht Gottes‘, das Machtwort und die Wortmacht Gottes, die das eschatologische Heil jetzt schon in aller Welt für den Glaubenden, und das heißt den Hörenden und Gehorchenden herbeiführt“ (127–142; das hier Zitierte: 132f). Es sei darauf aufmerksam gemacht, daß in diesem Text euvagge,lion nicht als Begriff, sondern als Wort, schlicht als „Botschaft u. ä.“ in der Weise der alttestamentlichen Zitate verstanden wird; „Evangelium“ ist allerdings faktisch auch zum theologischen Begriff erstarrt, was jedoch damals noch nicht geschehen war.

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Anhang I: Exkurse

Alltagsbedeutung (Nachricht, Botschaft, gute oder freudebringende Kunde) abgelegt worden wäre. Zusammenstellung aller ntl. Vorkommen von euvagge,lion

Vorbemerkung: Wir geben im folgenden in allen entsprechenden Stellen euvagge,lion stets mit „Botschaft“ wieder, um die Offenheit der Verwendung gelten zu lassen. Die Kommentare können gegebenenfalls erklären, weshalb sie, wenn sie es tun, euvagge,lion „Evangelium“ wiedergeben. Denn für uns heute klingt (leider) stets schon das begrifflich Fest-Gemachte aus „Evangelium“ heraus. Ähnliches liegt ja auch bei a;ggeloj vor, das stets zunächst mit „Engel“ wiedergegeben wird, obwohl es ja in der ganzen Heiligen Schrift „Gesandter, Bote“ meint. Oft wird dann gezeigt, daß Engel gelegentlich auch als Boten eingesetzt werden! (S. dazu unseren Exkurs (a;ggeloj kuri,ou). Im LkEv und im JohEv begegnet das Wort euvagge,lion überhaupt nicht! Das MkEv beginnt mit dieser Ansage: „Anfang der Botschaft Jesu Christi (des Sohnes Gottes)“ (1,1; der Zusatz in der Klammer ist vielleicht sekundär; vgl. den Mk-Kommentar von R. Pesch I. 74.). Pesch zu diesem prädikatslosen Anfangsatz des MkEv: „Die Überschrift nennt den Inhalt des Werkes und verrät die Absicht des Autors. Das Buch hat das Evangelium von Jesus Christus (Genitivus obiectivus), wie es ‚bei allen Völkern‘ (13,10) ‚in der ganzen Welt‘ (14,9) verkündet wird, genauerhin: dessen avrch,, d. h. seinen ‚Anfang‘ im Sinne einer Grundlegung, zum Inhalt. Der Evangelist will offenbar mit seinem Buch, der Darstellung der Grundlage des Evangeliums in seinem geschichtlichen Anfang, der Verkündigung des Evangeliums (in Mission und Gemeindeunterweisung) in seiner Zeit dienen“ (I.75; s. dort die exegetische Erklärung dieser Feststellung). Das ist z. T. schon Auslegung! Das Wort euvagge,lion bezieht sich offensichtlich der „Sache“ nach auf die Verkündigung Jesu Christi selbst, ohne daß „Inhalte“ näher angegeben sind. Das Ganze, das dort geschrieben steht, wird so benannt, nicht das Buch als Buch: Was geschehen ist sowie die verbindliche Verkündigung Jesu Christi selbst. ––– Mk 1,14f: „Nachdem aber Johannes ausgeliefert war, kam Jesus nach Galiläa, verkündete die Botschaft Gottes und sagte: Erfüllt ist die Zeit! und: Genaht ist die Herrschaft Gottes! Kehrt um und glaubt der Botschaft!“. Wir beachten die Wendung „Botschaft Gottes“ für das, was Jesus verkündet. Mit „erfüllt ist die Zeit“ wird Jesu Anfangen in die Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung hineingestellt (vgl. Gal 4,4) und zugleich das Neue, das geschehen ist, in seinem Angekommensein und sich zu ereignen beginnt, mit „Botschaft Gottes“ bezeichnet. Das „Reich Gottes“ ist angekommen (Perfekt); ihm, also der „Botschaft“ sollen seine Hörer glauben. Von diesem Satz her versteht sich 8,35 gleichsam von selbst: „Wer aber sein Leben um meinet und um der Botschaft willen verderben wird, wird es retten“. Dieser Satz zeigt die Identität der Person und des Lebens Jesu mit „Botschaft“ an, zugleich in der unerhörten Heilsmöglichkeit, die sie ansagt und ist.

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Exkurs 1: Euaggelion – Evangelium

Im MtEv begegnet euvagge,lion nicht am Anfang des Textes, sondern innerhalb des Textes, innerhalb des ersten, gleichsam zusammenfassenden Überblicks zum Anfang der Tätigkeit und Verkündigung Jesu: „Jesus zog in ganz Galiläa umher. Er lehrte in den Synagogen, verkündete die Botschaft des Reiches und heilte jegliche Krankheit“ (4,23). Der Genitivzusatz zu „Botschaft“ wird meist mit „Botschaft vom Reich“ wiedergegeben, was die Aussage verändert; denn das, was Jesus verkündet, ist die Königsherrschaft Gottes, wie im MtEv immer wieder prononciert gesagt: so 9,35. Es ist nicht nur von Worten Jesu die Rede, sondern auch von seinen Taten, ja von seinem Da-Sein für alle. Das läßt auch verstehen, was in 26,13 „Botschaft“ meint: „Wahrlich, ich sage euch: Überall in der ganzen Welt, wo diese Botschaft verkündet wird …, wird auch das ausgesagt, was sie getan hat, zu ihrem Andenken“. Damit hat Matthäus nicht, wie viele meinen, sein Werk (das Evangelium genannt wird), angesprochen. Vielmehr bezeichnet hier „Botschaft“ das, was im MtEv als Wort, Tat und Da-Sein Jesu insgesamt angesprochen wird; deswegen auch den „Inhalt“ des Textes, der mehr sagt als die Wörter! In der Apostelgeschichte findet sich euvagge,lion nur an zwei Stellen; 15,7, wo Petrus an seine Mitapostel von sich selbst und seinem Dienst als lo,goj tou/ euvaggeli,ou spricht. Die Wendung „Wort der Botschaft“ meint das Ganze des zu Verkündenden: Da-Sein, Wort und Werk Gottes in Jesus. Ähnliches ist von Apg 20,24 zu sagen, der Wiedergabe der Rede des Paulus an die Epheser: „… wenn ich nur meinen Lauf vollende und meine Aufgabe erfülle, die ich vom Herrn Jesus Christus erhalten habe: die Botschaft der Gnade Gottes“. Zur Erklärung braucht man nur den Anfang des Römer-Briefes zu lesen, um die Bedeutung davon einzusehen, besonders die GenitivBestimmung von „Botschaft“. – Wir bemerken: In den relativ späteren ntl. Texten, den vier sog. Evangelien und der Apg, begegnet euvagge,lion insgesamt gerade siebenmal, ohne daß irgendeine begriffliche Bestimmung erkennbar wäre, die das Wort im Laufe der Zeit erhalten hätte. In 1 Thess verwendet Paulus euvagge,lion so: In seiner Dank- und Anerkennungsrede sagt er: „Denn unsere Botschaft (to. euvagge,lion h`mw/n) erging an euch nicht nur in Worten, sondern auch in Macht und in heiligem Geist (evn duna,mei kai. evn pneu,mati a`gi,w|) und in voller Überzeugung“ (1,5). „Unsere Botschaft“ wird in 2,2ff verdeutlicht: „… Faßten wir doch im Vertrauen auf unseren Gott Mut, in heißem Bemühen euch die Botschaft Gottes (to. euvagge,lion tou/ qeou/) zu verkünden. … Von Gott erprobt und mit der Botschaft betraut, reden wir nicht Menschen, sondern Gott zu Gefallen, der unsere Herzen prüft, als Christi Apostel … So zog es uns zu euch, und wir boten euch gern nicht allein die Botschaft Gottes an, sondern auch unser Leben … So haben wir euch die Botschaft Gottes verkündet (evkhru,xamen). Ihr seid Zeugen und Gott, wie wir euch ermahnt haben, Gottes würdig zu wandeln, der euch in sein Reich (basilei,a) und seine Herrlichkeit (do,xa) gerufen hat“ (2,2–12, gekürzt). Dazu noch 3,2: „Wir sandten Timotheus, unseren Bruder und Gottes Diener in der Botschaft Christi (evn tw/| euvaggeli,w| tou/ Cristou/)“. Dieser frühe Paulus-Text ist voll des Sprechens über 555

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Anhang I: Exkurse

die „Botschaft Gottes“ wie „Botschaft Christi“, die er „unsere Botschaft“ nennt. Der Ausdruck erscheint als das eine Wort, mit dem die Heilstat Gottes selbst, das Leben und Wirken Jesu Christi wie auch die Verkündigung und deren „Inhalt“ benannt wird, ohne daß etwas Begrifflich-Spezifisches erkennbar ist. Auch die neue Weise der Lebensführung der Christen als solche klingt deutlich an. Der Römer-Brief beginnt mit einer Begrüßung, deren Haupt-Wort „Botschaft“ in seiner vollen und reichen Bedeutung ist: „Paulus, Knecht Christi Jesu, zum Apostel berufen, ausgesondert zur Botschaft Gottes, die er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in den heiligen Schriften, von seinem Sohn, der geworden ist aus den Samen Davids dem Fleische nach, der eingesetzt ist zum Sohn Gottes in Macht dem Geiste der Heiligkeit nach aus (der) Auferstehung der Toten, von Jesus Christus, unserem Herrn. Durch ihn haben wir Gnade und Apostelamt empfangen, um den Glaubensgehorsam unter allen Heiden für seinen Namen (zu wecken), zu denen auch ihr gehört, die ihr Berufene Jesu Christi seid, an alle in Rom, die von Gott geliebt sind, die berufenen Heiligen“ (1,1–7; dazu V. 9: „Ist doch Gott, dem ich mit der Botschaft von seinem Sohn diene, mein Zeuge“, als Wiederholung). Die Rede ist von der „Botschaft Gottes“, zu deren Dienst sich Paulus berufen und beauftragt weiß. Diese „Botschaft Gottes“ wird in ihrer Fülle genannt, mit einigen „Einzelelementen“: Vorherige Verheißung durch die Propheten (die ja Gottes Sprecher sind): es ist die „Botschaft von seinem Sohn“ (in 1,9 wiederholt betont); dessen Lebensgeschichte in wichtigen, nicht allen Momenten angeführt wird: Aus Davids Stamm „geworden“, eingesetzt in Macht aus der Auferstehung; durch ihn, Jesus Christus, von dem Geschehenes genannt wird. Also hat Paulus nach dem Ereigneten „Gnade und Apostelamt“ empfangen. Er weiß sich in seiner einen, klar bezeichneten Gnaden- und Verkündigungsaufgabe von Gott-Vater durch Gott-Sohn bestellt. Deswegen werden diese auch im Segenswunsch zusammen genannt (in 1,9 wiederholt). Von dieser, so prononciert angegebenen „Botschaft“ ist dann im Brief mehrmals die Rede, meist in ganz offenbleibender, d. h. nichts Spezifisch-Inhaltliches hervorkehrender Bedeutung, also im offensichtlich allbekannten reichen Sinn der Christen dieser ersten Zeit. So sicher in 1,16 und 11,28. In 15,14–21 findet sich das in 1,1–9 Gesagte wiederholt: „kraft der mir von Gott gegebenen Gnade, damit ich ein Diener Christi für die Heiden sei, der die Botschaft Gottes priesterlich verwaltet … Ich habe also Grund, mich in Christus Jesus vor Gott zu rühmen. Denn ich werde nicht wagen, etwas zu verkünden, was nicht Christus durch mich gewirkt hat zum Gehorsam der Heiden in Wort und Werk … in der Macht des Geistes. Daher habe ich die Botschaft Christi von Jerusalem aus in weitem Umkreis bis nach Illyrien gewirkt …“. Wir beachten, daß Paulus „Botschaft Gottes“ und „Botschaft Christi“ für das eine und selbe verwendet und deswegen auch von seiner Botschaft bzw. seinem Dienst Gottes wie Jesu Christi im Geist spricht, der ihm aufgetragen ist, wieder: durch Gott, durch Christus. Die Verkündigung umfaßt bzw. hat zum Inhalt die angegebenen, in den wichtigsten Einzelelementen ausgesagten Aussagen: Es die „Botschaft Gottes“ in ihrer Fülle. 556

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Exkurs 1: Euaggelion – Evangelium

Im Galater-Brief findet sich das bisher Festgestellte im Begrüßungswort wieder, das in mancher Hinsicht der Begrüßungsweise Röm 1 gleichkommt und doch einen anderen Duktus hat. Es werden die spezifischen Grundelemente der Berufungsgnade des Apostels genannt. Dann wird in unverkennbarer Absicht von der „anderen Botschaft“ gesprochen, die an die Galater herangetragen war (e[teron euvagge,lion). Der wird jegliche Berechtigung abgesprochen: 6–7. Es ist die „Botschaft Christi“, die allein Heil bedeutet und ist. Es fällt weiter auf, daß wiederholt das Verbum euvaggeli,zw eingesetzt ist. Bezeichnend, wie Paulus von seinem Aufenthalt in Jerusalem und die Besprechung mit den maßgebenden Aposteln formuliert: „Ich legte ihnen die Botschaft vor, die ich unter den Heiden verkünde (khru,ssw)“ (2,2). Paulus bekräftigt das: „Die Wahrheit der Botschaft sollte bei euch erhalten bleiben“ (2,5). Wenngleich in Galatien eigentlich nur eine spezielle Frage zu klären war, so wird das doch alles unter das eine Wort „Botschaft“ gestellt, das auch noch für den folgenden Satz das Leitwort ist: „Sie sahen ein, daß ich mit der Botschaft für die Unbeschnittenen (to. euvagge,lion th/j avkrobusti,aj) betraut bin, wie Petrus (mit der) für die Beschnittenen“ (2,7). Offensichtlich wurde „Botschaft“ überall voll und richtig verstanden, wenn es um das Ganze auch in seinen einzelnen Elementen der Wahrheit des Lebens und der Verkündigung aus dem zugrunde liegenden Gottes-Geschehen ging und geht. Im Phil-Brief findet sich diese Selbst-Verständlichkeit von euvagge,lion im urchristlichen Leben und dem entsprechenden Sprachgebrauch. Sogleich zu Beginn heißt es: „Dank sage ich meinem Gott … wegen eurer Gemeinschaft der (mit der) Botschaft vom ersten Tag an bis zum Tage Christi Jesu, die ihr alle in der Verteidigung und Bekräftigung der Botschaft Teilhaber meiner Gnade seid. Gott ist mein Zeuge“ (1,5.7). Dazu sogleich: „Ich will euch kundtun, meine Brüder, daß meine Lage eher zum Fortschritt der Botschaft geführt hat. Meine Fesseln wurden in Christus offenbar im ganzen Prätorium … furchtlos das Wort Gottes (to.n lo,gon qeou/) zu reden (verkünden)“ (to.n lo,goj qeou/ dürfte hier ein anderes Wort für euvagge,lion, doch mit derselben reichen Bedeutung sein). Dem entspricht „Verteidigung der Botschaft“ (1,16) und „Gemeindeleben würdig der Botschaft Christi … daß ihr kämpft für den Glauben der Botschaft“ (27); „Timotheus … was die Sache Christi Jesu ist … mir Dienst leistete für die Botschaft …“ (2,21f; ähnlich 4,3); „ihr wißt doch auch, daß am Anfang der Botschaft(sverkündigung) keine Gemeinde mit mir gemeinsam abrechnete … als ihr allein“ (4,15). In 1 Kor begegnet der Ausdruck euvagge,lion selten; so 4,15: „Denn in Christus Jesus habe ich euch durch die Botschaft gezeugt. Werdet meine Nachahmer!“; „… wir ertragen alles, damit wir der Botschaft Christi (tw/| euvaggeli,w| tou/ Cristou/) kein Hindernis bereiten … so auch der Herr festgesetzt für die, die die Botschaft verkünden …, was ist mein Lohn? Daß ich als Verkünder (euvaggeli,zw) die Botschaft kostenlos hinstellen werde, um nicht von meinem Recht in die Botschaft (evxousi,a| mou evn tw/| euvaggeli,w|) Gebrauch zu machen“ (9.18; dazu 9,23; es geht um das Recht des Unterhaltes aus der Verkündigungstätigkeit des Paulus); bezeichnend sodann 15,1: 557

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Anhang I: Exkurse

„Ich tue euch aber kund, Brüder, die Botschaft, die ich euch verkündet habe, die ihr auch übernommen habt und in der ihr auch steht, durch die ihr auch gerettet werdet, weshalb ich sie euch verkündet habe, wenn ihr (sie) festhaltet, außer ihr wäret umsonst gläubig geworden …“. Es wird dann das Verkündete konkret genannt: „Als erstes überlieferte ich euch, was auch ich angenommen habe („als erstes“ verweist darauf, daß er als Botschaft mehreres kundtat; „als erstes“ meint hier auch nicht „das wichtigste“, weil der Text das so nicht sagt: evn prw,toij), daß Christus gestorben ist für unsere Sünden gemäß den Schriften, daß er begraben wurde und daß er auferweckt worden ist am dritten Tag gemäß den Schriften und daß er erschien …“. Das alles ist mit dem Wort „Botschaft“ zur Sprache gebracht! In 2 Kor begegnet euvagge,lion an folgenden Stellen (sie werden aufgeführt, gegebenenfalls mit Erklärungen): 2,12: „Als ich aber nach Troas kam zur (Verkündigung der) Botschaft von Christus und sich eine Tür auftat im Herrn …“; 4,3–6: „Wenn aber unsere Botschaft dennoch verhüllt ist, so … nur bei denen, die verloren gehen, … sehen das Leuchten der Botschaft von der Herrlichkeit Christi, der das Ebenbild Gottes ist. Denn wir verkünden (khru,ssomen) Christus Jesus den Herrn, uns aber als eure Knechte durch Jesus … damit wir erleuchtet werden zur Erkenntnis der Herrlichkeit auf dem Angesicht Jesu Christi“; dann 8,18: „Wir haben zusammen mit ihm (d. i. Titus) den Bruder gesandt, dessen Lob wegen der (Verkündigung der) Botschaft durch alle Gemeinden geht …“; dann 9,13: „Denn für die Bewährung in diesem Dienst preisen sie Gott wegen eures Gehorsams im Bekenntnis zu der Botschaft Christi und wegen der lauteren Güte eures Gemeinschaftssinnes ihnen und allen gegenüber“; und 10,14: „denn wir sind ja tatsächlich mit der Botschaft Christi bis zu euch gelangt“ (dazu 10,16); und 11,4: „Denn ihr ertragt es ja gern, wenn einer kommt und euch einen anderen Jesus verkündet (a;llon VIhsou/n khru,ssei), als wir verkündet haben, oder eine andere Botschaft, als ihr angenommen habt … oder habe ich eine Sünde begangen, als ich mich selbst erniedrigte, damit ihr erhöht werdet. Denn ich habe euch die Botschaft Gottes unentgeltlich verkündet“. Im Brief an die Epheser heißt es 1,12f: „Nun sollen wir zum Lobe seiner Herrlichkeit dienen, die wir schon längst unsere Hoffnung auf Christus gesetzt haben. In ihm habt ihr das Wort der Wahrheit (to.n lo,gon th/j avlhqei,aj), die Botschaft von eurem Heil vernommen und seid zum Glauben gekommen. Und so seid ihr in ihm mit dem verheißenen heiligen Geist (tw/| pneu,mati th/j evpaggeli,aj tw/| a`gi,w|) besiegelt worden“. Dann 3,6: „Die Heiden sind in Christus Jesus Miterben, Mitglieder und Mitgenossen der Verheißung. Gottes Gnade, die mir durch die Kraft seiner Macht verliehen wurde“. Und: „Bereitschaft für die Botschaft des Friedens (euvagge,lion th/j eivrh,nhj). … freimütig das Geheimnis der Botschaft (musth,rion tou/ euvaggeli,ou) zu verkünden. Im Kolosser-Brief heißt es in 1,5f: „Von ihr (d. i. die Hoffnung, die euch im Himmel bereitet ist) habt ihr schon durch das Wort der Wahrheit der Botschaft gehört, das zu euch gedrungen ist. Wie in der ganzen Welt, so wächst es auch bei euch und trägt Früchte seit dem Tag, da ihr es vernommen habt und die Gnade Gottes in ihrer 558

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Exkurs 1: Euaggelion – Evangelium

Wahrheit erkannt habt“. Dazu: „Nur müßt ihr im Glauben fest und unerschütterlich verharren und euch nicht abbringen lassen von der Hoffnung der Botschaft (avpo. th/j evlpi,doj tou/ euvaggeli,ou), die ihr vernommen habt“ (1,23). Im 2 Thess lesen wir in 1,8: „… Vergeltung an denen, die Gott nicht kennen, und an denen, die sich der Botschaft unseres Herrn Jesus nicht unterwerfen“. In 1 Tim lautet es in 1,11 so: „… Lehre, nach (kata., gemäß) der Botschaft der Herrlichkeit des seligen Gottes, mit der ich betraut bin“. In 2 Tim sagt Paulus in 1,8: „Trage die Leiden für die Botschaft in der Kraft Gottes!“. Dazu: „durch die Erscheinung unseres Heilandes Christi Jesu, der den Tod überwunden und unvergängliches Leben ans Licht gebracht hat durch die Botschaft, deren Herold (kh/rux), Apostel und Lehrer ich bin“ (1,10f). Dazu ebenso: „Denke an Jesus Christus, der von den Toten auferstanden ist, aus dem Stamm Davids, gemäß meiner Botschaft“ (2,8). Im Brief an Philemon 13 lesen wir: „… ich hätte ihn am liebsten bei mir behalten, daß er mir an deiner Statt in meiner Gefangenschaft für die Botschaft Dienst leiste (diakonh/| evn toi/j desmoi/j tou/ euvaggeli,ou)“. In 1 Petr 4,17: „Was wird das Ende derer sein, die der Botschaft Gottes kein Gehör schenken (to. te,loj tw/n avpeiqou,ntwn tw/| tou/ qeou/ euvaggeli,w|)“. In Akp 14,6 lesen wir: „Ich sah einen anderen Boten (a;llon a;ggelon). Der hatte eine ewige Botschaft (euvagge,lion aivw,nion) zu verkünden …“. Der tatsächliche Gebrauch des Wortes euvagge,lion im ganzen NT zeigt, daß es zunächst nicht, auch noch nicht in apostolischer Zeit, zu einem Begriff „Evangelium“ gekommen ist, gar zu einem solchen, der „theologisch“ (oder „christologisch“) entwickelt wurde und in die (ur)christliche Glaubensprache in einer gewissen Festigkeit eingegangen ist. (Der vorgelegte vollständige Überblick zeigt das in aller Deutlichkeit, die freilich zur Kenntnis genommen werden muß. Wir treiben hier ja noch keine Glaubens- und Begriffsgeschichte.) Im Anblick dieser Tatsache sollte man in Bezug auf neutestamentliche Aussagen als solche überhaupt nicht von einem Begriff sprechen, sondern jeweils vom Wort (Vokabel; Wendung) und dessen Bedeutung am gegebenen Ort; dann läßt man das konkret Gesagte in seiner Bedeutungsoffenheit stehen. Kennzeichnungen wie „Begriff “, „Begriffsentwicklung“ und „Begriffsgeschichte“ beziehen sich in den Wissenschaften auf jeweils theologisch spezifisch Gemeintes, in den literaturwissenschaftlichen Forschungen sogleich auf „Gattung“ u. ä. Der Gebrauch von euvagge,lion in den neutestamentlichen Texten zielt auf das unerhört neue historische Geschehen und dessen Folgen. Dafür war kein Begriff zuhanden, der dieses Faktum und seine Wirklichkeit hätte benennen können. Es wurde in der allerersten Zeit der Kirche (die sich selbst erst „finden“ und „verstehen“ lernte) kein Begriff gebildet, um mit ihm gültig oder verbindlich zur Sprache zu bringen, was zu verkünden und (neu) zu leben war. Vielmehr wurde das in der alltäglichen Umgangssprache geläufige Wort euvagge,lion zum Aus-Sagen und Verkünden dieser 559

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absolut neuen Wirklichkeit, die geschehen war und ihre Folgen hatte, eingesetzt und verwendet, in vor-theologisch-vorliterarischem, noch keineswegs schon voll begriffen habendem Erkennen dessen, was dieses „Ereignis“ war und ist, und woraufhin es sich aus-wirken sollte. Es lag übrigens auch kein alttestamentliches Wort, noch weniger ein atl. Begriff vor, den man hätte aufgreifen können, der dieses Neue hätte voll-gültig fassen können. So verstehen wir, gerade auch im Anblick der einzelnen Stellen im NT, an denen euvagge,lion begegnet, daß wir deutlich zu unterscheiden haben, ob wir den heutigen Begriff lexikographisch vorstellen oder das mit dem Wort euvagge,lion („Botschaft“!) im NT selbst in seinem Aussagegehalt im NT (und nicht in späteren Texten frühchristlicher Zeit) erfassen und aus-sprechen lassen. Es seien jetzt einige Beispiele von Formulierungen des zitierten Lexikon-Artikels aufgeführt, weil sie in einer Sprache vorgelegt werden, die exegetisch, bibeltheologisch wie auch systematisch-theologisch problematisch erscheinen. Dabei geht es jetzt nicht um Kürzest-Formulierungen, die gelegentlich nicht zu umgehen sind, wie „Evangelium = Christusbotschaft“ o. ä. Wir schauen jetzt auf das lexikographisch Angegebene. Im Abschnitt zur Begriffsgeschichte findet sich zu Anfang diese Formel für den christlichen Gebrauch von „Evangelium“: „Christusbotschaft und Gattung“; dazu: „geschaffen, um die Heilsbotschaft von der Singularität der Selbsterschließung Gottes an einen konkreten Menschen, Jesus, zu bekennen“ (1058). Hier fällt die gänzlich unbiblische Sprechweise auf: „Der Begriff wurde geschaffen (!) …“ mit der Absicht, „die Heilsbotschaft … zu bekennen (!)“. Der Inhalt dieser Heilsbotschaft wird angegeben mit dieser Formulierung: „Heilsbotschaft von der Singularität (!) der Selbsterschließung Gottes (!) an einen konkreten Menschen (!), Jesus“. Was bedeuten in diesem Satz die einzelnen Ausdrücke in Bezug auf euvagge,lion, „Botschaft“? Im Blick auf die dort folgenden „biblisch-theologischen“ Feststellungen zeigt sich, daß von „Selbsterschließung Gottes“, zumal „an einen konkreten Menschen“, nirgends die Rede ist, am allerwenigsten von deren „Singularität“, die „zu bekennen“ wäre. Dieser ganz ungewöhnliche Ausdruck „Selbsterschließung Gottes“, der in jüngster Zeit neben anderen gelegentlich gebraucht wird (Rahner spricht von „Selbstmitteilung“, die aber ziemlich anderes meint), mag „Selbstoffenbarung Gottes seinerselbst“ sagen zu wollen, doch wo ist davon als Evangelium im NT die Rede? Diese „Selbsterschließung Gottes an einen konkreten Menschen, Jesus“, gar als „einmalig“ und „einzigartig“ wird mit keiner ntl. Stelle benannt. Warum wird hier ausdrücklich von „einem konkreten Menschen“ gesprochen, mit „Jesus“ genau angegeben, womit die Frage heraufbeschworen ist, wieso derart prononziert vom Menschen Jesus gesprochen wird; der ntl. Jesus (wenn man es unbedingt so formulieren will) ist der Sohn Gottes, der „Fleisch geworden“ ist, und zwar „im Fleisch der Sünde“ (Röm 8,3); und seine irdische Lebensgeschichte (von der u. a. gerade die „Botschaft“ spricht!) ist nicht durch diese „Singularität der Selbsterschließung Gottes“ an ihn charakterisiert. Es fällt zudem massiv auf, wie in diesem Lexikonartikel von Jesus Christus oft gesprochen wird. Die zuvor kritisch betrachtete Formel kommt in Variationen vor. So: „Das Evangelium 560

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Exkurs 1: Euaggelion – Evangelium

von Jesus zielt auf das Offenbarungshandeln Gottes an ihm“ (1060) und noch eigenartiger im abschließenden Satz zur Gattung „Evangelium“: der „spezifisch christliche Glaube, daß der Mensch Jesus die einmalige Epiphanie Gottes ist“ (1063); dazu auch in den Aussagen zu „Ev.“ bei Markus (und Paulus): „die Wirklichkeit bzw. Herrschaft Gottes ereignete sich im Tun und in der Person Jesu“ (1060), was als „Evangelium Jesu Christi“ weiterverkündet wird; „Inhalt ist dabei nicht primär Jesus Christus als Sohn Gottes, sein Heilstod (so Paulus), sondern die Herrschaft Gottes“ (1060). Warum wird Jesus Christus als Sohn Gottes als „nicht primärer Inhalt“ angegeben, da das MkEv doch genau das sogar im Titel des Textes herausstellt? „Sohn Gottes“, auf Jesus Christus bezogen, wird in diesem Lexikonartikel nie gesetzt, außer an der soeben zitierten Stelle, und das irgendwie relativierend; der Ausdruck „christologisch“ im ganzen Artikel nur einmal (1060). Demgegenüber fällt die Wendung „theozentrisch“ auf: „Eine Alternative aus theozentrischem und christologischem Inhalt zu machen, verfehlt ntl. Glauben“ (1060). Dazu auch: „Matthäus, der Mk folgt, den unliterarischen Begriff Evangelium stark theozentrisch strukturiert (zum „Evangelium der Basileia“ vgl. 4,23; 9,35; 24,14)“ (1060).9 Wir erkennen an diesem Text (mit dem in der Anmerkung zitierten), wie sehr das, was als Inhalt der ntl. Aussagen auszusagen ist, auf „Evangelium“ als Begriff zu dessen Verständnis angewendet wird. Beides liegt jedoch im ntl. Text selbst nicht vor. Von besonderer Bedeutung erscheint in dem zitierten Lexikonartikel, wie von Gott und Jesus Christus in Bezug auf „Evangelium“ gesprochen wird. Da zeigt sich eine Eigentümlichkeit durch die Verwendung bestimmter Präpositionsformeln. Dabei ist auch mehrmals ausdrücklich vom Menschen Jesus die Rede. Beispiele dazu: Die Formel „Selbsterschließung Gottes an einen konkreten Menschen, Jesus“(1058) haben wir schon gesehen; dazu: „Ev. ist die Botschaft Jesu Christi von der Herrschaft Gottes bzw. die Botschaft von ihm und Gottes Handeln durch ihn und an ihm“ (1058). Dann: „Ev. ist Ausdruck ihres (d. i. hellenistische Missionare) Glaubens an das singuläre Handeln Gottes in Jesus“ (1059). Dazu noch ebd.: „in der Regel terminus technicus für die Christusbotschaft vom Wirken Gottes durch ihn und in seinem Geschick (Tod, Auferweckung)“. Weiters heißt es, daß „bereits vor Ostern sich die Wirklichkeit Gottes im Tun und in der Person Jesu ereignete“ (1060). Dann: „…  meint Ev die rettende Botschaft von Gottes Wirken in Jesu Leben und Geschick … Paulus kon9

Was „stark theozentrisch strukturiert“ im oben zitierten Text meint, läßt sich an Frankemölles Buch „Evangelium“ 178f erkennen, wo er dasselbe, dazu in Verschränkung von „theozentrisch“ und „christozentrisch“ so formuliert: „Versteht man das Matthäusevangelium mit seiner theozentrischen Struktur (auch im Begriff „Evangelium“) primär als Zeugnis einer hellenistisch-frühjüdischen, urchristlichen Traditionsgeschichte und Glaubenspraxis … hätte diese These weitreichende Konsequenzen … Betroffen davon ist auch der Begriff „Evangelium“, der nicht nur seinem kerygmatischen Inhalt nach bei Matthäus stärker theozentrisch (bei aller christozentrischen Neustrukturierung) zu umschreiben wäre, sondern der auch aufgrund der Einheit von sprachlichem und nichtsprachlichen Handeln im Matthäusevangelium einen biographisch-narrativen Zug enthält“.

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zentriert das Handeln Gottes am Gekreuzigten und interpretiert es“ (1060), wozu paßt: „Evangelium ist Zentralbegriff der paulinischen Theologie, seine Verkündigung identisch mit der Proklamation des von Gott allein in Jesus Christus gewirkten Heils“ (1060). Zu Mk 1,1 heißt es: „das Ev. von Jesus zielt auf das Offenbarungshandeln Gottes an ihm, der ‚Anfang des Evangelium Jesu‘ eröffnet die von ihm initiierte Geschichte“ (1060). Dann: „Die Einzigartigkeit von Gottes Wirken in und durch Jesus Christus“ (1061); und: „Die Heilsbotschaft von Gottes Handeln in Jesus Christus gibt es nur in der Vielfalt von Deutungen … Die Evangelien und die in sie eingegangenen, bereits schriftlich fixierten Traditionsstücke (Passionsgeschichte, Wundergeschichten, Gleichnisse, Propheten-, Weisheits- und Gesetzesworte, Pistisformeln, Herrenmahltradition usw.) sind Reaktion auf das sprachliche und nichtsprachliche Handeln Jesu, sind glaubende Antwort auf die von ihm behauptete Erfahrung des eschatologischen Wirkens Gottes, das über Jesu Tod hinaus sich in der Auferweckung bestätigte“ (1062). Zusammenfassend heißt es: „Der Überblick zeigt, daß die ntl. Terminologie relativ offen blieb und der einzelne Theologe den Begriff Evangelium kontextuell einsetzte. Alle aber betonen durch den Singular die Einzigartigkeit der Heilsbotschaft von Gottes Wirken in und durch Jesus Christus“ (1061). Dieses eigentümliche Sprechen vom Menschen Jesus bzw. von der „Person Jesu Christi“ in einem theologischen Lexikonartikel stellt die Frage, was dort damit herausgestellt sein soll, da es für einen historisch, namentlich genannten Jemand ungewöhnlich ist, ihn spezifisch „als Mensch“ zu bezeichnen. Die Artikelstellen, wo das geschieht, sprechen ohne Zweifel Eigenartiges aus, etwa „der Mensch Jesus ist die einmalige Epiphanie Gottes“ (1063). In keinem Fall in der Bibel, wo Gott mit namentlichen Menschen in deren einmaligen Situationen und konkret unverwechselbaren Angelegenheiten redet oder handelt, wird betont gesagt, der sei „als Mensch“ angeredet, etwa bei Mose oder den Propheten u. a. Was macht es bei Jesus notwendig, ausdrücklich und betont vom „Menschen Jesus“ o. ä. zu sprechen? Dasselbe ist für „Person Jesu“ zu fragen. Soll der Genitiv „Jesu“ unterscheidend verstanden werden, wie es an anderer Stelle gemeint sein könnte: „… daß sich die Wirklichkeit Gottes im Tun und in der Person Jesu ereignet“ (1060)?10 Da in allen zuvor zitierten Stellen auf „Jesus von Nazaret“ 10 Frankemölle gibt zu diesem Fragepunkt diese (für uns nur vorläufige) Erklärung in seinem Buch

„Evangelium“, wo es heißt: „euvagge,lion“ als Heilsereignis ist von Anfang an mit einer geschichtlichen Person … verknüpft gewesen. Dies hatte bereits Schniewind in aller Deutlichkeit gesehen: ‚Es ist in der Tat so, daß nur, weil es ein Kerygma gibt, das einen ‚im Fleisch‘ lebenden Menschen als den Herrn verkündet, das Entstehen unserer Evangelien, ja schon ihrer Vorformen begriffen werden kann‘“ (256; Zitat aus Schniewind 183). Frankemölle fährt fort: „Diesem Kerygma … lag alles daran, als den Messias, dessen Gegenwart und Wirken die Gemeinde trägt, einen Menschen zu verkünden, Jesus von Nazareth (Zitat Schniewind) … . Der Weg zwischen einer einseitig kerygmatischen Deutung und einer einseitig historischen Erklärung ist in jedem Fall eine Gratwanderung. Sie ist begründet im Ärgernis des Christentums; ‚Das Skandalon liegt eben darin, daß ein Mensch, der der historischen Forschung mit ihren Zweifeln und Analogieschlüssen ausgeliefert ist, dennoch eine einmalige Epiphanie Gottes ist‘“ (257; Zitat wieder Schniewind).

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als eine „geschichtliche Person“ hingewiesen wird, mit der von Anfang an das Heilsereignis, „Evangelium“ genannt, verknüpft gewesen ist, werden wir wieder, jedoch mit größerem Nachdruck zu fragen haben: Ist der im NT mit „Jesus von Nazaret“ Angesprochene schlicht „der Mensch Jesus“ und ist mit dieser Formel alles voll und gültig zur Sprache gebracht, was das ganze NT und eben auch die sog. „Evangelien“ uns zu sagen haben? Die Antwort auf diese Frage liefert unmittelbar das, was wir jetzt als weiteres Problem angehen müssen. Was massiv auffällt, ist die Tatsache, daß im ganzen hier zugrundegelegten Lexikonartikel vom „Evangelium“ nicht als Christusbotschaft, sondern als Gottesbotschaft, nicht eigentlich vom Wirken und Sprechen der Person Jesus Christus, sondern vom Wirken und Sprechen Gottes die Rede ist (wenn wir es an dieser Stelle zunächst so formulieren dürfen), und das in einer sehr bezeichnenden Weise. In den meisten Sätzen des Artikels begegnet Gott angesagt als das eigentliche Subjekt des Heilsgeschehen (das immer wieder „Evangelium“ genannt wird), als der Wirkende und Handelnde dessen, was als analogielos, singulär usw. herausgestellt und als Evangelium verkündet wird.11 Das wirklich beachtet, müßte „Evangelium“, wenn sein „eigentlichster“ Bedeutungsinhalt angegeben werden soll, in Kürzestformulierung „Gottesbotschaft“ heißen. Denn wie alle Sätze des ganzen Artikels zeigen, ist von Gottes Wirken die Rede, als von ihm im voraus angekündigt, als geschehen in der vom NT genau angegebenen (Welt)Zeit, als verwirklichtes Gottesheil, das zu verkünden, weiterzusagen und weiterzuverwirklichen ist, bis derselbe eine Wirkende, Gott, die eschatologisch vom Anfang seines Schöpfungsentschlusses intendierte „Fülle“, „Vollendung“, die er aus und in Liebe zu erreichen sucht, lebendige Wirklichkeit werden und sein 11

Dafür einige Beispiele im Text des Artikels. So: „Evangelium (wird) im NT ausschließlich im Singular theologisch (Botschaft, die von Gott kommt oder über Gottes Wirken spricht), in der Regel als terminus technicus für die Christusbotschaft vom Wirken Gottes durch ihn und in seinem Geschick (Tod, Auferweckung)“ (1059). Dann zur Bedeutung des Genitivus subiectivus und obiectivus; „aus dem Verkündiger (der Basileia Gottes) wurde (v. a. nach Ostern) der Verkündigte, obwohl 1. bereits vor Ostern sich die Wirklichkeit bzw. Herrschaft Gottes im Tun und in der Person Jesu ereignete (vgl. MtQ 11,4f.) und 2. neben Q auch Mk und Mt strukturell das Evangelium Jesu Christi (als nomen actionis) weiterverkündigen. Inhalt ist dabei nicht primär Jesus Christus als Sohn Gottes, sein Heilstod (so Paulus), sondern die Herrschaft Gottes. … Bereits vorpaulinisch (…) meint Evangelium die rettende Botschaft von Gottes Wirken in Jesu Leben und Geschick … Paulus konzentriert das Handeln Gottes am Gekreuzigten … Evangelium ist Zentralbegriff der paulinischen Theologie, seine Verkündigung identisch mit der Proklamation des von Gott allein in Jesus Christus gewirkten universalen Heils“ (1060). Zu Markus heißt es: „Im Evangelium ereignet sich hier und jetzt die Wirklichkeit Gottes (1,15: h;ggiken). Gottes Herrschaft und das Wirken seines Gesandten gehören wie in der Heiligen Schrift … zusammen. Das Evangelium als endzeitliche Frohbotschaft Gottes … das Evangelium von Jesus zielt auf das Offenbarungshandeln Gottes an ihm“ (1060). Und: „Bei Matthäus wird der unliterarische Begriff Evangelium stark theozentrisch strukturiert (zum ‚Ev. der Basileia: 4,23; 9,35; 24,14)“ (1060). Zusammenfassend wird festgehalten: „Alle betonen durch den Singular die Einzigartigkeit der Heilsbotschaft vom Wirken Gottes in Jesus Christus“ (1061).

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läßt. Was in dieser Hinsicht im Artikel „Evangelium“ von Frankemölle herausgestellt wird, leitet dazu an, ihn insgesamt von Gott, Jahwe, her zu lesen und zu verstehen. Alles steht ja im Kontext der sog. Heilsgeschichte, deren erster und letzter Urheber und Hauptwirkender Gott ist. Damit ist auch schon die mehrmals betonte Singularität und Analogielosigkeit von „Evangelium“ als Geschehen (und auch als Gattung) in ihrem Grund angegeben. Was an „Singularität“ und „Analogielosigkeit“ in der Heilsgeschichte und folglich in der Bibel „vor-kommt“, sich erwiesen hat und als BotschaftEvangelium verkündet und gelebt wird, das hat seinen Seins-, Wirk- und Verstehensgrund nicht einfach in „Gott“ (es besteht die Gefahr, doch einen Allgemeinbegriff einzusetzen!), sondern namentlich in JHWH. Diese namentliche „absolute Einmaligkeit“ Jahwes in seinem eigenen „Sein“ und „heilsgeschichtlichen Wirken“ (vgl. dazu Dtn 6,4 und die vielen ähnlich lautenden Stellen, etwa in DtJes) ist der Grund für die genannte absolute Einmaligkeit von euvagge,lion, wenn dieses als Wesenskern und Sprachwort an den betreffenden Stellen in der Bibel eingesetzt erscheint (wir haben sie oben für das NT aufgewiesen; s. d.).12 Wird das so, d. h. richtig gesehen, dann be12 Wir möchten an dieser Stelle auf den Artikel von J. A. Fitzmyer hinweisen: The Gospel in the Theo-

logy of Paul, in: ders., To Advance the Gospel. New Testament Studies. New York 1981, 149–161; und dazu ebd., Reconciliation in Pauline Theology, 162–185. Wir führen einige Zitate ausführlich auf und lassen sie selbst sprechen: „But ‚gospel‘ is par excellence Paul’s personal way of summing up the significance of the Christ-event … Paul realized … that he was preaching a message which had its origin in God himself (1 Thess 2,2.8–9; 2 Cor 11,7; Rom 1,1; 16,16). Thus as Christ in his person and ministry brought God’s salvific bounty to human beings in a new way, so now, as object of the gospel that is preached, his work is carried on, and the gospel brings that salvific bounty in the way. In it God accosts human beings, salvifiting from them a response of ‚faith working through love‘ (Gal 5,6). Because of its origin in God himself, it manifests its character as ‚gift‘ and ‚grace‘ (cf. 2 Cor 9,14–15). … ‚Christ Jesus, whom God made our wisdom, our uprightness, sanctification, and redemption‘ (1 Cor 1,30)“ (151f). – „The first characteristic that we should consider is the revelatory or apocalyptic nature of the gospel. For it is the means whereby God’s salvific activity toward human beings is manifested in a new way, involving specifically the lordship of Jesus Christ. The thesis of Romans makes this immediately clear, since the aspect of God, which is at the root revealed in the gospel (1,17)“ (152). – „A very important characteristic of the gospel for Paulus in its dynamic character. In announcing the thesis of Romans, Pauls begins by insisting that he is nor ashamed of the gospel, because it is ‚the power of God (du,namij qeou/) for the salvation of everyone who has faith … he views the gospel not merely as an abstract message of salvation or as a series of propositions about Christ (e. g. ‚Jesus is Lord‘) which human beings are aspected to apprehend and give assent to, but rather as a salvific force unleashed by God himself in human history through the person, ministry, passion, death, and resurrection of Jesus, bringing with it effects that human beings can appropriate by faith in him. That is why it is ‚God’s gospel, thou in the human words of Paul. … In this earliest letter Paul thus hints that the power associated with the gospel is somehow related to the Spirit of God himself (see further Eph 1,13). That is why we can speak of ‚the word of God, which is a work (evnergei/tai) among you who believe‘ (1 Thess 2,13)“ (153). – „The gospel then, is looked at as a concrete realization of God’s promise of old“ (157). ––– Es seien hier auch folgende Sätze G. Friedrichs aus dem ThWNT 2, 706f angeführt: „Für das Vorverständnis des nt.lichen Evangelienbegriffs ist Deuterojesaja und die von ihm beeinflußte Literatur am wichtigsten. Während Ps 40,10 oder 68,12 von einzelnen Taten Jahwes spricht, die verkündet werden, erwartet Deuterojesaja den einen großen Sieg Jahwes, seine Thronbesteigung,

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kommen auch (unglücklich formulierte) Ausdrücke wie „Selbsterschließung Gottes in Jesus“ u. ä. und deren „Singularität“ ihren absolut ein-deutigen, weil namentlichen Sinn. Werden nun alle Aussagen über das Wirken Gottes „an“, „in“ und „durch“ Jesus Christus zusammengeschaut und z. B. ein Satz wie „daß die Wirklichkeit bzw. Herrschaft Gottes im Tun und in der Person Jesus sich ereignete“ (1060) gelten gelassen, dann ist unausweichlich ein Hinweis gegeben, daß in Jesus von Nazaret (um diese geschichtliche „Person“ geht es ja !) dieses Entscheidende wirklich erlebt, erkannt und folglich geglaubt und verkündet worden ist, seit allem Anfang des sog. Christusereignisses, wenn auch zunächst nur in „hilflosen“ Sprachversuchen. Dieser historisch-geschichtliche Jemand (Jesus von Nazaret), sein Leben, Tun/Wirken, Geschick (1059 u. ö.) wurden als Jesus-Ereignis, als Christusereignis, als Gottesereignis, ja, am besten so zu formulieren: als JHWH-Ereignis erkannt, geglaubt, verkündet, verehrt.13 seine Königsherrschaft, den Anbruch der neuen Zeit … Da erblickt man den Boten … auf den Gipfeln des Berges. Frieden, Heil, Jahwe ward König, ruft er ihnen zu (Js 52,7). Er verkündet Jahwes Sieg über die ganze Welt … Der Bote ruft es aus, und damit beginnt die neue Zeit … Dadurch daß er die Wiederherstellung Israels, die Neuschaffung der Welt, den Anbruch der eschatologischen Zeit ansagt, schafft er sie; denn das Wort ist wirkungskräftige Macht … Denn Jahwe ist nicht nur ein Gott Israels, sondern auch ein Gott der Heiden … Die enge Berührung des ganzen Anschauungskreises mit den nt.lichen Gedankenwelt ist offensichtlich. Die eschatologische Erwartung, die Proklamation der basilei,a tou/ qeou/, das Einbeziehen der Völkerwelt in die Heilsgeschichte, das Ablehnen der gewöhnlichen Kukt- und Gesetzesfrömmigkeit (Ps 40), swthri,a (Js 52,7; Ps 95,2), eivrh,nh (Js 52,7) weisen uns zum Neuen Testament“. Dazu noch: „Das Evangelium ist keine neue Lehre; neu ist das, was durch die Botschaft geschaffen ist und geschaffen wird. Will man den Inhalt des Evangelium kurz mit einem Wort zusammenfassen, so lautet er: Jesus Christus. Das Evangelium will nicht nur von einem historischen Ereignis Zeugnis geben; denn was es berichtet, Auferstehung und Erhöhung, entzieht sich dem historischen Urteil und ist Aufhebung der Geschichte … erweist sich als lebendige Macht“ (2,728f). Wir identifizieren uns nicht mit allen diesen Aussagen; es wäre manches kritisch zu vermerken, was hier nicht geschehen kann. Es sollte nur auf den Allgemein-Duktus aufmerksam gemacht werden. 13 Zur Verdeutlichung seien hier einige Beispiele im NT aufgeführt, wo das soeben Gesagte offenkundig aufleuchtet. So Mk 2, Heilung eines Gelähmten. Das Eigentliche sagt der Schriftgelehrte 2,6: „Was redet dieser so? Er lästert. Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?“ Und Jesus tut es! Das wurde erlebt: „alle waren außer sich vor Staunen, priesen Gott (!) und sagten: Noch nie haben wir solches gesehen“. Jesus vergab Sünden und heilte! –– Mk 4,35–41, Stillung des Seesturmes. Das Eigentliche steht in 4,41: „Da gerieten sie in große Furcht und sagten zueinander: ‚Wer ist doch dieser! Der Wind und das Meer gehorchen ihm‘“. Dieser Vers wird oft durch seine Übersetzung verfälscht. Die Einheitsübersetzung sagt: „Was ist das für ein Mensch, daß ihm sogar der Wind und der See gehorchen?“ (So übrigens auch für Mt 8,27 und Lk 8,25! Ähnlich auch F. D. Bruner, Matthew: 2004, 397: „Who in the world is this fellow that even the winds und the lake obey him?”). Mit einer solchen Wiedergabe des Textes wird der tatsächliche Aussagegehalt total verfehlt. Der Text sagt deutlichst „wer ist dieser (ti,j a;ra ou-to,j evstin)“, der erlebt wird in seinem Tun. Was er tat, ist das, das man bisher ausschließlich als Tun Jahwes kannte: Er gebietet Wind und Meer. Jesus (zuvor so genannt!) tut es! Am besten übersetzt man so: Wer ist dieser? Ihm gehorchen Wind und Meer! ‚o[ti‘ ist ja oft als Einleitungsformel zum wörtlich Zitierten, als Doppelpunkt zu verstehen. Wir haben es also mit einer Formel zu tun, derer sich viele Texte im AT bedienen, um das Erfahrene und im Glauben angenommene auszusprechen: Ps 65,8; 66,6; 89, 10.26f; 93,3f; 95,5; 106,9;

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Werden daher auch die Stellen, in denen in Bezug auf Jesus von Nazaret von „Sohn Gottes“ (was Gott als Vater erklärt) gesprochen wird (Mk 1,1), und zweimal in Gottes eigener Rede (Mk 1,11; 9,7) „Sohn“ und „Vater“, unmittelbar miteinander genannt, in ihrem tatsächlichen Aussagegehalt anerkannt, dann ist im Mk Ev auch von Gott selbst nicht allgemein-begrifflich, sondern namentlich die Rede. Wenn an den betreffenden Stellen „Gott“ näherhin „Gott-Vater“ bzw. „Gott-Sohn“ meint, dann ist damit nicht von zwei „Göttern“ die Rede. „Gott“ meint an den betreffenden Stellen biblischnamentlich Jahwe.14 Die Stellen im MkEv, die wir hier vor Augen haben, und viele 107,28–31. Zum Vers Mk 4,41 sagt R. Pesch in seinem Kommentar: „In Jesus handelt Gott. Stillung des Sturms und Beruhigung der Meereswogen ist nach atl. Denken die Prärogative Gottes … Der christliche Erzähler zeigt Jesus als den, der in Gottes Vollmacht handelt: Hier ist mehr als Jona! … Die als Chorschlußfrage gefaßte Akklamation macht die missionarisch-werbende Tendenz der Erzählung deutlich. Die Zeugen des Rettungswunders und die Hörer der Erzählung können nur antworten: Der, dem sogar Wind und Meer gehorchen, ist mehr als Jona; er handelt in der Kraft Jahwes selbst, er ist Herr über die Chaosgewalten“ (212f). Diese Kommentierung wird dem Text nicht gerecht. Denn er gibt nicht den Eindruck solcher wieder, die Jesus als den erlebt hätten, der „in Gottes Vollmacht handelte“, sondern der es tat, was man nur als Tat Jahwes (aus den atl. Überlieferungen) kannte. (Auch davon als einer „Prärogative Gottes“ zu sprechen, wie es Pesch tut (s. o.), ist verfehlt. Denn wem gegenüber hat Jahwe ein Vorrecht? Hat Jahwe sich etwas vorbehalten im Gegenüber zu jemand anderem? Spricht die Bibel irgendwo in solchen Kategorien?) Daher: Was Jesus hier (und in anderen Begebenheiten) getan hat, ist Jahwe-Tat. Es reicht nicht, wenn man meint, man könne (und müsse) sagen; „Jesus wirkt in der Kraft Jahwes“ oder „Jahwe wirkt in und durch Jesus“. Darüber sind doch die Zeugen des Geschehens derart verwundert, daß sie Jesus, den sie doch kennen, Jesus von Nazaret, ihren Zeitgenossen, daß er das getan hat (sie haben es ja selbst erlebt.) Es war also Jahwe selbst, der wirkte! Jesus ist also Jahwe? Das war die Frage und das bleibt die Frage. Dazu haben die sog. Evangelisten ihre Werke geschrieben! Auch deren Leser sollen stets aufs neue fragen: Wer ist dieser? Das ist nichts anderes als die (auch rhetorische!) Frage des Psalmisten: „Jahwe, unser Herr, wie wunderbar ist auf der ganzen Erde dein Name = bist du?“ (Ps 8,2). So fragt nur der, der sehen und hören kann und es auch tut, und der anerkennt, was er sieht, das ihn aber in Staunen versetzt, das sich selbst stets neu fragt: Ist das die Wirklichkeit, was ich da sehe, höre? Was mit diesen Beispielen gezeigt werden sollte, ist dieses: Dem Zeugnis des NT folgend können wir nicht so einfach oder gar in Allgemeinbegriffen von Gott Jahwe und eben auch nicht von Jesus von Nazaret denken und sprechen, wie es leider doch oft geschieht. Gerade wenn von unerhört Neuem dessen die Rede ist, das das Jahwe-Ereignis (wenn man es so überhaupt nennen will) real und faktisch in geschichtlich erfahrenem Geschehen bzw. Sich-Ereignen, in seither noch nicht erfahrenen und bekannten und als berichteten Wirklichkeit-Werden und Wirklichkeit-Geworden-Sein ist und seitdem auch sich aus-wirkt, wenngleich, wie es begriffen worden ist, auf eschatologische, nochmals ganz neue Verwirklichung hin, zur Sprache bringt. 14 Zum Verständnis dessen, was nur eben angesprochen werden konnte, sei beispielhaft auf folgende neuere grundsätzliche Arbeiten hingewiesen: M. Oemig – K. Schmid (Hrsg.), Der eine Gott und die Götter. Polytheismus und Monotheismus im alten Israel. AThANT 82, Zürich 2003. –– A. Graupner, Der Elohist. Gegenwart und Wirksamkeit des transzendenten Gottes in der Geschichte, WMANT 97, Neukirchen 2002. –– JBTh Band 2 (1987), Der eine Gott der beiden Testamente, Neukirchen-Vluyn 1987. –– M. Striet (Hrsg.), Monotheismus und christlicher Trinitätsglaube, QD 210, Freiburg 2004. –– U. Busse (Hrsg.), Der Gott Israels im Zeugnis des Neuen Testaments, QD 201, Freiburg 2003. –– R. Kendall Soulen, Der trinitarische Name Gottes in seinem Verhältnis zum Tetragramm, in EvTh 64 (2004) 327–347. –– H. Graf Reventlow, Die Eigenart des Jahweglau-

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andere im NT sprechen erkennbarerweise und eindeutig von „Gott“ derart spezifisch, daß wir Jahwe lesen/hören und verstehen müssen, um den Aussagen wirklich gerecht zu werden. Zugleich gilt, daß gerade dort, wo von Jesus von Nazaret namentlich-persönlich und seinem auffallend-einzigartigen Verhältnis zu Gott gesprochen wird und um der Wahrheit in Wahrhaftigkeit willen gesprochen sein muß, mit „Gott“ immer ausdrücklich Jahwe gemeint ist. Heißt daher Jesus von Nazaret „Sohn Gottes“ (z. B. Mk 1,1), dann ist „Sohn“ gerade nicht als ein ganz anderer im Gegenüber zu „Gott“ gemeint, gar als zweiter „Gott“. Die schon oft genannten Texte mit den Präpositionsformeln (Gott handelt in, durch, an Jesus u. ä.) dürfen eben nicht verstanden werden, als wäre von zwei „total anderen“ die Rede. Sie sprechen vielmehr von dem auch von den Christen bis heute und weiterhin Unaussprechlichen, dem doch in seiner absoluten Unerklärbarkeit Erlebten, Begriffenen, aufgrund des gerade in der Botschaft Gottes in der Heiligen Schrift sogar aufgeschrieben Verkündeten, auf Hören hin, was JAHWE ist und „tut“, das ausgesprochen werden kann und muß durch das jahwe-namentlich-univoke (wenn man das einmal so auszuformulieren wagen darf) JAHWE-VATER-SOHN. Dasselbe mit den Formulierungen Frankemölles, die wir aufgeführt haben, gesprochen: nicht (nur): „Gott handelt in und durch Jesus (gar nur durch den Menschen Jesus)“, sondern: „Jesus von Nazaret wirkt = Jahwe(Sohn) wirkt“, wobei mitklingt, daß offensichtlich Jahwe-Sohn etwas geworden war, das ihn auch „irgendwie“, aber gültig und notwendig als einen wahren Menschen erleben ließ, vordergründig betrachtet vielleicht sogar zuerst. Wir werden auf die damit angesprochene „Problematik“ christlicher Glaubensrede von Gott-Jahwe im Verlauf unserer Untersuchung noch einzugehen haben.15 Abschließend ist in Bezug auf den (literaturwissenschaftlich-exegetischen) Begriff Gattung noch etwas Wichtiges zu sagen. Denn es ist bleibend zu beachten, daß die gewonnenen Erkenntnisse über „Evangelium im allgemeinen“ tatsächlich von nur vier vorliegenden Schriften (Texten) und deren Zurkenntnisnahme erreicht worden sind. Von diesen nennt sich nur eines selbst direkt „euvagge,lion“. Das MtEV bezeichnet sich so nur indirekt (vgl. Mt 24,14; 26,13); das Lk und das JohEv gar nicht! Die Einsichten zu „Evangelium im allgemeinen“ tragen somit einen ausgesprochenen Abstraktionscharakter. Was „Evangelium“ für die je einzelne der vier so genannten ntl. Schriften tatsächlich, d. h. je spezifisch meint, das ist gerade nicht vom allgemein verstandenen Wort und „Begriff“ euvagge,lion abbens. Beiträge zur Theologie und Religionsgeschichte des Alten Testaments, hrsg. von P. Mommer, A. Scherer u. W. Thiel, Neukirchen-Vluyn 2004. –– Fr. Mußner, JHWH, der nicht einleuchtende Gott Israels. Einige Überlegungen, in: TrThZ 115 (2006) 50–59. – A. A. Diesel, „Ich bin Jahwe“. Der Aufstieg der Ich-bin-Jahwe-Aussage zum Schlüsselwort des alttestamentlichen Monotheismus, WMAT 110, Neukirchen-Vluyn 2006. – E. Zingg, Das Reden von Gott als „Vater“ im Johannesevangelium, Herders Bibl. Studien 48, Friburg 2006. –– H. Merklein, Studien zu Jesus und Paulus II, Tübingen 199. 15 Auf diese Frage, wie von Jesus Christus „richtig“ gesprochen werden kann, darf und muß, was sein Sohn-Sein und folglich was das Vater-Sein Gottes „ist“, eben Jahwe, werden wir im Laufe unserer Untersuchung an konkreter Stelle noch öfter zurückkommen müssen.

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leitbar. Diese Einsicht bzw. prinzipielle, an sich selbstverständliche Forderung, nämlich nicht einen durch Abstraktion gewonnenen Allgemeinbegriff maßgeblich werden zu lassen für das Einsehen und Begreifen des konkreten Einzelnen, wird sehr oft nicht hinreichend beachtet. Allzu oft kommt es bekanntlich zu bestimmten Feststellungen über das Konkrete, die auf Erkenntnissen gründen, die selbst vom Spezifischen abgesehen haben. Das mag z. B. in den naturwissenschaftlichen Forschungen und in der Darbietung ihrer Erkenntnisse am Platz sein. Dort wird ja mit einer möglichst großen Zahl von „Fällen“ gearbeitet und so ein „Gesetz“, eine Hypothese u. ä. gefunden, die einzelnes Konkretes als dieses gerade nicht zum Verstehen bringen können und wollen, sondern „nur“ das für alle „Fälle“ Allgemein-Geltende. Wo daher gerade das Konkret-Historische als solches bzw. das Namentlich-Individuelle und in diesem Sinne „Einmalige“ oder „Einzigartige“ betrachtet wird (vgl. dazu auch den mathematisch-naturwissenschaftlich eingeführten Begriff „Singularität“) und von diesem wissenschaftlich (!) die Rede sein soll, da ist die oben genannte „Reihenfolge“ in der Erkenntnisgewinnung der Forschung und seiner sprachlichen Ausformulierung peinlichst genau zu respektieren (mathematische Formulierungsweisen sind gleichsam per definitionem nicht angebracht oder möglich). Was mit dieser Bemerkung hier geklärt und betont sein will, läßt sich an einem Beispiel verdeutlichen, wo das Wort, der Sprachausdruck „Evangelium“ von vorneherein als geklärter Begriff aufgefaßt und verwendet wird, nämlich als den Evangelisten (konkret Markus, Matthäus, Lukas, Johannes) gleichsam schon vor-gegeben. In diesem Text wird folgendermaßen formuliert: „Durch seine basileia-bezogene Deutung (!) von euaggelion hat Matthäus zwar den markinischen Begriff (!) ‚Evangelium‘ deutlich theozentrisch umstrukturiert (!), dies geschieht jedoch nicht zu Lasten der Christologie, die noch weit stärker als bei Markus vom jüdischen Glauben an das Wirken Gottes in Jesus von Nazareth her entfaltet wird. Grundsätzlich stimmt er in diesem Punkt mit der vorpaulinischen und paulinischen Konzeption überein wie mit der vor-markinischen und markinischen. Wie dort der Begriff (!) euvagge,lion tou/ qeou/ … der christologischen Akzentuierung keineswegs im Wege stand, so gehört auch nach Matthäus zum theozentrischen ‚Evangelium von der Gottesherrschaft‘ Jesus als Immanuel, d. h. die gesamte Christologie (!) integrativ (!) dazu. … Der Rückgriff und diese sprachliche Veränderung (!) als Werk des Matthäus entsprechen seiner sonstigen rhetorischen und systematisierenden (!) Kraft“ (Frankemölle, Evangelium 176f; Hervorhebungen; R. S.).

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Exkurs 2: Gott in Geschichte

Exkurs 2: Gott in Geschichte

Das Matthäus-Evangelium erweist sich, wie es in den Kommentaren oft betont gesagt wird, als das, was sein erster Satz selbst ausspricht: „Buch der Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“ (1,1). Schon an diesem Satz und den in ihm verwendeten Wörtern zeigt sich etwas, was jedenfalls der Theologe geklärt wissen muß, der sich um die Zusammenschau des christlichen Glaubensgutes im Sinne der Systematischen Theologie bemüht, wenigstens im Gesamt jener üblichen theologischen Disziplinen, die Fundamentaltheologie, Dogmatik, christliche Glaubensethik (Moraltheologie) u. ä. genannt werden. Aber auch für die exegetische Wissenschaft muß es hinreichend klar sein, was „Geschichte“ für sie genau meint, wegen ihrer Zielrichtung, die ja auf das christlich-theologische Verstehen der Heiligen Schrift als solcher ausgerichtet ist. Diese „Heilige Schrift“ der Christen meint Altes und Neues Testament in ihrer wesentlichen Einheit als die eine, kanonisch bestimmte Schrift, die Bibel, die ja für die exegetisch-theologischen (Unter)Displizinen die eigene, glaubenswissenschaftliche Voraussetzung wie die Begleitkriterien ihrer Durchführung ist. Was gerade dem Systematiker, der ja vor allem das Ergebnis der bisherigen, d. h. jeweilig „heutigen“ exegetischen Auf- und Erschließung dieser Bibel für seine theologische Aufgabe zusammenfassend und als heutig Darzustellendes zur Kenntnis nehmen will und muß, auffällt, ist zunächst die eigenartige fach-sprachliche und konzeptionelle Unentschiedenheit im tatsächlich vielfältigst verwendeten Gebrauch des Wortes (Begriffes) „Geschichte“, die vielleicht für den (nur) literarisch Forschenden unwichtig oder auch schlicht unbedeutsam erscheinen mag, die aber für theologisch-systematische Sachverhaltsdarstellungen (um hier zunächst diesen allgemeinsten Ausdruck zu verwenden) aus ihrer Undeutlichkeit und daher möglichen oder gar faktischen Mißverständlichkeit herausgeführt werden muß. Das sei in diesem Exkurs aus gegebenem Anlaß am Beispiel des Ausdrucks „Geschichte“ und seiner faktischen Verwendung in den Evangelien-Kommentaren vorgestellt. Denn an ihm und seinen synonymen oder benachbarten Ausdrücken/Vorstellungen/Begriffen klären sich viele Fragestellungen in Bezug auf die sachliche Berechtigung, Angemessenheit bzw. Ungeklärtheit des jeweils wissenschaftlich Befragten (und folglich Behaupteten), mit allen Auswirkungen, die das auf die Wiedergabe der eigenen Aussagen der Evangelien (und ihrer Kommentatoren!) in unserem heutigen Sprechen hat. Wenn das ganze MtEv als ein solches konzipiertes literarisches Werk zu gelten hat, und wenn der Satz „Buch der Geschichte Jesu Christi …“ (1,1) für das gesamte MtEv als sein eigentliches Thema aufzufassen ist, dann steht unausweichlich zur Frage, was hier „Geschichte“ tatsächlich und genau meint. Das gilt um so mehr, weil in den entsprechenden exegetischen Arbeiten diese „Geschichte Jesu Christi“ als Teil bzw. als die Fortsetzung der „Geschichte Gottes mit Israel“ bezeichnet und verstanden wird. Die „Geschichte Jesu Christi“ selbst wird nochmals in eine „Vorgeschichte“ 569

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und „Nachgeschichte“ aufgeteilt. In dieser werden dann sogar „Geschichten“ einzelner Personen, wie etwa des Johannes des Täufers u. a. erzählt. In der faktischen exegetisch-kommentarmäßigen Darstellung dessen, was das MtEv darbietet, begegnet der Ausdruck „Geschichte“ in unterschiedlichem Sinn, sehr oft auch als synonym schlicht mit „Erzählung“, „Bericht“ u. ä., diese als literarische Darbietungsform verstanden. Bei „Geschichte Jesu Christi‘ wie auch „Geschichte Gottes mit Israel“ denkt der einfache Leser aber zunächst ganz unvoreingenommen an „Geschichte“ im geschichtswissenschaftlichen Sinn. Diese wird ja herausgestellt als Weiterführung dessen, was „Geschichte Israels“ genannt wird, die Jahrhunderte dieses Volkes geprägt und gelenkt hat. Da wird Gott keineswegs als Erzählfigur neben anderen begriffen, sondern als der, der selbst in der Realität, im Lebensgeschehen namentlicher Völker in der realen Welt tatsächlich und wirkmächtig erfahrbar war und als solcher erfahren wurde und wird, als der, der selbst wirkt und mit-wirkt, seinerseits sogar initiativ handelt und so das Lebensgeschehen des Volkes Israel und seiner namentlich-individuellen Mitglieder bestimmt, gestaltet, anratend und fordernd. Das alles so, daß das Volk als ganzes bzw. der einzelne in ihm sich auch dem Ansinnen und Wirken Gottes in eigen-artige Freiheit zuzustimmen oder auch sich zu widersetzen gestellt weiß. Auf diese Weise ereignet sich das (von Gott gestiftete und ermöglichte) Lebensgeschehen dieser einen Gemeinschaftsgröße Gottes und des Volkes im Miteinander der Lebensführung als Geschehen, das als „Geschichte“ verstanden und bezeichnet wird, in historisch eindeutigen Zeit-Ereignissen, die in späterer Zeit eben dieses Volkes (das ja in Generationenfolge existiert) als „Geschichte“ verstanden und auch „erzählt“ und „berichtet“, ja auch dokumentarisch „festgehalten“ wird. Dabei werden Einzelereignisse geschichtlichen Charakters nicht einfach summativ erzählend aneinandergereiht. In „geschichtlichem“ Erfahren und Ein-Sehen des eigenartigen Zusammens und der realen Zusammenhänge aller historisch-geschichtlich begriffenen Einzelereignisse wird erklär-bar, mitteil-bar, was faktisch geschehen und als „Geschichte“ Wirklichkeit geworden ist. Das geschieht jeweils im Nachhinein zum real-wirklich Erfahrenen und als „geschichtlich bedeutsam“ Begriffenen. So wird Geschichte festgehalten, in „geschichtlich“ sich vollziehendem Erinnern, Dokumentieren, in weiter-erzählenden Berichten wie dann auch in schriftlicher Darstellung. Diese Darstellung ist Nach-Vollzug, nach-gereichte Kunde über real Geschehenes, das aufgrund der in ihm handelnden „geschichtsmächtigen“ Personen und deren freie Entscheidungen sich ereignet hat und daher diesen historisch-geschichtlichen Charakter nie verleugnen kann. Das festzustellen und als „Geschichte“ dieses Sinnes auszusagen und aufzuschreiben ist allerdings der persönlichen Freiheit der Wahrhaftigkeit derer anheimgegeben, die diese „Geschichte“ ein-sehen, in ihrer Wahrheit begreifen und auch im Aufschreiben und Dokumentieren der Geschichte diese in Wahrheit und Wahrhaftigkeit weitersagen. So verstandene Geschichte kann nicht etwa dichterisch-schriftstellerisch erfunden, er-dacht und zusammengestellt werden. Das ist der radikal-totale Unterschied von Geschichtsdarstellung zu allen fiktional erfundenen und ersonnenen und 570

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gerade als solche ins Wort gebrachten „Erzählungen“. Diese können gegebenenfalls durchaus in der Sprachform real-konkreter Geschichtsereignis-Darstellungen als „Geschichten“, als „Geschichtenerzählungen“ dargeboten, eben „erzählt“ werden. Die grundsätzliche Intention fiktionaler Geschichten-Schreibung geht gerade nicht auf Darstellung dessen aus, was sich real ereignet hat, gemäß den personal-freien Entscheidungen der jeweiligen Agierenden. Mit diesen Bemerkungen weisen wir auf das Faktum unserer deutschen Sprache hin, daß die Wörter „Geschichte“ und „Erzählung“ auch, aber eben nicht prinzipiell als gleichbedeutende Synonyma verwendet werden (können). Genau das ist es, was die vielen biblischen Texte und deren Kommentare belastet, jedenfalls in der deutschen Sprache, die beide Ausdrücke oft sogar abwechselnd in derselben „Sache“ der Darstellung für an sich sehr Verschiedenes gebrauchen läßt.16 Daher wiederholen wir die oben gestellte Frage: Was meint „Geschichte“ im jeweiligen exegetischen Kontext? Wie sollen und können wir „Geschich16 Es sei auf den Artikel „Geschichte, Geschichtlichkeit“ im LThK 4, 1995,553–563 aufmerksam

gemacht. Unter „Begriffsgeschichte“ heißt es dort: „Eine Nominaldefinition von G., die der gewöhnl. Verwendung dieses Begriffs entspricht, kann lauten: G. ist die Abfolge v. Veränderungen der menschl. Lebensverhältnisse, sofern an diesen Veränderungen freie Entscheidungen einen wesentl. Anteil haben u. insofern sie für uns durch entsprechende Interpretation v. Zeugnissen rekonstruierbar sind. Dabei gibt der Terminus „Abfolge“ an, daß Einzelereignisse nur aufgrund des Zusammenhangs untereinander den Charakter v. G. haben. Der wesentl. Anteil freier Entscheidungen unterscheidet die G. v. Naturprozeß („Im Prozeß ist bloße Notwendigkeit, in d. G. Freiheit“: Schelling). Insofern ist G. auf die v. Menschen (mit)verschuldeten Veränderungen beschränkt, während v. einer „G. der Natur“ nur im übertragenen Sinne die Rede sein kann. Die Rekonstruierbarkeit aus Zeugnissen unterscheidet die G. v. der „Vorgeschichte“ (553. Siehe dort auch die Abschnitte „Biblisch“ und „In der Theologie“: 557–563). Im Abschnitt „In der Theologie“ lesen wir: „Der Begriff. G. als Kollektivsingular entsteht erst im 18. Jh., inhaltlich bezogen auf ‚Menschengeschlecht‘ im Sinne der Aufklärung … In bezug auf die Zeit vor der Aufklärung bedeutet eine theologiegesch. Behandlung v. G. folglich die begriffl. Erörterung jener Sachverhalte, die in Termini, die der Vokabel G. vorausgehen, zu Wort gebracht werden. Diese Darstellung setzt die system. theol. Reflexion voraus u. ist selbst eine Weise, die Geschichtlichkeit des Glaubens auszulegen. 2. Die Bibel. Der Erfahrungsraum Israels ist nicht – wie bei anderen Völkern – v. vorzeitl. Gottesgeschichten strukturiert, vielmehr v. einem Ereignis, durch das Israel seine anfängliche Identität v. Gottes Wort u. Wirken her gewinnt …“ (559: P. Hünermann). Wir können das damit Vorgelegte in einem bestimmten Ausmaß übernehmen, werden jedoch oben im Haupttext wesentliche Momente herausstellen und betont angeben. Dazu gehört vor allem die ungerechtfertigte Beschränkung auf die Geschichte Gottes mit Israel, die alles unglücklich reduziert (die Bibel spricht von der Geschichte Gottes mit dem „Erschaffenen“ insgesamt, seit dem in Gen 1,1 angesagten „Anfang“ von allem, auch und gerade dem Gottes-Wirken „im Anfang“ und der damit beginnenden „Geschichte“). Wichtiger noch: Die in der Heiligen Schrift ausgesprochene und gleichsam dokumentierte Geschichte hat von Anfang an Gott-Jahwe als den eigentlichen „Initiator“ des Geschehens dieser „Geschichte“, in der er zudem „Beteiligter“ im Wirken und im Erleiden geschichtswirksamer Entscheidungen vom „Anfang“ an ist (hier kann nie im Präteritum gesprochen werden!). Auch ist Jahwe der, der von sich aus das Geschehen erkennen läßt und zu verstehen gibt, ja die Schrift und sonstige „Dokumentation“ aufträgt, so daß von ihm her Geschehen und schriftliche „Festlegung“ keine Rätsel- oder Denkaufgaben sind, sondern einsichtige und offene Bekundung. Siehe den Haupttext.

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te“ verstehen, da dort „Geschichte(n)“ und „Erzählung“ so oft unbestimmt verbleiben, mit allen Folgen für das wirklich „richtige“ Verstehen der dortigen Aussagen. Dem müssen wir eindringlich nachgehen. Wir werden uns für das zuerst Auszusagende bewußt einer Sprache bedienen, die sich hauptsächlich an der der Heiligen Schrift selbst orientiert und anschließt. Wendungen, die von philosophischen und theologischen, aber auch aus anderen Denkansätzen wie denen der Natur- oder Literaturwissenschaften u. ä. herrühren, vermeiden wir ganz bewußt, auch wenn sie längst als allgemein-üblich gewordene gelten. Dadurch wollen wir sogleich auch die brisanten Redewendungen bzw. eingebürgerten „Fachwörter“ zunächst vermeiden, weil gerade sie oft die exegetischen und theologischen Probleme überhaupt erst wachgerufen haben. Im Laufe unserer Darlegungen wird dann offenkundig, wo sinnvolle oder eben unbegründete Frag-Würdigkeiten vorliegen, die der Bibeltext selbst nicht aufweist und zu lösen vorgibt. Geschichte, die in der Heiligen Schrift berichtet und bezeugt wird, durch Gottes eigenes Selbst-Sein, Selbst-Kundtun und den Auftrag, sie schriftlich aufzuzeichnen, ist prinzipiell zu verstehen als das Geschehen der Gott-gestifteten Lebensgemeinschaft Gottes mit dem von ihm Erschaffenen, seit allem Schöpfungsbeginn, so daß Gott und seine Geschöpfe (nicht nur Menschen!) das eine Gott-begründete Leben-in-Gemeinschaft des von Gott gestifteten Lebensbundes führen. Die so verstandene Geschichte ist daher von Gott her als die Lebens- und Schicksalsgemeinschaft zu erkennen, die in der Heiligen Schrift bekanntlich – wir sollten ruhig staunen! – vor allem in der Sprache der Liebe, der Brautschaft und Ehe wie auch der Elternschaft und Kindschaft artikuliert wird, und nicht in der Sprache von Staaten und der Politik mit- oder gegeneinander, wie es sich dann in den üblichen Geschichtsbüchern über das Verhalten menschlich-sozialer Gruppen wiederfindet. Das kann gar nicht hoch genug für das „Verstehen“ dieser Geschichte gewertet werden. Die in der Bibel bekundete Geschichte ist von allem Anfang an gott-gestiftete Lebensgemeinschaftsgeschichte Gottes selbst mit seinen Geschöpfen und daher grundsätzlich nur so zu verstehen. Aber so kann sie verstanden werden! Es ist zudem die eine Lebenswelt und Lebenszeit, in der diese Gemeinschaft besteht (Präsens!). Diese gemeinsame Geschichte ist Leben aus und in Liebe, die sich ereignet, geschieht („Geschichte“) in persönlich-frei-gestaltetem Miteinander bzw. Gegeneinander, wie es sich „im Laufe dieser Geschichte“ zeigt. Es gibt nur die eine und einzige Welt, von der wir wissen (können), und nur die eine und einzige Zeit, „in“ der dieses Geschehen sich „zeitigt“, d. h. sich als Währen erweist. Von einer „anderen“ Welt oder „anderen“ Zeit kündet die Bibel nicht. Alles ist Gottes bzw. von ihm her das, was es ist. Die Bibel kündet von einem „Anfang“ von allem, da Gott vom „Anfang“ an ist und wirkt und seine Geschöpfe mit-sein und mit-wirken läßt. Auch hat Gott am oder als „Anfang“ keinen fest-bestimmten „Plan“, kein „Ziel“, kein „Grundkonzept“ für den Geschehensablauf fest-gelegt, auch nicht für sich selbst, das er auf jeden Fall durchzusetzen sich entschlossen hätte. Der „Anfang“ ist vielmehr frei-gebende Liebe, die um Angenommen-Werden bräutlich wirbt. Gott hat sich als 572

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er selbst als Liebe „definiert“ und ihr Welt und Zeit eröffnet. Diese kennen nur Gegenwart, Da-Sein, Anwesenheit, weil Teil-Habe-in-Teil-Geben-zum-Teil-Nehmender-Teil-Gabe, auf Miteinander-Füreinander liebender Einander-Zuneigung. Das kennt nicht einmal „Gegenseitigkeit“, sondern nur dieses ein-einziges Währen des Ein-Herz-und-eine-Seele-Seins im Sich-aufeinander-hin-Geben und -hin-Nehmen der einen Liebe, die Gott ist. Dieses Währen, das ja lebendigstes Leben als Geschehnis ist, ist das, was in der Bibel als „Geschichte“ verstanden wird. Dieses eine Lebensgeschehen, die Geschichte Gottes mit und im Gesamt des aus Liebe Erschaffenen und in seiner Liebe Während-Seienden zeigt sich als eine Fülle von Geschehnis-Weisen und geschehenen und geschehenden Ereignissen, von denen die Bibel spricht. Wenn wir da nach Einzelnem fragen wollten, um es zu benennen, würden wir zu erzählen und aufzuzeigen wohl anfangen, aber nie ein Ende finden können, eben weil dieses Währen selbst weder seine Voll-Endung noch einen ZielPunkt „gefunden“ hat. Wir wissen von keinem eschatologischen Ziel des Gedankens der Liebe Gottes. Daher hat es nur Sinn, auf das zu schauen, was in der Bibel selbst gegebenenfalls „im einzelnen“ bekundet wird. Da ist als erstes zu nennen, was wir (nicht die Bibel!) „Schöpfung“ nennen. Denn damit bezeichnen wir sowohl das „Tun“ Gottes, das Erschaffen, wie auch das Gesamt des Erschaffenen (oft einfach „Welt“ genannt). Wir sprechen davon meist im Perfekt. Dieses Gesamt des Erschaffenen wird zudem vorschnell als Gegenüber-zu-Gott-Sein begriffen, als etwas, dem eine gewisse Eigen-Ständigkeit und ein Sich-selbst-Bestimmen(-könnendes) zukäme und damit Abgegrenztsein jedenfalls vom Sein Gottes, weil von bleibender Abgegrenztheit Gottes von allem Geschaffenen die Rede sein müsse, „Transzendenz“ genannt. Das ist aber ein verhängnisvolles (Miß)Verständnis von Gott, von dem Erschaffenen und dem Mit-und-Zueinander-Sein, das Gott gestiftet hat und mit sich selbst begründet (Präsens!). Es sei folgerichtig, wie man meint, von dem Erschaffenen als Welt zu sprechen, der die „Welt Gottes“ als tranzendental, d. h. grundlegend „gänzlich anderes Seiendes“ un-zugänglich und fremd gegenüber-, ja entgegenstehe. Die gott-geschaffene Wirklichkeit, d. i. Gott und das Erschaffene, von der die Bibel kündet, kennt keine Transzendenz Gottes. Das ist ein Fachausdruck und Begriff, der erst in viel jüngerer Zeit in der Philosophie gebildet wurde (schon dort kaum geklärt) und von einigen Theologen leider in die theologische Rede übernommen worden ist, allerdings auch oft in der exegetischen Wissenschaft wirksam ist.17 Dem entgegen ist in der Bibel bezeugt und bekundet, was wir herausgestellt haben. Schauen wir da zunächst allein auf den biblischen Ausdruck „erschaffen“ (barah) als das grund-legende „Tun“ Gottes, wie die Bibel davon spricht, dann stellen wir fest: das barah18 ist das Grund-Legende, 17 Auf den Einsatz des Ausdrucks/Begriffs „Transzendenz“ hier näher einzugehen, so wichtig es ist,

erlaubt nicht der Platz. Daher wird darüber im entsprechenden besonderen Artikel im Anhang I die Rede sein. Wir verweisen hier ausdrücklich darauf: Zum Begriff Transzendenz: s. d. 18 Wir werden im folgenden diesem Tatbestand dadurch gerecht zu werden versuchen, daß wir bewußt und reflektiert-verantwortet die Ausdrücke „Erschaffen“ (als „Tun“) und daher „Erschaf-

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das Gott mit sich selbst und als er selbst „im Anfang“ „tut“ (Präsens!) und „seit“ diesem Anfang darin sein eigenes Währender-Sein „vollbringt“. Denn „Erschaffen Gottes“ geschieht; es ist das Gott-Sein. Dies immer als Präsens zu verstehen, nie als Präteritum oder als Perfekt. Es erweist sich als „alltägliches“ Tun Gottes wie sein Sein. Dazu sei auf Ps 104 und auf Ps 8 mit Ps 19 und die dortige Sprechweise aufmerksam gemacht. Erschaffen-Sein ist währendes Gegeben-Werden; daher ist dieses Sein, das Gott erschaffend gibt, nicht als Gabe zu verstehen, die dem Erschaffenen als von Gott Angefertigtes zugeteilt wird. Gott gibt gleichsam darreichend zum Annehmen-Können (Begabung!); und im Annehmen wird dieses Wirklichkeit. Das alles ist Präsens, das kein Präteritum noch ein Perfekt kennt. Von alle dem hier versuchsweise und vorsichtig Angedeuteten und Ausgesagten kündet die Bibel. 19 Es ist tatsächlich das „allfender“ (statt „Schöpfer“) für Jahwe und folglich „Erschaffenes“ (statt Geschöpf “) verwenden. Denn „Erschaffen-Sein“ ist das Sein, dem Jahwe gibt, an seinem Lebensgeschehen „teil“-nehmen zu können/dürfen: Teilnehmen aufgrund des Teilgebens Jahwes, doch zunächst im Sinne des Angebotes zum Anteil-nehmen-Können/Dürfen: Geschenk des Lebens-Vermögens zum Mit-Leben-mitJahwe in seinem einen und selben Leben-Tun. Denn Jahwe selbst ist das Leben (Tätigkeitswort im Präsens!); und er ist allein dieses Sein = Leben. Daran läßt er geschenkhaft „teil“-nehmen, wobei hier die Silbe „teil“ gerade nicht Teil-Stück meint, sondern für „mit-tun“ steht, „mit-tun“ im einen und ganzen Leben-Tun Jahwes. Erschaffen-Sein ist nicht ab-gegebene, d. h. angefertigte und abgelieferte Gabe, sondern stets darreichend vor-gehaltenes Geschenk im Sinne des Vermögens des Annehmen-Könnens und dann auch des Selbst-Tuns, nämlich Mit-Jahwe-Sein = Mit-JahweLeben. „Erschaffen“ (das Tun) wie „Erschaffenes“‚ ist stets präsentisch zu verstehen (wenn man auf grammatische Bestimmungen meint achten zu müssen). Beides spricht ja von ein und demselben Sein/Leben, das Jahwe ist. Darin mit-tun zu vermögen ist das Sein des Erschaffenen; dieses „muß“ es daher auch selbst tun, damit es lebendige Wirklichkeit ist. Der hier so bestimmte Ausdruck „Erschaffenes“ läßt es offen, von welcher „Art“ des Erschaffenen die Rede ist, von Erde, Himmel, Menschen, Engel, Tieren, Pflanzen … „Erschaffenes“ benennt alles und jedes einzelnes beim richtigen Wort – eben wenn nicht von Jahwe selbst zu künden ist. Auch die Wendung „Vermögen“, hier eher ungewohnt, wählen wir, weil sie in unserer Sprache sowohl den Seins-Reichtum („Besitz“) wie auch Fähigkeit, Können, Macht zu wirken, ja auch Talent (als auszubildende und gestaltende „Anlage“) auszusagen gestattet. Dieser eher ungewohnten Wortwahl für das hier Vorzustellende hat ihren Grund im Wunsche, den biblischen Aussagen möglichst gut gerecht zu werden. Es sei beachtet, daß wir im folgenden immer „Erschaffenes“ für dieses „Gegenüber“ Jahwes, mit dem zusammen er zu leben wünscht, sagen, wenngleich meist an den Menschen gedacht ist. Denn Jahwe liebt alles von ihm Erschaffene, jeweils in der „Weise“, die dem je Eigen-Sein des einzelnen entspricht. Denn das gibt er gleichsam namentlich-liebend: Ps 147,4: „Den Sternen (einem jeden der unzählbaren vielen) gibt er seinen Namen (der Liebe) „! 19 Der Name Jahwe wird in den Kommentaren zum NT auffallend selten eingesetzt, obwohl mit ihm viele neutestamentliche Aussagen über bzw. von Gott am besten und sprechendsten wiedergegeben werden können. Denn dieser Name, wenn er in seinem originalen Wortsinn beachtet wird, kann eine Fülle zum Klingen bringen und verdeutlichen, die mit dem meistens gesetzten „Gott“ nicht heraushörbar ist. Beim wörtlich verstandenen Namen „Jahwe“ kann unmittelbar begriffen werden, von wem die Rede ist und daß von ihm absolut „einmalig“ das Wort sein kann und muß, damit eben nicht sogenanntes „Göttliches“, d. h. schon theologisch Erfaßtes und Reflektiertes zur Sprache kommt. „Gott“ wird allzu oft als objektive Kategorie für den eingesetzt, der jegliche Art von kategorialer Erfassung übersteigt. Daher kann eigentlich nur namentlich von ihm-selbst die Rede sein. Es genügt da auch der Hinweis auf den sog. alttestamentlichen Monotheimus nicht.

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tägliche“ Sein und Leben von seinem eigentlichen Anfang an, der Gott ist. Das gilt spezifisch für den Menschen, den Gott sich zu seinem Eben-Bild, zum geliebten Gegenüber, besser: zu seinem Du ersonnen und erschaffen hat, wie es z. B. in Gen 1,26– 31; 2,7.18; 3,8 formuliert ist. (In Gen 3,8 heißt es: Gott wandelte im Garten, üblicherweise mit dem Menschen, seinem Du, zu beider gemeinsamen Freude. Jetzt hat sich der Geliebte versteckt, was zunächst Gott nicht versteht: Wie kann der Geliebte ein solches Tun „erfinden“?). Im Ps 104 wird deutlichst von der Freude Gottes und des Menschen in-eins gesprochen: Nach 104,1 (einleitender Preis, auf Gott hin gesprochen) und der vielfältigen „Aufzählung“ der Schöpfer-Werke Gottes spricht der Beter Gott seinen Liebeswunsch zu, er „möge sich seiner Werke freuen“ (31), wie er dann von sich selbst bekundet „An Jahwe habe ich meine Freude“ (34). Es tritt noch ein weiteres „Motiv“ des Singens des Beters hinzu: „Jahwe will ich singen mein Leben lang, will ihn preisen mein Leben lang. Möge ihm doch mein Lied gefallen!“ (33f). Beide, Jahwe wie der/das Erschaffene widmen sich und ihr Leben-„Tun“ einander, einem jeden vom anderen zur Freude bestimmt und gewünscht: liebendes Sein-Geben Gottes und liebend-antwortendes Dank-Sein-„Tun“ des Erschaffenen. Das ist folglich das eigentlich Grund-Gelegte und daher Zu-grunde-Legende für jeden einzelnen Denn, um es in aller Kürze zu sagen: man kann und muß bei entsprechender Gelegenheit, so wie es die Bibel tut, wohl sagen: „Jahwe ist Gott“, und auch „Jahwe allein ist Gott“. Aber man kann sinnvollerweise nicht sagen wollen „Gott ist Jahwe“. Denn im Satz „Jahwe ist (allein) Gott“ wird der Ausdruck „Gott“ als Prädikat, gleichsam funktional-kategorial verstanden, wobei dann erst geklärt sein muß, was da „Gott“ meint: Helfer, Retter, Schöpfer u. ä. Da wird meistens vom sog. „Wirken“ oder „Erscheinen“ u. ä. gesprochen; denn dadurch würde erst klar, was „Gott“ meint. Das geschieht dann meistens unter Berufung auf den sog. alttestamentlichen Monotheismus, dem andere Arten von Monotheismen gegenübergestellt werden. Das kann aber nur gelingen, wenn man sich über Begriffe und ihre Aussage-Inhalte gemeinsam Klarheit verschafft hat. Von Jahwe jedoch kann prinzipiell nie begrifflich gesprochen werden, sondern nur namentlich-einmalig. Es ist undenkbar, von einem Jahwismus sprechen zu wollen oder zu können, weil das begriffliche ZuvorKlärung erfordert. Über und von Jahwe kann aber nur absolut Unvergleichliches ausgesprochen werden, nämlich nur das, was namentlich unvergleichbar und so gesehen absolut einzig-artig ist (wobei freilich auch die Wendung „einzig-artiges“ doch wieder in Bezug auf Jahwe sich selbst widerspricht; denn Jahwe ist nie als „Art“ aussagbar). Von Jahwe kann wirklich nur personaleigennamentlich, nie „sach-gerecht“ richtig die Rede sein, weil er sich-selbst nur mit sich-selbst zu erkennen (hören, sehen, verstehen, anzuerkennen) und deswegen zu künden und zu preisen gegeben hat und gibt. Genau das ist es, was die Bibel, dazu von ihm-selbst autorisiert und ermächtigt, tut und als Euangelion weiter-zu-sagen aufträgt. Damit ist offenkundig jedem urchristlich-theologischen Denken und Sprechen ein Warnzeichen vor-gestellt, über das hier zu diskutieren nicht der rechte Ort ist. Eine ausdrücklich-bewußte Verwendung des Namens Jahwe findet sich, soweit wir sehen, nur im Mt-Kommentar von H. Frankemölle. Vieles, das gesehen werden muß, wird herausgehoben. In der sachlichen Darstellung im Verlauf seines Kommentars vergißt aber auch Frankemölle das, was er selbst eingesehen hat, und bewegt sich weiter in der sonst üblichen Weise von Gott zu sprechen. In den sonstigen im einzelnen eingesehenen Kommentaren und Büchern zu unserem Thema begegnet es selten, daß der Name „Jahwe“ überhaupt beachtet und eingesetzt wird. Beispiele dafür aufzuzeigen, erlaubt der Platz hier nicht. Wir verweisen auf den Anhang II „Texte“.

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Lebens-Akt des Menschen, für eine jede einzeln zu „berichtende“ Lebens-Tat und deren Folgen für Gott und den Menschen. Davon ist dann auch die Geschichte des Lebensbundes Gottes mit dem Menschen und so mit dem Gesamt des Erschaffenen wesentlich geprägt. Es ist das gleichsam das Grund-Gerüst der biblischen Geschichte und der entsprechenden Erzählweise geworden. In Gen 1–3 wird die faktische Tragik offenkundig, die die Lebensgeschichte Gottes und des Erschaffenen aufweist. Der Wohl-Tat Gottes aus und in Liebe antwortet der Mensch durch Widerspruch und Verweigerung seiner-selbst. Da ist es wichtig zu sehen, daß Gott zunächst den Widerspruch und seine verheerenden Folgen, weil in die Entscheidungsfreiheit des Menschen gestellt, gelten und sich-selbst davon getroffen sein läßt. Er er-leidet und trägt selbst, was der Mensch verfügt; er erwägt jedoch sogleich, wie er das Schicksal des Bundes wenden könne. Er bleibt bei seinem gegebenen Wort „Ich-bin-Dein“ und versucht, es „neu“ zur Verwirklichung kommen zu lassen. Dem Mensch wird zuteil, was seine Verweigerung bewirkte: Nicht im Gottesgarten mit Gott leben und sich erfreuen können, mit allen negativen Folgen. Doch zugleich und in-eins kündet Gott an, daß diese, von Menschen gleichsam blind gewollte Lebenssituation ohne Gott und sein Zugewandsein ihr Ende finden wird – wenn der Mensch mit-zu-wirken sich zu seinem Heil überzeugen läßt. Nicht anders in der Noach-Geschichte: Die Menschen haben sich für das In-der-Sünde-Leben entschieden, mit den vernichtenden Folgen. Das trifft, so wird es hier ausdrücklich formuliert, Gott im Herzen. „Es gereute (!) Jahwe (!), daß er den Menschen auf Erden gemacht hatte und er war tief bekümmert“ (Gen 6,6). Er läßt geschehen, was die Folge der Sünde war. Doch er spricht einen Menschen namentlich an, um ihm und dann allem erschaffenen Leben doch das zuwirken zu können, was Gottes Absicht von Anfang an war und bleiben soll: Er bereitet Rettung, die im geschehenen Nicht-Heil erwirkt wird und gleichsam den Anfang „neu“ einsetzen lassen kann – wenn der Mensch es zuläßt. Dazu wird vom Willen Gottes gekündet: „Ich will die Erde nicht wieder verfluchen …“ (Gen 8,21 – 9,1–3, wo gleichsam der Spruch Gottes im Paradies wieder-holt wird). Dasselbe und doch geschichtlich Neue wiederholt sich, wenn man so sagen will, auch im Geschehen des Auszugs Israels aus Ägypten. Wieder wendet sich Gott an einen Menschen, namentlich, und spricht ihm, zunächst einladend-begabend, einen Auftrag zu zum Mit-Tun mit Gott, nämlich das Gott-erwählte (= geliebte!) Volk aus der Sündenwelt, symbolisiert Ägypten, herauszuführen, hinein ins Gottesland. Es wiederholt sich gleichsam die in Gen 1–3 erzählte Geschichte, in Umkehr des Geschehens: Wieder beginnt Gott damit, seinen Eigen-Namen, also sich-selbst zu nennen, und zwar zur Beglaubigung und als Begründung seines Gedankens der Rettung mit diesem Erwählten-Volk: JHWH – Ich-Bin-Dein/Euer. Daß dieser alte/neue Name, d. i. Wunsch (!) Gottes trotz allem wiederholten Widerspruch doch Wirklichkeit werde, sich bewahrheite, dafür soll Mose dem Volk gegenüber Für-Sprecher/Werber Jahwes sein. Mose wendet ein: Wird man mir das abnehmen? Wird man sich führen lassen wollen? Wie soll ich sie überzeugen? (Wir sollten, zwischendurch gesagt, bemerken, daß dieser eine Mensch, 576

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Mose, mit-tun möge, so der Wunsch Jahwes, zu dem und in dem, was allen Menschen, ja allem Erschaffenen Rettung bringen wird, allen nämlich, dem Gott „im Anfang“ alles zugewidmet hat. Da hat er dem Menschen ja auch das Herr-Sein über alles Gott-Erschaffene anvertraut. Es soll Wirklichkeit werden und nicht während nur Angebot Gottes sein und bleiben. Es soll sich als Wirklichkeit bewahrheiten, auf daß alle Welt doch überzeugt werde, d. h. sich überzeugen lasse davon, was die Wahrheit ist: Jahwe – Liebe. Die Bibel erzählt dann die weitere Geschichte dieses Lebensbundes Jahwes mit allem Erschaffenen, spezifisch (gleichsam stellvertretend für alle und alles) mit Israel. Es erscheint wie ein un-endliches Auf und Ab des Lebensgeschehens des Volkes mit bzw. gegen Jahwes Ur-Gedanke der Liebe. Man braucht, um das als biblische Grund-Überzeugung zu erkennen, dazu nur die sog. Geschichtspsalmen (sie sind Geschichtsbücher!) 105–107 zu lesen (und zu beten!), die sich im Psalter nicht ohne Grund sogleich an Ps 104 anschließen. Weiters ist auf Jes 5 zu schauen, immer nur beispielhaft herausgestellt: Jahwe ist betrübt über „seinen Weinberg“, d. i. Israel, das seine Liebe zu Tode verletzt hat. Jahwes Freund (als dichterisches Bild verstanden: Wer ist das?) singt das Leides-Lied Jahwes, weil dieser, zutiefst betroffen und betrübt, nicht mehr zu singen vermag. Alles hat doch Jahwe für seine Liebe getan, um es zu überzeugen und zur Zu- und Ein-Stimmung zu bewegen, dem Volk zum Leben, zum Heil gereichend. Das Lied des Leides wird – wieder – zum Liebeslied! Jahwe bittet sogar um Rat! Was hätte ich denn noch tun können? Ich habe doch alles getan, was meine Liebe mir zu tun aufgetragen hat. Sagt mir, gebt mir, dem Ratlos-Gewordenen, was ich tun könnte, um euch doch noch zu überzeugen. – Nichts anderes hat das Buch Hosea zum Thema (was wir hier nicht im einzelnen aufzählen können. Man beachte nur den Auftrag an Hosea, eine Hure zur geliebten Frau zu nehmen, und was folgt). Der Höhepunkt ist wieder das Lied des leidenden Jahwe. In Hos 11 zählt Jahwe selbst auf, was er alles tat – und wie Israel widersprach und sich verweigerte. Jahwe spricht: „Mein Herz kehrt sich in mir und gegen mich um“. Der Grund dieses „unglaublichen“ Geschehens: „Ich bin Jahwe, Gott, und nicht Mensch! Ich kann nicht anders“. Daher versucht Jahwe, Wirklichkeit werden zulassen, was er sich „im Anfang“ und bleibend wünscht und mit ganzem Herzen erfüllt sehen möchte. – Und wieder versucht – alles wiederholt sich gleichsam von Geschlecht zu Geschlecht – Jahwe „neu“ zu beginnen. So z. B nach Jes 7 zur Zeit des Achaz. Immer wieder geht es Jahwe darum, Zustimmung zu erlangen, zunächst wieder bei einem namentlichen Menschen, der aber für alle und alles Erschaffene steht, Achaz. Jahwe ist wieder der Antragende/Werbende, der sogar den Achaz ihm vorzuschlagen bittet, was Jahwe als Wahrheits-Zeichen für seinen Wirklichkeitswunsch erfüllen solle. Jahwe will Jahwe bleiben, trotz allem Widerspruch und aller Verweigerung. So kündet er in 7,10–15 gegen den sich-verweigernden Achaz an, was er auf jeden Fall Wirklichkeit werden lassen will: Es wird einer aus Israel (dem Sich-verweigernden!) geboren werden, der Gott-mit-uns heißen und genau das durch sich selbst und seinen Lebenseinsatz die wahre Wirklichkeit sein und tun wird. Hier dürfen und müssen wir uns an das Gleich577

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nis Jesu in Mt 21,33–44 erinnern: Der Weinbergbesitzer sendet Boten und WirkenKönnende aus, einen nach dem anderen, vergeblich. Dann heißt es: Zuletzt hatte er nur noch einen, seinen Sohn! Es muß hier nicht erst entfaltet werden, was mit alle dem an-gesprochen ist. Es ist eine „Erklärung“ für das Geschehen des Lebens des Bundes Jahwes, den er „im Anfang“ eingegangen ist und in den einzustimmen er seitdem immer neu einlädt, Begabung über Begabung dazu schenkend. Da braucht nur auf Röm 5,8 und Joh 3,16f hingewiesen zu werden, wo genau dies neutestamentlich betont ausgesagt wird. „Gott erweist seine Liebe zu uns dadurch, daß Christus für uns gestorben ist, da wir noch Sünder waren“ (Röm 5,8). Dann Jesus im Gespräch mit Nikodemus, in dem Grundsätzliches ausgesprochen wird: „Denn so sehr hat Gott die Welt (d. i. in Joh die Sündenwelt) geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn dahingab (d. i. opferte!), damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern immerwährendes Leben habe. Denn Gott hat seinen Sohn nicht dazu in die Welt gesandt, daß er die Welt richte, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde“ (Joh 3,16). Wieder ist Liebe das Stichwort, sogar der Welt gegenüber, die (in der) Sünde ist. Wir sind damit bei dem, was immer unglücklich verkürzend „Christusereignis“ genannt wird. In Wirklichkeit ist es Gott-Ereignis, wie wir hinreichend deutlich erkannt haben, nämlich das eine Geschehen der Lebensgeschichte Gottes, in der Bibel „dokumentiert“, d. i. verkündet als Euvagge,lion. Das „Motto“ der ganzen biblischen Geschichtserzählung ist im Ps 66,16 am klarsten angegeben: „Alle, die ihr Gott fürchtet, kommet herbei, hört, und ich will euch erzählen, was er Großes (mir) getan hat!“ (vgl. dazu ähnlich Ps 34,9; 46,1–12; 66,5). Daher ist das gesamte, in der Bibel „erzählend“ ausgefaltete Lebensgeschehen Gott-Ereignis (wir sagen ganz bewußt nicht „Gottesereignis“) und von ihm her Menschen- und Weltereignis. Jahwe ist eben nicht „Ich bin, der ich bin“ (wie die LXX wiedergibt), sondern Ich-Bin-Dein/Euer, lieber noch: Ich-bin-Dir/Euch. Der Dativ ist hier der richtige Kasus. Von Jahwe „wissen“ wir nur aufgrund seines Sich-Zusprechens und Sich-Gebens in allen seinen Formen und Ereignissen seiner-selbst. Jahwe ist, so weiß der Glaubende, d. h. ihn Hörende und Annehmende, der Sich-mir-Schenkende, der Sich-Selbst als der Sich-Eröffnende und -Zusprechende, sich schenkend.20 20 Der Artikel „Heilsgeschichte“ im LThK 4 (1995) 1336–1344 weist folgende Gliederung auf: „I. Bi-

blisch-theologisch; II. Historiographisch; III. Systematisch-theologisch; IV. Religionspädagogisch“. Unter „Biblisch-theologisch“ heißt es bezeichnenderweise: „Der Begriff H. ist im 19. Jh. aufgekommen u. war v. Anfang an umstritten. Er bez. das sinnvoll erscheinende Nacheinander gottmenschl. Beziehungen od. die planmäßig erscheinende Abfolge göttl. Handlungen. Die heilsgesch. Sicht ist berechtigt und notwendig, weil sie sich in den biblischen Texten selbst findet (was nicht aufgezeigt wird! R. S.) u. weil sie grundlegenden Komponenten der bibl. Botschaft Rechnung trägt, nämlich den Bezug z. Geschichte ( Geschichtstheologie), zu dem in der Gesch. handelnden u. sich offenbarenden Gott sowie zu dem verheißenen, durch Jesus Christus anfanghaft gewirkten, aber noch nicht vollendeten Heil. Schwierigkeiten u. Grenzen ergeben sich aber u. a. daraus, daß sich antikes u. neuzeitl. Gesch.-Verständnis unterscheiden u. daß in den bibl. Texten oft eine Diskrepanz zw. historisch Geschehenem u. dessen deutender Darstellung besteht“ (1336). Deutlicher

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Heilsgeschichte – Neuschöpfung und Neu-Anfang: Fehlleitende Wort/Begriffsbildungen

Aus dem bisher schon Besprochenen wird klar, daß eine Reihe von gebräuchlich gewordenen Kategorien in Bezug auf das Geschehen der Lebensgemeinschaft Jahwe – Erschaffenes sachlich unangebrachte, ja fehlleitende Wort/Begriffsbildungen sind und daher am besten ganz fallen gelassen werden sollten. Dazu gehört der Ausdruck „Heilsgeschichte“, so wie er faktisch in der Theologie, auch in den Bibelwissenschaften eingesetzt wird. Vor allem wenn es um das sachgerechte Verständnis der biblischen Aussagen geht, und das ist sicher das Erstanliegen der christlichen Exegese, erweist sich „Heilsgeschichte“ als unglücklicher Terminus. Abgesehen noch davon, daß neben der so genannten „Heilsgeschichte“ keine andere „Geschichte“, etwa „Unheilsgeschichte“ benannt wird, so wird faktisch „Heilsgeschichte“ spezifisch für die Geschichte Israels verwendet, in die, wie oft formuliert wird, Jahwe „eingreift“, um sie in ein von ihm bestimmtes Ziel zu führen. Meistens läßt man den Beginn dieser Geschichte Gottes mit Israel wohl schon mit dem Bundesschluß Jahwes mit Abraham einsetzen, ohne aber die anderen Völker und Gruppen mitzubeachten. Erst im sog. Christusereignis wird der Blick auch auf alle Völker (meist Heiden genannt), ja auf alle Welt gerichtet. Wir sahen schon, daß das eine Einschränkung ist, die dem, wovon die Bibel insgesamt spricht, nicht gerecht wird. Die Angaben des Artikels „Heilsgeschichte“ im LThK 4 (1995) bestätigen unser Urteil.21 Die Darstellung des biblisch Ausgesagten sollte auf die Anwendung dieses Terminus ganz verzichten; denn er ist nicht gefordert, verdeckt vielmehr, was es festzuhalten gilt. Was die Wort/Begriffsbildung „Neuschöpfung“ und „Neuanfang“, bezogen auf das Geschehen der Lebensgemeinschaft Gott-Erschaffenes, betrifft, so muß im Blick kann gar nicht herausgestellt werden, daß es sich bei diesem Begriff und seinem Einsatz um eine sehr problematische Sache handelt, was eher die Nicht-Verwendung jedenfalls in den exegetischen Wissenschaften empfiehlt. Das bestätigen schon die weiteren Ausführungen, in denen versucht wird, den Begriff doch irgendwie als von der Schrift her suggeriert zu erweisen, was wir hier nicht weiter verfolgen müssen. Auch der Gliederungspunkt „Systematisch-theologisch“ spricht Ähnliches aus: „H. ist ein äußerst komplexer Kombinationsbegriff, der zwei Wirklichkeiten sehr versch. Art miteinander in Beziehung bringt: ‚ Heil‘ verweist auf eine strikt transzendente Wirklichkeit, weil innerhalb der Gesch. stets nur Vorerfahrungen möglich sind, nicht aber die Vollendung selbst im Sinne des Schalom, verstanden als Ganzsein des Menschen u. der Welt. Geschichte“ hingegen ist der Inbegriff der Immanenz, insbes. in der NZ, in der geradezu v. einer Vergeschichtlichung nicht nur des Bewußtseins der Menschen, sondern auch der Wirklichkeit selbst Gesch. ist. Wenn somit der Begriff H. Transzendenz u. Immanenz verbindet, muß sein systematisch-theolog. Gehalt zwei elementaren Kriterien genügen. H. kann 1. nicht einfach eine innerweltliche Gesch. neben anderen sein; sie ist vielmehr im Unterschied zu allen anderen Geschichten universal. Und da die H. Gott z. Subjekt hat, muß 2. deutlich sein, daß Gott auch in einem gesch. Handeln das unaussprechliche Geheimnis ist und bleibt“ (1341). 21 S. vorige Anmerkung. Für das hier zu Besprechende sind viele Textbeispiele aus den Kommentaren und den anderen einschlägigen Arbeiten dienlich. Aus Platzgründen bringen wir Beispiele im Anhang II „Texte“. Darauf sei hier verwiesen.

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auf ihre Verwendung in den christlich-biblischen Wissenschaften Folgendes betont gesagt werden. (Wir stellen hier verständlicherweise das heraus, was sich gerade in der Auslegung der biblischen Texte seitens der Kommentare und von daher bei eher systematisch interessierten Theologen an Aussagen zeigt.)22 Zur Wortprägung „Neu22 H. Frankemölle kommentiert den Text Mt 1 auf seine besondere Weise. Er gliedert das Kapitel auf,

indem er 1,1 als Überschrift versteht und dann 1,2–17 mit „Die irdische Genealogie“ und 1,18–25 mit „Die ‚himmlische‘ Genealogie“ überschreibt. Zu diesem Text sieht er die Frage gestellt: „Wer ist der ungenannte Erzeuger in Vers 16?“: „Die Beantwortung dieser Frage … ist für heutige Leser mit unendlich vielen Schwierigkeiten verbunden (Stichwort Jungfrauengeburt)“ (148). Dann heißt es: „Um eine Fixierung auf das Stichwort ‚Jungfrauengeburt‘ in 1,23 zu vermeiden, ist es dabei gut, auf parallele Glaubensbekenntnisse zum schöpferischen und ständigen Wirken Jahwes in der Welt, in der Geschichte und beim Einzelmenschen sowie auf sein Wirken bei der Erzeugung jedes Menschen in der Bibel hinzuweisen … Da der Glaube an Gott eine Antwort auf die Gesamtwirklichkeit ist, wird in der Bibel auch bei der Entstehung und Zeugung des Menschen als Teil dieser Wirklichkeit das schöpferische Wirken Gottes vorausgesetzt … die Grundüberzeugung der gesamten Bibel: Gott haucht bei jeder Entstehung eines Menschen dem Adam/Erdling/Menschlein seinen Geist/ seinen Lebensatem ein (vgl. Gen 2,4–7): ohne ihn und ohne Gottes schöpferisches Mitwirken bliebe Adam, der Erdling, Erde (adama) … Auf der Basis dieser allgemeinen Glaubensüberzeugung galt es den biblischen Autoren darüber hinaus für ausgemacht, daß die Empfängnis und Geburt bestimmter Personen explizit auf ein besonderes, unmittelbares schöpferisches Wirken und Eingreifen Gottes zurückzuführen sei. Die diesbezüglich wichtigsten biblischen Texte im Neuen Testament sind zu Johannes dem Täufer und Jesus Lk 1,5–38, zu Jesus Mt 1,18–25, zu Isaak Gal 4,23.27, zu Melchisedek Hebr 7,3. Im Ersten Testament findet sich sogar eine feste literarische Gattung der Geburtsankündigungsgeschichte (vgl. vor allem Gen 16,7–12; 17,15–22; 18,1–16; Ri 13,3–5; 1 Kön 1,17–28; 4 Kön 4,14–17; Jes 7,10–14“ (149f; wir bemerken erstaunt, wer und was hier „zusammengeschaut“ wird unter dem einen fragwürdigen Ausdruck!). Dann dort weiter: „… in Mt 1,18ff bei der Ankündigung der Empfängnis Jesu. Natürlich klingt die Vorstellung, daß ein Sohn … ohne Zutun eines Mannes allein durch das schöpferische Wirken des Geistes Gottes empfangen wird, in der hebräischen Bibel nirgendwo an. Dies ist der griechischen Bibel im Ersten und Zweiten Testament vorbehalten …“ (150). Es heißt dann weiter: „Der Schöpfung aus dem Nichts entspricht die Erschaffung des Menschen aus dem Nichts … Worauf es ankam: Der glaubensgeschichtliche Wurzelboden biblischer Schöpfungstheologie und der Vorstellung des schöpferischen Wirkens Gottes bei der Erzeugung von Menschen sollte stichwortartig verdeutlicht werden … Daß Matthäus mit seiner These, daß Jesus Christus seine Existenz in absoluter Weise einem schöpferischen Eingreifen Gottes verdankt, also direkt von Gott abstammt, nicht allein steht, mag vorab durch andere Stellen im NT angedeutet sein. … Was das Bekenntnis zur Empfängnis Jesu aus der Jungfrau Maria bedeutet, vermag erst der zu ahnen, dem das Bekenntnis der Schöpfung aus dem Nichts aufleuchtet. Wie die schöpfungstheologischen Erzählungen Versuche sind, das Geheimnis der Welt von Gott her zu deuten, so ist auch die Erzählung von der Jungfrauengeburt als ein Versuch zu interpretieren, eine gläubige Deutung für die Überzeugung zu liefern, daß Jesus – wie Adam und Immanuel in Jes 7,14 – den Beginn seiner Existenz, die Empfängnis ganz dem schöpferischen Wirken von Gottes Geist verdankt. Dies gilt, auch wenn die Parallelen nicht ganz stimmen, da weder beim Werden Adams Jungfrauengeburt und Geistzeugung genannt werden noch in Jes 7,14 beim Werden des Immanuel aus der Jungfrau von Geistschöpfung die Rede ist. Dennoch wird hier und dort die belebende Schöpfermacht Gottes vorausgesetzt. … Anweisungen zum ‚richtigen‘ Verstehen des Matthäus hinsichtlich der Geistzeugung und Jungfrauengeburt deutlich. Der Gedanke einer absoluten Neuschöpfung durch Gottes Geist in einer Jungfrau war weder im hebräischen Text bei Jes 7,14 … noch im griechischen Text … unzweideutig vorgege-

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anfang“ haben wir schon einiges betont herausgestellt. Wenn man berechtigt und sachgerecht überhaupt von einem „Neu-Anfang“ sprechen will, dann setzt man irgendwie einen anderen oder gar mehrere „Anfänge“ als mitzubenennende voraus, und so wohl auch einen „Erst-“ oder „Ur-Anfang“, in Bezug auf den ein „Neu-Anfang“ bezogen wäre. Da ist die Frage gestellt: Wer oder was „fängt an“ bzw. wer oder was „fängt mit wem oder was neu an“. Vorauf bezieht sich diese Bestimmung „neu“? Wir können und müssen hier sogleich dieses sagen: In allem Anfang, ja im Ur-Anfang, im Anfang-aller-Anfänge ist „Schöpfung“, und zwar als „Tat“ („Tun“) des Schöpfers zu verstehen wie auch als „Ergebnis“ dieses „Tuns“. Dabei kann es sich nur um Jahwe als „Täter“ handeln. Wir können hier aus unserem biblisch-christlichen Glauben allein eine Antwort zu finden versuchen; von woanders her denken und sprechen zu wollen, wäre nicht sinnvoll und auch nicht zielführend. Daher können wir aus dem ein-gesehenen, verantwortlich begriffenen und ins Wort gebrachten Glaubenswissen sagen: In allem Anfang, man könnte formulieren: Im Uranfang, im Anfang aller Anfänge ist „Schöpfung“, diese als „Tat“ („Tun“) des „Schöpfers“ zu verstehen wie als dessen „Ergebnis“. In und mit uns als seine „Schöpfung“ setzt Jahwe (wir verwenden hier bewußt ausdrücklich diesen seinen von ihm selbst genannten Namen statt des Wortes „Gott“, um streng im biblisch-christlichen Denk- und Sprachbereich zu bleiben) durch sich-selbst, aus sich-selbst und für sich-selbst wie mit sich-selbst das, was wir mit „Ur-Anfang“ bezeichnen (Erst-Anfang würde fragen lassen: von woher und woraufhin gerechnet?). Wir stoßen hier ohne Zweifel auf die vielen Fraglichkeiten, die in dieser Grund-Aussage sich melden. Die erste wäre: ist für Jahwe überhaupt eine Zeit-Kategorie, welcher Art auch immer, anwendbar? „Anfang“ versteht sich ja als irgendwie begriffene Zeit-Kategorie oder auch auf logische Folge hin (wobei klar sein muß, worum es sich da handelt; die Ursache versteht sich ja z. B. als „vor“ der Wirkung „seiend“). Kann Jahwe überhaupt aus sich selbst heraus für sich persönlich einen Anfang, für was auch immer, setzen, wenn er „etwas“ (was?) mit sich anfängt? Ist (Präsens!) er „Sein“ (Jahwe sagt ja „Ich-Bin“), so daß er also sein Sein nur als im „Präsens“ in und bei sich selbst hat, somit keine „Vergangenheit“ (Präteritum; „war“) und kein Futur (etwas, was noch nicht wäre) kennt noch kennen kann? Im hier gemeinten „Anfang“ (was immer das Wort meint) ist ja nur Jahwe, er-selbst. Damit wird deutlich, daß wir für die Kategorie „Anfang“ (welcher Art auch immer) zunächst auf das andere Wort, nämlich „Schöpfer“ (und von ihm her „Schöpfung“) „reflektieren“ müssen, das wir verwenden, wenn wir von „Anfang“ meinen sprechen zu müssen. Der einfache Satz „Jahwe ist Anfang“ ist bar jeden Sinnes. Er wird in der Bibel nie ben …“ (152);. Dann, schließlich noch: „Wer ist der eigentlich Handelnde? Es ist der Gott Israels … Er führt nach Matthäus eben diese Geschichte nicht nur zielorientiert auf den Menschen Jesus zu (1,16), vielmehr ermöglicht er auch in einer absoluten Neuschöpfung die Existenz dieses Jesus als Christus, da er sein Selbsterschließung an diesen Menschen bindet, der deshalb zu Recht ‚Immanuel, das heißt übersetzt: Gott ist mit uns‘ (1,23), genannt werden kann. Für Matthäus gibt es keine Alternative Gott oder Christus, Theo-logie und Christo-logie“ (154–155).

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gesetzt noch für uns suggeriert. Die Bibel beginnt (nicht nur in ihren Aussagesätzen, sondern in ihrem „Geschehen“ und dessen Versprachlichung) mit Jahwe-Schöpfer, der mit „anderem“ (was das ist, ist zunächst absolut nicht-gewußt) „anfängt“, etwas zu „tun“, um mit ihm zu tun zu haben zu beginnen, um sich-selbst ihm „erschaffend“ zu widmen (aus Liebe in Liebe, wie wir „später“ begreifen). Dieses „andere“ kann nicht einfach als „Nicht-Jahwe“ oder „Nicht-Jahwe-Sein“ verstanden und bezeichnet werden; denn das sagt ja gerade nichts; das wäre pure Verneinung, die nichts-sagend ist. So etwas „gibt es nicht“. Das „Ergebnis“ des „Erschaffens“ als „Tun“ Jahwes (Tätigkeitswort im Präsens! Jahwe ist Schöpfer; Jahwe erschafft) ist ja ein „anderes“ gänzlich eigentümlicher „Art“, eben „Erschaffen-Werden“ bzw. „Erschaffen-Sein“ (Präsens). Es gibt aber „neben“ oder „mit“ oder gar „vor“ Jahwe schlechthin nichts und niemand als etwas „anderes“; denn Jahwe allein ist. Man könnte hier einwenden, daß wir dann vielleicht besser sagen sollten „Jahwe lebt“. Das mag stimmen. Doch er lebt sich-selbst, sein eigenes Leben, das er als ICH-BIN ist, in dem etwas „anderes“ als er-selbst nicht zu finden ist. Wenn aber trotzdem von einem „anderen“ rechtens die Rede sein muß (der Grund dafür bin ich mir-selbst, denn „mich gibt es ja“: ich er-lebe ja mich; und das weiß ich), dann ist es offensichtlich durch das er-möglicht und wirklich, was „Erschaffen Jahwes“ ansagt. Was, so fragen wir daher weiter, „will“ Jahwe eigentlich in und mit dem, was wir von ihm her „erschaffen“ als Tun nennen? Ein solches Tun Gottes, wenn er es tatsächlich tut und vollbringt, betrifft ja ein „Objekt“, d. h. ein „anderes“ als Jahwe-Selbst, weil es ja nicht etwas ist, das Jahwe im Leben-Tun seiner-selbst mit sich-selbst schon immer „tut“: selbst leben. „Erschaffen“ (Tätigkeitswort) spricht somit offensichtlich von einem „Erschaffen-Werden“ (Passiv Präsens!) und damit von einem „Sein“ (Präsens), das gerade kraft des „Erschaffen-Werdens“ durch einen anderen als es der Erschaffen-Werdende ist, eben durch den, der das „Erschaffen“ als seine Tat aktiv „tut“, d. h. durch den „Erschaffer/Schöpfer“. Wenn aber das Erschaffen-Werden-Sein das Sein (Präsens) des Erschaffen-Werdenden (Präsens, wenngleich „Passiv“) ist, da-ist, dann ist dieses Erschaffen-Seiende es-selbst, eben kraft des Tuns des Erschaffers; und so kann und muß es mit sich-selbst auch benannt und bezeichnet werden. Von „Schöpfung/Erschaffen“ überhaupt realistisch, d. h. als tatsächliche Wirklichkeit zu sprechen, ja sprechen zu können und zu müssen, hat in sich selbst alle diese angegebenen Implikationen als ihm real vor-gegeben unverzichtbar und unaufgebbar bei sich, da der Erschaffer es nach seinem „Willen“ so als „Seiend“ „verfügt“. Wir sprechen hier offensichtlich die ewige Frage der Erkenntnistheorie an und sehen sie für uns im genannten Sinn gelöst, nämlich wieso wir überhaupt so etwas tun, bewußt tun wollen und tun können, was „erkennen“ genannt wird. Auf diese Frage brauchen wir aber hier nicht näher einzugehen. Wir dürfen es deswegen „übergehen“, weil wir uns um Einsicht in unser Glaubenswissen bemühen. Denn der Glaube ist diesem Bemühen ja zuvor und ruft es selbst erst wach. Wenn in den Bibelkommentaren und dann in aller Theologie von einem „NeuAnfang“, den Gott Wirklichkeit werden lassen will, die Rede sein soll, dann kann 582

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das nicht anders geschehen, als daß wir dazu wieder zuerst die Bibel selbst sprechen lassen und gut zuhören müssen, um es dann auch selbst so wieder-zu-geben, wie wir es vernommen haben, um es dann auszusagen und zu verkünden. Da stellen wir dieses fest: Die „Initiative“ zum „Neu-Anfang“ gibt und ist da nicht Jahwe! Vielmehr ist für Jahwe die bewegende „Motivation“, so jedenfalls sagt es die Bibel, das ZuvorGeschehene, nämlich das „Agiert“-Haben des Erschaffenen, das Sich-Verweigert-Haben, das den von Jahwe selbst ursprünglich initiierten Gang des Lebensgeschehens des Bundes in den Wider-Gang versetzt, durch Wider-Spruch zum Einladungs- und Lebens-Zuspruch Jahwes. Der „Neu“-Beginn, wenn diese Bezeichnung sachgerecht und richtig sein soll, ist ja die Re-Aktion Jahwes auf das, was das widersprechende Erschaffene ins Werk gesetzt hat, kraft der ihm geschenkten Freiheit zum An-Nehmen und Mit-Tun im Bundesgeschehen zusammen mit Jahwe. Ein mögliches Nein-Sagen hat Jahwe nicht „von Anfang an“ schon „mit-einkalkuliert“. Jahwe selbst hat kein Vermögen zum Ja- oder Nein-Sagen geschenkt, sondern durch sein ursprünglich-erschaffendes Ja-Sagen „nur“ zum An-nehmen-Können, zum liebend-dankbar-antwortenden Ja-Sagen. Der aus Liebe erschaffende Jahwe „rechnet“ nicht mit einer NeinMöglichkeit! Der Mensch ist ja gerade als Eben-Bild, das Du-Jahwes erschaffen. So ist er das Ja Jahwes in Person. „Und Gott sah, daß alles sehr gut war“ (Gen 1,31). Damit ist über alles Erschafffene Jahwes Begutachtung und Urteil gesprochen. Das GanzEigentümliche und absolut Un-Erahnbare des „Neu“-Anfangen-Wollens des BundesInitiators zeigt sich nun zunächst daran, daß Jahwe Sich-Selbst wirklich in seinem Herzen zu Tode getroffen sein läßt (Gen 6,1; Hos 11,8f), und zwar von dem, was das Aus-Liebe-Erschaffene meinte in seiner ihm mit-geschenkten Freiheit entscheiden und wirkungsvoll tun zu können. Jahwe läßt es auch ge-währen und wirksam sein, sogar zuerst für sich-selbst, dann auch für alles Erschaffene; denn das hatte er ja dem Menschen als er ihn zum Herrn über alles einsetzte, anvertraut. Alles trägt folglich ab nun dieses Wesens-Merkmal: Statt Leben Nicht-Leben = Tod; statt Paradieses-Dasein das Nicht-Paradies; die widerliche Fremde und Gott-Ferne; Gott-Verlassenheit (die es ja für ein Gott-Erschaffen-Seindes gar nicht gibt!). Man muß jetzt tatsächlich alles von Jahwe ins Wirklichkeits-Sein Eingesetzte und deswegen positiv mit Namen genannte Geschenkte aufzählen und dann mit dem Negativ-Zeichen versehen, um das wirklich auszusagen, was diese nein-gewordene Wirklichkeit ist. Denn durch den Wider-Spruch ist alles zugrunde geprägt, eben weil es durch ihn wirkmächtig ver-nichtet ist. Alles hat dieses Vernichtet-Sein nun zu tragen, zu sein, zu leben und zu er-leben. Es lebt jetzt alles immer noch gemäß dem Ur-Wunsch Jahwes, zugleich jedoch nun auf das Nicht-Leben hin ausgerichtet und darauf festgelegt. Das Sein des Erschaffenen ist auf Des-Todes-Sein ver-kehrt, sein Leben lang! Und genau dieses verkehrte Sein und Leben ist das, was Jahwe nun durch sein Auf- und An-nehmen des Wider-Spruchs versucht, ein „neues“ Jahwe-Sein und -Bleiben werden zu lassen. Jahwe läßt das Nein voll gelten, aber diesem gewirkten Vernichtet-Sein keine absolute Ver-Wirklichung angedeihen. Vielmehr versucht er, dieses auf Nicht-Sein unaus583

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weichlich Ausgerichtete zu wenden. Jahwe strebt die Kehrt-Wendung des Nein ins Ja zu erreichen an – auch jetzt als An-gebot an das sich dem Vernichtetsein geweiht habende Erschaffene. Hier ist jetzt genau auf die Weise dieses Abwenden-Wollens Jahwes zu achten. Wie versucht Jahwe nämlich, das zu bewerkstelligen? Wieder nicht durch sein eigenes selbst-herrliches Wollen und Tun. Jahwe tut vielmehr das Un-Erahnbare! (Nur Gott konnte auf diese Idee kommen, die wir auch im Nachhinein nur staunend „begreifen“!) Jahwe will in seinem Vollbringen-Wollen genau das mit-beteiligen und mit-beteiligt wissen, was Ver-nichtung geworden war. Mit dem Ver-unstalteten gemeinsam wünscht er sein ursprünglich Gewünschtes doch Wirklichkeit werden zu lassen, unter erbetenem Mit-Wirken des Sich-Verneinten. Dem Zu-Tode-Geweihten will er gleichsam nach unausweichlichem Zu-Tode-Geworden- und also Tod-Sein das Den-Tod-hinter-sich-bringen-Können zu ermöglichen – wenn es mit-zumachen sich über-reden läßt. Jahwe geht dazu weder von seinem Ur-Gedanken und -Entschluß ab, noch von dem durch den Wider-Willen bestimmten Zuwider-Sein. Jahwe ver-nichtet gerade das Wider-Spruch-Seiende nicht kraft seiner (sog.) Allmacht, um dann erst an dessen Stelle etwas „absolut Neues“ erschaffend ins Dasein zu rufen. Vielmehr will er den erfahrenen Wider-spruch in seinem „wiederholten Zu-Spruch „neues“, das heißt „wiederholtes“ Lebens-Vermögen darreichend wenden, um „dasselbe“ Ur-Erwünschte „neu“ zu schenken. Das wiederholte Zu-Reden und Über-Reden ist kein Überwältigen, sondern nachdrückliche Zu-Widmung, die dem zu Beschenkenden Lebens-Freude zuteil werden lassen will. Jahwe hat sich ja in die Hand des Menschen geschenkt (nicht ausgeliefert!), so daß es der Mensch in der Hand hat, was Gott zu er-leben hat und erleben muß, weil er sich geschenkt hat. Und Gott ent-reißt sich nicht der Hand des Menschen, sondern er beginnt zu versuchen, in und aus diesem Geworden-Sein heraus doch frei-schenkender Jahwe „neu“, weil er-selbst, werden zu dürfen, – wieder wenn der sich-zunichte-gerichtete Mensch es zu-läßt! Das so wiederholte Ja Jahwes zum Menschen ist von Jahwe her genau das JA, das Jahwe schon „im Anfang“ als AMEN zu allem Erschaffenen ausgesprochen hat. Es soll jetzt durch Jahwe „neue“ Zu-Sage und vorhergehenden Ab-Sage des Erschaffenen gleichsam zum AMEN AMEN werden – wenn der Mensch sich zum Mit-Sprechen genau dieses AMEN Jahwes doch überzeugen läßt (vgl. dazu 2 Kor 1,18–21). Was wir jetzt so betont herausgehoben haben, zeigt sich augenscheinlich an dem ersten sog. „neuen“ Anfang Jahwes, am Noach-Ereignis. Das Erschaffene hat sich der Nichtigkeit geweiht: Gen 6,5–7.13. Jahwe sinnt auf sein Re-agieren. Er spricht Noach, der ja auch zum Nichtig-Gewordenen gehört, an und offenbart ihm seinen Gedanken der Rettung. Zugleich trägt er ihm an, das zu bewerkstelligen, was ihm und seinen mit-auserwählten Verwandten vor dem kommenden Un-Heil bewahren möchte. Er soll das bauen, was ihm im kommenden Geschehen Rettung werden kann. Noach soll sich an der Vor-Sorge Jahwes beteiligen lassen. Und Noach tut es; er baut nach den Weisungen Jahwes die Arche und vereint in ihr alles Leben, das Jahwe vor dem Un-Heil bewahrt wissen will. Statt die ganze Erde zu erfüllen, wie es „am Anfang“ 584

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vorgesehen war, soll diese kleine Schar in einer im Grunde gänzlich ungeeigneten Not-Unterkunft Wohnung beziehen, während die ganze Erde der Vernichtung als Ort für ihr Wirken gewährt wird. Noach erfüllt den Auftrag Jahwes und sammelt alles Erwählte an unmöglicher Stelle. Dann läßt Jahwe den Regen, den er ja, ihn erschaffend, der Erde wie allen Menschen und allem Leben zum Segen, zum Wachsen, Gedeihen, Blühen und Früchte-bringen bestimmt und befähigt hatte (vgl. Gen 2,5; Lev 26,9; Dt 11,11.14; 28,2; 32,2f; 1 Sm 23,4; Ps 72,5f; 147,7–9: Ib 5,10; 36,27f; Jes 30,23; 44,14; Jer 5,24; Ez 34,26; Sach 10,1; Apg 14,16; Jak 5,18), das erfüllen, was der sich-verweigernde Wider-Spruch dem Regen zu tun bestimmt hat: Nicht-Segen und also den Tod bringen. Der Segen-Regen wird zur verheerenden Flut und vernichtet „alles Leben auf der Erde“ (Gen 6,17). Es ist nicht Jahwe, der das will oder bewirkt. Jahwe läßt vielmehr geschehen, was das sich-verweigernde Erschaffene aller Welt bestimmt und eingebracht hat. Weil Noach auf die Vor-Ankündigung Jahwes hört und die Arche bewerkstelligt und mit auserwähltem Leben erfüllt hat, wird jetzt im Geschehen der Verweigerung/Vernichtung Rettung. Es zeigt sich, daß Noach berufen wurde zum gehorsamen Mit-Tun in dem, was Jahwe bewahren und „neu“ beginnen lassen will. Dazu wird sogar der vernichtenden Flut der Auftrag erteilt, die Arche zu tragen, nicht sie zu verschlingen. Der vernichten-wollenden Flut wird es, ohne daß sie es weiß, aufgelastet, das Heil zu tragen und so den Erwählten in der Arche die Gewähr zu geben, nicht versinken zu müssen, eben weil diese wenigen Erwählten dem Rate Jahwes treu gehandelt hatten. Das Un-Glaubliche geschieht so auf eine Weise, die kein Erschaffenes sich ersinnen konnte. Dann, erst dann gebietet Jahwe den Fluten, in den ihnen „von Anfang an“ zugewiesenen Räumen und Wirkmöglichkeiten aufs neue zu tun, was Jahwe ihnen ursprünglich aufgetragen hat: Segen zu sein (Gen 1,9). Dann läßt Jahwe die Auserwählten und vor-läufig Geretteten „neu“ beginnen. Und zur Besiegelung dieses „neu“ begonnenen Bundesschlusses des Ur-Anfangs (Gen 9) läßt Jahwe den Regen-Bogen das Zeichen seiner Treue sein, wieder ohne diesem (schon von Natur aus erstaunlichen) Natur-Vorgang seinen Ur-Sinn zu nehmen. Er ist und bleibt nur Natur-Geschehen; aber gerade diesem gibt er jetzt das zum Zeichen BestimmtSein, also einen Sinn, den man „nur“ glaubend erkennt, annehmen kann und sich an ihm erbaut und aufrichtet. Was wir so mit recht hilflosen Worten aus in der Bibel Bekundetem ins Wort gebracht haben, zeigt sich immer wieder in den folgenden jeweils „neuen“ Anfängen, weil das Erschaffene-Erlöste sich immer wieder neu verweigert, Jahwe aber nicht abgehen kann („Ich bin Gott und nicht ein Mensch“: Hos 11,9) und will von seinem Ur-Entschluß seiner Liebe. Letztlich wissen wir das als Christen aus unserem Glauben an das Geschehene im Pascha-Ereignis Jesu, in Tod und Auferweckung des Sohnes Gottes, der Gott ist. Dieser stirbt realst den Tod und das Tot-Sein (d. i. das absolute „Aus“ und „Ende“ allen Lebens!), im Gehorsam gegen Gottes Ur-Absicht und dem wirkmächtigen Nein des Erschaffenen. Es ist dieses Geschehen eben nicht nur Gottes-Gehorsam, sondern dies im vollem Gelten- und Wirken-Lassen dessen, was 585

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Anhang I: Exkurse

Erschaffenen-Entscheidung und -Tat war, das Erschaffenen-Nein passiv und aktiv zugleich zu Tode, indem er sich „zuvor“ das Sünder-Sein hypostatisch einte und in und mit ihm einlöst, was angeordnet war: Ja und Nein durch den Tod hindurch – in göttlicher, dem Erschaffenen un-denkbarer Radikalität. Das ist ja das „Ergebnis“ dieses Pascha-Geschehens: Der in allem gehorsame, d. i. Ja-Sagende zu Gott und zum Sünder in-eins, dieser wird „aufgenommen“ (Lk 24,51; Apg 1,9–11) „in den Himmel“, in die immer schon und bleibend liebenden Hände dessen, der sich als JHWH – ICH-BINDIR erweist, immer wieder „neu“ derselbe und eine. JHWH ist und bleibt JHWH. Es hat sich dabei aber auch deutlichst gezeigt, daß Jahwe nicht nur der aktiv Seiende und Wirkende in der „Geschehens-Geschichte“ das Lebensbundes ist, den er erschaffend begründet hat. Vielmehr ist er „von Anfang an“ der, der das „Schicksal“ dieses Lebensbundes mit-erleidet mit allen in ihm Eingebundenen – bis ins Tot-Sein hinein. Den Grund und die Wahrheitswirklichkeit dieser „Tatsache“ spricht Jahwe selbst in einem „un-glaublichen“ Bekenntnis zu sich selbst und zu den Ihm-Verbundenen in Hos 11 aus, was wir hier nochmals wiederholen müssen und dürfen, als das eine Gottes-Bekenntnis überhaupt: Spruch Jahwes: „Ich bin Gott und nicht ein Mensch, heilig in deiner Mitte; ich kann nicht anders“! (Wir werden auf dieses Geheimnis in Bezug auf die Herkunft Jesu Christi noch eigens eingehen müssen; s. den Hauptteil unserer Untersuchung.) Was wir so in bestimmtem Sinne berechtigtes Sprechen von einem Neu-Anfang Jahwes feststellen konnten, zeigt sogleich auf, daß die Begriffsprägung „Neu-Schöpfung“ schlechterdings als nie zu rechtfertigen anzusehen ist. Wenn nämlich der Ausdruck „Schöpfung“ ganz allgemein für jegliches und alles eingesetzt wird, was Gott als Eigenes wirkt, etwa auch auf „wunderbare“ Weise, dann ist dem biblischen Verständnis von „Erschaffen Jahwes“ und „Von Jahwe-erschaffen-Sein“ untragbare Ungerechtigkeit angetan, ja von einem (vielleicht gar nicht intendierten) Mißbrauch dieser biblischen Wendung zu sprechen. Denn es ist ganz offenkundig, daß das mit barah Angesagte in seinem absolut unvergleichlichen Bedeutungssinn gesehen und anerkannt werden muß. Das dürfte aus dem zuvor Herausgearbeiteten im Grunde klar sein. Es ist hier nicht der Ort, die Frage grundsätzlich anzugehen. So soll nur an wichtigen Beispielen, wo ausdrücklich über die Herkunft Jesu Christi (was unser Untersuchungsthema ist) gesprochen und der fragliche Ausdruck angewendet wird, aufgewiesen werden, wie sehr „Neuschöpfung“ kein sachgerechtes Wort ist, wenn damit operiert wird. Daher: E. Schweizer sagt in seinem Lk-Kommentar zu Lk 1,26f.34–38 u. a. dies.: „Menschliche Abstammung konkurriert nicht mit Gottessohnschaft … schon der ungewohnte Ausdruck ‚Höchster‘ läßt an die in V. 35 ausgeführte Vorstellung denken. Jedenfalls ist vom einmaligen Einbruch Gottes in die Geschichte der Menschen die Rede, und zwar von Jesu Regentschaft, nicht von seinem Leiden … Damit (d. i. mit 1,34–48) wird das Wunder verdeutlicht. Zeugende Kraft ist im Judentum dem Geist nicht zugeschrieben, wohl aber Schöpfung (Ps 33,6: 1. Mose 1,2) und Neuschöpfung (Ez 37,14). Darauf liegt also der Nachdruck. Was geschah, als der Geist 586

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Exkurs 2: Gott in Geschichte

aus dem Chaos der Welt und aus dürren Gebeinen Leben werden ließ, das widerfährt hier Maria. Die Gegenwart Gottes selbst ‚überschattet‘ Maria ähnlich wie Gottes Wolke das Bundeszelt (…). Auch Lk 9,35 kommt mit der Wolke die erschreckende Gegenwart Gottes zu den Jüngern – nicht grundsätzlich verschieden von dem hier Erzählten, obwohl in 9,35 das neue Leben vom Wort Jesu erwartet wird … Der Glaube an Gott, der alles Leben schafft … hat sich hier verbunden mit dem Glauben an den Geist, der den Anfang einer neuen Schöpfung setzt … (Maria) ist offen für das wirkende Schöpferwort Gottes, demgegenüber sie nur ‚Magd‘ sein kann, deren er sich bedient“ (19–20). Hier erübrigen sich Worte dazu. Denn von „Gottes Einbruch in die Geschichte der Menschen“ zu sprechen und in Gen 1,2 den „Schöpfer“ und in Ez 37,14 „Neuschöpfung“ zu erkennen, ist schlicht absurd, zumal es mit „das widerfährt Maria“ nochmals im Un-Sinn-Sein bestätigt wird. ––– Als ein zweites Beispiel bringen wir, was H. Schürmann neben anderem zu Lk 1 in seinem Kommentar ausspricht: „Die Erzählungstendenz der Verkündigungsszene ist eminent christologisch: Es geht letztlich darum, die dem Glauben feststehende Messianität und ‚Gottessohnschaft‘ Jesu theologisch zu gründen (!). Das geschieht durch den Aufweis (!), wie Jesus sein menschliches Dasein der schöpferischen Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau verdankt“ (40; wir haben durch (!) auf Fragwürdiges aufmerksam gemacht). Wir bemerken, daß hier das Menschsein Jesu als „schöpferische Tat Gottes im Schoße einer Jungfrau“, also als „Erschaffenes“ behauptet wird. Das wird durch spätere Aussagen bestätigt: Zu Lk 1,35 heißt es: „… wird die Erklärung des Wie gegeben: pneuma hagion … wird das Wunder in ihr wirken, die schöpferische Allmacht Gottes … Gemeint ist das Pneuma, das am Anfang der Schöpfung über den Wassern schwebte (Gn 1,2) … durch die dynamis Gottes meint den gleichen schöpferischen Vorgang: Gottes Allmacht wird im Schoße Mariens ein Kind erschaffen. … Das eigentliche Erzählinteresse lichtet sich hier: wie Adam von Gott erschaffen ward (vgl. 3,38) und dadurch in einem Sohnesverhältnis zu Gott steht, so – und doch ganz anders – geschieht hier neue Schöpfung, nachdem die Kette der Zeugungen abgerissen ist … Weil das Kind in seinem Ursprung gänzlich gottgewirkt ist, wird es durch und durch heilig sein … Gottes Pneuma wird ihm schöpferisch lebenspendend das Dasein geben“ (52; 53; 54). Es erübrigt sich, darüber zu diskutieren. Hier wird das Mensch-Sein Jesu mehrmals ausdrücklich als „Schöpfung“, ja „neue Schöpfung“, wie Adam, erklärt. Das ist offener Widerspruch zu dem in Röm 8,3, Gal 4,4 und Phil 2 Ausgesprochenen, von dem man kaum behaupten kann, Lukas habe das dort Formulierte überhaupt nicht gekannt (wenn er auch diese Texte nicht selbst als solche gelesen haben mag). Dazu wird im Haupttext am gegebenen Ort ausführlich gesprochen. H. Räisänen macht folgende Aussagen zu Lk 1: „Lukas unterstreicht stark die Theozentrik der Heilsgeschichte … Die Empfängnis Jesu war eine creatio ex nihilo, eine neue eschatologische Schöpfungstat. Der sich realisierende Plan Gottes steht hinter allen Ereignissen …“ (102). Daß die „Empfängnis“ (!) Jesu als creatio ex nihilo verstanden wird, steht nicht im Lk-Text und ist pure Erfindung des Autors, dazu offener Widerspruch z. B. zu Gal 587

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Anhang I: Exkurse

4,4: Röm 8,3 und vor allem Phil 2. Weitere Textstellen aus dem Buch Räisänens s. im Angang II. – E. Nellessen spricht in seinem Buch „Wir haben seinen Stern gesehen“ mehrmals mittels dieser kritischen Wendung. Er sagt: „ein Zeichen, das auf Gottes neuen Anfang mit der ganzen Menschheit hinweist. Ähnlich verhält es sich mit der vom schöpferischen Geist gewirkten Empfängnis Jesu … Jesus ist der Beginn einer neuen Schöpfung … Faktum der Jungfrauengeburt“ (141; weitere Textstellen aus diesem Buch s. im Anhang II). – K. Rahner bringt in seinem Beitrag „Dogmatische Bemerkungen zur Jungfrauengeburt“ u. a. diese Aussagen: „… das Werden der menschlichen Wirklichkeit Jesu … insofern dieses die schöpferische Tat Gottes ist … Es bedeutet einen schöpferischen Neuanfang aus der Initiative Gottes … aus der reinen, schöpferischen, gnadenhaften Initiative Gottes selbst …“ (141; s. weitere Textbeispiele dort in unserem Anhang II.). – H. Frankemölle spricht in seinem Mt-Kommentar mehrmals ausdrücklich und offensichtlich bewußt argumentativ von der Empfängnis Jesu als „Vorstellung, daß ein Sohn … ohne Zutun eines Mannes allein durch das schöpferische Wirken des Geistes Gottes“ geschehen ist (150). Wiederholt wird herausgestellt, „daß Jesus Christus seine Existenz in absoluter Weise einem schöpferischen Eingreifen Gottes verdankt“ (152). Es wird ausdrücklich-reflektiert von „einer absoluten (!) Neuschöpfung durch Gottes Geist in einer Jungfrau“ gesprochen. Wir bringen wichtige Text-Beispiele im Anhang II; daran soll deutlich werden, wie hier einem biblischen Text Gewalt angetan wird. Wir verweisen für weitere Besprechungen wieder auf den Haupttext unserer Untersuchung.

Exkurs 3: „Transzendenz“ Gottes?

Im Haupttext unserer Darlegungen stoßen wir oft auf die notwendig zu beantwortende Frage, wie und mit welchen Worten von Gott, zumal von Jahwe und allem von ihm Erschaffenen gültig und „sach“-gerecht zu sprechen ist, gerade dann, wenn man von dem in der Heiligen Schrift Bekundeten als Glaubens-„Inhalten“ Begriffenen „theologisch“ zu reden versucht. Wir haben, wie unsere Darlegungen zeigen, erkannt, daß schon die Exegeten, die Erst-Ausleger und dann eben auch die Kommentatoren der biblischen Bücher heute oft solche Sprach-Ausdrücke und -Wendungen gebrauchen, die aus erst späterer, nach-apostolischer Zeit und zunächst aus philosophischen Anliegen gebildeten Denk- und Aussage-Weisen stammen. Darüber wird oben jeweils am gegebenen Ort Rechenschaft gegeben. Unter diesen nicht-biblischen, neu-artigen Wörtern/Begriffen fällt auch der Ausdruck „Transzendenz“ mit seinen verschiedenen Varianten für das Sprechen von Gott und entsprechend von der Welt und dem Menschen auf. Als ein Beispiel sei auf den Joh-Kommentar von R. Schnackenburg hingewiesen. Im Kommentieren gerade von Joh 1, speziell 1,14 wird in wie selbstverständlich erscheinender Sprache von der Welt Gottes, in der der Logos „vor“ sei588

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Exkurs 3: „Transzendenz“ Gottes?

ner Inkarnation „war“ und die er verlassen hat, einerseits und von der „Sphäre des irdisch-menschlichen, des Stofflich-Vergänglichen“ andererseits gesprochen, in die er für die Zeit seines „irdischen Dasein“ eingetreten ist, nämlich in der „Menschwerdung/Inkarnation“. Er lebte für bestimmte Zeit und für seine Aufgabe in unserer Welt, um sie dann wieder zu verlassen und nach seiner „Rückkehr zu seinem Vater“ die „himmlische Daseinsweise in der Herrlichkeit Gottes“‘ wiedererlangte (s. zu allem S. 241f). Am gegebenen Ort zeigen wir auf, daß es schlicht den biblischen Aussagen widerspricht, diese sogar verfälscht, so von Gott, vom Logos und dem Ereignis zu sprechen, in dem „der Logos Fleisch geworden ist“ (1,14). Es ist un-biblisch und völlig dem in der Bibel tatsächlich als Wirklichkeit Bekundeten mit Wortbildungen wie „vorirdisch“, „vor-weltlich“, „Sein vor der Schöpfung bei Gott“, dann von „Veränderung der Seinsweise, irdischer Gegenwart“ im Gegenüber zur „himmlischen und göttlichen Herrlichkeit“ u. a. widersprechend überhaupt zu reden. Schon im Anschluß an die Redeweise dieser Kommentar-Aussagen können wir die Unsinnigkeit des Redens von „Transzendenz“, von einer „Welt Gottes“ und ihr gegenüberstehend von der „Welt des Erschaffenen, des Irdischen und Menschlichen“ aufzeigen. Wir können dazu die Auskunft des LThK 10 (2001) 190–192 zitieren, um das einsichtig zu machen: „Transzendenz (v. lat. transcendens, übersteigend) bez. sowohl die absolute Differenz zw. begrenzten Bereichen als auch die Absolutheit eines urspr. Bereichs u. dessen Unverfügbarkeit selber. T. benennt das Überschreiten einer Grenze, wie auch den dadurch erreichten Bereich u. konstituiert eine Beziehung zw. einem Diesseitigen u. einem Jenseitigen, wobei die formale Bezogenheit material bestimmt wird, je nach der Seinsweise der Relation. Ursprünglich räumlich vorgestellt, bez. T. das außerhalb des Kosmos existierende, jedoch mit nicht am Kosmos orientierter Begrifflichkeit Begreifbare. … Neben neuplaton. Momenten (…) prägte das bibl. Gottesbild den gesch. Wandel des T.-Verständnisses. Kosmische T. ergänzte sich z. gesch. u. anthropolog. T. … Allem, was bloße materielle Wirklichkeit übersteigt (Seele, Geist) kommt T. zu; Gott als höchstem Seienden höchste T. Mit Hilfe der Tranzendentalien als jegl. kategoriale Bestimmung des Seienden übersteigende Begriffe soll der Überstieg z. Metaphysischen gelingen. … Die theol. Rede v. T. kann nicht ohne Reflexion auf deren philos. Wort-Gesch. geleistet werden. Da diese Rede nie ohne Wissen um die Immanenz-Vermittlung jegl. T. geschehen kann, bleibt eine Theo-Logie v. Absoluten in der Weise kosmisch-geschichtlich-anthropomorpher Bestimmungen eine theol. Herausforderung. … Damit ist mit T. eine Möglichkeit angezeigt, sich einem Angebot zu öffnen, dessen gläubige Annahme sich in theoret. u. prakt. Weltbewältigung gesch. Bewährung aussetzt“ (A. J. Bucher). Aus diesen Sätzen des Artikels „Transzendenz“ (wir konnten ihn hier leider nur verkürzt zitieren) dürfte offenkundig werden, daß wir unsere Bedenken an manche exegetischen und bibeltheologischen Aussagen mit Recht angemeldet haben, zumal wenn man sie zusammenschaut mit vielen Äußerungen anderer Autoren. Das im einzelnen vorzustellen, würde eine Monographie fordern, die hier nicht gebracht werden kann. Wir verweisen aber auf unsere zahlrei589

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Anhang I: Exkurse

chen Bemerkungen und ausführlicheren Aussagen in den Abschnitten der besprochenen Bibeltexte im Kapitel II und III. Vor allem weisen wir auf unseren Exkurs „Gott in Geschichte“ hin, in dem versucht wird, eine prinzipiell andere Sicht- und Sprechweise einzusetzen, um den biblischen Aussagen überhaupt gerecht zu werden zu versuchen. Dort wird auch zum Problem „Transzendenz“ einiges wichtig Erscheinende herausgestellt. Wort und Begriff „Transzendenz“ sollte man, so ist unsere Meinung, überhaupt aus christlicher Theologie ganz ausscheiden, da kein Grund besteht, daß man diesen Ausdruck und das mit ihm zu verstehen zu Gebende benutzen müßte, um „zeitgerechte“ Verkündigung und Theologie zu leisten. (Wir haben im Kapitel II auf noch andere scheinbar unvermeidbare „Fachwörter“ und ihre Problematik aufmerksam gemacht; s. d. – Auch sei auf unseren Anhang II. Texte hingewiesen.).

Exkurs 4: mal‘ak – a;ggeloj – Bote in der Heiligen Schrift

Es fällt auf, daß das Wort (die Wendung) a;ggeloj – %a;l.m;, wenn es in den Schriften der Bibel eingesetzt ist, in erstaunlicher Weise gelesen, verstanden, übersetzt und ausdeutend erklärt wird. Das im einzelnen aufzuweisen, würde eine sehr umfangreiche Monographie erfordern, die hier verständlicherweise nicht geliefert werden kann. Andererseits ist es absolut unabdingbar, im Blick gerade auf unser Untersuchungsziel genau zu erkennen zu versuchen, was dieses Wort (Wendung) im AT wie im NT an den entscheidenden Stellen ansagt, vor allem dann, wenn es mit Jahwe /Elohim / Kyrios/Theos zusammen, als eine bedeutungsvolle Wendung begegnet. Dazu sei hier ein einigermaßen vollständiger Einblick vorgelegt. Dadurch soll jedenfalls geklärt werden, was der Einsatz dieses Wortes an den für uns wichtigen Stellen zur Sprache bringt, und zwar im jeweiligen atl. bzw. ntl. Text explizit selbst. Wir bedienen uns dafür der vorliegenden einschlägigen Lexika und Handbücher, die wir freilich selbst kritisch zu erfassen und dann auszuwerten versuchen. 1. a;ggeloj im Griechischen und Hellenistischen (nach ThWNT)

a;ggeloj ist der Bote (Botin). „Der a;ggeloj ist der, der eine Botschaft überbringt, der Bote“ (ThWNT 1, 72). Das entscheidende Verstehenselement ist das Gesandtsein von einem anderen. Für beide, den Sendenden/Beauftragenden und den Gesandten /Boten ist deren „ontologisches“ Sein nicht mit-definiert und tatsächlich offen, nämlich wer/was sendet bzw. gesandt wird. Die Wendung wird auch nicht allein auf Menschen angewendet. Wer oder was gemeint ist, sagt der unmittelbare Kontext (bzw. die Situation). Daß im ThWNT auch weiteres als bestimmend mit-behauptet wird, ist schon eine Interpretation, die in den zugrunde liegenden Texten nicht gegeben ist. So heißt es dort: „2. Der irdische sakrale a;ggeloj ist der Prototyp der himmlischen 590

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Exkurs 4: mal‘ak – a;ggeloj – Bote in der Heiligen Schrift

a;ggeloi …“ (das ist schon eine Interpretation der betreffenden Stellen). Dasselbe ist zu sagen zu „3. Haben wir bisher die Volksreligion überschaut, so gilt es nun auf die philosophische Religiosität zu blicken …“ (ebd. 74). Dann wird unter „4. Josephus, der griechisch sprechende Palästinenser“ festgestellt: „verwendet das Wort a;ggeloj in der doppelten Bedeutung von a;ggeloj Bote und a;ggeloj Engel“. Für letzteres wird Bezug genommen auf „atl. Vorstellungen“; somit ist es gegenüber dem Griechischen eine neue Anwendung, die an die Texte herangetragen wird. Dazu s. ebd. 74f. –– Wir halten fest: Das griechische a;ggeloj ist „ontologisch“ nicht bestimmt und läßt es für alle Anwendungen zunächst offen. Nur das (irgendwie) Gesandt-Sein ist bestimmt ausgesagt. 2. mal’ak im Alten Testament (nach ThWNT)

Sofern wir zunächst auf das Wort %a;l.m; selbst schauen, besagt es schlicht „Bote“, und es hat von sich allein aus keine irgendwie „religiöse“ Bedeutung. In den einschlägigen Wörterbüchern wird %a;l.m; seiner Bedeutung nach auf verschiedene Weise vorgestellt und näher erklärt. Das geschieht in irgendwie befremdender Weise, nämlich sogleich ontologisch oder sonstwie charakterisierend. Das hier im einzelnen aufzuführen, ist nicht möglich, obwohl es viel von den jeweils Autor-eigenen Auffassungen offendeckt, die jedoch kritisch zu betrachten sind. Als ein solches Beispiel seien die wichtigsten Angaben aus dem ThWNT näher angeführt. Zu %a;l.m; im AT heißt es dort zu Beginn: „Das den Nominalbegriff konstituierende Bedeutungselement ist das des ‚Gesandten‘… Demnach ist %a;l.m; a. der von einem Menschen, seltener von Gott, gesandte Bote; jeder Mensch, der einen besonderen Auftrag zu überbringen hat, ist ein ′m. Über die Verwendung von ′m für einen Menschen braucht hier nicht näher gehandelt zu werden. – b. ein von Gott mit irgendeinem Auftrag versehenes himmlische Wesen, ein Engel. Auch in diesem Sinne wird die dem Wort inhärierende Bedeutung des mit einem Auftrag Gesandtsein kaum je verlassen“ (5). Dann sogleich: „1. Die wichtigste Engelgestalt, am meisten genannt, ferner im Unterschied von anderen Engelwesen, die nur gelegentlich und kollektiv auftreten, fast durchweg im AT bezeugt und vor allem ein im strengsten Sinn von Gott mit einem Auftrag gesandtes Wesen ist der hw"hy> %a;l.m; der Engel Jahwes. Der ′y ′m ist die einzige religiös schärfer umrissene, persönlichere Gestalt der at.lichen Engelwelt. Zu ihrer näheren Bestimmung ist es dienlich, nicht von den theologisierenden Stellen, sondern von seiner volkstümlichen Bezeugung auszugehen. Er lebt merkwürdigerweise im Glauben des älteren Israel nicht als schreckhaftes Wesen, sondern als gütiger, hilfreicher Bote Gottes (2 S 14,17.20; 1 S 29,9), dem man vertrauensvoll alles anheimstellt (2 S 19,28) … Diese ältere Vorstellung, die sicher sehr volkstümlich war, setzt sich aber auch fort bis hinein in die theologisch kompliziertesten Schriften … Der ′y ′m ist aber nicht ein Bote, wie unter Umständen andere Engelwesen auch. Seine Bedeutung besteht darin, daß es ein ausgesprochenes Organ des besonderen Gnadenverhältnisses Jahwes zu Israel 591

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Anhang I: Exkurse

ist; er ist die Person gewordene Hilfe Jahwes für Israel. … Nun ist in einigen Sagen besonders der Genesis in so merkwürdiger Weise vom ′y ′m die Rede, daß diese Stellen Erwähnung finden müssen. Es handelt sich um Gn 16,7ff; 21,17ff; 22.11ff; 31,11ff; Ex 3,2ff; Ri 2,1a, Das Eigenartige, das diese Bezeugungen von den oben genannten trennt, ist der Umstand, daß hier zwischen dem ′y ′m und Jahwe selber nicht unterschieden werden kann. Der Redende bzw. Handelnde, einmal Jahwe, einmal der ′y ′m ist offensichtlich dieselbe Person …“ (75f; wir bemerken die komplizierte Sprache, in der der Befund der Textaussagen angegeben wird, mit Ausdrücken wie „Engelgestalt“ statt „Bote“ (so der Text) u. a. Dann folgt: „2. Neben dem ′y ′m kannte die altisraelitische Anschauung noch andere himmlische Wesen, die jedoch in den seltesten Fällen als ~ykia'l.m; bezeichnet werden. Es ist aber methodisch gerechtfertigt, auch … die Angaben herbeizuziehen, die solche himmlischen Wesen erwähnen, die jederzeit zu ~ykia'l.m; werden können, oder es sogar sind, ohne daß der Text das Stichwort ′m bietet … Der Glaube an die übermächtige Einzigartigkeit Jahwes hat diese Wesen, die in manchen alten Geschichten ehedem sicher eine viel bedeutendere Rolle gespielt haben, zu wenig mehr als Statisten herabgedrückt, ohne daß damit Jahwes schlechthinnige Naturjenseitigkeit angetastet war“ (76f: wieder bemerken wir die Wahl der Wörter für die Darstellung des zu Sagenden: „himmlische Wesen“: woher die Bestimmung „himmlisches Wesen“?; warum wird von „Wesen“ gesprochen, die nicht ′m genannt sind, im Artikel zu ′m gehandelt?; „Jahwes schlechthinnige Naturjenseitigkeit“ u. a.). Dann folgt: „3. Ein eigenartiges … Phänomen ist das Umsichgreifen des vordem so gebundenen Engelglaubens seit dem Exil, das dann – freilich in noch späterer Zeit – zu einer wirklichen Angelologie führt … Bei Daniel entrollt sich ein Bild, das das Wirken gewaltiger Zwischenmächte zeigt. Dem ungleich vermehrten Interesse an diesen Mächten entspricht es auch, daß hier zuerst die Engel Namen haben. Unmittelbar unter Gott stehen die Erzengel … Damit ist eine neue Phase in der Geschichte des jüdischen Engelglaubens eröffnet …“ (77f). In diesem ganzen Passus (Autor G. v. Rad) fallen die vielen unbiblischen Bestimmungen für „Engelwesen“ auf, bis hin zum Ausdruck „Angelologie“. Es werden dazu kaum Texte genau angegeben, für die eine solche Wort-Wahl angewendet werden muß; die biblische Rede selbst ist hinreichend verständlich und aufschlußreich. – Der weitere Abschnitt „D. a;ggeloj im NT.“ bringt dieses: „1. Die Bedeutung des menschlichen Boten spielt im NT eine sehr geringe Rolle. … Wenn im übrigen die Anwendung der Vokabel auf den menschlichen Boten fehlt, so ist dies gewiß nicht Zufall. Es wird sich darin die Tatsache auswirken, daß a;ggeloj in erster Linie Bezeichnung für ‚Engel‘ geworden ist“ (82; dazu: genau das Gegenteil zeigt sich im NT! Denn a;ggeloj meint in der Bibel „Bote“ wie überhaupt im Griechischen. Wenn jemand zum Boten bestimmt wurde, der ein namentlicher Jemand war, dann wurde er dadurch keineswegs ein „menschlicher a;ggeloj“, weil a;ggeloj für andere „Wesen“ Fachausdruck geworden wäre! :Aggeloj hatte, wie oben schon gesagt, von sich aus keine „ontologische“ Bestimmtheit („Wesen“ als definierte Was-heit). Daher konnte es im ntl. Text für al592

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Exkurs 4: mal‘ak – a;ggeloj – Bote in der Heiligen Schrift

les und alle eingesetzt werden, die eben einen „Boten“-Auftrag erhalten hatten und ihm entsprechend wirken. Daß z. B. a;ggeloj kuri,ou in Mt 1 schlicht Jahwe angibt und ansagt, ist keine Auswirkung einer theologischen Definition, sondern das erlebte Faktum! Dann findet sich unter „2. a.“ dies: „Die at.-lichen Anschauung von den Engeln als Vertreter der himmlischen Welt und Boten Gottes wird von den Männern des NT (!) als eine selbstverständliche übernommen. Sie repräsentieren die ‚andere‘ Welt (Hb 12,22; 1 Tim 5,21. Wer ihnen gleicht (!), spiegelt (!) die Gotteswelt Ag 6,15; ihnen verglichen werden heißt, mit Göttlichem verglichen werden G1 4,14. Ihnen zum Schauspiel sein, heißt, den Bewohner des Himmels ein solches darbieten 1 K 4,9“… – b. Jesus ist im Urchristentum Gegenwart Gottes und seiner Herrschaft. Es ist Ausdruck dieser Meinung, wenn die urchristliche Erzählung Jesu Geschichte von Engeln begleitet sein läßt. Sie erscheinen besonders in den Vor- und in den Auferstehungsgeschichten. … Am stärksten ist die tätige Beteiligung der Engel beim endzeitlichen Geschehen vorausgesetzt. Hier weist ihnen auch das Wort Jesu die Rolle der den Richter Begleitenden, mit ihm und für ihn Handelnden, aber auch der dem Gericht Anwohnenden (Lk 12,8f) zu … So ist dem Urchristentum das Handeln der Engel Gottes wesentlich Handeln für den Christus und im Dienste seiner Geschichte …“ (83f). Dann noch: „c. Es versteht sich danach für das gesamte nt.liche Denken von selbst, daß jede Gleichordnung der Engel- mit der Christusvorstellung ausgeschlossen ist … Dem entspricht eine besonders bei Paulus sich zeigende Neigung, eine gewisse angelologische Geringwertigkeit (!) zu betonen. Der positive Gedanke von dem Engel als dem Boten Gottes, wie er in den Evangelien, aber z. B. auch in der Apostelgeschichte sich zeigt, wird in seinen Briefen verhältnismäßig wenig ausgenützt. Für ihn ist weithin der Ton auf die völlige Überschattung der Engel durch die Christustatsache gelegt“ (84; eine Stellungnahme im einzelnen erübrigt sich hier). 3. Die Angaben anderer Handbücher und Werke

Die anderen Handbücher geben meist eine Aufstellung der einschlägigen Bibelstellen; auf einzelnes spezifisch hinzuweisen, erübrigt sich. Im entsprechenden Artikel im THAT I, 900–908 (R. Ficker) sei nur dieses hervorgehoben. Es heißt im dortigen Kontext u. a.: „Diese Aufträge können nun sehr unterschiedlicher Art sein. An häufigsten werden ~ykiÞl'm. gesandt, um Nachrichten oder Botschaften verschiedenster Art zu übermitteln, sie können also die Funktion von ‚Boten‘ wahrnehmen (Eine unglaublich „reiche“ Einsicht, daß %a:ôl.m; sogar „Bote“ sagt! R. S.) … Eine wichtige Rolle als Nachrichten-Übermittler spielen die ~ykiÞl'm. im politischen Bereich“ (902; wieder eine banale Feststellung). Dann: „Die ~ykia'l.m; werden in einem sehr engen Verhältnis zu ihren Auftraggebern gesehen. Sie sind von ihnen bevollmächtigt, in ihrem Namen zu reden oder zu handeln, durch sie spricht oder handelt der Auftraggeber selbst …“ (903). Besonders wichtig die Feststellung: „Besonders schwierig ist die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Jahwe und seinem %a:ôl.m,; da in einer Reihe 593

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Anhang I: Exkurse

von Texten zwischen Jahwe und dem hw"±hy> %a;l.m; nicht genau unterschieden wird (Gen 16,7ff.; 21,17ff. …). Dieses Problem ist in der Forschung ausführlich behandelt worden … und hat verschiedene mehr oder weniger befriedigende Lösungen gefunden (das wird im einzelnen vorgestellt und der sogenannten Repräsentationstheorie die größere Berechtigung zugeschrieben). Die Schwierigkeit, daß Jahwe und sein %a;l.m; teilweise identifiziert werden, besteht dann nicht mehr, wenn man bedenkt, daß ein %a;l.m; allgemein mit seinem Auftraggeber identifiziert werden kann. Die Repräsentationstheorie braucht auch nicht unbedingt als Widerspruch zur Interpolationstheorie gesehen werden, da sie die Funktion des ′y ′m zu erklären versucht. … Der ′y ′m ist nun wegen seiner besonderen Funktionen streng von den anderen himmlischen Wese zu unterscheiden, er greift wie kein anderes himmlisches Wesen unmittelbar in das Leben der Menschen ein …“ (906f; was der Autor da herausstellt, ist im Grunde richtig; nur sollte nicht von einem „himmlischen Wesen“, am wenigsten in Bezug auf hw'hy> %a;l.m;, gesprochen werden, weil diese Unterscheidung unbiblisch und sachlich unangebracht ist. Auch die Rede von „Funktionen“ des %a;l.m; ist unglücklich, ebenso die Anwendung der Kategorie „identifizieren“ entspricht nicht der im AT ausgesprochenen Realität). Die Aussagen zu „a;ggeloj – Bote, Engel“ im EWNT 1 (1980; Autor I. Broer) erscheinen zu pauschal und daher irreführend. Das gilt z. B. für den Satz: „In der großen Überzahl der Belege wird a;. für den (himmlischen) Boten Gottes gebraucht, es kann aber auch den menschlichen Boten bezeichnen (nur 3mal im NT: …). Die Wendungen „himmlischer“ und „menschlicher Bote“ entsprechen nicht dem tatsächlichen Befund. … Der ntl. Sprachgebrauch ruht auf dem des AT und dem der zwischentestamentlichen Lit.: Die Engel sind von Gott gesandte Boten und repräsentieren die himmlische Welt; ihr Erscheinen ist Offenbarung der jenseitigen Welt in die irdische Welt hinein“ (32f; diese 2 Welten kennt weder das AT noch das NT; das sind spätere, unglückliche Formeln: R. S.). Darauf kommen weitere Aussagen zu sprechen, so: „Die den ntl. Menschen (!) geläufige Selbstverständlichkeit der Existenz von Engeln bringt freilich auch Probleme für den Glauben mit sich … Die zentrale Frage der Auslegung der genannten Stellen des NT ist, ob die ntl. Engelaussagen zum – aufgebbaren – zeitgebundenen Weltbild gehören, oder ob sie – mindestens! – einen die Existenz von engelgleichen Wesen implizierenden Kern enthalten …“ (35 u. 36). –– Es seien auch einige Beispiele von Aussagen biblischer Theologen in einschlägigen Arbeiten beigebracht, in denen zu a;ggeloj kuri,ou vorgestellt, in denen die Problematik erkennbar ist. So sagt Fr. Zinniker in seinem Buch „Probleme der sogenannten Kindheitsgeschichte bei Matthäus“ (1972) im Kontext dieses: „Es handelt sich um insgesamt fünf Engelerscheinungen in diesen zwei Kapiteln der Vorgeschichte. Eine Erscheinung wird eingeführt durch eine längere oder kürzere Formel … Die Kurzformel spricht nicht von einer Engelerscheinung, sondern nur von der Weisung im Traum. Trotzdem wird angenommen, daß das gleiche gemeint ist: Engel erscheinen und geben Weisung im Traum … Der Tram ist immer noch möglich als Mittel einer göttlichen Weisung. Man denke an den Traum des Apostels Paulus in Troas (Apg 594

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Exkurs 4: mal‘ak – a;ggeloj – Bote in der Heiligen Schrift

16,9). Aber das NT ist, was das Traumwesen betrifft, sehr zurückhaltend und kritisch eingestellt. Ferner ist die Beobachtung wichtig: Alle im NT berichteten Träume sind theorematisch und nicht allegorisch …“ (130f). In diesen Sätzen wird der ntl. Befund unrichtig wiedergegeben, was im Rückblick auf unsere bisherigen Bemerkungen nicht erst aufgewiesen werden muß. Das sagt im Grunde Zinniker selbst in seinem Buch an späterer Stelle, wo es heißt: „Ohne Zweifel ist a;ggeloj kuri,ou die griechische Wiedergabe von hebräisch hw'hy> %a:ôl.m;. Dieser hw'hy> %a;l.m; selbst ist die wichtigste Engelgestalt des AT. Er ist der starke, hilfreiche, gütige Bote Gottes, die Person gewordene Hilfe und Gnade Gottes. An einigen Stellen ist es schwer den hw'hy> %a;l.m; von Jahwe selbst zu unterscheiden, der Bote verschmilzt sozusagen mit dem Herrn. Neben dieser bestimmten Engelgestalt kennt das NT aber noch eine Anzahl Engelwesen, die Jahwe dienen. Sie umgeben Jahwe und bilden seinen Hofstaat, der dem Lob Gottes dient oder zum Kampf ausgesandt wird … Die Geschichte Jesu ist von Engeln begleitet …“ (132; auch diese Angaben können nicht in allem als tatsächlicher ntl. Befund akzeptiert werden). ––– Eine recht simple Feststellung macht E. Schweizer, Mt-Kommentar, 13: „Auch bei Matthäus ist nichts zu sehen von den Spekulationen jüdischer Schriften über alle möglichen Engelklassen im Himmel. Der Engel vertritt einfach Gott auf Erden, und seine Weisung ist äußerst unkompliziert und ins konkrete Leben eingreifend“. Das macht sich freilich die Sache zu „einfach“ (um die Formulierung Schweizers aufzugreifen). ––– H. Gese bringt in seiner Arbeit „Natus ex virgine“ (in „Vom Sion zum Zion“, 1974) u. a. zu Lk 1 (und zu Jes 7,14) diese Bemerkung: „Während im Alten Testament dieses Orakel (d. i. im Kontext die Geburtankündigung) im Falle von Jes 7,14 durch den Propheten dem König vorgetragen wird – hier liegt deutlich eine Ausnahme vor –, wird es sonst durch den Jahweboten, der menschlichen Erscheinungsform Jahwes, der Frau verkündet. In Lk 1 ist es Gabriel, der zu Maria spricht“ (132; dazu sei gesagt: Der hier gemeinte „Jahwebote“ ist alles andere als die „menschliche Erscheinungsform Jahwes“! Das ist aus dem bisher Besprochenen so klar, daß sich hier ein Wort dazu erübrigt. R. S.). 4. Zum Artikel „Engel“ im LThK 3 (1995) und weiteren Beiträgen

Er weist die folgenden Teile auf: „I. Religionsgeschichtlich; II. Biblisch; III. Historisch-theologisch; IV. Systematisch-theologisch: V. …“. Der Teil „Biblisch“ ist hier für uns von Interesse. Dort finden sich Angaben, die alles andere aussprechen als das, was man von einem orientierten Bibliker erwarten möchte: „‚E.‘ (griech. a;ggeloj, lat. angelus) entspricht hebr. %a;l.m; [mal’āk], (das v. dem (ugaritisch, nicht hebräisch belegten) Verbalstamm l’k, „(einen Boten) senden“, abgeleitet ist u. in der Wortverbindung ~yhil{a//hw'hy> %a;l.m; (mal’āk JHWH/’ælohim) die Bedeutung „ein Bote v. Jahwe/Gott“ hat. Aufschlußreich für die Art u. Weise, wie man im AT die Existenz solcher Boten in Verbindung mit Gotteserscheinungen erkannt u. festgehalten hat, sind die v. einem eigentüml. Spannungsverhältnis gekennzeichneten Zeugnisse, wo innerhalb ein u. 595

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derselben Darstellung ein E. Jahwes sowohl mit Gott gleichgesetzt wie auch deutlich v. ihm unterschieden wird (Gen 16,7–14; 18,1ff. in Verbindung mit 19,1; Ex 3,2; Ri 6,11– 24). Die Spannung löst sich, wenn man bedenkt, daß die hier festgehaltenen Traditionen von Offenbarungen Jahwes ursprünglich an sakralen Orten aus vorisraelit. Zeit aufbewahrt u. dort mit Zügen der Lokalnumina ausgestattet worden sind. Hinter der scheinbar verwirrenden Darstellung steht dann die Absicht, einerseits bei der Wiedergabe der Gotteserscheinungen den Eindruck einer Aufsplitterung Jahwes nach Art der kanaanäischen Baal-Gottheit zu vermeiden, weil dies der Auffassung von der Einzigkeit u. Einzigartigkeit Jahwes widersprochen hätte, und andererseits die Realität des jeweil. Offenbarungsgeschehens nicht aus dem Auge zu verlieren (vgl. Hos 12,4f., wo die Gotteserscheinung v. Gen 32,23–33 als E. bezeichnet wird). Den Anstoß zu dieser Art d. Darstellung hat allem Anschein nach die im Verlauf der Monotheismusreflexion in Israel gewonnene Offenbarungserkenntnis geliefert, daß die Auffassung v. der absoluten Transzendenz Jahwes z. Aufrechterhaltung des Glaubens an die Immanenz seiner Selbstbezeugung in Schöpfung u. Gesch. die Annahme vermittelnder Geistwesen notwendig macht. Mit Hilfe der myth. Vorstellung v. Jahwe, dem Allherrn v. Jerusalem, u. seinem aus Göttersöhnen (Ijob 1,6–11) u. Heiligen (Ps 89,6.8) zusammengesetzten himml. Hofstaat (Jes 6,1ff.), dessen Mitgl. für Teilbereiche der Schöpfung als zuständig galten (Dtn 32,8G; Sir 17,17) von Himmel und Erde geschaffenen (Ps 148,2–5), über dem Menschen stehende Gottwesen (Ps 8,6) u. Geister des himmlischen Heeres (1 Kön 22,19–22) im Auftrag des Zionsgottes u. im Dienst an der Offenbarung seiner Königsherrschaft alle seine Befehle vollstrecken; als Mittler bei der Führung Israels (Ex 23,20.23) und der Urkirche (Apg 8,26), als Werkzeuge der Heils- u. Unheilsratschlüsse Gottes (Ps 35,5.; Lk 1,11–19.26–38), als Fürbitter (Ijob 33,23) u. Schutzgeister (Mt 18,10) der Menschen sowie als Offenbarer endzeitl. Geheimnisse Dan 7,16; Offb 17,1.7). Namentlich werden Gabriel (Dan 8,16; 9,21; Lk 1,26), Michael (Dan 10,13.21; 12,1; Offb 12,7) u. Raphael (Tob 12,15) genannt. Außer der Vorstellung v. himml. Hofstaat haben AT und NT noch weitere Gedankengänge z. Kennzeichnung der E. eingesetzt …“. Wir können das Zitat hiermit beenden. Die für uns wichtigen Aussagen sind vorgelegt. Sie bringen eine Fülle von äußerst fragwürdigen, ja abzulehnenden Angaben, die wir hier im einzelnen nicht zu diskutieren haben. Sie enthalten kaum richtige biblische, dafür aber viel zu viel philosophisch bzw. theologisch erreichte Auffassungen und Vermutungen, denen längst ihre Berechtigung bzw. sachliche Gültigkeit abgesprochen worden ist. Von Monotheismusreflexion und Auffassung von der absoluten Transzendenz Jahwes und vom „Glauben an die Immanenz seiner Selbstbezeugung in Schöpfung und Geschichte“ wird kaum ein besonnener Systematiker sprechen; um so mehr ist es seitens eines Biblikers völlig absurd, in solchen Sprachspielen biblische Erkenntnisse vorzutragen. Wir belassen es hier bei dieser Bemerkung. In Bezug auf die Texte, die uns für unser Untersuchungsziel angehen, wird am gegebenen Ort das Notwendige dazu gesagt. ––– J. Kremer in seinem Beitrag „Das Erfassen der bildsprachlichen Dimension als Hilfe für das rechte Verstehen der 596

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Exkurs 4: mal‘ak – a;ggeloj – Bote in der Heiligen Schrift

biblischen ‚Kindheitsevangelien‘ und ihre Vermittlung als lebendiges Wort Gottes“ (QD 126, 78–109) bringt diese befremdlichen Aussagen. Im dortigen Kontext heißt es: „Die Angabe über den Engel Gabriel stellt dem Leser das Bild des … bekannten Boten Gottes vor Augen … Wesentlich für einen Engel ist seine Funktion als Bote … Darauf verweist schon die Bezeichnung o` a;ggeloj (‚Engel‘ = Bote): Ein Wort aus dem Bereich innerweltlicher Realität dient zur Bezeichnung eines Boten aus der Welt Gottes. Die metaphorische Verwendung von a;ggeloj wird allerdings – nicht zuletzt durch die Beifügung des Namens ‚Gabriel‘ – wohl kaum mehr empfunden (‚Engel‘ ist deshalb der Wortverwendung nach eine verblaßte bzw. tote Metapher). Dies belegen auch die vielen Texte, wo in einer späteren relecture ‚Engel‘ (besonders der „mal’ak JHWH“) an Stelle von Gott auftreten (vgl. z. B. Gal 3,21), um ein anthropomorphes Reden von Gott zu vermeiden: Der Engel fungiert dort als realistisches Bild, um einen falschen Realismus zu vermeiden. Als Bote Gottes hat der Engel an der Herrlichkeit Gottes Anteil; deshalb ruft sein Erscheinen wie das JHWHs Furcht hervor … Im Kontext unserer Erzählung kann der Engel Gabriel außerdem als Symbol für Gottes Auftreten und Sprechen in dieser Welt bewertet werden … Es ist allerdings damit zu rechnen, daß Lukas wie auch viele Leser diese Symbolik nicht voll erfaßt und möglicherweise das Auftreten Gabriels sehr realistisch (in unserer heutigen Sicht mythisch) vorgestellt haben“ (92f). Diese Feststellungen Kremers werden weder den biblischen Texten und ihren Aussageinhalten gerecht, noch geben sie ein gültiges Verständnis von Metapher und metaphorischem Sprechen. Es ist jedenfalls inakzeptabel, mal’ak – aggelos – Bote in tatsächlichen Gebrauch in der Heiligen Schrift als „verblaßte bzw. tote Metapher zu erklären“. „Bote“ ist auch keineswegs ein „aus dem Bereich innerweltlicher Realität“ im Gegenüber zur „Welt Gottes“ stammendes Wort, das deswegen auch nicht auf „göttliche“ Wirklichkeit oder Realität angewendet werden kann oder darf. Es ist ja überhaupt sehr fragwürdig, ob es rechtens ist, diese radikale Unterscheidung von „irdischer Welt“ und „Welt Gottes“ (die deswegen auch die „Welt der Engel“ ist) zu sehen und sie maß-geblich sein zu lassen für christlich-theologische SachAussagen. Das genüge hier, wenngleich wir später noch auf manches zurückkommen müssen. ––– Welche theologischen Folgen das rechte biblische Verständnis des faktischen Gebrauchs des Wortes mal’ak – aggelos – Bote (vor allem Entscheid für „Engel“ als Hauptübersetzung!) in Exegese und (systematischer) Theologie hat bzw. auslösen kann, sei an einem Beitrag von M. Welker gezeigt. Der Titel der Arbeit lautet: „Über Gottes Engel. Systematisch-theologische Überlegungen im Anschluß an Claus Westermann und Hartmut Gese“ (JBTh 2, 1987, „Der eine Gott der beiden Testamente“, 194–209). Nach den einleitenden Worten heißt es dort so: „Im Anschluß an diesen Gedanken wird im folgenden gefragt: Was ist charakteristisch für Gottes Offenbarung gerade durch Engel?“ (195). Dazu sogleich: „1. Gottes Engel in der ‚Boten-Angelologie‘. Die Selbstzurücknahme und Selbstverendlichung Gottes (dies alles kursiv geschrieben). Die Engel markieren das besondere Problem des Geschöpflichen und der Kontaktaufnahme Gottes mit dem Geschöpflichen. Wie kann Gott, den die Him597

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Anhang I: Exkurse

mel nicht fassen können, mit dem Geschöpflichen, das nicht überall zugleich sein kann, selbst gezielt und konzentriert in Kontakt treten, ohne seine Gottheit preiszugeben, ohne in der Kontaktnahme anerkenntlich zu werden? Die alttestamentlichen Texte antworten auf diese Frage, wie Gese eindrücklich deutlich gemacht hat, mit der Rede vom Engel Jahwes, vom Engel Gottes. (Jetzt alles kursiv) Der Engel Gottes ist demnach anzusehen als eine Selbstzurücknahme, eine Selbstkontraktion, Selbstkonkretion Gottes zugunsten einer Offenbarung an bestimmte Menschen in bestimmten Situationen. (Normal weiter:) Das entspricht in der Funktion tatsächlich der Entsendung von Boten zwischen Menschen in einer Zeit, die noch keine Kommunikationstechnologien besitzt. Deshalb werden vor allem im Alten Testament durchgehend, aber auch im Neuen Testament die Ausdrücke malak bzw. aggelos weiterhin ohne Schwierigkeit auch ‚profan‘ verwendet. Während sich aber Menschen durch Boten gleichsam relativ vervielfachen, relativ multipräsent werden können, bedeutet die Selbstvergegenwärtigung Gottes in den Engeln (auch wenn man mit Gese davor warnt, an eine Inferiorität des Boten zu denken) eine relative Selbstver-endlichung Gottes. Diese Selbstverendlichung Gottes in der Offenbarung durch den Engel Gottes wird aber nie fixiert, nie auf Dauer und Wiederholbarkeit gestellt. Deshalb ist das Verschwinden und Nicht-Wiederkommen den Engeln wesentlich“ (195f). Dann weiter: „2. Der Eingriff von Gottes Engeln in irdische Lebensverhältnisse. Setzung und Aufhebung von Grenzen, Differenzierung der Wirklichkeit, Realitätsveränderung …“ (201; dazu vorher noch: „Die Engel im Himmel stellen somit eine Macht- und Wirklichkeitsverbindung, Wirklichkeitsverschränkung, eine Macht- und Wirklichkeitsfülle dar, der gegenüber die irdische Geschöpflichkeit – die natürliche und die kulturelle Geschöpflichkeit – als Reduktion erscheinen muß“: 220). Und „3. Gottes Engel und die christologisch bestimmte Veränderung der Wirklichkeit“ (206; diese Abschnittsüberschrift wie die zu 2. ist kursiv gesetzt). Auf einzelnes brauchen wir hier nicht einzugehen, allein diese Zitate sprechen deutlich aus, was wir meinen im Namen der Aussagen der Heiligen Schrift und ihrer Sprechweise kritisch betrachten, ja ablehnen zu müssen, soweit es verantwortet die Schriftaussagen festzustellen und als solche darstellen will. –––- Es seien zum hier angesprochen Problem auch die folgenden einschlägigen Werke genannt: Fr. Stier, Gott und sein Engel im Alten Testament (Alttest. Abh. XII. 2. Heft, Münster 1934). und V. Hirth, Gottes Boten im Alten Testament (Theol. Arbeiten, Bd. XXXII, Berlin 1975).

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Exkurs 5: pneuma hagion

Exkurs 5: pneuma hagion

Pneu/ma a[gion ist verständlicherweise eine im NT häufig begegnende Wendung. Wer bzw. was mit ihr bezeichnet wird, ist faktisch nur im jeweiligen Gebrauch an betreffender Textstelle genau festzustellen. Das liegt einmal an den beiden Ausdrücken pneu/ma und a[gion, was sie je für sich allein ansagen, dann an dem sehr unterschiedlichen Vorkommen des Artikels; beide Wörter stehen ja allein bzw. auch zusammen gelegentlich mit, in anderen Fällen ohne Artikel im jeweiligen Satz. Da stellt sich stets die Frage, wie eine solche Stelle genau verstanden sein will. Diese Frage erweist sich sowohl für pneu/ma wie für a[gion, aber auch für pneu/ma a[gion öfter als nicht beantwortbar, so daß die Bedeutung des jeweiligen Textes manchmal offen bleiben muß, eben wegen der Offenheit der jeweils geäußerten Satz-Aussage. So nimmt es nicht wunder, daß es oft unentschiedene Urteile zu akzeptieren gilt. Wir zeigen das im Folgenden im einzelnen auf und heben vor allem den Aussagegehalt der jeweiligen Stelle der uns besonders interessierenden Texte Mt 1–2 und Lk 1–2 heraus. 1) a[gioj im NT

a[gioj begegnet im NT realtiv häufig in seiner Bedeutung „heilig“. Demgegenüber findet sich i`ero,j – „heilig“ nur 3mal; seine Derivate nicht mehr als 13-mal, wobei wir i`ero,n für Tempel nicht mit einbeziehen. a[gioj wird in 90 von 230 Fällen in der festen Verbindung pneu/ma a[gion eingesetzt. Als Adjektiv für Gott steht es in Joh 17,11 (pa,ter a[gie); in 1 Petr 1,16b (= Lev 19,2: o[ti evgw. a[gio,j eivmi). Als Substantiv/Name für Gott ist es nur in 1 Joh 2,20 belegt. Für Christus gilt eine ähnlich seltene Verwendung. Als Adjektiv findet es sich in Apg 4,27.30: evpi. to.n a[gion pai/da, sou VIhsou/n. Ebenso steht in Lk 1,35 die Wendung dio. kai. to. gennw,menon a[gion klhqh,setai ui`o.j qeou/. Hinzu tritt in Lk 1,49 im Magnificat dies Zitat aus Ps 110,9 (LXX): o[ti evpoi,hse,n moi mega,la o` dunato,jÅ kai. a[gion to. o;noma auvtou/. Als Substantiv (der Heilige) steht es für Gott einzig in 1 Joh 2,20 mit Artikel. Für Christos findet sich das Substantiv „Heiliger“ in Apok 3,7 zusammen mit „Wahrer“. Eine ähnliche Doppelwendung in Apg 3,14: to.n a[gion kai. di,kaion hvrnh,sasqe. Im Mk 1,24 findet sich im Munde des unreinen Geistes: o` a[gioj tou/ qeou/. Im Munde der Jünger Jesu, Joh 6,69: … o[ti su. ei= o` a[gioj tou/ qeou/. In den meisten dieser Stelle ist offensichtlich auf Jahwe (kadosch) abgehoben. – Auf die mannigfaltige Verwendung von a[gioj in Aussagen über die „heiligen Heilsgaben Gottes“ weisen wir hier nur hin, wie etwa auf 2 Tim 1,9; Lk 1,72; Röm 11,16; 12,1 und Jud 20. Sie hier aufzuführen erlaubt der begrenzte Platz nicht.

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Anhang I: Exkurse

2) pneu/ma im NT

pneu/ma, insofern es „Gottes Geist“ bedeutet oder einen direkten Bezug zu Gott anspricht, wird im NT in vielfältiger Weise verwendet. Wir verschaffen uns einen Überblick, indem wir die unterschiedlichen Arten des Gebrauchs zusammenfassend aufführen. So läßt sich am ehesten ein theologisch relevanter Einblick erreichen. Stellen, die keinen erkennbaren Gottes-Bezug haben, werden nicht genannt. a) pneu/ma absolut (fast synonym mit Gott) mit Artikel

Mt 12,31: h` de. tou/ pneu,matoj blasfhmi,a ouvk avfeqh,setai; rückblickend auf 12,18. – Mt 12,18: o` pai/j mou … qh,sw to. pneu/ma, mou evpV auvto,n. – Mk 1,10f.: kai. to. pneu/ma w`j peristera.n katabai/non eivj auvto,n …; 1,12: kai. euvqu.j to. pneu/ma auvto.n evkba,llei eivj th.n e;rhmon. Weitere Beispiele: Joh 1,32.33; 3,34: Apg 8,29: 10,19; 11,2; Röm 8,23.26a; 1 Joh 5,6; Apk 1,7.11.17.29; 3,6.13; 14,13; 22,17; Gal 5,23; 1 Kor 12,7. b) pneu/ma absolut, ohne Artikel

Phil 2,1: ei; tij koinwni,a pneu,matoj; Gal 3,3: evnarxa,menoi pneu,mati; Gal 3,3; 1 Petr 4,6: eivj tou/to ga.r kai. nekroi/j euvhggeli,sqh( i[na … zw/si de. kata. qeo.n pneu,mati. c) pneu/ma mit Präposition und Artikel

Mt 4,1: to,te o` VIhsou/j avnh,cqh eivj th.n e;rhmon u`po. tou/ pneu,matoj …; Lk 2,25ff: kai. ivdou. a;nqrwpoj h=n evn VIerousalh.m w-| o;noma Sumew.n … kai. pneu/ma h=n a[gion evpV auvto,n … u`po. tou/ pneu,matoj … kai. h=lqen evn tw/| pneu,mati eivj to. i`ero,n. In diesem Text wechselt pneu/ma mit Artikel ab mit pneu/ma ohne Artikel, obwohl von dem einen und selben die Rede ist. – Joh 7,39: tou/to de. ei=pen peri. tou/ pneu,matoj o] e;mellon lamba,nein oi` pisteu,santej eivj auvto,n\ ou;pw ga.r h=n pneu/ma( o[ti VIhsou/j ouvde,pw evdoxa,sqh: Hier dürfte der Geist angesprochen sein, der am ersten Pfingsttag auf die Jünger herabkam (s. Apg 2). d) pneu/ma mit Präposition, ohne Artikel

Mt 12,28: eiv de. evn pneu,mati qeou/ evgw. evkba,llw ta. daimo,nia( a;ra e;fqasen evfV u`ma/j h` basilei,a tou/ qeou/. – 1 Kor 12,3: dio. gnwri,zw u`mi/n o[ti ouvdei.j evn pneu,mati qeou/ lalw/n le,gei\ VAna,qema VIhsou/j( kai. ouvdei.j du,natai eivpei/n\ Ku,rioj VIhsou/j( eiv mh. evn pneu,mati a`gi,w|. Hier ist offensichtlich „pneu/ma qeou/“ und „pneu/ma a[gion“ gleichbedeutend. – Eph 2,20ff: o;ntoj avkrogwniai,ou auvtou/ Cristou/ VIhsou/( evn w-| pa/sa oivkodomh. sunarmologoume,nh au;xei eivj nao.n a[gion evn kuri,w|( evn w-| kai. u`mei/j sunoikodomei/sqe eivj katoikhth,rion tou/ qeou/ evn pneu,mati. – Eph 5,18f: … avlla. plhrou/sqe evn pneu,mati( 600

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Exkurs 5: pneuma hagion

(die Vg fügt „sancto“ hinzu) lalou/ntej e`autoi/j ÎevnÐ yalmoi/j kai. u[mnoij kai. wv|dai/j pneumatikai/j … tw/| kuri,w|( euvcaristou/ntej pa,ntote u`pe.r pa,ntwn evn ovno,mati tou/ kuri,ou h`mw/n VIhsou/ Cristou/ tw/| qew/| kai. patri,. e) pneu/ma mit Genitiv von qeo,j bzw. Cristo,j oder ku,rioj u. ä.

i) mit artikellosem pneu/ma: Mt 3, 16: … kai. ei=den pneu/ma qeou/ katabai/non …; Röm 8,9–11: u`mei/j de. ouvk evste. evn sarki. avlla. evn pneu,mati( ei;per pneu/ma qeou/ oivkei/ evn u`mi/nÅ eiv de, tij pneu/ma Cristou/ ouvk e;cei( ou-toj ouvk e;stin auvtou/Å eiv de. Cristo.j evn u`mi/n( to. me.n sw/ma nekro.n dia. a`marti,an to. de. pneu/ma zwh. dia. dikaiosu,nhnÅ eiv de. to. pneu/ma tou/ evgei,rantoj to.n VIhsou/n evk nekrw/n oivkei/ evn u`mi/n( o` evgei,raj Cristo.n evk nekrw/n zw|opoih,sei kai. ta. qnhta. sw,mata u`mw/n dia. tou/ evnoikou/ntoj auvtou/ pneu,matoj evn u`mi/nÅ Wir bemerken die verschiedensten Verwendungen von pneu/ma usw., jeweils der Bedeutung nach nur im direkten Kontext festzumachen; so sogleich im folgenden Vers 14: o[soi ga.r pneu,mati qeou/ a;gontai( ou-toi ui`oi. qeou/ eivsin … avlla. evla,bete pneu/ma ui`oqesi,aj evn w-| kra,zomen\ abba o` path,rÅ auvto. to. pneu/ma summarturei/ tw/| pneu,mati h`mw/n o[ti evsme.n te,kna qeou/. – 1 Kor 7,40: … dokw/ de. kavgw. pneu/ma qeou/ e;cein. – 2 Kor 3,3: … o[ti evste. evpistolh. Cristou/ diakonhqei/sa u`fV h`mw/n( evggegramme,nh ouv me,lani avlla. pneu,mati qeou/ zw/ntoj. – Phil 3,3. ii) Wendungen mit pneu/ma mit Artikel: 1 Kor 2,10b-14: h`mi/n de. avpeka,luyen o` qeo.j dia. tou/ pneu,matoj\ to. ga.r pneu/ma pa,nta evrauna/|( kai. ta. ba,qh tou/ qeou/ … ou[twj kai. ta. tou/ qeou/ ouvdei.j e;gnwken eiv mh. to. pneu/ma tou/ qeou/Å h`mei/j de. ouv to. pneu/ma tou/ ko,smou evla,bomen avlla. to. pneu/ma to. evk tou/ qeou/( i[na eivdw/men ta. u`po. tou/ qeou/ carisqe,nta h`mi/n … avllV evn didaktoi/j pneu,matoj( pneumatikoi/j pneumatika. sugkri,nontejÅ yuciko.j de. a;nqrwpoj ouv de,cetai ta. tou/ pneu,matoj tou/ qeou/. Dem kann 1 Kor 3,16 und 6,11 angefügt werden. Alle diese Texte zeigen die Vielfalt der Bedeutungsnuancen von pneu/ma in den verschiedenen Genitivwendungen, die jeweils nur in ihrem unmittelbaren Kontext zu verstehen und zu werten sind. -1 Joh 4,2f: evn tou,tw| ginw,skete to. pneu/ma tou/ qeou/\ pa/n pneu/ma o] o`mologei/ VIhsou/n Cristo.n evn sarki. evlhluqo,ta evk tou/ qeou/ evstin( kai. pa/n pneu/ma o] mh. o`mologei/ to.n VIhsou/n evk tou/ qeou/ ouvk e;stin. Hier findet sich pneu/ma auch für den bekennenden Christen eingesetzt. – 1 Petr 4,14: eiv ovneidi,zesqe evn ovno,mati Cristou/( maka,rioi( o[ti to. th/j do,xhj kai. to. tou/ qeou/ pneu/ma evfV u`ma/j avnapau,etai. Auch diese Genitiv-Konstruktion ist auszuwerten. f) Stellen mit pneu/ma tou/ kuri,ou bzw. tou/ patro,j und mit pneu/ma VIhsou/ bzw. Cristou/

Mt 10,20: avlla. to. pneu/ma tou/ patro.j u`mw/n to. lalou/n evn u`mi/n. – Lk 4,18 (= Jes 61,1): pneu/ma kuri,ou evpV evme.. – Apg 5,9: ti, o[ti sunefwnh,qh u`mi/n peira,sai to. pneu/ma kuri,ou. Röm 8,11: so den Text unter e)i); vgl. dazu auch 1 Kor 12,3–4 (unter d zitiert). – 2 Kor 601

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Anhang I: Exkurse

3,17f: o` de. ku,rioj to. pneu/ma, evstin\ ou- de. to. pneu/ma kuri,ou( evleuqeri,a … avpo. do,xhj eivj do,xan kaqa,per avpo. kuri,ou pneu,matoj. Apg 16,7: … evpei,razon eivj th.n Biquni,an poreuqh/nai( kai. ouvk ei;asen auvtou.j to. pneu/ma VIhsou/. – Röm 8,9f: u`mei/j de. ouvk evste. evn sarki. avlla. evn pneu,mati( ei;per pneu/ma qeou/ oivkei/ evn u`mi/nÅ eiv de, tij pneu/ma Cristou/ ouvk e;cei( ou-toj ouvk e;stin auvtou/Å eiv de. Cristo.j evn u`mi/n( to. me.n sw/ma nekro.n dia. a`marti,an to. de. pneu/ma zwh. dia. dikaiosu,nhn … In diesem Text sind pneu/ma qeou/ und pneu/ma Cristou/ gleichbedeutend, und zugleich pneu/ma Cristou/ evn u`mi/n mit Cristo.j evn u`mi/n. – 1 Petr 1,11: to. evn auvtoi/j pneu/ma Cristou/. – Phil 1,19: dia. th/j u`mw/n deh,sewj kai. evpicorhgi,aj tou/ pneu,matoj VIhsou/ Cristou/. Dazu 2 Kor 3,18. Diesen Texten können noch manche zugesellt werden, in denen diese eigenartige Formulierungsvielfalt vorliegt. So Jo 3,5–9: avmh.n avmh.n le,gw soi( eva.n mh, tij gennhqh/| evx u[datoj kai. pneu,matoj( ouv du,natai eivselqei/n eivj th.n basilei,an tou/ qeou/Å 6 to. gegennhme,non evk th/j sarko.j sa,rx evstin( kai. to. gegennhme,non evk tou/ pneu,matoj pneu/ma, evstinÅ 7 mh. qauma,sh|j o[ti ei=po,n soi\ dei/ u`ma/j gennhqh/nai a;nwqenÅ 8 to. pneu/ma o[pou qe,lei pnei/ kai. th.n fwnh.n auvtou/ avkou,eij( avllV ouvk oi=daj po,qen e;rcetai kai. pou/ u`pa,gei\ ou[twj evsti.n pa/j o` gegennhme,noj evk tou/ pneu,matoj. Dann 1 Kor 12,4–13: Diaire,seij de. carisma,twn eivsi,n( to. de. auvto. pneu/ma … e`ka,stw| de. di,dotai h` fane,rwsij tou/ pneu,matoj pro.j to. sumfe,ronÅ 8 w-| me.n ga.r dia. tou/ pneu,matoj di,dotai lo,goj sofi,aj( a;llw| de. lo,goj gnw,sewj kata. to. auvto. pneu/ma( 9 e`te,rw| pi,stij evn tw/| auvtw/| pneu,mati( a;llw| de. cari,smata ivama,twn evn tw/| e`ni. pneu,mati … 11 pa,nta de. tau/ta evnergei/ to. e]n kai. to. auvto. pneu/ma diairou/n ivdi,a| e`ka,stw| kaqw.j bou,letai. g) pneu/ma ohne Artikel mit Genitiv der Sache o. ä.

Hier seien diese Stellen genannt: Joh 14,17; 15,26; 16,13; 1 Joh 4,6: 1 Petr 4,14; Röm 8,2.27; 15,30; 2 Kor 1,22: 4,13; 5,5; Gal 3,2; Mt 5,3 (maka,rioi oi` ptwcoi. tw/| pneu,mati). h) Bezeichnend auch die Doppelformeln, pneu/ma + Hauptwort

Mt 3,11: auvto.j u`ma/j bapti,sei evn pneu,mati a`gi,w| kai. puri,: Lk 3,16 formuliert: evn pneu,mati a`gi,w| kai. puri,. – Lk 1,17: kai. auvto.j proeleu,setai evnw,pion auvtou/ evn pneu,mati kai. duna,mei VHli,ou. – Lk 3,6 par zu Mt 3,11). – Lk 4,14: Kai. u`pe,streyen o` VIhsou/j evn th/| duna,mei tou/ pneu,matoj. – Joh 6,63: to. pneu/ma, evstin to. zw|opoiou/n … ta. r`h,mata a] evgw. lela,lhka u`mi/n pneu/ma, evstin kai. zwh, evstin. – Joh 14,17: to. pneu/ma th/j avlhqei,aj … u`mei/j ginw,skete auvto,( o[ti parV u`mi/n me,nei kai. evn u`mi/n e;staiÅ – Apg 11,24: o[ti h=n avnh.r avgaqo.j kai. plh,rhj pneu,matoj a`gi,ou kai. pi,stewj. Apg 13,52: oi[ te maqhtai. evplhrou/nto cara/j kai. pneu,matoj a`gi,ou. – Röm 8,2: o` ga.r no,moj tou/ pneu,matoj th/j zwh/j evn Cristw/| VIhsou/ hvleuqe,rwse,n se avpo. tou/ no,mou th/j a`marti,aj kai. tou/ qana,tou. Röm 15,30: parakalw/ de. u`ma/j dia. tou/ kuri,ou h`mw/n VIhsou/ Cristou/ kai. dia. th/j avga,phj tou/ pneu,matoj … – 1 Kor 2,4.5: avllV evn avpodei,xei pneu,matoj kai. duna,mewj( i[na h` pi,stij u`mw/n mh. h=| evn sofi,a| avnqrw,pwn avllV evn duna,mei qeou/.

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Exkurs 5: pneuma hagion

3) Die spezifisch ntl. Wendung „pneu/ma a[gion“

Die Wendung „pneu/ma a[gion“ ist spezifisch neutestamentlich. „Weder Philo noch Josephus nennen den Geist pneu/ma a[gion, sondern jener qei/on oder qeou/ pneu/ma, dieser pneu/ma qei/on“ (Bauer, Wörterbuch 1342). Daher sollen hier alle Vorkommen im NT angegeben werden Zu achten ist besonders auch auf den ganz eigenartigen Gebrauch des Artikels. Der Bedeutungssinn ist kaum systematisch zu erfassen; jede Stelle ist selbst sprechen zu lassen. Im folgenden zitieren wir auf die kürzeste Weise und geben nur, wo es angebracht ist, eine Bemerkung. a) pneu/ma a[gion ohne Artikel im NT

Mt 1,18.20: evk pneu,matoj a`gi,ou. Diese Stelle wird genauso wie Lk 1,35 in der eigentlichen Besprechung von Mt 1–2 und Lk 1–2 besonders besprochen; s. d. – Mt 3,11: auvto.j u`ma/j bapti,sei evn pneu,mati a`gi,w| kai. puri,. Bedeutung klar. Mk 1,8: auvto.j de. bapti,sei u`ma/j evn pneu,mati a`gi,w|. Dasselbe zu sagen. Lk 1,15: kai. pneu,matoj a`gi,ou plhsqh,setai. In der Geburtsankündigung Johannes. Lk 1,41: kai. evplh,sqh pneu,matoj a`gi,ou h` VElisa,bet. 1,67 ähnlich für Zacharias. Lk 2,25–27: kai. pneu/ma h=n a[gion evpV auvto,n … u`po. tou/ pneu,matoj tou/ a`gi,ou mh. ivdei/n qa,naton … kai. h=lqen evn tw/| pneu,mati eivj to. i`ero,n: Hier begegnen drei Formulierungsweisen zugleich zum Sprechen vom einen und selben Geist: Zuerst ohne Artikel, dann Artikel für pneu/ma und für das Adjektiv a[gion, dann pneu/ma allein mit Artikel. Lk 3,16: Paralleltext zu Mt 3,11 und Mk 1,8. Alles ohne Artikel. Lk 4,1: VIhsou/j de. plh,rhj pneu,matoj a`gi,ou u`pe,streyen avpo. tou/ VIorda,nou kai. h;geto evn tw/| pneu,mati evn th/| evrh,mw|; ohne und mit Artikel im selben einen Satz. Lk 11,13: po,sw| ma/llon o` path.r o` evx ouvranou/ dw,sei pneu/ma a[gion toi/j aivtou/sin auvto,n. Hier offenkundig eine sehr offene Bedeutung. Joh 1,33: … ei=pen\ evfV o]n a'n i;dh|j to. pneu/ma katabai/non kai. me,non evpV auvto,n( ou-to,j evstin o` bapti,zwn evn pneu,mati a`gi,w|. Hier zunächst pneu/ma allein mit Artikel, dann mit Adjektiv a[gion ohne Artikel. Joh 20,22: kai. tou/to eivpw.n evnefu,shsen kai. le,gei auvtoi/j\ la,bete pneu/ma a[gion … Der Bedeutungssinn von pneu/ma an dieser Stelle ist sehr offen. In der Apg findet sich diese Formulierungsweise oft. Wir nennen im folgenden die Stellen, mit Zusatzbemerkungen, wo es angebracht erscheint. Apg 1,2.5.8 mit 2,4a: a;cri h-j h`me,raj evnteila,menoj toi/j avposto,loij dia. pneu,matoj a`gi,ou … u`mei/j de. evn pneu,mati baptisqh,sesqe a`gi,w| ouv meta. polla.j tau,taj h`me,raj … avlla. lh,myesqe du,namin evpelqo,ntoj tou/ a`gi,ou pneu,matoj evfV u`ma/j … kai. evplh,sqhsan pa,ntej pneu,matoj a`gi,ou kai. h;rxanto lalei/n e`te,raij glw,ssaij kaqw.j to. pneu/ma evdi,dou avpofqe,ggesqai auvtoi/j. Sicher ein wichtiger Text spezifisch für den Heiligen Geist; doch keine auffallende Artikelsetzung, etwa zur Betonung, vom wem genau die Rede ist. 603

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Apg 4,8. – Apg 4,24f: h=ran fwnh.n pro.j to.n qeo.n kai. ei=pan\ de,spota( su. o` poih,saj to.n ouvrano.n … o` tou/ patro.j h`mw/n dia. pneu,matoj a`gi,ou sto,matoj Daui.d paido,j sou eivpw,n … (Ps 2,1). Hier spricht Gott-Jahwe „durch heiligen Geist durch den Mund Davids“ (bei „Geist“ kein Artikel!). S. dazu Mt 1,18.20!. Agp 6,5. Apg 8,15.17.19. –– Apg 10,38: VIhsou/n to.n avpo. Nazare,q( w`j e;crisen auvto.n o` qeo.j pneu,mati a`gi,w| kai. duna,mei. Zu beachten: Gott (Jahwe!) salbt mit heiligem Geist und Kraft (Macht). Auch der Doppelausdruck „Geist und Kraft“ häufig. Apg 11,6. – Apg 11,24. Apg 13,9. – Apg 19,2a. b. Röm 5,5: o[ti h` avga,ph tou/ qeou/ evkke,cutai evn tai/j kardi,aij h`mw/n dia. pneu,matoj a`gi,ou tou/ doqe,ntoj h`mi/n. Bezeichnend wieder „Gottes Liebe durch heiligen Geist ausgegossen“. Wir beachten auch das dia.. Röm 8,11–15: eiv de. to. pneu/ma tou/ evgei,rantoj to.n VIhsou/n evk nekrw/n oivkei/ evn u`mi/n( o` evgei,raj Cristo.n evk nekrw/n zw|opoih,sei kai. ta. qnhta. sw,mata u`mw/n dia. tou/ evnoikou/ntoj auvtou/ pneu,matoj evn u`mi/n … o[soi ga.r pneu,mati qeou/ a;gontai( ou-toi ui`oi. qeou/ eivsin … avlla. evla,bete pneu/ma ui`oqesi,aj evn w-| kra,zomen\ abba o` path,rÅ auvto. to. pneu/ma summarturei/ tw/| pneu,mati h`mw/n o[ti evsme.n te,kna qeou/. Ein sicher sehr bedeutsamer Text für das Verständnis Gottes, des Vaters wie des Geistes. Röm 9,1; Röm 14,17; Röm 15,13.16.19: ~O de. qeo.j th/j evlpi,doj plhrw,sai u`ma/j pa,shj cara/j kai. eivrh,nhj evn tw/| pisteu,ein( eivj to. perisseu,ein u`ma/j evn th/| evlpi,di evn duna,mei pneu,matoj a`gi,ou … h`giasme,nh evn pneu,mati a`gi,w| … evn duna,mei pneu,matoj qeou/. Wir bemerken die besondere Sprechweise, zumal von Gott und Geist. 1 Kor 6,19–20: h' ouvk oi;date o[ti to. sw/ma u`mw/n nao.j tou/ evn u`mi/n a`gi,ou pneu,mato,j evstin ou- e;cete avpo. qeou/( kai. ouvk evste. e`autw/nÈ hvgora,sqhte ga.r timh/j\ doxa,sate dh. to.n qeo.n evn tw/| sw,mati u`mw/n. Ein wichtiger Text wieder zum Verstehen von Gott und Geist, die als irgendwie identisch gesehen sind. Auch beachten wir hier die Voranstellung des Adjektivs a[gioj vor pneu/ma. 1 Kor 12,3: dio. gnwri,zw u`mi/n o[ti ouvdei.j evn pneu,mati qeou/ lalw/n le,gei\ VAna,qema VIhsou/j( kai. ouvdei.j du,natai eivpei/n\ Ku,rioj VIhsou/j( eiv mh. evn pneu,mati a`gi,w|. 2 Kor 6,6: In der langen Beschreibung seiner selbst des Paulus begegnen viele wie gleich-bedeutende Charakteristika, darunter pneu/ma a[gion, der auch wohl den Apostel selbst bedeutet in seinem spezifischen Apostel-Sein. 1 Thess 1,5: o[ti to. euvagge,lion h`mw/n ouvk evgenh,qh eivj u`ma/j evn lo,gw| mo,non avlla. kai. evn duna,mei kai. evn pneu,mati a`gi,w| kai. evn plhrofori,a| pollh|. Diese Redeweise wie in 2 Kor 6,6 wiederholt sich hier, dazu auch 1,6. 2 Tim 1,13f: … evn pi,stei kai. avga,ph| th/| evn Cristw/| VIhsou/\ th.n kalh.n paraqh,khn fu,laxon dia. pneu,matoj a`gi,ou tou/ evnoikou/ntoj evn h`mi/n. Tit 3,4–7: ein wichtiger Text; wir zitieren hier auszugsweise: o[te de. h` crhsto,thj kai. h` filanqrwpi,a evpefa,nh tou/ swth/roj h`mw/n qeou/ … avlla. kata. to. auvtou/ e;leoj e;swsen h`ma/j dia. loutrou/ paliggenesi,aj kai. avnakainw,sewj pneu,matoj a`gi,ou( ou- evxe,ceen evfV h`ma/j plousi,wj dia. VIhsou/ Cristou/ tou/ swth/roj h`mw/n(i[na dikaiwqe,ntej th/| evkei,nou ca,riti klhrono,moi genhqw/men katV evlpi,da zwh/j aivwni,ou. Hier ist von Gott als Erretter 604

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die Rede, wo auch Jesus Christus als Erretter gleich-benannt ist (es sind nicht zwei Erretter!), wie auch von Taufe und Erneuerung heiligen Geistes: ein Gott und Erretter im gleich-„beteiligten“ Nennen Gottes, Jesus Christus, heiliger Geist (wenn man es in Kürze so sagen darf). Hebr 2,33f4: … swthri,aj … dia. tou/ kuri,ou … sunepimarturou/ntoj tou/ qeou/ shmei,oij te kai. te,rasin kai. poiki,laij duna,mesin kai. pneu,matoj a`gi,ou merismoi/j kata. th.n auvtou/ qe,lhsin. Der Text spricht für sich. Hebr 6,4f: VAdu,naton ga.r tou.j a[pax fwtisqe,ntaj … genhqe,ntaj pneu,matoj a`gi,ou kai. kalo.n geusame,nouj qeou/ r`h/ma … Hier sind offensichtlich die später so genannten Initiationssakramente angesprochen. Hebr 9,13f: eiv ga.r to. ai-ma tra,gwn … a`gia,zei … po,sw| ma/llon to. ai-ma tou/ Cristou/( o]j dia. pneu,matoj aivwni,ou (v. l. a`gi,ou) e`auto.n prosh,negken a;mwmon tw/| qew/| … Eine bezeichnende Formulierung für die Selbstdahingabe Jesu Christi durch den heiligen Geist und somit für das Eins-Sein von Gott (Vater), Jesus Christus (Sohn) und Heiligem Geist im Heilswerk.1 Petr 1,2; 2 Petr 1,21; Jud 20. b) Die Wendung pneu/ma a[gion mit Artikel im Vorkommen im NT

Auch hier sollen die Stellen zunächst nur aufgeführt und gegebenenfalls auch besprochen werden. Mt 12,32: kai. o]j eva.n ei;ph| lo,gon kata. tou/ ui`ou/ tou/ avnqrw,pou … o]j dV a'n ei;ph| kata. tou/ pneu,matoj tou/ a`gi,ou( ouvk avfeqh,setai. Aussage ist klar. Mk 3,29: o]j dV a'n blasfhmh,sh| eivj to. pneu/ma to. a[gion( ouvk e;cei a;fesin. Mk 12,36: auvto.j Daui.d ei=pen evn tw/| pneu,mati tw/| a`gi,w|\ ei=pen ku,rioj tw/| kuri,w| mou … Parallel-Text zu Mt 22,43f, wo pneu/ma ohne Artikel steht. Mk 13,11: avllV o] eva.n doqh/| u`mi/n evn evkei,nh| th/| w[ra| tou/to lalei/te\ ouv ga,r evste u`mei/j oi` lalou/ntej avlla. to. pneu/ma to. a[gion. Hier dürfte to. pneu/ma to. a[gion schlicht identisch mit Qeo,j gesagt sein. Lk 2,25ff: Sumew.n … kai. pneu/ma h=n a[gion evpV auvto,n\ … crhmatisme,non u`po. tou/ pneu,matoj tou/ a`gi,ou mh. ivdei/n qa,naton … kai. h=lqen evn tw/| pneu,mati eivj to. i`ero,n. Hier steht pneu/ma a[gion zunächst ohne, dann mit Artikel (zu pneu/ma und zu a[gion), dann wieder einfaches pneu/ma. Ist das von Bedeutung? Lk 3,22: kai. katabh/nai to. pneu/ma to. a[gion swmatikw/| ei;dei w`j peristera.n evpV auvto,n … Im Parallel-Text Mt 3,16 wird nur von pneu/ma qeou/ gesprochen; in Mk 1,10 steht nur pneu/ma; hier beide Wörter mit Artikel. Von Bedeutung? Oder gibt es sachlich keinen eigentlichen Unterschied? Lk 10,21: VEn auvth/| th/| w[ra| hvgallia,sato tw/| pneu,mati tw/| a`gi,w| kai. ei=pen\ evxomologou/mai, soi( pa,ter … Hier könnte pneu/ma das benennen, was wir als Innerstes des Menschen verstehen, wie „aus tiefstem Herzen“. Wir lassen es offen.

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Lk 12,10.12: Zu diesem Text ist dasselbe zu sagen wie zu den Parallelen in Mt und Mk, die wir schon betrachtet haben. Joh 14,25.26: Tau/ta lela,lhka u`mi/n parV u`mi/n me,nwn\ o` de. para,klhtoj( to. pneu/ma to. a[gion( o] pe,myei o` path.r evn tw/| ovno,mati, mou( evkei/noj u`ma/j dida,xei pa,nta … Hier die volle Benennung o` para,klhtoj( to. pneu/ma to. a[gion (alles mit Artikel) ganz bewußt so gesetzt und dem entprechend zu werten sein, zumal noch der Vater und folglich der Sohn ausdrücklich genannt sind. Vgl. dazu auch Joh 15,26 wie auch Joh 16,13. Apg 1,8: avlla. lh,myesqe du,namin evpelqo,ntoj tou/ a`gi,ou pneu,matoj evfV u`ma/j kai. e;sesqe, mou ma,rturej. Bemerkenswert die Wortstellung des Adjektivs. Apg 1,33: th/| dexia/| ou=n tou/ qeou/ u`ywqei,j( th,n te evpaggeli,an tou/ pneu,matoj tou/ a`gi,ou labw.n para. tou/ patro,j( evxe,ceen tou/to o] u`mei/j kai. ble,pete kai. avkou,ete. Hier ist vom Vater, von Jesus Christus (Sohn) und dem pneu/ma to. a[gion die Rede, offensichtlich bewußt prägnant. Apg 2,38: baptisqh,tw e[kastoj u`mw/n evpi. tw/| ovno,mati VIhsou/ Cristou/ eivj a;fesin tw/n a`martiw/n u`mw/n kai. lh,myesqe th.n dwrea.n tou/ a`gi,ou pneu,matoj. Hier ist offensichtlich von dem die Rede, was später Taufe und Firmung heißt, und vom Wirken Gottes in bzw. durch Jesus Christus und den Heiligen Geist. – Apg 4,31. Ein ähnlicher Text. Apg 5,3.9: yeu,sasqai, se to. pneu/ma to. a[gion kai. nosfi,sasqai avpo. th/j timh/j tou/ cwri,ou. Die Wendung to. pneu/ma to. a[gion dürfte Gott meinen, nicht spezifisch den Heiligen Geist. Das suggeriert auch der folgende Vers 9: to. pneu/ma kuri,ou. Apg 5,32: kai. h`mei/j evsmen ma,rturej tw/n r`hma,twn tou,twn kai. to. pneu/ma to. a[gion o] e;dwken o` qeo.j toi/j peiqarcou/sin auvtw/|. –– Es mehren sich die Stellen der Apg, in denen berichtet wird, was sich gleichsam als „Pfingsten“ am ersten solchen Tag ereignete, in den jeweils neuen und doch gleichartigen Fällen. Dazu: Apg 7,51: u`mei/j avei. tw/| pneu,mati tw/| a`gi,w| avntipi,ptete w`j oi` pate,rej u`mw/n kai. u`mei/j. Hier dürfte, aufgrund des Schriftzitates (Jes 66,1f)) wohl Gott allgemein angesprochen sein. Apg 9,31: kai. th/| paraklh,sei tou/ a`gi,ou pneu,matoj evplhqu,neto. Hier ist wieder die Wortstellung bemerkenswert, die in der Apg öfter begegnet, dazu Artikel nur bei a[gion pneu/ma, das wohl den Gottesgeist „allgemein“ meint. Apg 10,44f: :Eti lalou/ntoj tou/ Pe,trou ta. r`h,mata tau/ta evpe,pesen to. pneu/ma to. a[gion evpi. pa,ntaj tou.j avkou,ontaj to.n lo,gonÅ kai. evxe,sthsan oi` evk peritomh/j pistoi. o[soi sunh/lqan tw/| Pe,trw|( o[ti kai. evpi. ta. e;qnh h` dwrea. tou/ a`gi,ou pneu,matoj evkke,cutai … Hier dürfte es sich um den Gottesgeist „allgemein“ (das göttliche Leben, Gnade) und zugleich um den Heiligen Geist „spezifisch“ handeln, der nach Apg 2 an Pfingsten auf die Jünger herabkam, ohne daß dabei von „zweien“ die Rede war oder wäre. Apg 11,15–17: evn de. tw/| a;rxasqai, me lalei/n evpe,pesen to. pneu/ma to. a[gion evpV auvtou.j w[sper kai. evfV h`ma/j evn avrch/| u`mei/j de. baptisqh,sesqe evn pneu,mati a`gi,w|Å eiv ou=n th.n i;shn dwrea.n e;dwken auvtoi/j o` qeo.j w`j kai. h`mi/n pisteu,sasin evpi. to.n ku,rion VIhsou/n Cristo,n( evgw. ti,j h;mhn dunato.j kwlu/sai to.n qeo,n … Dazu dasselbe zu bemerken wie zum Text zuvor; vgl. noch Apg 11,24.

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Apg 13,2.52: Leitourgou,ntwn de. auvtw/n tw/| kuri,w| kai. nhsteuo,ntwn ei=pen to. pneu/ma to. a[gion\ avfori,sate dh, moi to.n Barnaba/n kai. Sau/lon oi[ te maqhtai. evplhrou/nto cara/j kai. pneu,matoj a`gi,ou. Wieder dasselbe zu sagen wie vorher; dazu Wechsel der Rede mit bzw. ohne Artikel für pneu/ma a[gion. Apg 15,8: kai. o` kardiognw,sthj qeo.j evmartu,rhsen auvtoi/j dou.j to. pneu/ma to. a[gion kaqw.j kai. h`mi/n …; dazu 15,28: e;doxen ga.r tw/| pneu,mati tw/| a`gi,w| kai. h`mi/n mhde.n ple,on evpiti,qesqai u`mi/n ba,roj plh.n tou,twn tw/n evpa,nagkej … Dazu Ähnliches zu bemerken wie zu den Texten zuvor. Röm 8,11–17 (z.Tl. zitiert): eiv de. to. pneu/ma tou/ evgei,rantoj to.n VIhsou/n evk nekrw/n oivkei/ evn u`mi/n( o` evgei,raj Cristo.n evk nekrw/n zw|opoih,sei kai. ta. qnhta. sw,mata u`mw/n dia. tou/ evnoikou/ntoj auvtou/ pneu,matoj evn u`mi/n. …14 o[soi ga.r pneu,mati qeou/ a;gontai( ou-toi ui`oi. qeou/ eivsin … In diesem Text wird wieder unüberholbar intensiv und aufs kürzeste das Heilsgeheimnis ausgesprochen, in dem Gott (Vater) und Jesus Christus (Sohn) und der Gottesgeist in eins eben dies Heilsgeheimnis sind und wirken. Alles bewirkt und bezeugt der Geist Gottes, der des Vaters und des Sohnes ist, daß wir es tatsächlich werden und sind. Eph 1,13: Dieser Text spricht letztlich von demselben Geheimnis, das wir gerade in Röm 8 betrachtet haben, auch was die Ausformulierung angeht: 1,10: eivj oivkonomi,an tou/ plhrw,matoj tw/n kairw/n( avnakefalaiw,sasqai ta. pa,nta evn tw/| Cristw/|( ta. evpi. toi/j ouvranoi/j kai. ta. evpi. th/j gh/j evn auvtw/| … (12) eivj to. ei=nai h`ma/j eivj e;painon do,xhj auvtou/ tou.j prohlpiko,taj evn tw/| Cristw/|Å VEn w-| kai. u`mei/j avkou,santej to.n lo,gon th/j avlhqei,aj( to. euvagge,lion th/j swthri,aj u`mw/n( evn w-| kai. pisteu,santej evsfragi,sqhte tw/| pneu,mati th/j evpaggeli,aj tw/| a`gi,w|( o[ evstin avrrabw.n th/j klhronomi,aj h`mw/n( eivj avpolu,trwsin th/j peripoih,sewj( eivj e;painon th/j do,xhj auvtou/. Eph 4,30: kai. mh. lupei/te to. pneu/ma to. a[gion tou/ qeou/( evn w-| evsfragi,sqhte eivj h`me,ran avpolutrw,sewj. In diesem Text fällt die volle Formulierung to. pneu/ma to. a[gion tou/ qeou/ auf und zeigt die Identität von Gott (Jahwe), Gottesgeist und Heiligem Geist auf, von der wir im NT oft lesen. Zusammenfassend kann dies als Ergebnis unserer Einsichtsnahme in die Stellen mit dem Einsatz von pneu/ma a[gion und dem Verständnis am jeweiligen Ort festgehalten werden: Es hat sich eine ungemein große Bedeutungsvielfalt der verwendeten Wörter und Wendungen mit pneu/ma und pneu/ma a[gion u. ä. gezeigt. Dieser Vielfalt wird in den Kommentaren vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt, so daß es zu unterschiedlichen Interpretationen der jeweiligen Textstellen kommt, die allerdings nicht akzeptiert werden können. Denn es hat sich gezeigt, daß nur der jeweilige engere (und auch weitere) Kontext eine klare und eindeutige Erklärung und die ent-

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Anhang I: Exkurse

sprechende Auswertung bringen kann.23 Wir können das hier konkret herausstellen im Blick auf die Weise, wie bei den Synoptikern pneu/ma bzw. pneu/ma a[gion in Bezug auf „Gott“ gesetzt (wie am jeweiligen Ort auch immer) erscheint. Im MtEv begegnet diese Wendungen 10mal, im MkEv auch 10mal, im LkEv 18mal. Ohne Artikel steht pneu/ma a[gion im MtEv nur in 1,18.20 und 3,11. Mit Artikel findet es sich nur einmal, in 12,31.32 (h` de. tou/ pneu,matoj blasfhmi,a und lo,gon … kata. tou/ pneu,matoj tou/ a`gi,ou, welche beide Formulierungsweisen wohl das/den Gleichen angeben. Im MkEv bege23 Hier sei auf folgende Lexika-Artikel und andere Werke (wie Grammatiken u. a.) hingewiesen, die

große Dienste erweisen: ThWNT VI. unter „pneu/ma …“ E. Das Neue Testament. VI. 394–449 (Kittel). – EWNT 3 (1993) 279–291 (Kremer). – Fr. Blass – A. Brunner, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, 1970. – E. Schwizer, Griechische Grammatik, München 1939. – G. Steyer, Formenlehre des ntl. Griechisch (= Handbuch f. d. Studium des ntl. Griechisch I), Gütersloh – Berlin 1970; G. Steyer, Satzlehre des ntl. Griechisch (= Handbuch f. d. Studium des ntl. Griechisch II), Gütersloh – Berlin 1972. – E. G. Hofmann – H, von Siebenthal, Griechische Grammatik zum Neuen Testament, Riehen 1985. – W. Bauer, Wörterbuch zum Neuen Testament, 1963. – M. Zerwick, Graecitas biblica, Romae 1955. ––– Für neuere Beiträge sei verwiesen auf: K.-H. Menke, Fleisch geworden aus Maria, 1999, wo er einen „Exkurs zur biblischen Pneumatologie“ bringt (206–209). Was dort faktisch gebracht wird, ist in mancher Hinsicht äußerst zweifelhaft. Ausgehend von der hebräischen Wortbedeutung, die äußerst kurz, ja unzureichend ist, geht er auf einige Stellen des AT ein, doch in unverantworteter Verkürzung der Auswahl. Dementsprechend ist auch ganz unzureichend, was er theologisch den Texten entnimmt, um es dann auf die Mariologie anzuwenden. Menke beruft sich u. a. auf F. Hahn, Das biblische Verständnis des Heiligen Geistes. Soteriologische Funktion und ‚Personalität‘ des Heiligen Geistes. In Cl. Heitmann – H. Mühlen (Hrsg.), Erfahrung und Theologie des Heiligen Geistes, Hamburg u. München 1974, 131–147. In diesem letztgenannten Werk sind noch andere biblisch orientierte Beiträge zum theologischen Verständnis der Heiligen Geistes enthalten: H. H. Schmid, Ekstatische und charismatische Geistwirkungen im Alten Testament: 83–100; W. Schmithals, Geisterfahrung als Christuserfahrung: 101–117; H. Schlier, Herkunft, Ankunft und Wirkungen des Heiligen Geistes im Neuen Testament: 118–130. ––– Aus den eben erwähnten Werken seien zwei Beispiel-Texte gebracht, die auf etwas aufmerksam machen, was beachtet sein muß. J. Kremer schreibt u. a.: „Bei der Bestimmung des Sinnes von p. ist zu beachten, daß die geläufige dt. Übersetzung mit Geist oft eine Verstehensbarriere bildet, da im Deutschen damit vielfach die Bedeutung Geist = immaterielles Wesen (Gespenst) oder Geist = Verstand/Vernunft (nou/j) verbunden werden. Außerdem wird p. nicht selten unter dem Einfluß kirchl. Lehre vorschnell als ‚Person‘ aufgefaßt. Um letzterem Mißverständnis vorzubeugen, weichen viele exeget. Schriften von der für feststehende Begriffe angebrachten Großschreibung (Heiliger Geist) ab“ (EWNT 3, 282). Gerade in Bezug auf „Heiliger Geist“, was Kremer als Beispiel bringt, werden wir darauf zu sprechen kommen müssen. Grundsätzlich ist sein Hinweis richtig und folglich Behutsamkeit bei jedem Übersetzen walten zu lassen. – Zu beherzigen ist auch die wichtige Bemerkung die M. Zerwick, Graecitas biblica 51f. (n. 135) anbringt: „Vel si S. Paulus id quod intrinsecus expertus est, cum praedicaret evangelium Thessalonicensibus, describit dicens: ‚nostra ad vos praedicatio non verbis tantum facta est avlla. kai. evn duna,mei kai. evn pneu,mati a`gi,w| kai. ÎevnÐ plhrofori,a| pollh/| … 1 Th 1,5, omissio articuli in evn pneu,mati a`gi,w videtur admonere, Paulum hic non tam de tertia persona divina loqui, quam de Eius actione, de quodam scl. afflatu divino, quem praedicator expertus est et quem apte ponit in una linea cum du,namij et plhrofori,a quae et ipsae sunt ordinis psychologici et divinitus datae“ mit der Anmerkung: „Simile aliquid dicendum est, ubi Lucas loquitur de ‚Spiritu Sancto‘ sine articulo e. g. 1,15.35.41.67; 2,25 (ubi sequitur bis pneuma cum articulo anaphorico v. 26.27) etc“. S. dort auch die Nummern 136 und 137.

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Exkurs 5: pneuma hagion

gnet artikelloses pneu/ma a[gion nur in 1,8 (vgl. Mt 3,11). Mit Artikel steht es in Mk 3,29 (par Mt 12,31 und Lk 12.10.12) und in Mk 12,36 (= Ps 110 (109),3). Da es im Parelleltext Mt 22,43f (Daui.d evn pneu,mati kalei/ auvto.n ku,rion) heißt, dürften beide Stellen den Gottesgeist unspezifiziert ansprechen. Ähnliches dürfte auch für Mk 13,11 gelten. Im LkEv findet sich artikelloses pneu/ma a[gion öfters, vor allem im formelhaften „erfüllt vom heiligen Geist“ (in Lk 1,15; 1,41.67; 2,25–27; 4,1 (da für Jesus). Ähnliches gilt für Lk 3,16 (vgl. Mt 13,11; Mk 1,8), während Lk 11,13 pneu/ma a[gion den Geist als Gabe Gottes meint (Vg sagt: spiritum bonum, als Gabe Gottes). In Lk 2,25–27 wechseln die Formulierungsweisen ab, die doch wohl von demselben sprechen (dort immer in Bezug auf Simeon). Damit ist wohl der Gottesgeist in (noch) nicht spezifizierendem Sinn gemeint. Ähnlich dürfte es in Lk 3,22 zu verstehen sein: su. ei= o` ui`o,j mou o` avgaphto,j( evn soi. euvdo,khsa. Wenngleich hier vom „Sohn“ und damit vom „Vater“ (in „Stimme aus dem Himmel“) die Rede ist, dürfte hier doch der Gottesgeist in unspezifischem Sinne gemeint sein. Offensichtlich ist das ein Beispiel von zahlreichen Stellen im NT, für die (jedenfalls zunächst) offen und daher bedachtsam zu erkennen zu suchen ist, ob ausdrücklich von dem gesprochen wird, was spätere Dogmatik „göttliche Person“ (neben „Vater“ und „Sohn“) nennt, und noch später von „Trintität“ zu reden beginnt. Als Beispiele solchen zunächst recht offenen Sprechens von „Gott“, von Jesus Christus“, von „Geist“ u. ä., die irgendwie auf „Trinität“ vor-zuverweisen angesehen werden können bzw. dann sogar müssen, seien genannt: Joh 4,23f; Lk 10,21; Röm 8,9– 11; 1 Kor 12,3; Phil 3,3; Tit 3,5; 1 Petr 1,2. Für alle diese Stellen gilt, daß sie nur in ihrem eigenen Kontext allein richtig zu erfassen und im dort sich zeigenden Sinn auch offen gelassen bleiben müssen. Da ist an dieser Stelle auch (endlich) auf die im ganzen NT ganz eigenartige Formulierung in Mt 28,19 aufmerksam zu machen. Dort ist die Frage der Artikelsetzung oder des Artikellos-Bleibens wie auch die ungewöhnliche Wortstellung in der Formel zu beachten: bapti,zontej auvtou.j eivj to. o;noma tou/ patro.j kai. tou/ ui`ou/ kai. tou/ a`gi,ou pneu,matoj. Im dritten Glied steht „kai. tou/ a`gi,ou pneu,matoj“, das Adjektiv also zwischen Artikel und Substantiv. Diese seltene Redeweise (welche Bedeutung ihr beizumessen ist, lassen wir hier offen) begegnet neben Mt 28,19 noch in Lk 12,1.12; Apg 1,8; 2,38; 4,41; 9,31; 10,45; 13,4; 16,6; 1 Kor 6,19; 2 Kor 13,13; 1 Joh 5,7. Es ist für den einzelnen Ort zu entscheiden, ob und welche theologische Bedeutung beizumessen ist. Hier sei „nur“ auf das Faktum dieses Sprechen aufmerksam gemacht. Es sei auch auf Stellen hingewiesen, die auf ihre Weise (to.) pneu/ma a[gion als gleichbedeutend mit „Gott“ und dessen „Wirken“ zu sprechen erscheinen (die einzelnen Stellen auszudeuten ist hier nicht der Ort): Mk 13,11; Lk 3,22 (vgl. Mk 1,10; Mt 3,16); Apg 2,23; 2,38; 5,3; 5,32; 7,51; 20,28; 21,11; 28,25; Röm 8,11–17 (mit unterschiedlichen Formulierungen); Eph 1,13. Ausdrücklich als „dritte göttliche Person“ sind oder wären wohl Joh 14,26; 15,26 (?); 16,13 (?); Apg 10,44; 15,8 (?); 20,23 anzusehen. – Eine weitere auffallende Formulierungsweise ist der öfters begegnende Doppelausdruck „pneu/ma a[gion kai. du,namij (qeou/)“ zu nennen. Das ist z. B. nicht unwichtig für das rechte Lesen und Verstehen von Mt 1,18–25 entscheidend. Hier seien folgende Stellen benannt: Zu 609

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Anhang I: Exkurse

Mt 26,64 sagt Frankemölle in seinem Mt-Kommentar: „Biblischen Sprachgebrauch signalisiert das Wort ‚Macht‘ zur Umschreibung Gottes (vgl. Ps 54,3; Jer 16,21), so daß ‚zur Rechten der Macht‘ im Sinne von Ps 110,1 als ‚Sitzen zur Rechten Gottes‘ verstanden werden kann“ (II.465; „Umschreibung Gottes“ ist ein unglückliches Wort für das Verständnis von „Macht“; eher sollte man von „Namen“ sprechen). „Macht“ kann also auch schlicht „Gott“, besser noch: „Jahwe“ heißen! Als dynamis-Stellen seien diese aufgeführt: Lk 5,17 (du,namij kuri,ou); 6,19 (du,namij parV auvtou/ evxh,rceto kai. iva/to pa,ntaj); 8,46 (evgw. ga.r e;gnwn du,namin evxelhluqui/an avpV evmou); 9,1 (sugkalesa,menoj de. tou.j dw,deka e;dwken auvtoi/j du,namin kai. evxousi,an evpi. pa,nta …); 24,49 (e[wj ouevndu,shsqe evx u[youj du,namin); Apg 1,8 (avlla. lh,myesqe du,namin evpelqo,ntoj tou/ a`gi,ou pneu,matoj evfV u`ma/j); 4,7 (evn poi,a| duna,mei h' evn poi,w| ovno,mati evpoih,sate tou/to u`mei/j); 10,38 (VIhsou/n to.n avpo. Nazare,q( w`j e;crisen auvto.n o` qeo.j pneu,mati a`gi,w| kai. duna,mei); Röm 1,16 (du,namij ga.r qeou/ evstin eivj swthri,an panti. tw/| pisteu,onti); Röm 1,20 (h[ te avi