„Die Heimstatt des Historikers sind die Archive.“: Festschrift für Lothar Höbelt [1 ed.] 9783205215653, 9788088304807, 9783205215639

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„Die Heimstatt des Historikers sind die Archive.“: Festschrift für Lothar Höbelt [1 ed.]
 9783205215653, 9788088304807, 9783205215639

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Milan Hlavačka • Johannes Kalwoda • Michael Pammer John Rogister • Luboš Velek (Hg.)

»DIE HEIMSTATT DES HISTORIKERS SIND DIE ARCHIVE.« Festschrift für Lothar Höbelt

Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg Herausgegeben von Robert Kriechbaumer · Franz Schausberger · Hubert Weinberger Band 82

Milan Hlavačka – Johannes Kalwoda – Michael Pammer – John Rogister – Luboš Velek (Hg.)

»Die Heimstatt des Historikers sind die Archive« Festschrift für Lothar Höbelt

Böhlau Verlag Wien · Köln

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 Böhlau, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore  ; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland  ; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen ­Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildungen  : Österreichisches Parlament, Gedenkveranstaltung zum Ende der parlamentarischen Demokratie 1933, Bild ID: 7479010, Aufnahmedatum: 05.03.2018  ; https://www.parlament.gv.at/SERV/FOTO/ VER/795570/7479010.shtml# [7.3.2022]; © Parlamentsdirektion / Johannes Zinner. Korrektorat  : Ute Wieland, Markersdorf Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21565-3 ISBN 978-80-88304-80-7 (Masaryk-Institut und Archiv der Tschechischen Akademie der Wissenschaften)

Inhaltsverzeichnis Vorwort – Allgemeines und Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  13 Milan Hlavačka – Johannes Kalwoda – Michael Pammer – John Rogister – Luboš Velek Lothar Höbelt, Historiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  17

EUROPA IM 18. JAHRHUNDERT T. G. Otte, Norwich Absurdum per totum  ? The Elector Max Franz and Attempts to Re-establish the Electorate of Cologne, 1792–1799.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  37 John R. Young, Glasgow The 1707 Act of Union. Processes, Speeches and Political Actors  : The Scottish Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  51

ÖSTERREICH IN DEN INTERNATIONALEN BEZIEHUNGEN IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT Miloš Řezník, Warschau Galizischer Adel und die habsburgische Diplomatie im frühen 19. Jahrhundert. Graf Felix Mier und andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  65 Helmut Wohnout, Wien Die wechselvollen Beziehungen zwischen den USA und der Habsburgermonarchie bis zum Ersten Weltkrieg. Miszellen aus dem Österreichischen Staatsarchiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  79 Ulrich Lappenküper, Friedrichsruh Otto von Bismarck und Badgastein  : Kuraufenthalte zwischen Krieg und Frieden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  93

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Michael Gehler, Hildesheim Deutsche, italienische und österreichische politische Entwicklungen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . 109 Marc von Knorring, Passau Das künftige »Liebkind der Österreicher« im Juli 1914. Einschätzungen zur Krisendiplomatie des Königreichs Bayern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Dariusz Makiłła, Warsaw The Establishment of the Kingdom of Poland in the Proclamation of the Emperors of Germany and Austria-Hungary of November 5, 1916. . . . . . . . 129 Maddalena Guiotto, Trient Die komplexen und facettenreichen Beziehungen zwischen Italien und Österreich nach dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Luciano Monzali, Bari Mussolini and the First Austrian Republic.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Georges-Henri Soutou, Paris Welches Österreich soll es sein  ? Pariser Ansichten 1914–1955 . . . . . . . . . . 165

DIE HABSBURGER Georg Heilingsetzer, Linz Privatbriefe als Quellen zur Geschichte der Habsburger. Zwei Beispiele aus dem 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Harald Fiedler, Wien Die Gründung der k. k. Kaiserin Maria-Anna Stiftung 1852. . . . . . . . . . . . 191

NATIONALSOZIALISMUS Roman Sandgruber, Linz »In Steyr habe ich Schifahren gelernt«. Adolf Hitlers Steyrer Jahr 1904/05 . . . 205

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Martin Moll, Graz Royals beim Führer. Hitlers Begegnungen mit gekrönten Häuptern im Zweiten Weltkrieg.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

BÖHMISCH-MÄHRISCHE GESCHICHTE Jan Kilián, Hradec Králové/Königgrätz Leander Rüppel von Ruppach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Pavel Marek, Pardubitz Nachklänge des Dreißigjährigen Krieges im Leben von Wenzel Eusebius Popel von Lobkowicz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Milan Hlavačka, Prag Selbstverwaltung des Königreichs Böhmen in den Jahren 1861–1918.. . . . . . 253 Jiří Malíř, Brno/Brünn Staatsrechtliche Vorstellungen der deutsch- und tschechischmährischen Politiker 1848–1918. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Eduard Mikušek, Litoměřice/Leitmeritz Bookseller and Journalist Johann Wilhelm Pohlig . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Luboš Velek, Prag Politik »von begossenen Pudeln«. Eine Episode der deutsch-tschechischen Versöhnungsversuche vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

INNENPOLITIK IN ÖSTERREICH UND ÖSTERREICH-UNGARN Mark Cornwall, Southampton Traitors in Vienna during the 1848 Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Georg Seiderer, Erlangen Das Janusgesicht des Neoabsolutismus (1849/51–1859/60) . . . . . . . . . . . . 319 Catherine Horel, Paris City Politics in Hungary 1880–1914  : Participation and Opposition.. . . . . . . 333

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Franz Schausberger, Salzburg Johann Horbaczewski – der erste Gesundheitsminister in Europa.. . . . . . . . 345 Johannes Kalwoda, Wien–Seibersdorf am Hammerwald Christlichsoziale Vereins- und Agraraktivitäten beim Kärntner Franz Sommeregger (1882–1918) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Robert Kriechbaumer, Salzburg Die Österreichische Revolution 1918/20. Die Sicht der (Salzburger) Provinz .. 369 Andreas Khol, Wien Die FPÖ und der österreichische Verfassungsbogen . . . . . . . . . . . . . . . . 383

DEUTSCHLAND UND EUROPA Marino Freschi, Rom Die zwei Reden des Thomas Mann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Cristiana Senigaglia, München Friedrich Naumann, Max Weber und das Mitteleuropaprojekt . . . . . . . . . . 413 Frank-Lothar Kroll, Chemnitz Die europäische Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425

PARLAMENTARISMUS Mario Di Napoli, Rome The Presidents of the Neapolitan Parliament (1820–1821) . . . . . . . . . . . . 435 Werner Drobesch, Klagenfurt Politisches »Netzwerken«  : die Verknüpfung von Partei, Vereinskultur und Mandat in Kärnten, 1867–1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Petr Valenta, Prag Im Dienste der deutschen liberalen Politik. Richard Dotzauer im Böhmischen Landtag (1861–1883). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453

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Christian Neschwara, Wien »Die Schönerianer und der Abgeordnete Löcker«. Eine Episode aus der Geschichte des allgemeinen Wahlrechts in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . 463 Michael Pammer, Linz Not so Fragmented  : The Party System in the Last Parliamentary Election of Imperial Austria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Roland Kleinhenz, Erfurt Der Reichsrat von Österreich und die Kriegsführung Österreich-Ungarns im Jahre 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491

RECHTSGESCHICHTE Stefan Wedrac, Wien Das Völkerrecht und die Bombardierung von Städten aus der Luft im Ersten Weltkrieg.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 Hans-Christof Kraus, Passau Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung als historisches Problem . . . . 517 Thomas Simon, Wien »Christlich« – »deutsch« – »ständisch«. Zur Leitidee des »Ständischen« in der österreichischen »Maiverfassung von 1934 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Estevão de Rezende Martins, Brasilia Rechtsstaatlichkeit und formale Befugnisse. Legislative, Exekutive und Judikative  : Perspektiven im 21. Jahrhundert aus der Sicht brasilianischer Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543

WIRTSCHAFTSGESCHICHTE Bogusław Dybaś, Toruń/Thorn Ein Konzept für den Bau einer Waffenmanufaktur im Großfürstentum Litauen im Jahr 1670 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557

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Jürgen Angelow, Potsdam »Zu früh« und »genau richtig«. Deutsch-karibische Kaffeenetzwerke im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 Wilhelm Brauneder, Wien–Budapest Strom contra Kohle. Beginn der Vollbahnelektrifizierung in Österreich . . . . . 575

MILITÄRGESCHICHTE Erwin A. Schmidl, Wien Ein Wanderer zwischen den Welten. Johann Friedrich Löffler in österreichischen, niederländischen und britischen Diensten, 1787 bis 1819 . . . 587 Robert Rebitsch, Stans–Innsbruck Alfred T. Mahan und die Englisch-Niederländischen Seekriege. . . . . . . . . . 601 Rudolf Jeřábek, Wien Die Decknamen der Truppenverbände und höheren Kommanden der österreichisch-ungarischen Streitkräfte 1914–1918. . . . . . . . . . . . . . . . . 613 Peter Fitl, Öblarn Lublin – Kragujevac. Manipulierte milde und harsche Militärjustiz nach den Heimkehrermeutereien im Frühjahr 1918.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633

GESCHICHTE VON SCHULE UND UNIVERSITÄT John W. Boyer, Chicago The Universities as Realms of Political Discourse. Student Protests and Party Politics in Imperial Austria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 Zdeňka Stoklásková, Brünn Die Emanzipation der tschechischen Sprache an der Karl-FerdinandsUniversität in Prag 1850–1882 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 661 Josef Leidenfrost, Wien Von Ex-cathedra-Universitäten zu Helikopter-Unis. Beobachtungen zum hochschulischen Kulturwandel seit den 1960ern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677

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Johannes Schönner, Wien–Klosterneuburg Scheitern auf hohem Niveau. Erkenntnisse zur Schul- und Bildungspolitik von 1970 bis 1985 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691

IDENTITÄTEN UND ERINNERUNGSKULTUR Bertrand Michael Buchmann, Wien Das Traugemundslied – eine Rätselballade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707 Reinhard Rudolf Heinisch, Salzburg Das Werden des deutschen Nationalgefühls.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721 Jenny Öhman, Uddevalla Schwedische Spuren in Wien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735 Alma Hannig – Christopher Brennan, Bonn – Wien “I was always prouder of the fact that I had a good career in the civil service with this name and in spite of this name …” Jews in Governmental Politics and Diplomacy in Germany and Austria-Hungary . . . . . . . . . . . . . . . . . 743 Viktor Velek, Třebíč “Servus Březina  !”, or On the History of a Viennese Anti-Czech Hetz.. . . . . . 761 Robert Rill, Wien Heinrich Drimmel als konservativer Denker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777 Arnold Suppan, Wien Rijeka/Fiume – Europäische Kulturhauptstadt 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . 789 Emil Brix, Wien Erinnerungspolitik in Putins Russland.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 797

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ANHANG Johannes Kalwoda Werkverzeichnis von Lothar Höbelt (Auswahl). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 Autoren und Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839 Bildnachweis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 855 Unterstützer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 856

Vorwort – Allgemeines und Danksagung Lothar Höbelt hat am 30. Juni 2021 sein 65. Lebensjahr vollendet und ist daher mit Ende des Studienjahres 2020/21 in den Ruhestand getreten. Diese Festschrift wurde aus diesem Anlass geplant und verwirklicht. Man könnte jetzt lapidar feststellen, dass ein Blick in das Werkverzeichnis am Ende des Bandes genügt (der Blick müsste freilich, umfangbedingt, etwas länger ausfallen), um eine Festschrift für den Jubilar zu rechtfertigen, dann könnte man das Vorwort hier abschließen und zur Lektüre der Beiträge übergehen. Die Herausgeber wollen aber nicht darauf verzichten, Lothar Höbelt als Wissenschaftler, als zoon politikon und als Mensch etwas greifbarer zu machen. Zunächst ist es den Herausgebern aber ein großes Bedürfnis, mehrfach ein großes Danke auszusprechen, denn dieses Werk wäre nie ohne die Hilfe von teils unerwarteter Seite zustande gekommen. Stellvertretend für viele andere Personen sei hier Lothar Höbelts Frau Šárka Höbeltová genannt (wie gut, dass sie zwei E-Mail-Adressen hat). Am Beginn gab es einen Anstoß aus dem Autorenkreis mit der sinngemäßen Aufforderung  : »Bei diesem wissenschaftlichen Kapazunder muss man doch etwas machen, wenn schon die Uni nichts macht.« Die Suche nach Herausgebern, vor allem aber die nach einem Verlag gestaltete sich weniger einfach, als ursprünglich zu vermuten war. Nicht beiseiteschieben konnten die Herausgeber Bedenken etlicher österreichischer und deutscher Verlage. Deshalb ist insbesondere Franz Schausberger und Robert Kriechbaumer, Präsident und Vorstand des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr. Wilfried-Haslauer-Bibliothek in Salzburg, für das Zustandekommen des Werkes sehr herzlich zu danken. Sie haben sich bereit erklärt, den Band in die Schriftenreihe des Forschungsinstitutes aufzunehmen, und stellten sich damit der verlegerischen Cancel Culture entgegen. Eine Festschrift ohne Autoren ergibt keine Festschrift. Den Autoren sei nicht nur für die wissenschaftlichen Beiträge gedankt, sondern auch für die vielen unverzichtbaren Hinweise und Hilfestellungen, ohne die das Werk das Licht der Welt nicht erblickt hätte, und selbstverständlich für die reibungslose Abwicklung und die Disziplin bei der Einhaltung von Terminen. Eine Festschrift ohne Finanzierung ergibt auch keine Festschrift. Deshalb ergeht ein vielfacher und großer Dank für die Finanzierung dieses Mammutprojekts • an das Churchill Project Berlin 2019, bestehend aus 0 Burkhardt Otto, 0 Dr. Stephan Melcop,

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Vorwort – Allgemeines und Danksagung

0 Dr. Hans-Hermann Ponitz, 0 Dr. Klaus Halbhübner, 0 Dr. Volker Laute und 0 Dr. Detlef Meier, • an Landeshauptmann-Stellvertreter Dr. Manfred Haimbuchner und die Freiheitliche Partei Österreichs, Landesgruppe Oberösterreich, • an Bürgermeister Dr. Andreas Rabl, • an den österreichischen Vizekanzler und Finanzminister a.D. Dr. Hannes A ­ ndrosch und die AIC Androsch International Management Consulting GmbH, • an das Masaryk-Institut und Archiv der Tschechischen Akademie der Wissenschaften (Masarykův ústav a Archiv Akademie věd České republiky, v. v. i.), • an das Historische Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften (Historický ústav Akademie věd České republiky, v. v. i.) und • an die Vereinigung der Österreichischen Industrie (Industriellenvereinigung). Ein herzliches Vergelt’s Gott sprechen wir auch gegenüber den Begutachtern der Festschrift aus, den Professoren Ernst Bruckmüller, Pieter M. Judson und Andrej Rahten, die uns wertvolle Hinweise geliefert haben. Um Nachsicht bitten wir in mehrfacher Hinsicht, und zwar diejenigen Historiker, die mitschreiben wollten, denen wir allerdings eine zu kurze Abgabefrist gestellt haben, weiters potentielle Autoren, die wir aus Unkenntnis oder aber mangelnder Vorbereitung übersehen haben, schließlich auch diejenigen Historiker, die dem Jubilar auf einer tabula gratulatoria ein Danke oder ein Ad-multos-Annos sagen wollten und dies hier nicht tun können. Als Entschuldigungsgrund möge bitte hingenommen werden, dass die Herausgeber über keinen wissenschaftlichen Apparat verfügen und auch kein unterstützendes Sekretariat hinter sich hatten. Milan Hlavačka – Johannes Kalwoda – Michael Pammer – John Rogister – Luboš Velek Prag – Wien – Linz – Durham im Juni 2022

Abb. 1 und 2  : Lothar Höbelt in Gedanken versunken und fast privat.

Milan Hlavačka – Johannes Kalwoda – Michael Pammer – John Rogister – Luboš Velek*

Lothar Höbelt, Historiker »Die eigentliche Heimstatt des Historikers sind weder das Internet noch die akademischen Gremien, sondern die Archive.« (Loth ar Höbelt, Von Nördlingen bis Jankau, 11)

1. Einleitung Lothar Höbelt genießt in der österreichischen Öffentlichkeit eine gewisse Bekanntheit auch über den akademischen Bereich hinaus. Dies liegt weniger daran, dass manche, wenn auch nicht alle seiner Bücher auch Leser ansprechen, die selbst wenig mit Geschichte zu tun haben. Tatsächlich dürften die meisten, die eine Meinung über Höbelt haben und äußern, nie irgendetwas von ihm gelesen haben. Seine Bekanntheit hat zu einem erheblichen Teil politische Gründe. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb sollte eine Würdigung seiner Person mit seiner Tätigkeit als Historiker beginnen, denn sein historiographisches Werk hat mit aktueller Parteipolitik und überhaupt mit aktueller Politik wenig zu tun. Diese weitgehende Autonomie seiner Tätigkeit als Historiker im Verhältnis zu seinen politischen Aktivitäten wurde bis heute von seinen Kritikern nicht zur Kenntnis genommen, was nur zum kleineren Teil Absicht und zum größeren Teil ein Ergebnis von Ahnungslosigkeit gewesen sein wird. In den Online-Foren – Höbelt ist der online meistdiskutierte Historiker in Österreich, mit Tausenden von Einträgen – wird wenig über Höbelts Arbeit gesprochen, und wenn doch, dann so gut wie immer in vollkommener Unkenntnis seines Œuvres.1 Der politisch agitierte Zeitgenosse beschäftigt sich in der Regel nicht mit Fachliteratur zum 17., zum 19. und zum 20./21. Jahrhundert.

* In diese Würdigung ist eine Reihe von Äußerungen der Beiträger zu diesem Band eingeflossen, die teilweise ähnlich ausgefallen sind. Sie werden nicht im Einzelnen ausgewiesen. Verweise auf das Werkverzeichnis von Lothar Höbelt, das sich im Anhang der Festschrift befindet, werden in den Fußnoten in Form von Nummern mit schließender Klammer angegeben, die Art der Literatur in Form einer Abkürzung. 1 So gibt es allein 2444 Postings zum Beitrag Videodebatte Höbelt – Chalendi  : »Sie gehen bei RechtsextremenTagungen ein und aus  !«, in  : Der Standard, 21.1.2020, https://www.derstandard.at/story/2000113530780/ schlacht-ums-ns-gedenken-wie-politisch-darf-die-uni-sein [8.2.2022]. Die Diskussion zwischen Lothar Höbelt und der ÖH-Vorsitzenden Jasmin Chalendi ist auch nachzusehen unter https://www.you tube.com/watch?v=Up8qCUl8ifI [8.2.2022].

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Milan Hlavačka – Johannes Kalwoda – Michael Pammer – John Rogister – Luboš Velek

Diese drei Jahrhunderte muss man deshalb nennen, weil Höbelt von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart tatsächlich jeweils substanzielle Beiträge geliefert hat. Die zeitliche Spannbreite ist der erste auffällige Punkt an seinem Werk. Der zweite ist die thematische Breite  : Höbelt schreibt viel über Politik, über internationale Beziehungen, Militär, Parteien, Wahlen, Nationalitäten, auch über Adel und Dynastiegeschichte, und greift dabei immer wieder Themen auf, die in der Literatur bis dahin wenig beachtet worden sind. Der dritte Punkt ist seine vorbildliche Quellenarbeit in einer Vielzahl von europäischen Archiven (oft erstmals von ihm erschlossene Privatarchive) und mit der Nutzung vielfältiger nichtarchivalischer Quellen. Lothar Höbelts Forschung ist nicht von ideengeschichtlichen oder theoretischen Zugängen geleitet, auch ist ihm ausführliches methodologisches Räsonnement fremd. Sein Zugang ist simpel, aber wesentlich, denn er will laut Eigendefinition Grundlagen aufbauen. Er schreibt »Ereignisgeschichte« auf Basis einer Methode, die man »heutzutage fast nur mehr verschämt zu nennen« wage, weil sie auf dem »Versuch einer möglichst quellennahen Rekonstruktion« beruhe. Grundlagenforschung zu betreiben und Lücken zu schließen sei aber weiterhin nötig, um nicht zu falschen Synthesen oder fehlerhaften Überblicksdarstellungen zu kommen.2

2. Literarisches Schaffen Höbelt begann seine wissenschaftliche Laufbahn 1981 als Zeithistoriker mit einer Dissertation bei Heinrich Lutz und Adam Wandruszka über die britische Appeasement-Politik in den späten dreißiger Jahren. Darin ging er unter anderem den Gründen nach, warum die britische Politik gegenüber Deutschland in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, geprägt von Entspannung und Abschreckung durch Nachrüstung, gescheitert ist. Promoviert wurde Höbelt sub auspiciis praesidentis rei publicae.3 Er war dann Assistent bei Lutz bis zu dessen Tod 1986 und publizierte auch weiterhin und bis heute über politikgeschichtliche und allgemeinhistorische Themen des 20. Jahrhunderts, nun überwiegend zur österreichischen Geschichte. Die Reihe seiner Monographien und Herausgeberschaften in diesem Gebiet begann mit einer kürzeren Studie über Bundespräsidentenwahlen und einer Festschrift als Co-Autor für den Außenminister und Botschafter Karl Gruber.4 Die Memoiren des ÖGB-Präsidenten und Innenministers Franz Olah, an deren Erscheinen er wesentlichen Anteil trug, sind wohl das augenfälligste Zeichen für sein Arbeiten mit Zeitzeugen.5 Später 2 3 4 5

Werkverzeichnis M. 15), 7f. Werkverzeichnis M. 1), 366 und M. 1a). Werkverzeichnis M. 2)  ; H.  1). Fr a nz Ol a h, Die Erinnerungen, Wien–München–Berlin, 1995, 12. Bei diesen Memoiren hat Hö-

Lothar Höbelt, Historiker

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(1999) folgte ein Buch, Von der vierten Partei zur dritten Kraft, über den Verband der Unabhängigen, der in der Parteienlandschaft der Struktur nach eine »Ausnahmeerscheinung« dargestellt habe, weil er eine »Kopfgeburt« gewesen sei, »ohne Bodenhaftung, mit Landesobmännern, die von oben ernannt wurden und erst langsam eine Organisation aufbauten«.6 Die »historische Leistung« des VdU sei gewesen, nicht nur »teilweise« die »alten Eliten des nationalen Lagers« zu integrieren, sondern den Wirtschaftskurs der ÖVP mit dem Raab-Kamitz-Kurs »teilweise« zu liberalisieren. Dieses Buch sollte »zu weiteren Forschungen anregen«. Höbelt lieferte selbst nachträglich ein solches Buch (2015), das schwer zugängliche »Briefe und Protokolle aus privaten Nachlässen« zum »Aufstieg und Fall des VdU« enthielt,7 und, aktualistisch, ein weiteres über den Aufstieg der FPÖ sowie eine kritische Studie über Jörg Haider.8 Letzteres Werk sei in erster Linie kein Buch über »the media bubble that has briefly made a household name of a provincial politician, but rather about the politics of the country where he [Haider] operates. It is about debunking the Haider myth.« Das Buch »wants to put Haider in perspective by putting him into the context where he belongs, that of hum-drum Austrian politics«, und sei keine psychologische Biographie, interessiere sich deshalb auch nicht für den sogenannten ›echten Haider‹, »the man inside, including bedroom secrets and psychological hang-ups.«9 Die beiden zuletzt genannten Werke enthalten zeitgeschichtlich-gegenwartsbezogene Analysen, die ebenfalls nichts mit Parteipolitik zu tun haben. In diese Kategorie fällt auch eine Reihe von Aufsätzen, die in einem um Überparteilichkeit und Sachlichkeit bemühten österreichischen Periodikum einer Partei erschienen sind.10 Nebenbei sei bemerkt, knapp ein Fünftel von Höbelts Werken ist in englischer Sprache verfasst.11

belt »nach den Tonbandaufzeichnungen formuliert«, winzige Recherchen angestellt, »aber inhaltlich nichts hinzugefügt,« allenfalls weitere Informationen durch Nachfragen aus Olah herausgeholt  ; Schrei­ben Höbelts vom 8.2.2022 an einen Herausgeber.  6 Werkverzeichnis M. 6)  ; H.  8), 7.  7 Werkverzeichnis M. 6), 7f.; H. 8).  8 Werkverzeichnis H. 5)  ; M.  7). Zum VdU wurden auch tatsächlich weitere Forschungen angestellt (siehe hiezu jüngere Literatur von Höbelt), sie führte in weiterer Folge zu einer Historikerauseinandersetzung  : Siehe Loth a r Höbelt, Rezension zu  : Reiter, Margit  : Die Ehemaligen. Der Nationalsozialismus und die Anfänge der FPÖ. Göttingen 2019, in  : H-Soz-Kult, 4.6.2020, www.hsozkult.de/publication review/id/reb-28569 [11.2.2022].  9 Werkverzeichnis M. 7), XIVf. 10 Verwiesen sei beispielsweise auf die unregelmäßig im Österreichischen Jahrbuch für Politik erschienenen Beiträge ab dem Band 1991  : Werkverzeichnis A.  40)  ; A.  77)  ; A.  92)  ; A.  105)  ; A.  112)  ; A.  167)  ; A.  216)  ; A.  269)  ; A.  306)  ; A.  331). In diesem Periodikum analysieren renommierte Wissenschaftler »jährlich das politische und volkswirtschaftliche Geschehen in Österreich.« https://politische-akademie.at/de/jahrbuch [13.2.2022]. 11 Neben Werkverzeichnis M. 7) siehe die zwischen A. 8) und A. 336) vermerkten Aufsätze.

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In den letzten Jahren legte er weitere grundlegende Bücher zur österreichischen Zeitgeschichte vor  : In einem Band über die Heimwehren war sein Ziel, »eine möglichst präzise Verortung der Heimwehren in der politischen Szenerie der österreichischen Zwischenkriegszeit« vorzunehmen, die eine Geschichte »einer wechselseitigen Instrumentalisierung zwischen den bürgerlichen Parteien und den Wehrverbänden« war, »die einmal parallele Wege einschlugen, um dann wieder auf Kollisionskurs zu segeln«, wobei es weniger um Ideologie als um »wechselnde taktische Konstellationen« gegangen sei.12 Es folgte ein weiterer Band zur Geschichte der Ersten Republik, in der Höbelt ein »Provisorium« sieht, »das den Charakter des unfertig-behelfsmäßigen nie ganz hinter sich« gelassen habe.13 Aufgrund seiner jüngsten Edition (»Klubprotokolle der Christlichsozialen und Großdeutschen 1918/19«) kommt er zum Ergebnis, die Große Koalition von 1919/20 aus Christlichsozialen und Sozial­ demokraten sei eine »nicht auf Dauer angelegte Partnerschaft«, auch keine »Vernunftehe« gewesen, die dann 1920 »tragischerweise in die Brüche« gegangen sei, sondern es habe sich um eine »Zwangsgenossenschaft« gehandelt, »die nur für eine knapp bemessene Zeit als erträglich betrachtet« worden sei. Diese Phase österreichischer Geschichte bezeichnet er pointiert als »Übergang vom Provisorium zum Provisorium«.14 Im Erscheinen befindet sich ein Buch über das Regierungsjahr 1922 des sogenannten Bürgerblocks unter dem österreichischen Richelieu Bundeskanzler Ignaz Seipel.15 Schließlich erschien ein Band zur Geschichte der Zweiten Republik. Hierin ging es ihm darum, »anhand von Primärquellen die Besonderheiten« der »Zweiten Republik zu beleuchten, die sie von den Entwicklungen im restlichen (West-)Europa unterscheiden  : den neutralen Status, die spezifische Problematik von ›Entnazifizierung‹ und Restitution, die Verstaatlichte und die Sozialpartnerschaft, das alles vor dem Hintergrund der Parteien, die kaum anderswo eine so allgegenwärtige Rolle gespielt haben.« Reizvoll war für ihn hiebei auch »die Gegenüberstellung der schriftlichen Überlieferung mit der Erinnerung der Zeitzeugen, die wohlgemerkt beide einer quellenkritischen Würdigung bedürfen  : Unser Gedächtnis spielt uns manchen Streich – doch auch manche Protokolle werden nachträglich geschönt, stellen immer nur einen Ausschnitt dar.«16 Dazu kam eine Vielzahl von Aufsätzen zu diesen und verwandten Themen. Die Zeitgeschichte ist also eine Konstante in seinem Werk. Dem 19. Jahrhundert gehörte allerdings seine erste Publikation (aus dem Jahr 1982) in Form eines Aufsatzes zu einem außenpolitischen Thema (»Österreich-Ungarn und das Deutsche 12 Werkverzeichnis M. 14), 9. 13 Werkverzeichnis M. 16), 11. 14 Werkverzeichnis H. 15)  ; A. 329), 56  ; vgl. auch 31 ff., 45 ff. 15 Werkverzeichnis M. 18). 16 Werkverzeichnis M. 17), 8, 7.

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Reich als Zweibundpartner«).17 Die nächste Wegmarke war die 1990 eingereichte Habilitationsschrift über die deutschfreiheitlichen Parteien in Cisleithanien.18 Bereits im Vorfeld waren einzelne Aufsätze aus diesem Gebiet erschienen,19 weitere folgten. Höbelt ist seither einer der maßgeblichen Fachleute für die Geschichte des Parlamentarismus und des Parteiensystems und generell des politischen Systems in Österreich mindestens in der Zeit nach dem Ausgleich. Er lieferte demgemäß auch umfangreiche einschlägige Beiträge zum Langzeitprojekt Die Habsburgermonarchie 1848–1918 der Österreichischen Akademie der Wissenschaften  : zur Marine, zur Handelspolitik der Monarchie mit Deutschland, zu den Parteien und Fraktionen im Reichsrat, zur deutschen Presselandschaft, zur Außenpolitik der Monarchie im Ersten Weltkrieg und zur deutschnationalen Bewegung in Österreich.20 Bald nach der Habilitation folgten die Edition der Erinnerungen Anton von Schmerlings und ein Buch über die Revolution 1848.21 War er hier vor allem der deutschliberalen zentralistischen politischen Strömung in Cisleithanien zugewandt, richtete er wenig später sein Augenmerk den Konservativen in Österreich zu,22 was in der Herausgabe der Tagebücher des Egbert Belcredi gipfelte. Belcredi, Bruder des Ministerpräsidenten Richard, war ein nur radebrechend Tschechisch sprechender, tschechisch-katholisch-konservative Strömungen unterstützender mährischer konservativer Großgrundbesitzer.23 Das Buch über 1848, weitere Studien und Heraus­ gebertätigkeiten untersuchten das Beziehungsgeflecht Österreichs innerhalb des Deutschen Bundes und ihre Rückwirkungen auf die Monarchie.24 2009 erschien ein Buch mit dem Titel Franz Joseph I., keine Biographie, sondern eine »Skizze der politischen Geschichte« Österreichs zu jener Zeit, worin er der Frage nachging, wie das Reich (auch aus Sicht des Monarchen) funktionierte, wie man mit Herausforderungen umging, wie man »immer wieder ein Problem benützte, um ein anderes zu relativieren.«25 In ihrer essayistischen Form ist diese Skizze eher ungewöhnlich, wenn auch nicht einzigartig in Höbelts Werk. Der im Jahr 2015 erschienene Band über die österreichische Politik im Ersten Weltkrieg beruht, so wie die meisten seiner Arbeiten, auf umfangreichen Quellenstudien und steht im Kontext zahlreicher Einzelstudien über militärhistorische Themen 17 Werkverzeichnis A. 1). Höbelts Dissertation erschien erst im darauffolgenden Jahr 1983 im Druck  ; M. 1a). 18 Werkverzeichnis M. 3) und M. 3a). 19 Siehe hiezu die einschlägigen Aufsätze im Werkverzeichnis ab dem Jahr 1985. 20 Werkverzeichnis A. 14)  ; A.  39)  ; A.  81)  ; A.  125)  ; A.  253)  ; A.  326). 21 Werkverzeichnis H. 2)  ; H.  2a)  ; M.  5). 22 Werkverzeichnis u. a. A. 45)  ; A.  75)  ; A. 80)  ; A.  99)  ; A.  83)  ; A.  260)  ; A.  250)  ; A.  185). 23 Werkverzeichnis H. 11). 24 Werkverzeichnis M. 5)  ; weiters u. a. H. 13)  ; A  271  ; A.  272)  ; A.  251)  ; A.  142). 25 Werkverzeichnis M. 11), VII.

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und die politische Geschichte des Weltkriegs und der Jahre davor, auch in Verbindung mit Aspekten der österreichischen Innen- und Verfassungspolitik jener Zeit. Darin bemühte er sich, die Geschichte des Krieges nicht vom Ende her zu erzählen, und widerspricht deshalb der weit verbreiteten Lesart, Österreich-Ungarn sei von Anfang des Krieges an dem Untergang geweiht gewesen, denn der Krieg sei gerade in Bezug auf Österreich-Ungarn »von überraschenden Wendungen« erfüllt gewesen, von »Wendungen, die wieder und wieder alle Vorhersagen der Experten widerlegten.« Es ging ihm darum, »das vielfach aus den Extremen von Wehleidigkeit und Selbstanklagen zusammengesetzte Bild der gängigen Überlieferung zu korrigieren«. Politik sei die »Kunst des Möglichen«, deshalb hätte »das Gros der Beteiligten eine ›Politik der zwei Eisen im Feuer‹« verfolgt, »[s]olange der Ausgang des Krieges unsicher« gewesen sei. Darüber hinaus habe Deutschland den Krieg zwar militärisch verloren, aufgrund der Etablierung neuer Staaten an seiner Ostgrenze aber strategisch gewonnen.26 Zeitgleich brachte er zum Thema Erster Weltkrieg Sammelbände heraus, einen, der das Wirken der europäischen Parlamente beleuchtete, zwei weitere mit Jean-Paul Bled, die unterschiedliche Aspekte der beiden ersten Kriegsjahre berührten.27 Die Beschäftigung mit dem 17. Jahrhundert, dabei auch ins vorangegangene Jahrhundert zurückgreifend, begann er bereits vor seiner Habilitation, zunächst in Aufsatzform, beispielsweise zur Diplomatiegeschichte,28 dann mit einem Schwerpunkt auf der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs. 2008 publizierte Höbelt ein Buch über Ferdinand III., ebenfalls keine typische Biographie, sondern eine allgemeinere politische Geschichte, die aufgrund ihrer Bedeutung 2015 eine Übersetzung ins Tschechische erfuhr. Mit Ferdinand III. widmet er sich einem bis dahin weitgehend »vergessenen Kaiser«, der »keine extravaganten Marotten« hatte, und seiner Zeit, für die Ferdinand III. »[v]ielleicht« »zu brav« war. Höbelt interessiert an dieser Gestalt, die vordergründig »so passive Rolle für zwei Jahrzehnte europäischer Geschichte, die sich über Mangel an ›Action‹ nicht zu beklagen haben, ein wenig zu ›hinterfragen‹«. Eines der Forschungsergebnisse war, die Bedeutung des Westfälischen Friedens im Zeitkontext »ein wenig« zu relativieren.29 In seiner eigenen Formulierung als »Fußnote« dazu erschien 2016 ein umfangreicher Band über die kaiserliche Strategie und

26 Werkverzeichnis M. 13), 7f., 272f., auch 91f. 27 Werkverzeichnis H. 9)  ; H.  7)  ; H.  10). 28 Werkverzeichnis u. a. A. 29)  ; A.  34)  ; A.  60). 29 Werkverzeichnis M. 9), 9–11, 307–309  ; M. 9a). Für die Benützung der Vatikanischen Archive bedankte sich Höbelt in der Widmung im Belegexemplar als »papsttreuer Lutheraner« bei Papst Benedikt XVI., woraufhin Letzterer eines seiner Bücher mit Widmung Höbelt zusandte. Kitchen Talk bei Alexander Stipsits mit Lothar Höbelt  : Wie rechts sind Eigenverantwortung und Liberalismus  ?, 13.7.2018, https://www. youtube.com/watch?v=5_JfjVqJlKU [6.2.2022]  ; auch unter Kitchen Talk bei Alexander Stipsits mit Lothar Höbelt, Folge vom 10.5.2019, https://www.okto.tv/de/oktothek/episode/22048 [6.2.2022].

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Kriegführung 1634 bis 1645.30 Beide Bände beruhen auf intensiven in- und ausländischen Archivstudien, gehen über den gegebenen Forschungsstand ganz wesentlich hinaus und schließen mit der Analyse der zweiten Hälfte des Dreißigjährigen Krieges eine Lücke in der Geschichtsschreibung.31 Etliche Aufsätze, nicht so zahlreich wie bei den anderen Epochen, gehören ebenfalls in diesen Kontext. Neben solchen Spezialuntersuchungen verfasste Höbelt auch historische Längsschnitte, um Geschichtswissenschaft nicht nur für den Elfenbeinturm zu betreiben. So war er für die Herausgabe von Studien zum Verhältnis zwischen dem Heiligen Römischen Reich und Österreich maßgeblich verantwortlich.32 Die Geschichte der Habsburger und ihrer Politik skizzierte er in einer Monographie auf 178 Seiten, worin er zwar »keine enzyklopädische Vollständigkeit« anstrebte, aber trachtete, Querverbindungen anzudeuten, Wesentliches und bezeichnende Details hervorzuheben, »Bekanntes ins Gedächtnis« zurückzurufen »und hie und da vielleicht doch Überraschungen« hervorzurufen.33 Auch wenn sich Höbelt nicht zur »erlauchten Gilde der Bohemisten« zählt, so ist es jedenfalls Ausdruck seiner Zuneigung zu seiner neuen Heimat Tschechien, eine »kleine Geschichte Böhmens« der letzten 1000 Jahre mit dem »Blick von außen« geschrieben zu haben.34 Obwohl sich die meisten Arbeiten Höbelts ganz oder zumindest in manchen Aspekten mit der österreichischen und mitteleuropäischen Geschichte beschäftigen, werden von Kollegen sein Interesse und seine Beschäftigung mit anderen Ländern hervorgehoben. In seiner Lehre zeigt sich dies in Überblicksveranstaltungen über die europäische Geschichte oder die neuere Geschichte überhaupt, von der europäischen Expansion bis zu Revolutionen, in Vorlesungen und Seminaren über Großbritannien, Italien und immer wieder über die Vereinigten Staaten von Amerika.35 Vereinsmeierei war nie Höbelts Sache, trotzdem gehört er vielen Vereinigungen und Kommissionen an, für die stellvertretend bloß die »International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions«, für die er 2014 eine ausgezeichnete Konferenz in Wien organisierte, und die »Vereinigung für Verfassungsgeschichte« genannt seien. 30 Werkverzeichnis M. 15). 31 Ein Kenner der Materie urteilt über die Monographie »Von Nördlingen bis Jankau«, Höbelt habe »in einer bis dato nicht vorgebrachten politischen und militärischen Tiefenschärfe« die zweite Hälfte des Dreißigjährigen Krieges analysiert. Robert R ebitsch, Zum Gedenkjahr. Der Dreißigjährige Krieg in neuen Darstellungen, in  : H  14), 223–239, hier  : 226. 32 Werkverzeichnis H. 4). 33 Werkverzeichnis M. 10) und M. 10a), 5. 34 Werkverzeichnis M. 12), 7, 9. 35 Zur Lehre siehe das digitale Vorlesungsverzeichnis der Wiener Universität, das vom Wintersemester 1994 bis zum Sommersemester 2021 reicht  : https://ufind.univie.ac.at/de/person.html?id=1668& teaching=true [13.2.2022].

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3. Tätigkeit als akademischer Lehrer Als akademischer Lehrer arbeitete Höbelt unter besonderen Bedingungen  : »Im Lehrplan werden Höbelts Veranstaltungen seit Jahren so positioniert, dass kein Geschichtsstudent sie pflichtgemäß besuchen muss.«36 Freilich konnte man sich Lehrveranstaltungen im Rahmen von Wahlfächern und Schwerpunktsetzungen anrechnen lassen, und es kann auch ein Vorteil sein, wenn die Teilnehmer nicht nur pflichtgemäß kommen. Im Fall Höbelts schadete die listige Lehrveranstaltungsplanung nicht, denn seine Vorlesungen und Seminare waren gut besucht,37 und er hatte eine ganze Reihe von Diplomanden und Dissertanten. In der Betreuung von Abschlussarbeiten war er nicht sonderlich direktiv und ließ die Studenten über weite Strecken autonom arbeiten, war aber auf Anforderung prompt verfügbar und auch hilfreich bei der anschließenden Publikation. Ein solcher Betreuungsstil funktioniert nur bei guten Studenten gut, und entsprechend reicht, so die Einschätzung von nahen Beobachtern, das Spektrum der bei Höbelt geschriebenen Arbeiten von hervorragenden Ergebnissen bis zu schwachen Elaboraten, sicherlich nichts Ungewöhnliches. Von seinen Hörern wird sein Vortragsstil hervorgehoben  : Vollkommen frei, in verständlicher Darstellung und ohne dass er Probleme gehabt hätte, weitere und auch weiter wegführende Fragen aus dem Auditorium zu beantworten.38 Höbelts Anliegen, so eine Charakterisierung durch einen seiner Hörer, bestehe darin, »Kausalitätsstränge herauszuarbeiten, die historische Entwicklungen überhaupt erst darstellbar machen«, wobei er diese Herangehensweise »konsequenterweise auch bei belasteten Perioden der Geschichte wie der Nazizeit und deren Aufarbeitung« wähle. Seinem »nüchternen Verständnis von Wissenschaftlichkeit« widerspreche es deshalb, Betroffenheit zu bekunden.39 Hervorzuheben ist seine Neigung zu pointierter, mitunter provozierender Formulierung, die auch in seinen Publikationen erkennbar ist, sich beim freien Vortrag aber noch stärker bemerkbar macht. Provokant zu formulieren sei für ihn eine Notwendigkeit, wenn knapp zu formulieren sei, worin er aber keinen Nachteil sehe, 36 Theo A nders, Lothar Höbelt, Professor Einzelfall, in  : Der Standard, 22.1.2020, https://www.derstan dard.at/story/2000113531274/lothar-hoebelt-professor-einzelfall [3.2.2022]. 37 Institu tsgruppe Geschichte, Wer ist Lothar Höbelt  ?, https://strv-geschichte.univie.ac.at/beratung/lehrende/lothar-hoebelt/ [4.2.2022]. 38 Zur freien Rede in deutscher und englischer Sprache vgl. beispielsweise  : 1919  : The Politics of the Peacemaking. Lenin and World Revolution, Konferenz der Diplomatischen Akademie Wien, 23.10.2019, https://­www.youtube.com/watch?v=0ERYUkL3bNM [6.2.2022]  ; Who Really Won World War I  ?, MUNI Seminar Series, 2.12.2019, https://www.youtube.com/watch?v=Ro2YMI7QdAM [6.2.2022]  ; Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Vortrag von Lothar Höbelt, in der Team-Stronach-Akademie, 15.12.2016, https://www.youtube.com/watch?v=loyIM5Qp_cg [6.2.2022]. 39 Peter Fitl, Höbelt-Bashing und die Freiheit der Wissenschaft, in  : Die Presse 7.2.2020, 26f.

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denn es rege »zum Widerspruch an, zum Nachdenken, hoffentlich auch zu weiteren Forschungen.«40 Wahrscheinlich ist er gerade deshalb ein gesuchter Vortragender, Interviewpartner oder Diskutant, weil er sich auch immer wieder aktiv mit Gastkommentaren zu unterschiedlichen Themen ins Tagesgeschehen einschaltet, wobei er hierfür als Publikationsorgan nicht nur parteinahe Medien, sondern oft auch die Tageszeitungen Der Standard, Die Presse oder Wiener Zeitung wählt. Nirgends besser als in diesen Medien passt die Formulierung, Höbelt formuliere provokant. Dies hat somit wesentlich auch mit der Textsortenwahl zu tun.41

4. Lothar Höbelt als Unterstützer ausländischer Studenten Der folgende Bericht schildert, wie ein Student aus der Tschechischen Republik Lothar Höbelt kennengelernt und wahrgenommen hat. Viele andere seiner Studenten und auch Kollegen42 aus unterschiedlichen Kontinenten äußern sich ähnlich  : »Ich, Luboš Velek, habe Lothar Höbelt als Stipendiat (Aktion Tschechien–Österreich) Mitte der neunziger Jahre an der Wiener Universität kennengelernt. Damals kannte ich ihn schon aus der Literatur und schätzte besonders seine Monographie Kornblume und Kaiseradler, die für meine Diplomarbeit über die Jungtschechen um 1900 wichtig war. Lothar Höbelts Vorlesung zu Österreich unter Kaiser Franz Joseph war für mich vom Thema her eine selbstverständliche Wahl. Das erste, was mir auffiel, war der bis auf den letzten Platz gefüllte Hörsaal, in dem etwa die Hälfte der Zuhörer über fünfzig Jahre alt war. Das war mir von der Prager Universität nicht bekannt. Noch interessanter war jedoch der Vortragende. Ich hatte gewisse Verständnisprobleme. Ihre Ursachen lagen in der blumigen Sprache, die reich an Ausdrücken und Zitaten aus dem 19. Jahrhundert war, sowie Höbelts spezifische Diktion. Der Vortragende war auf den ersten Blick eine sympathische Person, seine

40 Werkverzeichnis M. 11), VII. 41 Dieser und die folgenden Belege sind wahllos angeführt  : Siehe Fn. 53 und 57  ; oder Loth a r Höbelt, Mit »Heil Hitler« in die Schlagzeilen, in  : Die Presse 25.5.2009, https://www.diepresse.com/482038/mitbdquoheil-hitlerldquo-in-die-schlagzeilen?from=rss [10.2.2022]  ; Ders., DAÖ, FPÖ  : Wer fürchtet sich vor »Spaltern«  ?, in  : Der Standard, 14.12.2019, https://www.derstandard.at/story/2000112264531/daoefpoe-wer-fuerchtet-sich-vor-spaltern [10.2.2022]  ; Ders., »Ideologische Missgeburt« reloaded. Über die Schubumkehr in der Nationalismusdebatte, in  : Der Standard, 9.11.2018, https://www.derstandard.at/ story/2000090993503/ideologische-missgeburt-reloaded [10.2.2022]  ; Ders., Feigheit vor dem (Partei-) Freund, in   : Wiener Zeitung 4.12.2006, https://www.wienerzeitung.at/meinung/gastkommentare/ 279264_Feigheit-vor-dem-Partei-Freund.html [10.2.2022]  ; Ders., Der freie Hochschulzugang, in  : Wiener Zeitung 13.10.2010, https://www.wienerzeitung.at/meinung/gastkommentare/35841_Der-freieHochschulzugang.html [10.2.2022]. 42 Dies belegen die Rückmeldungen vieler Autoren dieser Festschrift.

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Ausführungen waren interessant, überzeugend und mit witzigen Bemerkungen versehen. Regelmäßig schallte Gelächter durch den Saal und es herrschte eine gute Stimmung. Ein lautes Klopfen nach dem Ende der Vorlesung (in der Tschechischen Republik ist Beifall nach Vorlesungen eher selten) war an der Tagesordnung. Mein Respekt vor meinem neuen Lehrer wuchs noch mehr, als ich begann, ihn regelmäßig in den Archiven auf dem Wiener Minoritenplatz (Haus-, Hof- und Staatsarchiv) oder in der Nottendorfergasse (dem Hauptsitz des Österreichischen Staatsarchivs) und natürlich in der Hofbibliothek, nun Österreichische Nationalbibliothek genannt, zu treffen. Ich nutzte daher die Gelegenheit, um mich vorzustellen. Lothar Höbelt war mir gegenüber sehr freundlich eingestellt und zeigte aufrichtiges Interesse an meinen Forschungen. Er schätzte auch die Tatsache, dass ich ins Archiv ging, was seiner Meinung nach für Studenten in Österreich außergewöhnlich war. Typisch für Lothar Höbelts Charakter ist die selbstlose Bereitschaft zu helfen und zu beraten, die Bereitschaft, sein Wissen zu teilen, nicht nur das Faktenwissen, sondern vor allem das, was in Bibliotheken und Archiven zu finden ist. In den Anfängen des Internets war dies noch eine unschätzbare Hilfe, vor allem für einen ausländischen Studenten, der jeden Tag mit der Zeit zu kämpfen hatte. Unser erstes Gespräch endete damit, dass er mich einlud, zusätzlich zu seinem Diplomandenseminar zu kommen. Das tat ich, und das war ein wichtiger Moment in meinem Studium. Das Seminar selbst, in dem die Studenten über ihre Forschungen berichteten, war für mich nicht sehr nützlich. Viel wichtiger war jedoch das regelmäßige Postcolloquium, das im nahe gelegenen Beisl Zwillingsgwölb in der Universitätsstraße oder beim Heurigen Schübel-Auer in Nussdorf stattfand. Ich habe es schnell in Prostcolloquium umgetauft. Die Gespräche in Lothar Höbelts Tischgesellschaft, wo sich im Laufe des Abends bis zu zwanzig Personen abwechselten, waren verständlicherweise interessant. Sie drehten sich nicht nur um Geschichte, sondern vor allem um Politik, die Bedingungen an der Universität und so weiter. Ihre Bedeutung lag jedoch darin, dass ich mich dank ihnen als Ausländer schnell unter den Österreichern integrieren konnte – sie wohnten nicht in den Studentenwohnheimen, und es war schwierig, informelle Kontakte mit ihnen zu knüpfen. Im Studentenheim in der Comeniusgasse lebte ich mit zwei Slowaken und einem Ukrainer zusammen. Unsere Umgangssprache war daher natürlich eine urslawische. Und in den Archiven habe ich auch nicht viel auf Deutsch gesagt. Dank Lothar Höbelts Seminar habe ich mich bald mit Johannes Kalwoda und anderen angefreundet. Bei späteren Aufenthalten in Wien wurden diese Mitschüler zu meiner Stütze und der Stammtisch im Zwillingsgwölb zu einer netten Anlaufstelle. Meine Integration unter österreichischen Studenten, die sich mit ähnlichen wissenschaftlichen Themen beschäftigen, war ein großes Verdienst von Höbelt. Ich schätzte es umso mehr, je öfter ich die Klagen meiner ausländischen Mitschüler hörte, dass sie zwar in Österreich studierten, aber keine österreichischen Studierenden persönlich kannten und nur mit Stipendiaten verkehrten.

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In den folgenden Jahren, in denen wir in regelmäßigem persönlichem und später auch E-Mail-Kontakt standen, habe ich Lothar Höbelts weitreichende persönliche Verbindungen und Kenntnisse intensiv genutzt. Mir wurde angeboten, in seiner Wohnung in Wien zu wohnen, er bezahlte für mich (und andere) unzählige Male beim Heurigen. Gemeinsam unternahmen wir viele Reisen zu tschechischen oder österreichischen Burgen und Schlössern, sprachen gemeinsam auf Tagungen oder verfassten gemeinsame Publikationen. Er war immer ein freundlicher, lustiger, aber auch zuverlässiger und vertrauenswürdiger Partner, was ich besonders schätze. Nach fast drei Jahrzehnten unserer Freundschaft weiß ich, dass es in progressiven Kreisen seine Tücken hat, mit Lothar Höbelt befreundet zu sein oder auch nur öffentlich positive Bewertungen seiner außergewöhnlichen wissenschaftlichen Arbeit abzugeben. Mehr als einmal wurde mir deutlich zu verstehen gegeben, dass ich mit ›so einem Mann‹ auf keinen Fall sprechen sollte. Das kam von österreichischen, deutschen und einigen tschechischen Kollegen, die in Wien domestiziert worden waren (in Tschechien selbst war es kein Thema). Mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt. Ich hatte jedoch nie den geringsten beruflichen, politischen oder persönlichen Grund, mich diesem Druck zu beugen. Ich sah es als eine Art Steuer für unsere Freundschaft – und jede gute Freundschaft kostet etwas  !«

5. Verhältnis zur Öffentlichkeit und Politik Der Grund, warum Höbelt in die öffentliche politische Diskussion geraten ist, liegt hauptsächlich in seinen Verbindungen zur Freiheitlichen Partei Österreichs, die sich bei ihm familien-, konfessionsbedingt und aufgrund seiner wirtschaftsliberalen Orientierung (in seiner Jugend war er Anhänger von Margaret Thatcher) ergaben.43 Er selbst ist nicht Mitglied der FPÖ, war aber beratend tätig und arbeitete am Parteiprogramm von 1997 mit. Von 1992 bis 2002 war er Konsulent der Freiheitlichen Akademie und von 2000 bis 2002 deren wissenschaftlicher Leiter.44 Damit gingen zahlreiche Auftritte bei Veranstaltungen der FPÖ einher, auch in ihrem unmittelbaren Umfeld und bei anderen Organisationen ähnlicher politischer Richtung, zum Beispiel bei Burschenschaften, ebenso Publikationen in Organen wie Die Aula. Höbelt wurde von der FPÖ auch regelmäßig für beratende historische Kommissionen nominiert, nicht nur im eigenen Bereich, sondern zum Beispiel auch bei der Kom-

43 Kitchen Talk bei Alexander Stipsits mit Lothar Höbelt. 44 Fritz Fellner – Doris Corr a dini, Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, 99), Wien–Köln–Weimar 2006, 188.

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mission des Landes Oberösterreich für die Geschichte der Ersten Republik.45 All das wird deshalb registriert, weil es unter universitären Historikern (mit der Ausnahme des Rechtshistorikers Wilhelm Brauneder) nahezu einzigartig ist, und es hat gerade deshalb einen selbstverstärkenden Effekt  : Gerade weil Höbelt seit Langem in diesem Ambiente präsent ist, wird er regelmäßig von dieser Seite angefragt und tritt neuerlich in Erscheinung. In der Außenwirkung wird er daher in erster Linie mit der FPÖ in Verbindung gebracht. Etwas relativiert wird diese Nähe zur FPÖ jedoch durch die zeitweilige Annäherung Höbelts an die Österreichische Volkspartei, besonders nach dem FPÖ-Treffen in Knittelfeld 2002. Höbelt kritisierte nach diesem Ereignis Jörg Haider wegen seiner Rolle in dieser Krise der FPÖ und sprach sich als Befürworter einer bürgerlich-wirtschaftsliberal orientierten Koalition für die Wahl der ÖVP unter Wolfgang Schüssel aus  : Es seien »blaue Leihstimmen der ÖVP zu geben als Dank für die Koalition.«46 Aus Kreisen der ÖVP gab es danach aber auch Signale, dass er sich beim damaligen Juniorpartner in der Bundesregierung einbringe, um dort als Proponent einer Fortführung der bürgerlichen Koalition zu wirken. Eine Bevorzugung der ÖVP gab es auch schon früher  : Vor der Nationalratswahl im Dezember 1995 teilte er einer Studentengruppe mit, er werde der ÖVP seine Stimme geben, wolle allerdings nicht, dass sie bei der Wahl erste werde, weil sonst die Große Koalition mit umgekehrten Zeichen fortgeführt werde. Bekannt ist auch, dass er bei der Bundespräsidentschaftswahl 2004 Mitglied im Wahlkomitee für die Kandidatin Benita Ferrero-Waldner war. Noch vor der Nationalratswahl 2008 erklärte er, sich die ÖVP als stärkste Partei zu wünschen und möglicherweise für sie zu stimmen.47 2010 bezeichnete er sich als schwarz-blauer Wechselwähler.48 Zugleich ist bei ihm ein taktisches Wahlverhalten festzumachen, das ihn 2015 bei den Bezirksvertretungswahlen in Wien sozialdemokratisch wählen ließ, um Grün als stärkste Partei im Bezirk zu verhindern. Im Gegensatz zu diesen Positionierungen kommt in der öffentlichen Diskussion ein anderer Aspekt kaum vor, obwohl er für die politische Einordnung Höbelts wohl ebenso wichtig ist  : Höbelt hat ausgeprägte Sympathien für die frühere A ­ ristokratie und die Habsburger und kann durchaus als Legitimist bezeichnet werden. Er verbirgt dies keineswegs, verwendet selbst in wissenschaftlichen Publikationen unbe-

45 https://www.landesarchiv-ooe.at/projekte/erste-republik/ [4.2.2022]. 46 »Eine Partei, die sich so dumm benommen hat, gehört bestraft«, in  : Der Standard, 29.10.2002, https:// www.derstandard.at/story/1096443/eine-partei-die-sich-so-dumm-benommen-hat-gehoert-bestraft [3.2.2022]. 47 »Für die FPÖ ist das BZÖ belanglos«, in  : Der Standard, 7.8.2008, https://www.derstandard.at/story/ 1216918677686/fuer-die-fpoe-ist-das-bzoe-belanglos [3.2.2022]. 48 »Elder Statesmen« gegen »Kampagne«, in  : Die Presse, 7.4.2010, https://www.diepresse.com/556580/ bdquoelder-statesmenldquo-gegen-bdquokampagneldquo [12.3.2020].

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fangen die österreichischen Adelstitel auch für die Zeit nach deren Verbot49 und tritt bei einschlägigen Veranstaltungen gern in schwarz-gelber Garderobe auf.50 In der Kritik an Höbelt wird dies allgemein nicht thematisiert, vielleicht deshalb, weil sich ein Teil der linksliberalen Szene selbst von der früheren Aristokratie überaus fasziniert zeigt.51 In der öffentlichen Wahrnehmung bleiben somit seine Verbindungen zur FPÖ und die sonstigen Kontakte zum rechten Teil des politischen Spektrums als Diskussionspunkte übrig. Diese Umstände bilden einen Hauptteil der Vorwürfe gegen Höbelt, dazu kommt die in allen Porträts Höbelts erwähnte Tatsache, dass er 1998 einen (inhaltlich vollkommen seriösen) Beitrag zu einer Festschrift für David Irving, den er persönlich nicht kennt, geliefert hat.52 Ebenfalls immer wieder vorgeworfen wird ihm seine Meinung, das Verbotsgesetz 194753 würde im Fall von Meinungsdelikten der Meinungsfreiheit widersprechen, mit welcher Ansicht er sich freilich in bester Gesellschaft befindet.54 Durch seine ungewöhnliche politische Position war Höbelt zwar nicht in der öster­ reichischen oder mitteleuropäischen55 Historikerszene und schon gar nicht 49 StGBl 211/1919. Zum Beispiel in  : M. 14). 50 Podiumsdiskussion »Zeitenwende«, https://www.society.at/podiumsdiskussion-zeitenwende-1918/ [3.2. 2022]  ; siehe dazu auch das Coverbild dieser Festschrift. 51 Zum Beispiel H a ns R auscher, der sich sonst über Höbelt kritisch äußert, in einem für ihn typischen Beitrag  : 400 Jahre Schwarzenberg in Murau, in  : Der Standard, 14.8.2017, https://www.derstandard.at/ story/2000062646476/400-jahre-schwarzenberg-in-murau [4.2.2022]. 52 Werkverzeichnis A. 65). In diesem Aufsatz greift er das Thema seiner Dissertation (Appeasement und das Scheitern der Abschreckungspolitik Großbritanniens gegenüber Deutschland) erneut auf. 53 Vgl. beispielsweise Loth a r Höbelt, Mit »Heil Hitler« in die Schlagzeilen. Warum nicht jedem »Heil Hitler«-Rufer ein Organmandat von 1000 Euro aufbrummen  ?, in  : Die Presse 26.5.2009 (https://www. diepresse.com/482038/mit-bdquoheil-hitlerldquo-in-die-schlagzeilen) oder https://oe1.orf.at/artikel/ 216438/Ist-das-NS-Verbotsgesetz-noch-zeitgemaess [12.3.2022]. 54 Christi a n Fleck, Lasst den Irving doch reden  !, in  : Standard, 22.11.2005, https://www.derstandard.at/ story/2251937/lasst-den-irving-doch-reden [4.2.2022]  ; Ders., Noll ist kein dummer Mensch, aber …, in  : Die Presse, https://www.diepresse.com/155006/noll-ist-kein-dummer-mensch-aber [5.2.2022]  ; ähnlich Debora Lipstadt in  : Brenda n O’Neill, ›Irving  ? Let the guy go home‹, in  : BBC News, 4.1.2006, http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/4578534.stm [5.2.2022]  ; Mich a el Shermer, Free speech, even if it hurts, in  : Los Angeles Times, 22.2.2006, https://www.latimes.com/la-oe-shermer22feb22-story.html [5.2.2022]. 55 So heißt es beispielsweise aus Tschechien, dort hätten die Streitigkeiten um die Person Lothar Höbelt kein Echo gefunden, seine Arbeiten seien stets hochwillkommen. Dies belegt auch die Anzahl der in Mittel- und Osteuropa erschienenen Publikationen sowie Übersetzungen seiner Werke ins Tschechische oder seine Mitarbeit in der Liechtensteinisch-Tschechischen Historikerkommission  ; siehe Werkverzeichnis u. a. M. 9a)  ; A.  56)  ; A.  66)  ; A.  110)  ; A.  128)  ; A.  129)  ; A.  131)  ; A.  137)  ; A.  137a)  ; A.  147)  ; A.  154)  ; A.  166)  ; A.  177)  ; A.  183)  ; A. 186)  ; A.  189  ; A.  206)  ; A.  206a)  ; A.  210)  ; A.  210a)  ; A.  225)  ; A. 225a)   ; A.  234)  ; A.  243)  ; A. 263)  ; A. 313).

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international marginalisiert, wohl aber am Institut für Geschichte der Universität Wien. Seine Stellung in der Geschichtswissenschaft lässt sich am besten daran erkennen, wo und mit wem er publiziert  : Er hat eine enorme Zahl von Beiträgen zu Sammelbänden veröffentlicht, was Einladungen seitens der Herausgeber impliziert, die aus aller Herren Länder kommen. Seine Publikationen erschienen beispielsweise in Österreich, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Tschechien, Italien, Polen, Spanien, Belgien, Schweden, Liechtenstein, Ungarn, Rumänien, Serbien, Griechenland, in den USA oder in den Niederlanden. In den meisten Fällen hatten diese Einladungen keinerlei politische Implikationen, sondern gründeten darin, dass ein guter Teil des Fachs kein Problem und eventuell sogar einen Vorteil darin findet, dass es unterschiedliche Meinungen gibt, und wissenschaftliche Arbeiten ohnehin nicht nach der politischen Haltung des Autors beurteilt. Nicht das gesamte Fach jedoch. Am Institut für Geschichte konnte Höbelt Assistent werden, weil Heinrich Lutz, dem er zugeordnet war, seine Assistenten nicht nach politischen Kriterien aussuchte. Zum Zeitpunkt von Höbelts Habilitation war Lutz jedoch bereits verstorben, und es gab nun den Versuch, Höbelt durch die Auswahl der richtigen Gutachter loszuwerden. Wie man im Rückblick sagen kann, war die Betrauung des Bochumer Historikers Hans Mommsen in diesem Sinn keine schlechte Entscheidung, denn wie sich später herausstellte, war Mommsen zumindest in jungen Jahren (1962) tatsächlich einmal bereit gewesen, allgemeinpolitische Gründe bei der Zulassung von wissenschaftlichen Forschungsarbeiten zum Tragen kommen zu lassen.56 Mommsen war Sozialdemokrat und Mitglied der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD. Dieser Unterschied in den Positionen half indessen nichts, denn Mommsen sah keine Veranlassung, Höbelts Habilitation aus politischen Gründen zu verhindern, und lieferte ein sachliches Gutachten mit positivem Ergebnis. Auch der zweite Gutachter, Gerhard Botz, der sich zuvor in der Waldheim-Debatte exponiert hatte und den Höbelt in diesem Zusammenhang als politisch-moralisch getrieben kritisiert und verärgert hatte,57 lieferte ein von politischen Gelüsten freies Gutachten und beurteilte die Habilitationsschrift positiv. Die Habilitationskommission der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien erteilte ihm daraufhin am 18. Juni 1991 die Lehrbefugnis für Neuere Geschichte.58 Mit der einige Zeit darauf folgenden Definitivstellung war seine dienstrechtliche Position gesichert. 1992 war Höbelt Gastprofessor an der University of Chicago.

56 Zur Kontroverse über den Reichstagsbrand, in  : Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 49, 2001, 555. 57 Loth a r Höbelt, »Moralische Anstalt«  ? Gerhard Botz und die Zeitgeschichte in der Waldheim-Ära, in  : Die Presse 23./24.5.1987, 3. 58 Werkverzeichnis M. 3), Titelblatt.

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Höbelt konnte somit dauerhaft am Institut bleiben, und er war, wie beschrieben, auch in der Lehre präsent. Erst gegen Ende seiner Karriere, im Zusammenhang mit studentischen Aktionen gegen ihn, wurden Mitarbeiter des Instituts wieder gegen Höbelt aktiv  : »Viele, tendenziell jüngere Historiker wollen seinen ständigen Provokationen nicht länger wortlos zusehen. Sie drängen darauf, sich mit der studentischen Kritik zu solidarisieren und ein offizielles Statement des Instituts zu erwirken, in dem Höbelts Treiben offen ins Visier genommen wird. Individuell ausscheren will allerdings bislang niemand, manche fürchten angesichts prekärer Verträge auch nachteilige Konsequenzen der Universität.«59 Der Rektor der Universität war zwar nicht für seine harte Hand bekannt, doch Angst vor Konsequenzen ist an Universitäten nichts Ungewöhnliches.60 Die kritische Geschichtsschreibung bezeichnet diesen Sachverhalt als »Struktur adaptiven Verhaltens«,61 und in der Ausdrucksweise des Dekans Franz Römer heißt es im Vorwort, »dass manche im wissenschaftlichen Bereich überragende Persönlichkeit ›auch nur ein Mensch‹ war, wenn es um das Überleben in finsteren Zeiten ging.«62 Die Institutsleitung gab in der Folge auch wirklich eine kollektive Stellungnahme ab, in der Höbelt zum Vorwurf gemacht wurde, dass sich anlässlich seiner Vorlesung rechtsextreme Aktivisten Auseinandersetzungen mit linken Demonstranten lieferten, ohne dass Höbelt selbst ins Geschehen eingegriffen und sich gegen die rechten Demonstranten gestellt hätte.63 Kundgebungen in seinen Vorlesungen waren für Höbelt an sich nichts Neues. Im Lauf der Jahre war er gelegentlich mit kleineren Kundgebungen linker Gruppierungen konfrontiert gewesen, die ihn nicht aus der Ruhe brachten. Daß die Demonstranten an Diskussionen kein Interesse hatten, nahm er hin  : »Wenn Leute in die Vorlesung kommen und ihr G’satzl aufsagen, ist das für mich kein Problem.«64 Kolportiert wird, dass er linken Demonstranten, die seine Vorlesung mit dem Absingen der Internationale störten, bei der zweiten Strophe mit dem Text aushalf.65 Die Demonstrationen im Wintersemester 2019/20 waren wohl eine Nachahmung ähnlicher

59 A nders, Lothar Höbelt. 60 »Heldentum ist eben dünn gesät – und an der Universität […] vielleicht noch dünner als an anderen Orten.« Ba rba r a Zehnpfen nig, Worüber man nicht spricht, in  : Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.5.2021, N 4. 61 A lbert Müller, Dynamische Adaptierung und »Selbstbehauptung«. Die Universität Wien in der NS-Zeit, in  : Geschichte und Gesellschaft 23, 1997, 592–617, hier 612. 62 Fr a nz Römer, Vorwort, in  : Mitchell G. Asch – Wolfram Nieß – Ramon Pils (Hg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen 2010, 11. 63 Stellungnahme des Leitungsteams zu Lothar Höbelt, https://ifg.univie.ac.at/news-events/einzelansicht/ news/stellungnahme/?tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail& cHash=7cc30982ea8505515c55c4c65c2f4538 [5.2.2022]. 64 A nders, Lothar Höbelt. 65 https://derstandard.at/permalink/p/1046812232, 31.10.2019 [5.2.2022].

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Aktionen in Deutschland kurz davor, wo Bernd Lucke, der Gründer der Alternative für Deutschland (aus der Lucke 2015 ausgetreten war), von linken Demonstranten daran gehindert wurde, an der Universität Hamburg seine Vorlesung zu halten. Die Demonstrationen in Wien waren trotz des Aufeinandertreffens mit rechten Gegendemonstranten weniger gewaltsam, und letztlich konnte Höbelt seine Vorlesung in weiterer Folge halten, nicht zuletzt deshalb, weil die Lehre ab Sommersemester 2020 coronabedingt auf Video-Vorlesung umgestellt worden war. Die Äußerungen und Forderungen, die in diesem Zusammenhang zu hören waren, geben eine gute Zusammenfassung der Positionen von Höbelts Kritikern  : »Es ist uns ein Rätsel, wie eine Person mit einer so rechtsextremen Manier wie Höbelt am Institut für Geschichte angestellt werden konnte und noch immer dort arbeitet.«66 »Es ist ein Skandal, dass Höbelt noch an der Uni Wien unterrichten darf.«67 »Wir unterstützen die Proteste von Studierenden gegen rechtsextremes Gedankengut an der Uni und fordern erneut die Entlassung von Höbelt.«68 Eine Entlassung war indessen nicht möglich, da Beamte in Österreich nur nach Dienstpflichtverletzungen oder nach bestimmten strafgerichtlichen Verurteilungen ihr Amt verlieren. Bei der Kritik an Höbelt stellten gerade seine Kritiker häufig fest, dass er sich gesetzeskonform verhält – freilich formulieren sie es umgekehrt  : Er würde »haarscharf am NS-Verbotsgesetz vorbeischrammen«69, also eben nicht gegen dieses Gesetz verstoßen. Tatsächlich hat sich Höbelt nie auch nur in die Nähe der im Verbotsgesetz angeführten Tatbestände bewegt. Von einem herkunftsbedingt »eher links« sozialisierten Universitätsprofessor, der Höbelts Vorlesung zur Geschichte der Zweiten Republik besucht hat, ist zu lesen  : »In keinem einzigen Satz hat Höbelt auch nur andeutungsweise faschistisches Gedankengut anklingen lassen. Die Vorlesung hätte genauso gut von einem guten ›linken‹ Professor gehalten werden können – sie ist im besten Sinne neutral.«70 Es ging bei den Demonstrationen letztlich um den Wunsch nach Konsequenzen bis hin zur Entlassung für Meinungen, die exzentrisch und nicht mehrheitsfähig sein mögen, aber zulässig sind und frei ge66 ÖH Uni Wien, Professor für Geschichte spricht auf rechtsextremer Tagung [Presseaussendung], 30.10.2019, https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20191030_OTS0008/professor-fuer-geschichte-sprichtauf-rechtsextremer-tagung [4.2.2022]. 67 ORF, Erneut Protestaktion gegen FPÖ-Historiker Höbelt, 3.12.2019, https://orf.at/stories/3146362/ [4.2. 2022]. 68 ÖH Uni Wien, Studierende blockieren Hörsaal an der Uni Wien, 15.1.2020, https://www.ots.at/presse aussendung/OTS_20200115_OTS0020/studierende-blockieren-hoersaal-an-der-uni-wien [4.2.2022]. 69 Institu tsgruppe Geschichte, Wer ist Lothar Höbelt  ?, https://strv-geschichte.univie.ac.at/beratung/­ lehrende/lothar-hoebelt/ [4.2.2022]. 70 K a rl Svozil, Höbelts Vorlesung ist im besten Sinne neutral, in  : Die Presse, 18.1.2020 (Leserbrief)  ; in gleichem Sinn Peter Fitl, Höbelt-Bashing und die Freiheit der Wissenschaft, in  : Die Presse 7.2.2020, 26f.

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äußert werden dürfen. Der Fall Höbelt demonstriert, dass die Cancel Culture mittlerweile auch Wien erreicht hat, und das nicht erst im Wintersemester 2019/20.71 Die »Politik« von Höbelts Gegnern am Institut für Geschichte der Universität Wien, »die ihm keinerlei leitende Funktionen (etwa: Institutsvorstand) zukommen ließen«, sei wenig durchdacht gewesen, hielt einer der Gutachter der Festschrift fest. Weiters schrieb er: »Da solche Positionen heutzutage sowieso nur Arbeit bringen, bedeutete die Ausschließung Höbelts aus diesen Funktionen, dass er seine Zeit ausschließlich der Forschung und Lehre widmen konnte, völlig unbelastet durch universitäre Lästigkeiten. Dadurch konnte er auch alle seine Termine frei ansetzen und das heißt: erst ab den späten Vormittagsstunden. Die Gegner schufen ihm so selbst jene Freiräume, die er in der Folge klug und fleißig genützt hat.«72

6. Lothar Höbelt privat Viel weiß man über den veröffentlichten Lothar Höbelt, schon weniger über die wissenschaftlichen Arbeiten Lothar Höbelts, am allerwenigsten wohl über den persönlichen Lothar Höbelt. In seiner Habilitationsschrift gelobte er, seinem Lehrer Heinrich Lutz in »Toleranz und Großzügigkeit« nacheifern zu wollen.73 Personen, die mit ihm beruflich oder privat öfter zu tun gehabt haben, kennen diese Seiten an ihm. Auch griff er für wissenschaftliche Belange mehrfach auf selbst Erspartes zurück, um einen Publikationsprozess zu beschleunigen oder eine Publikation zu ermöglichen. Seine Großzügigkeit bei Semesterabschlüssen beispielsweise beim Heurigen ist legendär. In außerwissenschaftlichen Bereichen ist ihm die Bequemlichkeit zusehends wichtig, für die er gerne ein paar Euro oder Kronen mehr auszugeben bereit ist  ; manchmal klagt er resignierend, dass gerade die ihm wohlgesonnene Umgebung in den jeweiligen Situationen oft nicht erkenne, was ihm wichtig sei. Mit seinen Stu-

71 Auf einer Konferenz zum Thema »Antisemitismus in Österreich 1933–1938«, die vom 23. bis 26. März 2015 am Juridicum der Universität Wien veranstaltet wurde, sollte Höbelt über »Die Deutschnationalen (Großdeutschen) und die politische Stoßrichtung des Antisemitismus« referieren. Nachdem die ÖH für den Fall, dass Höbelt referiere, Proteste und Störaktionen angekündigt hatte, einigten sich die Organisatoren mit Höbelt, seinen Vortrag und Beitrag aus dem Programm zu nehmen  ; siehe Seite 8 des Programms  : https://antisemitismus1933-1938.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/inst_rechtsge schichte/PDF-Dateien/Tagungsprogramm_Antisemitismus_mit_Ehrenschutz.pdf [12.2.2022]. Gegen diese Vorgangsweise verwahrte sich Dekan Paul Oberhammer bei der Eröffnung, indem er auf die Meinungs- und Redefreiheit verwies, worin er auch von den der Sozialdemokratischen Partei zuzuordnenden arrivierten Historikern unterstützt wurde. 72 Gutachten von Ernst Bruckmüller vom 15.6.2022. 73 Werkverzeichnis M. 3a), 13.

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denten pflegt er ein herzliches Einvernehmen, Beratungen hatten oft den Charakter des Nachfragens. Fuhr er früher aus beruflichen Gründen immer wieder nach Böhmen und Mähren, um dort Archive zu konsultieren oder an Tagungen teilzunehmen, so fuhr er nach einiger Zeit auch aus privaten Gründen in den Norden. In weiterer Folge drehte sich die Sache um, denn nun verlässt er Böhmen gelegentlich, um nach Österreich und Wien in Archive und Bibliotheken zu fahren, zu Vorträgen oder zum Besuch von Freunden. Pardubice/Pardubitz erkor er schon vor einiger Zeit zu seinem Alterssitz. Nach einem Aufenthalt in seiner alten Heimat heißt es dann immer wieder, er fahre »heim«, also zu Frau und Sohn nach Pardubitz. Bei Lothar Höbelt wird man vergeblich einen Maßanzug suchen, auch keine genagelten Schuhe finden, denn Kleidung ist ihm nicht so wichtig. Für ein dem Nachrichtenmagazin Profil gewährtes vormittägliches Interview in häuslicher Umgebung sind Pyjama und Schlafrock die angemessene Adjustierung.74 Gaumenfreuden, in Gesellschaft bei einem Gedankenaustausch genossen, kann er bedeutend mehr abgewinnen, allerdings ersetzen diese Abendessen im Regelfall sowohl Frühstück als auch Mittagessen. Seine poetischen Neigungen lebt er auf Ansichtskarten und bei Geburtstagswünschen aus, die alle in Gedichtform gehalten sind. Laut Eigendefinition ist er bei weitem »kein Technikfeind«, nein, sondern ein »Technikhasser«, und deshalb ist es nur konsequent, dass er auch im 21. Jahrhundert noch kein Mobiltelephon besitzt, was aber wiederum nicht heißt, die bei anderen vorhandene Technik zu seinen Gunsten nicht zu verwenden. Selbstverständlich besitzt er in seiner Wiener Wohnung einen Computer, nicht aber einen Internetanschluss oder Fernseher, dies würde vermutlich den Charakter einer Arbeitsklause mit unzähligen Büchern stören. Seine Wohnungseingangstür hat einmal eine ihm nicht wohlgesonnene, anonym verbliebene Person mit einer einschlägigen Schmiererei versehen, die zu eliminieren es sich nicht lohne. Mit ihm vereinbarte Termine halten, auch über Jahre hinweg. Sie bedürfen nicht, wie in jüngerer Zeit ob der permanenten Flexibilität üblich geworden, der wiederholten Bestätigung. Abschließend ist es den Autoren und den Herausgebern ein Bedürfnis, dem Jubilar Lothar Höbelt für sein vielfältiges Wirken sehr herzlich zu danken und ihm den Wunsch zuzusenden  : Ad multos annos et multos libros  ! Mögen bald seine Memoiren erscheinen  !

74 https://www.profil.at/oesterreich/morgenpost-sturmhaube-schlafrock-11323150 [31.5.2022].

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Absurdum per totum  ? The Elector Max Franz and Attempts to ­ Re-establish the Electorate of Cologne, 1792–1799 Das liebe heil’ge röm’sche Reich, Wie hält’s nur noch zusammen  ?1

Once the focus of intense great power competition, in the last three decades of the ancien régime, the Rhineland enjoyed a period of relative calm. With the election of the Archduke Maximilian Franz, the youngest child of the Empress Maria Theresa, as coadjutor of Cologne and Münster in 1780 and his eventual succession as Elector four years later, overt Habsburg influence irrupted onto the North Western political scene in a manner not seen since the mid-sixteenth century. But although the Austro-Prussian dualism was never far below the surface of regional politics, the region had become “a region of Nebenländer”, peripheral lands in the lee of great power politics.2 The war against revolutionary France turned this periphery into one of the main theatres of that struggle, and it called into question the survival and the configuration of Habsburg influence in North Western Europe. *** Max Franz’s election as coadjutor owed much to a confluence of personal and dynastic interests in the Kurstaat and at Vienna. At Bonn, Caspar Anton von Belderbusch, the powerful First Minister, hitherto no “friend of Vienna and Versailles”,3 joined * I am grateful to Jeremy Black and Hamish Scott for their comments on earlier drafts of this chapter. Abbreviations  : AHVN  : Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein  ; DO  : Deutscher Orden  ; EA  : Estensisches Archiv  ; FA  : Habsburgisch-Lothringisches Familienarchiv  ; FK  : Familienkorrespondenz  ; GK  : Grosse Korrespondenz  ; HHStA  : Haus-, Hof- und Staatsarchiv  ; HK  : Hofkorres­pondenz  ; IHR  : International History Review  ; K  : Karton  ; NL  : Nachlass  ; LANRW  : Landesarchiv Nordrhein-­ Westfalen, Abteilung Rheinland  ; P&P  : Past & Present  ; SP  : State Papers  ; StK  : Staatskanz­lei  ; TNA (PRO)  : The National Archive (Public Record Office). 1 Joh a n n W. Goethe, Faust I, scene 5. 2 Rudolf Vierh aus, Die Landstände in Nordwestdeutschland im späteren 18. Jahrhundert, in  : Dietrich Gerhard (ed.), Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert, Göttingen 1969, 76. 3 TNA (PRO), SP 81/147, Cressener to Conway 26.1.1767  ; Wolf-Dieter Pen ning, Caspar Anton von Belderbusch (1722–1784). Persönlichkeit und Politik im Umkreis dreier Kurfürsten, in  : Frank G.

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forces with imperial diplomats, to work for the election of the young archduke in order to secure his own position and income.4 Settling Max Franz’s future had become a pressing matter, his indifferent health making a military career impossible, while his future mastership of the Teutonic Order yielded a scarcely sufficient income.5 Belderbusch’s feelers, initially rebuffed by the mater familias, eventually met with a friendlier reception.6 The prospect of increasing Vienna’s influence in the Rhineland and the Low Countries was an additional incentive. The Empress had no illusions about what was involved  : “The expenses will not be insignificant, likewise my scruples about the planned action.”7 But scruples were there to be overcome, especially if one was Maria Theresa, and Habsburg’s purse strings were loosened.8 Max Franz was the very model of an enlightened absolute ruler. Kurköln was no duodecimo idyll, but the regime under the crozier was a mild one. He considered himself the first servant of the state and was diligent in administering his territories.9 In the 1770s a pamphlet had hailed him as a future columna imperii,10 but as elector he acted as a Landesherr, loyal towards the Reich and its constitution, especially in questions affected by the Austro – Prussian dualism, but mindful of “ma qualité d’Electeur”.11 His chief aim, he assured the British envoy, was to cement “la tranquilité si désirable de l’Europe”.12 Indeed, during the Reichsexekution against Liège he even contemplated legal proceedings against Leopold II for neglecting his duties as Emperor. Zehn­der (ed.), Im Wechselspiel der Kräfte. Politische Entwicklungen des 17. und 18. Jahrhunderts in Kurköln, Cologne 1999, 97–159. 4 Helmu t M ath y, Franz Georg von Metternich, der Vater des Staatskanzlers. Studien zur österreichischen Westpolitik am Ende des 18. Jahrhunderts, Meisenheim am Glan 1969, 31–62. 5 M a x Br aubach, Max Franz von Österreich, letzter Kurfürst von Köln und Fürstbischof von Münster, Münster 1925, 21–44  ; K l aus Oldenh age, Kurfürst Erzherzog Maximilian Franz als Hoch- und Deutschmeister (1780–1801), Bad Godesberg 1969, 3–21. 6 Ba rba r a Stollberg-R ilinger, Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit, Munich 2017, 811–17  ; Derek Be a les, Love and the Empire. Maria Theresa and Her Co-regents, in  : Robert Oresko – G. C. Gibbs – H. M. Scott (eds.), Royal and Republican Sovereignty in Early Modern Europe. Essays in Memory of Ragnhild Hatton, Cambridge 1997, 493. 7 Maria Theresa to Archduke Ferdinand 16.5.1780, in  : Alfred von Arneth (ed.), Briefe der Kaiserin Maria Theresia and ihre Kinder und Freunde, vol. 2, Wien 1881, 269. 8 Belderbusch received 100,000 florin for his labours and was elevated to Reichsgraf  ; he was already in receipt of a quarterly pension from the Austrian authorities at Brussels, LANRW, Kurköln II, Nr. 4448, Starhemberg to Belderbusch 27.10.1782, and Barbiano de Belgioso to Belderbusch 31.7.1783. 9 The parallel with Leopold II’s credo is obvious, A da m Wa ndruszk a, Leopold II., Erzherzog von Öster­ reich, Großherzog von Toskana, König von Ungarn und Böhmen, Römischer Kaiser, vol. 2, Vienna 1965, 213–219. 10 As quoted in Oldenh age, Maximilian Franz, 32. 11 HHStA, FA, A26/11, Max Franz to Leopold of Toscana 30.4.1789. 12 Ibid., EA, NL Max Franz, K. 159, Max Franz to Heathcote 1.8.1788  ; A lbert Schulte, Ralph Heathcote, der letzte englische Gesandte bei Kurköln, AHVN 165 (1963), 153–227.

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Although “contrera à mon cœur et à l’attachement personel que j’ai pour ma maison et mon frère”, as Elector, he had to guard “moi et mes Pays” against the “dangereuse influence” at Vienna.13 The Belgian crisis was a foretaste of things to come. The challenge of revolution, the crosscurrents generated by Austro-Prussian rivalry, the insufficient Habsburg interest in the affairs of the Reich and the separate interests of the Electorate of Cologne established the parameters for Max Franz’s efforts to preserve and then to re-constitute his Kur between 1792 and 1799. The Elector’s reformism drew its inspiration from the same sources as his elder brother’s schemes in the Habsburg Erblande, and it was fuelled by the desolate conditions he found in his Kurstaat on becoming Elector. He recognized these also as the root causes of the French revolution. Its outbreak and subsequent escalation nevertheless came as a shock. The princes of the Empire ought to fear “avec bien raison” the spread of disorder and injustice,14 just as they should beware of the “Emi­ grantengeschmeiss [émigré scum]” that had sought refuge in Germany only to abuse their asylum to plot a crusade against the regime in Paris.15 The events in France affected the Elector’s interests directly since the abolition of the monasteries and of all noble and clerical privileges in April and June 1790 violated his rights in his possessions in Lower Alsace. A firm response was necessary, but he remained wary of an anti-revolutionary Reichskrieg. The Empire, he later reflected, had “neither legal nor other grounds for interfering in the internal politics of France by means of force.” It had to defend itself against breaches of international treaties, but he regretted that the interests of the “corporation of the German states” were threatened by the great powers, intent on an ideological war.16 The outbreak of war, and the subsequent French incursions into the Rhineland changed everything. Max Franz chafed at the lack of urgency at Vienna. He was not “plus militaire” but feared that further dithering would dissipate any remaining Belgian loyalty. The Emperor had to act “avec toute le célérité possible” to “établir le théâtre de la guerre chez les Français”.17 He welcomed the formation of a Reichsarmee and the formal declaration of war against the French Republic in March 1793. Cologne and Münster troops joined the imperial army “so as to protect the honour of the German Empire and not to abandon its members or to relinquish their protection to the two 13 HHStA, FK, A51/12/3, Max Franz to Metternich 24.11.1790  ; Rolf Fa lter, België, een geschiedenis zoner land, Antwerp 2013, 256–264. 14 Ibid., A26/11, Max Franz to Leopold II. 13.1.1791  ; also Leonh a r d En nen, Frankreich und der Nie­ der­rhein oder die Geschichte von Stadt und Kurstaat Köln seit dem dreissigjährigen Krieg bis zur französischen Occupation, vol. 2, Cologne 1856, 430–433. 15 A comment from June 1797, as quoted in Br aubach, Max Franz, 223. Émigré militias eventually had to disband, LANRW, Kurköln II, Nr. 4807, Waldenfels to du Pont 18.5.1792. 16 LANRW, Kurköln VII, Nr. 247, Max Franz to Karg 27.11.1794. 17 HHStA, FK, A51/12/3, Max Franz to Metternich 29.4.1792.

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powers [Austria and Prussia] ob consequentem alone”.18 Even so, many of the contingents of the smaller states were underequipped, undermanned, and overburdened by disputes, and the force that lumbered towards Belgium was more monstro simile than the Reich itself.19 After Valmy the French campaign of national defence became one of revolutionary conquest. Everywhere along the Rhine the reigning princes fled. Unlike his fellow-­ electors at Mainz and Trier, Max Franz remained committed to the war, even though his own territories were threatened. Following their victory at Jemappes on 6 November, the French controlled all of Belgium, and they sought to gain what leading Jacobins now called the “natural frontier” of the Rhine.20 Their advance into the Netherlands prompted Britain to join the war, but it was not enough to save Max Franz’s Rhenish possessions. He fled for the relative safety of Münster  : “Pleasant as the region along the Rhine may be, the continued presence of a foreign army … as well as the behaviour of the Estates which, in my view is contrary to the welfare of the land, are sufficient reason for me to keep away from Bonn.”21 The tides of war fluctuated in 1793. The divergent interests of Prussia and Austria and their growing concerns about Poland hampered the campaign in the West. Max Franz reserved his ire for Baron Thugut, the state chancellor, for whom he entertained an exaggerated dislike  : “We have nothing to fear but the errors of the Viennese Ministerii and the generals.”22 The errors of coalition generals were graver than Thugut’s tergiversations. By mid-September the French were in control of the left bank of the Rhine again, and the Elector’s government, which had briefly returned to Bonn, was evacuated once more. Some 100,000 people fled across the river  : “Cardinals, nuns, capuchins, nobles, military, women, children of all sorts … [a]ll living in abject misery.”23 By early spring 1795, the war was lost. The British had been driven from the continent, and the French had overrun the Low Countries and the Rhineland. The Austrians were in retreat everywhere, and Prussian diplomacy was looking for a way out of the war, preoccupied with digesting its recent Polish gains.24 Max Franz supported the decision of the diet to increase war expenditure, but even he conceded  : 18 LANRW, Kurköln VII, Nr. 241, Max Franz to Waldenfels 13.9.1792  ; further K a rl H ä rter, Reichs­ tag und Revolution, 1789–1806. Die Auseinandersetzung des immerwährenden Reichstags zu Regensburg mit den Auswirkungen der Französischen Revolution auf das alte Reich, Göttingen 1992, 21–23. 19 LANRW, Kurköln VII, Nr. 242/3, Max Franz to Karg 15.9.1792. 20 A lbert Sorel, L’Europe et la révolution français, vol. 3, Paris 1891, 144–153. 21 Max Franz to Schall 12.2.1793, in  : En nen, Frankreich und der Niederrhein, no. 90, 533–534  ; Jeremy Bl ack, The Coming of War between Britain and France, 1792–1793, in  : Francia 2/20, 1993, 69–108. 22 HHStA, StK, DO, fasc. 3, Max Franz to Ulrich 29.8.1794. 23 Ibid., Max Franz to Ulrich 8.10.1794. 24 LANRW, Kurköln VII, Nr. 242/3, Karg to Max Franz 26.2.1795.

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“Peace would be better of course than such an unfortunate war, but peace is more desirable for those who remain untouched than for those who have been expelled from their possessions and who, because of an untimely peace, might never be able to return there.” This applied to his sprawling territories, too, pitting the interests of Cologne against those of Münster.25 It was a question of “aut aut, either lawful warlike measures, cooperation and then certain success, or extracting oneself from this awful situation in time as least badly as possible.”26 Others drew similar conclusions. The peace treaty of Basel of 5 April 1795 filled Max Franz and his advisers with dismay as it threatened to “paralyse all war operations” of the Reich.27 If it marked a weakening of the league against the regicide republic, until October 1806, a viable “corps intermédiaire” separated the powers in North Western Germany and so contained the danger of a real continental war.28 There was danger if Prussia tried to act as a real great power, but this was not now a problem  : “The Prussian separate peace has crushed my hopes in the most untimely manner, in that the French are becoming daily more arrogant on account of the reduction in the number of their enemies.”29 The only solution was a general peace to supersede the Basel arrangements  : “I still believe that the Empire, gathered under its head, … is capable of concluding a decent peace with the French, and find it far less problematic if the Empire acts in corpore than if individual members of the same seek the intercessions of the Berlin court.”30 It meant navigating between Berlin and Vienna, and Max Franz adopted Fabian tactics. Preserving the unity of the Empire depended on Austrian readiness to make peace. He therefore explained to the Emperor Francis II his Desiderien for a settlement, which were “confined, briefly, to losing nothing more and to regain that which has been lost through no fault of mine.” War could not achieve this  : “I therefore wish for nothing more than that through Your Imperial Majesty’s firm intervention the integrity of the German Empire will be preserved by means of a durable peace.”31 It was not to be. First the landgrave of Hesse-Cassel and then others followed Prussia

25 Ibid., Kurköln VI, Nr. 169, Max Franz to Waldenfels 30.10.1794. 26 Ibid., Max Franz to Waldenfels 4.11.1794. 27 Ibid., Kurköln VII, Nr. 247, memo. anon., Bemerkungen zu den eingegangenen preussischen Friedens-Artikeln, n.d. [Apr. 1795]. Earlier, Max Franz had argued that a neutral German state would be in breach of the Empire’s constitution, see ibid., Nr. 242/3, Max Franz to Karg 14.9.1792. 28 Paul W. Schroeder, The Transformation of European Politics, 1763–1848, Oxford 1994, 152  ; for the treaty, F.W. Ghill a n y, Europäische Chronik von 1492 bis Ende April 1865, mit besonderer Berücksichtigung der Friedensverträge, vol. 1, Leipzig 1865, 391–394. 29 HHStA, FK, A51/12/1, Max Franz to Schall 28.4.1795. 30 LANRW, Kurköln VII, Nr. 239, Max Franz to Karg 8.5.1795. 31 HHStA, StK, Köln, HK, 1, Max Franz to Francis II 19.5.1795.

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and made peace. At Münster, too, some favoured “a lasting halt to hostilities”.32 Max Franz pursued a Sowohl-als-auch-Politik,33 supporting the war effort in the hope of recovering lost territories while moving out of the firing line. He withdrew his contingents from the Reichsarmee without leaving the coalition. With the French advancing from the West and the Prussian pressing him at Münster, he had to be “particularly careful, otherwise incidet in scyllam qui vult vitare charybdim”.34 Ultimately, it proved impossible to steer between the two sea monsters. Matters would have to run their course, “a dismal prospect for us, who have experienced multiple and unaffordable expenses and burdens and no advantages from continued war… The constitution of the Holy Roman Empire is something beautiful, but this time it does not protect us”.35 Austria’s seeking an armistice in December 1795 shook his confidence further. The governments “which were guilty of the Polish partition have lost, without exception, all my trust. Shall they not quite easily now agree on territorial exchanges, secularization etcetera  ?” Having failed to quash the revolution, they would seek compensation elsewhere  : “thus one will see a new shape of things emerge in the end, which sub talibus auspiciis will give little hope to the princes of the Empire.”36 In the course of 1796, an uneasy stalemate settled on Germany, while the young French general Napoleon Bonaparte was making steady advances in Northern Italy. Max Franz had become reconciled to his losses. Peace talks were unavoidable  : “If the Emperor really prevailed over the French by means of attrition, he will weaken his powers, while others are preserving theirs and can then tip the balance.”37Austria’s means of resisting were nearly drained. It took Napoleon a mere four days to hustle the Austrians into signing a preliminary peace treaty at Leoben in April 1797.38 It was the prelude to six further months of haggling. Whatever doubts there might have been about French ambitions on the Rhine, these now evaporated. The preliminaries moreover stood in direct contrast to Thugut’s affirmation of the Empire’s territorial integrity.39 An imperial decree of June, calling for the Reichsdeputation to be kept in readiness for talks on the basis of the integrity of the Empire, rekindled Max Franz’s 32 LANRW, Kurköln VII, Nr. 247, Druffel to Max Franz 3.7.1795. 33 Br aubach, Max Franz, 322. 34 Max Franz to Druffel 2.10.1795, in  : ibid., 309. 35 HHStA, FK, A51/12/1, Max Franz to Schall 14.12.1795. 36 Ibid., Max Franz to Schall 12.3.1796. 37 Ibid., Max Franz to Schall 14.12.1796. 38 Bonaparte to Directoire Exécutif, 6 Mar. 1797, Correspondance de Napoléon Ier, vol. 2, Paris 1859, no. 1544  ; Mich a el Broers, Napoleon, vol. 1, Soldier of Destiny, 1769–1805, London 2014, 137–139. 39 LANRW, Kurköln VI, Nr. 912, Hofmann to Max Franz (no. 322) 4.4.1797. Thugut, in fact, opposed the treaty as compensations in Italy left Austria more vulnerable to future French pressure, see K a rl A. Roider, Baron Thugut and Austria’s Response to the French Revolution, Princeton (NJ) 1987, 241–243.

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hopes of recovering his Kurstaat, but he knew that he was relegated to the sidelines, and that he would have to “await quietly and shrunken into a corner the glimmer of daylight”.40 News of the Franco-Austrian Peace of Campo Formio of 17 October 1797 came as a relief  : “It is peace now, praise be G-d, now everything depends on the How.”41 Yet the fiction of preserving the integrity of the Empire could be maintained no longer, and the treaty raised the curtain on a scramble for territorial compensations. The French were now the arbiter of German affairs, and the Austrians had implicitly sanctioned the idea of secularization – annexation and expropriation of the ecclesiastical states – as the means of compensation. Indeed, by seizing Salzburg they had already acted on that principle.42 In practice, the treaty extended the truce agreed at Leoben. Its real significance lay in its longer-term consequences, not least Bonaparte’s political rise and the reemergence of Josephinian ideas of consolidating the Habsburg lands by annexing Bavaria. And as the old Burgundian circle had now been ceded to France, and with the Emperor’s renunciation of his sovereign rights in Italy, this was the beginning of the end of the Holy Roman Empire.43 As for the exiled Elector, hope and apprehension mingled with a realistic assessment of his own predicament. He felt like a “delinquent” who had been led to the place of execution and who could see “the soldiers pull up for arquebussing [!] him. Then suddenly, instead of the deadly shot, he hears the word Pardon  ! Overwhelmed by so many impressions, he falls to the ground, still blindfolded, until the Major takes the blindfold off and announces to him by the grace of his Landesherr public lashing, gaol or the galley”.44 The forthcoming Reichsfriedenskongress would raise many awkward problems about frontier rectifications, payments to France and to allies, “and all three armies shall remain in and at the expense of the Empire until 40 HHStA, StK, DO, fasc. 3, Max Franz to Ulrich 8.10.1797  ; also LANRW, Kurköln II, Nr. 3254 and Nr. 4792, decrees Max Franz 21.3. and 20.9.1797  ; Herm a n n Hüffer, Diplomatische Verhandlungen aus der Zeit der französischen Revolution, I, Oestreich und Preussen gegenüber der französischen Revolution bis zum Abschluss des Friedens von Campo Formio, Bonn 1868, 268–269. 41 HHStA, GK, fasc. 449/450, Max Franz to Floret 28.10.1797  ; Sidney Seymour Biro, The German Policy of Revolutionary France. A Study in French Diplomacy during the War of the First Coalition, 1792–1797, vol. 2, Cambridge (MA) 1957, 908–934. 42 K a rl Otm a r von A retin, Heiliges Römisches Reich, 1776–1806  : Reichsverfassung und Staatssouverani­ tät, vol. 2, Wiesbaden, 1967, 344–345  ; also Thom as Bregler, Die oberdeutschen Reichsstädte auf dem Rastatter Friedenskongress (1797–1799), Munich 2020, 12–20. 43 Count Waldstein, one of Max Franz’s closest advisers, saw in retreating behind the Rhine and occupying Bavaria the “sole means of salvation”, HHStA, EA, NL Max Franz, K. 150, memo. Waldstein, Anmerkungen über Oesterreichs gegenwärtige Lage 1.3.1794. See also the pertinent comments on Campo Formio by Leopold von R a nk e, Hardenberg und die Geschichte des preussischen Staates von 1793–1813, vol. 2, Leipzig 18792, 325–326. 44 HHStA, StK, DO, fasc. 3, Max Franz to Ulrich 29.10.1797.

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everything has been executed  ; and I expect several more such odiosa, although for now the substance has been saved”.45 Any hopes of retaining some of his Rhenish territories swiftly dissipated as the peace congress got under way at Rastatt in December 1797. The French plenipotentiaries refused to accept the integrity of the Empire as the basis of the talks. Imperial support for the three Rhenish electors was noticeable only in its absence, and Austrian troops were retreating towards “les pays héreditaires”, “incapable de prendre des mésures propres”.46 Official assurances of the Emperor’s “la plus grande solicitude” for the interests of “ses Auguste Oncle” had no practical value.47 The stand-off at Rastatt was broken in March 1798, when the German delegation agreed to sacrifice the left bank of the Rhine, by now an important source of labour and revenue for the occupying power.48 Having pocketed the concession, the French asked for more by insisting that compensation was no longer an internal German matter and had to involve secularization. Ideological antipathy towards clerical rule mingled with realpolitik calculations of weakening the Habsburg clientele in the Reich. Once again, the Germans yielded, and on 4 April they accepted secularization as the second basis of the final settlement.49 The new French demand was an awkward complication for Max Franz. Yet Campo Formio had stipulated adequate compensation for the three ecclesiastical rulers, and thereon rested his hopes. Relations with the Hofburg were hardly close, but the Elector’s sought to appeal Franz II’s sense of Habsburg mission  : “In this moment of extreme danger my Teutonic Order has no other refuge by the mighty protection of His Roman-Imperial Majesty and the Serene Erzhaus of Austria.”50 His Hauptetablissement on the Rhine was lost, but the ecclesiastical states were “intimately woven into the constitution of the German Empire”. This entailed a certain “external representation and expense, which are unavoidable if they – as is necessary more especially now – are to be equal to the secular princes”. Even the pre-1792 income

45 Ibid., FK, A51/12/1, Max Franz to Schall 29.10.1797. 46 Ibid., EA, NL Max Franz, K. 150, Max Franz to Friedrich Karl of Mainz 8.12. and vice versa, 9.12.1797  ; Hüffer, Diplomatische Verhandlungen, 482. 47 HHStA, EA, NL Max Franz, K. 159, Cobenzl to Max Franz 30.12.1797. 48 For French requisitions see LANRW, Kurköln VII, Nr. 249/1–2. 49 The French and German notes of 15.3. and 4.4.1798 are summarized in P. Monta rlot – Léonce Pingaud (eds.), Le Congrès de Rastatt (11 juin 1798–28 avril 1799). Correspondance et documents, vol. 1, Paris 1912, 71. 50 HHStA, StK, Köln, HK, 1, Max Franz to Thugut 27.3.1798. Later, when Thugut was rumoured to contemplate resigning, he implored him to stay for the sake of “ordre et tranquilité dans ce monde”, ibid., EA, NL Max Franz, K. 159, to Thugut 10.5.1798.

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generated by the Cologne territories had been insufficient for this purpose. Preserving his Kurstaat was in the interest of the Habsburg dynasty, he averred.51 The Emperor made supportive noises to his uncle’s emissary, August Baron von Schall, and so did Thugut, but both side-stepped any commitments.52 On his second visit to the Staatskanzlei Schall “intercepted [Thugut] at the door. I noticed clearly that he did not wish to give me an answer. He broke off, referring me to [vice-­chancellor, Count Ludwig] Cobenzl. He, too, did not go deeply into the matter”.53 Thugut, in fact, supported the idea of a reconstituted electorate as a “hoch- und deutschmeisterliches Kurland”.54 How to secure such a state was quite another matter. Max Franz pressed for a clear plan to allow him “to fix the viewpoint, from which We can contemplate Our future circumstances and thus act more effectively”.55 Schall never tired of reminding his interlocutors that Münster “would merely compensate the Elector with what he already possessed”. It was not prosperous enough to sustain his position, around three quarters of his pre-war revenues having been raised in the territories on the left bank of the Rhine and the Westphalian possessions being heavily indebted.56 But the exiled Elector refused to propose any definite plan. He grew increasingly pessimistic about the political outlook and accepted that “one has to await political developments”.57 Talk of a new alliance against France meanwhile struck him as the political equivalent of the despised assignats, worthless paper money, and “in this Saeculum everyone just produces papers [papierlt ohnehin alles]”.58 His pessimism was well-founded. Austrian and imperial interests clearly did not coalesce. The ecclesiastical states were “politically and morally very sick”, Schall was told  : “We shall rescue them from death this time, but after such prolonged illness … they cannot be as strong as before.”59 The Emperor himself was “no friend” of shunting rulers and territories around, and senior officials reminded the envoy that 51 Ibid., StK, Köln, HK, 1, Max Franz to Francis II 9.4.1798  ; LANRW, Kurköln VII, Nr. 251/2, Max Franz to Cobenzl 10.5.1798. 52 LANRW, Kurköln VII, Nr. 251/2, Schall to Max Franz 17.4.1798. 53 HHStA, FK, A51/12/2, note by Schall 9.5.1798. The Staatskanzlei was the single point of call for foreign envoys, Mich a el Hochedlinger, Die Staatskanzlei, in  : id. – Petr Maťa – Thomas Winkelbauer (eds.), Verwaltungsgeschichte der Habsburger Monarchie in der frühen Neuzeit, vol. 1, Vienna 2019, 453–460. 54 Thugut to Reuss 24.4.1798, in  : A lfred von Viv enot (ed.), Zur Geschichte des Rastatter Congresses, Vienna 1871, 38. 55 LANRW, Kurköln VII, Nr. 251/2, Max Franz to Schall 17.5.1798. 56 Ibid., Schall to Max Franz (no. 3) 25.4.1798, and memo., Hauptdata über das Kurfürstentum Kölln, n.d. [c. 9.5.1798]. 57 Ibid., Max Franz to Schall 20.5.1798. 58 HHStA, StK, DO, fasc. 3, Max Franz to Ulrich 25.6.1798. 59 Hofrat von Theyser as quoted in LANRW, Kurköln VII, Nr. 251/2, Schall to Max Franz (no. 29) 25.7.1798.

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“it was customary in peace negotiations that he who had once lost had to accept the damage”.60 Retaining what was still under his control was the most Max Franz could expect.61 By the end of the year, the congress at last turned to the compensation issue, and Max Franz decided to force matters.62 All manner of “chimärische Projekte” were in circulation,63 but his plan was different. It revolved around the retention of rump-­Cologne and its merger with Münster, to which were to be added the bishopric of Paderborn and the Reichsstift Essen or else the bishopric of Osnabrück and various other Westphalian abbeys and prelatures. This was the obvious solution. Max Franz, after all, was the Landesherr of both principalities, which could only survive together  ; and only thus could secularization and the absorption of the Münster territories by a neighbouring Protestant state be prevented.64 The name Westphalia suggested itself since the French demanded that none of the territorial designations on the left bank be retained.65 The proposals were the fruit of careful deliberation, and they were influenced by two “motivierte Entwürfe” by Caspar Joseph Bigeleben, a senior official at the Hofrat in Bonn.66 The new electorate, he reflected, would be “immeasurably more respectable” than the old Cologne state, and he even thought that “one or other small Ländchen” might still be added to it. A trained lawyer, he appreciated the “composite” nature of the Elector’s possessions. Creating a new state out of the remnants of various older entities meant fusing together different political, legal and ecclesiastical structures, an endeavour complicated by the threat of secularization. Although he characterized his ideas as “unzielsetzliche Gedanken”, Bigeleben hoped to give direction to Max Franz’s diplomacy.67 The Elector’s scepticism notwithstanding – he thought 60 Ibid., Schall to Max Franz (nos. 35 and 52), 15.8. and 13.10.1798. 61 HHStA, FK, A51/12/1, Max Franz to Schall 11.9.1798. 62 LANRW, Kurköln VII, Nr. 251/2, Max Franz to Friedrich Karl of Mainz 30.11.1798, and Clemens Wenzeslaus of Trier to Max Franz 7.12.1798. 63 Peltzer to family 9.12.1795, in  : Herm a n n Hüffer, Rheinisch-Westphälische Zustände zur Zeit der französischen Revolution. Briefe des Kurkölnischen Geh[eim]-Raths Johann Tillmann von Peltzer aus den Jahren 1795–1798, Bonn 1873, 26. 64 LANRW, Kurköln VII, Nr. 251/2, Max Franz to Francis II 30.11.1798. Schall suggested that France would yield to collective pressure, ibid., to Max Franz (no. 62) 21.11.1798. 65 Incorporating Osnabrück into the new state was a more difficult proposition given that principality’s alternating between Catholic bishops and Protestant (Hanoverian) princes dynasty, see art. XIII of the Peace of Osnabrück 14./24. 10.1648, in  : Konr a d Müller (ed.), Instrumentum Pacis Westphalica. Die Westfälischen Friedensverträge 1648, Berne, 1966, 61–64. 66 Caspar Joseph Bigeleben (later Biegeleben) (1766–1842) followed his father into Cologne administration in 1789  ; in 1803, he entered the service of Hesse-Darmstadt  ; Kurköllnischer Hofkalendar auf das Jahr 1794, Bonn 1794, 53. 67 LANRW, Kurköln VII Nr. 251/1, Bigeleben to Max Franz (Zur höchsten Privatnotiz I) 15.5.1798  ; J. H. Elliot t, A Europe of Composite Monarchies, in  : P&P 137, 1992, 48–71.

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that nothing could be done until the great powers had “determined and secured their praetium”68 – Bigeleben limned a settlement. He understood that Vienna’s policy had shifted fundamentally and would not risk another war to prevent secularization, that in fact it might derive dynastic advantages from it.69 Biegeleben’s first memorandum, assuming general secularization, drew on an older reichspatriotische tradition. It also illustrated the considerable flux in the politics of the Empire in the interval between the first two coalition wars. The end of the ecclesiastical Kurstaaten, he argued, entailed a considerable loss of Habsburg influence in Germany, which a Westphalian Kur would redress. His scheme was nothing if not ambitious. The new state’s territorial base was to stretch from the Eastern bank of the Rhine opposite Cologne to the North Sea coast west of Bremen and cover much of Westphalia, a compact land mass, sufficiently prosperous to maintain its independence. To ensure its survival beyond the Elector’s death, Bigeleben suggested transferring the Kur to the Archduke Ferdinand or his brother Carl, from whom it would then be passed down the male line, which in turn required changes to the Habsburg succession order. Further, to secure the support of Protestant princes for the new state, Hesse-Cassel and Württemberg had to be elevated to electorates, too. But the core of the plan, its “Hauptidee”, had to be “the creation of an Austrian electorate in Westphalia in the event of general secularization”. What lent Bigeleben’s plan its distinctive note was its strategic element and its geopolitical content. Having access to the Rhine and North Sea trade, the new state would be able to maintain a regular, 20,000-strong army, enough to repel a first onslaught. It would thus serve a wider, stabilizing function as a buffer zone, a “Gränzland” with a “contiguous land mass” between France and its Dutch satellite in the West and Hanover and Prussia in the East. In this, it anticipated elements of the 1815 settlement.70 The realization of this plan depended on the great powers, and on Max Franz’s readiness to adopt it. But he hesitated. He lacked Bigeleben’s wider horizon  ; nor was he ready to accept eventual secularization as the price for a Westphalian Kur. It seemed irreconcilable with his understanding of his position as elector. In the event of secularization his “role is played out  ; I feel too old and not equal to rehearsing a new one, and so my fate would be to be a private individual”. Parts of Bigeleben’s submission now struck him as absurdum per totum. He now prioritized Habsburg interests over his own. Where his counsellor saw the international advantages of the 68 LANRW, Kurköln VII Nr. 251/1, Max Franz to Bigeleben 21.5.1798. 69 Ibid., Bigeleben to Max Franz (Zur höchsten Privatnotiz IV) 30.7.1798. 70 LANRW, Kurköln VII, Nr. 251/1, memo. Bigeleben, Motivirter Entwurf eines Plans für den Fall einer allgemeinen Säcularisation, n.d. [30.7.1798]. Earlier he had suggested diverting the compensation claims of the Batavian Republic to the “low lands between Meuse and Rhine”, ibid., Bigeleben to Max Franz (Zur höchsten Privatnotiz III) 14.6.1798. For the question of “buffer states” see Paul W. Schroeder, The Lost Intermediaries. The Impact of 1870 on the European System, in  : IHR 6, 1984, 1–27.

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new state, he saw dangers for his dynasty  : “Franconia, Bavaria and Swabia might well be more important for Austria than Westphalia in terms of expansionist designs.” Through the new state, he concluded, Austrian power would only be “extendiret nicht concentriret”.71 The columna imperii was no more. Max Franz was now a flying buttress of casa d’Austria. The elector was no less critical of Bigeleben’s second memorandum, which envisaged a smaller state, comprised of Münster and Paderborn, the abbey of Essen and rump-Cologne, with the possible addition of Osnabrück and the abbey of Corvey, sufficient “to safeguard the future political existence of the electorate”. No significant opposition was to be expected since the territories were either in the Elector’s possession already or in the gift of the Empire, and their union would guarantee their continued existence. But unifying the existing administrative apparatus under a single cathedral chapter meant abolishing established rights and privileges, and this was likely to lead to conflict between Cologne and Münster clerics.72 Max Franz’s heart was not in such a fight  : “If Bigeleben speaks in the manner of a chemist, then I have to point out to him ex Chemia, that the experimental smelting of heterogenous materials can have the most dangerous consequences.” Kurköln had been destroyed by the war and its name expunged. A new state could only be based on Münster and its political and legal structures. Anything else would merely “increase unnecessarily the number of the unhappy and discontented”.73 A note of dejection had crept into Max Franz’s comments. He was ready to settle for a minimal solution, but even that looked more remote now  : “Soon I shall no longer read about the vota and conclusa of Rastatt. It is the most disgusting pedantic twaddle, of which I am tired.”74 He did not have to tolerate it for much longer. No permanent settlement was possible “for as long as high politics had not aligned the divergent interests of Europe” and a breach between Austria and France was possible.75 Events in Italy, the formation of the Second Coalition at the end of the year, and then the resumption of war made all plans for a reconstituted Kurstaat redundant.76

71 LANRW, Kurköln VII, Nr. 251/1, memo. Max Franz, Responsa ad IVten des Bigelebenschen Privatnotizschreiben aus Rastatt. 72 Ibid., memo. Bigeleben, Entschädigungsplan für das Kurfürstenthum Kölln auf den Fall der Beybehaltung der drey Geistlichen Kuren, n.d. [30.7.1798]. For the politics of the cathedral chapters, Br aubach, Max Franz, 406–409. 73 LANRW, Kurköln VII, Nr. 251/1, Max Franz, Responsa ad IVten der Bigelebenschen Privatnotizschreiben aus Rastatt, n.d. 74 HHStA, StK, DO, fasc. 3, Max Franz to Ulrich 29.10.1798. 75 Reichsreferendar von Frank, as quoted in LANRW, Kurköln VII, Nr. 251/2, Schall to Max Franz (no. 70) 18.12.1798. 76 The financial questions were by no means settled. Discussions carried on until 1802, after Max Franz’s

The Elector Max Franz and Attempts to R ­ e-establish the Electorate of Cologne

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*** Whether Max Franz’s electorate could have survived may well be doubted. His pre-modern regime might have been more stable and more firmly rooted in Rhenish soil than contemporary and later critics of the duodecimo princelings of the period were ready to admit. But it could not resist the forces of war and the interests of the great powers that broke the Holy Roman Empire asunder. Trying to preserve it was not absurdum per totum, however. The period between 1792 and 1799 was one of great uncertainty and flux, and a range of different outcomes was possible. The plans for a Westphalian state threw into sharper relief two competing political traditions, one drawing on Reichspatriotismus, the other prioritizing Austrian strategic and dynastic interests. Max Franz, who was “anything but Machiavellian”,77 initially presented the former, but it found its most articulate and sophisticated exponent in Bigeleben. Throughout the Elector looked backwards, trying to play the old game of securing territorial compensation after defeat. Given their comprehensive victory the French saw little reason to accommodate such ambitions. Nor did Berlin’s and Vienna’s Eastern preoccupations allow for a western settlement on any but a French basis. Bigeleben’s plan, by contrast, anticipated key elements of the equilibrist new order of 1815 and the later ideas of a “Third Germany” as a stabilizing factor between the German and European great powers.78 It was not absurd, but its time had not yet come.

death, see LANRW, Kurköln VI, Nr. 943  ; Edua r d Hegel, Geschichte des Erzbistum Köln, vol. 4, Zwi­ schen Barock und Aufklärung, 1688–1794, Cologne 1979, 493–506. 77 M a x Br aubach, Die vier letzten Kurfürsten von Köln. Ein Bild rheinischer Kultur im 18. Jahrhundert, Bonn 1931, 127. 78 It was no coincidence that his son, Ludwig Maximilian von Biegeleben, served as Undersecretary for foreign affairs in the 1848 government, and later rose to prominence in the Austrian service as an exponent of grossdeutsche ideas, Rüdiger von Biegeleben, Ludwig von Biegeleben. Ein Vorkämpfer des grossdeutschen Gedankens, Zürich 1930.

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The 1707 Act of Union Processes, Speeches and Political Actors  : The Scottish Dimension

1. Introduction “My Lords and Gentlemen It is with the greatest satisfaction that I have given my assent to a bill, for the uniting England and Scotland into one kingdom. I consider this Union as a matter of the greatest importance to the wealth, strength, and safety of the whole island.”1 Thus spoke Queen Anne to the English Parliament with the passing of the Act of Union, which marked one of the great triumphs of her reign. According to Sir Joseph Jekyll, brother-in-law of the Whig Junto Lord, John, Lord Somers, the successful negotiation of the Treaty of Union stood alongside the military triumphs of the Battles of Ramillies (23 May) and the relief of the Siege of Turin (14 May – 7 September) as “one of the great victories of 1706”.2 Somewhat ironically, Jekyll had been a member of the 1705 committee of the House of Commons to “secure England from possible danger of recent Scottish acts”.3 This refers to the distinctly constitutional nationalist tone of the 1703–1704 Scottish parliamentary sessions, with the enactment of the 1703 Act anent Peace and War and the 1704 Act of Security, and the retaliatory English Aliens Act of 1705. Jekyll was later appointed to bring in the bill for union with Scotland in the Commons on 11 February 1707. On 6 March he was also appointed to draw up the formal address on Queen’s Anne’s speech assenting to the Act of Union.4

* Abbreviations  : APS  : The Acts of the Parliaments of Scotland  ; RPS  : The Records of the Parliaments of Scotland to 1707. 1 Da niel Defoe, History of the Union between England and Scotland, London 1786, 486. 2 Jekyll to Somers, 4 April 1707, quoted in  : Geoffrey Holmes, British Politics in the Age of Anne, London revised edition 1987, 85 and footnote 13, 471. 3 Ev eline Cruicksh a nks – Stua rt H a ndley – David W. H ay ton (eds), The History of Parliament. The House of Commons 1690–1715, five vols, Cambridge 2002, vol. IV, 484. 4 Ibid.

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2. Parliamentary speeches Speeches constitute an important part of the Scottish parliamentary process in several ways. The physical environment of the Scottish Parliament is relevant here. It was unicameral (single chamber) parliament with the estates being present together, albeit in their separate estates. Oratory skills were therefore important in the political armoury for consolidating as well as persuading opinion to approve the negotiated treaty at such a critical time in Anglo-Scottish relations. Speeches and oratory skills should be interpreted as being part of the wider intellectual and cultural milieu that was at the heart of the union process. John Robertson has argued that »the Union negotiated between Scotland and England in 1707 should be understood within an intellectual as well as a political and economic context, and that it generated a significant body of political thought«.5 The significance of parliamentary speeches has been explored in a recent European parliamentary publication.6 Themes that can be taken from this and applied to the 1707 Act of Union in the context of speeches by leading figures within parliaments  ; political language employed in parliament  ; opening speeches in parliament and political oration  ; and oration and decision making.7

3. Speeches and the 1706 treaty negotiations Negotiations were conducted over a three month period, from 16 April to 22 July 1706, resulting in the treaty consisting of 25 articles, 15 of which were concerned with economic issues (60 per cent). Yet this does not mean that the treaty was primarily an economic one. Article 4, allowing full freedom of trade and navigation in the United Kingdom and her dominions and plantations (essentially Scottish access to English markets and those of her colonies) certainly received a large majority vote of 135 votes (154 for and 19 against).8 Yet it can be argued that the key articles were 5 John Robertson (ed.), A Union for Empire. Political Thought and the British Union of 1707, Cambridge 1995, XII. 6 Jörg Feuchter – Joh a n nes Helmr ath (eds), Parlamentarische Kulturen vom Mittelalter bis in die Moderne, Berlin 2013. 7 John Rogister, The Speeches of the First President of the Chambre des Comptes of Paris on the Reception of Controllers-General of the Finances before the Revolution, in  : Feuchter – Helmrath (eds), Parlamentarische Kulturen, 151–157  ; Je a n-Philippe Genet, Political Language in the Late Medieval English Parliament, in  : ibid., 245–270  ; Michel Hébert, Opening Speeches and Political Oratory in the French Provincial Estates of the Later Middle Ages, in  : ibid., 351–367  ; Pedro Ca r dim, Oratory and Decision-Making in the Portuguese Cortes (16th–17th centuries), in  : ibid. 369–380. 8 A ll a n I. M acin nes, Union and Empire. The Making of the United Kingdom in 1707, Cambridge 2007, 327.

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acceptance of an entire union and the creation of a United Kingdom of Great Britain (article 1), recognition of the Hanoverian Succession in the future should Queen Anne die without any heirs (article 2), and the creation of a single British Parliament in London (article 3). Thirty-one treaty commissioners on both sides were appointed by Queen Anne. Membership was guided by the counsel of her English and Scottish ministries. In many respects the negotiations were a re-run of the failed negotiations of 1702–1703  : the time period was similar (c. three months, 27 October 1702–3 February 1703), the same procedural rules for negotiation were followed, and there was a high level of common membership in both commissions – 14 out of 31 English commissioners and 12 out of 31 Scottish commissioners).9 The English Commission of 31 was dominated by Whigs, especially the Whig Junto lords. With the exception of John Sharp, the Archbishop of York, all leading Tories were excluded from the English Commission.10 According to Sir John Clerk of Penicuik, one of the Scottish negotiators, Queen Anne’s nomination of commissioners was “submitted entirely to her Ministry”, especially Sidney, first Earl of Godolphin, James Douglas, second Duke of Queensberry, and John Campbell, second Duke of Argyll.11 Political advice was therefore taken by Queen Anne in order to secure the desired result. Crucially, the negotiating commissioners were chosen primarily on the basis of political partisanship and party dominance as opposed to a balanced representation in both the English and Scottish Parliaments.12 The Scottish negotiators were dominated by the Court Party complemented by the Squadrone Volante.13 Sir George Lockhart of Carnwath, whose Jacobite Memoirs represent one of the most anti-Union historical sources for the period, was nominated on the basis on the patronage of his uncle, the influential member of the Whig Junto, Thomas Earl of Wharton. More generally, it has been asserted that the 1706 Regency Act and the 1707 Act of Union were “essentially Whig achievements”14 and that “without Whig initiative, wholehearted Whig  9 Ibid., 278–279. The negotiations were to remain secret (279). The 1702–1703 negotiations had collapsed due to Scottish demands for compensation for the Company of Scotland in its failed Darien venture, and to the refusal of the High Tories to a treaty which required a guarantee on the English side for the Presbyterian Church of Scotland. See Holmes, British Politics, 84–85. Eighteen of the 23 English commissioners in 1702–1703 were Tories (Ibid., footnote 8, 471). 10 M acin nes, Union and Empire, 278. 11 John M. Gr ay (ed.), Memoirs of the Life of Sir John Clerk of Penicuik, Baronet, Baron of the Exchequer. Extracted by himself from His Own Journals, 1676–1755, Edinburgh 1892, 58. Clerk was pro-incorporation. He represented the burgh constituency of Whithorn in south-west Scotland. See M a rga ret You ng (ed.), The Parliaments of Scotland. Burgh and Shire Commissioners, vol. 1, Edinburgh 1992, 124. 12 M acin nes, Union and Empire, 278. 13 Ibid., 279. When it came to voting on the negotiated treaty in the Scottish Parliament in 1706–1707, it was the votes of the Squadrone Volante whose votes were decisive in securing the treaty. Party profiles and voting divisions are provided in  : ibid., 300 and 327. 14 Holmes, British Politics, 84. It is also important to recognise that these acts were “carried through

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co-operation, and in the final instance Whig votes it is virtually certain that the act of 1707 would never have been passed”15 in the English Parliament. Queen Anne attended the negotiations at the Cockpit in the Royal Palace of Westminster on several occasions. In general “she took a keen interest in their proceedings”.16 The Cockpit was in fact the Queen’s former home,17 so she would have been familiar with the surroundings. Clerk noted that “The Queen came amongst us several times, once at our first or second meeting, to acquaint us of her intentions and ardent good wishes for our success and unanimity in this great Transaction. At about a month thereafter she came again to enquire of our success, and had most of our Minutes read to her, and for the last time to approve of what we had done”.18 Daniel Defoe commented on the attendance of the Queen at the negotiation meetings of 21 May and 26 June respectively. Her speech to the negotiators on 21 May reflected her deep personal concern and commitment to a successful negotiating outcome  : “I am so much concerned for the Union of the two kingdoms, that I could not satisfy myself without coming … to see what progress you had made in the treaty, and to recommend very earnestly to you the bringing it to a happy conclusion with as much dispatch as the nature of it will admit”.19 William Cowper, Lord Keeper of the Great Seal of England, asked the Queen “if she would be pleased to hear the proposals on either side, and the resolutions hitherto taken thereupon, read by the respective Secretaries”.20 Unsurprisingly, the Queen responded positively and these were read out to her, after which the Queen left.21 The Queen’s intervention appears to have taken place at an important point in the negotiations. Defoe commented that “It was now that the Union appeared hopeful, and people began to be surprised at the success, the Queen herself, pleased with the prospect, came to the meeting, and with the blessing of the Marlborough – Godolphin – Harley triumvirate which dominated the ministry at this stage” (p. 84). The Regency Act allowed for the establishment of a caretaker government to cover the time period between the death of Queen Anne and the arrival of the heir from Hanover (84). Lockhart represented Edinburgh-shire (Midlothian). See You ng (ed.), The Parliaments of Scotland, vol. 2, Edinburgh 1993, 433. 15 Holmes, British Politics, 85. 16 Edwa r d Gregg, Queen Anne, London 1980, 214. 17 Ibid., 214. 18 Gr ay (ed.), Memoirs, 60–61. With regard to the abortive treaty negotiations of 27 October 1702–3 February 1703, Queen Anne only attended on one occasion (14 December), when she came to be informed about progress in the negotiations. See Thom as Thompson (ed.), The Acts of the Parliaments of Scotland (hereafter APS), vol. XI, Edinburgh 1824, appendix, 152. 19 Defoe, History of the Union, 139–140. In addition to his renowned literary skills and output, Defoe was employed by the English ministry as a spy and polemicist reporting back to London on events in Edinburgh. 20 Ibid., 140. 21 Ibid.

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hearing the Minutes read, expressed an extraordinary satisfaction in the steps taken by the Commissioners, and the hopes conceived of bringing the great matter to a happy conclusion”.22 Queen Anne also attended the later meeting of 26 June where she acted in a more forceful manner. She informed the negotiators that she had “come hither once more to see what further progress you have made in this treaty, and to press a speedy conclusion of it, in regard my servants of Scotland cannot with great inconveniency be much longer absent from that kingdom”.23 The Queen’s poor health did not prevent her from giving an impressive speech when the Treaty of Union was presented to her at St James’s Palace on 23 July 1706. Speeches were first given by Lord Cowper, followed by the James Ogilvie, first Earl of Seafield, the Scottish Chancellor. Cowper’s speech was described by Clerk as being “handsome”, but Seafield’s speech “excelled the other so far that it was spoken without Hesitation, whereas that of the Ld Keeper was miserably mangled in the delivery, and at last he was forced to draw it out of his pocket and read it”.24 Cowper commented on the positive benefits of the Queen’s presence at the negotiations  : “Your Majesty’s royal presence and seasonable admonitions to us at the fittest junctures were (we most thankfully acknowledge) a very great encouragement and assistance to us, in the difficulties we met with”.25 Seafield’s speech reflected the euphoria of the political task of negotiation being successfully accomplished  : “An Union of the two kingdoms has been long wished for, it being so necessary for establishing the lasting peace, happiness, and prosperity of both nations”.26 After these two speeches, Queen Anne “made a very handsome Return, with a very graceful pronountiation [pronunciation] and tone of voice”.27 She naturally thanked the negotiators for their work and she expressed her opinion that “The particulars of it seem so reasonable that I hope they will meet with approbation in the Parliaments of both kingdoms.”28 Her comments need to be placed in the context of her coming to several diets of the negotiations and having the minutes read to her, in addition to the information that she was receiving from her English and Scottish advisors. Political pragmatism and leadership was evident too. The Queen proceeded to state that  : “I wish therefore, that my servants of Scotland may lose no time in going down to propose it to my subjects of that kingdom  ; and I shall always look upon it as a

22 Ibid., 144. 23 Ibid., 180. 24 Gr ay (ed.), Memoirs, 62–63. 25 Defoe, History of the Union, 195. 26 Ibid., 196. 27 Gr ay (ed.), Memoirs, 63. 28 Defoe, History of the Union, 196.

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particular happiness, if this Union (which will be so great a security and advantage to both kingdoms) can be accomplished in my reign”.29

4. Parliamentary ratification of the treaty, key political actors and the Edinburgh – London communication axis In terms of post-negotiation procedures, the treaty would proceed first to the Scottish Parliament for ratification and if successful, it would then proceed to the consideration of the English Parliament for ratification. The political priority of having the negotiated treaty ratified by the Scottish Parliament started immediately after the conclusion of the successful negotiations. Instructions were issued by Queen Anne from Windsor on 31 July to the Duke of Queensberry, who would be the High Commissioner in the forthcoming parliamentary session. In terms of the articles of Union, Anne stated that she was “entirely satisfied with what is done in that matter”30 and that Queensberry was to seek parliamentary ratification of them. Religion and the nature of the respective church governments in Scotland and England were not discussed in the negotiations. Queensberry was accordingly empowered to give the royal assent to “any condition, Article or provision” voted on by parliament for the security of the government of the Church “as now by Law established, after the Union, within the limits of Scotland”,31 meaning security for the Presbyterian Church of Scotland post-Union. Religion and security of the church in fact were extremely controversial in the winter of 1706 and securing the support of the Church of Scotland was critical to the success of the Union process. Successful political management was deployed and a key role was played by William Carstares. Carstares had been chaplain to the late William of Orange. He was Principal of Edinburgh University and political manager of the 1706 General Assembly of the Church of Scotland (notably the Commission of the Kirk, which managed church affairs between General Assemblies) in containing opposition to an incorporating union.32 Ultimately, however, an Act for Securing of the Protestant religion and Presbyterian church government was ratified on 16 January 1707, the date of formal ratification of the treaty. The ratified church and the ratified treaty constituted the Scottish Act of Union.33 29 Ibid. 30 Be atrice. C. Brow n (ed.), The Letters and Diplomatic Instructions of Queen Anne, London 1968, 190. 31 Ibid. 32 M acin nes, Union and Empire, 98–99, 286. See Tristr a m Cl a rk e, Carstares [Carstaires], William (1649–1715), Church of Scotland minister and political adviser, Oxford University Press 2004  ; online edition 2010, [http:www.oxforddnb.com/view/article 4777]. 33 K eith M. Brow n et al. (eds), The Records of the Parliaments of Scotland to 1707 (hereafter RPS), St. Andrews 2007–2021, 1706/10/251. A previous act for security of the true Protestant religion and govern-

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Anne’s commitment to the upholding of her royal prerogative and to “an entire and complete Union as is now treated by the Commissioners” was reflected in her outright hostility to any prospect of a federal union, the “settling of succession with Limitations” or any other measure proposed in opposition to the “entire and complete Union” that had been negotiated. Queensberry was therefore instructed to inform her “servants” that she expected “their joint and hearty concurrence” for the “throwing out” of proposals for such alternative proposals. A fundamental conviction was expressed that “nothing can prove a solid and lasting settlement for the Peace and happiness of our Subjects of this Island but that of an entire Union”. Furthermore, Queensberry was instructed that in the event of “all probability” that a federal union or any other measure opposed to an entire union would carry in Parliament, then he was to adjourn the Parliament.34 This hostility towards a federal union is consistent with the firm stance taken by the English commissioners at the start of the treaty negotiations.35 Clear and robust instructions were therefore provided by Queen Anne, reflecting her principled commitment to an entire union and her determination to uphold the royal prerogative.36 This commitment was reflected in Anne’s letter to the Scottish Parliament from Windsor on 31 July. In the context of royal instructions in the framework of absentee monarchy and a London – Edinburgh/Edinburgh – London communication axis, Queen Anne’s wishes were conveyed in the letter that was sent to parliament and also in the speeches that were given by the Chancellor and High Commissioner to the assembled estates on the opening day of the parliamentary session. Speeches by Queen Anne’s key officials therefore formed an important part of how the Queen’s wishes could be transmitted to the Scottish Parliament. The Queen noted the “great care and diligence” that had been taken by the negotiating commissioners and she hoped that the terms of the treaty would be “acceptable”. Counsel took on a personal touch on the part of the Queen  : “The Union has ment of the church as by law established within this kingdom had been enacted on 12 November (RPS, 1706/10/57–60  ; M1706/10/20). See Jeffrey Stephen, Scottish Presbyterians and the Act of Union 1707, Edinburgh 2007, and Defending the Revolution  : The Church of Scotland, 1689–1716, Farnham 2013, for the most recent and full discussion of the church. 34 Brow n (ed.), The Letters, pp. 190–191. The issue of Limitations refers to the constitutional reform programme articulated by Andrew Fletcher of Saltoun, who represented Haddingtonshire (in the estate of the barons/shire commissioners), in 1703–1704. For Saltoun, see John Robertson (ed.), Andrew Fletcher. Political Works, Cambridge 1997. On the wider issue of constitutional reform, see John R. You ng, The Scottish Parliament and the Covenanting heritage of constitutional reform, in  : A ll a n I. M acin nes – Ja ne Ohlmey er (eds), The Stuart kingdoms in the seventeenth century, Dublin 2002, 226–250. 35 APS, XI, appendix, 165–166. 36 For views on the Queen’s attitudes towards her royal prerogative, see M acin nes, Union and Empire, 97, 240, 268–269.

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been long desired by both nations, and we shall esteem it as the greatest glory of our Reign, to have it now perfected, being fully persuaded that it must prove the greatest happiness of Our People.”37 The perceived benefits of an “entire and perfect union” were then provided  : “the solid foundation of lasting peace”  ; security of religion, liberty and property  ; the removal of “jealousies and differences” between the two kingdoms  ; an increase in strength, riches and trade” and the increased ability to resist enemies, “support the Protestant interest everywhere and maintain the Liberties of Europe”.38 These were common themes that appeared in pro-union pamphlets of the period. As noted above, parliament was empowered to decide on “what may be necessary for security of your Church government after the Union, within the limits of Scotland”.39 With regard to ongoing military issues and the Spanish Succession War, parliament was instructed to make the necessary provisions for the maintenance of military forces, ships and garrisons until the new and future Parliament of Great Britain could do so. The Queen’s letter ended with an impassioned plea for the parliament to “finish the Union at this time”, in the context of the recent allied victories in the Spanish Succession War, and an assurance that “the Parliament of England will do what is necessary on their part after the readiness they have shown to remove what might obstruct the entering on the Treaty” (the 1705 Aliens Act). Accordingly, the letter recommended that “the Union be brought to a happy conclusion, being the only effectual way to secure your present and future happiness, and to disappoint the designs of Our and Your enemies”.40 In terms of procedure, it is worth noting that the Queen’s letter was presented by Queensberry, as High Commissioner. It was then read out by Sir James Murray of Philiphaugh, Clerk Register, then re-read by “one of the ordinary clerks”.41 After the readings of the royal letter, speeches were then given by High Commissioner Queensberry and then by Chancellor Seafield.42 High Commissioner Queensberry and Chancellor Seafield played key roles in the successful passage of the treaty through parliament. It has been argued, however, that “Queen Anne primarily placed her confidence not in Queensberry but in Seafield”.43 The Queen’s letter and the two speeches were ordered to be printed, thereby allowing for a wider dissemination of the royal wishes and counsel. The articles of the Treaty of Union were also presented, read, and ordered to be printed. Copies were to be delivered to the parliamentary

37 Brow n (ed.), The Letters, 191. 38 Ibid. 39 Ibid., 192. 40 Ibid. 41 RPS, 1706/10/11. 42 RPS, A1706/10/1–2. 43 M acin nes, Union and Empire, 284.

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members. Likewise, the minutes of the proceedings of the negotiations were to be published.44 The speeches of both Queensberry and Seafield echoed the sentiments in the instructions given to Queensberry and in the letter sent to parliament45, albeit there was a stronger emotional element in Seafield’s speech  : “I do not think it proper at this time to descend into the particular articles of the treaty  ; I shall only beg leave to say in general that it must be of great advantage to have this whole island united under one government and conjoined entirely in interest and affection, having equality of all rights and privileges, with a free communication of trade, which must certainly establish our security, augment our strength, and increase our trade and riches” and that “We can never expect a more favourable juncture for completing the union than at present”.46 Yet Seafield appears to have been worried about his performance in the aftermath of his speech. Writing to Godolphin on 4 October, Seafield stated  : “I hope you will excuse the manie faults of my speech. It is a great disadvantage to speak on the same subject as the Queen’s letter and my Lord Commissioner’s speech [High Commissioner Queensberry], bot I hope it will be found to be weal intended.”47 The monarch’s letter that was sent to parliament for the opening of a new parliament or a new parliamentary session was also an important element in the relationship between the monarchy and the kingdom of Scotland in the context of absentee monarchy. With regard to the previous parliament of 1689–1702, from the 1693 session onwards a committee for answering the king’s letter (the queen’s letter in the 1702 session) was appointed as one of the four standing parliamentary committees.48 This standing committee structure was not adopted in the 1703–1707 Parliament, however, and “the last Scottish Parliament, in the four sessions of its existence, conducted almost all its business in full House”.49 The political circumstances were 44 RPS, 1706/10/12. 45 RPS, A1706/10/1–2. 46 Ibid., 2. 47 Peter Hume Brow n (ed.), Letters Relating to Scotland in the Reign of Queen Anne. By James Ogilvy, first Earl of Seafield and others, Edinburgh 1915, 94. 48 Ch a rles S. Terry, The Scottish Parliament. Its Constitution and Procedure, Glasgow 1905, 123. The three others were the committees for security of the kingdom, for controverted elections, and for trade. A fifth committee was appointed from the May 1700 session onwards  ; a committee for revising the minutes of Parliament (RPS, 1700/5/16  ; 1700/5/ 34). No trade committee was appointed in the 1702 session, however (RPS, 1702/6/19 and 22). 49 Robert S. R a it, The Parliaments of Scotland, Glasgow 1924, 392. The main committee that was formed in the final parliamentary session was the Committee for examining the calculation of the Equivalent (article XV of the treaty) on 23 October, with additional members added on 28 November 1706 (RPS, 1706/10/25 and 100). M acin nes, Union and Empire, 298, and John R. You ng, The Scottish Parliament and the politics of empire  : Parliament and the Darien Project, 1695–1707, in  : Parliaments, Estates & Representation 27, 2007, 175–190.

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different, however, due to the treaty passing through parliament and parliament’s formal letter of response was not articulated until 24 March 1707, prior to the Act of Adjournment on 25 March.50 Parliament’s letter noted the “great care and concern” shown by the Queen “to bring the treaty of union” between the two kingdoms to a “happy conclusion” and that the Union “has established a lasting monument of your majesty’s glory to all future ages”.51 Queensberry’s closing speech of 25 March, in similar tone, stated that “we and our posterity will reap the benefit of the two kingdoms” and argued for the promotion of “a universal desire in this kingdom to become one in hearts and affections as we are inseparably joined in interest with our neighbouring nation”.52 John Dalrymple, first Earl of Stair, the architect of the notorious 1692 Massacre of Glencoe, played a crucial role in the successful union process as a key political actor in his own right. Yet Stair was also at the heart of the wider Dalrymple family political interest that was apparent in the treaty negotiations and in Scottish parliamentary politics. Not only was Stair one of Scotland’s leading legal minds in line with an established family tradition, but he also played a crucial role in the debates in the Scottish Parliament over the negotiated treaty. Stair was a distinguished and eloquent parliamentary orator and debator. According to Defoe, Stair was “justly reputed to be the greatest man of counsel in the kingdom of Scotland” and that he had been “an eminent instrument in carrying on the Union”.53 Stair was a leading asset to the Court Party not only with regard to his impressive skills of oration, but also in the political management of the debates. Gilbert Burnet, Bishop of Salisbury, noted that the “great and long debates” were “managed on the side of the union” by Stair and Seafield for the ministry.54 Stair was described by Clerk as “a shrewd and able speaker”.55 Clerk recorded one of Stair’s speeches in which he countered Fletcher of Saltoun by extolling the perceived benefits of union. After Stair sat down, “other speakers urged further advantages of union”.56 Stair, along with other supporters of union, replied to speeches against article 3 of the treaty (that the United Kingdom of Great Britain be represented by the one and same parliament to be styled the Par50 RPS, 1706/10/409 and 467. The session was adjourned until 22 April, but it did not meet again. The Scottish Parliament was formally dissolved by a proclamation of the Privy Council on 28 April. See Willi a m Ferguson, Scotland’s Relations with England. A Survey to 1707, Edinburgh 1977, 266. 51 RPS, 1706/10/409. 52 RPS, 1706/10/466. 53 Defoe, History of the Union, 491. 54 M a rtin J. Rou th (ed.), Bishop Burnet’s History of His Own Time, 6 vols, Oxford, second edition, 1833, here  : vol. V, 288. 55 Dougl as Du nca n (ed.), History of the Union of Scotland and England by Sir John Clerk of Penicuik, Edinburgh 1993, 112. 56 Ibid., 116. Stair’s speech is recorded at 112–116.

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liament of Great Britain).57 Stair discounted the prospect of a federal union, saying that “we must recognize that it was impracticable for people of different kingdoms and states to join together and still remain subject to the supreme authority of other separate councils and jurisdictions”.58 Stair was also proactive in the debates on article 6 (custom duties and regulations of trade), arguing on the perceived equality of taxation post-union  : “All of this the earl of Stair explained fully and clearly in his usual way, holding the attention of the whole house”.59 Likewise, Stair played a crucial role in the heated debates on article 22 of the treaty, dealing with future Scottish representation in the new British Parliament consisting of 16 elected peers in the House of Commons and 45 representatives in the House of Commons. These debates raged between 7 and 9 January, with votes taken on the first three paragraphs of the article and other overtures relating to additional clauses in the article,60 before the article 22 as a whole was approved by 83 to 65 votes (a majority of 18) on 9 January.61 According to Clerk, the “embers of controversy, having seemed to die down somewhat in the preceding debates, now burst into flame, the whole house wracked with grief and indignation, patriotic fervour and partisan zeal.”62 The opposition went on the attack, to which Stair and others responded. According to Defoe, writing to the English Secretary of State Robert Harley from Edinburgh on 9 January, Stair gave “an Extraordinary speech on the Debate on the 22d Article”.63 Stair returned to his lodgings, but died suddenly in his sleep of apoplexy on 8 January,64 having had “weakness of the lungs” for some months.65 The securing of the Treaty of Union and the enactment of the Act of Union was a supreme political achievement for the Queen, her ministers and the Court Party, albeit in the face of a divided opposition in Scotland and fears of a military invasion and conquest. Defoe named key Scottish politicians who had played such a leading role. Queensberry was given special attention in Defoe’s accolades. With regard to “posterity” looking back on the “great transaction” of the Union, “it will be most necessary to enquire by whose management, and under whose conduct it was carried on”.66 Defoe 57 Ibid., 128. 58 Ibid., 130. 59 Ibid., 139–141. The quotation is taken from 141. 60 RPS, 1706/10/211–233  ; M acin nes, Union and Empire, 327. 61 RPS, 1706/10/234  ; M acin nes, Union and Empire, 327. 62 Du nca n (ed.), History of the Union, 158. Clerk continued to note that “the party leaders, like gladiators about to do battle in the arena, hesitated between attack and defence, whether to give and receive the first blow”, 158. 63 George H. He a ley (ed.), The Letters of Daniel Defoe, Oxford 1955, 192. 64 Ibid. 65 Du nca n (ed.), History of the Union, 169. 66 Defoe, History of the Union, xxx.

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John R. Young, Glasgow

referred directly to the speech given by Queen Anne to the English Parliament at the passing of the Union, when she said that “I make no doubt but it will be remembered and spoke of hereafter to the honour of those who have been instrumental in bringing it to such a happy conclusion”.67 For Defoe, it could not be doubted that Queensberry “had the first place in her Majesty’s thought”.68 Queensberry was celebrated as he made his journey from Scotland to London, departing on 2 April 1707. In recognition of his services, Queensberry was given a British peerage and on 26 May 1708 he was created Duke of Dover, Marquis of Beverley, and Earl of Ripon.69 For Clerk, Stair was renowned for his “wisdom and eloquence” and “throughout his life he had promoted union in all he said and did, and preserved right to the end”,70 despite his poor health. Furthermore, Stair attended the House every day, “supporting in forceful and outstanding speeches the cause which he saw as the only remedy for all his country’s woes since the crown were joined [the 1603 Union of the Crowns].71 Thus, according to Clerk, “It is to this great man above all that Britain owes whatever good it sees emerging from union”.72

5. Conclusion The 1707 Act of Union is and remains a seminal event in Scotland’s history. Drawing on methodological approaches primarily, but not exclusively from continental Europe, based on political actors and parliamentary oration, helps to provide a useful insight into how that Union came into existence and how it was debated at the time. The range of parliamentary speeches on the negotiated treaty, Anglo-Scottish relations, and other unions in continental Europe was of course much wider than has been presented here, in terms of speeches both for and against the Union in question. Nevertheless, this article has examined the role of political actors (and their oratory skills) who played a key role in successfully delivering the Union, including Queen Anne in 1706–1707. Whether that Union continues to exist in the twenty-first century remains in question, as Scotland’s constitutional place in the United Kingdom and post-Brexit Europe is subject to debate by contemporary political actors, parliamentarians, and respective electorates.

67 Ibid., 486. 68 Ibid., xxx. 69 John R. You ng, Douglas, James, second duke of Queensberry and first duke of Dover (1662–1711), Oxford University Press, 2004  ; online edition 2010 [http://www.oxforddnb.com/view/article/7897]. 70 Du nca n (ed.), History of the Union, 169. 71 Ibid. 72 Ibid.

ÖSTER R EICH I N DEN I N TER NATIONA LEN BEZIEHU NGEN I M 19. U N D 20. JA HR HU N DERT

Miloš Řezník, Warschau*

Galizischer Adel und die habsburgische Diplomatie im frühen 19. Jahrhundert Graf Felix Mier und andere Die Gesamtstaatswerdung Österreichs, welche in der theresianisch-josephinischen Zeit in eine frühe, aber entscheidende Phase trat1 und die in der zumindest partiellen Überwindung des Charakters einer zusammengesetzten Monarchie bestand, implizierte eine Integration in diversen administrativen, politischen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt kulturellen Bereichen. Dies betraf eine weitere Herausbildung transregionaler, aus Sicht der traditionellen Länderstrukturen transterritorialer und transnationaler, gesamthabsburgischer Eliten. Trotz der zeitgenössischen Kritik an der Aristokratie, dem Adel und der ständischen Gliederung nach dem Geburtsprinzip bedeutete es zwingend auch die weitere Formierung einer länderübergreifenden adligen Oberschicht. In den meisten habsburgischen Ländern konnte hier auf ältere Ansätze seit dem 16. und 17. Jahrhundert angeknüpft werden. Doch mit dem seit der Mitte des 18. Jahrhunderts intensivierten und programmatischen Willen zum Gesamtstaat, den zunächst vor allem Maria Theresia und Joseph verkörperten, paarten sich neue Anreize für die Angehörigen der Stände in einzelnen Ländern  : Die ausgebaute Staatsadministrative, insbesondere die Zentralstellen in Wien und das Militär, boten neue, breitere Möglichkeiten von Aufstieg, standesgemäßer Versorgung und Karriere als bisher. Hinzu trat nicht zuletzt die Diplomatie mit der verstärkten Tendenz zur Einrichtung ständiger Vertretungen an ausländischen Höfen und an Orten, wo Konsulagenda erledigt werden sollte. Diese Problematik stellte sich spezifisch bei jenen Ländern dar, die der habsburgischen zusammengesetzten Monarchie erst während des 18. Jahrhunderts angegliedert wurden und die in den bereits existierenden Integrationsprozess mit all ihren besonderen strukturellen Eigenschaften einstiegen. Besonders betraf dies Galizien, ein aus den habsburgischen Anteilen bei der ersten Teilung von Polen völlig neu ein-

* Abkürzungen  : HHStA  : Haus- Hof- und Staatsarchiv Wien  ; ÖStA  : Österreichisches Staatsarchiv  ; PSB – Polski Słownik Biograficzny  ; SAR, GA M – J  : Staatsarchiv Rzeszów, Gutsarchiv Mier – Jędrzejowicz. 1 Grete Wa lter-K lingenstein, Was bedeuten »Österreich« und »Österreichisch« im 18. Jahrhundert  ? Eine begriffsgeschichtliche Studie, in  : Richard G. Plaschka – Gerald Stourzh – Jan Paul Niederkorn (Hg.), Was heißt Österreich  ? Inhalt und Umfang des Österreichbegriffs vom 10. Jahrhundert bis heute, Wien 1995, 149–220.

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Miloš Řezník, Warschau

gerichtetes Königreich, das nicht nur einen umwälzenden Herrschaftswechsel mit der Transformation von der adelsrepublikanischen zur zentralistischen absolutistischmonarchischen Verfassung durchlief, sondern zugleich mit tiefen rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen konfrontiert wurde. Diese hatten wiederum Konsequenzen für das Selbstverständnis, die Identitätsbildung und die Loyalitätskonfigurationen der polnischen Adelsschichten im Habsburgerreich.2 Eine Integration Galiziens in den Rahmen der Monarchie3 implizierte eine Kompatibilisierung der Strukturen des neuen Landes.4 Dies bedeutete einerseits Anpassung an die österreichisch-böhmischen Vorbilder und Einbindung in die zentralen und länderübergreifenden Strukturen, aber andererseits die Schaffung einer eigenen, galizischen Entität als Land und Ständegemeinde, die den üblichen Verhältnissen in den älteren Kronländern entsprechen würde. Doch gerade die Integration bzw. Kooptation der galizisch-polnischen adligen Oberschicht in die länderübergreifende Elite erwies sich als genauso schwierig wie die strukturelle Kompatibilisierung des Landes. Zwar herrschte spätestens in den 1780er Jahren auch in Wien die Überzeugung, dass man mehr galizische Einheimische in den Militär- wie Zivildienst aufnehmen bzw. gewinnen sollte und dass dies einer Loyalität und neuer Identitätsbildung dienen würde.5 Auf der anderen Seite stellten sich diesen Integrationsmaßnahmen mehrere Hindernisse in den Weg  : Einerseits die bis 1795 und wieder ab 1807 bestehende Möglichkeit für die galizischen Aristokraten und Adligen, sich am politischen Leben in Polen-Litauen, im Herzogtum Warschau und in Kongresspolen zu beteiligen, sowie der tiefe Unterschied im Verständnis des Dienstes zwischen dem Wiener Hof und der polnischen Adelstradition, und nicht zuletzt die Unpopularität lokaler habsburgischer Behörden in Galizien führten den polnischen Adel zu einer reservierten Einstellung dem habsburgischen Zivildienst gegenüber. Andererseits herrschte in Wien Vorsicht bis Misstrauen der Loyalität, der Mentalität und den Fähigkeiten der Vertreter des polnischen Hochadels gegenüber, verbunden mit der 2 Vgl. hinzu, aus etwas späterer und »gesamtpolnischer« Sicht insb. Ja rosł aw Czubat y, Zasada »dwóch sumień«. Normy postępowania i granice kompromisu politycznego Polaków w sytuacjach wyboru (1795–1815), Warszawa 2005. 3 Nach wie vor grundlegend  : Horst Gl assl, Das österreichische Einrichtungswerk in Galizien (1772– 1790), Wiesbaden 1975. 4 Vgl. dazu im Kontext des polnischen Adels in der Habsburgermonarchie Miloš Řezník, Neuorientierung einer Elite. Aristokratie, Ständewesen und Loyalität in Galizien (1772–1795), Frankfurt am Main 2016. 5 H a ns-Jürgen Bömelburg, Inklusion und Exklusion nach der Ersten Teilung Polen-Litauens. Die österreichische, preußische und russländische Regierungspraxis in Galizien, Westpreußen und den weißrussischen Gouvernements Polack und Mahilëŭ im Vergleich (1772–1806/07), in  : Ders. – Andreas Gestrich – Helga Schnabel-Schüle (Hg.), Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusion- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen, Osnabrück 2013, 171–200, hier 187  ; Wacł aw Tok a rz, Galicya w początkach ery józefińskiej w świetle ankiety urzędowej z roku 1783, Kraków 1909, 64–78.

Galizischer Adel und die habsburgische Diplomatie

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Überzeugung, dass diese Gruppe noch Zeit brauche, sich im Habsburgerreich mental zu akkulturieren. So gab es seit den 1780er Jahren zunehmend viele Polen im zivilen Staatsdienst insbesondere in Galizien selbst, diese bekleideten aber meist nur die niedrigeren Posten in der Struktur des Guberniums und der Kreisämter. Doch immer wenn es darum ging, die Anhänglichkeit und Loyalität der galizischen ständischen Elite zu fördern und ihr Motivationen für Staatstreue anzubieten (und dies war zwischen 1791 und 1815 immer bei den politischen Krisen der Fall), stand das Thema von deren Einbindung in den zivilen und militärischen Staatsdienst in Wien zum Gespräch. Dem Militär, bei dem bereits eine Tradition der polnischen Karrieren bestand und dessen Öffnung für die Galizier nicht zuletzt die Errichtung der Galizischen Leibgarde am Hof dienen sollte, wurde in der Forschung bereits umfassende Aufmerksamkeit gewidmet.6 Die allgemeine Frage der Zulassung der Einheimischen zu Beamtenpositionen wurde ebenfalls thematisiert.7 Im Folgenden sollen anhand einiger Beispiele die Perspektiven der habsburgischen Diplomatie als Feld für die Betätigung galizischer Aristokraten zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts und dem frühen Vormärz erörtert werden. Der diplomatische Dienst profilierte sich als ein wichtiger Bereich der Betätigung der Aristokratie und des reichen Adels in der Habsburgermonarchie, indem es im späten 18. und 19. Jahrhundert zu einem Ausbau und einer Stabilisierung von Vertretungen und Posten kam.8 Die Ansprüche, die eine solche Laufbahn an die Kandidaten stellte, konnten nur von einem kleineren Teil des Adels gemeistert werden  : Neben der Loyalität gegenüber der Monarchie und sonstiger politischer wie persönlicher Verlässlichkeit gehörten zu den absolut notwendigen Voraussetzungen ein tadelloser Ruf, Ausbildung, gute Sprachkenntnisse, aber auch solider materieller Hintergrund, weil die Repräsentation des Staates zum Teil auf eigene Kosten der leitenden Diplomaten geschah. Für eine standesgemäße Versorgung nachgeborener 6 Mich a ł Baczkowsk i, W służbie Habsburgów. Polscy ochotnicy w austriackich siłach zbrojnych w latach 1772–1815, Kraków 1998  ; Ders., Galicja a wojsko austriackie 1772–1867, Kraków 2017  ; A ndre as Gestrich, Die galizischen adeligen Leibgarden am Wiener Hof. Ein Beispiel habsburgischer Inklusionspolitik nach den Teilungen Polen-Litauens, in  : Ders. – Bernhard Schmitt (Hg.), Militär und Gesellschaft in Herrschaftswechseln, Potsdam 2013, 41–63  ; Bernh a r d Schmit t, Armee und staatliche Integration. Preußen und die Habsburgermonarchie 1815–1866. Rekrutierungspolitik in den neuen Provinzen  : Staatliches Handeln und Bevölkerung, Paderborn u. a. 2007  ; Ders., Der polnische Adel in den Armeen Preußens und der Habsburgermonarchie. Inklusion und Exklusion neuer Untertanen im Militär (1772–1806), in  : Bömelburg – Gestrich – Schnabel-Schüle, Die Teilungen, 359–376. 7 Miloš Řezník, Die »Nationalisten« und die imperiale Integration. Verwaltungsdienst und einheimischer Adel in Galizien (1772–1791), in  : Harald Heppner – Sabine Jesner (Hg.), Die Personalfrage in neuen Provinzen. Das Banat im regionalen Vergleich, Stuttgart 2020, 229–246, hier auch weitere Literaturhinweise. 8 Erwin M atsch, Der auswärtige Dienst von Österreich (-Ungarn) 1720–1920, Wien–Köln–Graz 1986.

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Söhne im materiellen Sinne eignete sich dieses Feld sicher nicht unbedingt, zumindest soweit es um Leitungsposten in den Missionen (aber auch um unbezahlten Praktikantenstellen) ging. Dies galt bis zum Ende der Habsburgermonarchie vor allem für die Missionsvorgesetzten – die Gesandten und Botschafter.9 Solche Konditionen konnten sich beim galizischen Adel zunächst als Hindernis auswirken, denn er galt aus der Perspektive Wiens en masse in den ersten Jahrzehnten nach der Annexion Galiziens nicht als besonders vertrauenswürdig, was die Loyalität dem Staate gegenüber anbetrifft, vor allem mit Hinsicht auf die Problematik der republikanischen Tradition. Hinzu trat das bereits im 18. Jahrhundert stark stereotypisierte Bild des polnischen Adels als zum großen Teil arm und ungebildet. Diese kulturelle Barriere konnten Einzelne durchbrechen, doch finden wir im ersten halben Jahrhundert in den repräsentativen Posten der österreichischen Diplomatie, an der Spitze österreichischer Vertretungen im Ausland, nur sehr selten Polen bzw. Galizier vor. Die ersten Galizier erschienen an solchen Leitungsposten eigentlich erst nach den Napoleonischen Kriegen  : Fürst Ludwik Jabłonowski, ein Anhänger des absolutistischen Systems nach dem Wiener Kongress und seit 1817 galizischer Oberstlandstallmeister, vertrat das Kaisertum in den Jahren 1816–1822 in Neapel bzw. dem Königreich Beider Sizilien.10 Als der eigentliche Grund seiner Abberufung aus Neapel wurde in seiner Zeit allerdings behauptet, dass er Ärarmittel in Karten verspielt habe (Kartenspiel war in der Tat seine Leidenschaft). Später, während des November­ aufstands in Polen, soll er in Wien mit den aufständischen Emissären in Verbindung gestanden und zwischen ihnen und den österreichischen Regierungskreisen (Franz Anton von Kolowrat-Liebsteinsky, Friedrich von Gentz) vermittelt haben.11 Auch Graf und später Fürst Eduard Woyna, ein ranghoher Offizier im österreichischen Militär, der dem polnischen Adel aus Westgalizien entstammte und nach 1797 den Posten des Vizekanzlers in der Galizischen Hofkanzlei in Wien innehatte, schlug nach den Napoleonischen Kriegen die diplomatische Laufbahn ein und wirkte ein Vierteljahrhundert als Gesandter in Schweden (1820–1844), um dann noch für weitere sechs Jahre nach Belgien zu wechseln.12 Erst seit den 1850er Jahren folgten mehrere weitere Galizier auf vergleichbaren Posten  ; die letzten Jahrzehnte des 19. und der Anfang des 20. Jahrhunderts brachten einen stärkeren Anteil der Galizier unter den Botschaftern und Gesandten  : Sie waren in verschiedenen Destinationen

 9 Siehe dazu für die Spätzeit der Monarchie am Beispiel des Botschafters in Sankt-Petersburg (1894– 1898) Franz von Liechtenstein bei M a rija Wa kou nig, Der Fürst als Botschafter, in  : Waltraud Heindl u. a. (Hg.), Eliten und Außenseiter in Österreich und Ungarn, Wien–Köln–Weimar 2001, 117–137. 10 M atsch, Der auswärtige Dienst, 128. 11 Stefa n K ieniewicz  : Jabłonowski Ludwik, in  : PSB, Bd. 10, Wrocław–Warszawa–Kraków 1962–1964, 229. 12 M atsch, Der auswärtige Dienst, 115, 116, 160.

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von Japan über Persien, Rumänien und Württemberg bis nach Südamerika tätig,13 allerdings in der Regel nicht dort, wo sie direkt mit der polnischen Frage in der internationalen Politik etwas zu tun haben könnten. Einen Sonderfall unter den österreichischen Spitzendiplomaten stellte durch seine galizisch-polnische Herkunft schon seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts Graf Felix (Feliks) Mier dar, ein persönlicher Günstling des Staatskanzlers Metternich. Zwar wurde er selbst bereits kurz nach der Annexion Galiziens an Österreich geboren, doch noch sein Vater Jan Mier beteiligte sich aktiv am politischen Leben Polens, nahm an polnischen Reichstagen teil und erhielt das Amt des Kastellans von Polnisch-Livland. Er ließ sich aber zugleich in Galizien legitimieren, weil dort die meisten seiner Güter lagen, erreichte 1777 den habsburgischen Grafentitel und wurde nach der Einführung der ständischen Verfassung (1782) Angehöriger des galizischen Herrenstandes. Seine Gattin Marianna geb. Tarnowska war seit 1779 Dame des Sternkreuzordens. Seine Güter in der Ukraine verkaufte er und lebte dann ­meistens in Lemberg sowie auf seiner Residenz im später westgalizischen Wożuczyn, wo auch der zukünftige Diplomat Felix aufwuchs.14 Graf Felix15 widmete sich zunächst der militärischen Laufbahn und diente 1802– 1803 im 3. Ulanen-Regiment. Der Protektion der Fürstin Izabela Lubomirska, einer der bedeutendsten und einflussreichsten aristokratischen Damen aus Galizien dieser Zeit, in deren Residenz in Łańcut Mier häufig weilte, hatte er seinen raschen Aufstieg zu verdanken, insbesondere wenn ihre Konnexe bis zum Grafen Metternich reichten. In Łańcut wartete schließlich Mier auch die Nachricht aus Wien ab, ob er die diplomatische Laufbahn antreten kann. Noch im Jahre 1804 hat seine erfolgreiche diplomatische Karriere im habsburgischen Dienst tatsächlich begonnen,16 wobei er bald zum engsten Mitarbeiter Metternichs wurde. Unter Metternich als österreichischem Gesandten beim preußischen Hof kam Mier an seinen ersten Entsendungsort, an dem er als Gesandtschaftsattaché zwischen Dezember 1804 und Sommer 1806 funktionierte. Dann nahm ihn Metternich als Attaché auf seine neue Mission nach Paris mit. Hier erhielt Mier von dem zukünftigen Staatskanzler nicht zuletzt spezielle Aufträge  ; so wurde er zum Beispiel im Sommer 1808 kurzfristig mit der Geheimdepesche des französischen Außenministers Nompère de Champagny nach Wien

13 Ebd., passim. 14 Das in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert vom Miers Großvater, dem aus einer ursprünglich schottischen, in Finnland ansässigen altadligen Familie stammenden hohen polnischen Offizier Wilhelm Myhr (ca. 1680–1758) errichtete Barockschloss mit seinen Kunst- und Büchersammlungen wurde Ende Juli 1915 durch die österreichische Artillerie zerstört. 15 Das folgende Biogramm stützt sich zum größeren Teil auf PSB, Bd. 20, Wrocław 1975, 801–802, sowie auf eigene Recherchen in der Korrespondenz von Mier  : SAR, GA M – J, Sign. 111. 16 Ebd., 8, 14.

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an dessen österreichischen Amtskollegen Stadion geschickt.17 Der Ausbruch des neuen österreichisch-französischen Krieges brachte auf eine durchaus dramatische Weise das Ende der Pariser Mission  : Da Metternich wegen Krankheit Paris nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde dort Mier zusammen mit seinem Vorgesetzten interniert und im Juni 1809, nachdem Napoleon Wien besetzte, nach Österreich gebracht. Erst Ende desselben Monats wurden beide in Ungarn gegen den internierten französischen Gesandten ausgetauscht und konnten sich dem kaiserlichen Hauptquartier anschließen. Mit der bald danach erfolgten Ernennung Metternichs zum österreichischen Außenminister sollte sich vor Mier eine weitere vielversprechende Karriere öffnen. Schon 1810 wurde er für seinen ersten selbständigen diplomatischen Gesandtenposten bestimmt und konnte sich nach langen Verzögerungen im September 1811 nach Neapel begeben, wo er bis 1815 österreichischer Gesandter und bevollmächtigter Minister an Murats Hof war und wo er die Gunst der Königin und Napoleons Schwester Caroline zu gewinnen wusste. Im April 1815 hat er im Zusammenhang mit dem Krieg zwischen Österreich und Neapel seinen Posten verlassen, womit auch die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Staaten zum Abbruch kamen. Sein Nachfolger, der bereits erwähnte Ludwik Jabłonowski, begab sich dann bereits an den völlig anderen Hof von Neapel – jenen der restaurierten bourbonischen Monarchie. Während Jabłonowski seine Tätigkeit dort aufnahm, erhielt Mier eine wichtige einmalige Mission, als er die zukünftige Kaiserin und Gattin des Kaisers Franz I. Karoline Auguste von Bayern aus München nach Wien begleiten sollte. Ab 1818 folgten weitere Missionen als Gesandter und bevollmächtigter Minister bei auswärtigen Höfen  : zunächst in Hannover (den größeren Teil dieser Zeit verbrachte er allerdings in Wien)18 und ab 1820 ganze zehn Jahre in den Niederlanden (wechselweise in Brüssel und Den Haag).19 Nach dem Ausbruch der Revolution in Belgien verließ er im Oktober 1830 seine Mission und damit auch den diplomatischen Dienst. Erst dann konnte er sich mehr in Galizien engagieren, wo er Mitglied des Herrenstandes war. In den 1830er Jahren wurde er in die Landeserzämter ernannt – 1834 zum galizischen Oberstlandmundschenk, 1843 zum Oberstjägermeister und 1845 zum Oberstlandkämmerer, dem dritten in der Hierarchie der galizischen Erzämter.20 Im Jahre 1836 nahm er als königlicher Kommissar am galizischen Landtag teil – in dieser Funktion, deren Verleihung ein besonderes Zutrauen des Kaisers bedeutete, oblag es ihm, unter

17 Ebd., 42. 18 Ebd., 164–182. 19 Nicht nach Braunschweig, wie es im PSB, Bd. 20, 49, steht. Vgl. die Korrespondenz Miers in SAR, GA M – J, sign. 111, 164–182  ; und M atsch, Der auswärtige Dienst, 133, 142. 20 Siebmacher’s Wappenbuch, Bd. 4, Abt. 14, Der Adel von Galizien, Lodomerien und der Bukowina, Nürnberg 1905, 49–50.

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anderem die königlichen Propositionen mit Steuerpostulaten vorzutragen.21 In den 1840er Jahren engagierte er sich für die ökonomische Entwicklung Galiziens und die wirtschaftliche Stabilisierung der Gutswirtschaft. Er war ab 1844 bis zu seinem Tode Gründungs- und Direktionsmitglied des Galizischen Sparkassenvereins (Towarzystwo Galicyjskie Kasy Oszczędności) und Vorstandsmitglied des Galizischen Wirtschaftsvereins (Galicyjskie Towarzystwo Gospodarcze). Aufgrund seiner diplomatischen Tätigkeit erhielt er eine Reihe österreichischer und ausländischer Auszeichnungen  : Schon 1806 erreichte ihn die österreichische Kämmererwürde, 1810 wurde er zum Geheimen Rat ernannt und erhielt damit auch formal Eintritt in die österreichische aristokratische Hofelite. 1822 wurde ihm das Kommandeurskreuz (damals 2. Stufe) des Leopold-Ordens verliehen, der 1808 speziell für Galizien eingeführt wurde.22 Auch seine Frau (und Cousine) Agnieszka (Agnes) erhielt mit dem Titel der Palastdame und dem Sternkreuzorden (1832–1833) hohe österreichische Auszeichnungen. Die Korrespondenz Miers mit seiner Mutter Marianna Mier (geb. Tarnowska), die meist in Lemberg wohnte und die er während der 26 Jahre im diplomatischen Dienst nur einige Male in Galizien besuchen konnte, zeigt Schwierigkeiten, welche sich nicht nur den galizischen Adepten der diplomatischen Karriere in den Weg stellten, falls sie keine entsprechende materielle Sicherung zur Verfügung hatten. Mier stammte zwar aus einer relativ reichen galizischen Adelsfamilie, dennoch war sein eigenes Vermögen eher bescheiden. Er persönlich als nachgeborener Sohn verfügte nicht über Familiengüter und blieb auf seinen Bruder Adam angewiesen. Adam widmete sich seit dem Anfang der 1790er Jahre mit Erfolg seiner Karriere beim österreichischen Militär, lebte seit dem Ausscheiden aus dem Dienst (1805) in Lemberg und blieb mit Rentenzahlungen an Felix öfters unzuverlässig, was das Vertrauen zwischen den Brüdern offensichtlich schwer belastete, abgesehen von anderen Problemen (Adams nicht standgemäße Heirat sowie die Art der Verwaltung von Familiengütern, mit der Felix nicht einverstanden war). Die Korrespondenz Miers mit seiner Mutter, die sich größtenteils mit privaten und persönlichen Angelegenheiten beschäftigt und nur gelegentlich das gesellschaftliche Leben in Wien, Lemberg sowie an Orten, an die Mier gesandt wurde, thematisiert (mit einer besonderen Aufmerksamkeit für den am jeweiligen Ort weilenden polnischen Adel), beinhaltet regelmäßige Fragen betreffend die unter Adams Verwaltung stehenden Familiengüter in Galizien, Mahnungen an Adam wegen Zahlungen, Bitten um finanzielle Unterstützung oder aber Sorgen um die materielle Situation der Mutter sowie Angaben und Berichte über 21 Verhandlungen des in den Königreichen Galizien und Lodomerien […] 1836 eröffneten […] Landtags, Lemberg 1836  ; PSB, Bd. 20, Wrocław 1975, 50. 22 M a rio La ich, Altösterreichische Ehrungen – Auszeichnungen des Bundes. Vergleiche und Betrachtungen. Ein Beitrag zur Rechts- und Kulturgeschichte, Innsbruck–Wien 1993, 16, 18.

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Geldbeträge, die er ihr im Laufe der Zeit schicken konnte. Insbesondere die Zeiten, in denen Mier in Wien weilte und manchmal sehr lange auf die schon bestimmte Entsendung nach Ausland wartete, empfand er wegen der niedrigeren Einkünfte als äußerst prekär. In diesen Phasen beschäftigten ihn wiederholt finanzielle Sorgen. Insbesondere das sehr lange Warten auf die immer wieder verschobene Entsendung nach Neapel wirkte in den Jahren 1810 und 1811 erdrückend. Ähnliche Bitten wie diese im Schreiben an die Mutter nach Lemberg vom 10. Mai 1810 wiederholten sich nicht selten  : »… mes appointemens ne commenceront que quand je serai rendre à ma destination. Je serai forcé de ceder ici à quelq’un ces mille ducats qui me reviennent de Mr. Albert [Albert/Wojciech Mier, Cousin von Adam und Felix – MŘ], car je suis déjà court d’argent  : je crainds que cela ne le fache, mais je ne pourrai pas faire autrement […]. Si vous recevez une repond d’Adam n’oubliez pas de me la communiquer. Je voudrois bien qu’il se prete volonter de m’envoyer quelque argent.«23 Und etwas mehr als einen Monat später  : »Je voudrois bien pouvoir ne pas toucher aux mille ducats que me reviennent de Monsieur Albert, y zachować ich nadal [= und sie weiter behalten – auf Polnisch]  ; mais je n’en vois aucune possibilité. Je ne reçois de pension de nullepart, pas même de la Princesse Maréchale [= Fürstin Lubomirska], mon sejour à Vienne prolongé audelà de mon attente me fait dépenser le peu d’argent que j’avois, et puis il faut encore payer plusieurs articles, nécessaires pour monter ma maison à Naples, que j’ai commandé ici à cause du meilleur marché. – Si je pouvois recevoir 5 mille florins d’Allemagne en papier, alors cela suffirais a ma depense jusqu’au moment de mon depart pour Naples, et de payement des choses commendées, mais sans ce secours je ne pourrai pas me tirer autrement d’affaire. Si Adam Vous envois l’argent qu’il a promit de me donner, veuillez bien me le faire passer incessemment car j’en ai grand besoin.«24 Im folgenden Monat beklagte sich Mier schon ganz offen über seinen Bruder, machte ihn an seinen Problemen schuldig und gab seinem Zweifeln Ausdruck, ob die diplomatische Laufbahn überhaupt eine gute Wahl war.25 In Miers Fall war neben seiner Herkunft, dem Ansehen der Familie und der Loyalität zum Herrscherhaus die persönliche Protektion der Fürstin Lubomirska und des Grafen (später Fürsten) Metternich wohl entscheidend.26 Das alles konnte aber die Schwierigkeiten bei der materiellen Deckung der Lebensführung in Wien und der Repräsentation auswärts nicht vollständig ausgleichen. Während der Missionen hat sich die Lage für Mier verbessert, eine Wende brachte allerdings erst die Heirat 23 SAR, GA M – J, sign. 111, 57. Zitate aus der Korrespondenz Miers werden in origineller Schreibweise belassen. 24 Ebd., 60. 25 Ebd., 64–66. 26 PSB, Bd. 20, 49.

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im Jahre 1818, denn seine Frau Agnieszka Mier brachte als Erbschaft nach Eltern und Geschwistern zahlreiche große Güter in Ostgalizien. Er selbst erwarb weitere Güter.27 Wir wissen, dass Felix Mier mit seiner glänzenden Karriere eine Ausnahme unter dem galizischen Adel darstellte und eigentlich der erste Galizier war, dem die Leitung von auswärtigen Missionen anvertraut wurde. Ohne das besondere persönliche Vertrauen Metternichs wäre dies kaum möglich gewesen. Da sich die erstgeborenen Söhne der reichen Familien zumindest teilweise der Verwaltung ihrer Güter widmeten und sich kaum jahrelange Abwesenheit leisten konnten, und weil die Nachgeborenen entweder über begrenzte Ressourcen verfügten oder auf eine intensive Unterstützung durch die Familie angewiesen waren, zeigte sich eine Spitzenkarriere in der Diplomatie für den galizischen Adel eher als unerreichbar. Die immer noch relativ geringe Vertrautheit Wiens mit der galizischen Adelslandschaft durfte dabei für die geringeren Erfolgschancen der galizischen Aristokraten im habsburgischen auswärtigen Dienst besonders wichtig sein. Dies zeigt beispielsweise der Fall des Grafen Tytus Dzieduszycki (1796–1870) vom Jahre 1821. Sein Bemühen um einen diplomatischen Posten wird hier kurz näher angesprochen, weil es die formalen, reputationsbezogenen Ansprüche zeigt, die von Seiten der Staatskanzlei an die Repräsentanten Österreichs im Ausland gestellt wurden. Aus der Reaktion des Staatskanzlers Metternich auf die sich wiederholenden persönlichen Intervenzen und Fürsprachen für bestimmte Kandidaten sehen wir, dass solche Art von Konnexen keine entscheidende Bedeutung haben konnten, solange sie von dem Amte außenstehenden und in Wien nicht besonders einflussreichen Personen ausgingen. Gerade dies war bei Tytus Dzieduszycki der Fall. Metternich ließ über den galizischen Gouverneur wissen, dass von einer Beschäftigung bei der Hofkanzlei, der Staatskanzlei oder im diplomatischen Dienst aufgrund einer solchen Intervention keine Rede sein könne, und dass sich der junge Graf nach der Beendung seiner Studien selber und »ordnungsmässig in Competenz zu setzen, und sich über seine Fähigkeiten, Kenntnisse, und sittliches Betragen, mit gültigen Zeugnissen auszuweisen habe, wodurch dann jede weitere Verwendung der Wilhelmine von Richter [der Fürsprecherin des Titus Dzieduszycki] als überflüssig von selbst wegzufallen haben wird.«28 Da Dzieduszycki kurz darauf dieser Empfehlung folgte und sich selbst um die Aufnahme in den Dienst bei Zentralstellen bewarb, bat Metternich den Gouverneur Hauer, Informationen über die Familien- und materiellen Verhältnisse, persönliche 27 Ebd., 50. 28 ÖStA, HHStA, Staatskanzlei, Provinzen, Galizien, K. 2, Fasz. Correspondenz der Staats-Kanzlei mit dem galizischen Landesgubernium 1813–1826, Metternich an den Gouverneur Franz von Hauer 30.11.1821, Fol. 251.

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Eigenschaften, Charakterzüge, Fähigkeiten und Meinungen dieses Angehörigen eines der ansehnlichsten galizischen hochadligen Geschlechter einzuholen  : »Sollte er mit guten Studien einen verlässlichen Charakter und feinere Bildung, Sprachkenntnisse, ein angemessenes Aeußeres und solche Familien und Vermögens Verhältnisse verbinden, welche in den Stand setzen, sich für einige Zeit auch auf eigene Kosten bey einer Gesandtschaft im Auslande auf schicklichste Art zu erhalten [, dann wäre es im Interesse der Staatskanzlei ihn einzustellen,] im gegentheilgen Falle aber wäre es rathsamer, wenn Graf Dzieducziky [sic] dem Staate seine Dienste in einem anderen Fache widmen wollte,«29 wobei für diesen Fall dem Bewerber mitzuteilen wäre, dass keine Möglichkeit bestehe, ihn im diplomatischen Dienst zu beschäftigen, und alle weitere Bewerbungen oder Intervenzen erfolglos bleiben würden. Die von Hauer prompt gelieferten Informationen könnten jedoch den Staatskanzler überrascht haben  : Der Lemberger Landesgouverneur unterließ es nicht, auf die Tatsache hinzuweisen, dass Tytus Dzieduszycki ein Neffe des österreichischen Gesandten in Den Haag und Metternichs Günstlings Felix Mier war. Außerdem berichtete Hauer über die hohe Position der Familie Dzieduszycki, von der schon mehrere Mitglieder die Kammererwürde erhielten. Tytus Dzieduszycki persönlich erschien ihm beinahe ideal für eine angemessene Repräsentation der Monarchie  : In Hauers Schilderung war er ein junger Mann mit Talent, der sich mit besonderem Fleiß den Wissenschaften widmete und durch sein angenehmes Betragen eine außerordentliche Bildung des Geistes verriet. Ausdrücklich als günstig für eine diplomatische Karriere bezeichnete der Gouverneur, der diese Erlaubnis wahrscheinlich selbst erteilt hatte, die Vermögensverhältnisse der Eltern, die eine finanzielle Sicherung ermöglichten. Auch Sprachkenntnisse (neben Latein und der polnischen Muttersprache Deutsch, Französisch und Englisch) machten in Hauers Augen klar, dass Dzieduszycki allen Anforderungen entsprach, die der Staatskanzler an die Diplomaten stellte. Der galizische Landeschef empfahl daher, der Bewerbung positiv entgegenzutreten. Im Geist der damaligen Galizien-Politik und der Bemühungen, den Adel stärker an den habsburgischen Staat zu binden, gab Hauer zu Bedenken, dass die Berufung Dzieduszyckis in die Diplomatie eine Auszeichnung für den galizischen Adel im Allgemeinen wäre30 – ein weiterer Hinweis, dass eine Karriere in der habsburgischen Diplomatie hier keineswegs üblich war. Dzieduszycki wurde damals jedoch nicht in den Außendienst angenommen. Er setzte seine Studien fort und nahm seit den 1820er Jahren nicht nur einen regen Anteil am kulturellen Leben in Galizien, sondern widmete sich vor allem seinen wissenschaftlichen Interessen auf dem Feld der Paläontologie, Philosophie, Agronomie und anderer Fächer. Später prägte er den loyalistischen Flügel der galizischen 29 Ebd., Fol. 252–253. 30 Ebd., galizischer Gouverneur Franz von Hauer an Staatskanzler Metternich 13.2.1821, Fol. 254.

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ständischen Repräsentation um Aleksander Fredro und Leon Sapieha mit und sollte noch 1848/1849 im Reichstag als konservativer Politiker auftreten.31 Ein anderes, allerdings bereits späteres Beispiel für die Bedenken, die beim galizischen Adel für den Eintritt in den österreichischen diplomatischen Dienst entscheidend waren, zeigt die Bewerbung des Ritters Włodzimierz Borkowski, die von seinem Vater Alojzy (Alois), einem Mitglied der galizischen Stände, in den Jahren 1838 und 1839 vorgelegt wurde. Auch hier wurde der Gubernialpräsident Freiherr Franz Krieg von Hochfelden beauftragt, Näheres über die Familienverhältnisse zu berichten. Es ist bezüglich der Ansprüche an die materielle Lage der Kandidaten nicht überraschend, dass der Generalgouverneur Erzherzog Ferdinand in der entsprechenden Note an den Kanzler Metternich vom Anfang Januar 1839 sehr schnell gerade zu Schilderung dieser Frage überging, wobei das »Resultat sich in jeder Beziehung zu Gunsten des Vaters und des Sohns darstellt«  : »Alois Ritter v. Borkowski ist diesemnach, ein Besitzer der in Brzezaner Kreise gelegenen, schuldenfreier Güter […], deren Ertrag bei dem Umstande, daß Alois v. Borkowski Wittwer ist, und außer dem erwähnten Sohn Wladimir keine Kinder hat, schon an sich hinreichen würde, um seinen Sohn in der angedeuteten Laufbahn mit Anstand auftreten zu machen. Er genießt den Ruf eines rechtlichen Mannes, seine politische Haltung ist tadelfrey, und es wird ihm und seinem ganzen Hause das Zeugniß gegeben, daß er unzweideutige Ergebenheit an Allerhöchst Seine Majestät, an das Oesterreichische Herrscherhaus und an die Grundsätze der Regierung an den Tag gelegt habe. Sein Sohn Wladimir der sich Mir während Meines letzten Aufenthaltes in Wien persönlich vorgestellt, hat im Hause eine sorgfältige Erziehung genossen, und hat ein vortheilhaftes Aeußern und ein anständiges Benehmen. […] Schlüßlich glaube Ich noch bemerken zu sollen, daß Bittsteller aus einer alten Familie des Ritterstandes stammt, und Vater und Sohn sich gegenwärtig in Wien aufhalten, wo sie die Entscheidung der vorliegenden Bitte erwarten wollen.«32 Diese Umstände bewegten den Erzherzog dazu, die Einstellung im diplomatischen Dienst, zunächst auf einer Praktikantenstelle zu unterstützen. Auf den Aufenthalt in Wien bezog sich bereits sein Vater in seiner Antragstellung an den Gubernialpräsidenten Krieg von Hochfelden. Besonderen Wert legte Alojzy Borkowski – neben der Betonung der Treue gegenüber dem habsburgischen Thron – auf die Erziehung und Ausbildung seines Sohnes. Borkowski habe dabei für beste Wiener Lehrer gesorgt, allerdings war die Tatsache, dass sein Sohn die Ausbil31 Zu Tytus Dzieduszycki und vor allem seinen wissenschaftlichen Interessen siehe M a ri a n Ty rowicz, Dorobek naukowy Tytusa Dzieduszyckiego (1796–1870) i jego wkład do teorii nauki i krytyki literackiej, Łódź 1949. 32 HHStA, Staatskanzlei, Provinzen, Galizien, K. 2, Fasz. Korrespondenz zwischen der Staatskanzlei und dem galizischen Landesgubernium, 1832–1863, Fol. 190–191.

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dung nicht an öffentlichen Anstalten erwarb, Grund, warum ihm eine Karriere als politischer Beamter oder Richter verschlossen war und die Diplomatie als eine der wenigen Möglichkeiten blieb. Dann kam Borkowski direkt zu konkreten finanziellen Argumenten  : Für den Fall, dass sein Sohn in den Dienst aufgenommen wäre, versprach er, ihm während seiner ersten Praktikumsphase jährlich 2000, beim Bedarf bis zu 3000 Gulden konventioneller Währung zur Verfügung zu stellen, stellte aber weitere Zuschüsse in Aussicht für eine eventuelle ausländische Mission, sollte das hinsichtlich der Kosten auf dem Entsendungsort nötig sein. Diese Summen sollten von eigenen Gütern Borkowskis sowie von Gütern, die sein Sohn nach dem Tode der Mutter (Marianna geb. Ufniarska) erbte und welche zunächst von Alojzy Borkowski verwaltet wurden, einfließen.33 Włodzimierz Marian Borkowski von Rościszewo machte zwar keine große diplomatische Karriere, doch sollte er sich in der Zukunft auf einem anderen Weg als Spitzenrepräsentant der galizischen politischen und sozialen Elite etablieren und dabei Anerkennung von der staatlichen Seite genießen. Als wohlhabender Großgrundbesitzer, dessen Güter sich unweit von Lemberg konzentrierten, verfügte er über sehr solide materielle Basis für großartiges politisches und wirtschaftliches Engagement  ; viel später, Mitte Juli 1870, hat er ein neues Majorat in Borynicze (heute Borynyči in der Westukraine) gegründet. Nicht nur als Mitglied der galizischen Stände im Vormärz, sondern vor allem später in verschiedenen Positionen – Kurator der Galizischen Sparkasse, Vorstandsmitglied des Galizischen Landeskreditvereins, Präsident der Galizischen Hypothekbank usw. – konnte er insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sein ansehnliches Renommee aufbauen. Ende 1845 wurde er Kämmerer, im April 1860 in den Grafenstand erhoben.34 Die angeführten Beispiele zeigen die Potentialität der österreichischen Diplomatie als Laufbahn für die Galizier aus dem Hochadel und dem besitzenden Adel deutlich. Sie konnte in einem Ausnahmefall zu einer durchaus glänzenden Karriere führen. Doch die Rolle der Galizier im auswärtigen Dienst sollte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schrittweise verstärken. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert und im beginnenden Vormärz blieben die möglichen Spielräume von beiden Seiten offensichtlich aus unterschiedlichen Gründen ungenutzt. Vor allem herrschte gerade in der Krisenzeit der Monarchie in Wien offensichtlich kein übermäßiges Vertrauen gegenüber den galizischen Eliten, zumal man immer wieder Gründe zum Zweifel an deren Loyalität sah (1809), abgesehen schon von der Tatsache, dass spätestens seit 1806 die polnische Frage als eines der Zentralprobleme der politischen Gestaltung und Zukunft Zentraleuropas galt und dieser Status sich 1814/1815 noch verstärkte. Zudem musste nicht nur die patriotische polnische Be33 Ebd., Fol. 185–186. 34 PSB, Bd. 2, Kraków 1936, S. 339.

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wegung in Betracht gezogen werden, sondern auch die Tatsache, dass sich neben der Habsburgermonarchie und ab 1807 dem Herzogtum Warschau auch andere Mächte bemühten, die Anhänglichkeit der patriotischen Polen zu gewinnen – Russland, Frankreich und Preußen. Gerade Warschau konnte auf Seiten mancher Adliger aus Galizien hemmende Wirkung haben  : Für diejenigen, die das Herzogtum tatsächlich als eine erneuerte polnische Staatsform wahrnahmen, konnte sich ein seit 1795 nicht existentes und in der Folgezeit sich anbahnendes Loyalitätsdilemma zeigen, weil der Dienst für eine Teilungsmacht dem Engagement für Polen entgegenstand.35 Dies alles waren vermutlich auch Umstände, die sich auf der Seite des galizischen Hochadels als Hürde für den Eintritt in den staatlichen Dienst auswirken konnten. Aus der Perspektive Wiens kamen wahrscheinlich noch Stereotype über die polnischen Eliten hinzu, wie sie sich bereits im 18. Jahrhundert gebildet hat.36 Vor diesem kulturellen Hintergrund würden dann ihre Angehörigen für eine diplomatische Vertretung der Monarchie im Ausland am wenigsten als geeignet erscheinen – sicher wesentlich weniger als im Militär oder der inneren Verwaltung. Hinzu kamen auch soziale Stereotype über den materiellen Status des polnischen Adels. Diese beiden Stereotyp-Ebenen lassen die zitierten Kommentare Metternichs durchblicken. Gerade hier bestand das Spezifikum des diplomatischen Dienstes bei einer Entsendung ins Ausland  : Es war immer mit – unter Umständen enormen – Kosten verbunden, die aus eigenen Ressourcen getragen werden mussten. Eine wirkliche Karriere im diplomatischen Dienst konnte eine finanzielle Last bedeuten, die nur die Vertreter reicher Familien stemmen konnten. Wir haben selbst bei Mier gesehen, dass er teilweise von den Zahlungen seines Bruders abhängig war und deren Ausfall für ihn prekäre Folgen hatte. Den diplomatischen Vertretern an ausländischen Höfen, allen voran den Gesandten, fiel die Aufgabe zu, die Monarchie nicht nur politisch und diplomatisch zu vertreten, sondern auch würdig zu repräsentieren – das heißt den Repräsentationsansprüchen in den Gastmetropolen zu genügen und an fremden Höfen sich in Reputationskonkurrenzen durchzusetzen. Der eigene Hof finanzierte dies aber nur teilweise. Hinzu kam, dass etwaige Praktikums- und Einstiegsphasen mit Ausfall der Einnahmen aus dem Ärar verbunden waren und komplett auf eigene Kosten liefen. Mit anderen Worten  : Karriere im diplomatischen Dienst konnte Ausdruck einer Elitenkooptation in der Zentrale und einer transregionalen Elitenintegration in Österreich sein, sie könnte die Reputation der Familie steigern und sie bot sicher eine standesgemäße Position. Doch als Versorgungsoption nachgeborener 35 Czubat y, Zasada, 296–391. 36 Vgl. Miloš Řezník, Formierung der Galizien-Stereotype und die Adelskritik in der Habsburgermonarchie. Zur Rolle der Reiseberichte und »Briefe« aus dem späten 18. Jahrhundert, in  : Renata Skowrońska u. a. (Hg.), Selbstzeugnisse im polnischen und deutschen Schrifttum im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit (15.–18. Jahrhundert), Toruń 2014, 305–348.

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Aristokraten- und Adelssöhne eignete sie sich – im Unterschied zu anderen Bereichen des staatlichen, öffentlichen oder kirchlichen Dienstes – wenig.

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Die wechselvollen Beziehungen zwischen den USA und der Habsburgermonarchie bis zum Ersten Weltkrieg Miszellen aus dem Österreichischen Staatsarchiv

1. Die schwierigen Anfänge Der erste Versuch der Vereinigten Staaten von Amerika, mit dem Wiener Hof diplo­ matische Beziehungen aufzunehmen, erfolgte im Jahr 1777, knapp zehn Monate nach der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776. Es war niemand Geringerer als Benjamin Franklin, zu diesem Zeitpunkt Botschafter in Paris, der sich im April 1777 an der Spitze dreier vom US-Kongress bevollmächtigter Commissioners an den Botschafter des Kaisers in Paris, den Grafen Florimond-Claude Mercy d’Argenteau, mit dem Vorschlag der Entsendung eines Vertreters wandte  : »[…] we are instructed and authorized by the said Congress to solicit its Friendship, to request that it would afford no Aid to their Enemies, but use its good Officies to prevent the Lending of Troops by other Powers to be transported to America for their Destruction  ; and to offer the Free Commerce of the said States to the Subjects of Austria.«1 Doch stießen die Avancen des jungen Staates in Wien auf taube Ohren. Für die habsburgischen Kaiser mit ihrem auf dem Gedanken der Legitimität beruhenden Staatsprinzip waren die Vereinigten Staaten von Amerika ein aus einem Aufstand gegen eine rechtmäßige monarchische Herrschaft hervorgegangenes Regime von Insurgenten. * Der vorliegende Beitrag würdigt den »Transatlantiker« Lothar Höbelt, der sich auch in den USA als Lehrender und Forscher intensiv mit Aspekten der amerikanischen Geschichte beschäftigt hat  ; im Zusammenhang mit den bilateralen Beziehungen zwischen Österreich und den USA sei u. a. auf seinen Beitrag Pflichtverteidiger und Substituten. Anmerkungen zum Thema Österreich und die USA, in  : Klaus Koch – Walter Rauscher – Arnold Suppan – Elisabeth Vyslonzil (Hg.), Von St. Germain zum Belvedere. Österreich und Europa 1919–1955, Wien–München 2007, 60–69, verwiesen. Bei der Abfassung des vorliegenden Textes haben mich zahlreiche Kolleginnen und Kollegen im ÖStA mit Anregungen und Hilfe tatkräftig unterstützt, namentlich darf ich mich bei Dr. Harald Fiedler, Dr. Gerhard Gonsa, Dr. Roman Gröger, Mag. Thomas Just, Dr. Susanne Kühberger, Walter Lampert, Mag. Irmgard Pangerl, Dr. Robert Rill, Mag. Stefan Semotan und Mag. Alexander Zechmeister herzlich bedanken. Abkürzungen  : AVA  : Allgemeines Verwaltungsarchiv  ; HHStA  : Haus-, Hof- und Staatsarchiv  ; KA  : Kriegsarchiv  ; ÖStA  : Österreichisches Staatsarchiv, Wien  ; PA  : Politisches Archiv. 1 ÖStA, HHStA, StAbt. Frankreich, Diplomatische Korrespondenz K. 157, Berichte und Weisungen, Mercy an Kaunitz, 1777 IV–VI, fol. 26 (19.4.1777).

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Den Unabhängigkeitskrieg betrachtete man dementsprechend als »Rebellion irregeleiteter Kolonisten«, die Gründerväter der USA galten anfangs folgerichtig als Rebellen und Aufständische.2 1784 gab es nach dem Ende des Unabhängigkeitskriegs und dem Friedensschluss mit Großbritannien einen neuerlichen Versuch amerikanischerseits, einen Handelsvertrag abzuschließen »to cultivate the Friendship of his Imperial Majesty and to enter into a Treaty of Commerce for the mutual Advantage of his Subjects and the Citizens of the Unitied States«.3 Wiederum war es Benjamin Franklin, der sich in Paris über den Weg des Grafen Mercy d’Argenteau an den Wiener Hof wandte. Seitens des US-Kongresses war abermals eine Kommission zur Verhandlung eines Handelsvertrags nominiert worden. Sie hätte prominenter nicht sein können, bestand sie doch neben Franklin aus zwei weiteren Vätern der Unabhängigkeit der USA  : dem späteren zweiten US-Präsidenten John Adams und dem späteren dritten US-Präsidenten Thomas Jefferson. Die Anerkennung eines auf revolutionärem Weg zustande gekommenen Staates stellte für die europäischen Großmächte insgesamt ein bis dahin unbekanntes Problem dar. Wien reagierte nunmehr nicht mehr so abweisend, doch verliefen die Gespräche letztlich im Sand. An sich hatte man an Handelsbeziehungen, die es bereits – in freilich überschaubarem Ausmaß – zu den Kolonien gegeben hatte, Interesse. Baumwolle und Tabak waren begehrte Güter. Diese Zwiespältigkeit zwischen einem wechselseitigen politischen Misstrauen auf der einen und dem Wunsch, Handel zu treiben, auf der anderen Seite, charakterisierte die Beziehungen bis tief in das 19. Jahrhundert.

2. Amerikanisches Know-how für die Semmeringbahn Erst im August 1829 sollte es zum Abschluss eines Handels- und Schifffahrtsvertrags mit den Vereinigten Staaten kommen, dem 1838 der offizielle Austausch von Gesandten folgte.4 Doch blieben die Beziehungen weiterhin geprägt von einer bes2 R enate Goger, Die Beziehungen der Habsburgermonarchie zu den Vereinigten Staaten von Amerika von 1838 bis 1867, phil. Diss., Wien 2010, 6. 3 ÖStA, HHStA, StAbt. Frankreich, Diplomatische Korrespondenz K. 169, Berichte, Mercy an Kaunitz, 1784 VI–VIII, fol. 71 (30.7.1784). Der Brief Franklins ist im Haus-, Hof- und Staatsarchiv nur mehr in einer Kopie vorhanden. Das Original wurde von Bundeskanzler Figl bei seinem Staatsbesuch 1952 als »ein Zeichen der besonderen Erkenntlichkeit Österreichs für die gewährte Hilfe« den USA zum Geschenk gemacht und wird seitdem in der Library of Congress verwahrt (ÖStA, HHStA, Sonderbestände, Kurrentakten, 1097/1952). Für den diesbezüglichen Hinweis dankt der Verfasser Dr. Michael Göbl. 4 Rudolf Agstner, Kostproben aus der Anekdotenkiste diplomatischer Beziehungen während der letzten hundert Jahre. Zu den Beziehungen zwischen Österreich(-Ungarn) und den USA zwischen 1838 und 1938,

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tenfalls höflichen Distanz, hinter der scheinbar unüberbrückbare Gegensätze in der wechselseitigen Auffassung von staats- und gesellschaftspolitischen Ordnungen standen. Die USA sahen in der Heiligen Allianz eine Gefahr im Hinblick auf die Monroe-Doktrin und befürchteten, Metternich könne im Sinne des Prinzips der mon­ archischen Legitimität Spanien militärische Unterstützung bei der Rückeroberung seiner Kolonien zukommen lassen, auch wenn sich diese Befürchtung in realiter als überzogen erwies.5 Zugleich gab es jedoch Mitte des 19. Jahrhunderts auf einigen Gebieten einen fruchtbaren wechselseitigen Austausch. Als ein gleichermaßen anschauliches wie prominentes Beispiel kann die Reise Carl Ghegas in die USA im Jahr 1842 gelten. Der 1802 in Venedig als Sohn eines Marineoffiziers geborene Ghega trat 1819 in die Landesbaudirektion Venedig ein, ehe ihm 1836 die Leitung der Streckenbauten der Kaiser Ferdinands Nordbahn übertragen wurde.6 Ab diesem Zeitpunkt galt er als Spezialist für Eisenbahnbauten und wurde 1842 vom damaligen Generaldirektor der Staatsbahnen, Hermenegild Francesconi, dem Präsidenten der Hofkammer Karl Friedrich von Kübeck als für den Bau der beabsichtigten Verbindung der bis zu diesem Zeitpunkt nur bis nach Gloggnitz fertiggestellten Eisenbahn nach Triest vorgeschlagen. Ghega hatte bereits Studienaufenthalte in Belgien und England absolviert, nun sollte er nach Nordamerika entsandt werden, um die richtigen Antworten auf die enormen technischen Herausforderungen der Linienführung zu finden  : Das berüchtigte Laibacher Moor, der Karst, vor allem aber der Semmering waren zu überwinden.7 In den USA gab es bereits Eisenbahnen, die über Bergstrecken führten. Die in Amerika gesammelten Erfahrungen würden ihm für den Bau der Bahn nach Triest zugutekommen, wie es im Antrag hieß.8 Eine in den Instruktionen an Ghega explizit genannte Aufgabe bestand darin, die Voraussetzungen für die Trassierung von Eisenbahnen in gebirgigen Gegenden zu studieren.9 Die Reise wurde von Kaiser Ferdinand im Jänner 1842 bewilligt, »um die daselbst gemachten neuesten Fortschritte im in  : Felix Schneider (Hg.), 175 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Österreich und den USA (= Schriftenreihe der Landesverteidigungsakademie 4/2014), Wien 2014, hier  : 22f. 5 Goger, Beziehungen, 27–31. 6 Zur Biographie Ghegas zusammenfassend  : Hubert Zenz, Carl Ritter von Ghega, in  : Gerhard Artl – Gerhard H. Gürtlich – Hubert Zenz (Hg.), Vom Teufelswerk zum Weltkulturerbe  : 150 Jahre Semmeringbahn, Wien 2004, 47–55. 7 Ebd., 50. 8 ÖStA, AVA, Verkehr, Allgem. Hofkammer, 43/1842, Au. Vortrag (15.1.1842). 9 »Es ist sich genau Auskunft zu verschaffen, unter welchen Verhältnissen und mit welchen Resultaten schiefe Ebenen angelegt wurden und in welcher Art der Betrieb auf denselben bewerkstelliget wird.« ÖStA, AVA, Verkehr, Generaldirektion der Staatsbahnen, 62/1842, Instruction für den k. k. Tiroler Landesdirektions-Adjunkten Carl Ghega zur Reise nach Amerika (8.2.1842).

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Eisenbahn-Wesen kennen zu lernen«.10 Ghega traf am 17. April 1842 in New York ein und zog zweieinhalb Monate lang zahlreiche Erkundigungen über die amerikanischen Eisenbahnen ein, konkret über die Bauweise der Linien, die Kosten sowie die verwendeten Lokomotiven und Eisenbahnwagen inklusive ihrer Technik und Ausstattung. Vor allem die über das Allegheny-Gebirge führende Eisenbahnstrecke schien ihm in vielem wegweisend zu sein, hatte sie für ihn doch »durch Anwendung der bisher auf der östlichen Hemisphäre für Locomotivbahnen nicht gewagten scharfen Krümmungen und starken Steigungen thatsächlich bewiesen, dass in den meisten Fällen von vorkommenden Terrainshindernissen die Anlegung von Bahnkrümmungen mit kleinen Halbmessern und starken Bahnsteigungen den Bau bedeutend zu erleichtern […] vermag«.11 Aufgrund der in den USA gewonnenen Erkenntnisse kam er zur Überzeugung, dass auch der Semmering zu überwinden sein würde. Gegen viele Widerstände gelang es ihm, den Bau der Gebirgsbahn erfolgreich durchzusetzen. Doch auch über den Bau der Südbahn hinaus flossen zahlreiche seiner in den USA gesammelten Informationen in den von ihm 1853 verfassten Ausbauplan für das österreichische Eisenbahnnetz ein. Den Rückstand der Monarchie gegenüber den Vereinigten Staaten führte er nicht nur auf die unterschiedlichen topographischen Voraussetzungen der vielen gebirgigen Gebiete im Habsburgerreich, sondern auch auf die im Vergleich zu hohen Baukosten zurück. Für deren Senkung machte Ghega auf Basis seiner Erfahrungen aus den USA konkrete Vorschläge.12

3. Revolutionsbegeisterung für Kossuth Seinen vorläufigen Tiefpunkt erreichte das österreichisch-amerikanische Verhältnis 1848/49 und danach. Denn die Sympathien der USA lagen eindeutig auf der Seite der Revolutionäre, vor allem in Ungarn. International löste die Art und Weise der Niederwerfung der Revolution, insbesondere das sogenannte »Arader Blutgericht« vom 6. Oktober 1849, eine Protestlawine aus. Unter den auf Befehl des österreichischen Oberbefehlshabers Julius von Haynau Hingerichteten befanden sich der um Versöhnung bemühte ungarische Ministerpräsident Lajos Batthyány und nicht weniger als 13 ungarische Generäle. Lajos Kossuth und andere Flüchtige wurden »in effigie« gehenkt.13 10 ÖStA, AVA, Verkehr, Allgem. Hofkammer, 81/1842, Ah. Entschließung (27.1.1842). 11 Ca rl Ghega, Die Baltimore-Ohio Eisenbahn über das Alleghany-Gebirg [sic  !] mit besonderer Berücksichtigung der Steigungs- und Krümmungsverhältnisse, Wien 1844, XIIf. 12 ÖStA, AVA, Verkehr, Handelsministerium, Allgem. Reihe, 1127/1853, Entwurf für ein allgem. österr. Eisenbahnnetz (26.5.1853). 13 Helmu t Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habs­burgermonarchie, Wien 1997, 318.

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Die einseitige Parteinahme der Vereinigten Staaten für Ungarn sollte vor allem im Nachklang des Revolutionsjahrs zu einer schweren Beeinträchtigung der bilateralen Beziehungen führen. Denn es wurde bekannt, dass bereits während der Revolution der US-Attaché in Paris, Ambrose Dudley Mann, nach Ungarn hätte reisen sollen, um im Auftrag der USA die Anerkennung eines unabhängigen Ungarn auszusprechen.14 Dazu kam, dass zahlreiche Revolutionäre in den USA zumindest zeitweilig Aufnahme fanden, allen voran Lajos Kossuth. Aus dem Osmanischen Reich, in das er flüchten konnte, wurde er von der US-Regierung nach New York gebracht und dort im Dezember 1851 mit militärischen Ehren, wie sie üblicherweise amtierenden Staatsoberhäuptern zukommen, empfangen. Anschließend startete er eine triumphale Tour quer durch die USA als Held im Kampf um Humanität und Freiheit.15 Bei seiner Rundreise verstand er es, die Amerikaner zu begeistern. Ein wahres »Kossuth-Fieber« erfasste die Öffentlichkeit. Bezeichnend dafür ist, dass der einige Jahre später eingeführte Paradehut der U.S. Army nach dem charakteristischen Hut der 1848er Revolutionäre auch als »Kossuth-Hat« bezeichnet wurde.16 Wenn auch etwas voreilig, reiste der österreichische Gesandte Johann von Hülsemann aus Washington ab  ; ein Abbruch der Beziehungen stand Anfang der 1850er Jahre im Raum.17

4. Eine weitsichtige Warnung aus Washington Bei Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs verhielt sich die Habsburgermonarchie neutral, doch sollte bald darauf die Krise um Mexiko erneut die Beziehungen zu den USA schwer belasten. Bereits 1859 hatten die USA die Regierung von Benito Juárez anerkannt und sich im umstrittenen McLane-Ocampo-Vertrag nahezu ein Interventionsrecht gesichert.18 Dementsprechend hielten die Vereinigten Staaten ihre schützende Hand über Juárez, als dieser 1862 die Auslandsgläubiger Mexikos 14 Manns Geheimmission endete im Sommer 1849 in Wien, als die militärische Niederlage der Ungarn sich bereits abzeichnete. Nicole M. Phelps, U.S.-Habsburg Relations from 1815 to the Paris Peace Conference. Sovereignty Transformed, New York 2013, 56f. 15 Goger, Beziehungen, 305–307. 16 Erwin A. Schmidl, Militärische Berührungspunkte zwischen Österreich(-Ungarn) und den USA, in  : Felix Schneider (Hg.), 175 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Österreich und den USA (= Schriftenreihe der Landesverteidigungsakademie 4/2014), Wien 2014, 53–72, hier  : 56f. 17 Erwin M atsch, Wien – Washington. Ein Journal diplomatischer Beziehungen 1838–1917, Wien–Köln 1990, 130–136  ; Goger, Beziehungen, 318–337. 18 Loth a r Höbelt, Die »fünf M« von Querétaro. Märtyrer oder Bösewichte  ?, in  : Beiträge zur österreichischen Militärgeschichte 864–2019 (= Schriften des Heeresgeschichtlichen Museums, 26), Wien 2019, 193–228, hier  : 203.

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nicht mehr bedienen konnte. Zugleich begann die europäische Intervention, an der anfangs neben Frankreich auch Großbritannien und Spanien beteiligt waren. Als erste Gerüchte auftauchten, wonach Napoleon III. nach einem Satellitenkaiser aus einem europäischen Herrscherhaus Ausschau hielte und der Name von Franz Josephs jüngerem Bruder, Ferdinand Maximilian, erstmals fiel, schickte der österreichische Gesandte in Washington, Hülsemann, eine ebenso klarsichtige wie entschiedene Warnung nach Wien, sich auf ein solch riskantes Unternehmen keinesfalls einzulassen. Am 16. Februar 1862 beschwor er seine Regierung  : »[…] ce n’est qu’un essai, c’est une aventure, qui a au moins autant, probablement plus des chances de tomber dans l’eau que de reussir.«19 Das sich abzeichnende Unheil frühzeitig vorausahnend, warnte er vor mexikanischen Emissären, die auf dem Weg nach Triest seien, um sich an Maximilian heranzumachen. Es war dies das erste, aber nicht das einzige Mal, dass die österreichischen Gesandten dringend davon abrieten, die mexikanische Krone anzunehmen. Auch Hülsemanns Nachfolger, Graf Nikolaus Giorgi, schätzte die Lage in dieser Weise ein. Maximilian hätte nur bei einem Sieg des Südens im amerikanischen Bürgerkrieg eine Chance, doch war ein solcher Ende 1863 schon nicht mehr absehbar. Bekanntlich schlug Ferdinand Maximilian sämtliche Warnungen in den Wind, verzichtete auf alle Erbansprüche und nahm die Kaiserwürde an. Einmal mehr lebten in der US-amerikanischen Öffentlichkeit die alten Vorurteile gegen Österreich auf, umso mehr als Maximilian 1864 österreichische Freiwillige nach Mexiko folgten. Er blieb eine Marionette Napoleons III., sein Herrschaftsbereich beschränkte sich auf das von Napoleon besetzte Gebiet. Mit dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs und dem darauffolgenden Abzug der Franzosen waren auch die Würfel in Mexiko gefallen. Der Ausgang des mexikanischen Abenteuers ist bekannt, die Analysen der österreichischen Gesandten in Washington hatten sein Scheitern frühzeitig vorhergesehen.

5. Entspannung der bilateralen Beziehungen Für die meisten Amerikaner war Österreich noch an der Wende von den 1850er zu den 1860er Jahren ein Hort der Reaktion in Europa. Erst mit der Entsendung des neuen und ungewöhnlich österreichfreundlichen US-Gesandten John Lothrop Motley zeigte sich ein erster Silberstreif am Horizont der bilateralen Beziehungen. In einer Audienz versicherte ihm Kaiser Franz Joseph, die Sklaverei und »eine aufgeklärte Regierung« seien unvereinbar, nachdem auch Außenminister Graf Johann 19 ÖStA, HHStA, PA XXXIII (USA), K. 20, Berichte, Weisungen, Varia 1862–1864, Hülsemann an Rechberg, fol. 52v (18.2.1862).

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Bernhard Rechberg 1862 keinen Zweifel darüber gelassen hatte, dass eine Anerkennung der Südstaaten für die Monarchie nicht in Frage komme.20 Zu einer tatsächlichen Verbesserung des bilateralen Verhältnisses zwischen den USA und Österreich kam es erst einige Jahre nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs. Eine wesentliche Rolle spielten dabei die damals innerhalb des Kaiser­ staats eingetretenen grundlegenden staatsrechtlichen Veränderungen, der Ausgleich mit Ungarn und das Inkrafttreten der Verfassung 1867 in der österreichischen Reichshälfte. Diese bilaterale Entspannung hatte zur Folge, dass sich prominente a­ merikanische Besucher der Alten Welt auf ihren Reisen durch »good old Europe« am Wiener Hof einfanden. Einer der ersten war der ehemalige Bürgerkriegsgeneral und 18. Präsident der Vereinigten Staaten (1869–1877) Ulysses S. Grant. Er traf etwas mehr als ein Jahr nach dem Ende seiner Präsidentschaft, am 18. August 1878, in Wien ein und wurde von der US-Gesandtschaft in Wien betreut. Am 20. August wurde er von Kaiser Franz Joseph zu einer sogenannten Besonderen Audienz, also einer Privataudienz (im Gegensatz zu den Allgemeinen Audienzen für eine größere Zahl von Personen gleichzeitig) empfangen.21 Es war einigermaßen ungewöhnlich, dass der berühmte Bürgerkriegsgeneral nicht in Uniform, sondern im Frack mit Zylinderhut ohne jede Ordensdekoration zur Audienz erschien.22 Frack zu tragen, entsprach zwar dem Hofzeremoniell, war aber bei einem hohen Militär unüblich. Im Gespräch fragte der Kaiser den aus Paris kommenden ehemaligen Präsidenten, ob er dort eine damals viel genannte Truppenschau mitverfolgt habe. Diplomatisch nicht gerade geschickt, antwortete Grant, er habe genug von Soldaten und Generälen und überhaupt sei ihm die Freude an diesem Beruf vergangen. Dabei bedachte er nicht, dass ihm der Kaiser in der Uniform eines Soldaten gegenüberstand. Doch reagierte der bisweilen als humorlos beschriebene Franz Joseph keineswegs verschnupft, sondern musste herzhaft lachen. Dass einer der berühmtesten Heerführer seiner Zeit, der seine zweimalige Präsidentenwahl bloß diesem Umstand zu verdanken gehabt hatte, sich nun als Antimilitarist präsentierte, erheiterte den nicht gerade mit erfolgreichen Feldherrn verwöhnten Kaiser sichtlich.23 Ein anderer prominenter Besucher beim Kaiser war Mark Twain. Von Ende September 1897 bis Ende Mai 1899 verbrachte er einen zwanzigmonatigen Aufenthalt 20 Goger, Beziehungen, 371f. 21 ÖStA, HHStA, Obersthofmeisteramt, Neuere Zeremonialakten, K. 282, Audienzen, Reichsrat, Delegationen, XIV/1878 (19.8.1878). 22 Neue Freie Presse, 20.8.1878 A, 1. 23 Die Kenntnis der Episode verdankt der Verfasser Heinrich Drimmel, der in diesem Fall, im Gegensatz zu seinen sonstigen Werken, auch seine Quelle preisgibt, und zwar die unveröffentlichten Tagebücher des beim Gespräch als Dolmetsch anwesenden Alexander von Hübner. Heinrich Drimmel, Die Antipoden. Die Neue Welt in den USA und das Österreich vor 1918, Wien–München 1984, 187f.

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in Wien.24 Kurz vor seiner Abreise erhielt er am 25. Mai 1899 eine Privataudienz in der Hofburg. Dies war für einen Schriftsteller alles andere als selbstverständlich und zeugt vom Ansehen und der Prominenz von Samuel L. Clemens, wie er mit bürgerlichem Namen hieß.25 Twain verstand es geschickt, aus der Audienz medial gegenüber österreichischen und internationalen Zeitungen Kapital zu schlagen, indem er freimütig über den Ablauf des Gesprächs berichtete und die Persönlichkeit des Kaisers in höchsten Tönen lobte, den er als alles andere denn einen entrückten Monarchen beschrieb. Er habe Humor und »ein gutes Stück einfacher, herzlicher und gewinnender Menschennatur in sich.«26 Einige kurze Formulierungen, die er auf Deutsch auswendig gelernt habe, vergaß er vor lauter Aufregung beim Anblick des Monarchen, der ihn sofort in ein ungezwungenes Gespräch verwickelte, so Twain. Als er dies dann kurz erwähnte, tröstete ihn Franz Joseph, dass dies doch nicht notwendig gewesen sei, und erkundigte sich nach seinem Aufenthalt in Wien. Nicht ohne dass Franz Joseph die Kriegstüchtigkeit der Amerikaner lobend hervorstrich, ging die Audienz nach acht Minuten wieder zu Ende.27 Wie relativ Zeitbegriffe sind, lässt sich darin ermessen, dass Twain davon sprach, dass ihm die Audienz »ziemlich lange gewährt« wurde.28 Doch nicht jedem prominenten US-Bürger gelang es, beim Kaiser eine Audienz zu ergattern. Als sich Thomas Edison für einige Tage im September 1911 in Wien aufhielt, erkundigte er sich kurzfristig, ob es möglich wäre, beim Kaiser in A ­ udienz zu erscheinen.29 Doch ohne einen gewissen Vorlauf und die Involvierung der Vertretung seines Landes in Wien war auch für eine Berühmtheit wie Edison kein Audienztermin zu erhalten. Äußeres Zeichen der Annäherung zwischen Österreich-Ungarn und den USA wurden immer häufiger werdende gegenseitige Besuche von Kriegsschiffen sowie die Intensivierung der Kontakte durch militärische Beobachter, beziehungsweise später durch formell akkreditierte Militärattachés. Einmal fochten reguläre k. u. k. und US-amerikanische Truppen Seite an Seite, und zwar während des Boxeraufstands bzw. der folgenden internationalen Intervention in China. Allerdings kämpften die Einheiten beider Länder in verschiedenen Kampfabschnitten des Botschafterviertels von Peking, sodass es weder dort noch bei den übrigen Kämpfen in China zu einer 24 Vor allem Twains Reportagen aus dem Reichsrat am Höhepunkt der Krise um die Badenischen Sprachenverordnungen sind mehrfach publiziert. 25 ÖStA, HHStA, Obersthofmeisteramt, Neuere Zeremonialakten, K. 301 Audienzen, Reichsrat, Delegationen, XIV/1899 (25.5.1899). 26 Neue Freie Presse, 6.6.1899 M, 6. 27 ÖStA, HHStA, Kabinettskanzlei, Direktionsakten, Tagebuch der Flügeladjutanten S. M., Bd. 51 (25.5.1899). 28 Neues Wiener Tagblatt, 26.5.1899, 3f. 29 Die Zeit, 9.9.1911, 2.

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engeren militärischen Kooperation zwischen den relativ wenigen österreichischen Matrosen und dem starken Kontingent der amerikanischen Marines kam.30 1902 hob Präsident Theodore Roosevelt die US-Vertretung in Wien in den Rang einer Botschaft. Die österreichisch-ungarische Diplomatie zog nach und ernannte den österreichischen Gesandten Ladislaus Hengelmüller mit Allerhöchster Entschließung vom 6. Dezember 1902 ebenfalls zum Botschafter. Am 27. Dezember 1902 überreichte er dem amerikanischen Präsidenten sein Beglaubigungsschreiben, mit 1. Jänner 1903 bestand auch in Washington eine k. u. k. österreichisch-­ungarische Botschaft.31 Theodore Roosevelt amtierte als 26. Präsident von 1901 bis 1909. Retrospektiv wird mit seiner Präsidentschaft wie mit keiner anderen der Aufstieg der USA zur Weltmacht verbunden. Kurz nach dem Ende seiner zweiten Amtszeit unternahm er eine ausgedehnte Europareise, die ihn im April 1910 nach Wien führte. Wiewohl nur mehr Privatmann, war es ein quasioffzielles Programm, das der nach wie vor politisch einflussreiche Roosevelt absolvierte. Schon am ersten Tag des Aufenthalts stand am 15. April 1910 die Audienz bei Franz Joseph an.32 Roosevelt hatte schon während seiner Amtszeit wiederholt seiner persönlichen Bewunderung für den Monarchen Ausdruck verliehen.33 Franz Joseph war auf das Gespräch wohlvorbereitet, hatte er doch tags zuvor den österreichischen Botschafter in W ­ ashington, Baron Hengelmüller, und unmittelbar vor der Audienz Außenminister Alois Lexa von Aeh­renthal zu Gesprächen bei sich gehabt.34 Neben politischen Themen interessierte sich Franz Joseph in dem vierzigminütigen Gespräch für Roosevelts erst kürzlich stattgefundene Jagden in Afrika und verabschiedete ihn jovial mit den Worten »Auf Wiedersehen morgen in Schönbrunn«, wo er für ihn ein Essen gab.35 An der Allerhöchsten Hoftafel nahmen 35 Personen teil, unter ihnen neben R ­ oosevelt und seinem mitgereisten Sohn die Botschafter beider Länder, die gemeinsamen Mini­ ster beider Reichshälften, der cisleithanische Ministerpräsident Richard Freiherr von Bienerth und die führenden Hofbeamten, mit Obersthofmeister Fürst Alfred Montenuovo an der Spitze. Als einer von zwei Flügeladjutanten des Kaisers nahm 30 Schmidl, Militärische Berührungspunkte, 60–64. Zu den Details des österreichisch-ungarischen militärischen Engagements vgl  : Georg Lehner – Monik a Lehner, Österreich-Ungarn und der »Boxeraufstand« in China (= Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Sonderbd. 6), Wien 2002, 289–437. 31 Agstner, Kostproben, 35f.; M atsch, Wien – Washington, 497. 32 ÖStA, HHStA, Obersthofmeisteramt, Neuere Zeremonialakten, K. 309, Audienzen, Reichsrat, Delegationen, XIV/1910 (15.4.1910). 33 M atsch, Wien – Washington, 513, 538f. 34 ÖStA, HHStA, Kabinettskanzlei, Direktionsakten, Tagebuch der Flügeladjutanten S. M., Bd. 57 (15.4. 1910). 35 Neues Wiener Tagblatt, 16.4.1910, 9.

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auch der ungarische Korvettenkapitän Miklós von Horthy teil, der spätere Reichsverweser Ungarns in der Zwischenkriegszeit.36 Auch die übrigen Programmpunkte Roosevelts in Wien lesen sich wie die einer quasioffiziellen Visite  : ein Besuch in der Kapuzinergruft mit Kranzniederlegung bei den Särgen Kaiserin ­Elisa­beths und Kronprinz Rudolfs, ein Abstecher in die Spanische Hofreitschule, ein Gesprächstermin mit dem Grafen Aehren­ thal am Ballhausplatz, der am ersten Abend das Diner für Roosevelt ausgerichtet hatte. Für österreichische Verhältnisse war es damals ungewöhnlich, dass Roosevelt einen eigenen kurzen Pressetermin für rund 50 Journalisten ansetzte, die er sich einzeln vorstellen ließ.37 Schließlich gab es noch einen Programmpunkt, der das I­nteresse des Pferdeliebhabers Roosevelt besonders weckte. Es handelte sich um einen Besuch der das Militärreitlehrerinstitut Abb. 1  : Die alte und die neue Welt  : Theodore und das Husarenregiment Kaiser Nr. 1 Roosevelt zu Besuch beim Husarenregiment beherbergenden Kaiser-Franz-JosephNr. 1 »Kaiser« in der Kaiser-Franz-JosephKavalleriekaserne in Wien-Breitensee, April 1910. Ka­ valleriekaserne in Breitensee.38 Roose­velt ließ sich im Kasernenhof und der gedeckten Reitschule verschiedene Präsentationen, darunter eine Kavallerieattacke, vorführen, ehe im Offizierskasino Toasts ausgegeben wurden.39

36 ÖStA, HHStA, Obersthofmeisteramt, Neuere Zeremonialakten, K.457, Hofreisen, Ankunft und Aufenthalt höchster Gäste, XV/1910 (16.4.1910). 37 Neues Wiener Tagblatt, 16.4.1910, 9. 38 ÖStA, KA, Allerhöchster Oberbefehl, Generaladjutantur SM des Kaisers 1910, Kt. 139, 19/6, (10.4.1910). 39 Wiener Zeitung, 16.4.1910, 5f.

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6. Aus beiläufigen Freunden wurden Kriegsgegner Vor dem Ersten Weltkrieg hatten die beiden Länder nicht sonderlich viele gemeinsame Interessen, doch »these divergent interests did not conflict.«40 Der Einwandererstrom aus der Monarchie in die USA hatte keinen Einfluss auf die freundlichen bilateralen Beziehungen. Der Außenhandel stagnierte auf niedrigem Niveau, wobei die Exporte aus den Vereinigten Staaten in die Donaumonarchie deutlich höher waren als jene von Österreich-Ungarn in die USA. Dass sich die Beziehungen auf allen Ebenen weiterentwickelten, zeigt anschaulich ein Beispiel aus dem Bereich der Wissenschaften. Erstmals kam es zu einem Professorenaustausch auf Universitätsebene. 1913 schlossen das Unterrichtsministe­ rium und die Columbia University in New York eine diesbezügliche Übereinkunft ab.41 Es war für die politischen Systeme der beiden Länder bezeichnend, dass das Abkommen von amerikanischer Seite von einer Universität getragen wurde, während in Österreich die staatliche Unterrichtsverwaltung als Partner fungierte. Die Columbia-University entsandte den Philosophieprofessor George Stuart Fullerton, während österreichischerseits die Wahl für den ersten Austauschprofessor kurzfristig auf den 1911 von Czernowitz an die Grazer Universität berufenen erst 31-jährigen Joseph Schumpeter fiel, nachdem andere ursprünglich ins Auge gefasste Kandidaten abgesagt hatten.42 Der Proponent der österreichischen Schule der Nationalökonomie und spätere Staatssekretär der Regierung Renner/Fink erwies sich als Goldgriff. Schon seine Antrittsvorlesung wurde zu einem vollen Erfolg. Der Präsident der Columbia University, Nicholas Murray Butler, schrieb nur drei Tage später einen Brief an Kultus- und Unterrichtsminister Max Hussarek von Heinlein, in dem er berichtete, »the inaugural lecture […] was given with great distinction«.43 Im Detail berichtete der Vorstand des Departments of Political Economy, der bekannte Ökonom Edwin R. A. Seligman, über die Antrittsvorlesung, die vor vollem Hörsaal ein Ereignis darstellte  : »Professor Schumpeter held the close attention of this audience to the very end of his lecture. It was a remarkable performance from many points of view. His command of English is phenomenal. He spoke without a note, in language that was not only fluent but choice and elevated  ; and he displayed a familiarity with the finer 40 Kurt Bedna r, Der Papierkrieg zwischen Washington und Wien 1917/18, Innsbruck 2017, 38f., 59. 41 Neue Freie Presse, 12.9.1913 M, 7. 42 Ulrich Hedtk e, Von New York zurück nach Graz. Vorwort zur Edition des Amerika-Berichts von 1914, in  : Ulrich Hetke (Hg.), Bericht über die Mission als Austauschprofessor an der Columbia-Universität in New York, 1913–1914, https://schumpeter.info/schriften/Amerikabericht.pdf [10.11.2021], 2–11, hier 2f. 43 ÖStA, AVA, Unterricht–Allg. 2C1, K. 319, 51256/1913, Nicholas M. Butler an Max Hussarek (23.10. 1913).

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points of the language which I am sure has not been equalled by any exchange professor hitherto. As regards the subject matter of the lecture, I can only say that it was a most brilliant performance. He […] plunged into medias res, a discussion, namely, of the fundamental conditions of economic theory and the relation of economics to psychology and sociology. He was – what is very unusual – both brilliant and profound  ; and his choice of novel illustrations taken from a great variety of different fields, shows a surprising breadth of culture, which is unusual in a specialist.«44 Aufgrund des großen Anklangs, den er fand, erklärte sich Schumpeter bereit, noch zusätzliche Lehrveranstaltungen anzubieten und auch auf der Harvard University Vorträge zu halten. Er galt in den USA als akademische Kapazität ersten Ranges, wurde von Präsident Woodrow Wilson empfangen und nützte seinen Aufenthalt, um nach Abschluss des Semesters an der Columbia University im Februar/März 1914 noch knapp zwei Monate quer durch das Land Vorlesungen und Vorträge zu den mannigfaltigsten Themen, oft weit über die von ihm insgesamt besuchten 17 Universitäten hinaus, vor gelehrten Gesellschaften, Clubs etc. zu halten. Darunter fanden sich neben seinem engeren wissenschaftlichen Wirkungsbereich Fragen zur Frauenbewegung und zur Familie – Schumpeter sprach sich für das Frauenwahlrecht aus – oder die politische Entwicklung in Österreich. Am häufigsten referierte er in seinen Vorträgen über den schwelenden Krisenherd am Balkan. Dabei ergriff er für die politische Haltung der Doppelmonarchie Partei, verurteilte die russischen Ambitionen am Balkan und warnte eindringlich vor einem neuen Balkankrieg.45 Seine Vorträge, die stets eine gewisse öffentliche und mediale Resonanz fanden, trugen dazu bei, mehr Wissen und Verständnis für die Doppelmonarchie, ihre Struktur und ihre außenpolitische Haltung, gerade im Hinblick auf den Balkan, in der USamerikanischen Öffentlichkeit zu wecken. Schumpeter konstatierte, dass die Stimmung Österreich gegenüber in den USA zuletzt freundlicher geworden sei, dennoch vieles über die Habsburgermonarchie über englischsprachige Quellen pejorativ an die amerikanische Öffentlichkeit gelange. Dies gelte beispielsweise für die Balkanfrage, in der es eigentlich ein Leichtes sein müsste, Sympathien für die österreichische Sache zu gewinnen. »Meine zahlreichen Vorträge und Reden über die äußere und innere Politik Österreichs waren auf Korrigierung [sic  !] jener Anschauungen je nach dem Zuhörerkreis abgestimmt, wenngleich ich mich über die Bedeutung solcher ephemerer Versuche keiner Täuschung hingebe«, schrieb er. Weitsichtig beklagte er, dass es in den USA zwar zahlreiche Lobbys einzelner Nationalitäten 44 ÖStA, AVA, Unterricht–Allg. 2C1, K. 319, 51256/1913 Edwin R.A. Seligmann an Nicholas M. Butler (22.10.1913). 45 Vgl. dazu  : Ulrich Hedtk e, Schumpeters Gastprofessur 1913/14 im Spiegel der Presse, Berlin 2017, https:­//­schumpeter.info/schriften/schumpeteriana-II.pdf [10.11.2021].

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der Monarchie gebe (er erwähnte etwa elf tschechischsprachige Zeitungen  !), aber praktisch keine Lobby für die Sache der gesamtstaatlichen Vielvölkermonarchie – eine weitsichtige Prophetie, denkt man daran, wie das tschechische Exil nur wenige Jahre später in der Lage war, die öffentliche Meinung in den USA für seine Sache zu gewinnen.46 Dass aber vor Kriegsausbruch die öffentliche Meinung Österreich-Ungarn gegen­ über im Großen und Ganzen wohlwollend war, mag ein Detail verdeutlichen. Anfang 1914 kam es zu einem Resolutionsantrag im US-Repräsentantenhaus, Kaiser Franz Joseph zur Eröffnung des Panama-Kanals einzuladen. Die etwas kurios anmutende Begründung dafür lautete, dass der Kaiser auch 1869 bei der Eröffnung des Suez-Kanals zugegen war.47 Bei Kriegsausbruch sollte sich vorerst an den guten Beziehungen zwischen den USA und der Doppelmonarchie noch wenig ändern. Die USA nahmen die Interessen mehrerer kriegsführender Länder in Wien und umgekehrt die Schutzrechte der österreichischen und ungarischen Staatsbürger in zahlreichen Staaten der Entente wahr.48 Ähnliches galt übrigens auch für das Verhältnis der USA zum Deutschen Reich, wo es bei Kriegsausbruch kaum Reibungsflächen gab. Zu Konflikten kam es dann ab dem Frühjahr 1915 im Kontext mit dem U-Boot-Krieg, beginnend mit dem berühmt-berüchtigten Lusitania-Zwischenfall.49 Danach verschlechterten sich die Beziehungen rasch. 1917 traten die USA in den Krieg mit dem Deutschen Reich ein. Die diplomatischen Beziehungen zwischen dem deutschen Verbündeten ÖsterreichUngarn und den Vereinigten Staaten wurden abgebrochen – die Interessen der USA in Wien wurden durch Spanien, jene der Habsburgermonarchie in den Vereinigten Staaten durch Schweden wahrgenommen.50 Als sich die USA gegen Ende des Jahres 1917 anschickten, Truppen an den italienischen Kriegsschauplatz zu senden, kam es, ein halbes Jahr nach jener an das Deutsche Reich, am 7. Dezember 1917 zur amerikanischen Kriegserklärung an Österreich-Ungarn.

46 ÖStA, AVA, Unterricht – Allg., 2C1, K. 319, 27.736/1914, Bericht des Professors Dr. Joseph Schumpeter über seine Mission als Austauschprofessor an der Columbia Universität in New York, 1913–1914 (11.6.1914). 47 Bedna r, Papierkrieg, 58. 48 Schmidl, Militärische Berührungspunkte, 65f. 49 Loth a r Höbelt, Europa und die Welt 1914–1918, in  : M. Christian Ortner – Hans Hubertus Mack (Hg.), Die Mittelmächte und der Erste Weltkrieg, Wien 2016, 221–244, hier  : 234. 50 Bedna r, Papierkrieg, 95.

Ulrich Lappenküper, Friedrichsruh*

Otto von Bismarck und Badgastein  : Kuraufenthalte zwischen Krieg und Frieden Schon im Mittelalter war die Heilkraft der Gasteiner Thermen über den alpinen Raum hinaus weithin bekannt. Von nah und fern reisten die Fürsten Europas zur Graukogelgruppe und erhofften von den Quellen Linderung von nervösen Störungen, Hautleiden sowie Gicht und Rheumatismus. Die Gold- und Silberfunde der Region dürften das Interesse der hohen Herrschaften noch gesteigert haben. Der Niedergang des Goldbergbaus, die Gegenreformation sowie diverse Naturkatastrophen versetzten der Region indes seit dem sechzehnten Jahrhundert schwere ökonomische Schläge. Erst im neunzehnten Jahrhundert wagte Badgastein einen Neuanfang und begann mit der Verlegung einer neuen Wasserleitung, der Errichtung von Kuranstalten und Hotelgebäuden den Ausbau zu einem modernen Heilbad. Mochten die Kurmöglichkeiten und Unterkünfte jetzt auch höchsten Ansprüchen genügen, blieb die Anfahrt vom Bahnhof Lend mit der Postkutsche durch die wilde Klamm der Ache, Wälder und Felder sehr beschwerlich. Eine Bahnstation erhielt die in einer Bergnische am Abbruch zum Haupttal der Gastein gelegene Gemeinde erst 1906, und der Anschluss an das internationale Verkehrsnetz erfolgte 1909. Immerhin  : Über elektrisches Licht verfügte Badgastein seit 1887.1

1. 1863  : Reise in ein »kaltes Wasserloch« Ungeachtet all’ dieser Beschwernisse gehörte auch Preußens Ministerpräsident Otto von Bismarck zu den illustren Badegästen im stillen Nebental der Salzach.2 Seine * Abkürzungen  : GW  : Die gesammelten Werke  ; NFA  : Neue Friedrichsruher Ausgabe  ; OBS-BA  : Ottovon-Bismarck-Stiftung, Bismarck-Archiv. 1 Vgl. Sebasti a n Hinterseer, Gastein und seine Geschichte, Badgastein 3. Aufl. 1977. 2 Die Abhandlung beruht ganz wesentlich auf der Auswertung relevanter Akten des Bismarck-Archivs der Otto-von-Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh sowie auf dem Studium der Friedrichsruher Ausgaben der Gesammelten Werke Otto von Bismarcks  : [Ot to von] Bism a rck, Die gesammelten Werke, 15 Bde. (= Friedrichsruher Ausgabe), Berlin 1924–1935  ; Ot to von Bism a rck, Gesammelte Werke. Abt. III 1871–1898 Schriften, Bde. 1–8  ; Abt. IV Gedanken und Erinnerungen (= Neue Friedrichsruher Ausgabe), Paderborn 2001–2018. Die kleine Publikation von Peter Ziegler bietet nur ein wenig ergiebiges Kapitel über Bismarcks Kuraufenthalte in Badgastein  : Peter Ziegler, Bismarck in der Badewanne. Als »eiserner« Kurgast in Bad Kissingen, Baden-Baden und Gastein. Ein Lesebuch, Volkach

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Bad­gasteiner Ära begann – nicht eben freiwillig – am 24. Juli 1863. Von Salzburg aus begleitete er seinen König Wilhelm I., der hier wohl auf Empfehlung des Gene­rals Helmuth von Moltke zu kuren gedachte. Ob sich der Monarch dabei der historischen Beziehungen Preußens zu Gastein erinnerte – sein Urahn Friedrich Wilhelm I. hatte den von Verfolgung bedrohten Gasteinern lutherischen Glaubens Zuflucht gewährt – wissen wir nicht. Bekannt ist hingegen, dass sein Eintreffen in politisch turbulente Zeiten fiel. Während auf der europäischen Bühne der polnische Aufstand die Mächte in Atem hielt, stand im Deutschen Bund der Dualismus zwischen Preußen und Österreich im Fokus des Interesses. Sein neun Monate zuvor ernannter Regierungschef sah sich nicht nur einer »Fülle von Widerwärtigkeiten«, sondern überdies »einer Welt von Feinden gegenüber«.3 Wilhelm I. residierte im Hotel »Badeschloss«, direkt neben dem berühmten Wasserfall der Ache. Bismarck nahm sein Quartier unweit davon im Hotel »Straubinger«, dem größtem Haus am Platz.4 »Luft reizend, Gegend mehr imposant als freundlich«, schrieb er seiner Ehefrau Johanna nach der Ankunft.5 Besonders beeindruckend fand er, wie das Flüsschen »einen rasenden Walzer« durch den Ort vollführte und dann »einige hundert Fuß in verschiednen Absätzen zwischen Felsen« herabsprang.6 Die folgenden Wochen verliefen für ihn gedrängt »zwischen Bade-Manipulationen und Feldjäger-Expedition«. Bis elf Uhr war die Post zu erledigen  ; anschließend ging Bismarck ins Bad, sodann legte er sich wieder ins Bett, um die »geistige[n] Arbeiten« für seinen Herrn ausgeruht erledigen zu können. Gegen vierzehn Uhr bat der Monarch zu Tisch, danach spazierte der Ministerpräsident durch eine Glasgalerie oder wanderte in die Berge. Um zwanzig Uhr stand eine Tasse Tee beim König auf seinem Programm  ; zwei Stunden später begab er sich zur Nachtruhe.7 Als Ende Juli heftiger Regen im »kalten Wasserloch« Badgastein einsetzte, kam bei Bismarck mangels gesellschaftlicher Ablenkung das Gefühl von Langeweile auf.8 Umso mehr freute es ihn, dass ihm das wieder besser werdende Wetter erlaubte, das Gasteiner Tal »in seiner ganzen Schönheit« zu erkunden  : »eine riesige Schüssel mit Grünkohl […] schmal und tief, die Ränder mit weißen Falleiern« belegt, beschrieb er die Wälder, Wiesen und schneebedeckten Gipfel gegenüber seiner Gattin. »Bei 1979, 250–262. Eine ausführliche Darstellung des ersten Besuchs liefert M a x Lenz, König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863, in  : Ders., Kleine Historische Schriften, München–Berlin 2. Aufl. 1913, 429–474. 3 Ebd., 429 u. 430. 4 Ich danke Herrn Siegfried Moser, Obmann des Gasteiner Museums, für den freundlichen Hinweis. Zu dem Hotel vgl. Rudolf Holzer, Die Straubinger, Salzburg–Stuttgart 1957. 5 Bismarck an seine Gattin, 22./24.7.1863, in  : Bism a rck, GW, Bd. 14/II, 648. 6 Bismarck an seine Gattin, 28.7.1863, in  : ebd., 649f., hier  : 649. 7 Bismarck an seinen Bruder Bernhard, 24.7.1863, in  : ebd., 648. 8 Bismarck an seinen Sohn Wilhelm, genannt Bill, 27.7.1863, in  : ebd., 648f., hier  : 649.

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diesem Wetter läßt sich leben hier«.9 Endlich konnte er auch auf die geliebte Jagd gehen, nahm für den Abschuss von zwei Gämsen auf 7000 Fuß Höhe sogar in Kauf, drei Stunden »im Sonnenbrand am Felsen« zu sitzen.10 Dass das Satireblatt »Kladderadatsch« prompt eine Karikatur mit Preußens jagendem Ministerpräsidenten abdruckte, ließ ihn über ein Verbot des Blattes nachsinnen. »In meiner Politik mag man mich anfeinden, da lache ich nur darüber. Aber bei der Jagd da hört der Spaß auf, da wird’s Ernst«, wetterte er gegenüber einem seiner seltenen Gäste.11 Spaßig fand Bismarck auch die ihm allmählich über den Kopf wachsende Arbeit nicht. Zunächst war es der Besuch des preußischen Kronprinzen, der ihm zu schaffen machte. Friedrich Wilhelm hatte in einer Rede Einschränkungen der preußischen Pressefreiheit kritisiert und den Ministerpräsidenten damit mächtig verärgert. Umso beruhigter war Bismarck, als der Kronprinz die »Danziger Episode« in Gastein mit seiner »ungenügenden politischen Vorbildung« entschuldigte.12 Das beiderseitige Verhältnis, so heißt es in seinen Memoiren, sei hernach wieder »fest und offen« gewesen.13 Davon konnte aber nur bedingt die Rede sein. Wie sehr die am Ende des Lebens diktierten Erinnerungen über seinen Badgastei­ ner Kuraufenthalt trogen, belegt auch jener Abschnitt, in dem sich Bismarck mit dem Problem des Dualismus befasste. Das Habsburgerreich hatte die Einsetzung eines Fürstendirektoriums beim Deutschen Bund sowie die Schaffung eines Delegiertenparlaments angeregt.14 Kaiser Franz Joseph reiste eigens nach Badgastein, um König Wilhelm für seine ehrgeizigen Pläne zu gewinnen. In einem wahren Kabinettstück seiner Erzählkunst hielt Bismarck die Szenerie in seinen Memoiren fest, wobei die Darstellung nicht vor Ungenauigkeiten gefeit ist. »In Gastein saß ich am 2. August 1863 in den Schwarzenberg’schen Anlagen an der tiefen Schlucht der Ache unter den Tannen. Ueber mit befand sich ein Meisen­nest, und ich beobachtete mit der Uhr in der Hand, wie oft in der Minute der Vogel seinen Jungen eine Raupe oder andres Ungeziefer zutrug. Während ich der nützlichen Thätigkeit der Thierchen zusah, bemerkte ich, daß auf der andern Seite der Schlucht, auf dem Schillerplatze, König Wilhelm allein auf einer Bank saß. Als die Zeit heran­ gekommen war, mich zu dem Diner bei dem Könige anzuziehn, ging ich in meine Wohnung und fand dort ein Briefchen Sr. Majestät vor, des Inhalts, daß er mich auf dem Schillerplatze erwarten wolle, um wegen der Begegnung mit dem Kaiser mit  9 Bismarck an seine Gattin, 28.7.1863, in  : ebd., 649f., hier  : 649. 10 Bismarck an seine Gattin, 12.8.1863, in  : ebd., 650. 11 Bismarck im Gespräch mit Prinz Kraft zu Hohenlohe-Ingelfingen im Juli/August 1863, in  : Bism a rck, GW, Bd. 7, 76. 12 Bism a rck, GW/NFA, Abt. IV, 190–198, Zitat 193  ; vgl. Fr a nk Lorenz Müller, Der 99-Tage-Kaiser. Friedrich III. von Preußen. Prinz, Monarch, Mythos, München 2013, 36–39. 13 Bism a rck, GW/NFA, Abt. IV, 395. 14 Vgl. Jürgen Müller, Deutscher Bund und deutsche Nation 1848–1866, Göttingen 2005, 348–355.

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mir zu sprechen. Ich beeilte mich nach Möglichkeit, aber ehe ich das Königliche Quartier erreichte, hatte bereits eine Unterredung der beiden hohen Herren stattgefunden. Wenn ich mich weniger lange bei der Naturbetrachtung aufgehalten und den König schon früher gesehen hätte, so wäre der erste Eindruck, den die Eröffnungen des Kaisers auf den König gemacht haben, vielleicht ein andrer gewesen.«15 In seinen ornithologischen Beobachtungen vergaß Bismarck nicht nur zu erwähnen, dass er den König noch vor der Ankunft des Kaisers gesprochen hatte, sondern überging auch ein sehr harmonisches Diner der Monarchen. Die von ihm so genannten »Bocksprünge«16 des Kaisers, eine Einladung zu einem Fürstentag nach Frankfurt, auf dem die Reformpläne diskutiert werden sollten, fanden erst am 3. August statt. Wenngleich der König sein Erscheinen schriftlich ablehnte, war die Angelegen­ heit aus Bismarcks Sicht noch nicht ausgestanden. Als er seine Kur in Badgastein am 15. August beendete, sah er sich aufgrund der »Frankfurter Windbeuteleien« genötigt, den Monarchen auf dessen Reise nach Baden-Baden zu begleiten.17 Von der Oos aus verweigerte die preußische Führung einer Kollektiveinladung der am Main versammelten Fürsten abermals die Zustimmung. Die diplomatische Schlacht im Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland war freilich noch nicht beendet.

2. 1864: »keine Ruh bei Tag und Nacht« Wenige Monate später sahen sich beide deutsche Großmächte mit einer ganz neuen Herausforderung konfrontiert, dem Krieg gegen Dänemark.18 Nachdem Wien und Berlin die militärische Auseinandersetzung gewonnen hatten, verständigten sich die drei Kriegsparteien am 1. August 1864 auf einen Präliminarfrieden. Kaum war das Dokument unterzeichnet, brachen die Querelen zwischen Preußen und Österreich erneut auf. Denn nun musste eine Regelung für die Verwaltung der eroberten Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg gefunden werden. Um die eigene Verhandlungslinie festzuzurren, reiste Bismarck am 2. August zu dem abermals in Badgastein kurenden Wilhelm I. Da vorgezeichnet war, dass der Aufenthalt von Dienstgeschäften angefüllt sein würde, ließ er sich von zwei Mitarbeitern begleiten, Heinrich Abeken und Robert von Keudell. Nach der Ankunft des offenen Postwagens »in einem Gewitter mit Hagel wie Flintenkugeln« erlaubte ihm der rasch eintretende Arbeitsanfall trotz des bald herrlichen Wetters kein Baden 15 Bism a rck, GW/NFA, Abt. IV, 203f. 16 Bismarck an seine Gattin, 8.8.1863, in  : Bism a rck, GW, Bd. 14/II, 650. 17 Bismarck an seine Gattin, 12.8.1863, in  : ebd. 18 Vgl. Oliv er Auge – Ulrich La ppenküper – Ulf Morgenstern (Hg.), Der Wiener Frieden 1864. Ein deutsches, europäisches und globales Ereignis, Paderborn 2016.

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oder Spazierengehen. Auch das Zimmer im »Straubinger« ließ zu wünschen übrig  : ein »sonnenblendiger Bratofen«, den Bismarck erleichtert nach drei Tagen durch ein »kühles großes Eckzimmer mit reizender Fernsicht« austauschen konnte. Weit weniger erfreute es ihn, dass es abgesehen vom täglichen Diner und Tee beim König kaum Zerstreuung gab. »Keine Ruh bei Tag und Nacht, nichts, was mir Vergnügen macht  !«,19 grantelte er gegenüber seiner Gattin. Sogar das Rauschen des Wasserfalls nervte ihn. Am 6. August plädierte Bismarck bei Wilhelm I. dafür, die Verwaltung der Elbprovinzen nicht, wie von Österreich gewünscht, einer Regierungskommission von drei Mitgliedern des Bundestags zu übertragen, sondern den beiden deutschen Großmächten zu überlassen. Nach der Beendigung der Kur am 17. August begab er sich nach Schönbrunn, um an der Fortsetzung der Friedensverhandlungen mitzuwirken. Kaum war der Friedensvertrag am 30. Oktober – notabene ohne Bismarck – unterzeichnet, führte das nun vereinbarte Kondominium zu neuen Streitereien. Bei der Suche nach einer tragfähigen Lösung des Problems sollte Badgastein eine zentrale Rolle spielen.

3. 1865: »zwischen Krieg und Frieden« »Die Politik wird krauser«, meldete Bismarck am 26. Juli 1865 aus dem alpinen Kurort.20 Wie im Vorjahr im Gewitter war er zwei Tage zuvor mit Keudell und Abeken im »Straubinger« angekommen.21 »Schicken kann ich Dir von hier weiter nichts«, schrieb er seinem Sohn Wilhelm zu dessen Geburtstag, »denn hier sind nur Alpen, Nebel und Wasser, alle das Porto nicht wert«.22 »Ich liebe diese engen Thäler und das Bergsteigen nicht, der viele Regen und Nebel und der ewige Wasserfall unter meinem Fenster sind mir herzlich über«, beklagte sich Bismarck bei seinem Bruder Bernhard.23 Auch wenn es ihm gesundheitlich gut ging, seitdem ihm Kaltenhauser Bier zur Verfügung stand, machte das Wetter den Aufenthalt in der »Nebelkammer« immer verdrießlicher.24 Den schönsten Teil des Sommers »in diesem infamen

19 Bismarck an seine Gattin, 6.8.1864, in  : Bism a rck, GW, Bd. 14/II, 674f., hier  : 674 u. 675. Den Hinweis auf das Logis verdanke ich Siegfried Moser. 20 Bismarck an Moritz von Blanckenburg, 26.7.1865, im Auszug in  : ebd., 700. 21 Freundlicher Hinweis von Siegfried Moser. Vgl. Robert von K eudell, Fürst und Fürstin Bismarck. Erinnerungen aus den Jahren 1846 bis 1872, Berlin–Stuttgart 1901, 217–220  ; Heinrich A bek en, Ein schlichtes Leben in bewegter Zeit, aus Briefen zusammengestellt, Berlin 1898, 311f. 22 Bismarck an seinen Sohn Wilhelm, 28.7.1865, in  : Bism a rck, GW, Bd. 14/II, 701. 23 Bismarck an seinen Bruder Bernhard, 29.7.1865, in  : ebd. 24 Bismarck an seine Gattin, 4.8.1865, in  : ebd., 702.

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Hundeloch« zu verbringen, machte ihn so »wütend«, dass er beschloss, nie wiederzukommen.25 Zu dieser Missstimmung trug natürlich auch die Arbeit bei, die trotz der Dienste von Keudell und Abeken so anschwoll, dass Bismarck nicht einmal mehr die Bäder aufsuchen konnte. Während die Begegnungen mit dem »alljährlich«26 in Gastein kurenden sächsischen Ministerpräsidenten Friedrich von Beust und mit dem britischen General Lord Napier Preußens Regierungschef noch eine willkommene Abwechslung vom öden Alltag boten, verursachte eine Unterredung mit dem preußischen Kulturminister von Mühler entschiedenes Ungemach, weil Bismarck »bis zur Unhöflichkeit« darauf bestehen musste, dass dessen Frau sie allein ließ.27 Größte Wachsamkeit verlangten dann zwei österreichische Diplomaten, die mit ihm eine Vereinbarung über den Verbleib der Elbprovinzen auszuhandeln wünschten. Da Bismarck nicht recht klar war, in welche Richtung sich die Waage »zwischen Krieg und Frieden« neigen werde,28 ließ er bei den Regierungen in Italien und Frankreich anfragen, wie sie sich im Falle eines österreichisch-preußischen Waffengangs verhalten würden. Eine zwischen König Wilhelm und Kaiser Franz Joseph verabredete Begegnung in Salzburg nötigte ihn freilich, nicht allzu hart aufzutreten. Und auch der österreichische Unterhändler Gustav von Blome zeigte sich bereit, eifrig an der »Verklebung der Risse im Bau« mitzuarbeiten.29 Am 14. August schlossen sie ihre Verhandlungen im »Straubinger« mit einer Vereinbarung ab, die eine getrennte Verwaltung von Schleswig und Holstein sowie den Verkauf Lauenburgs an Preußen vorsah. Zum Dank für seine »Leistungen um das Vaterland« wurde Bismarck knapp einen Monat nach seiner Abreise von Wilhelm I. in den Grafenstand erhoben.30 Dabei bescherte die »Gasteiner Konvention« dem preußisch-österreichischen Dualismus keine wirkliche Entlastung. Nach nicht einmal einem Jahr standen sich beide Mächte in einem Krieg gegenüber, der die deutsche Staatenwelt geradezu revolutio­ nierte.31 An eine Kur in Badgastein war für den preußischen Ministerpräsidenten vorerst nicht mehr zu denken.

25 Bismarck an seine Gattin, 7.8.1865, in  : ebd. 26 Friedrich Fer dina nd Gr a f von Beust, Aus drei Viertel-Jahrhunderten. Erinnerungen und Aufzeichnungen, 2 Bde., Stuttgart 1887, Bd. 1, 403. 27 Bism a rck, GW/NFA, Abt. IV, 181. 28 Bismarck an Blanckenburg, 1.8.1865, im Auszug in  : Bism a rck, GW, Bd. 14/II, 702. 29 Bismarck an seine Gattin, 14.8.1865, in  : ebd., 703. 30 Wilhelm I. an Bismarck, 15.9.1865, in  : Bism a rck, GW/NFA, Abt. IV, 231. 31 Vgl. Wilfried Heinem a n n – Loth a r Höbelt – Ulrich La ppenküper (Hg.), Der preußischösterreichische Krieg 1866, Paderborn 2018.

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4. 1871: froh, »die grüne Höhle wieder im Rücken« zu haben Erst die Bildung des Deutschen Reichs im Krieg gegen Frankreich 1870/71 und die Einsicht Beusts, das Verhältnis zu Berlin auf eine völlig neue Grundlage stellen zu müssen, ebneten für Bismarck abermals den Weg an die Ache. Noch ehe das militärische Ringen beendet war, legte der inzwischen in österreichischen Diensten stehende Reichskanzler seinem Kaiser nahe, einen Schulterschluss mit Deutschlands zu wagen. Mit einer Begegnung beider Monarchen in Salzburg hoffte Beust, eine neue Ära bilateraler Beziehungen einläuten zu können. Wenngleich Bismarck 1865 beschlossen hatte, nie wieder ins Gasteiner Tal zu kommen, reiste der mittlerweile ebenfalls zum Reichskanzler ernannte Staatsmann im Sommer 1871 nach Badgastein, um mit dem dort kurenden Wilhelm I. das Gipfeltreffen vorzubereiten. Gemeinsam mit Keudell nahm er am 17. August Quartier im »Straubinger«, tags darauf stieß Abeken hinzu.32 Das Wetter war gut, und die warmen Bäder taten Bismarck so wohl, dass er einen Moment lang mit dem Gedanken spielte, seine Frau und Tochter nachkommen zu lassen. Die politische Großwetterlage ließ ihn rasch Abstand von der Idee nehmen, konnte der Aufenthalt der Familie doch von den Deutsch-Österreichern als politische Demonstration ausgelegt werden. Von Jagden sah er ebenfalls zunächst ab, und das Bergsteigen ging er nur sehr vorsichtig an. Abgesehen von den Bädern, der täglichen Teilnahme an der Tafel des Kaisers und diversen Unterredungen mit Beust im »Straubinger«33 gab es kaum Zeitvertreib. Dies änderte sich Anfang September mit dem Besuch des Königs von Griechenland und der nun konkretisierten Vorbereitung des Zwei-Kaiser-Treffens. Zum vermehrten Arbeitsaufkommen trugen ferner der beginnende Kulturkampf im Reich, aber auch die Abwicklung des deutsch-französischen Friedensvertrags bei. Als der Abreisetag nahte, gestand Bismarck in einem Brief an seine Gattin offen ein, dass das schöne Wetter ihn »das Ungenügende des Locales doppelt empfinden« ließ. »Ich werde froh sein, wenn ich die grüne Höhle wieder im Rücken habe«, notierte er am 4. September.34 Es kann kaum überraschen, dass der Reichskanzler die beiden folgenden Sommer nicht in Badgastein, sondern auf seinem Gut Varzin in Hinterpommern verbrachte. Politisch weitete sich das Verhältnis zu Österreich-Ungarn derweil zu einer Entente à trois mit Russland. 1874 läutete Bismarck in Bezug auf seine (K)Urlaube eine völlig neue Ära ein, indem es ihn ins fränkische Kissingen zog. Obwohl ihn schon beim

32 Den Hinweis auf das Logis im Straubinger verdanke ich abermals Siegfried Moser. 33 Vgl. Beust, Aus drei Viertel-Jahrhunderten, Bd. 2, 475–494. 34 Bismarck an seine Gattin, 4.9.1871, in  : Bism a rck, GW, Bd. 14/II, 825.

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­ersten Besuch ein Attentat fast das Leben gekostet hätte, wurde die Stadt an der Saale bis 1893 zu seinem präferierten Kurort.35

5. 1877: »die Großartigkeit der Alpenwelt wunderbar offenbart« Nach Badgastein sollte Bismarck erst 1877 zurückkehren – im Anschluss an eine Kur in Kissingen. Sein fünfter Besuch des Gasteiner Tals fand in einem vollkommen neuen Rahmen statt. »Schwäche und Menschenscheu« hatten ihn zunächst zögern lassen, die Reise überhaupt anzutreten.36 Auf Anraten seiner Ärzte wie auch seiner Familie besann er sich um und traf am 25. August mit großer Entourage ein  : seiner Frau Johanna, der Tochter Marie und dem ältesten Sohn Herbert. Auch Wilhelm von Bismarck stieß später noch dazu und übernahm mit seinem Bruder die Sekretärsfunktion. Seit dem 5. September erweiterte der Chef der Reichskanzlei, Christoph Tiedemann, die illustre Runde. Als Unterkunft nahm die große Familie eine Wohnung im »Schwaigerhaus«,37 dem heutigen Hotel »Mirabell«. Für die Wahl dürfte nicht zuletzt die Entfernung zum Wasserfall eine Rolle gespielt haben, da das Domizil deutlich mehr Ruhe versprach als das »Straubinger«. Zugleich bot es ein Höchstmaß an häuslichem Komfort. Wie selbstverständlich versammelte der Patron seine Familie zu den Mahlzeiten um sich herum und bestimmte in den angeregten Tischgesprächen mit »harmloser Unbefangenheit, Heiterkeit und steigender Lebhaftigkeit« den Ton.38 Es gab innerfamiliär aber auch unerfreuliche Momente, etwa als Wilhelm von Bismarck von der altersschwachen Dogge »Sultan« gebissen wurde, was ihm das Baden verwehrte. Johanna von Bismarck bereitete vornehmlich die viele Arbeit des Ehemannes Sorgen. Als das schlechte Wetter am 7. September besser wurde, ordnete sie einen Ausflug der gesamten Familie zum Plateau von Nassfeld an, von dem sich »die Großartigkeit der Alpenwelt wunderbar offenbart[e]«.39 Der private Höhepunkt der Kur dürfte eine nächtliche Geisterseance gewesen sein, die eine Freundin Johannas, die junge ungarische Fürstin Valerie Odescalchi, geb. Gräfin Erdödy, initiierte. Politisch wurde Bismarcks Aufenthalt 1877 von der orientalischen Krise und einem innerfranzösischen Verfassungskonflikt überschattet, zu deren Beratung er den

35 Vgl. Ulrich La ppenküper, Otto von Bismarck und der Ehrenbürgerbrief des »Weltbades« Kissingen, Bad Kissingen 2021 (im Druck). 36 Bismarck an Wilhelm I., 11.8.1877, in  : Bism a rck, GW/NFA, Abt. III, Bd. 3, 204–206, hier  : 206. 37 Vgl. Horst Kohl, Bismarck-Regesten, 2 Bde., Leipzig 1891/92, Bd. 2, 145. 38 Tischgespräch mit Ludwig Aegidi, 12.9.1877, in  : Bism a rck, GW, Bd. 8, 214f., hier  : 214. 39 Tiedemann an seine Frau, 7.9.1877, in  : Christoph von Tiedem a n n, Aus sieben Jahrzehnten. Bd. 2  : Sechs Jahre Chef der Reichskanzlei unter dem Fürsten Bismarck, Leipzig 1909, 195–197, hier  : 196.

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Botschafter in Paris, Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, zu sich rief.40 Auch etliche innenpolitische Themen wie der Kulturkampf und eine neue Städteordnung verlangten seine Aufmerksamkeit. Kummer bereitete ihm eine Unterredung mit dem italienischen Kammerpräsidenten Crispi, der am Vortag von Bismarcks Abreise »als Privatmann ein Schutz- und Trutzbündniß« sondierte. Wenngleich sich der Kanzler darauf nicht einließ, erregte das Gespräch in Berlin wie in Rom erhebliches Aufsehen.41 Nicht minder viel Anstoß verursachte ein Besuch Beusts, da die Zeitungen behaupteten, beide Staatsmänner hätten sich »geküßt«. De facto hatte Bismarck seinen Gast nur wie stets mit »chevaleresker Höflichkeit« behandelt.42

6. 1878: die Badekur wegen der vielen Arbeit »ganz futsch« Auch 1878 genehmigte der Kaiser dem Reichskanzler einen ›doppelten‹ (K)Urlaub, zunächst in Kissingen, dann in Badgastein. Bismarck litt an einer Gürtelrose und war wegen der aufreibenden Wochen des Berliner Kongresses und der Attentate auf Wilhelm I. besonders erholungsbedürftig. Die Ankunft mit seiner Gattin am 18. August erfolgte unter Donner, Blitz und sintflutartigem Regen. Auch das Logis im »Schwaigerhaus« war die ersten Tage wenig ersprießlich, da durch die Anwesenheit von Sohn Wilhelm und Tochter Marie alles »so eng« war, dass die Bismarcks sich »kaum umdrehen konnten«.43 Als Lichtblick empfanden sie nur den Willkomm durch die »liebe Fürstin« Odescalchi, die in den kommenden Wochen fast regelmäßig an ihrer Tafel saß oder die Familie bei sich empfing.44 Am 23. August entspannte sich die Wohnsituation, weil nun ein komfortableres, wiewohl keineswegs prunkvolles Quartier zur Verfügung stand. »Ein Arbeitszimmer für ihn, ein kleiner Salon für die Fürstin, ein noch kleineres Eßzimmer, sowie die nötigen Schlafräume und Dienergelasse – das war alles«, notierte der abermals anwesende Geheimrat Tiedemann.45 Zu wünschen übrig ließ weiterhin das Wetter, was allerdings weniger Bismarck als seine Gattin verdross. Wenngleich es »munter jeden Tag« regne, berichtete Johanna ihrem Sohn Herbert, hätten die ersten Bäder dem »Papachen« »wunderbar 40 Vgl. Tagebuchaufzeichnung Hohenlohes, 5. u. 6.9.1877, in  : Friedrich Curtius (Hg.), Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, Bd. 2, Stuttgart–Leipzig 1907, 219–221. 41 Bismarck an Bülow, 30.10.1877, in  : Bism a rck, GW/NFA, Abt. III, Bd. 3, 243–245, hier  : 244  ; s. a. Gespräch Bismarcks mit Crispi vom 17.9.1877, in  : Bism a rck, GW, Bd. 8, 215–220  ; T. Pa l a menghiCrispi (Hg.), Die Memoiren Francesco Crispi’s. Erinnerungen und Dokumente, Berlin 1912, 25–37. 42 Tiedemann an seine Mutter, 15.9.1877, in  : Tiedem a n n, Aus sieben Jahrzehnten, 198–200, hier  : 199. 43 OBS-BA, C 7, Johanna an Herbert von Bismarck, 23.8.1878. 44 OBS-BA, C 7, Johanna an Herbert von Bismarck, 23.8.1878  ; s. a. die Schreiben Johannas vom 25., 29.8. u. 3.9.1878. 45 Tiedem a n n, Aus sieben Jahrzehnten, 282.

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gut gethan«, und trotz der schlechten Witterung gehe er gut gelaunt stundenlang spazieren.46 Gesellschaftlich entwickelte sich der Aufenthalt im Gegensatz zu früheren Jahren höchst lebhaft, ging doch eine erkleckliche Anzahl an Gästen in dem vor dem Seiteneingang der Wohnung gelegenen offenen Pavillon – »Zelt« genannt – ein und aus. Einladungen schlug Bismarck hingegen meist aus, ließ sich aber »nach einigem Sträuben« durch die Damen überreden, einen »Kaiser-Thee« in seiner Wohnung zu veranstalten.47 Politisch musste sich der Reichskanzler mit einem ganzen Strauß innen- wie außenpolitischer Probleme befassen. Sie reichten vom Kampf gegen die Sozialdemo­ kratie und der Reichstagskandidatur Wilhelm von Bismarcks bis hin zum immer prekäreren Verhältnis zu Russland. Auch das Gespräch mit Crispi vom Vorjahr holte ihn wieder ein und veranlasste ihn, in Rom zu versichern, dass er »nur Höflichkeit zu Italien gegen einen Zudringlichen« an den Tag gelegt habe.48 Höchst ärgerlich empfand Bismarck eine Beschwerde des Ministers Eulenburg über Tiedemann. Da sie dazu geeignet schien, ihm die Kur »zu verderben«, ließ der Kanzler den Chef der Reichskanzlei umgehend zu sich kommen.49 Bald war sein Ärger verraucht und er konnte nicht nur ein Wiedersehen mit dem mittlerweile zum Botschafter in Paris avancierten Beust, sondern auch ein Treffen mit dem amerikanischen Ex-Präsidenten Ulysses Grant genießen. Seine Frau entwickelte ob seines Arbeitspensums geradezu einen Furor gegen die Politik. »O, wie ich sie hasse  !«, wetterte Johanna von Bismarck gegenüber ihrem Sohn Herbert. Die Badekur sei für ihren Mann »ganz futsch«.50 Am Ende des Urlaubs gewann die Fürstin indes den Eindruck, als ob ihr Gatte Badgastein »etwas zu lieben« beginne und er nach 21 Bädern gern noch ­etwas länger bleiben wolle.51 Aus Pflichtgefühl reiste Bismarck am 15. September aber doch ab, wenngleich die »schwere Erkrankung«, die er einen Monat zuvor mitgebracht hatte, »mehr verschärft als geheilt« schien.52

46 OBS-BA, C 7, Johanna an Herbert von Bismarck, 23.8.1878. 47 Tiedem a n n, Aus sieben Jahrzehnten, 285. 48 Bismarck an das Auswärtige Amt, 23.8.1878, in  : Bism a rck, GW/NFA, Abt. III, Bd. 3, 539. 49 Bismarck an Tiedemann, 20.8.1878, in  : ebd., 537f., hier  : 537  ; s. a. Ders. an Eulenburg, 20.8.1878, in  : Bism a rck, GW/NFA, Abt. IV, 331  ; Gespräch Bismarcks mit Tiedemann, Ende August 1878, in  : Bism a rck, GW, Bd. 8, 273. 50 OBS-BA, C 7, Johanna an Herbert von Bismarck, 23.8.1878. 51 OBS-BA, C 7, Johanna an Herbert von Bismarck, 12.9.1878. 52 Bism a rck, GW/NFA, Abt. IV, 333.

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7. 1879: »Anwandlung von großem, unüberwindlichen Überdruß« Auch im folgenden Jahr sah sich der Reichskanzler veranlasst, der Kur in Kissingen eine weitere in Badgastein anzuhängen. In Begleitung seiner Frau traf er am 21. August ein und nahm wieder eine Wohnung im »Schwaigerhaus«.53 Ihr Sohn Bill hatte die Eltern in Salzburg von seinem Bruder in Empfang genommen und beobachtete in den folgenden Tagen mit Sorge, dass die Nachtruhe des Vaters zu wünschen übrig ließ. Der auch »durch Glocken gestört[e]« Schlaf des Reichskanzlers54 wurde erst besser, als das von Johanna bestellte Rakoczy-Wasser aus Kissingen eingetroffen war. Zu wirklicher innerer Ruhe fand Bismarck dennoch nicht, sowohl wegen der Arbeit als auch wegen des emsigen Betriebs in dem kleinen Ort. Wie in anderen europäischen Heilbädern strömten auch in Badgastein immer mehr Kurgäste aus der bürgerlichen Oberschicht ein und veränderten den ja ursprünglich an aristokratischen Modellen orientierten Kurbetrieb ganz erheblich.55 Johanna von Bismarck bewog ihren Mann daher zu einer Kutschfahrt nach Kötschach, um von dort gemeinsam den Kaiserweg zurückzulaufen, der »ganz leer und angenehm« war. Bei Tisch hingegen war die Familie ganz bewusst nie allein, wobei die Fürstin insbesondere den Leiter der Presseabteilung im russischen Innenministerium, Peter Stremoukow, zu schätzen lernte, den Bismarck aus St. Petersburger Zeiten kannte.56 Die Anwesenheit des Russen war für ihn umso wertvoller, als die deutsch-russischen Beziehungen immer angespannter wurden. Bismarcks Absicht, die bedrohte Entente à trois durch den Abschluss eines Bündnisses mit Österreich-Ungarn zu festigen, stieß bei Wilhelm I. auf massive Vorbehalte. Da der Kaiser diesmal nicht in Badgastein weilte, weil er sich mit dem Zaren in Alexandrowno treffen wollte, war Bismarck genötigt, ihm seine Sicht der Dinge in Immediatschreiben darzulegen. Die zeitraubenden Diktate hielten ihn wiederum davon ab, die dringend notwendigen Bäder zu nehmen. Der Kaiser würde ihren Mann mit Arbeit »überschwemmen«, wetterte Johanna von Bismarck im Privatschreiben an ihren Sohn Herbert.57 »Ich würde mich von Herzen freuen  !«, wenn der Papa ob der »Quälereien« seine Ämter niederlege.58 Doch diesen Gefallen tat ihr Gatte nicht.

53 Vgl. Kohl, Bismarck-Regesten, Bd. 2, 199. 54 OBS-BA, E 3, Wilhelm von Bismarck an Rantzau, 15.9.1879. 55 Vgl. Paul Gerbod, Une forme de sociabilité bourgeoise. Le thermalisme in France, en Belgique et en Alle­ magne, 1850–1850, in  : Etienne François (Hg.), Sociabilité et société bourgeoise en France, en Alle­ magne et en Suisse 1750–1850, Paris 1986, 205–118. 56 OBS-BA, C 7, Johanna an Herbert von Bismarck, 25.8.1879  ; s. a. Gespräch Bismarcks mit Stremoukow vom 4.9.1879, in  : Bism a rck, GW, Bd. 8, 322f. 57 OBS-BA, C 7, Johanna an Herbert von Bismarck, 25.8.1879. 58 OBS-BA, C 7, Johanna an Herbert von Bismarck, 30.8.1879.

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Wenige Tage vor der Zwei-Kaiser-Begegnung im fernen Russland erzielte Bismarck mit Österreich-Ungarns Außenminister Gyula Andrássy eine »vorläufige Verständi­ gung über ein rein defensives Bündniß«.59 Aus Freude über das Geleistete genehmigten sich beide Staatsmänner eine gemeinsame Spazierfahrt nach Böckstein. Die Stunden der Muße konnten Bismarck nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sein politisches Ziel noch nicht erreicht hatte. Obwohl das Ehepaar seit Anfang September ganz still für sich lebte, empfand der Reichskanzler den Aufenthalt mehr und mehr wie »ein Hundeleben  !«60 Seine Unzufriedenheit kippte allmählich in »Wuth«,61 was dazu führte, dass er selbst in seiner familiären Umgebung »streng u[nd] ungerecht« wurde.62 Trotz der nachlassenden Arbeit und des seit dem 10. September »prachtvoll[en]« Wetters63 wogte Bismarcks Gemütslage zwischen »Anwandlung von großem, unüberwindlichen Überdruß« und Pflichtgefühl hin und her.64 Zwar genoss er die Bäder, fühlte aber zugleich eine »große Mattigkeit«, von der seine Frau glaubte, dass sie sich erst dann verlieren würde, »wenn er in voller Ruhe in seinen Wäldern« sitzen könnte.65 Ungeachtet der aufreibenden Fernkonsultationen mit dem Kaiser empfing Bismarck noch mehrfach den Nuntius Kardinal Jacobini, der von ihm Zugeständnisse in der Kulturkampffrage erhoffte. Gespräche mit Hohenlohe wurden dadurch »in zweite Linie gestellt«, obwohl sie nicht minder wichtig waren. Denn der ­Kanzler hatte den Botschafter zu sich gebeten, um mit seiner Hilfe den Kaiser für den Zweibund-Vertrag zu gewinnen.66 Erst am Tag seiner Abreise, dem 20. September, konnte Bismarck Andrássy mit Zustimmung Wilhelms I. den Vorschlag einer Defensivallianz unterbreiten. Den Erfolg verdankte er wohl nicht nur einer Rücktrittsdrohung, sondern auch, ja vor allem der dem Kaiser vermittelten Überzeugung, dass das Dreikaiserbündnis das »ideale Ziel« seiner Politik bleibe.67

8. 1883: Hoffnung »nicht auf vollständige, doch auf geschäftsfähige Genesung« Aufgrund der mannigfachen Widrigkeiten dieses Badgasteiner Aufenthalts kann es kaum verwundern, dass Bismarck die Urlaube in den folgenden drei Jahren in Kis59 Bism a rck, GW/NFA, Abt. IV, 356 60 OBS-BA, C 7, Johanna an Herbert von Bismarck, 5.9.1879. 61 OBS-BA, E 3, Wilhelm von Bismarck an Rantzau, 6.9.1879. 62 OBS-BA, E 3, Wilhelm von Bismarck an Rantzau, 15.9.1879. 63 OBS-BA, E 3, Wilhelm von Bismarck an Rantzau, 12.9.1879. 64 OBS-BA, E 3, Wilhelm von Bismarck an Rantzau, 15.9.1879. 65 OBS-BA, C 7, Johanna an Herbert von Bismarck, 18.1879. 66 Tagebuchaufzeichnung Hohenlohes, 14.9.1879, in  : Hohenlohe, Denkwürdigkeiten, Bd. 2, 274. 67 Bismarck an Wilhelm I., 5.9.1879 in  : Bism a rck, GW/NFA, Abt. III, Bd. 4, 163–166, hier  : 165.

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singen bzw. Varzin verbrachte. Erst 1883 kam er in die Alpen zurück. Ende Juli begab er sich an die Saale, vom 1. bis 24. September setzte er die Kur in Begleitung seiner Frau an der Ache fort. Als Sekretär stand ihm diesmal sein Sohn Herbert zur Verfügung, ab dem 14. September Friedrich von Rottenburg, der neue Chef der Reichskanzlei. Innen- wie außenpolitisch befand sich das Deutsche Reich in ruhigeren Gewässern. Und dennoch musste sich der Reichskanzler einmal mehr intensiv den Amtsgeschäften widmen. Im Mittelpunkt standen die Verlängerung des Drei-Kaiser-Vertrags, Bemühungen um eine deutsch-französische Entente auf kolonialpolitischem Gebiet und der deutsch-spanische Handelsvertrag. Trotz der anstrengenden Tätigkeiten sollte sich seine Konstitution so weit bessern, dass Bismarck, »wenn auch nicht auf vollständige, doch auf geschäftsfähige Genesung« glaubte rechnen zu können.68 Die Bäder bekamen ihm gut und er fühlte sich so kräftig, dass er bis zu zwei Stunden bergauf gehen konnte. Das Wetter war zwar bereits frühherbstlich kühl, aber im Ganzen noch freundlich. Überschattet wurde die Kur Mitte September durch eine »nicht gefährlich[e] aber langwierig[e]« Erkrankung Johanna von Bismarcks. Sie zwang dazu, die Abreise zu verschieben, sodass auch Sohn Wilhelm den familiären Reigen noch ergänzen konnte.69

9. 1886: Abschied vom »Schwaigerhaus« In den beiden folgenden Sommern blieb Bismarck Badgastein erneut fern und weilte stattdessen in Hinterpommern bzw. Franken. Erst 1886 kehrte er ins Tal der Gastein zurück, und zwar zum letzten Mal. Am Abend des 2. August traf er mit seiner Gattin im »Schwaigerhaus« ein,70 seit dem 6. August weilte auch Herbert von Bismarck vor Ort. Während dem Sohn schon nach wenigen Tagen der »Trouble« in der Gemeinde misshagte,71 entwickelte sich die Stimmung seines Vaters »recht gut«,72 wie auch eine kleine Begebenheit belegt, mit der er sich einem jungen Mädchen auf ewig ins Gedächtnis eingrub. Am 22. August traf Antoinette Gutmann mit ihrem Vater Eugen, dem Gründer der Dresdener Bank, in Badgastein ein und machte sich ein Vergnügen daraus, auf einem der Promenadentische mit Moos, Steinen und Hölzern das Tal nachzubilden. Als am nächsten Tag alles zerstört war, half ein älterer Herr

68 Bismarck an Ludwig II., 19.9.1883, in  : Bism a rck, GW/NFA, Abt. III, Bd. 5, 537f., hier  : 537. 69 OBS-BA, D 25, Herbert von Bismarck an Rantzau, 17.9.1883. 70 Vgl. Kohl, Bismarck-Regesten, Bd. 2, 409. 71 OBS-BA, D 17, Herbert an Wilhelm von Bismarck, 8.8.1886. 72 Herbert an Wilhelm von Bismarck, 11.8.1886, im Auszug in  : Wa lter Bußm a n n (Hg.), Staatssekretär Graf Herbert von Bismarck. Aus seiner politischen Privatkorrespondenz, Göttingen 1964, 370.

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beim Wiederaufbau, und um die abermalige Verwüstung zu verhindern, hinterlegte er eine aus der Tasche gezogene Karte mit den Worten  : »Diese Anlagen sind dem Schutze des Publikums empfohlen.« Sein Name  : Otto von Bismarck.73 Politisch hatte sich die Lage seit seinem letzten Besuch zumindest in auswärtiger Hinsicht erheblich verschlechtert. In Frankreich brach sich der Revanchismus gegen Deutschland eine Bahn, und auf dem Balkan zog ein Krieg zwischen Serben und Bulgaren Österreich-Ungarn und Russland an den Rand des Abgrunds. Bismarck hatte sich aber nicht nur mit dem Erhalt der Bündnisse zu befassen, auch der noch immer nicht beendete Kulturkampf sowie die Pflege des Verhältnisses zu Italien und zu China erforderten seine Wachsamkeit. Das wichtigste politische Thema dürfte für ihn indes das bevorstehende Treffen der beiden Kaiser gewesen sein. Aus deutscher Sicht verliefen die Konsultationen durchaus zufriedenstellend. Zumindest erwartete der ebenfalls anwesende Herbert von Bismarck von Seiten Österreich-Ungarns »für das nächste halbe Jahr […] keine Unbesonnenheiten«.74 Als sein Vater am 24. August die Rückreise antrat, konnte er nicht ahnen, dass das eigentlich erfreuliche Resultat der Beratungen ein heftiges Zerwürfnis zwischen ihm und dem preußischen Thronfolger nach sich ziehen sollte. Friedrich Wilhelm nahm es Bismarck ausgesprochen übel, dass auch sein Sohn Wilhelm bei dem deutschöster­reichischen Gipfeltreffen zugegen gewesen war. Außerdem war ihm zu Ohren gekommen, dass der Reichskanzler vom Kaiser die Erlaubnis erhalten hatte, dem Prinzen die Akten des Auswärtigen Amts zugänglich zu machen. Auf Friedrich ­Wilhelm wirkte das wie die Vorbereitung einer allmählichen Thronübernahme Wilhelms.75 Noch wusste der Kronprinz nicht, dass er kurz nach dem Tod seines Vaters 1888 sterben und sein Sohn den Thron besteigen sollte.

10. Resümee Gut dreißig Wochen seines langen Lebens hat Bismarck in Badgastein zugebracht. Da sie allesamt in die Zeit seiner Ministerpräsident- bzw. Reichskanzlerschaft fielen, konnte er sich an der Ache nie nur dem Kuren hingegeben. Was Peter Weidisch einmal für die Obere Saline in Kissingen formuliert hat, galt auch für das Straubinger-

73 Lebenserinnerungen von Antoinette von Essen (ungedruckt), zitiert nach  : Laurenz K risch, Ein außergewöhnliches Treffen mit Fürst Otto von Bismarck, in  : kultur passiert… H. 73 (Juni 2011). 74 Herbert an Wilhelm von Bismarck, 11.8.1886, in  : Bußm a n n (Hg.), Staatssekretär, 370. 75 Vgl. Friedrich Wilhelm an Bismarck, 28.9.1886, in  : Bism a rck, GW/NFA, Abt. IV, 405f.; John C.G. Röhl, Wilhelm II. Die Jugend des Kaisers 1859–1888, München 1993, 568–597.

Otto von Bismarck und Badgastein  : Kuraufenthalte zwischen Krieg und Frieden

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Hotel bzw. das Schwaigerhaus  : Sie wurden während der Anwesenheit von Bismarck gewissermaßen zum »Mikrokosmos« der Macht.76 Politisch kann die Bilanz der neun Aufenthalte nicht anders denn als durchwachsen bezeichnet werden. Der Frankfurter Fürstentag war 1863 trotz der intensiven Beratungen auf höchster Ebene nicht verhindert worden, und auch die Gasteiner Konvention von 1865 vermochte den Dualismus nur vorübergehend zu entschärfen. Demgegenüber kam den intergouvernementalen Beratungen von 1871 eine erhebliche Bedeutung für die Neuausrichtung des deutsch-österreichischen Verhältnisses zu, und die Konsultationen von 1879 setzten maßgebliche Schritte auf dem Wege zum Zweibund. Da das Dreikaiserbündnis das ideale Ziel seiner Politik blieb, ging es Bismarck fortan darum, Österreich-Ungarn von Dummheiten abzuhalten. Doch als er seine Zelte in Badgastein 1886 auf ewig abbrach, schien dies allenfalls für ein halbes Jahr gesichert. Und auch die anderen Probleme der Zeit waren an der Ache keineswegs »gelöst« worden.77 Persönlich hatte Bismarck sich in Badgastein trotz der erholsamen Bäder nie wirklich wohlgefühlt. Weder klimatisch noch topographisch war der Ort nach seinem Geschmack. Eigentlich waren es die Kuren des Königs, dann Kaisers Wilhelm I., die ihn quasi contre cœur dorthin geführt hatten. Nach dem Tod des Monarchen entfiel für den Reichskanzler denn auch jeglicher Grund zur Reise in die Alpen. Noch heute geht in Badgastein die Fama um, Bismarck sei dort wenig beliebt, ja ob seiner Doggen gar gefürchtet gewesen.78 Von Ovationen oder Fackelzügen der Bevölkerung wie in Kissingen ist jedenfalls nichts bekannt. Des ungeachtet rühmt sich das Heilbad heute einer Bismarckstraße und eines Bismarck-»Verwöhnhotels«.

76 Peter Weidisch (Hg.), Bismarck in Bad Kissingen, Bad Kissingen 2011, 14. 77 Siegfried Moser, Bismarck und Gastein, in  : kultur passiert … H. 88 (März 2015). 78 Ich danke Siegfried Moser für diesen freundlichen Hinweis.

Michael Gehler, Hildesheim

Deutsche, italienische und österreichische politische Entwicklungen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg 1. Vorbemerkung Die politische Entwicklung von Österreich, dem Front- und Kernstaat Bundesrepublik Deutschland und Italien nach dem Zweiten Weltkrieg und ihr Verhältnis zuein­ ander können ohne Kenntnis der Geschichte des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht völlig nachvollzogen werden, zumal wenn Vergleiche angestellt werden sollen, um Analogien, Gemeinsamkeiten, Parallelen und Unterschiede herauszuarbeiten. Dabei sind auch Aspekte der Diskontinuität und Kontinuität berührt. Besonders für die Jahre von 1859 bis 1938 spielt der Faktor »Österreich« in den deutsch-italienischen Beziehungen eine erhebliche Rolle.1 1 M a dda lena Guiot to – Joh a n nes Lill (Hg.), Italia–Germania/Deutschland–Italien 1948–1958 Riavvicinamenti/Wiederannäherungen (= Villa Vigoni Studi italo-tedeschi, 6), Firenze 1997  ; Jens Petersen, Italienbilder – Deutschlandbilder. Gesammelte Aufsätze. Von seinen Freuden herausgegeben, Köln 1999  ; Sergio Rom a no, Guida alla politica estera italiana. Da Badoglio a Berlusconi, Mailand 2. Aufl. 2002  ; Friederik e H ausm a n n, Kleine Geschichte Italiens von 1945 bis Berlusconi, Berlin 2002  ; Gi a n Enrico Rusconi, Deutschland – Italien. Italien – Deutschland. Geschichte einer schwierigen Beziehung von Bismarck bis zu Berlusconi, Paderborn–München–Wien–Zürich 2003  ; R enato Cristin (Hg.), Vie parallele/Parallele Wege  : Italia e Germania 1944–2004 (Italien in Geschichte und Gegenwart), Frankfurt am Main 2005  ; Wolfga ng A ltgeld (Hg.), Quellen zu den deutsch-italienischen Beziehungen 1861–1963, Darmstadt 2004  ; Friedrike Hausmann, Kleine Geschichte Italiens von 1943 bis Berlusconi, Berlin 2004  ; H a ns Woller, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, München 2010  ; Mich a el Gehler, Deutschland. Von der geteilten Nation zur gespaltenen Gesellschaft 1945 bis heute, Wien–Köln–Weimar 2020  ; Rolf Steininger – Mich a el Gehler, Österreich im 20. Jahrhundert, Bd. 2  : Vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Wien–Köln–Weimar 1997  ; Silvio Furl a ni – A da m Wa ndruszk a (Hg.), Österreich und Italien. Ein bilaterales Geschichtsbuch, Wien–München 1973  ; hg. v. Maddalena Guiott – Stefan Malfèr, Wien 2. Aufl. 2002  ; italienische Ausgabe  : Austria e Italia. Storia a due voci, Bologna 2002  ; Brigit te M a zohl-Wa llnig – M a rco Meriggi (Hg.), Österreichisches Italien – Italienisches Österreich  ? Interkulturelle Gemeinsamkeiten und nationale Differenzen vom 18. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (= Zentraleuropa-Studien, 5)  ; Wien 1999  ; Gi a n Enrico Rusconi – H a ns Woller (Hg.), Parallele Geschichte  ? Italien und Deutschland 1945–2000 (= Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient, 20), Berlin 2006  ; Mich a el Gehler – M a dda lena Guiot to (Hg. unter Mitarbeit von Imke Scharlemann), Italien, Österreich und die Bundesrepublik Deutschland in Europa/Italy, Austria and the Federal Republic of Germany. Ein Dreiecksverhältnis in seinen wechselseitigen Beziehungen und

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Michael Gehler, Hildesheim

Die Entwicklung von der nationalen Befreiungsbewegung in Italien (1859–1871), der deutschen Reichsgründung (1871) und dem Dreibund mit der Habsburgermonarchie (1882–1915), der Zwischenkriegszeit (1918–1939) bis zum Zweiten Weltkrieg (1939/41–1945) kann überblicksartig in fünf Phasen skizziert werden.

2. Europa im Zeichen des nationalstaatlichen Prinzips: Italien und Preußen als Widersacher der Habsburgermonarchie (1859–1871) Das Kriegsjahr 18662 sah Italien und Preußen als Sieger – beide befanden sich im Kriegszustand mit der Habsburgermonarchie. Das gemeinsame Feindbild einte  : auf der einen Seite der angebliche »Völkerkerker«, auf der anderen Seite die ungeliebte »Vormacht« im Deutschen Bund. Das Deutsche Kaiserreich und das Königreich Italien waren im Wesentlichen säkulare Staaten. Unter dem preußischen Ministerpräsidenten Fürst Otto von Bismarck (1862–1890) und späteren deutschen Reichskanzler (1871–1890) erfolgte die deutsche Einigung nahezu zeitgleich mit der italienischen, und zwar mit »Blut und Eisen« unter wachsender preußischer Hegemonialstellung im zunehmend preußisch-österreichischen Dualismus. Die Frontstellung Bismarcks gegenüber der römisch-katholischen Kirche im sogenannten »Kulturkampf« kann als Analogie zur Entwicklung Italiens unter umgekehrten Vorzeichen gesehen werden  : Der italienische Bismarck war Camillo Benso di Cavour als Ministerpräsident von Sardinien-Piemont (1852–1861) sowie Architekt der nationalen Einigung und Verfassung Italiens. Venetien und Friaul wie auch der Kirchenstaat konnten für die italienische Nationalbewegung hinzugewonnen werden. Rom wurde neue Hauptstadt. Papst Pius IX. (1846–1878) bezeichnete sich als »Gefangener im Vatikan« und untersagte den Katholiken die Teilnahme am politischen und staatlichen Leben Italiens. Übte der neue deutsche Einheitsstaat gegen die römisch-katholische Kirche Druck aus, so versuchte das Papsttum, sich gegen den neuen italienischen Nationalstaat zur Wehr zu setzen.3

Wahrnehmungen von 1945/49 bis zur Gegenwart/A Triangle Relationship  : Mutual Relations and Perceptions from 1945/49 to the Present (= Institut für Geschichte der Universität Hildesheim, Arbeitskreis Euro­ päische Integration, Historische Forschungen, Veröffentlichungen, 8), Wien–Köln–Weimar 2012. 2 K l aus-Jürgen Bremm, 1866. Bismarcks Krieg gegen die Habsburger, Darmstadt 2016. 3 Siehe zum weiteren Themenkomplex  : A ndre as Got tsm a n n, Rom und die nationalen Katholizismen in der Donaumonarchie. Römischer Universalismus, habsburgische Reichspolitik und nationale Identitäten 1878–1914 (= Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturforum in Rom, Abhandlungen, 16), Wien 2010.

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3. Fern von einem einigen Mitteleuropa: Divergente Partner im fragilen Dreibund (1882–1915) und Gegner im Ersten Weltkrieg (1915–1918) Im Jahre 1882 ging das italienische Königreich mit Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich, die ihrerseits 1879 den Zweibund4 geschlossen hatten, den »Dreibund«5 ein, der allerdings ein fragiles Gebilde blieb, weil Italien sich wiederholt als nicht gleichwertiger, sondern minderer und unzufriedener Partner empfand. Der Schwerpunkt des deutschen Expansionsdrangs lag im Osten, insbesondere im Baltikum, während Österreich-Ungarn primär an eine Kontrolle des »Pulverfasses am Balkan« dachte. Dagegen existierte im Deutschen Reich – vergleichbar mit Italien – eine aufflammende nationalistische Euphorie und eine weite Bevölkerungskreise aufstachelnde Kriegspropaganda und geistige Mobilisierung, die auf Gebietserweiterungen ausgerichtet war. Italien verfolgte neben der Kolonialpolitik den Irredentismus. Sein Bündniswechsel auf die Seite der Entente mit der Kriegserklärung an Österreich am 23. Mai 1915 führte zu emotionalen Verwerfungen.6 Vom »welschen Treubruch« und vom »schändlichen Verrat« war schnell die Rede. Zum Zweifrontenkrieg der Mittelmächte in Ost und West kam nun noch die Südfront hinzu. An zwei Fronten kämpften auch Italien und Österreich-Ungarn, einerseits um das Isonzo-Gebiet mit 12 Schlachten im österreichischen Küstenland, andererseits in den Alpen im Gebirgskrieg, wodurch die italienischen Einheiten in Verteidigungsposition im Vorteil waren.7 Daneben gab es auch Seegefechte in der Adria. 4 Jürgen A ngelow, Kalkül und Prestige. Der Zweibund am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Köln–Wien– Weimar 2000  ; Helmu t Rumpler, Der »Zweibund« 1879. Das deutsch-österreichisch-ungarische Bündnis und die europäische Diplomatie, Wien 1996. 5 Fritz Fellner, Der Dreibund. Europäische Diplomatie vor dem Ersten Weltkrieg, Wien 1960  ; Holger A fflerbach, Der Dreibund. Europäische Großmacht- und Allianzpolitik vor dem Ersten Weltkrieg (= Veröffentlichungen der Kommission für die Neuere Geschichte Österreichs, 92), Wien 2002. 6 Joh a n nes Hürter – Gi a n Enrico Rusconi (Hg.), Der Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 (Sondernummer der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte), München 2007  ; Nicol a La ba nca – Oswa ld Überegger (a cura di), La Grande Guerra italo-austriaca (1915–1918), Bologna 2014  ; A ndre as Got tsm a n n – Rom a no Ugolini – Stefa n Wedr ac (Hg.), Österreich-Ungarn und Italien im Ersten Weltkrieg/Austria-Ungheria e Italia Nella Grande Guerra (= Österreichische Akademie der Wissenschaften/Publikationen des Historischen Institutes beim Österreichischen Kulturforum in Rom, I. Abteilung, Abhandlungen, 18), Wien 2018. 7 Wolfga ng Etschm a n n, Die Südfront 1915–1918, in  : Klaus Eisterer – Rolf Steininger (Hg.), Tirol und der Erste Weltkrieg (= Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte, 12), Wien – Innsbruck 1995, 27–60  ; Nicol a La ba nca – Oswa ld Überegger (Hg.), Krieg in den Alpen. Österreich-Ungarn und Italien im Ersten Weltkrieg (1914–1918), Wien–Köln–Weimar 2015  ; siehe auch Oswa ld Überegger, Erinnerungskriege. Der Erste Weltkrieg, Österreich und die Tiroler Kriegserinnerung in der Zwischenkriegszeit, Innsbruck 2011.

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Michael Gehler, Hildesheim

In der zweiten Hälfte des Krieges (1916–1918) war der »Burgfriede« im deutschen Kaiserreich nicht mehr aufrechtzuerhalten. Im Sommer 1918 wehrte Italien in der zweiten Piave-Schlacht einen weiteren Durchbruch Österreichs ab, das damit erheblich geschwächt wurde. Im Herbst startete Italien eine Großoffensive, die zur Niederlage der Habsburgermonarchie von Vittorio Veneto am 29. Oktober 1918 führte. Angesichts der Forderungen der Nationalitäten nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit drohte die Auflösung der k. u. k. Armee, die rasant einsetzen sollte. Der Waffenstillstand in der Villa Giusti bei Padua am 3. November 19188 zwang Wien, alle Forderungen der Entente-Mächte zu erfüllen, was einer totalen Kapitulation gleichkam. Italiens Truppen okkupierten die ihm im Londoner Geheimvertrag vom 26. April 1915 versprochenen Territorien einschließlich von Teilen Nordtirols und Innsbrucks.9 Einen weiteren Vormarsch der Italiener durch das Inntal gegen Deutschland verhinderte der Waffenstillstand an der Westfront. An der Ostfront im klaren Vorteil, brach jedoch aufgrund des anhaltenden Stellungskriegs im Westen die deutsche Versorgung zusammen. Die Alliierten hatten dann auch durch das Eingreifen der USA und den damit verbundenen Zustrom von Mannschaft und Material den Vorteil klar auf ihrer Seite. Kaiser Wilhelm (1890–1918) konnte seine Stellung nicht mehr halten. Der Zusammenbruch der Front führte zur November-Revolution und zwang ihn zum Rückzug in das niederländische Exil. Während Kaiser Karl (1916–1918) durch Verkündung eines »Völkermanifests«10 den multinationalen Verbund der Donaumonarchie noch zusammenzuhalten versuchte, was scheiterte und ihn zwang, auch vom Thron abzulassen, ging Italien als Siegermacht aus dem ­Ersten Weltkrieg hervor und behielt seine monarchische Staatsform bei. Deutschland, Italien und Österreich-Ungarn hatten einen hohen Blutzoll zu beklagen. Der Krieg hatte wie die meisten Kriege nur Verlierer hinter sich gelassen.11

 8 M a nfried R auchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie, Wien– Köln–Weimar 2013, 1051, 1156 (Anm. 2520), siehe auch Oswa ld Überegger, All’ombra della guerra. Storia del Tirolo (1918–1920) (= Studi Storici Carocci, 339), Roma 2020.  9 John Fisher, Curzon and British imperialism in the Middle East, 1916–19, London 1999, 307–310  ; John Ashley Soa mes Gren ville – Berna r d Wasserstein (Hg.), The major international treaties of the twentieth century. A history and guide with texts, London 2001, 64–67. 10 Zby něk A. Zem a n, Der Zusammenbruch des Habsburgerreiches 1914–1918, Wien 1963, 225–228  ; Rudolf Neck (Hg.), Österreich im Jahre 1918. Berichte und Dokumente, München 1968. 11 Siehe hierzu Gerh a r d Hirschfeld – Ger d K rumeich – Irina R enz (Hg. in Verbindung mit Markus Pöhlmann), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2003.

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4. Fortgesetzte Desintegration Europas – gemeinsamer Revisionismus in Deutschland, Italien und Österreich (1919/20–1931/32) Österreich und das Deutsche Reich waren Leidtragende der Friedensverträge von Paris. Die Bestimmungen von Saint Germain-en-Laye und Versailles wurden in beiden Staaten scharf abgelehnt und erzeugten einen antidemokratischen aggressiven Revisionismus. Italien selbst war als Siegernation unzufrieden mit der Nachkriegsordnung. Ministerpräsident Vittorio Emanuele Orlando (1917–1919) verließ unter Protest die Pariser Friedensverhandlungen.12 Der italienische Sieg sei mit zu wenig Gebietszuwachs von den übrigen Alliierten »verstümmelt« worden. Italien musste auf den Zugewinn des Ostadria-Raums und die Vergrößerung seiner Kolonien verzichten. Der nationalistische Schriftsteller Gabriele D’Annunzio (1863–1938) gilt als Schöpfer dieses wirksamen Schlagworts von der »vittoria mutilata«. Als nicht ausreichend entschädigter Sieger des Ersten Weltkriegs reihte sich die vom Natio­ nalismus durchdrungene italienische Politik in die Reihe der Gegner der Pariser Vororteverträge und der Revisionsstaaten ein. Die Dolchstoß-Legende mit der Losung »im Felde unbesiegt«, der am 28. Juni 1919 von der deutschen Delegation nur unter Protest hingenommene und dann auch unterschriebene Vertrag von Versailles lasteten mit den damit verbundenen Gebietsabtretungen, dem Verlust aller Kolonien sowie den überzogenen Entschädigungsforderungen auf der jungen deutschen Demokratie der Weimarer Republik schwer. Ein »Anschluss« Österreichs war untersagt. Dem Deutschen Reich und seinen Verbündeten wurden im Artikel 231 des Versailler Vertrags die Urheberschaft für den Krieg zugeschrieben und daraus massive Reparationszahlungen abgeleitet, die den weltweit vorhandenen Deckungsbedarf an Gold überstiegen. Während Italien Gebietsgewinne verzeichnete, musste Deutschland beträchtliche, aber insgesamt noch überschaubare Abtretungen hinnehmen, während Österreich so massive Territorialverluste zu beklagen hatte, dass es sich im Unterschied zur Habsburgermonarchie nurmehr als zusammengeschrumpfter Zwergstaat empfinden konnte.

12 K l aus Schwa be, Versailles. Das Wagnis eines demokratischen Friedens 1919–1923, Paderborn, 2019  ; A rnold Suppa n, Die imperialistische Friedensordnung Mitteleuropas in den Verträgen von St. Germain und Trianon, in  : Helmut Rumpler (Hg.), Die Habsburger Monarchie und der Erste Weltkrieg, Wien 2017, 1257–1341  ; Ders., The Imperialistic Peace Order in Central Europe. Saint-Germain and Trianon 1919–20, Wien 2019, 168–181  ; Mich a el Gehler – Thom as Olechowsk i – Stefa n Wedr ac – A nita Ziegerhofer (Hg.), Der Vertrag von Saint Germain im Kontext der europäischen Nachkriegsordnung, in  : Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 9, 2019, Heft 2, und zuletzt im Sinne einer fundamentalen Editionsleistung  : Herbert K a lb – Thom as Olechowsk i – A nita Ziegerhofer (Hg.), Der Vertrag von Saint Germain. Kommentar, Wien 2021.

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Michael Gehler, Hildesheim

5. Die demokratiepolitische Schwächung der Mitte Europas durch prekäre Krisenregime  : Italien als erste faschistische Diktatur – Österreich und Deutschland mit relativ spät gescheiterten Republiken (1922–1933/34) In allen drei Staaten gab es nach 1918 dominante ideologisch-politische Tendenzen  : Antimarxismus, Bürgerkrieg, Gewalt in der Politik mit politisch motivierten Attentaten auf Entscheidungsträger und Führungskräfte sowie Militarisierungen der Gesellschaften durch einen ausgeprägten Paramilitarismus. In allen drei Ländern existierte eine starke Linksopposition, repräsentiert sowohl durch Kommunisten als auch durch gemäßigte Sozialdemokraten bzw. radikale Sozialisten. Der DiktaturenVergleich zwischen Österreich, Italien und Deutschland13 hat Phasenverschiebungen und Zeitverzögerungen zu berücksichtigen  : Während der Faschismus mit Benito Mussolini bereits 1922 in Italien an die Macht gelangte, sollte dies Adolf Hitler und dem Nationalsozialismus erst elf Jahre später gelingen. Österreich erlebte die angebliche »Selbstausschaltung des Parlaments«, so die offizielle Propaganda-Version des sich zunehmend etablierenden autoritären Regimes ebenfalls 1933 unter Engelbert Dollfuß, der den Nationalrat an seiner Wiedereinberufung hinderte. Das Deutsche Reich war im Vergleich zu den südeuropäischen Faschismen mit Spanien unter Primo de Rivera und Francisco Franco sowie Portugal unter Antonio Salazar demokratiegefestigter und damit auch diktaturresistenter gewesen, gleichwohl die Anfangsjahre der ersten deutschen Republik alles andere als gewaltlos und konfliktfrei verlaufen waren. Die erste Nachkriegszeit stand in Deutschland wie in Italien im Zeichen bürgerkriegsartiger Ereignisse und politischer Morde. In Österreich gab es im Laufe der weiteren Entwicklung drei Bürgerkriege  : im Juli 1927 sowie im Februar und im Juli 1934.

13 Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche. Action française – Italienischer Faschismus – Nationalsozialismus, München 1963  ; Ders., Die faschistischen Bewegungen. Die Krise des liberalen Systems und die Entwicklung der Faschismen (= dtv-Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, 4), München 1966  ; Bernd M a rtin, Zur Tauglichkeit eines übergreifenden Faschismus-Begriffs. Ein Vergleich zwischen Japan, Italien und Deutschland, in  : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 29, 1981, 48–73  ; Stefa n Breuer, Faschismus in Italien und Deutschland  : Gesichtspunkte zum Vergleich, in  : Zeitgeschichte 10, 1983, 9/10, 341–369  ; Ders., Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich, Darmstadt 2005  ; A rnd Bauerk ä mper, Der Faschismus in Europa 1918–1945, Stuttgart 2006  ; Wolfga ng Schieder, Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008  ; Sv en R eich a r dt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln–Weimar–Wien 2002 (= Industrielle Welt, 63), Köln–Weimar–Wien 2. Aufl. 2009.

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6. Aktiv bei der Selbstzerstörung Europas  : Gemeinsam auf dem Weg in den Zweiten Weltkrieg (1935–1943) Italien steigerte seinen Revisionismus bereits ab Mitte der dreißiger Jahre im Sinne einer Politik des Expansionismus, der Rekolonisierung und der Neuauflage des Imperialismus als Aggressor gegen Äthiopien (1935–1936).14 Es entfaltete dabei eine rassistisch motivierte und eliminatorisch ausgerichtete faschistische Expansionspolitik, die sich bis in den Zweiten Weltkrieg hineinzog.15 Das Italien unter Mussolini entfremdete sich dabei von den westlichen Demokratien Großbritannien und Frankreich, mit denen es sich noch zuvor auf der Konferenz von Stresa vom 11. bis 14. April 1935 zu einer gemeinsamen »Front« gegen NS-Deutschland und zur Unterstützung der österreichischen Unabhängigkeit zusammengefunden hatte. In den »Römer Protokollen« vom 17. März 1934 hatte Italien im Wege einer scheinbar eigenständigen Mitteleuropa-Politik mit Österreich und Ungarn versucht, politische, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Vereinbarungen zu schließen. Im Zeichen der deutsch-italienischen Annäherung zogen der faschistische und der nationalsozialistische Staat bei der Intervention im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) an einem Strang und unterstützten die nationalistischen Militärs um General Francisco Franco. Es folgte in dieser bündnispolitischen Konsequenz am 25. Oktober 1936 die Bildung der »Achse Rom-Berlin«, die nicht nur den bereits vorher schon eingeläuteten Abschied von einem demokratisch verfassten Europa besiegelte, sondern auch zur Entfesselung einer radikal ideologisierten und totalitären Außenpolitik beitrug, die zur internationalen Entsolidarisierung und letztlich zum Zusammenbruch des europäischen Staatensystems führte. Mussolini folgte Hitlers Entscheidung von 1933 und trat ebenfalls aus dem Völkerbund aus. Italien schloss sich 1937 dem »Antikomintern-Pakt« an, den Deutschland und Japan am 25. November 1936 eingegangen waren. Es entwickelte sich zwischen beiden Diktatoren Hitler und Mussolini eine »brutale Freundschaft«.16

14 A r a m M at tioli, Entgrenzte Kriegsgewalt. Der italienische Giftgaseinsatz in Abessinien 1935–1936, in  : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51, 2003, Heft 3, 310–337  ; Giuli a Brogini Kü nzi, Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg  ?, Paderborn 2006  ; frühere Studien  : A ngelo del Boca, Gli italiani in Africa Orientale. La conquista dell’impero, 2 Bde., Roma–Bari 1979  ; Ders., Gli italiani in Africa Orientale. La caduta dell’impero, 2 Bde., Roma–Bari 1982  ; Ders. (Ed.), I gas di Mussolini. Il fascismo e la guerra d’Etiopia, Rom 1996  ; Nicol a La ba nca, Kolonialkrieg in Ostafrika 1935/36  : Der erste faschistische Vernichtungskrieg  ?, in  : Lutz Klinkhammer – Amedeo Osti Guerrazzi – Thomas Schlemmer (Hg.), Die »Achse« im Krieg  : Politik, Ideologie und Kriegführung 1939–1945 (= Krieg in der Geschichte, 64), Paderborn–München–Wien–Zürich 2010, 194–210. 15 A r a m M at tioli, Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941, Zürich 2005. 16 Frederick W. De a k in, The brutal friendship. Mussolini, Hitler and the Fall of Italian Fascism, New York 1962.

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Michael Gehler, Hildesheim

Österreich war in den Jahren von 1933 bis 1936 nur mehr ein Objekt im Mächtespiel von Faschismus und Nationalsozialismus. Für die Aufrechterhaltung einer spezifischen politischen Balance und die Wahrung des Friedens in Europa war es relevant, aber nicht in der Lage, eine selbstbestimmte Außenpolitik zu praktizieren, wozu ihm auch ausreichende Handlungsspielräume fehlten.17 Nach Einmarsch der Wehrmacht in Österreich gab der vormalige Staatskanzler Karl Renner (1918/19) als Sozialdemokrat sein »Ja« zum Anschluss, wenngleich unter Methoden zustande gekommen, die nicht zu billigen waren. Das Interview erschien am 3. April 1938 im »Neuen Wiener Tagblatt«. Die zwanzigjährige »Irrfahrt des österreichischen Volkes« sei nun zu Ende und »das traurige Zwischenspiel von 1866 bis 1918« Geschichte. Im »Anschluss« sah er das Selbstbestimmungsrecht für Österreich realisiert, wofür er in Saint Germain noch vergeblich eingetreten war. So sah er auch das Münchner Abkommen vom 29./30. September 1938, pries die deutsche Einverleibung des Sudetenlands und erlag dem gleichen Irrtum wie westliche Staatsmänner, die den europäischen Frieden damit gerettet sahen. Renner löste sich vom Anschluss-Denken erst nach der alliierten Moskauer Deklaration vom 1. November 1943, die die Befreiung und Unabhängigkeit Österreichs verheißen sollte. Er propagierte ausgehend davon die Opferthese, gleichwohl der österreichische Beitrag zur nationalen Selbstbefreiung gering war. Für Josef W. Stalin, dem sich Renner im Frühjahr 1945 geschickt angedient hatte, war entscheidend, dass er für Österreichs völlige Unabhängigkeit eintrat und damit dem Anschlussgedanken abschwor. So wurde Renner Chef einer provisorischen Regierung, die die Basis für die staatliche Einheit trotz Zonentrennung schuf.18 Den »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich am 13. März 1938 duldete der »Duce« ohne große Begeisterung, erhielt dadurch aber von Hitler die Zusicherung des Brenners als »ewige Grenze«.19 Die Südtirolfrage20 sollte als Streitthema

17 R ich a r d Schober, Der österreichische »Ständestaat« und die europäischen Mächte. Von der Machtübernahme Hitlers zum Juliabkommen (1933–1936), Wien–Köln 2021, 689–722. 18 Wolfga ng Mueller, Stalin, Renner und die Wiedergeburt Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg, in  : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54, 2006, Heft 1, 125–154  ; zuletzt sehr dem Thema zugetan  : Siegfried Nasko, Karl Renner. Zu Unrecht umstritten  ? Eine Wahrheitssuche, Salzburg–Wien 2016. 19 Mich a el Gehler, »… wie äußerst empfindlich die vor den Toren Italiens geschaffene Lage ist.« Der »Anschluss« 1938 und die Südtirolfrage mit Blick auf die »Achse« Berlin-Rom, in  : Klaus Eisterer (Hg.), Tirol zwischen Diktatur und Demokratie (1930–1950). Beiträge für Rolf Steininger zum 60. Geburtstag, Innsbruck–Wien 2002, 213–245  ; Ders., Der »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich, Italien und die Lösung der Südtirolfrage durch Umsiedlung 1938/39, in  : Stefan Karner – Peter Ruggenthaler (Hg.), 1938. Der »Anschluss« im internationalen Kontext (= Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, Sonderband, 20), Wien–Graz 2019, 203–218. 20 A ngelo A r a, Fra Austria e Italia  : Dalle Cinque Giornate alla Questione Altoatesina, Udine 1987.

Deutsche, italienische und österreichische politische Entwicklungen

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zwischen Italien und Deutschland im Wege eines Umsiedlungsabkommens »bereinigt« werden,21 das Hitler und Mussolini am 23. Juni 1939 in Berlin schlossen.22 Die zweite Hälfte der dreißiger Jahre war von einer anscheinend nicht mehr aufzuhaltenden Revisionspolitik Hitler-Deutschlands gekennzeichnet  : Das Saarland kam aufgrund einer Volksabstimmung 1935 zurück ans Reich. Im Jahr darauf rückten deutsche Truppen unter Bruch des Versailler Vertrags in das entmilitarisierte Rheinland ein. Die Olympischen Sommerspiele von 1936 instrumentalisierte der »Führer« als scheinbares Forum des Friedens und der Völkerverständigung. Im Jahr zuvor waren die Nürnberger Rassegesetze verkündet und in Kraft gesetzt worden, die Ausgrenzung und Diskriminierung der Juden in Deutschland bewirkten, eine Politik, die das faschistische Italien ab 1937/38 zunehmend freiwillig und ohne Druck von außen nachvollzog, also noch vor der stärker werdenden militärisch-politischen Abhängigkeit von NS-Deutschland (1941–1943).23 Zur Reichspogromnacht vom 9./10. November 1938 gab es in Italien allerdings keine vergleichbaren Ereignisse. In Österreich und besonders in Wien nahm ein entfesselter Antisemitismus besonders krasse Formen an. Beispiellos »wilde Arisierungen« und Demütigungen der jüdischen Bevölkerung setzten ein, die in Deportation und Massenmord endeten.24 Die jüngere Forschung hat das Bild vom »Opfer Österreich« stark relativiert. War der Staat zweifelsohne ein solches der Hitler’schen Aggressionspolitik geworden, so war doch auch die Zustimmung vieler Österreicherinnen und Österreicher zum »Anschluss« ein nicht unerheblicher Faktor. Die Täter sind personifizierbar durch die »Eichmann-Männer«.25 Weit über eine halbe Million Österreicher waren in der deutschen Wehrmacht aktiv und in Kriegsgräuel und Verbrechen in Südosteuropa verwickelt. Insgesamt waren es 1,2 Millionen Österreicher in der Wehrmacht, der Waffen-SS und ab Herbst 1944 im Volkssturm.26 Die Opferthese gilt für den Staat Österreich 1938, nicht aber für die gesamte österreichische Bevölkerung, worunter sich nicht wenige bereitwillige Kriegsverbrecher und freiwillige Mittäter, v. a. aber 21 K l aus Eisterer – Rolf Steininger (Hg.), Die Option. Südtirol zwischen Faschismus und Nationalsozialismus (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte, 5), Innsbruck 1989. 22 Leopold Steurer, Südtirol zwischen Rom und Berlin 1919–1939, Wien–München–Zürich 1980  ; Gü nther Pa ll av er – Leopold Steurer (Hg.), Deutsche  ! Hitler verkauft Euch  ! Das Erbe von Option und Weltkrieg in Südtirol, Bozen 2011. 23 K ath a rina Wa lter, Die Judenpolitik unter Mussolini, in  : Zeitgeschichte 24, 1997, Heft 1/2, 3–29. 24 Gerh a r d Botz, Die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich. Planung und Verwirklichung des politisch-administrativen Anschlusses (1938–1940), Wien 1972, 2. Aufl. 1988  ; Ders., Wohnungspolitik und Judendeportation in Wien 1938–1945, Wien 1975. 25 H a ns Sa fri a n, Eichmann’s Men, Cambridge–New York 2010. 26 R ich a r d Germ a n n, »Österreichische« Soldaten in Ost- und Südosteuropa 1941–1945. Deutsche Krieger – Nationalsozialistische Verbrecher – Österreichische Opfer  ?, Dissertation an der Universität Wien 2006  ; Bertr a nd Mich a el Buchm a n n, Österreicher in der deutschen Wehrmacht. Soldatenalltag im Zweiten Weltkrieg, Wien 2009.

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Michael Gehler, Hildesheim

viele Mitläufer und Opportunisten befanden, wobei für letztere aus ihrer subjektiven Sicht keine andere Wahl dazu blieb. Hitler und Mussolini begannen erst ab 1943 den europäischen Gedanken für die Erreichung ihrer Ziele zu entdecken und zu okkupieren – wenig glaubhaft und überzeugend –, um damit ihre antikommunistische Kriegspolitik zu legitimieren. Im Zuge der sich abzeichnenden Kriegsniederlage versuchten sie, »Europa« im Sinne seines »Abwehrkampfs« gegen den Bolschewismus zu instrumentalisieren, was jedoch nur halbherzig und auch viel zu spät erfolgte, um die von ihnen beherrschten und unterdrückten Völker noch auf ihre Seite zu ziehen.27 Unter gänzlich veränderten Rahmenbedingungen versuchten Österreich, Italien und das geteilte Deutschland nach 1945/49 einen relativ radikalen innen- und außenpolitischen Neuanfang.

27 Mich a el Gehler, Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung – Zusammenhalt, Reinbek bei Hamburg 2018, 172–180  ; H a ns Werner Neulen, Europa und das 3. Reich. Einigungsbestrebungen im deutschen Machtbereich 1939–1945, München 1987.

Marc von Knorring, Passau

Das künftige »Liebkind der Österreicher« im Juli 1914 Einschätzungen zur Krisendiplomatie des Königreichs Bayern

I. Während des Ersten Weltkriegs lief Bayern außenpolitisch zu großer Form auf. Bereits vor 1914 an die Spitze »der Hackordnung der deutschen Bundesstaaten« avanciert und schon insofern interessanter geworden, zeigte sich das süddeutsche Königreich nun derart kooperationsfähig und zugleich selbstbewusst, dass es anstelle seines mitteldeutschen Konkurrenten Sachsen geradezu zum neuen »Liebkind der Österreicher« wurde  ; besonders der Münchner Ministerratsvorsitzende vulgo Regierungschef (1912–1917) und zugleich Außenminister Graf Georg von Hertling hatte bei ihnen »einen Stein im Brett«. Begünstigt wurde diese Entwicklung freilich dadurch, dass die Kriegsziele, insbesondere die nach Westen gerichteten Expan­ sionsgelüste Münchens den Plänen der Wiener Führung nicht in die Quere kamen.1 Schon vor diesem Hintergrund mag man fragen, ob Bayern – im Gegensatz zum seinerzeit außenpolitisch bereits inaktiven Sachsen2 – bereits in der Julikrise des Jahres 1914 entsprechend agierte, als es im Kern darum ging, sich zur Politik der Habsburger und ihren erwartbaren Folgen zu positionieren. Doch es gibt noch weitere Umstände, die hier eine nähere Untersuchung berechtigt erscheinen lassen. Zum einen hatte der König von Bayern den Vorsitz im Bundesratsausschuss für auswärtige Angelegenheiten inne, dem daneben die Monarchen Sachsens, Württembergs, Badens und Mecklenburg-Schwerins angehörten.3 Alle gemeinsam hatten es zwar in 1 Loth a r Höbelt, Kein Albert und kein Hertling. Österreich und Sachsen im Ersten Weltkrieg. Eine diplomatische Miszelle, in  : Konstantin Hermann – Matthias Rogg (Hg.), Sachsen im Ersten Weltkrieg. Politik und Gesellschaft eines deutschen Mittelstaates 1914 bis 1918 (= Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte, 43), Stuttgart 2018, 84–89 (die Zitate ebd., 84, 86f.). – Vgl. zu den Expansionsplänen Bayerns Gerh a r d Hetzer, Außenpolitik als deutscher Bundesstaat  : Das Königreich Bayern 1871–1918, in  : Auswärtiges Amt (Hg.), Die Außenpolitik der deutschen Länder im Kaiserreich, München 2012, 25–56, hier 50ff. 2 Jörg Ludwig, Sächsische Außenpolitik 1871–1918  : Institutionen und Archivbestände, in  : Auswärtiges Amt (Hg.), Die Außenpolitik der deutschen Länder im Kaiserreich, München 2012, 57–78, bes. 57–71. 3 Ernst Deuerlein, Der Bundesratsausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten 1870–1918. Dargestellt vornehmlich auf Grund bisher unveröffentlichter Akten […], Regensburg 1955, 67  ; Ingeborg Koch, Die Bundesfürsten und die Reichspolitik in der Zeit Wilhelms II., Diss. München 1961, 13f.; Ernst Rudolf

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Marc von Knorring, Passau

  

der Frühphase des Kaiserreichs versäumt, auf einen Ausbau der Kompetenzen dieses Gremiums hinzuarbeiten  ; zwischen 1879 und 1899 hatte der Ausschuss sogar geruht, dann nur jeweils einmal in den Jahren 1900 und 1905 getagt.4 Seit 1908 jedoch war man im jährlichen Turnus zusammengekommen, 1912 angesichts der Balkankrise sogar zweimal – stets auf bayerische Initiative hin –, ein letztes Mal schließlich Ende November 1913.5 Zwar taten die Gesandten der Mittelstaaten hier niemals mehr, als Informationen von Seiten der Reichsregierung zu empfangen und über die Lage zu diskutieren,6 doch nichtsdestoweniger erachtete gerade Georg von Hertling den Ausschuss in den Jahren vor dem Weltkrieg als veritables Mitspracheorgan der deutschen Außenpolitik.7 Zum anderen unterhielt Bayern, anders als die übrigen Mittelstaaten, nicht nur dauerhaft ein eigenes Außenministerium,8 sondern zugleich auch ein weitgespanntes Netz diplomatischer Vertretungen im europäischen Ausland, verbunden mit dem Vorrecht, die Botschafter des Kaisers »an allen Orten, an denen eine bayerische Gesandtschaft bestand, zu vertreten«.9 Das war konkret der Fall in Wien, Paris, St. Petersburg und Rom, hier sowohl beim Heiligen Stuhl als auch bei der Regierung des Königreichs Italien.10 Zwar mussten die wittelsbachischen Emissäre gegebenenfalls den Weisungen aus Berlin Folge leisten, doch bedeutete das nicht, dass sie prinzipiell keinen Spielraum für Eigeninitiativen hatten.11 Zu allem Überfluss saßen in Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Band III  : Bismarck und das Reich. Stuttgart u. a. 3., wesentlich überarbeitete Aufl. 1988, 755.  4 Deuerlein, Bundesratsausschuß, 67ff., 92, 255  ; Koch, Bundesfürsten, 13.  5 Deuerlein, Bundesratsausschuß, 94, 230, 255  ; Koch, Bundesfürsten, 127.  6 Deuerlein, Bundesratsausschuß, 94ff.; vgl. Koch, Bundesfürsten, 127.  7 Koch, Bundesfürsten, 127.  8 Vgl. M a x Dom a rus, Bayern 1805–1933. Stationen der Staatspolitik. Nach Dokumenten im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, Würzburg 1979, 153.  9 Bernh a r d Zit tel, Auswärtige Angelegenheiten, in  : Wilhelm Volkert (Hg.), Handbuch der bayerischen Ämter, Gemeinden und Gerichte 1799–1980, München 1983, 23–29, hier 27f.; vgl. bereits Wolfga ng Benz, Bayerische Auslandsbeziehungen im 20. Jahrhundert. Das Ende der auswärtigen Gesandtschaften Bayerns nach dem I. Weltkrieg, in  : Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 32, 1969, 962–994, hier 963. 10 M a rtin Ot t, Bayerische Gesandtschaften (19./20. Jahrhundert), in  : Historisches Lexikon Bayerns (2006), URL  : http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Bayerische_Gesandtschaften_ (19./20._Jahrhundert) [15.10.2021]  ; vgl. bereits Koch, Bundesfürsten, 10  ; Benz, Bayerische Auslandsbeziehungen, 964f.; Zit tel, Auswärtige Angelegenheiten, 28. Eine vollständige Auflistung findet sich in  : Hof- und Staatshandbuch des Königreichs Bayern für das Jahr 1914, hg. v. K. Bay er. Statistischen La ndesa mt, München 1914, 158f.; vgl. auch zu den übrigen im folgenden namentlich genannten bayerischen Funktionsträgern ebd., passim. 11 Koch, Bundesfürsten, 9f.; Konr a d R eiser, Bayerische Gesandte bei deutschen und ausländischen Regierungen 1871–1918. Ein Beitrag zur Geschichte der Teilsouveränität im Bismarckreich (= Miscellanea Bavarica Monacensia, 10), München 1968, 87 und passim  ; Benz, Bayerische Auslandsbeziehungen, 963–966.

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München wiederum Gesandte all derjenigen Staaten, in deren Hauptstädten Bayern diplomatisch vertreten war, zuzüglich Großbritanniens, sodass man bei Bedarf je nachdem auch über diesen Weg kommunizieren konnte.12 War es nun also wirklich so, dass sich alle bayerischen Akteure einschließlich der Regierungsspitze und des Throninhabers nach dem von serbischen Behörden gedeckten Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajewo13 vornehm zurückhielten, womöglich aus einem Gefühl der Machtbzw. Hoffnungslosigkeit heraus, wie die Forschung in weitgehender Übereinstimmung glaubt  ?14

II. Als die Krise begann, wurde Regierungschef Hertling zunächst vom bayerischen Gesandten in Preußen und stimmführenden Bevollmächtigten im Bundesrat, Graf Hugo von Lerchenfeld-Köfering, über die diplomatischen Aktivitäten der Reichsregierung informiert.15 Lerchenfeld ging zwar am 4. Juli in den Sommerurlaub, wurde jedoch in Berlin durch Legationsrat Hans von Schoen und Legationssekretär Freiherr Joseph Maria von Soden-Fraunhofen vertreten.16 Ihre Lageberichte hielten die Münchner Regierung in den folgenden Wochen auf dem Laufenden, waren dabei sehr sachlich und enthielten allenfalls gelegentlich zustimmende Bemerkungen zur offiziellen deutschen Linie  : Berechtigung Österreich-Ungarns zum Krieg gegen 12 Benz, Bayerische Auslandsbeziehungen, 964f.; vgl. R eiser, Bayerische Gesandte, 8, 47ff., 68ff., 131. 13 Zu Ursachen und Anlässen des Ersten Weltkriegs sowie zur Chronologie der Ereignisse vgl. Herfried Mü nk ler, Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin 2013, 28–106  ; ähnlich, dabei jedoch weitaus detaillierter Christopher Cl a rk, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, München 2013. 14 Stefa n M ä rz, Das Haus Wittelsbach im Ersten Weltkrieg. Chance und Zusammenbruch monarchischer Herrschaft, Regensburg 2013, 151  ; Dom a rus, Bayern 1805–1933, 153  ; Benz, Bayerische Auslandsbeziehungen, 965  ; Koch, Bundesfürsten, 127, 129. R eiser, Bayerische Gesandte, 25 argumentiert letztlich in dieselbe Richtung, wenn er konstatiert, dass Bayern »sich nicht das Odium der Reichsuntreue anheften lassen wollte«. – Vgl. hierzu auch bereits meinen Aufsatz Akteure oder Zuschauer  ? Bayerische Staatsmänner und Diplomaten in der europäischen Krise des Juli 1914, in  : Passauer Jahrbuch 56, 2014, 211–221, der mit seiner anders gelagerten Fragestellung sowie seiner schmaleren Literatur- und Quellenbasis dem vorliegenden Beitrag lediglich als Materialgrundlage diente und nunmehr als überholt gelten kann. 15 M ä rz, Das Haus Wittelsbach, 151. 16 Ernst Deuerlein (Hg.), Briefwechsel Hertling – Lerchenfeld 1912–1927. Dienstliche Privatkorrespondenz zwischen dem bayerischen Ministerpräsidenten Georg Graf von Hertling und dem bayerischen Gesandten in Berlin Hugo Graf von und zu Lerchenfeld. Erster Teil (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, 50/I), Boppard am Rhein 1973, 38, 74  ; M ä rz, Das Haus Wittelsbach, 151.

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Serbien, Lokalisierung des Krieges usw.17 Unterdessen lieferten die auswärtigen Gesandtschaften regelmäßig Berichte aus den europäischen Hauptstädten, sodass Hertling gut über die politischen und diplomatischen Ereignisse und Entwicklungen unterrichtet war.18 Dabei wagte sich lediglich der bayerische Vertreter in Wien, Freiherr Heinrich Tucher von Simmelsdorf, etwas weiter vor, als er am 6. Juli kundtat, schärfste Maßnahmen Österreichs gegen Serbien für berechtigt bzw. notwendig zu halten.19 Unterdessen tauschte sich der Gesandte in Stuttgart, Graf Carl Moy de Sons, anlässlich eines Badeaufenthalts mit dem ehemaligen russischen Regierungschef Graf Witte unter anderem über Rüstungsfragen aus, berichtete auch am 13. Juli über diesen Kontakt, was jedoch offenbar niemanden recht interessierte.20 Einen Tag später jedenfalls ließ König Ludwig III. den österreichischen Gesandten in München, Ludwig Vélics von Làszlôfalva, im Rahmen einer persönlichen Audienz wissen, dass er zwar »als Friedensfreund« alle Bemühungen Wiens um eine Beilegung des Konflikts ohne Gewaltanwendung begrüße, aber wenig Hoffnung in die Kooperationsbereitschaft der Gegenseite setze  ; bei zu langem Abwarten könne es Habsburg »später unter relativ ungünstigeren Bedingungen als wie heute, zur Pflicht werden […], mit den Serben eine gründliche Abrechnung zu halten, und zwar selbst auch um den Preis eines großen Krieges«.21 Diese klare Stellungnahme war indessen offenbar die einzige – zumindest gegenüber Österreich –, die der ausnahmsweise in seiner Residenzstadt anwesende bayerische Monarch im Juli 1914 abgab.22 In dasselbe Horn stieß jedoch zehn Tage später sein oberster Minister, der gegenüber Vélics »vollste Zustimmung« zum Ultimatum Österreichs an Serbien vom 23. Juli 17 Deuerlein, Briefwechsel, 301ff.; die Berichte Schoens und Sodens (9. bis 27. Juli) ebd., 304–315. 18 M ä rz, Das Haus Wittelsbach, 152  ; vgl.  August Bach (Hg.), Deutsche Gesandtschaftsberichte zum Kriegsausbruch 1914. Berichte und Telegramme der badischen, sächsischen und württembergischen Gesandtschaften in Berlin aus dem Juli und August 1914, Berlin 1937, passim. 19 Pius Dirr (Hg.), Bayerische Dokumente zum Kriegsausbruch und zum Versailler Schuldspruch, München– Berlin 4. Aufl. 1928, 122. 20 Hetzer, Außenpolitik, 46 mit Anm. 61. 21 Ludwig Bit tner – H a ns Uebersberger (Bearb.), Österreich-Ungarns Aussenpolitik von der Bosnischen Krise 1908 bis zum Kriegsausbruch 1914. Diplomatische Aktenstücke des Österreichisch-Ungarischen Ministeriums des Äussern. 8. Band  : 1. Mai bis 1. August 1914 (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, 26), Wien–Leipzig 1930 (Neudruck Nendeln 1972), 453, Nr. 10286 (Bericht aus München, 15. Juli 1914). 22 Weder auf einem der oben genannten diplomatischen Wege noch über die verwandtschaftlichen Beziehungen seines Hauses entfaltete Ludwig III. irgendwelche Initiativen, sah vielmehr die Zuständigkeit dafür ganz beim Reich, erachtete schließlich einen Verteidigungskrieg als unvermeidlich – und war vor diesem Hintergrund fast den ganzen Juli auf Reisen, während sich sein Sohn, Kronprinz Rupprecht, ausnahmslos auf seine militärischen Funktionen konzentriert zu haben scheint. Siehe A lfons Beck enbauer, Ludwig III. von Bayern 1845–1921. Ein König auf der Suche nach seinem Volk, Regensburg 1987, 161–164  ; M ä rz, Das Haus Wittelsbach, 151  ; Dieter J. Weiß, Kronprinz Rupprecht von Bayern (1869–1955). Eine politische Biografie, Regensburg 2007, 96ff.

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bekundete (das ihm freilich vorab bekannt gewesen war23). Hertling »wünsche und hoffe bestimmt«, so Vélics in seinem Bericht nach Wien, »dass es uns in Kürze gelingen werde, das anarchistische Mördernest in Belgrad auszuheben und uns den Frieden zu sichern«, mit einer Intervention Russlands rechne er nicht.24 Als nun Serbien das Ultimatum am 25. Juli faktisch abgelehnt hatte, brach Graf Hertling seinen just angetretenen Urlaub wieder ab – um daheim für alle Fälle präsent zu sein und ohne irgendwelche Aktivitäten zu entfalten.25 Inzwischen jedoch hatte der bayerische Gesandte beim Vatikan, Freiherr Otto von Ritter zu Grünstein, seinen Vorgesetzten darüber informiert, dass die Kurie eine Strafaktion Wiens gegen Belgrad für richtig und geboten halte  ; das Habsburgerreich müsse sich behaupten und panslawistischen Bestrebungen in seiner Nachbarschaft entgegentreten, wobei Russland und auch Frankreich keine große Gefahr darstellten.26 Papst Pius X., offiziell unparteiisch, mag darauf spekuliert haben, dass seine Ansichten auf dem Umweg über München in Wien bekannt und die dortigen Entscheidungen dadurch in seinem Sinne gelenkt werden würden – der Vatikan fürchtete selbst das hinter Serbien stehende Streben des Zarenreichs nach einer Hegemonialstellung im Balkanraum.27 Jedenfalls war diese Nachricht ganz im Sinne Hertlings, der zudem »schon seit geraumer Zeit von einer Gruppe im [deutschen] Auswärtigen Amt [wusste], für die eine offene Stellungnahme des Papstes zugunsten eines Angriffs auf Serbien von eminenter Bedeutung gewesen wäre«, ebenso wie für Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg.28 Der bayerische Regierungschef aber hielt das Telegramm seines Gesandten geheim, auch vor der Wiener Führung, nun offenbar mit der klaren Absicht, zumindest nicht etwa eine »vorhandene Kriegsstimmung weiter zu schüren«.29 Möglicherweise hatte ihm zu denken gegeben, dass Tucher in seinen Berichten aus Wien inzwischen nachdrücklich vor dem militärischen Potential Serbiens warnte, und mehr noch davor, dass Russland in einen Krieg eintreten würde.30 Lerchenfeld, der am 28. Juli, dem Tag der Kriegserklärung Öster-

23 Hetzer, Außenpolitik, 45. Zur offiziellen Mitteilung am 23. Juli siehe Bit tner  – Uebersberger, Österreich-Ungarns Aussenpolitik, 594, 600. 24 Bit tner  – Uebersberger, Österreich-Ungarns Aussenpolitik, 638f., Nr. 10604 (Bericht aus München, 24. Juli 1914). 25 Deuerlein, Briefwechsel, 38f.; M ä rz, Das Haus Wittelsbach, 152. Zur Übermittlung auch an München vgl. Bit tner  – Uebersberger, Österreich-Ungarns Aussenpolitik, 657, 665ff., vgl. auch 813ff. 26 Jörg Zedler, Das Rittertelegramm. Bayern und der Heilige Stuhl in der Julikrise 1914, in  : Ders. (Hg.), Der Heilige Stuhl in den internationalen Beziehungen 1870–1939, München 2010, 175–202, hier 175 (zu Ritters Bericht vom 24. Juli) und 184 (hier nach Dirr, Bayerische Dokumente, 206). 27 Zedler, Das Rittertelegramm, 195, 198f. 28 Ebd., 190  ; vgl. 186, Anm. 35. 29 Ebd., 188f., 200 (Zitat). 30 Dirr, Bayerische Dokumente, 133, 135 (23. und 25. Juli).

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reichs an Serbien, wieder Posten in Berlin bezog,31 sah dies ähnlich  : Am folgenden Tag gab er seinem Vorgesetzten zu verstehen, dass er die serbische Antwort auf das Ultimatum für ausreichend halte und Wien dem Zarenreich durch die Eröffnung von Feindseligkeiten gegen das kleinere Nachbarland nur einen Vorwand zum Eingreifen geben würde.32 Gegenüber seinem Kollegen aus Württemberg äußerte der bayerische Bundesratsbevollmächtigte freilich zur selben Zeit, dass er keine Hoffnung mehr auf die Diplomatie setze, sondern mehr und mehr das Militär am Zug sehe.33 Dabei hatten schon in den Wochen zuvor weder er selbst noch Hertling oder gar König Ludwig III. Anstalten gemacht, den Bundesratsausschuss für auswärtige Angelegenheiten einzuberufen.34 Einer entsprechenden Initiative, die nun von Württemberg ausging, hielt Lerchenfeld entgegen, dass besser gleich der ganze Bundesrat zusammentrete.35 Hertling fühlte sich gar bemüßigt, ausdrücklich von seiner früheren Einschätzung abzuweichen und »[a]ngesichts der auf den Ausschuß gerichteten Hoffnungen […] zu erklären, [dies]er sei keine ›Notbremse‹ der deutschen Außenpolitik. Dazu würden ihm Übung, Unterrichtung und Beschlußfähigkeit fehlen«.36 Um eine Einberufung des Bundesrats bemühten sich die Gesandten der Mittelstaaten nun allerdings vergeblich37 – wobei Lerchenfeld auch daran gar nicht sonderlich interessiert gewesen zu sein scheint, denn er riet seinem Chef davon ab, gegebenenfalls nach Berlin zu reisen, weil es die Mühe nicht wert sei.38 Bei Hertling stieß er damit auf offene Ohren, denn der wollte schon von sich aus lieber zu Hause bleiben.39 Unterdessen ver31 Deuerlein, Briefwechsel, 74. Seine Berichte im Einzelnen ebd., 315ff.; vgl. dazu auch Dom a rus, Bayern 1805–1933, 158f., 165f. 32 Deuerlein, Briefwechsel, 318. 33 Bach, Deutsche Gesandtschaftsberichte, 95f. (Bericht des württembergischen Gesandten in Berlin an die königliche Regierung in Stuttgart vom 29. Juli). 34 Deuerlein, Bundesratsausschuß, 184–186. 35 Koch, Bundesfürsten, 128f.; vgl. den Bericht des württembergischen Gesandten in Berlin an die königliche Regierung in Stuttgart vom 29. Juli bei Bach, Deutsche Gesandtschaftsberichte, 95f. Insofern ist Deuerlein, Bundesratsausschuß, 186 nur teilweise zuzustimmen, wenn er zwar unter anderem »[d] ie zunehmende Überstürzung der Ereignisse« als Hinderungsgrund für ein Zusammentreten nennt, zugleich aber konstatiert, »daß selbst der Versuch unterblieb, den Bundesratsausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten einzuberufen.« – Vgl. zu diesen Vorgängen auch Hetzer, Außenpolitik, 44f. 36 Deuerlein, Bundesratsausschuß, 230. 37 Vgl. Deuerlein, Briefwechsel, 317 (Lerchenfeld an Hertling, 29.  Juli)  ; Bach, Deutsche Gesandtschaftsberichte, 82 (der badische Außenminister an den badischen Gesandten in Berlin, 28. Juli). 38 Deuerlein, Briefwechsel, 321 (Lerchenfeld an Hertling, 31.  Juli)  ; Dirr, Bayerische Dokumente, 13f. (»Fernsprech-Meldung der Gesandtschaft in Berlin« an das Außenministerium in München vom 31. Juli, 7.45 Uhr). Vgl. auch bereits den Bericht des badischen Gesandten in Berlin an den badischen Außenminister vom 29. Juli, der Lerchenfelds Desinteresse betont (Bach, Deutsche Gesandtschaftsberichte, 91). 39 Deuerlein, Bundesratsausschuß, 185f.

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sicherte der bayerische Ministerratsvorsitzende dem Gesandten Vélics am 30. Juli, dass das Vorgehen der österreichischen Führung gegen Serbien gut und richtig, die Mobilmachung in Deutschland und Bayern gegebenenfalls gesichert sei.40 Hertling lag damit nach kurzem Schwanken wieder ganz auf seiner alten Linie, während Lerchenfeld die Ereignisse im Grunde zu keiner Zeit anders als schicksalsergeben registriert zu haben scheint. Dann aber war es ein Mann aus der Riege der auswärtigen Gesandten, der kurz vor Beginn des großen Krieges eine Friedensinitiative von bayerischer Seite startete. Freiherr Lothar von Ritter zu Grünstein, Bruder des bayerischen Vertreters bei der römischen Kurie, selbst Emissär König Ludwigs in Paris, hatte sich jenseits seiner Berichtstätigkeit zunächst kaum für die Vorgänge interessiert und just am Tag des österreichischen Ultimatums Hertling darum gebeten, »unter Beibehaltung der Geschäfte, einige Tage seinen Schneider in London aufsuchen zu dürfen«, was ihm freilich verwehrt worden war.41 Am 31. Juli jedoch sah er seine Stunde gekommen  : Der russische Botschafter in Frankreich Iswolski teilte ihm mit, dass man in St. Petersburg eine Entspannung der Lage für möglich halte, sofern Wien »die Erhaltung der Unabhängigkeit Serbiens« ohne Wenn und Aber garantiere.42 Entsprechende Versicherungen lagen zwar bereits vor,43 doch genügten diese der russischen Führung offenbar nicht – tatsächlich wird sie es kaum ernst damit gemeint haben.44 Ritter jedenfalls setzte umgehend den österreichischen Botschafter in Paris, Graf Nikolaus Szécsen von Temerin, über die vermeintliche Friedenschance in Kenntnis, woraufhin dieser am 2. August kundtat, dass seine Regierung einverstanden sei. Bevor Ritter nun wiederum Iswolski informierte, ersuchte er vorschriftsmäßig den deutschen Botschafter vor Ort, Freiherr Wilhelm Eduard von Schoen, um Erlaubnis – und der pfiff ihn zurück, weil er »fürchtete, Iswolskij möchte ein solches Schreiben zum Nachteil der deutschen Politik verwerten«.45 Nun befand sich das Deutsche Reich schon seit dem 1. August mit Russland,46 seit dem 3. dann auch mit Frankreich im Krieg. Ganz entsprechend seiner gleichsam 40 Bit tner  – Uebersberger, Österreich-Ungarns Aussenpolitik, 926f., Nr. 11073 (Bericht vom 30. Juli 1914). 41 R eiser, Bayerische Gesandte, 42. 42 Ebd., 43. 43 Vgl. Bit tner  – Uebersberger, Österreich-Ungarns Aussenpolitik, 943, Nr. 11121, Telegramm des Außenministers Berchtold an die österreichischen Gesandten in Berlin, London, St. Petersburg, Paris, Rom, 31.7.1914  ; ebd., 966, Nr. 11177, Telegramm von (Botschafter) Szápáry aus St. Petersburg nach Wien, 31.7.1914. 44 Vgl. den Schluss dieses Beitrags. 45 R eiser, Bayerische Gesandte, 42f. (das Zitat 43). 46 Die Erfolgsaussichten der Ritter’schen Initiative waren folglich schon zu diesem Zeitpunkt minimal (vgl. ebd.).

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»fatalistischen« Einstellung47 mit Blick auf die Unvermeidbarkeit von Feindseligkeiten äußerte sich Lerchenfeld am selben Tag in einem Brief an Hertling  : »Es scheint dabei zu bleiben, daß alles gegen uns geht, aber ich teile die Zuversicht des Militärs, daß wir es schaffen werden. Der Krieg ist diplomatisch nicht gut vorbereitet worden. Deshalb kann man den jetzigen Leitern unserer Politik keinen Vorwurf machen. Sie durften Österreich nicht im Stich lassen, wenn sie Deutschland nicht ganz isolieren wollten. […] Wenn Fehler gemacht worden sind bei uns, so liegen sie weit zurück«  ; irgendwann habe der große Krieg freilich kommen müssen, und dann besser jetzt als später.48 Lothar von Ritter verfolgte seinen Plan dennoch weiter. Am 4. August, an dem nun auch Großbritannien in den Krieg eintrat, auf dem Weg von seiner ehemaligen Wirkungsstätte Paris nach München wandte er sich schriftlich an König Ludwig III.: »Ich habe nach wie vor den Eindruck, dass Missverständnisse über die Frage der ›Indépendance‹ von Serbien zwischen Österreich und Russland obgewaltet haben müssen, deren rechtzeitige Aufklärung den rollenden Stein noch aufgehalten hätte. […] Noch ist es Zeit, falls wirklich ein Missverständnis vorgelegen haben sollte, etwa Versäumtes nachzuholen, nachdem die Beziehungen zwischen Österreich und Russland noch nicht abgebrochen sind und Graf Scézen [!] vor einigen Tagen behauptete, eine ›analoge Versicherung‹ [betreffend die Integrität Serbiens] bei der französischen Regierung abgegeben zu haben. Vielleicht liesse sich unter diesen Umständen doch noch in letzter Stunde von deutscher Seite in Österreich Druck ausüben, damit die von Russland gewünschte Erklärung über die Erhaltung der ›Indépendance‹ von Serbien auch offiziell in Petersburg erfolge«.49 Das war insofern nicht vollkommen unrealistisch, als sich Österreich und Russland zu diesem Zeitpunkt noch nicht offiziell im Krieg befanden – als dieser Fall dann aber am 6. August offiziell eintrat, hatte der bayerische König Ritters Schreiben noch gar nicht erhalten, es lief erst am 8. ein und war damit vollends wertlos geworden.50

III. Besonders die zuletzt geschilderte Episode mag man zur »Ehrenrettung« der baye­ rischen Diplomatie bemühen, als Beleg dafür, dass sie im Juli 1914 nicht ganz von der Bildfläche verschwand  ; vor allem auf Gesandtenebene war hier durchaus »Musik drin«. Wirklich untätig blieb man aber auch in München nicht  : Ein Gefühl der 47 Deuerlein, Briefwechsel, 74. 48 Ebd., 325f. 49 Dirr, Bayerische Dokumente, 185 (Hervorhebung im Original). 50 Ebd., 183.

Das künftige »Liebkind der Österreicher« im Juli 1914

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Macht- bzw. Hoffnungslosigkeit bestimmte in erster Linie Lerchenfeld, wobei er freilich die Möglichkeiten Bayerns wie auch des Bundesrats, für den Frieden zu wirken, realistisch einschätzte, ebenso wie Hertling. Diesem mag man zwar ebenfalls »Fatalismus« bescheinigen, zumal, wenn er trotz zwischenzeitlicher Bedenken wegen der Rolle Russlands keine größeren Aktivitäten entfaltete, doch äußerte er sich zugleich, ebenso wie sein König bereits Mitte Juli, sowohl vor als auch nach der Episode um das Ritter-Telegramm gegenüber den Vertretern Wiens ganz klar pro Krieg – verständlicherweise, denn für den großen Nachbarn und Freund Österreich ging es schließlich um sein Ansehen und seine Stellung nicht nur als Regionalmacht gegenüber dem deutlich kleineren, gleichwohl ungewöhnlich aggressiv auftretenden Serbien, sondern auch (und gerade auf dieser Basis) als Großmacht.51 Dabei beschritt man zwar in Wien ebenso wie in Berlin in der Julikrise einen riskanten politischen Weg, von dem man schließlich nicht mehr herunter konnte, den großen Krieg aber betrieben und führten andere herbei  : Russland, das nach dem Scheitern an seiner Ost- und Südgrenze nur noch auf dem Balkan Optionen zur Machterweiterung sah und Serbien dafür instrumentalisierte, mehr noch aber und als hauptsächlich treibende Kraft Frankreich, das schlichtweg Rache am Deutschen Reich für die Niederlage von 1870/71 nehmen wollte und zu diesem Zweck nicht nur die Russen nachdrücklich ermunterte, sondern auch die Briten bereits fest in die militärische Koalition der Ententemächte eingebunden hatte.52 Das demgegenüber politisch und militärisch leichtgewichtige Bayern war indessen angesichts seiner Stellung im Deutschen Reich für Pläne und Vorgehen Habsburgs doch von gewisser Bedeutung. Bemühungen wie die des Gesandten Lothar von Ritter wird man dabei in Wien dankend zur Kenntnis genommen haben, entscheidend für die Einschätzung Bayerns waren dort aber zweifelsohne nicht nur die passive, sondern auch die aktive Loyalität der Münchner Führung, ihre bestärkenden Lagebeurteilungen und Beistandsversicherungen, die den Kurs des einzigen Verbündeten Deutschland im Ganzen immer wieder bestätigten. Auf diese Weise qualifizierte sich das süddeutsche Königreich – unter besonderer Mitwirkung des Ministerratsvorsitzenden Hertling – zumindest schon einmal vorab für die Position des künftigen »Liebkinds der Österreicher«.

51 Hierzu jüngst Loth a r Höbelt, Why fight a Third Balkan War  ? The Habsburg Mindset in 1914, in  : Mark Cornwall (ed.), Sarajevo 1914. Sparking the First World War, London u. a. 2020, 149–162. 52 Vgl. R a iner F. Schmidt, »Revanche pour Sedan« – Frankreich und der Schlieffenplan. Militärische und bündnispolitische Vorbereitung des Ersten Weltkriegs, in  : Historische Zeitschrift 303/2, 2016, 393–425  ; Ders., Frankreich und die Entfesselung des Ersten Weltkriegs. Zur Widerlegung von Robert C. Moore  : »Die deutsche Legende vom ›aufgezwungenen Verteidigungskrieg‹ 1914«, in  : Historische Zeitschrift 310/2, 2020, 387–408.

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Marc von Knorring, Passau

Zusammenfassung Konnte das Königreich Bayern bereits am Vorabend des Ersten Weltkriegs durch seine außenpolitische Linie den künftigen Status als »Liebkind der Österreicher« begründen  ? Über die institutionellen Möglichkeiten und geeignetes Personal für ein eigenständiges Vorgehen verfügte München jedenfalls. König und Regierungschef, innerdeutsche und auswärtige Gesandte agierten indessen in der Krise des Juli 1914 sehr unterschiedlich  : Fatalismus und Kriegsbejahung sind ebenso zu beobachten wie Versuche, retardierend einzugreifen. Zu herausragenden Aktionen kam es letztlich nicht  ; gleichwohl war der Kurs der bayerischen Führung geeignet, sich die besonderen Sympathien Wiens zu sichern.

Dariusz Makiłła, Warsaw

The Establishment of the Kingdom of Poland in the Proclamation of the Emperors of Germany and AustriaHungary of November 5, 1916 “Wer zuerst auf die unselige Idee der Schaffung eines polnisches Königreiches gekommen ist, weiß ich nicht […] Die Idee war dumm” –general Max Hoffmann, one of the more eminent figures of the Tannenberg operation of 1914 and the Brest negotiations of 1918, and in the years 1916–1918 Chief of Staff Oberbefehlshaber Ost, pointed out in his wartime memoirs Der Krieg der versäumten Gelegenheiten in 1923.1 In fact, the concept of establishing the Kingdom of Poland, which took place precisely in the proclamation of both emperors, William and Franz Joseph, was one of the most important political maneuvers carried out by Germany and Austria-Hungary during World War I. This act caused considerable international confusion, but did not bring the originators of this move the expected results, and its effects turned out to be different from the intended ones, not to mention the anticipated ones. The motives for taking such an initiative, however, were quite justified. The war, as a result of changes on the front and the occupation of large areas belonging to Russia before the war by the central states in 1915, brought new challenges resulting from the need to conduct military operations (the need to develop the acquired territories and their efficient management,2 economic exploitation,3 failure to conclude a separate peace with Russia, which was seriously considered as early as October 1916,4 of securing hegemony in post-war Europe, and most of all the issue of acquir1 M a x Hoffm a n n, Der Krieg der versäumten Gelegenheiten vereinigt mit Gedanken über 1914. Tannenberg, wie es wirklich war. Die Frühjahresoffensive1918, Leipzig 1929, 110. 2 Wolfga ng von K ries, Deutsche Staatsverwaltung in Russisch-Polen, in  : Preußische Jahrbücher 233, 1933, 2, 130–158. 3 Wolfga ng von K ries, Die wirtschaftliche Ausnutzung des Generalgouvernements Warschau, in  : Preußi­ sche Jahrbücher 235, 1934, 3, 221–248. 4 Secret German-Russian negotiations took place in 1915 and in 1916. These talks also raised the issue of the Kingdom of Poland, indicating that its occupation by the central states would prevent Russia from returning to these territories. Erich Ludendorff, Kriegführung und Politik, Berlin 1922, 179–182  ; Jerzy K nebel, Rząd pruski wobec sprawy polskiej w latach 1914–1918 [The Prussian government on the Polish cause in 1914–1918], Poznań 1963, 32–38, 50  ; Ja nusz Pajewsk i, “Mitteleuropa”. Studia z dziejów imperializmu niemieckiego w dobie pierwszej wojny światowej, Poznań 1959, 44, 46, 72–73, 197–200  ; Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918, Düsseldorf 1967, 237–246, 284–291.

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Dariusz Makiłła, Warsaw

ing recruits5). These problems forced the governments of the central states to take measures that would ensure the achievement of these goals, pointing to, but also suggesting, specific solutions.6 A project to create a state called the Kingdom of Poland, to be established in the Russian province of the same name, occupied during the hostilities in 1915, inhabited mostly by the Polish population, which would remain connected with the central states, allowing the recruitment of its inhabitants to the army cooperating with their armies, seemed especially to German politicians to be not only sensible, but also necessary and safe. This was expressed several times by the Reich Chancellor Theobald Bethmann Hollweg in his speeches at the Reichstag on 5 and 6 June 1916. They showed that the solution of the Polish issue, which – as was recognized on the German side – had been given to Germany by Destiny (Schicksal), was placed in the hands of the Central Powers. At the same time, the idea of transferring the territory of the occupied province, the Kingdom of Poland, to Austria-Hungary, which was one of the concepts considered in German-Austro-Hungarian relations after the occupation of the provinces of the Kingdom of Poland in 1915,7 was rejected in Berlin. The decision to establish the Kingdom of Poland was made during the meeting in Vienna on August 11 and 12, 1916 by Chancellor T. Bethmann Hollweg with the Austrian Minister of Foreign Affairs, Istvan Burian.8 In speeches at the meetings of 5 This fact was noticed by the Chief of the General Staff, General Erich von Falkenhayn, who in January 1916 indicated a potential source of recruiting the inhabitants of the occupied Kingdom of Poland. Werner Conze, Polnische Nation und deutsche Politik im Ersten Weltkrieg, Köln–Graz 1958, 145 –146  ; Fischer, Griff nach der Weltmacht, 294, 302  ; Stefa n Dąbrowsk i, Walka o rekruta polskiego pod okupacją [Fight for a Polish recruit under occupation], Warszawa 1922, 43–48, 124–136, 191–201, 329–338. After the offensive by Brusilov in June 1916, which was difficult for the Central Powers, clear attention began to be paid to the possibility of recruiting among the Polish population. Erich Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen 1914–1918, Berlin 1919, 313–318  ; Conze, Polnische Nation, 177–182. 6 Conze, Polnische Nation, 165–220. 7 Piotr Mik iet yńsk i, Niemiecka droga ku Mitteleuropie. Polityka II Rzeszy wobec Królestwa Polskiego (1914–1916) [The German road to Mitteleuropa. Policy of the Second Reich towards the Kingdom of Poland (1914–1916)], Kraków 2009, 121f. 8 Stephen Buri a n, Austria in Dissolution, London 1925, 100–112  ; Theoba ld von Bethm a n n Hollweg, Betrachtungen zum Weltkriege, 2. Teil. Während des Krieges, Berlin 1921, 92–98  ; Erich Ludendorff, Urkunden der Obersten Heeresleitung über ihre Tätigkeit 1916/18, Berlin 1921, 298–300  ; Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen, 314–318  ; Bogda n von Hu t ten-Cza psk i, Sechzig Jahre Politik und Gesellschaft, 2, Berlin 1936, 291–297  ; Conze, Polnische Nation, 185–189  ; K nebel, Rząd pruski,36  ; Fischer, Griff nach der Weltmacht, 305–310  ; Werner Basler, Deutschlands Annexionspolitik im Polen und im Baltikum 1914–1918, Berlin 1962, 151–158, 141–147  ; Mikietyński, Niemiecka droga, 236–253  ; Da niel Szymcza k, Między Habsburgami a Hohenzollernami. Rywalizacja niemiecko-austro-węgierska w okresie I wojny światowej a odbudowa państwa polskiego [Between the Habsburgs and the Hohenzollerns. The German-Austro-Hungarian rivalry during World War I and the reconstruction of the Polish state], Kraków 2009, 173–176.

The Establishment of the Kingdom of Poland

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the Prussian government on August 19, 1916, the chancellor, referring to the decision made in Vienna, expressed that the unfavorable political and military situation of the central states required the establishment of the Kingdom of Poland “(Kongreßpolen) eines selbständigen Pufferstaates”.9 A similar justification was presented by the chancellor at the meeting of the Prussian government on September 21, 1916. Given the changed circumstances, to which the chancellor included the lack of peace with Russia, as well as the weakness of Austria-Hungary, creating the Kingdom of Poland would, according to Berlin, insufficiently secure German borders. The Chancellor, however, ruled out leaving Poland as an autonomous country with Russia since this would be an opportunity to develop an anti-Prussian irredenta in the future. The Chancellor, however, pointed out that the only solution beneficial for Germany would be the establishment of an autonomous Polish state, politically, militarily and economically subordinated to the Reich. Bethmann Hollweg emphasized, however, that the decision to issue a manifesto on the creation of the Polish state was conditioned primarily by the need to gain Polish recruits, as clearly indicated by the Supreme Military Command. However, he also argued that the final implementation of this decision should wait until matters with Russia were resolved.10 The provisions of the Vienna Agreement were also accepted by Emperor Wilhelm. During the meeting of politicians and military commanders of the central states on October 18, 1916, at the military headquarters in Pszczyna (Pleß), the necessity to act quickly in relation to military needs was agreed. It was primarily military commanders who, in view of the military goals of the war, ignored political details.11 The Germans, however, mainly interested in a separate peace with Russia, were still delaying the launch of the agreement. At the end of October 1916, however, after the negotiations with Russia had failed, they started to implement it, which was a major surprise for the public in Germany.12 According to the rational assessment of the situation at that time, the establishment of the Kingdom of Poland was to bring specific effects. The most important of which, resulting from the calculations of the  9 K nebel, Rząd pruski, 32–37. 10 Ibid, 37–39. 11 Basler, Deutschlands Annexionspolitik, 151–152  ; K nebel, Rząd pruski, 48  ; Conze, Polnische Nation, 211–215. 12 Robert Spät, Die “polnische Frage” in der öffentlichen Diskussion im Deutschen Reich, 1894–1918, Marburg 2014, 275–292  ; Pajewsk i, “Mitteleuropa”, 205–208  ; Basler, Deutschlands Annexionspolitik, 151. The German intentions regarding the Polish issue were clearly expressed by General Erich Ludendorff in his letter of October 22, 1916 to the Undersecretary of State in the Reich Foreign Affairs Office, Arthur Zimmermann  : “Je mehr ich darüber nachdenke desto mehr festigt sich in mir der Gedanke, daß Polen auf keinen Fall an Rußland zurückgegeben werden darf, auch nicht an Österreich fallen kann, sondern daß es ein mehr oder weniger selbständiges Staatengebilde unter deutscher Oberhoheit zu werden hat”. H a ns Delbrück, Ludendorffs Selbstporträt, Berlin 1922, 71.

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Supreme Military Command of Germany, was to obtain recruits from Polish society living in the occupied Russian province, the Kingdom of Poland, on the territory of which a new state was to be proclaimed.13 As assumed on the side of the central states – due to the desire to rebuild the state – the Polish population of the province should respond positively to this call.14 Moreover, it was believed that the establishment of a state associated with the central powers was to guarantee the control of the territories occupied as a result of hostilities. It was also to ensure that the new state should participate in shaping the order both during the war and in the future after the war. It was assumed, however, that it would be a state that would be incorporated into the Reich or would be largely dependent on it, or would remain at least in the sphere of its far-reaching influence. At the meeting of the Prussian government on October 24, 1916, the Chancellor, trying to dispel the doubts of members of the Prussian government regarding the establishment of a new state, indicated that German interests would be adequately secured in the new Kingdom of Poland. In the event of a victory, the resulting state should be incorporated into the Reich (it would be given an appropriate constitution, and the king would be appointed), while if the war should be lost, it should be assumed that all obligations of the central states towards the Kingdom of Poland would be invalid, especially to Germany. In such a situation, all declarations concerning the Kingdom of Poland, despite unambiguous, but not very specific wording, could be withdrawn at any time, citing a change in circumstances. During the same meeting of the Prussian government on October 24, 1916, the Vice-Chancellor of the ­Reich Karl Helfferich, supplementing the statement of Chancellor Bethmann Hollweg, also emphasized that in order to reassure members of the Prussian government who expressed concerns about experimenting in Polish affairs, which could threaten the interests of Prussia, the proposed manifesto did not assume the creation of an independent Polish state. He also argued that Germany would be released from its obligations towards Poland if, at the peace conference, the Poles did not agree to the Anschluss with Germany, the subordination of the Polish army, transport, foreign policy, etc. to the Reich. In order to define the situation, the manifesto should not use any terms indicating specific obligations of Germany towards Poles. The most important 13 The resources of the Kingdom of Poland were estimated at about 1 million recruits. Conze, Polnische Nation, 178–182, 194–196. About the interest of the military, including Ludendorff, in the acquisition of Polish recruits  : Basler, Deutschlands Annexionspolitik, 141. 14 This was the opinion of the General Governor of Warsaw, Hans von Beseler. He pointed to the need for a Polish buffer state in a report to the emperor of July 23, 1916. At a meeting on October 8, 1916 with representatives of political factions in the Reichstag, von Beseler assessed the possibility of creating three Polish divisions and the role of the planned Polish state as a defensive rampart (Schutzwall) against the threat of revolution from Russia. Conze, Polnische Nation, 204–210  ; Basler, Deutschlands Annexionspolitik, 147–148.

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goal of the manifesto, as a result of which the new state was to be established, would be, first of all, as Helfferich stressed, to meet the expectations of the military command.15 In such an arrangement, doubts related to the admissibility of such actions were not taken into account, considering that the submission of declarations having legal and political effects, including the status of certain territories, usually depends in international relations on the strength and position of a given entity. In this case, such solutions would be revised anyway by the results of the war and the provisions of the peace treaty. Thus, it was assumed that many of the activities that are often contrary to objective legal reasons, or even illegal, may, with time, gain international recognition.16 These premises meant that the matter of the proclamation of a new state, in order to pursue political interests, as it was especially visible on the German side, was taken up and started to be implemented. The proclamation of the establishment of the Kingdom of Poland prepared in such conditions was solemnly announced on Sunday, November 5, 1916 at the Royal Castle in Warsaw by the infantry general Hans von Beseler, acting as the Governor General of Warsaw, who did it on behalf of Emperor William to the Polish politicians assembled at the ceremony.17 In Lublin, which was the seat of the Austro-Hungarian occupation, the proclamation was announced on behalf of Emperor Franz Joseph by General Karl Kuk, the Governor of Lublin.18 But much more important than the general provisions of the declaration of November 5, 1916, were the legal and political effects. The act caused a considerable resonance in international rela15 K nebel, Rząd pruski, 49. 16 Such actions could, in a way, be regarded as a hidden form of annexation, especially since the degree of ties with the occupiers of the state they created was clear. At the same time, the use of annexation was sometimes allowed until the Treaty of Versailles 1919. From the times of World War I, it can be indicated that the ideas of using annexation carried out on the uti possidetis principle, resulting from the scope of the occupation of the enemy territory, not concerned with international legal bans, appeared during the war both on the German side in 1915 and 1916, but also on the Russian side in 1914. Fischer, Griff nach der Weltmacht, 300–301  ; Basler, Deutschlands Annexionspolitik, 87–239  ; K nebel, Rząd pruski, 13–38  ; Im a nuel Geiss, Der polnische Grenzstreifen 1914–1918. Ein Beitrag zur deutschen Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg, Lübeck – Hamburg 1960, 70f. 17 Dziennik rozporządzeń dla Jenerał Gubernatorstwa warszawskiego [Journal of regulations for General Gouvernement Warsaw], 13.11.1916, 52. 18 Dziennik rozporządzeń c. i k. Jeneralnego Gubernatorstwa wojskowego dla austriacko-wegierskiego obszaru okupowanego w Polsce [Journal of the Ordinances of the Central and Eastern Military Governorate for the Austro-Hungarian Occupied Area in Poland], 5.11.1916, XV  ; Sta nisl as Fil asiewicz, La Question Polonaise pendant la Guerre Mondiale. Recueil des Actesdiplomatiques, Traités et Documents concernant la Pologne, vol. 2, Paris 1920, nr 38, 57–58  ; A leksa nder K a kowsk i, Z niewoli do niepodległości. Pamiętniki [From slavery to independence. Memoirs], Kraków 2000, 330–333  ; M a ri a Lubomirsk a, Pamiętnik Księżnej Marii Zdzisławowej Lubomirskiej 1914–1918, Do druku przygotował J. Pajewski [Diary of Princess Maria Zdzisławowa Lubomirska 1914–1918, prepared for printing by J. Pajewski], Poznań 1997, 423  ; Hu t ten-Cza psk i, Sechzig Jahre, 304–306.

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tions. The announcement of the act took place during the military operations, as a result of which, in 1915, part of the lands of the former Polish state, located within the borders of the Russian Empire until the outbreak of the war, was seized. Due to the fact that the content of the act contained a declaration of the establishment of a state called the Kingdom of Poland, on the lands – as it was indicated – torn from Russian rule (“der russischen Herrschaft entrissenen polnischen Gebiete”), leaving at the same time a more detailed definition of its boundaries for a later period (“Die genauere Bestimmung der Grenzen des Königreichs Polen bleibt vorbehalten”), the proclamation of the emperors of Germany and Austria-Hungary triggered a reaction from Russia. It argued that the actions taken by the Central Powers with regard to the part of Russian territory they occupied and with regard to the Russian subjects inhabiting them had an impact on Russian statehood. For, as it was believed on the Russian side, a disposition of foreign territory was made, and the population of the occupied territories was forced to behave in a certain manner. The actions of the occupiers were therefore unauthorized, because, according to Russia, they violated the international legal order, which did not allow the occupiers to perform actions consisting in changing the status of the occupied territories.19 This view at that stage of the ongoing war was shared by other warring states linked to Russia by an alliance.20 Meanwhile, the proclamation of both emperors of November 5, 1916, despite the form of the act, which was a political declaration, was not only a declarative announcement. In fact, by placing it in the proclamation of both emperors, a specific legal and political fact was constituted, which was the establishment of a new state. The proclamation was an expression of the will of both emperors, the supreme organs of Germany and Austria-Hungary, which had a constitutive character and was based on their competences defined in the constitutional law and constitutional practice of Germany and Austria-Hungary. The proclamation, as an act of the highest rank, finding its place in the legal system in the competence of both emperors, regulated certain conduct and external behavior, and coming from a recognized authority, it had a guarantee of validity, which 19 Mich a ł Bobrzyńsk i, Wskrzeszenie Państwa Polskiego. Szkic historyczny [The Resurrection of the Polish State. Historical sketch], Kraków 1920, vol. 1, 134–148  ; M a ri a n Sey da, Polska na przełomie dziejów. Fakty i Dokumenty. Od wybuchu wojny do zbrojnego wystąpienia Stanów Zjednoczonych [Poland at the turn of history. Facts and Documents. From the outbreak of the war to the armed withdrawal of the United States], Poznań–Warszawa–Wilno–Lublin, 1927, 397–407  ; Paul Roth, Die Enstehung des polnischen Staates. Eine völkerrechtlich-politische Untersuchung, Berlin 1926, 25, 44–45  ; Conze, Polnische Nation, 233–236. 20 Sey da, Polska na przełomie, 399–401  ; Ja nusz Pajewsk i, Wokół sprawy polskiej. Paryż-Lozanna-Londyn [Around the Polish matter. Paris–Lausanne–London], Poznań 1970, 43–49, 174–181  ; Roth, Die politische Entwicklung, 45  ; Conze, Polnische Nation, 233–234  ; Szymon Asek na zy, Uwagi [Remarks], Warszawa 1924, 103–107.

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determined its validity from the constitutive side. The provisions of the act were therefore, as should be recognized – in contrast to certain courts trying to change the meaning of the act – the nature of constitutional norms, in which the existence of coercion was not their most important element, but their validity was based on the awareness of their validity.21 Due to the content, form, and the manner of its announcement by organs directly subordinate to the emperors, the declaration of both emperors was a proclamation, i. e. a legal act envisaged for making public statements of greater importance, among which were those of a constitutive nature, such as independence. Thus, the appeal of both emperors of November 5, 1916 was an self-existent act, based on German and Austro-Hungarian constitutional law, as a result of which the establishment of a state called the Kingdom of Poland was announced, which was also an self-existent fact. Thus, the new state was established, or, in principle, granted as a separate state 21 From the point of view of its constitutive character, it will be even more important to look at the content of the declarations of both emperors  : “Seine Majestät der Deutsche Kaiser und Seine Majestät der Kaiser von Österreich und Apostolische König von Ungarn […] sind dahin übereingekommen, aus diesen Gebieten einen selbständigen Staat mit erblicher Monarchie und konstitutioneller Verfassung zu bilden”. The declaration of the emperors, formulated in the present perfect tense, but used simultaneously in the declarative mood, indicated its firm character. It announced the decision to establish the Kingdom of Poland, and the use of the concept of Königreich in the act was not accidental – it is always a definition of the state. The use of the perfect tense construct (“sind dahin übereingekommen” [emperors]) in conjunction with the infinitive zu bilden – despite considering the wording of the act in which it was intended to avoid certain obligations – did in fact have certain consequences. It did not express only the intention, but referred to the prior – in relation to the announcement – moment of taking the decision to create a state, which, as a result of issuing the declaration of its establishment, actually took place. The constitutive nature of the act was additionally emphasized in the further part of the proclamation of both emperors  : “Die verbundeten Monarchen geben sich der zuversichtlichen Hoffnung hin, daß sich die Wünsche nach staatlicher und nationaler Entwicklung des Königreichs Polen nunmehr unter gebotener Rücksichtsnahme auf die allgemeinen politischen Verhältnisse Europas und auf die Wohlfahrt und Sicherheit ihrer eigener Völker erfüllen werden”. In this declaration, it is worth paying attention especially to the use of the word presently in the Polish translation of the act to define the moment of its expression. As it would appear from the context of the Polish version of the act – it should be understood as defining the moment when the conditions for meeting certain expectations (here, as it should be understood from the context of the whole case, the establishment of the state) occurred. However, that word did not fully correspond to the meaning of the German term nunmehr, which was used to denote this situation in the German version. This is because the latter referred to the present state as well, but at the same time corresponded to the notion of henceforth, emphasizing the starting point of the event from which its existence should be recognized (here, the moment of the proclamation in which the state was established). Dziennik rozporządzeń dla Jenerał Gubernatorstwa Warszawskiego [Journal of regulations for General Gouvernement Warsaw], 13.11.1916, 52  ; Dziennik rozporządzeń c. i k. Jeneralnego Gubernatorstwa wojskowego dla austryacko-węgierskiego obszaru okupowanego w Polsce [Journal of the Ordinances of the Central and Eastern Military Governorate for the Austro-Hungarian Occupied Area in Poland], 5.11.1916, XV.

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on the basis of decisions and laws of other states’ bodies, not on the basis of self-determination. It was important, however, that the imperial act was therefore addressed to the population living in the occupied area, as well as it referred to the territory covered by the occupation, which was governed by foreign legal orders established by the occupiers. Moreover, it should be noted that on November 5, 1916, the act was published in the language of its preparation, which was German, and only after its publication, the Polish translation of the act was read. In the concept of establishing a new state, reference was made to the construction of the German Reich, consisting of states with varying degrees of organization and mutual dependence, forming part of a larger whole. In this construction, not so much the sovereignty of individual entities, i. e. their independence was important, but formal preservation of supreme rights by state organs – and within this scope, the framework for the operation of the state they created was determined. This explains the use of the term selbständiger Staat (autonomous state) in the content of the declaration, and not the unabhängiger Staat (independent state). In German state relations, such an understanding of statehood was generally accepted. For the constitutive character of the declarations of both emperors, its too general wording concerning the systemic structure, especially the supreme authority, and the territorial and personal scope was not important, as well as the legal order that would apply in the newly established Kingdom, apart from the generally defined system of this state, as constitutional monarchy – although the nature of the constitution defining this system was not specified (“mit erblicher Monarchie und konstitutioneller Verfassung”). Its full existence depended on the internal ability to create organs of the state and to establish its own constitutional and legal order, although the definition of the system as a hereditary constitutional monarchy could lead to a conclusion as to how the supreme power appropriate to this form of government would be organized. Although the territorial scope of the act was not clearly defined in every sense, because it was announced that it would apply to a state whose borders were to be defined later, and on this issue there were talks between the central states, it was understood, however, that it only referred to the area of the former Russian province Kingdom of Poland. As far as the personal scope of the act is concerned, it could also be understood to be descriptive, indicating only the inhabitants of the newly emerging state. Moreover, the act of November 5 was limited primarily to the effectiveness of the declaration establishing a new state, and that was the intention of its creators. The matter of implementing its provisions, i. e. its institutional construction, was left for the future. The act of 5 November was made binding upon its publication.22 22 Da riusz M a k iłł a, Moc prawna aktu 5 listopada 1916 roku [Legal force of the act of November 5, 1916], Przegląd Sejmowy, 25, 2017, 1, 59–77.

The Establishment of the Kingdom of Poland

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The actions of Germany and Austria-Hungary, aimed at using the Polish cause for their own political and military goals, for the implementation of which a new state was established, ended in failure. The intended lasting effects have not been achieved. The German assumption to achieve certain results in the form of recruiting Poles to the army to take a part in the war on the side of the Central Powers, and the creation of a state such as the Kingdom of Poland, under their control, was to be part of a wider political plan. However, its implementation, i.e. the fulfillment of the most important criterion of statehood, which would be the ability to create political institutions, turned out to be completely unsuccessful.The creation of the institution of the Kingdom of Poland, i. e. the implementation of the act, which took place in the years 1916–1918 in a cautious and at times indecisive or contradictory manner, failing to meet social expectations, led not only to conflicts with Polish politicians, but above all to the achievement of only such results which turned out to be far from those assumed and expected. The process of creating the political institutions of the new state, which was finally carried out in 1916–1918, extended in time and full of inconsistencies in its implementation, was completely different from the situation of creating organs of a state created through self-determination when we are dealing with the process of bottom-up activities. It was based in this case on top-down actions, i. e. creating organs and institutions of the new state in an artificial, inconsistent way, which does not mean that it was devoid of constitutive nature. In fact, laying the foundations of the legal and political order did not turn out to be a process over which those who created the new state retained full control, although they were convinced that they had it. General Erich Ludendorff (one of the initiators of the concept of creating the Kingdom of Poland), disappointed with the results of the project (i. e. acquiring Polish recruits), finally declared that the “Erklärung des Kö­ nigreichs Polen […] weil sie keinen militärischen Vorteil brachte, war (…) zweifel­los ein politischer Fehler”.23 On the other hand, the creators of the new state, first of all – which should be remembered – lost the war. This meant that the concept of the statehood of the Kingdom of Poland – established from their granting and guarantee, dependent on their concept, subjected to constant experiments, the development of which was influenced by the war situation – collapsed with their defeat. In this sense, it did not bring tangible, let alone permanent, legal and political effects to the central states. However, from the point of view of the subject of these efforts, which was the Polish society, the effects of this misguided project by the Central Powers turned out to be completely separate. The organs and institutions of the Kingdom of Poland, established by the central states by the act of November 5 and created in its execution in the years 1916–1918, which, however, were established and still existed at the beginning of November 1918 in the territory of the Kingdom of Poland (supreme 23 Ludendorff, Kriegfühung und Politik, 183.

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Dariusz Makiłła, Warsaw

authority, government, army, central administration and local, courts, education), were in fact in Polish hands. This circumstance turned out to be an important factor, or an element that, in the changed circumstances of the end of 1918, could be used in the creation of an independent Polish state.

Maddalena Guiotto, Trient

Die komplexen und facettenreichen Beziehungen zwischen Italien und Österreich nach dem Ersten Weltkrieg

1. Rollentausch und neue Schicksalsgemeinsamkeit zwischen Italien und Österreich Im beunruhigenden und verwickelten mitteleuropäischen Kontext der Nachkriegszeit waren die Beziehungen zwischen Österreich und Italien radikal verändert, wie auch die zwischen Österreich, den Großmächten und den anderen Nachbarländern. Doch im Fall Österreichs und Italiens handelte es sich um eine vielfältige Umkehrung früherer Situationen und Denkweisen, die sich geradezu als Rollentausch gestaltete. Anstelle der früheren Donaumonarchie war nun als einziges Überbleibsel des Vielvölkerreichs die neugeborene kleine Republik da, deren Lebensfähigkeit der Großteil ihrer Bürger anzweifelte. Es war ein Staat, dessen Zusammenhalt vom Willen der Siegermächte bestimmt war, doch von der Mehrheit der Österreicher weder gewollt noch geliebt war. Im Gegensatz dazu hatte das Königreich Italien durch den Erhalt von Trient und Triest die Vollendung des Nationalstaats erreicht. Hatte es vor dem Krieg auf internationaler Ebene eine zweitrangige Rolle inne, so war es jetzt eine Großmacht neben Frankreich und England, auch wenn es politisch-institutionell und wirtschaftlich schwächer war. Diese radikale Umkehrung der Situation zwischen Öster­reich und Italien ist sicherlich eine Tatsache, die für die gesamte Zeit zwischen den beiden Weltkriegen nicht nur wegen der entsprechenden starken Beeinflussung der konkreten politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, sondern auch hinsichtlich der gegenseitigen Bilder und Rezeptionen berücksichtigt werden soll.1 Während auch einige Adelskreise, insbesondere die dem Thronerben Franz Ferdinand nahestehenden, und hohe Militärkreise in Wien nie ein Hehl aus ihrer Ab1 M a dda lena Guiot to, Italien und Österreich  : ein Beziehungsgeflecht zweier unähnlicher Nachbarn, in  : Maddalena Guiotto – Helmut Wohnout (Hg.), Italien und Österreich im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit/Italia e Austria nella Mitteleuropa tra le due guerre mondiali, Wien–Köln–Weimar 2018, 13–37, hier  : 20  ; Stefa n M a lfèr, Die Rede über den Anderen. Italien und Österreich im politischen Diskurs nach dem Ersten Weltkrieg, in  : Ders. (Hg.), Österreich – Italien. Beiträge zur Geschichte einer europäischen Nachbarschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 2020, 279–298  ; Stefa n M a lfèr, Un programma escluso oppure prolungato  ? Pregiudizi tra Austria e Italia negli anni Venti, in  : Nicoletta Da­ crema (Hg.), Felix Austria Italia infelix  ? Tre secoli di relazioni culturali italo–austriache, Roma 2004, 125–142.

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Maddalena Guiotto, Trient

neigung gegenüber Italien gemacht hatten, schrieb 1919, also wenige Monate nach Kriegsende, Feldmarschall Franz Conrad von Hötzendorf – der vor 1914 dauernd auf der Notwendigkeit eines Präventivkriegs gegen den tückischen Verbündeten bestanden hatte –, es sei wirklich schade, dass die Österreicher mit Italien stets in so scharfer politischer Gegnerschaft sein müssten.2 Während ein Teil der Führungs­schicht Altösterreichs sich überraschend schnell daran gewöhnte, im »verräteri­schen« Italien nunmehr einen Beschützer zu sehen, ging das Abebben der alten Ressentiments in der breiteren öffentlichen Meinung viel langsamer vor sich. Ganz verschwand es überhaupt nie, wie die wiederholten Misstrauens- und Feindseligkeits­ wellen der öster­reichischen öffentlichen Meinung Italien gegenüber selbst in Momenten höchster Nähe und Affinität zwischen den Regierungen beider Länder in den Jahren 1933–34 bewiesen. Die Beschützerrolle von Österreichs Unabhängigkeit gegenüber den Anschlussbestrebungen des nationalsozialistischen Deutschlands, die Italien in jenen Jahren übernommen hatte – wobei lediglich eine Minderheit der Öster­reicher die Unabhängigkeit wollte – trug zu einer Verschärfung der Skepsis und Feindseligkeit eines Großteils der Bevölkerung Italien gegenüber bei. Während des Krieges teilten beide benachbarten Länder das gemeinsame Schicksal, jeweils der »wahre Feind« des anderen zu sein, in der Nachkriegszeit nahm ihre Schicksalsgemeinsamkeit eine neue Form an  : Einerseits war Italien die geographisch nächste Nation mit einem unmittelbaren Interesse am Donauraum und folglich die für Österreich und das Schicksal Österreichs bedeutendste Siegermacht, doch zugleich auch diejenige Nation, die Österreich die schmerzhaftesten Gebietsverluste zugefügt hatte. Schmerzhaft war für Österreich der Verlust Südtirols, doch noch schlimmer der Verlust Triests, des adriatischen Küstenlands und Istriens. Österreich verlor nämlich damit den Zugang zur Adria und zum Mittelmeer. Der Verfall von der Großmacht mit einer Kriegs- und einer Handelsflotte, die ihre Flagge auf allen Meeren wehen lassen hatte, zu einem kleinen Alpen- und Binnenland wurde von jenen besonders schmerzhaft empfunden, die in Wien der Führungsschicht im Wirtschaftsund Verwaltungswesen angehörten. Allein diese Bemerkungen machen verständlich, dass der große geschichtliche Einschnitt des Ersten Weltkriegs das einzigartige Verhältnis zwischen beiden Ländern nicht unterbrochen hat. Im Gegenteil bildete sich in der ersten Nachkriegszeit eine neue und komplexere gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem erstarkten Siegerland Italien und der ersten österreichischen Republik heraus, die aus dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie hervorgegangen war, als Symbol der Vernichtung der alten europäischen Ordnung. Doch gerade diese kleine Republik, die selbst ihre Bürger nicht wollten, nahm einen hohen Stel-

2 Loth a r Höbelt, Italien und die Heimwehr 1928–1934, in  : Guiotto – Wohnout (Hg.), Italien und Österreich, 349–370, hier 349.

Die komplexen und facettenreichen Beziehungen zwischen Italien und Österreich

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lenwert als Stütze des neuen und fragilen europäischen Staatensystems ein, das aus dem Friedensabkommen von 1919 hervorgegangen war.3

2. Schwankende Haltung Italiens gegenüber (Deutsch-) Österreich Es trifft nur bedingt zu, dass sich die italienische Führungsschicht sofort nach Kriegsende den politischen Wert, den der österreichische Staat für sie darstellte, vergegenwärtigte und die Verteidigung von dessen Unabhängigkeit als absolut vorrangig betrachtete. Trotz der ständigen Hinweise auf die Aussicht einer Auflösung des Habsburgerreichs in den vorhergehenden Jahrzehnten zeigte sich die nationalliberale Führungsschicht völlig unvorbereitet auf den Umgang mit dem Ende der Donaumonarchie. Über die Interessen Italiens herrschte nur ein partielles Einverständnis.4 Der 1914 zum Außenminister ernannte Sidney Sonnino schätzte die Möglichkeit gering ein, dass Österreich aufgrund seiner Gebiets- und Bevölkerungsverluste unabhängig bleiben und der Anziehungskraft Deutschlands widerstehen würde. Angesichts der daraus resultierenden Unwägbarkeiten und Gefahrenpotentiale für Italien betrachtete er die Absicherung der im Londoner Vertrag von 1915 von der Entente zugesicherten Territorialgewinne und vor allem die Festlegung der Brennergrenze als ein zentrales außenpolitisches Ziel. Das war ein wesentliches Element, um die militärische Sicherheit des Landes im Falle eines etwaigen Zusammenschlusses zwischen der Republik Deutschösterreich und Deutschland zu garantieren.5 Diese Linie war nicht die einzige, die Italien bei seiner Österreichpolitik verfolgte. Sie unterschied sich deutlich von den Anschauungen der Vertreter der Nationalitä3 Guiot to, Italien und Österreich  : ein Beziehungsgeflecht, 21–22. 4 Aus dem Kommentar zum Friedensvertrag von Saint Germain, in  : Corriere della Sera, 10.9.1919, 1  ; Fr a ncesco Cacca mo, Die italienische Führungsschicht zwischen der Auflösung des Habsburgerreiches und der Entstehung der österreichischen Republik, in  : Andrea Di Michele – Andreas Gottsmann – Luciano Monzali – Karlo Ruzicic-Kessler (Hg.), Die schwierige Versöhnung. Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert, Bozen 2020, 19–40, hier  : 20  ; Stefa n M a lfèr, Die Beziehungen zwischen Italien und Österreich 1919–1922, in  : Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient IV, 1978, 161–173, hier 162. 5 Sonnino an Vincenzo Macchi di Cellere (15.10.1918), in  : Pietro Pastorelli (Hg.), Sidney Sonnino  : Carteggio, Bd. III., Bari 1975, Dok. 358, S. 504–505. Über diese Stellung Sonninos vgl. Cacca mo, Die italienische Führungsschicht, 23–26, 28–29  ; Luci a no Monza li, Cancellare secolari fraintendimenti. Appunti sulle relazioni fra l’Italia liberale e la Prima Repubblica Austriaca, in  : Römische Historische Mitteilungen 60, 2018, 329–366, hier 331  ; Federico Cur ato, Die österreichisch-italienischen Beziehungen auf der Pariser Friedenskonferenz 1919, in  : Adam Wandruszka – Karl Stuhlpfarrer (Hg.), Innsbruck – Venedig. Österreichisch-italienische Historikertreffen 1971 und 1972, Wien 1975, 119–147, hier 146.

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tenpolitik. Es handelte sich dabei um eine sowohl breite als auch heterogene Formation. Ihr Sprachrohr war die damals am weitesten verbreitete italienische Tageszeitung Corriere della Sera unter ihrem Direktor Luigi Albertini. Kurz zusammengefasst waren es die Verfechter der delenda Austria. In den letzten Monaten des Konflikts waren sie von der Furcht beherrscht, dass aus der noch warmen Asche ÖsterreichUngarns ein neues europäisches Gebilde emporsteigen könnte, eine »Donaukonföderation«, die bedeutende Teile der Habsburgermonarchie wieder zusammenführen und zukünftig die von Italien durch den Krieg erzielten Ergebnisse in Frage stellen würde.6 Italien hatte sowohl an seiner Nord- als auch an seiner Ostgrenze ehemalige österreichische Territorien erhalten. Um diese Wiederauferstehung des Habsburgerreichs zu bekämpfen, war die Zeitung Corriere della Sera bereit, eine österreichischdeutsche Union zu fördern. Die offizielle Politik des Königreichs Italien war aber gegen den Anschluss, der selbst von vielen Befürwortern mit Mißtrauen betrachtet wurde, vor allem weil man fürchtete, auf die Brennergrenze verzichten zu müssen.7 Die Lebensmittelsendungen waren das wirksamste Mittel der italienischen Politik, um in Österreich eine italophile Stimmung zu erzeugen.8 Sofort nach dem Waffenstillstand transportierten die ersten Eisenbahnzüge von Triest aus Lebensmittel zu der hungerleidenden Bevölkerung Wiens.9 Die Lebensmittelfrage bildete auch während des Jahres 1919 einen wichtigen Verhandlungspunkt zwischen Italien und der österreichischen Regierung. In den ersten Monaten 1919 versicherte Italien, dass es alles daransetzen werde, die Lebensmittellieferungen nach Österreich fortzusetzen und zu beschleunigen. Österreich solle als Gegenleistung den Italienern bei der Übernahme jener altösterreichischen Eigentumsrechte behilflich sein, an denen das neue Österreich kein Interesse mehr habe  : der Orientbahn und anderer Eisenbahnsowie Schiffsaktien.10 Das römische Außenministerium hoffte, künftig die Verkehrswege in Südosteuropa kontrollieren zu können. Dies waren die machtpolitischen Motive der italienischen Österreichpolitik. Doch die zur Übergabe bestimmten Ak-

 6 Cacca mo, Die italienische Führungsschicht, 30.  7 Über die Anschlussfrage vom italienischen Gesichtspunkt vgl. Giorgio M a rsico, Il problema dell’Anschluß austro-tedesco 1918–1922, Milano 1983, 139–141.  8 Corriere della Sera, 15.11.1918. Dazu siehe auch  : A ndre a Di Michele, L’Italia in Austria  : da Vienna a Trento, in  : Raul Pupo (Hg.), La vittoria senza pace. Le occupazioni militari italiane alla fine della Grande Guerra, Roma–Bari 2014, 3–72, hier 9–17  ; M a dda lena Guiot to, Die Haltung Italiens gegenüber (Deutsch-)Österreich, in  : Ulfried Burz (Hg.), Die Republik (Deutsch-)Österreich im ersten Nachkriegsjahrzehnt. Innen- und Außenperspektiven (Austriaca Schriftenreihe des Instituts für Österreichkunde), Wien 2020, 185–205, hier 188–189.  9 Ernst H a nisch, Der große Illusionist. Otto Bauer (1881–1938), Wien–Köln–Weimar 2011, 157. 10 Otto Bauer an Bevollmächtigten Stephan Haupt (9.1.1919), in  : Klaus Koch – Walter Rauscher – Arnold Suppan (Hg.), Außenpolitische Dokumente der Republik Österreich 1918–1938 (ADÖ), Wien– München 1993, Bd. I., Selbstbestimmung der Republik, 368.

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tien wurden durch den Friedensvertrag der österreichischen Verfügungsgewalt entzogen, und so blieb der italienische Plan ohne konkrete Auswirkungen.11 Für nicht wenige Diplomaten und Politiker vor allem der späteren Regierungen Nitti und Giolitti stellte Österreich ein Zugangstor für die Expansionspolitik Italiens in Südosteuropa dar. Als einzige Großmacht unter den Nachfolgestaaten der Monarchie trachtete Italien seine Einfluss- und Kontrollzone von der Adria zu den Donauländern hin zu erweitern und brachte diesen Anspruch umso offener vor, als es sich um seine Erwartungen im Hinblick auf die Friedensverträge betrogen fühlte.12 Italien zielte darauf ab, in Mitteleuropa einen Raum zu schaffen, der seine Grenzen im Norden und Nordosten schützen sollte, um hauptsächlich seiner Wirtschaft einen weiten Absatzmarkt zu sichern. Österreich war für Italien der unentbehrliche Schlüssel dazu und ein Zugangstor für diese Expansionspolitik.13 Ein Verschwinden Österreichs oder eine Alpenrepublik mit einer schwachen politischen Unabhängigkeit hätte den Donauraumplan Italiens unausführbar gemacht. Im April 1919 hatte Ministerpräsident Orlando die Überzeugung geäußert, »dass der Anschluss [Österreichs] an Deutschland so gut wie sicher und verhängnisvoll sei […].«14 Für weitere Ausführungen fehlen genauere Informationen, da die erste nennenswerte Diskussion über das Schicksal Österreichs auf der Friedenskonferenz mit dem zeitweiligen Rückzug der italienischen Delegation aus Paris aufgrund der Adriakrise Ende April 1919 zusammenfiel. Nach der Rückkehr der Repräsentanten Roms nach Paris blieb der italienischen Delegation nichts anderes übrig, als die im Mai während ihrer Abwesenheit getroffenen, auch Österreich betreffenden Beschlüsse in aller Eile zu ratifizieren.15 Bevor es zu einer Klärung kommen konnte, führten Anfang Juni 1919 die durch die ausweglose Situation in der Adria-Frage entstandenen Enttäuschungen zur Krise der Regierung Orlando–Sonnino. Trotz der Versuche des neuen Ministerpräsidenten Francesco Saverio Nitti und des Außenministers Tommaso Tittoni, sich so weit wie möglich von ihren Vorgängern zu distanzieren, wich ihre Position in manchen Fragen bald von der anderer Siegermächte ab.16 Dazu zählte auch die Unabhängig11 H a n ns H a as, Österreichisch-italienische Beziehungen von Villa Giusti bis Saint Germain, in  : Wan­ druszka – Stuhlpfarrer (Hg.), Innsbruck – Venedig, 101–118, hier 105–106. 12 A ndre as Gémes, Österreich, Italien und die mitteleuropäischen Integrationspläne, in  : Guiotto – Wohnout (Hg.), Italien und Österreich, 65–85, hier 70. 13 Für eine ausführlichere Darstellung siehe Pasqua le Cuomo, Il miraggio danubiano. Austria e Italia politica ed economia 1918–1936, Milano 2012. 14 Alberto Pirelli an Albertini (12.4.1919), in  : Barié (Hg.), Albertini  : Epistolario, Bd. III., Dok. 1020, S. 1215–1216. 15 Guiot to, Die Haltung Italiens, 191. 16 Über die Außenpolitik der Regierungen Nitti siehe  : Paolo A l atri, Nitti, D’Annunzio e la questione adriatica (1919–1920), Milano 1959  ; Cacca mo, Die italienische Führungsschicht, 36–38  ; Ders., L’Italia e

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keit Österreichs, die im Laufe des Sommers 1919 in der Friedenskonferenz vor der Unterzeichnung des Vertrags von Saint-Germain nochmals erörtert wurde. Als die Franzosen abermals die Einfügung einer Klausel in den Vertrag von Saint-Germain verlangten, welche die Unabdingbarkeit der österreichischen Unabhängigkeit vorsah, sah sich Tittoni auch dieses Mal veranlasst, seine Zweifel anzumelden. Niemand war jedoch bereit, wegen der österreichischen Frage einen Bruch zu riskieren, und am wenigsten Tittoni, für den es vorrangig war, einen Kompromiss hinsichtlich der Ordnung des östlichen Adriagebiets zu erzielen.17 Die abschließenden Konferenzdebatten über die österreichische Frage zeigten erneut die sich bereits in den vorangegangenen Monaten abzeichnenden Bedenken Italiens. Aber die italienischen Vertreter widersetzten sich ebensowenig wie die englischen dem französischen Konzept der Eigenständigkeit Österreichs. Gleichzeitig brachte die aus dem Vertrag von Saint-Germain resultierende Situation für Italien Gegenleistungen. Abgesehen von der Zuerkennung des Trentino und Südtirols an Italien und der sich daraus ergebenden Festlegung der strategischen Grenze am Brenner, bot der Artikel 88 rund um die vorgesehene österreichische Unabhängigkeit Vorteile. Durch das obligatorische Mitspracherecht der internationalen Staatengemeinschaft im Falle eines erwünschten Anschlusses Österreichs an Deutschland wurde das bereits in Versailles vorgesehene Anschlussverbot deutlich verstärkt und ein weiteres Hindernis für eine Ausdehnung Deutschlands bis zu den Grenzen Italiens geschaffen, welche seinerzeit Sonnino große Sorgen bereitet hatte. Diese Regelung schuf darüberhinaus erstmals eine Garantie zur Abwehr der von der Gruppe des Corriere della Sera befürchteten Gefahr einer Donaukonföderation, denn es war klar, dass die Unabhängigkeit Österreichs einen Zusammenschluss der Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie untersagte.18 Aber Rom hegte weiterhin Zweifel hinsichtlich der Lebensfähigkeit des neuen Österreich, der Festigkeit seiner Unabhängigkeitsgefühle und seiner Möglichkeiten, auf lange Sicht der Anziehungskraft Deutschlands zu widerstehen. Noch im Februar 1921 behauptete der italienische Ministerpräsident Giovanni Giolitti, dass »über kurz oder lang Deutsch-Österreich sich mit Deutschland werde vereinigen müssen  ; auf die Dauer werde sich diese Vereinigung nicht verhindern lassen, da sie eine Notwendigkeit sei  ; Italien wolle sie übrigens nicht nur nicht verhindern, sondern stehe ihr sogar sympathisch gegenüber«.19

la »Nuova Europa«. Il confronto sull’Europa orientale alla conferenza di pace di Parigi (1919–1920), Milano 2000  ; Luca Michelet ta, Italia e Gran Bretagna nel primo dopoguerra, Bd. I., Roma 1999. 17 Cacca mo, Die italienische Führungsschicht, 37. 18 Guiot to, Die Haltung Italiens, 192–193. 19 Zitiert nach Josef Muhr, Die deutsch-italienischen Beziehungen in der Ära des Ersten Weltkrieges 1914– 1922, Göttingen–Frankfurt–Zürich 1977, 158.

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Unter diesen Umständen konnte die Teilnahme Italiens am Schutz des neuen Gleichgewichts Mittel- und Osteuropas, in dessen Definition es seiner Ansicht nach nicht genügend einbezogen worden war, nicht als selbstverständlich betrachtet werden. Im konkreten Fall war Rom bereit, seinen Beitrag zu der Verteidigung der Unabhängigkeit Österreichs zu leisten, dies durfte jedoch nicht auf Kosten anderer Ziele gehen und schloss angemessene Gegenleistungen ein, wie einen bedeutenden Einfluss Italiens auf Österreich.

3. Die italienische Militärmission in Wien In den politischen Vorstellungen Italiens, die ganz auf die vorrangige Verwirklichung der im Londoner Vertrag mit der Entente vom April 1915 vorgesehenen Kriegsziele ausgerichtet war, war das Interesse für Österreich anfänglich vor allem ein militärstrategisches. Zur Durchführung der Bestimmungen des Waffenstillstands errichtete Italien eine eigene Militärmission in Wien, die ab Ende Dezember 1918 tätig war.20 Bei der von den Siegermächten vorgenommenen Aufteilung fiel Österreich nämlich in den italienischen Einflussbereich, sowohl unter geopolitischem Gesichtspunkt als auch in Fragen von Reparationsleistungen. Zwischen dem Waffenstillstand von Villa Giusti und dem Abschluss des Friedensvertrags von Saint-Germain mit Österreich erhielten vor allem die italienische Militärmission in Wien und die Spitzen der italienischen Besatzungstruppen im Süden Österreichs die Kontakte mit den österreichischen Behörden aufrecht. Zum Leiter der Mission in Wien wurde Roberto Segre bestimmt.21 Hauptziel der Mission war es, die Durchführung der Klauseln des in der Villa Giusti abgeschlossenen Waffenstillstands zwischen den alliierten und assoziierten Mächten und Österreich-Ungarn abzuwickeln. Für Segre war die Einsetzung der Vertretung Italiens von großer Wichtigkeit  ; Italien präsentierte sich »zum ersten Mal als Sieger in der Hauptstadt der Monarchie, die es seit Jahrhunderten gewohnt war, uns zu besiegen und nicht in großen Ehren zu halten, und in einem Land, das so großes Gewicht auf die Formen zu legen pflegt«.22 Segre war fest davon überzeugt, dass sich »die nahe Zukunft des neuen Österreich unweigerlich zu Italien hinneigen würde«.23 Gerade deshalb war es notwendig, dass die italienische Militärmission auf breiterer Ebene vorging

20 H a as, Österreichisch-italienische Beziehungen, 103. 21 Roberto Segre, La missione militare italiana per l’armistizio (dicembre 1918–gennaio 1920), Bologna 1928  ; A ntonino Za rcone, Il generale Roberto Segre. »Come una granata spezzata nel tempo«, Roma 2014, 77–105. 22 Segre, La missione militare, 6. 23 Ebd., 26.

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und darauf hinarbeitete, die italienische Präsenz im Balkanraum und besonders in Österreich zu stärken. Im Jänner 1919 betonte Segre, dass es für ihn nicht zweckmäßig war, sich auf ein rein militärisches Vorgehen zu beschränken  ; die Aufgaben der Mission sollten vielmehr erweitert werden, und diese sollte sich auch mit dem wirtschaftlichen und finanziellen Problem der Entschädigungen befassen. Ein wirksameres italienisches Vorgehen würde österreichische Sympathien bringen und die italienische Durchdringung jener Gebiete fördern. Segre signalisierte deutlich, dass Italien etwas unternehmen sollte  ; das erschien angesichts der diplomatischen Aggressivität der Alliierten der Entente immer notwendiger. Im Februar teilte Segre dem Oberkommando mit, dass es unbedingt notwendig war, Personen nach Wien zu schicken, die in wirtschaftlichen und finanziellen Fragen und auf dem Gebiet des Handels bewandert waren. Die anhaltende Verzögerung wunderte die örtlichen Behörden, die sahen, dass andere Länder in dieser Hinsicht aktiver waren.24 Von den Militärs drängte besonders General Pietro Badoglio darauf, in Wien eine aktive und geeignete Wirtschafts-, Handels- und Industrievertretung bei der italienischen Militärmission einzurichten.25 Die Kontroversen zwischen dem Heer und der italienischen Regierung bezüglich der Rolle der Militärmission wurden immer größer, während die alliierte Konkurrenz zum Schaden Italiens in Österreich und auf dem Balkan immer stärker wurde. Gegenüber der wirtschaftlichen Konkurrenz der Ententeländer schien Italien auf der Stelle zu treten und war zu keiner koordinierten und kontinuierlichen Aktion fähig. Sicher, das entsprach zum Teil der tatsächlichen Bedeutung des italienischen Kapitalismus, der zweifellos in höherem Maße geschwächt aus dem Weltkrieg hervorgegangen war, als das in anderen Ländern der Fall war. Doch die italienische politische Klasse war mit ernsten internen und anderen internationalen Problemen beschäftigt und zu jenem Zeitpunkt unfähig, eine konkrete Politik gegenüber Österreich durchzuführen.26

4. Auf dem Weg zum Nitti-Renner-Abkommen vom April 1920 Ab dem Sommer 1919 begannen Ministerpräsident Francesco Saverio Nitti und Außenminister Tommaso Tittoni eine neue Außenpolitik zu betreiben, die eigenständiger gegenüber den Direktiven der Entente war. Um auf jeden Fall zu vermeiden, die Alliierten offen zu brüskieren, begann die italienische Diplomatie vorsichtig, sich darum zu bemühen, die Beziehungen zu den unterlegenen Staaten Deutschland, 24 A ndre a Unga ri, Introduzione, in  : Adriano Alberti, L’importanza dell’azione militare italiana. Le cause militari di Caporetto, Roma 2004, 21–22. 25 Unga ri, Introduzione, 23–24. 26 Guiot to, Die Haltung Italiens, 198.

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Öster­reich und Ungarn zu verbessern, und versuchte deren Interessen im Obersten Rat mit Umsicht zu verteidigen. Im Grunde wollte sich Italien eine neue internatio­ nale Rolle als Vermittler und Brücke zwischen Siegern und Besiegten aneignen.27 In diesem Umfeld entwickelte sich eine Politik Italiens gegenüber Österreich, die bereits zum Teil von den Alliierten der Entente losgelöst war. Dieser Politik vorausgegangen waren Tendenzen, die eine Wiederaufnahme von freundschaftlichen Beziehungen mit Rom, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in der neuen Republik Österreich aufgekommen waren, befürworteten. Wohl gab es noch starken Unmut gegenüber Italien, das man des Verrats und der Aggression nach der Kriegserklärung von 1915 bezichtigte. Aber ein Teil der österreichischen Führungsschicht und insbesondere die sozialistischen Führer und Leiter der Außenpolitik, Staatskanzler Karl Renner und Außenminister Otto Bauer, gingen davon aus, dass das neue Österreich nur dann seine schwierige politische und wirtschaftliche Situation bewältigen könne, wenn es die Beziehungen zu den Nachbarstaaten – einschließlich Italiens – verbesserte.28 In einer Unterredung, die der politische Kommissar in Wien, Livio Borghese, Ende Juni 1919 mit Otto Bauer führte, hatte dieser ihm eröffnet, dass er überhaupt kein Vertrauen zu Frankreich habe  ; die einzige Hoffnung für Deutschösterreich sei, sich wieder mit Deutschland zu vereinen. Abschließend äußerte Bauer die Bitte, Italien möge dieser Absicht positiv gegenüberstehen und Deutschösterreich bei der Verwirklichung unterstützen.29 Bereits im Januar 1919 hatte Bauer der Hoffnung Ausdruck verliehen, freundschaftliche Beziehungen zu Italien aufnehmen zu können, wie er an den Bevollmächtigten Haupt in Bern schrieb  : »Es wäre mir willkommen, wenn es Ihnen möglich wäre, eine Beziehung zu italienischen Diplomaten herzustellen. Der Konflikt zwischen Italien und Frankreich hat sich bedeutend verschärft. […] Daher besteht bei Italien starke Neigung, sich Deutschland zu nähern, um die Wahl zwischen französischem und deutschem Bündnis offen zu haben, […] Schon das erklärt, warum Italien unserm Anschluss an Deutschland freundlich gegenübersteht. Italien befürchte, dass jede Donauföderation die Südslawen gegen Italien stärken würde. Diese Sachlage müssen wir auszunützen suchen. […] Dem kann nichts entgegenstehen als die Frage Deutschsüdtirols.«30 Die deutschösterreichische Regierung Renner–Bauer war überzeugt, »dass Italien von allen Ententemächten diejenige ist, 27 Monza li, Cancellare secolari fraintendimenti, 332–333. 28 M a dda lena Guiot to, Italy and Austria, 1918–1920  : Overcoming Hereditary Enmity, in  : Antonio Varsori – Benedetto Zaccaria (Hg.), Italy in the New International Order, 1917–1922 (Security, Conflict and Coperation in the Contemporary World, Palgrave Macmillan), Cham Switzerland 2020, 137– 165, hier 139–150. 29 Borghese an Tittoni (25.6.1919), in  : I Documenti Diplomatici Italiani (DDI), serie VI, Bd. 4, Dok. 11, S. 8. 30 Bauer an Bevollmächtigten Haupt (9.1.1919), in  : ADÖ, Bd. I, 367.

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mit der sich Österreich am leichtesten verständigen könnte. Wir haben wichtige gemeinsame Interessen, vor allem in der Anschlussfrage und in der Frage der Donaukonföderation, aber auch in unseren südlichen Grenzfragen. Es ist Italiens Interesse, dass die Südbahnlinie von Lienz bis Marburg […] restlos in unserer Hand bleibt, nirgends an Jugoslawien fällt, und dass sich darüber hinaus nirgends jugoslawisches Gebiet zwischen uns und Italien schiebt.« Außerdem bedauerte Bauer, dass die seit November 1918 gesuchte Verständigung mit Italien noch nicht gelungen sei.31 Allerdings machte sich Bauer zu große Illusionen über die Bereitschaft Italiens, zu einer Einigung über die Südtirolfrage zu kommen, und auch über das tatsächliche Interesse Italiens am Anschluss Österreichs an Deutschland. Kurz nach Unterzeichnung des Vertrags von Saint-Germain – es war Anfang Oktober – ratifizierte die römische Regierung das Friedensabkommen und schickte den Diplomaten Pietro Tomasi della Torretta in der Eigenschaft eines politischen Kommissars nach Wien, der jedoch völlig unabhängig von den Behörden der italienischen Militärmission in der österreichischen Hauptstadt agieren konnte. Die Entsendung eines der brillantesten und tatkräftigsten italienischen Diplomaten nach Wien war das Signal für den Beginn einer aktiveren Österreich–Politik. Der Bestellung della Torrettas in Wien wurde große Bedeutung beigemessen, denn er galt nicht nur als Freund Deutschösterreichs, sondern auch als konsequenter Vetreter der antislawischen Richtung der italienischen Außenpolitik. Für ihn war auch Italien ein »Nachfolgestaat« der Habsburgermonarchie. Bisher habe sich Italien bemüht, schrieb er nach Rom am 20. März 1920, normale Beziehungen herzustellen. Er selbst habe aufzuzeigen versucht, dass es zwischen Italien und Österreich nunmehr keinen Interessenkonflikt gebe, dass vielmehr eine wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit vorteilhaft wäre. Aber angesichts der vielen gemeinsamen Interessen, angesichts der französischen Versuche, eine Donauföderation zu errichten, schließlich angesichts des Prager Geheimabkommens erhebe sich die Frage, ob es nicht an der Zeit sei, die bisherige, eher passive Politik durch eine positivere abzulösen und zu einer eindeutigen Regelung der Beziehungen zu Österreich zu schreiten. Dadurch könne verhindert werden, dass Österreich in politische Verbindungen eintrete, die für Italien schädlich seien.32 Italien beabsichtigte eine zwar nicht ausschließliche, jedoch vorrangige Sonderbeziehung zu Österreich aufzubauen. Diese Idee schloss aber die italienische Zustimmung zu jedem Projekt einer mitteleuropäischen oder Donaukonföderation aus. Die Versuche der tschechoslowakischen Diplomatie, Österreich in den Kreis 31 Zitiert nach  : Irmtr au t Lindeck-Pozza, Vom Vertrag von Saint-Germain bis zur Machtergreifung des Faschismus. in  : Wandruszka – Stuhlpfarrer (Hg.), Innsbruck – Venedig, 167–182  : hier 169. 32 Della Torretta an Vittorio Scialoja (20.3.1920), zitiert nach Stefa n M a lfèr, Wien und Rom nach dem Ersten Weltkrieg. Österreichisch-italienische Beziehungen 1919–1923, Graz 1978, 34.

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der »Nachfolgestaaten« hineinzuziehen, trafen sofort auf den Widerstand Italiens. Ebenso verhielt es sich mit den Verhandlungen über politische und wirtschaftliche Vereinbarungen zwischen Renner und dem tschechoslowakischen Außenminister in Prag im Jahre 1920. Italien war aber nicht in der Lage, die von Österreich erbetenen Hilfen zu leisten  ; dies betraf Lebensmittellieferungen ebenso wie finanzielle Beistand zur Eindämmung der Inflation und Ankurbelung der Wirtschaft. Österreich ersuchte Italien um Hilfe, und Italien ergriff unter großen Schwierigkeiten verspätete Maßnahmen.33 Der Staatsbesuch Renners in der Tschechoslowakei im Jänner 1920 und das Abkommen von Prag hatten wohl teilweise ihren Ursprung in dieser unzureichenden Unterstützung durch Italien. Diese verzögerte Unterstützung erwies sich als die vielleicht größte Grenze für die Entwicklung der gewünschten Politik gegenüber Österreich. Der italienische Geschäftsträger in Wien Biancheri war mit dem österreichischen Kanzler, bevor er nach Prag fuhr, zusammengekommen  ; anschließend war für Renner ein Staatsbesuch in Belgrad vorgesehen. Der italienische Diplomat berichtete der italienischen Delegation bei der Friedenskonferenz, dass Renner zwar kein großes Vertrauen in diesen seinen Schritt setzte und die Beziehungen mit der Tschechoslowakei nicht dazu angetan waren, ohne weiteres zu einer gütlichen Einigung zu gelangen. Man solle diese österreichische Initiative aber trotzdem im Auge behalten, da sie zu Vereinbarungen zwischen den drei Ländern führen könnte, die nicht den Interessen Italiens entsprachen.34 Der Staatsbesuch Renners in Belgrad sollte einen weiteren Beitrag zur Besserung der österreichischen Lage bringen. Doch della Torretta war entschieden dagegen. Es ist recht kennzeichnend für seine Stellung in Wien, dass er von Renner geradezu verlangen konnte, den Besuch in Belgrad zu verschieben, zuerst einmal nach Rom zu reisen und ihm die Punkte bekanntzugeben, über die er in Belgrad zu verhandeln gedenke.35 Renner versicherte della Torretta, es sei sein lebhafter Wunsch, einen offiziellen Besuch in Rom zu machen. Denn sein erster Plan war gewesen, eine ausschließlich auf den Völkerbund gegründete Politik zu machen  ; später habe er erkennen müssen, dass der Völkerbund ein Körper ohne Seele sei, und er habe 33 Rodolfo Mosca, Österreich und die italienische Außenpolitik vom Vertrag von Saint-Germain bis zur faschistischen Machtergreifung (1919–1922), in  : Wandruszka – Stuhlpfarrer (Hg.), Innsbruck – Venedig, 183–195  : hier 185–186. 34 Archivio storico del ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione internazionale (ASMAE), Archivio Conferenza della pace (ACP), Augusto Biancheri an die italienische Delegation auf der Friedenskonferenz (10.1.1920)  ; über die Gerüchte bezüglich politisch-militärischer Abkommen zwischen Österreich und der Tschechoslowakei vgl. auch ASME, ACP, della Torrettas Telegramm (12.2.1920). Die Archivalien aus dem Bestand Archivio Conferenza della pace (ASMAE) wurden mir von Prof. Dr. Italo Garzia freundlicherweise zur Verfügung gestellt. 35 ASMAE, ACP, Della Torrettas Telegramm (14.2.1920).

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Maddalena Guiotto, Trient

demnach das Hauptgewicht seiner Politik auf Herstellung guter Beziehungen zu den Nachbarn gelegt. Renner stellte fest, dass Frankreich alles unternahm, um immer mehr Gewicht in Österreich zu gewinnen und das Land unter den Einfluss seiner Politik zu bringen. Er – Renner – trete diesen Anstrengungen Frankreichs entgegen  ; die österreichischen Interessen waren keineswegs mit den französischen, wohl aber mit den italienischen deckungsgleich. Das stimmte mit den Ansichten della Torrettas ganz überein. Der italienische Spitzendiplomat meinte, dass für Italien nunmehr der Augenblick gekommen sei, die bisher schwankende Haltung aufzugeben, einen wirklichen Ideenaustausch einzuleiten und Österreich daran zu hindern, in eine Verbindung einzutreten, die den Interessen Italiens entgegenstand. Abschließend meinte Della Torretta  : »Die geografische Position Österreichs zwischen Italien und Deutschland und den Ländern Mittel- und Osteuropas verleiht ihm gegenüber uns, trotz seiner Schwäche, ein ganz besonderes Gewicht.«36 Schon einige Tage nach dieser Unterredung wurden die verschiedenen Punkte festgesetzt, über die man in Rom beraten wollte. Doch das Problem, das über allen anderen stand, blieb jenes der Versorgung mit Lebensmitteln, die sich Österreich von Italien für seine Bevölkerung erwartete.37 Die Einladung von Ministerpräsident Nitti erfolgte dann etwas plötzlich, denn Renner kam bereits am 8. April 1920 nach Rom. Konkrete Ergebnisse des Besuchs waren nicht nur handels- und verkehrspolitische Abmachungen zwischen Ressortministern, sondern auch ein Abkommen zwischen Nitti und Renner.38 Darin anerkannte Italien die Schwäche und Hilfsbedürftigkeit Österreichs, und es versprach, die Aufnahme Österreichs in den Völkerbund zu unterstützen. Wertvoll war die Verpflichtung Italiens, die territoriale Integrität Österreichs zu schützen. Wien wiederum verzichtete auf eine Habsburgerrestauration und den Eintritt in eine wie immer gestaltete Donaukonföderation. Das größte politische Zugeständnis war zweifellos Absatz 10, in dem sich Österreich verpflichtete, Italien über alle wirtschaftlichen und politischen Verhandlungen mit anderen Staaten zu informieren. Nur in zwei Punkten erhielt Renner eine Absage. Der eine betraf seinen dringenden Wunsch, eine den künftigen Anschluss betreffende Klausel ins Abkommen aufzunehmen, der zweite Punkt die lokale Autonomie für Südtirol. Laut Nitti sei

36 ASMAE, ACP, Della Torrettas Telegramm (27.3.1920). 37 ASMAE, ACP, Della Torretta an Nitti (4.4.1920). 38 Zu den Gesprächen Renners mit della Torretta und Nitti und zu den Treffen der beiden Delegationen in Rom vgl. Unterredung zwischen Staatskanzler Renner und Ministerpräsident Nitti (Rom), (8. und 10.4.1920), Abkommen zwischen Staatskanzler Renner und Ministerpräsident Nitti (12.4.1920), in  : ADÖ. Wien–München 1996, Bd. III, Österreich im System der Nachfolgestaaten, 299–306. Vgl. auch die Akten in ÖStA, AdR, NPA, K. 358 und K. 524. Der Text des Abkommens ist veröffentlicht in  : M a lfèr, Wien und Rom, 171–173, siehe auch 36–42.

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es unmöglich, die Autonomie in das Abkommen aufzunehmen, doch sei er zu ihrer Durchführung entschlossen.39 Das Abkommen zwischen Italien und Österreich kam freilich faktisch nicht zur Anwendung. Und auch nach seiner Unterzeichnung und der Zustimmung zu den Genfer Protokollen wurden das Zögern und die Ungewissheiten der italienischen Österreichpolitik nicht völlig aus dem Weg geräumt. Es waren Umstände, welche die Wechselbeziehungen zwischen Italien und Österreich auch in den kommenden Jahren bestimmen sollten.

39 M a lfèr, Wien und Rom, 40–41.

Luciano Monzali, Bari*

Mussolini and the First Austrian Republic With Mussolini’s conquest of power in 1922 Italian policy towards Austria changed quite dramatically. The new Fascist leader abandoned the search for good and cordial relations with Austria and Germany that was predominant in the foreign policy of previous Liberal governments,1 to privilege cooperation with the Entente powers.2 Italian support for French occupation of the Ruhr region and the denationalization of the South Tyrol German speaking population were expressions of this Anti-German and Anti-Austrian orientation of Mussolini’s foreign policy. Italian * Abbreviations  : AdR  : Archiv der Republik  ; ADAP  : Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918–1945  ; b  : Box  ; DDA  : Dokumente zur Außenpolitik der Bundesrepublik Österreich 1918–1938  ; DDF  : Documents Diplomatiques Français 1932–1939  ; DDI  : I Documenti Diplomatici Italiani  ; NPA  : Neues Politisches Archiv  ; ÖStA  : Österreichisches Staatsarchiv, Wien. 1 On relations between Liberal Italy and the Austrian Republic  : Rodolfo Mosca, L’Austria e la politica estera italiana dal trattato di St. Germain all’avvento del fascismo al potere (1919–1922), in  : Storia e Politica 13, 1974, 17–32  ; Stefa n M a lfér, Wien und Rom nach dem Ersten Weltkrieg. Österreichisch-italienische Beziehungen 1919–1923, Wien 1978  ; Lájos K erek es, Von St. Germain bis Genf  : Österreich und seine Nachbarn 1918–1922, Wien 1979  ; Pasqua le Cuomo, Il miraggio danubiano. Austria e Italia politica ed economia 1918–1936, Milano 2012  ; Luci a no Monza li, Cancellare secolari fraintendimenti. Appunti sulle relazioni fra l’Italia liberale e la Prima Repubblica Austriaca, in  : Römische Historische Mitteilungen 60, 2018, 329–366  ; A ndre a Di Michele, Von der Annexion bis zum Beginn der faschistischen Ära  : die italienisch-österreichischen Beziehungen und Südtirol, in  : Andrea Di Michele – Andreas Gottsmann – Luciano Monzali – Karlo Ruzicic-Kessler (ed.), Die schwierige Versöhnung. Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert, Bozen 2020, 253–274. 2 On Italian Foreign policy in the Twenties see R a ffa ele Gua rigli a, Ricordi 1922–1945, Napoli 1949  ; A l a n Cassels, Mussolini’s Early Diplomacy, Princeton 1970  ; R enzo De Felice, Mussolini il duce. Gli anni del consenso 1929–1936, Torino 1974  ; Pietro Pastorelli, Italia e Albania 1924–1927. Origini diplomatiche del Trattato di Tirana del 22 novembre 1927, Firenze 1967  ; I dem, Dalla prima alla seconda guerra mondiale. Momenti e problemi della politica estera italiana (1914–1943), Milano 1998  ; M assimo Buca relli, La Jugoslavia nella politica estera di Mussolini (1924–1937), Bari 2006  ; Fr a ncesco Lefebv re D’Ovidio, L’Italia e il sistema internazionale. Dalla formazione del governo Mussolini alla grande Depressione (1922–1929), Roma 2016  ; Gi a mpiero Ca rocci, La politica estera dell’Italia fascista (1925–1928), Bari 1969  ; H. Ja mes Burgw y n, Italian Foreign Policy in the Interwar Period 1918–1940, London–Westport 1997, 24ff.; En nio Di Nolfo, Mussolini e la politica estera italiana 1919–1933, Padova 1960  ; Luci a no Monza li, Italiani di Dalmazia 1914–1924, Firenze 2007  ; I dem., Il sogno dell’egemonia. L’Italia, la questione jugoslava e l’Europa centrale, Firenze 2010  ; I dem., Un ambasciatore monarchico nell’Italia repubblicana. Raffaele Guariglia e la politica estera italiana (1943–1958), in  : Luciano Monzali – Andrea Ungari, I monarchici e la politica estera italiana del secondo dopoguerra, Soveria Mannelli 2012, 159–242.

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Luciano Monzali, Bari

Fascism abandoned the Liberals’s ambiguity toward the possibility of a future Austro-German Union by declaring a strong opposition to any Anschluss project.3 In fact the duce did little to foster Italian influence in Austria. He had an interest in Austrian political developments, viewing the strong Socialist presence in Vienna as an ideological menace and challenge to Italian Fascism  : but his strongly anti German nationalist rhetoric and the harsh policies imposed against the German minority in South Tyrol-Alto Adige4 made the growth of Italian influence in the Austrian Republic difficult.5 It was only at the end of the Twenties, thanks to the birth of the Italian-Hungarian political cooperation after the Friendship Treaty of 1927,6 that the Rome government became an active political actor in Austria. Budapest asked Mussolini to support the Austrian anti-Socialist groups directly, some of which, particularly some Heimwehr leaders, began asking for money and weapons not only from Hungary but especially from Italy.7 But despite more activism, Italian initiatives in Austria before 1933 did not achieve much. Mussolini counted on Johann Schober to achieve Italian political hegemony in Austria, but the former chief of the Vienna police was capable of neutralizing excessive Italian interference. Schober signed a 3 ÖStA, AdR, 1. Republik 1918–1938, NPA, Italien, b. 524, Kwiatkowski to Grünberger 10.12.1922. 4 On the South Tyrol-Alto Adige question between the two World Wars see M a rio Tosca no, Storia diplomatica della questione dell’Alto Adige, Bari 1967  ; R ich a r d Schober, Die Tiroler Frage auf der Friedenskonferenz von Saint Germain, Innsbruck 1982  ; Leopold Steurer, Südtirol zwischen Rom und Berlin 1919–1939, Wien–München–Zürich 1980  ; Umberto Corsini – Rudolf Lill, Alto Adige 1918–1946, Bolzano 1988  ; Umberto Corsini, Problemi di un territorio di confine. Trentino e Alto Adige dalla sovranità austriaca all’accordo Degasperi–Gruber, Trento 1994  ; Rolf Steininger , Südtirol 1918–1999, Innsbruck–Wien 1999  ; A ndre a Di Michele, L’italianizzazione imperfetta. L’amministrazione pubblica dell’Alto Adige tra Italia liberale e fascismo, Alessandria 2003  ; K l aus Weiß, Das Südtirol-Problem in der Ersten Republik. Dargestellt an Österreichs Innen- und Außenpolitk im Jahre 1928, Wien– München 1989  ; Federico Sca r a no, Tra Mussolini e Hitler. Le opzioni dei sudtirolesi nella politica estera fascista, Milano 2012. 5 On the First Austrian Republic’s history see Wa lter Goldinger – Dieter A. Binder, Geschichte der Republik Österreich 1918–1938, Wien–München 1992  ; Erik a Weinzierl – Kurt Sk a lnik, Öster­reich 1918–1938. Geschichte der Erster Republik, Graz–Wien–Köln 1983, 2 vol.; R a iner ­H ubert, Schober, “Arbeitermörder” und “Hort der Republik”. Biographie eines Gestrigen, Wien–Köln 1990  ; Ludwig Jedlick a, Ende und Anfang Österreich 1918/19. Wien und die Bundesländer, Salzburg1969  ; Lájos K erek es, Wirtschaftliche und soziale Lage Österreichs nach dem Zerfall der Doppelmonarchie, in  : Rudolf Neck – Adam Wandruszka (ed.), Beiträge zur Zeitgeschichte. Festschrift Ludwig Jedlicka zum 60. Geburts­ tag, St. Pölten 1976, 81–94  ; Loth a r Höbelt, Die Erste Republik (1918–1938). Das Provisorium. Wien–Köln–Weimar 2018  ; Heinrich Drimmel, Vom Justizpalastbrand zum Februaraufstand. Öster­ reich 1927–1934, Wien–München 1986. 6 A lfredo Brecci a, La politica estera italiana e l’Ungheria (1922–1933), in  : Rivista di studi politici internazionali 47, 1980, 93–112. 7 On the Heimwehr movement see Wa lter Wiltschegg, Die Heimwehr. Eine unwiderstehliche Volksbewegung  ?, Wien 1985  ; Loth a r Höbelt, Die Heimwehren und die österreichische Politik 1927–1936. Vom politischen “Kettenhund“ zum “Austro-Fascismus”, Graz 2016.

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friendship treaty with Italy on 6 February 1930, which avoided stringent obligations and restrictions on Austrian foreign policy.8 Italian diplomacy and Mussolini did not understand Schober’s political orientation, a former Habsburg civil servant of German national sentiment, desirous of strong political and economic ties with Germany. The clear expression of Schober’s vision of Austria’s future was the Austro-­German custom union treaty of March 1931, negotiated by Vienna and Berlin without first informing Fascist Italy,9 which, caught by surprise, after some hesitation, decided to support France’s hostile attitude. Also Italian hopes of using the Heimwehren to acquire a strong political position in Austria were fruitless. Italy gave a lot of money to several Heimwehr leaders, from Richard Steidle, Waldemar Pabst to Walter Pfrimer and Ernst Rüdiger von Starhemberg, without being able to guarantee their political loyalty and obedience. Pabst was an agent of the German government, Pfrimer and the Steiermark Heimwehren were strong supporters of the Anschluss,10 and Starhemberg was a close friend of the leader of Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), Adolf Hitler, and keen on strong ties between the Heimwehren and German nationalsocialism.11 The Heimwehren were a weak and heterogeneous political movement, divided by strong personal and regional rivalries, and never became a major political force in the First Austrian Republic.12 Italy’s rise in Austria was rather the consequence of the electoral successes of the National Socialist party in Germany. Also, since 1932, the Austrian branch of the NSDAP began winning local elections and gaining significant support.13 After he be 8 About this treaty and the meeting Schober-Mussolini in Rome see I Documenti Diplomatici Italiani, Rome, Istituto Poligrafico dello Stato, 1952ff., series VII, vol. 8, dd. 263, 266, 296, 305, 347  ; Dokumente zur Außenpolitik der Bundesrepublik Österreich 1918–1938, München, 1993–2016, 6, Schober to Mussolini, 28 September 1929, d. 980  ; ibid., Egger to Peter, 8 October e 22 November 1929, dd. 983 e 989  ; ibid., Besprechung Bundeskanzler Schober mit italienischen Gesandten Auriti am 24. Oktober 1929 in Wien, 25 October 1929, d. 985  ; ibid., Besuch Bundeskanzler Schober vom 4. bis 7. Februar 1930 in Rom, 4 February 1930, d. 1003  ; ibid., Besuch Bundeskanzler Schober vom 4. bis 7. Februar 1930 in Rom. Gesprächsaufzeichnungen, 10 February 1930, d. 1005. The text of the treaty of 6 February 1930 is printed in DDA, 6, d. 1004.  9 Concerning the customs union project much documentation in DDA, 7. Regarding Berlin and Vienna’s attitude toward Italy  : DDA, 7, Österreichisch-deutsche Besprechungen am 3. und 5. März 1931 in Wien, 5 March 1931, d. 1069. On Italian reaction  : DDA, 7, dd. 1080, 1083, 1091, 1101  ; DDI, VII, 10, dd. 142, 149, 150, 153, 154. 10 Wiltschegg, Die Heimwehr, 44f. On relations between the Austrian Right-wing parties and Fascist Italy  : Loth a r Höbelt, Italien als Vorbild für Österreich  ? “Berufsständische Ordnung” und “Corporativismo”, in  : Andrea Di Michele – Andreas Gottsmann – Luciano Monzali – Karlo Ruzicic-Kessler (ed.), Die schwierige Versöhnung. Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert, 83–104. 11 Ernst Rüdiger Starhemberg, Memoiren, Wien–München, 1971  ; Wiltschegg, Die Heimwehr, 198f. 12 Wiltschegg, Die Heimwehr. 13 See  : DDI, VII, 13, Colloquio fra il capo del governo e ministro degli Esteri Mussolini e il ministro a Vienna Preziosi, 25 March 1933, d. 292  ; ibid., Cortese to Mussolini, 27 March 1933, d. 308.

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came prime minister in January 1933, Hitler14 fully supported the Austrian National Socialists’ political strategy of fighting radically the Christian-Social chancellor Engelbert Dollfuss,15 in power since May 1932, by asking for general elections and the expulsion of Dollfuss from Austrian political life. A politician from Low Austria and an Austro-German patriot, Dollfuss tried in vain to find a political agreement with Hitler and the Austrian Nazis. A former soldier on the Italian front during First World War, he did not have much sympathy toward Fascist Italy, but rather than succumbing to the extremist Far Right he preferred looking for support from Mussolini. With Hungarian agreement and mediation, Dollfuss went to Rome in April 1933 where he met the duce for the first time.16 It was an important turning point in Italian-Austrian relations. Dollfuss, a cunning and passionate politician, was able to enlist not only Mussolini’s political support but also the Italian dictator’s human sympathy and friendship.17 The Dollfuss-Mussolini meeting marked the beginning of Italian political hegemony in Austria, which would last until July 1936, and consolidated Fascist Italy’s role as European great power. But the alliance between the Austrian Christian-Socialists and Fascist Italy was tactical and opportunist, for neither had long term objectives. In Dollfuss’s view, the cooperation with Mussolini strengthened his personal power and 14 K l aus Hildebr a nd, Deutsche Außenpolitik 1933–1945. Kalkül oder Dogma  ?, Stuttgart 1970  ; Joachim C. Fest, Hitler, Milano, 1991, 661f  ; R ich a r d J. Eva ns, Il Terzo Reich al potere 1933–1939, Milano 2010, 594–597  ; I a n K ersh aw, Hitler 1889–1936, Milano 1999  ; I dem., Hitler 1936–1945. Nemesis, Milano 2004  ; Norbert Sch ausberger, Der Griff nach Österreich. Der “Anschluss”, Wien– München 1988  ; Jens Petersen, Hitler e Mussolini. La difficile alleanza, Roma–Bari 1975  ; Christi a n Goeschel, Mussolini e Hitler. Storia di una relazione pericolosa, Roma–Bari 2019. 15 On Dollfuss see Helmu t Wohnou t, Die Verfassung 1934 im Widerstreit der unterschiedlichen Kräfte im Regierungslager, in  : Ilse Reiter-Zatloukal – Christiane Rothländer – Pia Schölnberger (ed.), Österreich 1933–1938. Interdisziplinäre Annährungen an das Dollfuß-/Schuschnigg-Regime, I, Wien–Köln–Weimar 2012, 17–30  ; I dem., Schritte auf dem Weg zur Diktatur. Die Entwicklung nach dem Ende des demokratischen Parlamentarismus im Spannungsfeld der deutschen und italienischen Österreichpolitik, in  : Parlamentsdirektion (ed.), Staats- und Verfassungskrise 1933, Wien–Köln–Weimar 2014, 51–74  ; I dem, Bundeskanzler Dollfuß und die österreichisch–italienischen Beziehungen 1932–1934, in  : Florian Wenninger – Lucile Dreidemy (ed.), Das Dollfuß–Schuschnigg Regime 1933–1938. Vermessung eines Forschungsfeldes, Wien–Köln– Weimar 2013, 601f. 16 Regarding the genesis and the nature of the talks between Dollfuss and Mussolini  : DDA, 9, Amtsvermerk Generalsekretär Peter, 11 March 1933, d. 1277  ; ibid., Dollfuss to Austrian Legation in Rome, 9 April 1933, d. 1286  ; ibid., Aufzeichnung Legationsrat Hornbostel, 21 April 1933, d. 1289  ; ibid., Sprechprogramm für Bundeskanzler Dollfuss anlässlich seiner Italienreise, 10 April 1933, d. 1289 A  ; DDI, VII, 13, Mussolini to Preziosi, 4 April 1933, d. 365  ; ibid., Buti to Suvich, 10 April 1933, d. 402  ; ibid., Colloquio fra il capo del governo e ministro degli Esteri Mussolini, e il cancelliere federale e ministro degli Esteri Dollfuss, 12 aprile 1933, d. 411. Always useful De Felice, Mussolini il duce. Gli anni del consenso, 473f. 17 Dollfuss’s judgement on his visit in Rome in April 1933  : Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik, Abteilung VIII, vol. 3, Wien 1983, 140–141, 211–212

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his bargaining position in face of Hitler and the NSDAP. Austria could not survive without an agreement with Germany. But, as Franz Müller has shown, a true agreement was impossible between Hitler and Dollfuss because the Nazi leader wanted the political destruction of the Christian Socialist chancellor.18 Mussolini said publicly that for Italy Austrian independence was paramount, but in fact he perceived the weakness of the Austrian State and of Dollfuss’s consensus in Austrian society. For the duce Austria was just a pawn in his international strategy, aimed at strengthening Italy’s influence in European politics by creating, at the same time, a good political cooperation with Hitler’s Germany and playing a mediating role with the French and the British. Mussolini’s opposition to the Anschluss was tactical and temporary. A clear proof of the opportunistic nature of Mussolini’s defence of Austrian independence was his reluctance to support Habsburg restoration. In Italian diplomatic documents one can find many declarations of Mussolini’s sympathy towards Habsburg restoration in Austria or in Hungary,19 but in fact he knew that Hitler hated the Habsburg family and their return to power would mean the complete breakdown of Italian-German relations and total conflict between Rome and Berlin. Mussolini’s coldness toward Habsburg restoration was shared by Christian Social leaders like Dollfuss, aware that the much desired reconciliation with Germany would be impossible in case of the return of a Habsburg to the Austrian Imperial throne. Mussolini was ready to protect Austria’s independence but made some conditions and forwarded some requests to Dollfuss. There had to be a coalition government including the Heimwehren led by Starhemberg20 and the creation of a dictatorship was necessary whose aim was the fight against the Socialists and the National-Socialists.21 By cancelling the role of free public opinion, the authoritarian regime would facilitate Italian-Austrian cooperation. It must be remarked that the dictatorship was deemed by Mussolini the best instrument not only to fight the Socialists but also to weaken the National-Socialists. The right-wing push of Dollfuss and the authoritarian regime would weaken the followers of Hitler and allow their expulsion from Austria’s political life.22 After many doubts and uncertainties, Dollfuss chose to fol18 Fr a nz Müller, Ein “Rechtskatholik” zwischen Kreuz und Hakenkreuz  : Franz von Papen als Sonderbevollmächtigter Hitlers in Wien 1934–1938, Frankfurt am Main–Bern–New York–Paris 1990. 19 The relationship between the Habsburg family and Italy is yet to be studied. See anyway  : Gor don Brook-Shepher d, Uncrowned Emperor. The Life and Times of Otto von Habsburg, London 2003  ; I dem., L’ultima imperatrice. La vita e l’epoca di Zita d’Austria-Ungheria 1892–1989, Milano 1992  ; Ta m a r a Griesser-Peca r, Zita. L’ultima imperatrice d’Austria-Ungheria, Gorizia 2009. 20 On the relations between the Heimwehren and Italy  : Höbelt, Die Heimwehren und die österreichische Politik 1927–1936  ; Enzo Collot ti, Il fascismo e la questione austriaca, in  : Il Movimento di liberazione nazionale 81, 1965, 3–25. 21 DDI, VII, 12, dd. 351  ; DDI, VII, 14, d. 111. 22 For instance DDI, VII, 14, d. 585.

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low Italian advice and in early 1934 proceeded to eliminate the Socialist Party, to outlaw Austrian National Socialism and to establish a dictatorship.23 With the goal of hampering German influence in Central Europe, Italy tried to deepen economic cooperation with Austria and Hungary.24 After the failure of the project of a customs union among the three countries,25 it was possible just to strengthen commercial ties by signing the so-called Rome Protocols of March 1934, which developed trade and foresaw the continuous cooperation on political and economic matters among Rome, Vienna and Budapest. In those years Fascist Italy played a major role in Central Europe, but its initiatives were hampered by Italian economic and financial weakness and by the reticence of some allies like Hungary, that did not want to help the anti-German goals of Mussolini and rather wished the establishment of a strong political cooperation among Italy, Hungary and Germany to revise the territorial order of the Danube region.26 The failed Nazi coup d’état in Austria in July 193427 angered Mussolini and obliged him unwillingly to break politically with Hitler and to deepen relations with France and the United Kingdom. The attempted coup and the death of Dollfuss had a strong impact on Italian-Austrian relations. The failed coup showed to Mussolini the weakness of the Christian-Socialist regime and the strength of German influence in Austria. The connivance of Anton Rintelen,28 former Landeshauptmann of Styria and Austrian plenipotentiary minister in Rome, indicated that the Anschluss found favour also within Dollfuss’s party. Mussolini showed openly his lack of consideration for the Heimwehren and their leader Starhemberg by supporting the nomination of the Tyrolean Christian Socialist Kurt Schuschnigg,29 already Justice minister and very close to Dollfuss, as new Austrian chancellor. Schuschnigg, a sophisticated intellectual, quite cool towards Italy, was not able to create a strong personal bond with

23 See the analysis of the French Minister in Austria, Puaux  : Documents Diplomatiques Français 1932–1939, Paris 1964, series I, 5, dd. 223, 246, 255, 410. On British hostility to a authoritarian regime in Austria  : Documents on British Foreign Policy 1919–1939, London, 1947–1985, series II, vol. 6, dd. 270, 273, 275, 332. 24 DDF, I, 4, d. 77. 25 DDI, VII, 12, dd. 389, 408, 414. 26 Gyorgy R éti, Hungarian-Italian Relations in the Shadow of Hitler’s Germany 1933–1940, Boulder 2003  ; Gy ul a Juh ász, Hungarian foreign policy, 1919–1945, Budapest 1979. 27 Kurt Bauer, Hitlers zweiter Putsch. Dollfuß, die Nazis und der 25. Juli 1934, St. Pölten–Salzburg–Wien 2014. 28 A nton R intelen, Erinnerungen an Österreichs Weg. Versailles, Berchtesgaden, Großdeutschland, Memorien, München 1941. 29 On Kurt Schuschnigg  : Kurt Schuschnigg, Dreimal Österreich, Wien 1937  ; I dem., Im Kampf gegen Hitler. Die Überwindung der Anschlußidee, Wien 1969. See also A nton Hopfga rtner, Kurt Schuschnigg. Ein Mann gegen Hitler, Graz–Wien–Köln 1989.

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Mussolini,30 who started to lose interest in the Austrian question by concentrating more and more on his project of colonial expansion in the Horn of Africa. After July 1934 Hitler decided to change political strategy in Austria. He removed the political leadership of the Austrian wing of the National Socialist movement and opted for a more moderate approach, as advised by the German conservatives and diplomats. Former chancellor, Franz von Papen,31 one of the leaders of the German National Conservative allies of Hitler, was sent to Vienna as new plenipotentiary minister, with the aim of fostering Austrian-German relations by looking for agreement with Christian Socialists and the Heimwehren. Both Schuschnigg and Starhemberg were favourable to a political agreement with the Berlin government, because they were aware that in the long term the Austrian State could not survive against a hostile Germany. Schuschnigg tried also to use German support to strengthen his personal political position against his rivals within the Christian Socialists and against the Heimwehren, quite often seen more as political rivals than as allies. In 1935 Italian aggression against Ethiopia gave the Austrian government the clear message that Mussolini was planning a progressive withdrawal from an active and strong political role in Central Europe. Therefore the Austrian chancellor accelerated his attempts to find a political agreement with Hitler. The conquest of Ethiopia was for Mussolini a more complicated business than he had foreseen. Isolated at international level, facing the risk of a war with the British and criticized by some Fascist notables for his recklessness, the duce chose to reopen a political dialogue and to build bridges with Hitler. On 7 January 1936 he invited the German ambassador Hassell for a talk and told him that Italy wanted to restore relations with the Berlin government. The Austrian question was an issue that could be solved. He was favourable to a rapprochement between Berlin and Vienna. The transformation of the Austrian State into a “Satellit Deutschlands” was acceptable to Italy as long as Austria retained a formal independence.32 In the following months Italian-German cooperation developed while Mussolini advised the Austrian leaders to look for pacification with Hitler. Political cooperation with Nazi Germany was supported by some Fascist leaders, as well as by Mussolini’s son in law, Galeazzo Ciano,33 and the Italian ambassador in Berlin Attolico.34 Fulvio Suvich, the undersecretary for Foreign Affairs, and some 30 See for instance  : DDA, 10, Unterredung Bundeskanzler Schuschnigg mit italienischem Ministerpräsidenten Mussolini am 11. Mai 1935 in Florenz, d. 1528. 31 Müller, Ein “Rechtskatholik“ zwischen Kreuz und Hakenkreuz. 32 Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918–1945, Göttingen, 1950–1995, C, IV, 2, d. 485. 33 On Ciano  : Eugenio Di R ienzo, Ciano. Vita pubblica e privata del “genero di regime” nell’Italia del Ventennio nero, Roma 2019  ; Gior da no Bru no Guerri, Galeazzo Ciano. Una vita, 1903–1944, Milano 1979. 34 ADAP, C, IV, 2, d. 486  ; DDI, VIII, 3, dd. 66, 67, 138, 568  ; Meir Mich a elis, Il conte Ciano di Cortel-

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conservative diplomats such as Cerruti, Aloisi and Rosso, were against it, understanding that Italian preponderance in Central Europe was built on a close relationship with Austria and that opening the Vienna government to German influence would destroy the Italian alliance structures in the region.35 But Mussolini had new political plans, based on the idea of expanding Italian influence in the Mediterranean and in the Near East with German support, and during the first months of 1936 decided to change his strategy toward Austria radically. Fascist Italy opposed any plan for an international agreement to defend Austrian independence36 and accepted passively German military occupation of Rhineland  ; any idea of Habsburg restoration was abandoned.37 Mussolini confirmed his support for Schuschnigg’s leadership by approving the plan of dissolving the Heimwehren in the Patriotic Front38 and expelling Starhemberg from the Austrian government in May 1936.39 At the same time he advised the Austrian chancellor to make a strong reconciliation with Germany. After the victory in Ethiopia, with the goal of easing the new political collaboration with Nazi Germany, in June 1936 the duce chose to change his most important men at the Italian Ministry of Foreign Affairs, Suvich and Aloisi,40 too much identified with his former anti-German policy. The new Italian foreign policy, based primarily on friendship with Nazi Germany, was to be led by the young and ambitious minister of Foreign Affairs, Galeazzo Ciano.41 From the summer of 1936 Mussolini put Near East, Africa and the Mediterranean at the fore of Italian international strategy. In Central Europe Fascist Italy pursued a passive attitude aimed at preserving Italian influence by favoring the establishment of a German-Italian condominium in the region.42 Mussolini not only recognized German preponderance in Austria but also promised Italian disinterest about Czecho-Slovakia’s future. Italian support and benevolence toward the Austrian-German treaty signed on 11 July 193643 attested the seriousness of Mussolini’s promises and attitude. In Mussolazzo quale antesignano dell’Asse Roma-Berlino. La linea “germanofila” di Ciano dal 1934 al 1936, in  : Nuova Rivista Storica 61, 1977, 132f.; Gi a nluca Fa l a nga, L’avamposto di Mussolini nel Reich di Hitler. La politica italiana a Berlino (1933–1945), Milano 2011, 87f. 35 DDI, VIII, 3, d. 194, Suvich to Mussolini, 7 February 1936. See as well DDI, VIII, 3, d. 131, Suvich to Mussolini, 29 January 936. 36 DDI, VII, 16, dd. 214, 330, 338. 37 DDI, VIII, 3, dd. 91, 105, 119  ; DDF, II, 2, d. 397. 38 DDA, 10, Vollgruber to Schuschnigg, 15 May 1936, d. 1621. 39 DDI, VIII, 4, dd. 43, 44, 54, 55, 64, 105  ; Sta rhemberg, Memoiren, cit.; Höbelt, Die Heimwehren. 40 See Hassell’s remarks in  : ADAP, C, V, 2, d. 381. 41 Useful the view of François-Poncet, French ambassador in Germany  : DDF, II, 2, d. 338. 42 On Italian policies toward Central Europe  : Monza li, Il sogno dell’egemonia.; I dem, Gli italiani di Dalmazia e le relazioni italo-jugoslave nel Novecento, Venezia 2015, 285f. 43 The text of the Gentleman-Agreement of the 11 July 1936 is published in DDA, 10, d. 1640. On its or-

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lini’s view, the agreement was positive because it eliminated the last remaining serious controversy between Rome and Berlin. He wished in the short-medium term the survival of a partially independent Austrian State tied to Germany. But in October 1936 German leaders like Göring bluntly told the Italians that Rome’s acceptance of the German absorption of Austria was a pivotal pre-condition for the development of collaboration between Rome and Berlin.44 The Italians, nonetheless, hoped to be able to control German initiatives and to slow down the push toward German-Austrian Anschluss. From July 1936 an Italo-German-Austro-Hungarian bloc was created in Central Europe, with Mussolini hoping in vain to become a sort of new Otto von Bismarck, able to dominate European politics thanks to his political and diplomatic ability. Between 1936 and 1938 Mussolini’s ambitions seemed to be real. Friendship with Germany and competitive cooperation with the United Kingdom guaranteed him a decisive role in world politics. But this position of diplomatic strength was shortlived. The colonial rivalries with France and Great Britain and Italian intervention in the Spanish Civil war led to a serious deterioration of the relations with the Western powers making Italy more and more dependent on Hitler’s support. And the German dictator showed himself to be more cunning than Mussolini, weakening Italian positions in Central and Eastern Europe and accelerating his plans to absorb Austria. Mussolini’s visit in Germany in September 1937 impressed the Fascist leader strongly, convincing the duce of German strength. The visit showed growing Italian indifference toward Austrian independence.45 After his return from Germany, Mussolini wrote to the Italian King Vittorio Emanuele III that Göring had promised that nothing would be done in Austria “without a preliminary agreement with Italy”.46 But Mussolini was well aware the Nazi Germany wanted the Anschluss very soon and he was ready to accept it. igins and negotiations  : Müller, Ein “Rechtskatholik“ zwischen Kreuz und Hakenkreuz, 103ff.; Ludwig Jedlick a – Rudolf Neck (ed.), Das Juliabkommen von 1936. Vorgeschichte, Hintergründe und Folgen, Wien 1977  ; Ga briele Volsa nsk y, Pakt auf Zeit. Das Deutsch-Österreichische Juli-Abkommen 1936, Wien–Köln–Weimar 2001  ; Ya n nik Mück, Österreich zwischen Mussolini und Hitler. Der Weg zum Juliabkommen 1936, Leipzig 2015  ; DDA, 10, dd. 1619, 1625, 1631, 1633. Sull’atteggiamento italiano verso il negoziato e accordo  : DDI, VIII, 3, d. 523  ; DDI, VIII, 4, dd. 192, 439, 455, 460, 503, 514  ; Luca R icca r di, Francesco Salata tra storia, politica e diplomazia, Udine 2001  ; Pietro Pastorelli, Dalla prima alla seconda guerra mondiale. Momenti e problemi della politica estera italiana 1914–1943, Milano 1997. 44 For instance see the statement of Göring to Attolico in October 1936  : DDI, VIII, 5, Attolico to Ciano, 6 October 1936, d. 163. 45 On an Austrian analysis of the Mussolini’s journey to Germany  : ÖStA, AdR, NPA, Italien, b. 529 Italien, Tauschitz to Schmidt, 16, 28 e 29 September 1937. See also  : DDI, VIII, 7, dd. 379, 381, 393  ; AdR, NPA, Italien, b. 529, Franckenstein to Schmidt, 29 September 1937. 46 DDI, VIII, 7, Mussolini to Vittorio Emanuele III, 4 October 1937, d. 393. See as well  : ADAP, D, 1, dd. 1 e 2.

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With Italy and the other European powers indifferent to Austria’s future, Hitler’s plans toward Anschluss accelerated. After the weakening of the conservatives within the German government in early 1938, showed by the appointment of Joachim von Ribbentrop as foreign minister and the change of leadership of the German Army, Hitler decided for action. He met Schuschnigg at Berchtesgaden and, without first informing the Italians, imposed new agreements on the Austrian government aimed at easing and accelerating the Nazification of Austria and weakening the Christian Socialists’ positions.47 Mussolini understood that Hitler wanted to destroy Austrian independence but decided to do nothing. On 27 February 1938 he wrote a note48 declaring it was Austria’s duty, not Italy’s, to defend its independence and to show that it wanted to remain independent. Italy was not ready to damage relations with Germany to slow down the Anschluss. It was in Italy’s political interest that Austria remained an independent State, but this interest was not so vital as to deserve to be defended by war or by a change of attitude towards Germany. The Anschluss seemed inevitable and in such a case it was better that it was not done against Italy (“è meglio che non si faccia contro l’Italia”).49 The Italian dictator judged Schuschnigg made a serious mistake by calling for a popular referendum to block Germany’s interference and aggressiveness.50 On 12 March 1938 Hitler decided to invade Austria and to impose annexation to the German State.51 All this was done without prior information and consultation with Italy. The only concession Hitler made to Mussolini was a letter in which he promised that Germany considered the South Tyrol-Alto Adige question resolved and closed recognizing Italian sovereignty on that Alpine region.52 But the letter, despite Italian requests, was never publicized and published in Germany. The Anschluss was a harsh political defeat for Mussolini. Italian public opinion perceived it as a weakening of Italy’s position in Europe, with the resurgence of a great and strong German State on its northern boundaries.53 Many Italian diplomats and Fascist politicians got worried. The fear that in the future German expansion47 DDA, 12, dd. 1884, 1887  ; DDI, VIII, 8, dd. 147, 148, 153, 157, 165, 166, 167. 48 DDI, VIII, 8, d. 235. 49 Ibid. 50 DDI, VIII, 8, dd. 275, 276. On the Anschluss of 1938  : Rudolf Neck – A da m Wa ndruszk a (ed.), Anschluß 1938, München 1981  ; Jürgen Gehl, Austria, Germany and Anschluss 1931–1938, London– Toronto–New York 1963  ; Gor don Brook-Shepher d, L’Anschluss, Milano 1966. 51 DDI, VIII, 8, dd. 284, 285, 286, 292, 293, 298. 52 DDI, VIII, 8, d. 296. 53 R enzo De Felice, Mussolini il duce, II, Lo Stato totalitario (1936–1940), Torino 1981, 474f.; Ga le a zzo Ci a no, Diario 1936–1943, Milano 1990, pp. 110 e ss. Al riguardo anche  : DDF, II, 8, dd. 388, 414, 423, 454, 486.

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ism could turn and be directed south, at claiming Alto Adige, pushed Mussolini to take two different decisions. On the one hand, he asked Berlin to find a “radical and friendly” solution, to repeat the phrase said by Italian diplomat Massimo Magistrati, to the question of the German speaking population of South Tyrol by agreeing the transfer of these people to Germany.54 On the other, Mussolini decided the building of colossal and impressive military fortifications in South Tyrol, on the Italian-German borders, the so-called “Vallo Littorio”, with the goal of getting ready for a possible war against Germany, deemed by the duce himself, despite his political friendship with Hitler, an event that he did not rule out.55 An Italian-German war would not happen, but the end of the First Austrian Republic and the Anschluss were pivotal moments in Mussolini’s foreign policy, the beginning of the decline of Fascist Italy’s international influence and role in world politics.

54 Tosca no, Storia diplomatica della questione dell’Alto Adige, 148f  ; Sca r a no, Tra Mussolini e Hitler, 84f. 55 Read  : De Felice, Mussolini il duce, II, Lo Stato totalitario, 467f.

Georges-Henri Soutou, Paris*

Welches Österreich soll es sein  ? Pariser Ansichten 1914–1955

»Der König ist Kaiser in seinem Königreich«  : Diese berühmte Aussage des Königs Philippe Auguste gegen Ende des 13. Jahrhunderts bedeutete die prinzipielle Ablehnung jeglichen Einflusses des Heiligen Römischen Reichs über Frankreich. Diese Linie wurde später immer folgerichtig behauptet, nicht zuletzt durch Kardinal von Richelieu und Napoleon, der 1805 dem Heiligen Römischen Reich den Todesschuss in Austerlitz versetzte. Aber das französische Misstrauen galt danach Österreich und dann ÖsterreichUngarn, nicht mehr wegen des kaiserlichen Anspruchs über Europa, aber wegen einer grundverschiedenen politischen Auffassung. Für Frankreich galt, spätesten ab 1848, der Nationalstaat als Grundpfeiler der internationalen Ordnung und der Verfassung eines modernen, liberalen Landes. Für Wien war es das dynastische, historisch sowohl wie religiös untermauert Kaiserreich, als Staatenbund. Vor dem Ersten Weltkrieg waren manche französischen Linksradikalen (aber nicht die Sozialisten) entschiedene Verfechter des Selbstbestimmungsrechts der Nationalitäten und daher der k. u. k. Monarchie nicht freundlich gesinnt. Es gab aber eine andere Meinung, nach der Wien ein unersetzliches Gegengewicht Berlin gegenüber sei. Diese Meinung kam nach Königgrätz häufiger vor, blieb aber vor 1914 in der Minderheit, auch nach der Bildung des Wilhelminischen Reichs. Aber der Gegensatz zwischen diesen zwei Ausrichtungen sollte bis zu den fünfziger Jahren weiterbestehen und die französische Politik prägen. Vor 1914 stellten sich viele bedeutende Politiker (wie Théophile Delcassé, Außenminister 1898–1905 und wieder nach dem Kriegsausbruch 1914) vor, mit dem Tod von Kaiser Franz Joseph würde gegebenenfalls eine Umwälzung ÖsterreichUngarns unter der Regie des Europäischen Konzerts der Großmächte stattfinden. Dabei würde sich Österreich wahrscheinlich Deutschland anschließen. Um das europäische Gleichgewicht zu wahren, würde dann Frankreich die Rückkehr ElsassLothringens fordern können, mit der Unterstützung der anderen Großmächte. Die Auslöschung Österreich-Ungarn würde so eine Neuordnung Europas ermöglichen.

* Abkürzungen  : CFLN  : Comité français de la libération nationale  ; DDF  : Documents diplomatiques français  ; MAE  : Ministère des Affaires étrangères.

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Es gab aber auch Kreise, in den konservativen Parteien, in der Diplomatie, im Wirtschaftsleben (vor allem bei den Großbanken, die enge Beziehungen zu Wiener Banken pflegten), die überhaupt keine Umwälzung wünschten und die ÖsterreichUngarn als einen Pfeiler des wirtschaftlichen und politischen Gleichgewichts in Europa sowohl gegenüber Berlin wie Sankt-Petersburg betrachteten. Es gab immer, auch während des Ersten Weltkriegs, wichtige Persönlichkeiten, die für gute Beziehungen mit Wien eintraten, sei es aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen, sei es aus kulturellen oder sozialen Gründen, in einem Europa, in welchem aristokratische Vernetzungen noch sehr lebendig und wichtig waren.

1. Der Erste Weltkrieg Gegen eine weit verbreitete Meinung war Paris während des Ersten Weltkriegs sehr vorsichtig, was die »Befreiung der Nationalitäten« anbelangt, zumindest bis 1918. Man wollte doch den russischen Alliierten nicht schwächen, und kein Vakuum im Mitteleuropa auf den Ruinen Österreich-Ungarns entstehen lassen, von dem nur Deutschland profitieren hätte können. Was die k. u. k. Monarchie anbelangt, war die bevorzugte Lösung, sogar 1917 in Geheimgesprächen auf sehr hohem Niveau mit Wien mehrmals erörtert, die Umwandlung in einen Staatenbund, in welchem die Slawen die Oberhand gewinnen würden. Die Zuspitzung der Lage 1918 mit den Brest-Litowsk- und Bukarest-Verträgen (die dem Ansehen Wiens bei den Alliierten sehr schadeten) führte zu einer tiefen Kursänderung der französischen Politik  : Von jetzt an wurde die Unabhängigkeit sowohl Polens wie der Tschechoslowakei angestrebt. Aber der Druck in diese Richtung kam von den Linksparteien und einigen (nicht allen) Publizisten und Diplomaten  : Der Regierungschef Georges Clemenceau war, allen Legenden zum Trotz, viel vorsichtiger. Noch im September und Oktober 1918 versuchte Clemenceau vergeblich, durch Geheimgespräche in Wien zumindest die Bindung zwischen Österreich und Ungarn zu retten, auch wenn die übrigen Völker der k. u. k. Monarchie unabhängig werden sollten. Denn Clemenceau wollte den Weg zum Anschluss verhindern, und, mit seinen vielen Kontakten in und seinen vielen Reisen nach Wien vor dem Krieg, sah er ganz klar ein, dass, falls das Kaiserreich sich auflösen würde, die Österreicher, auf sich selbst gestellt, den Anschluss mit Deutschland ohne Weiteres wählen würden.1 Der Beschluss der Provisorischen Nationalversammlung in Wien vom 12. Novem­ ber 19182 für eine Österreichische Republik, die sich als Bestandteil der Deutschen 1 Louis-Pierre La roche, L’affaire Dutasta  : les dernières conversations diplomatiques pour sauver l’empire des Habsbourg, in  : Revue d’Histoire Diplomatique 108/1, 1994/1, 51–76. 2 Staatsgesetzblatt für den Staat Deutschösterreich, 1918/5, Wien 1918, 4, Artikel 1 und 2.

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Republik sah, und der Begriff »Deutschösterreich« für den Staatsnamen konnten die Befürchtungen in Paris nur bestätigen. Daher verboten die Artikel der Saint-Germain- und Versailles-Verträge den Anschluss Österreichs an Deutschland. Fortan lautete die Parole in Paris  : »Keine Habsburger, kein Anschluss  !«. Die Republik Öster­reich als Nationalstaat war für Paris an sich die richtige Lösung, auch wenn viele Kommentatoren, vor allen Jacques Bainville in seinem berühmten Buch von 1920, Les conséquences politiques de la paix, der Meinung waren, die Erhaltung des österreichischen Kaiserreichs hätte als Gegengewicht gegen Deutschland im Mitteleuropa im Interesse Frankreichs gelegen.3

2. Die verpassten Gelegenheiten der Zwischenkriegszeit Auch wenn ein Grundsatz der französischen Politik nach 1918 war, den Anschluss zu vermeiden, auch wenn beim Zollunionsplan 1931 zwischen Berlin und Wien oder 1934 beim national-sozialistischen Staatsstreichversuch in Wien Frankreich heftig und erfolgreich (1934 doch weitgehend dank des entscheidenden Vorstoßes Italiens) reagierte, war Paris nicht auf die bloße Erhaltung des Status quo von 1919 fixiert. Zunächst einmal verstand man in Paris schon Ende 1918, dass das neue Österreich wirtschaftlich gesehen kaum lebensfähig wäre. Deswegen gestattete der Vertrag von Saint-Germain die Möglichkeit einer Zollunion zwischen den Nachfolgestaaten (Artikel 222), und er bewahrte die österreichischen Besitzer und Gesellschaften vor einem Zwangsverkauf ihres Vermögens in den Nachfolgestaaten (Art. 267, gegen die ursprüngliche Fassung des Vertrags, die für die österreichischen Besitzer viel ungünstiger war, und im Unterschied zum Versailler Vertrag). Es ging sehr bewusst um die Erhaltung der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit des Donauraums gegen die Gefahr einer deutschen Durchdringung. Diese Politik wurde später weitergeführt, bis zum »Tardieuplan« 1932, nach dem Namen des damaligen Ministerpräsidenten André Tardieu, zur wirtschaftlichen Sanierung des Donauraums dank einer Zollunion der Nachfolgestaaten (selbstverständlich als Antwort zum Zollunionsprojekt vom Jahr zuvor, das eine harte Reaktion von Paris gegen Berlin und Wien auslöste).4 Aus gleichen Gründen spielte Frankreich eine maßgebende Rolle bei der finanziellen Hilfsaktion des Völkerbundes für Wien, ab 1921 bis zur Völkerbundanleihe 1932  : Es ging um die Rettung der Finanzen und der Wirtschaft Österreichs, und daher um die Rettung seine Unabhängigkeit.5 3 Georges-Henri Sou tou, La Grande Illusion. Quand la France perdait la paix 1914–1920, Paris 2015. 4 Jacques Ba riét y u. a., Aristide Briand, la Société des Nations et l’Europe  : 1919–1932, Strasbourg 2007. 5 Sy lva in Schirm a n n, Crise, coopération économique et financière entre Etats européens, 1929–1933, Paris 2000. Georges-Henri Sou tou, Le deuil de la puissance (1914–1958), in  : Jean-Claude Allain – Pierre

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Auch politisch gesehen war die Haltung Paris’ nicht immer nur auf eine starre Bewahrung des Status quo fixiert, und nicht immer im Einklang mit Prag, auch wenn feststeht, dass die Tschechoslowakei für Frankreich eine Vorrangstellung als ideologisches Musterkind und als Sicherheits- und Wirtschaftspartner hatte. Es wurde zum Beispiel oft behauptet (m. E. mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit), 1921 wäre der damalige Ministerpräsident Aristide Briand nicht unbedingt gegen die Rückkehr König Karls nach Budapest gewesen. In der Zeit des Ruhrkampfs 1923, als Paris wieder bereit war, die Einheit des Deutschen Reiches in Frage zu stellen, spielten einige Kreise innerhalb der französischen Verwaltung mit dem Gedanken, Bayern von Berlin zu trennen und mit Österreich zu verbinden, um ein »katholisches« Gegengewicht zu Berlin zu schaffen. Alles das geschah nicht unbedingt aus Liebe für Österreich, sondern als Sicherung gegen einen möglichen Anschluss.6 Das alles fand aber vor 1934 statt, das heißt, vor der Umwandlung Österreichs in einen »Ständestaat« und vor der Niederwerfung des sozialdemokratischen Aufstands dieses Jahres. Paris versuchte, die Regierung Dollfuss zu einer mäßigen Reaktion umzustimmen, diese Bemühung war aber weitgehend vergeblich. Danach zeigte sich eine ideologische Kluft zwischen den französischen politischen Kreisen (man sprach von »Austrofaschismus«) und Wien. Das erklärt weitgehend die Tatsache, warum die Reaktion Frankreichs beim Anschluss 1938 sehr zurückhaltend war, insbesondere im Vergleich mit der heftigen Reaktion 1931 gegen die damals angekündigte Zollunion zwischen Berlin und Wien.

3. Frankreich und der Anschluss 1938 Was waren die Gründe dieser, zumindest strategisch gesehen, erstaunlichen Zurückhaltung  ? Wegen der Zerstörung des Archivs im Quai d’Orsay kurz vor dem Einmarsch der Wehrmacht in Paris Juni 1940 ist die Quellenlage ungünstig  : Die innersten Vorgänge innerhalb des Quai d’Orsay und der Regierung sind nicht mehr mit Sicherheit zu rekonstruieren. Die Memoiren des Botschafters in Wien, Gabriel Puaux,7 sind deshalb noch heute sehr wichtig. Mit seiner Betonung, Bundeskanzler

Guillen – Georges-Henri Soutou – Laurent Theis – Maurice Vaïsse (Hg.), Histoire de la Diplomatie française, présentation de Dominique de Villepin. De 1815 à nos jours, Bd. 2, Paris 2005, 287–426. Ders., L’impérialisme du pauvre  : la politique économique du gouvernement français en Europe centrale et orientale de 1918 à 1929, in  : Relations Internationales 7, 1976, 219–239. 6 Georges-Henri Sou tou, La France et le problème de l’unité et du statut international du Reich, 1914– 1924, in  : Ders. – Jean-Marie Valentin (Hg.), Le statut international de l’Allemagne. Des traités de Westphalie aux accords »2+4«, Paris 2004, 745–793. 7 Ga briel Puaux, Mort et tranfiguration de l’Autriche 1933–1955, Paris 1966.

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Kurt von Schuschnigg benötige dringend eine tatkräftige Hilfe, vertrat er aber nur eine Minderheitsmeinung.8 Ein Runderlass von Außenminister Yvon Delbos vom 12. März 1938, der als Regelung der Sprache für die Vertretungen im Ausland verfasst wurde, gibt die amtliche Erklärung und Rechtfertigung der französischen Regierung wieder  : Paris sei gegen den Anschluss untätig geblieben, weil Großbritannien und Italien gegen den deutschen Beschluss, Österreich anzugliedern, nicht reagieren wollten  ; Paris habe nicht allein handeln können  ; die übrigen Staaten in Mitteleuropa hätten nur mangelnde Solidarität mit Wien gezeigt  ; Frankreich sei Österreich gegenüber nicht vertraglich gebunden und sei daher zur Intervention nicht verpflichtet  ; die Sache wäre aber ganz anders, »wenn die deutsche Expansion Staaten angreifen sollte, mit denen wir vertraglich verbunden sind« (gemeint war die Tschechoslowakei). Dann würde Paris seine Verpflichtungen einhalten. An sich leuchtet diese Erklärung ein  : 1931 war Frankreich noch mächtig genug gewesen, um allein den Zollunionsplan zwischen Berlin und Wien scheitern zu lassen. 1934 war es maßgeblich Italien gewesen, das nach dem Putschversuch in Wien den Anschluss blockierte. Die Folge war 1935 die »Stresa Front« gegen Hitler zwischen Frankreich, Großbritannien und Italien gewesen. Aber schon Juni 1935 hatte sich London mit dem Flottenvertrag mit Berlin von der Stresa Front distanziert, der Krieg in Abessinien zerstörte den Ansatz eines Bündnisses zwischen Frankreich und Italien, der Spanische Bürgerkrieg legte das erste Fundament der deutsch-italienischen Annäherung, nachdem die Tatenlosigkeit von Paris bei der Wiederbesetzung des Rheinlands am 7. März 1936 die Möglichkeit eines militärischen Einsatzes Frankreichs zur Rettung der Friedensverträge in Mitteleuropa stark reduziert hatte. In der Tat stand Frankreich 1938 ohne britische und italienische Unterstützung und ohne die Möglichkeit eines schnellen Einmarschs in das Rheinland hilflos da. Der Runderlass von Yvon Delbos vom 12. März wirft doch viele Fragen auf  : Anders als 1931 wurden diesmal die Verträge von Versailles und Saint-Germain aus 1919 französischerseits nicht hochgespielt. Sie hatten doch den Anschluss feierlich untersagt. Offensichtlich wollte Paris diesmal dieses Argument nicht mehr verwenden  : Weil es politisch nicht opportun erschien (wegen London und Rom)  ? Oder wegen der fortschreitenden Delegitimierung der Friedensverträge durch die revisionistischen Strömungen, auch in Frankreich, seit Anfang der dreißiger Jahren  ?

8 Jacques Ba riét y, La France et le problème de l’»Anschluß«. Mars 1936 – mars 1938, in  : Klaus Hildebrand – Karl Ferdinand Werner – Karl Manfrass (Hg.), Deutschland und Frankreich 1936–1939. 15. Deutsch-französisches Historikerkolloquium des Deutschen historischen Instituts Paris (Bonn, 26.– 29. September 1979), München–Zürich 1981, 553–574  ; Thom as A ngerer, Die französische Österreichpolitik vor dem »Anschluss« 1938, in   : Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 40, 1992/1, 29–59.

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Oder sogar wegen einer schleichenden Akzeptanz der völkischen Auffassung (alle »Deutschen« gehören zusammen) gegen die nationalstaatliche europäische Ordnung und die Tradition der französischen Außenpolitik  ? Viel deutet auch darauf hin, dass viele Kreise 1940 bereit waren, eine »Neuordnung Europas« unter deutsche Führung zu akzeptieren.9 Eine wesentliche Frage war, ob es wirklich unmöglich war, dass Italien sich noch einmal, wie 1934, für Österreich einsetzen würde. Bei den damaligen französischen Darstellungen und Überlegungen war die italienische Haltung der springende Punkt bei der Krise (viel mehr als die britische, über die man sich überhaupt keine Illusio­ nen machen konnte). Und die meisten Verantwortlichen (abgesehen von Puaux in Wien und einigen Politikern, die aber in der Opposition zur »Volksfrontregierung« in Paris standen) glaubten, es wäre zu spät, und Mussolini hätte sich mit Hitler endgültig verbunden. Hätte man aber doch 1938 Mussolini noch gewinnen können  ? Über diese Frage streiten sich die Historiker noch heute. Aber eines steht fest, 1938 wurde in Paris der Versuch, in den Wochen vor dem Gipfel der Krise, sich mit Mussolini grundsätzlich über Österreich zu verständigen, überhaupt nicht erwogen. Obwohl Botschafter Puaux in Wien einen solchen Schritt als den einzig nützlichen betrachtete. Aber diese Fragen ermuntern uns, nach tieferen Gründen der französischen Haltung zu suchen. Außenminister Yvon Delbos und Verteidigungsminister Edouard Daladier erkannten die Gefahr für das Gleichgewicht in Europa, sie stellten aber die Lösung dieses Problems nur im Rahmen der kollektiven Sicherheit, das heißt im Einvernehmen mit London und Rom und durch Verhandlungen mit Berlin. Und sie engten die militärischen Pflichten Frankreichs, den eigentlichen Kriegsfall, peinlichst ein  : Frankreich würde seine Allianzpflichten erfüllen, aber nur zugunsten der Staaten, mit denen Paris mit richtigen Allianzverträgen verbunden war. Das schloss Österreich aus. Ministerpräsident Camille Chautemps (der Nachfolger Léons Blum als Leiter der Volksfront-Regierung) und Finanzminister Georges Bonnet standen eigentlich auf der Linie des »Appeasements« von Chamberlain und waren noch vorsichtiger als Delbos oder Daladier. Ende Oktober oder Anfang November 1937 hatte Franz von Papen, damals deutscher Botschafter in Wien, insgeheim in Paris Chautemps und Bonnet besucht. Beide Männer äußerten ihren Wunsch, sich mit Deutschland in einem europäischen Rahmen zu verständigen. Sie waren bereit, sowohl eine Vertiefung der wirtschaftlichen und kulturellen Bindungen zwischen Deutschland und Österreich anzunehmen, als auch eine ausgedehnte Autonomie für das Sudetenland. Die einzige Bedingung war, dass diese Entwicklung ohne Gewalt und »ohne Überra9 Georges-Henri Sou tou, Europa  ! Les projets européens de l’Allemagne nazie et de l’Italie fasciste, Paris 2021.

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schung« stattfinden sollte. Dabei kann man selbstverständlich ein schlechtes Gewissen der Franzosen gegenüber den Bestimmungen von Versailles und Saint-Germain feststellen. Hitler hatte es verstanden, die Rhetorik des Selbstbestimmungsrechts der Völker umzudrehen, und die revisionistische Propaganda, sehr verbreitet in Frankreich seit Anfang der dreißiger Jahren, war nicht erfolglos geblieben. Aber den tieferen Grund soll man wahrscheinlich anderswo suchen. In seinen Memoiren machte Gabriel Puaux keinen Hehl daraus, dass er überzeugt war, dass die Kirche, der christliche Ständestaat von Dollfuss und Schuschnigg, und die habsburgtreuen Legitimisten die drei Säule der österreichischen Unabhängigkeit waren, nicht bedingungslos, aber unter den damaligen Umständen. Aber das war für die Volksfront in Paris unannehmbar  : Die Sozialisten hatten den sogenannten »Austrofaschisten« die Niederwerfung des Aufstands 1934 nie verziehen, denn sie standen ihren österreichischen Genossen besonders nah, die gemäßigten fürchteten die restaurativen Vorstellungen von Schuschnigg. Und niemand war in den Regierungskreisen oder in der Verwaltung bereit, den »Klerikalismus« und einen Ständestaat zu unterstützen. Die Unabhängigkeit Österreichs zu wahren blieb an sich wünschenswert. Aber im Rahmen des »Christlichen Ständestaats«, gegebenenfalls dank einer Restauration der Habsburger oder mit Anlehnung Wiens an das faschistische Italien, war dies für Paris damals keine Option.

4. Der Zweite Weltkrieg Interessanterweise war die französische Regierung nach Kriegsanfang und bis zur Niederlage im Juni 1940 über den Fall Österreichs sehr zurückhaltend  : Im Unterschied zur Tschechoslowakei wurde die Wiederherstellung Österreichs nicht eindeutig als Kriegsziel erwähnt.10 Die Erfahrung seit 1919 zeigte, dass Saint-Germain vielleicht nicht die bestmögliche Lösung gewesen war. Ab 1943 schwebten bei der Algier-Regierung der »France Libre« andere Vorstellungen, sie mündeten in die Richtlinien vom 30. Oktober 1943, die eine Donaukonföderation vorsahen. Man darf annehmen, dass die französischen Diplomaten einfach die Lösung, die Paris 1918 bis 1920 vorgeschwebt war, wieder aufgriffen  : eine politische Trennung zwischen Berlin und Wien, aber mit dem Aufbau eines lebensfähigen Wirtschaftsraums an der Donau.11 10 R aymond de Sa inte-Suza n ne, Une politique étrangère. Le Quai d’Orsay et Saint-John Perse à l’épreuve d’un regard, Paris 2000, 182. 11 Hiezu und zum Folgenden siehe auch Georges-Henri Sou tou, Paris zwischen Angst vor einem neuen »Anschluss« und Schwärmerei für eine europäische Neuordnung, in  : Stefan Karner – Alexander O. Tschubarjan (Hg.), Die Moskauer Deklaration 1943. »Österreich wieder herstellen«, Wien 2015, 109–120.

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Aber diese Richtlinien waren gleich Makulatur. Bekanntlich war Frankreich bei der Moskauer Dreierkonferenz Ende Oktober 1943 nicht vertreten.12 Zufällig hatte das CFLN in Algier gerade einen Tag vor der Moskauer Erklärung vom 1. Novem­ ber 1943, aber ohne die mindeste Ahnung dieser, die Grundlinien für die Außenpolitik Frankreichs nach dem Kriege festgesetzt und mit einem Runderlass den Vertretungen im Ausland bekannt gemacht.13 Was Österreich anbelangt, hielt die Richtlinie vom 30. Oktober fest  : »Ein unabhängiges Österreich innerhalb einer Donaukonföderation.« Fast zwei Jahre später aber, im Sommer 1945, lautete die erste Direktive zur französischen Politik in Österreich deutlich anders  : »Das wesentliche Ziel unserer Politik besteht darin, ein unabhängiges, vollkommen von Deutschland losgelöstes und wirtschaftlich lebensfähiges Österreich zu schaffen.«14 Österreich »wirtschaftlich lebensfähig« zu halten war für die Franzosen die Gretchenfrage. Wenn nicht lebensfähig, würde sich Österreich früher oder später nach Berlin wenden. Das war der Grund des Konzepts einer Donauföderation, das in Paris schon 1920 und 1932 kurz ventiliert worden war. Aber jetzt sollte dieses Ziel der wirtschaftlichen Unabhängigkeit ohne eine solche Föderation erreicht werden. Was war inzwischen passiert  ? Die Franzosen waren über die Dreierkonferenz überhaupt nicht orientiert und wurden von der Moskauer Deklaration überrascht. Was tun  ? Die Algier-Regierung war sehr vorsichtig. Man konnte nicht einfach schweigen, weil sonst sowohl London als auch Moskau die Zukunft Österreichs in ihrem jeweiligen Interesse und ohne Abstimmung mit Frankreich mitprägen würden.15 Und die österreichischen »Patrioten« würden sich von Frankreich abwenden.16 Andererseits war die Moskauer Deklaration für die Unabhängigkeit mit dem französischen Begriff einer Donauföderation nur schwer vereinbar. Deswegen begnügte man sich mit einer knappen Erklärung erst am 17. November 1943  : »Nach Kenntnisnahme (der Moskauer Erklärung) betont das CFLN, Frankreich hat immer Stellung für die Unabhängigkeit Österreichs bezogen [was nicht stimmte]. Das Comité hegt keinen Zweifel, dass die österreichischen Patrioten der Sache ihrer Unabhän-

12 Herbert Feis, Churchill, Roosevelt, Stalin, Princeton 1957, 213f. 13 R ené M assigli, Une comédie des erreurs 1943–1956, Paris 1978, 37ff. 14 Comité interministériel des affaires allemandes et autrichiennes, »Directives pour notre action en Autriche«, 19.7.1945, MAE, Série Z, Europe 1945–1949, Autriche, Bd. 8  ; auch zitiert in K l aus Eisterer, Französische Besatzungspolitik  : Tirol und Vorarlberg 1945/46, Innsbruck 1991, 17. 15 MAE, Alger, Bd. 1422, Aufzeichnung von Lamarle, dem zuständigen Diplomaten im Commisariat aux Affaires étrangères, am 16.11.1943. 16 Ebd., Brief von Massigli, Commissaire aux Affaires étrangères, an den Innenminister d’Astier de la Vigerie am 20. November.

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gigkeit dienen werden, indem sie selbst für die Befreiung und die Wiedergeburt ihres Landes wirken werden.«17 Das bedeutet, die Regierung in Algier hegte eben große Zweifel am Unabhängigkeitswillen der Österreicher  ! In den folgenden Monaten, bis zur Libération, blieb Massigli, Kommissar für auswärtige Angelegenheiten in Algier, bei der gleichen vorsichtigen Haltung. Charles de Gaulle selber blieb zurückhaltend. Am 8. März 1944 verfasste er eine Erklärung für den kommenden Jahrestag des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich  : »Unter das deutsche Joch gebeugt, seines nationalen Lebens unter Verkennung seiner glorreichen Geschichte beraubt, bleibt Österreich dasselbe. Es wartet auf die Stunde der Demokratie, die die Stunde des Sieges sein wird. Es möge sie vorgreifen. Möge sein Volk in den Kampf gegen die Tyrannen Europas treten  : Österreich wird der Welt beweisen, dass die Österreicher Österreichs würdig bleiben.« Diese Erklärung hatte mehr Stil und mehr historisches Mitgefühl als die Erklärung des CFLN vom 17. November, doch war es ein eher abwartender Text.18 Die Österreicher sollten zunächst einmal beweisen, dass sie keine Deutschen waren. Noch Ende 1943 wurde die Donaukonföderation in Algier ernsthaft erwogen.19 Gewisse Kreise dachten eindeutig noch an eine weitere Lösung, an einen Zusammenschluss von Österreich und Bayern, um ein katholisches Gegengewicht gegen Norddeutschland aufzubauen. Diese Lösung war schon 1923 in Paris erwogen worden. Sie wird in einem langen Bericht des Geheimdienstes der France Libre (Bureau Central de Renseignements et d’Action) am 9. November 1943 erwähnt. Das Dokument berichtet von einer Gruppe um einen bayerischen Separatisten und von Graf Hyazinth Strachwitz.20 Diesen Gedanken hing man wahrscheinlich länger an. Mein Vater, Jean-Marie Soutou, war 1945 Pressereferent bei der französischen Botschaft in Bern. Er erzählte gern von den mysteriösen Machenschaften seitens französischer Geheimdienstleute, die von der Schweiz aus eine Art »Alpenland« fördern wollten.21 Es wurde 1944 aber allmählich klar, dass weder die Sowjets noch die Tschechen eine Donauföderation, mit einer Vermittlerrolle für Wien, dulden würden.22 Ab Frühling 1944 wurde es Algier mehr und mehr klar, dass sowohl Moskau als auch Edvard Beneš für Österreich die Errichtung einer Volksdemokratie anvisierten. Die 17 MAE, Alger, Bd. 1422. 18 MAE, Alger, Bd. 1423. 19 Ebd., Bericht von Dejean (4.12.1943). Siehe auch ein Telegramm von Dejean nach einem Gespräch mit dem Tschechen Ripka in London, das verhältnismäßig optimistisch ist (9.12.1943). 20 Ebd., Bd. 1422. 21 Jürgen K löck er, Abendland – Alpenland – Alemanien. Frankreich und die Neugliederungsdiskussion in Südwestdeutschland 1945–1947, München 1998, 123–139. 22 MAE, Alger, Bd. 1423, Brief Jean Chauvel, politischer Direktor, an General Beynet, Delegierter in Beyrouth, m Juli 1944.

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Sowjetunion wollte das künftige Österreich kontrollieren, und viele Exilösterreicher waren aus ideologischen Motiven damit eigentlich einverstanden.23 Nach dem Höhepunkt der französisch-sowjetischen Annäherung, die im Pakt vom 10. Dezember 1944 gipfelte, wurden die Franzosen aus verschiedenen Gründen sehr schnell von Moskau enttäuscht. Ab Frühling 1945 waren die Verantwortlichen in Paris überzeugt (auch wenn dies nicht öffentlich geäußert wurde), dass die Sowjet­ union kein Partner für Frankreich sein würde, sondern, wegen seiner Machtstellung in Ost- und Mitteleuropa und seiner Ambitionen Westeuropa gegenüber, ein schwerwiegendes Problem.24 Was Österreich speziell anbelangt, so hinterließ die einseitige Anerkennung der ersten österreichischen Regierung Renner im Frühling 1945 durch Moskau einen sehr schlechten Eindruck  : »Die Regierung Renner hat den Anschein einer sowjetischen Schöpfung und ist nicht imstande, die Mehrheit des österreichischen Volkes zu vertreten«.25

5. Französische Besatzungszonen in Deutschland und Österreich und strategische Momente Am 12. August 1944 steckte de Gaulle die französische Deutschlandpolitik ab  : Das Rheinland müsse ständig französisch besetzt sein, das Ruhrgebiet müsse internationalisiert, das Reich dezentralisiert werden und eine »westliche Militärgrenze« 100 Kilometer östlich des Rheins aufweisen. Österreich war davon nicht tangiert. Am 1. Februar 1945 wurden diese Pläne verfeinert  : Die Besetzung sollte sich bis in die Nähe von Eisenach, vor allem bis nördlich einer Linie Metz – Eisenach, ausdehnen, um selbstverständlich Deutschland in Richtung Berlin zu kontrollieren, aber auch deshalb, um der sowjetischen Anwesenheit in Ostdeutschland Rechnung zu tragen. Diese Pläne berücksichtigten jetzt auch Süddeutschland und Österreich, aber diese Gebiete wurden weniger tangiert (nur eine befristete Besatzung war vorgesehen), der Schwerpunkt lag immer noch im Norden. Aber in den folgenden Monaten beharrten die Engländer auf Köln, die Amerikaner auf Frankfurt und auf den Verbindungen zwischen ihrer Zone und Bremen. So wurde der Schwerpunkt der französischen Besatzung, ursprünglich im Norden vorgesehen, deutlich nach Süden verlagert, und zwar nach Baden-Württemberg und 23 MAE, Alger, Bd. 1423, Telegramm Dejean aus London (11.3.1944)  ; ebd., Telegramm Viénot (17.3. 1944)  ; ebd., Aufzeichnung des Commissariat pour les Affaires étrangères in Alger (8.5.1944) über die pro-sowjetische Tätigkeit des »Free Austrian Movement« (mit Randvermerk von Massigli  : »Interessant. General de Gaulle vorzeigen.«). 24 Georges-Henri Sou tou, Le général de Gaulle et l’URSS, 1943–1945. Idéologie ou équilibre européen, in  : Revue d’Histoire diplomatique 108/4, 1994/4, 303–355. 25 »Directives pour notre action en Autriche«, 19.7.1945, in  : DDF, 1945/2, n° 52, Paris 2000.

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Tirol-Vorarlberg  ; die dauerhafte und nicht mehr zeitbegrenzte Besetzung entsprach auch dem Potsdamer Abkommen. Wenn man sich die Karte ansieht, so bildeten die Besatzungszonen am Rhein und in Tirol-Vorarlberg jetzt einen Block und eine defensive Stellung, sowohl gegen eine etwaige Wiedergeburt Deutschlands als auch gegen eine mögliche sowjetische Bedrohung. Bezeichnenderweise waren beide Besatzungszonen derselben Behörde in Paris unterstellt  : dem »Comité interministériel des affaires allemandes et autrichiennes«.26 Frankreich hatte jetzt ein direktes und eigenes Interesse an der Entwicklung der Lage in Österreich. Eine ehrgeizige Neuordnung im Donauraum, um die Fehler von 1919 und 1920 zu beheben, stand nicht mehr auf der Tagesordnung.27 Es ging nicht mehr um ein Wiederanknüpfen an die französische Einflusspolitik in Mitteleuropa vor 1938, es ging jetzt schlicht darum, sowohl eine deutsche als auch eine sowjetische Vorherrschaft in Österreich zu vermeiden.28 Das besetzte Rheinland und Tirol bildeten dafür einen nützlichen »strategischen Winkel«, um einen Ausdruck der französischen Strategen von damals zu verwenden.29

6. 19. Juli 1945  : die neue Marschroute wird festgesetzt Offensichtlich hatte de Gaulle seine Meinung geändert  : 1943 stand er dem Unabhängigkeitswillen der Österreicher skeptisch gegenüber. 1945 aber war er überzeugt, dass diese Unabhängigkeit sowohl nötig als auch möglich war. Frankreich sollte aber vorsichtig bleiben und durch seine Besatzungszone fähig sein, die Lage in Österreich mitzugestalten. Am 19. Juli 1945 verabschiedete das Generalsekretariat des »Comité interministériel des affaires allemandes et autrichiennes« Direktiven für die französische Politik Österreich gegenüber.30 Die austro-bayerische Option wurde jetzt ausdrücklich verworfen, denn sie würde langfristig in eine neue deutsche Einigung münden, dieses Mal vom Süden nach Norden. Die Donauoption, eine Donauföderation unter Österreich, Ungarn und der Tschechoslowakei, war nicht mehr erwünscht oder 26 DDF, 1945/2, »Note de la Direction générale des affaires politiques sur l’Administration française en Autriche«, 8.8.1945, n° 95. 27 De Gaulle et la nation face aux problèmes de défense 1945–1946. Colloque organisé par l’Institut d’Histoire du Temps Présent et l’Institut Charles de Gaulle les 21 et 22 octobre 1982, Paris 1983, 227–229 (mit Karten). 28 DDF, 1945/2, n° 274, Aufzeichnung (28.10.1945). 29 Zum Begriff des »strategischen Winkels« vgl. Georges-Henri Sou tou, De Lattre et les Américains, 1946–1949. L’Alliance avant l’Alliance, in  : Jean de Lattre et les Américains, colloque des 26 et 27 mars 1994, hg. v. Commission d’Histoire de l’Association »Rhin et Danube« et Centre d’Histoire nord-américaine de l’Université de Paris I, Paris 1995. 30 DDF, 1945/2, n° 52 (19.7.1945).

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machbar  : Die Bedingungen, insbesondere unter der sowjetischen Vorherrschaft in Mitteleuropa, waren ganz anders als 1920. Die einzige Lösung war die Unabhängigkeit Österreichs. Es kam hiezu, denn das Comité kam bald zum Schluss, die österreichische Wirtschaft könnte, gegen frühere Einsichten, ausbalanciert werden und innerhalb der Grenzen des Landes gedeihen, ohne eine Donauföderation.31 Diese Feststellung setzte den regelmäßig wiederkehrenden französischen Vorstellungen seit 1918 ein Ende.

7. Nach 1945 Nach 1945 war das Ziel der französischen Politik gegenüber Österreich klar  : Das Land sollte endgültig unabhängig und lebensfähig sein, zunächst einmal Deutschland gegenüber  : Der Anschluss sollte definitiv unmöglich gemacht werden. Dabei achtete Paris nach dem Krieg besonders scharf auf die wirtschaftliche Unabhängigkeit Wiens. Aber darüber hinaus wurde in Paris sehr früh klar, dass Osteuropa von der Sowjetunion beherrscht sein würde. Österreich könnte dann eine Art Eingangstor nach Osteuropa bilden, auch in kultureller Hinsicht (worin große Anstrengungen sehr früh gemacht wurden). Deswegen stand Paris für eine baldige Lösung der österreichischen Frage durch einen Vertrag mit den vier Besatzungsmächten ein. An sich war der Entwurf des Vertrags schon 1947 unterschriftsreif, aber die Sowjetunion widersetzte sich. Nach Stalins Tod 1953 änderte sich die Lage allmählich. Besonders gut informiert, dank der engen Beziehungen zwischen Louis Joxe, dem französischen Botschafter in Moskau, und seinem österreichischen Kollegen Norbert Bischoff, spürte Paris die Wendung in Moskau sehr früh, bereits Anfang 1955. Diese Wendung hatte man erhofft und seit dem Sommer 1954 erwartet. Denn die neue Regierung von Pierre Mendès France war weniger »atlantisch« gesinnt als ihre Vorgängerinnen und wünschte eine Entspannung in Europa. Man fürchtete insbesondere, die Vereinigten Staaten und Großbritannien könnten versucht werden, ihre Besatzungszonen in Österreich dem NATO-Gebiet anzugliedern. Darüber hinaus fürchtete man immer noch die Möglichkeit eines Anschlusses mit einer wiedererstarkenden BRD.

8. Die Rolle Frankreichs beim Staatsvertrag Die Franzosen waren mit den Sowjets darüber einig, dass die westlichen Zonen Öster­reichs nicht der NATO eingegliedert werden sollten und es keinen Anschluss 31 DDF, 1945/2, n° 184, Wirtschaftliche Direktiven für Österreich, September 1945.

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geben dürfe. Dabei spielten zwei Momente der französischen Politik mit  : ein andauerndes Misstrauen Deutschland gegenüber und der Wunsch, den Kalten Krieg so vorsichtig wie nur möglich zu führen und den Geist des »Atlantismus« in gewissen Schranken zu halten.32 Es kam hinzu, dass Mendès France ein Gespräch mit Moskau und, wenn möglich, einen Ost-West-Gipfel anbahnen wollte, um die schwierige Ratifizierung der Pariser Abkommen (als Ersatz zur gescheiterten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, mit Wiederbewaffnung Deutschlands im Rahmen der NATO) durch das französische Parlament zu erleichtern. Denn viele Politiker wollten nicht, dass die deutsche Wiederbewaffnung bewilligt werde, ohne davor einen letzten Versuch unternommen zu haben, mit Moskau zu verhandeln. Der Ministerpräsident wollte die neutralistischen Tendenzen vieler Kreise in Frankreich mit seiner Erläuterung einer Verhandlungsbereitschaft mit Moskau auffangen und kontrollieren. Darüber hinaus wollte Mendès France den Ost-West-Konflikt von einer militärischen Konfrontation zum friedlichen Wettbewerb zwischen den zwei wirtschaftlichen und sozialen Systemen überführen. An das später oft beschworene Thema der »Konvergenz der Systeme« dachte er schon. Deshalb dachte er auch an die Errichtung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems. So ein System hätte noch den Vorteil gehabt, eine starke Begrenzung der deutschen Wiederaufrüstung zu ermöglichen. Zwar blieb Mendès France dem Westen treu und wollte die BRD im Westen »fest anketten«. Er wollte aber das Packeis des Kalten Krieges brechen. Dafür gewann aus seiner Sicht der Staatsvertrag eine zentrale Bedeutung, auch dank der Ratschläge Jean Chauvels, damals Botschafter in Bern. Deswegen schlug Mendès France vor der Generalversammlung der Vereinigten Nationen am 22. November 1954 ein ausgedehntes Programm vor. Es enthielt drei Hauptpunkte  : die Berufung einer Gipfelkonferenz im Frühling 1955 (das führte letztes Ende tatsächlich zur Genfer Konferenz im Juli dieses Jahres)  ; ein Rüstungskontrollabkommen zwischen West- und Osteuropa  ; und die Verabschiedung des Staatsvertrags. Dafür schlug Mendès France eine Kompromisslösung vor  : Die fremden Truppen würden innerhalb von zwei Jahren nach der Unterzeichnung des Vertrags Österreich räumen. So würden die Sowjets doch das Land verlassen müssen, aber mit einer nicht bedeutungslosen Frist. An diesem Punkt waren seit Jahren die Verhandlungen gescheitert. Dieser Vorschlag wurde mit der Wiener Regierung eingehend besprochen, durch den Botschafter in Bern Jean Chauvel Anfang November, direkt zwischen Mendès 32 Pierre Ja r din, »Österreich wird frei«  : le traité d’État autrichien du 15 mai 1955, in  : Relations internationales 71, automne 1992, 311–325. Georges-Henri Sou tou, Der österreichische Staatsvertrag in der internationalen Politik, in  : Arnold Suppan – Gerald Stourzh – Wolfgang Müller (Hg.), Der österreichische Staatsvertrag 1955, Wien 2005.

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France und Bundeskanzler Julius Raab am 25. November in Washington und dann wieder Mitte Dezember in Paris. Die Rede des französischen Ministerpräsidenten wurde in Wien mit Begeisterung aufgenommen. Zwar gingen die Sowjets nicht gleich darauf ein, aber Edgar Faure, Nachfolger von Mendès France ab Februar 1955, behielt die gleiche Linie bei. Dank der Initiative von Paris war der Staatsvertrag in den Mittelpunkt der Entspannungsbestrebungen gerückt. Und er verankerte endgültig die Existenz eines freien Österreichs. Das richtige Österreich, aus französischer Sicht  !

DIE H A BSBU RGER

Georg Heilingsetzer, Linz*

Privatbriefe als Quellen zur Geschichte der Habsburger Zwei Beispiele aus dem 17. Jahrhundert

Dass Privatbriefe eine erstklassige Quelle für historische – nicht nur rein biographische – Untersuchungen darstellen können, ist schon vielfach bewiesen worden und bedarf daher keiner weiteren Begründung. Es wurde aber berechtigterweise auch die Frage aufgeworfen, ob dem Brief als historischer Quelle genug Beachtung geschenkt würde,1 und das scheint auch heute noch gültig. Denn die archivalische Überlieferung ist oft lückenhaft – meist sind auch nur die Briefe im Empfängerarchiv zu finden und die Antworten nicht vorhanden – und es bedarf auch genauer Informationen sowohl über die Person des Briefschreibers, aber auch die des Adressaten. Innerhalb der Gattung »Brief« stellen die Privatbriefe noch ein besonderes Spezifikum dar, denn hier treten meist nahe Verwandte oder enge Freunde in einen Dialog, der es ermöglicht, Dinge zur Sprache zu bringen, die in amtlichen Schriftstücken nicht enthalten sind. Hier handelt es sich dann um die Übermittlung von Neuigkeiten (»Zeitungen«), auch Tratsch, oder um die ganz persönliche Einschätzung bestimmter Ereignisse, Zustände und vor allem Personen.2 Oft enthält ein solcher Brief auch Ausdrücke von Gefühlen und Eindrücken, wodurch er eine besondere Bedeutung gewinnt. Selbstverständlich ist zunächst festzustellen, ob die betreffenden Schriftstücke auch echt sind, das heißt, ob sie auch wirklich vom angegebenen Absender stammen. Meist greift man nicht auf Privatbriefe zurück, wenn man Material zu bestimmten Themen sucht, es sei denn, dass es sich um Biographien handelt. Im Oberösterreichischen Landesarchiv befinden sich auch mehrere größere Herrschaftsarchive, wobei hier das Starhembergische Familienarchiv an erster Stelle zu nennen ist. Dieses zeichnet sich vor allem im sogenannten »Bestand Riedegg« durch eine umfangreiche und inhaltlich bedeutende Sammlung von Korrespondenzen aus. Diese sind gegliedert in Briefe der Starhemberger und Briefe der »Fremden«, wel* Abkürzungen  : OÖ  : Oberösterreich. 1 Irmtr au t Schmid, Der Brief als historische Quelle, in  : Christoph König – Siegfried Seifert (Hg.), Literaturarchiv und Literaturforschung, Aspekte neuer Zusammenarbeit, in  : Literatur und Archiv Bd. 8, München 1996, 105–116, hier 105. und Dies., Briefe, in  : Friedrich Beck – Eckart Henning (Hg.), Die archivalischen Quellen. Eine Einführung in ihre Benutzung, Weimar 1994, 99–106. 2 Vgl. Peter Bürgel, Der Privatbrief. Entwurf eines heuristischen Modells, in  : Deutsche Vierteljahrsschrift 50, 1976, 281–297.

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che zeitlich vom 14. bis zum 19. Jahrhundert reichen. Diesem Bestand sind die beiden Beispiele entnommen, die näher betrachtet werden sollen.3 Zunächst kommt ein Mann zu Wort, der am Hof Ferdinands III. eine gewisse Rolle spielte  : Heinrich Wilhelm Starhemberg (1593–1675). Er wurde als Sohn eines calvinischen Freiherrn im protestantischen Sinn erzogen und verbrachte einige Jahre in Genf, der Stadt Calvins, bevor er nach Italien ging, um dort, in Padua, juristische Kenntnisse zu erwerben und die italienische Sprache und Kultur kennen zu lernen.4 Zunächst noch als Protestant im Dienste der Stände tätig, strebte er jedoch eine Karriere im Hofdienst an und dazu musste er Katholik werden. Nach seiner Konversion zu Beginn des Jahres 1630 ging es rasch bergauf  : Ein Jahr später heiratete er Susanna von Meggau, eine Tochter des einflussreichen und zeitweise mächtigen Geheimen Rates Ferdinands II., Leonhard Helfrid Graf Meggau (1577–1644), der einen großen Besitz angehäuft, aber keine männlichen Erben hatte. Dabei hatten der bedeutende Staatsmann Maximilian Graf Trauttmansdorff (1584–1650) und auch Graf Wilhelm Slawata (1572–1652) ihre Hände als Vermittler im Spiel, und Trauttmansdorff war es auch, der ihn dem Thronfolger, König und Erzherzog Ferdinand, dem späteren Kaiser, empfahl. So finden wir den Starhemberger immer in der Umgebung des Habsburgers, der alle dessen Kriegszüge mitmachte. Als der Thronfolger dann die Nachfolge seines Vaters antrat (1637), wurde Heinrich Wilhelm dessen Obersthofmarschall und bekleidete somit eine der höchsten Würden am Kaiserhof.5 Er war nicht nur für die Organisation und das Funktionieren des Hofstaats, auch bei Reisen, verantwortlich, sondern hatte auch die Gerichtsbarkeit über die Hofbediensteten und das Hofgesinde in seiner Verantwortung. Dafür stand ihm auch ein beachtlicher Beamtenapparat zur Verfügung. Heinrich Wilhelm war zunächst der Einzige von vier Brüdern Starhemberg, der zur katholischen Konfession konvertierte, und überhaupt der erste Starhemberger, der diesen Schritt vollzog. Sein jüngster Bruder Kaspar (1598–1646) allerdings, der zunächst als vehementer Verteidiger des Protestantismus aufgefallen war, wurde unter dem Einfluss der Jesuiten im Jahre 1633 ebenfalls katholisch und heiratete die Schwester seiner Schwägerin, Maria Anna von Meggau. So kam es, dass gerade diese beiden Brüder einen besonders engen Kontakt hatten, da sie die gleichen Interessen und Vorstellungen hatten. Heinrich Wilhelm befand sich aber aufgrund seines Amtes meist in Wien, während Kaspar das Landleben auf den Schlössern genießen 3 Oberösterreichisches Landesarchiv (Hg.), Haus der Geschichte, Die Bestände des Oberösterreichischen Landesarchivs, Linz 1998, 114f. 4 Zu Heinrich Wilhelm Starhemberg  : Georg Heilingsetzer, Heinrich Wilhelm Starhemberg (1593– 1675). Ein oberösterreichischer Adeliger der Barockzeit, phil. Diss. Wien 1970. 5 Vgl. Irmga r d Pa ngerl, Das Obersthofmarschallamt, in  : Michael Hochedlinger – Petr Maťa – Thomas Winkelbauer (Hg.), Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit, Bd. I/1, Wien 2019, 213–221.

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konnte und nur gelegentlich in der kaiserlichen Residenz zu finden war. Das hat dann zu einer ausgedehnten Korrespondenz und einem regen Gedankenaustausch der Brüder geführt, wobei die Themen von wirtschaftlichen Fragen und intimen Mitteilungen und Familienangelegenheiten bis zu politischen Erörterungen reichen. Ferdinand III. setzte nicht nur die Politik und Regierungspraxis seines Vaters in allen Bereichen fort, sondern er entwickelte vielfach auch eigene Vorstellungen. Galt er lange Zeit als »Aschenbrödel« der Geschichtswissenschaft (Geoffrey Parker), so hat sich das geändert, als fast zu gleicher Zeit und voneinander unabhängig zwei wissenschaftliche Biographien erschienen sind, eine von unserem Jubilar und die andere von Mark Hengerer.6 Unmittelbar nach dem Regierungsantritt des Kaisers schrieb Heinrich Wilhelm Starhemberg an seinen Bruder die folgenden Sätze  : »Ihre Kay. May. wollen den ganzen hofstatt und sonderlich die doctores secritarios und cameralisten allen quartall richtig bezallen lassen, herentgegen wollen sie durchauß nicht, daß sie smiralien nemen, noch die parthein wie bishero beschehen aufziehen sollen, und hof zu gott die justitia soll ein besseren weg gewehren. So gibt’s auch in den antecamern und ritterstuben grosse reformationes«.7 Hier haben wir also ein Reformprogramm vor uns, das Ferdinand III. in seinen Anfängen vorgab. Tatsächlich waren am Ende der Regierung seines Vaters die Verhältnisse in der Verwaltung und Justiz ziemlich im Argen und das sollte sich jetzt mit neuen Amtsträgern ändern. Der wichtigste Mann war hier Maximilian Graf Trauttmansdorff (1584–1650), der dem Thronfolger schon seit einiger Zeit nahe gestanden war, darüber hinaus sich aber auch schon im Rahmen der kaiserlichen Politik bewährt hatte. So war ihm auch zu verdanken, dass das Land ob der Enns wieder aus der baye­rischen Pfandschaft gelöst wurde (1628), denn der Graf hatte die Verhandlungen mit Bayern in München zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht. Das wurde auch in Madrid mit Genugtuung zur Kenntnis genommen und der kaiserliche Botschafter in Spanien, Graf Franz Christoph Khevenhiller, meinte gar, Trauttmansdorff hätte es verdient, dass man ihm für diese Leistung ein Denkmal errichte.8 Der Graf galt auch als klug, gewandt, uneigennützig und nicht bestechlich.9 6 Loth a r Höbelt, Ferdinand III. Friedenskaiser wider Willen, Graz 2008  ; M a rk Hengerer, Kaiser Ferdinand III. Eine Biographie, Wien–Köln–Weimar 2012. 7 Heilingsetzer, Heinrich Wilhelm Starhemberg, 60 (nach OÖ Landesarchiv, Linz, Starhemberg-Archiv, Bestand Riedegg, Schachtel 44, Heinrich Wilhelm an Kaspar Starhemberg (20.3.1637). Zitiert auch bei M a rk Hengerer, Kaiserhof und Adel in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Eine Kommunikationsgeschichte der Macht in der Vormoderne (= Historische Kulturwissenschaft, 3), Konstanz 2004, 308, Anm. 1120. 8 H a ns Sturmberger, Adam Graf Herberstorff. Herrschaft und Freiheit im konfessionellen Zeitalter, Wien 1976, 386. 9 Über Trauttmansdorff zuletzt  : Brigit te Lernet, Maximilian von Trauttmansdorff. Hofmann und Patron im 17. Jahrhundert, phil. Diss. Wien 2004.

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Die Korruption ist ja eine Begleiterscheinung der politischen Systeme nicht nur in der Vormoderne.10 Wenn in dem Brief der Ausdruck »Smiralien« gebraucht wird, womit ja Schmiergelder gemeint sind, so ist das ein durchaus gängiger Begriff (wie auch die »Handsalbe«), der schon im Spätmittelalter zu finden ist.11 Fälle von Unterschlagungen großer Herren gab es im 17. Jahrhundert immer wieder, weniger spektakulär waren hingegen die üblichen Gefälligkeiten für kleine Beamte, für die das ja ein Teil ihres Einkommens war, wodurch es ihnen erst möglich war, einen ohnehin bescheidenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Der Plan, alle diese Leute besser zu besolden, um sie dadurch von diesen Zuwendungen unabhängig zu machen, war daher sicher im Prinzip richtig. Woran ist das aber letztlich gescheitert  ? Es gab auf der einen Seite einflussreiche Amtsträger, die hier gegensteuerten, wenngleich das nicht offenbar werden sollte, und man sollte auch das Festhalten an alten Gebräuchen und die menschliche Gier nach Reichtum und Wohlstand nicht unterschätzen. Außerdem stellte sich natürlich die Kostenfrage, denn man befand sich ja mitten in einem großen Krieg, der Unsummen verschlang, und das bei einer notorisch angespannten Finanzlage. So waren Beamte, die sich in erster Linie als Staatsdiener sahen, letztlich ein Produkt des aufgeklärten Absolutismus, wobei man auf das Beispiel Kaiser Josephs II. und dessen berühmten »Hirtenbrief« verweisen kann. Wenn von Reformen in der »Ritterstube« und »Antecamera« die Rede ist, so kann man auf neue Regeln und Zugangsbestimmungen verweisen, die nach dem Regierungsantritt erlassen wurden.12 Es war nicht nur »Teil eines »Rituals«,13 wenn Einsparungen und Verbesserungen des Geschäftsgangs angekündigt wurden, sondern es wurde tatsächlich Einiges in die Wege geleitet, allerdings war Vieles nicht nachhaltig, um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen. Heinrich Wilhelm Starhemberg aber war weiterhin als oberster Hofmarschall tätig und wurde in dieser Funktion noch von Ferdinands III. Nachfolger, Kaiser Leo­ pold I. nach seinem Regierungsantritt bestätigt. Er wurde 1643 in den Reichsgrafenstand erhoben, Geheimer Rat und erhielt den Toisonorden. Seine Versuche, das Hofquartierwesen zu verbessern verdienen dabei durchaus Beachtung.14 Allerdings spielte er im Geheimen Rat kaum eine bedeutende Rolle. Erst im Jahre 1671 musste 10 Jens Ivo Engels, Die Geschichte der Korruption von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt 2014, sowie die ältere Arbeit von Jacob va n K l av eren, Die historische Erscheinung der Korruption in ihrem Zusammenhang mit der Staats- und Gesellschaftsstruktur betrachtet, in  : Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 44, 1957, 289–324. 11 Vgl. z. B. Fr a nz Qua rth a l, Korruption in Gesellschaft und Staat des Ancien Regime, in  : Sozialwissenschaftliche Informationen 16, 1987, 41–46. 12 Hengerer, Ferdinand III., 152ff. 13 Höbelt, Ferdinand III., 108. 14 Vgl. Josef K a llbru n ner, Das Wiener Hofquartierwesen im 17. und 18. Jahrhundert, in  : Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Wien 5 1923, 24–36, hier  : 33ff.

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er mit 78 Jahren den Platz des Obersthofmarschalls für den Grafen Franz Eusebius Pötting frei machen und beendete seine Karriere als Landeshauptmann von Oberösterreich.15 Das zweite Beispiel entstammt schon der Zeit des Sohnes und Nachfolgers von Ferdinand III., Kaiser Leopold I. Diesmal ist die Briefschreiberin eine Frau, die Gräfin Esther von Starhemberg, geborene Freiin von Windischgrätz (1629/30–1697), die an ihren ältesten Sohn Gundakar, der sich gerade in Italien auf der Kavalierstour befand, in einem längeren Brief unter anderem Folgendes mitteilte  : »Die welische sprach ist nicht so schwer, lerns nur fein berfect, den unsre Kaiserin röts gar gern, sie kan auch berfect deitsch, man kans zu Brag nicht schener röten, sie ist woll ein worthere (?), gescheite und freindtliche frau, Gott erhalt uns, sie ist schon gott lob in der hofnung, ich habe den Keiser mein dag so freindlich und lustig nie gesehen.« 16 In einem früheren Brief, der unmittelbar nach der Vermählung des Kaiserpaars verfasst wurde, hatte die Gräfin festgestellt, dass »unser hof hiezt ganz welisch ist« und die Kaiserin gerne italienisch spreche.17 Gundakar solle sich besonders in Siena aufhalten, da dort die Luft so gut sei und die Sprache besonders schön gesprochen werde. Dass man am Hof viel italienisch sprach, stimmt sicher, auch Kaiser Leopold I. tat dies gerne und das hatte ja schon Tradition, wenn man an Ferdinand III. und dessen Bruder Leopold Wilhelm denkt, die die italienische Literatur besonders schätzten  : Aber dass der Hofstaat nur aus Italienern bestand, bestritt die junge Gemahlin des Kaisers vehement, obwohl oder weil sie wusste, dass es diesbezügliche Gerüchte gab.18 Die Kaiserin, das war damals die 20-jährige Claudia Felicitas, die zweite Frau Kaiser Leopolds I., die dieser am 15. Oktober in Graz geheiratet hatte. Sie war die Tochter des Tiroler Erzherzogs Ferdinand Karl († 1662) und der Maria de Medici und wurde am 30. Mai 1653 in Innsbruck geboren. Auch ihre Großmutter Claudia († 1648), die den Tiroler Landesherrn Erzherzog Leopold geheiratet hatte, war eine 15 Heilingsetzer, Heinrich Wilhelm Starhemberg, 71f. 16 OÖ Landesarchiv Linz, Starhemberg-Archiv, Bestand Riedegg, Schachtel 48, Nr. 73, Esther v. Starhemberg an Gundakar v. Starhemberg (16.11.1673). 17 Ebd., Esther von Starhemberg an Gundakar v. Starhemberg (19.10.1673). Insgesamt sind 370 Briefe der Gräfin vorhanden. Zwei Forschungsprojekte an der Universität Wien, die die Korrespondenz adeliger Frauen ausgewertet haben, griffen unter anderem wohl auf den Riedegger Bestand zurück, gerade die Briefe der Esther von Starhemberg blieben aber unberücksichtigt. Dazu  : Doris A ichholzer. Frauenbriefe aus drei Jahrhunderten – eine unerschöpfliche Quelle für die Mentalitäts- und Alltagsgeschichte, in  : Frühneuzeit Info 8, 1997, 148–152. 18 Brief von Claudia Felicitas an die Gräfin Johanna Theresia Harrach vom 10. Oktober 1674, worin sich die Kaiserin bei ihrer Vertrauten beklagt, dass man ihr Unrecht tue, wenn man ihr vorwerfe, dass sie so viele Italiener an den Wiener Hof gebracht habe (Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Familienarchiv Harrach, Karton 321 (nach  : K atrin K eller, Briefe aus Madrid, in  : https://kaiserin.hypotheses.org/765 [10.9.2021]).

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Medici und nach dem Tod ihres Gatten eine umsichtige Landesfürstin. Nach dem frühen Tod des Vaters wuchs die Prinzessin auf dem Schloss Ambras auf, wohin sich ihre Mutter als Witwe zurückgezogen hatte. Als auch ihr Onkel, der letzte Landesfürst der Tiroler Linie, bald darauf starb (1665), fiel das Land wieder an die Wiener Hauptlinie zurück. Kaiser Leopold I. kam persönlich nach Tirol, um dort die Erbhuldigung der Stände entgegenzunehmen. Schon damals soll ihm seine junge, dreizehnjährige Verwandte angenehm aufgefallen sein, da sie tanzen und musizieren konnte und ein gewinnendes Wesen, aber auch körperliche Vorzüge hatte. Bald wurde die junge Erzherzogin auch Mittelpunkt von mehr oder weniger seriösen Ehespekula­ tionen. Einige Zeit beschäftigte man sich mit dem Gedanken, sie mit dem Herzog von York, dem späteren König Jakob II. von England, der katholisch war, zu vermählen.19 Das Projekt war schon ziemlich weit gediehen, da Leopold jedoch seit 1673 Witwer war, ohne einen männlichen Erben zu haben, entschloss er sich, selbst als Bräutigam der tirolischen Verwandten, die zugleich auch sein Mündel war, aufzutreten. Das hatte die sorgsame Mutter des Mädchens schon 1671 vermutet, dass man ihre Tochter für den Kaiser aufsparen wollte, wie ein päpstlicher Diplomat zu berichten wusste.20 Es gab damals aber noch andere Eheprojekte für den verwitweten Kaiser, der sich in tiefer Trauer befand. Aber die Staatsraison, das wurde ihm klar gemacht, gebot eine baldige Wiedervemählung. Fürst Wenzel Lobkowitz, damals noch der wichtigste Berater des Kaisers, empfahl jedoch zunächst Eleonore Magdalena von Pfalz-Neuburg als geeignetste Kandidatin, hingegen meinte er bei Claudia Felicitas eine mangelnde Attraktivität feststellen zu können. Allerdings war Lobkowicz durch seine zweite Frau auch mit dem herzoglichen Hause Pfalz-Neuburg verwandt und die Tiroler Habsburger standen ihm eher fern, schließlich schwenkte er aber auch auf die allgemeine Linie, die zur Erzherzogin tendierte, ein.21 Entgegen der ursprünglichen Ansicht von Lobkowitz betonen alle Berichterstatter neben ihren anderen positiven Eigenschaften auch die körperlichen Vorzüge der Habsburgerin, und die zahlreichen bildlichen Darstellungen sprechen ebenfalls für sie. Es ist daher nicht recht verständlich, weshalb sich ein Historiker der Meinung von Lobkowitz anschließt und bezweifelt, dass sie eine berühmte Schönheit sei, hingegen hätten die »Verlockungen des Anfalls des reichen Landes Tirol« den Ausschlag gegeben,22 was 19 Vgl. A lfred Fr a ncis Pribr a m, Ein Habsburg Stuart’sches Heiratsprojekt, in  : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 29, 1908, 423–466. 20 A rthur Levinson, Nuntiaturberichte vom Kaiserhofe Leopolds I., II. Teil (1670–1679), in  : Archiv für Österreichische Geschichte 106/2, 1918, 509. 21 H a ns Schmidt. Zur Vorgeschichte der Heirat Kaiser Leopolds I. mit Eleonore Magdalena Theresia von Pfalz-Neuburg, in  : Ders., Persönlichkeit, Politik und Konfession im Europa des Ancien Regime, Aufsätze und Vorträge zur Geschichte der Frühen Neuzeit, Hamburg 1995, 259–302, hier  : 262f. 22 Josef Joh a n nes Schmid, Eleonore von der Pfalz – Ein Leben zwischen den Häusern Neuburg und Habsburg, in  : Bettina Braun – Katrin Keller – Matthias Schnettger (Hg.), Nur die Frau des Kaisers  ? Kai-

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nicht zutrifft, da der Kaiser das Land ja schon vor einigen Jahren in Besitz genommen hatte. Der Papst, der einen Dispens wegen der nahen Verwandtschaft erteilte, und auch Spanien hatten den Kaiser ermuntert, ein weiteres Mal vor den Altar zu treten. So kam es, dass er innerhalb eines Jahres wieder eine Gemahlin hatte, wobei der päpstliche Nuntius die Trauung im Grazer Dom vornahm. In der Wiener Residenz wurden dann für die junge Kaiserin eigene Appartements hergerichtet und auch ihre Mutter, Erzherzogin Anna, erhielt ein eigenes Quartier in der Hofburg.23 Claudia Felicitas fand sich in ihrer neuen Rolle sehr gut zurecht und wurde allgemein bewundert und vom Kaiser geschätzt und geliebt. Es war eine besondere Tragik, dass sie schon nach drei Jahren Ehe verstarb, ohne einem männlichen Erben das Leben geschenkt zu haben. Die Berichte der auswärtigen Beobachter stellen ihr auch das beste Zeugnis aus, wobei der schwedische Diplomat Esaias Pufendorf vielleicht das anschaulichste Beispiel ist  : »Die jetzige Kaiserin, eine Prinzessin von Innspruck, ist eine wohlgewachsene Person von hurtigem und lebhaftem geist, sodass sie ihren Herrn aus seinem serieusen in guten Humeur versetzen kann, wird auch von ihm gar werth gehalten, absondrlich da sie gleiche Inclination zur Jagd und Musik hat, auch selbst auf Instrumenten wohl spielet und singet.«24 Auch der venezianische Botschafter Morosini schrieb über die »grande principessa«, sie sei die Freude des Kaisers, habe wunderbare Gaben und werde von der ganzen Welt bewundert.25 Ihre Freundlichkeit und Leutseligkeit wurde immer wieder von allen Besuchern betont. So berichtete auch die Gräfin Elisabeth Philippine von Schaumburg an ihren Vater über eine Begegnung mit der Kaiserin im Jänner 1676, als diese trotz Krankheit Besucher an ihrem Bett empfing, dass sie »woll eine perfecte schöne fraw und so vernünfftig und dabey obligent gegen alle leütte sei.«26 Claudia Felicitas war an einem kunstsinnigen Hof aufgewachsen, an dem Literatur und Musik, die von Italienern getragen waren, eine große Rolle spielten. In Wien wurden diese Künste dann in spezifisch imperialen Formen noch besonders gepflegt.27 serinnen in der Frühen Neuzeit (= Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, 64), Wien 2016, 157–174, hier  :160. Der Anfall des Landes Tirol fand bereits 1665 statt und die Portraits der Kaiserin und die Schilderungen ihres Äußeren, ohne Einbeziehung der rein panegyrischen Huldigungen, sind durchwegs positiv  ! 23 Herbert K a rner, Die alte Hofburg (Schweizerhof) 1620–1705, in  : Herbert Karner (Hg.), Die Wiener Hofburg 1521–1705. Baugeschichte, Funktion und Etablierung als Kaiserresidenz, Bd. 2, Wien 2014, 150f. 24 K a rl Gustav Helbig, Esaias Pufendorfs Bericht … über Kaiser Leopold, seinen Hof und die österreichische Politik 1671–1674, Leipzig 1862, 61. 25 Joseph Fiedler (Hg.), Die Relationen der Botschafter Venedigs in Deutschland und Österreich im 17. Jahrhundert (= Fontes Rerum Austriacarum II, 27, Bd. 2), Wien 1867, 146. 26 Zitiert bei K atrin K eller, Die Kaiserin. Reich, Ritual und Dynastie, Wien–Köln–Weimar 2021, 266f. 27 A lfred Noe, Geschichte der italienischen Literatur in Österreich. Teil 1 Von den Anfängen bis 1797, Wien–Köln–Weimar 2011, 19f.

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Italienische Komponisten wie Marco Antonio Cesti und Antonio Draghi lieferten die Musik zu den meist mythologischen Themen mit gleichzeitiger Verherrlichung der Dynastie, wozu die Hofdichter die Libretti verfassten. Aber es wurden auch Gedichte ohne Musik produziert, wobei stellvertretend für dieses Genre hier nur Filippo Maria Boninis »Il ritratto Panegirico della S.C.R.M. dell’ Imperatrice Claudia Felice« erwähnt sei, ein poetisches Portrait der Kaiserin kurz nach ihrer Hochzeit.28 Aber neben dieser italienisch geprägten Hofkultur finden sich auch deutsche Dichter, die ähnliche Werke liefern konnten, etwa Daniel Caspar von Lohensteins »Ibrahim Sultan«, das zur Hochzeit 1673 verfasst wurde.29 Eine auch von ihren männlichen Kollegen besonders geschätzte Dichterin war Katharina Regina von Greiffenberg (1633–1694), eine Dame, die dem protestantischen Adel Niederösterreichs angehörte und der Kaiserin ein kurioses Werk widmete, die »Adler-Grotta«, eine verschollene Schrift aus dem Jahre 1674, in der sie die Huldigung mit dem Bestreben verband, den Kaiser zum Protestantismus zu bekehren. Leopold sollte bewogen werden, die »Grotta«, in der er gefangen sei, zu verlassen und sich wie ein Adler hinaus in das freie Licht des Glaubens schwingen.30 Die Dichterin bezeichnete diesen phantastischen und ziemlich naiven Plan, den sie ein Jahrzehnt lang verfolgte, als ihr »geheimes Vorhaben«. Derartige Bestrebungen waren der Gräfin Esther von Starhemberg allerdings fremd, obwohl auch sie zu jenem Kreis protestantischer Adeliger zählte, die z­ unächst im Land blieben und den Habsburgern durchaus loyal gegenüber standen.31 Ihr Mann war zum Katholizismus konvertiert, aber sie blieb trotz vieler Bekehrungsversuche standhaft bei ihrem Glauben, obwohl ihre Kinder alle letztlich katholisch wurden. Nach dem Tod ihres Mannes (1676), der zum Unterschied von seiner Frau wenig aktiv, verschwenderisch und kränklich war, musste sie Oberösterreich allerdings verlassen und begab sich nach Regensburg ins Exil. In Niederösterreich wurden protestantische Adelige aber geduldet und dort besaß Esther einen Anteil an der Herrschaft Enzersdorf (Enzersdof im Thale, Bezirkshauptmannschaft Hollabrunn), wo sie sich immer wieder aufhielt. Im Jahr 1684 konnte sie den Besitz dann zur Gänze erwerben.32 In den frühen Siebzigerjahren hielt sich die Gräfin meist in Wien auf und hatte dabei offenbar auch Kontakte zum Kaiserhof. Interessant ist aber auch die Bemerkung, dass die Kaiserin ein so schönes Deutsch spreche, wie man es in Prag nicht besser reden könne. Das »Prager Deutsch« hatte 28 Ebd., 203. 29 Ga briele Schr a mm, Widmung, Leser und Drama. Untersuchungen zu Form und Funktionswandel der Buchwidmung im 17. und 18. Jahrhundert, Hamburg 2003, 305–322. 30 Heimo Cern y, Catharina Regina von Greiffenberg geb. Freiherrin von Seisenegg (1633–1694). Herkunft, Leben und Werk der größten deutschen Barockdichterin, Amstetten 1983, 51. 31 Zu Esther von Starhemberg  : Elisa beth M ay r-K ern, Esther von Starhemberg (1629/30–1697), phil. Diss. Salzburg 1996. 32 Ebd., 120.

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nicht erst im 19. und 20. Jahrhundert eine besondere Eigenart, sondern ist schon im Spätmittelalter in Erscheinung getreten. Allerdings lassen sich bestimmte Phasen erkennen, wobei es im 17. Jahrhundert stärker von süddeutschen und österreichischen Vorbildern beeinflusst war, ja man könnte sogar sagen, dass es nur eine Variante des österreichischen Deutsch war.33 Tatsächlich verdrängte die deutsche Sprache das Tschechische, vor allem in Adelskreisen, wo das Deutsche dominierend wurde. Das illustriert treffend eine Episode aus dem Jahr 1670, die in einem Standardwerk der österreichischen Historiographie angeführt ist  : Ein Graf Franz Ulrich Kinsky (1634–1699), der es später zum obersten böhmischen Kanzler brachte, schreibt nämlich in seinem Tagebuch, dass er mit seiner Frau, Abb. 1  : Claudia Felicitas (1653–1676). einer geborenen Gräfin Urschenbeck, in einen heftigen Streit geriet, weil diese sein Böhmisch lächerlich fand und den Gemahl mit dem »Narren-Hansl« verglich.34 Es ist aber ganz gewiss auch bemerkenswert, dass zu dieser Zeit das Prager Deutsch auch in Adelskreisen offensichtlich als besonders vorbildlich galt, wie aus den Mitteilungen der Gräfin Esther von Starhemberg hervorgeht. Die angeführten zwei Beispiele betreffen nicht nur die Geschichte der Habsburger, sondern befassen sich auch mit Themen, die nahezu zeitlos zu sein scheinen. Geht es auf der einen Seite um Reformbestrebungen, die ein verkrustetes und teilweise korruptes System aufbrechen sollen, so steht auf der anderen Seite der große Stellenwert, den Kunst und Kultur im Leben der Menschen einnehmen und die Bedeutung, die den Sprachen beigemessen wird.

33 Vgl. Emil Sk á l a, Das Prager Deutsch, in  : Zeitschrift für Deutsche Sprache 22, 1966, 84–91, hier  : 88f. 34 Oswa ld R edlich, Weltmacht des Barock, Österreich in der Zeit Leopolds I., Wien 4. Aufl. 1961, 19.

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Die Gründung der k. k. Kaiserin Maria-Anna Stiftung 1852 Egal ob es um die Biographie eines von Historikern vernachlässigten Kaisers aus dem 17. Jahrhundert oder um eine genauere Beleuchtung der Geschichte der österreichischen 1. Republik geht, Lothar Höbelts Faible für die harte Arbeit mit historischen Quellen ist unverkennbar.1 So mag es nicht verwundern, dass der Jubilar mit der ihm bekannten Akribie in den 1980er Jahren eine brillante Gesamtdarstellung der k. (u.) k. Marinegeschichte geliefert hat,2 die noch dazu die bis heute letzte wissenschaftliche aus der Feder eines österreichischen Historikers blieb.3 Selbstverständlich konnte dabei ähnlich wie bei früheren Werken anderer Autoren nicht auf Randerscheinungen innerhalb der Marine eingegangen werden.4 Zu einer solchen zählten u. a. die Marinestiftungen. Obwohl diese aus historischer Sicht vielleicht weniger interessant als beispielsweise die Flottenentwicklung oder gar Kampfeinsätze scheinen, so hatten sie einen nicht ganz unbedeutenden Stellenwert. Davon zeugt nicht zuletzt ihre unmittelbare Zuordnung unter den Marinekommandanten, der höchsten mili* Abkürzungen  : AhOB  : Allerhöchster Oberbefehl  ; AMA  : Altes Marinearchiv  ; AOK  : Armeeoberkommando  ; HR  : Hauptreihe  ; J.A.: Journalausweis (= fortlaufende Nummer von Kassadokumenten)  ; K.: Karton  ; KA  : Kriegsarchiv  ; KM  : Kriegsministerium  ; KM/MS  : Kriegsministerium/Marinesektion  ; KMAMistift  : Kaiserin Maria-Anna Marineinvalidenstiftung  ; Marine  : Kriegsmarine  ; MKSM  : Militärkanzlei seiner Majestät  ; MOK  : Marineoberkommando  ; MÖStA  : Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs  ; MS/PK  : Marinesektion/Präsidialkanzlei  ; MStift  : Marinestiftungen  ; NL  : Militärische Nachlässe  ; NMA  : Neues Marinearchiv  ; ÖStA  : Österreichisches Staatsarchiv, Wien  ; Präs.: Präsidialbüro  ; RGBl.: Reichsgesetzblatt, WvRLMistift  : Wilhelm von Reichenbach-Lessonitz’sche Marineinvalidenstiftung, Zl.: Zahl  ; ZSt  : Zentralstellen. 1 Vgl. exemplarisch  : Loth a r Höbelt, Ferdinand III. 1608–1657. Friedenskaiser wider Willen, Graz 2008  ; Ders., Die Erste Republik Österreich (1918–1938). Das Provisorium (= Schriftenreihe des Forschungs­ institutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, 64), Wien 2018 u. Loth a r Höbelt – Joh a n nes K a lwoda – Jiří M a líř (Hg.), Die Tagebücher des Grafen Egbert Belcredi 1850–1894. Nach editorischen Vorarbeiten von Antonín Okáč (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, 114), Wien–Köln–Weimar 2016. 2 Loth a r Höbelt, Die Marine, in  : Adam Wandruszka – Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermon­ archie 1848–1918 (= Die bewaffnete Macht, 5), Wien 1987, 687–763. 3 Einer Neugestaltung harrt das zwischen 1882 und 1980 erschienene unvollendete Überblickswerk Geschichte der k. (u.) k. Kriegsmarine in sieben Bänden  : ÖStA KA NL B/2126 Dr. Peter Jung, Manuskript über den Überblick zum bisherigen Stand der erschienenen Werke zur Geschichte der k. (u.) k. Kriegsmarine (Wien, 7.7.1999). 4 H a ns Hugo Sokol, Des Kaisers Seemacht. Die k. k. österreichische Kriegsmarine 1848 bis 1914 (= Geschichte der k. u. k. Kriegsmarine, 3), Wien–München 1980.

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tärischen Dienststellung innerhalb der Kriegsmarine. Ebenso wurden tangierende Angelegenheiten direkt in der höchsten Abteilung der Marinesektion, der Präsidialkanzlei, miterledigt.5 Es mutet daher seltsam an, dass sich bis dato niemand ein wenig ausführlicher mit den verschiedenen Marinestiftungen auseinandergesetzt hat. Eine namhafte Publikation sucht man selbst in den Veröffentlichungen des Kriegsarchivs vor 1918 vergeblich, obzwar das vorhandene Quellenmaterial sicherlich für die Verfassung einer Dissertation ausreichen würde. Aus diesen Gründen soll der folgende Artikel einen kleinen Überblick zur Gründung der ersten und mit Abstand bedeutendsten Marinestiftung, der Kaiserin Maria-Anna Stiftung, bieten.

1. Ein trauriges Ereignis – Ursprünge einer positiven Idee In der Nacht vom 4. auf den 5. März 1852 sank der Kriegsdampfer SMS Marianna6 in der Adria auf Höhe der Pomündung während eines Sturms.7 Er fuhr gemeinsam mit den Dampfern Lucia, Seemöve, Vulcan sowie der Dampffregatte Volta. Letztere transportierte Kaiser Franz Joseph, der sich auf der Rückreise von einer Inspektion seiner Kriegsmarine aus Verona über Venedig nach Triest befand.8 Als Ursache des Unglücks machte eine Kommission9 eine Kesselexplosion im Achterschiff aus, die 82 Mann Besatzung in den Tod riss.10 Im Auftrag des betroffenen jungen Kaisers wurde für die hinterbliebenen Familien der zu Tode gekommenen Seeleute eine Geldsammlung gestartet.11 Zusätzlich scheint er den provisorischen Marinekommandanten Franz Emil Lorenz Graf von Wimpffen12 mit der Schaffung einer geeigneten Institution zur Abwicklung solcher  5 Wa lter Wagner, Das Archiv der k .u. k. Kriegsmarine im Kriegsarchiv Wien (= Schriften des Heeresgeschichtlichen Museums, 8), Wien 1980, 91–107, hier 97.  6 Für den untergegangenen Raddampfer, der am 25.1.1836 in Porto Rè als erstes Dampfschiff der Kriegsmarine vom Stapel lief, finden sich verschiedene Schreibweisen. Nach Kontreadmiral Arthur von Khuepachs »Zettelkatalog zu sämtlichen Schiffen der k. (u.) k. Kriegsmarine« ist Marianna korrekt, weshalb sich der vorliegende Text daran orientiert.  7 Verlustmeldung, in  : Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 168, 10.4.1852, 692  ; Telegraphische Depeschen. Wien, in  : Fremdenblatt, 14.3.1852, 1 u. Wien. Telegraphische Depesche, in  : Abendblatt der Wiener Zeitung, Nr. 77, 3.4.1852, 308.  8 Österreich. Triest, in  : Innsbrucker Zeitung, Nr. 51, 3.3.1852, 203  ; Kronländer, in  : Wiener Zeitung, Nr. 55, 8.3.1852, 217f.  9 Ein umfassender Akt zu der gesamten Untersuchung  : ÖStA KA Marine AMA, K. 133, 1852 M/c 30/4–4z12. 10 Tagesneuigkeiten, in  : Die Presse, 18.3.1852, 2 u. Wien, in  : Die Presse, 28.3.1852, 2. 11 ÖStA KA ZSt KM Präs. 1852, K. 126, Zl. 1769 Erledigung zu einer Namensliste der verunglückten 65 k. k. Marineindividuen (21.4.1852) bzw. Folgezahlen. 12 Wimpffen hatte die Leitung des MOKs erst am 15.8.1851 vom, im Streit u. a. mit ihm ausgeschiede-

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Angelegenheiten in der Zukunft beauftragt zu haben, denn dieser startete knapp drei Wochen nach dem Schiffsuntergang einen Aufruf für die Gründung einer Marinestiftung innerhalb der Kriegsmarine. Diese sollte sich am Vorbild ähnlicher Einrichtungen bei der Landarmee orientieren. Durch einen zu gründenden Stiftungsfonds sollte sämtlichen Marineangehörigen jeder Kategorie oder deren Familien eine monetäre Unterstützung zu Teil werden, wenn sie oder ihre Habe durch ein größeres Seeunglück zu Schaden kämen. Die Gelder wären durch freiwillige Beträge entweder außerhalb der Marine oder innerhalb dieser zu sammeln. Stabile Einnahmen sollten zusätzlich durch eine Abgabe von drei Kreuzern je Gulden aller kumulativen Genüsse eines Monats bei Beförderungen von Offizieren, Beamten und Parteien zufließen. Unteroffiziere und Mannschaften vom Oberbootsmann bzw. Feldwebel abwärts hätten sich einen frei zu wählenden Betrag aussuchen können. Des Weiteren sollte am jährlich wiederkehrenden Unglückstag eine Gedenkmesse für die Verstorbenen der SMS Marianna gehalten werden. Obwohl Wimpffen keine Statuten beilegte, sondern diese noch in ihren Feinheiten im Zusammenspiel mit den unterschiedlichen Kommandoebenen innerhalb der Marine ausgearbeitet wissen wollte, so umriss er in seinen Ausführungen die späteren Eckpunkte doch recht genau, worauf noch näher einzugehen sein wird.13 Nachdem Wimpffen zwar Ende 1851 die selbständige Stellung der ­Kriegsmarine in Budget- und Verwaltungsfragen erreichte, die Kommandofunktion sowie die Personalsachen jedoch dem Armeeoberkommando (AOK) vorbehalten blieben, musste er für eine wirkliche Stiftungsgründung den Weg über dieses zum Kaiser wählen.14 Wimpffen versuchte nicht nur für seinen bereits getätigten Aufruf eine offizielle, nachträgliche Absegnung zu erlangen, sondern darüber hinaus noch eine allerhöchste Weisung für einen Erlass zu einem allgemeinen Aufruf für eine Kollekte sowie die Erlaubnis, sich persönlich wegen der Zustimmung für die Namensgebung an Maria Anna von Savoyen, die Gattin des vormaligen Kaisers Ferdinand I., zu wenden.15 Dem 2. Generaladjutanten des Kaisers, Generalmajor Friedrich Kellner von Köllenstein, missfiel Wimpffens Aktion jedoch aus zwei Gründen  : erstens, weil es sich beim bereits ergangenen Aufruf an die Marine um eine nachträgliche Erlaubnis handelte  ; zweitens, weil es Angelegenheit des Kriegsministeriums gewesen wäre, einen allgemeinen Aufruf zu verlautbaren. Eine allerhöchste Genehmigung hätte nen, Hans Birch Freiherrn von Dahlerup übernommen, der, obwohl ambitioniert, bei der Marinereorganisation weitgehend glück- und erfolglos geblieben war. Siehe A ntonio Schmidt-Brenta no, Die österreichischen Admirale. Band I  : 1808–1895, Osnabrück 1997, 79f. 13 ÖStA KA Marine AMA, K. 66, 1852 A/c 18/1, Zl. R. 1495, Aufruf zur Bildung eines Unterstützungsfonds (Triest, 22.3.1852). 14 Schmidt-Brenta no, Admirale I, 91. 15 ÖStA KA AhOB MKSM HR 1852, Kt. 57, Zl. 1985, Schreiben Wimpffens an das allerhöchste AOK (Triest, 4.4.1852 mit Zl. R. 1707 als Beilage).

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laut Kellner insbesondere die durch die Beförderungen erbrachten Einnahmen des Stiftungsfonds zum Gesetz erhoben und dadurch den freiwilligen Charakter ad absurdum geführt. Genauso müsste der Marinekommandant einen allgemeinen Aufruf als außerdienstliches Wirken selbst hinausgeben.16 Die Genehmigung Kaiser Franz Josephs beschränkte sich daher rein auf die Schaffung einer aus freiwilligen Beiträgen gespeisten Marinestiftung, um deren Namensgebung sich Wimpffen ebenfalls zu kümmern hatte. Anscheinend war man bei den Landstreitkräften über das Vorpreschen von Seiten der Marine wenig angetan, denn man versuchte das Vorhaben offenkundig auszubremsen.17 Dies zeigte sich offenbar auch daran, dass das Kriegsministerium zur gleichen Zeit in Erweiterung und Fortsetzung der schon oben angesprochenen Geldsammlung den Hinterbliebenen des Schiffsunglücks Beträge aus dem Militärinvalidenfond zuerkennen wollte. Dadurch wären Entscheidung und Verfügung dem AOK zugestanden und nicht dem Marineoberkommando (MOK). Der Militärinvaildenfonds sollte dafür eine zusätzliche Speisung aus nicht beanspruchten Prisengeldern erfahren. Bei der Blockade Venedigs im April bzw. Mai 184818 waren mit Lebensmitteln beladene Privatfahrzeuge beschlagnahmt worden, welche die Blockade zu umgehen versuchten. Aus dem Verkauf dieser Konfiszierungen ergab sich ein Gesamtbetrag von 2913 Gulden (Florin = Fl.) 40 Kreuzer (Xr.).19 Ursprünglich schlug das MOK Ende 1851 daraus die Zuerkennung eines Invaildenfondbetrags für eine eigene Stiftung zugun­ sten realinvalider, verdienstlicher Unteroffiziere höchster Kategorie der Kriegsmarine vor.20 Der Kriegsminister Anton Freiherr Csorich von Monte Creto argumentierte nun jedoch, dass eine Aufteilung der oben erwähnten Beträge auf die bei der Blockade Beteiligten aus verschiedenen Gründen nicht möglich wäre, und erwirkte die Bündelung all dieser Gelder für eine zu gründende Stiftung unter direktem Einfluss des Kriegsministeriums für realinvalide Bootsleute und Bootsmannsgehilfen.21

16 Ebd., Antrag Kellners zur Eingabe Wimpffens (ohne Entstehungsort, undatiert). Der Kaiser vermerkte handschriftlich  : »Ganz nach dem Antrage des Gm. Kellner auf a. h. Befehl zu erledigen.« 17 Ebd., Konzept eines Schreibens Grünnes an Wimpffen (Wien, 10.4.1852), fol. 1r 18 Österreichisches Ost- und Südosteuropainstitut (Hg.), Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848–1867. I. Abteilung. Die Ministerien des Revolutionsjahres 1848. 20. März 1848–21. November 1848, ÖBV pädagogischer Verlag, Wien 1996, Ministerrat Nr. 57 vom 31.5.1848, 352. 19 Zur damals üblichen Währung, deren Unterteilung bzw. den damit verbundenen Abkürzungen vergleiche u.  a. https://www.atterwiki.at/index.php?title=Gulden u. https://www.atterwiki.at/index. php?title=Kreuzer (18.9.2021). 20 ÖStA KA Marine AMA, K. 66, 1852 A/c 18/2l, Zl. 3164, Information des Kriegsministers an das MOK (Wien, 30.4.1852). 21 ÖStA KA AhOB MKSM HR 1852, Kt. 58, Zl. 2363, Vortrag des Kriegsministers vom 17.4.1852 (genehmigt  : Wien, 23.4.1852).

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2. Namensfindung mit ersten Erfolgen Wimpffen ließ sich vom beschrittenen Pfad jedoch nicht abbringen und erbat sich über die Obersthofmeisterin der Kaiserin Maria Anna, Landgräfin Maria Theresa von Fürstenberg22, einen entsprechenden Zuspruch.23 Kaiserin Maria Anna, die für gewöhnlich solche Bitten wegen ihrer geringen Zeit abwies, übernahm nicht nur das Protektorat über die Stiftung, sondern stellte zur Gründung auch den Betrag von 1000 Fl. aus ihrer Privatschatulle zur Verfügung.24 Diesen Schritt machte sie einerseits, weil sie die wohltätige Unternehmung begrüßte, andererseits, weil »ein um den Staat so verdienstvoller Mann (Anm.: wie Wimpffen) die Bitte an sie stellte.«25 Damit hatte das MOK für seine Pläne starken Rückenwind. So wurde bereits am 27. April eine mit drei Sperren versehene Kassatruhe von Venedig nach Triest gebracht, um eingehende Gelder alsbald verwahren zu können.26 Ebenso erfolgte ein allgemeiner Aufruf zu Beiträgen für diese »Marianna Stiftung«27 nach dem Vorbild der großen Armeestiftungen unmittelbar nach dem Hinzuwirken der Kaiserin.28 Den ersten Geldeingang verdankte die Marianna-Stiftung am 3. Mai 1852 ihrer Namenspatronin.29 Ein Generalsbefehl informierte darauf innerhalb der Kriegsmarine über die erreichten Etappen bzw. vertraute die Verwaltung der künftigen Stiftungsbeiträge einem Komitee aus drei Personen unter der Oberleitung des MOKs an.30 Jeder Empfang und jede Ausgabe musste über schriftlichen Auftrag des MOKs an das Stiftungskomitee eingeleitet werden. Die Originalaufträge – zugleich Belagsdokumente für das Kassajournal – waren jedem der drei Mitglieder zu präsentieren. 22 Maria Theresa Landgräfin zu Fürstenberg, geb. Prinzessin zu Schwarzenberg (* 14.10.1780, † 9.11. 1870) war mit Friedrich Landgraf zu Fürstenberg (* 26.1.1774, † 4.2.1856) verheiratet und seit 1831 Oberhofmeisterin Maria Annas. Siehe https://mythoskaiserinelisabeth.com/tag/maria-theresia-landgraefin-zu-fuerstenberg/ (19.9.2021). 23 Vgl. ÖStA KA Marine AMA, K. 66, 1852 A/c 18/1c u. 1d, Zl. R. 1921, Schreiben Wimpffens an Theresa von Fürstenberg (Triest, 21.4.1852) u. Schreiben Wimpffens an Kaiserin Maria Anna (Triest, 21.4.1852). 24 Tagesneuigkeiten, in  : Die Presse, Nr. 114, 15.5.1852, 3. 25 Ebd., 18/1e (o. Zl.), Antwortschreiben Theresa von Fürstenbergs an Wimpffen (Prag, 29.4.1852). 26 Ebd., 30/8a (Zl. 3925/1250) als Beilage zu 18/1i (Zl. R. 1921), Meldung des k. k. Hafenadmiralats Venedig an das MOK (Venedig, 27.4.1852). 27 Der offizielle Name lautete zunächst auf »Marianna-Stiftung«. Erst durch den später vom Kaiser abgesegneten Stiftsbrief wurde die Bezeichnung auf »Kaiserin Maria-Anna Stiftung« abgeändert, wobei sich in den folgenden Jahren oft die Benennung mit »Kaiserin Maria-Anna Marineinvalidenstiftung« findet. 28 Vgl. u. a. Aufruf für die Maria-Anna-Stiftung, in  : Triester Zeitung, Nr. 103, 4.5.1852, 1 u. Kronländer. Triest, 2. Mai, in  : Wiener Zeitung, Nr. 110, 7.5.1852, 1264. 29 ÖStA KA Marine NMA ZSt KM/MS MStift, K. 1, KMAMistift 1852, Zl. 2 bzw. J.A. 1, Anweisung des MOKs an das Marianna-Stiftungs-Comité mit Zl. R. 2255 (Triest, 3.5.1852). 30 Wien, in  : Innsbrucker Zeitung, Nr. 109, 13.5.1852, 1.

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Das Kassajournal war in zweifacher Ausführung nach Form der für die Justizdepositenkassa vorgeschriebenen Bücher zu führen. Dabei war ein Exemplar stets in die Kassatruhe selbst zu legen. Gelder konnten erst durch die Zeichnung aller Komiteemitglieder flüssiggemacht werden. Vor dem eintretenden Wechsel eines Komiteemitglieds hatte eine ordentliche Skontrierung oder Revision stattzufinden. Alle drei Monate war zum Ende des dritten Monats ein Fondsgebarungs- und Kassastandesausweis – beginnend mit Ende Juli 1852 für den Zeitraum ab Anfang Mai – an das Präsidium des MOKs zu übersenden.31 Damit waren bereits viele wesentliche Bedingungen der späteren Statuten vorweggenommen. Pikant scheint auch die Beibehaltung einer »Zwangsabgabe« bei Beförderungen, die ja bereits von der Militärkanzlei gekippt worden war. Der Generalsbefehl sah die Einhebung dieser als Zuflüsse für den Stiftungsfonds gedachten Gelder durch die drei Hafenadmiralate bei allen Beförderungsfällen seit dem 4. März 1852 nach den bereits erwähnten Parametern vor.32 Zudem erbat das MOK beim Kriegsministerium, die nicht verwendeten Prisengelder, – die Kriegsmarine führte deren Gesamtsumme mit 2901 Fl. 24 Xr. an – dem Stiftungsfonds zuzuführen.33 Gleichzeitig erfuhr das karitative Vorhaben weiteren Auftrieb durch Zustrom an Geldmitteln. Diese kamen ausschließlich in barer Münze.34 Eine Ausnahme bildete lediglich die Spende des böhmischen Baumwollfabrikanten Sobotka aus Prag, der zwei Windischgrätz-Lose im Wert von 40 Fl. für den wohltätigen Zweck hergab.35 Richtig üppige Geldgaben kamen einerseits durch den späteren Kommandanten der k. k. Kriegsmarine und Bruder Kaiser Franz Josephs I., Erzherzog Ferdinand Maxi­ milian, hinzu, der wie Maria Anna 1000 Fl. stiftete.36 Andererseits brachte eine Kollekte des Herrn Podestà, Ritter Mutius Joseph Spiritus von Tommasini, unter der Triester Kaufmannschaft mit 8389 Fl. die mit Abstand bedeutendste Donation.37

31 Generalsbefehl der Marine Nr. 72, Triest am 4.5.1852, Eintrag zu R. 2255, 2f. 32 Ebd., 3f. 33 ÖStA KA Marine AMA, K. 66, 1852 A/c 18/1g, Zl. R. 2255, Entwurf eines Schreibens des MOKs u. a. an das Kriegsministerium (Triest, 2.5.1852). 34 Gebarungsausweis des Kaisern Maria-Anna Stiftungsfonds vom 1. Mai bis 31. Juli 1852 als Beilage zum Generalsbefehl der Marine Nr. 129, Triest am 20.8.1852. 35 Vgl. ÖStA KA Marine NMA ZSt KM/MS MStift, K. 1, KMAMistift 1852, Zl. 3 bzw. J.A. 2, Begleitschreiben Sobotkas an Mecséry de Tsóor, o. Zl. (Prag, 14.4.1852), Note Mecséry de Tsóors an das MOK mit Zl. 2531 (Prag, 14.4.1852) u. Anweisung Wimpffens an das Marianna-Stiftungs-Comité mit Zl. R. 2005 (Triest, 3.5.1852). 36 Ebd., Zl. 4 bzw. J.A. 3, Anweisung Wimpffens an das Marianna-Stiftungs-Comité mit Zl. R. 2310 (Triest, 6.5.1852). 37 ÖStA KA Marine AMA, K. 66, 1852 A/c 18/2b bis 2e, mit Zl. R. 2359 (Triest, 7.5.1852).

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3. Die Statuten – Zentrale Wünsche der Marine mit deren (Nicht-)Erfüllung Mit seiner Meldung an das Kriegsministerium verband Wimpffen fünf Bitten  : 1. Die großzügigen Spenden mögen in der Wiener Zeitung offiziell der Öffentlichkeit zur Kenntnis gelangen. Dies wohl mit der Absicht, weitere Personen würden diesen Beispielen folgen. 2. Kaiser Franz Joseph I. sollte über die größeren Beträge informiert werden. 3. Ebenso sollte nach dem MOK auch das Kriegsministerium den edlen Gebern in den öffentlichen Blättern den verbindlichsten Dank aussprechen. 4. Nach einer noch vorzunehmenden Ausschüttung sollte der disponible Rest der ­Kapitalisierung zugeführt werden, um jährlich geeignete Erträge zu erzielen.38 5. Das Kriegsministerium wurde neuerlich um die Zuweisung aller Prisengelder ersucht. Wimpffen gab hierbei auch seiner Hoffnung Ausdruck, ein entsprechender zugunsten der Stiftung gefasster, allerhöchster Beschluss könnte auch künftige Prisengelder dem Fonds zu dessen Vermehrung zuführen.39 AOK bzw. Kriegsministerium gaben nun ihre Widerstände auf. Bei einem erneuten Vortrag plädierte Csorich Mitte Mai für die Revision der kaiserlichen Entschließung von Ende April 1852 zugunsten einer Überweisung aller Prisengelder40 an die Marianna-Stiftung. Zu einer generellen Regel wurde diese Kapitalzuführung aber nicht.41 Als der Kaiser über die bisherigen Spendengeber informiert wurde, verfügte er auf Anraten des Kriegsministers, dass nichts gegen eine Veröffentlichung von Spendengebern in der Wiener Zeitung spräche, jedoch das MOK selbst auf »nicht offiziellem« Weg dafür Sorge tragen müsste.42 Zu Richtlinien für eine Veranlagung von Spendengeldern sollte es dann erst in den späteren Statuten kommen, zu deren Entwurf und Vorlage das MOK jetzt dezidiert aufgefordert wurde.43 Gegen die Statuten scheint es auch innerhalb der Kriegsmarine Widerstände gegeben zu haben. Obgleich Wimpffen für deren Entwicklung verschiedenste Marine38 Vgl. ÖStA KA ZSt KM Präs. 1852, K. 127, Schreiben des MOKs an das Kriegsministerium mit Zl. 3616 (Triest, 3.5.1852), Zl. 3617 (Triest, 6.5.1852) u. Zl. 3756 (Triest, 7.5.1852). 39 ÖStA KA Marine AMA, K. 66, 1852 A/c 18/2m, Zl. R. 2405, Entwurf eines Schreibens des MOKs an das Kriegsministerium (Triest, 9.5.1852). 40 Die Prisengelder beliefen sich nach der Einzahlungseintragung allerdings auf 2970 Fl. 14 4/8 Xr. ÖStA KA Marine NMA ZSt KM/MS MStift, Bd. 7, Original Kassajournal I der KMAMistift von Mai 1852 bis April 1853, Eintrag Nr. 24 mit Zl. R. 2941 vom 4.6.1852, 4f. 41 ÖStA KA AhOB MKSM HR 1852, Kt. 60, Zl. 3006, Vortrag des Kriegsministers vom 15.5.1852 (genehmigt  : Wien, 21.5.1852). 42 Vgl. u. a. Maria Anna Stiftung, in  : Wiener Zeitung, Nr. 132, 2.6.1852, 1527 u. Maria Anna Stiftungsfond, in  : Wiener Zeitung, Nr. 181, 30.7.1852, 2098. 43 Vgl. ÖStA KA ZSt KM Präs. 1852, K. 127, Zl. 2268m, Entwurf eines Schreibens des Kriegsministers an das MOK (Wien, 23.5.1852) samt Vortrag mit Zl. 2003 (Wien, 18.5.1852) u. Entschluss des Kaisers mit Zl. 2056 MK (Wien, 21.5.1852).

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stellen beteiligen wollte,44 dürfte das Mitte Mai 1852 vollendete Konzept doch fast ausschließlich im MOK entstanden sein.45 Die zentralen Punkte hatte Wimpffen durch seine erste Postulierung der Marinestiftungspläne sowieso vorweggenommen, beschwerte sich allerdings später über die fehlende Mitwirkung aus den ihm unterstellten Stellen.46 Bis zur Genehmigung der Statuten, also dem Schlusspunkt zur Gründung der Kaiserin Maria-Anna Stiftung, sollten dennoch mehr als 2 ½ Monate vergehen.47 Der Grund dafür dürfte in den Änderungen durch das Kriegsministeriums zu suchen sein. Man bestätigte dem MOK deren Erhalt, betonte gleichzeitig eine weitere Wartezeit wegen einer ausstehenden Antwort des Finanzministeriums, ob für die Gebühren der Stiftung eine Stempelfreiheit geltend gemacht werden könne – der dann auch stattgegeben wurde.48 Die öffentlichen Verlautbarungen wurden in die Verantwortung des MOKs gelegt, was die einzelnen Geldeingangsanzeigen durch periodische Ausweisungen im Quartalsabstand ersetzte.49 Über die finale Statutenfassung entschied dann Kaiser Franz Joseph ohne weitere Diskussionen.50 Zunächst wurde die Einleitung zum Ursprung der Stiftung vollständig umgeschrieben.51 So änderte sich die Betonung des tragischen Untergangs des Kriegsdampfers Maria-Anna als Ausgangspunkt für die Etablierung der Marinestiftung zu einer weiteren Veranlassung. Ebenso wurde der Name von »Maria-Anna Stiftung« in »Kaiserin Maria-Anna Stiftung« abgeändert. Die wohl zentrale und gleichzeitig entscheidende Änderung betraf einen Passus unter den Zuflüssen dieses Stiftungsfonds bezüglich der »Zwangsabgabe« bei Beförderungen mit dem alles entscheidenden Zusatz  : »Dieses Uebereinkommen kann jedoch auf erst neu in die k. k. Marine eintretende Individuen nur nach deren eigens erfolgten Zustimmung Geltung erhalten.« Dadurch wurden sichere Zuflüsse über diesen Weg de facto verunmöglicht. Dennoch erfolgten noch bis in den Juni gemäß den zuvor vom MOK

44 U. a. auch als Beilage zum Generalsbefehl der Marine Nr. 55, Triest am 31.3.1852, erschienen. 45 ÖStA KA Marine AMA, K. 66, 1852 A/c 18/1k, Zl. R. 2356, Entwurf eines Begleitschreibens samt Statuten des MOKs an das Kriegsministerium (Triest, 17.5.1852). 46 So kritisierte Wimpffen »ein Stillschweigen, welches ich nicht so wohl als eine gewöhnliche stumme Zustimmung als vielmehr wie eine Meinungsverschiedenheit anzusehen veranlaßt bin.« Ebd., 18/1m, Zl. R. 2908, Konzept eines Schreibens des MOKs an das Hafenadmiralat Venedig (Triest, 2.6.1852) 1v. 47 Generalsbefehl der Marine Nr. 134, Triest am 30.8.1852, Eintrag zu R. 4518, 1f. 48 ÖStA KA Marine AMA, K. 66, 1852 A/c 18/1n, Zl. 4015, Schreiben des Kriegsministeriums an das Präsidium des MOKs (Wien, 7.6.1852). 49 ÖStA KA ZSt KM Präs. 1852, K. 127, Zl. 3998, (letzte entsprechende) Meldung des MOKs an das Kriegsministerium mit Zl. R. 2506 (Triest, 21.5.1852). 50 ÖStA KA AhOB MKSM HR 1852, Kt. 64, Zl. 4794, Vortrag des Kriegsministers vom 30.7.1852 (genehmigt  : Kaschau [heute  : Košice], 9.8.1852) 1v. 51 Für die »originale«, handschriftliche Stiftungsurkunde siehe ÖStA KA Marine AMA, K. 66, 1852 A/c 18/1z, (Wien, 9. bzw. 17.8.1852).

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getroffenen Anordnungen52 solche Abführungen, wobei die Geber – wohl in Voraussicht auf die Streichung durch das Kriegsministerium – jeweils schriftliche Einverständniserklärungen mit Unterschrift auszufertigen hatten.53 Die Bestimmung zur Veranlagung der Spenden bzw. künftiger Zuflüsse in Staatsanleihen wurde durch die Streichung der Worte »in der Regel« zementiert  : »Immer ist der Grundsatz fest im Auge zu behaltenden, daß in der Regel nur die Zinsen und nicht das Stammcapital zu zeitlichen oder zu bleibenden Personal-Unterstützungen und Bezügen verwendet werden soll.« Eine Vermengung der Stiftungsfondsgelder mit anderen ärarischen Liquiditäten wurde untersagt,54 denn dies hätte dem »durch das Gesetz festgestellten Begriffe eines Stiftungsfonds« widerstritten.55 Von diesem Grundsatz war man bei den ersten, noch vor dem Statutenerlass erfolgten Ausschüttungen, abgewichen.56 Zu guter Letzt fiel unter Punkt XIV auch noch ein jährlich am 4. März bzw. dem darauffolgenden Sonn- bzw. Feiertag im Zentralhafen von Triest zu veranstaltenden Trauergottesdienst, um den Verunglückten der Maria-Anna zu gedenken. Stehen blieb das Siegel des Stiftungskomitees als »ein ausstrahlendes Auge Gottes, mit der Umschrift  : ›Kaiserin Maria-Anna Stiftungs-Comité‹«.57 Die entworfenen Stiftungsformulare wiederum wurden ohne Abwandlungen akzeptiert.58 Zur Gründungszeit waren die Nutznießer des Fonds explizit die Witwen und Waisen, der durch den Untergang der SMS Marianna getöteten Seeleute, wobei die zu verteilenden Gelder lediglich als Subsistenzverbesserung und nicht als Aushilfskassa dienten. Sie konnten einmalig oder auf unbestimmte Zeit zuerkannt werden. Einmalige Ausschüttungen orientierten sich an den Möglichkeiten der Fondsmittel, während bleibende Provisionen tägliche Bezüge von 10-20 Xr. bzw. 60-120 Fl. jährlich ergeben sollten. Primär anspruchsberechtigt waren die Mannschaft und erst sekundär Offiziere, Beamte sowie verwandte Chargen, womit einkommensschwächere Marineleute Vorrang erhielten. Ende März jeden Jahres musste dem Stiftungspräsidium 52 Vgl. Beilage zum Generalsbefehl der Marine Nr. 55, Triest am 31.3.1852, 4 bzw. Nr. 72, Triest am 4.5.1852, Eintrag zu R. 2255, 2f. 53 Vgl. ÖStA KA Marine AMA, K. 66, 1852 A/c 18/2w, Zl. 5144, Informations- und Begleitschreiben samt Nominallisten mit Einverständniserklärungen vom Hafenadmiralat Venedig an das MOK  : Zl. R. 3286 (Venedig, 13.6.1852)  ; ebd. 18/1k, Zl. R. 2356, Statutenentwurf des MOKs an das Kriegsministerium (Triest, 17.5.1852) 2r-3r u. ÖStA KA Marine NMA ZSt KM/MS MStift, K. 1, KMAMistift 1852, Zl. 82, gedruckte Stiftungsurkunde und Statuten (Wien, 9.8.1852) 1f. 54 Vgl. ebd., 4r-5r u. ebd., 2f (Zitate jeweils  : 5r u. 3). 55 ÖStA KA Marine AMA, K. 66, 1852 A/c 18/1y, Zl. M. 6495, Kriegsministerialerlass an das Präsidium des MOKs (Wien, 15.8.1852) 1v. 56 ÖStA KA Marine NMA ZSt KM/MS MStift, Bd. 7, Original Kassajournal I der KMAMistift von Mai 1852 bis April 1853, 3–7. 57 Wie Fußnote 53  : ebd., 8v+9r u. ebd., 5 58 Vgl. ebd., Beilagen 1+2 u. ebd., 18/1a1 u. 18/1b1, Formulare für Grundbuch und Zahlungsbogen (Wien, 17.8.1852).

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des MOKs ein Fondgebarungs- und Kassastandesausweis vorgelegt werden. Zudem hatte der Marineoberkommandant gemeinsam mit einem ökonomischen Referenten zwei- bis dreimal pro Jahr die Stiftungskassa zu skontrieren,59 wofür Wimpffen an seiner Stelle den jeweiligen Hafenadmiral von Triest bestimmte.60

4. Weitere Entwicklung und Resümee In den darauffolgenden Jahren vermehrte sich durch weitere Spenden bzw. die Weiterveranlagung nicht verteilter Gelder das Fondsvermögen sukzessive. Vergaben fanden zumeist im 2. Quartal eines jeden Jahres statt und bewegten sich im Schnitt zwischen 20 und 100 Fl. pro Jahr.61 Die Entscheidung fiel meist nach der Bedürftigkeit der Antragsteller. So wurde gleich im ersten Jahr des Stiftungsbestehens ein Gesuch, welches mit Fürsprache aus Hofkreisen sogar den Weg zum Kaiser fand, abgelehnt. Dabei versuchte ein gewisser Girolamo Hero aus Bescanuova (Baška) eine Unterstützung aus dem Fonds zu bekommen, weil sein Sohn Anton, ein Matrose 2. Klasse, durch den Untergang der SMS Marianna sein Leben verloren hatte. Investigationen ergaben u. a. einen Besitz von Grundstücken mit insgesamt 1 ½ Joch (entspricht 2400 Quadratklaftern oder rund 8 632 m²)62 bzw. dass Hero mit 58 Jahren durchaus noch erwerbsfähig war.63 Die Kaiserin Maria-Anna Marineinvalidenstiftung war das erste entsprechende karitative Projekt innerhalb der k. k. Kriegsmarine, quasi die »Mutter aller Marinestiftungen«. Sie blieb dort bis zum Ende des Habsburgerreichs der bedeutendste Stiftungsfonds. An seiner Konzeption orientierten sich vor allem viele in den 1860er Jahren etablierte weitere Marinestiftungen – wenn auch mit weniger Kapital, so zum Beispiel die Stiftungen von Erzherzog Ferdinand Maximilian,64 Wilhelm Graf von 59 Vgl. Generalsbefehl der Marine Nr. 129, Triest am 20.8.1852, ad R. 4403, 2–4 u. Beilage zum Generalsbefehl der Marine Nr. 134 vom 30.5.1852, 2–5. 60 ÖStA KA Marine NMA ZSt KM/MS MStift, K. 1, KMAMistift 1852, Zl. 82, Instruktionen Wimpffens an das Kaiserin Maria-Anna Stitfungskomitee mit Zl. R. 4518 (Triest, 25.8.1852) 1r. 61 Vgl. die exemplarischen Einträge in ÖStA KA Marine NMA ZSt KM/MS MStift, Bd. 8, Original Kassajournal II der KMAMistift von Mai 1853 bis April 1864, 8f u. 18f. 62 RGBl. VI. Stück, ausgegeben am 2.3.1872, Gesetz Nr. 16 vom 23.7.1871, womit eine neue Maß- und Gewichtsordnung festgestellt wird, hier Artikel IV. 63 ÖStA KA ZSt KM Präs. 1852, K. 132, Zl. 3855, Entscheidungsschreiben des Kriegsministeriums an das MOK (Wien, 1.9.1852). 64 ÖStA KA AhOB MKSM HR 1864, Kt. 324, Rubrik 88-4/1, Zl. 1525, Vortrag des Marineministers vom 16.4.1852 (genehmigt  : Wien, 22.4.1864) 1r. Bei dieser Marinestiftung erfolgte gar die Einzahlung des Stiftungskapitals über den Kaiserin Maria-Anna Stiftungsfonds. ÖStA KA Marine NMA ZSt KM/ MS MStift, K. 11, KMAMistift 1866, Zl. 169, Informationsschreiben des k. k. Marinestationskommandos Triest an das Kaiserin Maria-Anna Stitfungskomitee mit Zl. 5778 (Triest, 15.10.1866) 1r.

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Reichenbach-Lessonitz65 oder k. k. Feldmarschalllieutenant Joseph Herdy.66 Dem bereits bestehenden Stiftungskomitee wurden in der Folge auch die fast identen Aufgaben für diese späteren Gründungen übertragen, was für die Alltagstauglichkeit der Organisation sprach. Eine geringfügige Umstellung erfolgte 1870  : Das Komitee bestand von da an aus dem Seebezirkskommandanten in Triest bzw. dem dortigen technischen und militärischen Referenten und wickelte auch sonst die durchzuführenden Amtshandlungen über die Adjutantur des Seebezirkskommandos Triest ab. Die Kontrolle der gesamten Stiftungsfondsgebarung, die Ausweisung der Kassadokumente bzw. die Intervenierung bei den jeweiligen Skontierungen überantwortete man dort dem Referenten für Kontrolle und Rechnungswesen. Eine ordentliche Kassakon­ trolle war nur noch bei einem Wechsel der Komiteemitglieder oder zumindest zweimal pro Jahr durchzuführen. Die Fondsergebnisse veröffentlichte die Marineleitung zu Jahresschluss in der Wiener Zeitung und im Osservatore triestino.67 Dem genannten Komitee übertrug man dann teilweise auch die Arbeiten um die ab Ende des 19., vor allem aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts hinzukommenden Messestiftungen.68 Bei diesen stifteten oft Hinterbliebene von höheren Offizieren einen namhaften Betrag, aus dem dann eine alljährliche Gedenkmesse finanziert werden sollte. Die ausufernde Anzahl an solchen kleinen Stiftungen gab dann wohl auch den Anlass für den Erlass von Formalkriterien durch den Marinekommandanten 1908. Dadurch wurden eng gezogene Rahmenkriterien geschaffen, die künftige Stiftungen an die Zustimmung der Marinesektion mit fast schon vordefiniertem Spielraum banden.69 Der Boom an Neugründungen kam nun schlagartig zum Erliegen. Erst ab der Mitte des Ersten Weltkriegs folgte eine erneute Gründungswelle an Kriegsversehrtenfonds auf.70 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden die heute erhalten gebliebenen Archivalien ihren Weg von Triest ins Marinearchiv nach Wien. Dies betraf zunächst sämtliche Akten aller Stiftungen bis zum Beginn der 1880er Jahre.71 Für die Zeit danach sind

65 ÖStA KA Marine NMA ZSt KM/MS MStift, K. 31, WvRLMistift 1864-1872, Zl. 1, Begleitschreiben des Marineministeriums an das Hafenadmiralat Triest mit Widmungsurkunde und Statuten (Wien, 19.7.1864). 66 Marinenormalverordnungsblatt XXXVII. Stück vom 8.11.1866, hier Circularverordnung Nr. 69 vom 26.10.1866, Abt. 6/MS., Zl. 8068. 67 Marinenormalverordnungsblatt II. Stück vom 25.1.1870, hier Circularverordnung Nr. 6 vom 11.1. 1870, Abt. 3/MS., Zl. 18. 68 Vgl. die Stiftsbriefe der Messestiftungen  : ÖStA KA Marine NMA ZSt KM/MS MStift, K. 39–44. 69 Marinenormalverordnungsblatt XVI. Stück vom 27.6.1908, hier Circularverordnung Nr. 64 vom 21.5.1908, Abt. 9/MS., Zl. 3936. 70 Hierzu Material weiterer Marinestiftungen  : ÖStA KA Marine NMA ZSt KM/MS MStift, K. 38. 71 R a iner Egger, Das Kriegsarchiv Wien, in  : Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Militärgeschichtliche Mitteilungen, 12, Jg. 1972, Braun Verlag, Karlsruhe, 127–135, hier 127 u. Wa lter Wag-

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Harald Fiedler, Wien

fast ausschließlich Kassajournale mit einigen Lücken vorhanden. Nichtsdestoweniger stellt das teilweise reichhaltige und für die Anfangszeit so gut wie lückenlos vorhandene Material aus 126 Einheiten einen wahren Fundus an Wissen dar.72 Es harrt einer weiteren, eingehenden Auseinandersetzung durch die interessierte Forschung  !

ner, Die Gründung des Marine-Zentralarchivs in Triest (= MÖStA, Festschrift für Walter Goldinger – Sonderdruck, 28), Wien 1975, 319–337, hier 337. 72 Der gesamte Bestand »Marinestiftungen« umfasst 82 Geschäftsbücher und 44 Kartons. Davon alleine 29 Bücher und 28 Kartons der Kaiserin Maria-Anna Stiftung. Eine Bestandsinformation mit Gliederung gibt das Archivinformationssystem des Österreichischen Staatsarchivs  : https://www.archivinformationssystem.at/detail.aspx  ?id=4969 (25.9.2021) wieder.

NATIONA LSOZI A LISMUS

Roman Sandgruber, Linz

»In Steyr habe ich Schifahren gelernt« Adolf Hitlers Steyrer Jahr 1904/05

Die Beschäftigung mit Adolf Hitlers Kindheit und Jugend in Oberösterreich, immerhin ziemlich genau ein Drittel seines Lebens, hat durch das überraschende Auftauchen neuer, bislang unbekannter Quellen, durch Ausstellungen über den jungen Hitler und durch die neuen Möglichkeiten digitaler Recherchen wesentliche Impulse erfahren.1 Die Fragestellungen hingegen sind nicht neu  : der Einfluss des Elternhauses, der Schulen und der politisch-gesellschaftlichen Umgebung, Hitlers Hinwendung zum Antiklerikalismus, Deutschnationalismus und Antisemitismus, nicht zuletzt auch die Tragfähigkeit der wenigen dafür vorhandenen und in ihrer Genese sehr dubiosen Quellen. Im Zentrum des Interesses standen immer, abgesehen von dem an sich unwichtigen Geburtsort Braunau, die Schul- und Wohnorte Lambach, Leonding und Linz. Hafeld, wo die Familie einen Bauernhof erworben hatte, ist erst mit dem Auftauchen der damit zusammenhängenden Korrespondenz des Vaters etwas klarer fassbar geworden. Dass die Familie in den Jahren 1894/95 in Urfahr wohnte, wurde bislang überhaupt übersehen. Auch das eine Jahr an der Realschule in Steyr stand immer etwas im Abseits, weil Hitler sich für Steyr wenig interessierte, er die Stadt und die Realschule als Reichskanzler nie besuchte und von der Steyrer Zeit außer Hitlers eigenen Erzählungen im Führerbunker kaum Zeitzeugenberichte und Quellen vorhanden sind. Allerdings fällt in dieses Steyrer Jahr eine nicht unwichtige Weichenstellung  : der Abbruch des Schulbesuchs und damit auch die Unmöglichkeit, nach dem Scheitern an der Kunstakademie ein Architekturstudium beginnen zu können.

1 H a n nes Leidinger – Christi a n R a pp, Hitler. Prägende Jahre. Kindheit und Jugend 1889–1914, Salzburg–Wien 2020  ; Rom a n Sa ndgruber, Hitlers Vater. Wie der Sohn zum Diktator wurde, Wien 2021  ; Peter Longerich, Hitler. Biographie, München 2015  ; Brenda n Simms, Hitler. Eine globale Biographie, München 2020  ; Thom as Weber, Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde. Vom unpolitischen Soldaten zum Autor von »Mein Kampf«, Berlin 2016  ; Ders., The Pre-1914 Origins of Hitler’s Antisemitism Revisited, The Journal of Holocaust Research, Volume 34, 2020  ; Volk er Ullrich, Hitler. Die 101 wichtigsten Fragen, München 2019  ; Wolfr a m Py ta, Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse, München 2015.

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Roman Sandgruber, Linz

1. In Steyr Hitler war an der Linzer Realschule zum Problemschüler geworden. War er in den ländlich geprägten Volksschulen von Fischlham, Lambach und Leonding immer unter den Besten der Klasse zu finden, so hatte sich das in Linz grundlegend geändert. Das mag an höheren Anforderungen gelegen sein, vielleicht auch an weniger einfühlsamen Professoren und vor allem an der veränderten Umgebung, wo das für Hitler bis dahin ungewohnte Hochdeutsch gesprochen wurde und wo zahlreiche Schüler aus der obersten Oberschicht eingeschrieben waren, etwa der jüdische Millionärssohn Ludwig Wittgenstein, zwei Jahrgänge über Hitler, und der ebenfalls jüdische Hans Hatschek, der Sohn des Eterniterfinders Ludwig Hatschek, mit Hitler gemeinsam in einer Klasse. Hitler fühlte sich an der Schule nicht wohl. Er erzählte später einem Mitbewohner im Wiener Männerheim, dass sein Vater schon länger überlegt habe, ihn die Schule wechseln zu lassen. Nachdem Anfang 1903 der Vater gestorben und 1904 für Adolf Hitler wieder eine Wiederholungsprüfung zu absolvieren war, diesmal in Französisch, entschloss sich die Mutter, die Schule zu wechseln, ob auf Druck der Lehrer, wie Hitler an anderer Stelle behauptete, oder als Entscheidung der Mutter, ist nicht zu beantworten. Mitte September 1904 übersiedelte er jedenfalls in die vierte Klasse der Staatsoberrealschule Steyr. Eine Unterkunft fand er als Untermieter bei dem Gerichtsbeamten Conrad Edlen von Cichini im Haus des Kaufmanns Ignaz Kammerhofer (Grünmarkt 19). Die Vermieter mussten vertrauenswürdige Leute sein, die von der Schule ausgesucht und überwacht wurden, so stand es in der Schulordnung. Im Jahre 1897 hatte die Direktion über Auftrag des Landesschulrats eine Belehrung für die Kost- und Quartiergeber verfasst, die strenge Auflagen bezüglich der Haltung der Schüler außerhalb der Schule beinhaltete. Hitler erzählte später »Ich habe am Grünmarkt Nr. 9 (recte 19) gewohnt in einem Zimmerchen nach rückwärts heraus mit einem Kameraden  ; er hieß Gustav  ; den Namen weiß ich nicht mehr.«2 Es ist schwer, diesen »Gustav«, wenn er überhaupt so hieß, zu identifizieren.3 In der Steyrer Meldekartei, die nur nach Familiennamen geordnet ist, lässt sich das nicht bewerkstelligen. Das Quartier in dem alten Haus mit dem düsteren Hof war sicher romantisch, aber sehr beengt. Das Haus wurde 1938 als Hitler-Wohnung unter Denkmalschutz gestellt. Aber der Innenhof wäre auch ohne dieses Attribut, wie fast alle Häuser um 2 A dolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944. Die Aufzeichnungen Heinrich Heims, hg. v. Werner Jochmann, Hamburg 1980, 158, Wolfsschanze, 8./9.1.1942. 3 Es gab im fraglichen Jahr an der Schule mehrere Schüler mit Vornamen Gustav. Aber er musste ja auch gar kein Schüler sein, und Hitler könnte sich auch im Vornamen geirrt haben. Auffällig ist, dass Hitler seinen Jugendfreund August Kubizek, den er unmittelbar nach der Steyrer Zeit kennengelernt hatte, immer wieder mit dem falschen Vornamen Gustav ansprach und auch mehrere Karten an ihn so adressierte.

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den Steyrer Hauptplatz herum, denkmalwürdig gewesen. »Das Zimmer war sehr nett, aber ganz unheimlich war es im Hof. Da habe ich immer Ratten geschossen«, so Hitler.4 Der Wohnungsinhaber Conrad Edler v. Cichini war Gerichtsbeamter. »Er hatte einen Vollbart, das ist jetzt schwer zu sagen, ich würde sagen, er war 45 Jahre. Er entstammte einem verarmten Adelsgeschlecht, hieß Ritter und Edler von Tschichina (recte  : Cicini) und war bei der Stadtgemeinde angestellt. Österreich hat ja ungezählte verarmte Adelige gehabt«, erzählte Hitler weiter. Seine Frau schätzte er in seiner Erinnerung auf gut dreißig Jahre. »Die Quartiersfrau hat uns sehr gern gehabt  ; sie hat eigentlich immer mehr zu uns gehalten als zu ihrem Mann. Der hatte gar nichts zu reden zu Hause. Sie hat ihn immer angefahren wie eine Viper. Einmal hat es einen Krach gegeben.« Sie habe ihren Mann sogar einmal wegen eines Streits aus der Wohnung ausgesperrt. Im Hof hatte er Angst  : »Es musste ihm immer jemand leuchten, weil er vor den Ratten Angst hatte. Wie er draußen war, sperrt sie zu … Er  : ›Petronella, mach auf  !‹ … Auf einmal  : ›Adolf, machen Sie sofort auf  !‹ Sie zu mir  : ›Sie machen nicht auf  !‹ … Bis sieben Uhr früh hat sie ihn draußen gelassen.« Recht streng dürfte die Aufsicht solchen Erzählungen zufolge nicht gewesen sein. Die Schulzeit in Steyr kam der Familie teuer. Wie viel der Beitrag für die Untermiete ausmachte, wissen wir nicht. Doch muss man mit etwa fünf bis zehn Kronen im Monat rechnen. Dazu das Schulgeld in Höhe von achtzig Kronen je Semester, die Aufnahmetaxe von vier Kronen und zwanzig Heller, ein Schülerbibliotheksbeitrag von zwei Kronen und eine Krone für die Deckung der Auslagen für Jugendspiele, und die Zugfahrten nach Steyr, die angeblich recht oft erfolgt seien. Das summierte sich auf mindestens 250 bis 300 Kronen, ohne Kost und Taschengeld. Bei 1200 Kronen Pension der Mutter plus 240 Kronen Erziehungsbeitrag für die drei Kinder eine erhebliche Summe. Unter den Stipendienbeziehern, die im Jahresbericht 1904/05 aufgeführt werden, scheint Hitler nicht auf. Das wäre auch ziemlich überraschend bei den Leistungen, die er erbrachte. Vom Schulgeld konnte man nur dann ganz oder halb befreit werden, wenn man in Sitten und Fleiß wenigstens die Note befriedigend und ein Mittellosigkeitszeugnis vorweisen konnte. Das war bei zwölf seiner Klasse zwar der Fall, aber nicht bei Hitler. Auch während der Ferien galten die Disziplinarvorschriften der Schule, das Verbot des Tabakrauchens, des Gasthausbesuchs, des Tragens von Parteiabzeichen, der Teilnahme an Ferialverbindungen, an Demonstrationen und Parteiwesen und das Verbot des Viatizierens.5

4 Hitler, Monologe, 158, Wolfsschanze, 8./9.1.1942. 5 Jahresbericht der k. k. Staats-Oberrealschule in Steyr, 1904/05, auch für alle folgenden Schulinformationen.

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2. Die Welt der Oberrealschule Die 1872/73 eröffnete Steyrer Oberrealschule, heute Bundesrealgymnasium, zu deren Schülern für kurze Zeit im Jahr 1890/91 auch Robert Musil gehört hatte, war eine gut geführte Institution. Untergebracht war sie im 1657–1661 errichteten Kollegiumstrakt der Vorstadtpfarre St. Michael. Im Inneren spürte man noch immer, dass es einmal ein Kloster war. Ein jesuitischer Geist wehte durch die langen Gänge mit Tonnen- und Kreuzgewölben. Die Pausenordnung bestimmte  : »Die Schüler verbringen die Pausen ohne Ausnahme auf dem großen und luftigen Korridor der Anstalt, während die Schulzimmer ausgiebig gelüftet werden.« Hitlers Klasse zählte 26 Schüler. Davon waren elf in Steyr geboren, neun im son­ stigen Oberösterreich, drei in Niederösterreich, einer in der Steiermark und zwei in Böhmen. Alle hatten sie Deutsch als Muttersprache, 25 waren katholisch, einer mosaisch. Drei waren 15 Jahre alt, elf 16, acht 17, drei 18 und einer 19 Jahre. Hitler zählte mit 16 Jahren also eher zu den jüngeren Schülern. Von 15 Schülern der Klasse wohnten die Eltern in Steyr. Abschließen konnten das Schuljahr fünf mit Vorzug, 15 mit Erfolg und drei mit einer Nachtragsprüfung, darunter auch Hitler. Der einzige jüdische Mitschüler Hitlers war Josef Sommer, der Sohn des Inhabers der Messingfabrik Reichraming, die mit 120 Beschäftigten der größte Arbeitgeber dieses kleinen Ortes war. Sommer maturierte 1908 mit Auszeichnung, studierte an der Technischen Hochschule Zürich und führte später den Betrieb, der allerdings bereits 1928 Konkurs anmelden musste. Sommer ging danach Wien und schrieb ein Buch über Friedrich Nietzsche. Im Mai 1942 wurde er nach Izbiza deportiert und dort ermordet, wie auch seine Schwester, die in Auschwitz starb.6 Es gab auch einen jüdischen Lehrer an der Schule  : Hitlers Deutschprofessor Dr. (Robert) Siegfried Nagel, der 1904 gerade neu an die Schule gekommen war. 1897 war er vom mosaischen zum katholischen Glauben übergetreten. In Steyr gab er die Zeitschrift »Widerhall« heraus, veröffentlichte einen recht erfolgreichen Lite­ raturatlas, der das Leben der Klassiker in graphische Webdiagramme zerlegte, und betätigte sich auch erfolgreich als Schriftsteller. 1916 verließ er den Schuldienst und widmete sich ganz seiner Tätigkeit als freier Autor, Literarhistoriker und Übersetzer. Seine vielgelesenen, zumeist auf konventionellen Stoffen aufgebauten Romane sind heute völlig vergessen.7 Nagel starb am 23. Jänner 1945 in Wien. Was Hitler im 6 Opferdatenbank Yad Vashem  : Josef Sommer wurde im Jahr 1891 geboren. Während des Krieges war er in Wien und wurde mit Transport 20 von Wien nach Izbica, Krasnystaw, Lublin, Polen am 12.5. 1942 deportiert  ; Wa ltr aud Neuh auser-Pfeiffer, Nicht dazugehörig. Jüdisches Leben in Steyr, in  : Arbeit Wohlstand Macht. Ausstellungskatalog, Linz 2021, 156f.; Dies. – K a rl R a msm a ier, Vergessene Spuren. Die Geschichte der Juden in Steyr, Grünbach 1998. 7 V. H a nus, Nagel, Robert Siegfried (1875–1945), Schriftsteller, in  : Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950 (ÖBL), Band 7, 18f.

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Führerbunker über seine Deutschlehrer sagte, kann nur auf ihn gemünzt sein  : »Lesen Sie meine Zeugnisse. Ich habe in Deutsch schlechte Noten gehabt. Dieser Idiot von Professor hat mir die deutsche Sprache verekelt, dieser Stümper, dieser kleine Knirps  : Ich würde nie richtig einen Brief schreiben können  ! Stellen Sie sich das vor  ! Mit einem Fünfer, ausgestellt von diesem Trottel, hätte ich nie Techniker werden können.«8 Dass er allerdings bei dieser Hasstirade am 29. August 1942 Nagels jüdische Herkunft nicht erwähnte, ist auffällig. Wenn er mit dem jüdischen Professor, über den er ein halbes Jahr vorher im Führerbunker schimpfte, Nagel gemeint hatte, so hätte er einiges durcheinandergebracht  : »In Steyr haben wir einen Juden gehabt, den haben wir eingesperrt in sein Laboratorium. Da ging es zu wie in einer Judenschule, tatsächlich  ! Er hat sich überhaupt keine Autorität verschaffen können  ; mir wurde erzählt, er sei früher gefürchtet gewesen, weil er schrecklich gebrüllt hat. Da hat ihn einer danach lachen sehen, und damit war’s aus.«9 Nagel war kein Naturwissenschafter mit Laboratorium, er war jung, Steyr war seine erste Stelle, und er war erst in Hitlers Jahr neu an die Schule gekommen. An seinen Professoren ließ Hitler kaum ein gutes Haar. »Wenn ich meine Professoren zusammennehme, muss ich sagen, dass ein gewisser Prozentsatz davon irrsinnig war  : Sie töteten die Kinderseele. Nur die paar anderen haben Erfolge erzielt.«10 »Von meinen ganzen Professoren hat gut die Hälfte einen geistigen Klaps gehabt. Der eine den Wahnsinn, der andere den.«11 »Ein großer Teil der Professoren war absolut geistesgestört, zum Teil sind sie auch verrückt geworden. Für die, welche in Ordnung waren, haben wir eine große Liebe gehabt, das waren aber absolute Ausnahmen.«12 Die Steyrer Lehrkräfte waren von hervorragender Qualität. Sie legten ihren Stolz darein, in der Öffentlichkeit mit wissenschaftlichen Publikationen in Erscheinung zu treten  : Goldbacher mit vielen heimatkundlichen und heimatschützerischen Veröffentlichungen, Alfred Hackel über die »lutherischen Stadtschulen in Steyr«, König mit Ästhetischen Studien über Racines Iphigenie, die Naturwissenschafter mit mathematischen, geologischen und zoologischen Abhandlungen. Auch der Direktor Edmund Aelschker war wissenschaftlich und schriftstellerisch tätig, vornehmlich zur Geschichte Kärntens, und wirkte im Gemeinderat von Steyr lange Jahre als Vertreter der Liberalen. Der bekannteste unter Hitlers Lehrern war Gregor Goldbacher (1875–1950). Er unterrichtete Hitler in geometrisch Zeichnen und Stenographie und spielte in den Steyrer Sportvereinen, im Denkmalschutz und als Kulturpublizist  8 Hitler, Monologe, 323, Werwolf, 29.8.1942, abends.  9 Hitler, Monologe, 157, Wolfsschanze, 8./9.1.1942. 10 Hitler, Monologe, 269, Führerhauptquartier, 3.3.1942, mittags. 11 Hitler, Monologe, 322. Werwolf, 29.8.1942, abends. 12 Hitler, Monologe, 340, Werwolf, 7.9.1942, mittags.

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eine prominente Rolle. Über seinen Steyrer Religionsprofessor Dr. Josef Schuhbauer wusste Hitler im Unterschied zu seinem verhassten Linzer Religionslehrer Franz Sales Schwarz nichts Negatives zu sagen. Ein sehr fortschrittlicher Künstler war Hitlers Zeichenlehrer Emil Heythum – er animierte die Schüler zum Zeichnen in der Natur und machte mit ihnen immer wieder Lehrausgänge. Er war ein bekannter Buchillustrator und stand stilistisch dem Jugendstil nahe, etwa mit dem Ölbild »Faun und Fee«, das vor einiger Zeit auf Artnet versteigert wurde.13 In seinem recht innovativen Zeichenunterricht dürfte auch die Porträtzeichnung des jungen Hitler entstanden sein, die von Hugo Rabitsch 1938 veröffentlicht wurde und von ihm und Kubizek einem F. Sturmlechner zugeschrieben wurde, aber in Wahrheit von Hitlers Steyrer Schulkameraden Armin Sturmberger stammt.14 Auch Hitlers Turnlehrer, der Hauptschullehrer Alois Lebeda, trat als Künstler hervor. Er war erst am Beginn des 2. Semesters an die Stelle des im Jänner 1905 erkrankten August Pichler getreten, wurde nach dem Ersten Weltkrieg Direktor der Bürgerschule und war wohl der einzige Sozialist im Lehrkörper, der sich 1938 dann als glühender Nationalsozialist und Hitler-Verehrer entpuppte und das Steyrer »Hitler-Haus« am Grünmarkt in mehreren Zeichnungen festgehalten hat.15 Hitler war in Oberösterreich mit zwei Professoren namens König konfrontiert, in Steyr mit dem streng katholischen Professor für Französisch und Deutsch Dr. Emil König, der als sehr liebenswürdiger Mensch galt und wegen eines Sprachfehlers angeblich kein anlautendes »h« sagen konnte oder wollte, und in Linz mit dem freisinnigen Physik- und Mathematikprofessor Dr. Anton König, der als Dampfkesselprüfer gearbeitet und bei einer Explosion bleibende Verletzungen davongetragen hatte.16 Hitler vermischte beide und machte daraus eine Anekdote  : »Physikunter13 Heythum war eher klerikal orientiert  : Mit 1. Juli 1910 trat er nach 32-jähriger Dienstzeit, davon sechzehn in Steyr, in den Ruhestand und übersiedelte nach Wien. Sein Bild »Faun und Fee«, 2004 versteigert, abgebildet  : http://www.artnet.com/artists/emil-heythum/ aufgerufen am 12.10.2021. 14 Armin Sturmberger besuchte die Realschule in Steyr in derselben Klasse wie Hitler und absolvierte anschließend ein Architekturstudium an der Technischen Hochschule Wien. Ab 1927 war Sturmberger als freischaffender Architekt in Linz tätig, von 1940 bis 1963 leitete er die Firma Sturmberger & Maier. Von 1924 bis 1945 und 1949 bis 1954 war er Professor an der Bundesgewerbeschule Linz. 1945 bis 1949 war er wegen Zugehörigkeit zur NSDAP entlassen. Warum Rabitsch für Sturmberger 1938 einen falschen Namen angab, ist unklar  : wollte er die Quelle verschleiern, oder hat er sich nur geirrt  ? Alle späteren Autoren haben von ihm abgeschrieben. Eine Ausnahme bildet Werner M aser, Adolf Hitler. Legende, Mythos, Wirklichkeit, München 1971, 71f., der den richtigen Namen Sturmberger verwendet. Hugo R a bitsch, Jugenderinnerungen eines zeitgenössischen Linzer Realschülers. Aus Adolf Hitlers Jugendzeit, München 1938, 106  ; August Kubizek, Adolf Hitler, mein Jugendfreund, Graz–Stuttgart 3. Aufl. 1966, 4. Aufl. 1975, 29f, 125. 15 H a ns Sperl, Der Maler Alois Lebeda (1871–1953), in  : Oberösterreichische Heimatblätter 52, 1998, H. 3/4, 342–343. 16 Nachruf auf Emil König, in  : Linzer Volksblatt, 21. April 1911  ; Wilhelm Freh, Professor Dr. Anton

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richt hat uns in der dritten Klasse ein Professor König gegeben. Wie wir zu ihm in die Klasse kamen, saß ich ganz vorn. Er begann die Namen zu verlesen. Als er an mich kam, habe ich ihn angesehen, ohne mich zu rühren. Ungehalten, stellte er mich zur Rede. ›Ich heiß nicht Itler, ich heiße Hitler, Herr Professor  !‹«17 Hitlers Steyrer Mathematiklehrer Julius Krug war nur im Schuljahr 1904/05 an der Schule in Steyr, wurde im nächsten Jahr nach Marburg versetzt und starb jung in Graz. Hitlers Klassenvorstand, der Geographie- und Geschichte-Lehrer Dr. Alfred Hackel, war ein lang gedienter Lehrer, der offensichtlich recht gemütlich war und den Schülern manches erlaubte. Ideologisch auffällig trat er nicht hervor, außer man würde sein Interesse für das evangelische Schulwesen im alten Steyr als deutschnationales Indiz werten.

3. Das Schuljahr 1904/05 Das Schuljahr 1904/05 hatte an der Realschule am 18. September mit dem Heiligengeistgottesdienst in der Dominikanerkirche begonnen, danach folgten die Verlesung und Erläuterung der Disziplinarordnung in den Klassenzimmern sowie die Bekanntgabe der Stundeneinteilung. Am 19. begann der regelmäßige Unterricht. Am 4. Oktober waren die katholischen Schüler und der Lehrkörper beim Hochamt zum Namensfest des Kaisers in der Vorstadtpfarre versammelt, am 19. November zu einem Requiem für die Kaiserin Elisabeth. Das 1. Semester schloss am 11. Februar, am 15. begann das 2. Semester. Am 9. März gab es eine Inspektion durch den Fachinspektor für Freihandzeichnen. Am 9. April wurde Haydns Oratorium »Die Jahreszeiten« unter Mitwirkung der Gesangsschüler in der Industriehalle aufgeführt. Am 9. Mai gab es eine Schiller-Gedenkfeier, gestaltet von Hitlers Deutschlehrer Nagel. Das Programm umfasste Beethovens »An die Freude«, eine Szene aus Heinrich Laubes »Die Karlsschüler« mit verteilten Rollen (4. Aufzug, 5. Szene), dann die Festrede von Prof. Nagel, ferner die 4. Szene des 1. Aufzugs aus Wilhelm Tell und zuletzt die Vertonung von Schillers »Die Worte des Glaubens« unter Leitung des Komponisten und Gesanglehrers der Anstalt Franz Bayer. Die Sätze, die Laube dem jungen Schiller in der ausgewählten Szene in den Mund legte  : »Ich band mir schon als Knabe eine schwarze Schürze vor und stieg auf den Stuhl und predigte« mögen Hitler an eigene Erlebnisse erinnert und seine Gedanken beflügelt haben. Ebenso die Antwort des Herzogs  : »Deutsches Theater  ! Narretei  ! Schaff Er erst eine gebildete deutsche Sprache  ! Schaff Er erst Geschmack  !« König – ein Achtziger, in  : Oberösterreichischer Kulturbericht 195, Folge 49  ; Hitler, Monologe, 340, Werwolf, 7.9.1942, mittags. 17 Hitler, Monologe, 157, Wolfsschanze, 8./9.1.1942.

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und der Kommentar Schillers  : »Das Ideal eines Volksredners ward mir spöttisch entrissen  ; denn in der Karlsschule hieß es, gibt es kein Volk und keine Gottesgelehrsamkeit. Willst du aufgenommen sein, so werde Jurist oder Mediziner. Ich war arm, die Aufnahme galt uns für die größte Wohltat, besonders weil ich nur bürgerlicher Herkunft war.« Auch die Szene aus Wilhelm Tell mit der Ankündigung des RütliSchwurs mag Hitler beeindruckt haben. Ein Jahr später sah er am Linzer Landestheater die Aufführung des ganzen Stücks. Auffällig ist auch das Maturathema, das Dr. Nagel im Jahr 1904/05 gestellt hatte, weil es ganz und gar nicht deutschnational war und die nach 1945 geschaffene österreichische Bundeshymne quasi vorausahnt  : »Rühmt sich Österreich zu Recht als Land des Pfluges, Land des Lichtes, Land des Schwertes und Gedichtes  ?« Ein Höhepunkt des Schuljahrs war für die Schüler sicher der Maiausflug am 23. Mai. Leider war es ein total verregneter Tag. Hitlers 4. Klasse fuhr mit dem Klassenvorstand Prof. Hackel um 7 h 30 mit der Steyrtal-Bahn nach Leonstein. Aus Wettergründen musste der geplante Fußmarsch nach Altpernstein aufgegeben werden. Der lange Aufenthalt im Gasthaus in Leonstein wurde mit allerlei Spielen verbracht. Um 8 Uhr Abend trafen alle Ausflügler, 22 an der Zahl, wieder wohlbehalten in Steyr ein. Lehrausgänge machte die 4. Klasse zum Kaiserpanorama, zur Michaelerkirche, zum Rathaus und zur Dominikanerkirche, ebenso in Sommerhubers Tonwarenfa­ brik (Töpferscheibe, Pressen in Formen …) und an den Ennskai zum Zeichnen und Malen im Freien. Wie Hitler das religiöse Programm mitmachte, kann man nur erahnen. Die religiösen Übungen für die katholischen Schüler und die Schulgottesdienste waren Pflicht und wurden laut Jahresbericht nach Vorschrift abgehalten. Vom 3. bis zum 10. Juli gab es die mündlichen Versetzungsprüfungen. Am 15. Juli wurde das Schuljahr geschlossen. Am 17. September mussten die betroffenen Schüler zur Wiederholungsprüfung antreten. Hitler bestand sie.

4. Ach, das war eine schöne Zeit! Hitlers Erzählungen über seine Steyrer Zeit sind recht widersprüchlich. Einerseits war die Stadt für ihn der »Ort der Verdammten«18, andererseits das Jahr »eine schöne Zeit«.19 Gegenüber Goebbels klagte er, wie sehr er sich heimgesehnt und »zergrämt« habe, als seine Mutter ihn nach Steyr geschickt habe.20 In seiner Altersnostalgie aber 18 Kubizek, Adolf Hitler, 65. 19 Hitler, Monologe, 156, Wolfsschanze, 8./9.1.1942. 20 Joseph Goebbels, Die Tagebücher, hg. v. Elke Fröhlich, Teil I  : Aufzeichnungen 1923–1941, 1997ff, 3.6.1938.

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träumte er  : »Ach, das war eine schöne, sonnige Zeit  ! Aber für mich mit sehr viel Sorge verbunden, weil ich die größten Schwierigkeiten hatte, mich durch die Schlingen der Schule hindurch zu winden, besonders wenn die Prüfungen nahten.« Hitler fühlte sich als Student, nahm am Schulleben aktiv Anteil und scheint auch Studentenstreichen nicht abgeneigt gewesen zu sein  : »Nach Semester-Schluss haben wir immer eine große Feier veranstaltet. Dabei ging es sehr lustig zu  : Es wurde gezecht. Da war es auch, das einzige Mal in meinem Leben, wo ich einen Rausch gehabt habe. Wir hatten die Zeugnisse bekommen … Wir sind im geheimen zu einer Bauernwirtschaft hinaus und haben dort Mordssprüche gerissen und getrunken. Wie es genau war, weiß ich nicht, ich konnte es mir hinterher nur rekonstruieren.«21 Sein denkbar schlechtes Semesterzeugnis hatte er nach der Abschlussfeier irgendwo liegen gelassen. Am nächsten Tag wurde es in der Direktion abgegeben, aber arg zerknittert und in einem schon für stille Zwecke benutzten Zustand. Die Taxe von zwei Kronen für das Duplikat ist im Jahresbericht der Schule penibel verbucht. Ein einziges »Vorzüglich« hatte Hitler im Zeugnis stehen  : in Turnen. Kubizek beschreibt ihn in der Urfassung seiner Erinnerungen als Stubenhocker  : wenig Sport, kein Wirtshaus, keine Kaffeehäuser, keine Liebeleien und auch keine Rüpeleien.22 In Steyr war das wohl noch nicht der Fall. Seine Note in Turnen spricht dagegen. »Auf dem Domberg habe ich Schifahren gelernt«, schwärmte er später im Führerbunker.23 Dabei handelt es sich um einen Schreib- oder Hörfehler der Berichterstatter. Es gibt in Steyr keinen Domberg, aber sehr wohl einen Damberg. Dieser war zu Hitlers Zeit ein beliebtes Ausflugsziel und Schigebiet, auf dem später auch eine Sprungschanze errichtet wurde. Norwegische Soldaten, die in der Steyrer Waffenfabrik tätig waren, hatten die ersten Schier nach Steyr gebracht. 1904 wurde der Steyrer Schiverein als »Erster oberösterreichischer Skiclub Telemark« begründet. Als Initiator fungierte Hitlers Geometrie- und Stenographie-Lehrer Gregor Goldbacher. Die Vereinstätigkeit war eng mit der Oberrealschule verknüpft. Als Übungsgebiet diente der Damberg. Ein Foto aus dem Februar 1905 zeigt Goldbacher mit einer Schülergruppe, alle in Einstocktechnik, die Schüler mit Hüten und Kniehosen, teilweise auch mit Krawatte, der Lehrer mit Schimütze und Schihose. Unter den 25 Schülern ist auch Adolf Hitler zu identifizieren, mit Steirerjanker, Hut und Mascherl, genauso, wie Zeitzeugen ihn damals beschrieben. Im Jahresbericht der Schule ist von zwölf Ausfahrten mit den Schülern der 4. bis 7. Klasse die Rede, elf davon an den Hängen des Dambergs. Fünfzig Schüler hätten dabei das Schilaufen erlernt und eine unter-

21 Hitler, Monologe, 156, Wolfsschanze, 8./9.1.1942. 22 August Kubitschek (sic  !), Erinnerungen an die mit dem Führer gemeinsam verlebten Jünglingsjahre 1904–1908 in Linz und Wien, Bd. 1, handschriftlich, Privatarchiv, fol. 17ff. 23 Hitler, Monologe, 156, Wolfsschanze, 8./9.1.1942.

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schiedlich befriedigende Fertigkeit erlangt. Die Anstalt stellte fünfzehn Paar Schier mit unterschiedlichen Bindungen zur Verfügung. Aber noch beliebter als das Schifahren war das Rodeln. 115 Schüler der Anstalt beteiligten sich in Hitlers Jahr an Rodel- und Schlittenfahren, davon 54 mit eigenen Rodeln. Das Schlittschuhlaufen betrieben 56 Prozent der Schüler.24 Ob er daran teilnahm, ist unsicher. Kubizek behauptet, dass es ihn nicht interessiert habe.25 Auch der Schwimmsport war an der Steyrer Schule wichtig. 86 Prozent der Schüler nahmen am Schwimmunterricht teil, der in der Schwimm- und Badeanstalt der Waffenfabrik und in anderen Badeanstalten erteilt wurde. Ob und wie gut Hitler schwimmen gelernt hatte, ist strittig. Das Radfahren, für das Steyr damals mit dem berühmten Waffenrad der Waffenfabrik und mehreren Radfahrvereinen eine Hochburg war, hat Hitler hingegen nie gelernt. Vielleicht war er dafür zu mittellos und nach Ansicht der Schule auch noch zu jung. Im Jahresbericht hieß es recht zurückhaltend  : »Eine maßvolle Pflege des Radfahrens war den körperlich gut entwickelten Schülern nicht untersagt, sofern die Eltern oder deren Stellvertreter ihre Zustimmung hierzu erteilten.« 80 Schüler der Anstalt oder 43 Prozent betrieben den Radsport, wobei 37 im Besitz eigener Räder waren. Nur sechs der 26 Schüler der 4. Klasse waren Radfahrer. Recht eifrig gepflegt wurden an der Anstalt hingegen die Jugendspiele. Die Leitung und Überwachung teilten sich Prof. Emil Heythum und Turnlehrer Alois Lebeda. Da gab es Stafettenlauf, Bärenschlagen, Fuchs aus dem Loch, Schwarzer Mann, Foppen und Fangen, Russen und Japaner, Katz und Maus, Drei Mann hoch, Schwarz und Weiß, Faustball, Fußball, Schlagball, Schleuderball, Grenzball, Tauziehen und Hinkkampf. Erst im Schuljahr 1905/06 wurden Gesundenuntersuchungen durchgeführt. Ein Hauptproblem war der Zustand der Zähne  : Aus Hitlers ehemaliger Klasse hatten nur zwei Schüler ein völlig gesundes Gebiss. Mehr als fünf defekte Zähne hatten sechs Schüler. Auch Hitler kämpfte schon als junger Mann mit seinem schlechten Gebiss. Im Krieg klagte er über Zahnprobleme. Eine große Zahl seiner Zähne war später durch Brücken ersetzt.26

24 StA Steyr, Nachlass Gregor Goldbacher, Sch. 3, Chronik des I. ob.öst. Ski-Klubs Telemark in Steyr  ; Sch. 2, Bericht über Touren des Obmannes mit Realschülern 1904/05  ; Linzer Volksblatt, 14.11.1907, 3  ; Linzer Tages-Post, 15.1.1908, 6  ; allgemein  : A ndre as Pr a her, Sport-, Bewegungs- und Körperkulturen in Steyr, in  : Arbeit Wohlstand Macht. Ausstellungskatalog, Linz 2021, 299ff. 25 Kubizek, Adolf Hitler, 37. 26 Jahresbericht der k. k. Staats-Oberrealschule in Steyr, 1905/06.

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5. Steyr – ein Bollwerk der Liberalen »Nun war Steyr für mich ein unangenehmer Platz  : der Gegensatz von Linz  ; Linz war national, Steyr schwarz und rot«, erinnerte sich Hitler später.27 Er hatte nicht unrecht. In Steyr regierten, anders als in den übrigen Städten des Landes, die damals bereits in der Hand der Deutschnationalen waren, bis 1911 immer noch die von den Klerikalen gestützten Liberalen. Steyr nahm im politischen Spektrum Oberösterreichs eine Sonderstellung ein. Es war, wie Lothar Höbelt es formulierte, ein trotziges Bollwerk der »altliberalen« Fortschrittspartei.28 Diese war zwar durchaus antiklerikal, aber auf die mit ihr ein Wahlbündnis bildenden Klerikalen angewiesen. Steyr war eine Monofactory-Town im amerikanischen Stil und war wirklich eine Industriestadt mit einer bereits damals sehr selbstbewussten Industriearbeiterschaft und einem anders als in Linz weniger deutschnational geprägten Bürgertum. »Ich erinnere mich«, schreibt Karl Honisch, einer der wenigen Zeitzeugen aus Hitlers Wiener Zeit, »dass es immer wieder zwei Faktoren waren, die ihn (Hitler) zur Stellungnahme entflammten. Das waren die Roten und die Jesuiten.«29 Mit »roten« Arbeitern hatte er in seiner Steyrer Zeit erstmals Gelegenheit, wirklich Bekanntschaft zu machen. Und das muss auch für die Jesuiten gelten, die in Steyr seit der Gegenreformation sehr stark vertreten waren. Ihr damaliger Sitz in der Dominikanerkirche lag nur wenige Schritte von Hitlers Wohnadresse entfernt. Und in der Michaelerkirche mit dem an diese angeschlossenen Schultrakt erinnerte alles an die Jesuiten. Der Steyrer Bürgermeister der Jahre 1902 bis 1907, der Buchhändler Viktor Stigler, war ein Angehöriger der Deutschen Fortschrittspartei (Altliberalen), die er auch im Landtag vertrat. Er hatte sich immer mehr den Klerikalen angenähert. Auch unter den Lehrkräften der Realschule dominierten die Liberalen. Der Direktor Edmund Aelschker, der im Juli 1905 in Pension ging und kurz darauf verstarb, war seit 1893 Mitglied des Gemeinderats. Im Frühjahr 1906 hatte er als Alterspräsident noch den neugewählten Gemeinderat der Stadt eröffnet. Der Steyrer Gemeinderat setzte sich zu Hitlers Zeit aus 21 mit den Klerikalen verbündeten Liberalen, 4 Sozialdemokraten und 3 Klerikalen zusammen. Die Deutschnationalen waren bis 1908 nicht im Gemeinderat. Erst 1911 feierten sie auch in Steyr einen überwältigenden Erfolg. Als bedeutendster Vertreter der kurzen deutschnatio­

27 Hitler, Monologe, 158, Wolfsschanze, 8./9. 1. 1942. 28 Loth a r Höbelt, Das bürgerliche Steyr und die Politik der Jahrhundertwende, in  : Julius Gschaider, Burschenschafter, Bürgermeister 1912–1918, hg. v. der conservativen Pennalie Eysn, Steyr 2021, 11  ; K a rl-Heinz R auscher, Die Stadt Steyr unter Bürgermeister Julius Gschaider – Aspekte bürgerlicher Herrschaft, ebd., 73ff.; Julius Gsch a ider, Erinnerungen, ebd., 117ff. 29 Zit. n. Brigit te H a m a n n, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München 1996, 358.

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nalen Dominanz in der Steyrer Politik kann der Burschenschafter und Neffe von Josef Werndl Julius Gschaider angesehen werden. Er führte als Bürgermeister von 1912 bis 1919 seine Heimatstadt durch den Ersten Weltkrieg und konnte, da Steyr mit seiner riesigen Waffenfabrik vom Krieg auf der Einnahmenseite profitierte, mit verschiedenen Innovationen eine sozialpolitisch fortschrittliche Politik verwirklichen  : Der Neubau des Krankenhauses, eine verbesserte Wasserversorgung, die Modernisierung der Verwaltung, die Elektrifizierung, die Errichtung der Handelsschule und der Neubau der Waffen- und Automobilfabrik fielen in seine Amtszeit.30 Das von Adolf Hitler erwähnte Semesterzeugnis vom 11. Februar 1905, das von ihm als Klopapier missbraucht worden war, sah nicht nur »nicht ganz wunderbar«, sondern ganz miserabel aus. Seine Leistungen in den Fächern Deutsch, Französisch, Mathematik und Stenographie waren im ersten Semester mit »Nicht genügend« bewertet worden. Außer im Freihandzeichnen und Turnen, wofür er »Lobenswert« und »Vorzüglich« erhielt, hatte er sonst nur »Befriedigend« und »Genügend« stehen. Im Sommersemester besserte sich die Situation. Fortschritte gab es in Fleiß von Ungleichmäßig auf Hinreichend, in Religion von Genügend auf Befriedigend, in Deutscher und Französischer Sprache und in Mathematik jeweils von Nicht genügend auf Genügend, in Geographie und Geschichte von Genügend auf Befriedigend, nur in Physik eine Verschlechterung von Befriedigend auf Genügend und in Geometrischem Zeichnen von Genügend auf Nicht genügend. So musste er im Herbst zu einer Nachprüfung antreten, die er aber bestand. Damit hätte er zwar schlechte, aber durchwegs positive Abschlussnoten gehabt. Dass die Nachprüfung allerdings ausgerechnet im Fach Geometrisch Zeichnen war, wirft nicht gerade das beste Licht auf seine angeblichen Fähigkeiten als Architekt oder Baumeister. Auch die Äußere Form seiner Arbeiten war minder gefällig. Im Freifach Stenographie erntete er im ersten Semester ein Nicht genügend und nahm im zweiten Semester gar nicht mehr teil. Im Freifach Gesang, das er im 2. Semester besuchte, erhielt er ein Befriedigend. Im ersten Semester hatte er dreißig Lehrstunden versäumt, aber nicht ohne Rechtfertigung, wie meist behauptet wird, sondern ordnungsgemäß entschuldigt. Im zweiten Semester, wo er angeblich erkrankte und eine Erholung antreten musste, fehlte er hingegen nie. Das Schlusszeugnis nach der Wiederholungsprüfung im Herbst bedeutete, dass Hitler in den V. Jahrgang aufsteigen hätte können. Ob es von vorne herein Hitlers Wunsch gewesen war, von der Schule abzugehen, oder ihn tatsächlich eine Krankheit vor den Augen der Mutter von der Verpflichtung entband, weiterhin die Schule besuchen zu müssen, sei dahin gestellt.31 Es fehlte ihm der Wille. Er war orientierungslos  : 30 Höbelt, Das bürgerliche Steyr, 11–48. 31 »Meine letzte Krankheit hab’ ich als sechzehnjähriger Bub gehabt«, behauptet Hitler in den Tischgesprächen, Hitler, Monologe, Wolfsschanze, 9./10.1.1942.

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Abb. 1  : Gregor Goldbacher mit einer Schülergruppe der Realschule am Damberg bei Steyr, Februar 1905. Hitler, hintere Reihe, vierter von rechts, Goldbacher im Vordergrund im Zentrum.

Wieder an eine andere Schule wechseln, einen Beruf ergreifen, sich in Tagträume flüchten, Künstler werden  ? Er selbst behauptete vielsagend  : »Da kam mir plötzlich eine Krankheit zu Hilfe und entschied in wenigen Wochen über meine Zukunft und die dauernde Streitfrage des väterlichen Hauses. Was ich so lange im Stillen ersehnt, für was ich immer gestritten hatte, war nun durch dieses Ereignis fast von selber zur Wirklichkeit geworden. Unter dem Eindruck meiner Erkrankung willigte die Mutter endlich ein, mich aus der Realschule nehmen zu wollen und die (Kunst-)Akademie besuchen zu lassen.«32 Zurück in Linz boten sich für den Schulabbrecher die Möglichkeiten der Landeshauptstadt  : Theater, Kino, Büchereien, Museen. Er wurde Mitglied des Volksbildungsvereins und des Musealvereins. Ein Klavier wurde gekauft, das dann doch recht unbenutzt blieb.33 Für fünf Kronen monatlich nahm er Klavierunterricht, ging ins Theater, manchmal ins Kino, zeichnete, malte, schrieb Gedichte, komponierte, 32 Hitler, Mein Kampf, 16, Kritische Edition, 125. 33 Kubizek, Adolf Hitler, 77, 83 und 92f.

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entwarf Theater-, Brücken-, Städte-, Straßen- und Villenbauten und diskutierte mit dem Tapeziererlehrling Kubizek irreale und phantastische Kultur- und Bauvorhaben. 1905, also erst nach dem Abbruch des Realschulbesuchs in Steyr und nicht bereits 1902 oder 1901, wie Kubizek behauptet, dürfte Hitler mit den Besuchen am Linzer Landestheater begonnen haben. In diesem Jahr stand auch jenes Stück auf dem Spielplan, von dem der junge Hitler so beeindruckt war  : Wilhelm Tell. Daneben auch Lohengrin und Rienzi. Dieses Leben, das Kubizek vielleicht ganz treffend als »Nachahmung studentischer Sitten« bezeichnete, umschrieb Hitler selbst mit der »Hohlheit des gemächlichen Lebens«.34 Adolf steuere völlig ins Ungewisse, fürchtete die Mutter. Wie hätte sich sein Leben wohl entwickelt, wenn er an der Schule geblieben wäre  ?

34 Kubizek, Adolf Hitler, 22.

Martin Moll, Graz*

Royals beim Führer Hitlers Begegnungen mit gekrönten Häuptern im Zweiten Weltkrieg

1. Einleitung Nichts erscheint so abwegig wie die Einschätzung Adolf Hitlers als Diplomat. Und doch war Hitler als Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs in den diplomatischen Verkehr an zentraler Stelle eingebunden, womit keineswegs bloß Antritts- und Abschiedsbesuche neu ernannter bzw. abberufener Gesandter anderer Staaten, die Aushändigung von Schreiben ausländischer Staatsoberhäupter usw. gemeint sind.1 Während des Zweiten Weltkriegs traf Hitler an 23 Orten mindestens 185 namentlich bekannte Personen (ohne Delegationen) des besetzten, verbündeten und neutralen Auslands (30 Staaten) – vom amerikanischen Unternehmer über einen isländischen Schriftsteller und einen indischen Rebellenführer bis zu Staatsoberhäuptern.2 Unter Letzteren befanden sich drei Könige (Leopold III. von Belgien, Boris III. von Bulgarien und Michael I. von Rumänien) sowie Prinzregent Paul von Jugoslawien. Obwohl nach einem Diktum Talleyrands die Sprache von Politikern deren Gedanken verschleiert, kommt den Unterredungen Hitlers mit Ausländern ein beachtlicher Erkenntniswert zu. Anhand ihrer Abfolge und der Auswahl der Gesprächspartner bzw. deren Wegfalls lässt sich der politische Verlauf des Weltkriegs verfolgen. Ein in

* Abkürzungen  : AA  : Auswärtiges Amt  ; ADAP  : Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik  ; E  : Eintragung  ; FN  : Fußnote  ; Goebbels-TB  : Die Tagebücher von Joseph Goebbels  ; KTB OKW  : Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht  ; OKW  : Oberkommando der Wehrmacht  ; RAM  : Reichsaußenminister. 1 Für die Zwischenkriegszeit Fr a nk Uwe M äuer, Zu Gast in Deutschland – Staatsbesuche in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Hamburg 2016. 2 Mitgezählt sind Protektorat Böhmen und Mähren, Jugoslawien bis April 1941, danach Serbien und Kroatien. Hierzu György R á nk i, Hitlers Verhandlungen mit osteuropäischen Staatsmännern, 1939–1944, in  : Klaus Hildebrand – Reiner Pommerin (Hg.), Deutsche Frage und europäisches Gleichgewicht. Festschrift für Andreas Hillgruber zum 60. Geburtstag, Köln–Wien 1985, 195–228  ; Sa nti Corvaja, Hitler and Mussolini. The Secret Meetings, New York 2008  ; Pierre Milza, Conversations Hitler–Mussolini 1934–1944, Paris 2013  ; K a rl-Gü nter Zelle, Mit Hitler im Gespräch. Blenden – überzeugen – wüten, Paderborn 2017  ; Tore R em, Knut Hamsun. Die Reise zu Hitler, Berlin 2016.

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Ausarbeitung befindliches Buch des Verfassers fragt nach den Gesprächsinhalten und Begleitumständen der Treffen 1939–1945.3 Als zentrale Quelle dient eine Edition der deutschen Protokolle der Gespräche Hitlers mit Ausländern.4 Im Vorgriff sei hier ein Kuriosum präsentiert  : Hitlers Treffen mit Königen, Regenten und Angehörigen regierender Häuser, kurz  : mit tiefblauem Blut. Bei Kriegsbeginn waren Hitler solche Begegnungen nicht mehr fremd, denn er war im Mai 1938 während seines Staatsbesuchs in Italien mit dessen König Viktor Emanuel III. zusammengetroffen und hatte im Juni 1939 als Gastgeber des jugoslawischen Prinzregenten Paul fungiert. Obendrein hatte Hitler im Oktober 1937 den britischen ExKönig Edward VIII. auf dem Obersalzberg (Berghof) empfangen. Dieser Beitrag schildert Hitlers Begegnungen mit Royals während des Krieges, Treffen, die nicht deren protokollarischer Charakter, sondern dramatische Umstände prägten. Wie sehr der Krieg diese Treffen überschattete, zeigt der Unterschied der Stellung zweier Könige, die Hitler empfing  : Zar Boris war der selbstbewusste Herrscher eines mit Deutschland verbündeten, ihm aber keineswegs ausgelieferten Landes  ; König Leopold vertrat hingegen das besetzte Belgien und befand sich in deutscher Kriegsgefangenschaft. Dieser Ansatz eignet sich zur Beurteilung der Frage, mit welcher Haltung Hitler Royals entgegentrat  : Für Ihresgleichen hatte er als Emporkömmling wenig Sympathien, wenngleich zahlreiche Adelige in seinem Reich wichtige Funktionen bekleideten. Erst im Mai 1943 verfügte er, dass »international gebundene Männer« – damit war der Hochadel gemeint – aus führenden Staatsstellungen zu entfernen seien.5 Die zentrale Frage lautet  : Warum traf Hitler im Krieg gekrönte Häupter und Angehörige ausländischer Königshäuser beiderlei Geschlechts, wie gestaltete er diese Begegnungen, was kam dabei zur Sprache und wie schätzte er seine Gegenüber ein  ?

3 Vgl. Christi a n Goeschel, Mussolini und Hitler. Die Inszenierung einer faschistischen Allianz, Berlin 2019. 4 A ndre as Hillgruber (Hg.), Staatsmänner und Diplomaten bei Hitler. Vertrauliche Aufzeichnungen über Unterredungen mit Vertretern des Auslandes 1939–1941, Frankfurt am Main 1967  ; Ders. (Hg.), Staatsmänner und Diplomaten bei Hitler. Vertrauliche Aufzeichnungen über Unterredungen mit Vertretern des Auslandes. Zweiter Teil  : 1942–1944, Frankfurt am Main 1970 (Hillgruber, Staatsmänner I bzw. II)  ; H a r a ld Sa ndner, Hitler – Das Itinerar. Aufenthaltsorte und Reisen von 1889 bis 1945, Berlin 2. Aufl. 2016. 5 Erlaß des Führers über die Fernhaltung international gebundener Männer von maßgebenden Stellen in Staat, Partei und Wehrmacht, 19.5.1943, in  : M a rtin Moll (Hg.), »Führer-Erlasse« 1939–1945. Edition sämtlicher überlieferter, nicht im Reichsgesetzblatt abgedruckter, von Hitler während des Zweiten Weltkrieges schriftlich erteilter Direktiven aus den Bereichen Staat, Partei, Wirtschaft, Besatzungspolitik und Militärverwaltung, Stuttgart 1997, 337f.

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2. König Leopold III. von Belgien Hitler ließ gelegentlich durchblicken, dass ihm an dem Gespräch, das er gerade führte, nichts lag und er sich dazu bloß hatte breitschlagen lassen. Diese Erfahrung machte die italienische Kronprinzessin Marie-José, die Hitler aus Höflichkeit gegenüber den verbündeten Italienern auf ihren Wunsch am 17. Oktober 1940 im Teehaus des Berghofs empfing.6 Die mit dem italienischen Kronprinzen Umberto verheiratete Marie-José war die Schwester Leopolds, der mit seiner Armee Ende Mai 1940 kapituliert hatte und seither das Leben eines Ehrenhäftlings führte  ; Marie-José wollte sich für sein und das Schicksal Belgiens einsetzen, was sie auch mutig tat.7 Laut den Memoiren von Hitlers Chefdolmetscher Paul Schmidt ließ Hitler erkennen, dass ihm sein Gast auf die Nerven ging  ; er wurde bloß nicht deutlicher, weil er sich Frauen gegenüber gern als Charmeur gab. Jedenfalls gelang es der Prinzessin, Hitler zu einem Empfang ihres Bruders zu überreden, der am 19. November auf den Berghof kam. Während des Gesprächs mit Marie-José akzeptierte Hitler ihren Vorschlag, der Besuch Leopolds solle aus Geheimhaltungsgründen auf dem Berghof stattfinden. Einen Termin könne er erst in zehn bis zwölf Tagen nennen. Hitler hielt Wort. Der König muss übrigens schon kurz nach der Kapitulation seines Landes, im Juni oder Juli 1940, versucht haben, eine Begegnung mit Hitler zu arrangieren.8 Hitler war zu Beginn des Treffens mit Leopold laut Schmidt »von einer etwas frostigen Freundlichkeit«, taute dann aber etwas auf, ohne Leopold mit Erleichterungen für Belgien entgegenzukommen. Als Leopold insistierte, machte sich beiderseits Missstimmung breit  ; der Monarch hörte Hitlers Wortschwall kaum mehr zu, zeigte ein ablehnendes Gesicht und schaltete innerlich ab, sodass das Gespräch »zu einem jener typisch nichtssagenden Treffen« erstarrte.9 Immerhin  : Hitler war so viel Diplomat, dass er aus Höflichkeit gegenüber dem italienischen Königshaus, 6 Hitler hatte Marie-José bei seinem Italienbesuch 1938 kennengelernt und in schlechter Erinnerung behalten. Henry Pick er, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Berlin 2. Aufl. 1997, 336. Aufzeichnung zum 23.4.1942  ; Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil I  : Aufzeichnungen 1923–1941, Band 8, München 1998, 380. E 17.10.1940. »Der Führer reist zum Obersalzberg, um die Prinzessin von Piemont zu sprechen.« 7 Hillgruber, Staatsmänner I, 253–257  ; ADAP D XI/1, 265–268. Aufzeichnung über die Unterredung zwischen dem Führer und der italienischen Kronprinzessin Marie-José am 17. Oktober 1940. 8 ADAP D X, 174. Chef OKW an Oberbefehlshaber des Heeres, 14.7.1940. Leopold habe »wiederholt um einen Empfang beim Führer gebeten«. 9 Paul Schmidt, Statist auf diplomatischer Bühne 1923–45. Erlebnisse des Chefdolmetschers im Auswärtigen Amt mit den Staatsmännern Europas, Wien 1950, 507–509. Eine geplante Zusammenkunft Hitler–Leopold in Yvoir (Provinz Namur/Belgien) kam nicht zustande. Percy Ernst Schr a mm (Hg.), Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht 1940–1941. Band I  : 1. August 1940–31. Dezember 1941, München 1982, Teil I, 124. E 23.10.1940. Protokoll der Unterredung vom 19.11.1940 bei Hillgruber, Staatsmänner I, 336–344.

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von dem die Initiative ausgegangen war, Gesprächen zustimmte, an denen ihm nichts lag.10 Hier saß ihm der Monarch eines besiegten Landes gegenüber, auf den er keine Rücksicht nehmen musste, wenngleich Hitler Leopold achtete, weil er nicht wie andere gekrönte Häupter nach Großbritannien geflüchtet war. Freilich scheint Hitler den König nicht in allzu guter Erinnerung behalten zu haben, denn unmittelbar nach Mussolinis Sturz – als jede Rücksicht auf die Verwandtschaft des Belgiers mit dem italienischen Königshaus weggefallen war – platzte es aus ihm heraus  : »Im Moment […] brauche ich auf den Belgier auch keine Rücksicht mehr zu nehmen. Dann kann ich diesen Kerl auch sofort abführen lassen, sperre die ganze Verwandtschaft beisammen.«11

3. Gescheiterte Begegnungen mit Royals Anderen Monarchen gegenüber reagierte Hitler ebenso grob, vor allem, wenn sie ihn seiner Meinung nach beleidigt hatten wie der dänische König Christian X., der im Herbst 1942 auf Hitlers Geburtstagsglückwünsche mit einem extrem kurzen, lediglich Dank aussprechenden Telegramm geantwortet hatte. Die »Telegrammkrise« belastete das Verhältnis des Reichs zu dem von deutschen Truppen besetzten Dänemark so massiv, dass die dänische Regierung eine Verschärfung der Okkupationspolitik befürchtete. Sie bewog daher Christian X. zu einer versöhnlichen Geste  : Ende September 1942 teilte der dänische Geschäftsträger in Berlin mit, der König hätte, wäre er nicht erkrankt, den Wunsch nach einer Begegnung mit Hitler geäußert, um die Verstimmung auszuräumen. Er bitte, Hitler möge an seiner Stelle Kronprinz Frederik empfangen. Eine Antwort ist nicht überliefert, aber wir wissen, dass Hitler dem König weiter grollte und den Kronprinzen nicht einlud.12 Mitte April 1943 – als sich das faschistische Regime Italiens wegen des Verlusts seiner afrikanischen Besitzungen in einer tiefen Krise befand – kam der Plan auf, Hitler möge Kronprinz Umberto empfangen, um ihn enger an die Achse zu binden. Die Idee stammte von Prinz Philipp von Hessen, dem Schwiegersohn des Königs und somit Schwager Umbertos. Dolmetscher Schmidt konferierte über das Vorha10 Für Hitler war der König »kein Mann von Geist«, vielmehr ein ungeheurer Intrigant und Erzreaktionär  ; man habe ihn nur mit Rücksicht auf seine italienischen Fürsprecher nicht in die Kriegsgefangenschaft abgeführt. Pick er, Tischgespräche, 558f. Aufzeichnung zum 27.6.1942. 11 Helmu t Heiber (Hg.), Lagebesprechungen im Führerhauptquartier. Protokollfragmente aus Hitlers militärischen Konferenzen 1942–1945, München 1963, 163. Abendlage 25.7.1943. Hitler phantasierte, das italienische Königshaus, das hinter der Absetzung Mussolinis stecke, handstreichartig verhaften zu lassen. 12 ADAP E III, 578f. Aufzeichnung von Weizsäckers über eine Vorsprache des dänischen Geschäftsträgers, 30.9.1942.

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ben mit Mussolini, der es begrüßte und nach einem Termin fragte, wenngleich ihn Schmidt wissen ließ, Hitler wolle von einem Empfang Umbertos absehen.13 Dabei blieb es. Offenkundig wünschte Hitler nichts weniger als ein Zusammentreffen mit einem Mitglied des Hauses Savoyen, das ihm zutiefst zuwider war. Skurril muten Überlegungen an, Hitler könne mitten im Krieg Erzherzog Albrecht von Österreich-Teschen aus der ungarischen Linie der Habsburger empfangen. Al­ brecht, der dem Oberhaus des ungarischen Parlaments angehörte, machte sich im Zuge der Diskussion über eine Stellvertretung und spätere Nachfolge des betagten Reichsverwesers Miklós Horthy Hoffnungen, nach Horthys Tod dessen Funktion zu übernehmen. Um die Jahreswende 1941/42 fühlte er zunächst bei der italienischen Regierung vor, die das Auswärtige Amt (AA) in Kenntnis setzte. Dessen Staatssekretär Ernst von Weizsäcker ließ den italienischen Botschafter wissen, man behandle den Erzherzog »mit der den Umständen entsprechenden Courtoisie«. Deutschland wolle sich jedoch in die Nachfolgefrage, eine innerungarische Angelegenheit, nicht einmischen, da Hitler mit Horthy freundschaftlich verbunden sei. Reichsaußenminister (RAM) Joachim von Ribbentrop ließ Albrecht am 17. Januar ausrichten, »daß es dem Führer gerade im jetzigen Augenblick, wo nach den eigenen Worten des Erzherzogs das Problem der Nachfolgerschaft in Ungarn aktuell geworden ist, leider nicht möglich sei, den Erzherzog zu empfangen, da dies in Ungarn sicher als eine Einmischung in die innerungarischen Angelegenheiten aufgefaßt werden würde, ein Vorwurf, dem sich der Führer bei seiner Loyalität dem ungarischen Staate gegenüber nicht aussetzen könne.« Hitler sei jedoch bereit, Albrecht bei anderer Gelegenheit privat zu empfangen, allerdings erst nach der Lösung der vordringlichsten militärischen Aufgaben an der Ostfront. Mitte April 1942 suchte der Erzherzog neuerlich um einen Empfang bei Hitler an, wiederum vergeblich.14 Angesichts von Hitlers Aversion gegen alles, was mit dem Haus Habsburg zu tun hatte, ist der pflegliche Umgang mit Albrecht bemerkenswert.

4. König Michael von Rumänien und Königinmutter Helene Nur Verachtung hatte der Diktator für den rumänischen König Michael/Mihai übrig, mit dem er Ende November 1941 zu einem nicht protokollierten Gespräch im Beisein der Königinmutter Helene/Elena zusammentraf.15 Einige Monate später bezeichnete Hitler den Monarchen in einem Tischgespräch als »eine schmutzige 13 ADAP E V, 664f. Aufzeichnung Schmidts, 21.4.1943. 14 ADAP E I, 280. Aufzeichnung von Weizsäckers, 21.4.1942. 15 Elena von Griechenland (1896–1982), Tochter König Konstantins I. von Griechenland. März 1921 Eheschließung mit dem rumänischen Thronfolger und späteren König Carol II. Die Ehe, aus der Michael (geboren 1921) stammte, wurde 1930 geschieden. 1932–1940 im Exil.

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kleine Kröte.«16 Helene nannte er »die Tochter eines Hammeldiebs.«17 Propaganda­ minister Joseph Goebbels hielt Hitlers Schilderung der Königinmutter wie folgt fest  : »Sie kreuzte mit ihrem Sohn, dem jetzigen jungen König Michael, auf, beklagte sich vor allem beim Führer, daß ihr Sohn überhaupt König werden solle  ; er sei zu dumm dazu, habe nichts gelernt, könne nichts und besitze außerdem auch noch einen schlechten Charakter. […] Auch der junge König Michael sei eine außerordentlich fragwürdige Persönlichkeit  : dumm, ungelenk, mit Minderwertigkeitskomplexen belastet, dabei taktlos und aufdringlich  ; mit einem Wort  : ein König.«18 Bei dieser Einstellung Hitlers verwundert, dass die deutsche Wochenschau ­Anfang Oktober 1940 – mehr als ein Jahr vor dem Treffen mit Helene – über deren trium­ phale Rückkehr aus dem Exil nach Bukarest berichtete.19 Hitler hatte die Königinmutter sogar am 14. oder 16. Dezember 1940 gemeinsam mit ihrer Schwester, der Herzogin von Spoleto, empfangen, worüber keine Aufzeichnung vorliegt. Der deutsche Gesandte in Bukarest berichtete am 3. Januar 1941, Helene habe begeistert über Hitler gesprochen und ihre Absicht erwähnt, die Werbung um eine deutsche Prinzessin als Gattin König Michaels anzuschneiden  ; sie habe dies jedoch unterlassen, da das Gespräch einen viel interessanteren Verlauf genommen habe. Hitler erzählte Mussolini wenig später Helenes Äußerungen über ihre königliche Verwandtschaft  : »Der Führer illustrierte diese Bemerkung [über eine internationale Fürstenloge, die lediglich dynastische Interessen verfolge] durch Mitteilungen über den Besuch der Königinmutter von Rumänien auf dem Obersalzberg, die immer nur davon gesprochen habe, wie klug sich der Vetter Christian [X.] in Dänemark verhielte, wie schlecht die Politik des Bruders Georg [Georg II., König der Griechen] sei und wie vorsichtig der Bruder Paul [Kronprinz Paul von Griechenland] sein müsse, ohne auch nur mit einem Wort die Interessen der von diesen Fürsten regierten Völker zu erwähnen.«20

5. Prinzregent Paul von Jugoslawien Eine bessere Meinung hatte Hitler von Prinz Paul, den er während dessen Deutschlandbesuchs im Juni 1939 kennengelernt hatte. Das Kriegstagebuch des Wehrmachtführungsstabs teilt über das nicht protokollierte Treffen Hitlers mit Paul am 16 Pick er, Tischgespräche, 154. Aufzeichnung zum 26.2.1942  ; Hillgruber, Staatsmänner I, 14. Zur Vorbereitung des Treffens ADAP D XIII/2, 726–729, hier 726, FN 1. 17 Pick er, Tischgespräche, 659. Aufzeichnung zum 24.7.1942, FN 1. 18 Goebbels-TB, Teil II  : Diktate 1941–1945, Band 2, München 1996, 541. E 18.12.1941. 19 Deutsche Wochenschau Nr. 526 vom 2.10.1940. 20 Aufzeichnung über die Unterredung zwischen dem Führer und dem Duce in Anwesenheit des Reichsaußenministers und des Grafen Ciano auf dem Berghof, 19.1.1941. ADAP D XI/2, 938–943, hier  : 942, FN 6, mit Zitierung eines Telegramms des Gesandten in Bukarest, 3.1.1941.

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4. März 1941 auf dem Berghof mit  : Es sei um den Beitritt Jugoslawiens zum Dreimächtepakt gegangen.21 Laut einer Zusammenfassung, die RAM von Ribbentrop an den deutschen Gesandten in Belgrad schickte, stellte Hitler dem Regenten einen Zugang Jugoslawiens zur Ägäis in Aussicht, falls es sich der Achse anschlösse. Paul replizierte freimütig, dies falle ihm wegen der griechischen Abstammung seiner Frau, seiner Sympathien für England und seiner kritischen Einstellung zu Italien schwer. Er fürchte, dass er bei einem Eingehen auf Hitlers Vorschlag nicht mehr lange an der Macht bliebe – eine prophetische Aussage. Als man auseinanderging, behielt sich der Regent seine Entscheidung vor.22 Er ließ sich bald darauf zum Beitritt bewegen und wurde prompt vom Militär gestürzt.

6. Zar Boris III. von Bulgarien Vielfach wird behauptet, Hitler habe seinem Hang zum Monologisieren keine Zügel angelegt und auf seine Gesprächspartner keinerlei Rücksicht genommen. So einfach liegen die Dinge nicht, da es konträre Beispiele gibt. Inwieweit Hitler seine Gäste zu Wort kommen ließ, hing von seinem Urteil über sie bzw. davon ab, ob es sich um der Bedeutung ihrer Staaten für die deutsche Kriegsführung bewusste Männer handelte oder nicht. Ein Vertreter der ersten Spezies war Boris III., der einer deutschen Dynastie entstammte und mit Hitler ohne Dolmetscher sprechen konnte. Aufzeichnungen dieser Unterredungen gab es selten, was mitunter für Verwirrung sorgte, denn im Kriegstagebuch des Wehrmachtführungsstabs hieß es kurz nach dem Gespräch Hitler–Boris vom 18. November 1940  : »Im Auswärtigen Amt weiß niemand recht, was der Führer mit König Boris gesprochen hat.«23 Dolmetscher Schmidt schnappte allerlei auf und schrieb später, er habe erlebt, »wie Boris als gewiegter Diplomat Hitler von der richtigen Seite her zu nehmen verstand. Ohne jede Spur einer gewissen Unsicherheit, um nicht zu sagen Schüchternheit, die ich bei anderen gekrönten Häuptern bemerkt hatte, wie z. B. bei Viktor Emanuel und Leopold von Belgien, benahm sich König Boris Hitler gegenüber völlig ungezwungen. Er sprach ohne Umschweife über die heikelsten Themen, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt.«24 21 KTB OKW 1940/41, Teilband I, 345. E 4.3.1941. 22 Von Ribbentrop an Gesandten Belgrad, 7.3.1941. ADAP D XII/1, 190f.; ebd., 190, FN 4  : Der USGesandte in Belgrad berichtete am 30.3.1941 nach Washington, Hitler habe gegenüber Paul erwähnt, er wolle Russland im Juni oder Juli angreifen  ; ebd., 191, FN 5  : Von Ribbentrop telegraphierte der Belgrader Gesandtschaft am 7.3.1941  : Da der Prinzregent schwanke, wolle er ihn in der kommenden Woche neuerlich treffen. 23 KTB OKW 1940/41, Teilband I, 190. E 26.11.1940. 24 Schmidt, Statist, 573. Zu Hitlers Wertschätzung des Zaren Pick er, Tischgespräche, 249. Aufzeich-

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Martin Moll, Graz

Faktisch bedeutete das erste Treffen, zu dem Boris und sein Außenminister in aller Heimlichkeit auf den Berghof gereist waren, für Hitler eine schwere Schlappe. Bei der Unterredung am 18. November 1940 ging es um den deutscherseits gewünschten Beitritt Bulgariens zum Dreimächtepakt und einen gemeinsamen Angriff auf Griechenland zur Unterstützung Italiens. Der Zar hatte bereits in einem Brief an Hitler vom 22. Oktober erkennen lassen, dass er einen solchen Schritt für inopportun hielt  ; er würde den deutschen Interessen schaden, nicht nützen.25 Die Bulgaren zierten sich auch am 18. November und machten Bedenken wegen negativer Reaktionen der Sowjetunion geltend, die ihnen Hitler nicht auszureden vermochte. Boris äußerte, die Straßenverhältnisse ließen vor März 1941 keine größeren Operationen zu  ; Bulgarien wolle durch deutsche Kriegsvorbereitungen auf seinem Gebiet bis zum Losschlagen nicht belastet werden.26 So setzte sich der Zar durch, indem er auf die Vorteile des Status quo verwies  ; er erreichte, dass Deutschland auf den Durchmarsch seiner Truppen durch Bulgarien verzichtete. Hitlers Werben war gescheitert.27 Dies änderte sich erst, als er nach der Eroberung Jugoslawiens und Griechenlands konkrete Gebietszuwächse anzubieten hatte. Wohlgelittene Monarchen wie Boris konnten mit Erfolg um einen baldigen Termin bei Hitler anfragen. Am 13. Januar 1941 hatte Hitler den Zaren neuerlich auf dem Berghof empfangen.28 Darauf bezog sich ein Telegramm des deutschen Gesandten in Sofia an das AA vom 16. April 1941, während des Balkanfeldzugs, an dem Bulgarien teilnahm. Er meldete die Äußerung des bulgarischen Außenministers, Hitler habe im Januar zu Boris gesagt, »wenn König etwas auf dem Herzen habe, so sei der Führer immer zu einer persönlichen Aussprache bereit.« Der Zar bitte nun um einen Termin, um vermutlich Ansprüche auf das griechische Mazedonien anzumelden.29 Tatsächlich

nung zum 2.4.1942. Boris gab sich Goebbels gegenüber als glühender Bewunderer Hitlers zu erkennen  ; Hitler habe ihn »diesmal [sic] über alle Angelegenheiten, die für ihn in Betracht kommen, hinreichend informiert.« Goebbels-TB, Teil II, Band 3, München 1994, 569. E 28.3.1942. Goebbels’ außerordentlich positives Urteil über den Zaren ebd., 570  ; posthum Teil II, Band 9, München 1993, 383f. E 29.8.1943. Ein Foto des Treffens Hitler–Boris am 24.3.1942 bei Uwe Neum ä rk er – Robert Conr a d  – Cor d Woy wodt, Wolfsschanze. Hitlers Machtzentrale im II. Weltkrieg, Augsburg 2005, 92. 25 ADAP D XI/1, 310f., hier  : 310. Boris an Hitler, 22.10.1940. Vgl. Thom as M. Bohn, Bulgariens Rolle im »wirtschaftlichen Ergänzungsraum« Südosteuropa. Hintergründe für den Beitritt zum Dreimächtepakt am 1.3.1941, in  : Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik 12, Berlin–Göttingen 1995, 111–138. 26 KTB OKW 1940/41, Teilband I, 179. E 19.11.1940  ; ADAP D XI/2, 546, FN 2. 27 H a ns-Joachim Hoppe, Bulgarien – Hitlers eigenwilliger Verbündeter. Eine Fallstudie zur nationalsozialistischen Südosteuropapolitik, Stuttgart 1979, 100f.; Schmidt, Statist, 572  ; KTB OKW 1940/41, Teil I, 179. E 19.11.1940. 28 Hillgruber, Staatsmänner I, 14. 29 ADAP D XII/2, 472, FN 2. Gesandter Sofia an AA, 16.4.1941.

Royals beim Führer

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wurde Boris bereits drei Tage später von Hitler empfangen.30 Am 16. April hatte der bulgarische Gesandte in Berlin denselben Wunsch deponiert und ergänzt, »der König sei bereit, zu jeder Zeit und an jeder Stelle, die der Führer angebe, zu erscheinen. […] Die Aussprache solle ganz privaten Charakter tragen.« Hitler legte den 19. April fest und ließ den Zaren mit seinem Flugzeug abholen.31 Das Führerhauptquartier befand sich damals in einem Zug südlich von Wiener Neustadt. In den Tagen um seinen Geburtstag empfing Hitler hier Boris, Horthy und den italienischen Außenminister Graf Galeazzo Ciano, worüber die Wochenschau berichtete.32 Boris traf mit dem Diktator zwischen 1940 und 1943 acht Mal zusammen (1941 und 1943 je drei Mal), stets auf deutschem Gebiet.33 Eine Gegeneinladung scheint nie im Raum gestanden zu sein. Hitler nahm die Gespräche mit dem Zaren durchaus ernst und vertraute nicht darauf, ihn mit einem Redeschwall zu beeindrucken. Als Beispiel mag Boris’ Besuch Ende März 1943 dienen, zu dessen Vorbereitung das AA zwei die Beziehungen Bulgariens zur UdSSR, zu Italien, den Nachbarstaaten sowie Wirtschaftsfragen betreffende Aufzeichnungen mit Ratschlägen für Hitlers Gesprächsführung vorlegte.34 Hitler tolerierte, dass Boris eine merkliche Zurückhaltung gegenüber einem stärkeren Engagement seines Landes im Krieg zum Ausdruck brachte  ; am Ostfeldzug nahm Bulgarien ohnedies nicht teil. Der Diktator erfuhr aus einem SD-Bericht, dass der Zar nach seinem Besuch am 24. März 1942 geäußert habe, er habe viel erreichen können, insbesondere die Nichtteilnahme seines Landes am Krieg gegen die UdSSR.35 Hitler blieb unbeeindruckt, konnte allerdings erwirken, dass Boris bei ei30 Hillgruber, Staatsmänner I, 14. Ein Protokoll fehlt. Als Bericht eines Beteiligten Fr a nz von Papen, Der Wahrheit eine Gasse, München 1952, 536f. Hinweise auf den Inhalt  : ADAP D XII/2, 505–509. Aufzeichnung über die Unterredung zwischen dem RAM und dem Grafen Ciano in Wien am 22. April 1941. Boris habe sich für die bulgarische Annexion Mazedoniens und Salonikis eingesetzt  ; Hitler habe ihn auf eine Regelung nach Friedensschluss vertröstet. 31 ADAP D XII/2, 476. Aufzeichnung von Weizsäckers, 16.4.1941. 32 Deutsche Wochenschau Nr. 556 vom 30.4.1941. 33 Häufiger traf Hitler lediglich Mussolini, dessen Außenminister Ciano, den rumänischen Staatsführer Ion Antonescu und den japanischen Botschafter Oshima, ebenfalls acht Mal den ungarischen Reichsverweser Horthy. 34 ADAP E V, 502–506. Aufzeichnung Unterstaatssekretär Ernst Woermann (AA), 29.3.1943  ; ebd., 506f. Aufzeichnung Gesandter Morath, 29.3.1943  ; Goebbels-TB, Teil II, Band 8, 30. E 1.4.1943  : »Zar Boris ist beim Führer gewesen. Er hat mit ihm eine sehr ausgedehnte Aussprache unter vier Augen gehabt. Sie ist positiv verlaufen. Die Aussprache fand in einer guten Stimmung statt. Vor allem wurden Fragen der Möglichkeit einer Invasion im Südosten besprochen. Zar Boris ist ein guter Freund der Achsenpolitik. Allerdings schränkt er diese Freundschaft dadurch etwas ein, daß er hinzufügt  : ›Aber siegen müßt ihr halt  !‹« 35 Hoppe, Bulgarien, 141  ; Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin, Inland II g, Bulgarien Band 3, Walter Schellenberg (Reichssicherheitshauptamt) an Martin Luther (AA) (29.5.1942). Zur Vorbereitung des Besuchs ADAP E I, 242f. Gesandter Sofia an AA, 16.1.1942.

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Martin Moll, Graz

nem Treffen am 3. Juni 1943 der Ausdehnung der bulgarischen Besatzungszonen in Serbien und Griechenland zustimmte, was die Wehrmacht entlastete. Hitler scheint mit der Unterredung sehr zufrieden gewesen zu sein.36 Am 14. August 1943 trafen der Diktator und der Zar letztmalig zusammen. Hitler forderte zwei weitere Besatzungsdivisionen für den Balkan  ; Boris erhob allerlei Einwände, verlangte deutsches Kriegsmaterial und stimmte erst nach harten Debatten zu, verschleppte aber die Durchführung.37 Zwei Wochen danach starb der Zar in Sofia im Alter von 49 Jahren. Gerüchte, Hitler habe ihn vergiften lassen, sind haltlos.38 Die deutsche Wochenschau brachte nach einem Bericht über die Beisetzung des Monarchen einen Rückblick auf dessen innige Beziehung zu Deutschland, untermalt mit Aufnahmen von Boris’ Besuch auf dem Berghof 1941.39 Nach dem Tod des Zaren übernahm ein dreiköpfiger Regentschaftsrat unter Prinz Cyrill, dem Bruder des Verstorbenen, die Staatsführung. Hitler traf mit diesem Rat zwei Mal zusammen, zuerst am 18. und 19. Oktober 1943 in der Wolfsschanze.40 Interessant sind die zwei Gespräche, die Hitler am 16. und 17. März 1944 mit den Bulgaren in Schloss Kleßheim bei Salzburg führte. Das erste bestritt er weitgehend allein, beendete es aber »mit der Bemerkung, daß die Besprechungen am nächsten Tage fortgesetzt würden und die Mitglieder des bulgarischen Regentschaftsrates dabei Gelegenheit haben würden, ihrerseits Fragen vorzubringen, die sie mit ihm (dem Führer) zu erörtern wünschten.«41 Hitler eröffnete das Folgegespräch so  : »Gemäß seiner Ankündigung vom Vorabend erteilte der Führer den bulgarischen Gästen das Wort, damit sie die Fragen vorbringen könnten, die sie mit dem Führer besprechen wollten.« Allerdings  : »Cyrill erwiderte, daß er keinerlei politische Angelegenheiten vorzubringen habe, sondern lediglich einige technisch-militärische Punkte erörtern wolle.« Dies überließ Hitler dem Chef OKW, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, bevor er in einen Monolog verfiel, was ihm Cyrill freilich leicht gemacht hatte.42 So endete Hitlers letzte Begegnung mit einem Royal. 36 Hoppe, Bulgarien, 144  ; ADAP E VI, 140. RAM an Gesandten Sofia, 5.6.1943  ; Goebbels-TB, Teil II, Band 8, 424. E 5.6.1943  : »Der Führer hat König Boris empfangen und mit ihm eine sehr ersprießliche und positive Unterhaltung gepflogen.« 37 Hoppe, Bulgarien, 144  ; KTB OKW 1943, Band III  : 1. Januar 1943–31. Dezember 1943, Teilband II, 955f. E 15.8.1943. 38 Helmu t Heiber, Der Tod des Zaren Boris, in  : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 9, 1961, 384–416  ; Peter Longerich, Hitler. Biographie, München 2015, 917f. 39 Deutsche Wochenschau Nr. 678 vom 1.9.1943. 40 Hillgruber, Staatsmänner II, 314–330. 41 Ebd., 370–384, hier  : 384. Aufzeichnung über die Unterredung zwischen dem Führer und den Mitgliedern des bulgarischen Regentschaftsrates auf Schloss Kleßheim am 16. März 1944 in Anwesenheit des RAM, des Generalfeldmarschalls Keitel und Generaloberst Jodl, 21.3.1944. 42 Ebd., 384–389, hier  : 384. Aufzeichnung über die Unterredung zwischen dem Führer und den Mitgliedern des bulgarischen Regentschaftsrates Prinz Cyrill, Exzellenz Filoff und General Michoff im

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Royals beim Führer

7. Zusammenfassung Dieser Beitrag untersucht die Begegnungen Hitlers mit gekrönten Häuptern und anderen Royals 1940–1944, insbesondere mit den Königen Michael I. von Rumänien, Leopold III. von Belgien und Boris III. von Bulgarien sowie Prinzregent Paul von Jugoslawien. Zur Sprache kommen Anlässe, Motive, Begleitumstände, Inhalte und Ergebnisse dieser Treffen als kurioser Teilaspekt der zahlreichen Zusammenkünfte des Diktators mit ausländischen Staatsmännern während des Zweiten Weltkriegs.

8. Anhang  : Royale Besuche bei Hitler 1940–1944 Datum

Personen

Ort

17.10.40

Kronprinzessin Marie-José von Italien

Berghof

18.11.40

Boris III. von Bulgarien

Berghof

19.11.40

Leopold III. von Belgien

Berghof

16.12.40

Königinmutter Helene von Rumänien, Herzogin von Spoleto

Berlin

13.01.41

Boris III. von Bulgarien

Berghof

04.03.41

Paul von Jugoslawien

Berghof

19.04.41

Boris III. von Bulgarien

Mönichkirchen

07.06.41

Boris III. von Bulgarien

Berghof

28.11.41

Michael I. von Rumänien, Königinmutter Helene

Berlin

24.03.42

Boris III. von Bulgarien

Wolfsschanze

31.03./03.04.4343

Boris III. von Bulgarien

Berghof

03.06.43

Boris III. von Bulgarien

Berghof

14.–15.08.43

Boris III. von Bulgarien

Wolfsschanze

18.–19.10.43

Prinz Cyrill, bulgarischer Regentschaftsrat

Wolfsschanze

16.–17.03.44

Prinz Cyrill, bulgarischer Regentschaftsrat

Schloss Kleßheim

Schloss Kleßheim am 17. März 1944 in Anwesenheit des RAM und des Generalfeldmarschalls Keitel, 22.3.1944. 43 Sa ndner, Itinerar IV, 2068 und 2070, verzeichnet je ein Treffen am 31.3. und 3.4.1943. Hillgruber, Staatsmänner II, 28, nennt eine Begegnung an einem dieser Tage, was nicht zu klären sei. Longerich, Hitler, 906 plädiert für den 14.4. Richtig dürfte der 31.3. sein, da Goebbels’ Tagebuch am Folgetag darüber berichtete. Goebbels-TB, Teil II, Band 8, 30. E 1.4.1943. Dieses Datum in Hitlers Tagesprogramm, erstellt von der Reichskanzlei. Bundesarchiv Berlin R 43 II/1609b, Bl. 84.

BÖH M ISCH-M Ä HR ISCHE GESCHICHTE

Jan Kilián, Hradec Králové/Königgrätz

Leander Rüppel von Ruppach Nach der Niederlage des Ständeaufstands in der Schlacht am Weißen Berg zeugte zunächst nichts davon, dass Kaiser Ferdinand II. für die Rebellen strengste Strafen wollte. Einige der Stände-Exponenten wurden sogar weiterhin in ihren Funktionen belassen. Viele wollten sich jedoch nicht auf die habsburgische Gnade verlassen und begaben sich gemeinsam mit Friedrich von der Pfalz oder kurz nach ihm hinter die Grenze. Dennoch blieben genug potentielle Kandidaten zur Bestrafung im Lande, und in Wien überlegte man sich ihr Verzeichnis. Diese Liste traf am 20. Februar 1621 in Prag ein, und um nichts zu verpassen, begannen die Verhaftungen noch am selben Tag. An die neunzig Personen wanderten ins Gefängnis bzw. kamen in Hausarrest. Mitte März traf sich ein spezielles Gerichtstribunal, das die Verhöre mit den Inhaftierten durchführen, ihre Anklage bearbeiten und eine Strafe beantragen sollte. Vorsitzender dieses zwölfköpfigen Gerichts wurde Karl von Liechtenstein. Die Strafanträge versandte er nach Wien in drei Chargen, die letzte vor Mitte Juni. Die Delikte waren bei allen Festgenommenen im Grunde ähnlich – Beteiligung am Sturz des rechtmäßigen Königs und an der Wahl des unrechtmäßigen Königs, Zustimmung zum Ständebund, Arbeit für die Stände und die Pfalzregierung in verschiedenen Ämtern, Kommissionen und Abordnungen. Die Todesstrafe bestätigte der Kaiser zunächst insgesamt für dreiundvierzig Verurteilte, nachfolgend verengte sich das Verzeichnis dank einiger Begnadigungen auf siebenundzwanzig. Zum siebenundzwanzigsten Urteil kamen bald darauf noch drei hinzu – für die Doktoren der Rechte und Agenten-Berichterstatter Leander Rüppel von Ruppach, Georg Hauenschild von Fürstenfeld und Friedrich Georg von Oldenburg. Der Letzte von ihnen erhielt umgehend eine Begnadigung und auch ein Neustädter Bürger konnte ebenfalls aufatmen. Das Verzeichnis also von zunächst siebenundzwanzig stieg auf dreißig, um sich bald darauf auf achtundzwanzig und auf dem Hinrichtungsplatz selbst, nach einer weiteren Begnadigung, auf siebenundzwanzig zu reduzieren. Diese siebenundzwanzig Männer ließen am 21. Juni 1621 auf dem Altstädter Ring ihr Leben.1 Zu den von dem Liechtenstein’schen Exekutivkomitee Verurteilten gehörten zwei Juristen, beide zur verschärften Strafe verurteilt. Und obwohl beide eine Reihe von Jahren in Prag gelebt hatten, zeigten die tschechischen Geschichtsschreiber an ihnen 1 Zum böhmischen Ständeaufstand und seine Bestrafung bisher am ausführlichsten Josef Petr áň, Staroměstská exekuce [Altstädter Exekution], Praha 1996. Vgl. auch H a ns Sturmberger, Aufstand in Böhmen. Der Beginn des Dreißigjährigen Krieges, München 1959.

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Jan Kilián, Hradec Králové/Königgrätz

nie ein größeres (oder eher geringstes) Interesse. So wird der Interessierte umsonst auch nach einem zumindest knappen Biogramm über Leander Rüppel von Ruppach (mitunter auch als Rypl, Ripl usw. geschrieben) suchen. Dabei deuten viele Indizien darauf hin, dass es sich um eine außerordentlich interessante Persönlichkeit handelt, die sich eine wirklich detaillierte Analyse verdient hätte, auch wenn sie mit Nachforschungen in einer Reihe von ausländischen Archiven verbunden sein müsste. Rüppel hatte nämlich einflussreiche Kontakte nicht nur zum sächsischen Kurfürsten, sondern auch zu weiteren Reichsfürsten und gehörte zu den führenden Agenten und Informatoren aus der Umgebung des Prager Hofes von Rudolf II. in Richtung Ausland. Noch dazu war er Rechtsberater der aufständischen Stände und eine führende Persönlichkeit bei der Errichtung der lutherischen St. Salvator-Kirche in Prag und des anliegenden Gymnasiums. Leider ist auch das Wenige, das wir bisher über Rüppel feststellen konnten, auf die Zeit verbunden, seit er nach Böhmen kam und sich in der Prager Altstadt niederließ. Die tschechische Historiografie nahm bisher an, dass Leander Rüppel von Ruppach irgendwann um das Jahr 1560 geboren wurde.2 Diese Information ist aber ein Irrtum. Im Zusammenhang mit seinen späteren Kontakten erscheint oft die Behauptung, dass es sich um einen Sachsen handelte, was mit seinem lutherischen Glauben korrespondiert. Aber auch diese Information ist nicht korrekt. Leander Rüppel wurde um das Jahr 1575 geboren, weil er neunzehn Jahre später nachweislich als Universitätsstudent frisch immatrikuliert wurde. Die Universitäts-Matrikel führt auch seine Herkunft an – Auerbachensis, d. h. aus Auerbach. Aber aus welchem  ? Eine der Städte dieses Namens liegt tatsächlich in Sachsen, bzw. im damaligen Vogtland – wenn Rüppel von hier stammte, konnte er sich mit Recht Sachse nennen. Gleichzeitig aber wissen wir, dass in späteren Zeiten Leander Rüppel ein Lehensgut Morenbach besaß, das sich in der Nähe des zweiten Auerbachs befindet, dem oberpfälzischen. Der dortige Geschichtsforscher Hans-Jürgen Kugler hatte sich die Mühe gemacht, die Historie jedes Auerbach’schen Hauses auszuarbeiten, und unter ihren Besitzern fand sich auch der Zuname Rüpel.3 Das Rüpel’sche Haus stand in der damaligen Bachgasse (Konskr. Nr. 2, existiert nicht mehr), einer Nebenstraße im Stadtzentrum.4 Und zum Dritten – in seiner Qualifizierungsdisputation tritt er als »Auerbachius Palatinus« auf (was die lateinische Bezeichnung für Oberpfalz ist). Und schließlich – einem anderen Landsmann aus dem oberpfälzischen Auerbach, Georg Paul Schrei2 http://biography.hiu.cas.cz/Personal/index.php/R%C3%9CPPEL_von_Ruppach_Leander_1560­21.6.1621 [1.3.2021] 3 H a ns-Jürgen Kugler, Auerbach in der Oberpfalz – die Geschichte seiner Häuser und Familien 1, Auerbach in der Oberpfalz 2008, 538. 4 https://www.kuglers-chroniken.de/images/stories/Adressenverzeichnis-Auerbach.pdf [1.3.2021].

Leander Rüppel von Ruppach

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ber, unterschrieb Rüppel Anfang 1618 in Prag dessen Gedenkbuch.5 In der Oberpfalz regierte zwar die Dynastie der Wittelsbach-Rheinischen Pfalzgrafen, die zum Calvinismus neigte, dennoch wählte nach und nach die Mehrheit der Auerbach’schen Bürger das Luthertum und ihr Herrscher respektierte es.6 Wie und warum aber kam ein oberpfälzischer Landsmann aus Auerbach zu dem Prädikat von Ruppach, eines kleinen Orts, der in der Nähe der heute bayerischen Stadt Ebern liegt, in dem verfolgten Zeitraum vom Würzburger Bischof beherrscht  ? Selbstverständlich, auch die Reichsprädikate, die nobilitierten Gelehrten und Beamten des 16. Jahrhunderts erteilt wurden, mussten überhaupt keine Wechselbeziehung mit der Herkunft ihrer Inhaber haben. In diesem Falle ist dafür sehr auffallend die Tatsache, dass in der Nähe auch die Stadt Coburg liegt. Auch diese gehört heute zu Bayern als Bestandteil der Oberpfalz, aber seit Ende des 15. Jahrhunderts regierte hier ein ernestinischer Ableger der sächsischen Dynastie der Wettiner, bei denen sich auch ein gutes halbes Jahr Martin Luther aufhielt. Seit 1583 bis zum vergangenen Jahrhundert war dann Coburg Residenzstadt des selbständig gewordenen Sächsisch-Coburgischen Herzogtums.7 Also eines der Herzogtümer, für das Leander Rüppel auch arbeitete. Konkret für den dortigen Herzog Johann Kasimir (1564–1633), der hier im Jahre 1586 die Regierung übernommen hatte.8 Es wäre nicht schwierig, sich vorzustellen, dass sich Rüppel nach den Studien entschlossen hat, seine Dienste dem Herzog anzubieten, an dessen Hof er eine Stellung erreichte, die ihm auch das Prädikat einbrachte, das morphologisch seinem Zunamen nahe ist. Auch als aus Sachsen-Coburg Stammender konnte er dann in Böhmen schließlich als Sachse angesehen werden. Nach dem Studium an einer städtischen Lateinschule setzte Rüppel seine Ausbildung an der Universität in Jena fort. In die Jenenser Universitäts-Matrikel immatri­ kulierte er sich Anfang 1594.9 Als Studienfach wählte er Jura, worin er auch bald darauf das Doktorat errang. Es überrascht nicht, dass er in seiner Ausbildung gerade die Universität in Jena wählte (gegr. 1558), zu deren Berufung ja auch die Heranbildung von Juristen für den Bedarf der ernestinischen Linie des Wettiner Hauses gehörte. Eine nahe Beziehung zur Jenaer Akademie hatte später auch Leanders Sohn Johann. Die Doktor-Disputation in Latein, die auch im Druck erschien, hatte er 5 A ntonín Kostl á n, Památník Georga Paula Schreibera jako pramen k českým politickým a kulturním dějinám [Gedenkbuch des Georg Paul Schreiber als Quelle zur böhmischen politischen u. kulturellen Geschichte], in  : Studia Rudolphina 2, 2002, 45. 6 Dazu Fritz Schnelbögl, Auerbach in der Oberpfalz, Auerbach 1976, 142–148. 7 Vgl. Thom as Nick l as, Das Haus Sachsen-Coburg. Europas späte Dynastie, Stuttgart 2003. 8 Ganz neu dazu Gert Melville (Hg.), Herzog Johann Casimir von Sachsen-Coburg 1564–1633. Einblicke in eine Epoche des Wandels, Coburg 2016. 9 Georg Mentz – Bernhold Jauernig (Hg.), Die Matrikel der Universität Jena. Band I. 1548 bis 1652, Jena 1944, 271.

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im Dezember 1596 vor dem Dekan der Jenenser juristischen Fakultät Johann Stromer, einem ausgezeichneten Juristen und Professor des Kirchenrechts, einem damals schon Siebzigjährigen. Rüppel widmete sich allerdings in seiner Qualifizierungsarbeit dem Lehensrecht.10 In den nachfolgenden Jahren haben wir über Rüppel keinerlei Information. Schwer vorstellbar ist, dass Rüppel in späterer Zeit mit jemandem vertrauensvoll korrespondieren würde, den er zuvor nicht gut kannte. Immerhin behauptet auch der tschechische Augenzeuge Pavel Ješín von Bezdězí, dass er in der Fremde ­einen guten Ruf hatte.11 Aus diesem Grunde ist es sehr wahrscheinlich, dass er vor ­seinem Prager Aufenthalt kürzere oder längere Arbeitsaufenthalte in verschiedenen d ­ eutschen, wohl ausschließlich lutherischen Fürstentümern hatte. Auf seinen Reisen hatte er sicher auch z. B. das Bayreuther oder ein weiteres neu entstandenes SächsischWeimarisches Fürstentum mit seiner anmutigen Residenzstadt Weimar (heute Teil Thüringens) kennengelernt. Vor allem aber muss er sich längere Zeit in Dresden aufgehalten und ein adäquates Vertrauen des Dresdener Hofs erworben haben, an dem seit 1601 der junge Kurfürst Christian II. (1583–1611) regierte.12 Obwohl dieser sich weniger der Politik als dem Alkohol widmete, der ihm schon im 28. Jahr zum Schicksal wurde, war seinen Räten in der angespannten Zeit um die Jahre 1608/1609 sicher bewusst geworden, dass es notwendig war, nach Prag einen fähigen Agenten zu schicken, der Jura und Politik kannte, der Dresden über alles Wichtige prompt informieren würde.13 Es ist auch die Frage, wann sich Leander Rüppel verheiratet hat und aus welchem Geschlecht eigentlich seine Gemahlin stammte. Angesichts dessen, dass wir nach dem Geschlecht mit dem Prädikat von Waldburg in Böhmen umsonst suchen, ist anzunehmen, dass er seine Gemahlin vor seiner Ankunft in Prag kennen gelernt (wenn nicht gleich geehelicht) hat. Sie hieß Anna und schrieb sich »von Waldburg«.14 Auch wenn Rüppel mit Diplom und Prädikat nicht nur das Wappenbürgertum erworben hätte, sondern gleich die Erhebung in den Ritterstand, würde er doch wohl kaum eine Braut aus dem führenden und sehr alten Reichsgeschlecht der Waldburg, seit dem 17. Jahrhundert gräflich, gewonnen haben. Und überhaupt würde sich eine solche Frau nach der Verwitwung nicht mit einem Prager Bürger verehelichen. Es 10 https://kxp.k10plus.de/DB=2.1/SET=2/TTL=1/SHW  ?FRST=7/PRS=HOL [1.3.2021]. 11 K a rel Hr dina (Hg.), Pavel Ješín z Bezdězí. Posmrtná pamět českým hrdinům [Pavel Ješín von Bezdězí. Sterbliches Gedächtnis den böhmischen Helden], Praha 1938, 29. 12 Dazu Neue Deutsche Biographie 3, Berlin 1957, 231–232. 13 Vgl. Bedřich Jenšovsk ý, Politika kurfiřta saského v Čechách v posledních letech vlády Rudolfa II. [Politik des sächsischen Kurfürsten in Böhmen in den letzten Jahren der Regierung Rudolphs II.], Praha 1913. Bedeutsam ist jedoch, dass Jenšovský Rüppels Namen kein einziges Mal erwähnt. 14 Vgl. Tom áš Bílek, Dějiny konfiskací v Čechách po r. 1618, [Geschichte der Konfiszierungen in Böhmen nach 1618] I, Praha 1882, 476.

Leander Rüppel von Ruppach

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bleibt nichts Anderes als festzustellen, dass wir über Annas Herkunft nichts Weiteres wissen. Ihrem Gemahl Leander Rüppel gebar sie die Söhne Johann, Ludwig, Leander (jun.) und die Tochter Magdalena. Das Verzeichnis der Besitzer der Altstädter Häuser und ihrer Mieter aus dem Jahre 1608 kennt Rüppel noch nicht,15 aber im Prager Archiv ist aus demselben Jahr eine Neustädter Schuldverschreibung überliefert, wonach die Neustädter von Leander Rüppel von Ruppach 500 Schock Meissner Groschen geliehen hatten.16 In Prag hatte er damals zumindest Kontakte und wahrscheinlich kannte er das hiesige Umfeld insoweit, dass diese Kenntnisse am sächsischen Hof zu seinen Gunsten entschieden. Es ist nicht bekannt, wann, aber noch von Kaiser Rudolph II. († 1612) sollte Rüppel auch das Lehensgut Morenstein gekauft haben, das in der Oberpfalz nahe Auerbach liegt. Leider handelt es sich offensichtlich um die heute untergegangene Lokalität im weitreichenden Militärgebiet von Grafenwöhr. Ein kleinerer Wohnsitz auf einer bewaldeten Anhöhe, eine Mühle mit drei Rädern, ein Sägewerk im Tal mit Zubehör in Form von Wäldern, Feldern und Weiden kamen Rüppel auf sechshundert Rheinische Gulden.17 Es ist auch möglich, dass Leander Rüppel erst im Frühjahr 1609 nach Prag kam, nachdem Johann Wilhelm, der letzte Herzog von Jülich-Kleve-Berg, gestorben war, um für den sächsischen Hof die Politik des Kaisers in dieser heiklen Problematik zu verfolgen. Gerade ab diesem Jahr können wir Rüppels Tätigkeit detaillierter verfolgen und kennen auch seine Korrespondenz, die er hinsichtlich der Jülicher Frage nach Dresden sandte, ebenso wie Instruktionen, die er dazu bekommen hatte.18 In Prag verblieb er nun schon für immer, auch wenn Kaiser Rudolph II. von seinem Bruder Mathias abgelöst wurde und dieser seinen Sitz nach Wien übertrug, sodass die böhmische Metropole ihren Residenzglanz verlor. Im gleichen Jahr (1611) kam es übrigens auch auf dem sächsischen Herzogsthron zu einem Wechsel, als nach dem vorzeitig verstorbenen Kurfürsten Christian II. Johann Georg I. antrat. Gleich nach der Ausgabe des Majestätsbriefs im Jahre 1609 begann sich in Prag ein lutherisches Kollegium zu bilden, das in der Zeit seiner Bildung einen Vorstand in Form von zwölf Ältesten hatte. Diese zogen bald darauf weitere zwölf Männer hinzu, einschließlich Leander Rüppel, Georg Hauenschild und Johann Baptista ­Eisen von 15 Vgl. Ja rosl av Čechur a – Zdeněk Hojda – M a rtina Novozá msk á (Hg.), Nájemníci na Starém Městě pražském roku 1608 [Mieter in der Prager Altstadt im Jahre 1608], Praha 1997. 16 Archiv der Hauptstadt Prag, Archiv der Stadt Prag, Papierdokumente, Sign. PPL IV–18162 (7. Juli 1608). 17 Bílek, Dějiny konfiskací v Čechách po r. 1618 I, 475–476. 18 Hauptstaatsarchiv Dresden, Sächsisches Staatsarchiv, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 08810/04 – Originalbefehle an Leander Rüppel, kurfürstlich und fürstlich sächsischen Agenten zu Prag, Konzepte und desselben untertänigste Berichte in Jülicher Sukzessions- und anderen Sachen.

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Lehrberg. Es ist jedoch wahr, dass nicht alle Älteren immer im Vordergrund standen, und bald darauf werden sie auch kaum noch erwähnt. Als der Grundstein zum Bau der St.-Salvator-Kirche gelegt wurde, waren an der Spitze Matthias Hoë von Hoënegg als geistlicher Verwalter des Kollegiums, und weiter u. a. Eisen, Nikolaus von Langenbruck, der kaiserliche Rat Otto Melander (derselbe, der in ein paar Jahren den Verurteilten das Urteil verlesen sollte), Stephan Illgen, Hauenschild, Peter und Johann Nerhof oder auch Valentin Kirchmajer von Reichwitz. Und auch der fürstlich sächsische Rat Rüppel. Was auch im Jahre 1615 galt, als er unter ihnen sogar an erster Stelle genannt wurde. Für den Bau der Kirche spendeten viele Regenten, führende Adlige, einige europäische Universitäten, viele Städte und auch Einzelne. Rüppel aber gab wohl kein Geld hinzu – davon wissen wir zumindest nichts. Im Herbst 1614 wurde St. Salvator vollendet und feierlich eröffnet. Höe aber hatte im vorangegangenen Sommer wegen Streitigkeiten mit der Pfarrgemeinde seinen ­Posten verlassen, und seinen Platz übernahm Dr. Helwig Garth, zuvor Superintendent in Freiberg. Schon 1611 war bei der Errichtung der Kirche eine Schule, Gymnasium illustre, eröffnet worden, die sich in die führenden Bildungseinrichtungen im Lande einreihen sollte. Die Oberaufsicht über die Schule hatte zum einen Höe und zum anderen ein engerer Ausschuss der salvatorischen Ältesten, bestehend aus dem Trio Eisen, Langenbruck und Rüppel  ; Rektor wurde Dr. Michael Gebhardt. Zu Beginn des schicksalhaften Jahres 1618 disputierte Pastor Garth mit den Jesuiten über das Thema Messe, Luther u. a. Die Disputation übertrug sich auch in die Literatur in Form einiger Drucke. Des Pastors gedruckte Reaktion vom März des genannten Jahres unterzeichneten u. a. Jessenius als Rektor, aber auch der (nun schon pfälzische und (weiterhin sächsische) Rat Rüppel und einige weitere. Ein Jahr später war Garth nicht mehr unter den Lebenden. Eine Leichenpredigt/Denkschrift widmeten ihm dabei sowohl Jessenius als auch David Lippach (»Schmertzliche Klag- und Trawerpredigt«), die sie im Vorwort ihren Schirmherren dedizierten  : Joachim Andres Schlik, Illgen und Rüppel. Obwohl einfacher Diakon und kein Pfarrer, übernahm Lippach die geistliche Verwaltung des salvatorischen Kollegiums.19 Dass es Rüppel ernst damit meinte, sich für immer in der Prager Altstadt niederzulassen, bewies er im Jahre 1613, als er von Anna Fogl für 2500 Schock Meissner Groschen das Haus Konskr. Nr. 512 an der Ecke des Kohlenmarkts und Michaelstraße (Uhelný trh und Michalská ulice) kaufte.20 Zur St.-Salvator-Kirche war es 19 Fer dina nd Hrejsa, U Salvátora. Z dějin evangelické církve v Praze (1609–1632) [Am Salvator. Aus der Geschichte der evangelischen Kirche in Prag (1609–1632)], Praha 1930. Siehe auch Josef Luk ášek, Jáchym Ondřej hrabě Šlik [Joachim Andreas Graf von Schlik], Praha 1913, besonders 92, 95–96, 99. 20 Vgl. Bílek, Dějiny konfiskací v Čechách po r. 1618 I, 476 und Václ av Líva, Studie o Praze pobělohorské III. Změny v domovním majetku a konfiskace [Studie über Prag nach der Schlacht am Weißen Berg III. Veränderungen im Hausbesitz und Konfiszierungen], in  : Sborník příspěvků k dějinám hlavního města Prahy IX, Praha 1935, 45. Bílek führt an (realistischer) 2500 Schock Meißner Groschen, Líva Schock

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zwar von hier aus weiter als zu den Kirchen in der Nähe, aber nicht grundsätzlich weiter als zu den Kirchen in der Nähe. In dem Haus richtete er sich mit der Familie ein und brachte auch u. a. die Bibliothek mit hierher, die er ständig erweiterte. Zu seinen beliebten Buchhändlern gehörte auch der Altstädter Tobias Fikar, bevor er um 1612 verstarb. In dem genannten Jahr sollte ihm Rüppel über sechzehn Gulden schulden, was schon eine ganze Reihe Buchtitel bedeutete.21 Mit seiner Gemahlin kaufte er für ganze tausend Schock Meissner Groschen einen Hof im nahegelegenen Dorf Krč (heute Teil von Prag), der ihm Viktualien für seinen heimischen Tisch sicherstellte und wohl auch etwas Überschuss zum Verkauf. Aus dem pfälzischen Morenstein nahm er wahrscheinlich nur regelmäßige Mieten ein. Ansonsten bekam er das Gehalt von seinen fürstlichen Arbeitgebern, und zweifellos verdiente er sich etwas als Ratgeber in juristischen Angelegenheiten hinzu. Finanziell litt er also keine Not, in seinem Nachlass fanden sich außer den genannten Immobilien auch Schuldscheine auf 4570 Schock Meissner Groschen, wofür er sich weitere zwei repräsentative Bürgerhäuser in Prag hätte kaufen können.22 Seit Beginn des Ständeaufstands stand er den Direktoren zur Seite. Schon im Juni (1618) bekam er von ihnen den Auftrag, mit einigen Reichsfürsten über ein Finanzdarlehen zu verhandeln.23 Und ebenso wie früher übernahm er die Rolle eines Agenten und Informators. Ende August schrieb er dem Markgrafen Christian von Brandenburg-Bayreuth, dass der kaiserliche General Dampierre vor ein paar Tagen versucht habe, Neuhaus (Jindřichův Hradec) einzunehmen, aber vertrieben wurde. Daraufhin hätte ihn die Stände-Armee verfolgt und auf den Damm eines Teichs getrieben, wo es zum Gefecht kam, wobei er angeblich über zweihundert Mann verlor und sich durch die Flucht in den Wald retten musste. Die Ständeangehörigen machten Einschnitte im Wald mit Ausnahme eines einzigen Fluchtwegs, an dem sie dann auf Dampierre warteten (den Kaiserlichen war es aber gelungen, aus der Falle zu entweichen – was Rüppel schon nicht mehr schrieb).24 Anfang Oktober informierte er den Markgrafen über die Anreise des Hauptmanns Balthasar Jakob von Schlammersdorf, der aus dem Lager bei Pilgrams (Pelhřimov) in Prag anlangte.25 Dem Markgrafen und auch seinem Vertrauten in Weimar Michael Offner teilte er gleichzeitig mit, das 1250. Líva konnte sich jedoch irren und zu seinen Angaben sollte er wohl eher Schock böhmische Groschen hinzufügen. Dann würden sich die Berechnungen angleichen. 21 Hrejsa, U Salvátora, 26. 22 Bílek, Dějiny konfiskací v Čechách po r. 1618 I, 476. 23 Ja rosl av Prok eš (Hg.), Protokol vyšlé korespondence kanceláře českých direktorů z let 1618 a 1619 [Protokoll der erschienenen Korrespondenz der Kanzlei böhmischer Direktoren aus den Jahren 1618 und 1619], Praha 1934, 30. 24 Josef Dobi áš, Zrádné proudy v českém povstání r. 1618  ? [Tückische Ströme im böhmischen Aufstand  ?], Praha 1939, 62. 25 Ebd., 43.

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die Ständeangehörigen sich vorbereiten, die Kaiserlichen zu überfallen, sie warten nur noch auf Verstärkung in Form zweier Regimenter von Mansfeld.26 In der zweiten Hälfte dieses Monats teilte er Johann Casimir von Sachsen-Coburg mit, dass Mansfeld Pilsen (Plzeň) erreichen solle »und den Mordt- und Brenteufel helfen auß dem Loch treiben«. Gleichzeitig informierte er ihn über die schlesischen Kräfte des Markgrafen Johann Georg von Jägerndorf und darüber, dass der Fall von Pilsen in ein paar Tagen zu erwarten sei.27 Ähnliche Briefe, die einst Josef Dobiáš in ausländischen Archiven (Bamberg, Coburg) entdeckt hat, können in größerer Menge zur Verfügung stehen. Im März 1619 wählte die Landesständeversammlung eine Kommission, um Instruktionen für die Bevollmächtigung von Botschaftern der Regierung und Stände auszuarbeiten, die sich am 14. April zu einer Friedensverhandlung mit König Ferdinand nach Eger begeben sollten. Zu den Gesandten für den bürgerlichen Stand wurde u. a. Rüppel gewählt, allerdings nur als einer von drei Vertretern der Stadtgemeinde, nicht aber der Regierung. Die weiteren beiden waren seine nahen Kollegen Hauenschild und Illgen.28 Mehr (nachgewiesene) Aufgaben hatte für Rüppel König Friedrich von der Pfalz, der ihn zu seinem Geheimrat ernannte. Nachdem die Stände-Generalversammlung beschlossen hatte, dass der ganzen Welt die besondere Justifikation und Deduktion bekannt gegeben werden solle, auf welche Art und Weise sich Ferdinand II. selbst der Regierung im böhmischen Königreich und der inkorporierten Länder entledigt habe, bestimmten die Stände einige Personen, die das Dokument abfassen sollten. König Friedrich gab ihnen auch die Juristen Eisen, Hauenschild und Rüppel zur Hand. Dank dessen konnten Rüppel und seine beiden Bekannten, wann auch immer, in die Landestafeln Einblick nehmen und eine Abschrift der Landesprivilegien fordern.29 Nur etwa zwei Wochen später (Januar 1620) forderte Friedrich von Bílá (Bielen) als neu bestimmter Landesdirektor und Hauptmann der deutschen Lehen für den König einige Personen an, die das Lehensrecht kennen sollten, und unter den vier, die er selbst vorschlug, weil er sie für außerordentlich qualifiziert hielt, nannte er auch Leander Rüppel.30 Mit einer sehr kniffligen Aufgabe betraute der König seinen Geheimrat Anfang Juni. Friedrich von der Pfalz hatte damals erfahren, dass der Kaiser alle Vasallen der Böhmischen Krone nach Wien schickt, um dort das Lehen zu empfangen. Weil aber der König, als ordnungsgemäß gewählter und gekrönter böhmischer Regent, nicht ertragen wollte, dass die Vasallen das Lehen außerhalb von Prag empfangen, erlegte

26 Ebd., 42. 27 Ebd., 40 und 44. 28 Documenta Bohemica bellum tricennale illustrantia II, Praha 1972, 103. 29 Václ av Líva (Hg.), Prameny k dějinám třicetileté války III [Quellen zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges], Praha 1951, 46–47. 30 Ebd., 49.

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er dem Adressaten auf, der in diesen Sachen gute Erfahrungen hatte, dass er den Kurfürsten, Reichsfürsten, Grafen, Ständen und Städten, die betroffen waren, Konzepte entsprechender Verbote anfertige. Da unter diesen versandten Dokumenten auch Rüppels Name nicht fehlte, hatte er sich gleichzeitig damit sein Todesurteil unterschrieben.31 Ein weiterer Befehl des Königs, von September 1620, war gegen den sächsischen Kurfürsten gerichtet, nachdem dieser dem böhmischen Königreich offen die Feindschaft ausgesprochen hatte, womit er seine Lehenspflichten veruntreute. Rüppel sollte mit den Kollegen ein ausführliches Gutachten ausarbeiten, wie gegen den Kurfürsten in dieser Situation vorzugehen sei. Die Kardinalfrage lautete, ob Johann Georg I. aller Kronenlehen entledigt werden solle.32 Mit der Erfüllung dieser juristischen Aufgabe entledigte sich Rüppel jedoch jeglicher Vision einer künftigen Fürbitte am sächsischen Hof. Der Ständeaufstand wurde bald darauf niedergeschlagen und Leander Rüppel blieb im Netz der Sieger hängen. Er gehörte zu den ersten Inhaftierten, die auf Liechtensteins Befehl schon im Dezember 1620 ins Gefängnis im Altstädter Rathaus wanderten.33 Aufgrund der Auslandskontakte, denen die Exekutionskommission (und vor allem der Kaiser) besondere Aufmerksamkeit schenkte, wurde er sogar wiederholt verhört, ebenso wie Schlik, Wenzel Budovec von Budov, Martin Fruwein von Podolí und Hauenschild.34 Zusätzlich zu dem, was wir bereits wissen, beschuldigte die Kommission ihn der aktiven Teilnahme an mehreren Kommissionen, und zwar auch außerhalb der tschechischen Länder. Gemeinsam mit Hauenschild wurde er als Letzter zum Tode verurteilt, erst am 16. Juni, dafür erhielt er aber eine verschärfte Strafe, die, was die Grausamkeit betraf, nur das Verdikt für Dr. Johann Jessenius übertraf. Rüppels Rechte sollte zunächst abgeschnitten und im Altstädter Rathaus an den Pranger genagelt werden – erst dann konnte er enthauptet und sein Kopf an den Pranger angeschlagen werden.35 Am Sonntag, den 20. Juni fand in der St. Salvator-Kirche ein Gebet für die Verurteilten statt, das David Lippach führte. Beim Nachmittagsgottesdienst wurden Botschaften der verurteilten Mitglieder des Kollegiums – Jessenius, Rüppel und Hauenschild – verlesen, in denen sie diejenigen um Vergebung baten, denen sie Unrecht getan haben.36 Die letzte Seelsorge erhielten Rüppel und die anderen Lutheraner von vier deutschen lutherischen Geistlichen, angeführt von Lippach, aber nicht nur von dem salvatorischen Kollegium. Sie begleiteten ihn auch zur Hinrichtungsstätte.37 31 Ebd., 64. 32 Ebd., 84. 33 Josef Polišensk ý, Jan Jesenský – Jessenius, Praha 1965, 79. 34 Luk ášek, Jáchym Ondřej hrabě Šlik, 211. 35 Bílek, Dějiny konfiskací v Čechách po r. 1618 I, 475. 36 Luk ášek, Jáchym Ondřej hrabě Šlik, 213. 37 Hrejsa, U Salvátora, 64.

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Wie lange der Kopf des anerkannten Juristen am Pranger ausgestellt war, wird nicht angeführt  ; wohl nur kurz, denn bald darauf wurde er mit dem Leib in der St. Salvator-Kirche beigesetzt – genau so, wie es sich der Verurteilte gewünscht hatte.38 Drei Tage nach der Hinrichtung fanden Trauergottesdienste in der Kirche statt, begleitet von Lippachs Danksagung an Gott, dass er Rüppel und seine Mitleidenden vor dem katholischen »Wahn« bewahrt habe.39 Der gesamte Besitz von Leander Rüppel von Ruppach sollte konfisziert werden.40 Wenn es auch verständlicherweise das Altstädter Haus betraf, blieb die Immobilie am Kohlenmarkt (dem damaligen Tarmark) der Witwe Anna, weil sie ein Anrecht auf die Hälfte des Besitzes hatte, und noch dazu auch ihre Mitgift versichert hatte. So blieb ihr auch der Hof in Krč. Die kaiserlichen Ämter verhielten sich ihr gegenüber mildherzig, nicht nur wegen ihres Anspruchs, sondern auch deshalb, weil sie konvertiert war und versprach, die Kinder der Erziehung von Jesuiten zu übergeben. Sie heiratete erneut, den Altstädter Bürger Johann von Enden.41 Das Haus hatte nach ihr Tochter Magdalena im Besitz, die mit Wolf Gerynk verheiratet war. Gerynk vermachte das Haus aber den im Exil lebenden Brüdern Johann, Leander jun. und Ludwig Rüppel, die es sofort, gleich im Dezember desselben Jahres, für nur sechshundert Gulden an Václav Vokoun von Vokounštejn verkauften.42 Das Pfälzer Gut Morenbach wurde aufgrund einer kaiserlichen Resolution erst vom 25. Mai 1629 an Christoph Philipp von Satzenhofen für einen Schätzpreis von 1000 Rheinische Gulden abgetreten. Das Geld musste allerdings der neue Besitzer an Wolf Wilhelm Laminger von Albenreuth, den Reichshofrat und Hauptmann der deutschen Lehen des Böhmischen Königreichs, für seine unbezahlten Dienste bezahlen.43 Rüppels Söhne Johann und Ludwig konnten sich mit dem Katholizismus nicht identifizieren und verließen das Land.44 Über Leander jun. wissen wir nichts. Zumindest Johann trat in die Fußstapfen seines Vaters – er studierte Jura in Jena45 und schrieb auch juristische Fachabhandlungen.46 38 Ebd., 65. 39 R a dmil a Prch a l Pav líčková, Dvě pohřební kázání od sv. Salvátora. Luteráni na Starém Městě pražském [Zwei Todespredigten in St. Salvator. Lutheraner in der Prager Altstadt], in  : Město v převratech konfesionalizace v 15. až 18. století (= Documenta Pragensia, 33), Praha 2014, 595. 40 Národní archiv Praha [Nationalarchiv Prag], Stará manipulace, K. 469, Inv. Nr. 666, Sign. C 215/R 30. 41 Bílek, Dějiny konfiskací v Čechách po r. 1618 I, 476. 42 Líva, Studie o Praze pobělohorské III, 45. Nach diesem Autor sollte das Haus in der Zeit seiner Konfiszierung im Jahre 1628 einen Wert von 1955 Schock Meißner Groschen haben (ebd., 354). 43 Bílek, Dějiny konfiskací v Čechách po r. 1618 I, 476. 44 Václ av Líva, Studie o Praze pobělohorské I. Emigrace, Praha 1930, 25. 45 Mentz – Jauernig (Hg.), Die Matrikel der Universität Jena. Band I. 1548 bis 1652, 271. Johann hatte sich im Jahre 1634 immatrikuliert. 46 https://www.worldcat.org/search?q=au%3ARu%CC%88ppel+von+Ruppach%2C+Johann-Leander &qt=hot_author [1.3.2021].

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Nachklänge des Dreißigjährigen Krieges im Leben von Wenzel Eusebius Popel von Lobkowicz Die Persönlichkeit von Wenzel Eusebius von Lobkowicz muss nicht lange vorgestellt werden. Als Sohn des Obersten Kanzlers im Königreich Böhmen, Zdenco Adalbert Popel von Lobkowicz, und seiner Frau Polyxena geboren von Pernstein konnte er die Bildung, den hohen Intellekt und das soziale Kapital, das ihm seine Vorfahren vererbten, die über mehrere Generationen zur Elite des böhmischen Adels und des kaiserlichen Hofs gehörten, hervorragend nutzen. Obwohl seine Karriere von vielen Misserfolgen und Enttäuschungen nicht verschont blieb, führten sein immenser Ehrgeiz und sein Wunsch, den Platz zu verteidigen, den die Familie Lobkowicz zu Lebzeiten von Zdenco Adalbert einnahm, Wenzel Eusebius an die Spitze der Hofhierarchie. Im Alter von sechsundfünfzig Jahren wurde er 1665 von Kaiser Leopold I.zum Ersten Minister ernannt. In diesem Amt blieb er bis zu seinem Untergang im Jahr 1674. Angesichts dieser Tatsachen ist es erstaunlich, wie wenig Raum die Historiker Wenzel Eusebius eingeräumt haben. An die 1869 von Adam Wolf1 veröffentlichte Biographie des Fürsten von Lobkowicz knüpfte 1939 ein kurzes Medaillon von Zdeněk Kalista an.2 Seitdem wurde jedoch kein größeres Werk über das Leben von Lobkowicz mehr veröffentlicht.3 Wenzel Eusebius von Lobkowicz gehörte zu der Generation von Adligen, die in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges in Europa herangewachsen sind. Der Kriegsbeginn erwischte den damals neunjährigen Jungen in Prag, wo er zusammen mit seiner Mutter Polyxena geboren von Pernstein den ganzen Sommer 1618 über im * Abkürzungen  : Bd.: Band  ; Ebd.: ebenda  ; Erg.-Bd.: Ergänzungsband  ; Fasz.: Faszikel  ; fol.: folio  ; KA  : Kriegsarchiv  ; LA  : Lobkowiczký archiv Nelahozeves [Lobkowiczer Archiv in Nelahozeves]  ; LRRA  : Lobkowiczové roudničtí – Rodinný archiv [Familienarchiv Lobkowicz – Linie von Raudnitz]  ; Nr.: Nummer  ; ÖNB  : Österreichische Nationalbibliothek  ; ÖStA  : Österreichisches Staatsarchiv  ; pag.: pagina  ; s. d.: sine dato  ; s. l.: sine loco  ; v.: verso  ; vol.: volume. 1 A da m Wolf, Fürst Wenzel Lobkowic, erster geheimer Rath Kaiser Leopold’s I. 1609–1677. Sein Leben und Wirken, Wien 1869. Von der Arbeit von Adam Wolf ist auch weitgehend die Studie Thom as M. Ba rk er, Václav Eusebius z Lobkovic (1609–1677) abhängig  : Military Entrepreneurship, Patronage, and Grace, in  : Austrian History Yearbook 14, 1978, 31–50. 2 Zdeněk K a lista, Čechové, kteří tvořili dějiny světa, Praha 2. Aufl. 1999, 59–70, 147–157. 3 Von den Arbeiten, die nach 1990 entstanden sind, ist die Studie über die Jugendzeit von Wenzel E. von Lobkowicz erwähnenswert  : Pav el M a rek, Dětství a dospívání Václava Eusebia z Lobkovic ve světle španělské korespondence jeho rodičů, in  : Ivo Barteček (Hg.), Celostátní studentská konference Historie ’99, Olomouc 2000, 61–87.

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Palais Lobkowicz im Prager Stadtteil Hradschin interniert war. Erst Anfang September 1618 durften Polyxena und ihr Sohn die Hauptstadt des Königreichs verlassen und sich an den kaiserlichen Hof in Wien begeben. Beide kehrten erst 1623 nach Böhmen zurück. Kurz darauf begann Wenzel Eusebius sein Studium an der juristischen Akademie der Prager Universität. Zdenco Adalbert Popel von Lobkowicz sah in einer guten Ausbildung eine unerlässliche Voraussetzung für die künftige Karriere seines Sohnes am Hof und bestand deshalb darauf, dass Wenzel Eusebius ein weitgehend ähnliches Ausbildungsmodell wie er selbst bekam.4 Nach Abschluss seines Studiums an der Prager Universität begibt sich Wenzel Eusebius auf eine Kavalierstour nach Italien, um »ein wenig von der Welt zu sehen«.5 Adam Wolf behauptet zwar, dass Wenzels Italienreise bereits 1627 stattfand, doch wirft diese Tatsache eine Reihe von Fragezeichen auf.6 Wenn der junge Lobkowicz 1627 überhaupt auf die Apenninenhalbinsel kam, dann verbrachte er dort höch­ stens ein paar Monate. Obwohl Zdenco Adalbert bereits im April seinem Sohn den Wunsch mitgeteilt hatte, dass seine geplante Reise endlich vorankommen möge, befand sich Wenzel Eusebius Ende Juni noch immer in Raudnitz an der Elbe. Wenn sich sein Aufenthalt im Mittelmeer also nicht auf den Zeitraum zwischen Ende April und Anfang Juni 1627 beschränkte, konnte er frühestens im Sommer nach Italien aufbrechen. Am 25. November war er jedoch bereits wieder in Prag. In Begleitung seines Vaters nahm er an einer Zeremonie anlässlich der Krönung von Eleonora Gonzaga und Ferdinand III. teil. Die Anwesenheit der kaiserlichen Familie in Böhmen war wohl der Hauptgrund für seine rasche Rückkehr in die Heimat.7 Der Tod des Vaters von Wenzel Eusebius war ein weiteres Hindernis auf dem Weg zu einer vollwertigen Kavalierstour. Als Zdenco Adalbert am 16. Juni 1628 starb, war es notwendig, dass sich Wenzel Eusebius als neuer Herrscher des Hauses Lobkowicz mit der Verwaltung des Familienbesitzes vertraut machte und sich beim Kaiser in 4 Pav el M a rek, Úloha rodové paměti v životě prvních lobkovických knížat, in  : Václav Bůžek – Pavel Král (Hg.), Paměť urozenosti, Praha 2007, 134–157. Die spanische Korrespondenz seiner Eltern bietet eine interessante Einsicht in die Erziehung und Bildung von Wenzel E. von Lobkowicz  : Pav el M a rek (Hg.), Svědectví o ztrátě starého světa. Zdeněk Vojtěch Popel z Lobkovic a Polyxena Lobkovická z Pernštejna, České Budějovice 2005. 5 »… que vaya un poco a veer el mundo.« LA, LRRA, D/163, fol. 16–19, Zdenco Adalbert Popel von Lobkowicz an seine Frau Polyxena von Pernstein (26.4.1625). M a rek (Hg.), Svědectví, Nr. 96. 6 Adam Wolf spezifiziert jedoch nicht näher den Italienaufenthalt von Lobkowicz. Er gibt nicht einmal an, aus welcher Quelle er seine Information bezieht, dass Wenzel E. 1627 tatsächlich auf die Apenninhalbinsel reiste. Wolf, Fürst, 16. 7 Den Aufenthalt von Lobkowicz in Böhmen im April und Juni belegt folgende Korrespondenz der Familie Lobkowicz  : LA, LRRA, D/166, fol. 27–27, Wenzel E. an seinen Vater Zdenco (7.4.1627)  ; Ebd., D/165, fol. 136–137, Polyxena von Pernstein an ihren Ehemann Zdenco (nach 28.6.1627). Wenzels Teilnahme an der Krönungszeremonie am 25. 11. 1627 erwähnt beispielsweise das Schriftstück Königlicher Böhmischen Crönungen Ritterfest […]. ÖNB Wien, 66. H. 35 und 63. F. 20.

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Wien vorstellte.8 Erst Anfang 1630 machte er sich wieder auf den Weg in die Welt. Entgegen seinem ursprünglichen Plan, nach Italien zurückzukehren, begab er sich nach Brüssel an den Hof von Isabella Clara Eugenia von Habsburg. Obwohl er dort hervorragend aufgenommen wurde, blieb Wenzel Eusebius nicht lange in Flandern. Bereits im Frühjahr 1630 reiste er nach London, wo er König Karl I. aus dem Haus Stuart persönlich vorgestellt wurde. Er erkundete nicht nur die englische Hauptstadt und ihren Hof, sondern verbrachte auch mehrere Tage mit Ausflügen in die nahe Umgebung. Besonders beeindruckt war er von den Landresidenzen des Königs. Anfang Mai kehrte Lobkowicz auf den Kontinent zurück. In den folgenden Wochen reiste er in mehrere Städte der Spanischen Niederlande, darunter Gent, Brügge und Antwerpen. Er ließ auch nicht die habsburgfeindlichen Provinzen Seeland und Holland aus. Er verbrachte sogar einige Zeit am Hof von Friedrich Heinrich von Oranien in Amsterdam. Ende August 1630 war er wieder in Brüssel, von wo aus er bald eine längere Reise über den alten Kontinent antreten sollte. Seine Pläne wurden jedoch durch die unübersichtliche politische Lage in Europa kompliziert. Während einen möglichen Besuch in Frankreich die angespannten Beziehungen zwischen dem christlichsten König und den Habsburgern erschwerten, wurde seine Reise auf die Apenninhalbinsel weiterhin durch den anhaltenden Krieg um die mantuanische Erbfolge behindert.9 Ein Aufenthalt auf der Iberischen Halbinsel schien auch wegen der großen Pestepidemie, die dort seit 1629 wütete, gefährdet zu sein. Dennoch machte sich Wenzel Eusebius schließlich auf den Weg nach Madrid. Dies geschah wahrscheinlich zwischen den Jahren 1630 und 1631.10 Obwohl Zdenco Adalbert Popel von Lobkowicz und seine Frau hofften, dass ihr Sohn aus seiner Ausbildung im Hofdienst profitieren würde, war Wenzels Weg ins Amt alles andere als einfach. Als er kurz nach dem Tod seines Vaters im Herbst 1628 zum ersten Mal nach Wien kam, wurde er von den einflussreichen Höflingen, angeführt von Leonhard Helfried von Meggau, Wilhelm Slavata von Chlum und

 8 LA, LRRA, D/166, fol. 33–40, Wenzel E. an seine Mutter Polyxena (1628).  9 Ein Bild von den Kavalierstouren von Wenzel E. von Lobkowicz bringt Wolf, Fürst, 16–17. Eine wertvolle, aber eher spärliche Einsicht in seine Reisen durch Europa bieten Wenzels Briefe an seine Mutter. LA, LRRA, D/166, fol. 46–47, (3.5.1630)  ; Ebd., fol.  48–49, (30.8.1630). Ähnliches gilt für den Brief von Wenzels italienischem Präzeptor Quintio Battista Roberti. LA, LRRA, B/234, fol. 1–2, (17.6.1630). 10 Der einzige Beleg für Wenzels Besuch in Madrid ist ein Brief von Luisa de las Llagas (Luisa von Pernstein), Äbtissin des Klosters Descalzas reales in Madrid, der an Königin Maria Anna von Habsburg gerichtet ist  : »Abiendo estado aquí algún tiempo el príncipe de L. buelve agora ahí y yo suplico a V. Md. le aga merced en todo … y estoy cierta que por sobrino de la abadesa de las Descalzas olgara.« LA, LRRA, B/19, fol. 5, Luisa de las Llagas an Maria Anna von Spanien (s.d.). Da Wenzel E. unmittelbar nach seiner Rückkehr seine militärische Laufbahn begann, muss sein Besuch in Spanien irgendwann zwischen 1630 und 1631 stattgefunden haben.

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Koschumberg und Maximilian von Trauttmannsdorf, freundlich behandelt, doch er selbst empfand es als Heuchelei. Es half ihm wenig, dass er zusammen mit Kardinal Franz Seraph von Dietrichstein nach Wien reiste, der laut Lobkowicz zu diesem Zeitpunkt in der Ungnade des Kaisers stand  : »Der Kardinal ist völlig abgeschrieben. Keiner der Geheimräte mag ihn, ja sie können ihn nicht einmal ausstehen.«11 Als sich die Situation auch nach seiner Rückkehr von der Kavaliertour nicht wesentlich änderte, beschloss Wenzel Eusebius, sein Glück in der kaiserlichen Armee zu versuchen. Bis vor ein paar Jahren schien ein solches Szenario noch undenkbar zu sein. Sowohl Polyxena als auch ihr Mann fürchteten zu sehr um das Leben ihres einzigen Sohnes und lehnten seinen Eintritt in die Armee kategorisch ab.12 Ihre Stellungnahme wurde durch die Tatsache verstärkt, dass beide in den Türkenkriegen Geschwister verloren hatten  : neben Johann von Pernstein, der 1597 während der Belagerung der Stadt Raab fiel, starb auch der Bruder des Kanzlers, Wenzel, auf dem ungarischen Schlachtfeld. Obwohl seit dem Tod von Polyxenas Bruder mehr als dreißig Jahre vergangen waren, hatte sich ihre Angst eher vergrößert. Denn kurz bevor Wenzel Eusebius abreiste, um sich seinem Regiment anzuschließen, gab es ein weiteres Kriegsopfer unter den Angehörigen. Am 26. Juli 1631 wurde ihr Neffe Vratislav Eusebius von Pernstein bei einem Gefecht zwischen den kaiserlichen Truppen und einer Einheit der schwedischen Armee in Brandenburg schwer verwundet und starb kurz danach.13 Genauere Informationen über Wenzels Militärdienst haben wir hauptsächlich aus den Jahren 1633–1634. In den Briefen, die er von Feldzügen oder Winterquartieren an seine Mutter schickte, widmete er sich jedoch mehr als dem Krieg selbst den Fragen der Verwaltung der Familiengüter, der Heirat und vor allem der Stärkung seiner gesellschaftlichen Position. Da seine Ambitionen in Wien keine positive Reaktion hervorriefen, versuchte er, seine Position mit Hilfe der Kontakte seiner Mutter am Madrider Hof zu verbessern. Bereits 1633 hatte er versucht, von König

11 »El Cardenal está muy perdido. Ninguno de los consejeros de estado le quiere bien ni le pueden soportar. Él a venido antes de tres días y vuelve mañana en Moravia. El Amo está desgustado con él que da mala satisfactión a la gente. Dizen que le quitan el Officio.« LA, LRRA, D/166, fol. 33–40, Wenzel E. an seine Mutter Polyxena (1628). 12 LA, LRRA, D/165, fol. 108–109, 101–102, 110–111, 103–104, Polyxena von Pernstein an ihren Ehemann Zdenco (29.8.1626). 13 Petr Vorel, Páni z Pernštejna. Vzestup a pád rodu zubří hlavy v dějinách Čech a Moravy, Praha 2. Aufl. 2012, 267. Zum Vergleich auch der Eintrag im Tagebuch von Christian von Anhalt vom 26. Juli 1631  : Digitale Edition und Kommentierung der Tagebücher des Fürsten Christian II. von Anhalt-Bernburg (1599– 1656) (= Editiones Electronicae Guelferbytanae), Wolfenbüttel 2013. Veröffentlicht unter http:// diglib.hab.de/edoc/ed000228/start.htm [15.10.2021]. Zu Wenzel Popel von Lobkowicz  : Sta nisl av K asík – Petr M ašek – M a rie Mžy ková, Lobkowiczové. Dějiny a genealogie rodu, České Budějovice 2002, 126.

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Philipp IV. von Spanien den Orden vom Goldenen Vlies zu erhalten. Der damals vierundzwanzigjährige Lobkowicz stand ganz am Anfang seiner Karriere. Er konnte seine Anfrage nur auf den Verdiensten seines verstorbenen Vaters und die Befürwortung einflussreicher Familienfreunde stützen, vor allem des spanischen Gesandten am kaiserlichen Hof, Iñigo Vélez de Guevara, Graf von Oñate, und des Beichtvaters der Königin Maria Anna von Habsburg, Diego de Quiroga.14 Doch all dies reichte nicht aus, um ihm die oben genannte Auszeichnung zu verleihen, und Wenzel Eusebius von Lobkowicz musste einen weiteren diplomatischen Misserfolg hinnehmen. Das ganze Ereignis kann aber auch als Beweis für sein hohes Selbstbewusstsein gesehen werden. Während seine Altersgenossen Georg Adam Borzita Graf von Martinitz und Joachim Ulrich Slavata von Chlum und Koschumberg, Söhne von Zdencos Zeitgenossen aus den höchsten Landesämtern im Königreich Böhmen, in den spanischen Militärorden des heiligen Jacob eintraten, setzte sich Fürst von Lobkowicz viel höhere Ziele.15 Es scheint jedoch, dass er zu diesem Zeitpunkt die Bedeutung seines Fürstentitels und die Macht seiner Mutter sowie ihrer spanischen Verwandten stark überschätzte. Auf die höchsten habsburgischen Auszeichnungen musste er bis 1644 warten, da er zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als zehn Jahre in der Armee gedient hatte und fest in das Leben des kaiserlichen Hofs integriert war. Auch half ihm nicht, dass der spanische König während des Dreißigjährigen Krieges häufiger als je zuvor die höchsten habsburgischen Auszeichnungen an mitteleuropäische Adelige verlieh.16 Obwohl der Militärdienst in der Mitte des 17. Jahrhunderts noch als eines der konstitutiven Merkmale des Adels angesehen wurde, war er für Wenzel Eusebius nicht sehr befriedigend.17 Viel wohler fühlte er sich in der Wärme der Familienre14 LA, LRRA, D/166, fol. 50–51, Wenzel E. an seine Mutter Polyxena (1.4.1633)  ; Ebd., fol.  54, Wenzel E. an seine Mutter Polyxena (6.5.1633). Zu Quiroga Rubén Gonzá lez Cuerva , The role of confessorambassador. The Capuchin Diego de Quiroga and Habsburg politics, in  : Roberta Anderson – Charlotte Backerra (Hg.), Confessional Diplomacy in Early Modern Europe, London 2021, 120–138. 15 Die Zugehörigkeit von Slavata und Martinitz zum Orden des heiligen Jacob belegt  : A n na Mur i R aurell, »La mancha roja« y »La montaña blanca«. Las órdenes militares de Santiago, Calatrava y Alcántara en Centroeuropa antes y después de 1620 (s. XVI–XVII), Praga 2018, 436. Zur gesellschaftlichen Bedeutung des Ordens des heiligen Jacob  : Elena Postigo Castell a nos, Honor y privilegio en la Corona de Castilla. El consejo de las Ordenes y los caballeros de hábito en el siglo XVII, Valladolid 1988. 16 A lfonso Ceba llos-Esca ler a y Gil a, La insigne Orden del Toisón de Oro, Madrid 2000, 342. Auf die steigende Anzahl von Auszeichnungen, die den mitteleuropäischen Adligen während des Dreißigjährigen Krieges verliehenen wurden, deutete Loth a r Höbelt, Der Orden vom Goldenen Vlies als Klammer eines Weltreiches, in  : Kanzlei des Ordens vom Goldenen Vlies (ed.), Das Haus Österreich und der Orden vom Goldenen Vlies. Beiträge zum wissenschaftlichen Symposium am 30. November und 1. Dezember 2006 in Stift Heiligenkreuz, Graz–Stuttgart 2007, 37–52, hier 51. 17 Die Wahrnehmung des Militärdienstes durch die adligen Schichten der frühen Neuzeit beschrieb R a fa elle Puddu, Il soldato gentiluomo. Autoritratto d’una società guerriera  : la Spagna del Cinquecento,

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sidenzen und in Wien, wo er sich aufhielt, wenn seine Soldaten im Winterquartier waren.18 In den Briefen, die er damals an seine Mutter schickte, ist daher oft die Sehnsucht nach Frieden zu hören, und die anfängliche Überzeugung, dass es im Interesse des Christentums sei, bis zum letzten Atemzug zu kämpfen, wurde bald durch einen versöhnlicheren Ton ersetzt. Noch im April 1633 schrieb er aus Holleschau an seine Mutter  : »Alle reden hier nur vom Frieden. Wenn er für die Christenheit von Nutzen ist, wird ihn unser Herr sicherlich möglich machen. Wenn nicht, ist ein gerechter Krieg besser.« 19 Seine Einstellung änderte sich jedoch nur wenige Monate später, als er sich im Juli im Militärlager bei Schweinitz aufhielt, wo es zu zahlreichen Konflikten mit dem Feind kam  : »Keiner von uns hat Lust zu kämpfen, und obwohl wir Soldaten sind, sehnen wir uns alle nach Frieden  !«20 Ein Jahr später änderte er seine Meinung definitiv  : »Ich wünsche mir nichts anderes, als dass Frieden geschlossen wird und ich mich ehrenvoll aus diesem Durcheinander zurückziehen, heiraten und Euch dienen kann, wie es meine Pflicht auferlegt.« 21 Der Krieg selbst drang nur selten in Wenzels Briefe ein. So schrieb Wenzel Eusebius seiner Mutter ausführlich über die Schlacht bei Liegnitz, in der die kaiserliche Armee zunächst den ersten Angriff des Feindes abwehrte, aber auf den erneuten Angriff völlig unvorbereitet war, sodass viele Verwundete und Tote auf dem Feld zurückblieben, vor allem aus der Kavallerie. Wenzel Eusebius entkam der Schlacht unversehrt und zog sich mit dem Rest seiner Armee in Richtung Grenzgebirge zurück, wo er Verstärkung aus Böhmen erwartete.22 Doch auch der Aufenthalt in den Bologna 1982. Für die tschechische Umgebung Vítězsl av Prch a l, Společenstvo hrdinů. Válka a reprezentační strategie českomoravské aristokracie 1550–1750, Praha 2015, 278–333. 18 Seine Aufenthalte in Wien sind durch Einträge im Tagebuch von Christian von Anhalt belegt  : Digitale Edition und Kommentierung der Tagebücher des Fürsten Christian II. von Anhalt-Bernburg (1599–1656) (= Editiones Electronicae Guelferbytanae), Wolfenbüttel 2013. Veröffentlicht unter http://diglib.hab. de/edoc/ed000228/start.htm [15.10.2021]. 19 »Aquí por todo se habla de la paz. Si es útil a la Cristiandad N[uestro] S[eñor] la conceda, si no, más vale una justa Gerra.« LA, LRRA, D/166, fol. 52–53, Wenzel E. an seine Mutter Polyxena (27.4.1633). 20 »Aquí estamos todos con pocho gusto y si bien somos soldados todavía desseamos la pas.« LA, LRRA, D/166, fol. 57–59, Wenzel E. an seine Mutter Polyxena (12.7.1633). Vergleich eines ähnlichen Zeugnisses von Octavio Piccolomini aus dem schlesischen Lager vom 11. Juni 1633 im Werk  : Quintín A lde a Vaquero, España y Europa en el Siglo XVII. Correspondencia de Saavedra Fajardo. Tomo III., vol. II. El cardenal infante en el imposible camino de Flandes 1633–1634, Madrid 2008, 202. »En suma, todos son cansados de la guerra y el país todo arruinado y no puede sufrir más.« 21 »No desseo otro que la pas para que con onra me pudiesse retirar de estas confusiones y servir a V[ue­ stra] E[xcelencia] cassado conforme mi obligación.« LA, LRRA, D/166, fol. 66, Wenzel E. an seine Mutter Polyxena (11.1.1634). 22 LA, LRRA, D/166, fol. 76–77, Wenzel E. an seine Mutter Polyxena (17.5.1634). Die Schlacht bei Liegnitz beschrieben auch damalige Zeitungen wie Noch besserer Bericht, von dem harten Treffen, so zwischen der Chur Sächsischen, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, verfügbar unter https://brema. suub.uni-bremen.de/zeitungen17/periodical/pageview/681252 [17.10.2021].

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Winterlagern brachte Wenzel Eusebius keine große Erleichterung. Im Januar 1634 schrieb er aus Görlitz, dass er lieber an jedem anderen Ort der Welt wäre als in diesem armen und schlecht versorgten Quartier. 23 Im März 1638 beschwerte er sich über Deserteure. Eine Begegnung mit ihnen hatte angeblich katastrophale Folgen für die Soldaten, und manch ein kaiserlicher Soldat verlor dabei seinen Kopf.24 Die Briefe von Lobkowicz an seine Mutter widerspiegelten aber auch sein Verhältnis zu den führenden Persönlichkeiten der kaiserlichen Armee. Obwohl er sich gerne als einfacher Soldat (»pobre soldado«) bezeichnete,25 wurde er am 20. April 1632 zum Oberst ernannt und war während seiner gesamten Zeit in der Armee in Kontakt mit Personen aus deren engster Führung, darunter mit dem kaiserlichen Befehlshaber Albrecht von Wallenstein oder Matthias Gallas.26 Die Darstellung von Wallenstein aus Lobkowicz’ Korrespondenz ist sehr widersprüchlich. Obwohl er bei Zdenco Adalbert und Polyxena von Pernstein nicht besonders beliebt war, schätzte Wenzel Eusebius zu Beginn die kriegerischen Fähigkeiten Wallensteins. Noch kurz vor der Ermordung von Wallenstein in Eger weigerte er sich zu glauben, dass der Befehlshaber von der Führung der Armee zurückgerufen werden könnte, denn »die Umstände sprechen nicht dafür, und niemand sonst kann dem Kaiser in den kommenden Schlachten so nützlich sein wie er«.27 Er selbst fürchtete sich jedoch vor dem unberechenbaren und herrschsüchtigen Wallenstein.28 Als er im März 1634 von Wallensteins unrühmlichem Ende erfuhr, zögerte er nicht, den Herzog von Friedland als Tyrannen zu bezeichnen, der den Frieden verhinderte, und sah in seinem Tod ein Werk Gottes.29 23 LA, LRRA, D/166, fol. 66, Wenzel E. an seine Mutter Polyxena (11.1.1634). 24 LA, LRRA, D/166, fol. 80–81, Wenzel E. an seine Mutter Polyxena (7.3.1638). 25 Z. B.: LA, LRRA, D/166, fol. 57–59, Wenzel E. an seine Mutter Polyxena (12.7.1633). 26 Über die Ernennung zum Oberst Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA) in Wien, Kriegsarchiv (KA), Wiener Hofkriegsrat, Bestallungen- und Vormerkprotokolle, Bd. 1, Fasz. 1632–1638, fol. 269. Diese Information verdanke ich Herrn Dr. Vítězslav Prchal. Über Albrecht von Wallenstein gibt es eine umfassende Literatur  : Josef Ja náček, Valdštejn a jeho doba, Praha 1978  ; Robert R ebitsch, Wallenstein  : Biografie Eines Machtmenschen, Wien – Köln – Weimar 2010. Zu Gallas Robert R ebitsch, Matthias Gallas (1588–1647)  : Generalleutnant des Kaisers zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Eine militärische Biographie, Münster 2006. 27 »Que el Duque aya de resignar no lo creo porque el tiempo y la occasión no lo permitte la qual él como diestro save muy bien observar.« LA, LRRA, D/166, fol. 66, Wenzel E. an seine Mutter Polyxena, (11.1.1634). Dass die Lobkowicz-Familie Wallenstein als aufgeblasenen Wichtigtuer empfand, beweist eine Reihe von Ehebriefen zwischen Zdenco Adalbert und seiner Gemahlin Polyxena  : Marek (Hg.), Svědectví. 28 LA, LRRA, D/166, fol. 62–65, Wenzel E. an seine Mutter Polyxena (20.11.1633). Der Briefverkehr zwischen den Lobkowicz bestätigt damit indirekt die Worte des italienischen Historiographen Galeazzo Gualdo Priorato, der über Wallenstein schrieb »Ambì d’esser temuto si compiacque de’rigori  ; onde esequì molte et memorabili giusticie senza riguardo à qualsiuoglia persona, carica o nobiltà.« Ga le a zzo Gua ldo Prior ato, Historia della vita d’Alberto Valstain, Duca di Fritland, Lyon 1643, 64v. 29 »Ya que Dios a castigado este Tirrano con sus adherentes emos de sperar todo bien y una pas segura.«

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Lobkowicz’ Hoffnungen, dass nach der Beseitigung Wallensteins und seiner Getreuen der ersehnte Frieden eintreten würde, erwiesen sich als falsch. Er profitierte aber auch von dem Ereignis, da ihm das ehemalige Regiment von Adam Erdmann Graf Trčka anvertraut wurde. Während die Einheiten, denen er in der Vergangenheit befahl, relativ schwach waren, bekam er durch den Anschluss von Trčkas Männern eine Truppe von zwölf Kompanien.30 Dann versprach er sich weiteren Erfolg, indem er Matthias Gallas an die Spitze der Armee setzte. Um die Gunst von Gallas zu gewinnen, forderte er seine Mutter wiederholt auf, dem neuen Befehlshaber der kaiserlichen Armee bei der Suche nach einem Haus in Prag zu helfen.31 Lobkowicz stand auch in engem Briefkontakt mit Baltasar de Marradas und Rudolf von Colloredo.32 Obgleich Wenzel Eusebius nach dem Tod Wallensteins offenbar größeres Vertrauen bei seinen Vorgesetzten erlangte, ließen Polyxena seine Aufstiegschancen eher kalt. »Mein Sohn, du schreibst mir, dass du einen weiteren militärischen Rang erhalten hast. Da ich kein Soldat bin, weiß ich nicht, ob das gut für deinen Ruf ist oder nicht. Du weißt, dass ich solche Dinge nicht verstehe. Aber ich werde Gott bitten, dir Glück zu schenken und dich zu beschützen und dich von allem Bösen zu befreien«, schrieb sie ihm in einem ihrer Briefe.33 Obwohl Wenzel Eusebius mit seiner Zeit in der Armee an die militärische Vergangenheit seiner Vorfahren mütterlicherseits und väterlicherseits anknüpfte, verbrachte er sein Leben nicht mit Faulenzen und diente treu dem herrschenden Haus, obgleich in seiner unmittelbaren Umgebung seine militärische Karriere eher als Mittel zur Erlangung eines Platzes am Hof angesehen LA, LRRA, D/166, fol. 68, Wenzel E. an seine Mutter Polyxena (7.3.1634). Die Nachricht, dass Wallenstein buchstäblich in Stücke zerhackt wurde »tagliato a pezzi«, erhielt Lobkowicz von Rodolfo Colloredo. Ein Auszug ist veröffentlicht in  : Mirosl av Toegel (Hg.), Documenta Bohemica Bellum Tricennale Illustrantia, Tomus V. Der schwedische Krieg und Wallensteins Ende. Quellen zur Geschichte der Kriegsereignisse der Jahre 1630–1635, Praha 1977, vol. V., Nr. 776, 258. 30 LA, LRRA, D/166, fol. 71–73, Wenzel E. an seine Mutter Polyxena (11.4.1634)  ; Toegel (Hg.), Documenta, Nr. 777, 259 und Nr. 811, 267. 31 LA, LRRA, D/166, fol. 70, Wenzel E. an seine Mutter Polyxena (20.3.1634)  ; Ebd., fol.  71–73, Wenzel E. an seine Mutter Polyxena (11.4.1634). 32 Zu  Marradas  : Josef Forbelsk ý, Španělé, Říše a Čechy v 16. a 17. století. Osudy generála Baltasara Marradase, Praha 2006. Zu Colloredo Pierluigi Romeo Di Colloredo Mels, Rodolfo di Colloredo  : un feldmaresciallo italiano nella Guerra dei trent’anni, Zanica 2016  ; Gino Benzoni, Colloredo, Rodolfo, Dizionario Biografico degli Italiani, Vol. 27, 1982, https://www.treccani.it/enciclopedia/rodolfo-colloredo_(Dizionario-Biografico)/ [17.10. 2021]. 33 »Hijo mío desisme que os an dado otro oficio de gera, yo como no soy soldado no sé si es para vesa reputación o no. No lo entiendo sino pediré a Dios te de dicha y ventura y te guíe y protege y libre de todo mal.« LA, Nelahozeves, LRRA D/165, fol. 45, pag. 917–918, Polyxena von Pernstein an ihren Sohn Wenzel E. (s. l., s. d.). Am 17. Juni 1636 wurde Wenzel E. zum Obristfeldwachtmeister ernannt. ÖStA KA, Wiener Hofkriegsrat, Bestallungen- und Vormerkprotokolle, Bd. 1, Fasz. 1632–1638, fol. 282. Diese Information verdanke ich Herrn Dr. Vítězslav Prchal.

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wurde. Ähnlich erfolgreich ging Wenzels Großvater Ladislaus Popel von Lobkowicz vor, der seine Karriere in den Armeen von Karl V. und Ferdinands I. begann, was auch Polyxenas Bruder Johannes versuchte. Auch in seinem Fall war die militärische Karriere nicht seine erste Wahl, und Pernstein entschied sich erst dafür, nachdem seine Versuche, einen Platz in den Landesämtern zu bekommen, gescheitert waren.34 Aus dem Briefwechsel zwischen Wenzel Eusebius von Lobkowicz und seiner Mutter in den zwanziger und dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts ist deutlich, dass beide seine Kriegsanstrengungen als eine kurzfristige und vorübergehende Angelegenheit betrachteten. Durch seine Aktivitäten in der Armee wollte Wenzel Eusebius den Kaiser von seinem Willen und seiner Entschlossenheit, der habsburgischen Familie zu dienen, überzeugen und so eines der Landes- oder Hofämter gewinnen. Allerdings musste er lange warten, bis er eine Stelle am Hof bekam. Während Jaroslav Borzita von Martinitz, der einen Großteil seines Lebens im Schatten von Polyxenas Ehemann Zdenco Adalbert Popel von Lobkowicz verbrachte, seinem Sohn Georg Adam bereits 1627, womöglich mit Hilfe der Familie Lobkowicz, einen Platz im Amt des Vizepräsidenten des Appellationsgerichts sicherte,35 erhielt Wenzel Eusebius von Lobkowicz sein erstes Amt erst zehn Jahre später, als er zum Mitglied des Hofkriegsrats ernannt wurde.36 Doch auch in den folgenden Jahren blieb er nicht vom unbequemen Leben der Feldzüge verschont. Dieser Lebensabschnitt von Lobkowicz wurde erst mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges definitiv abgeschlossen. In der Zwischenzeit wurde Lobkowicz vom Kaiser zunehmend auch mit diplomatischen Aufgaben beauftragt. Dank seiner zahlreichen politischen Verhandlungserfolge stieg er in der Hierarchie der militärischen Ränge und schließlich bei den Wiener Hofämtern steil auf.

34 Zu dem Versuch von Johann von Pernstein, einen Platz in den Landesämtern zu erlangen  : Pav el M a rek, Pernštejnské ženy. Marie Manrique de Lara a její dcery ve službách habsburské dynastie, Praha 2018, 175–176. Zu Ladislaus Popel M a rie Rya ntová, Ladislav Popel z Lobkovic jako president apelačního soudu, in  : Petr Vorel (Hg.), Stavovský odboj roku 1547 – první krize habsburské monarchie, Pardubice– Praha 1999, 185–204. 35 Milosl av Volf, Jaroslav Bořita z Martinic po defenestraci, in  : Středočeský sborník historický 7, 1972, 76–90. Jaroslav Borzita ermutigte bereits 1625 Zdenco Adalbert Popel von Lobkowicz, sich für die Ernennung von Georg Adam zum Präsidenten des Appellationsgerichts einzusetzen. LA, LRRA, B/214 (1.10.1625). 36 Von den Umständen spricht Loth a r Höbelt, Ferdinand III. (1608–1657). Mírový císař proti vůli, České Budějovice 2015, 92  ; Osk a r R egele, Der österreichische Hofkriegsrat 1556–1848 (= Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Erg.-Bd. 1, Heft 1), Wien 1949, 18–19  ; Thom as Fellner – Heinrich K retschm ay r, Die österreichische Zentralverwaltung I. Von Maximilian I. bis zur Vereinigung der österreichischen und böhmischen Hofkanzlei (1749). 2. Aktenstücke 1491–1681 (= Nr. 26. Aktenstücke zur Geschichte des Hofkriegsrates. 1604–1615), Wien 1907, 391–414.

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Zusammenfassung Obwohl Wenzel Eusebius viele Jahre auf den Schlachtfeldern in Schlesien und im Römisch-Germanischen Reich verbrachte, erlangte er weder den Ruhm eines Kriegers, noch empfand er selbst den Militärdienst als erfüllend. Die Briefe, die er von seinen Feldzügen an seine Mutter schickte, zeigen deutlich, dass er seinen Militärdienst als notwendiges Übel betrachtete. In seinen Briefen war keine einzige Spur von Begeisterung für den militärischen Dienst, sondern eher negative Emotionen wie Angst, Schmerz und Ekel. Wenzel Eusebius fühlte sich sicherer in der Gesellschaft des kaiserlichen Hofs, wohin er regelmäßig zurückkehrte, wenn seine Soldaten im Winterquartier waren. Obgleich in der Familie Lobkowicz und der Familie Pernstein eine lange Tradition des Militärdienstes bestand, war Wenzel Eusebius wie sein Vater eindeutig auf den Hof fokussiert. Auch sein Beispiel zeigt, dass eine Hofkarriere im Umfeld der böhmischen Adelsfamilien des 17. Jahrhunderts im Gegensatz zur militärischen Karriere als wünschenswerter und vielleicht auch pre­stigeträchtiger angesehen wurde. Obwohl der Dienst in der Armee noch zu den charakteristischen Elementen des Adels in der Frühen Neuzeit gehörte, neigte der Adel selbst bereits zu ganz anderen Formen der Beschäftigung. Der Fürst von Lobkowicz war in dieser Hinsicht keine Ausnahme.

Milan Hlavačka, Prag*

Selbstverwaltung des Königreichs Böhmen in den Jahren 1861–1918 1. Definition der Landesselbstverwaltung Das Königreich Böhmen war bis Ende 1918 eines der Kronländer der Habsburgermonarchie. Die Kronländer waren öffentlich-rechtliche Körperschaften, die sich an der Staatsmacht beteiligten und auf ihrem Gebiet die Selbstverwaltung ausübten. Die Landesselbstverwaltung war Teil der öffentlichen Verwaltung, die von den Landesbehörden und -körperschaften des Königreichs Böhmen ausgeübt wurde. Aufgrund der Aufteilung der Staatsmacht in der österreichischen konstitutionellen Monarchie und im Konzept des liberalen politischen Systems in Cisleithanien war das Königreich Böhmen zwar vor allem ein Selbstverwaltungssubjekt, verfügte jedoch in vielen Fällen auch über Staatsmacht, und somit beteiligte es sich auch an der Gesetzgebung. Tschechischen Rechtshistorikern zufolge herrschte die Staatsmacht auch innerhalb der Kronländer. Für die österreichische und ab 1867 für die cisleithanische Staatsmacht bildeten die Gebiete aller im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder einen einzigen Herrschaftsbereich und ein einheitliches Staatsgebiet. Die einzelnen Länder besaßen also der Verfassung nach keine eigene Landesmacht und hatten keine eigenen Staatsangehörigen. Als Landesangehörige konnte jedoch die Gesamtheit all jener angesehen werden, die durch ihr Heimatrecht an Gemeinden innerhalb des Kronlands gebunden waren. Die Voraussetzung zur Erlangung des Heimatrechts war allerdings nicht die Zugehörigkeit zum Kronland, sondern die Staatsangehörigkeit, also die österreichische Staatsbürgerschaft. Dennoch wurde die gesamte Konstruktion der Rechtsnatur von Österreich und später von Cislei­ thanien dadurch modifiziert, dass die einzelnen Kronländer eigene Landesverfassungen besaßen und somit eine eigenständige verfassungsrechtliche Existenz aufwiesen. Aus rechtshistorischer Sicht handelte es sich also um eine sog. Inkorporation, die außer den historischen Erinnerungen, einer anderen Nationalitäten- und Sprachenzusammensetzung – und das war ebenso beim Königreich Böhmen der Fall – auch ihren ehemaligen staatsrechtlichen Charakter beibehielt. Mit der früheren Inkorporation in ein anderes Staatsgefüge bewahrte sich das Königreich trotzdem eine ausgedehnte Selbstverwaltung. Die tschechischen »Staatsrechtler«, was ein Termi-

* Abkürzungen  : RGBl.: Reichsgesetzblatt.

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nus nicht etwa für Fachleute des Staatsrechts, sondern eine Bezeichnung jener politischen Kräfte (des tschechischen liberalen Bürgertums und historischen Adels) war, stellten sich die nicht nur akademische, sondern auch politische Frage, ob durch den Akt der Inkorporation in einen anderen Staat die inkorporierten Teile lediglich zu einer Provinz im neuen Staat herabgesunken waren, oder ob dieser Akt ihnen einen staatsrechtlichen Sonderstatus und gewisse Rechte einer Staatsmacht bewahrte. Die wichtigere politische Frage, verbunden mit dem unerschütterlichen Beharren auf dem Grundsatz eines unverletzten, also kontinuierlichen historischen Staatsrechts des Königreichs Böhmen seitens der damaligen »Staatsrechtler« und »Deklaranten«, war  : Stellt die Anerkennung der historischen und rechtlichen Individualität des Kronlands ein Hindernis für die Einheit des neuen Staatsgebildes dar  ? Allein schon die Annahme des Österreichisch-Ungarischen Ausgleichs beantwortete diese theoretische Frage in der Praxis absolut positiv.1 Das Verhältnis des Staats (der Habsburgermonarchie, also des Reichs) und der Kronländer wurde im grundlegenden Verfassungsgesetz von 1861 und dessen Anhängen (es waren dies die sich stark ähnelnden Landesverfassungen für alle Kronländer) sowie dann im grundlegenden Verfassungsgesetz von 1867 festgelegt, mit dem das Kaisertum Österreich in zwei Staaten aufgeteilt wurde, in das Königreich Ungarn (Transleithanien) und in die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder (Cisleithanien).2 Ungeachtet dessen waren das Königreich Böhmen und seine Körperschaften der Landesverwaltung, insbesondere der Landesausschuss des Königreichs Böhmen, in einigen Fällen auch im neuen inoffiziell Cisleithanien genannten staatsrechtlichen Gebilde in der Ausübung der öffentlichen Verwaltung völlig selbständig. Das Königreich übte so seinen Anteil an der Gesetzgebung als besondere staatsrechtliche Persönlichkeit aus, also als Landesindividualität mit einem gesetzgebenden Gremium. Cisleithanien konnte dann als Staatengemeinschaft bezeichnet werden, deren Mitglieder die Kronländer als besondere staatsrechtliche Subjekte waren. Cisleithanien war also dieser Auslegung zufolge kein einheitliches Staatsgebilde. Die Abgrenzung der einzelnen Agendenbereiche der vom Königreich Böhmen ausgeübten öffentlichen Verwaltung, also der Selbstverwaltung und der übertrage1 Fr a ntišek Vavřínek, O státoprávní povaze Království a zemí na říšské radě zastoupených, Praha 1905, 305–307. 2 Die Februarverfassung setzte sich aus drei Patenten zusammen (RGBl. 20–22/1861) und wurde am 26.2.1861 verkündet  ; die Landesverfassung war ein Anhang zum Reichsgesetz 20/1861 II und II P. 141–145/1867. Aufgrund der Gesetze 20–22/1861 RGBl. wurden in den Landesverfassungen die Befugnisse der Landesvertretungen genannt. Das Gesetz 141/1867 RGBl. über die Reichsvertretung dagegen zählte die Befugnisse des Reichsrats auf und alles andere sollte also in die Befugnis der Länder fallen. Wir sprechen somit von einer negativen Machtbestimmung. Zdeněk Václ av Tobolk a (Hg.), Česká politika, Díl druhý, Část první, Praha 1907, 734–755.

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nen Ausübung der staatlichen Verwaltung, umfasste folgende Bereiche  : öffentliche Bauten beziehungsweise Errichtung der lokalen Infrastruktur (der sog. unteren Ordnung), Landwirtschaft, Gewerbliches bzw. Unterstützung der Gewerbetreibenden, aber andererseits richteten sich die Aktivitäten des Landes auch auf die Bereiche Kreditwirtschaft (denn das Land verfügte seit Mitte der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts über die Hypothekenbank für das Königreich Böhmen (Hypotéční banka pro království České) und seit 1889/1890 über die (Investitionsbank) Landesbank für das Königreich Böhmen (Zemská banka pro království České), ferner auch die Agenden Gesundheitswesen, Sicherheit, Armenversorgung, Volksschulwesen, Kultur und Bildung. Ein in vieler Hinsicht selbständiges Kapitel der Selbstverwaltung waren die sensiblen Beziehungen zwischen der Landesverwaltung und den unteren Gebietsbehörden und -körperschaften (Gemeinde- und Bezirksvertretungen) sowie der sachlichen Selbstverwaltung (Landesschulrat und Landeslandwirtschaftsrat), denn diese Selbstverwaltungskörperschaften (auf unterem Niveau) waren zumeist vom Anfang des Bestehens der liberalen Selbstverwaltung an national gespalten. An sie knüpften sich dann die ebenfalls stark verfolgte Problematik der öffentlichen Landesfinanzen beziehungsweise die Verteilung der Landeskredite und Landessubventionen nach dem Gebiets- und Nationalitätenprinzip insbesondere in den Ressorts Schulwesen (über den Landesschulrat, der 1891 in einen tschechischen und einen deutschen Rat gespalten wurde), der Kultur (wenn die Tschechen sich in Prag ein »Nationaltheater« mit Hilfe einer beträchtlichen Landessubvention errichten konnten, so hatten die »Deutschen« den gleichen Anspruch auf den Bau des Neuen deutschen Theaters in derselben Stadt) und der Landwirtschaft (über den sog. Kulturrat, also den Landeslandwirtschaftsrat, der ebenfalls 1891 in einen tschechischen und einen deutschen Rat gespalten wurde).3 Stark erkennbar war andererseits jedoch auch die enge Abhängigkeit der Landes­ selbstverwaltung von der staatlichen Verwaltung, zum Beispiel in Fällen umfangreicher Naturkatastrophen (wie im Mai und Juni 1872). Diese Praxis hatte in vieler Hinsicht ihre Wurzeln im monarchistischen Machtkonzept, bei dem die gesetzgebenden Körperschaften der Länder und des Reichs nur eine der Quellen der Staatsmacht waren, während die andere Quelle immer noch der Herrscher und seine sog. Reservatrechte bei Außenpolitik, Heer, Polizei, Post, Telegraphen- und Telefonnetz darstellten. Der Herrscher war in der Habsburgermonarchie der Ursprung aller Staatsmacht und war ihr hauptsächlicher (selbstverständlich gemeinsam mit der katholischen Kirche und dem Heer) und mitunter auch ihr einziger Schlussstein. Das Erlassen oder Bestätigen von Verfassungsgesetzen waren die Hauptakte seiner Macht, und dies als nur Gott verantwortlicher Souverän. Der Herrscher hatte näm3 Jiří Šouša, K vývoji českého zemědělství na rozhraní 19. století. (Česká zemědělská rada 1891–1914), in  : Acta Universitatis Carolinae Philosophica et Historica, Bd. 97, Prague 1986.

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lich die Verfassung lediglich aus freien Stücken eingeführt, wenn auch die letzte, die sogenannte Dezemberverfassung von 1867, vom Abgeordnetenhaus des Reichsrats ausgearbeitet wurde. Auch nach Erneuerung eines verfassungsmäßigen Lebens blieb der Herrscher in der Habsburgermonarchie auch weiterhin unabsetzbarer und niemandem verantwortlicher Souverän. In der gelebten Verwaltungspraxis kam es jedoch ständig zu Kompetenzverknüpfungen (beziehungsweise auch zu Kompetenzstreitigkeiten) der Landes-, Bezirksund Gemeindevertretungen (die in diesen strittigen Fällen ab Mitte der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts vor dem Wiener Verwaltungsgericht vom Landesausschuss vertreten wurden), mit der Staatsverwaltung, in Gestalt der Bezirkshauptmänner, über denen im Land der vom Kaiser ernannte Statthalter stand. Die Bedeutung der Landeslegislative war zu Beginn des verfassungsmäßigen Lebens gering. Infolge des Anwachsens der neuen »Zivilisationsagende« vor allem in den Städten stieg jedoch die Bedeutung der Kronländer und ihrer Selbstverwaltungen ständig an.4 Zu dieser neuen Agenda musste das Land sich eigene Gesetze schaffen, deren Ausarbeitung (nicht jedoch ihre Qualität) häufig auch der Reichsgesetzgebung vorauseilte. So geschah es, dass Länder, die die Macht erhielten, ihr eigenes gesetzliches Milieu durch eigene gesetzgebende Körperschaften und nach eigenen Vorstellungen und Grundsätzen zu bestimmen, somit begannen, de facto eines der Hauptmerkmale eines Staats aufzuweisen, und daher begannen, staatlichen Charakter aufzuweisen. Dennoch ist sofort zu ergänzen, dass über den gesetzgebenden Körperschaften der Länder eine gemeinsame zentrale Repräsentation mit dem Recht stand, das gesetzgebende Milieu des Reichs zu bestimmen, und dass alle Landesgesetze die kaiserliche Sanktion benötigten, die niemals automatisch kam, sondern zumeist erst nach sorgsamer Untersuchung. Dabei erhielten einige Landesgesetze (zum Beispiel das sog. Sprachenzwangsgesetz, 1864 vom böhmischen Landtag auf Antrag der Abgeordneten Josef Wenzig und Koll. verabschiedet) nie die kaiserliche Sanktion und so wurde auch nie die Pflicht eingeführt, an den Mittel- und Fachschulen im König4 Wie Jaromír Patočka schreibt  : »Noch mehr stieg die Rolle des Königreichs Böhmen in der Zeit, als die Mehrheit im Landtag von einer Koalition des Großgrundbesitzes und der böhmischen bürgerlichen Politik gebildet wurde. Der tschechischen Gesellschaft und ihrer Politik wurde damit die Führung eines verhältnismäßig großen Subjekts in die Hände gelegt, dessen Bedeutung weiter anwuchs. Die Entfaltung der Agenda und des Einflusses des Königreichs Böhmen war einerseits die Folge des direkten Interesses der tschechischen Politiker, denen im Unterschied zu den Vertretern der deutschen Gesellschaft eine alternative Betätigungsmöglichkeit fehlte, aber auch des allgemeinen politischen Klimas, das nach dem wirtschaftlichen Bankrott der rein liberalen Politik in den siebziger Jahren günstig war für die Interventionspolitik der öffentlich-rechtlichen Einrichtungen.« Ja romír Patočk a, Zemská správa v Čechách ve vztahu k veřejnosti v letech 1900–1908, disertační práce obhájená na Ústavu hospodářských a sociálních dějin Filozofické fakulty Univerzity Karlovy 2015, 58. Zugänglich unter https://is.cuni.cz/webapps/zzp/detail/103877 [1.1.2022].

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reich Böhmen die zweite Landessprache zu lernen.5 Auch dieser Fall zeugte davon, dass der Kaiser und seine »Juristen« sehr darauf achteten, dass selbst die »geistige und verwaltungsmäßige« Einheit des Reichs auf keinerlei Weise verletzt wird. Jedenfalls zeugte auch eine Nichterteilung der kaiserlichen Sanktion davon, dass in Cisleithanien ein doppeltes gesetzgebendes Milieu bestand, also eine Reichslegislative und die Landeslegislative, die die Position der Kronländer infolge des Anstiegs ihrer Landesagenda, unterstützt durch die eigenen Gesetzesnormen, ständig stärkte. Aus diesen Feststellungen ergibt sich auch, dass die Kronländer an der Ausübung der öffentlichen Verwaltung auf mehrere Weise teilnahmen. In einigen Bereichen der öffentlichen Verwaltung war die Stellung der Kronländer exklusiv, sie waren also die einzigen Träger der Staatsmacht und diese Agenda wurde einzig von der Landesgesetzgebung geregelt. Hierzu gehörten die Gemeindeangelegenheiten (zum Beispiel die ständigen Revisionen der Gemeindeordnung) und in Böhmen auch die Angelegenheiten der Bezirksselbstverwaltungen und deren nach der Festlegung von Sprachgrenzen unentwegten Bestrebungen, ferner der Sanitätsdienst (Gesundheitswesen) einschließlich der Finanzierung des Personals in den öffentlichen Krankenhäusern sowie die Verwaltung der Landessozialanstalten (Irrenanstalten, Findelhäuser, Siechenhäuser), außerdem Gesindeordnungen, Armen- und Abschiebungsagenda sowie Förderung des Handwerksnachwuchses, Einrichtung öffentlicher Naturalverpflegsstationen, sodann Genehmigung von Zuschlägen zu staatlichen Steuern, mit denen die Finanzierung der Gemeinde- und Bezirkshaushalte erleichtert wurde. Hierzu zählten auch die Verwaltung des Fachschulwesens (vor allem der Landwirtschaftsschulen, das Land war Träger von zwei Instituten in Libverda und Tábor), die Finanzagenda der Grundschullehrerschaft und das Subventionieren der Land- und Forst­wirtschaftsprojekte (insbesondere handelte es sich um Meliorationen oder um den Hochwasserschutz von Gebirgsbächen). In weiteren Bereichen waren die Kronländer gemeinsam mit dem Staat tätig, re­ spek­tive arbeitete die Landesgesetzgebung mit der des Reichs zusammen, beziehungs­ weise schuf sie ihre Rechtsnormen erst im Anschluss an die Reichsgesetzgebung. In der Praxis bedeutete dies, dass Reichs-Rahmengesetze – zum Beispiel die Gesetze über das Heimatrecht (1863), über die Armenversorgung (1864), das Sanitätswesen (1870) – anschließend in die entsprechenden Landesrechtsnormen umgearbeitet 5 Der Abgeordnete Josef Wenzig wurde 1807 in einer Prager deutschen Familie geboren. Tätig war er als Erzieher in der Familie des Grafen Karel Chotek und danach als Direktor der Ersten tschechischen Realschule in Prag sowie als Schulinspektor. Im Jahr 1848 wurde er Mitglied des Nationalausschusses und nach 1861 Abgeordneter des böhmischen Landtags. Für seinen Antrag und die Verabschiedung dieses Gesetzes über die Pflicht, beide Landessprachen an den Mittelschulen in Böhmen zu unterrichten (gemeinsam mit den Abgeordneten Brauner, Tonner und Zeithammer) im böhmischen Landtag entließ man ihn im Dezember 1864 frühzeitig in Pension und der Kaiser strich ihm eigenhändig auch die finanzielle Zugabe zum verdienten Lohn.

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wurden, die die örtlichen Traditionen, die institutionellen Gepflogenheiten und vor allem die finanziellen Möglichkeiten dieser Länder respektierten. In den Kronländern, die kleiner waren als das Königreich Böhmen, wurden solche Landesgesetze oft überhaupt nicht ausgearbeitet und auch nicht vom Landtag verabschiedet und alles wurde auch weiterhin nur dem entsprechenden Reichsgesetz untergeordnet. So wurde etwa im Land Salzburg nie ein Landesgesetz über den Sanitätsdienst beschlossen und der mährische oder schlesische Landtag beschloss nie ein Gesetz über die Einrichtung von Bezirksvertretungen. Der dritte Tätigkeitsbereich umfasste die eigene Verwaltungsagenda. Diese entstand einerseits dadurch, dass die Landesselbstverwaltung die niedere Selbstverwaltung beaufsichtigte und sie im Konflikt mit den staatlichen Behörden vertrat, und auch dank dessen, dass sie für die Einführung der Reichsrechtsnormen in das Leben des Landes garantierte. Hierhin gehörten auch Haushaltssachen und einige Steuerangelegenheiten. Die Landesselbstverwaltung des Königreichs Böhmen war auch gesetzgeberisch aktiv – im Bereich ihrer Trägerschaft zu den Landesbanken oder im Bereich der Förderung der Kleinindustrie und des Gewerbes sowie bei Bau und Unterhaltung der lokalen Verkehrsinfrastruktur.6 Alles war jedoch in der Exekutiv- und Verwaltungspraxis weitaus komplizierter, als in diesem Überblick dargestellt, denn die Durchführung sowohl der Reichsgesetze als auch der Landesgesetze erfolgte vor allem vermittels der Reichsinstanzen. Die cisleithanischen Minister führten nämlich auch die Landesgesetze mit ihren Dienstabläufen vermittels ihrer untergeordneten Behörden durch. Die zentralen Reichsbehörden erließen somit Verordnungen zu Landesgesetzen, ohne eine vermittelnde Mitwirkung der Landesexekutivbehörden verlangen zu müssen. Die Umsetzung der Landesgesetze in die Praxis zählte somit zu den eigenen und völlig unmittelbaren Funktionen des cisleithanischen Staats. Bei der Ausübung dieser Tätigkeit handelten die Reichsbehörden stets im Namen des Reichs. Die örtliche Durchführung der Landesgesetze war in die Hände der Reichsbehörden gelegt und diese handelten vermittels ihrer untergeordneten Verwaltungsbehörden. Zum Beispiel handelten die Gerichte, die in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Vorschriften der Landesgesetze über die Einrichtung neuer Grundbücher anwendeten, oder die landesherrlichen (staatlichen) Behörden der unteren Instanzen, die das Landeswassergesetz in die Praxis einführten, nicht im Namen des Landes, sondern im Namen des Reichs. Auch das eigene finanzielle Wirtschaften des Landes wurde teilweise vermittels der Staatsverwaltung besorgt. Im Bereich der Landesfinanzverwaltung wurden einige Landesabgaben, die sog. Zuschläge, zunächst durch die Reichsbehörden erhoben und erst dann an das Land umdisponiert. Aus diesen Beispielen ergibt sich eine einzige Schlussfolgerung  : die

6 Patočk a, Zemská správa v Čechách, 15.

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Exekutive blieb weiterhin zentralisiert und »in der Einheit der Exekutive behielt sich das Reich selbst die ausschließliche zwingende Macht vor«.7 Diesen Schluss bestätigt auch eine andere Kompetenzmodalität. Das Reichsgesetz vom 19. Mai 1868 über die Organisation der politischen Behörden regelte weder die Beziehungen dieser Behörden zur Landesselbstverwaltung noch zu anderen Selbstverwaltungen. Dieses Gesetz regelte lediglich (wiederum handelte es sich um eine Negativdefinition) die Aufteilung der Kompetenzen unter den Behörden und Organen der Reichsverwaltung. Aus einer solchen Kompetenzaufteilung unter den Reichsbehörden konnten den Ländern keinerlei Rechte entstehen. Das Reich wandte sich absichtlich nicht an staatsrechtliche Landespersönlichkeiten, sondern nur an seine eigenen Organe. Das Gesetz regelte also nicht die staatsrechtlichen Beziehungen der einzelnen Länder zum Reich, sondern bestimmte nur die Kompetenzen innerhalb des Reichsverwaltungsorganismus.8 Diese Rechtspraxis war für »Österreich« typisch. Die Stände zum Beispiel erfuhren in der neuen Verfassung im März 1849 nicht, dass sie aufgehoben sind, sondern fanden einfach dieses Institut nicht mehr in der neuen Verfassung. Dieselbe Praxis wandte man im Reichsarmengesetz an, wo auch keine Rede von der Aufhebung der alten (josefinischen) Armeninstitute war, sondern kein Paragraph – nachdem ihnen die Finanzfonds entzogen wurden – mehr die Armenhäuser kannte.

2. Vertretungs- und Verwaltungsorgane des Königreichs Böhmen Die Landesvertretung war der Landtag des Königreichs Böhmen und sein Exekutiv­ organ der Landesausschuss des Königreichs Böhmen. Hinsichtlich der Gewaltenteilung im Staat und des Charakters des politischen Systems hatte der Landtag zwei Hauptfunktionen. Einerseits war er Verwaltungsorgan, d. h. die Landesverwaltung stand an der Spitze des Selbstverwaltungssystems, andererseits war er gesetzgebende Körperschaft des Landes als eines Subjekts mit Anteil an der Staatsmacht. Der Landtag war nicht die einzige Quelle der entsprechenden Staatsmacht oder auch Verwaltungsmacht – der Herrscher berief ihn ein und löste ihn auf, der Landtag war somit von ihm abhängig. Der Landtag beschloss die Entwürfe zu den Landesgesetzen, die anschließend dem Herrscher zur Sanktion vorgelegt wurden. Angelegenheiten mit Verwaltungscharakter wurden aufgrund eines Landtagsbeschlusses entschieden (so wurde auch der Landeshaushalt verabschiedet) und auch in ihrem Fall war mitunter die kaiserliche Sanktion erforderlich.

7 Vavřínek, O státoprávní povaze Království, 314. 8 Patočk a, Zemská správa v Čechách, 317.

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Der Landesausschuss war das Exekutiv- und Verwaltungsorgan des Landtags. Im Rahmen dieser Abgrenzung war er zugleich Verwaltungsorgan mit eigenen Kompetenzen, was bedeutete, dass er einerseits den Landtag in Verwaltungsangelegenheiten vertrat und andererseits ein Organ mit ausgesprochen eigener Kompetenz im Rahmen des Selbstverwaltungssystems war. Da die Exekutivgewalt des Landesausschusses nicht ausreichend leistungsfähig und personell abgesichert war, musste sich die Landesverwaltung in vielen Fällen auf die Zusammenarbeit mit der Staatsverwaltung verlassen (Arbeiten zur Schiffbarmachung, Behebung der Schäden nach Naturkatastrophen). Die Kompetenzen und Geschäftsordnungen der Landesorgane wurden aufgrund der Landesordnung festgelegt und waren ähnlich konzipiert wie in den sonstigen Kronländern. Im Lauf der Zeit unterschieden sich die Kronländer aufgrund ihrer dynamischen Eigenentwicklung sowie durch die Lösung der eigenen Bedürfnisse immer stärker voneinander. Sehr häufig arbeiteten sie auch zusammen, so wie dies beim Entstehen der lokalen Eisenbahnlinien im Königreich Böhmen geschah. Vor der Ausarbeitung des entsprechenden Landesgesetzes von 1892 fuhr eine Delegation des Landesausschusses unter Führung von Adalbert Graf von Schönborn in die Steiermark, um hier vor Ort einen organisatorischen, finanziellen und rechtlichen Einblick in diese Nutzungsform der fördernden Landesinvestitionen zu gewinnen, denn die Steiermark war das erste Kronland, das mit solchen Fördermaßnahmen für das Unternehmertum bei der Verbesserung der Landesinfrastruktur Erfahrungen gesammelt hatte. Der Landtag war entsprechend der in der Landesverfassung von 1861 enthaltenen Wahlordnung zusammengesetzt. Grundlage dieser liberalen Wahlordnung war die Vorstellung, dass sich an den Entscheidungen der öffentlichen Angelegenheiten nur Einzelpersonen beziehungsweise ganze soziale Gruppen (Gutsbesitzer, Verwalter öffentlicher Fonds, Intelligenz) und legale Organisationen (Handels- und Gewerbekammern) beteiligen dürfen, die direkte Steuern in einer bestimmten Mindesthöhe entrichtet hatten. Die Wahlen verliefen getrennt im Rahmen von zunächst drei und danach vier Wahlkurien, die die einzelnen (staatstragenden) gesellschaftlichen Klassen repräsentierten. Es handelte sich um die Landtafelgüter, die Handels- und Industriebourgeoisie mit dem Kleinbürgertum, die Stadtbevölkerung und schließlich die Landbevölkerung. In den einzelnen Wahlkurien durften nur jene Wähler an der Wahl teilnehmen, die den Steuerzensus erfüllt hatten (zunächst 10 Gulden direkte Steuern und ab 1882/1883 nur noch 5 Gulden direkte Steuern). Die Badeni’sche fünfte Wahlkurie, 1896 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des Reichsrats eingeführt, wurde zwar im folgenden Jahr ohne Steuerzensus konstruiert, war jedoch durch Wähler »verwässert«, die bereits in anderen Kurien gewählt hatten). Jede Kurie delegierte eine genau bestimmte Anzahl Landesabgeordneter. Im Landtag saßen auch die sog. Virilisten, dies waren nicht gewählte Vertreter der traditionellen bedeutenden Institutionen, dazu gehörten die Prager Universität (vertreten durch

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ihren Rektor), das Prager Erzbistum und drei böhmische Bistümer in Litoměřice/ Leitmeritz, Hradec Králové/Königgrätz und České Budějovice/Budweis. Die erste Wahlkurie war die der Landtafelgüter, in der nur Eigentümer von Besitzungen wählten, die in der Landtafel des Königreichs Böhmen eingetragen waren und die hohe direkte Steuern zahlten. Diese Kurie war in zwei Wahlkörper gegliedert, wobei in der ersten die Vertreter des Fideikommissvermögens, d. h. der unveräußerlichen Stammgüter, wählten, und in der zweiten waren die Eigentümer der sonstigen Landtafelgüter, also der Erbgüter, vertreten. Die erste Wahlkurie, also die der Großgrundbesitzer, wählte insgesamt 70 Abgeordnete. Für diese Wahlkurie bildete das gesamte Königreich Böhmen nur einen Wahlkreis, was sich gleich bei den ersten Wahlen im Frühjahr 1861 als Schlüsselfaktor für die Bestimmung des Wahlsiegers und für die politisch-staatsrechtliche Ausrichtung des ganzen Landtags erwies. Die Besitzer der großen Landgüter, unter denen die Aristokratie die entscheidende Rolle spielte, spalteten sich sehr früh in zwei politische Lager, nämlich den konservativen und den verfassungstreuen Großgrundbesitz. Der konservative Großgrundbesitz war föderalistisch gestimmt und seine Koalitionspartner waren (durchaus nicht bedingungslos) bis Anfang der neunziger Jahre die tschechischen Liberalen. Der einigende Gedanke dieser recht unerwarteten politischen Koalitionsgruppierung (der tschechische Liberale hatte nie den deutsch-österreichischen Liberalen unterstützt, denn dieser erkannte niemals das tschechische Staatsrecht an) war die Idee des tschechischen Staatsrechts, respektive das Bestreben nach Erneuerung (Restitution) eines autonomen Königreichs Böhmen im Rahmen der Habsburgermonarchie. Der verfassungstreue Großgrundbesitz war, wie bereits sein Name andeutet, eine zentralistisch orientierte Gruppierung, die die Erhaltung eines starken liberalen und vor allem zentralisierten Österreichs anstrebte. Aus seinen Reihen wurden in den sechziger und siebziger Jahren die Landmarschälle und cisleithanischen Ministerpräsidenten (Karl Wilhelm, genannt Carlos und Adolf Wilhelm von Auersperg) nominiert. Zu den weiteren aristokratischen Häusern, die diese politische Gruppierung unterstützten, gehörten zum Beispiel die Thun-Hohensteiner von Klášterec/Klö­ sterle, die Fürstenberger oder das Haus Hartig. Ihr natürlicher Verbündeter waren die deutsch-österreichischen Liberalen und die Basis ihres politischen Programms war die grundsätzliche Nichtbeachtung beziehungsweise Nichtanerkennung des alten tschechischen Staatsrechts.9 In der politischen Praxis klang dieser Kampf inner9 Das tschechische Staatsrecht war ein politisches Programm. Es ging vom Konzept der ununterbrochenen rechtlichen Existenz des tschechischen Staates im Rahmen der Habsburgermonarchie aus. In den 1860er Jahren reifte auch sein klassischer verbaler Ausdruck in der Erklärung der tschechischen Landtagsabgeordneten vom 13.4.1867 sowie in der staatsrechtlichen Deklaration vom 22.8.1868 her­an. Im Kampf gegen die sog. cisleithanische Dezemberverfassung und den Dualismus des tschechischen Staatsrechts wurde er Bestandteil des gesamtnationalen Kampfes für die Autonomie Böhmens und die Tschechen forderten nach ungarischem Vorbild »ein klares Übereinkommen zwischen unserem

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halb der Großgrundbesitzkurie der achziger Jahre des 19. Jahrhunderts zugunsten der verfassungstreuen Kräfte aus, danach hatten bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs wieder die tschechischen Föderalisten oder Autonomisten die Oberhand, mit bedingter Unterstützung des konservativen Großgrundbesitzes, zu dem die tschechischen Uradelsgeschlechter Schwarzenberg, Lobkowicz, Kinsky oder der Tetschener Zweig der Thun-Hohensteiner gehörten. Die zweite Wahlkurie stellten die Handels- und Gewerbekammern mit 15 Abgeordneten. In dieser Wahlkurie wurden von den Kammern in Prag und Liberec/ Reichenberg vier Abgeordnete delegiert, von der Kammer in Cheb/Eger drei Abgeordnete, von den Kammern in Plzeň/Pilsen und České Budějovice/Budweis zwei Abgeordnete. Die dritte Wahlkurie bestand aus den Stadtgemeinden mit 72 Abgeordneten und die vierte Wahlkurie der Landgemeinden wählte 79 Abgeordnete. Im Rahmen der Wahlkurie der Stadtgemeinden wurden in den Prager Wahlkreisen zehn Abgeordnete gewählt und drei für Liberec. Weitere neun Städte wählten je einen Abgeordneten und die restlichen wurden in 59 Wahlkreisen gewählt. In der durchlauchtigen König und der politisch-historischen tschechischen Nation«. Andernfalls sollte eine ganze Palette an parlamentarischen und außerparlamentarischen Aktionen unternommen werden. Zum Beispiel erfolgten dann die Wallfahrt nach Russland im Jahr 1867, die Protestbewegung Táborové hnutí/Meetings, die Wallfahrt nach Konstanz zu Jan Hus oder der Weggang aus Prag beim Besuch von Kaiser Franz Josef I. Gegen diese Bewegung und Auslegung des tschechischen Staatsrechts stand die unversöhnliche Überzeugung der deutsch-österreichischen Liberalen aus Böhmen und auch aus ganz Cisleithanien, dass das tschechische Staatsrecht ein »Attentat auf Österreich« sei (Ernst von Plener, Vorsitzender der Vereinigten Deutschen Linken), und deshalb wurde es ganz entschieden mit dem Verweis abgelehnt, dass »die Zeit bereits längst mit eisernem Schritt darüber hinweggeschritten ist und es unbarmherzig zerschmettert hat«  ; Gustav Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich, Bd. 2, Wien 1903, 85). Die Deutschen in Böhmen und überhaupt die österreichischen Liberalen bekämpften das tschechische Staatsrecht als politisches Programm und als akademisches Problem konsequent bis zum Untergang der Monarchie. Auf die ins Deutsche übersetzten tschechischen Arbeiten (J. Kalousek, H. Toman, K. Kramář) antworteten prompt vor allem die Professoren der Prager deutschen Fakultät der Karl-Ferdinand-Universität (F. Tezner, J. Ulbrich). Ihre Argumentation war prägnant und unversöhnlich so wie die tschechische Begründung und schloss im Voraus jegliche Kompromisse aus. Sie beruhte auf vier Thesen  : 1) Das tschechische Staatsrecht missachtet, auch wenn dies paradox ist, die historische Entwicklung, die vor allem seit den Zeiten Maria Theresias für den Westteil der Habsburgermonarchie einheitliche Institutionen und ein einheitliches Recht schuf  ; 2) Unter der Last dieses Drucks befindet sich das Land Böhmen nicht in einer anderen staatsrechtlichen Stellung als die sonstigen Territorien der Monarchie  ; 3) Durch die Beseitigung des Ständewesens, die vor allem in der Reichsverfassung vom 4.3.1849 bestätigt wurde, verschwand das Rechtssubjekt, das in der alten Landesverfassung Träger von Sonderrechten war  ; 4) Die geltende Verfassung von 1867 ist ein völlig neues Gebilde, der böhmische Landtag ist also auf keinen Fall Rechtsnachfolger des alten StändeLandtags. Seine Kompetenzen ergeben sich lediglich aus jenen Verfassungsgesetzen, die ihn auch ins Leben gerufen haben. Helmu t Sl a pnick a, Die Stellungnahme des Deutschtums der Sudetenländer zum »Historischen Staatsrecht«, in  : Das böhmische Staatsrecht in den deutsch-tschechischen Auseinandersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts, Marburg 1960, 22.

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Wahlkurie der Landgemeinden hielt man indirekte Wahlen ab, was bedeutete, dass die Wähler zunächst Wahlmänner erkoren und erst die Wahlmänner wählten dann in einer zweiten Wahlrunde die Abgeordneten, die gleichzeitig Wahlmänner sein durften. Von 1861 bis 1873 fungierten die Landtage als Delegatur für das Wiener Abgeordnetenhaus des Reichsrats, was bedeutete, dass keine Wahlen zum Abgeordnetenhaus des Reichsrats abgehalten werden mussten. Die Wahlordnungen waren daher als eine gewisse Art durchdachte (Schmerling’sche) Geometrie beziehungsweise »Alchemie« konzipiert, denn es konnten (für den Bedarf des zukünftigen Siegers) verschieden große und verschieden bevölkerungsreiche Wahlkreise und auch der erforderliche Wahlzensus so festgelegt werden, dass die staatstragenden (und somit auch die reichen und konservativen) Bevölkerungsschichten siegten. Dieses liberale Wahlsystem wurde vor allem von den (zumeist deutschen) Oppositionsparteien kritisiert, deren Wählerschaft zu den weniger reichen Bevölkerungsschichten gehörte. Scharf angegriffen wurden die Mängel im Wahlsystem insbesondere von den tschechischen Politikern bereits nach den ersten Wahlen im Jahr 1861, vor allem aber nach den skandalösen »Chabruswahlen« zum böhmischen Landtag im Frühjahr 1872, als zum Wahlsieg der verfassungstreuen Partei und damit zur Niederlage der »Deklaranten« die unverfrorenen Eingriffe in die Wähler- und Kandidatenli­ sten durch den Statthalter General Alexander von Koller erheblich beitrugen, der in diese Funktion mit der offensichtlichen Aufgabe eingesetzt worden war, die tschechische staatsrechtliche Massenbewegung zu »pazifizieren«. Insgesamt durften zu Beginn der liberalen Ära nur etwa zehn Prozent der männlichen Erwachsenen zu den Wahlurnen gehen. Dennoch wurde bis zur Auflösung des böhmischen Landtags im Sommer 1913 dieses System trotz zahlreicher Versuche einer Wahlreform im Grunde nicht prinzipiell verändert.10 Die einzige Revision der Wahlordnung blieb die erwähnte Senkung des Wahlzensus Anfang der achtziger Jahre auf fünf Gulden direkte Steuern. Infolge der Teilung der Prager Karl-Ferdinands-Universität im Jahr 1882 erhöhte sich dann die Anzahl der Viril-Abgeordneten um einen, nämlich den Rektor der tschechischen Universität. Dennoch führte auch diese Änderung des Wahlzensus am Ende dazu, dass drei der fünf Handels- und Gewerbekammern (Prag, Plzeň, České Budějovice – die Kammern in Liberec und Cheb blieben »in deutscher Hand«) von Tschechen beherrscht wurden und ab 1883 die föderalistischen Kräfte im böhmischen Landtag dauerhaft siegten. An der Spitze des böhmischen Landtags stand der Oberstlandmarschall, der vom Herrscher aus den Reihen der Abgeordneten ernannt wurde. Sein Titel d ­ eutete an, dass vom alten böhmischen Ständestaat, der de facto im März 1849 durch die Stadion’sche Verfassung aufgelöst wurde, nur sehr wenig verblieben war, beziehungs­ 10 Ot to Urba n, Der böhmische Landtag, in  : Helmut Rumpler – Peter Urbanitsch, (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 7/2, Wien 2000, 1991–2055  ; Tobolk a, Česká politika, 734–755.

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weise nur die alte Titulatur. Die Funktion des Leiters von Landtag und Landesausschuss, also des Oberstlandmarschalls des Königreichs Böhmen, besetzten mit einer Ausnahme (Fürst Georg von Lobkowicz zwischen September 1872 und April 1873) bis Mitte der achziger Jahre Aristokraten, die sich zu einem zentralisierten Österreich beziehungsweise Cisleithanien bekannten. Ab Mitte der achziger Jahre ernannte der Kaiser nur Angehörige des staatsrechtlichen Adels, respektive fast ein Vierteljahrhundert versahen diese Funktion Fürst Georg Christian von Lobkowicz aus dem Zweig Hořín-Mělník (zwischen den Jahren 1883 bis 1907) und nach ihm sein entfernter Neffe aus der Linie Dolní Beřkovice/Unter Berschkowitz, Fürst Ferdinand Lobkowicz (in den Jahren 1908 bis 1913). Der Landesausschuss agierte ab 1714, wie bereits angedeutet wurde (mit Ausnahme der achziger Jahre des 18. Jahrhunderts – Josephinische Epoche) als Exekutiv­organ des böhmischen Landtags, vor allem in jenen Zeiten, in denen der Landtag nicht tagte. Im dritten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde er zu einer sehr selbstbewussten und vor allem initiativreichen Institution der »böhmischen« Selbstverwaltung. An der Spitze des Landesausschusses des Königreichs Böhmen stand, so wie an der Spitze des böhmischen Landtags, der Oberstlandmarschall. Der Landesausschuss setzte sich aus acht Beisitzern und der gleichen Anzahl Ersatzmännern zusammen. Alle acht Ersatzmänner wurden gemeinsam mit den Beisitzern so gewählt, dass sechs Beisitzer und sechs Ersatzmänner von den Abgeordneten im Rahmen der Landtagskurien und zwei Beisitzer und zwei Ersatzmänner vom Plenum aller Abgeordneten des Landtags gewählt wurden. Der Landesausschuss entschied durch Abstimmung aufgrund einer absoluten Mehrheit. In strittigen Fragen konnte die Stimme des Oberstlandmarschalls entscheiden. Die Agenda des Landesausschusses war in acht Fachbereiche gegliedert, die die einzelnen Bereiche der öffentlichen Verwaltung erledigten. An der Spitze jedes Fachbereichs stand ein Beisitzer, der den entsprechenden Beamten- und Fachapparat zur Hand hatte. Diese Agenda ähnelte in vieler Hinsicht stark der Agenda einer normalen Regierung und bis zum Ende des Jahrhunderts waren sich über ihre Erledigung beide im Landtag vertretenen Nationalitäten einig. So kann man völlig der Ansicht von Jaromír Patočka zustimmen, der den bereits damals geahnten Sachverhalt erfasste, dass sich doch die Situation zwischen den Tschechen und Deutschen »nach der Gründung der Landesbank des Königreichs Böhmen Anfang der neunziger Jahre prinzipiell änderte. Dadurch wurde das Land und mit ihm auch die tschechische politische Führung zum Garanten eines zweiten öffentlich-rechtlichen Finanzsubjekts, dessen Bedeutung ungemein schnell wuchs. Allein bis Anfang des 20. Jahrhunderts stellte die Landesbank Kredite in Höhe von mehreren Millionen Kronen zur Verfügung. Die Einrichtung der Landesbank führte zu einer massiven Kreditbereitstellung für die unteren Selbstverwaltungen, für landwirtschaftliche Projekte und den

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Bau lokaler Eisenbahnlinien. Die Förderung des Ausbaus des lokalen Eisenbahnnetzes, das weniger leistungsstark und damit auch kostengünstiger war, stellte eines der wichtigsten Infrastrukturprojekte dar, an denen sich das Land beteiligte. Wiederum ist zu betonen, dass es sich um Vorhaben handelte, in die auf der Basis von öffentlichen Krediten investiert wurde, die zumeist von der Landesbank des Königreichs Böhmen bereitgestellt wurden, in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg im Umfang von rund einhundert Millionen Kronen.«11 Ein weiteres unveränderliches und wichtiges Investitionsziel, für das riesige vom Landesausschuss beziehungsweise vom Land garantierte Finanzmittel aufgebracht wurden, war die Flussbegradigung bzw. Kanalisation der Landes- und auch Reichsflüsse Moldau von Prag bis Mělník und der Elbe von Mělník bis zur sächsischen Grenze, wobei vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine ganzjährige Schiffbarkeit für Dampfschiffe durch den Bau kostenaufwändiger Wasserbauten (Bettverengungen, Errichtung von Schiffschleusen, Stauwehren, Deichschleusen und auch Wasserkraftwerken) erreicht wurde, und damit erzielte man die von der internationalen Elbkonvention geforderte Wassertiefe im gesamten Flussbett von zwei Metern.12 Anhand dieser Beispiele kann somit in der Tat konstatiert werden, dass es nach Beherrschung des Landtags und des Landesausschusses »in den achtziger und neunziger Jahren der tschechischen Politik gelang, im Rahmen der Landesverwaltung zahlreiche Projekte in den Bereichen Kultur und Wirtschaft zu verwirklichen und so im Grunde trotz aller Nachteile einen eigenständigen Raum zu schaffen, der eine Domäne der tschechischen Politik war. Mit dem anbrechenden 20. Jahrhundert wurde jedoch die Frage immer aktueller, ob es gelingt, diesen Raum angesichts der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung zu halten. Entscheidend war wiederum der deutschtschechische Zwist, allerdings ließ das Problem auch immer deutlicher werden, dass einige Projekte zwar einen blendenden Eindruck machen und dem böhmischen Raum sofortige ökonomische Impulse bringen, aus längerer Sicht jedoch umstritten sind und die finanziellen Möglichkeiten des Königreichs Böhmen überschreiten.«13 11 Patočk a, Zemská správa v Čechách, 58. 12 Hierzu detaillierter Emil Zimmler, Moje inženýrské paměti, hg. v. Michaela Havelková und Jan Hozák, Praha 2013, insbesondere Bd. 2, Abschnitt VI  : In der Kommission für die Schiffbarmachung der Moldau und der Elbe in Böhmen, 52–86. 13 Patočk a, Zemská správa v Čechách, 59. Zu dieser Beobachtung fügt Patočka an anderer Stelle hinzu, dass »die Landesbank ein öffentliches Geldinstitut war und eine massive Kreditierung der unteren Selbstverwaltungen, Investitionen in die Landwirtschaft und im Rahmen von Böhmen in die lokalen Eisenbahnlinien ermöglichte. All diese Maßnahmen wurden von der Koalition aus Tschechen und Großgrundbesitz eingeführt. Die deutsche Seite partizipierte an dieser »tschechischen« Politik trotz der sich steigernden Feindschaft und es hat nicht den Anschein, dass die nationalen Antipathien zu jener Zeit hinsichtlich der deutschen Wirtschaftsinteressen die laufenden Geschäfte der Landesverwaltung geschädigt hätten. Dabei war die deutsche Gesellschaft in Böhmen von der tschechischen

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3. Erfolge der (tschechischen) Landesselbstverwaltung Auch wenn die Landesselbstverwaltung im Königreich Böhmen am Vorabend des Ersten Weltkriegs finanziell kollabierte, konnte sie insbesondere in den letzten drei Jahrzehnten ihrer Tätigkeit auf zahlreiche imposante Ergebnisse verweisen, die beiden Nationalitäten dienten. Im Mai 1905 gab der Landesausschuss des Königreichs Böhmen anlässlich des siebzigsten Geburtstags des Oberstlandmarschalls des Königreichs Böhmen Fürst Georg von Lobkowicz die Gedenkschrift »Georg Fürst von Lobkowicz und die Selbstverwaltung im Königreich Böhmen« heraus, die als eine Lobpreisung der Leistungen der Landesselbstverwaltung angesehen werden kann.14 Aus ihr lassen sich zum Abschluss zumindest die wichtigsten und aufwändigsten Projekte zusammenfassen, die zum Aufschwung des Königreichs Böhmen in der Zeit beitrugen, in der der böhmische Landtag und Landesausschuss von den tschechischen politischen Eliten mit Unterstützung des historischen Adels geführt wurden. Der wirtschaftliche und intellektuelle Aufstieg des Königreichs Böhmen in den letzten Jahrzehnten vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs war imposant. Dennoch wurde der Landeshaushalt, der durch ein Übermaß an Infrastruktur-, Bildungs(Schul-) und Kulturinvestitionen belastet war, im angespannten tschechisch-deutschen politischen Milieu der Landesselbstverwaltung zum Verhängnis. Das Land war damit finanziell labil. Seine Finanzen wurden zu einer effektiven Waffe zur politischen Erpressung, die schließlich auch im Juli 1913 zum Kollaps der Landesselbstverwaltung und zu deren Ersetzung durch eine Landeskommission führte, die über Subventionen aus dem Reichshaushalt verfügte. Die politische Pattsituation in den tschechisch-deutschen Beziehungen im Königreich Böhmen sollte erst durch die Ergebnisse des Ersten Weltkriegs gelöst werden, was damals jedoch niemand ahnte.

Ausübung der Landesverwaltung in hohem Maß abhängig. Die Landeseinrichtungen genehmigten den unteren Selbstverwaltungen z. B. Kredite, Gemeindeabgaben und höhere Sätze der Gemeindeund Bezirkszuschläge (siehe weiter unten), d. h., hier gab es eine direkte Abhängigkeit vom Willen der Landesvertreter.« Ebd., 44. 14 Jiří kníže z Lobkowicz a samospráva v království Českém, Praha 1905.

Jiří Malíř, Brno/Brünn*

Staatsrechtliche Vorstellungen der deutsch- und tschechischmährischen Politiker 1848–1918 An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nahmen die Repräsentanten der beiden nationalpolitischen Gruppierungen in Mähren, das tschechischmährische und das deutschmährische Lager, ebenso eindeutige wie konträre Positionen zu einem gemeinsamen Staat und der staatlichen Organisation ein.1 Damit verbunden waren unterschiedliche Einstellungen zu den politischen Kategorien von Land und Nation. In einem Wahlaufruf der wichtigsten deutschen Partei Mährens, der Deutschmährischen Fortschrittspartei, vom 5. Oktober 1896 lesen wir  : »Wir werden nach wie vor kämpfen für die Aufrechterhaltung der Selbständigkeit unseres schönen Heimatlandes Mähren und werden dagegen auftreten, daß dieses Land zu einem Vasallen eines anderen Landes werde. Wir werden nach wie vor mit Kraft und Entschiedenheit für die nationalen Interessen der Deutschen im Lande einstehen.«2 Im Gegensatz zu diesem Verständnis von Landesautonomie heißt es in einer Resolution der tschechischen Volkspartei in Mähren (Lidová strana na Moravě) vom 16. Dezember 1900, dass die Delegierten dieser führenden tschechischen Partei Mährens »unerschütterlich auf dem staatsrechtlichen Programm und der natürlichen, heiligen Bindung bestehen, die uns untrennbar mit unseren Brüdern im Königreich [Böhmen] und im Herzogtum [Österreichisch Schlesien] verbindet«.3 Damit nicht fälschlich der Eindruck entsteht, es handle sich nur um reine Parteienrhetorik im Wahlkampf, kann auch die Adresse des Klubs der tschechischen Abgeordneten im mährischen Landtag vom 28. Dezember 1896 angeführt werden. In dieser wird der Herrscher aufgefordert  : »den Ländern der böhmischen Krone ihre alten, unveräußerlichen Rechte auf * Überarbeitete Fassung meines Beitrags Země, stát a národ v české a německé politice na Moravě 1848–1918, in  : Ústřední moc a regionální samospráva – Zentralmacht und regionale Selbstverwaltung, Brno 1995, 215–227. Abkürzungen  : Ders.: derselbe  ; Ebd.: ebenda  ; Hg.: Herausgeber  ; FA  : Familienarchiv  ; K.: Karton  ; MZA  : Moravský zemský archiv [Mährisches Landesarchiv] in Brünn  ; Sig.: Signatur  ; TbMS  : Tagesbote aus Mähren und Schlesien  ; vgl.: vergleiche. 1 Zur parteipolitischen Gliederung in Mähren vgl. Jiří M a líř, Od spolků k moderním politickým stranám. Vývoj politických stran na Moravě v letech 1848–1914, Brno 1996  ; Ders., Die Parteien in Mähren und Schlesien und ihre Vereine, in  : Helmut Rumpler – Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, VIII/1, Wien 2006, 705– 803  ; Pav el Cibulk a, Německé politické strany na Moravě 1890– 1918. Ideje – programy – osobnosti, Praha 2012. 2 An die deutschen Landtagswähler in Mähren  !, in  : TbMS, 5.10.1896, 1. 3 Sjezd důvěrníků lidové strany na Moravě, in  : Lidové noviny, 18.12.1900, 2.

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die gesetzgebende Gewalt und administrative Selbständigkeit, sowie der Krone des hl. Wenzel ihren alten Ruhm zu geben.«4 Wir könnten eine ganze Reihe solch apodiktischer Erklärungen von tschechischen und deutschen Politikern der Markgrafschaft Mähren um 1900 anführen  ; sie alle zeugen von den extrem gegensätzlichen Auffassungen über die verfassungsrechtliche Stellung des Landes Mähren. Dem tschechischen staatsrechtlichen Programm einer Autonomie der drei böhmischen Länder widersprach die deutschmährische Konzeption einer Landesautonomie Mährens im Rahmen der Donaumonarchie. Dem steht entgegen, dass circa 50 Jahre zuvor bei der Abstimmung im mährischen ständischen Landtag am 14. April 1848 die Abgeordneten tschechischer Herkunft die Forderungen der ersten Prager Petition vom März 1848 nach einer engeren staatsrechtlichen Verbindung von Böhmen und Mähren nicht unterstützt hatten  ; unter Führung von Alois Pražák hatten sie vielmehr auf der Unabhängigkeit Mährens beharrt. Hingegen hatten damals – neben dem Grafen Friedrich Silva-Tarouca – auch fünf überwiegend deutsche Abgeordnete des Iglauer Gebiets einen versöhnlicheren Standpunkt vertreten.5 Aber auch die Grundsätze des Mährischen Ausgleichs aus dem Jahre 1905 standen im Widerspruch zu allen vorigen, wortgewaltigen tschechischen staatsrechtlichen Äußerungen. In diesem politischen Kompromiss wurden weder das Prinzip der verfassungsrechtlichen Einheit und Sonderstellung der drei böhmischen Länder noch das Prinzip der Unteilbarkeit der Länder berücksichtigt  ; es war vielmehr eine unkonventionelle Lösung der nationalen Probleme außerhalb des Rahmens der offiziellen staatsrechtlichen Doktrinen von Deutschen und Tschechen. Die Ereignisse des Ersten Weltkriegs seit 1914 sollten dann die staatsrechtlichen Bestrebungen der politischen Repräsentanten beider Nationen tiefgreifend wandeln und zu radikalen Lösungen führen. Wie können die mehrfachen Widersprüche erklärt werden, wenn tschechische Politiker in Mähren vom Programm der ständischen Landesautonomie des Jahres 1848 zu Beginn der sechziger Jahre zum staatsrechtlichen Föderalismus wechselten, um 1905 das tschechisch-deutsche Zusammenleben unter Ausklammerung dieser Fragen lösten, um dann 1918 zu einer Verwässerung des staatsrechtlichen wie des naturrechtlichen Programms überzugehen  ? Wenn die Deutschen in Mähren die ursprünglich ständische Konzeption einer Landesautonomie übernahmen, obwohl sie weiterhin den Zentralismus befürworteten, dann autonome Positionen auf nationaler Ebene verkündeten und die Grundsätze des Mährischen Ausgleichs annahmen und schließlich während des Krieges das Programm einer staatsrechtlichen Annäherung an Deutschland bis hin zur völligen Abtrennung der deutschsprachigen Gebiete ver4 Mich a l Nav r átil, Almanach sněmu markrabství moravského (1896–1902), Plzeň 1899, 52. 5 A ntonín Mezník, Poslední zasedání stavovského sněmu na Moravě r. 1848, Praha 1877, 15–25  ; Jindřich Dvořá k, Moravské sněmování roku 1848–49, Telč 1898, 94–104.

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fochten  ? War die staatsrechtliche Politik von Tschechen und Deutschen in Mähren derart inkonsequent, wechselvoll und konjunkturbedingt oder hat sich in diesen wenigen Jahrzehnten der Inhalt von Schlüsselbegriffen wie Autonomie, Böhmisches Historisches Staatsrecht, staatliches Ganzes, Föderalismus, Zentralismus, Nation usw. grundlegend verändert  ? Ohne andere Erklärungen ausschließen zu wollen, soll hier eine Antwort in der Entwicklung der tschechischen und deutschen Gesellschaft Mährens sowie der mährischen Politik selbst gesucht werden. Die staats- und verfassungsrechtlichen Vorstellungen von Tschechen und Deutschen in Mähren entwickelten sich weder geradlinig noch konfliktfrei.6 Sie standen stets in Zusammenhang mit den Debatten über die nationale und sozialpolitische Situation in Mähren und den verschiedenen Konzeptionen, diese im Sinne der eigenen nationalen Interessen umzugestalten. Jiří Kořalka wies mehrfach darauf hin, wie wichtig es für Tschechen und Deutsche in der österreichischen Monarchie war, dass die Angehörigen beider Nationalitäten je nach der Größe des betrachteten Territoriums eine Minderheit oder aber die Mehrheit waren.7 Das Verhältnis zwischen nationaler Mehrheit und Minderheit gestaltete sich auf der geographisch-politischen Ebene des cisleithanischen Gesamtstaats anders als auf der Ebene der Länder der Wenzelskrone  ; wiederum anders war es in den böhmischen oder mährischen Grenzgebieten oder im Bereich einer einzelnen Stadt. Auch Mähren bildete eine territoriale Einheit, in der das Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit besonders komplexe Formen annahm. Die Beziehungen zwischen der deutschen Minderheit und der tschechischen Mehrheit gestalteten sich aufgrund der unterschiedlichen nationalkulturellen und identitätsmäßigen Entwicklungen8 und aufgrund der gegensätzlichen Machtverteilung in der politischen Landesverwaltung und im Bereich der Selbstverwaltung der großen mährischen Städte, wo die Deutschen dominierten, schwierig.9 Es ist klar, dass dieser Gegensatz auch die staatsrechtlichen Konzeptionen der tschechischen und deutschen Politik beeinflussen musste.

6 Vgl. Pav el Cibulk a, Postoj českých a německých politiků k ústavnímu vývoji na Moravě a v habsburské monarchii v letech 1848–1918 (podíl – recepce – alternativy), in  : Karel Malý – Ladislav Soukup (Hg.), Vývoj české ústavnosti v letech 1618–1918, Praha 2006, 531–600. 7 Jiří Kořa lk a, Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815–1914, Wien–München 1991, 126–138. 8 Vgl. Mil a n Řepa, Moravané nebo Češi  ? Vývoj českého národního vědomí na Moravě v 19. století, Brno 2001  ; Ders., Moravané – Němci – Rakušané. Vlasti moravských Němců v 19. století, Praha 2014. 9 Jiří M a líř, Nacionalizace samosprávy a limity demokratizace komunální politiky před r. 1914 na příkladu Moravy, in  : Mezi liberalismem a totalitou – komunální politika ve středoevropských zemích 1848–1948, Praha 1997, 73–89  ; Pav el K l a diwa – A ndre a Pok ludová – R enata K a fková (Hg.), Lesk a bída obecních samospráv Moravy a Slezska 1850–1914, II/1–2, Ostrava 2008–2009.

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1. Vom Vormärz bis zur Verfassungsära Bis zum Jahr 1848 ging es bei politischen Überlegungen über die Art und Weise der Eingliederung Mährens in einen Gesamtstaat eigentlich nur um die Frage, wie weit die mährische Autonomie gegenüber dem Wiener Zentrum gehen sollte. Das Verhältnis Mährens zu den übrigen Ländern der böhmischen Krone wurde nicht besonders hervorgehoben und galt als gleichwertig mit den Beziehungen eines jeden anderen Landes der Monarchie zu Böhmen. Die mährische Ständeopposition protestierte zwar gegen die Einschränkungen ihrer ständischen Rechte durch die Wiener Zentralbehörden, doch gingen diese Äußerungen, die übrigens viel gemäßigter als vergleichbare Bemühungen der Stände in Böhmen oder Niederösterreich waren, nicht über den durch die theresianischen und josefinischen Reformen vorgegebenen verfassungsrechtlichen Rahmen der Monarchie hinaus.10 Überdies verwahrten sich die mährischen Stände zugleich gegen jegliche Unterordnung Mährens unter Böhmen und dessen Stände.11 Während in Böhmen die ständische Opposition gegen Wien bis zu einem gewissen Grad mit den nationalen und antizentralistischen Bestrebungen der tschechischen Patrioten korrespondierte,12 wandte sich der ständische Adel in Mähren mit der Forderung nach mährischer Landesautonomie nicht nur gegen Wien, sondern auch gegen Prag. Dieses Bemühen der mährischen Stände kam unter nationalem Blickwinkel eher der Position der mährischen Deutschen als derjenigen der mährischen Tschechen entgegen. Dabei war von großer Bedeutung, dass die – ursprünglich ständischen – Landesinstitutionen wie das Mährische Landesmuseum, die Mährisch-schlesische Gesellschaft zur Beförderung des Ackerbaues, der Natur- und Landeskunde, später auch deren Historisch-statistische Sektion, das Mährische Landesarchiv und die Technische Hochschule in Brünn deutsch orientiert blieben, während sich in Böhmen die entsprechenden Institutionen allmählich tschechisierten.13

10 Vgl. Christi a n d’Elv ert, Die Desiderien der Mährischen Stände vom Jahre 1790, Brünn 1864  ; Rudolf Dvořá k, Jednání sněmů moravských v letech 1792 až 1835, Brno 1904  ; Ders., Jednání sněmů moravských v letech 1835–1848, Brno 1906  ; Mil a n Řepa, Moravské stavy a ústavní poměry v závěru 18. a v první polovině 19. století, in  : Karel Malý – Ladislav Soukup (Hg.), Vývoj české ústavnosti v letech 1618–1918, Praha 2006, 299–321. 11 Die Tradition der Betonung der Unabhängigkeit der mährischen Stände und Mährens Eigenständigkeit gegenüber den böhmischen Ständen stammt bereits aus der Zeit, als sich die Länder der böhmischen Krone als Ständestaat formierten. Vgl. dazu Josef Vá lk a, Morava reformace, renesance a baroka, Brno 1995. 12 Va lentin Urfus, K vzájemnému poměru českého státoprávního programu a předbřeznové stavovské opozice v Čechách, in  : Právněhistorické studie 13, 1967, 85–103. 13 Luk áš Fasor a – Jiří M a líř (Hg.), Dějiny Brna. IV. Modernizace města 1790–1918, Brno 2020, 250– 284, 827–890.

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Als im Jahre 1848 nationale Interessen und Ambitionen in der Politik stärker ins Spiel kamen, behielten die früheren Standesvertreter in Mähren die politische Initiative und ihren politischen Einfluss. Auf der letzten Sitzung des ständischen Landtags und auf dem neu gewählten sogenannten Bauernlandtag dominierten ihre Autonomieforderungen, die sich sowohl gegen eine engere Verbindung Böhmens und Mährens wendeten als auch das Verhältnis zu den Wahlen in die Frankfurter Nationalversammlung bestimmten.14 Dass diese Positionen erfolgreich waren, war auch dadurch bedingt, dass sie dem wirtschaftlich starken deutschen liberalen Bürgertum Mährens entgegenkamen. Im Unterschied zu anderen Formen des Liberalismus behinderte das staatsrechtliche Programm der mährischen Landesautonomie das deutschmährische liberale Bürgertum weder bei seinen machtpolitischen Ambitionen auf Landesebene noch im Rahmen des gesamten Habsburgerreichs. Da das Nationalbewusstsein des tschechischen Bürgertums damals erst im Entstehen war und eher noch einem vornationalen Entwicklungsstadium entsprach,15 waren die tschechischen Politiker noch nicht in der Lage, eine andere Möglichkeit der staatsrechtlichen Regelung als die traditionelle politische Ausrichtung auf eine Autonomie des Landes in Betracht zu ziehen. Anders als in Böhmen kamen damals Repräsentanten der tschechischen Nationalbewegung in Mähren nur in sehr kleiner Zahl in den Landtag und in den Reichstag. Erst im Laufe der Auseinandersetzungen mit den deutschen Abgeordneten im österreichischen Reichstag von Kremsier und durch eine engere Zusammenarbeit mit den tschechischen Abgeordneten aus dem Königreich Böhmen begannen die in politischer und nationaler Hinsicht weiterhin nicht sehr etablierten tschechischmährischen Politiker die Konzeption der mährischen Landesautonomie zu überwinden.16 Diese Entwicklung trug jedoch erst in den sechziger Jahren Früchte, da der Neoabsolutismus der fünfziger Jahre alle Versuche, verfassungsrechtliche Fragen auf politischem und parlamentarischem Wege zu lösen, verhinderte.

14 Dazu Dvořá k, Moravské sněmování  ; Jiří M a líř, Der mährische Landtag, in  : Helmut Rumpler – Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, VII/2, Wien 2000, 2057–2103, hier  : 2057–2063. 15 Zur Theorie siehe Ernst Bruck müller, Ein »deutsches« Bürgertum  ? Zu Fragen nationaler Differenzierung der bürgerlichen Schichten in der Habsburgermonarchie vom Vormärz bis um 1860, in  : Geschichte und Gesellschaft 16, 1990, 343–354. Zu den Defiziten der tschechischen bürgerlichen Gesellschaft in Mähren vgl. Jiří M a líř, Formování občanské společnosti na Moravě a její deficity, in  : Acta Universitatis Carolinae – Philosophica et Historica 2/1997 – Studia Historica 46, Praha 2000, 107–123. 16 Ja n Ohér a l, Denkwürdigkeiten aus den Jahren 1848 und 1849. Erinnerungen, Erlebnisse, Rückblicke eines Reichstagsabgeordneten, in  : Jurende’s Mährischer Wanderer 40, 1851, 111–139  ; Hugo Tr aub, Morava a volby na ústavodárný sněm říšský r. 1848, in  : Osvěta 45, 1915, 502–509, 584–591, 654–661, 731–746  ; Fr a ntišek K a meníček (Hg.), Paměti a listář Dra Aloise Pražáka, I, Praha 1926, 8.

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2. Von den sechziger Jahren bis zur Jahrhundertwende Zu einer nationalen Desintegration des mährischen Autonomiestrebens kam es im Laufe der sechziger und siebziger Jahre, als der latent spürbare tschechisch-deutsche nationale Dualismus in Mähren zunehmend politisch und staatsrechtlich artikuliert wurde. Aber selbst dann verdrängte in der tschechischmährischen Politik und Öffentlichkeit das Programm des Historischen Staatsrechts nicht gänzlich alle Bestrebungen nach einer Landesautonomie. Im Wahlprogramm der mährischen Tschechen aus dem Jahre 1861 wird der »durch das historische Recht begründete und durch das kaiserliche Diplom vom 20. Oktober 1860 nicht aufgehobene Zusammenhalt der drei Bruderländer Böhmen, Mähren und Schlesien« zwar nicht geleugnet, jedoch gleichzeitig »die Selbständigkeit und Autonomie unsers Vaterlandes Mähren und seines Landtages« explizit gefordert.17 Verfassungsrechtliche Stellungnahmen – wie die im mährischen Landtag am 25. August 1868 verlesene Deklaration der föderalistischen Abgeordneten,18 die insgesamt den Sieg des böhmischen staatsrechtlichen Programms im tschechischen Mähren darstellte – ließen deutlich werden, dass die mährischen Tschechen nach einer eigenständigen Auslegung des tschechischen Hi­ sto­rischen Staatsrechts strebten und dabei auf die rechtliche Eigenständigkeit Mährens besonderen Wert legten. So vertrat die Mehrheit der Tschechen im mährischen Landtag gegenüber den staatsrechtlichen Fundamentalisten am 13. Oktober 1871 auch einen gemäßigten Standpunkt hinsichtlich des verfassungsmäßigen Verbundes der böhmischen Länder, da »jedes Land in dieser Gemeinschaft in der Gesetzgebung und der Verwaltung Selbständigkeit genieße«.19 Mit dieser Interpretation des Historischen Staatsrechts gliederten die tschechischen Politiker Mährens die Markgrafschaft nun nur noch mittels der Zwischen­ ebene der böhmischen Kronländer in den Gesamtstaat ein. Die bipolare Bindung Mähren – Österreich (Zisleithanien) wurde durch die Triade Mähren – böhmische Länder – Zisleithanien ersetzt. Das Bemühen, eine gewisse legislative Eigenständigkeit Mährens zu bewahren, zog dabei weder die staatsrechtliche Einheit der Länder der böhmischen Krone in Zweifel, noch schloss es die Traditionen der ständischen Landesautonomie aus. Diese Position spiegelte die besondere geographische und sozialpolitische Situation der nationalen Mehr- und Minderheiten in Mähren wider, die nach anderen Parametern strukturiert war als in den übrigen Teilen der Monar17 Zit. nach  : Pav el Cibulk a (Hg.), Politické programy českých národních stran (1860–1890), Praha 2000, 52. 18 Ebd., 136–138. 19 A dolf Srb, Politické dějiny národa českého od roku 1861 až do nastoupení ministerstva Badenova v r. 1895, Praha 1899, 354–358  ; Rudolf Wierer, Das böhmische Staatsrecht und der Ausgleichsversuch des Ministeriums Hohenwart – Schäffle, in  : Bohemia 4, 1963, 54–173, hier  : 96.

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chie.20 Ganz im Sinne der These von der Abhängigkeit der Beziehungen zwischen einer Mehrheit und einer Minderheit auf einer gegebenen geographisch-politischen Ebene führten daher die spezifischen Bedingungen in Mähren zu anderen Lösungen der tschechisch-deutschen Beziehungen als in Böhmen oder auf Reichsebene. Auch später sollte es zwischen den tschechischen Politikern von Böhmen und Mähren in der Frage des Böhmischen Staatsrechts keine dramatischen oder prinzipiellen Differenzen mehr geben. Die Unterschiede betrafen seitdem überwiegend das taktische Vorgehen. So kam es z. B. in der Frage des passiven Widerstands oder bei der Gewichtung einzelner politischer Prioritäten im Ringen um das gemeinsame Ziel des Staatsrechts zu unterschiedlichen Positionen. Als in den neunziger Jahren offenkundig wurde, dass das Böhmische Staatsrecht nicht in einem baldigen einmaligen Rechtsakt verwirklicht werden konnte und es damit zu einem politischen Fernziel wurde, versuchten die mährischen Tschechen, das gemeinsame Ziel (d. h. den Zusammenschluss der böhmischen Länder als verfassungsrechtlichen Rahmen zum Schutz und zur Sicherung der tschechischen Mehrheit) mit anderen Mitteln als die Landsleute in Böhmen zu erreichen. Im Gegensatz zur Sprachenpolitik der Tschechen im Königreich Böhmen bevorzugten sie – angesichts der spezifischen sozialen, ökonomischen, nationalen und machtpolitischen Situation in der Markgrafschaft – eine »Politik des nationalen Vorteils«, um ihre Stellung im Bereich der Selbstverwaltung und im Schulwesen auszubauen.21 Dies war aber ohne Kompromiss und ohne eine partielle Lösung des tschechisch-deutschen Verhältnisses im Lande nicht möglich. Zwingend notwendig waren daher Korrekturen am staatsrechtlichen Programm. Aus dieser Konstellation erklärt sich das Zustandekommen des Mährischen Ausgleichs im Jahre 1905.22

20 Zu den verschiedenen Aspekten der Stellung Mährens zwischen den Polen Prag und Wien vgl. Jiří M a líř, Bürgertum in Mähren zwischen Prag und Wien, in  : Hannes Stekl – Peter Urbanitsch – Ernst Bruckmüller – Hans Heiss (Hg.), »Durch Arbeit, Besitz, Wissen und Gerechtigkeit«, Wien–Köln– Weimar 1992, 94–111  ; Mil a n Řepa, Češi, Moravané a spor o pasivní politiku, in  : Český časopis historický 94, 1996, 38–65  ; Robert Luft, Politische Kultur und Regionalismus in einer Zentrallandschaft zweiten Grades  : das Beispiel Mähren im späten 19. Jahrhundert, in  : Werner Bramke – Thomas Adam (Hg.), Regionale politische Kultur in Ost- und Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert, Leipzig 1999, 125–160. 21 Zu den Auseinandersetzungen über die Prioritäten der »mährischen« programmatischen Forderungen innerhalb der tschechischen Politik zu Beginn des Jahrhunderts vgl. Jiří M a líř, Vývoj liberálního proudu české politiky na Moravě. Lidová strana na Moravě do roku 1909, Brno 1985, 125–134  ; Ders., Poměr moravské lidové a národní strany svobodomyslné (mladočeské), in  : Časopis Matice moravské 104, 1985, 55– 78. 22 Dazu vgl. Horst Gl assl, Der mährische Ausgleich, München 1967  ; Luk áš Fasor a – Jiří H a nuš – Jiří M a líř (Hg.), Moravské vyrovnání z r. 1905 – Der mährische Ausgleich  : možnosti a limity národnostního smíru ve střední Evropě, Brno 2006. Dort weitere Literatur.

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Ähnlich wie auf tschechischer Seite das Programm des Historischen S ­ taatsrechts durch die konkreten Bedingungen des tschechisch-deutschen Verhältnisses in Mäh­ ren modifiziert wurden, so relativierte sich das Autonomieprogramm der Deutschmährer durch eine ausgeprägte Orientierung auf einen zentralistischen Gesamtstaat. Nach dem Aufschwung der deutschen Einigungsbestrebungen im Jahre 1848 in Frankfurt wollten die mährischen Deutschen – so auch noch nach den Forderungen ihres Programms aus den sechziger Jahren – »treu und unerschütterlich die Autonomie Mährens, aber auch die Größe und Macht Österreichs verteidigen«.23 Aus verschiedenen Verlautbarungen jener Zeit spricht das offenkundige Interesse, »Österreich als großen Staat zu heben und zu erhalten, nachdem der größere deutsche Einheitsstaat nicht zu erreichen ist«.24 Nach der politischen Vereinigung Deutschlands 1871 tauchte bei den mährischen Deutschen sehr schnell die Forderung nach einem Bündnis mit Deutschland auf.25 Der Führer der deutschmährischen Liberalen, Eduard Sturm, setzte die Forderungen nach einer engen Verbindung mit Deutschland und nach Schaffung einer besonderen Stellung Galiziens im Habsburgerreich schließlich als einer der ersten deutschen Politiker in Österreich – und zwar mehr als zehn Jahre vor der Annahme des Linzer Programms – durch.26 Die Forderung nach einer Autonomie Mährens wurde dem Ausbau eines zentralisierten österreichischen Staates untergeordnet, da nur dieser die bestehende machtpolitische Vorherrschaft des deutschen Bürgertums in Mähren garantieren konnte. Die von den deutschen Liberalen Österreichs im Jahre 1873 durchgesetzte Wahlreform, durch die der mährische Landtag wie alle anderen Landtage das Recht verlor, die Reichsratsabgeordneten selbst zu wählen, schwächte die Kompetenzen des Landes Mähren. Die deutschmährischen Liberalen hatten zu dieser Reform entscheidend beigetragen, weil in ihrem Verständnis die Markgrafschaft nur eine österreichische Provinz wie jede andere war. Auf deutscher Seite war die Betonung der Autonomie Mährens zunehmend nur Mittel zum Zweck und diente programmatisch als Gegenstück zum Böhmischen 23 Zur Wahlbewegung, in  : Neuigkeiten, 14.3.1867, 1. 24 Kandidaten-Rede des Herrn Dr. Giskra, in  : Neuigkeiten 25.3.1861, 3. 25 In einer noch während des preußisch-französischen Krieges angenommenen Resolution des Deutschen Fortschrittsvereins in Brünn wurde die Überzeugung geäußert, »daß die Siege Deutschlands auch für Deutsch-Österreich erkämpft wurden«. Die Partei »erblickt daher in einem dauernden Bündnis des österreichischen Kaiserstaats mit dem freiheitlich geeinigten außerösterreichischen Deutschland die sicherste Gewähr für das Gedeihen und Machtentfaltung der constitutionellen österreichischen Monarchie«. Bericht über die Tätigkeit des Deutschen Fortschritts-Vereines in Brünn in der Zeit vom 16. Mai 1870 bis Ende April 1871, Brünn 1871, 7. 26 Vgl. Zur Partei-Organisation, Wien 1885, 5–6, in  : MZA, FA Johann Chlumecký (G 46), K. 13, fasc. IV. Zum Linzer Programm vgl. K l aus Berchtold (Hg.), Österreichische Parteiprogramme 1868–1966, Wien 1967, 198–203.

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Staatsrecht. Im mährischen Landtag lehnte daher die deutsche Mehrheit am 25. August 1868 vehement die staatsrechtliche Deklaration der tschechischmährischen Abgeordneten vom 22. August 1868 ab.27 In dieser verfassungsrechtlichen Verbindung der drei böhmischen Länder und im politischen Vordringen des tschechischen Elements in Böhmen, Mähren und Schlesien sahen die mährischen Deutschen eine Bedrohung ihrer eigenen nationalen Stellung in der Markgrafschaft.28 Der tschechischen Resolution stellten sie am 24. September 1868 daher eine eigene Erklärung gegenüber  : »Der mährische Landtag betrachtet die Markgrafschaft Mähren als ein von Böhmen und jedem staatsrechtlichen Verbande einer ›böhmischen Ländergruppe‹ unabhängiges Land und hält an dieser Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Markgrafschaft Mähren im Länderverbande der österreichischen Monarchie auch für alle Zukunft fest.«29 Der nationale Aspekt trat in den verfassungsrechtlichen Überlegungen zu Beginn der siebziger Jahre in den Vordergrund, als sich die mährischen Tschechen mit der tschechischen Nationalbewegung Böhmens immer stärker identifizierten und als gleichzeitig bei den österreichischen Deutschen die Vereinigung Deutschlands ohne Österreich und die Versuche von Kaiser, Regierung und Staatsverwaltung, einen tschechisch-österreichischen Ausgleich zu erreichen, eine Psychose nationaler Bedrohung hervorriefen.30 Darum nahm auf deutscher Seite die Zahl von Aufrufen zu, die zusätzlich zu einer Landesautonomie forderten, die Interessen des mährischen Deutschtums in erster Linie auf der Grundlage der Solidarität mit den Deutschen aller anderen Länder der Monarchie zu wahren. Die mährischen Deutschen fanden sich daher seit Anfang der siebziger Jahre an vorderster Stelle, als es galt, die Deutschen Gesamtösterreichs organisatorisch und politisch zu einen.31 Seit 1871 wur27 Vgl. Srb, Politické dějiny, 229–235. 28 Das Manifest der Mehrheit der mährischen Abgeordneten auf dem Reichstag im Mai 1861, als die Losung »Mähren soll nicht zu Böhmen gehören und [sich] nicht von Prag regieren lassen« ausgegeben wurde, blieb auch später der Hauptgrundsatz der deutsch-mährischen Politik im Kampf um die Erhaltung ihrer nationalen Besitzstände in Mähren. Fr a nz K rones, Die Stellung der Deutschmährer in Vergangenheit und Gegenwart, Neutitschein 1872, 18–21. 29 Landtags-Blatt über die Sitzungen des mit Allerhöchstem Patente vom 11. Juli 1868 einberufenen mährischen Landtages, 24.9.1868, 482. 30 Die Befürchtungen einiger deutscher Kreise, »die acht Millionen Deutschen in Österreich rettungslos der Slavisierung preisgegeben zu sehen«, waren Gegenstand der Sitzungen der deutschen Liberalen in Mähren. Vgl. Der erste Mährisch-deutsche Parteitag abgehalten in Olmütz am 18. Juni 1871, Olmütz 1871, 8. Oder siehe Der VII. deutsch-mährische Parteitag in Brünn abgehalten am 19. September 1880, Brünn 1880, 43  : »Wir sind in Gefahr, von allen Seiten czechisiert, polonisiert und slovenisiert, endlich auch magyarisiert zu werden.« 31 U. a. zeugen davon ihr bedeutender Beitrag und ihre starke Beteiligung an den deutsch-österreichischen Parteitagen der Liberalen. Auf der ersten Versammlung im Jahre 1870 stellten die Deutschen aus Mähren fast ein Viertel aller Teilnehmer. Verzeichniß der Theilnehmer der Versammlung vom 22. Mai

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den in Mähren – genauso wie in Wien – jährliche Versammlungen durchgeführt und man war bestrebt, die mährische Landesorganisation zu einem Vorbild für alle deutschösterreichischen Liberalen werden zu lassen.32 Nach dem 7. Parteitag der deutschliberalen Partei in Mähren im Jahre 1880 mündete dies in dem Versuch, eine nationale Organisation der Deutschen in Mähren und ganz Österreich zu schaffen, ein Vorhaben, das die bestehenden administrativen Grenzen, insbesondere die Landesgrenzen – und damit auch das bisherige deutschmährische staatsrechtliche Programm – relativierte.33 Im Unterschied zu den Deutschen in Böhmen ging es den Deutschmährern nicht um die Schaffung eines geschlossenen nationalen Territoriums im Lande oder eine Einschränkung der Zweisprachigkeit der staatlichen Behörden Mährens, sondern in Anbetracht der national gemischten Siedlungsweise in Mähren hauptsächlich um eine nationale Autonomie auf der Verwaltungsebene der Gemeinden oder Bezirke, wie unter anderem das Pfingstprogramm von 1899 für Mähren zeigt  :34 »Zur Sicherung unserer nationalen Interessen im Lande, sowie zur Herstellung eines geordneten Zustandes in nationalen Fragen muß eine möglichst weitgehende nationale Abgrenzung angestrebt werden. Zu diesem Ende sind soweit als möglich die Gerichts- und politischen Bezirke in der Weise abzugrenzen, daß dieselben nur Gemeinden einer Nationalität umfassen. Auch bezüglich der Sprengel der Kreisgerichte und Finanzbezirkes-Direktionen kann dieser Grundsatz teilweise durchgeführt werden. Die staatlichen Behörden, deren Wirkungskreis das ganze Land umfaßt, haben einheitlich zu bleiben. Dagegen ist die Trennung der Schulverwaltung in allen Instanzen des Landes strenge durchzuführen.«35 Da die deutschmährische Politik sich nicht auf eine konsequente binnenterritoriale Trennung ausrichtete und an die Frage der nationalen Autonomie vorsichtiger und differenzierter heranging als die Deutschböhmen, legte sie am Ende des 19. Jahrhunderts ein stärkeres Gewicht auf die Einheit des Gesamtstaats. Die deutschen nationalen Interessen zu organisieren, war nun aber wesentlich wichtiger geworden als die mährische Landesautonomie. In der damaligen Programmatik hieß dies  : »In der Einheit des Reiches 1870, in  : Programm der Deutschen in Oesterreich beschlossen von der Versammlung deutscher Parteimänner in Wien am 22. Mai 1870, Wien 1870, 6–8. 32 »Es mögen sich alle österreichischen Deutschen innerhalb der bezüglichen Kronlandgrenzen auf ähnliche Weise organisieren und dann einander als deutschösterreichische Volkspartei zu einem unzerstörbaren Bunde geschlossen zur Erhaltung des österreichischen Staatsverbandes die Hand reichen.« Der erste Mährisch-deutsche Parteitag, 18. 33 Die nationale Organisation der Deutschen in Oesterreich und der deutsch-österreichische Nationalverein. Von einem Deutsch-Oesterreicher [A lfred Fischel (Hg.)], Brünn 1880  ; Die Organisation der deutschen Partei in Mähren, in  : TbMS, 13.1.1883, 1–2 und 24.1.1883, 1. 34 Berchtold (Hg.), Österreichische Parteiprogramme, 217–219. 35 Ebd. 217.

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liegt aber auch die Garantie für die freiheitliche Entwicklung der volksthümlichen Institutionen.«36 Gleichzeitig wurde angesichts der schwächer werdenden Machtposition der mährischen Deutschen in der Markgrafschaft deren Bereitschaft offenkundig, die nationalen Probleme auf Landesebene separat und unabhängig von Prag und Wien zu lösen. Damit war es nur noch ein Schritt zum Mährischen Ausgleich – mit den Worten des Vorsitzenden der Deutschen Fortschrittspartei, Gustav Groß  : »an die Stelle der Autonomie des Landes ist zum erstenmal die Autonomie der Nationalitäten getreten.«37

3. Von der Jahrhundertwende bis 1914 Die Konzentration auf die nationale Problematik und ihre Lösung im Rahmen des Kronlandes Mähren schwächte die Relevanz der staatsrechtlichen Ausgangspositionen in beiden nationalpolitischen Lagern ab. Die in beiden nationalpolitischen Lagern entstehenden ideologischen und parteipolitischen Differenzierungen, die sich in Mähren zwischen 1896 und 1914 vollzogen und ein komplexes System von politischen Parteien formierten,38 relativierten die staatsrechtlichen Konzeptionen der beiden nationalen Kontrahenten zum Nutzen einer stärker alltagsbezogenen Politik des nationalen Vorteils. Das schrittweise erweiterte, allgemeine Wahlrecht und der populistisch geführte Kampf um jede Stimme trugen ebenfalls zu dieser Situation bei. Im tschechischen politischen Lager war es besonders die Sozialdemokratie, die mit ihrem naturrechtlichen Ansatz einer Personalautonomie den allgemeinen Konsens in der Frage des Böhmischen Staatsrechts abschwächte  ;39 auf deutscher Seite befand sich demgegenüber die alldeutsche Bewegung außerhalb des Rahmens der etablierten staatsrechtlichen Vorstellungen, später dann die freialldeutsche Bewegung, die sich durch antiösterreichische Tendenzen auszeichnete.40 Im Zentrum der staatsrechtlichen Bemühungen der mährischen Deutschen stand nach 1905 weiterhin die Forderung, die nationale Personalautonomie im Lande zu vertiefen. Die nationalpolitischen Regelungen hielt die politische Führung der mährischen Deutschen, so, wie sie auf der Grundlage der Gesetze des Mährischen 36 Vgl. Der VII. deutsch-mährische Parteitag, 54. 37 Abg. Dr. Groß vor seinen Wählern, in  : TbMS, 5.2.1906, 1. 38 Vgl. Anm. 1. 39 H a ns Mommsen, Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat, 1, Wien 1963  ; Kořa lk a , Tschechen im Habsburgerreich, 201–239. 40 Mährische Anhänger von Georg von Schönerer forderten ein gesellschaftlich ganzheitliches und handelspolitisch geschlossenes Gebiet sowie ein »völkerrechtliches Bündnis« mit dem Deutschen Reich. Vgl.: Was die Deutschradikalen wollen, in  : Deutsches Blatt 17.10.1900, 1.

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Ausgleichs von den Behörden in der Praxis durchgeführt wurde, für ungenügend. So formulierte der Abgeordnete Gustav Groß noch 1906  : »Durch diese Beschlüsse [des Mährischen Ausgleichs] hat eine Auseinandersetzung und Trennung der beiden Nationalitäten im Lande begonnen, die wir auch weiter auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens durchzuführen hoffen und die als Beispiel maßgebend sein dürfte für die meisten gemischtsprachigen Kronländer der Monarchie.«41 Einen gewissen Erfolg in diesem Bemühen erreichten die mährischen Deutschen im Rahmen eines Geheimvertrags, der im Februar 1914 zwischen den Vertretern der tschechischen und deutschen Landtagsparteien und den Landesausschussbeisitzern in einer Landtagssitzung geschlossen wurde.42 Zwar hatte dieser zweite mährische Ausgleich im Gegensatz zum nationalpolitischen Kompromiss von 1905 nicht den Charakter eines Gesetzes, doch wurden damit einige Bestimmungen des Mährischen Ausgleichs von 1905 (u. a. die Lex Perek) präzisiert und die nationale Selbstverwaltung in den Organen der Landesselbstverwaltung erweitert. Vor allem wurde aber das Prinzip der nationalen Teilung auf weitere Bereiche der Landespolitik, insbesondere auf wirtschaftliche und finanzielle Angelegenheiten, ausgedehnt. Die Verabschiedung dieses Vertrags kam dadurch zustande, dass die tschechische Landtagsmehrheit für die Sanierung der äußerst maroden Landesfinanzen die Zustimmung der deutschmährischen Abgeordneten brauchte und daher deren Forderungen entgegenkam. Um die Landesselbstverwaltung am Leben zu erhalten, zögerten die Repräsentanten der tschechischen Politik in Mähren, die seit 1906 die Mehrheit im Landtag hatten, nicht, weitere nationale Kompromisse mit den mährischen Deutschen zu schließen. In den Jahren bis zum Ausbruch des Krieges 1914 setzte sich somit bei den mährischen Tschechen immer mehr die Position durch, Angelegenheiten des Landes eigenständig und ohne Rücksicht auf ein staatsrechtlich einheitliches und gemeinsames Vorgehen mit den böhmischen Tschechen zu lösen, wie dies von der Führung der tschechischen Politik im Wiener Reichsrat propagiert wurde.43 Auf der Versammlung des Klubs der tschechischmährischen Volkspartei vom 29. September 41 Abg. Dr. Groß vor seinen Wählern, in  : TbMS, 5.2.1906, 1. Vgl. Abg. Freiherr d’Elvert über die Landtagswahlen, in  : TbMS, 13.6.1913, 2. 42 Jiří M a líř, Národnostní klíč z r. 1914 v zemských hospodářských a finančních záležitostech – cesta k »druhému moravskému paktu«  ?, in  : Tomáš Dvořák – Radomír Vlček – Libor Vykoupil (Hg.), Milý Bore …  ! Profesoru Ctiboru Nečasovi k jeho sedmdesátým narozeninám věnují přátelé, kolegové a žáci, Brno 2003, 137–145  ; Ders., »Druhé moravské vyrovnání« z r. 1914, in  : Lukáš Fasora – Jiří Hanuš – Jiří Malíř (Hg.), Moravské vyrovnání z r. 1905  : možnosti a limity národnostního smíru ve střední Evropě, Brno 2006, 87–102. 43 Dazu M a líř, Poměr moravské lidové, 55–78  ; Ders., Národní strana svobodomyslná v Čechách a Lidová strana (pokroková) na Moravě, in  : Jiří Malíř – Pavel Marek (Hg.), Politické strany. Vývoj politických stran a hnutí v českých zemích a Československu 1861–2004, I, Brno 2005, 139–200  ; Robert Luft,

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1908 spitzte der Parteivorsitzende Adolf Stránský selbstbewusst die Frage der natio­ nalen und staatsrechtlichen Regelungen in Mähren zu  : »Ich glaube, daß es bei uns in Österreich anders nicht geht, als nicht allein die Nationalitäten, sondern auch die Länder zu entwickeln. Was wir durch diese Entwicklung in Böhmen verlieren, das werden wir hier in Mähren gewinnen.«44 Die Kriegsereignisse und ihre Folgen brachten für die staatsrechtlichen Bestrebungen der beiden nationalen Rivalen eine ganz neue Situation. Die tschechischen und deutschen Politiker in Mähren koordinierten ihr Vorgehen nun wieder sehr eng mit ihren gesamtnationalen politischen Zusammenschlüssen auf Reichsebene. Indem sie sich auch organisatorisch völlig in die gesamtnationalen Korporationen eingliederten, überschritten sie gleicherweise die Grenzen der Kronländer und handelten zudem beiderseits parteiübergreifend. Im tschechischen Bereich übernahm dabei der Tschechische Verband (Český svaz) und der Nationalausschuss (Národní výbor) die Rolle eines Koordinators, im deutschen Umfeld waren es der Deutschnationale Verband, der Deutsche Volksrat sowie der Deutsche Schulverein.45 So wurden parteiund landesspezifische Herangehensweisen an staatsrechtliche Fragen aufgegeben. Die schrittweise Radikalisierung der staatsrechtlichen Forderungen enthüllte nun deren harten Kern. Die mährischen Tschechen reduzierten während des Krieges – nachdem aufgrund der Furcht vor einer aufgezwungenen staatsrechtlichen und nationalen Ordnung der Monarchie nach den radikalen Wünschen der deutschen Politiker anfangs die Defensive überwog und der aktivistische austrophile Flügel das Übergewicht hatte – ihre ursprüngliche staatsrechtliche Triade Mähren – böhmische Länder – Österreich schrittweise zulasten sowohl des habsburgischen Staates als auch der Autonomie Mährens und zugunsten der Forderung nach einem eigenständigen tschechischen Staat. Die staatsrechtlichen Positionen der Deutschmährer wandelten sich weniger gradlinig, doch auch bei den Deutschen verloren das Land Mähren und der habsburgische Staat schließlich ihre Rolle als verfassungsrechtliche und politische Bezugspunkte. Unabhängig von der Parteizugehörigkeit stärkte der Krieg bei ihnen generell alldeutsche Tendenzen.

Parlamentarische Führungsgruppen und politische Strukturen in der tschechischen Gesellschaft. Tschechische Abgeordnete und Parteien des österreichischen Reichsrats 1907–1914, I–II, München 2012. 44 MZA, Bestand B 26, K. 2490, Sig. 259 (Klub der Volkspartei). 45 Vgl. Iva n Šediv ý, Češi, České země a Velká válka 1914–1918, Praha 2001  ; Loth a r Höbelt, Kornblume und Kaiseradler. Die deutschfreiheitlichen Parteien Altösterreichs 1882–1918, Wien–München 1993, 331–346  ; Jiří M a líř – Mil a n Řepa, Morava na cestě k občanské společnosti, Brno 2018, 261–292.

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4. Zusammenfassung Infolge der politischen Radikalisierung durch den Krieg verließen somit beide nationalen Lager in Mähren den traditionellen Rahmen aller bisherigen verfassungsrechtlichen Vorstellungen zur Regelung des Verhältnisses von Land und Staat, und sie wandten sich von dem relativ erfolgreichen Versuch einer Teillösung der nationalen und staatsrechtlichen Probleme auf Landesebene ab, wie er mit dem Mährischen Ausgleich im Jahre 1905 oder mit dem Geheimvertrag zwischen den tschechischen und deutschen Landtagsparteien im Jahre 1914 zustande gekommen war. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die ständische Konzeption einer Landesautonomie Mährens, in deren Verständnis das Verhältnis zwischen Zentrum und Provinzen bipolar war, unter dem Ansturm des neuzeitlichen Nationalismus schrittweise von national motivierten Vorstellungen über eine Neugestaltung der Beziehung zwischen Land und Staat abgelöst wurde. Hierbei wurde das lineare staatsrechtliche Verhältnis zwischen Wien und Brünn durch kompliziertere Bindungen ersetzt. In Laufe dieser 1848 beginnenden Entwicklung unterschieden sich die verfassungsrechtlichen Vorstellungen der mährischen Tschechen immer stärker von denen der Deutschmährer. Beide nationalpolitischen Lager betrachteten Mähren als Teil des ö ­ sterreichischen Gesamtstaats, dies allerdings auf völlig unterschiedliche Weise. Die mährischen Tschechen ersetzten das Streben nach einer Autonomie für das Land durch das Programm des staatsrechtlichen Föderalismus, der auf einer dreistufigen Hierarchie von Mähren, den böhmischen Ländern und Zisleithanien basierte. Das Streben nach Landesautonomie trat – auch wenn es nicht ganz verschwand – zugunsten der Verbundenheit der böhmischen Länder als Damm gegen das Übergewicht der Deutschen in Zisleithanien zurück. Aus nationalen Motiven ließ das böhmische staatsrechtliche Programm ursprünglich keinen Föderalismus eines einzelnen Landes und keine nationale Autonomie innerhalb eines Kronlandes zu, sondern verteidigte die regionale Kompaktheit der böhmischen Länder. Die Deutschen Mährens beharrten dagegen auf der Landesautonomie, sahen diese jedoch im Rahmen eines einheitlichen zentralisierten österreichischen Staates. Bis 1871 bemühten sie sich um eine staatspolitische Verbindung mit dem sich vereinigenden Deutschland, verzichteten aber auch nach der Gründung des deutschen Nationalstaats unter Ausschluss Öster­ reichs nicht auf das enge Bündnis mit dem Deutschen Reich. Trotz der zentralisti­ schen Staatsauffassung, die – wie die Autonomie Mährens – zunehmend national bedingt war, neigten sie im Unterschied zu den mährischen Tschechen auf der Ebene der Landespolitik zur Durchsetzung der ethnisch- oder sprachlichnationalen Autonomie in der Selbstverwaltung. Die Auseinanderentwicklung der staatsrechtlichen Positionen beider nationalpolitischer Lager Mährens war von Veränderungen der Inhalte und der Interpretation

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begleitet. Die staats- und verfassungsrechtlichen Akzente traten bei beiden nationalen Lagern gegenüber den politischen Kräfteverhältnissen und der Dynamik der sozialpolitischen Entwicklung der Gesellschaft Mährens sowie dem beiderseitigen Interesse, einen Modus Vivendi zu finden, in den Hintergrund. Trotz des formalen und floskelhaften Beharrens auf der ursprünglichen Programmatik zur staatsrechtlichen Zukunft Mährens ging die politische Praxis andere Wege und führte zur autonomen Lösung der nationalen Probleme in Mähren durch den Mährischen Ausgleich von 1905 und den zweiten Mährischen Ausgleich von 1914. Damit wurde zwar vermieden, dass Mähren seine verfassungsmäßige Selbstverwaltung infolge interner nationalpolitischer Auseinandersetzungen verlor, wie es im Jahr 1913 dem Königreich Böhmen geschah, als Landtag und Landesregierung durch die Annen-Patenten aufgehoben wurden.46 Doch bedeutete der Mährische Ausgleich – trotz der landespolitisch autonom gestalteten Lösung – nicht die Rückkehr zur alten politischen Idee einer Landesautonomie. Der integrale Nationalismus ließ nach 1900 auch in Mähren eine buchstabengetreue und konsequente Erfüllung der traditionellen staatsrechtlichen Programme nicht mehr zu,47 sondern führte dazu, dass beide Seiten konkrete nationale Teilinteressen innerhalb bestimmter – durch die machtpolitische und geographische Situation Mährens gegebener – Grenzen durchsetzten. Wenn sich die Deutschmährer auch nach dem Ausgleich weiter um eine Stärkung der nationalen Selbstverwaltung und die mährischen Tschechen um eine selbständige Lösung der mährischen Probleme bemühten, bedeutet dies, dass die beiden ursprünglichen verfassungsrechtlichen Forderungen zu leeren Formeln geworden waren. Zu ihrer Erneuerung trugen – allerdings unter radikal veränderten Bedingungen und somit auch mit anderen Konsequenzen – die Folgen des Weltkriegs bei.

46 K a rel K a zbu nda , Otázka česko-německá v předvečer Velké války. Konec ústavnosti země České tzv. annenskými patenty z 26. července 1913, Zdeněk Kárník (Hg.), Praha 1995. 47 Zu den Grenzen der Konzeptionen einer Landesautonomie und regionaler Programme in Mähren auch Luft  : Politische Kultur  ; Ders., Die Grenzen des Regionalismus  : das Beispiel Mähren im 19. und 20. Jahrhundert, in  : Philipp Ther – Holm Sundhaussen (Hg.), Regionale Bewegungen und Regionalismen in europäischen Zwischenräumen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Marburg an der Lahn 2003, 63– 85.

Eduard Mikušek, Litoměřice/Leitmeritz*

Bookseller and Journalist Johann Wilhelm Pohlig The story of Johann Wilhelm Pohlig is a small, so far neglected piece in the broad mosaic of the history of the 1848–1849 revolution in Bohemia and in the understanding of the economic activity of the newcomers from Germany in Northern Bohemia and The Habsburg Monarchy in general. The basis of Pohlig’s business activity was his bookselling enterprise, a field which to this day attracts the constant attention of historians as an indelible segment of the time’s literary culture. The latest Czech text on this theme, Na cestě k “výborně zřízenému knihkupectví” (The Journey to a Well-Equipped Bookshop) published in 2019, is an example of the continuing interest. However, for the publication’s authors, Pohlig remains overshadowed by the entrepreneur Karl Wilhelm Medau with whom he shared similar business interests as well as a location – the Northwestern district town of Litoměřice. Pohlig’s activity is mentioned only in one sentence  : “At the end of the period of our interest, there is, for example, Johann Wilhelm Pohlig, originally from Thuringia, apprenticed in Wei­mar, who later worked in Lviv and shortly thereafter bought bookshops in Teplice and Litoměřice (1845–1851).” The Dictionary of Printers, Publishers, Booksellers, and Bookbinders in 1749–1848 Bohemia, a sequel to their research published simultaneously, lists the same data.1 * Abbreviations  : c.: carton  ; ČG  : České gubernium/Bohemian Governor’s Office  ; Bd.: Band/volume  ; fol.: folio  ; g.: geheim  ; Hg.: Herausgeber  ; ibid.: ibidem  ; KÚ  : Krajský úřad/County Office  ; NA  : Národní archiv/National Archives  ; no.: number  ; OÚ  : Okresní úřad/District Office  ; s. d.: sine dato  ; sig.: signature  ; SOA  : Státní oblastní archiv/State Regional Archives  ; SOkA  : Státní okresní archiv/State District Archives. 1 Cl a ire M a dl – Mich a el Wögerbauer – Petr Píša, Na cestě k “výborně zřízenému knihkupectví”. Protagonisté, podniky a sítě knižního trhu v Čechách (1749–1848), Praha 2019  ; Dies., Buchwesen in Böhmen 1749–1848. Kommentiertes Verzeichnis der Buchdrucker, Buchhändler, Buchbinder, Kupfer- und Steindrucker, Wiesbaden 2019, 140–143 (Medau), 161 (Pohlig)  ; Norbert Bachleitner – Fr a nz M. Ey bl – Ernst Fischer, Geschichte des Buchhandels in Österreich, Wiesbaden 2000 discuss only the book market in what today geographically corresponds to Austria, similarly to K l aus Hey dem a n n, Deutsche Buchhändler in Österreich – zwischen Zuwanderung und “Verösterreicherung”, in  : Mark Lehmstedt (Hg.), Beiträge zur Geschichte des Buchwesens im frühen 19. Jahrhundert, Wiesbaden 1993, 115–134  ; Fr a ntišek Roubík, Časopisectvo v Čechách v letech 1848–1862, Praha 1930, 193–194 records three periodicals published by Pohlig  : Der Wegweiser, Österreichische Dorfzeitung and Das gemeinnützige Unterhaltungsblatt. Only the first two titles are repeated in Česká retrospektivní bibliografie. Řada 1  : Noviny. Díl 1  : Noviny České republiky od počátků do roku 1918. Část 1. Bibliografie, Brno 2008, 264 (Dorfzeitung) and 396 (Wegweiser).

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As an effective vehicle for the dissemination of ideas, the bookselling business did not escape the control of the government represented in the pre-March Austria by the Supreme Office for the Police and Censorship presided by Count Sedlnitzky.2 A partially burned dossier, the only surviving remnant of his files, shows well the level of governmental control and serves as a valuable source of information about the beginnings of Pohlig’s business activity in Litoměřice.3 Although Sedlnitzky exchanged letters with the police directory in Prague, at that time run by Josef Heyde, and with the Provincial chief archduke Stephen during the year 1847, the data mentioned in their correspondence go deeper into the past. The first document received by Sedlnitzky came from Lviv – a response about Pohlig’s activities from Sacher Masoch, the Lviv chief of police. In a letter written on February 4, 1847, Masoch reports that Pohlig’s conduct during his apprenticeship was exemplary and indicates that Pohlig possesses a good knowledge of the bookselling industry and to a certain degree of the literary field. Masoch further indicates that as an apprentice, Pohlig saved certain means, which enabled him, with additional help from his father-in-law, the bookseller Voigt from Weimar, to buy a bookshop in Litoměřice. A much more detailed response to Sedlnitzky’s inquiry came from Heyde. In a January 26th letter, Heyde specifies that Pohlig was indeed apprenticed with Voigt. He adds that instead of a cash dowry, Pohlig received from his father-in-law published books with the value of 10, 000 guilders. Heyde did not cite the source of his information. However, the registry of births and deaths now available on the website of the State Regional Archives in Litoměřice confirms the data.4 Besides the name and provenance of his wife, the registry recorded the dates and places of birth of Pohlig’s children  : sons Ernst Johann in 1847, Heinrich Paul Johann in 1855, Karl August Franz in 1858, and daughter Virginie Luisa Paulina in 1850, with the first two children born in Litoměřice, and the two younger ones in Teplice. The last record indicates Pohlig’s death in Teplice on April 5, 1859, as well as his birth on September 15, 1820, in Eisfeld, at that time part of the principality of Sachsen-Meiningen, and the date of his wedding on July 15th, 1846. Additionally, the names of godfathers and godmothers provide valuable documentation of Pohlig’s contacts in the bookselling industry where his father-in-law Bernhard Friedrich Voigt (1787–1859) was a prominent member.5 2 Mich a l Ch vojk a, Josef Graf Sedlnitzky als Präsident der Polizei- und Zensurhofstelle in Wien (1817– 1848), Frankfurt am Main 2010. On the issue of censorship in general most recently  : Mich a el Wögerbauer – Petr Píša – Petr Šá m a l et a ll., V obecném zájmu. Cenzura a sociální regulace literatury v moderní české kultuře 1749–2014, 2 vols., Praha 2015. 3 Österreichiches Staatsarchiv Wien, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Polizeihofstelle, no. 1547/1847. 4 Státní oblastní archiv (SOA) in Litoměřice/Leitmeritz, Matrikbücher, sig. N4/3, fol. 3 and 7, sig. N23/1, fol. 9 and 19, sig. N23/10, fol. I and II. 5 https://de.wikipedia.org/wiki/Bernhard_Friedrich_Voigt [29.10.2021].

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In 1844, J. W. Pohlig began working in Litoměřice under the printer K. W. Medau (1797–1866), who like him was an evangelical immigrant from Germany, one generation older than Pohlig. After the purchase of Medau’s bookselling license, Pohlig gains independence6 and despite the oppressive police censorship, does not hesitate to use illegal means, cleverly enough to escape consequences. A protocol of the financial guard in the police files of Sedlnitzky’s office for example recorded Pohlig’s potentially illegal acquisition practices in this way  : “Am 13. July 1846 als die Gefertigten Finanzwache Angestellten nach vollzogener Revision in der Geblitzer Brunstätte sich gegen den Ringplatz der Stadt Leitmeritz begaben, gewahrten dieselben einen Mann, welcher ein Paquet unter den Arm trug und gegen die Stadtkirche zueilte. Diesem Manne wurde nachgegangen, welcher in die Buchhandlung des Pohlig ging. Ehe die Gefällsangestellten in die Buchhandlung gelangten, war dieser Mann bereits fort, und sie fanden ein Paquet in einem Schnupftuche zusammengebunden auf dem Ladentische liegen, und auf Befragen gab Hermann Römer, der mit Bücherverkaufe beschäftigt war, an, es hätte dieses Paquet ein ihm unbekannter Mann gebracht, und dahin wo es gefunden wurde niedergelegt, und daß er ihm [sic  !] erst beim Hinausgehen gesehen, ohne mit ihm gesprochen zu haben. In diesem Paquete welches sich daher als herrenlos darstellt, und in Anstand gezogen wird, befindet sich …” A bookselling license opened doors to a publishing activity, which too was naturally subjected to the regulations of censorship put into practice by the bureaucratic apparatus led by the aforementioned Sedlnitzky’s office. At first, Pohlig avoided the difficulties regarding censorship by focusing on music. At least, Allgemeine musikalische Zeitung mentions his publishing activity for the first time on September 25, 1844, with a note  : “Im Verlage von J. W. Pohlig (Medau’sche Buchhandlung) in Leitmeritz erscheint mit Eigenthumsrecht  ; Kessler, J. C., Sechs Lieder für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte, op. 22 (and additional compositions by the same composer).” However, the expansion of focus to visual arts accompanied by extensive explanatory notes brought complications not foreseen by the text’s author Heinrich Matthäi (1808–1880), who was simultaneously the painter of printed vedutas (scenic news). His assumption  : “Deshalb erwarte man aber nicht Censurwidrigkeiten in diesen Reisebildern zu finden  !” had to be edited by the publisher  : “Das Manuscript war vor Entfesselung der Presse geschrieben. Seit 9 Monaten lag dasselbe in Wien auf der Censur, aus der es durch die Pressfreiheit erst erlöst wurde.”7 6 The Bohemian Gubernium issued a mandate about the acceptance of license and the granting of Austrian national citizenship on March 6, 1845. Národní archiv (NA) in Praha/Prague, České gubernium (ČG), no. 11877/1845. 7 Heinrich M at th äy, Böhmen in malerischen Ansichten und heitern Reisebildern. Mit 40, nach der Natur gezeichneten Stahlstichen, Leitmeritz s. d., Verlag und Eigenthum von J. W. Pohlig, 3. (Author’s introduction dated  : Teplitz, den 8. Juni 1847). Re author see  : H a ns Vollmer (Hg.), Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 24, Leipzig 1930, 260.

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The matter was not entirely clear, as the Supreme Office of Censorship sent it to Prague so that they could judge the repeated statements about the lack of order and cleanliness of visited sites, which reached extremes in the message  : “Alles noch im rohen Zustande, und dabei Höfe und Hausflur nicht nur verschmutzt, sondern – verzeihen Sie mir einen Ausdruck, den man aber im Braunschweigischen in den feinsten Gesellschaften hört – völlig verdreckt  !”8 As a painter of vedutas in Bohemia, Heinrich Matthäi remained neglected by art historians, most likely because only one copy of his publication survived.9 Nevertheless, not even the second volume of vedutas attracted much attention even though his study of Bohemian noble residences was published by Pohlig without the limitations of censorship and gained extensive circulation. Without a date, however with the town of Teplice as a place of publication, his scenes of the castles and chateaux of Bohemia were published individually under the collective name  : “Album der herrschaftlichen Landsitze und Schlösser im Königreich Böhmen”, with the subtitle “Nach der Natur und auf Stein gezeichnet von Woldemar Rau in Dresden”.10 The local Press Rau und Sohn oversaw printing the 126 vedutas, all in an oval format of 135 X 233 mm size.11 The official “Handbuch des Königreichs Böhmen” confirms that until 1847 Pohlig owned bookshops in Litoměřice as well as in Teplice (in 1846 only in Litoměřice).12 However, it does not specify whether the Teplice branch stayed open outside the spa season. In 1851, a change occurs, and the Teplice branch is transformed into the headquarters. Pohlig’s publishing activity becomes subjected to Teplice as well, not only with the highly-marketable vedutas of noble estates but above all with yearly guides through Teplice and its surroundings – altogether six paperback editions for years 1852–1857.13 The Litoměřice bookshop was later sold to August Schnürlein who continued running it under the well-established name J.G. Pohlig.  8 M at th äy, Böhmen in malerischen Ansichten, 50–51. It must be emphasized that this and other judgements of the author aren’t indications of a nationalistic bias against Czechs, as they all apply to regions with German residents.  9 A copy of M at th äy, Böhmen in malerischen Ansichten, the only one that I am familiar with, is kept in Národní knihovna Praha, sig. 19 C 200. However, the copy is incomplete. The text ends on the page 80 with only 11 steel engravings in total—only a quarter of the complete production numbered by Pohlig in 1849 in an advertisement on the last page of the published dictionary (see note 28)  : In 20 Lieferungen mit 41 Stahlstichen und 20 Bogen begleitenden Text in Novellenform. 10 Re author see  : Vollmer (Hg.), Allgemeines Lexikon, Bd. 28, Leipzig 1934, 36. 11 An anthology of 19 scenes in a reduced size was published under the title Václ av Váňa – Miloš K a dlec, Dobové litografie severočeských zámků, Ústí nad Labem 1989. 12 Handbuch des Königreichs Böhmen für das Jahr 1847, Prag 1847, 562  ; Handbuch des Königreichs Böhmen für das Jahr 1846, Prag 1846, 707. 13 Pohlig’s Vademecum für den Badegast in Teplitz und Schönau. Vollständiger und billigster Fremdenführer nach, in und um Teplitz, Teplitz s. d., Verlag von J. W. Pöhlig’s Buchhandlung (beim Caffeesalon).

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Pohlig directed his attention to the establishment of a library, publication of a newspaper, and his own press. He applied for a permit to open a library as early as November 1845. However, the permit was not granted until March 1849.14 As a result of a more severe post-revolution control, Pohlig did not avoid a house search – a reaction to a suspected bad influence on young students – and a confiscation of harmful books.15 In 1846, Pohlig applied for permission to publish his own magazine “Magazin für Unterhaltung und gemeinnützige Kenntnisse”, which was not granted.16 However, the abolition of censorship in March 1848 enabled Pohlig to publish his own newspaper. He received permission from the gubernatorial presidium the same month.17 However, he was not able to start publication for two more months on account of various unknown obstacles. On June 3, 1848, under Pohlig’s editorial office in Litoměřice, “Der Wegweiser” with a subtitle “Blätter für Belehrung und politische Unterhaltung” began circulating twice a week, and continued after a month, on July 1st (with Vol. 9) with a subtitle changed to  : “Volkszeitung für Belehrung und politische Unterhaltung.” Volumes 36 to 61 published between October and December came out with a subtitle “Österreichische Dorfzeitung”, which from January 1849 became the main title for the newspaper until its closing in the spring of the same year.18 The rejection of Pohlig’s application for his own press19 forced him to look for a substitute elsewhere. The first 31 volumes were published by C.W. Medau in Litoměřice. However, for reasons which were most likely financial, Medau was replaced by C. Gärtner in Dresden, and for the last eleven volumes from November 25 by Hermann Diller in Pirna. At the end of July, Pohlig moved his headquarters from Litoměřice to Teplice, only to announce in volume 36, in view of the end of spa season, the return of the editorial office to Litoměřice. The periodical’s run remains unknown. However, official as well as private sources confirm its broad circulation and popularity in social circles. At the end of 1848, a 14 SOA Litoměřice, Krajský úřad (KÚ) in Litoměřice, c. 3380, sig. 11/5-49. 15 NA, České místodržitelství, no. 9171/1851  ; Státní okresní archiv (SOkA) in Litoměřice, Okresní úřad (OÚ) in Litoměřice, no. 5/1851g. 16 NA, ČG – praesidiale, sig. 16/56, no. 73299/1846, 9569/1846, 10106/1846. 17 Ibid., no. 1978/1848, 30.3.1848. Original in  : SOA Litoměřice, KÚ Litoměřice, c. 3381, sig. 11/5-95. 18 The only known copy kept in Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek in Dresden Sig. Eph. hist 0078.m, and for scholars temporarily unavailable, comprises 22 volumes from January 3 to March 17. The complete “Wegweiser” with all of its 61 volumes is kept in the SOA Litoměřice. As far as I know, it is the only complete surviving copy, unknown to scholars. Prof. Höbelt had the opportunity to familiarize himself with it during his visit to the former archives branch in Žitenice. Hence its introduction in the study about Austrian German periodicals Die deutsche Presselandschaft is based on the autopsy  : Helmut Rumpler – Peter Urba nitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd. VIII. Politische Öffent­ lichkeit und Zivilgesellschaft. 2. Teilband  : Die Presse als Faktor der politischen Mobilisierung, Wien 2006). 19 SOA Litoměřice, KÚ Litoměřice, c. 3381, sig. 11/5-95.

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gubernium campaign was released in order to gain insight into the publication of newspapers and periodicals across the country. From the ten regions in Litoměřice addressed by the campaign, Lipová and Šluknov in the North, Libčeves in the West and Libochovice in the south confirm readership of “Wegweiser.” Moreover, the newspaper was circulating beyond the region’s borders. Master baker Josef Holitzer in Jirkov, for example, mentions the establishment of a readership club which had it among its offerings  : “besonders als eine Schmähschrift muß der Wegweiser von Leitmeritz bezeichnet werden.”20 A message from the Sloup estate sent on November 23rd, 1848, to the regional office confirms the conservative criticism of Pohlig’s paper in the Eastern part of the region  : “Von B. Leipa aus aber verbreiten sich noch fortwährend die der gegenwärtigen Ordnung feindseligsten Ansichten ganz im Sinne der in der deutschen Zeitung von Prag und dem leitmeritzer Wegweiser vertretenen demagogischen Bestrebungen.”21 A detailed analysis of all 61 published volumes with its (now unavailable) expansion published the following year 1849 under the name Österreichische Dorfzeitung would clarify the causes of this conservative critique. However, the pre-determined length of this contribution makes it possible to list only the most telling evidence of the trend observed and leaves a more thorough study for a future Czech version of this text. Above all stands the nationalistic idea of the unification of all Germans beyond state borders. It is repeated in every volume as a motto for domestic news reporting  : “… denn das Deutschland ist unsere Heimat.” The news published under the subtitle “Was geschieht’s daheim  ?” brings mostly information about the happenings in neighboring as well as more distant German states with special attention paid to the negotiations in the Frankfurt parliament. The heightened German nationalism which threatened the existence of the Habsburg Monarchy itself was disliked by the Habsburg authorities and of course by the Czechs. Gradually, it was losing attractiveness even in Germany, in the bilingual regions with no interest in exacerbating a nationalistic conflict. A sign of the diminishing appeal was the declining support for organizations, which under the name “constitutional”, later “German” formed local centers for the political engagement of Germans in the Bohemian Lands. A constitutional organization was founded in Litoměřice as well. At the beginning, Pohlig was elected to its presiding board and subjected his paper fully to its services. The published report about its activity is an excellent source of information about the organization.22 Naturally, the paper and its editor attracted the attention of the Czech side. Pohlig mocked their rejection and the critical text written by Karel Sa20 SOkA Chomutov/Komotau, Town Archives of Jirkov/Görkau, book no. 673. 21 SOA Litoměřice, KÚ Litoměřice, c. 3882, geheime Präsidialakten 1848, no. 23. 22 Der Wegweiser, 12.7.1848, 120  : At the Meeting of the Constitutional Club on July 10 agreed to publish the club’s negotiations in the pages of a local newspaper.

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bina, which was published in the magazine “Včela” (The Bee). He reprinted this letter in a verbatim translation as an example of a low-grade Czech criticism  : “Die deutsche Journalistik beginnt wieder zu koaxen wie die Frösche vor dem Regen. So scheint sich auch der Herausgeber des in Leitmeritz erscheinenden Wegweisers, ein Ausländer, gleich den Uibrigen die Aufgabe gestellt zu haben, die Čechen durch Lügen und boshafte Verdrehungen zu verunglimpfen  ; dies thut ein Ausländer, ein Kerl, auf dessen Verjagung gedrungen werden sollte  ; da er einer anderen Strafe gar nicht werth ist, und es nicht verdient, daß eine slavische Hand sich durch seine schmützigen Wangen besudeln sollte.”23 In the end, Pohlig did not avoid a physical attack, which however did not come from a “Slavic hand” but from Johann Kranich, the owner of Litoměřice leather factory. Kranich was disturbed by the published accusation of siding with Czechs, and possibly even more by the allegation that in order to harm the constitutional organization where he had previously been a member, he bribed its opposition.24 The incident caused such an uproar in the town that the regional sheriff Count Wratislaw sent a message to the gubernatorial presidium in Prague on November 10  : “Der Verleger des Leitmeritzer Wegweisers Pohlig, schon lange bei dem größten Theile der hiesiger Bürger wegen seiner offenbaren Unterstützung ultradeutscher Tendenzen /nicht sehr beliebt – gestrichen/ verhaßt, erhielt vor einigen Tagen von dem hiesigen Lederfabrikanten Kranich, der in einer der letzten Nummern des Weg­weisers als Antagonist des genannten Vereins angegriffen worden, einen B ­ esuch und wurde von Kranich wegen des erwähnten Ausfalls zur Rede gestellt und da sich Pohlig nach Kranichs Ansicht nicht genügend rechtfertigen konnte, /suchte ihm Letzterer das schlagende Gewicht seines Anrechtes mittelst einiger Ohrfeigen begreiflich zu machen. Diese handgreifliche Beweisführung gegen den Redakteur – gestrichen/ erstand daraus eine heftige Zurechtweisung Pohligs, deren Ende in einige Maulschellen ausartete. Pohlig soll beim Krim-Gericht geklagt haben, allein er hat keine Zeuge [sic  !]. Diese Demonstration gegen den Redakteur des Organs des konstit. Vereins blieb nicht verschwiegen und hat die Billigung des größten Theils der hiesigen Bürgerschaft erfahren.”25 Another incident started after the turning point of the revolution – the defeat of the October insurrection in Vienna, which transformed the atmosphere in social circles even as far as Litoměřice. Pohlig himself had to adjust. Starting from volume 23 Ibid., 26.7.1848, 160. “Včela” corrected the original Czech text after the publication of the first two volumes of the newspaper Der Wegweiser, 10.6.1848. 24 Der Wegweiser, 1.11.1848, 442  : “Also, Herr Kranich ist der Hauptagitator gegen den deutschen Verein in Leitmeritz  ; vielleicht weil er ein Haus voll Czechen hat  ; ein Keil treibt den andern. Herr Kranich äußerte, daß er sich alles kosten lassen wird, um den deutschen Verein zu sprengen.” 25 SOA Litoměřice, KÚ Litoměřice, c. 3882, geheime Präsidialakten 1848, no. 16.

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50 on November 22nd, he abandoned the motto “… denn das Deutschland ist unsere Heimat.” Additionally, he had to react to appeals for moderation to the journalists invited to Prague from the head of the gubernium Mecséry.26 Pohlig assures his readers that the direction of his periodical won’t change, not even under its new title “Österreichische Dorfzeitung”. Nevertheless, he explains this change with a commentary  : “Wir werden auch wie vor mit deutschen Mitteln – mit Redlichkeit und Wahrheit – sowohl für die Sache des deutschen Vaterlandes streiten, als auch den Ruhm und die Größe unseres Oesterreich verfechten.”27 However, it was hard to reconcile the verbal glorification of Austria with the praise of Robert Blum, a Frankfurt member of parliament, whose execution served the new Austrian government as a tool to publicly distance themselves from the German revolution while those in its favor saw Blum as a martyr, canonized in several pamphlets. With an advertisement, Der Wegweiser contributed to the distribution of one of these brochures that was published by Pohlig’s printer Hermann Diller from Saxon Pirna, just as it had done since its first volume with a variety of revolutionary literature distributed by Pohlig’s bookshop. Pohlig personally dedicated a biographical entry to Blum where he rejected his execution with words  : “Gegen alles Völkerrecht und alle Moral, standrechtlich erschossen am 9. Nov. 1848.” He did so in the pages of The Small Dictionary of Foreign Words, Historically Significant Places and Selected Personalities, whose author is hidden on the title page behind the name W. Johannes, without a doubt Johann Wilhelm Pohlig’s pseudonym.28 With this dictionary, and with 22 volumes of the weekly Österreichische Dorfzeitung, Pohlig’s publishing activity in Litoměřice comes to an end. After lengthy difficulties concerning censorship in the pre-March period, he publishes the above-mentioned work “Böhmen in malerischen Ansichten.” The last unnumbered pages of the dictionary served him as space for its advertisement complimented by the recommendation of the paper’s contents and its single (independent) apolitical supplement with the title  : “Gemeinnütziges und Unterhaltungs-Blatt”, subscription price included. Not even the paper’s termination saved Pohlig from the consequences of the renewed state press censorship, police house searches of his bookshop, and official watch over him, as we can see from the files of the newly established district council 26 Der Wegweiser, 13.12.1848, 555. 27 Ibid., 16.12.1848, 570. 28 W. Joh a n nes (Hg.), Kleines historisch-politisches und Fremdwörterbuch. Enthaltend  : eine Erklärung derjenigen Fremdwörter und Ausdrücke, welche in der Politik und im parlamentarischen Gebrauch öfters angewendet werden, sowie auch kurzgefaßte Notizen über Personen, Oerte und Gegenstände, an welche sich geschichtliche und politische Ereignisse knüpfen. In alphabetischer Folge. Ein nothwendiges Handbüchlein für Zeitungsleser und angehende Politiker, Leitmeritz [1849], in Commission bei J. W. Pohlig. The Dictionary of 109 pages is preceded by an introduction whose publication was dated  : “Leitmeritz, im Februar 1849.”

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(Bezirkshauptmannschaft) in Litoměřice. Following the order from the vice regency in Prague on November 11, 1851, about the dissemination of a forbidden publication, the district council chief attempted to delegate the Pohlig case to his colleague in Teplice.29 However, in Litoměřice, the case was only now coming to an end, and it was not until February 22nd 1857 when the answer of Litoměřice mayor Wotruba explained the interest in the matter and brought it to an official closure. In a reply to the local district council regarding Pohlig’s political standing, Wotruba writes  : “Gegen das moralische Verhalten des J. W. Pohlig läßt sich nichts einwenden, jedoch war seine politische Haltung namentlich im Jahre 1848 nicht mackellos, vielmehr hat derselbe als Herausgeber des damaligen Wochenblattes ‘der Wegweiser’ in diesem Falotte Artikeln aufgenommen, welche die politische Haltung der Stadt Leitmeritz bei den hohen und höchsten Stellen verdächtiget hat, und von den Bewohnern der Stadt Leitmeritz mit Unwillen zurückgewiesen wurde.”30 However, the late fifties were tragic. In February 1859, Ernst, Pohlig’s eldest son, dies of typhus. Two months later, on April 5, his father succumbs to the same illness. He is buried three days later in the Teplice cemetery. His widow Karolina, with three orphaned children—a nine-year-old daughter and three-year-old, and one-year-old sons, leaves Teplice and returns to Weimar where, after the death of her father Bernhard Friedrich Voigt in February of the same year, her brothers take charge of the family bookshop. After a certain time, Pohlig disappears from the memory of Litoměřice. He briefly reemerges in several short articles in the newspaper Leitmeritzer Tagblatt written by local archivist and museum studies scholar Heinrich Ankert. The articles were later reprinted in a slim compilation under the title “Allerlei aus dem jüngeren Leitme­ ritz”.31 After the war, Pohlig remains forgotten in Litoměřice until the publication of the History of the town of Litoměřice in 1997 where he and his newspaper are briefly mentioned in connection with the Revolution of 1848–1849.32 29 SOkA Litoměřice, OÚ Litoměřice, c. 1, no. 34/1851g.: “Uiber die gegenwertige politische Haltung des Buchhändlers Pohlig dürfte nur der teplitzer k. k. Bezirkshauptmann die verlangten Auskünfte zu geben im Stande seyn, da Pohlig bereits seit 1 ½ Jahre von Leitmeritz nach Teplitz übersiedelt ist, und dort seinen bleibenden Wohnsitz hat, daher auch die Verbreitung dieser Druckschrift eher von Teplitz als von Leitmeritz aus erfolgt seyn dürfte. Aus diesem Grunde wird auch gebeten, bei vorkommenden Bedenken oder Anzeigen gegen die Pohligsche Buchhaltung immer gleichzeitig die Teplitzer Bezirks­ hauptmannschaft zur Erhebung und Amtshandlungen anweisen zu wollen, weil Pohlig in Teplitz mehr Geschäfte macht, als in Leitmeritz, wo der Geschäftsführer sehr vorsichtig und wohlverhalten sey.” 30 SOkA Litoměřice, OÚ Litoměřice, c. 2, no. 5/1857g. 31 Heinrich A nk ert, Die erste Leihbibliothek in Leitmeritz, in  : Allerlei aus dem jüngeren Leitmeritz, Leitmeritz 1940, 10–12  ; Die Zeitungen des Leitmeritzer Kreises im Jahre 1849, in  : ibid., 16–18  ; Abgelehnte Dedikation, in  : ibid., 16. 32 Oldřich Kot yza – Ja n Smeta na – Jindřich Tom as et a l., Dějiny města Litoměřice, Litoměřice 1997, 262.

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In the historiography of Teplice, the second seat of his activity, Pohlig remained a marginal figure, an editor of vedutas of the Dresden lithographer J. Rau and an otherwise unknown local bookseller.33 Nevertheless, local patriotism remembered Pohlig indirectly. A Teplice local, Gustav Laube (1839–1923), a professor of geology and paleontology in Prague,34 nominated in 1893 his colleague, a professor in the same field in Bonn, for the corresponding role of a member of the Organization for the Advancement of German Sciences, Art, and Literature. His nomination was accepted and in the third year of its existence, the role of the corresponding member of the Organization was given to a Teplice local  : Hans Pohlig (1855–1937) who was connected to Bohemia not by the field of his work, but by the bookshop of his father – a fact remembered and emphasized in the nomination by Gustav Laube.35

33 Ja n K ili á n et a ll, Teplice, Praha 2015, 360. 34 https://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_Carl_Laube [29.10.2021]. 35 Masarykův ústav a Archiv Akademie věd České republiky, Gesellschaft für Förderung der deutschen Wissenschaft, Kunst und Literatur, c. 39.

Luboš Velek, Prag*

Politik »von begossenen Pudeln« Eine Episode der deutsch-tschechischen Versöhnungsversuche vor dem Ersten Weltkrieg

Die Jahre 1908 bis 1914 stehen für eine Phase intensiver Bemühungen der cisleithanischen Regierungen sowie der beiden nationalen politischen Vertretungen in Böhmen um die Versöhnung der Nationalitäten und die innere Stabilität in Cislei­thanien. Der böhmische Landtag wurde während des gesamten genannten Zeitraums durch die deutsche Obstruktionspolitik blockiert, da die Deutschböhmen mit der absichtlichen Zerrüttung der Landesfinanzen (mehrere Jahre wurde kein Landeshaushalt verabschiedet) ein Entgegenkommen der tschechischen Mehrheit gegenüber ihren Vorstellungen von einem Modus Vivendi beider Nationalitäten erzwingen wollten.1 Die Tschechen praktizierten wiederum eine – wenn auch nicht gänzlich konsequente – Obstruktionspolitik im Reichsrat. Eine Lösung für die staatsbedrohende Pattsituation konnte darin bestehen, so schnell wie möglich ein Abkommen über einen Natio­nalitätenfrieden zu schließen. Diese politisch äußerst schwierige Aufgabe wurde im Januar 1911 dem ehemaligen Ministerpräsidenten und mehrfachen böhmischen Statthalter Franz Thun anvertraut, der von den Repräsentanten beider Nationen respektiert wurde.2 Thuns Wahl erwies sich als Glücksgriff, da die ein Jahr dau* Der Artikel entstand im Rahmen des Projekts der Grant-Agentur der Tschechischen Republik Nr. 1702120S, Česko-německé vztahy v předvečer I. světové války. Edice dokumentů ze smiřovacích jednání v Čechách v letech 1913 a 1914 [Tschechisch-deutsche Beziehungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Dokumentenedition zu den Versöhnungsverhandlungen in Böhmen in den Jahren 1913 und 1914]. Der Autor dankt Lothar Höbelt nicht nur für die Hilfe bei der Projektbearbeitung, sondern vor allem für die langjährige Freundschaft und kollegiale Unterstützung. Abkürzungen  : A  : Abendausgabe  ; Ders.: derselbe  ; Dok.: Dokument Nummer  ; ebd.: ebenda  ; M  : Morgenausgabe  ; PTb  : Prager Tagblatt. 1 Die beste Bearbeitung des deutsch-tschechischen Ausgleichs, der Zerrüttung der Landesfinanzen und der Durchführung eines Verfassungsumsturzes in Böhmen stammt von  : K a rel K a zbu nda, Otázka česko-německá v předvečer Velké války. Zrušení ústavnosti země České tzv. anenskými patenty z 26. července 1913 [Die deutsch-tschechische Frage am Vorabend des Großen Krieges. Die Aufhebung der verfassungsmäßigen Verhältnisse des Landes Böhmen durch die sog. Annenpatente vom 26. Juli 1913], hg. v. Zdeněk Kárník, Praha 1995. 2 Luboš Velek, Ausgleichstatthalter. Die zweite Ernennung von Franz Graf Thun-Hohenstein zum Statthalter in Böhmen und die deutsch-tschechische Versöhnung, in  : Martin Klečacký – Martin Klement (Hg.), Führer, Akteure hinter den Kulissen oder tatenlos Zuschauende  ? Der deutsch-tschechische Ausgleich

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ernden Vorbereitungen der Versöhnungskonferenzen im Frühjahr und Frühsommer 1912 zu einer bemerkenswerten Übereinstimmung der beiden Nationaldelegationen bei zahlreichen, den Komplex des deutsch-tschechischen Ausgleichs bildenden Themen führten. Die Verhandlungen sollten mit Rücksicht auf die Erschöpfung der Politiker nach den Ferien fortgesetzt werden, um dem Abkommen seine endgültige Gestalt zu verleihen.3 Der erfahrene Politiker Thun fand jedoch kein Mittel, um zu verhindern, dass die technische Unterbrechung der Konferenz von den Feinden des Ausgleichs genutzt wurde, um dessen Abschluss zu vereiteln. Primär handelte es sich bei diesen Feinden um den Thronfolger, der sich 1912 von einem Unterstützer des Ausgleichs in einen scharfen Kritiker der erzielten Ergebnisse verwandelt hatte, und um die Armee, wo Franz Ferdinand nicht geringen Einfluss besaß. Um den Thronfolger scharte sich ab Sommer 1912 eine Gruppe von Ausgleichsgegnern, der hohe Beamte der politischen Verwaltung, einflussreiche Journalisten (Paul Samassa) und nicht zuletzt bürgerliche sowie adelige Politiker angehörten.4 Während die Motive des Thronfolgers, der Armee oder der Ministerialräte (z. B. Johann Eichhoff)5 einhellig waren und einen größtmöglichen Anteil deutscher Amtsführung sowie eine so einheitliche Staatsverwaltung wie nur eben möglich bewahren wollten, fielen die Motive der Politiker unterschiedlich aus. Einige waren von Anfang an Ausgleichsgegner gewesen, da ihre politische Stärke auf den nationalen Konflikten beruhte, andere vergrößerten durch die Kritik am Ausgleich ihren politischen Kredit bei den verunsicherten Wählern, und es gab auch P ­ ersonen, deren Kritik von ihrer persönlichen Abneigung gegen diejenigen geprägt war, die hinter dem bisherigen Ergebnis standen. Diese Einstellungen waren besonders im deutschböhmischen Lager sichtbar, wo zwischen den nationalen Fraktionen ein har-

an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aus der Perspektive der Vertreter der Staats- und Selbstverwaltung, Praha 2020, 77–113  ; Ja n Ga l a ndauer, Franz Fürst Thun. Statthalter des Königreiches Böhmen, Wien 2014, 257–264. 3 Diese Phase in den Verhandlungen über den deutsch-tschechischen Ausgleich dokumentiert die Quellenedition  : Eva Dr aša rová – Rom a n Hork ý – Jiří Šouša – Luboš Velek (Hg.), Promarněná šance. Edice dokumentů k česko-německému vyrovnání před první světovou válkou. Korespondence a protokoly 1911–1912 [Eine vergebene Chance. Dokumentenedition zum deutsch-tschechischen Ausgleich vor dem Ersten Weltkrieg. Korrespondenzen und Protokolle 1911–1912], 2 Bde, Praha 2008. 4 Vgl. zu den Einstellungen des Thronfolgers  : Dr aša rová – Hork ý – Šouša – Velek, Promarněná šance, Bd. 2, Dok. 365, 1336–1337  ; Eva Dr aša rová – M a rtin K lečack ý – M a rtin K lement – Luboš Velek (Hg.), Nedostatek odvahy ke smíru. Edice dokumentů k pokusům o česko-německé vyrovnání 1912–1915 [Mangel am Mut zur Versöhnung. Dokumentenedition zu den Versuchen um einen deutsch-tschechischen Ausgleich 1912–1915], Bd. 1, Praha 2021, Dok. 1, 10, 11, 15, 16, 29, 30, 32 und 101, 169–172, 212–218, 223–227, 252–254, 256 und 427–432 (weiter zitiert als Nedostatek odvahy). Vgl. Robert A. K a n n, Erzherzog Franz Ferdinand. Studien, Wien 1976, 127–156, hier  : 152. 5 Nedostatek odvahy, Bd. 1, Dok. 115, 458–460 und Bd. 2, Dok. 331, 970f.

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ter Konkurrenzkampf tobte. Deutlich zeigte sich so der Effekt des »Mangels am Mut« zum Friedensschluss,6 der doch in Reichweite zu sein schien. Alle Gegner stürzten sich im August und September 1912 hinter den Kulissen in den Kampf gegen den vorbereiteten Ausgleich. Ein geniales Instrument fanden sie im Erlass des Justizministers Victor Hochenburger, der die Tschechen im sensibelsten Moment zuverlässig vom Verhandlungstisch verjagte.7 Hinter der Intrige standen wohl der Innenminister Karl Heinold und der deutschböhmische Agrarier Gustav Schreiner. Während Heinold auf den allzu erfolgreichen Thun eifersüchtig war und sich zugleich beim Thronfolger einschmeicheln wollte, hasste der ehemalige Minister Schreiner Thun aus persönlichen Gründen. Der Plan, die Tschechen zu Totengräbern des Ausgleichs zu machen, ging jedoch nur teilweise auf. Diese zogen sich zwar von den Verhandlungen zurück und verlangten die Aufhebung von Hochenburgers Erlass, torpedierten jedoch nicht den Ausgleich an sich. Die vergehenden Wochen und Monate machten aus dem vorläufigen Abkommen jedoch einen Abreißkalender, bei dem das Maß seiner Verbindlichkeit sank, neue Themen und Lösungen auftauchten und zugleich im Kontext der sich steigernden Aktivitäten der Ausgleichsgegner der Druck auf eine Neubewertung der bereits vereinbarten Passagen wuchs.8 Nach Stürgkhs Genesung (September 1912) erkannte selbst die Regierung die Notwendigkeit an, ihre Haltung zu den vorläufigen Ergebnissen zu formulieren.9 Die Ausgleichsgegner verlagerten den von ihnen ausgeübten Druck allmählich vom Text des Abkommens auf die »Ursache allen Übels«, d. h. auf den Statthalter Thun. In ihm sahen sie einen Verbündeten der Tschechen und das Haupthindernis ihrer bisherigen Bemühungen, das vorläufige Ausgleichsabkommen zu revidieren.10 Am Ende stand ein politischer und gesellschaftlicher Boykott Thuns, dessen erste Welle an der Jahreswende 1912/1913 einsetzte.11 Ziel dieses Vorgehens war es, den  6 Vgl. Loth a r Höbelt, Ministerpräsident Graf Stürgkh und der böhmische Ausgleich, in  : Klečacký – Klement (Hg.), Führer, 55–75, hier  : 67  ; Ders., Max Egon II. und Österreich, in  : Heinrich Fürstenberg – Andreas Wilts (Hg.), Max Egon II. zu Fürstenberg – Fürst, Soldat, Mäzen, Ostfildern 2019, 151–171, hier  : 165.  7 M a rtin K lečack ý, Správní kousek ministra Hochenburgera. Rakouská justice a česko-německé vyrovnání před první světovou válkou [Ein administratives Husarenstück des Ministers Hochenburger. Die öster­ reichische Justiz und der deutsch-tschechische Ausgleich vor dem Ersten Weltkrieg], in  : Paginae hi­ storiae 27, 1/2019, 482–495  ; Ga l a ndauer, Franz Fürst Thun, 275f.  8 Nedostatek odvahy, Bd. 1, Dok. 89, 90, 98 und 118, 371–375, 407–423, 482–485 und Bd. 2, Dok. 351 und 353, 1040–1044 und 1046–1053.  9 Nedostatek odvahy, Bd. 1, Dok. 97, 100 und 117, 398–406, 425–427 und 462–482  ; K a zbu nda, Otázka, 139. 10 Nedostatek odvahy, Bd. 1, Dok. 226 und 231, 706–708 und 715  ; Ga l a ndauer, Franz Fürst Thun, 236– 239. 11 Ebd., 227–230  ; K a zbu nda, Otázka, 142.

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tschechophilen Thun zum Rücktritt bzw. das Kabinett Stürgkh zu dessen Abberufung zu bewegen. Der Boykott des Statthalters schien äußerlich gesehen von unten auszugehen, vor allem von Seiten des Volksrats der Deutschen für Böhmen, aber hinter den Kulissen war in dieser Sache von Anfang an Thuns persönlicher Feind Schreiner engagiert.12 Thuns Stellung erwies sich jedoch als fest, da er weiterhin das Vertrauen Stürgkhs und des alten Monarchen besaß. Während Parteien und Regierung lange Monate versuchten, eine neue Position zum Problem des Ausgleichs zu finden, spitzte sich die Lage der Landesfinanzen dramatisch zu. Ihr fataler Zustand sowie die Ausweglosigkeit im Hinblick auf ein baldiges Abkommen der beiden Nationalitätenvertretungen bewegten die Regierung im Juli 1913 dazu, einen Verfassungsumsturz in Böhmen durchzuführen, der unter der Bezeichnung »Annenpatente« bekannt ist. Auf der Basis dieser Patente wurde der nicht funktionsfähige Landtag ebenso aufgelöst wie der Landesausschuss, neue Wahlen wurden jedoch nicht ausgeschrieben und die Verwaltung des Landes einer vom Kaiser ernannten Landesverwaltungskommission anvertraut.13 Damit war eine neue Situation entstanden, auf die alle Seiten reagieren mussten. In den Augen vieler Betrachter waren primär die Deutschen besiegt worden, denen die Regierung mit ihrem überraschenden Schritt die Waffe der Obstruktion aus der Hand geschlagen hatte, um danach mit der Sanierung der zerrütteten Finanzen zu beginnen. Aber auch die Tschechen waren nicht begeistert, da sie mit der Liquidierung der Landesselbstverwaltung die letzten Reste ihres historischen Staates eingebüßt hatten. Ihr Widerstand gegen die Annenpatente erreichte allerdings keine mit der Ablehnung der Deutschen vergleichbare Intensität. Die Verbitterung der Deutschen fand im August ihren Ausdruck in einer überparteilichen Versammlung deutscher Vertrauensmänner in Komotau/Chomutov, wo ungefähr 350 Personen aus den Reihen von Abgeordneten, Vertretern politischer Parteien, Journalisten und verschiedenen nationalen Organisationen zusammentra12 Nedostatek odvahy, Bd. 1, Dok. 111, 450–452. 13 Detailliert zu den Annenpatenten  : K a zbu nda, Otázka, 179–244  ; weiter K a rel Kučer a, K pozadí příprav anenských patentů [Zum Hintergrund der Vorbereitungen der Annenpatente], in  : Karel Malý (Hg.), Collectanea opusculorum ad iuris historiam spectantium Venceslao Vaněček septuagenario ab amicis discipulisque oblata / Pocta akademiku Václavu Vaněčkovi k 70. narozeninám, Praha 1975, 209–227  ; Zdeněk Ša mberger, Správní předzvěst rozpadu habsburské monarchie. (Ke zrušení ústavnosti země České tzv. Anenskými patenty z 26. července 1913 – komentář k rukopisu K. Kazbundy) [Ein administratives Vorzeichen für den Zerfall der Habsburgermonarchie. (Zur Aufhebung der verfassungsmäßigen Verhältnisse im Land Böhmen durch die sog. Annenpatente vom 26. Juli 1913 – ein Kommentar zum Manuskript von Karel Kazbunda), in  : Sborník archivních prací 39, 1/1989, 221–254  ; Ger a ld Stourzh, Verfassungsbruch im Königreich Böhmen. Ein unbekanntes Kapitel zur Geschichte des richterlichen Prüfungsrechts im alten Österreich, in  : Bernd-Christian Funk (Hg.), Staatsrecht und Staatswissenschaften in Zeiten des Wandels. Festschrift für Ludwig Adamovich zum 60. Geburtstag, Wien 1992, 675–690.

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fen, wobei dem Volksrat die größte Bedeutung zukam. Die Resolution wiederholte Forderungen der Deutschböhmen wie die Ablehnung des Oktrois der Landtagswahlordnung, die vorrangige nationale Abgrenzung oder eine abgesicherte gleichberechtigte Vertretung der Deutschböhmen unter den Landesbeamten usw. Den meisten Sprengstoff enthielt allerdings die von den Abgeordneten Schreiner und Hartl vorgeschlagene Passage, in der die Abberufung Thuns und die Einsetzung eines unparteiischen Statthalters verlangt wurde. Thuns Politik wurde einer scharfen Kritik unterzogen und gefordert, dass die deutschen Unterhändler künftig die Teilnahme an allen Verhandlungen über den Nationalitätenfrieden verweigern sollten, falls Thun böhmischer Statthalter bleibe  !14 Die Verhängung der öffentlichen Acht über den verhassten Statthalter übernahm vor allem der Volksrat, der in Zusammenarbeit mit Schreiner die zweite Boykottwelle gegen Thun in Gang setzte.15 Hauptregisseur der Komotauer Versammlung war neben Schreiner und Josef W. Titta vom Volksrat noch Adolf Bachmann, Vorsitzender der Deutschen Fortschrittspartei und neuerdings ein weiterer Kämpfer gegen Thun.16 In der Praxis erwies es sich jedoch als schwierig, die Komotauer Forderungen zu verwirklichen, und außerdem wurde nicht gesagt, was passieren sollte, wenn Thun im Amt verblieb. Die Deutschen selbst hatten ein eminentes Interesse an der Funktionsfähigkeit des Reichsrats, wo für sie wichtige Finanzgesetze (sog. kleiner Finanzplan) und die Dienstpragmatik verhandelt wurden. Ein Austritt der Deutschen aus der Regierungsmehrheit hätte diese Gesetze begraben und dafür gesorgt, dass die deutsche nationalliberale Fraktion die Unterstützung der Beamtenschaft sowie das Entgegenkommen des Herrschers verloren hätte. Auch die Regierung hatte ein unmittelbares Interesse an der Leistungsfähigkeit des Reichsrats. Bei den Tschechen fehlte zwar ein vergleichbar starkes Motiv, aber in der Frage der Obstruktion im Reichsrat waren die tschechischen Parteien gespalten. Ministerpräsident Karl Stürgkh sah in der Komotauer Resolution vermutlich nur einen Sturm im Wasserglas der Zeit, da sie zu keinerlei unmittelbaren Konsequenzen führte. Daher gelangte er zum Schluss, dass mehr als ein Jahr nach dem Scheitern der letzten Runde in den Versöhnungsverhandlungen ein geeigneter Moment gekommen sei, um die Verhandlungen wiederaufzunehmen. Alle Parteien waren nämlich unzufrieden – die Tschechen mit Hochenburgers Erlass und den Annenpatenten, die 14 Resolution siehe Nedostatek odvahy, Anlage V, 1356–1375. Siehe auch  : Mitteilungen der Deutschen Fortschrittspartei in Böhmen, Prag [1914], 9f.; Ga l a ndauer, Franz Fürst Thun, 236  ; Berthold Wa ldstein-Wa rtenberg, Der letzte Ausgleichsversuch in Böhmen vor dem ersten Weltkrieg, in  : Donauraum 4, 1959, 67. 15 Nedostatek odvahy, Bd. 1, Dok. 226 und 231, 706–708 und 715  ; Ga l a ndauer, Franz Fürst Thun, 236– 239. 16 Zu Bachmanns unverhältnismäßiger Kritik an Thuns Verwaltung vgl. Mitteilungen der Deutschen Fortschrittspartei, 8f.

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Deutschen mit den Annenpatenten und der Unfähigkeit, sich Thuns zu entledigen. Handelte es sich aber wirklich um jene schöpferische wohltemperierte Unzufriedenheit à la Taaffe  ? Stürgkh plante, zunächst Vorkonferenzen einzuberufen, auf denen die Standpunkte der beiden Nationalitäten zu einer eventuellen Wiederaufnahme der Verhandlungen sondiert, das Maß der Verbindlichkeit der vorläufigen Ergebnisse vom Sommer 1912 festgestellt und die formalen wie prozessualen Aspekte eventueller neuer Konferenzen abgesprochen werden sollten. Besonders die letzte Frage war von äußerster Wichtigkeit, da alle Versöhnungsverhandlungen bisher auf der Basis des böhmischen Landtags stattgefunden hatten. Dieser existierte aber nicht mehr und eben so wenig gab es noch Landtagsabgeordnete. Stürgkhs Entschlossenheit, die auf ein Jahr des Abwartens folgte, mag im Oktober 1913 manch einem imponiert haben. Aber es fanden sich auch vorsichtige Politiker, die eine Einberufung dieser Konferenzen für verfrüht und ungenügend vorbereitet hielten. In erster Linie galt dies für den Statthalter Thun. Allerdings war es durchaus einfach, Schwierigkeiten vorherzusehen, und diese sollten sich auch postwendend einstellen. Die tschechischen Radikalen lehnten die Teilnahme an den Konferenzen brüsk ab. Die Nationalsozialen begründeten ihre Weigerung mit der Ablehnung der Annenpatente, der antitschechischen Regierungspolitik, der Konferenz als bloßem Mittel zum Zweck (die Regierung benötigte einen arbeitsfähigen Reichsrat), der fehlenden Kompetenz des Reichsrats, über reine Landesangelegenheiten zu verhandeln usw.17 Eine noch effektvollere Ablehnung erhielt der Ministerpräsident vom Vorsitzenden der staatsrechtlich-fortschrittlichen Partei Antonín Sobotka – dieser lehnte es ab, die Einladung von einem Beamten der Statthalterei entgegenzunehmen, da sie in deutscher Sprache verfasst war. Anschließend lehnte er die Teilnahme mit ähnlichen Begründungen wie die Nationalsozialen ab.18 Kleinere Komplikationen gab es auch bei den tschechischen Agrariern. Deren Vorsitzender Antonín Švehla lehnte es wie üblich ab, sein Gut in Hostivař bei Prag zu verlassen, aber neben Karel Viškovský und Josef Žďárský entsandte die Agrarpartei noch František Staněk nach Wien. Dieser war zwar Obmann des Agrarierklubs im Reichsrat, aber für einen mährischen Wahlbezirk gewählt worden und hatte so theoretisch nichts mit dem böhmischen Ausgleich zu tun. Die Jungtschechen schickten Karel Kramář und Josef Fořt, eine Einladung erhielt außerdem der Alttscheche Jindřich Šolc. Stürgkh wollte den Beginn der Konferenzen so weit wie möglich »in feierlicher Form« gestalten.19 An den Vormittagsverhandlungen der tschechischen Delegation mit dem Ministerpräsidenten nahmen im Ministerratspräsidium in der Herrengasse am 15. Oktober 1913 auch Innenminister Heinold und Statthalter Thun teil. Die 17 Nedostatek odvahy, Bd. 2, Dok. 268, 828–830  ; vgl. K a zbu nda, Otázka, 323–324. 18 Nedostatek odvahy, Bd. 2, Dok. 266 und 272, 824–826 und 833–834. 19 Die Begründung des Beschlusses der Deutschen, in  : PTb, 16.19.1913, 1.

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Verhandlungen verliefen konstruktiv, man besprach die formalen und prozessualen Aspekte der angedachten Konferenzen. Die Regierung sollte für die beiden nationalen Delegationen »konkrete Vorlagen« vorbereiten, »aus denen der Standpunkt der Regierung deutlich wird«20 und die sich auf die Landesordnung, die Wahlordnung und der Sprachengebrauch bei Staats- und Selbstverwaltungsbehörden beziehen sollten. Die Tschechen schlugen der Regierung vor, die Sozialdemokraten hinzuzuziehen, was Stürgkh allerdings von der – wenig wahrscheinlichen – Zustimmung der Deutschen abhängig machte. Die tschechischen Delegierten versprachen danach, das von der Regierung vorgeschlagene Vorgehen ihren Parteien zur Besprechung vorzulegen. Als das Treffen mit den Tschechen beendet war, begann jedoch eine der bizarrsten Episoden der Versöhnungsverhandlungen. Die deutsche Delegation (Rafael Pacher, A. Bachmann, Karl Urban, Eduard Krützner, G. Schreiner, Friedrich Legler und Julius Roller), die für vier Uhr nachmittags zu Stürgkh geladen worden war, saß bereits gegen drei Uhr im Parlament, um vor der Begegnung über ihr Vorgehen zu beraten. Nach vorläufigen Konsultationen mit der Regierung sollten die Deutschen nur mit Stürgkh und Heinold über die prozessualen Seiten eventueller künftiger Konferenzen verhandeln, während Thun erst im Fall einer Debatte um meritorische Fragen hinzugebeten werden sollte. Mit diesen Verhandlungen rechnete man allerdings frühestens in der kommenden Woche. Außerdem forderten die Deutschen, dass die Regierung in den Verhandlungen eine aktivere Rolle spielen und Thun in den Hintergrund treten solle. Das Treffen wollten sie offensichtlich für eine Beschwerde über Thun ausnutzen und die Frage seines möglichen völligen Ausschlusses von den künftigen Konferenzen anschneiden. Sie rechneten fest damit, dass die Regierung ihre Abneigung gegen Thun respektieren werde, die sie in der Komotauer Resolution offen geäußert hatten. Jedoch kam am Nachmittag des 15. Oktober von den Tschechen die Nachricht, dass an den Vormittagsverhandlungen im Palais Modena auch Thun vollberechtigt teilgenommen habe und die Verhandlungen sich nicht nur auf formale und prozessuale Fragen beschränkt hatten, sondern der anwesende Thun zu einem gewissen Unwillen des Ministerpräsidenten auch den meritorischen Aspekt angesprochen habe. Die Deutschen, denen die Komotauer Resolution jede Verhandlung mit Thun verbot, reagierten erregt und stimmten darüber ab, ob sie überhaupt an dem Treffen teilnehmen sollten. Mit einem Stimmverhältnis von 5   : 3 (andere Quellen sprechen allerdings von »Einmütigkeit«) wurde beschlossen, den Widerstand gegen Thuns Anwesenheit fortzusetzen. Der Obmann des deutschböhmischen Abgeordnetenverbandes Pacher wurde beauftragt, beim Ministerpräsidenten augenblicklich telefonisch gegen die Änderung der versprochenen Tagesordnung und gegen Thuns Anwesen20 K a zbu nda, Otázka, 327  ; Ota k a r Fr a nk enberger – J. O. Kubíček, Antonín Švehla v dějinách československé strany agrární [Antonín Švehla in der Geschichte der tschechoslowakischen Agrarpartei], Praha 1931, 328–329.

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heit zu protestieren. Stürgkh bestand jedoch während des »längeren telephonischen Gesprächs« auf Thuns Präsenz und erklärte sich mit diesem »solidarisch«. Die Abgeordneten beharrten jedoch auf ihrem Standpunkt und nach mehreren weiteren Telefonaten lud Stürgkh Pacher zu einem Vieraugengespräch ein. Dieser stimmte zu und begab sich ins Palais Modena. Während Pacher mit Stürgkh verhandelte, warteten Heinold und Thun im Nebenraum. Pachers persönliches Gespräch mit Stürgkh dauerte von halb fünf bis halb sieben und hatte einen »sehr dramatischen Charakter«. Die übrigen deutschen Delegierten saßen in der Zwischenzeit im unweit gelegenen Café Central. Von dort entsandten sie nach einiger Zeit Schreiner auf Erkundungstour zum Sitz des Ministerrats. Das Prager Tagblatt schrieb allerdings, dass Pacher selbst Schreiner aus dem Kaffeehaus ins Ministerratspräsidium rufen ließ, um sich mit ihm über den Verlauf des unterbrochenen Gesprächs bei Stürgkh zu beraten. Nach dem zweistündigen Gespräch mit Stürgkh, das eher einem Streit glich, erklärte Pacher die Konferenz schließlich für abgebrochen und bezeichnete Thuns Einladung als »eine Demonstration gegen die Deutschen«. Danach ging er gemeinsam mit Schreiner ins Kaffeehaus, wo sie den übrigen Delegierten Folgendes mitteilten  : »[D]ie Ausgleichsverhandlungen hat Fürst Thun zum Scheitern gebracht, bevor sie noch begonnen haben.« Alle Abgeordneten zogen sich danach ins Parlament zu Beratungen zurück.21 Damit war ein Skandal auf der Welt, der lange einzigartig bleiben sollte. Allerdings war die Geschichte damit noch nicht zu Ende. Am nächsten Tag trafen Stürgkh, Heinold und Thun mit Vertretern der beiden Parteien der böhmischen Großgrundbesitzer zusammen. Hier kam es zu einem unangenehmen Auftritt zwischen Stürgkh und Baernreither, da der Letztgenannte für das Scheitern der Verhandlungen am Tag zuvor einzig und allein Stürgkh verantwortlich machte. ­Damit bekundete er wohl seine langjährige Antipathie gegenüber dem Parteikollegen Stürgkh.22 Es sollten noch weitere Skandale folgen. Allmählich kam zum Vorschein, 21 Wa ldstein-Wa rtenberg, Der letzte Ausgleichsversuch, 72  ; Der Zweck der Vorkonferenzen, in  : Bohemia, 14.10.1913 M, 2  ; Die Konferenzen bei Stürgkh, in  : Bohemia, 15.10.1913 A, 1  ; Abbruch der Wiener Konferenzen, in  : Bohemia, 16.10.1913 M, 1  ; Die Konferenzen der Deutschen mit Stürgkh unterblieben, in  : PTb, 16.10.1913 M, 1  ; Besprechung im Nationalverband, in  : PTb, 16.10.1913 M, 8  ; Die Verhandlungen der Deutschböhmen, in  : Neue Freie Presse, 16.10.1913 M, 3. 22 K a zbu nda, Otázka, 328–329  ; Děčínská melancholie [Tetschener Melancholie], in  : Národní listy, 20.2.1914, 1. Zu Baernreithers Verhalten vgl. Nedostatek odvahy, Bd. 2, Dok. 278, 844–845 und Anhang X/21, Brief von Franz Thun an seinen Bruder Jaroslav 20.10.1913, 1444–1445. Bei Baernreithers angespanntem Verhältnis zu Stürgkh handelte es sich um einen seit langen Jahren bestehenden Zustand. Baernreither hielt Stürgkh für den Schuldigen am Scheitern des Ausgleichs  : Josef M. Ba ernreither, Der Verfall des Habsburgerreiches und die Deutschen. Fragmente eines politischen Tagebuches 1897–1917, hg. v. Oskar Mitis, Wien 1939, 188  ; Ders., Fragmente eines politischen Tagebuches, hg. v. Joseph Redlich, Berlin 1928, 266–269, besonders 268. In dieser Herangehensweise an den Ausgleich sollte Stürgkh mit dem Thronfolger übereingestimmt haben. Vgl. ebd. 192 und 218. Zu Baernreithers Behauptungen an die Adresse Stürgkhs vgl. Höbelt, Ministerpräsident, 71. Die Diskussionen in der österreichischen Li-

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dass Minister Hochenburger in den Skandal vom 15. Oktober involviert war und dass die deutsche Seite gerade ihn gern anstelle von Thun bei den Verhandlungen mit der Regierung gesehen hätte  !23 Leider ist kein Protokoll über die Verhandlungen mit den Tschechen oder den Großgrundbesitzern überliefert und es fehlt ebenso ein authentisches Dokument über die unmittelbare Reaktion des erniedrigten Stürgkh. Thun schrieb allerdings einige Zeit später an seinen Bruder, dass der Ministerpräsident »wütend« gewesen sei.24 Äußersten Unwillen über das Verhalten der Deutschen äußerte am 15. Oktober während einer abendlichen Soiree bei Hof auch der Kaiser. Er hielt sich mit scharfen und für ihn ungewöhnlich vulgären Ausdrücken an die Adresse der Deutschen sowohl vor Stürgkh als auch vor Friedrich II. von Schwarzenberg nicht zurück  : »Schwarzenberg … erzählte mir, dass Seine Majestät sich ihm gegenüber in ungewöhnlich scharfer Weise über die Stellungnahme der Deutschen ausgesprochen hätte. Der junge Radetzki, der neben meinem Schwager stand, hat einige scharfe Ausdrücke gehört und gefragt, ob diese wirklich gefallen seien  ; mein Schwager erklärte, diese Ausdrücke nicht gehört zu haben, hat aber Angst, dass doch etwas davon in irgendeiner Relation über die Hofsoirée erscheinen könnte.«25 Das Verhalten der Deutschböhmen empörte die gemäßigten deutschen politischen Kreise in ganz Cisleithanien.26 In der Wiener Elite herrschte Erregung über ein mögliches Ende der Regierung.27 In Prag grenzten sich die deutschen Agrarier gegen das Vorgehen der deutschen Delegierten ab, obwohl Schreiner ihr Mitglied war.28 Die Welle ablehnender Reaktionen überraschte die eigentlichen Urheber des Skandals, die sich (Pacher, Schreiner und Roller) am 16. Oktober mit den verfassungstreuen Großgrundbesitzern (Heinrich Nostitz-Rieneck und J. M. Baernreither) im Hotel Sacher trafen, um von ihnen Informationen über deren Gespräche mit der Regierung zu erhalten. Nostitz verließ das Hotel Sacher mit der Überzeugung, dass die Deutschen sich der »Dummheit« ihrer Entscheidung bewusst seien  ; sie machten auf ihn den »Eindruck von begossenen Pudeln«, die jetzt nicht wussten, wie sie teratur über die Schuldigen am Scheitern der deutsch-tschechischen Ausgleichsverhandlungen fasste zusammen  : A lex a nder Fussek, Die Frage des böhmischen Ausgleichs vor Beginn des Ersten Weltkrieges, in  : Österreich in Geschichte und Literatur 11, 1967, 69. 23 Stürgkh gab Hochenburger seinen Unwillen in einem Brief zu verstehen, in dem er ihn als Exponenten der deutschen Parteien behandelte und ihm deutlich zu verstehen gab, dass es der tschechischen Seite niemals auch nur eingefallen sei ihm zu diktieren, wer bei den Verhandlungen die Regierung vertreten solle und wer nicht. Nedostatek odvahy, Bd. 2, Dok. 275, 838–839. Vgl. Die verweigerte Zuziehung Hochenburgers, in  : PTb, 16.10.1913 A, 1. 24 Nedostatek odvahy, Bd. 2, Anlage X/21, 1444–1445. 25 Ebd., Bd. 2, Dok. 276 und 278, 839–842 und 844–845. 26 Siehe z. B. Die Ausgleichskonferenzen in Gefahr, in  : Reichspost, 16.10.1913, 4. 27 Josef R edlich, Schicksalsjahre Österreichs. Die Erinnerungen und Tagebücher Josef Redlichs 1869–1936, Bd. I, hg. v. Fritz Fellner – Doris A. Corradini, Wien 2011, Eintrag 16.10.1913, 563. 28 Nedostatek odvahy, Bd. 2, Dok. 276, 842  ; Wa ldstein-Wa rtenberg, Der letzte Ausgleichsversuch, 72.

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aus dem Schlamassel herauskommen sollten. Am stärksten frustrierte die Deutschen aber angeblich die Erkenntnis, dass das Kabinett Stürgkh nicht deutsch sei und Thuns Position bei Stürgkh wie beim Kaiser unerschütterlich fest stehe.29 Der Weg vom Erkennen der Dummheit bis zu deren Korrektur war jedoch lang. Es gab zahlreiche Ursachen für das Verhalten der deutschen Parteien, beginnend mit einer Furcht vor dem Ausgleich über das Misstrauen in die eigene Fähigkeit, am Verhandlungstisch die ehrgeizigen Ziele durchzusetzen, die man den Wählern mitgeteilt hatte, bis hin zu Misstrauen gegenüber dem Oktroi bei gleichzeitigem Bewusstsein, dass ein Oktroi vermutlich der einzige Weg war, um einen Ausgleich zu erreichen. Frustrierend war für die Deutschen auch die Unmöglichkeit, sich des Statthalters Thun zu entledigen. Die Beschuldigung, dass dieser nicht nur bei den Ausgleichsverhandlungen, sondern allgemein in seiner Amtsführung zu den Tschechen halte, ließ objektive Beweise vermissen, die von der Öffentlichkeit allerdings auch nicht gebraucht wurden.30 Die Radikalen hielten an ihren Positionen noch intensiver fest,31 obwohl die Desillusionierung aufgrund des gescheiterten harten Kurses auch für sie vernichtend war – der Obmann des Volksrats J. W. Titta distanzierte sich einen Monat später vertraulich von der Hetzkampagne gegen Thun und schob die Verantwortung für die Komotauer Resolution ausschließlich A. Bachmann zu.32 Schreiner dagegen gab seinen Feldzug gegen den Statthalter nicht auf und versuchte, den Thronfolger gegen Thun aufzuhetzen.33 Ein Teil der deutschen Politiker begann sich aber ab Herbst 1913 offen von der extremen Politik gegenüber dem Statthalter und dem Versöhnungsprozess zu distanzieren. Den verfassungstreuen Großgrundbesitzern fiel jetzt die undankbare Rolle zu, die Beziehungen der Deutschen zu Regierung und Statthalter wieder zu verbessern. Daher schlug H. Nostitz-Rieneck Pacher vor, dass die deutschen Politiker ein Memorandum verfassen sollten, in dem sie ihre Beschwerden über Thuns Amtstätigkeit zusammentrugen. Das Memorandum könnte dann als objektive Grundlage dienen, um die Relevanz der deutschen Vorbehalte zu klären. Pacher stimmte zu, aber Thun lehnte es entschieden ab, seine Entscheidungen vor den Deutschen in Anwesenheit des Ministerpräsidenten überprüfen zu lassen. Er schlug vor, dass die Deutschen ihr Memorandum ihm selbst übergeben sollten, und versprach, dass er mit ihnen darüber diskutieren werde. Dazu kam es jedoch nie und Urban vertraute dem Statthalter am 3. November 1913 an, dass die Deutschen eigentlich keine konkreten Vorbe-

29 Nedostatek odvahy, Bd. 2, Dok. 276, 839–842. 30 Ebd., Dok. 287 und 292, 856–861 und 867–870. 31 Ebd., Dok. 277 und 285, 842–843 und 852–854. 32 Ebd., Dok. 302, 911–914  ; vgl. auch ebd., Dok. 322, 957. 33 Ebd., Dok. 285, 852–854.

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halte gegen Thun hätten, sondern ihn nur nicht im Amt sehen wollten und sich daran kaum etwas ändern werde.34 Die Regierung geriet Mitte Oktober 1913 in der weiteren Behandlung der deutsch- tschechischen Frage ins Stolpern. Es blieb nichts anders übrig, als zu warten, bis irgendetwas geschah. Stürgkh wollte das Problem aussitzen und machte mit seiner Taktik am 18. Oktober auch die Regierung vertraut. Es handelte sich aber weniger um eine Taktik als um Ratlosigkeit. In diesem Moment hoffte die Regierung inständig, dass die Tschechen in der Zwischenzeit nicht wild würden, dass sie die Deutschen nicht durch irgendeine Deklaration reizten und vor allem – dass sie die Hinhaltetaktik der Regierung teilten. Stürgkh hoffte außerdem, dass die sich zuspitzenden Beziehungen zwischen der Monarchie und Serbien die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von der Innen- auf die Außenpolitik verschieben würden.35 Erschwert wurde die Lage noch durch die Tatsache, dass am 21. Oktober 1913 der Reichsrat zusammentrat, um über wichtige Finanz- und Militärvorlagen zu sprechen. Die Entschlossenheit der tschechischen Radikalen, nach dem Motto Ohne Landtag kein Reichsrat Obstruktion gegen das Parlamentshandeln zu leisten, stieß allerdings auf die Lauheit der Jungtschechen und Teile der Agrarier. Ergebnis des tschechischen Kampfgeistes war eine gemeinsame Interpellation der tschechischen Parteien an den Ministerpräsidenten wegen der Annenpatente, die das Parlament für einige Tage blockierte.36 Stürgkh verteidigte den Umsturz in Böhmen mit der Notlage der dortigen Verhältnisse und war mit der Umsetzung zufrieden. Dass die eingesetzte Landesverwaltungskommission seine Erwartungen erfüllte, äußerte er auch privat  : »Ganz auffällig und nicht zu übersehen ist die Tatsache, dass infolge der überraschend glücklichen Art, in welcher sich das von uns geschaffene Interim in Böhmen im öffentlichen Bewusstsein auf allen Seiten einlebt und zur Anerkennung seiner befriedigenden Wirksamkeit durchgerungen hat, auf deutscher, aber auch auf böhmischer Seite ein gewisser Quietismus besteht, der – an sich gewiss erfreulich – in seiner Rückwirkung dem Verständigungseifer nicht zugute kommt.«37 Amüsanterweise 34 Wa ldstein-Wa rtenberg, Der letzte Ausgleichsversuch, 72f.; Nedostatek odvahy, Bd. 2, Dok. 287, 856– 861. Urbans Worte über die unsinnige Beschuldigung Thuns bestätigte auch Titta vertraulich hinter den Kulissen. Ebd., Dok. 322, 956. 35 K a zbu nda, Otázka, 330  ; Nedostatek odvahy, Bd. 2, Dok. 278, 844f. 36 Stenographische Protokolle über die Verhandlungen des Abgeordnetenhauses des österreichischen Reichsrats, Jg. 1913, Nr. 162, 21.10.1913, Anhang III, 3959/I. Stürgkh beantwortete die Interpellation am 11. November 1913  : Ebd., 11.11.1913, 8445–8447. Staněk schlug anschließend eine Debatte zum Thema vor, der das Abgeordnetenhaus nach nervenaufreibender Abstimmung zustimmte (202   : 186 Stimmen). Sie fand vom 12. bis 14. November 1913 statt  : Ebd., 8469–8506, 8540–8585 und 8604–8677  ; Fr a nk enberger – Kubíček, Antonín Švehla, 331. 37 Nedostatek odvahy, Bd. 2, Dok. 294, 872. Im gleichen Geist sprach K. Stürgkh auch bei der Regierungssitzung am 17. November 1913. K a zbu nda, Otázka, 334.

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wurde Stürgkhs Zufriedenheit mit der Tätigkeit der Landesverwaltungskommission und deren faktischer Akzeptanz durch die politischen Parteien (trotz gegenteiliger Kritik in der Öffentlichkeit) auch von einigen deutschen Radikalen wie z. B. Emil Pfersche geteilt  : »[…] dass man mit der Verwaltungskommission ganz zufrieden sein könne und dass diese nur so lange als möglich bleiben möge.«38

Fazit Die komische Episode des einmal hü und einmal hott zeigt die sich wandelnde Verhaltenskultur der politischen Eliten im Kontext der sich radikalisierenden Verhältnisse in der Habsburgermonarchie seit Ende des 19. Jahrhunderts. Stundenlange Streitereien der Abgeordneten mit dem Ministerpräsidenten am Telefon oder unter vier Augen zu dem hier behandelten Thema wären früher undenkbar gewesen. Zugleich wäre es den Abgeordneten wohl nicht eingefallen, dem Ministerpräsidenten zu diktieren, welche seiner Mitarbeiter er zu einem Treffen hinzuziehen könne. Auch stoßen wir in früheren Zeiten kaum auf einen ähnlich gearteten so extremen und öffentlichen Boykott eines hohen Staatsbeamten, wie wir es im Fall Thun beobachten können. Im Hinblick auf das Problem des Ausgleichs war jedoch alarmierend, dass ein relativ geringer Grund ausreichte, um die monatelangen Vorbereitungen für eine weitere Runde in den Ausgleichsverhandlungen vom Tisch zu fegen. Besonders innerhalb des deutschen Lagers lässt sich eine extreme Nervosität beobachten, die fast wie ein Wettstreit der Parteien um die radikalste Position wirkt. Gegen ein derartiges Verhalten (Schreiner, Bachmann) waren in einem kritischen Moment selbst ansonsten rationale und konstruktive Politiker wie etwa R. Pacher nicht immun. Jedoch begriffen selbst die Radikalen rückwirkend die Kurzsichtigkeit ihrer Entscheidung und waren sich der versäumten Gelegenheit bewusst, die alle eingebundenen Parteien viel überflüssig investierte Zeit und Energie gekostet hatte. Zugleich zeigt die Episode die starke Stellung des Statthalters Thun in Stürgkhs Regierungsteam. Es handelte sich um ein außerordentlich festes Band gegenseitigen Vertrauens und guter Zusammenarbeit. Sicher lässt sich spekulieren, in welchem Maß Stürgkh in der Sache des böhmischen Ausgleichs von dem Fachmann Thun abhängig war, aber seine Solidarität und Kollegialität gegenüber dem geschätzten Untergebenen, ständischen Mitstreiter und zugleich Parteigegner ist bemerkenswert. Stürgkh erweist sich hier als ein Staatsmann mit festen Ansichten, der nicht bereit war, sich wegen der Marotten der den Staat bedrohenden politischen Parteien von den Positionen eines kaiserlichen Ministers zurückzuziehen.

38 Nedostatek odvahy, Bd. 2, Dok. 322, 957.

I N N EN POLITIK I N ÖSTER R EICH U N D ÖSTER R EICH-U NGA R N

Mark Cornwall, Southampton*

Traitors in Vienna during the 1848 Revolution ‘Hochverräter’ regularly surfaced in the late Habsburg Monarchy, not just in violent political rhetoric but in some very public political trials. As such, the phenomenon of treason is a useful touchstone for gauging the Habsburg regime’s key security concerns, but also for measuring its commitment to the rule of law as well as the public perceptions of the Austrian Rechtsstaat. The 1848 revolutions, when the empire almost dissolved in a series of military conflicts, were the era which for many contemporaries established the major benchmarks for interpreting their own loyalty to the Habsburg state. This chapter focuses on how ‘treason’ emerged in the city of Vienna in 1848. Before October 1848, the notion of traitors in society had surfaced only sporadically across the different Austrian lands. A survey of the German-Austrian press for that year brings up few direct references to Hochverrat or Hochverräter. Yet the revolutionary changes from March onwards had still establishedestablishedestablished a new ideological framework for those who were alert to treason or disloyalty within the Monarchy. When, where and why did a discourse about treason begin during the ‘spring-time’ of the revolution  ? Was it simply no more than rhetoric – a threatening language against enemies – or did those verbal attacks result in prosecutions in the first stage of the revolutionary upheaval  ? A further question concerns who was actually in control of the public discourse about treason. As we will see, it was the new idealists – whether liberal or radical – who aspired to claim the moral high-ground and often managed to dominate the discourse. Yet the imperial regime – a ‘reactionary camarilla’ in the eyes of the revolutionaries – never wholly lost its voice either. Hesitant at first, that voice would increase in volume from the early summer as the Habsburg armed forces fought back  : as Prince Alfred Windischgrätz crushed the Prague revolt in June, or as Field Marshal Radetzky defeated the armies of Piedmont at the battle of Custozza. It was then that a Habsburg conservative interpretation of treason began to encroach, climaxing in October when Windischgrätz moved to crush the Vienna revolution and mete out severe punishment to the ‘traitors’ responsible. In this way, from March until October 1848, the interpretation of treason was bound to fluctuate in line with the ongoing power struggle between the ‘camarilla’ and its enemies.

* Abbreviations  : WStLA  : Wiener Stadt- und Landesarchiv.

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When hints of unrest first appeared in Vienna in early March 1848, Archduke Ludwig declared martial law and wanted to dig out the ‘traitors’ from the Lower Austrian Estates.1 Yet it was the students of Vienna University who proceeded to take the lead in reaching for the language of treason  ; they enumerated the crimes of Prince Metternich, the man who had personified the oppressive Habsburg regime of the past thirty years. An anonymous poster, pinned up and then distributed around the university, announced that Metternich’s primary crime had been “Hochverrat to his Prince and Fatherland”.2 Within a few days the regime had crumbled, Metternich fleeing abroad while the emperor conceded a constitution for his Austrian lands. Archconservatives were horrified. As the later notorious police minister Johann Kempen noted in his diary, “I picture the most terrible things, anarchy and civil war, perhaps the collapse of the whole empire”.3 Revolts indeed quickly mushroomed, notably in Lombardy-Venetia where a violent insurrection in Milan caused the military governor Radetzky to warn that all acts of resistance would be viewed as Hochverrat. The Habsburg regime therefore was faced with multiple demands for political and social change, some of which it immediately conceded. Bending in the wind of the new constitutional era, it felt pressured to free those political prisoners who had recently been convicted of treason. On 20 March an imperial amnesty was announced for all political crimes, and a stream of ‘traitors’ – mainly Poles and Italians – emerged from the prisons of Spielberg and Kufstein. The most significant were Polish intellectuals, some of whom had led the Cracow uprising of 1846. The regime’s stance on these renegades in 1848 was summed up by Moravia’s governor who personally told the Poles on their release from Spielberg  : “You are all traitors, murderers and communists, who have long deserved the gallows, but through the emperor’s grace you have been given your freedom”.4 Any expectation, however, that these traitors would now be contrite was misplaced, and the imperial government in Vienna was right to be anxious.5 For as one conservative Austrian historian noted later, very few had “sincere remorse over their political aberration” or intended simply to retire into bourgeois life  ; rather, they viewed their experience as “political martyrdom”. Welcomed back with open arms in Cracow and Lemberg, they quickly “began their dangerous game again”, mixing 1 Loth a r Höbelt, 1848. Österreich und die deutsche Revolution, Wien–München 1998, 51. 2 Heinrich R esch auer – Moriz Smets, 1848. Geschichte der Wiener Revolution, 2 vol., Wien 1872, I, 176. 3 Josef K a rl M ay r (ed.), Das Tagebuch des Polizeiministers Kempen von 1848 bis 1859, Wien–Leipzig 1931, 89. 4 M a ximili a n Bach, Geschichte der Wiener Revolution im Jahre 1848, Wien 1898, 219. 5 Thom as K letečk a (ed.), Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848–1867. I. Abteilung. Die Ministerien des Revolutionsjahres 1848  : 20. März 1848–21. November 1848, Wien 1996, 39  : ministerial council meeting, 8.4.1848.

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with those who were agitating for national and constitutional reforms across Galicia.6 When a popular revolt broke out in Cracow on 26 April, it was speedily crushed  ; it was an early victory for the counter-revolution, effectively silencing unrest in Galicia for most of the year.7 The example of Galicia in fact reveals the cautious stance of the imperial authorities in these spring months when the watchword of ‘constitutionalism’ pushed them onto the defensive. For the time being they had to tolerate the demands for reform on all sides. Nevertheless, the Habsburg military commanders did, usually on their own initiative, intervene forcefully when the protests turned into open armed revolt. The usual outcome after military suppression was not to seek revenge on the rebels, but to grant an amnesty, or at most to begin a judicial investigation into the unrest. After the Cracow revolt, a public pardon was granted. In the summer, Radetzky was prepared to compromise with ‘traitors’ after his victory over the Piedmontese army. And even Windischgrätz, the belligerent military governor of Prague, was forced to temper his instinct for revenge after that city’s rebellion in June 1848  ; through pressure from Vienna, he soon had to lift his state of siege and abandon the military investigation into what he termed an “extensive conspiracy”.8

1. The ‘Treason’ of Anton von Hye If conservatives like Windischgrätz were never shy about fingering the real traitors to Austria, in the first revolutionary phase it was still liberal or radical idealists who were most likely to vocalize a language of treachery. This happened when the Habsburg regime seemed to be backsliding from its constitutional promises, and often coincided with protests in Vienna. In 1848 the capital city witnessed three major revolts, in March, May and October. For the Habsburg regime these were critical staging posts in the revolution for they erupted in the main imperial residence and centre of Habsburg power, but also because Emperor Ferdinand was twice forced to flee the city in fear of his life. The individuals most prominent during these revolts would, if not called to account at the time, be marked men in the future  ; the regime later exacted revenge against those who had committed treason by supposedly endangering the monarch’s life.

6 Joseph A lex a nder von Helfert, Geschichte der österreichischen Revolution, 2 vol., Freiburg/Breisgau–Wien 1907–1909), I, 428–30. 7 Ibid. I, 454–61  ; II, 1–11. 8 Ja n M. Čern ý (ed.), Boj za právo. Sborník aktů politických u věcech státu a národa českého od roku 1848 [The Struggle for Rights  : A Collection of Political Acts about Affairs of State and the Czech Nation since 1848], Praha 1893, 355–359.

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In both May and October, the struggle in Vienna over the direction of the revolution shaped not just a language of treason but led to some violent outcomes. In May, the prominent jurist Anton von Hye was one of the principal ‘victims’, while in October it would be the minister of war, Count Baillet von Latour. Hye’s ‘treason’ would end with a realistic compromise in the power struggle between regime and reformers. Latour’s, however, resulted in his brutal death and led to a full counter-revolution in Vienna. There would be long-term consequences from this murder of one of the imperial elite. In May 1848 Professor Hye was singled out as a traitor because Viennese radicals deemed him to have collaborated with the ‘camarilla’ in trying to frustrate the gains of the revolution. The background to this was complex, but its rough contours illuminate well the fluid power relationship in Vienna.9 In late April the government had finally given substance to the March constitution, announcing that while it meant a two-chamber Reichstag in Vienna, the emperor would still have an absolute veto over legislation. Radicals in Vienna rejected this as too little, and on 15 May a mass rally of students and workers occurred in front of the Hofburg. In response, the government felt forced to agree that the Reichstag would in fact be unicameral with a more democratic franchise. It seemed a radical triumph. However, the emperor and Court then secretly fled the city for Innsbruck, Ferdinand noting in his diary the fear that students were about to “storm the palace, set it alight and murder us”. From Innsbruck, the Court issued a defiant proclamation, explaining that their flight was due to an “anarchical faction” who had sought to “deprive the emperor of his freedom of action”.10 For some observers, whether radical or reactionary, the flight crystallized hopes and fears about the direction of the revolution. It recalled the disloyal behaviour of King Louis XVI in 1791  : he too had fled his capital city hoping to head a counter-revolution, but his action had only strengthened calls for a French republic and led eventually to his execution for treason.11 In May 1848, the Austrian government responded to the threat of disorder by attempting a show of strength. After threatening martial law upon Vienna, it focused its attention on the university and especially the Academic Legion, that armed body of students which since its creation in March had campaigned for constitutional reform. Six-thousand strong, the Legion was a hotbed of student radicals and had the backing of democratic professors like the theologian Anton Füster. It was not surprising that Füster, a vocal agitator who in 1848 repeatedly urged students to take up arms rather than negotiate, would later in 1855 be convicted of treason in absentia.12  9 Vgl. Rudolf K iszling, Die Revolution im Kaiserturm Österreichs 1848–1849, Wien 1948, 128–142. 10 C. A. M aca rtney, The Habsburg Empire 1790–1918, London 1969, 358–359. 11 K iszling, Die Revolution, 133. 12 Bach, Geschichte der Wiener Revolution, 426, 437.

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A clear contrast to Füster was the law professor Anton von Hye, and indeed the more conservative body of law students.13 Hye at the start of the revolution had been prominent in sympathizing with student demands while trying to steer them along a legal path  ; he warned that any illegal move might be interpreted as treason, a violent attack [Attentat] on the existing order.14 This moderation in itself made him suspect to radical students, all the more so when he helped to design the government’s new press law.15 Two months later, Hye was taking an even more conservative stance. On 25 May he attended a meeting of the Austrian government, and backed its decision to close the university and dissolve the Legion. To the ministers he stressed that this should be justified with reference to the emperor’s flight from the city  ; if the Legion continued to protest it should face the might of martial law [Standrecht].16 Hye’s role in this decision quickly became known to the student body. When a governmental decree announced the Legion’s dissolution, it refused to obey, occupied the university and appointed the fiery Füster as its commander. Troops were now called out of their barracks and revolt spread across the city as workers built barricades in the streets. In the face of this threatening bloodbath, the government was forced to back down, returning the troops to barracks and rescinding its decree. To restore order, it also approved the creation of a new Security Committee [Sicherheitsausschuss] which drew on members from the Legion, the National Guard and the city council. If the overt purpose of this body was to keep the peace, it was also committed to upholding the recent constitutional promises. In effect, it became the true government of Vienna, taking control of the streets and suggesting that the revolution was secure. In contrast, in the words of the radical Ernst Violand, the people had learnt through bitter experience that they could not trust a “ministry spinning a web of treason”.17 It was after this crisis that Hye faced an angry backlash. It is clear that a discourse about betrayal was already mounting in these weeks for early on, two radical journalists had been arrested on a charge of Hochverrat after denouncing the Habsburgs and calling for a republic  ; they were now released.18 Instead it was Hye who was threatened with prosecution along with a few other miscreants. When the Security Committee first met, there were popular calls for all those responsible for the events of 26 May to face justice  ; Hye was singled out as having himself labelled the radical 13 For Hye’s overall conduct  : Ludwig Spiegel, Hye und die Wiener Revolution. Beitrag zur Geschichte der politischen und kriminalistischen Literatur Österreichs, Leipzig 1910. 14 R esch auer – Smets, 1848. Geschichte, I, 142, 162, 178. 15 Helfert, Geschichte der österreichischen Revolution, I, 406–407. 16 K letečk a, Die Protokolle, 322–323  : ministerial council meeting, 25.5.1848. 17 Ernst Viol a nd, Die soziale Geschichte der Revolution in Österreich 1848, ed. Wolfgang Häusler, Wien 1984, 118. 18 Ibid., 114, 119.

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students as Hochverräter.19 An investigation was therefore launched into his behaviour with an expected charge of treason against him. Yet the result revealed well both the limits of Austrian treason law, and the readiness of the liberals as well as the government to abide by that law. For when the documentation from the investigation was handed over to the criminal court, it quickly decided to annul the case. As some newspapers noted, the crime of high treason according to the 1803 code was not a crime against popular sovereignty, so Hye’s behaviour could hardly be construed as Hochverrat  ; nor could it be proved that he had acted with evil intent. Indeed, many predicted that, with his deep knowledge of criminal law, Hye would easily be able to rebut any charges. Whether or not this influenced the judiciary, the court still went through the correct procedures, hearing a dozen witnesses before on 8 June dismissing the case. After this theatre it was Hye who seemed to emerge victorious. He was able to insist that the court verdict, affirming his innocence and honourable conduct, should be printed and distributed across the city.20 The outcome thus was a stalemate. On both sides in the crisis of May 1848 the phenomenon of ‘treason’ had suddenly surfaced, but partly due to the power relationship in Vienna a pragmatic compromise was reached, ensuring that events did not spiral completely out of control.

2. From Rhetoric to Revenge Four months later, violent abuse about traitors in the Viennese community was circulating again, but this time it escalated into brutal violence with lasting repercussions for the city’s future. The reasons for the explosion are to be found in an entangled confluence of events, on the one hand external to Vienna, on the other internal. Externally, the power struggle across the Monarchy seemed through the summer to be shifting to the advantage of conservative forces. “Black and yellow was advancing, red retreating, all along the line”.21 Apart from the military triumphs in Prague and Lombardy, the show-down had now begun between the imperial regime and the wayward Hungarian government. This in turn sharpened the ideological divide in Vienna. During the summer the imperial government had become steadily more confident about asserting its control. When workers protested on 23 August over rising prices and unemployment, the government sent in the troops and then dissolved the Security Committee. When further unrest occurred in mid-September, 19 Wiener Zeitung, 12.6.1848, 768. 20 Wiener Abendzeitung, 7.6.1848, 249  ; Wiener Zeitung, 13.6.1848, 771–772  ; K letečk a, Die Protokolle, 394  : ministerial council meeting, 9.6.1848. 21 M aca rtney, The Habsburg Empire, 392.

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it closed down the university and finally disabled the Academic Legion. These moves seriously weakened the city’s radical element (the Democratic Left), since many liberal reformers who backed the constitutional order were fast prioritizing stability and order over further change or insecurity. Yet it is important, when explaining the abusive discourse about ‘traitors’, to note that the Left still had some power. The radicals retained a core group of vocal representatives in the Austrian Reichstag – men like Füster, Josef Goldmark and Hans Kudlich – as well as a swathe of supporters on the streets. By late September, they could justifiably fear that their revolutionary ideals were seriously under threat from ‘reactionaries’, especially from the minister of war, Count Latour, who was so ready to call out the troops. With one eye on the fate of revolutionary Hungary, the democratic leaders resorted to populist speeches. One of their most radical agitators, Karl Tausenau, whipped up huge crowds at the grand Odeon concert hall by calling for the death of Latour. It was a speech which attracted Latour’s attention and on 3 October he complained to his fellow-ministers about Tausenau’s incendiary language, his cries of “Down with the aristocrats  ! Down with the traitors  !” An investigation would later find that Tausenau had also vulgarly abused the imperial family, calling for its extermination.22 In this sultry atmosphere, a thunderstorm was inevitable  : on 6 October it broke.23 The regime narrative would later interpret the violent events as a concerted republican plot, led by extremists from the Reichstag in order to overthrow the legitimate order. The radical leaders in turn would claim that they had tried to calm the unruly masses who had been provoked by Latour and other counter-revolutionary eminences grises like Windischgrätz. Whether or not either ideological camp really had a bold objective in early October 1848, what started as a series of street protests would end with the lynching of Latour. The spark occurred when Latour ordered a Viennese regiment to entrain at the Northern Station and proceed into Hungary. A mass of armed workers, students and soldiers blocked the regiment’s departure, engaging in a bloody battle when the ministry sent in further troops. It was the masses however who prevailed  ; marching back into the city, they erected barricades and the fighting escalated. In the initial clash it seems clear that some Reichstag democrats had tried to calm the crowd. Yet Hans Kudlich’s own memoirs reveal that his interventions were at best ambiguous. While he urged the crowd to disperse peacefully, he also announced that sending troops into Hungary was an unconstitutional act by the “reactionary party”. There was, he noted, little the people could do  ; rather than play into the hands of the ca-

22 K letečk a, Die Protokolle, 649  : ministerial council meeting, 3.10.1848. 23 Bach, Geschichte, 696 and 699f.

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marilla, they should leave it up to the Reichstag to hold Latour and his ilk to account for their illegal acts, what he termed their “treason against the people” [Hochverrath am Volke].24 A few hours later a mob had poured into the courtyard of the War Ministry. When Latour was being escorted from the building he was set upon and butchered, his body stripped naked and strung up from a lamppost. In the wake of this atrocity the emperor fled Schönbrunn for Olomouc in Moravia. Manifestos were issued in Ferdinand’s name, calling on all those who loved Austria and freedom to rally around him.25 Conservatives and liberals including ministers and many of the Reichstag deputies obeyed these appeals, leaving behind a radical rump which prepared to hold out in Vienna. It was now that Windischgrätz stepped in. On 16 October, he secured an imperial commission to repeat in Vienna what he had achieved in Prague, and was made supreme commander of all Habsburg forces. A week later, his army had encircled the city and declared martial law  ; by November he had bombarded the defenders into submission and started reprisals. The revolution in the Austrian lands was effectively at an end. Vienna’s October revolution had far more severe repercussions for ‘traitors’ than any of the rebels in the spring. The main reason was Windischgrätz’s complete control of the situation, and a level of violent resistance that he could easily characterize as criminal. Compared to the earlier revolts in Vienna and Prague there were few constitutional brakes, so the victor simply brushed aside Reichstag complaints that he was acting illegally by imposing a state of siege. Besides the two thousand who died during the siege, a further two thousand were arrested after the city’s surrender. They were investigated by a special Central Military Investigative Commission, which Windischgrätz set up to explore the conspiracy behind the Vienna revolt. It would survive long into 1849, processing traitors including rebel soldiers, and putting them before a military tribunal. Up to May 1849, 144 were convicted and 24 of those were executed by firing squad, mostly on a charge of Hochverrat – “seeking to violently change the state constitution”.26 Best known was a German politician, Robert Blum, who by entering Vienna to aid the rebellion was thereby subject to Austrian law  ; he was court-martialled and shot despite pleading parliamentary immunity. Windischgrätz nevertheless was not happy about handing out too many death sentences. He conceded some pardons (for instance, the portrait painter Josef Aigner for whom Windischgrätz’s friends inter-

24 H a ns Kudlich, Rückblicke und Erinnerungen, 3 vol., Wien 1873, III, 5–7. 25 Wa lter Rogge, Oesterreich von Világos bis zur Gegenwart, 3 vol., Leipzig–Wien 1873, I, 29–30. 26 Figures from  : Róbert Herm a n n, Megtorlás az 1848–49-es forradalom és szabadsághharc után [Retaliation after the Revolution and War of Independence of 1848–49], Budapest 1999, 110–111.

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ceded), and well over a thousand of those immediately arrested were soon released.27 Yet the level of punishment was still unprecedented in 1848, signalling the regime’s firmer stance towards its opponents. For some of the leading democrats there would also be retrospective justice long after the events. This happened to Hans Kudlich, Anton Füster, Ernst Violand and Josef Goldmark. Following the military investigation in Vienna, in March 1849 arrest warrants were issued against them on charges of Hochverrat, but they had now all fled abroad and would soon emigrate to the United States to become ‘traitors in exile’. In the case of Kudlich, the foremost campaigner for peasant emancipation, his crime was chiefly the inflammatory speeches he had made before and during the October revolution, seeking in vain to whip up peasant support. Only in late 1852, based on incriminating evidence from his own correspondence, was his case reactivated  ; in March 1854, Vienna’s Landesgericht declared a guilty verdict, sentencing him to death in absentia.28 This in turn kick-started the very late prosecution of the three other radicals. The state prosecutor reasoned that it was deleteriously affecting public opinion to have their treason cases outstanding when Austria was trying to stabilize its new order. In October 1855 an indictment was finalized against Füster, Violand and Goldmark on a charge of treason (§58b and 58c)  ; four months later, after a secret trial, the Landesgericht passed death sentences in absentia.29 The verdict was based on a forensic scrutiny of their behaviour in 1848, portraying them as the most vocal and influential leaders of the Democratic Left. From April 1848, allegedly, they had aimed “to overthrow the constitution, destroy the Monarchy, eject the dynasty, and set up a federal-Republic”  ; by achieving the secession of the German, Italian and Hungarian lands, “the existence of Austria as a united Monarchy [Gesammtmonarchie] would cease”.30 While countless instances were given of their violent demagogy – Füster stirring up the students, Violand openly calling for a republic – they had also jointly advanced their treachery as Reichstag deputies in the summer of 1848  : refusing for example to congratulate Radetzky on his triumphs in Italy, or mocking the dynasty by referring to the fate of England’s Charles I and France’s Louis XVI. After that, they had coordinated a “bloody October revolution” with the Hungarian rebels in order to create a republic.31 The court verdict particularly stigmatized this behaviour because all three defendants had held respectable positions in Viennese society. Violand was of noble birth 27 Wiener Zeitung, 24.11.1848. 28 WStLA, Landesgericht für Strafsachen, Karton A11-7 and A11-8, Strafakt 1128/1854, Hans Kudlich. 29 WStLA, Karton A11-10, Strafakt 1264/1856, Josef Goldmark. 30 Herm a n n K nepler, Der Prozeß Goldmark, Wien 1868, 19. 31 Ibid., 27–29, 32–33.

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and had been a law docent at the university  ; Füster’s moral reputation was “bad and especially unworthy of a Catholic priest and educator of youth”.32 But it was the treason of the medical doctor Josef Goldmark that stood out, for the court found him complicit too in the fate of Count Latour – the brutal attack on a leading servant of the regime. In 1848, as a member of the Security Committee and the Reichstag, Goldmark had been highly visible and vocal  ; as Füster noted, “he snarled like a vicious tom-cat day and night”.33 This attracted the attention of Windischgrätz himself who after the October revolt publicly declared that Goldmark would be hanged. The indictment in 1855 against Goldmark argued that Latour’s murder had not been opportunistic. It had been a “well considered and intentional action” by the democratic leaders. Goldmark had been directly complicit, for on 6 October at the War Ministry he had assured Latour that he would protect his exit from the building. He had then failed to do so and, on his own admission, the mob had pushed him out of the way and beaten Latour to death. Two ‘proven’ witnesses were also found who said that Goldmark had encouraged the crowd and been very happy about the fate of the War Minister.34 This evidence was the focus of the 1856 trial, totally ignoring a wealth of other information which would have exonerated the traitor. Only in 1867, twenty years after his ‘crime’, would Goldmark return from exile and have his double convictions for treason and murder overturned. Among the witnesses coming forward to “remove the black stain” was Anton von Doblhoff, the minister-president up to October 1848, who confirmed that after Latour’s murder it was Goldmark who had helped him escape out of revolutionary Vienna.35 If this seemed a final vindication, it still did not quite satisfy Goldmark himself. Even in 1877, as an American citizen, he was still petitioning the Austrian government for an official pardon to erase the permanent stain left on his reputation.36

3. Conclusion Austria’s revolutionary year threw up a steady discourse about treason because protagonists reached for such contentious language as an uncompromising ethical marker. Usually this arose when physical violence erupted in some form, whether in Vienna, Prague or Milan. But matters only took an extreme turn (in Vienna) when

32 Ibid., 39–40. 33 A nton Füster, Memoiren von März 1848 bis Juli 1849  : Beiträge zur Geschichte der Wiener Revolution, 2 vol., Frankfurt/Main 1850, II, 225. 34 K nepler, Der Prozeß Goldmark, 34–35. 35 Ibid. 99–100. 36 WStLA, Karton A11-10.

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political compromise was impossible and a fundamental clash over ‘illegality’ seemed irreversible. In 1848 therefore, the timing over what was termed treason was crucial. Most traitors in 1848 tended to be amnestied rather than punished  ; and most ordinary rebels from Vienna’s October revolution were also pardoned by Emperor Franz Joseph in a decree of March 1849.37 Thus it needed the revolution to enter its second, Hungarian phase – one characterized by bloodshed and a heightened ideological struggle – before a Habsburg judicial machinery emerged to prosecute traitors systematically, with harrowing results. Then too, some Hungarian acts committed in 1848 would be scrutinized and reinterpreted as treasonous. This could result, as with the case of Goldmark, in a long process of retrospective justice where the main aim was to emphasize a logical and victorious Habsburg narrative over the traitors. Many of them were accused of being secret apostates much earlier in the revolutionary year of 1848  ; supposedly they had crossed the Rubicon well before their treasonous acts actually became public. Other ‘traitors’ from 1848, such as Anton von Hye, would demonstrably assert their allegiance to the neo-absolutist regime of Franz Joseph. It was Hye who was the architect of the new Austrian criminal code, published in May 1852. And perhaps not surprisingly, because of his own experience in 1848, he took special care to re-define, expand, and strengthen the crime of Hochverrat for the post-revolutionary era.

37 K nepler, Der Prozeß Goldmark, 25.

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Das Janusgesicht des Neoabsolutismus (1849/51–1859/60) 1. Der Kaiser der Gegenrevolution Am 2. Dezember 1848 bestieg Franz Joseph I., gerade achtzehnjährig, den Thron des Kaisertums Österreich. Eine allegorische Darstellung Leopold Kupelwiesers zeigt die Umstände der Thronbesteigung  : Während der bisherige Kaiser Ferdinand I. und der Vater des künftigen, Erzherzog Franz Karl, abseits stehen, um dem Thronfolger Platz zu machen, wird dieser von Kaiserin Anna Maria und seiner Mutter Erzherzogin Sophie zum Thron geleitet, der von WJR als den treuen Paladinen gleichsam geschützt wird  : Durch Alfred Fürst Windischgrätz, der einen Monat zuvor die Wiener Oktoberrevolution militärisch niedergeworfen hatte, durch Josip Graf Jelačić von Bužim, der ein knappes Vierteljahr zuvor von Kroatien in das eigentliche Königreich Ungarn einmarschiert war, und durch Johann Joseph Wenzel Graf Radetzky von Radetz, der Lombardo-Venetien gegen die Revolution und gegen Piemont-Sardinien behauptete. Mit anderen Worten  : Franz Joseph I. war der Kaiser der Gegenrevolution. Bereits eine gute Woche zuvor hatte der am 21. November ernannte Ministerpräsident Felix Fürst Schwarzenberg vor dem in Kremsier wiedereröffneten öster­ reichischen Reichstag das Programm der Regierung des Kaisertums Österreich formuliert  : Nachdem die Niederschlagung jener »Faction, welche die Haupt- und Residenzstadt in einen Schauplatz anarchischer Wirren verwandelt hatte«, bereits gelungen war, gelte es, auch Ungarn und Lombardo-Venetien dem »gemeinsamen Bande einer kräftigen Centralgewalt« zu unterwerfen.1 In einem rhetorischen Mei­ sterstück erklärte Schwarzenberg zugleich, die »constitutionelle Monarchie aufrichtig und ohne Rückhalt« zu wollen und für wesentliche Ziele der Revolution, die Grundentlastung, ein »freisinniges Gemeindegesetz«, eine Verwaltungsreform, die Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit und die Trennung von Justiz und Verwaltung dem Reichstag »die geeigneten Vorlagen« zu machen. Als Franz Joseph I. am 2. Dezember 1848 auf den Thron gesetzt wurde, wurde dies bekräftigt,2 ebenso am Tag darauf, als er einer Delegation des Reichstags in Aussicht stellte, »den Ver-

1 Verhandlungen des österreichischen Reichstages nach der stenographischen Aufnahme, 4, ND Wien 1970, 12– 14. 2 Ebd., 57.

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fassungsentwurf, den die Völker mit Ungeduld erwarten, zu prüfen und ihm meine kaiserliche Sanktion zu erteilen.«3 Bis in den Januar 1849 hinein schien die neue Regierung zu einer Verfassung auf der Basis eines Entwurfs des nach Kremsier verlegten Reichstags bereit. Der Konflikt um Art. 1 des Kremsierer Entwurfs der Grundrechte, der das Prinzip der Volkssouveränität enthielt, führte allerdings um den 10. Januar 1849 zu einem Bruch zwischen der Regierung und dem Reichstag, der sich als endgültig erwies, auch wenn der Reichstag noch bis zu seiner Auflösung am 7. März tagen durfte.4 Seitdem bildete die oktroyierte Märzverfassung in einem System des »virtuellen Konstitutionalismus«5 die Grundlage der legislativen Tätigkeit des Ministerrates und gab den Rahmen nicht nur für die Verwaltungsreformen der Jahre 1849 bis 1851 ab, sondern auch für die Landesverfassungen, die bis zum Herbst 1850 vorbereitet wurden.

2. Zur Periodisierung und Charakterisierung des Neoabsolutismus De facto war jedoch mit der Auflösung des österreichischen Reichstags der Übergang in den Neoabsolutismus vollzogen, da ständische oder parlamentarische Institutionen seitdem nicht mehr an der Gesetzgebung beteiligt waren. Der Kaiser und der Ministerrat waren die alleinigen legislativen Instanzen einer in den folgenden Monaten außerordentlich intensivierten Gesetzgebungstätigkeit. Gleichwohl lässt sich die neoabsolutistische Ära als Epoche der österreichischen Geschichte nicht eindeutig abgrenzen. Bereits der Oktroi der Märzverfassung und die Auflösung des Reichstags vom 4. bzw. 7. März 1849 können als ihr Beginn betrachtet werden, doch wurde erst seit dem Herbst 1850 von dem designierten Reichsratspräsidenten Karl Friedrich Kübeck von Kübau eine neoabsolutistische Wende vorangetrieben, die mit den Augusterlassen und den Silvesterpatenten des Jahres 1851 ihren Abschluss fand. Der Tod Schwarzenbergs am 4. April 1852 erlaubte es schließlich, den Ministerrat, in der Deutung Helmut Rumplers eine Art konstitutionelles Gegengewicht zur Krone, zu einer bloßen Ministerkonferenz zu degradieren.6 Die unterschiedlichen 3 Zit. nach M. Ehnl, Politische Ereignisse in Österreich im November und Dezember 1848, in  : Rudolf Kiszling, Die Revolution im Kaisertum Österreich 1848/49, I, Wien 1948, 297–330, hier 320. 4 A ndre as Got tsm a n n, Der Reichstag von Kremsier und die Regierung Schwarzenberg. Die Verfassungsdiskussion des Jahres 1848 im Spannungsfeld zwischen Reaktion und nationaler Frage (= Schriftenreihe des Instituts für Österreichkunde), Wien–München 1995. 5 H a rm-Hinrich Br a ndt, »Den Vorhang zu – und alle Fragen offen«  ? Versuch eines Resümees, in  : Ders. (Hg.), Der österreichische Neoabsolutismus als Verfassungs- und Verwaltungsproblem. Diskussionen über einen strittigen Epochenbegriff (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, 108), Wien–Köln–Weimar 2014, 449–486, hier 486. 6 Helmu t Rumpler, Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867. Einleitungsband. Mi-

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Daten verweisen darauf, dass der Neoabsolutismus in einem Prozess entstand, der nicht erst mit dem Verfassungsoktroi einsetzte  : Seine Ausgangspunkte waren die Niederwerfung der Wiener Oktoberrevolution, die Ernennung Schwarzenbergs zum Ministerpräsidenten und die Thronbesteigung Franz Josephs. Der Prozess des Übergangs in den formal etablierten Neoabsolutismus seit dem Herbst 1850 wirft die Frage nach den Intentionen der beteiligten Akteure in der politischen Führung der Habsburgermonarchie auf. Karl von Kübeck sah in ihm die Möglichkeit, seine eigenen Vorstellungen von der Neuordnung Österreichs nach der Revolution zu verwirklichen. Schwieriger ist die Deutung der Position Schwarzenbergs. Als Ministerpräsident stand er für den Kurs der Regierung, doch ließ er manchen Gesprächspartnern gegenüber schon Ende 1849 erkennen, dass er die »Miß-« oder »Mistverfassung«, wie er sie bereits wenige Monate nach dem Oktroi bezeichnet haben soll,7 keineswegs Wirklichkeit werden lassen wollte. Seinem Berliner Botschafter Anton Graf Prokesch von Osten schrieb er im November 1850, es sei »unmöglich, mit jenen unheilvollen Theorien der Neuzeit, mit jenem französischen Konstitutionalismus und allen seinen Mißgeburten von Volksvertretung, Pressefreiheit, Geschworenengerichten, Vereinsrechten und dergleichen mehr zu regieren«.8 Die Minister seines Kabinetts, allen voran Innenminister Alexander Bach, Justizminister Anton von Schmerling, Finanzminister Philipp von Krauß und Handelsminister Karl Ludwig von Bruck, stehen für durchaus unterschiedliche Positionen innerhalb der politischen Führung der Habsburgermonarchie. In seiner Gesamtheit verfolgte das Kabinett bis in das Jahr 1851 hinein einen konstitutionellen Kurs und beteiligte sich nicht initiativ an dem Prozess, der in den formal etablierten Neoabsolutismus mündete, doch setzte sich auch in ihm die Überzeugung durch, dass Österreich nicht konstitutionell zu regieren sei – Alexander Bach ist in seiner Ambivalenz hierfür das wichtigste Beispiel.9

nisterrat und Ministerratsprotokolle 1848 bis 1867. Behördengeschichtliche und aktenkundliche Analyse. Mit einem Vorwort von Friedrich Engel-Janosi, Wien 1970. 7 Friedrich Wa lter, Die österreichische Zentralverwaltung, III. Abteilung  : Von der Märzrevolution 1848 bis zur Dezemberverfassung 1867, 1 (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, 49), Wien 1964, 434. 8 Felix Fürst Schwarzenberg an Anton Graf Prokesch-Osten (16.11.1850), zit. nach Stefa n Lippert, Felix Fürst zu Schwarzenberg. Eine politische Biographie (= Historische Mitteilungen, Beiheft 21), Stuttgart 1998, 368. 9 Georg Seiderer, Oesterreichs Neugestaltung. Verfassungspolitik und Verwaltungsreform im österreichischen Neoabsolutismus unter Alexander Bach 1849–1859 (= Studien zur Geschichte der österreichischungarischen Monarchie, 34), Wien 2015.

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Die ausschlaggebende Rolle ist dem Kaiser selbst zuzuweisen.10 In den ersten Monaten seiner Regierung noch im Schatten Schwarzenbergs stehend,11 besaß er von Anfang an eine übersteigerte Auffassung von seinem Amt, das er nicht als das eines konstitutionellen, sondern eines aus eigener Machtvollkommenheit regierenden Monarchen auffasste.12 Sein Anspruch, selbst zu regieren, richtete sich in der Konstellation der Jahre 1850/51 nicht in erster Linie gegen einen Reichstag, der gar nicht einberufen war, sondern gegen das Ministerium, das er als zu eigenmächtig, und gegen Schwarzenberg, den er als zu selbstherrlich empfand. Die am 19. Oktober 1850 gegenüber Kübeck geäußerte Klage, er werde »von den Arbeiten erdrükt und [könne] dem Ministerium allein gegenüber nicht mehr aufkommen«,13 kennzeichnet ein eigentümliches Spannungsverhältnis zwischen dem jungen Monarchen und dem Ministerium. Dass der Ministerrat als selbständig agierende, kollektiv beschlussfassende Institution fungierte, die durch ihre verfassungsrechtliche Stellung und durch die juristische Fachkompetenz ihrer Mitglieder den Herrscher lenkte, schien ihm mit der kaiserlichen Würde unvereinbar. Das Leitbild Franz Josephs war der Monarch, der in voller Kenntnis der Sachverhalte selbst beurteilte, selbst entschied und in allen legislativen wie administrativen Belangen tatsächlich die letzte Instanz darstellte. Der Stellenwert, den er der Ministerverantwortlichkeit beimaß, ist hierfür ganz wesentlich. Ihre Abschaffung durch einen der Augusterlasse von 1850 richtete sich gegen die rechtliche Bindung kaiserlicher Entschließungen an eine Instanz, die er lediglich als ausführendes Organ betrachtete. So wichtig die Rolle Kübecks im Übergang zum formal etablierten Neoabsolutismus auch war  : Dessen maßgeblicher Akteur war der junge Kaiser. Dies heißt nicht, den Monarchen und seine Rolle zu überschätzen. Über das Jahrzehnt des Neoabsolutismus hinweg fanden Auseinandersetzungen und Machtkämpfe zwischen Institutionen und Personen statt, die mit den Gegensätzen zwischen dem Ministerrat und der Ministerkonferenz einerseits, dem als Beratungsorgan der Krone fungierenden Reichsrat andererseits, zwischen Schwarzenberg und Bach einerseits und Kübeck andererseits, zwischen etatistisch-bürokratischen Reformkonzepten einerseits und altständisch-hochkonservativen Vorstellungen andererseits, zwischen 10 So bereits Wa lter, Zentralverwaltung III/1, 434. 11 Joseph R edlich, Kaiser Franz Joseph von Österreich. Eine Biographie, Berlin 2. Aufl. 1929, bes. 48f. u. 86  ; Je a n Paul Bled, Franz Joseph. »Der letzte Monarch der alten Schule«, Wien–Köln–Graz 1988, 93f. 12 R edlich, Franz Joseph, 204–234  ; M at thi as Stick ler, Das Herrschaftsverständnis Kaiser Franz Josephs in den frühen Jahren seiner Regierung. Überlegungen zu Selbstverständnis und struktureller Bedeutung der Dynastie für die Habsburgermonarchie  ; in  : Brandt (Hg.), Neoabsolutismus als Verfassungs- und Verwaltungsproblem, 35–60. 13 Friedrich Wa lter (Hg.), Aus dem Nachlaß des Freiherrn Carl Friedrich Kübeck von Kübau. Tagebücher, Briefe, Aktenstücke (1841–1855) (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, 45), Graz–Köln 1960, 52.

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der zivilen Verwaltung einerseits und militärischen Stellen andererseits grob umrissen werden können, wobei sich auch innerhalb des Ministerrates bzw. der Ministerkonferenz und des Reichsrates eine große Bandbreite unterschiedlicher Positionen erkennen lässt  : Der Neoabsolutismus war, wie wohl jedes autoritäre Regime, alles andere als monolithisch. Dennoch war er auf die Person des Kaisers zugeschnitten, in der die Regierung der Monarchie ihre Einheit finden sollte. Dies bedeutet zugleich, dass er in der Person des Monarchen eine seiner Grenzen fand  : Der Übersteigerung des Herrscherbildes und des Herrscherwillens entsprach die »Selbstüberschätzung« des Monarchen, der in der Außen-, Innen-, Finanz- und Militärpolitik gleichermaßen den Anspruch erhob, als letztentscheidende Instanz zu fungieren – nach Matthias Stickler eine »Herkulesaufgabe, an der auch ein begabterer Politiker als er notwendigerweise hätte scheitern müssen.«14 Obgleich die Bilanz der legislativen Maßnahmen seiner ersten zehn Regierungsjahre unter dem Strich eindrucksvoll ausfällt, war für den österreichischen Neoabsolutismus eine Entscheidungsschwäche kennzeichnend, die bei zentralen Gesetzgebungsvorhaben zu Verzögerungen führte oder ihre Verwirklichung verhinderte. Dies gilt zumal für solche, die die Verfassungsordnung der Habsburgermonarchie betrafen, ob es sich dabei um das Gemeindegesetz handelte, das nach jahrelangen Vorbereitungen im April 1859 in Kraft gesetzt wurde, um dann wirkungslos zu bleiben, um die Frage der Ausscheidung des großen Grundbesitzes aus den Gemeinden oder um die Landesstatuten, die jahrelang beraten wurden, bis ihr Entwurf durch die politische Entwicklung der Jahre 1859/60 überholt war.15 In ihren längerfristigen Wirkungen scheint diese charakteristische Entscheidungsschwäche ambivalent. Zum einen führte sie zu einem uneindeutigen System von Provisorien, das unterschiedlichen Hoffnungen Spielraum zu lassen schien. Zum anderen trug sie zur Perpetuierung von Verhältnissen bei, die mit der Revolution von 1848/49 entstanden waren und auf der oktroyierten Verfassung von 1849 fußten  : Insofern besaß der »virtuelle Konstitutionalismus« (Brandt) eine Beharrungskraft, die sektoral in den formal etablierten Neoabsolutismus hinein- und über ihn hinausreichte. Von Lothar Höbelt wurde das neoabsolutistische Regime als »Modernisierungsdiktatur« bezeichnet.16 Der prägnante Ausdruck fängt das »Janusgesicht« des Neoabsolutismus präzise ein. Dies macht es notwendig, die beiden Elemente genauer zu bestimmen. Der Neoabsolutismus war eine Reaktion auf die Revolution mit aus14 Stick ler, Herrschaftsverständnis, 46. 15 Seiderer, Oesterreichs Neugestaltung, 290–374, 423–478  ; H a rm-Hinrich Br a ndt, Das Projekt der Landesvertretungen 1851–1859, in  : Ders. (Hg.), Der österreichische Neoabsolutismus als Verfassungs- und Verwaltungsproblem, 313–382. 16 Loth a r Höbelt, 1848. Österreich und die deutsche Revolution, Wien–München 1998, 286  ; Loth a r Höbelt, Franz Joseph I. Der Kaiser und sein Reich. Eine politische Geschichte, Wien–Köln–Weimar 2009, 13.

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gesprochen reaktionären Zügen, doch handelte es sich nicht um den Versuch zur Wiederherstellung vorrevolutionärer Verhältnisse. Gleichwohl scheint die Subsumierung unter eine »Periode der ›Revolution und Reform‹ von 1848–1867«17 allein nicht geeignet, um die erste Phase der franziskojosephinischen Ära in ihrer Ambivalenz zu erfassen.

3. Repression Blicken wir zuerst auf den Aspekt der Repression. Die Herrschaft Franz Josephs I. beruhte auf der Niederschlagung der Wiener Oktoberrevolution und der Revolution in Oberitalien und Ungarn. Über Ungarn und Lombardo-Venetien, über Wien und andere Städte wurde der Belagerungszustand verhängt  ; die Teilnehmer an der Revolution wurden in den ersten Jahren nach 1848 von den Kriegsgerichten zu schweren Strafen verurteilt. Namhafte Vertreter der ungarischen Regierung entzogen sich einem Todesurteil durch die Flucht, an anderen, darunter dem weniger schwer gravierten ehemaligen ungarischen Ministerpräsidenten Lajos Batthyány, wurde es vollstreckt. Für Ungarn verdichtete sich die Erinnerung an die nachrevolutionäre Repression in der Hinrichtung von 13 ungarischen Generälen im »Blutgericht von Arad« und bedeutete eine nachhaltige Hypothek für das Verhältnis Ungarns zur Monarchie. Der Versuch des Kremsierer Reichstags, eine Verfassung zu entwerfen, wurde mit der Reichstagsauflösung und dem Verfassungsoktroi erstickt  ; eine Reihe von Abgeordneten entzog sich der gerichtlichen Belangung durch Flucht. Unliebsame Oppositionelle unterlagen, wenn die Rechtsprechung zu milde urteilte, der »Konfinierung«, der Verbannung von einem Kronland in ein anderes  ; der Vordenker des tschechischen Nationalbewusstseins Karel Havlíček war eines ihrer prominentesten Opfer.18 In den Kommunen wich die durch das Stadionsche Gemeindegesetz vom März 1849 gewährte Gemeindefreiheit zunehmend der staatlichen Kuratel, im Strafrecht wurden die 1848 gewährten Geschworenengerichte abgeschafft, dagegen die Prügelstrafe wieder eingeführt. Mit Auswirkungen auch außerhalb der Monarchie beteiligte sich die österreichische Regierung an der reaktionären Politik des Deutschen Bundes und am Polizeiverein deutscher Staaten.19 Ohne Einzelbeispiele aneinanderreihen zu wollen  : Die Politik des Regimes richtete sich gegen Liberalis-

17 Helmu t Rumpler, Der österreichische Neoabsolutismus als Herrschafts- und Modernisierungssystem, in  : Dušan Kováč – Arnold Suppan – Emilia Hrabovec (Hg.), Die Habsburgermonarchie und die Slowaken 1849–1867, Bratislava 2001, 9–21, hier 20. 18 Georg J. Mor ava, Der k. k. Dissident Karel Havlíček. 1821–1856, Wien 1985. 19 Wolfr a m Siem a n n, »Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung«. Die Anfänge der politischen Polizei 1806–1866 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 14), Tübingen 1985, 242–340.

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mus und Konstitutionalismus ebenso wie gegen die potentiell zentrifugalen Ansprüche der Nationalitäten. Dem entsprach die Sprachenpolitik des Kaisertums insofern, als der offiziell verkündete Grundsatz der »Gleichberechtigung der Nationalitäten« unter a­nderem mit der Herausgabe des Reichsgesetzblatts in zehn Sprachen zwar zeitweilig zu bemerkenswerten Ansätzen führte, das Deutsche aber im Amtsverkehr wie als Unterrichtssprache eine Bevorzugung erfuhr. Auch in den Jahren 1849/50 scheint in den Ländern, in denen bislang das Deutsche oder Italienische üblich war, von einer Förderung anderer Sprachen im äußeren Amtsverkehr nicht in nennenswertem Maße die Rede sein zu können. Sie fand offenbar nur dort statt, wo es der Regierung politisch wünschenswert schien  : Also in Ungarn und in Siebenbürgen sowie im östlichen Galizien, wo sich der Gebrauch des Slowakischen, des Rumänischen oder des Ruthenischen gegen die Dominanz des Magyarischen oder Polnischen richtete, nicht hingegen etwa in den slowenischen Gebieten Innerösterreichs oder in den böhmischen Ländern. Zugleich zeigte sich früh das Bestreben, den Geltungsbereich des Deutschen als innerer Amtssprache auch der unteren Behörden auf beinahe das ganze Reich auszudehnen, wovon lediglich Lombardo-Venetien ausgenommen war. In der Zeit nach 1851 wurden nichtdeutsche Sprachen auch im äußeren Amtsverkehr und im Unterricht zurückgedrängt  ; die Einschränkung der Verwendung des Polnischen wie des Ruthenischen vor Gericht in Galizien ist hierfür ein Beispiel.20 Die repressive Seite des neoabsolutistischen Staates ist nicht zu verharmlosen, doch fand sie Grenzen. Die militärische Verwaltung und Rechtsprechung wurde im Zuge der Organisation der Justiz- und Verwaltungsbehörden unter fortwährenden Konflikten zwischen den Ministerien und militärischen Stellen nach und nach von der zivilen abgelöst. In Wien, Prag und drei böhmischen Festungsstädten wurde der Belagerungszustand zum 1. September 1853 aufgehoben, nachdem sich die Ministerkonferenz bereits Monate zuvor dafür ausgesprochen hatte, in Lombardo-Venetien erfolgte die Aufhebung nach der Heirat Franz Josephs am 1. Mai 1854, obgleich es in Mailand und Mantua noch im Jahr zuvor zu schweren Unruhen gekommen war, in Siebenbürgen im Dezember.21 In der ersten Zeit nach der Revolution stand der harten Jurisdiktionspraxis der Kriegsgerichte diejenige der Geschworenengerichte gegenüber  ; danach milderten sich die Gerichtsurteile gegen die Revolutionäre der Jahre 1848/49, während vor allem im Jahre 1852 zahlreiche Begnadigungen die bereits verhängten Strafen herabsetzten. Gemessen an liberalen Vorstellungen bedeuteten die Reform des Strafrechts im Jahre 1852 und die Strafprozessordnung von 20 Seiderer, Oesterreichs Neugestaltung, 167–177. 21 Wa ltr aud Heindl, Einleitung  ; in  : Dies. (Bearb.), Das Ministerium Buol-Schauenstein, 11. Oktober 1853–18. Dezember 1854 (Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867, 3/3), Wien 1984, IX–XXXVII, hier XIIf.

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1853 mit der Abschaffung der Geschworenengerichte und der Wiedereinführung des sog. Inquisitionsverfahrens einen Rückschritt gegenüber den Errungenschaften von 1848/49, aber keine Eliminierung der Rechtsstaatlichkeit. Bei allen repressiven Zügen war das Regime des Neoabsolutismus keine Diktatur im Sinne der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts.

4. Modernisierung Der Neoabsolutismus beanspruchte keineswegs, die Verhältnisse vor der Revolution von 1848 wiederherzustellen. Ganz im Gegenteil war seine Losung »Oesterreichs Neugestaltung«, wie der ebenso programmatische wie apologetische Titel der offiziösen Schrift des Sektionschefs im Handelsministerium Carl Freiherrn von Czoernig aus dem Jahre 1857 lautete. Czoernig entwarf ein umfassendes Tableau der Fortschritte des österreichischen Kaiserstaats seit dem Jahre 1848. Die Förderung und Entwicklung von Handel und Gewerbe, Verbesserungen in der Landwirtschaft und im Berg- und Hüttenwesen, die Errungenschaften auf dem Gebiet der »Communicationsanstalten«, nicht zuletzt durch den in den 1850er Jahren vorangetriebenen Ausbau des Eisenbahn- und Telegraphennetzes, die Grundentlastung, schließlich die Reformen der politischen und judiziellen Verwaltung sollten in ihrer Gesamtheit zeigen, dass Österreich seit der Revolution in einem fortschreitenden Prozess der inneren Erneuerung begriffen war, der sich der Regierung Kaiser Franz Josephs I. und seiner Minister verdankte. Was sich seit dem Jahre 1848 vollzogen hatte, war demnach keineswegs eine rückwärtsgewandte Verhinderung von Fortschritt, sondern, ganz im Gegenteil, eine »Neugestaltung«, durch die Österreich mit der wirtschaftlichen, technischen und politischen Entwicklung in anderen Staaten Schritt hielt und die den Völkern des Kaiserstaats zugutekam.22 Wirtschaftspolitisch folgten diese Maßnahmen liberalen Grundsätzen  : In der Handelspolitik kam es im Zuge einer »völligen Umgestaltung des österreichischen Zollwesens« zur Beseitigung der ungarischen Zwischenzoll-Linie und zu einer Erleichterung des Warenverkehrs mit dem Ausland, die erst in Folge der »Weltwirtschaftskrise« von 1857 wieder einer stärker protektionistischen Politik wich  ;23 1854 entschloss sich Österreich zur Privatisierung der Staatsbahnen, und im Dezember 1859 wurde nach jahrelangen Vorbereitungen ein Gewerbegesetz erlassen, das in Österreich erstmals den Grundsatz 22 Ca rl Freiherr von Czoernig, Oesterreichs Neugestaltung 1848–1857. Als Manuscript abgedruckt aus der Ethnographie der oesterreichischen Monarchie, Wien 1857. 23 H a rm-Hinrich Br a ndt, Der österreichische Neoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848–1860, 1 (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 15), Göttingen 1978, 253.

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der Gewerbefreiheit verwirklichte und dem, so Harm-Hinrich Brandt, das »Streben nach umfassender Mobilisierung der Produktivkräfte [als] ein wesentliches gemeinsames Motiv all dieser wirtschaftlichen und sozialen Reformansätze« zugrunde lag24 – was freilich die entscheidenden Defizite in der staatlichen Finanzgebarung nicht beseitigen konnte. Vor allem aber bedeutete »Oesterreichs Neugestaltung« im Jahrzehnt des Neoabsolutismus den grundlegenden Neubau seiner Staats- und Verwaltungsordnung, der unter der Ägide Alexander Bachs, zugleich aber im konfliktträchtigen Zusammenwirken von Reichsrat und Ministerrat bzw. Ministerkonferenz durchgeführt wurde. Dabei handelte es sich um zwei Neuordnungen der Justiz und Verwaltung Österreichs in den Jahren 1849/51 und 1852/54, die etwas phasenverschoben in den Ländern der Stephanskrone durchgeführt wurden. In der ersten Verwaltungsreform exekutierte der neoabsolutistische Staat im Rahmen des »virtuellen Konstitutionalismus« auf der Basis der oktroyierten Märzverfassung Vorgaben der Revolution von 1848  : Die mit dem Grundentlastungspatent vom 7. September 1848 beschlossene Aufhebung des Untertänigkeitsverbandes der Grundherrschaften zog mit der Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit und -verwaltung den Aufbau einer staatlichen Organisation der Gerichts- und Verwaltungsbehörden notwendig nach sich. Die zweite Verwaltungsreform seit 1852, die erst eigentlich als »neoabsolutistisch« bezeichnet werden kann, beruhte dagegen auf den Grundsätzen für organische Einrichtungen, die am Silvestertag des Jahres 1851 erlassen wurden, und suchten das Prinzip der »monarchischen Gestaltung« des Kaiserstaats in scharfer Wendung gegen liberale Partizipationsansprüche in der Verwaltungsordnung zur Geltung zu bringen. Seine Umsetzung bedeutete vor allem die Revision des auf der Basis der Märzverfassung errichteten Justizwesens, wo es unter anderem zur Abschaffung der Geschworenengerichte und zur Vereinigung von Justiz und Verwaltung in unterster Linie kam, sowie die Zurückdrängung der kommunalen Selbstverwaltung und der mit ihr verbundenen Möglichkeiten zur politischen Partizipation der Bürger  ; über die beiden letztgenannten Punkte kam es in der politischen Führung der Habsburgermonarchie zu langwierigen Konflikten.25 Zum einen stand die zweite Verwaltungsreform in mancher Hinsicht in der Kontinuität der ersten und bedeutete in gewisser Hinsicht deren Weiterentwicklung  : Die Konzentration der Verwaltungskompetenzen in der Hand staatlicher Behörden und des Ministeriums des Inneren erfuhren in der neoabsolutistischen Verwaltungsreform eine Steigerung. Die Durchsetzung des Staates bis in die unterste Linie lässt sich als Prozess der Staatsbildung deuten. Einerseits handelte es sich dabei, wie etwa von Harm-Hinrich Brandt betont worden ist, um eine »nachholende« Staatsbildung, 24 Ebd., 254. 25 Seiderer, Oesterreichs Neugestaltung, 216–248, 297–326.

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mit der Österreich den Anschluss an die Reformen fand, die in anderen Staaten des späteren Deutschen Bundes bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts durchgeführt worden waren.26 Zugleich fügen sich die Grundentlastung und die Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit auch im Vergleich mit anderen deutschen Staaten in die Zäsur ein, die das Jahr 1848 bedeutete,27 und bedeuteten die Einlösung liberaler Forderungen. Mit verhältnismäßig geringen Abweichungen in einzelnen Kronländern, die vor allem das Königreich Lombardo-Venetien betrafen, bewirkten die Verwaltungsreformen zweitens eine administrative Vereinheitlichung des Kaiserstaats mit nachhaltiger Wirkung. Zwar schieden die ungarischen Länder mit der Wiederherstellung der Komitatsverfassung in den Jahren 1860/61 wieder aus der einheitlichen Verwaltungsordnung aus  ; in Cisleithanien aber blieb sie bis zum Ende der Monarchie die Grundlage der Verwaltungsorganisation, wobei die erneute Trennung von Justiz und Verwaltung in der untersten Instanz einen Rückgriff auf die erste, 1848/50 durchgeführte Verwaltungsreform bedeutete. Zum dritten bedeutete die Abschaffung der grundherrlichen Gerichts- und Verwaltungsbefugnisse zusammen mit der Eliminierung der in den meisten Königreichen und Ländern bis 1848 ungebrochen erhaltenen frühneuzeitlichen ständischen Verfassungen einen grundlegenden Funktionsverlust des Adels, auch wenn es auf den großen Gütern der böhmischen und mährischen Magnaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Etablierung neuer Formen paternalistischer Klientelbeziehungen kam.28 Obgleich sich die Grundentlastung ökonomisch sehr unterschiedlich auswirkte und die Ablösung der Gerichts- und Verwaltungsrechte im Adel keineswegs überall abgelehnt wurde, fanden sich beträchtliche Teile zumal der böhmischmährischen Hochkonservativen keineswegs ohne Weiteres mit ihr ab.29 Die Frage der Ausscheidung, der Ausgliederung des adeligen Gutsbesitzes aus den Gemeinden war daher ein Grundproblem der Habsburgermonarchie in den 1850er Jahren, in dem sich zugleich die Bruchstellen innerhalb der politischen Führung der Habsburgermonarchie zeigten.

26 Br a ndt, Der österreichische Neoabsolutismus, 1, 4. 27 Monik a Wienfort, Ländliche Rechtsverfassung und bürgerliche Gesellschaft. Patrimonialgerichtsbarkeit in den deutschen Staaten 1800 bis 1855, in  : Der Staat 33, 1994, 207–239. 28 Tatja na Tönsmey er, Adelige Moderne. Großgrundbesitz und ländliche Gesellschaft in England und Böhmen 1848–1918 (= Industrielle Welt, 83), Wien–Köln–Weimar 2012, 263–305. 29 Vgl. etwa Loth a r Höbelt – Joh a n nes K a lwoda – Jiří M a líř (Hg.), Die Tagebücher des Grafen Egbert Belcredi 1850–1894. Nach editorischen Vorarbeiten von Antonín Okáč (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, 114), Wien–Köln–Weimar 2016.

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5. Bürokratisierung und das Problem der Akzeptanz Ihre Gegner fand die neue Verwaltungsorganisation, vereinfacht gesprochen, in beiden Lagern  : Im konservativen Adel, da mit ihr ein Verlust an Rechten, an politischer Funktion und sozialem Status verbunden war, bei den Liberalen und Demokraten, da sie von oben herab, ohne die Mitwirkung des »Volkes« und unter den Bedingungen der Repression geschah. Vor allem in den ungarischen Ländern kam hinzu, dass sie als Oktroi nicht nur von oben, sondern von außen empfunden wurde.30 Der zentralistisch-bürokratische Einheitsstaat rückte in den 1850er Jahren in den Status eines von unterschiedlichen Gruppierungen heftig angefeindeten Schreckbilds  ; die Staatskrise, in welche die Habsburgermonarchie nach dem Krieg von 1859 geraten war, wurde nicht nur als eine Krise des politischen Systems angesehen, sondern auch als eine der Verwaltungsinstitutionen. Hinzu kam, dass die Frage der politischen Partizipation ungelöst war. Das Versprechen konstitutioneller Verfassungen im Reich wie in den Ländern war mit der neoabsolutistischen Wende des Jahres 1851 gebrochen worden. An die Stelle der aufgehobenen altständischen Verfassungen sollten Landesstatuten treten, die anders als die 1849/50 entworfenen Landesverfassungen keine Mitwirkung der Landtage an der Gesetzgebung, dafür aber einen weitergehenden Rückgriff auf altständische Elemente vorsahen, gegen hochkonservative Ansprüche aber einem neuständischen Modell verpflichtet waren. Aufgrund der gravierenden Differenzen innerhalb der politischen Führung der Habsburgermonarchie gelangten die langwierigen Beratungen nicht zum Abschluss, bis nach der Kriegsniederlage gegen Frankreich und Piemont-Sardinien im Sommer 1859 eine – zunächst konservative – politische Wende eingeleitet wurde, doch waren die Entwürfe ebenso wie die Landesverfassungen von 1849/50 Ausgangspunkte für die 1861 erlassenen Landesverfassungen, die, auf dem Wege der Landesgesetzgebung vielfach modifiziert, außerhalb Ungarns bis 1918 in Kraft blieben.31 Hinter den Kulissen wurde in den 1850er Jahren heftig um die nachrevolutionäre Verfassungsordnung gerungen. Rückwärtsgewandten altständisch-hochkonservativen Vorstellungen standen etatistisch-bürokratische Modernisierungskonzepte gegenüber, die ebenfalls gegen liberale Ansprüche auf politische Partizipation gerichtet waren. Seiner mangelnden Akzeptanz suchte das neoabsolutistische Kaisertum durch die Nutzung von Instrumenten zu begegnen, um die Zustimmung der Bevölkerung nach innen und außen zu signalisieren und ein die Nationalitäten der Monarchie 30 Vgl. Ágnes De á k, From Habsburg Neo-Absolutism to the Compromise 1849–1867 (= Atlantic Studies on Society in Change, 131), New York 2008, 172 und 181. 31 Helmu t Rumpler – Peter Urba nitsch (Hg.), Verfassung und Parlamentarismus. Die regionalen Repräsentativkörperschaften (= Die Habsburgermonarchie 1848–1918, 7/2), Wien 2000.

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überwölbendes österreichisches Nationalbewusstsein zu propagieren. Neben repressive Maßnahmen gegen oppositionelle Blätter trat eine Ausweitung der pressepolitischen Aktivität des Staates, der mit der Etablierung eines ›Preßleitungscomités‹ 1852 und der Bereitstellung erheblicher finanzieller Mittel zur Subventionierung geeigneter Blätter auf die öffentliche Meinung Einfluss zu nehmen versuchte  ; die Nationalanleihe von 1854 zielte darauf ab, die Loyalität der Bevölkerung gegenüber Dynastie und Staat durch deren eindrucksvolle Bereitschaft zu »freiwilligen patriotischen Opfern« propagandawirksam zu demonstrieren.32 Im Ergebnis führte die Nationalanleihe allerdings zu einem Ansehensverlust der Monarchie, und auch der Versuch, sich mit dem Konkordat von 1855 als »katholische Großmacht« zu präsentieren,33 stieß weithin auf Ablehnung.

6. Der Ort des Neoabsolutismus in der Geschichte der Habsburgermonarchie Das erste Ziel des Neoabsolutismus war es, die staatliche Einheit der Monarchie in der Abwehr der zentrifugalen Tendenzen nationaler Ansprüche durch eine straffe administrative Unifizierung wieder und überhaupt erst herzustellen  ; sein zweites spätestens seit 1851 die Abwehr liberal-konstitutioneller Partizipationswünsche. In beidem ist er letztlich gescheitert. Bereits 1859/60 führte eine unglückliche Außenpolitik zum Verlust der Lombardei und zur Entstehung des Königreichs Italien, die den Verlust Venetiens nach sich zog. 1867 kam es mit der Wiederherstellung der ungarischen Aprilverfassung und den Dezembergesetzen in beiden Reichsteilen endgültig zum Übergang in die konstitutionelle Monarchie, zugleich bedeutete der Österreichisch-Ungarische Ausgleich von 1867 auf paradoxe Weise die Integration der Gesamtmonarchie als dynastisch verklammertes »Reich« um den Preis der staatlichen Desintegration. Man mag den Neoabsolutismus schließlich langfristig auch darin als gescheitert betrachten, als er die im Lauf der weiteren Entwicklung der Habsburgermonarchie zunehmend aufbrechenden Nationalitätenkonflikte nicht verhindern konnte. Insofern war er ein bloß transitorisches, verhältnismäßig kurzlebiges Phänomen, das gerade in seinen retardierenden Elementen gescheitert ist.

32 M a ri a n ne Lu nzer, Der Versuch einer Presselenkung in Österreich 1848 bis 1870, Wien 1954  ; Georg Christoph Berger Wa ldenegg, Mit vereinten Kräften  ! Zum Verhältnis von Herrschaftspraxis und Systemkonsolidierung im Neoabsolutismus am Beispiel der Nationalanleihe von 1854 (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, 94), Wien–Köln–Weimar 2002. 33 Got tfried M ay er, Österreich als katholische Großmacht. Ein Traum zwischen Revolution und liberaler Ära (= Studien zur Geschichte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, 24), Wien 1989.

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Dennoch handelte es sich um eine Phase einer grundlegenden Transformation. Fortbestehende Formen adeliger Prädominanz in der Bürokratie und im M ­ ilitär oder paternalistischer Klientelbeziehungen auf den großen Grundbesitzungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die adelige Ausübung von Herrschaftsfunktionen nach dem Neoabsolutismus endgültig obsolet war  : An die Stelle altständischer und patrimonialer Strukturen traten die rechtlichen Strukturen monopolisierter staatlicher Herrschaftsausübung. Erst auf dieser neuen Basis vollzogen sich die Neuformation gutsherrlicher Interessenvertretung in der Gemeinde oder durch Vereine34 ebenso wie die Bildung neuartiger föderaler Strukturen35 und der Wandel des Adels vom Herrschaftsstand zu einer bloßen sozialen Interessengruppe, die, in Cisleithanien freilich noch lange durch das Kuriensystem begünstigt, in verschiedenen parteipolitischen Gruppierungen und in wechselnden Koalitionen eine Rolle in der Politik der Habsburgermonarchie spielte. Erst auf dieser Basis entfaltete sich das politische und parlamentarische Leben entlang anderer Konfliktlinien als denen ständischer Konflikte  : Denen der politischen Parteien und Weltanschauungen, und denen der Nationalitäten. Bis zum Jahrzehnt der Revolution und des Neoabsolutismus wurden Politik, Verwaltung und oppositionelle Bestrebungen noch in großem Umfang von einem Adel getragen, der zugleich Herrschaftsstand war. Nach der Transformationsphase des neoabsolutistischen Jahrzehnts wurden sie von der politischen Partizipation zunehmend breiterer Bevölkerungskreise und damit auch von den modernen Kräften des Nationalismus bestimmt. Der Neoabsolutismus führte den Staat nicht auf ein »totes Geleise«.36 Er trug, ungewollt und ganz entgegen seinen Absichten, dazu bei, dass sich neue Konflikte entfalten konnten – auf dem Boden des »modernen«, konstitutionellen Staates und im Rahmen veränderter rechtlicher und gesellschaftlicher Bedingungen. Gerade hierin zeigt er sich als Phase der Modernisierung, einer Modernisierung freilich, die auch mit dem Blick auf ihre langfristigen Folgen voller Ambivalenzen war.

34 Tönsmey er, Adelige Moderne, 263–305. 35 Ja na Osterk a mp, Vielfalt ordnen. Das föderale Europa der Habsburgermonarchie (Vormärz bis 1918) (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 141), Göttingen 2. Aufl. 2021. 36 Vgl. Wa lter, Die österreichische Zentralverwaltung III/1, 579.

Catherine Horel, Paris*

City Politics in Hungary 1880–1914  : Participation and Opposition Political participation by the citizens was limited by the constraints of the access to vote. The persistence of poll-tax based franchise in the cities after the introduction of universal male suffrage in Cisleithania created a gap between local, regional and national representation. This was an obstacle to political expression by the nationalities in the city as well as to the growing influence of socialism. The paradox lies in the fact that the Social-Democratic party thanks to its transnational approach was more an ally of the central authorities than many of its adversaries. Access to vote was limited in the cities to citizens paying taxes who were divided into three categories (Wahlkurien)  : a considerable progress was achieved first in 1897 through the reform of the vote for the Reichsrat that gave way to the creation of a fourth category in the communes in 1904 and then in 1906, as well as in some statutory towns like Brünn in 1905.1 But the expected democratization that this measure was supposed to bring about did not occur. The main beneficiary was the new Christian-Socialist party that recruited its voters precisely among those now allowed to vote  : employees, craftsmen and civil servants of the lowest grades. The question of the participation of civil servants in active political life was a constant preoccupation in both parts of the empire. At the turn of the century when mass parties entered the political arena more and more civil servants were involved in election campaigns. Their neutrality and loyalty to the state was questioned. The lower grades of the bureaucracy were influenced also by national conflict. In this respect the introduction of the universal suffrage that Emperor Francis Joseph had seen as an attempt to hold back the nationalities and satisfy their demand for participation did not prove to be a solution in the long term. Suffrage was even more limited in Hungary and here the paradox lies in the fact that previous laws such as those enacted in 1848 and the ones prepared in the 1860s were more democratic than those finally passed after the Compromise. With a steadily growing population Hungary had actually fewer and fewer voters. There was * The present text is part of my book Muticultural Cities of the Habsburg Empire  : Imagined Communities and Conflictual Encounters, to be published next at CEU-Press. Abbreviations  : Bd.: Band  ; Hg.: Herausgeber. 1 Jiří K l a bouch, Die Lokalverwaltung in Cisleithanien, in  : Adam Wandruszka – Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd. II  : Verwaltung und Rechtswesen, Wien 1975, 301.

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no comparable hierarchy of the voting categories such as in Austria and therefore less room for manoeuver in the perspective of extending the franchise. The law on suffrage enacted in 1874 (XXXIII  :1874) restricted the poll-tax based vote compared to the law adopted in 1848 (V  :1848) that enabled around 10 % of the population to vote.2 Under the new law only 5 to 6 % of the male population was able to cast a ballot.3 Moreover polling was still a public act and thus subject to pressure and intimidation. The situation remained unchanged until the beginning of the 20th century when still less than 6 % of the population had access to suffrage. A new law was drafted as a result of the serious political crisis of the 1910s  : it would have increased the percentage of voters up to 10 % and partly introduced secret ballot but it was not enforced since no elections took place in Hungary before the end of World War I. The Hungarian polling system was based on property just as in Austria and implied also the access to vote for non-noble intelligentsia (honoratiores)  : their income was artificially doubled so that they could be registered as voters together with the main tax-payers (Virilist). This system made it possible to limit the participation of potential trouble-makers such as peasants, workers and members of the minorities. Notwithstanding the fact that command of the Hungarian language was compulsory for voter registration, there was a narrow conception of access to political participation. This was still obvious in the 1910s when the Tisza government was eager not to allow political expression of the nationalities. The growing role of the municipal urban government helped to transnationalize the city by fostering interconnections and interdependencies with other towns. The municipal networks generated by encounters between mayors and civil servants, and exchanges of knowledge on technical issues created a world of municipalities that before the First World War was characterized by, first, informal international transfers and in the case of the Habsburg Empire already by transfers between Cis- and Transleithania  ; then by more structured transnational organizations. These structures were built within the municipality, they included a variety of frameworks (cultural, legal, organizational) “which facilitated the transnational activities of municipal urban governments patterned on long-lasting circulatory regimes and spaces”.4 There was indeed a tendency towards professionalization of city politics all over the monarchy at the turn of the century thanks to the growth of the administrative apparatus. The management of the city became complex so that experts were more and 2 George Ba r a n y, Ungarns Verwaltung, in  : Wandruszka – Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie, II, 429. 3 K á roly Vörös, Die Munizipialverwaltung in Ungarn im Zeitalter des Dualismus, in  : Helmut Rumpler – Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd. VII/2  : Verfassung und Parlamentarismus. Die regionalen Repräsentativkörperschaften, Wien 2000, 2352. 4 Pierre-Yv es Sau nier – Sh a ne Ewen (eds.), Another Global City. Historical Explorations into the Transnational Municipal Movement, 1850–2000, New York 2008, 9.

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more in demand. In Hungary as well towns had the possibility of hiring their own civil servants without requiring the approval of the central authorities. Thus a particular category of civil servants emerged who played a key role in city politics. The multiplication of bodies inside the town hall as well as the expansion of the territory of the city, urbanization, industrialization, and the growing area of political conflicts, whether regional or nation-wide gave the mayor a considerable role at the head of the city administration. In Hungary the representative of the government in town was the prefect (főispán/ ispán) responsible for the county but actually also influential in the town’s affairs. Normally this would have been the capacity of the vice-prefect (alispán) but the latter was elected by the county’s assembly and therefore not completely under the control of the government. The attempts at reforming the municipal law undertaken by Gyula Szapáry (1832–1905) aimed at providing greater autonomy of the cities that would have reduced the power of the prefect over them.5 The reform was seen as a confirmation of the law XLII  :1870 on the municipalities that had extended the remit of the mayor and the town council. But it was decided not to separate the towns from the county administrations so that the prefect remained a leading influence in the relations between them and the government. As some Hungarian historians have argued, the autonomy of the towns was a mere illusion for the government constantly violated it by restricting the limits of self-management.6 Yet many case studies give indications of the contrary  : cities could make a real use of this limited autonomy  ; they were also able to manoeuver between county and state bodies  ; competition between cities also shows that town councils knew how to take advantage of an apparently unfavorable situation  ; last but not least they were actors of the growing polarization between the Liberal and Independence parties. Following this analysis Károly Vörös argues that, indeed, the Hungarian government sought to control the cities in order not to lose them to opposition (mass political parties, national groups) but with meagre success since they enjoyed autonomy and, more important, finances and powers of attraction that enabled them to manage a great deal of self-government.7 The growing influence of the mayors and the role of the city elites in the modernization of Hungary were confirmed by the organization of congresses from 1909 on. The initiative was due to István Bárczy, the Budapest mayor (1906–1918). He personified the new trend that was turning mayors into experts and technicians as well as politicians. The first congress was held in Budapest in 1909 and saw the may5 Catherine Horel, Les tentatives de réforme de l’administration hongroise entre 1886 et 1914, in  : Etudes Danubiennes 11/2, 1995, 186. 6 Bél a Sa rlós, Das Rechtswesen in Ungarn, in  : Wandruszka – Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie, II, 535. 7 Vörös, Die Munizipialverwaltung, 2346.

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ors of the major towns attending. They were interested in meeting and comparing experiences but of course the congress was also the occasion to foster competition between cities or to seal political alliances. By showing their solidarity and the importance of cities in the development of the country the mayors sent a clear message to the government not to violate city autonomy further. As a result of their lobbying they obtained the enactment of law LVIII  :1912 that provided financial support to enforce urban development from the government. The trend towards emancipation from Budapest’s dominance was obvious. Each town pretended to be actually a regional centre. In 1912 the congress of the cities with municipal statute was held in Temesvár and this was considered to be the peak achievement of the town’s mayor, Károly Telbisz. The career of Telbisz (1854–1914) is typical of the path followed by many other mayors.8 He was already a civil servant of the town before being elected mayor in 1885. His bilingualism was a necessity for the town was still mostly German-speaking at this time. His predecessor, János Török, also originally a local civil servant, was then promoted chief captain (főkapitány, Oberstadthauptmann) of Budapest. He was already considered to have been a pioneer in the Magyarization of the town although the process was in 1885 merely starting. Nevertheless he was praised for the urbanization and the creation of schools. Before his election the Neue Temesvárer Zeitung speculated about the applicants and their abilities, drawing the ideal portrait of the next mayor  : “He must be aware of the fact that here all nationalities and confessions of Hungary are present  ; therefore the mayor of the royal free town of Temesvár must not show chauvinism or anti-Semitic attitudes.”9 In the end Telbisz was a clear winner. He was re-elected four times  : 1890, 1896, 1902, and 1908, thus achieving practically a record in Hungary’s history. Before dying, symbolically in July 1914, he had been ennobled and awarded all possible decorations of the empire. Moreover he came to embody the transformation of Temesvár into a Hungarian town by promoting Magyarization. On the occasion of his 25-year jubilee in 1910 the Temesvarer Zeitung dedicated practically its entire issue of 9 March to the mayor.10 The paper published the list of congratulatory telegrams from all parts of the kingdom. His action at the head of the municipality was detailed  : schools, theatre, health care, and public works. More articles were dedicated to Telbisz in the following days. They concerned mainly two  8 As a comparison see the longlasting carreer of Tivadár (Theodor) Münster (1833–1909) in Kassa (Košice), who administered the city from 1872 to 1906. Fr a nk Henschel, Das Fluidum der Stadt … Urbane Lebenswelten in Kassa/Košice/Kaschau zwischen Sprachenvielfalt und Magyarisierung 1867–1918, München–Göttingen 2017.  9 Die Bürgermeisterfrage, in  : Neue Temesvarer Zeitung, 22.2.1885, 1. In this respect there was nothing to worry about for Telbisz was a converted Jew, a fact that was not even commented on. 10 Dr. Karl Telbisz 1885–1910, in  : Temesvarer Zeitung, 9.3.1910, 1.

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aspects of his activity  : Magyarization and promotion of Temesvár nation-wide. This last characteristic was already obvious from the end of the 1890s along with the beginning of the cities’ congresses. The models for that were of course taken from Budapest but also from Pozsony. An example of that was the foundation of the Free Lyceum in 1899, clearly inspired by similar initiatives launched in the capital as well as in Pozsony. The aim of the institution was to foster Hungarian national culture by organizing courses and conferences for adults on various subjects. The two cities shared similarities in terms of multicultural society  ; the importance of their German-speaking population was considerable and therefore the challenge of Magyarization was particularly significant. When the congress of the cities with municipal status was organized in Temesvár in September 1910 it was not surprising to see it chaired by Tivadar Brolly, Pozsony’s mayor, together with co-chairmen Telbisz and the mayor of Kassa (Kaschau, Košice), Anton Eder  : three men who were at the head of multicultural towns.11 Tivadar Brolly’s career is comparable but he served for a shorter time as Pozsony’s mayor from 1900 to 1918. Born in 1852 in Nógrád County, he started as deputy notary in the 1880s and was nominated chief notary within the municipal team in 1884  : the functions often alternated. The new mayor Karl Mergl was a long-serving expert of the municipality for educational affairs  ; he was already vice-mayor  ; the new vice-mayor Gustav Dröxler was chief notary and it was his post that Brolly then took over. Brolly continued his ascent in the hierarchy of the town council by succeeding in 1898 to Theodor Kumlik as vice-mayor. The unexpected death of Mayor Paul Taller in May 1900 brought Brolly one step further  : he was elected mayor and Theodor Kumlik came back as vice-mayor so that the municipal team was barely changed. Mayors and their deputies as well as experts working for the municipality did actually travel to other cities to see models of the realizations they planned for their town  : Brolly himself as vice-mayor had travelled to Arad in June 1899 together with chief engineer Anton Sendlein. The article in the Pressburger Tagblatt relating the trip hopes that both men collected ideas and models to be implemented in Pozsony.12 It is also interesting to see that in this respect there was no hierarchy in the models  : Arad could indeed have been considered a modest city by the proud Pressburger but this was apparently not the case. Indeed models were not necessarily looked for in Vienna and Budapest or even abroad. On the contrary the delegations sent by the towns to Budapest were not always welcomed. Brolly headed such a delegation in March 1914  : although they were received by Prime minister Tisza and other ministers, they came back empty-handed.

11 Bürgermeister-Versammlung in Temesvar, in  : Temesvarer Zeitung, 28.7.1910, 1. 12 Preßburger Tagblatt, 24.6.1899, 2.

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In Hungary the generation of the reformists who had sealed the Compromise with Austria made way for centralist and nationalist politicians. The liberal model was contested also from the left  : by the Independence party who rejected the Compromise and aimed at a real personal union if not at a separation of both partners  ; the party openly claimed the heritage of 1848. In the cities the evolution was visible in the composition of the municipal council where challengers to the leadership appeared. The fight resumed in a confrontation between the heirs of the Liberal party and the newcomers of the Independence party. Whatever name it took in the course of the years, the government party was still inspired by the liberalism of the 1860s but its policy was obviously moving in a centralist and nationalist way from the middle of the 1870s on. The party was eager to maintain its position in the counties as well as in the bigger towns. The town where the confrontation between the government party and the Independence party was at its peak was Arad and this for at least two reasons  : the city was considered as the capital of the revolution of 1848 because of the execution of the Thirteen martyrs on 6 October 1849  ; it was located in a multicultural region, between Banat and Transylvania, where Magyarization was seen as an absolute necessity. But the town hall was particularly resistant to the penetration of the Independence Party thanks to the presence of mayor Gyula Salacz (1832–1915) who was firmly installed from 1876 to 1901.13 He was pragmatic enough to play both cards in the course of his tenure so as to get the Independence party out of the town hall. However they conquered county seats but here the paradox lies in the fact that the region was also the place where many Romanian representatives were elected since the villages around Arad were inhabited mostly by Romanians. Arad’s political life oscillated between liberals and the Independence party from the beginning of the 1880s on. One of the most significant personalities of the Liberal party was Miksa Falk (1828–1908) who was elected as the town’s representative to the Diet.14 He was the embodiment of the assimilation of Jews as well as their adhesion to Liberalism. Considering his influence over the community, the newspaper Arad ésvidéke, organ of the Independence party, tried to convince Jewish voters to side with the party and thus to abandon Liberalism. They should now turn to the real patriotic party if they want to be definitely integrated into Hungarian society, argues the paper  ;15 in the next issue an anonymous Hungarian Jew answers by deny13 Salacz is one of the few mayors to be still honored by a bust with bilingual caption, located on the square in front of the puppet theater, next to the street bearing his name. The statue was inaugurated in 2012. 14 A Pest native, he began his career in Austrian newspapers then in 1848 he also contributed to the Hungarian press. Back to Hungary in 1867 he was chief redactor of the Pester Lloyd before engaging in politics for the Liberal Party in 1875. After the defeat of the liberals in 1905 he left the political scene. 15 A zsidóság mozgalma, in  : Arad ésvidéke, 8.1.1892, 1. 

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ing the paper the right to tell the Jews how to vote and affirms on the contrary their support for the government party because they know very well what they owe to the Liberals.16 The candidate of the Independence party Péter Atzél, son of former mayor Péter Atzél, was indeed victorious, becoming the city’s representative at the Parliament. From then on the Independence party considered Arad to be one of its strongholds. Moreover the campaign was not free from Anti-Semitism and the famous liberal German-speaking Budapest daily Pester Lloyd vituperated against Arad because of that. Arad ésvidéke protested by calling this accusation an “absurdity” and saw in it a strategy of the Liberals.17 But the paper could not contradict the fact that it had urged people to vote for Atzél. Falk’s main support among the Arad newspapers was the liberal Neue Arader Zeitung. Actually one of the reasons why Arad was never completely won by the Independence party lies precisely in the importance of the Jewish vote  : they were among the biggest tax-payers and constituted a significant part of the local intelligentsia so that the number of voters was superior to their percentage in the population. The same difficulties were obvious in Nagyvárad where the percentage of the Jewish population was higher. Notwithstanding the numerous attempts to win the parliamentary as well as the municipal elections and to launch newspapers in favor of the Independence party, no real success was ever registered. One of the reasons was the influence of Prime minister Tisza who was a native of the town and its longtime representative. The city had also a long-serving mayor, Ferenc Sal (1875 to 1897) who knew well how to neutralize the Independence party leaders by organizing mass patriotic celebrations in which they could not refrain from participating without losing their legitimacy.18 The main daily Nagyvárad that had started as a liberal organ turned towards the Independence party only after it had won the general elections and formed a government in 1906  : this move was obviously opportunistic because in the meantime there were other papers in Nagyvárad claiming to support the independent tendency such as Szabadság, founded in 1880. A subtitle was added proclaiming “Official paper of the Independence-and-1848 Party for the Bihar county and Nagyvárad”. Nagyvárad tried to be more independent than the like-minded papers  ; it vituperated against Austria and agitated in favor of the erection of a monument to Kossuth.19 This idea was visibly a reaction to the project to build a statue of Kálmán Tisza that had started one year before. The town was in danger of being won by the Independence party so that both liberals and social-democrats mobilized. Finally the liberals sent a candidate of the old order, Dr. Ignác Radó, who lost pathetically 16 Arad és vidéke, 10.1.1892, 1. 17 Arad ésvidéke, 31.1.1892, 1. 18 For example for the commemoration of 6 October 1849  : Nagyvárad, 7.10.1893, 2. 19 Los von Österreich, in  : Nagyvárad, 12.6.1906, 1.

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against Tamás Szokoly from the Independence party. Contrary to the town’s seat at the Diet, the mayor’s office was never occupied by a member of the Independence party  : here the voters were successful in preventing such a change. Nevertheless there were moments of dispute notably over the appropriation of national symbols and celebrations  : the Independence party tried for example to monopolize the commemoration of March 15th in 1899 by forcing the nomination of five of its members to the organization committee. The liberals protested by setting up their own committee  ; in the end they were victorious, for the Independence party celebrated apart from the official festivity.20 In Szabadka there was no comparable Jewish elite able to rescue the Liberals. Two elements contributed to a bigger influence of the Independence party  : the national conflict between Hungarians and Bunjevci and the Catholicism of most inhabitants that pushed some of them into the arms of the Catholic People’s party (Katolikus Néppárt). Many of the assimilated Bunjevci were among the supporters of the Independence party that conquered the town hall unexpectedly at the beginning of the 1880s. The personality of the new mayor János Mukics (Mukić) was contested immediately by the liberals who succeeded in reversing the situation by electing Lázár Mamuzsics (Mamužić) who went on to serve for three mandates thus definitely anchoring the town in the liberal camp. But the contestation was not over for Mukics won the parliamentary seat of the town. Some newspapers changed orientation in the course of the years, turning from liberalism to the Independence party. The argumentation was deeply rooted in local realities  : the subject of the quarrel was the attitude of the Bunjevci whom everyone wanted to rally to their respective cause. The Szabadkaiközlöny was clearly in favor of the Independence party whereas its concurrent Bácskai Ellenőr professed liberalism  : one of its owners was Ágoston (Ago) Mamuzsics, a brother of the future mayor. The paper changed its redaction in 1891–1892, choosing openly the Independence party but remaining moderate. The real opposition was provided by Szabadság founded in 1883 by lawyer László Szalay. Its tone was virulent against the supposedly unfaithful Bunjevci and the mayor, depicted as their creature. The paper was campaigning for the candidates of the Independence party for the municipal elections but they were regularly defeated by the candidates running for the mayor. Here again the paper tried to mobilize Jewish voters by arguing that the Independence party was the real voice of the Hungarian nation.21 When the Catholic People’s party appeared on the political scene in 1895 it attracted supporters from both Hungarian and Bunjevac sides  : one of its local leaders was a member of the mayor’s family, the priest Mátyás (Maća) Mamuzsics.22 The party succeeded in ap20 A szabadság napja, in  : Nagyváradi Napló, 15.3.1899, 1. 21 Szabadság, 28.1.1892, 1. 22 See his obituary in  : Subotička Danica, 1901, 35–37.

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propriating one of the town’s papers  : Szabadkaésvidéke (Szabadka and province). The new tone was explicitly anti-Semitic and anti-socialist and made a clear association between Jews and Social-Democracy.23 Despite the fact that the majority of the population was Catholic the candidate of the party had no success in the local elections. Confrontation was also caused by social unrest. Apart from the May Day processions and meetings, the Social-Democratic party regularly organized demonstrations  : until 1907 in Cisleithania to demand the introduction of universal suffrage and after that for its extension to all polls. But the demonstrations took also the form of protest by means of strikes  : then it was the living conditions, salaries, and working hours that were the main subjects of the gatherings. In Transleithania the Social-Democrats kept demanding universal suffrage as well as better working conditions. The transnational conception of Social-Democracy and its resolute faithfulness to Austro-Marxism was considered by the national activists as treason of the national cause. The other mass party was Christian-Socialism but with very different levels of success depending on the cities of Austria-Hungary. The Hungarian Catholic People’s party was practically absent from the multicultural cities. There the diversity of confessions and nationalities made it difficult for such a party to gain ground  ; the same could be said for eastern Hungary as a whole because of the significant Protestant minority. Even in a Catholic stronghold like Szabadka the party was not able to achieve meaningful results. It was more powerful and influential in Pozsony where it was able to publish a daily newspaper from 1896. But it was a German-speaking one, a specificity that immediately raises the question of the attitude of the party toward multiculturalism. Theoretically a Catholic party should have been as transnational – or more precisely universal – as Social-Democracy. Indeed in Pozsony the party seems to have had a real concern for the Slovaks. Its enemies were numerous enough so as not to alienate the Slavic minority. The Preßburger Tagblatt vituperated against the government accused of leading a Kulturkampf  : many of its members were Protestants and 1895 was the year of the enactment of the laws on the laicization of the registry office. Immediately after its creation the party endeavored to integrate the life of the community. The already extant (1894) Association of the Catholic women workers (Verein katholischer Arbeiterinnen) was put under the control of the party. Archduchess Isabella who was the leading aristocratic personality of the town became the patroness of the association. The archducal couple was indeed considered in Pozsony as the local court and sponsored Catholic associations. The party followed the line of its Austrian counterpart and was extremely loyal to the dynasty therefore coming sometimes into contradiction with its Hungarian homologue. In the Preßburger Tagblatt Hungarian national dates such as March 15 and October 6 were duly commemorated although they represented moments of anti-Habsburg 23 A kaftános szociálisták, in  : Szabadka és vidéke, 19.4.1903, 1.

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feelings. Concerning the local politics the party was at odds with the municipal council because of the project to expropriate the archbishop palace to the benefit of the town hall. This would mean “the abolition of the Catholic character of our city” and the paper appealed to the imperial family.24 Needless to say, none intervened so the palace was soon transformed to accommodate the town hall. Consequently the party considered itself and the Hungarian Catholics to be persecuted  : apart from being directly attacked by the government, the Catholic faith was threatened by “Social-Democracy, Liberalism, Freemasonry, the church robbers and the free-thinkers who sweep down on us”.25 One element was absent from the list but it was implicit  : the Jews were considered to be behind all those categories. However Anti-Semitism was a delicate business in Pozsony  : the city was at one and the same time one of the few places where anti-Jewish riots had occurred in 1848 and a capital of Jewish Orthodoxy where the liberal and assimilated Jews were also numerous. Although being on the way to assimilation to the Hungarian nation, many of them were still attached to the German language. Thus the local leadership of the party was cautious and refrained from diatribes that were common elsewhere. In the context of Pozsony Freemasonry was much more problematic  : due to its prohibition in Cisleithania, Hungary became the refuge of Freemasons from all over the empire. Thanks to its proximity to Vienna, Pozsony was home to many lodges and welcomed regularly important meetings of Austrian Freemasons. The Catholic party denounced what it called collusion between Freemasons and Jews. The fact that Pozsony was practically the Hungarian capital of Freemasonry infuriated the Pressburger Tagblatt so that it published in January 1914 a list of the supposed members of the lodges  : doctors, veterinarians, teachers, attorneys, engineers, entrepreneurs, merchants, and even civil servants.26 The fact that an important part of the Pressburger elite belonged to the Freemasonry was well-known, the most famous Hungarian lodge in Pozsony was the Fraternity (Testveriség).27 The particular multilingual situation of the town necessitated the association of German, Hungarian and Slovak party members. Thus the speeches were given in these languages  : the delegate of the central organization, attorney Julius Barántzky, addressed the assembly in Hungarian  ; István Rakovszky, vice-chairman of the Chamber of deputies and president of the association, spoke German  ; finally both speeches were translated into Slovak. It was then a rule in the meetings of the party in Pozsony to provide speeches in Slovak, a sign that the party was well aware of the necessity to gather as many forces as possible. Most Pressburger Slovaks belonged to the Catholic 24 Das Primatialpalais und die Clique  !, in  : Preßburger Tagblatt, 5.3.1902, 1.  25 Katholiken Ungarns  !, in  : Preßburger Tagblatt, 10.3.1905, 1. 26 Die Freimaurer Pozsony‘s, in  : Preßburger Tagblatt, 13.1.1914, 1.  27 K ata rina Hr a dsk á, Slobodomurárské lože v Bratislave, Bratislava 2005, 55.

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faith, contrary to Central and Eastern Slovakia where Lutherans were an important minority. The growing industrialization of Pozsony was another factor taken into account by the party eager not to lose the workers to Social-Democracy. In fact the meetings of the Catholic party were frequently disturbed by Social-Democrats  : both struggled to gather the workers regardless of their nationality. In 1905 there were at least two significant moments of this confrontation  : on 1st October the Catholic workers organized a public meeting dealing with social reforms and suffrage, which was disturbed by Socialists. The police intervened and had to separate both groups so that the Catholics could go on with their meeting. Here again the speech made by the Budapest delegate was translated into Slovak. The local leaders of the party spoke respectively Hungarian and German.28 In December the Social-Democrats organized a meeting followed by a demonstration to demand universal suffrage and this time the Catholics supported it without taking part openly  : the report in the Pressburger Tagblatt is surprisingly positive and gives no sign of the animosity that sometimes erupted in the street. They had to admit that the Socialists had succeeded in mobilizing a crowd of 6 to 7,000 people who demonstrated in the most perfect order.29 The difference lay in the fact that here the Slovaks had a proper leader, Lehoczky, to address them and no need to have speeches translated. This example shows that there was still some room for transnational elements in the city. Moreover Stadtpatriotismus was still an important factor in determining the town’s politics in regional and national contexts. The discussion about the real influence of the activists on the population focuses on two main arguments  : people were showing more indifference than adhesion to national goals  ; national conflict was indeed increasing and becoming an everyday feature. The agitation was at its maximum during election campaigns that were relatively frequent because of the three levels of administration in Austria (Reichstag, Landtag, municipality), to a lesser degree in Hungary (Parliament, municipality). The press was particularly active then, yet there should be no over-evaluation of its influence  : on the contrary the virulence of some articles show that citizens were not responding appropriately to what was expected from them in terms of national discipline. The reduced access to suffrage did also keep people from being interested in politics. The demonstrations were often the expression of minorities, or attractions to be curious of, or even good occasions for violence on the part of excluded members of society. In the face of growing national contest local authorities sought to unite the populace over dynastic or provincial patriotism  ; it seems that there was still enough room for both expressions.

28 Preßburger Tagblatt, 2.10.1905, 2. 29 Eine Demonstration für das allgemeine Wahlrecht, in  : Preßburger Tagblatt,11.12.1905, 1.

Franz Schausberger, Salzburg*

Johann Horbaczewski – der erste Gesundheitsminister in Europa Im Zuge der Corona-Pandemie hat man sich der bisher von der historischen Wissenschaft weitgehend vernachlässigten sogenannten Spanischen Grippe erinnert und versucht, Vergleiche zwischen diesen beiden weltweiten Pandemien herzustellen. Dabei stößt man unweigerlich – soweit dies jedenfalls die Österreichisch-Ungarische Monarchie betrifft – auf Johann (Ivan) Horbaczewski.1 Dieser – wiewohl der erste Gesundheitsminister in Europa – wurde bislang von der Geschichtswissenschaft kaum wahrgenommen. Nicht einmal aktuelle medizinhistorische Arbeiten über die Spanische Grippe gehen auf ihn ein.2

1. Jugend und Ausbildung Johann Horbaczewski wurde am 5. Mai 1854 in dem kleinen Dorf Zarubyntsi (polnisch Zarubińce), sieben Kilometer westlich der Bezirksstadt Zbaraz in Galizien, als Sohn des griechisch-katholischen Pfarrers Jakiv (Jakob) Horbaczewski im heutigen Rajon Sbarasch (Zbarazh) der ukrainischen Oblast Ternopil geboren. Er gehörte der ruthenischen (= ukrainischen) Nationalität Altösterreichs an. Zarubyntsi zählte damals maximal 75 Häuser mit rund 485 Einwohnern. Drei Viertel davon gehörten der Griechisch-Katholischen Kirche (Ruthenen), ein Fünftel der Römisch-Katholischen Kirche (Polen) an und darüber hinaus gab es etwa zehn Juden und zehn Deutsche.3 * Abkürzungen  : A  : Abendausgabe  ; NFP  : Neue Freie Presse  ; PTb  : Prager Tagblatt  ; SPAH  : Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrates  ; SPHH  : Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Herrenhauses des Reichsrates  ; WMW  : Wiener Medizinische Wochenschrift. 1 Fr a nz Sch ausberger, Ähnlich und doch ganz anders. Spanische Grippe vor 100 Jahren und Corona heute (= Historisch-politische Kurzstudien, 2), Salzburg 2020, 17f.; Jiří Pl ach ý, Zwischen Galizien, Wien und Prag  : Prof. MUDr. Ivan Horbaczewski (1854–1942), in  : Antonín Kostlán – Alice Velková (Hg.), Wissenschaft im Exil. Die Tschechoslowakei als Kreuzweg 1918–1989. Sammelband einer Konferenz, Prag 2004, 251–261. 2 Herwig Czech, Die Spanische Grippe von 1918. Blick auf eine lange vergessene Pandemie, in  : Manfried Rauchensteiner – Michael Gehler (Hg.), Corona und die Welt von gestern, Wien–Köln–Weimar 2021, 23–40. 3 Mieczysl aw Orlowicz – Rom a n Kor dys, Illustrierter Führer durch Galizien, Wien–Leipzig 1914, 303.

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Nach bestandener Matura begann er 1872 das Studium der Medizin an der Universität Wien, das er im Jahr 1880 mit der Promotion zum Dr. med. abschloss. Ein Jahr später, 1881, heiratete er Emilia Bilinska, mit der er zwei Töchter hatte. Sein Bruder war Antoni Horbaczewski (1856–1944), Advokat in Czortków (Galizien), 1913/1914 Mitglied des galizischen Landtags, von 1928 bis 1939 Mitglied des polnischen Senats, davon in den Jahren 1935 bis 1938 Vizemarschall (Vizepräsident) des Senats.4 Schon nach einem Jahr Studium wurde Johann Horbaczewski 1877 Demonstrator an der Lehrkanzel für angewandte medizinische Chemie an der Universität Wien. Im Februar 1881 wurde er Assistent am Laboratorium für medizinische Chemie bei Professor Ernst Ludwig. Dieser, sein wissenschaftlicher Mentor, verfeinerte die Methoden der Mineral- und Heilquellenanalyse und verbesserte das Standardverfahren zur Harnsäurebestimmung. Durch seine Forschungen und seine Lehrtätigkeit trug er wesentlich zur Etablierung der medizinischen Chemie als akademisches Fach bei.5 Professor Ludwig gab Horbaczewski die Chance, sich an verschiedenen Studien und Forschungsprojekten zu beteiligen.6

2. Militärische Laufbahn Noch vor der Promotion begann Horbaczewski seinen Militärdienst als EinjährigFreiwilliger mit einem dreimonatigen Frontdienst bei der Infanterie. Nach der Promotion 1880 musste er neun Monate als »Einjährig-Freiwilliger-Arzt« dienen. Mit 1. Oktober 1880 wurde er vom Kaiser zum Oberarzt in Reserve des Garnisons-Spitals Nr. 14 in Lemberg ernannt. Im Dezember 1883 wurde er in die nichtaktive k. k. Landwehr versetzt. 1884 wurde er Bataillons-Arzt mit Oberarzt-Rang und Oberleutnants-Charakter. Die gesetzliche militärische Laufbahn beendete er mit Beginn des Jahres 1886.7

4 https://senat.edu.pl/historia/senat-rp-w-latach-1922-1939/senatorowie-ii-rp/senator/antoni-horba czewski [20.7.2021]. 5 Heinz Oberhummer, Ludwig Ernst, in  : Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. 5, Wien 1972, 347f. 6 WMW, 18.6.1881, 746. 7 Wiener Zeitung, 1.10.1880, 2  ; Österreichischer Soldatenfreund, 28.12.1883, 6, 10  ; PTb, 10.1.1884, 10 und 5.1.1886, 11.

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3. Wissenschaftlicher Durchbruch Das Jahr 1882 brachte Horbaczewski einen viel beachteten Durchbruch in seiner wissenschaftlichen Laufbahn. Als Assistent von Professor Ludwig gelang ihm eine Entdeckung von epochemachender Bedeutung für die medizinische Wissenschaft, nämlich die Synthese der Harnsäure.8 Da die Harnsäure für den Stoffwechsel des Menschen von hoher Bedeutung und für zahlreiche Erkrankungen ursächlich verantwortlich ist, war die medizinische Fachwelt an dieser Entdeckung Horbaczewskis äußerst interessiert. Professor Ludwig, stolz auf seinen Schüler, informierte darüber nicht nur ausführlich die Akademie der Wissenschaften, sondern auch die Gesellschaft der Ärzte, die die Mitteilung mit reichlichem Applaus entgegennahm.9 Als Folge dieses wissenschaftlichen Erfolgs wurde Horbaczewski am 28. Dezember 1882 als neues Mitglied in die chemisch-physikalische Gesellschaft aufgenommen.10 Von da an nahm Horbaczewskis wissenschaftliche Laufbahn eine steile Aufwärtsentwicklung. Im August 1883, im Alter von erst 29 Jahren, wurde er vom Kaiser zum außerordentlichen Professor, ein Jahr später bereits zum ordentlichen Professor für angewandte medizinische Chemie an der tschechischen medizinischen Fakultät in Prag ernannt.11 In der Zeit zwischen 1883 und 1918 war er viermal Dekan der Medizinischen Fakultät. Im Juli 1902 wurde Horbaczewski für das Studienjahr 1902/1903 zum Rektor der tschechischen Universität in Prag gewählt.12 Von 1885 bis 1890 war er ehrenamtliches, ordentliches Mitglied des Landessanitätsrats für Böhmen und wurde immer wieder als Gutachter etwa bei Verunreinigungen von Abwässern durch Industriebetriebe herangezogen.13

4. Horbaczewski und die Ruthenen Horbaczewski war Ruthene und stammte aus dem österreichischen Kronland »Königreich Galizien und Lodomerien«, das quasi zweigeteilt war, in das mehrheitlich ruthenische Ostgalizien und das überwiegend polnische Westgalizien. In Galizien bildete der polnische Gutsadel die dominante Schicht, die Ruthenen hingegen gaben auf dem Land die Mehrheit ab, allerdings weitgehend abhängig und unterdrückt

 8 PTb, 8.11.1882, 5.  9 Linzer Tages-Post, 9.11.1882, 2  ; NFP, 30.11.1882, 20. 10 Österreichische Zeitschrift für Pharmacie, 10.12.1883, 557. 11 WMW, 15.8.1883, 1128f.; Wiener Zeitung, 23.11.1884, 1. 12 Pharmaceutische Post, 13.7.1902, 13. 13 PTb, 1.8.1890, 3 und 20.7.1897, 4.

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vom polnischen Adel. Die Polen stellten alle Statthalter, die Bezirkshauptmänner und mehrere Minister in Wien. Diese polnische Dominanz stieß immer wieder auf den heftigen Widerstand vor allem der jungruthenischen Intelligenz.14 Die Ruthenen erlebten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Erweckung ihrer ruthenischen Kultur als Widerstand gegen die zunehmende Polonisierung. Die Revolution 1848 brachte eine gewisse Besserstellung der ruthenischen Bauern, die Einführung der ruthenischen Sprache auf allen Schulstufen sowie die Abschaffung der Leibeigenschaft in Galizien.15 Ab dem Jahr 1890 wurden die ersten ruthenischen politischen Parteien gegründet, deren praktische Politik im Reichsrat und im galizischen Landtag gemäßigt war. Sie strebten eine Reform des Wahlrechts und eine bessere Vertretung der Ruthenen im galizischen Landtag an.16

5. Der erfolglose Kampf um eine ruthenische Universität Die Universität in Lemberg wurde 1784 von Joseph II. neu gegründet. Die Sprache an der Universität war ursprünglich polnisch, nach dem Wiener Kongress deutsch, 1867 wieder polnisch, später kamen Deutsch und Ukrainisch als Sekundärsprachen dazu. Nachdem bereits 1848/49 ein Lehrstuhl für ukrainische Sprache und im Jahr 1894 ein Lehrstuhl für ukrainische Geschichte eingerichtet worden war, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Forderung nach einer eigenen ruthenischen Universität immer lauter.17 Wegen der Frage, welche Sprache an der Universität Lemberg dominieren sollte, kam es in den Jahren 1907 und 1910 zu heftigen, bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen.18 Für die Ruthenen ging es um eine eigene ruthenische Universität, zumindest aber bis dahin um die Anerkennung der ruthenischen Sprache an der Lemberger Universität.19 Die Polen bestanden auf der ausschließlich polnischen Universität in Lemberg, hatten aber offiziell nichts gegen eine eigene ruthenische

14 A ndre as K a ppeler, Kleine Geschichte der Ukraine, München 2000, 112f  ; K l aus Bachm a n n, Kriegsgrund Galizien. Der ostgalizische Nationalitätenkonflikt und seine außenpolitischen Auswirkungen vor dem Ersten Weltkrieg, in  : Österreichische Osthefte 32, 1/1990, 40f. 15 Wolfdieter Biehl, Die Ruthenen, in  : Adam Wandruszka – Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. III/1, Wien 1980, 556f. K a ppeler, Kleine Geschichte der Ukraine, 121f. 16 K a ppeler, Kleine Geschichte der Ukraine, 136f. 17 Biehl, Die Ruthenen, 569. 18 Bachm a n n, Kriegsgrund Galizien, 43. 19 Czernowitzer Tagblatt, 26.1.1907, 3.

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Universität, wohl wissend, dass die Ruthenen sowohl personell als auch finanziell gar nicht in der Lage waren, eine solche neue Universität aufzubauen.20 Im März 1904 hielten die in Prag lebenden Ruthenen eine Versammlung zur Errichtung einer ruthenischen Universität in Lemberg ab. Dazu referierte u. a. Johann Horbaczewski. Die ruthenischen Abgeordneten wurden aufgefordert, im Reichsrat die Errichtung einer ruthenischen Universität in Lemberg zu fordern.21 Am 5. April 1907 sprachen zwei ruthenische Deputationen, denen auch Horbaczewski angehörte, in Wien beim Ministerpräsidenten, beim Unterrichtsminister und beim Finanzminister vor und übergaben ein Memorandum.22 Ministerpräsident Max Wladimir von Beck sagte die Errichtung von zwei neuen ruthenischen Lehrkanzeln an der Universität Lemberg zu, eine davon für Chemie mit Professor Horbaczewski. Bei den Immatrikulierungen sollte die Angelobungsformel künftig in lateinischer, die Einschreibungen in ruthenischer Sprache erfolgen können.23 Am 1. Februar 1909 fand in Lemberg ein ukrainischer Kongress statt, der kulturelle und wirtschaftliche Angelegenheiten behandelte. In das Präsidium wurde u. a. auch Horbaczewski gewählt.24 Ein Jahr später nahm Horbaczewski am ruthenischen Parteitag in Lemberg mit allen ruthenischen Politikern aus Galizien und der Bukowina teil. Bei diesen Beratungen wurde von einem kleinen Komitee, darunter auch Horbaczewski, eine Proklamation beschlossen. Die Ruthenen traten für die Verwirklichung der nationalen Autonomie ein und forderten eine größere Berücksichtigung der ruthenischen Nation im Staat und ihre Vertretung im Kronrat.25

6. Der schwierige Weg zu einem Ministerium für Volksgesundheit Nachdem der bereits drei Jahre andauernde Weltkrieg eine große Zahl von jungen Männern auf den Schlachtfeldern dahingerafft und im Hinterland Not und Elend hervorgerufen hatte, trat der Fürsorgegedanke 1917 endgültig stark in den Vordergrund. Die Zahl der Kriegsversehrten, der Witwen und Waisen stieg ständig an, Gesundheits- und Fürsorgeeinrichtungen mussten geschaffen werden. Schon 1909 – also noch vor dem Krieg – hatte der Lehrer Horbaczewskis, Professor Ernst Ludwig,

20 Czernowitzer Tagblatt, 6.2.1907, 2. 21 Czernowitzer Tagblatt, 30.3.1904, 2. 22 Die Zeit, 4.4.1907, 3. 23 Arbeiter Zeitung, 1.11.1907, 3. 24 Bukowinaer Post, 4.2.1909, 4. 25 Die Zeit, 3.2.1910, 3  ; Czernowitzer Allgemeine Zeitung, 6.2.1910, 4.

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im Herrenhaus die Schaffung eines eigenständigen Ministeriums für Volksgesundheit gefordert.26 In seiner Thronrede vor dem Reichsrat am 31. Mai 1917 bekannte Kaiser Karl I., dass ihm die soziale Fürsorge besonders am Herzen liege. Der Kaiser kündigte eine Reihe wichtiger sozialpolitischer Initiativen an.27 Zwei Politiker hatten das persönliche Interesse des jungen Kaisers Karl für die Fragen der Sozial- und Wohlfahrtspolitik geweckt  : Josef Baernreither, der Minister für soziale Fürsorge in der Regierung Clam-Martinic, und Julius Tandler, der Dekan der Wiener medizinischen Fakultät und Sozialdemokrat. Trotz unterschiedlicher politischer Einstellungen teilten beide die Ansicht, dem Monarchen die Errichtung eines neuen Ministeriums für Soziale Wohlfahrt und Volksgesundheit empfehlen zu müssen. Tatsächlich ordnete der Kaiser am 1. Juni 1917 die Errichtung eines solchen Ministeriums an, mit den Vorbereitungen wurde Minister Baernreither betraut. Die Regierung wurde jedoch bereits am 23. Juni 1917 vor allem durch die Opposition der Polen gestürzt und durch die Regierung Ernst Seidler von Feuchtenegg ersetzt. Seidler bemühte sich, durch Berufung von slowenischen und ruthenischen Politikern zu Ministern Signale an die nichtdeutschen Völker auszusenden. Die Tschechen waren nicht mehr bereit, an einer österreichischen Regierung teilzunehmen.28 Mit 30. August 1917 wurde der Ruthene Johann Horbaczewski, vorerst als Minister ohne Portefeuille, vom Kaiser in die Regierung Seidler berufen. Er übernahm nun die Vorarbeiten für das Ministerium für Volksgesundheit. Der Kaiser hatte nämlich in der Zwischenzeit entschieden, das ursprünglich kombinierte Ministerium in eines für soziale Fürsorge und eines für Volksgesundheit zu teilen. Das Fürsorgeministerium begann unter Minister Viktor Mataja am 1. Jänner 1918 seine Arbeit. Am 21. Juli 1917 führte das Herrenhaus eine große Debatte über die künftige Ausgestaltung des Gesundheitswesens. Gefordert wurde eine möglichst rasche Aufnahme der Arbeit des neu geschaffenen Ministeriums für Volksgesundheit und soziale Fürsorge. Die gesamte Ärzteschaft hatte seit Jahren die Zusammenfassung aller das Sanitätswesen und die Gesundheitspflege betreffenden Angelegenheiten in einer Zentralstelle gefordert. Das Gesundheitswesen war tatsächlich bis 1917 ein vernachlässigtes Kind der öster­reichischen Verwaltung gewesen, es wurde von einem Sanitätsdepartement des Innenministeriums als ungeliebtes Anhängsel in düsteren Räumlichkeiten des alten Rathauses betreut. Nun aber schien eine Besserung einzutreten  : »Vor einigen Tagen hat das neue Ministerium in den zwar engen, aber geschmackvoll eingerichteten 26 M a x Lederer, Wie das Fürsorgeministerium entstand, in  : Neues Wiener Journal, 2.6.1927, 2f. 27 Thronrede von Kaiser Karl I. am 31. Mai 1917 vor den beiden Häusern des Reichsrates  : SPHH, XXII. Session, 1917, Beilage Nr. 1, 4. 28 Tages-Post (Linz), 10.5.1918, 2.

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Räumen einer Privatwohnung in der Salztorgasse sein Domizil aufgeschlagen. Minister Dr. Johann Horbaczewski hat hier tüchtige Mitarbeiter um sich, um so rasch, als es die Not der Zeit gebietet, die Grundlagen für eine ersprießliche Arbeit des Ministeriums für Volksgesundheit zu schaffen. In dem stilvoll eingerichteten Sprechzimmer gewährt mir der Minister die erbetene Unterredung. Dr. Horbaczewskis elegante Erscheinung ließe mehr auf einen modernen Gelehrten als auf einen Minister schließen. Seine imposante Gelehrtenerscheinung trägt seiner früheren Wirksamkeit Rechnung«, schrieb der Journalist Hermann Pordes.29 Die ukrainischen Abgeordneten aus der Bukowina begrüßten die Berufung Horbaczewskis und versicherten ihn ihrer Unterstützung.30 Nachdem alle notwendigen Vorarbeiten geleistet waren, wurde das Ministerium für Volksgesundheit mit einem Handschreiben des Kaisers vom 24. November 1917 eingerichtet. Der dafür notwendige Gesetzesentwurf konnte nun dem Reichsrat für eine rasche Beschlussfassung zugeleitet werden.31

7. Die Debatte über das neue Ministerium im Reichsrat In beiden Häusern des Reichsrats wurde die Schaffung des Ministeriums für Volksgesundheit ausführlich diskutiert. Vor allem die Teilung in ein Ministerium für soziale Fürsorge und eines für Volksgesundheit stieß z. T. auf heftigen Widerspruch. Am 15. März 1918 wurde das diesbezügliche Gesetz im Abgeordnetenhaus unter äußerst spärlicher Anwesenheit der Abgeordneten diskutiert. Der sozialdemokratische Abgeordnete und steirische Arzt Michael Schacherl betonte als Berichterstatter, dass sich der zuständige Ausschuss – einschließlich der Sozialdemokraten – trotz vieler Bedenken für das vorliegende Gesetz ausgesprochen habe. Minister Horbaczewski kündigte an, dass durch das neue Ministerium die bestehende Zersplitterung in verschiedenen Ressorts durch eine Zentralstelle unter fachlicher Leitung beendet werde. Es gehe um die »Ausgestaltung, Neubelebung und Neuordnung« des gesamten Gesundheitswesens.32 Es war ein äußerst ambitioniertes Programm, das die Fürsorge für Kriegsbeschädigte, besondere Aktionen der gesundheitlichen Jugendfürsorge, die Bekämpfung der Säuglings- und Kindersterblichkeit und der Volkskrankheiten wie Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten umfasste und für das verhältnismäßig hohe Budgetmit-

29 Neues Wiener Journal, 31.10.1917, 4. 30 Fremden-Blatt, 2.9.1917, 7. 31 NFP, 18.11.1917, 5. 32 SPAH, XXII. Session, 74. Sitzung, 15.3.1918, 3755f.

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tel zur Verfügung standen. Das Gesetz wurde mit Mehrheit gegen die Stimmen der Polen und Tschechen angenommen. Nachdem Minister Horbaczewski nachzuweisen versucht hatte, dass die Einwände, die bei der ersten Debatte im Jahr 1917 geäußert worden waren, im vorliegenden Gesetzestext berücksichtigt worden seien, wurde das Gesetz am 18. Juli 1918 auch vom Herrenhaus trotz vieler Bedenken unverändert beschlossen.33 Vor allem wegen der immer heftiger werdenden Gegensätze zwischen den Deutschen Österreichs einerseits und den Tschechen und Südslawen andererseits sowie der Fundamentalopposition der Polen kam es zu mehreren Regierungskrisen. Was Horbaczewski betrifft, so wurde auch er in diesen nationalistischen Strudel gezogen. Im Mai 1918 wurde er von der tschechischen Gesellschaft der Wissenschaften in Prag aufgefordert, als Mitglied auszutreten. Seinerzeit war er aufgenommen worden, weil er als Professor der tschechischen Universität trotz seiner ukrainischen Nationalität das Vertrauen der tschechischen Kreise hatte. Dieses Vertrauen aber habe er als Minister im Kabinett Seidler verloren, weil er damit die Feinde der tschechischen Nation, die Deutschen, unterstütze. Ende August legte er tatsächlich seine Mitgliedschaft zurück.34 Nach weiteren Turbulenzen bat am 22. Juli 1918 die Regierung Seidler endgültig um seine Entlassung, die diesmal vom Kaiser genehmigt wurde. Seidler war mit seinem »deutschen Kurs« an den Polen und Böhmen endgültig gescheitert.35

8. Minister in den Regierungen Hussarek und Lammasch Nun wurde der frühere Unterrichtsminister Max Freiherr Hussarek von Heinlein mit der Bildung einer Regierung beauftragt. Gegen diesen machten nun die Ukrainer Stimmung und bezeichneten ihn als »Polengünstling« wegen seines Verhaltens als Unterrichtsminister in der Frage der ukrainischen Universität in Lemberg, um die sie vergeblich gekämpft hatten. Hussarek musste nun versuchen, den Polen keine weiteren Zugeständnisse betreffend Galizien zu machen, um nicht die Ukrainer noch mehr zu verstimmen.36 Als aber die Polen beschlossen, den neuen Ministerpräsidenten nicht nur beim Budgetprovisorium zu unterstützen, sondern ihm bis zum Ende des Jahres das Ver-

33 SPHH, XXII. Session, 33. Sitzung, 16.7.1918, 994–1002  ; Wiener Abendpost, 18.7.1918, 4. 34 Grazer Tagblatt, 13.7.1918 Abend, 3  ; Neues Wiener Tagblatt, 30.8.1918, 5. 35 Reichspost, 23.7.1918, 1f. 36 Reichspost, 24.7.1918, 4.

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trauen zu geben, beschlossen die Ukrainer sofort, in Opposition zu gehen und gegen das Budgetprovisorium zu stimmen.37 Trotzdem wurde Horbaczewski neuerlich zum Minister für Volksgesundheit in der Regierung Hussarek ernannt. Versuche des neuen Ministerpräsidenten Hussarek im Juli 1918, zumindest in Zisleithanien im letzten Moment eine Lösung des nationalen Problems zu finden, kamen zu spät und ernteten bei den Vertretern der betroffenen Nationen im Abgeordnetenhaus nur mehr Spott und Hohn. Für die tschechischen Abgeordneten etwa war der unabhängige tschechoslowakische Staat zu diesem Zeitpunkt bereits eine unabwendbar bevorstehende Tatsache. Vor diesem Hintergrund gingen die Abgeordneten in die Ferien. Als das Parlament am 1. Oktober wieder zusammentrat, hatten die Ereignisse endgültig ihren dramatischen Verlauf in Richtung Zusammenbruch genommen.38 Nicht nur an der Front, auch im Inneren ging die Monarchie rapide ihrer Auflösung entgegen. An den denkwürdigen letzten Sitzungen des Abgeordnetenhauses am 1. und 2. Oktober 1918 nahm Horbaczewski auf der Regierungsbank teil. Hussarek trug seine Pläne zur Lösung des Nationalitätenproblems, unbekümmert um die dramatischen Ereignisse um ihn herum, mit »kühlem Aktendeutsch« vor und holte sich sowohl von den betroffenen nichtdeutschen Abgeordneten als auch von den Deutschen nur Absagen. Am 10. Oktober 1918 traf sich die parlamentarische Vertretung der Ukrainer im Abgeordnetenhaus. Dabei waren die Herrenhausmitglieder Graf Szepticki, Minister Horbaczewski, der Vizepräsident des Abgeordnetenhauses Dr. Komanczuk, alle ukrainischen Abgeordneten aus Galizien und der Bukowina. Für alle stand fest, dass die ukrainische Nation nach mehreren Jahrhunderten der Unterdrückung in diesem Weltkrieg als ein selbständiger Staat auferstanden sei und dass dieses nun wiederhergestellte alte Kiewer Reich im freien Völkerbund des zukünftigen Europa seinen Platz als mächtiger Kulturfaktor im europäischen Osten einnehmen werde. Jetzt nahe die große historische Stunde, in der auch die Ukrainer der österreichischungarischen Monarchie ihr nationales Selbstbestimmungsrecht frei ausüben könnten. Gleichzeitig wurde der anmaßende Versuch des polnischen Regentschaftsrats in Warschau mit Entrüstung zurückgewiesen, seine gierige Hand nach dem ukrainischen Ostgalizien, dem einstigen alten ukrainischen Fürstentum Haljitsch-Vladimir und der Erbschaft der gesamten ukrainischen Nation, auszustrecken. Es wurde einstimmig beschlossen, für den 19. Oktober die Einberufung der Vertrauensmänner aus allen ukrainischen Gebieten der österreichisch-ungarischen 37 Reichspost, 25.7.1918, 2. 38 Friedrich F. G. K lein wa echter, Von Schönbrunn bis St. Germain. Die Entstehung der Republik Österreich, Graz–Wien–Köln 1964, 19–25.

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Mon­archie nach Lemberg anzuregen und in dieser Nationalversammlung einen »Ukrainischen Nationalrat« ins Leben zu rufen. Dieser werde die Aufgabe haben, das Selbstbestimmungsrecht des ukrainischen Volkes auf dessen Gebiet auszuüben und durchzuführen. Gleichzeitig wurde das Verbleiben der österreichisch-ungarischen Truppen in der Ukraine im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und Sicherheit und die genannten Gelüste der Polen dringend gefordert.39 Die ruthenischen Abgeordneten brachten in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 2. Oktober 1918 zwei Anträge ein, aus denen ihre tiefe Verärgerung über die österreichische Außenpolitik zum Ausdruck kam. Die österreichische Monarchie betreibe gegenüber ihren Völkern eine Politik, die gegen das demokratische Selbstbestimmungsrecht grob verstoße. Durch die Bevorzugung ihrer polnischen Gegner würden die Ruthenen unterdrückt, dies käme einer »Auslieferung Ostgaliziens an das Königreich Polen« gleich. Sie verlangten daher, dass alle vom Außenministerium beabsichtigten Friedensschritte erst nach Anhörung des Reichsrats bzw. der nationalen Delegationen unternommen würden.40

9. Horbaczewski und die Spanische Grippe Die gesamte Phase des militärischen, politischen und gesellschaftlichen Zusammenbruchs der österreichisch-ungarischen Monarchie war zusätzlich überschattet von der weltweit furchtbar grassierenden Spanischen Grippe, die letztendlich in Österreich die Einrichtung eines Ministeriums für Volksgesundheit wesentlich beschleunigt hatte. Überlegungen, ein solches Gesundheitsministerium zu schaffen, gab es auch im Vereinigten Königreich bereits im Sommer 1917, die Verwirklichung dauerte dort bis 1919.41 Die Spanische Grippe wurde in Österreich nur ein einziges Mal im Abgeordnetenhaus thematisiert. Am 9. Oktober 1918 musste der Minister für Volksgesundheit vor den Abgeordneten dazu Rede und Antwort stehen. Der parteilose jüdisch-natio­ nale Abgeordnete Heinrich Reizes (1878–1931) aus Lemberg warf dem Minister in seiner Anfrage vor, dass sich die Vorkehrungen der Behörden als verspätet und wirkungslos erwiesen hätten. Infolge der Verweigerung der Arzneiausfuhr aus dem Deutschen Reich fehlten die notwendigen Medikamente, die Zahl der zur Verfügung

39 Reichspost, 11.10.1918 A, 3. 40 SPAH, XXII. Session, 85. Sitzung, 2.10.1918, 4311f. 41 Ta r a Fin, The flu that wasn’t Spanish, 13.9.2018  ; https://history.blog.gov.uk/2018/09/13/the-flu-thatwasnt-spanish/ [10.4.2020].

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stehenden Ärzte sei völlig unzureichend, die pharmazeutische Zentralstelle versage vollkommen und Spitalsbaracken stünden ebenfalls nicht zur Verfügung.42 Der Minister stellte beschwichtigend fest, dass trotz der großen Zahl von Todesfällen die Grippe im Allgemeinen einen gutartigen Verlauf nähme und sie weniger bösartig sei als die Epidemie des Jahres 1890. Eine Verbreitung in Österreich sei nicht zu verhindern, vor allem auch deshalb, weil man den Erreger nicht kenne. An die deutsche Regierung sei man rechtzeitig wegen der Überlassung von Medikamenten herangetreten. Da aus Deutschland keine Hilfe kam, stellte das Österreichische Rote Kreuz eine größere Menge von Aspirin zur Verfügung, das nur in kleinen Mengen an Einzelpersonen verkauft werden durfte. Mit dem dramatischen Ansteigen der Krankheitsfälle müssten nun noch mehr Ärzte aus den Militärspitälern für die Behandlung von Zivilpersonen, die an der Spanischen Grippe erkrankt waren, herangezogen werden. Theoretisch müsste man auch alle leicht Erkrankten isolieren, was aber praktisch unmöglich sei. Nach der bedrohlichen Ausbreitung der Epidemie seien die Schulen geschlossen worden. Das Verbieten des Besuchs von Kaffeehäusern, Kinos, Theater usw. würde nicht viel nützen – so der Minister –, solange die hauptsächlichen Ansammlungen von Menschen im alltäglichen Verkehr etwa mit der Straßenbahn und der Eisenbahn und beim Einkaufen von Lebensmitteln nicht verboten würden, was ganz undenkbar sei. Von einer Anzeigepflicht der Krankheitsfälle, wie sie nach dem Epidemiegesetz vorgeschrieben war, wurde in dieser Zeit des Krieges und des Zusammenbruchs wegen der bürokratischen Überforderung der Ärzte abgesehen. Folglich hatte man aber auch keine genauen Zahlen. Der Minister berichtete, dass für jedes Krankenhaus die Einrichtung eines eigenen Grippezimmers angeordnet worden war, womit rund 700 Betten für Grippepatienten zur Verfügung standen.43 Debatte gab es keine. Trotz aller Beteuerungen des Ministers fehlte es an Notspitälern, sodass Akutpatienten abgewiesen und in Polizeikommissariaten untergebracht werden mussten.44 Mit der Beerdigung der Leichen kam man nicht nach, sie mussten oft eine Woche in den Wohnungen liegen, die Friedhofshallen waren mit Leichen überfüllt. In mehreren Bezirken mussten rasch Erweiterungen der Friedhöfe vorgenommen werden.45

42 SPAH, XXII. Session, 88. Sitzung, 8.10.1918, 4445. 43 SPAH, XXII. Session, 89. Sitzung, 9.10.1918, 4534f  ; WMW, 12.10.1918. Andere Quellen sprechen von bis zu 2000 Betten, bezeichnen aber auch diese Zahl als vollständig ungenügend. Die Neue Zeitung, 23.10.1910, 3  ; Zeitschrift des Allgemeinen österreichischen Apotheker-Vereines, 12.10.1918, 3. 44 Neuigkeits-Welt Blatt, 17.10.1918, 4. 45 Die Neue Zeitung, 23.10.1910, 3.

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10. Das Ende Auch die Regierung Hussarek scheiterte. Am 27. Oktober 1918 wurde Professor Heinrich Lammasch von Kaiser Karl zum Ministerpräsidenten ernannt, Johann Horbaczewski wurde neuerlich zum Minister für Volksgesundheit bestellt. Wenige Tage später, am 31. Oktober übergab Ministerpräsident Lammasch schließlich die Regierungsgeschäfte an den deutschösterreichischen Staatsrat. Ende Oktober 1918 löste sich die Donaumonarchie auf. Im am 30. Oktober 1918 konstituierten Staat Deutschösterreich amtierte von diesem Tag an die Staatsregierung Renner I mit Ignaz Kaup, bisher Sektionschef im Ministerium, als Staatssekretär (= Minister) für Volksgesundheit. Diesem übergab Horbaczewski nun die Geschäfte seines Ministeriums. Er selbst blieb, wie die ganze k. k. Regierung, auf Wunsch des Kaisers formal im Amt, bis der Monarch am 11. November 1918 seinen Verzicht auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften bekanntgab und die Regierung entließ. Am 15. März 1919 wurde das Staatsamt für Volksgesundheit neuerlich dem Staatsamt für soziale Fürsorge unterstellt.46

11. Ruhestand und Würdigung Ivan Horbaczewski wurde von der Tschechoslowakischen Republik, die am 28. Oktober 1918 entstand, noch im gleichen Jahr als Universitätsprofessor pensioniert. 1923 wurde er zum Rektor der Ukrainischen Freien Universität, 1921 in Wien gegründet und seit Herbst 1921 in Prag tätig, gewählt. 1924 wurde Horbaczewski tschechoslowakischer Staatsbürger. Er starb im hohen Alter von 88 Jahren am 24. Mai 1942 in Prag im nunmehrigen Protektorat Böhmen und Mähren des nationalsozialistischen Deutschen Reichs. Horbaczewski konnte seine fachlichen Qualifikationen für den Aufbau eines Gesundheitsministeriums aufgrund der politischen Ereignisse und des Endes der Monarchie nicht mehr zum Einsatz bringen. Wohl aber kann man sagen, dass er die er­ sten Grundlagen für ein modernes Gesundheitssystem geschaffen hat. In Österreich ist er weitgehend vergessen, eine kleine Gedenktafel in Wien erinnert an ihn. In der Ukraine wurde er mehrfach gewürdigt  : In Ternopil wurde ein Horbaczewski-Denkmal errichtet, in Lemberg gibt es eine Horbaszewski-Straße, die nationale Medizinische Fakultät trägt seinen Namen. In seinem Heimatort Zarubyntsi ist die Schule nach ihm benannt und es gibt ein ihm gewidmetes Museum. In der Medizinischen Fakultät der Prager Universität befindet sich eine Gedenktafel mit seinem Porträt.

46 WMW, 29.3.1919, 714.

Johannes Kalwoda, Wien–Seibersdorf am Hammerwald*

Christlichsoziale Vereins- und Agraraktivitäten beim Kärntner Franz Sommeregger (1882–1918) 1. Allgemeines Für die christlichsoziale Bewegung und für die ihr nahestehenden Vereine war der in Kärnten zu bebauende Boden vor dem Ersten Weltkrieg sehr schmal und hart, weil sie zwischen deutschfreiheitlicher und sozialdemokratischer Bewegung eingeklemmt waren. Eine straffe, das ganze Land abdeckende christlichsoziale Parteistruktur wie in anderen Kronländern gab es nicht. Darüber hinaus kam die Vereinstätigkeit von Vorfeldorganisationen mit 1910 weitgehend zum Erliegen, nachdem ein waghalsig von Kirchenmännern finanziertes Sozialprojekt Konkurs anmelden musste, dabei die Zentralkasse der landwirtschaftlichen Genossenschaften mitriss und auch den für das katholische Pressewesen Kärntens zuständigen St.-Josef-Verein fast in den finanziellen Ruin trieb.1 Sichtbares politisches Ergebnis eines Vertrauensverlusts war, dass das von Konrad Walcher 1907 gewonnene einzige christlichsoziale Reichsratsmandat in Kärnten 1911 wieder verloren ging und das Vereinswesen beinahe gänzlich zum Erliegen kam. Sieht man sich allerdings das Wirken der christlichsozialen Bewegung in Kärnten vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs an, fällt eine Mobilisierungskraft auf, für die *  Abkürzungen  : ADG  : Archiv der Diözese Gurk, Klagenfurt  ; APISMA  : Archiv des Päpstlichen Instituts Santa Maria dell’ Anima, Rom  ; AVA  : Allgemeines Verwaltungsarchiv im Österreichischen Staatsarchiv Wien  ; KvVI  : Karl von Vogelsang-Institut  ; UAW  : Archiv der Universität Wien. Der Autor dankt seinem akademischen Lehrer Lothar Höbelt vielmals und sehr herzlich für die unzähligen wissenschaftlichen Inspirationen und die Mitnahme bei Buchprojekten. Die Weichen zu diesem Aufsatz stellte er unbewusst ebenfalls, indem er den Autor vor einiger Zeit einlud, die stenographischen Klubprotokolle 1918/19 der Christlichsozialen und Großdeutschen zu kommentieren. Der Neugier einer darin zu erstellenden Fußnote entsprang dieser Aufsatz. Dem Kärnten-Erforscher und Neo-Böhmen widmet ein Exil-Steirer eine Kärntner Kurzbiographie. Ein herzliches Danke für die Unterstützung bei bzw. Gewährung der Recherche ergeht an Robert Kluger (ADG), Thomas Maisel (UAW), Johannes Schönner (KvVI), Tamara Scheer (APISMA), Erika und Martin Ertl bzw. Markus Trauttmansdorff  ; an Werner Drobesch für die kritische Durchsicht. 1 Wilhelm Wa dl, Beiträge zur Geschichte der Christlichsozialen Partei in Kärnten  : Untersuchungen zur Geschichte des deutschsprachigen katholischen Pressewesens in Kärnten, in  : Carinthia I 181, 1991, 383–407  ; hier 385–388  ; Werner Drobesch, Vereine und Verbände in Kärnten (1848–1938). Vom GemeinnützigGeselligen zur Ideologisierung der Massen, Klagenfurt 1991, 58–61  ; Joh a n n Unterluggauer, Bischof »Deo gratias«. Kahns Leben und Werk, Klagenfurt 1952, 250–264  ; Kärntner Tagblatt, 16.6.1914, 1.

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wohl auch Franz Sommeregger mitverantwortlich war. Wer war er  ? Was war sein Wirken  ? Hier sollen vor allem politische und vereinstechnische Aspekte thematisiert werden.2

2. Biographie Franz Sommeregger,3 am 14. Februar 1882 in Oberdorf 4 bei Spittal an der Drau in Kärnten geboren, war das zweite von zwölf Kindern des Landwirts Andreas Som­ mer­egger und dessen Frau Maria (geborene Ertl).4 Er maturierte am Staatsobergymnasium in Klagenfurt 1901 und absolvierte im Anschluss daran eine theologischphilosophische Ausbildung, zunächst vier Jahre am Klagenfurter Priesterseminar.5 Ab Herbst 1906 war er Kollegiat am deutschen Priesterkolleg Santa Maria dell’ Anima in Rom, an der er bis Juni 1908 verblieb und das Doktorat der Philosophie an der Academia pontivicia Santa Maria sopra Minerva erwarb.6 Anschließend studierte er in Berlin Staatswissenschaften bzw. Nationalökonomie. Im Sommersemester 1910 besuchte er an der juridischen Fakultät der Alma mater Rudolphina in Wien Vorlesungen zur allgemeinen und österreichischen Verwaltungslehre, zur Volkswirtschaftspolitik, allgemeinen vergleichenden und österreichische Statistik, zu Finanzwissenschaften und Geschichte der Verwaltung und Verfassung Österreichs.7 Der Berliner National- und Agrarökonomen Max Sering regte sein Dissertation zum Thema »Agrarverfassung der Landgemeinde und Landeskulturpolitik in Österreich seit der Grundentlastung« an. Darin befasste sich Sommeregger mit den Aufgaben der Landwirtschaftspolitik auf dem Gebiet der Flurverfassung. Er promovierte im Dezember 1912.8 Die persönliche Konsequenz war, dass er sich bis ans Lebensende intensiv mit agrarpolitischen und agrarrechtlichen Themen wissenschaftlich und volksaufklärend befasste.

2 Weitere Aspekte folgen in einer anderen Publikation. 3 Nicht eigens ausgewiesene biographische Informationen beziehen sich auf die Nachrufe in  : Reichspost, 19.10.1918, 7  ; Kärntner Tagblatt, 20.10.1918, 2–4. 4 http://data.matricula-online.eu/de/oesterreich/gurk/spittal-an-der-drau/S13_009-1/?pg=88  ; https:// familie.sommeregger.name/stammblaetter/Sommeregger_Franz_1882.htm [beide 10.3.2020]. 5 Fr a nz Sommeregger, Agrarverfassung der Landgemeinde und Landeskulturpolitik in Österreich seit der Grundentlastung (= Inaugural-Dissertation der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin), Klagenfurt 1912, 120. 6 APISMA, Rom, C/5d, Priesterbuch (1887–1967)  ; Kärntner Tagblatt, 25.7.1906, 5  ; Sommeregger, Agrarverfassung, 120. 7 Sommeregger, Agrarverfassung, 120  ; UAW, Nationale der Jurid. Fakultät, Sommersemester 1910, 313  ; http://phaidra.univie.ac.at/o  :994605 [28.9.2021]. 8 Sommeregger, Agrarverfassung, 120.

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Nach der Rückkehr aus Berlin bot ihm die Wiener Universität 1912 eine Lehrkanzel für Nationalökonomie an, er schlug dieses Angebot aus Verbundenheit mit seiner Diözese allerdings aus.9 Im Herbst des darauffolgenden Jahres wurde er zum Professor für Kirchengeschichte an der theologischen Diözesanlehranstalt in Klagenfurt ernannt. Diese Tätigkeit ließ ihm genügend Freiraum, sich weiterhin intensiv seinen agrarpolitischen Studien zu widmen.10 Während des Ersten Weltkriegs nahmen Sommereggers Aufgaben auf seelsorglich-karitativem Gebiet zu. Vier Monate nach dem Kriegseintritt Italiens wurde er zum Feldkuraten in der Reserve des k. u. k. Heeres ernannt.11 In der Zwischenzeit hatte er gemeinsam mit dem Deutschen Priesterbund für Kärnten, dessen Obmannstellvertreter er war, die Verwundetenseelsorge in den jeweiligen Abteilungen der Klagenfurter Militärspitäler organisiert.12 Weiters wirkte Sommeregger an der Aktion der Lebensmittelsammlung des Bischofs Adam Hefter mit und wurde am 6. Februar 1917 in der konstituierenden Sitzung zum Obmannstellvertreter gewählt. Die Verteilaktion für bedürftige und hungernde Personen in Klagenfurt (und Umgebung) und Villach fand zwischen 9. und 21. März 1917 statt.13 Wohl für diese karitative Betätigung erhielt er im August 1917 das Kriegskreuz für Zivildienste zweiter Klasse.14 Mit dem zukünftigen Führungszirkel der Christlichsozialen Partei stand Sommeregger aufgrund seiner Vereins-, Publikations- und Vortragstätigkeit bereits geraume Zeit in engem Kontakt. Im Herbst 1917 erweiterte sich sein Wirkungskreis. Er folgte dem Ruf der Parteileitung zur Mitarbeit in Wien.15 Formal arbeitete er auf Vorschlag des Niederösterreichischen Bauernbundobmanns Josef Stöckler »wissenschaftlich und als Redner« in der Organisation des Niederösterreichischen Bauernbundes mit. Diese Tätigkeit endete im August 1918.16 In dieser Wiener Zeit wurde er zu einem Weggefährten Ignaz Seipels. So verwundert es nicht, dass Sommeregger an der zweiten Konferenz der Internationalen Katholischen Union vom 29. bis 31. Jänner 1918 in Zürich Teil der österreichischen

 9 Kärntner Tagblatt, 20.10.1918, 2. Diese Aussage ist anhand des UAW nicht falsifizierbar, zumal die »älteren Akten und Sitzungsprotokolle der Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät bei dem Luftangriff auf Wien vom 21.02.1945 vernichtet wurden« (Auskunft HR Thomas Maisel, 28.9.2021). 10 Kirchliches Verordnungsblatt für die Diözese Gurk, 1.10.1913, 77  ; Kärntner Landbote, 27.9.1913, 10. 11 Wiener Zeitung, 12.9.1915, 1. 12 ADG, Alphabetische Ablage, Militaria, K. 6, Sommeregger an das Gurker Ordinariat (17.10.1915). 13 ADG, Hs. 834, 4  ; Robert K luger, Die bischöfliche Residenz in Klagenfurt 1769–1981. Ein Ort und seine Menschen. Die Geschichte einer historischen Stätte, phil. Diss. Klagenfurt 2017, 392f. 14 Reichspost, 17.8.1917 A, 3  ; Kärntner Tagblatt, 21.8.1917, 6. 15 Kärntner Tagblatt, 6.11.1917, 5  ; Salzburger Chronik, 10.11.1917, 3. 16 KvVI, Digitales Archiv, Protokolle des Bundesausschusses des Niederösterreichischen Bauernbundes (1912–1933), 18.10.1917, 17.1.1918  ; http://www.vogelsanginstitut.at/at/  ?page_id=2933 [24.8.2021]  ; Der Bauernbündler 1.11.1918, 2.

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Delegation war, die sich hinter die Friedensnote des Papstes vom 1. August 1917 stellte. Darüber hinaus sprach sie sich für einen Wiederaufbau des Völkerrechts und eine eigene Geschäftsstelle am Ort der allgemeinen Friedensverhandlungen aus.17

3. Gesellschaftspolitisches Wirken Sommeregger engagierte sich auf mehreren Ebenen. Einerseits übte der Kärntner Bauernsohn in Vereinen eine intensive Vortragstätigkeit aus und entfaltete überdies eine rege publizistische Tätigkeit. Andererseits arbeitete er am Aufbau und an der Festigung der katholischen Vereinsstrukturen mit. Er übernahm in zahlreichen Vereinen auch Funktionen. So war er u. a. Landesverbandskonsulent des Katholischen Arbeitervereins, als welcher er beispielsweise in der Generalversammlung vom 6. Jänner 1913 in Spittal die Anstellung eines freien Verbandssekretärs vorschlug und von den Mitgliedern bewilligt bekam.18 Dem Katholischen Volksbund gehörte Sommeregger seit seiner Wahl in der Generalversammlung vom September 1911 als Mitglied an. Zweck dieser übernationalen und alle Bevölkerungsgruppen einschließenden Organisation war es, einerseits »das Volk durch Wort und Schrift […] über die religiösen und sozialen Irrtümer der Gegenwart aufzuklären«, andererseits das Volk »zum Verständnis sozialer Reformtätigkeit und zur praktischen Mitarbeit an der geistigen und wirtschaftlichen Hebung aller Berufsstände nach den Grundsätzen der christlichen Weltanschauung« heranzubilden. Der Präsident des Katholischen Volksbundes für Österreich, Prinz Ferdinand von und zu Trauttmansdorff-Weinsberg, setzte sich zusätzlich das Ziel, die christliche Bevölkerung »gegen die destruktiven Mächte« zu sammeln, insbesondere einen »festen Wall gegen die rapid zunehmende Sozialdemokratie aufzubauen.«19 Ein Schreiben vom Jänner 1912, das die Umstrukturierung des Volksbundes thematisiert, weist Sommeregger als Geschäftsleiter in Kärnten aus,20 und unter seiner Leitung war eine stete Aufwärtsbewegung bei der Mitgliederwerbung zu verzeich17 John W. Boy er, Karl Lueger (1844–1910). Christlichsozialer Politiker als Beruf, Wien–Köln–Weimar 2010, 396  ; Friedrich R en nhofer, Ignaz Seipel. Mensch und Staatsmann. Eine biographische Dokumentation, Wien–Köln–Graz 1978, 114–118  ; Vorarlberger Volksblatt, 7.2.1918, 3  ; Fr a nz Spa lowsk y, Die zweite Konferenz der Internationalen Katholischen Union in Zürich, in  : Reichspost, 9.2.1918, 2f. Anwesend waren Katholiken aus Österreich-Ungarn, Deutschland, Dänemark, Litauen, Liechtenstein, Russland und der Schweiz. 18 Kärntner Bauernbote, 11.1.1913, 5  ; Kärntner Tagblatt, 12.1.1913, 9. 19 AVA Familienarchiv Trauttmansdorff, K. 222, Generalversammlung 1911  ; ebd., Satzungen des Katholischen Volksbundes für Österreich  ; ebd., K. 224, Ferdinand Trauttmansdorff an »Euer Durchlaucht« (23.4.1913). 20 Ebd., K. 224, Mappe ohne Beschriftung, Schreiben an Trauttmansdorff (18.1.1912).

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nen. So hält der Monatsbericht März 1913 für Kärnten 77 Neuanmeldungen und die Errichtung einer neuen Geschäftsstelle in Klagenfurt fest, womit die erste Volksbund-Ortsgruppe in Kärnten entstanden war, mit Sommeregger als provisorischem Leiter.21 Der Gründung der ersten Volksbund-Ortsgruppe in Kärnten unmittelbar vorangegangen war ein zweitägiger kostenfreier, allgemein zugänglicher Fortbildungskurs des Katholischen Volksbundes am Ostermontag und -dienstag (24./25. März 1913) im Vereinslokal des christlichsozialen Arbeitervereins in Klagenfurt. Eingeladen waren alle, die Interesse »an der sozialen und volkswirtschaftspolitischen Aufklärung« hatten, »die in Österreich bei seinen schwierigen volkswirtschaftlichen sozialen und nationalen Zuständen so bitter not« tue. Man rechnete vor allem »mit der Teilnahme aus den Kreisen der christlichsozialen Arbeiter- und Volksvereine, der bäuerlichen, gewerblichen und Intelligenzkreise.« Zweck des Kurses sollte sein, die volkswirtschaftliche und soziale Verfassung Österreichs auf Basis der Grundsätze der christlichen Sozialreform darzulegen. Kursleiter für die 32 Teilnehmer war Sommeregger, der gemeinsam mit Volksbunddirektor Richard Schmitz zu folgenden Themen Vorträge hielt  : »Wandlungen im Wirtschaftsleben der Neuzeit. Aufbau der österreichischen Volkswirtschaft und Grundzüge der Agrar-, Handels- und Gewerbepolitik. Arbeiterfrage und Organisation. Sozialismus. Soziale Reform und soziale Arbeit.«22 Den Abschluss bildete eine Volksbundversammlung in den Restaurations­räumen des Musikvereinsgebäudes, an der auch Fürstbischof Balthasar Kaltner teilnahm. Reden hielten Volksbunddirektor Schmitz von der Zentralstelle in Wien über die Entwicklung des Volksbundes und Sommeregger zu Forderung nach einer gesunden Wirtschaftspolitik für Österreich.23 Laut Tätigkeitsbericht 1913 gab es mit dem Stichtag 1. August 1913 bereits acht Volksbundgruppen mit in Summe 496 Mitgliedern. Im Jahr davor waren es erst 42 Mitglieder gewesen, ohne dass eine selbständige Ortsgruppe bestanden hätte. 1913 waren dies, verglichen mit Wien (10.514  ; 1912  : 7.666 Mitglieder), NiederösterreichLand (4.950  ; 1912  : 3.684 Mitglieder) oder Böhmen (1.645  ; 1912  : 1.170 Mitglieder), bescheidene Anfänge. Kärnten überholte aber Oberösterreich (1913  : 350  ; 1912  : 163 Mitglieder) und Salzburg (1913  : 396  ; 1912  : 291 Mitglieder) und zog mit der Steiermark (1913  : 496  ; 1912  : 109 Mitglieder) gleich.24

21 Ebd., Mappe Monatsberichte 1912, 1913 u. 1914, Monatsbericht März 1913  ; auch Reichspost, 30.3. 1913, 40f. 22 Kärntner Tagblatt, 9.3.1913, 12. 23 Kärntner Tagblatt, 28.3.1913, 3  ; 19.3.1913, 4. 24 AVA Familienarchiv Trauttmansdorff, K. 225, Tätigkeitsbericht und Bericht über die Hauptversammlung am 9. Oktober 1913 (= Katholischer Volksbund für Oesterreich), Wien 1913, 8f. Die Stärke Wiens begründete man mit der Bevölkerungsgröße der Stadt und mit dem Sitz der Zentralstelle.

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Eine wesentliche Voraussetzung für ein Florieren des Vereinswesens war Sommereggers Werk, ein kooperatives Vorgehen zwischen Volksbund und Bauernbund in Kärnten erzielt zu haben. Ende März 1914 schrieb der Direktor der Zentralstelle des Katholischen Volksbundes Richard Schmitz an Prinz Ferdinand Trauttmansdorff aus Klagenfurt  : »Auch in Kärnten wird unsere Bewegung nunmehr mit voller Kraft einsetzten.«25 Es habe zunächst die Gefahr bestanden, dass die Reorganisation der katholischen Kräfte durch Schaffung politischer Vereine erfolge. Sommeregger sei es aber gelungen, diese Gefahr zu bannen, habe dafür allerdings Konzessionen machen müssen. Organisatorisch bestanden sie darin, die offizielle Volksorganisation in Städten, Märkten und größeren Orten dem Volksbund zu überlassen, in Dörfern hingegen sowohl dem Christlichen Bauernbund als auch dem Volksbund. Dazu wurde ein beiden Vereinen dienendes Sekretariat in Klagenfurt errichtet.26 Sieht man sich die Vortragstätigkeit von Sommeregger im Zeitraum 13. April bis 29. Juni 1914 an, so bestätigt sich der optimistische Befund von Schmitz. Sommeregger kam innerhalb von elf Wochen auf 14 überlieferte Vorträge,27 die er bei unterschiedlichen Geschäftsstellen des Volksbundes (in Winklern im Mölltal,28 Wolfsberg, St. Paul im Lavanttal, Klagenfurt),29 bei lokalen Ablegern des Katholischen Arbeitervereins (in Pöckstein, Spittal an der Drau, Friesach)30 oder beim Christlichen Bauernbund (in Sagritz, St. Daniel im Gailtal, in Mörtschach im Mölltal zweimal, Klein St. Veit bei St. Veit an der Glan, in Zeltschach bei Friesach oder in Spittal an der Drau) hielt31. In diesen Wochen schaffte es Sommeregger mitunter, sogar mehr als jede Woche einen Vortrag zu halten. So hielt er für die Geschäftsstelle des Volksbundes Wolfsberg am Samstag, den 18. April, einen Vortrag und am darauffolgenden Vormittag für die Volksbundgeschäftsstelle in St. Paul im Lavanttal. Seine Spitzenleistung war, an zwei Tagen hintereinander drei Vorträge zu halten. So referierte er am Samstag, den 13. Juni, bei einer Volksbundversammlung der Geschäftsstelle Klagenfurt ab 20  :00 Uhr über die »Interessenssolidarität der erwerbenden Stände«

25 Ebd., K. 223, Schmitz an Ferdinand Trauttmansdorff (30.3.1914). 26 Ebd. 27 ANNO-Recherche von Ende August 2021. 28 Über die Volksbundversammlung in Winklern im Mölltal vom Ostermontag (13.4.1914) ist zu lesen, eine Person habe »durch zähe Agitation und Ausdauer« 42 Mitglieder für den Katholischen Volksbund geworben, woraufhin im Ort eine eigene Geschäftsstelle errichtet wurde. Sommeregger referierte über die Veränderungen des Volkswirtschaftslebens und die Entwicklung der verschiedenen Berufsstände. Reichspost, 12.4.1914, 13  ; Kärntner Tagblatt, 18.4.1914, 3  ; 22.4.1914, 5f. 29 Kärntner Tagblatt, 18.4.1914, 3  ; 22.4.1914, 5f  ; 26.4.1914, 9  ; 28.4.1914, 5  ; 16.6.1914, 1–3. 30 Ebd., 3.5.1914, 8  ; 13.5.1914, 6  ; 21.5.1914, 10  ; 13.6.1914, 8  ; 20.6.1914, 7f  ; Kärntner Bauernbote, 23.5. 1914, 5. 31 Kärntner Tagblatt, 9.5.1914, 4  ; 24.5.1914, 8  ; 27.6.1914, 4  ; 1.7.1914, 6f.; Kärntner Bauernbote, 16.5. 1914, 4  ; 27.6.1914, 4  ; 30.5.1914, 7  ; 6.6.1914, 7  ; 13.6.1914, 1  ; 27.6.1914, 2.

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(siehe unten). Am nächsten Tag war er um 9  :30 Uhr in Zeltschach, um über die »Hauptaufgaben der Agrarpolitik für die Alpenländer« bei einer allgemein zugänglichen Versammlung des Christlichen Bauernbundes zu sprechen. Am Nachmittag trat er um 15 Uhr im einige Kilometer entfernten Friesach auf und sprach in der Versammlung des Christlichen Volks- und Arbeitervereins über die Wichtigkeit einer richtigen Handelspolitik für Produzenten und Konsumenten.32 Von diesen Versammlungen stachen jedenfalls zwei im Juni heraus. Zum einen war es die Klagenfurter Volksbundversammlung vom 13. Juni, auf der neben Sommer­ egger auch der Wiener Volksbundaktivist Alfred Schappacher sprach. Auf ihr erschienen über 200 Personen. Sommeregger verwies in seinem Vortrag »Interessenssolidarität der erwerbenden Stände« auf die Bemühung des Volksbundes, s­oziale Bildungsarbeit zu verrichten, indem Studenten mit dem »sogenannten niederen Volke« in Kontakt gebracht werden, damit Verständnis »in den oberen Schichten […] für die niederen Schichten« gefunden werde. Aufgabe sei es, »zu heilen, wo Heilung möglich« sei, »Brücken zwischen den Interessengegensätzen zu schlagen,« wo es gehe, weshalb er sich gegen einen schrankenlosen Liberalismus aussprach.33 Als »Fest der politischen Auferstehung der Christlichsozialen Kärntens« wurde die für den 29. Juni einberufene Generalversammlung des Christlichen Bauernbundes für Kärnten in Spittal an der Drau apostrophiert, auch wenn sie schließlich vom Attentat in Sarajevo überschattet war. Es kamen 700 bis 800 Bauern. Der Ehrenund zugleich Rednertisch wies neben Sommeregger den ehemaligen Minister A ­ lbert Geßmann, die Reichsratsabgeordneten Josef Stöckler (Niederösterreich), Dechant Franz ­Prisching (Steiermark), Johann Kreilmeier (Oberösterreich) und die Kärntner Landtags­abgeordneten Josef Krampl, zugleich Obmann des Christlichen Bauern­ bundes für Kärnten, und Dechant Konrad Walcher auf. Auch Bezirkshauptmann Alexander von Pawłowski war erschienen.34 Beide Veranstaltungen sollten die Werbe­trommel für den Volksbund und den Christlichen Bauernbund rühren.

4. Agrarwissenschaftliche und -politische Diskussionen Als weiteres Aufklärungsinstrument nutzte Sommeregger die Feder. Aufgrund seiner agrarwissenschaftlichen Spezialisierung schaltete er sich in agrarpolitische Diskussionen ein. Dies tat er beispielsweise im Streit um die handelspolitische Ausrichtung Österreichs, der vor allem zwischen Alfred Simitsch von Hohenblum von der protektionistisch eingestellten Österreichischen Zentralstelle zur Wahrung der 32 Kärntner Bauernbote, 6.6.1914, 8  ; 13.6.1914, 8  ; 20.6.1914, 7f. 33 Kärntner Tagblatt, 10.6.1914, 3  ; 16.6.1914, 1–3. 34 Ebd., 1.7.1914, 6f.

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land- und forstwirtschaftlichen Interessen und Ferdinand von Pantz vom Österreichischen Wirtschaftsverein ausgetragen wurde.35 Dabei ging es unter anderem um die Folgen der mit 1906 angehobenen Zollsätze auf Getreide wie um die Teuerung, die auch Futtermittel (Mais oder Futtergetreide wie Gerste und Hafer) zukaufende viehzüchtende Bauern traf. Der auf einem christlischsozialen Reichsratsmandat sitzende Pantz als Vertreter der »Hörndelbauern« sprach sich gegen eine Hochschutzzollpolitik für Getreide aus, weil sie einen Großteil der heimischen Landwirte schädige, Sommer­egger als Vertreter der »Körndelbauern« hingegen temporär dafür. Sommeregger fuhr in der »Reichspost« scharfe Geschütze in Form von zahlreichen statistisch fundierten Argumenten gegen Pantz auf, und zwar zu einem Zeitpunkt, als er als 28-Jähriger noch recht unbekannt und weit davon entfernt war, eine vergleichbare Autorität wie ein Abgeordneter zu besitzen.36 In dieser Auseinandersetzung schonte Sommeregger auch nicht Theoretiker der Agrarpolitik wie Karl Hoffmeister,37 Professor an der Hochschule für Bodenkultur in Wien und zugleich Generalanwalt des Österreichischen Wirtschaftsvereines, oder den deutschen Nationalökonom Lujo Brentano, der sich auf Pantz’ Thesen stützte, Getreidepolitik sei Großgrundbesitzerpolitik.38 Den christlichsozialen Agrariern empfahl Sommeregger, sich auch von Simitsch und der agrarischen Zentralstelle zu emanzipieren.39 Wofür stand nun Sommeregger  ? Er sprach sich gegen Extreme und für eine »mittlere Linie« in zollpolitischen Fragen aus,40 also für die »Beibehaltung eines angemessenen Zollschutzes« bei Agrarprodukten, solange es bei Nachbarländern wie Deutschland keine Änderung der Zollpolitik gebe. Ziel des Agrarschutzes sei 35 Zu den Differenzen vgl. Loth a r Höbelt, Kaiseradler und Kornblume. Die deutschfreiheitlichen Parteien Altösterreichs 1882–1918, Wien–München 1993, 240–242  ; A lex a nder H a as, Die vergessene Bauernpartei. Der Steirische Landbund und sein Einfluß auf die österreichische Politik 1918–1934, Graz–Stuttgart 2000, 61–67. 36 Auslöser war die Schrift Fer dina nd von Pa ntz, Die Hochschutzzoll-Politik Hohenblums und der österreichische Bauernstand. Eine kritische Studie, Wien 1910. Zu den Entgegnungen vgl. beispielsweise die Artikelserie Fr a nz Sommeregger, Der Kampf um die Getreidezölle, in  : Reichspost, 27.11.1910, 12f.; 30.11.1910, 11f.; 2.12.1910, 11f. 37 Auf Sommereggers Artikelserie antwortete Hoffmeister mit einer eigenen  : K a rl Hoffmeister, Zum Kampf um die Getreidezölle, in  : Reichspost, 8.12.1910, 10f  ; 14.12.1910, 11f  ; 15.12.1910, 13  ; 17.12.1910, 9f. Hierauf replizierte Fr a nz Sommeregger, Wem dienen die Getreidezölle  ?, in  : Reichspost, 5.1.1911, 9f  ; 6.1.1911, 10f. 38 Sommeregger bezog sich auf die Schrift Lujo Brenta nos, Die deutschen Getreidezölle. Eine Denkschrift, Stuttgart–Berlin 1910  ; 2. Aufl. 1911, 27, 31  ; Fr a nz Sommeregger, Landwirte und Handelsverträge, in  : Grazer Volksblatt, 11.4.1912, 1–3  ; 12.4.1912, 2f.; 13.4.1912, 2f. 39 Aufsatzserie Fr a nz Sommeregger, Das agrarpolitische Programm des österreichischen Wirtschaftsvereines, in  : Grazer Volksblatt, 1.1.1913, 17f.; 5.1.1913, 9f.; hier  : 1.1.1913, 17. 40 Ders., Der Kampf um die Getreidezölle, in  : Reichspost, 2.12.1910, 12.

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es, die »eigenen Hilfsquellen viel mehr zur Entfaltung zu bringen,« als dies bis dahin möglich gewesen sei. Gleichzeitig war für ihn mit dieser Forderung die Pflicht für die Landwirtschaft verbunden, mit einer Effizienzsteigerung »diesen Zollschutz immer mehr entbehrlich zu machen,« um »die eigene Versorgung des Reiches mit Nahrungsmitteln stets gesichert zu verbürgen.«41 Sommeregger mahnte damit nicht nur die Ertragssteigerung in der Getreideproduktion ein, er trat auch für den Schutz der heimischen Viehzucht ein, für eine engere Handelsbeziehung mit Deutschland, überhaupt für einen mitteleuropäischen Zollbund, bestehend aus Österreich-Ungarn, Deutschland und Frankreich, um sich gegenüber der »Gewaltpolitik der wirtschaftlichen Riesenreiche«, der USA und Russland, zu schützen. Bei den nächsten Ausgleichsverhandlungen mit Ungarn erhoffte er sich eine bessere Wahrung der agra­rischen Interessen Cisleithaniens und sprach sich gegen die Tarifbegünstigungen der ungarischen Konkurrenz aus und prangerte das »vertragsfeindliche Vorgehen Ungarns« an, das die Sicherung des ungarischen Marktes für die österreichische Industrie immer mehr durchbreche, weil es seine eigene Industrie aufziehe. Um die Lasten des Zollschutzes auf die Massen zu reduzieren, müssten sich die Agrarparteien der »sozialpolitischen Fürsorge für die Schwachen und Kleinen zuwenden« und ein Einvernehmen mit der Industrie suchen. Sommeregger stellte sich gegen die Theorien von Pantz und des Österreichischen Wirtschaftsverbands.42 Er kritisierte 1913 die unwissenschaftliche Heran­ gehens­weise von Pantz, der aus der zoll- und handelspolitischen Literatur lediglich das auswähle, was zu seiner Theorie passe, und er warnte 1914 die Bauern vor dem Pantz-Programm, das laute  : »[W]eg mit den Futterzöllen«.43 Die Differenzen zwischen den beiden lassen sich bis in die Zeit des Weltkriegs hinein nachweisen. Noch 1916 sah sich Sommeregger in seiner Kritik an der mangelnden wissenschaftlichen Fundiertheit der Pantz’schen Thesen aus 1910 bestätigt. Siegfried von Strakosch wies nach, dass Pantz seinerzeit nicht aus einem »unendlich umfassenden Materiale« geschöpft habe und in der Lage gewesen sei, die »zwanzigfache Zahl von Beispielen und Ziffern zu bringen«, sondern von den damals 36 im Ackerbauministerium gesammelten Erhebungen zu bäuerlichen Betrieben lediglich 14 tatsächlich für seine Broschüre benutzt hatte.44 Eine weitere Differenz entstand, als Pantz 1916 einen im Österreichisch-deutschen Wirtschaftsverband präsentierten Vortrag zur Landwirtschaftspolitik nach dem Krieg publizierte. Sommeregger

41 Hiezu und zum Folgenden siehe Ders., Landwirte und Handelsverträge 13.4.1912, 2f. 42 Grazer Volksblatt, 1.4.1913, 8. 43 Sommeregger, Das agrarpolitische Programm, 5.1.1913, 9  ; Kärntner Bauerbote, 21.2.1914, 5. 44 Ders., Eine späte, jedoch nicht verspätete Feststellung, in  : Reichspost, 28.9.1916, 10  ; Siegfried von Str a kosch, Die Grundlagen der Agrarwirtschaft in Österreich. Eine handels- und produktionspolitische Untersuchung, Wien 1916, 245–247  ; 2. Aufl. 1917, 263–266.

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zerpflückte erneut etliche seiner Thesen.45 Zu dieser Thematik folgte 1918 seine Monographie.46 In der Christlichsozialen Partei machte sich Sommeregger bereits Ende 1910 einen Namen als Agrarfachmann. Am 8. Dezember 1910, auf dem 4. Bundestag des niederösterreichischen Bauernbundes, zitierte Bundesobmann Josef Stöckler im Hauptreferat Sommeregger, um eine der Theorien von Pantz, ein Kleinbauer habe weniger als 5 Hektar Grundfläche, zu widerlegen.47 Die innerparteiliche agrarpolitische Auseinandersetzung führte nach der Reichsratswahl 1911 letztlich zum Bruch von Pantz mit den Christlichsozialen.48 Auch mit zunehmenden Jahren blieb Sommeregger dem agrarwissenschaftlichen Themenbereich treu und befasste sich mit der landwirtschaftlichen Situation in der Monarchie oder mit der Entwicklung des Kärntner Viehstands.49 Wiederholt kritisierte er das Bauernlegen in den Alpenländern und forderte eine Agrarpolitik, die sich an sozialpolitischen und volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten orientiere. Es seien die Interessen der breiten bäuerlichen Bevölkerung zu wahren und nicht die des Großgrundbesitzes, weshalb der Liegenschaftsverkehr bei Grund und Boden so zu bestimmen sei, dass er sichernd wirke, weshalb der Ankauf von Grund zu Jagdzwecken und eine Neubildung oder Erweiterung des Großgrundbesitzes zu verbieten sei. Auf Luxusgütern sei ein bäuerlicher Betrieb zwangsweise einzuführen, verlorengegangene Bauerngüter seien in möglichst großer Zahl zurückzugewinnen. In Hochgebirgsgemeinden mit extensiver Bewirtschaftung habe man zu modernen, genossenschaftlich organisierten Agrargemeinschaften zurückzukehren. Er stand für den maria-theresianischen bzw. josefinischen Grundsatz  : »Was Bauernland ist, muss Bauernland bleiben«, denn der bäuerliche Grund- und Güterverkehr müsse einer 45 Friedrich von Pa ntz, Österreichs Landwirtschafts-Politik nach dem Kriege, Graz 1916  ; Fr a nz Sommeregger, Österreichs Landwirtschaftspolitik nach dem Kriege, in  : Kärntner Tagblatt, 21.5.1916, 3f.; 4.6.1916, 2f. 46 Ders., Aufgaben der Agrarpolitik nach dem Kriege (= Flugschrift der Katholischen Frauenorganisation für Oberösterreich, H. 3), Linz 1918. Zuvor hatte sich Sommeregger bereits 1915 Gedanken gemacht  : Ders., Unsere Landwirtschaft nach dem Kriege, in  : Kärntner Tagblatt, 17.7.1915, 4f  ; 18.7.1915, 5. Wiederabdruck in  : Kärntner Bauernbote, 24.7.1915, 12  ; 14.8.1915, 14. 47 Grazer Volksblatt, 9.12.1910 A, 1  ; Linzer Volksblatt, 10.12.1910, 1. Stöckler wandte sich gegen den Grundsatz von Pantz, der Kleingrundbesitz umfasse weniger als 5 Hektar, denn unter diesem befänden sich Nebenerwerbsbauern oder Taglöhner. Sommeregger habe Recht, dass der überwiegende Teil (rund 70 Prozent) der kultivierten Bodenfläche in Österreich von kleinen und mittleren Bauernbetrieben besessen werde. 48 Höbelt, Kaiseradler, passim. 49 Fr a nz Sommeregger, Der landwirtschaftliche Aufschwung Galiziens, in  : Kärntner Tagblatt, 23.8.1913, 1f  ; Ders., Die wirtschaftliche Lage in Galizien. Ein Beitrag zum Verständnisse der politischen Vorgänge, in  : Kärntner Tagblatt, 1.11.1914, 10f  ; Ders., Ostgalizien, in  : Salzburger Chronik, 8.11.1914, 9f  ; Ders., Die Entwicklung des kärntn[er] Viehstandes, in  : Kärntner Bauernbote, 15.9.1917, 9f  ; 22.9.1917, 9f.

Christlichsoziale Vereins- und Agraraktivitäten

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möglichst breiten Schicht eine selbständige Existenz sichern.50 Erst die Gesetzgebung der von wirtschaftlichen Nöten geplagten Ersten Republik setzte viele dieser Forderungen um.51

5. Schluss Neben den agrar-, handels- und wirtschaftspolitischen Themen äußerte sich Sommeregger auch zu allgemein innenpolitischen oder verwaltungs- und verfassungsrelevanten Themen. Als 1917/18 neue Verfassungs- und Verwaltungsgrundsätze diskutiert wurden, um Cisleithanien auf ein neues, von allen Nationalitäten und Gesellschaftsschichten akzeptiertes Fundament zu stellen, war Sommeregger – gemeinsam mit Ignaz Seipel – ebenfalls stark engagiert.52 Im Juli 1918 kehrte Sommeregger nach Kärnten zurück und vertrat ab September den Hauptschriftleiter des Kärntner Tagblatts in der Redaktion.53 Um den 10. Oktober 1918 erkrankte er an der Spanischen Grippe, wurde aber erst hospitalisiert, als sich sein Gesundheitszustand erheblich verschlechtert hatte.54 Am 18. Oktober empfing er die Letzte Ölung und verstarb im Beisein des Diözesanbischofs Adam Hefter, seiner Mutter und seiner Kollegen um 11  :45 Uhr.55 Ein durch und durch missionarisches Leben war erloschen.

50 Ders., Bauernlegung und Bauernschutzpolitik in den Alpenländern, in  : Volkswohl 9, 1918, 58–66  ; Ders., Das traurige Kapitel von der Bauernlegung, in  : Kärntner Tagblatt, 7.10.1917, 2–4  ; 14.10.1917, 2–4  ; 21. 10.1917, 2f  ; 28.10.1917, 4  ; 4.11.1917, 3f  ; Wiederabdruck in  : Kärntner Bauernbote, 13.10.1917, 2f und öfter. 51 Loth a r Höbelt – Joh a n nes K a lwoda – Joh a n nes Schön ner (Hg.), Klubprotokolle der Christlichsozialen und Großdeutschen 1918/19, Wien–Köln 2022  ; A nton von Pa ntz, Die Bauernlegung in Deutschösterreich, in  : Reichspost, 2.4.1919, 2f. 52 Vgl. Boy er, Lueger, 396–400  ; R en nhofer, Ignaz Seipel, 85–98, 120, 122f. thematisiert nur Seipels Diskussionsanteil. An anderer Stelle will der Autor der Frage nachgehen, welchen inhaltlichen Anteil Sommeregger an der christlichsozialen Diskussion um eine Verfassungsänderung hatte. 53 Kärntner Tagblatt, 20.10.1918, 2–4. 54 Reichspost, 19.10.1918, 7. 55 Kärntner Tagblatt, 20.10.1918, 3  ; 22.10.1918, 4.

Robert Kriechbaumer, Salzburg

Die Österreichische Revolution 1918/20 Die Sicht der (Salzburger) Provinz

»Wie soll man den Zerfall der Habsburgermonarchie anders bezeichnen denn als Revolution  ?«, stellt Ernst Hanisch in seiner Österreichischen Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert die berechtigte Frage. »Was in Jahrhunderten aufgebaut wurde, zerfiel in Wochen, Tagen, Stunden. […] Die Strukturen der Monarchie zerfielen, aber es gab zwei Strukturelemente, die überlebten  : die ehemaligen Kronländer und die politischen Parteien.«1 Die Länder gewannen gleichsam über Nacht ihre histo­ risch gewachsene Selbständigkeit zurück und wurden zu Machtzentren in einem noch nicht definierten Staat mit unsicherer Zukunft, die Parteien wurden bereits vor der Ausrufung der Republik zu den neuen bestimmenden Machtzentren, die jedoch durch die drohende Räterevolution gefährdet waren. Die zerstörerischen Wellen der Revolution – der allgegenwärtige Werteverfall, der Verlust an Identität und Heimat, die politische und soziale Revolution, die tiefgreifende ökonomische Krise und deren Folgen, die allgegenwärtige Kultur der Gewalt – erreichten auch die Provinz. Unter diesen Aspekten gewinnt der Perspektivenwechsel, weg von den Ereignissen in der Metropole und den Staatskanzleien hin zu den neuen Spielern, die nunmehr auch am Tisch des Geschehens saßen, seine Relevanz. Die folgende Darstellung unternimmt den Versuch, diesen Blick aus der Warte der Provinz am Beispiel Salzburgs und der Salzburger Christlichsozialen Partei zu rekonstruieren, wobei er sich aufgrund des nur beschränkt zur Verfügung stehenden Raums auf Streiflichter beschränken muss. Die junge Republik verfügte über keinen kollektiven Gründungsmythos, keine identitätsstiftende Erzählung, keinen historischen Ort, keine Symbole und Feste. Die politische Kultur war von Anfang an fragmentiert, geprägt von politischen Wagenburgen, Missverständnissen und daher auch Missinterpretationen. Für die Christlichsozialen, die sich in Wien nunmehr in der Minderheit befanden, und die Deutschnationalen/-liberalen wurde die Sozialdemokratie durch ihr letztlich erfolgreiches Bemühen, mit einer Taktik der radikalen Phrase die linksradikalen Tendenzen in Richtung Bolschewismus auch in Teilen der eigenen Anhängerschaft aufzufangen und zu neutralisieren, zum Inbegriff des revolutionären Agitators, des bolschewisti­ schen Wolfs im Schafspelz  ; eine Interpretation, der die Sozialdemokratie in der 1 Ernst H a nisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, 263ff.

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Folge­zeit teilweise aus ideologischen, vor allem aber aus taktischen Gründen immer wieder neue Nahrung gab. Durch die Verteilung der (partei)politischen Machtverhältnisse sowie die unterschiedlichen Lebenswelten und Milieus ergab sich die von Misstrauen und Abneigung geprägte Spannung zwischen Provinz und Metropole. Die beiden offiziellen Feiertage der Ersten Republik – der 12. November und der 1. Mai – galten infolge ihrer signifikanten Vereinnahmung durch die Sozialdemokratie und ihres oft martialisch inszenierten Charakters weder Christlichsozialen noch Deutschnationalen/-liberalen als »Staatsfeiertage« im Sinne kollektiver Identitätsbildung, sondern als »Parteifeiertage«. Sie galten als Beweis dafür, dass sich die in der Phase des revolutionären Umbruchs ihrer Stärke bewusste Sozialdemokratie des Staates zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele bemächtigt hatte. Anlässlich der dritten Wiederkehr des 12. November 1918 bemerkte die »Salzburger Chronik«, die Sozialdemokratie rufe »an diesem Tage ihre Massen auf die Straßen und in die Versammlungssäle, um den Tag zu preisen, der diese Erinnerungs­ feier schuf. Der Großteil der Bevölkerung allerdings fühlt wenig Freude an dem lärmenden Feste. Der 12. November kann wahrlich noch nicht den Anspruch erheben, der gesamten Volksseele als ein Nationalfeiertag zu gelten. Die Ursache hiefür liegt nicht in der Abneigung gegen die Staatsform, […] sondern [ist] nur der Ausfluss einer Stimmung, […] dass die Republik mehr als eine Enttäuschung gebracht hat. Dafür sollen sich aber in erster Linie die Sozialdemokraten verantwortlich machen, die schon durch die Aufmachung ihrer Feiern zu beweisen scheinen, dass sie gar nicht wollen, wenn andere den 12. November auch mitfeiern wollen. Die Sozialdemokraten sehen im Geburtstage der Republik nicht eine Feier des gesamten Volkes, […] sondern eine vollständig einseitige Parteifeier. [… D]arum ist das Volk noch nicht zum Staatsbewusstsein des Volksstaates erwacht. Und diejenigen, die die Republik als eine Parteisache hinstellen, sind ihre ärgsten Feinde, weil sie die Mehrheit der Bevölkerung zu Staatsbürgern zweiter Güte zu stempeln suchen.«2 Nachdem sie bei der Nationalratswahl im Februar 1919 die Mehrheit errang, habe die Sozialdemokratie, so die »Salzburger Chronik« am Vorabend der 1.-Mai-Feier des Jahres 1920, ihre bisher geübte »Bescheidenheit über Bord geworfen und verlangt von der bürgerlichen Welt nicht nur die Anerkennung dieses Proletarier-Festtages, sondern gefällt sich auch in der Rolle, dieselben zur Mitfeier zu zwingen. Es ist gar kein Geheimnis, dass die Nationalversammlung nur unter dem schweren Drucke der Sozialdemokratischen Partei den 1. Mai als gesetzlichen Feiertag erklärt hat. Dieser Schritt der gesetzgebenden Volksversammlung war jedenfalls eine Kapitulation, so sehr sich die Gesetzgeber bemühen, diese Niederlage durch schöne Worte zu verbergen.« Die 1.-Mai-Feiern seien von der Sozialdemokratie 2 Salzburger Chronik, 12.11.1921, 1. Hervorhebungen hier und im Folgenden sind vom jeweiligen Original übernommen.

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ihres ursprünglich gedachten Inhalts einer Volkskundgebung für politischen und sozialen Fortschritt beraubt und zu einer aggressiven parteipolitischen Veranstaltung umfunktioniert worden. Der Gedanke, diesen Tag durch eine Feier des gesamten arbeitenden Volkes zu einem Zeichen der Überbrückung der Klassengegensätze zu machen, sei von der Sozialdemokratie zu einer reinen Veranstaltung des Proletariats, das dabei eine exklusive Stellung beansprucht, umfunktioniert worden. »Aus allen Kundgebungen der Sozialdemokratie geht […] hervor, dass es sich für sie nicht um die Feier eines ›Tages der Arbeit‹, sondern um eine parteipolitische Aktion handelt.«3 Die Straße war der Revolutionsgewinner, so der Grundtenor, der auf durchaus realen Eindrücken der Ereignisse vor allem in Wien beruhte. Die Permanenz der revolutionären Gefahr, der offensichtliche Verlust des Gewaltmonopols des Staates, die Mobilisierung des Proletariats zur Durchsetzung politischer Forderungen der Sozialdemokratie, habe eine »allmächtige Tribüne« geschaffen, von der aus »das sozialistische Proletariat seine Forderungen« diktierte, sich »seine Machtorganisation zur Unterdrückung der anderen Klassen« schuf und über die Sozialdemokratie die Nationalversammlung massiv beeinflusste, »die leider oft genug nicht den Volkswillen, als vielmehr den Willen der Wiener Straße durchsetzen musste.« Dieses verabscheuungswürdige und »traurige Bild« habe die »Länder abgeschreckt.«4 Als auch die Länder zum Schauplatz der von den sozialdemokratischen Aktivisten in Wien praktizierten massiven Störung von politischen Veranstaltungen der politischen Gegner wurden, veranlasste dies die Christlichsoziale und Deutschfreiheitliche Partei Salzburgs Mitte Juni 1920 zu einer gemeinsamen Erklärung, in der sich beide Parteien vehement gegen die immer aggressiver praktizierte Politik der »rohen Faust« sowie die offensichtliche Diskriminierung nicht-sozialdemokratischer Arbeitnehmer in Betrieben aussprachen. Die nunmehr auch in Salzburg gehäuft vorkommenden Praktiken eines parteipolitischen »Faustrechtes« seien eines »mitteleuropäischen Kulturstaates« unwürdig. Man habe sich daher »zu gemeinsamer Abwehr jedes weiteren Übergriffes zusammengeschlossen und werde jedem derartigen Versuch […] geschlossen, mit aller Schärfe und mit allen Mittel entgegentreten.«5 Mit besonderer Besorgnis wurde der Einfluss der Kommunisten in den Arbeiterund Soldatenräten Ostösterreichs, vor allem Wiens, beobachtet. In den westlichen Bundesländern machte sich die Befürchtung breit, dass nach russischem Vorbild ein gewaltsamer Umsturz durch die Kommunisten drohe und auf die von Sozialdemokraten und Kommunisten dominierte Volkswehr kein Verlass sei. Die Kommunisten würden mit dem bolschewistischen Slogan »Alle Macht den Räten  !« den linken Flügel der Sozialdemokraten für eine Zusammenarbeit gewinnen und das 3 Salzburger Chronik, 28.4.1920, 1. 4 Salzburger Chronik, 4.5.1920, 1. 5 Salzburger Chronik, 10.6.1920, 1.

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parlamentarische System auf Lenins »Kehrichthaufen der Geschichte« fegen. Dass die sozial­demokratische Fraktion im Arbeiterrat durch radikale Losungen wie eine proletarische Polizeireform und engere Bindungen an Sowjetrussland dieser Entwicklung entgegenwirken wollte, bewirkte in der Wahrnehmung in den Ländern das genaue Gegenteil. Die Kommunisten sahen sich aufgrund der Taktik der Sozial­ demokraten gezwungen, durch eine Lizitation deren Forderungen links zu überholen und die revolutionäre Stimmung wiederum auf ihre Mühlen zu lenken. Sie stellten daher am 4. Mai 1920 im Wiener Kreisarbeiterrat den Antrag, von der Regierung die sofortige »Proletarisierung« der Polizei, ihre Unterstellung unter die Kontrolle des Arbeiterrats, die Entlassung aller reaktionären Polizeibeamten, die Enthaftung aller politischen Häftlinge und den Warenaustausch mit der Sowjetunion unter Kontrolle des Arbeiterrats zu fordern.6 Wenngleich die sozialdemokratische Mehrheit unter Friedrich Adler dieser Forderung nicht entsprach, so wurde die Entwicklung seitens der Christlichsozialen Partei und in den Ländern mit wachsender Sorge beobachtet. Leopold Kunschak erklärte in einem Gespräch mit der Auslandspresse, die Christlichsozialen erblickten »in der Tätigkeit einer Reihe von Nebenregierungen, insbesondere der Institution der Arbeiterräte, eine ernste Gefahr für die Wiederaufrichtung des wirtschaftlichen und staatlichen Lebens. Deren Tätigkeit beruht auf Willkür und beeinträchtigt die gesunde Entwicklung von Gesetzgebung und Verwaltung.«7 Der noch 1920 anhaltende Machtanspruch der Räte sowie die von Friedrich Adler postulierte institutionalisierte Revolution in Permanenz sei, so die »Salzburger Chronik«, für eine demokratische Republik unerträglich. »Unser Land, das wie kein anderes Ruhe und Ordnung notwendig hat, um die wirtschaftlichen Wunden zu heilen, fühlt die volle Wahrheit dieser Tatsache und stellt sich die Frage, ob ein Volk eine solche Revolution in Permanenz überhaupt ertragen kann. Mit Recht hat der christlichsoziale Führer Kunschak in der Nationalversammlung erklärt, dass das Fortwirken der Revolution in den Arbeiterräten nicht anders aufzufassen ist als die Revolution gegen die Republik und gegen die Demokratie.«8 Die vor allem in Wien bestehende Gefahr der Errichtung einer Räterepublik, das nur schwach ausgebildete Gewaltmonopol des Staates und die als kommunistischlinkssozialistisch infiltriert geltenden Volkswehreinheiten, veranlassten bereits 1919 die westlichen Bundesländer unter Führung des Salzburger LandeshauptmannStellvertreters Franz Rehrl, die Realisierung des Plans zur Errichtung eines Miliz­ systems in Angriff zu nehmen, mit dessen Hilfe man sich gegen eine drohende Räte­ republik und die damit verbundene Bolschewisierung des Landes wehren wollte. 6 H a ns H au tm a n n, Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918–1924, Wien–Zürich 1987, 555. 7 Salzburger Chronik, 8.5.1920, 1. 8 Salzburger Chronik, 6.5.1920, 1.

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Rehrl plädierte daher in den beginnenden Verhandlungen der Länder mit der Regierung Renner über eine künftige Verfassung auch für eine weitgehende Autonomie in Sicherheitsfragen. Und die Länder beschlossen auf einer Konferenz in Innsbruck im Juni 1919, die Bewaffnung von Bauern und Bürgern sowie die Vermehrung der Gendarmerie in einem Ausmaß vorzunehmen, das im Fall der Proklamation einer Räteregierung und einer notwendigen militärischen Konfrontation auch einen Sieg gegen die Volkswehreinheiten ermöglichen sollte. Für den Fall einer Konfrontation suchte Salzburg eine militärische Unterstützung aus Bayern, da man zu diesem Zeitpunkt im Land selber lediglich zwei Kompanien zuverlässiger Miliz aufstellen und ausrüsten konnte. In der zweiten Jahreshälfte 1919 erfolgte daher eine enge Zusammenarbeit zwischen Salzburg, Tirol und Bayern.9 In Salzburg suchten die nicht-sozialdemokratischen Parteien Kontakt zu den bayerischen Einwohnerwehren um den Forstrat Georg Escherich und den Obergeometer Rudolf Kanzler, beide Staatsbeamte und Mitglieder der Bayerischen Volkspartei. Ziel dieser Bestrebungen war es, die äußerst bescheiden ausgerüsteten ersten Salzburger Verbände der im Aufbau begriffenen Heimatwehren (Heimwehr) besser auszurüsten und für den Ernstfall zu einer schlagkräftigen Truppe zu formen. Am 24. Februar 1920 nahmen diese Bemühungen erste konkrete Formen an, als zwei Mitarbeiter Rudolf Kanzlers in Salzburg zu Gesprächen mit Vertretern der Christlichsozialen, der Großdeutschen, des Freiheitlichen Bauernverbandes und der Nationalsozialisten erschienen.10 Die Salzburger Teilnehmer wiesen bei dieser Unterredung darauf hin, dass sie bereits rund 1200 Mann, überwiegend im Flachgau, für Heimwehrverbände organisiert hätten. Bei diesem Gespräch wurden jedoch bereits die Unterschiede im Selbstverständnis der Gesprächspartner deutlich. Während die bayerischen Gesprächspartner auch den offensiven Charakter ihrer Einwohnerwehren betonten, bestanden die Vertreter der Christlichsozialen – der Landtagsabgeordnete Josef Hauthaler, die Landesräte Wilhelm Schernthanner und Daniel Etter und der amtierende Heimwehrkommandant Karl Itzlinger – auf einer rein defensiven Funktion der Verbände. Sie sollten nur im Krisenfall und bei Versagen der staatlichen Macht zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und zum Schutz des Eigentums zum Einsatz kommen. Dies schien umso notwendiger, als die Sympathiekundgebungen der Salzburger Sozialdemokratie Anfang 1920 für die gestürzte ungarische Räteregierung unter Bela Kun bei den Christlichsozialen den Generalverdacht zu bestätigen schien, die Sozialdemokratie sei lediglich eine Variante des Bolschewismus. Sogar bei der Niederwerfung des Spartakistenaufstands in Berlin durch die SPD sympathisierte in der Wahrnehmung der österreichischen Provinz die Sozialdemokratie mit den Sparta 9 Fr a ncis L. Ca rsten, Revolution in Mitteleuropa 1918–1919, Köln 1975, 258. 10 Ludger R a pe, Die österreichischen Heimwehren und die bayerische Rechte 1920–1923, Wien 1977, 116.

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kisten und der USPD. Immer mehr zeige sich innerhalb der österreichischen Sozial­ demokratie »ein Zug nach links«, die Partei zeichne eine »ungeklärte und halbe Haltung … gegenüber dem Bolschewismus« aus, konstatierte Ende Jänner 1920 die »Salzburger Chronik«.11 Dass in den Augen der Akteure in den Ländern die revolutionäre Gefahr trotz des gewaltsamen Endes der Räterepubliken in München und Ungarn keineswegs vorbei, sondern nach wie vor real war, schienen die beunruhigenden politischen Ereignisse in Osteuropa und Deutschland zu beweisen. Im Russischen Bürgerkrieg siegte die Rote Armee und begann im März eine Offensive gegen Polen mit dem Ziel, der bolschewistischen Revolution in Deutschland doch noch zum Sieg zu verhelfen.12 Im selben Monat erfolgte ein Aufstand der »Roten Armee« im Ruhrgebiet, der erst im April durch die Reichswehr niedergeschlagen werden konnte. Die vom Arbeiterrat in Wien am 3. Juni 1920 verabschiedete Resolution der Solidarität mit dem russischen Proletariat gab der Furcht vor einer drohenden Bolschewisierung Österreichs neue Nahrung. »Die stärkste Grundstimmung der Arbeiterklasse ist ihre warme Sympathie für das heldenhaft kämpfende russische Proletariat, dem sie in ihrem Beschluss ihre brüderlichen Grüße entbietet.« In dem historischen Ringen Sowjetrusslands entscheide sich »das Schicksal der Revolution und Konterrevolution«.13 Bei der Reichstagswahl drei Tage später erreichten KPD und USPD zusammen rund 20 Prozent der Stimmen, nachdem sie im Jänner 1919 nur 7 Prozent erreicht hatten. Am 16. Oktober spaltete sich die USPD auf ihrem Parteitag in Halle. Die Mehrheit schloss sich der Kommunistischen Internationale an und vereinigte sich im Dezember mit der KPD, während die Minderheit zur SPD wechselte und deren linken Flügel stärkte. Die Zukunft Mitteleuropas schien nach wie vor ungewiss. Der in Salzburg lebende Lujo Tončić-Sorinj, in der Zweiten Republik Außenminister in der Regierung Klaus, bemerkt in seinen Erinnerungen, dass die Ereignisse in Osteuropa und die bekannt gewordene kompromisslose Brutalität der Bolschewiki für die Zeitgenossen der Beweis dafür gewesen seien, »wohin die Dinge kommen würden, wenn man ihm [dem Marxismus] freie Bahn ließe. Und wir hielten es für absolut sicher, dass der Marxismus, sollte es ihm nicht gelingen, die Macht mit demokratischen Mitteln zu erlangen, eben zunächst mit versteckter und dann mit offener Gewalt sein Ziel zu erreichen, entschlossen war. Dies aber würde bedeuten, dass all die Dinge, die uns heilig sind, wie Religion, Eigentum, Respekt vor der Persönlichkeit, Ablehnung jeder Form der Vermassung, Unabhängigkeit der Justiz, Familie, Respekt vor den Werten der Vergangenheit, dass all dies zugrunde gehen

11 Salzburger Chronik, 30.1.1920, 1. 12 Bogda n Musi a l, Kampfplatz Deutschland. Stalins Kriegspläne gegen den Westen, Berlin 2008, 23ff. 13 Salzburger Wacht, 4.6.1920, 2.

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würde. Die einzige Bewegung, die entschlossen war, dies mit Gewalt zu verhindern, war die Heimwehr.«14 Die verstärkt einsetzenden Bemühungen um die Aufstellung von Heimwehrverbänden blieben der Sozialdemokratie nicht verborgen. So erklärte der Salzburger sozialdemokratische Landtagsabgeordnete Karl Emminger vor dem in Wien tagenden Reichsarbeiterrat Anfang Juni 1920, dass sich besonders in Salzburg die fortgesetzte Rüstung der Reaktion gegen die Arbeiterbewegung zeige. Die sozialdemokratische »Salzburger Wacht« berichtete, dass in allen Berichten aus den westlichen und südlichen Bundesländern »auf die immer kühner und umfassender geschehende Bewaffnung der Bürger und Bauern hingewiesen« wurde.15 Der Reichsarbeiterrat protestierte in einer offiziellen Resolution dagegen, »dass reaktionäre Klüngel unter passiver oder aktiver Teilnahme christlichsozialer und deutschnationaler Landesregierungsmitglieder in offenkundiger Verbindung teils mit der ungarischen, teils mit der bayerischen Konterrevolution in völliger Missachtung des Friedensvertrages Heimwehren organisieren und Bürger und Bauern gegen die Arbeiter mit Kampfmitteln aller Art bewaffnen.«16 Spätestens ab Sommer 1920 waren die Heimwehren ein zentraler Bestandteil der landespolitischen Diskussion. Am 4. August sah sich der christlichsoziale Landtagsabgeordnete Josef Hauthaler angesichts der massiven Angriffe der Sozialdemokraten im Namen der Landesleitung der Salzburger Heimwehr zu einer Stellungnahme veranlasst. Die Heimwehr sei keine reaktionäre Söldnertruppe, sondern »der organisierte Selbstschutz aller Ordnungsliebenden. Was will die Heimwehr  ? Für Ruhe und Ordnung sorgen, die Verfassung gegen den Versuch zur Aufrichtung einer Klassenherrschaft durch eine Minderheit schützen. Jedem Putsch von links oder rechts entgegentreten. Wenig ist uns noch geblieben  ! Auch dieses Wenige droht uns noch verloren zu gehen. Für Haus und Hof, für Hab und Gut, für unsere Familie, für den wirtschaftlichen Aufbau, für unsere alte Kultur, für die Religion treten wir ein, wenn uns der Kampf aufgezwungen wird. Wir greifen nicht an, wir verteidigen uns nur. Wir wollen keinen Bürgerkrieg, wir wenden uns aber gegen den Terror einer verhetzten Masse. Die Räteregierungen in Deutschland und Ungarn haben uns zu deutlich das wahre Wesen des Bolschewismus gezeigt. […] Es ist Lüge, wenn man uns vorwirft, wir wollen den Klassenkampf  ; wir stehen auf dem Boden der Demokratie und wenden uns gegen jede Vergewaltigung der politischen und persönlichen Freiheit. […]

14 Lujo Tončić-Sorinj, Erfüllte Träume. Kroatien, Österreich, Europa, Wien–München 1982, 70. 15 Salzburger Wacht, 4.6.1920, 3. 16 Salzburger Chronik, 5.6.1920, 2.

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Nicht Angriff, sondern Selbstschutz ist unsere Losung.«17 Den Höhepunkt erreichte die politische Konfrontation in einer heftig geführten Debatte des Salzburger Landtags am 4. Dezember 1920. Die Sozialdemokraten hatten am 23. November eine Anfrage an Landeshauptmann Oskar Meyer wegen eines bekannt gewordenen Waffenschmuggels für die Heimwehr aus Bayern gestellt. Der Landeshauptmann erklärte in seiner Anfragebeantwortung, dass nach den durchgeführten Erhebungen mit einem aus Innsbruck nach Maishofen eingelangten Waggon, dessen Inhalt als Baumaterial deklariert war, Waffen in den Pinzgau gelangt und zwischen dem 10. und 15. Oktober über das Torrener Joch von 40 bis 50 Mann Waffen aus Bayern geschmuggelt und an die Heimwehren von Abtenau, Adnet und Kuchl verteilt worden seien. Weitere Waffenschmuggel wären nicht bekannt. Es sei jedoch bereits die Weisung ergangen, durch die Bürgermeister genaue Erhebungen über die diversen Waffenvorräte durchzuführen, entsprechende Verzeichnisse anzulegen und den Bezirkshauptmannschaften zu übermitteln. Die anschließende Debatte eröffnete der sozialdemokratische Landeshauptmann-Stellvertreter Robert Preussler mit der Bemerkung, weite Bevölkerungskreise Salzburgs seien darüber beunruhigt, »dass sich hier im Lande Banden bilden, die sich heimlich bewaffnen.« Die Initiatoren der Bildung dieser paramilitärischen Verbände – Heimwehren – seien überwiegend nicht die Bauern, sondern die »politisch ultramontane Geistlichkeit« und die »politisierende Advokatie«.18 So sei es für die Situation im Lande Salzburg symptomatisch, »dass die Gendarmerieberichte darauf hinweisen, dass in Pfarrkanzleien Mordgewehre an die Christen verteilt werden, nicht zu dem Zwecke, um die Bauern zu schützen vor Einbrüchen, sondern aus politischen Aspirationen. Wie kommt der Pfarrer, wie kommt der hohe Beruf der Geistlichkeit dazu, auf seinem neutralen Boden Mordgewehre zu sammeln, um sie einseitig für den Klassenkampf zu verteilen, politisch orientierte Klassen zum Kampf gegen die anderen Klassen  ?«19 Hinter der Heimwehr stecke die ultramontane reaktionäre Organisation Escherich. Angesichts dieser Entwicklung könnte die Sozialdemokratie ebenfalls gezwungen sein, die Arbeiterschaft zu bewaffnen. Die Mehrheit der Arbeiterschaft sei in der Landeshauptstadt und durchaus in der Lage, allen Versuchen der Konterrevolution auch mit Gewalt zu begegnen. Für die Christlichsozialen erwiderte Landesrat Wilhelm Schernthanner, die Heimwehr sei eine notwendige Selbstschutzmaßnahme gegen die maßlose sozialdemokratische Agitation auf der Straße, die gesetzliche Maßnahmen sowie das Recht auf freie Meinungsäußerung ignoriere und ständig mit der Diktatur des Proletariats drohe. »Wenn die Herren beteuern, dass sie auf dem Standpunkt der freien 17 Salzburger Chronik, 4.8.1920, 1. 18 Verhandlungen des Salzburger Landtages, 2. Session der 1. Wahlperiode, 3./4. Dezember 1920, 812f. 19 Ebd., 814.

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demokratischen Republik stehen, so glauben wir ihnen diese Beteuerungen nicht und können sie nicht glauben, weil seit dem Umsturze ihr ganzes Benehmen zu verschiedenen Zeiten, besonders in der letzten Zeit, bereits einer Diktatur nahekommt.« Die Sozialdemokraten würden regelmäßig Mehrheitsbeschlüsse des Landtags ignorieren und den nicht-sozialdemokratischen Abgeordneten mit der Mobilisierung der Massen drohen. Sie praktizierten damit einen »Revolutionszustand in Permanenz.« Durch das Bündnis der Sozialdemokratie mit den Arbeiterräten seien die in Wien bereits oftmals herrschenden gesetzlosen Zustände auch in Salzburg heimisch geworden. Wenn nicht-sozialdemokratische Zeitungen Gewaltakte der Sozialdemokraten anprangern, würden regelmäßig »sozialdemokratische Räte […] mit ihren Anhängern in die Redaktionsräume« eindringen und drohen, »alles krumm und klein zu schlagen, die Redakteure aufzuknüpfen«, wenn sie nicht sofort widerrufen und »Abbitte auf ihre eigenen Kosten leisten« würden. Die Sozialdemokratie setze an die Stelle der freien Meinungsäußerung eine »Gewaltherrschaft«,20 wie zahlreiche Beispiele politischer Versammlungen oder des Betriebsterrors und ein Ausspruch des sozialdemokratischen Abgeordneten Josef Witternigg illustrierten, der erklärt habe, man lebe »noch mitten in der Revolution  !« In diesem Zusammenhang kam Schernthanner auf einen zentralen Punkt der politischen Konfrontation auf Bundesebene und der Spannungen zwischen Wien und den Bundesländern sowie der Formierung von Heimwehren zu sprechen. Wenn die Sozialdemokratie von einer notwendigen Abrüstung spreche, so verschweige sie, dass sie entscheidenden Einfluss auf die Volkswehr habe, die ihr »zu Diensten steht.« Bezeichnend sei eine Erklärung des ehemaligen Staatssekretärs Julius Deutsch im sozialdemokratischen »Freien Soldaten« im Juni 1920, in der er betonte, Soldaten und Arbeiter würden unter einer gemeinsamen Fahne marschieren. »Mit roter Fahne und glühender Begeisterung gegen unsere alten Feinde, die Christlichsozialen, die bürgerlichen Parteien gehen wir in den Kampf und entrollen das Banner des arbeitenden Volkes mit dem Rufe  : Es lebe die Befreiung der Arbeiterklasse, es lebe der Sozialismus  ! Es lebe die Revolution in Permanenz  !« Die sozialdemokratischen Soldatenräte hätten wiederholt stolz behauptet, dass sie im neuen Bundesheer allein die Macht beanspruchen, das Heer somit eine sozialdemokratische Parteiarmee sein werde. Und in der Abschiedsversammlung der sozialdemokratischen Wiener Soldatenräte sei eine Resolution verabschiedet worden, in der es u. a. heiße  : »In glühender Begeisterung blicken wir auf die Rote Armee  ; möge sie alle Feinde niederschmettern  !« Angesichts dieser Entwicklung »sollen die nichtsozialdemokratischen Parteien ruhig zusehen wie die Lämmchen und ohne Gegenmaßnahmen herwarten, bis es den Herrn sozialdemokratischen Räten gefällt, die Diktatur auszuüben  ! […]

20 Ebd., 818.

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Es ist daher selbstverständlich, dass wir auch eine Organisation und eine entschlossene Truppe haben müssen, die eben in der Lage ist, derartigen Gewaltmaßregeln zu begegnen. Deshalb brauchen wir die Heimwehr, weil wir sonst vollkommen schutzlos wären. Wir brauchen sie zum Schutze der wahren Demokratie, zur Verhinderung des Terrors im Wirtschafts- und Erwerbsleben.«21 Für die Christlichsozialen ergab sich eine Bestätigung ihrer Vorbehalte gegenüber den demokratischen Beteuerungen der Sozialdemokraten durch eine Bemerkung des sozialdemokratischen Abgeordneten Karl Emminger gegenüber dem nationalsozialistischen Abgeordneten Hans Prodinger. Dieser hatte in einem Zwischenruf während der Rede Emmingers eingeworfen, man müsse sich gegen jede Gewalt aussprechen. Emminger, direkt an Prodinger gewandt, erwiderte  : »Also gegen jede Gewalt  ! Verzeihen Sie, Sie sind in der glücklichen Lage gewesen, als Schriftsetzer zumeist in Parteidruckereien tätig zu sein und haben den angeblichen Terror vielleicht nicht so verspürt, ich meine den Terror der Kapitalisten gegenüber der Arbeiterschaft. Was die Arbeiterklasse leiden musste vor dem Krieg, was sie erdulden musste an Terror von Seiten der Unternehmerschaft, das kennen Sie vielleicht nur vom Hörensagen. […] weil wir diesen Vorgang, der gegenüber unseren Parteiangehörigen durch ein halbes Jahrhundert geübt wurde, wissen, darum müssen Sie begreifen, dass ein Gewissen in den Menschen lebt, das Vergeltung sucht. Wir Führer unserer Klassenkollegen haben es nur provoziert, dass diese mit irgendeiner Art Terror gegenüber Andersdenkenden vorgehen sollen.«22 Erbitterte Kontroversen löste auch die nach Ansicht der Länder asymmetrische Finanzverfassung zugunsten des Bundes aus. Der Wiener Zentralismus wurde als Last empfunden, der durch seine finanzpolitische Dominanz eine wirtschaftliche Entwicklung der Länder verhindere. Die Salzburger Föderalisten stiegen auf die Palme. Der Bund, so der Salzburger Regierungsrat Albert Resch am Vorabend der für den 15. Februar 1920 in Salzburg anberaumten Länderkonferenz, habe sich durch das Verbot von Landesumlagen auf die Einkommen-, Branntwein- und Biersteuer diese Einnahmen exklusiv gesichert und die Länder durch Überweisungen von Wien abhängig gemacht. Die aus Wien getätigten Überweisungen an die Länder seien daher keineswegs Gnadenakte. Die Verfassungsdebatte biete daher die Möglichkeit, »eine radikale Umgestaltung des Finanzwesens in Österreich durchzuführen« und die derzeit unhaltbaren Zustände zu beseitigen.23 Da die zukünftige Staatsform die einer »demokratischen Bundesrepublik« sein werde, »welche aus gleichberechtigten, souveränen Ländern bestehen wird, […] ergibt sich von selbst, dass diese Steuerhoheit 21 Ebd., 820f. 22 Ebd., 827. 23 A lbert R esch, Finanzielle Streiflichter I, in  : Salzburger Chronik, 10.2.1920, 1.

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künftig zwischen Bund und den Ländern geteilt werden muss. Die Länder müssen sich jene Steuerquellen sichern, welche sie zur Führung ihres Haushaltes benötigen und ebenso müssen dem Bunde jene Einnahmen zugewiesen werden, die er zur Erfüllung seiner Kompetenzen braucht.«24 Diesen Forderungen nach einer den Föderalismus beachtenden Symmetrie der Steuereinnahmen wurde jedoch nach Ansicht der Salzburger Christlichsozialen von den Wiener Zentralisten nicht entsprochen. Bitter beklagte sich der Salzburger Landeshauptmann-Stellvertreter Franz Rehrl Mitte Mai 1919 auf einer gemeinsamen Sitzung der Alpenländer in Salzburg über das Verhalten der Wiener Zentralregierung, die die Länder ökonomisch einenge und bevormunde. So hätte Salzburg durch den Tausch von Holz und Salz gegen Lebensmittel mehrere vorteilhafte Geschäfte abschließen können, doch habe dies Wien mit dem Hinweis auf die zentrale Hoheit über Ausfuhrgenehmigungen verhindert und mit der Drosselung von Zufuhren gedroht. Es sollte jedoch im Sinne einer föderalen Wirtschafts- und Finanzarchitektur umgekehrt sein – die Ausfuhrgenehmigungen für ihre Produkte in der Kompetenz der Länder liegen und die Regierung nur über diese informiert werden.25 In dasselbe Horn stieß Anfang Februar 1920 der christlichsoziale Salzburger Landtagsabgeordnete Johann Hasenauer mit deutlich antisemitischen Tönen, als er erbost bemerkte, die Länder könnten auf Überweisungen des Bundes gerne verzichten, wenn dieser den Ländern in der Erschließung von eigenen Einnahmequellen freie Hand ließe. Der Bund beschlagnahme aber jede von den Ländern erschlossene Einnahmequelle, sobald er feststelle, dass diese ertragreich sei. Als Beispiel führte er die Holzauflage an, die sich der Bund als Einnahmequelle auf Kosten der Länder gesichert habe. Diese sei »ein Schulbeispiel dafür, wie der Staat aus lauter Eifersucht und Eigennutz die Lebensinteressen der Länder wahrnimmt. Die Schoßkinder unserer Staatsregierung, die Wiener Juden, dürfen natürlich mit unserem Holz, ohne dabei nur einen Finger zu rühren, die glänzendsten Geschäfte machen und die Wiener Regierung kann unsere Brettervorräte als Kompensationsware mit dem Auslande sehr gut brauchen, nur ausgerechnet das arme Land selbst, das diese Reichtümer hervorgebracht, soll keinen Nutzen davon haben. Auf dem Wege der Überweisungen und staatlichen Zuwendungen will die Wiener Regierung die Länder gefügig machen, sie sieht nichts lieber, als wenn die Länder aus ihrer Hand essen, weil sie ihnen auf diese Weise mundgerecht machen kann, wie abhängig sie von ihr sind.«26 Drei Monate später bezeichnete Rehrl auf dem Landesparteitag der Salzburger Christlichsozialen das Verhältnis von Bund und Ländern als »gänzlich unannehmbar.« Die Staatsregierung betrachte die Landesregierungen 24 A lbert R esch, Finanzielle Streiflichter II, in  : Salzburger Chronik, 11.2.1920, 1. 25 Herbert Dachs, Franz Rehrl und die Bundespolitik, in  : Wolfgang Huber (Hg.), Franz Rehrl. Landeshauptmann von Salzburg 1922–1938, Salzburg 1975, 215–268, hier  : 218. 26 Salzburger Chronik, 8./9.2.1920, 1.

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lediglich als verlängerten Arm, »als Trabanten und Knechte« einer Politik, die von den Ländern vielfach abgelehnt werde. In Wien kenne man vielfach die Verhältnisse in den Ländern nicht, mische sich aber überall ein. »Das ist auch der feste Grund unserer Kampfstellung gegen Wien.«27 Rehrls Frontstellung gegenüber Wien basierte auf der langen selbständigen Geschichte und kulturellen Bedeutung des ehemaligen Fürsterzbistums, dem Trauma des Verlusts der Selbständigkeit und der Bevormundung durch die Wiener Zentral­ stellen, der durch den Systembruch des Jahres 1918 (scheinbar) wiedererlangten Bewegungsfreiheit sowie seinen auf dem Subsidiaritätsprinzip basierenden föderalen Grundüberzeugungen. Wenngleich nicht Parteiobmann der Salzburger Christlichsozialen, so war er doch deren dominierende Persönlichkeit, die auch die Politik der Partei in erheblich höherem Ausmaß bestimmte als der nominelle Parteiobmann Rudolf Ramek.28 Die Gleichsetzung von Wien, Bolschewismus/Austromarxismus, Schieber/Dekadenz und Judentum bildete die grundlegende Trias der interpretatorischen Matrix des politischen, ökonomischen und kulturellen Geschehens durch die Christlichsozialen und die Bundesländer. In ihr manifestierten sich die vor allem seit dem späten 19. Jahrhundert politisch bedeutsam gewordenen ideologischen Fragmentierungen und historischen Überhänge des Spannungsverhältnisses zwischen Provinz und Metropole in der Habsburgermonarchie. Mit Sorge wurde mit Blick auf die bolschewistische Revolution in Russland und deren Vorbildfunktion für den Spartakistenaufstand in Berlin und die Münchner und ungarische Räterepublik das radikale Agieren der Arbeiter- und Soldatenräte vor allem in Wien und die von diesen praktizierte Kultur der revolutionären Gewalt beobachtet und kommentiert. Eine besondere Stellung nahm die behauptete dominierende Rolle des Judentums sowohl in der Führung der Bolschewiki wie auch der neu gegründeten KPÖ, der Sozialdemokratie, der Wiener Studentenschaft durch den massiven Zuzug von Ostjuden und in der Gruppe der Kriegsgewinnler, Schieber und Spekulanten ein. Als sich am 30. April 1920 in Wien erstmals eine Demonstration des Mittelstands mit rund 100.000 Teilnehmern gegen die Bolschewisierungsversuche der Linken formierte und Leopold Kunschak die Teilnehmer aufrief, ihre bisherige ängstliche Defensivhaltung abzulegen und zu zeigen, dass sie im Staat ein Machtfaktor seien, kommentierte die »Salzburger Chronik« zustimmend, man könne sich nur wundern, 27 Salzburger Chronik, 11.5.1920, 1. 28 Zu Rudolf Ramek und dessen spannungsreicher Beziehung zu Franz Rehrl vgl. Fr a nz Sch ausberger, Rudolf Ramek 1881–1941. Konsenskanzler im Österreich der Gegensätze (= Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg, 62), Wien–Köln–Weimar 2017.

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dass diese Reaktion so spät erfolgt sei. Die »Verjudung Österreichs« nehme in einem Ausmaß zu, das energische Gegenmaßnahmen erfordere. »Unsere Hochschulen drohen zionistische Bildungsstätten zu werden. 70 Prozent der Hochschullehrer, 60 Prozent der Studierenden, gehören der jüdischen Rasse an. In den Intelligenzkreisen drängt das Judentum unaufhaltsam vorwärts. Das Schieber- und Wuchertum im Großen liegt in Judenhänden, ist jüdische Erfindung, die leider auch in christlichen Kreisen Nachahmung fand. Die Judenfrage ist heute kaum mehr eine religiöse Frage, schon aus dem Grunde nicht, weil der Großteil unserer Judenschaft religiös gänzlich indifferent ist. Sie ist vielmehr eine Rassenfrage und vor allem eine wirtschaftliche, da unser ganzes Volk mehr und mehr zu einem Helotenvolk des allmächtigen Judentums herabzusinken droht.« Das Judentum habe »nur einen großen Helfer in Österreich, die österreichische Sozialdemokratie, die in ihrer Führung gänzlich verjudet, es nicht wagt, einmal ihr eigenes Haus rein zu kehren. Alles nationale Getue der Sozialdemokratie muss verdächtig sein, so lange sie nicht einmal durch die Tat zeigt, dass sie die Wahl zwischen Volk oder Jude getroffen hat. Bis jetzt hat sie sich für die Juden entschieden.«29 Der Antisemitismus sei daher nichts anderes als eine »Notwehr des Volkes. […] Es erübrigt sich zum Beweise dafür, dass die wirtschaftliche, geistige und sittliche Ausplünderung unseres Volkes vornehmlich ein Werk des Judentums ist.« Bereits vor dem Krieg habe der jüdische Geschäftsgeist das Volk ausgebeutet, doch habe er sich nach dem Krieg in weit höherem Maß in den Regierungszentralen etabliert, »die unter der Patronanz der Sozialdemokratie von Judenstämmligen durchseucht wurden.« Auf wirtschaftlichem Gebiet sei »das Judentum der maßlose Kriegsgewinner […], der sich aus den Taschen des Volkes gemästet hat, während auf politischem Gebiete die Sozialdemokratie sich des Kriegs- und Umsturzgewinnes erfreut. Warum sollten die beiden nicht Verbündete bleiben, um das gemeinsam Erworbene nicht auch gemeinsam zu verwalten. […] Der geistige Verwalter der Sozialdemokratie ist ihre jüdische Führerschaft. Auf dem Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie am 12. November 1919 wurden in die sozialdemokratische Parteileitung sechs Juden und Judenstämmlinge gewählt.« Die Sozialdemokratie habe nicht nur ihre Politik, sondern durch ihre dominierende Stellung in der Regierung dem Judentum die politische Macht weitgehend übergeben. »Wenn es Hochverrat ist, die wichtigsten Positionen dem Feind auszuliefern, dann ist die Frage am Platze, ob man die Sozialdemokratie nicht deswegen des Verrates am Volke anklagen muss, dass sie die wichtigsten Ämter Juden ausgeliefert hat, denen das Empfinden und die Ideale unseres deutschen Volkes fremd sind und zum Spotte dienen.«30 Im Vorfeld der Nationalratswahl am 17. Oktober 1920 erschien in der »Salzburger Chronik« ein ganzseitiges Inserat zum Thema »Was ist der Bolschewismus  ?«. Er sei, 29 Salzburger Chronik, 4.5.1920, 1. 30 Salzburger Chronik, 22.5.1920, 1.

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so die Antwort, »die praktische Durchführung der letzten logischen Folgerungen der marxistisch-sozialistischen Lehre. […] Sein Vater ist der Jude Karl Marx. […] Sein Geist ist die jüdisch semitische Denkungsart, durchtränkt mit asiatisch-sadistischem Blutdurst. […] Der Bolschewismus will in Wahrheit  : Das Ertöten jeder religiösen Überzeugung im nichtjüdischen Menschen. Das Vernichten jeder christlichen, abendländischen Kultur. Das Auslöschen jeglicher Eigenart, jedes völkischen Fühlens und Denkens, jeder nationalen Regung der nichtjüdischen Rassen. Das Zerstören des gesamten Volkswohlstandes der nichtjüdischen Völker. Die Vereinigung aller Reichtümer der Welt in den Händen der Juden. […] Die Herabdrückung aller Arier zum Arbeitssklaven des jüdischen Volkes. Die Aufrichtung und Festigung der Weltherrschaft des auserwählten Volkes der Juden über alle anderen Völker und Rassen der Erde. […] Die Träger des Weltbolschewismus sind  : Das Weltjudentum und dessen Schutztruppe, die internationalen Sozialisten. Die Führer desselben sind Juden  !«31 Im Wahlaufruf zur Nationalratswahl erklärte die Christlichsoziale Partei, sie bekämpfe »entschlossen und tatkräftig Judengeist und Judenmacht. […] Im Kampf der Juden um die Weltherrschaft ist die Sozialdemokratie klug geschobene Brettfigur. Darum will sie die Entchristlichung unseres Volkes. Denn die Wurzeln der Widerstandskraft unseres Volkes müssen vernichtet werden, wenn der Stern Judas strahlen soll.«32 Noch am Wahltag proklamierte sich die Christlichsoziale Partei in ihrem letzten Aufruf zum Hort des Kampfes gegen »die Macht der ostjüdischen Schieber und Valutaverschlechterer und ihrer kommunistischen und halbbolschewistischen Freunde. […] Wer sozialdemokratisch wählt, unterstützt die Juden und leistet der Diktatur des Proletariats Vorschub.«33 Die Französische Revolution kannte 1789 das Phänomen der Grande Peur, eine Kombination von ängstlichen Imaginationen und daraus resultierenden Gerüchten sowie konkreten sozialen und politischen Erfahrungen, ein Phänomen, das auch als prägender Bestandteil die lagerübergreifende kollektive Mentalität des Bürgertums und der Landbevölkerung in der Entstehungsphase der Ersten Republik prägte. Die mächtigen Schatten der Russischen Revolution und ihrer gewaltsamen Umwertung der Werte, ihres propagierten und demonstrativen Bruchs mit der »Welt von ­gestern«, deren sich auch die Sozialdemokratie zur Propagierung der »österreichischen Revolution« bediente, wurden zu einem geschichtsmächtigen und prägenden Element der politischen Kultur der Ersten Republik. 31 Salzburger Chronik, 6.9.1920, 10. 32 Salzburger Chronik, 10./11.10.1920, 1. 33 Salzburger Chronik, 17.10.1920, 7.

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Die FPÖ und der österreichische Verfassungsbogen 1. Zuerst die Ausgrenzung Die von Josef Klaus und dann von Hermann Withalm geführte ÖVP lehnte es 1970 nach ihrem Verlust der Mehrheit ab, mit der FPÖ über eine Koalition zu verhandeln. Zu sehr war die FPÖ, geführt vom zum Demokraten gewordenen ehemaligen SSOffizier Friedrich Peter (1958–1978), vom Odium behaftet, nationalsozialistisches Gedankengut nicht deutlich und glaubwürdig genug abzulehnen und nach wie vor die Partei der »Ewiggestrigen« zu sein. Daraufhin unterstützte die FPÖ die Minderheitsregierung von Bruno Kreisky und wurde dafür mit einer für sie günstigen Wahlrechtsreform belohnt. Aus der erhofften nachfolgenden Koalition wurde aber nichts, da die SPÖ die absolute Mehrheit erreichte. So blieb die FPÖ in der Zeit der Alleinregierungen von Kreisky bis 1983 in Opposition. Im April 1983 verlor die SPÖ die absolute Mehrheit und bildete ohne jedes Zögern mit ihrer relativen Mehrheit eine Koalition mit der vom »liberalen« Norbert Steger geführten FPÖ. So diente die FPÖ in der Regierung Sinowatz–Steger als Juniorpartner. Die FPÖ-Wählerschaft honorierte dies nicht. Die Umfragen zeigten die FPÖ zuletzt mit nur noch zwei Prozent vor dem Abgrund. Im Gefolge der Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten trat Bundeskanzler Fred Sinowatz zurück und es gab Neuwahlen. Noch rechtzeitig vor der Vernichtung wurde Jörg Haider auf dem Parteitag am 13. September 1986 in einem »Putsch« gegen Norbert Steger zum Parteiobmann gewählt und führte die FPÖ in die Wahl am 23. November 1986. Haider erzielte ein respektables Ergebnis. Die SPÖ verlor weiter, behielt aber knapp * Lothar Höbelt, der sehr geschätzte Jubilar, ist einer der raren österreichischen Historiker, der sich mit einer nicht von vorneherein abgeneigten Grundstimmung mit der Geschichte und der politischen Regierungsarbeit des Dritten Lagers in Österreich beschäftigt. Nicht wenige seiner Kollegen sehen diese politische Kraft unter dem Generalverdacht der unausgesprochenen, versteckten oder offenen Nachfolge im nationalsozialistischen Gedankengut. Zusammen mit Wilhelm Brauneder wird ihm die Entwicklung des Konzepts der Dritten Republik zugeschrieben (vgl. hiezu etwa Wilhelm Br auneder, Die Verfassungsdiskussion, in  : Lothar Höbelt (Hg.), Republik im Wandel. Die große Koalition und der Aufstieg der Haider-FPÖ, München 2001, 8–41). Dieses wiederum ist essentielles Kriterium für den Verfassungsbogen. Als Christdemokrat in Österreich führte ich mit ihm über die Jahre hinweg zahlreiche Fachgespräche zu ideologischen Entwicklungen des Dritten Lagers und die ihm und mir wichtigen Perspektiven und Alternativen gemeinsamer Regierungsverantwortung.

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ihre relative Mehrheit. Die ÖVP legte zwar zu, scheiterte aber, wenngleich sie der SPÖ auf 3 Mandate nahe rückte. Der neue Parteiobmann der SPÖ Franz Vranitzky lehnte eine Zusammenarbeit mit der nunmehr von Jörg Haider geführten FPÖ ab. In der ÖVP setzte sich Alois Mock 1986 mit der Option einer Koalition mit der Haider-FPÖ nicht durch. Eine Große Koalition mit der SPÖ, geführt von Franz Vranitzky und der ÖVP, geführt von Alois Mock, regierte fortan bis 2000. Franz Vranitzky schuf damit die nach ihm genannte Vranitzky-Doktrin, die er bei ihrem Ende nach 30 Jahren 2017 wie folgt begründete  : »Erstens hatte Jörg Haider keine Handschlagqualität. Und zweitens wollte ich mit einem, der sich nicht vom Nationalsozialismus abgrenzen wollte, keine Bundesregierung.« Dieser Grundsatz wurde bald zu einem Leitprinzip für die Beurteilung der Regierungsfähigkeit der FPÖ und gestaltete die Realität für viele Jahre.1 Erst die Kleine Koalition von ÖVP und FPÖ im Jahre 2000 setzte ihr ein Ende (siehe unten). Auch innerhalb der SPÖ wurde die Doktrin durchbrochen  : Hans Niessl von der SPÖ ließ sich 2015 nach Verlust der Mehrheit von der FPÖ zum Landeshauptmann wählen. Fortan sollte die SPÖ im Burgenland dauerhaft mit der FPÖ zusammenarbeiten. Der vorläufig letzte Bundeskanzler der SPÖ, Christian Kern, wollte die Fesseln dieser Doktrin zur Gänze abwerfen und erreichte 2017 einen neuen Parteibeschluss  : Zusammenarbeit mit der FPÖ nur dann, wenn diese einen von der SPÖ formulierten umfangreichen Grundwertekatalog zustimme, genannt Wertekompass – und dann die Zusammenarbeit durch eine breite Partizipation der Parteigremien oder durch eine Mitgliederabstimmung legitimiert würde. Dieser Wertekompass sollte die Zusammenarbeit der SPÖ auch mit der FPÖ ermöglichen. Die ÖVP hatte die Regierungsbildung mit der FPÖ ob ihrer Nähe zu nationalsozialistischem Gedankengut und ehemaligen Parteigängern in Führungsfunktionen zweimal abgelehnt  : 1970 und 1986. Mit der Entwicklung der Figur des Verfassungsbogens in Österreich 1994 kamen weitere Gründe für die Ablehnung dazu.

2. Der Verfassungsbogen 1995 Der Begriff »Verfassungsbogen« wurde erstmals im Verfassungsdiskurs nach dem Ende des Faschismus in Italien entwickelt und zu einem aussagekräftigen politischen Begriff gestaltet. In einem Referendum im Jahre 1946 beauftragte die große Mehrheit des italienischen Volkes die Ausarbeitung einer neuen Verfassung und entschied sich für die demokratische Republik. 1948 wurde diese neue Verfassung beschlossen  : Monarchie, Faschismus und Kommunismus sollten durch das neue Grundgesetz auf 1 Franz Vranitzky erläutert seine Position auch in seinen Memoiren  : Fr a nz Vr a nitzk y, Politische Erinnerungen, Wien 2004, 172ff.

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Dauer verhindert werden. Sämtliche großen Parteien in Italien trugen diesen Neubeginn. Nur drei Parteien blieben abseits  : die Monarchistische Bewegung, die Kommunisten und die Neufaschisten (MSI). Sie kamen daher für eine Regierungsbildung nicht in Frage. Jene Parteien, welche die neue Verfassung mittrugen, bildeten den Arco Costituzionale und kamen grundsätzlich für Koalitionen in Betracht.2 Der Verfassungsbogen wurde so ein politischer Begriff, der die regierungsfähigen Parteien umspannte. Die Parteien, die sich gegen die neue Verfassung ausgesprochen hatten, stellten sich selbst damit außerhalb des Verfassungsbogens und waren nicht regierungsfähig. Das österreichische Volk entschied sich in einer Volksabstimmung am 12. Juni 1994 für den Beitritt in die Europäische Gemeinschaft, aus der dann bald die Europäische Union (EU) werden sollte. Bei hoher Wahlbeteiligung von 82 Prozent sprachen sich zwei Drittel für, ein Drittel gegen diesen fundamentalen Beschluss aus. Die darauffolgende Verfassungsänderung wurde mit einem Initiativantrag von vier Parlamentsparteien (SPÖ, ÖVP, Grünen, Liberalen) eingebracht. Sie hatten zusammen in den vorangegangenen Nationalratswahlen vom 9. Oktober 1994 75,9 Prozent der Stimmen, also eine Dreiviertelmehrheit erzielt. Dagegen stimmte die FPÖ, die bei den Wahlen 22,5 Prozent erreicht hatte. Die damit bewirkte Verfassungsänderung baute Österreich in die EU ein. Sie betraf Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit gleichermaßen grundlegend, ebenso wie die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern, den Grundrechtsschutz und die Sozialpartnerschaft. Es war eine Gesamtänderung der Bundesverfassung und daher abstimmungspflichtig.3 Nur eine Parlamentspartei, die FPÖ, stellte sich dagegen. In der Nationalratssitzung am 15. Dezember 1994 verwies ich in meiner Rede auf den italienischen Arco Costituzionale und führte aus  : »Auch wir haben solch einen Verfassungsbogen heute gebildet  : die vier Parteien, die hier konstruktiv zusammen-

2 Pietro Scoppol a, La repubblica dei partiti. Profilo storico della democrazia in Italia (1945–1990), Bologna 1991 und Fr a ncesco R a niolo (Hg.), Le trasformazioni dei partiti politici, Soveria Mannelli 2004. 3 Es ist bemerkenswert, dass diese Gesamtänderung der Bundesverfassung die einzige freie und geheime Volksabstimmung war und ist, welche zu grundlegenden Verfassungsänderungen gewagt wurde. Der Übergang zur Republik 1918, der große Umbau der Verfassung 1929, die durch einen Putsch eingerichtete Regierungsdiktatur des Ständestaats (1933/1934), die Wiedererrichtung Österreichs 1945  : All diese Gesamtänderungen wurden nicht dem Volk vorgelegt – die jeweiligen Regierungen waren sich einer Mehrheit nicht gewiss (1918  : zu viele Monarchisten und Deutschnationale  ; 1929  : zu wenig Anhänger der Republik  ; 1933/1934  : keine Mehrheit für den undemokratischen Ständestaat  ; 1945  : zu viele Gegner einer Loslösung von Deutschland, zu viele Zweifler an Österreich und an der Demokratie). Lediglich der »Anschluss«, also die gewaltsame Einverleibung Österreichs in das nationalsozialistische Deutsche Reich im März 1938, wurde im April durch eine Volksabstimmung »gebilligt«  ; allerdings war diese Abstimmung weder frei noch geheim.

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arbeiten und eine Verfassungsmehrheit bewirken […] Wir sind gegen eine Dritte Republik, wir sind auch gegen die Erste Republik. Wir sind für die Europäische Union, und wir sind dafür, dass unser Bundespräsident […] nicht mutwillig ins Gespräch gebracht wird.«4 In der darauf geführten heftigen politischen Diskussion präzisierte ich, dass eine Partei außerhalb des Verfassungsbogens eben wie in Italien leitende Grundprinzipien der Verfassung in Frage stelle, aber deswegen nicht verfassungswidrig sei (wie unterstellt wurde). Folgende Prinzipien seien dies im Fall der FPÖ5  : 1. Das Bekenntnis zur Mitgliedschaft in der EU 2. Das Bekenntnis zu Österreich (Ablehnung von NS-Gedankengut und »Deutschtümelei«) 3. Das grundsätzliche Bekenntnis zur österreichischen Bundesverfassung, und daher die Ablehnung einer Dritten Republik 4. Die Beachtung des Gewaltmonopols des Staates und damit die Ablehnung der »radikalen Phrase« im politischen Diskurs durch Mobilisierung der Straße gegen die Verfassung Die Rückkehr in diesen Verfassungsbogen wurde für die ÖVP zur grundlegenden Voraussetzung für eine Zusammenarbeit mit der FPÖ. Damit taten sich für den 1986 zum Retter der FPÖ gewordenen Jörg Haider trotz seiner Wahlerfolge schier unüberwindliche Hindernisse bei seinem Weg an die Macht in der Bundesregierung auf. Zur Ausgrenzungspolitik der SPÖ seit 1986 kam nun nach 1995 der Verfassungsbogen der ÖVP. Mit der Figur des Verfassungsbogens bezweckte die ÖVP vordergründig das Gleiche wie die SPÖ mit der Vranitzky-Doktrin  : keine Koalition mit dieser FPÖ. In der Tiroler Tageszeitung analysierte der Innsbrucker Politologe und FPÖKenner Anton Pelinka im Juni 1995 treffend  : »Insgesamt ist der Begriff […] ein legitimer Ausdruck, einen Konsens zu definieren, der Regierung und Opposition – aber eben nicht die gesamte Opposition – über die Tagespolitik hinaus verbindet.«6

4 Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Nationalrates der Republik Österreich, XIX. Gesetzgebungsperiode, 11. Sitzung, 15.12.1994, 46. Vgl. auch A ndre as K hol, Demokratieabbau durch EURegierungsgesetzgebung  ?, in  : Österreichische Parlamentarische Gesellschaft (Hg.), Günther Schefbeck (Redaktion)  : 75 Jahre Bundesverfassung. Festschrift aus Anlaß des 75. Jahrestages der Beschlussfassung über das Bundes-Verfassungsgesetz, Wien 1995, 271–288. 5 Vgl. dazu A ndre as K hol, Die FPÖ im Spannungsfeld von Ausgrenzung, Selbstausgrenzung, Verfassungsbogen und Regierungsfähigkeit, in  : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1995, Wien–München 1996, 200ff. 6 Tiroler Tageszeitung, 8.6.1995  ; vgl. auch A ndre as K hol, Vom Staat, den niemand wollte, zur österreichischen Nation als Teil der europäischen Friedensordnung, in  : Robert Kriechbaumer (Hg.), Öster-

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Was erst später zum Tragen kam, war die umfassende Dynamik dieses Begriffs. Er konnte auch dazu dienen, die ÖVP von der von ihr abverlangten Ausgrenzungspolitik der Linken zu befreien  : keine Ablehnung der FPÖ schlechthin, sondern Regie­rungsfähigkeit durch Rückkehr in den Verfassungsbogen und damit die Durchbrechung der linken Ausgrenzungsdoktrin. Diese hatte selbst auch einen weiteren hintergründigen Zweck für die SPÖ  : Sicherung der von einem SPÖ-Bundeskanzler angeführten Bundesregierung durch politisches Zwingen der ÖVP unter das Joch als Juniorpartner in einer Großen Koalition. Denn bis zum Erstarken der Grünen als zweite Option hatte die ÖVP nur eine außerhalb der Großen Koalition  : Abwerfen dieses Jochs durch eine »Kleine Koalition« mit der FPÖ. In der politischen Diskussion bis zum Jahre 2000 wurden diese Regierungshindernisse für die FPÖ ständig heftig diskutiert.7

3. Haider verlässt 1986 den Verfassungsbogen und kehrt 1999 zurück Von seiner Amtsübernahme 1986 bis nach den Wahlen 1994 schärfte Haider das Profil der FPÖ ständig nach  : Gegen die Mitgliedschaft in einer supranationalen Europäischen Gemeinschaft  ; für eine Dritte Republik mit einer gänzlich anderen Verfassungsstruktur  ; Verächtlichmachung der sich nach 1945 herausbildenden öster­ reichischen Nation  ; anhaltende Unschärfe in der Abgrenzung zum Nationalsozialismus – die Grauzone dauerte an. Typisch, auch für die radikale Phrase, folgende Haider-Zitate  : »Sie wissen so gut wie ich, dass die österreichische Nation eine Missgeburt, eine ideologische Missgeburt gewesen ist.«8 »Unser Vorhaben ist mehr als Machtwechsel oder politische Korrektur. Wir wollen eine österreichische Kulturrevolution mit demokratischen Mitteln, wir wollen die herrschende politische Klasse und die intellektuelle Kaste stürzen.« »Die Großparteien verstehen keine demokratische Sprache. Sie müssen bei Wahlen vernichtet werden.«9 Haider musste allerdings erkennen, dass diese Grundsatzpositionen jede Regierungsbeteiligung der FPÖ verhinderten. Einerseits die Vranitzky-Doktrin, andererseits der Verfassungsbogen. Er gewann zwar bei jeder Nationalratswahl mehr Stimmen und Mandate, aber mit der SPÖ kam er zu keiner Regierungsbeteiligung, der reichische Nationalgeschichte nach 1945. Bd. 1  : Die Spiegel der Erinnerung  : Die Sicht von innen, Wien–Köln–Weimar 1998, 119–136  ; hier  : 127. 7 Z. B. Norbert Leser, Elegie auf Rot. Eine politische Konfession, Wien 1998, kritisch, 156ff. und Josef Ca p, Kamele können nicht fliegen, Wien 2005, 22, der sich mit dem »dehnbaren Verfassungsbogen« kritisch beschäftigt. 8 ORF Interview, aufgezeichnet in der Mediathek, September 1988. 9 Jörg Haider in der Zeitschrift »News« vom 12. Februar 1993.

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alte Partner der Ära Kreisky war abhandengekommen. Die ÖVP grenzte ihn zwar nicht so systematisch aus, aber mit Alois Mock an der Spitze blieb es bei der Großen Koalition, trotz Mocks Versuch 1986 (s. o.). In der Ära von Erhard Busek war jeder Versuch aussichtslos. Busek legte vor der Wahl 1995 die ÖVP definitiv auf eine Fortsetzung der Großen Koalition fest. Dies trug wesentlich zu seiner Wahlniederlage und dem darauffolgenden Sturz bei. Mit der Übernahme der Obmannschaft durch Wolfgang Schüssel änderte sich die ÖVP zu mehr Flexibilität, die allerdings vorerst keine praktischen Folgen zeitigte. Haider änderte schon im Vorfeld der Wahlen 1995 seinen Kurs in Richtung Rückkehr in den Verfassungsbogen. Im Jahrbuch für Politik 1995 ist dieser neue Weg analysiert.10 Im Jänner 1995 machte er in einem 10-Punkte-Programm seine Annäherung an die ÖVP deutlich. Kurz vor den Wahlen bot sich Haider in seinem 20-PunkteProgramm »Vertrag für Österreich« beiden Koalitionsparteien als Partner an. Noch im Jänner 1995 vertrat Haider zwar wortreich die Dritte Republik als Weg für Österreich aus dem »Stalinismus der SPÖ« und dem »jugoslawischen Neutralismus der ÖVP«. In der Wahlauseinandersetzung vor der Wahl machte Haider dann die Kehrtwendung  : In einem ORF-Interview am 25. Oktober 1995 meinte er, seine Verfassungsreform bestrebe nur mehr Demokratie, man müsse sie nicht Dritte Republik nennen, was er anstrebe, sei mit derzeitigen Grundprinzipien der österreichischen Verfassung durchaus vereinbar. In weiterer Folge ließ Haider die »Dritte Republik« vollständig fallen. Mit der Absage an jede Deutschtümelei und einem plötzlichen patriotischen Bekenntnis zu Österreich räumte Haider 1995 ein weiteres Hindernis für seine Regierungsbeteiligung aus dem Weg. Er machte auch keinen Hehl aus seinen taktischen Gründen dafür. In einem Interview in der Weltwoche im August 1995 meinte er wörtlich  : »Wir schleppen bis zu einem gewissen Grad eine Tradition mit, aber durch das neue Wählerpotential ist das ursprüngliche, 220.000 Wähler ausmachende Potential zur Minderheit geworden […] eine stärkere Österreich-patriotische Profilierung der FPÖ wird in Zukunft notwendig sein«. Dem folgt eine Absage an jede Form von Deutschtümelei, und schließlich übernimmt Haider eine Wendung von Alois Mock aus dem vorangehenden Jahrzehnt  : »Österreich zuerst  !« Kurz darauf sagt er sich vom Bekenntnis zur deutschen Volksgemeinschaft, einem zentralen Punkt in der bisherigen FPÖ-Programmatik, los. Im späteren, neuen Parteiprogramm fehlt diese Grundsatzposition. Nicht los sagte er sich hingegen vom weiteren Block auf dem Weg  : von der Ablehnung der europäischen Einigung. Diese Rhetorik wurde 1995 noch beibehalten. Als der neu gewählte Nationalrat am 15. Jänner 1996 zusammentrat, hielt Haider eine Grundsatzrede, in welcher er die Dritte Republik definitiv fallen ließ und sich für 10 K hol, Die FPÖ im Spannungsfeld von Ausgrenzung, 211–219.

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eine System-immanente Verfassungsreform aussprach. In dieser Rede machte er auch erste Bewegungen in Richtung Europäische Union. Unter Berufung auf die Volksabstimmung zum EU-Beitritt akzeptierte Haider erstmals Österreichs Mitgliedschaft in der Union, lehnte aber die politische Union des Maastrichter Vertrags (1993) ab. Den Worten folgten auch Taten. Als eines der ersten politischen Vorhaben der fortgesetzten Großen Koalition setzten der neue Klubobmann der SPÖ mit der ÖVP ein kräftiges Zeichen  : Der österreichische Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozia­ lismus in Österreich wurde 1995 im Parlament beschlossen.11 Zur allgemeinen Überraschung stimmte die FPÖ nach einer Grundsatzrede ihres Parteiobmanns dem Gesetz zu – nur die Grünen stimmten dagegen, ihnen ging das Gesetz nicht weit genug. Im Jahre 1996 wurde also der neue Kurs der Haider-FPÖ klarer, mit dem er deutliche Bewegungen hin zur ÖVP machte, die, von Schüssel geführt, gerade eine demütigende Wahlniederlage erlitten hatte und neuerlich ins Joch der Großen Koalition gezwungen wurde. So schloss ich meine Analyse im Jahrbuch 1995 mit den Worten  : »Das sind neue Töne  ; folgen ihnen eine geänderte Programmatik und entsprechende Aussagen des Parteivorstandes, so ist damit ein Schritt in den Verfassungsbogen zurückgetan, und damit zur Regierungsfähigkeit.« Erst bei den ÖVP-Zukunftsgesprächen kurz nach der Wahl 1999, welche die ÖVP am 2. November 1999 auch mit der FPÖ führte, ließ Jörg Haider, begleitet von Susanne Riess-Passer, Thomas Prinzhorn und Peter Westenthaler, plötzlich diese Politik fallen und erklärte für den Fall der Regierungsbeteiligung der FPÖ die vollständige Akzeptanz der EU in der Form des Maastrichter Vertrags und des gerade in Kraft getretenen Vertrags von Amsterdam (1999). Damit war Haider rechtzeitig zum Beginn der Verhandlungen zur Bildung einer Regierung nach den Wahlen 1999 in den Verfassungsbogen zurückgekehrt. Ausgegrenzt von der SPÖ hatte er nur eine Wahl, und er nutzte sie.

4. Die Regierungsbeteiligung der FPÖ im Jahre 2000 12 Im Februar 2000 bildeten ÖVP und FPÖ eine Regierung. Das Kalkül von Jörg Haider war aufgegangen, die Rückkehr der FPÖ in den Verfassungsbogen wurde von der 11 Bundesgesetz über den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, BGBl. 432/1995, ausgegeben am 30.6.1995. 12 Die Literatur zur Wende ist umfangreich. Das Standardwerk wurde von Robert K riech aumer, »… ständiger Verdruss und viele Verletzungen.« Die Regierung Klima/Schüssel und die Bildung der ÖVP-FPÖRegierung. Österreich 1997–2000 (= Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr. Wilfried-Haslauer-Bibliothek, 47), Wien–Köln–Weimar 2014, geschrieben. Ein ganzes Kapitel des Österreichischen Jahrbuchs für Politik 2000, S. 489 bis 601, mit Beiträgen verschiedenster Autoren, u. a. Loth a r Höbelt, Die Durchquerung der Wüste und das gelobte Land. Der Weg zur zweieinhalb-

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ÖVP in den Verhandlungen verifiziert und mit dem gemeinsamen Regierungsprogramm besiegelt. Die »Wende-Regierung« gestaltete Österreich bis 2006. Um die klare pro-europäische Haltung der Regierung deutlich zu machen, und um auch andere Voraussetzungen für die Regierungsfähigkeit der FPÖ im Verfassungsbogen klarzustellen, wurde der Regierungserklärung eine Präambel vorausgestellt, die alle notwendigen »Stückln spielte«  : Europäische Union, Verfassung, Sozialpartner, Rassismus und Antisemitismus, Frieden, Pluralismus, Menschenrechte, Nationalsozialismus. Die Regierung musste ja von Anbeginn ihre lauteren Absichten klarstellen und verteidigen. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, nicht die Organe der EU, veranstalteten schon vor der Angelobung der Regierung ein Scherbengericht über Österreich – die sogenannten Sanktionen. Eine rechtswidrige politische Maßnahme gegen eine souveräne Regierung, orchestriert mit österreichischer Beteiligung von Politikern der Sozialistischen Internationale. Sie wurde nach einem Jahr zurückgenommen, nachdem drei »Weise«, Staatsmänner aus der EU, einen entsprechenden Bericht über Österreich abgegeben hatten. Heute will sich an diese unrühmliche Verirrung europäischer Sozialdemokraten mit konservativer Assistenz niemand mehr erinnern lassen. Die Regierung mit der FPÖ bestand diese Prüfung, die sie auch enorm zusammenschweißte. In der Folge wurden alle Entwicklungen Europas, die Erweiterungen und Integrationsfortschritte von den beiden Regierungsparteien ohne Probleme getragen. Maßgebende und unerwartete Fortschritte wurden im Zusammenhang mit fast allen Fragen der Maßnahmen der Anerkennung und Entschädigung für Opfer des Nationalsozialismus in Österreich erzielt, der Rückgabe geraubter oder sonst entzogener Kunstgegenstände, der Entschädigung der Zwangsarbeiter – ein großer Regelungskomplex, dessen Lösung in der Großen Koalition nicht gelang. Bundeskanzler Klima wagte es nicht, die Arisierungen in Wien aufzuarbeiten, und fürchtete eine Blockade durch die Gewerkschafter. Im Jahrbuch für Politik 2005 kommt die Exekutiv-Direktorin des Präsidiums der Israelitischen Kultusgemeinde, Erika Jakubovits, in ihrem Beitrag zu folgendem überraschendem Schluss  : »Es ist kein Geheimnis, dass die Regierungsbeteiligung der FPÖ das Verhältnis zwischen der IKG und der österreichischen Bundesregierung gravierend belastet hat. Die IKG konnte jedoch mit Genugtuung beobachten, dass sämtliche ten Republik, 551–557. Handelnde Personen, also beteiligte Politiker, schildern ihre Sicht der Dinge  : A ndre as K hol, Die Wende ist geglückt, der schwarz-blaue Marsch durch die Wüste Gobi, Wien 3. Aufl. 2001  ; Heinz Fischer, Wende-Zeiten, ein österreichischer Zwischenbefund, Wien 2003  ; Josef Ca p, Kamele können nicht fliegen. Von den Grenzen politischer Inszenierung, Wien 2005  ; Peter Pilz, Die vierte Republik. Der Weg zur Reformmehrheit, Wien 2000  ; A rmin Thurnher, Heimniederlage, Wien 2000  ; bemerkenswert ist der Aufsatz von Berndt Ender, Eine Art Scheidungs-Report. Warum es nicht zur Neuauflage der SPÖ-ÖVP-Koalition kam, in  : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1999, Wien–München 2000, 243–254.

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seither beschlossenen Restitutions- und Entschädigungsmaßnahmen von beiden Koalitionsparteien getragen wurden und dass die dafür notwendigen Gesetzesbeschlüsse einen parteiübergreifenden Konsens zwischen Regierung und Opposition fanden.«13 Es handelt sich insgesamt um ein monumentales Gesetzeswerk, in dem 2001 der Nationalfonds erweitert und erneut großzügig dotiert wurde, der Allgemeine Entschädigungsfonds und der Versöhnungsfonds eingerichtet wurden, damit die Entschädigung für entzogene Mietrechte endlich geregelt wurde, die umfassende Entschädigung der in Österreich eingesetzten Zwangsarbeiter durch die österreichische Wirtschaft organisiert und raschest durchgeführt wurde – alles mit den Namen Maria Schaumayer, Hans Winkler, Ernst Sucharipa, Ludwig Steiner verbunden. Treibende Kraft war Wolfgang Schüssel, seine Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer trug alles mit. Im Nationalfonds gibt es dazu umfangreiche Literatur, das Außenministerium gab 2001 eine außenpolitische Dokumentation heraus.14 Am 4. Mai 2005 stellte der Beauftragte des Präsidenten der USA Bill Clinton für die Verhandlungen mit Österreich in all diesen Fragen, Stuart Eizenstat in einer Rede vor National- und Bundesrat fest, dass Österreich seine Aufgaben in beispielhafter Weise gelöst habe.15 In bis heute von anderen Staaten, vor allem von Deutschland nicht erreichter Präzision regelt Österreich auch die Rückgabe von Kunstgegenständen – spektakulär wurden beispielsweise große Gemälde von Gustav Klimt vom Belvedere an die Erben der früheren Eigentümerfamilie Bloch-Bauer zurückgegeben. Die zuständige Ministerin Elisabeth Gehrer war eine mutige Vorarlbergerin … So kann man die Jahre 2000 bis 2006 der Regierungen der ÖVP mit der FPÖ unter dem Gesichtspunkt des Verfassungsbogens so zusammenfassen  : Da es keine Verfassungsmehrheit für die Regierung gab, wurden Verfassungsreformen nicht vorgenommen. Die gesamte Regierung bekämpfte die EU-Sanktionen und war dabei erfolgreich, die Europapolitik wurde konsensual und initiativ geführt. Die früher zweifelhafte Haltung zu Fragen des Nationalsozialismus wurde zur eindeutigen Ablehnung, Rückfälle blieben die Ausnahme und wurden sofort geahndet. Die von sozialdemokratischen Bundeskanzlern nie angepackte Riesenaufgabe von Entschädigung und Restitution, Zwangsarbeitern, Mietrechten und Arisierungen wurde von Schüssel und Riess-Passer souverän in zwei Jahren gemeistert. Die positive Rolle auch der FPÖ bei Restitution, Entschädigung von Vertreibung und Zwangsarbeit wurde von ihren bisherigen Kritikern nie wirklich gewürdigt. Österreich profitierte gesamthaft von der Rückkehr der FPÖ in den Verfassungsbogen in Wort und Tat.

13 Erik a Ja kubovits, Die Restitutionsdebatte aus der Sicht der Israelitischen Kultusgemeinde, in  : Österreichisches Jahrbuch für Politik 2005, Wien–München 2006, 489–503  ; hier  : 493. 14 Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten (Hg.), Österreichs Maßnahmen zur Restitution und Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus (= Österreichische Außenpolitische Dokumentation, 2001), Wien 2001. 15 Vgl. die Parlamentskorrespondenz Nr. 344/2005.

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5. Straches zaghafte Schritte zurück Nicht einzelne Personen sind außerhalb des Verfassungsbogens, sondern nur Parteien sind gegebenenfalls so zu erkennen und zu benennen. Für die Beurteilung jeder politischen Partei gelten die drei »P«, eine Binsenwahrheit  : »Personen, Programm, Politpraxis.« Meine politische Analyse zeigte bisher den Weg der FPÖ aus dem Verfassungsbogen heraus und zurück. Nach der Spaltung der FPÖ in BZÖ und Strache-FPÖ, nach dem Ende der Regierung von ÖVP und BZÖ 2006, nach dem tragischen Tod von Jörg Haider, dem Niedergang des BZÖ und dem Wiedererstehen einer von Heinz-Christian Strache geführten FPÖ wurden die radikaleren Schritte Haiders in die Regierungsfähigkeit zaghaft abgemildert, aber nicht zur Gänze zurückgenommen. Die FPÖ ist eine politische Partei, deren Politik weitgehend vom Parteiobmann bestimmt wird. Allerdings ist die FPÖ auch eine Programmpartei  : Ihre Politik folgt doch in ihren Grundzügen dem jeweils geltenden Parteiprogramm. Derzeit gilt das im Jahre 2011 unter Strache beschlossene Programm. Norbert Hofer (s. u.) war maßgebender Redakteur. In diesem Programm einer Oppositionspartei wurde die Haider-Linie zu Europa abgeschwächt und auch die »Deutschtümelei« in abgemilderter Form wieder ins Programm genommen  : hier die Passagen zur deutschen Kulturgemeinschaft, und zur EU  : »Wir sind dem Schutz unserer Heimat Österreich, unserer nationalen Identität und Eigenständigkeit sowie unserer natürlichen Lebensgrundlagen verpflichtet. Wir bekennen uns zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, zur Unabhängigkeit und Eigenständigkeit unseres Heimatlandes Österreich und zur Solidarität aller öster­reichischen Staatsbürger. Wir sind uns der Verbundenheit mit unseren Vorfahren und der Verantwortung für unsere Nachkommen bewusst und wollen für nachfolgende Generationen eine Heimat bewahren, die ein selbstbestimmtes Leben in einer intakten Umwelt und eine positive Weiterentwicklung in Freiheit, Frieden und Sicherheit ermöglicht. Sprache, Geschichte und Kultur Österreichs sind deutsch. Die überwiegende Mehrheit der Österreicher ist Teil der deutschen Volks-, Sprach- und Kulturgemeinschaft. Unsere autochthonen Volksgruppen der Burgenlandkroaten, Slowenen, Ungarn, Tschechen, Slowaken und Roma sind als historisch ansässige Minderheiten eine Bereicherung und integrierter Bestandteil Österreichs und unseres Staatsvolkes.«16 Zu Europa heißt es im derzeit geltenden Parteiprogramm  : »Wir bekennen uns zu einem Europa der selbstbestimmten Völker und Vaterländer und zur europäischen Zusammenarbeit nach den Grundsätzen der Subsidiarität 16 https://www.fpoe.at/fileadmin/user_upload/www.fpoe.at/dokumente/2015/2011_graz_parteipro gramm_web.pdf [23.12.2022].

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und des Föderalismus. Das künftige Schicksal Europas muss von der Gestaltungsfreiheit seiner Staaten geprägt sein. Ziel der europäischen Integration ist die Gemeinschaft jener Staaten, die geographisch, geistig und kulturell Europa ausmachen und die sich den abendländischen Werten, dem Erbe der Kulturen und den Traditionen der europäischen Völker verpflichtet haben. Wir treten für ein Europa ein, das echte Demokratie ermöglicht und den mündigen, freien Bürger respektiert. Grundlegende Änderungen der Bundesverfassung durch Staatsverträge, wie beispielsweise im Europarecht, bedürfen einer verbindlichen Volksabstimmung. Wir bekennen uns zu einem europäischen Vertragswerk mit einem Rechte- und Pflichtenkatalog für Union und Mitgliedsstaaten. Die verfassungsrechtlichen Grundprinzipien der souveränen Mitgliedsstaaten müssen absoluten Vorrang vor dem Gemeinschaftsrecht haben.«17 Bei der Beurteilung der FPÖ muss neben dem Programm auch die Faktenlage berücksichtigt werden  : die Regierungstätigkeit in Bund und Ländern, Anträge und Abstimmungsverhalten in den Parlamenten von Bund und Ländern. Auch die Beschlüsse des Vorstands und die Presseaussendungen zu tagespolitischen Ereignissen sind heranzuziehen. Eine gesamthafte Beurteilung der FPÖ ergab 2017 keine Hindernisse für deren Regierungsfähigkeit. In der kurzen Regierungszeit von ÖVP und FPÖ unter Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache hat es auf all diesen Gebieten auch keine besonderen Herausforderungen gegeben. Allerdings zaghafte Korrekturen, wie sie oben ausführlich dargestellt wurden  : Die von Haider gestrichene Zugehörigkeit zur deutschen Volksgemeinschaft wurde auf Drängen Straches wieder abgemildert ins neue Programm 2011 aufgenommen, und auch die Europa-Passage ist ein deutlicher Rückschritt im Vergleich zur Ära Haider. Im geltenden Programm gibt es kein Bekenntnis zur Supra­nationalität und zur politischen Union mehr. Europa der Vaterländer, Vorrang der österreichischen Verfassungsprinzipien vor dem EU-Recht (!!) treten an die Stelle der Anerkennung des Maastrichter und des Amsterdamer Vertrags. In der Praxis hatte dies allerdings keine Folgen, es blieb im Übrigen weitgehend unbemerkt. In einer gesamthaften Beurteilung der Ära Strache als Parteiobmann muss man die FPÖ innerhalb des Verfassungsbogens verorten. Er setzte zwar durch, dass das von Haider aus dem Programm gestrichene starke deutschtümelnde Element in abgeschwächter Form wieder ins Programm kam, profilierte sich aber auf diesem Feld überhaupt nicht. Auch seine Kritik an der EU, insbesondere an der Migrationspolitik, machte ihn zunehmend europakritisch, der schon damals diskutierte Öxit, also der Austritt Österreichs aus der EU, wurde aber nie Partei-Linie. Strache suchte 17 Ebd.

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auch die Grenze zur extremen Rechten und zu jenen zu halten, die nach wie vor dem nationalsozialistischen Gedankengut verhaftet waren.

6. Die kurze Zeit des moderaten Norbert Hofer Auf Heinz-Christian Strache als Obmann der FPÖ folgte im Jahre 2019 Norbert Hofer, der die Partei 2016 zum Erfolg in der Bundespräsidentenwahl geführt hatte. Er hängte die Kandidaten von ÖVP und SPÖ klar ab, kam in die Stichwahl und erreichte 46 Prozent  ! Hofer bekannte sich als Obmann zu Verfassung und Rechtsordnung, lehnte den Öxit ab, »nur bei einer weiteren Fehlentwicklung der EU könne man darüber diskutieren«,18 und betonte seinen Glauben an das Projekt EU. Aus der Forderung nach einer Dritten Republik wurde eine system-immanente Forderung nach mehr direkter Demokratie. Der Ton ist moderat, die FPÖ ist eher Ziel von Demonstrationen anderer als der Veranstalter von solchen. Er konnte seinen moderaten Kurs allerdings nicht durchsetzen. Der ständigen Auseinandersetzungen mit Herbert Kickl und dem rechten Flügel der Partei müde, trat er im Juni 2021 zurück. Herbert Kickl wurde als einziger Kandidat mit mageren 88 Prozent zu seinem Nachfolger gewählt.

7. Kickl rüttelt am Verfassungsbogen Die Ära Kickl dauert gefühlt für viele, die unter seinen Kursänderungen hin zum rechten Radikalismus leiden, schon lange Jahre. Er ist aber erst seit Juni 2021, also etwas mehr als ein Jahr, am Steuer der Partei. Das Programm von 2011 gilt unverändert. Die politische Praxis hat sich allerdings kurzfristig grundlegend geändert. Die Partei ist ihrem Obmann dabei fast ohne Widerspruch gefolgt. Die 12 Prozent der Parteitagsdelegierten, die ihn im Juni nicht gewählt haben, sind bisher stumm geblieben. Lediglich Andreas Mölzer, der »weise Alte vom Ossiachersee«, kritisierte öffentlich einzelne Entscheidungen und Vorgangsweisen. Kickl hat sich zwar immer wieder als EU-kritisch gezeigt, aber die Mitgliedschaft nicht in Frage gestellt. Er führt die Partei derzeit nicht auf den Weg zum Öxit. So weit auch Positives. Das Konzept der Präsidialdemokratie der »Dritten Republik« ruht, allerdings stellt Kickl die Bundesverfassung und die Rechtsordnung, und auch insbesondere den Gewaltprimat des Staates, ständig in Frage. Sichtbarer Ausdruck  : die gesetz18 So Hofer wörtlich in der Konfrontation mit dem Spitzenkandidaten Alexander Van der Bellen im Zuge des Bundespräsidentenwahlkampfs 2016.

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widrige Praxis der FPÖ-Abgeordneten in Pandemie-Zeiten im Nationalrat, keine Mund- und Nasenschutz-Masken zu tragen. Ein deutlicheres Zeichen der Ablehnung des österreichischen Rechtsstaats und des Grundrechtsschutzes kann man nicht geben. Alle FPÖ-Mandatare folgen in die Gesetzwidrigkeit. Kickl selbst macht Österreich verächtlich und qualifiziert es als Diktatur.19 Die Verfassungsorgane werden ebenso herabgewürdigt  : Bundespräsident, Verfassungsgerichtshof, Parlament und Bundesregierung. Das Konzept der Dritten Republik war zwar eine Gesamtänderung der Bundesverfassung, aber in seiner Anlehnung an die Präsidialdemokratie zentralistischer Einheitsstaaten wie Frankreich wohl als demokratisch zu qualifizieren. Insofern ist also die Kursänderung von Kickl, verbunden mit seiner Duldung »Identitären Gedankenguts und von Personen, die sich dazu bekennen« in der FPÖ eine Verschärfung und noch deutlicher abzulehnen als die vergleichsweise harmlose Dritte Republik. Es bedeutete eine neue Form des Hangs zum Rechtsextremen  : Was früher die NS-Neigung war, ist heute die Weggemeinschaft mit den Identitären. Sollten nicht nur Kickl und die derzeitige Führungsriege der FPÖ auf diesen Kurs schwenken, sondern auch die gesamte Partei, und in ihrer Praxis dabeibleiben, so bedeutet dies ein schweres Rütteln am Verfassungsbogen. Allzumal auch die weiteren Kriterien heranzuziehen sind  : das Ausspielen der Straße gegen die repräsentative Demokratie und die »radikale Phrase« in einer nie gekannten Schärfe (Die gewaltbereite Sprache von Kickls Vorgänger Ewald Stadler in der Ära Haider ist im Vergleich dazu ja geradezu sanftmütig …). Im Zuge der Anti-Impf-Politik der gesamten FPÖ, nicht nur des Obmanns, und der totalen Ablehnung der Pandemie-Bekämpfung der Bundesregierung mobilisieren Kickl und seine FPÖ in Wien und den meisten Bundesländern die Straße gegen Parlament und Regierung. Jedes Wochenende wird demonstriert, dabei werden alle gesetzlichen Regeln systematisch gebrochen  : Abstände und Maskenpflicht sowie Gewaltverbote. Von den vier Kriterien, die für den Fall aus dem Verfassungsbogen definiert sind, ist nur eines nicht anwendbar  : Die Europapolitik spielt zwar keine größere Rolle, aber ein EU-Austritt Österreichs wird von der FPÖ derzeit nicht verlangt. Die Ablehnung von wesentlichen Grundsätzen des Rechts- und Verfassungsstaats ist evidente Politik von Obmann Herbert Kickl, die Partei widerspricht nicht, diese Politik wird immer mehr zur Parteilinie. Das dritte und vierte Kriterium betreffen die radikale Phrase und die Mobilisierung der Straße gegen die repräsentative, parlamentarische Demokratie. Jedes Wochenende stellt die gesamte FPÖ unter Beweis, wie sie die Partei aus dem Verfassungsbogen herausdemonstriert  : die Mobilisierung der Straße gegen die parlamentarische Demokratie mit »Fake-News« und beispiellos brutaler Sprache. 19 Siehe hiezu die APA-Meldung vom 19.11.2021  : https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20211119_ OTS0068/fpoe-kickl-oesterreich-ist-mit-heutigem-tag-eine-diktatur [23.12.2021].

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Herbert Kickl führt also derzeit seine Partei aus dem Verfassungsbogen heraus, sein immer kräftigeres Rütteln ist unübersehbar. Bald wird er sein Ziel erreicht haben und für niemanden mehr regierungsfähig sein. Die diesbezüglichen Hoffnungen und Avancen, die ihm SPÖ, Grüne und NEOS zum Zweck des Sturzes von Sebastian Kurz im Oktober 2021 gemacht haben, sind heute schon unwiederholbar und Teil der Geschichte.

DEU TSCHLA N D U N D EU ROPA

Marino Freschi, Rom*

Die zwei Reden des Thomas Mann Man hätte nicht geglaubt, daß das neue Jahrhundert uns gleich so schmerzhafte neue Kreuzwegstationen aufrichten würde, vom Terrorismus bis zur Pandemie. Nichtsdestoweniger sind unsere Prüfungen, zumindest im Moment (und wir sind schon im zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts), sicherlich nicht vergleichbar mit dem stürmischen Schicksal, das die Menschheit im 20. Jahrhundert durchmachte und das in Thomas Mann einen aufmerksamen und bewußten Zeugen und Erzähler gefunden hat, wie es sein ganzes Werk bestätigt, seien es die Romane und Erzählungen, sei es die Essayistik wie auch die umfangreichen Briefe und Tagebücher.1 Der kulturelle Reichtum und das intellektuelle Gewicht der Themen und Motive dieser unvergleichlichen literarischen Tätigkeit sind von Domenico Conte in Viandante della storia. Thomas Mann e la storia dargestellt worden, wo eine der lebendigsten und komplexesten Gestalten der deutschen Kultur und Geschichte auftritt  : jene des Wanderers.2 Tatsächlich handelt es sich um eine große Wanderung durch die Wahrnehmung der Welt bei Mann, mit besonderer Aufmerksamkeit für die entscheidenden Verknüpfungen und die Widersprüche seines Werks. Und die Diskussion wendet sich wiederum und seit jeher zu den Betrachtungen eines Unpolitischen, dem Meilenstein jeglichen konservativen, antidemokratischen, antiwestlichen Denkens, zugleich der Stolperstein eines demokratischen und fortschrittlichen Westens. Und der erste Wanderer, der stolperte, war ausgerechnet Thomas Mann in dem Klima von Unord­ nung und Gewalt der Nachkriegszeit, das am 24. Juni 1922 in Berlin in dem Meuchelmord an Walther von Rathenau gipfelte, dem Außenminister der neuen Repu­blik, dem Industriellen der mächtigen AEG, einem aufgeklärten Kapitalisten, mutigen und patriotischen Unternehmer und kultivierten Intellektuellen. Der Terrorakt war * Übersetzt von Michael Pammer. Abkürzungen  : DR  : Von deutscher Republik. Gerhart Hauptmann zum sechzigsten Geburtstag  ; GG  : Germany and the Germans. 1 Zu den verwickelten Wechselfällen in den Tagebüchern vgl. Domenico Conte, La stanza di Barbablù. I diari di Thomas Mann come fonte psicologica e storica, in  : Domenico Conte – Fulvio Tessitore (a cura di), Accademia Pontaniana. Accademia di Scienze Morali e Politiche. Conferenze congiunte, Napoli 2020, 111–128. 2 Domenico Conte, Viandante nel Novecento. Thomas Mann e la Storia, Edizioni di Storia e Letteratura, Roma 2019, das wichtige Forschungen über Thomas Mann zusammenfaßt  ; besonders wertvoll die Darstellung der Beziehung zwischen Mann und Benedetto Croce.

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das Werk einer kleinen Gruppe rechtsextremer Terroristen, die in den Freikorps aktiv gewesen waren, die anfangs von der neuen sozialdemokratischen Regierung gestützt und gut ausgerüstet worden waren, die sie benutzte, um die östlichen Grenzen gegen den angriffslustigen Unternehmungsgeist der polnischen Truppen zu schützen, die die deutschfreundlichen Volksabstimmungen nicht zu respektieren gedachten. Danach wurden sie in Deutschland eingesetzt, um den Spartakusbund zu bekämpfen. Beauftragt vom Verteidigungsminister, dem Sozialdemokraten Gustav Noske, ermordeten Freikorps-Kämpfer am 15. Jänner 1919 die Anführer des Bunds, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Unterdessen war in Bayern die Räterepublik proklamiert worden, deren Vertreter Mann bedrohten, der von Ernst Toller in seiner Funktion als Ratspräsident verteidigt und unter Schutz gestellt wurde. Die Reaktion der »Weißen« war erbarmungslos und brutal, und für Mann begann der Sinneswandel, die politische Wanderung, die sich mit der Ermordung Rathenaus beschleunigte und unumkehrbar wurde und die ihn dazu brachte, im Beethovensaal in Berlin am 15. Oktober 1922 anläßlich des sechzigsten Geburtstags von Gerhard Hauptmann eine der wichtigsten Reden des deutschen 20. Jahrhunderts zu halten, Von der deutschen Republik. Der Schriftsteller, der 1912 den Literaturnobelpreis bekommen hatte, war gemeinsam mit dem Reichspräsidenten Friedrich Ebert anwesend. Die Rede wurde wiederholt von jungen Leuten unterbrochen, die scharrten und Lärm machten, und gerade an sie wandte sich anscheinend der Redner, der eine Verbindung zwischen fortschrittlicher und liberaler Aufklärung und Romantik, in der noch – und in Wirklichkeit auf Dauer – die Mann’sche Weltsicht wurzelte, für unmöglich hielt  : »Denn das Niveau deutscher Romantik, möge es gewiß ein anderes sein, als das der politischen Aufklärung, ist eben darum auch so hoch über allem Obskurantentum, daß, da echte Opposition nur auf gleicher Ebene möglich ist, schon dessen Gegnerschaft von hier aus als letzte Schande empfunden wird. Obskurantismus, mit seinem politischen Namen Reaktion geheißen, ist Roheit, – sentimentale Roheit.«3 Mann vollführt mit dieser berühmten Rede einen wahren Salto mortale von überraschender intellektueller Kühnheit, der die großangelegte Erklärung der Betrachtungen, die dauerhaft einer der wesentlichen Pole der Mann’schen Sicht der deutschen Kultur, seiner deutschen Kultur bleiben sollten, nicht widerruft, sondern aus seiner Sicht einbindet. 1922, angesichts einer steigenden Welle terroristischer Gewalt, die von den Freikorps in Gang gesetzt worden war, bis hin zu summarischen Verfahren vor Geheimgerichten nach dem Muster der berüchtigten mittelalterlichen Femegerichte, fühlte sich Mann orientierungslos. Und da er in München lebte, der »Stadt der Bewegung«, also der Stadt, die zu dieser Zeit das Zentrum der NSDAP war, sah 3 Von deutscher Republik. Gerhart Hauptmann zum sechzigsten Geburtstag, in Thomas Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Band 15.1  : Essays II (1914–1926), hg. von Hermann Kurzke, Frankfurt am Main 2002, 521–522.

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er mit Schaudern, wie die Überlegungen, die er in den Betrachtungen eines Unpoli­ tischen und anderen Schriften aus der Kriegszeit ausgebreitet hatte, von der raffinierten nationalsozialistischen Demagogie, deren Propagandaapparat sich bereits als der effektivste mit schneller und einschneidender Wirkung auf die Bevölkerung herauszustellen begann, in roher Weise manipuliert wurden. Im übrigen war Hitler dabei, sich als Propagandagenie zu etablieren, wie er in seinem Mein Kampf zeigte, das er während seines kurzen und ziemlich komfortablen Aufenthalts in der Festung Landsberg schrieb, wo er sein Buch verfassen und diktieren konnte. Dennoch war es undenkbar, daß für Mann die Unterstützung für die republikanische Regierung mit einem Abschwören seines gesamten konservativen Denkens einhergegangen wäre, das auf einer kühnen Interpretation der Romantik basierte, wie sie in den Betrachtungen auf den wunderbaren Seiten über Novalis und Eichendorff erscheint. Und was konnte er denn tun, um sich selbst treu zu bleiben und gleichzeitig vor den nationalsozialistischen Barbareien zu retten, was zu retten war  ? Darin war Mann ein Meister  : einen Mittelweg zu finden, um das Unvereinbare zu vereinbaren. In dem neuen Halt auf seiner intellektuellen Wanderschaft, seinem geistigen Weg, stellte er sich die Frage nach »einem anderen ›Dritten‹, das ebenfalls ›weltlich und überirdisch‹, das heißt sozial und innerlich, menschlich und aristokratisch zugleich ist und zwischen Romantizismus und Aufklärung, zwischen Mystik und Ratio eine schöne und würdige, – man darf es sagen  : eine deutsche Mitte hält  ? Und war es, zornige Freunde, nicht dies Element, das ich mit jenem Buchwerk, in wirklicher Lebensnot nach rechts und links, ja, unter schwerstem Druck, mehr noch nach links, als nach rechts, verteidigte  : Das Element der Humanität  ?«4 Humanität, die Goethe’sche und Herder’sche Menschlichkeit, zur Überwindung der Unvereinbarkeit der Romantik von Novalis und der politischen Aufklärung der philosophes, auf deren Gedanken er zurückgreift, um die zentrale Bedeutung des Staates zu unterstreichen, auch des sozialdemokratischen, republikanischen, demokratischen. Wichtig war es, die Karten auf den Tisch zu legen, offen zu spielen, mit einem aufrichtigen Zugeständnis der Basis seiner kulturellen Identität. Auch um den Preis, sich zu widersprechen, daß der Staat, auch der republikanische, in diesem dringlichen Moment den einzigen Gleichgewichtszustand darstellte  : »Die unzweifelhaft höchste Stufe des Menschlichen – der Staat  ! Als Anfänger des Lebens hätte ich mir nicht träumen lassen, daß ich jemals so sprechen würde. Wer aber so spricht, der ist Republikaner, er möge auch außerdem und nebenbei noch wie Novalis den politischentheistischen Glauben bekennen. Soll ich erzählen, wie es weiter ging  ? Es kam der Tag (ein wichtiger Tag für mich, persönlich gesprochen), da ich in einem offenen Brief über Whitman, der durch Reisigers noble Übersetzung mächtigen Eindruck 4 DR, 535.

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auf mich gemacht, die Einerleiheit von Humanität und Demokratie proklamierte  ; da ich feststellte, das erste sei nur ein klassizistisch altmodischer Name für das zweite, und nicht Anstand nahm, den göttlichen Namen von Weimar in einem Atem zu nennen mit dem des Donnerers von Manhattan.«5 Sehr Thomas Mann also  : Weimar (mehr Novalis als Goethe) mit der neuen Gottheit Whitman. Man fragt sich, wie sehr die Jugend im Saal scharrte, als sie diese skandalöse Zusammenfügung vernahm. Aber Mann, wenn auch in seiner immer ironischen Finesse, suchte die Konfrontation. Seine Rede ist eine konstante Hinwendung zu den jungen scharrenden Zuhörern. Sie sind es, die der Dichter überzeugen will  : »Mein Vorsatz ist, ich sage es offen heraus, euch, sofern das nötig ist, für die Republik zu gewinnen und für das, was Demokratie genannt wird, und was ich Humanität nenne.«6 Wenn man heute diese mutige Rede liest, ist man verblüfft von der Nachdrücklichkeit, mit der Mann die Konfrontation mit den feindseligen Zuhörern, die sich anscheinend nicht zurückhielten, ihre Ablehnung auch laut zu äußern, sucht, ja fast provoziert. Mann war der Spieleinsatz klar, und er gab die Partie nicht auf  : »Dennoch ist leicht möglich, daß sie [die deutsche Jugend] scharrt. Aber das macht nichts, ich werde zu Ende reden und Herz und Geist daran setzen, sie zu gewinnen. Denn gewonnen muß sie werden, soviel ist sicher, und ist auch zu gewinnen, da sie nicht schlecht ist, sondern nur stolz und vertrotzt in ihren scharrenden Teilen.«7 Und schließlich  : »nur um dies zu zeigen, fast nur um zu beweisen, daß Demokratie, daß Republik Niveau haben, sogar das Niveau der deutschen Romantik haben kann, bin ich auf dieses Podium getreten.«8 Aber warum solches Beharren  ? Mann wußte, daß er seine Kehrtwendung würde erklären müssen, eine radikale Wendung, die sicher nicht stillschweigend geschehen konnte. Für wie viele dieser jungen Leute war er noch der Großmeister der Überlegenheit deutscher Kultur gegenüber der westlichen Zivilisation  ? Für wie viele war er noch der glänzende Führer auf dem Weg der Nation, auf dem stolzen deutschen Sonderweg  ? Und er wich der Erklärung nicht aus  : »Ja, wenn nicht die Gegenwart hochgestellter Personen eure Lebhaftigkeit einschränkte, würdet ihr mir zurufen  : ›Wie  ? Und dein Buch  ? Deine antipolitisch-antidemokratischen Betrachtungen von anno 18  ?  ! Renegat  ! Überläufer  ! Gesinnungslump  ! Der du dir selber aufs Maul schlägst, Umfallsüchtiger, steige ab vom Podium und wage nicht, gewinnende Kraft in Anspruch zu nehmen für das Wort des charakterlosesten Selbstverleugners  !‹«9 Mann läßt nicht locker, er nimmt die Herausforderung an  : »Ich widerrufe nichts. 5 DR, 536. 6 DR, 522. 7 DR, 514. 8 DR, 541. 9 DR, 533.

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Ich nehme nichts Wesentliches zurück. […] Ich werde euch vielmehr antworten, daß ich in der Tat ein Konservativer bin, daß meine natürliche Aufgabe in dieser Welt allerdings nicht revolutionärer, sondern erhaltender Art ist.«10 Ein mühsamer Weg auch für einen erfahrenen und ausgerüsteten Wanderer wie Thomas Mann. Von Novalis zu Whitman, das mögliche Bündnis zwischen seinem Romantizismus und der politischen Aufklärung beschwörend, um das Vaterland, um Deutschland vor der demagogischen Brutalität der »Obskuranten« zu retten. Hier liegt der entscheidende Punkt seines Ansatzes, der über die Betrachtungen hinausgeht und das gesamte Erbe der deutschen Kultur mit sich nimmt, das nunmehr »vorübergehend« von Massenhysterie bedroht ist  : »sentimentale Roheit verdient so wenig den edlen und geisteszarten Namen der Romantik, daß der eingefleischteste Romantiker für den vorübergehenden Notfall zum politischen Aufklärer werden könnte, um behülflich zu sein, so unverschämte Ansprüche ihr kräftigst zu verwehren. Wenn sentimentaler Obskurantismus sich zum Terror organisiert und das Land durch ekelhafte und hirnverbrannte Mordtaten schändet, dann ist der Eintritt solchen Notfalles nicht länger zu leugnen, und die Stille, die sich, wie ich feststelle, bei dieser Anspielung im Saale verbreitet, – ich weiß, junge Leute, was ich, der fürchten muß, aus geistigem Freiheitsbedürfnis dem Obskurantentum Waffen geliefert zu haben, – was, sage ich, gerade ich dieser jetzt herrschenden Stille schuldig bin.«11 Mann ist entschlossen, sein Argument zur Verteidigung der neuen Republik und seiner eigenen Verteidigung bis zum Ende zu entwickeln. Um die eigene Stimmigkeit zu bekräftigen, trotz der durch die dramatischen Verläufe bedingten Wendung, argumentiert er für die Republik, die er für die historische Folge der Idee der Goethe’schen und Weimarischen Humanität hält, die er – der Autor, der bis dahin der unermüdliche Befürworter der »unpolitischen« Mission des Dichters war – kühn mit der politischen Idee und der Realität der deutschen Republik verknüpft  : »politische Humanität. Es ist die Einheit des Geistig-Nationalen und des staatlichen Lebens, die wir so lange nicht kannten und hoffentlich wieder kennen werden. Mit einem Wort, es ist die Republik«12 Die Wende radikalisiert sich im Lauf der Rede. In Deutschland war es ein äußerst schwieriger Moment. Terrorakte geschahen täglich. Die Inflation stieg kontinuierlich. Die »Welt der Sicherheit« – um eine ihrer glücklichen Benennungen zu gebrauchen – war schon untergegangen, gemeinsam mit den vier letzten Kaiserreichen.13 Hier mußte sich eine Straße durch die Ruinen öffnen, und dies erforderte 10 DR, 533. 11 DR, 522. 12 DR, 538–539. 13 Vgl. Da nilo Breschi – A ntonell a Ercol a ni – A ntonio M acchi a (a cura di), Il tramonto degli Imperi, Canterano 2020  ; a. M a rino Freschi, 1918. Tramonti Tedeschi, Acireale–Roma 2018.

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diesen gedanklichen Sprung, sobald die seltsame Verbindung zwischen Novalis und Whitman hergestellt war, der Romantik und der politischen Aufklärung. Der Pakt der Kultur – denn für Mann handelt es sich immer um Kultur – gegen den Obskurantismus, im Namen der Weimarschen Humanität, wird begründet durch ein Verschieben der Grenze, die einem neuen Ziel nähergerückt wird, das mit rhetorischer Raffinesse vorgestellt wird  : die Republik, vom wissenden Verlauf der Geschichte als rettendes Los geboten  : »Jene Mächte [des Kaiserreichs] sind nicht mehr. Das Schicksal hat sie – wir wollen nicht triumphierend rufen  : ›hinweggefegt‹, wir wollen sachlich aussprechen  : es hat sie beseitigt, sie sind nicht mehr über uns, werden es, nach allem, was geschehen, auch nie wieder sein, und der Staat, ob wir wollten oder nicht, – er ist uns zugefallen. In unsere Hände ist er gelegt, in die jedes Einzelnen  ; er ist unsere Sache geworden, die wir gut zu machen haben, und das eben ist die Republik, – etwas anderes ist sie nicht. Die Republik ist ein Schicksal und zwar eines, zu dem ›amor fati‹ das einzig richtige Verhalten ist.«14 Hier taucht wieder mächtig, mit hoher Ausdruckskraft, der Gedanke von Zarathustra auf, die Botschaft Nietzsches, die ihn noch bewegte und die auch die anwesenden jungen Leute beeinflussen musste. Aber wie diese Jungen überzeugen, von denen viele Heimkehrer aus einem verlorenen Krieg waren, »im Felde unbesiegt«, diese Jungen, verbittert, die sich verraten fühlten und die dem Diktat eines ungerechten und rachsüchtigen Friedensvertrags zusehen mussten, wie sie von der Entscheidung für die Republik überzeugen  ? Anwesend im Saal war der Geehrte Hauptmann mit Friedrich Ebert, dem ersten Reichspräsidenten, und den bei solchen Gelegenheiten üblichen Würdenträgern, und doch spricht Mann nur zu den Jungen, wenn auch ungehört  : Es ist »keineswegs und durchaus nicht wahr, daß die Republik als innere Tatsache (ich rede jetzt nicht von staatsrechtlichen Fixierungen) ein Geschöpf der Niederlage und der Schande ist. Sie ist eines der Erhebung und der Ehre. Sie ist, junge Leute, das Geschöpf eben der Stunde, die ihr nicht verleugnet und mit schlechtem Hohne geschändet wissen wollt, der Stunde begeistert totbereiten Aufbruchs – damals stellte sie in euerer Brust sich her. […] Faßt endlich Vertrauen, – ein allgemeines Vertrauen, das für den Anfang nur im Fahrenlassen des Vorurteils zu bestehen braucht, als sei deutsche Republik ein Popanz und Widersinn.«15 Ein großer und leidenschaftlicher Redner, bewegt selbst und bewegend, der auch die heikelsten Punkte der Diskussionen der Rechten nicht auslässt, so wie den Antisemitismus. Es war ein Thema auch für ihn, der Katia Pringsheim geheiratet hatte, eine kultivierte Intellektuelle aus einer reichen jüdischen Familie, bei der Mann sich nicht scheute, in seiner Erzählung Wälsungenblut, die zu veröffentlichen er zögerte, ein morbides 14 DR, 525. 15 DR, 528–529.

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Geflecht aus Inzest und Antisemitismus zum Vorschein zu bringen. Und auch hier nimmt er tapfer Stellung  : »Ich bitte nochmals  : erwehrt euch der Kopfscheu  ! Es ist in aller Welt kein Grund, die Republik als eine Angelegenheit scharfer Judenjungen zu empfinden.«16 Die Ermordung Rathenaus erklärte sich wohl nicht daraus, dass der Minister Jude war  ! Und es war gerade wegen dieses Terrorakts, dass Mann die Zögerlichkeit aufgab und sich entschied, das rechte Lager zu verlassen, weil er verstand, dass die einzige Rettung die Republik war, war sie auch ganz schwach und von außen durch die Härte der Sieger bedroht, und doch die einzige Möglichkeit der Rettung für Deutschland und seine Kultur. Wenige Monate später besetzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet wegen eines Rückstands bei den Reparationen. Es entstand ein Unrecht, das entscheidend zum Erfolg Hitlers beitrug. Erstmals waren Nationalsozialisten, Kommunisten und Regierung geeint im Protest und im passiven Widerstand à la Gandhi gegen die Besatzer, die die gewalttätigsten Mittel einsetzten, um jede Abweichung brutal zu unterdrücken, was in der Hinrichtung eines jungen ehemaligen katholischen Theologiestudenten, nun Freikorps-Angehörigen und Nationalsozialisten, gipfelte, Albert Leo Schlageters, der zu einer Ikone der Hitler-Bewegung wurde und über den der expressionistische Dichter Hanns Johst das gleichnamige Drama schrieb, das bezeichnenderweise Hitler gewidmet war. Man konnte nicht umhin festzustellen, dass die Mehrheit der deutschen Jugend, die dem Ruf zu den Waffen 1914 enthusiastisch gefolgt war, sich verloren, desorientiert, verbittert und verraten fühlte, als sie sah, wie die hochtönenden Versprechen eines gerechten Friedens in den 14 Punkten von Präsident Wilson vollständig aufgegeben und zugunsten der nationalen Interessen Frankreichs, Belgiens und Englands ins Gegenteil verkehrt und gestrichen wurden. Die Rede vom 15. Oktober 1922 ist eine der großen Reden Thomas Manns, um nicht zu sagen des deutschen 20. Jahrhunderts. Eine immer noch starke Hoffnung scheint hier durch, ein mitreißender Wille, etwas entstehen zu lassen. Thomas Mann hatte sich ernsthaft von der unwahrscheinlichen Möglichkeit überzeugt, Novalis mit Whitman zu vereinen, raffinierte romantische Aristokratie mit robuster Demokratie, in der Erwartung eines möglichen Bündnisses zwischen dem Unpolitischen und dem Republikanischen, um Deutschland vor der nazistischen Demagogie und der antisemitischen Brutalität zu bewahren. Es war eine ziemlich gefährliche und rauhe intellektuelle Reise zwischen den ausgeprägtesten Gegensätzen, zwischen der romantischen Nacht, schwer von alten und neuen Mythen, und dem grellen Licht der politischen Aufklärung, in einer schwierigen Synthese zwischen Primitivismus und nächtlichem Humanismus17 in einer faszinierenden und verwegenen Wanderung durch die gegensätzliche Kultur des deutschen 20. Jahrunderts, quer durch die Apo16 DR, 530. 17 Vgl. Domenico Conte, Primitivismo e umanesimo notturno. Saggi su Thomas Mann, Napoli 2013.

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rien der Spiritualität einer spätromantischen Kultur, die an verfängliche nihilistische Positionen streift. In der Rede beginnt Mann, das auszumachen, was sein bevorzugter Weg wurde, der Mittelweg zwischen den Gegensätzen, in einer mühsamen, immer schwierigeren Suche nach einer Einheit  : »Zwischen ästhetizistischer Vereinzelung und würdelosem Untergange des Individuums im Allgemeinen  ; zwischen Mystik und Ethik, Innerlichkeit und Staatlichkeit  ; zwischen totverbundener Verneinung des Ethischen, Bürgerlichen, des Wertes und einer nichts als wasserklar-ethischen Vernunftphilisterei ist sie in Wahrheit die deutsche Mitte, das Schön-Menschliche, wovon unsere Besten träumten. Und wir huldigen ihrer positiven Rechtsform, als deren Sinn und Ziel wir die Einheit des politischen und des nationalen Lebens begriffen haben, indem wir unsere noch ungelenken Zungen zu dem Rufe schmeidigen  : ›Es lebe die Republik  !‹«18 Fraglich, ob der Applaus das Scharren der feindseligen jungen Zuhörer übertönte. Sicher ist, daß sich von diesem Zeitpunkt an ein Spalt zwischen dem Schriftsteller und jenen öffnete, die bis dahin sein Publikum gewesen waren. Hier geschah ein Frontwechsel, und so kam es, daß die neokonservative deutsche Richtung ihren glänzendsten und leidenschaftlichsten Vertreter verlor, der mit der Niederschrift seines Romans über die vorangegangene Krise beschäftigt war, dem Ende der »Epoche der Sicherheit«, mit dem Zauberberg, wo sich der innere Zwiespalt glänzend in der intellektuell-spirituellen querelle zwischen Lodovico Settembrini, dem aufklärerischen, carduccianischen, freimaurerischen Italiener, und dem Jesuiten jüdischer Herkunft Naphta widerspiegelt, ein Gegensatz, der nicht zu einem Ende kommt, denn das Duell ist sicherlich kein Ende, sondern nur eine dramatische Wendung, ein Mittel im Roman. Die Perspektive hat sich gegenüber den antiitalienischen Äußerungen der Betrachtungen umgedreht  : Settembrini tritt gegenüber dem Autor und den Lesern als sympathisch hervor, in seiner Humanität, in seiner wohlwollenden Menschlichkeit, als fortschrittlich und oberflächlich, während die dunklen gedanklichen Mäander, die vom Jesuiten durchlaufen werden, als unwegsam und doch zweifellos als jene herauskommen, die den Gedanken Manns mehr entsprechen. Die Bestätigung, daß Der Zauberberg viel zweideutiger ist, als man ihm entnehmen wollte, manifestiert sich in der merkwürdigen Konstellation der zentralen Schnee-Episode, in welcher der Held Hans Castorp über die Verführungskraft des Todes und die feinen, widrigen, zerstörerischen Energien des Todes und des Nihilismus siegt und über die faszinierende, unheilvolle romantische Nacht die heitere Herrschaft des Lichts im Tanz der Sonnenkinder bekräftigt. Aber dieser Triumph verfliegt mit der Rückkehr ins Quartier sofort, wo unser Held anscheinend sofort diese Erleuchtung vergißt, die nicht weiter sein Schicksal bestimmt. Tatsächlich kehrt Hans Castorp nach diversen merkwürdigen Wechselfällen des Lebens im Sanatorium, als die sieben Initiationsjahre auf 18 DR, 559.

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dem Berg vorüber sind, ins flache Land zurück, um zu kämpfen und vermutlich um zu sterben. Ein Ende fast wie in den Jüngerschen Stahlgewittern. Aber es gibt Gucklöcher, die verraten, daß Mann in subtiler Weise den Gedanken der Betrachtungen treu geblieben ist, wie er mit verblüffender, quälender Offenheit in einem Brief vom 13. März 1952 an den elsässischen Kritiker Ferdinand Lion zugibt  : »meine demokratische Attitüde ist nicht recht wahr, sie ist bloße Gereiztheitsreaktion auf den deutschen ›Irrationalismus‹ und Tiefenschwindel (mit seiner giftigen Distinktion von ›Dichter‹ und ›Schriftsteller‹) und auf den Faschismus überhaupt, den ich nun einmal wirklich und ehrlich nicht leiden kann. Er hat es fertig gebracht, mich zeitweise zum demokratischen Wanderredner zu machen, – eine Rolle, in der ich mir oft wunderlich genug vorkam. Ich fühlte immer, daß ich zur Zeit meines reaktionären Trotzes in den Betrachtungen viel interessanter und der Platitüde ferner gewesen war. Freilich scheint mir, daß es beim direkten Umgang mit der Menschenbedürftigkeit auf Interessantheit nicht so sehr ankommt.«19 Im übrigen ist der deutsche Roman schlechthin, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, an dem er von 1943 bis 1947 arbeitete, eine, gelinde gesagt ambivalente, wenn nicht doppeldeutige Wiederbegegnung mit der Kultur des frühen 20. Jahrhunderts, immer in »politisch korrekter« Distanz von den reaktionären Auffassungen. Der Protagonist hat in sich die Grandiosität des Künstlers par excellence, deutscher Musiker und sogar Theologe, und der Umstand, daß er seine Seele in Palestrina dem Teufel verkauft hat, bedeutet für das metaphysisch tragische Geschick Deutschlands, daß es im Namen der Größe der Humanität und Menschlichkeit und Liebe entsagt. Aber es ist klar, daß Mann – und mit ihm die Leser – hoffnungslos, unumkehrbar von Adrian gefesselt ist und sicherlich nicht von seinem guten Freund Serenus Zeitblom. Die magnetische Anziehung der Größe auch im Bösen markiert das Brandmal des Dichters, der es selbstverständlich nicht unterläßt, die spenglerianischen Machwerke der vornazistischen Intellektuellen im München jener Jahrzehnte zu kritisieren, der Befürworter des Geheimen Deutschland20, der Münchener Kosmiker Karl Wolfskehl, Alfred Schuler und Ludwig Klages, und im Untergrund merkt man die verborgene Anwesenheit des Meisters Stefan George und seiner Jünger. Schon in der Rede hatte Mann listig auf den »Propheten« zurückgegriffen, um Wasser auf die Mühlen der Republik zu lenken, ausgehend von den orakelhaften Versen der berühmten Dichtung des Propheten Der Krieg von 1917, die in der Sammlung Das Reich von 1928 enthalten war  : »Der alte Gott der Schlachten ist nicht mehr.

19 Thom as M a n n, Briefe 1948–1955 und Nachlese, hg. von Erika Mann, Frankfurt/Main 1979, 248. 20 Vgl. Giova n ni Sessa, L’eco della Germania Segreta. »Si fa di nuovo primavera«, Milano 2021.

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Er ist nicht mehr. Der Gott ist zur abscheulichen Götzenfratze entartet, und etwas wie obskurantistische Donquixoterie ist es geworden, ihm Opfer zu bringen. Anstand und Menschenwürde gebieten, diesen roten Lumpenkönig vom Weltenthron zu stoßen und Europa zur Republik zu erklären, – sofern die Idee der Republik mit derjenigen nationaler Friedenskultur verbunden ist. Die Republik … wie gefällt euch das Wort in meinem Munde  ? Übel, – bestimmten Geräuschen nach zu urteilen, die man wohl leider als Scharren zu deuten genötigt ist.«21 Daß Thomas Mann nachtragend war, ist allbekannt, so wie auch bekannt ist, daß er die Bestandteile jener Kultur gut verstanden hat, die er von den Betrachtungen bis zum Doktor Faustus glänzend gedeutet und dargestellt hat. Und beim Schreiben des Romans wußte er, daß diese Zirkel fast zur Gänze in den braunen Reihen geendet hatten wie sein Freund Ernst Bertram oder sich hochmütig in sich selbst verschlossen hatten in dem, was sie mit Benn als »aristokratische Form der Emigration« verkündet hatten.22 Auch die Anmerkung zum Donquijotismus ist bei einem Autor wie Mann bezeichnend, der kurz danach einen berühmten Essay über Don Quijote schreiben sollte, den letzten hidalgo einer höchst raffinierten Barockliteratur.23 Jetzt bekommt die Wanderung einen neuen Halt  : das Amerika Roosevelts. Aber man geht, und man läßt nichts von der deutschen Kultur zurück. Man gibt die behagliche Villa in München auf, die Bibliothek, das Automobil, die Bücher, es gelingt, die Tagebücher zu retten (großteils vom Autor verbrannt), und man lebt mit unendlicher Sehnsucht nach diesem undankbaren und für immer verlorenen Vaterland.24 Jahre der Emigration, Jahre eines anderen Deutschland, wie es der goetheanische Roman Lotte in Weimar oder die Radioansprachen und die beunruhigenden Essays wie Bruder Hitler zeigen. Mann ergibt sich nicht der einfachsten und unter Emigranten geläufigsten Sicht, wie es höchst raffiniert und faszinierend der Faust-Roman beweist, auch die Tagung Germany and the Germans, die in der bedeutenden Library of Congress in Washington an seinem Geburtstag am 6. Juni 1945, fast einen Monat nach der Kapitulation 21 DR, 520–521. 22 Vgl. M a rino Freschi, Germania 1933–1945  : L’Emigrazione Interna nel Terzo Reich, Torino 2020. 23 Über die Intensität der Begegnung Manns mit dem Meisterwerk von Cervantes vgl. Sulla scialuppa di salvataggio. Thomas Mann e la traversata con »Don Chisciotte«, vgl. Conte, Viandante nel Novecento, 258–276. 24 Schon 1941 versteht Thomas Mann, daß das Exil sich in eine unumkehrbare Lebensform verwandelt hatte, die eine Überwindung der Vaterländer ankündigen könnte (eine irrige Vorhersage), wie er an Karol Kerényi am 18.  Februar schreibt  : »Das ›Exil‹ ist etwas ganz anderes geworden, als es früher war  ; es ist kein Warte-Zustand mehr, auf Heimkehr abgestellt, sondern spielt schon auf eine Auflösung der Nationen an und auf eine Vereinheitlichung der Welt.« Thom as M a n n – K a rl K erén yi, Gespräch in Briefen, Zürich 1960, 99.

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des Reichs, abgehalten wurde, bei der Mann zum Erstaunen der Zuhörer die Einheit Deutschlands, ganz Deutschlands, von Goethe bis Hitler betont  :25 »there are not two Germanys, a good one and a bad one, but only one, whose best turned into evil through devilish cunning. Wicked Germany is merely good Germany gone astray, good Germany in misfortune, in guilt, and ruin. For that reason it is quite impossible for one born there simply to renounce the wicked, guilty Germany.«26 Nach einigen Monaten kommt er auf den Gedanken zurück, indem er auf die unauflösliche Einheit von Geschick und eigenem Unglück in der Schrift Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe hinweist, in der er erklärt, warum er nicht ins undankbare, geliebt-gehaßte Vaterland zurückzukehren gedenkt, das so sehr in ihm lebt, das nur in ihm sein historisches Bewußtsein gefunden zu haben scheint  : »Die Theorie von den beiden Deutschland, einem guten und einem bösen, lehnte ich ab. Das böse Deutschland, erklärte ich, das ist das fehlgegangene gute, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang. Ich stände hier nicht, um mich, nach schlechter Gepflogenheit, der Welt als das gute, das edle, das gerechte Deutschland im weißen Kleid zu empfehlen. Nichts von dem, was ich meinen Zuhörern über Deutschland zu sagen versucht hätte [in der Library of Congress in Washington], sei aus fremdem, kühlem, unbeteiligtem Wissen gekommen  ; ich hätte es alles auch in mir  ; ich hätte es alles am eigenen Leibe erfahren.«27 Und der Text setzt fort mit der Erinnerung an den Teufelspakt, den Deutschland geschlossen habe, einer »tief-altdeutschen Versuchung« nachgebend. Es sind die Monate, in denen die aufgeregte und aufregende Arbeit am Faust-Roman am intensiv­ sten ist, und das spürt man an den verschiedenen Verweisen auf den Teufel und das Schicksal  : »I am trying to suggest a secret union of the German spirit with the Demonic […]. Wherever arrogance of the intellect mates with the spiritual obsolete and archaic, there is the Devil’s domain. And the Devil, Luther’s Devil, Faust’s Devil, strikes me as a very German figure.«28 »For anyone who was born a German does have someting in common with German destiny and German guilt.«29 Wie wird wohl das gemischte Publikum der Sieger im Tagungssaal in Washington reagiert haben, wo Mann die nunmehrige Rede hielt – auch dieses Mal in der zumindest geistigen Nähe eines Präsidenten, des verehrten Roosevelt, der im April 1945 verstorben war. So wie 1922 unternahm Mann einen kühnen und schwierigen

25 Thom as M a n n, Germany and the Germans, Washington 1945. 26 GG, 18. 27 Thom as M a n n, Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe, in  : Neue Schweizer Rundschau, 13 (1945–1946), 363–364. 28 GG, 5. 29 GG, 2.

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Lauf und bekannte sich zur vorbestimmten Einheit Deutschlands, die von der überwältigenden Mehrheit der Emigranten und der Gegner des nationalsozialistischen Regimes abgelehnt wurde. Die Wanderung scheint Wege zurückzugehen, die dem Autor wohlbekannt sind  : jene, die im Faust-Roman angelegt sind, jene, die er in den Gedanken von Novalis gefunden hatte, die in der romantischen Erscheinungsform von Innerlichkeit auftreten, die, wie es scheint, sich eng an die Vorstellung von Kultur aus den Schriften in der Zeit des Ersten Weltkriegs annähert und hier der Schlüssel für diese Einheit wird  : »Or take that quality of the Germans which is perhaps their most notable one, designated as ›inwardness‹, a word that is most difficult to define  : tenderness, depth of feeling, unwordly reverie, love of nature, purest sincerity of thought and con­ science, – in short, all the characteristics of high lyricism are mingled in it, and even today the world cannot forget what it owes the German inwardness  : German metaphysics, German music, especially the miracle of the German Lied – a nationally unique and incomparable product – these are the fruits of German inwardness. The great historical deed of German inwardness was Luther’s Reformation.«30 Der große Reformator, über den Mann einen Roman schreiben wollte, ist immer einer der heimlichen Protagonisten des Faust-Romans, der von Theologie und lutherischer Dämonologie durchdrungen ist. Es gibt nichts faszinierender Deutsches, sogar Teutsches. Luther und die Romantik, das ist das geistige Geflecht, auf dem die Mann’sche geistige Besonderheit beruht  : »German Romanticism, what is it but an expression of this finest German quality, German inwardness  ?«31 Werden wir nicht neuerlich in faszinierender Weise in die Atmosphäre der Betrachtungen hineingezogen  ? Ungeheure Sehnsucht nach dieser Kultur, nach dieser Spiritualität, nach diesem einzigartigen Land  ! Und doch, als man endlich zurückkehren sollte, legte sich etwas quer, und Mann zog sich zurück und lehnte es ab zurückzukehren. Der bekannteste Deutsche des 20. Jahrhunderts blieb – wie Moses – vor den Grenzen des Gelobten Landes, das ihn schmerzlich zurückstieß. Gegenüber den deutschen Schriftstellern, die ins Dritte Reich verwickelt waren und die jetzt, um ihre Distanz zum Regime zu zeigen, seine Rückkehr beschworen, ging Mann in einer stolzen und erzürnten Schrift auf Distanz, die ihn alle Geduld dieser Jahre gekostet haben muß  : »Ja, Deutschland ist mir in all diesen Jahren doch recht fremd geworden. Es ist, das müssen Sie zugeben, ein beängstigendes Land. Ich gestehe, daß ich mich vor den deutschen Trümmern fürchte – den steinernen und den menschlichen.«32

30 GG, 14–15. 31 GG, 15. 32 Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe, 361.

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In einem ähnlichen Zusammenhang vorgetragen, kommt einem die traurige Bemerkung Croces in den Sinn, an die Domenico Conte erinnert  : »La Germania resta ancora per noi un mistero doloroso e pauroso« – Deutschland bleibt für uns weiterhin ein schmerzhaftes und furchteinflößendes Mysterium. 33 Und in dieses Mysterium von Angst und Leid kehrte Mann nur mehr für ganz kurze Aufenthalte zurück. Heute gibt es die Trümmer nicht mehr, es bleiben ein paar Überreste der berüchtigten Mauer, mehr eine Sehenswürdigkeit für Touristen. Dieses luziferische, lutheranische, faustische und mephistophelische Deutschland ist nicht mehr sichtbar. Der Wanderer kann sich zur Ruhe legen. Und doch, und doch kann uns eine ganz bestimmte Sehnsucht nach Aschersleben erfassen, dem kleinen symbolischen altdeutschen Dorf, dem Symbol dieses bezaubernden, faszinierenden »moralischen Erdteils« dieses Germania che abbiamo amato (Das Deutschland, das wir geliebt haben), dem letzten ersehnten Halt der Mann’schen Wanderung.34

33 Zit. in Conte, Viandante nel Novecento, cit., p. 445. 34 Continenti morali ist ein glücklich gewählter Ausdruck, den ich von Fulvio Tessitore und Domenico Conte entlehne, der ihn in seinem Viandante nel Novecento, 454, erwähnt, wo auch der Essay Croces La Germania che abbiamo amato diskutiert wird.

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Friedrich Naumann, Max Weber und das Mitteleuropaprojekt 1. Auf der Suche nach beständigen Verbindungen In seinem Buch über den Ersten Weltkrieg behandelt Lothar Höbelt auch das Projekt Mitteleuropa, das die Bildung einer engeren Vereinigung unter den mitteleuropäischen Ländern bezweckte, die die Grenzen einer Allianz zwischen Verbündeten übersteigen sollte und dadurch »eine ›ever closer union‹ mehr als ein bloßes völkerrechtliches Bündnis«1 anstrebte, das durch Zollunion oder Militärkonvention zusammengehalten werden sollte. Anschließend bezieht er sich auf das Buch Friedrich Naumanns, welches am ausführlichsten und sehr artikuliert das Projekt Mitteleuropa schilderte. Dieses Buch, wird diesbezüglich bemerkt, genoss einen beträchtlichen Erfolg beim Publikum und erarbeitete ein Konzept, das eher im Mitte-Links-Spektrum Resonanz fand. In Bezug auf die Alldeutschen Ziele, erinnert Höbelt, handelte es sich eher um ein »Gegenprojekt«. Anstatt aus den nationalen Konflikten Kapital zu schlagen, ging es um eine Vertiefung und Verstärkung der reziproken Verhältnisse sowie um die Schaffung neuer Formen der Kooperation und des gewinnbringenden Ausgleichs innerhalb einer gemeinsamen Koordinierung der Aktivitäten. Immerhin sei unter der tschechischen Elite ein gewisses Interesse für das Projekt entstanden und habe wichtige politische Persönlichkeiten dazu veranlasst, mit Naumann Kontakt aufzunehmen. Dies weise darauf hin, dass das Mitteleuropaprojekt nicht mit einem expansiven Verständnis der Politik, sondern mit einem Sich-Verbünden in einer dauerhaften Perspektive und auf unterschiedlichen Ebenen in Verbindung gebracht worden sei. Die Schwierigkeiten seien eher von der konservativen Seite und aus dem Sektor der Schwerindustrie gekommen. Sie seien hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass sich ein Abbau von Zöllen und anderen Schranken als schwierig und gefährlich für bestimmte Formen der Nationalproduktion erwiesen habe. Natürlich beabsichtigte das Mitteleuropaprojekt, diese Gefahren und Diskrepanzen zu vermeiden  : »Mit Mitteleuropa waren ganz unterschiedliche Sonderwünsche verknüpft  : Mitteleuropa als Gesamtkunstwerk mochte ein Ganzes bilden, das Vor- und Nachteile für alle Teilnehmer sorgsam ausbalancierte«.2 Der Weg sei noch lang ge1 Loth a r Höbelt, »Stehen oder fallen  ?« Österreichische Politik im Ersten Weltkrieg, Wien–Köln–Weimar 2015, 68. 2 Höbelt, »Stehen oder fallen  ?«, 72.

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wesen (das Projekt fand damals keine Umsetzung), aber die Idee einer Verstärkung durch Kooperation und Verständigung mitten in Europa habe mit Bezug auf konkrete Sachverhalte eine gewichtige Stimme gefunden.

2. Naumanns konzeptionelle Vision Auch wenn Friedrich Naumann für Deutschland eine gewisse leitende Funktion einräumte, enthielt in der Tat sein Projekt eine Überwindung der nationalen Per­ spektive und den Umriss einer übernationalen politischen Organisation, die auf eine Überwindung von Herrschaftsgedanken gegenüber anderen Staaten abzielte.3 Er behauptete diesbezüglich, dass man zumindest gewissermaßen über die Nationalitäten hinaus denken müsse, und betrachtete prinzipiell das Nationaldenken als eine Konstellation des 19. Jahrhunderts, das von den Fakten überholt worden war und ihm nicht mehr aktuell, geschweige denn zukunftsreich erschien. Eher sei der Moment gekommen, in Erdteilen zu denken  ; dies sei seines Erachtens insbesondere durch den Krieg veranschaulicht worden, der kein unbekümmertes isoliertes Staatsleben mehr zuließ und zu Staatsbündnissen und engerer Zusammenarbeit drängte. Dabei war dieser Gedanke für ihn nicht von oben nach unten mittels einer Logik der Macht und der Gewalt durchzuführen,4 sondern er ließ sich von unten nach oben durch die Feststellung einleiten, dass für die kleineren Staaten – und potentiell für die Nationalstaaten überhaupt – kein wirklicher Handlungs- und Mitbestimmungsraum mehr vorhanden war. »Alle Mitkämpfer des Weltkriegs fühlen unmittelbar, daß in der gegenwärtigen und zukünftigen Zeit keine kleinen und mittleren Mächte mehr große Politik machen können«,5 notierte er schonungslos und bemerkte dazu, dass auch Deutschland zu klein sei, um allein eine entscheidende Rolle spielen zu können. Die Alternative sei dann eben, einen Bund der Nationen zu entwerfen, der politisch und wirtschaftlich seine Position verstärken und ausbauen könne und sich aus dem Zusammenschluss von Staaten ergebe, die zusammen eine gewichtigere und bedeutendere Funktion einzunehmen vermögen. Mitteleuropa sei unter dieser Perspektive eine Notwendigkeit geworden. Dabei dachte Naumann hauptsächlich an Deutschland und Österreich-Ungarn sowie an andere Staaten des mitteleuropäischen Raums, auch an diejenigen, die nicht deutschsprachig waren. Dennoch wollte 3 Vgl. Jürgen Frölich, Friedrich Naumanns »Mitteleuropa«. Ein Buch, seine Umstände und seine Folgen, in  : Rüdiger vom Bruch (Hg.), Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin–New York 2000, 245–267, hier 257f. 4 Vgl. Achim Müller, Zwischen Annäherung und Ausgrenzung. Österreich-Ungarn und die Diskussion um Mitteleuropa im Ersten Weltkrieg, Marburg 2001, 152. 5 Friedrich Naum a n n, Mitteleuropa, in  : Ders., Werke, im Auftrag der Friedrich–Naumann–Stiftung, Bd. IV, Köln–Opladen 1964, 492.

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er sich auf keine bestimmten Grenzen oder Charakteristika festlegen  : Der mitteleuropäische Mensch sei im Werden, und Mitteleuropa ein ausbaufähiges Projekt.6 Die Notwendigkeit war diesbezüglich hauptsächlich von der Wirtschaft diktiert. Man brauchte einen gemeinschaftlichen wirtschaftlichen Handelsraum, in dem erleichterte Bedingungen und Austauschmöglichkeiten mit Beständigkeit galten. War aber die Notwendigkeit hauptsächlich wirtschaftlich, so konnte der Wille dennoch nur politisch sein. Dies bedeutete, dass die teilnehmenden Staaten und Nationen einen Willen zur Kooperation und zum gemeinsamen Handeln äußern sollten, der zugleich über die Egoismen hinausging und dennoch die unterschiedlichen partikularen Interessen in Betracht zog sowie berücksichtigte. Die gemeinsamen und wechselseitigen Verhältnisse waren nicht kurzfristig gedacht, sondern als dauerhafte und gegenseitig gewinnbringende Beziehungen zu gestalten, mit anderen Worten, sie sollten zukunftsfähig sein. Das brachte mit sich, dass die teilnehmenden Länder von keinem der anderen ausgenutzt werden durften. Im Gegenteil, Naumann knüpfte daran die Vorstellung, dass sich allmählich eine Lebensgemeinschaft herausbilden sollte, die Solidarität und gegenseitigen Respekt schöpfe. Zum Gedanken von Mitteleuropa gehörte auch das Bewusstsein, dass viele zu überwindende Schwierigkeiten vorhanden waren, die Ausnahmen und gegenseitige Zugeständnisse erforderten. Naumann fasste diese Sachlage programmatisch unter dem Motto zusammen  : »Ein Wollen im großen und eine Biegsamkeit im kleinen«.7 Dies beinhaltete die Gewissheit, dass die letzten Entscheidungen nur durch einen festen und beständigen, gemeinsamen Willen getroffen werden konnten und sie dennoch im Vorfeld eine grundsätzliche Kompromissbereitschaft, Flexibilität, Er- und Ausarbeitungsfähigkeit der Regeln und der Maßnahmen abverlangten. In den Fokus rückte auch die Kommunikationsfrage, die Gesprächsfähigkeit und -bereitschaft zeigen sollte, aber auch Formen des Vertrauens, des Ausgleichs und der Berücksichtigung von Interessen zu entwickeln hatte. Niemand sollte den Eindruck haben, durch die Abwägung der Anforderungen benachteiligt zu werden, sich ausgeklammert zu fühlen oder von den stärkeren Mitgliedern zum Konsensus gezwungen zu werden. Als Erstes galt es also, Verträge unter Staaten abzuschließen, die gleichberechtigt waren und tatsächlich als gleichberechtigt behandelt werden müssten. Die Verträge garantierten die Korrektheit und Vertrauenswürdigkeit des Verfahrens, boten Regeln, die auszudiskutieren waren und denen allseits zugestimmt werden konnte, 6 Naumann hätte sich persönlich auch eine Teilnahme Frankreichs gewünscht, obwohl er wusste, dass dies durch den Krieg kaum zu verwirklichen war. Zum Verhältnis Naumanns zu Frankreich siehe  : Philippe A lex a ndre, »Unser Wunsch ist ein befreundetes Frankreich.« Friedrich Naumann und die deutsch-französischen Beziehungen (1899–1919), in  : Rüdiger vom Bruch (Hg.), Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin–New York 2000, 211–244. 7 Friedrich Naum a n n, Die mitteleuropäische Wirtschaftsgemeinschaft, in  : Ders., Werke, im Auftrag der Friedrich–Naumann–Stiftung, Bd. IV, Köln–Opladen 1964, 478.

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und erteilten klare Vorgaben für die Implementierung. Zugleich vertritt Naumann aber auch die Meinung, dass die Mitarbeit und der Umgang miteinander nicht bloß durch Verträge erschöpft werden können  : »Der Schutz liegt sicherlich nicht in bloßen Staatsverträgen. […] Der Schutz liegt in der Vielseitigkeit des staatlichen, wirtschaftlichen und persönlichen Zusammenlebens, im freiwilligen und organisierten Überfließen des einen Körpers in den anderen, in der Gemeinschaft der Ideen, der Historie, der Kultur, der Arbeit, der Rechtsbegriffe, der tausend großen und kleinen Dinge. Nur wenn wir diesen Zustand der Wesensgemeinschaft erlangen, sind wir ganz fest verkettet. Aber schon der Wille, ihn zu erreichen, ist unendlich viel wert. Im Sinne dieses Willens verkünden wir Mitteleuropa als Ziel der Entwicklung«.8 Dies sollte programmatische Ideale und Ziele (die politics) und pragmatische Schritte zu ihrer Konkretisierung (die policies) vereinigen. Anschließend dachte Naumann daher an den Ausbau der Gemeinsamkeiten  : eine gemeinsame Währung, eine einheitliche Organisation und Verwaltung für die Eisenbahn und die Energie, ein gemeinsames Patentamt sowie die Angleichung des Bank- und Handelsrechts. Eine besondere Rolle spielte angesichts des damaligen Kriegszustands die Frage der Zölle  : Das zu verfolgende Ziel war Naumanns Ansicht nach die Erlangung einer Gleichheit des Zolltarifs und die Gemeinsamkeit der Zollerhebung, sodass ein zollfreier oder zumindest ein abgestimmter wirtschaftlicher Austauschraum geschaffen werden konnte. Durch die vom Krieg hergestellte Not rückte auch die Frage der internationalen Verhältnisse unmittelbar in den Vordergrund, was eine Koordinierung der staatlichen Handlungen mit internationalen Auswirkungen abverlangte. Naumann entwarf diesbezüglich die Idee eines gemeinsamen Ausschusses für auswärtige Gelegenheiten, was die Prämissen für eine unitarische und kohärente Außenpolitik vorlegen sollte. Damit aber das Projekt Mitteleuropa nicht nur eine Frage der Eliten, der wirtschaftlichen Interessen und der zwischenstaatlichen Beziehungen blieb, waren eben weitere Formen der Verbindung und der Fokussierung erforderlich.9 Um die Leute mitzunehmen und ein Engagement von unten abzusichern, sollte auch die soziale Frage eine bedeutsame Rolle spielen.10 Zuerst sollte die Angst vor der Konkurrenzfähigkeit der anderen ersichtlich vermindert werden, indem bei den stärker entwickelten Ländern die Arbeitnehmer nicht mehr die Konkurrenz von kostengünstigeren Arbeitskräften befürchten sollten und andererseits bei den übrigen Staaten die Produktionsfähigkeit nicht beeinträchtigt würde. Weiterhin sollten übernationale Ver 8 Naum a n n, Mitteleuropa, 519.  9 Vgl. Wilhelm Spa el, Friedrich Naumanns Verhältnis zu Max Weber, Sankt Augustin 1985, 143. 10 Über die Bedeutung der sozialen Frage bei Naumann siehe  : Mich a el Pa nzer, Der Einfluß Max Webers auf Friedrich Naumann. Ein Bild der liberalen Gesellschaft in der Wilhelminischen und Nachwilhelminischen Ära, Würzburg 1986, 94ff.

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eine der Berufe und der Gewerkschaften geschaffen und zudem das Arbeitsrecht in den verschiedenen Ländern angeglichen werden, damit sich die Arbeitnehmer besser absprechen und ihre Forderungen geltend machen konnten. Damit verbunden sah Naumann auch die Wichtigkeit einer expliziten Thematisierung der Armut und die Aufstellung von Programmen zu ihrer Abschaffung. Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt waren Kultur und Ausbildung, die verbessert, ausgebaut und befördert werden sollten. Dennoch war es diesbezüglich genauso wichtig, auch Unterschiede zu akzeptieren, ohne im Bereich der verschiedenartigen Kulturen eine Homogenisierung erzielen zu wollen. Dies bedeutete zugleich und ausprägend eine Politik des Schutzes und der Förderung der Minderheiten.11 Naumann äußerte sich ohne Umschweife dazu  : »Überall in Mitteleuropa ist eine freundlichere Denkweise über nationale Minderheiten dringend nötig«.12 Er ging so weit, dass er sich für ein Sonderrecht der Nationalitäten und der Minderheiten einsetzte und außerdem einen aufmerksamen und rücksichtsvollen Umgang mit den unterschiedlichen Kulturen befürwortete. Für die konkrete Umsetzung dieser Aufwertung der unterschiedlichen Kulturen schlug Naumann auch vor, die Erfahrung in Österreich zu beherzigen, um den differenzierten Anforderungen entsprechend eine Mehrvölkerpolitik gestalten zu können. Darüber hinaus waren von ihm unterschiedliche Institutionen geplant, die dem Projekt Mitteleuropa eine anschauliche und operationsfähige Struktur verleihen sollten. Als allgemeiner Hinweis galt für ihn, dass eine wirksame Organisation aufgebaut werden solle, ohne aber die innere Dynamik und die Kreativität der Gesellschaft zu ersticken. Deswegen sollten auch nicht zu viele Institutionen entstehen und das soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben der Bevölkerungen durfte nicht überreglementiert werden. Er dachte beispielsweise an eine sachverständige mitteleuropäische Arbeitskommission, um die Gesetzgebung der Länder anzunähern, und dann an verschiedene Ausschüsse, die sich eingehend mit spezifischen Fragen und Gebieten befassten  : »Diese gemeinsamen ausführenden Kommissionen oder Ausschüsse sind dann von den verschiedenen Regierungen auf Grund des Vertrages frei zu besetzen […]. Sie unterliegen der Kritik aller beteiligten Parlamente, sind aber für die Vertragsdauer innerhalb ihres Tätigkeitsbereiches selbständig. Sie sind mitteleuropäische Organe, ohne daß es einen eigentlichen Staat Mitteleuropa gibt«.13

11 Vgl. Wolfga ng Mommsen, Die Mitteleuropaidee und die Mitteleuropaplanungen im Deutschen Reich vor und während des Ersten Weltkriegs, in  : Richard G. Plaska – Horst Haselsteiner – Arnold Suppan – Anna M. Drabek – Brigitta Zaar (Hg.), Mitteleuropa-Konzeptionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (= Zentraleuropa-Studien, 1), Wien 1995, 3–24, hier 21. 12 Naum a n n, Mitteleuropa, 582. 13 Naum a n n, Mitteleuropa, 743.

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Mitteleuropa sollte in den Augen Naumanns kein Staat im herkömmlichen Sinn werden, sondern eine eigene spezifische Struktur entwickeln, die neu und anders war. Nichtsdestoweniger konnte er sich vorstellen, dass durch die Bildung und Arbeit dieser Ausschüsse eine zentralisierte Verwaltung allmählich entstehe, die eine selbständige politische Konstellation darstelle und zum neuen politischen Subjekt werde. Dennoch war es ihm zugleich extrem wichtig, nichts zu überstürzen und die Teilnahme- sowie Mitwirkungsbereitschaft der Individuen und der Staaten nicht zu überfordern. Deswegen sollte zumindest am Anfang eine »Politik der kleinen Schritte« unternommen und das Projekt in Grenzen gehalten werden. Dies schloss eine Ausweitung der Grenzen Mitteleuropas sowie eine Vertiefung seiner Kompetenzen nicht aus, verlangte jedoch »Geduld« und eine schrittweise Umsetzung, um das Gesamtprojekt nicht zu gefährden.

3. Webers Beitrag zum Umsetzungsversuch Im Unterschied zu Naumann war für Max Weber das Mitteleuropaprojekt nicht sein Hauptanliegen, das er selber entwickelt und ausgearbeitet hätte. Nichtsdestoweniger ließ er sich durch Naumanns Beeinflussung für das Projekt gewinnen, zumal er konkrete politische Bemühungen von Seiten der deutschen Regierung vermutete, was sich dann als nicht den Tatsachen entsprechend herausstellen sollte. Mit Aussicht auf eine mögliche, wenngleich vielleicht partielle und erst mit der Zeit ausdehnbare, konkrete Umsetzung in der näheren Zukunft trat Weber dem Arbeitsausschuss für Mitteleuropa bei und nahm eine ehrenamtliche Stelle an, die er später bei der Feststellung der fehlenden Implementierungsabsichten wieder aufgab.14 Diese unterschiedliche Einstellung erklärt auch die Irritation, die Weber in seinen Briefen über die Lage äußerte, als er sich über das Fehlen der notwendigen amtlichen Dokumentation beklagte, die ihm eine Übersicht über die wirtschaftlichen Verhältnisse der sich zu beteiligenden Länder hätte verschaffen sollen.15 Diesbezüglich schildert Peschel zutreffend den Perspektivenunterschied zwischen den zwei Denkern  : »Während Naumann die Idee von »Mitteleuropa« beschrieb und theoretisch durchdachte, versuchte Weber Wege und Möglichkeiten zu finden, wie dieses »Mitteleuropa« im Moment politisch umzusetzen sein könnte«.16 Dies 14 Zu Webers Tätigkeit im Arbeitsausschuss für Mitteleuropa siehe  : Wolfga ng J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, Tübingen 3. Aufl. 2004, 236 ff. 15 Vgl. M a x Weber, Brief an Franz Eulenburg vom 9. März 1916 und Brief an Marianne Weber vom 23. März 1916, in  : Ders., Gesamtausgabe, im Auftrag der Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. II/9, Tübingen 2008, 325f. und 355f. 16 A ndre as Peschel, Friedrich Naumanns und Max Webers »Mitteleuropa«. Eine Betrachtung ihrer Konzeptionen im Kontext mit den »Ideen von 1914« und dem Alldeutschen Verband, Dresden 2005, 62.

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galt selbst für die politischen Anlässe, die Weber zum Beitritt bewogen hatten  : auf der einen Seite die polnische Frage,17 auf der anderen Seite die durch die Notlage des Krieges für ihn erforderlich gewordene Schaffung eines begünstigten wirtschaftlichen Raums. Was das Erstere betraf, ging Weber von der Hypothese eines Anschlusses Polens an Österreich aus, der für ihn nur durch die Schaffung eines gemeinsamen mitteleuropäischen Raums ohne Entstehung von Spannungen bewerkstelligt werden konnte  ; persönlich zog er die Idee eines verbündeten selbständigen Staates mit wirtschaftlicher Priorisierung der Verhältnisse zu Deutschland und Mitteleuropa vor. Die strategische Bedeutung dieses gemeinsamen wirtschaftlichen Raums betreffend, wollte er dadurch die Engpässe umgehen, die durch die Erschwerung der Importe aus feindlichen und Drittländern entstanden waren. Nichtsdestoweniger ließ sich Weber nicht die Gelegenheit entgehen, auch gesamtpolitisch über Mitteleuropa nachzudenken und dabei gewisse Grundvorstellungen zu umreißen. Wie sehr er auch davon überzeugt war, dass die wirtschaftlichen Bedingungen eine wesentliche Rolle spielten, teilte er dennoch mit Naumann die Ansicht, dass die entscheidenden Probleme politisch seien und auf einer politischen Ebene gelöst werden müssten. Er argumentierte daher, zur Herstellung des Mitteleuropaprojekts seien gemeinsame Vertragsverhandlungen unvermeidbar, die zu einer Koordinierung und Vereinheitlichung der Wirtschaftspolitik, aber auch der damit verbundenen Ebenen, führen sollten. Dazu sei ein sachlicher Umgang miteinander gefragt, der jede Form der Eitelkeit ablege und allen Teilnehmenden dagegen ein Mitspracherecht zuerkenne. Das Ziel sei eine Interessengemeinschaft bei Gewährung eines Maximums an Autonomie, die somit die Verfolgung der Partikularinteressen der einzelnen Länder nicht präjudiziere. An dem konkreten Beispiel Ungarn veranschaulichte Weber, was er damit meinte  : Die Produktion solle dort nicht gefährdet, sondern unterstützt werden, weil sie das einzige wirksame Mittel sei, um die Auswanderung der Bevölkerung hintanzusetzen.18 Im Allgemeinen erwog Weber eine Unterstützung der Wirtschaft insbesondere zugunsten der kleineren Länder, die durch die Angleichung der Systeme vereinfacht und befördert würde. Dabei sollten nicht nur die großen Produktionen davon profitieren, sondern auch kleine und mittlere Unternehmen mit begrenzten Produktionskapazitäten. Somit vertrat auch Weber mit Naumann die Ansicht, dass das Mitteleuropaprojekt nicht nur eine Frage der Eliten und der Hauptzweige der wirtschaftlichen Produktion darstellen sollte, sondern eine umfangreiche Verbesserung 17 Für eine umfassende Behandlung des Verhältnisses Max Webers zu Polen im Laufe der Jahre siehe  : H ajime Kon no, Max Weber und die polnische Frage (1892–1920)  : Eine Betrachtung zum liberalen Nationalismus im wilhelminischen Deutschland, Baden-Baden 2004. 18 Vgl. M a x Weber, Ungarn und die Wünschbarkeit eines deutsch-österreichischen Zollbündnisses, in  : Ders., Gesamtausgabe, Bd. I/15, Tübingen 1984, 150–152.

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der ökonomischen Verhältnisse und des Wohlstands der beteiligten Bevölkerungen zu bezwecken habe, damit ein grundsätzlicher Konsensus und eine dauerhafte Kooperation ermöglicht würden. Wirtschaftlich gesehen, spricht sich Weber vor allen Dingen für eine einheitliche Zollpolitik aus, die einen besseren Austausch der Produkte ermöglichen sollte und als Ziel die Reduzierung bzw. Abschaffung der internen Gebühren hatte. Von seinen liberalökonomischen Einstellungen stark geprägt, deutete er diesbezüglich auch die Möglichkeit von Vereinbarungen mittels Kartellen als Alternative an, die für ihn den Vorteil vorweisen konnten, dass die Industrien selber ohne Vermittlung der Staaten günstige Lösungen auszuhandeln hatten. Dazu gehörte nichtsdestoweniger eine einheitliche Handels- und Verkehrspolitik, die die Abläufe des Warenverkaufs und der Transporte im Detail organisieren sollte. Zur Verstärkung der ökonomischen Beziehungen zählte laut Weber aber auch unerlässlich eine Regelung des Finanzwesens, die sich allein durch eine einheitliche Währung und ein sie unterstützendes einheitliches Banksystem stabil und zufriedenstellend vervollständigen ließ. Dies bezog wiederum weitere Gebiete des gesellschaftlichen Lebens mit ein. Weber nannte insbesondere eine einheitliche Sozialgesetzgebung, die auf die konkreten Interessen und Lebensbedingungen der Bevölkerung abziele, und dann eine verbesserte Kooperation im internationalen Bereich, die allein durch eine gemeinsame und einheitlich abgestimmte Außenpolitik langfristig und anhaltend verwirklicht werden konnte. Diesbezüglich zollte Weber dem Buch Naumanns explizit Anerkennung, weil es ein »Stimmungskapital«19 für das Mitteleuropaprojekt erlangt hatte, das den Politikern und den Sachkundigen dann den Weg eröffnete, um die unterschiedlichen technischen Aspekte ausführlich ausarbeiten zu können. Das Projekt war aber für ihn auch kulturpolitisch zu denken, indem man sich mit der Frage der Struktur und Interaktion der teilnehmenden Länder konfrontieren und anschließend gewisse Grundentscheidungen treffen sollte. In Anbetracht der multikulturellen Beschaffenheit Mitteleuropas war nämlich für Weber wie für Naumann eine deutsche Nationalpolitik nicht vertretbar, da sich zu viele andere ethnisch-kulturelle Komponenten im mitteleuropäischen Raum befanden, die auf ihre Selbständigkeit berechtigterweise nicht verzichten wollten. Im Gegenteil waren die Bevölkerungen in Europa so miteinander verflochten, dass sich keine eindeutigen Grenzen ziehen ließen  : »Die drei rationalen Komponenten einer politischen Grenzabsteckung  : militärische Sicherheit, ökonomische Interessengemeinschaft, nationale Kulturgemeinschaft, harmonieren nun einmal auf der Land-

19 M a x Weber, Über Mitteleuropa und die polnische Frage, in  : Ders., Gesamtausgabe, Bd. I/15, Tübingen 1984, 140–150, hier 147.

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karte nicht, und solange es Staaten mit Armeen und Wirtschaftspolitik gibt, sind Kompromisse zwischen jenen Prinzipien unvermeidlich«.20 Weber appellierte, gerade Rücksicht auf die kleinen Nationen zu nehmen und zugleich auch ihre kulturelle und sprachliche Vielfalt zu achten und zu befördern, zumal seines Erachtens eine reine Nationalpolitik nicht mehr zeitgemäß war.21 Er hob heraus, Bündnispolitik werde dringend gebraucht und sei mit Berücksichtigung der kulturellen Vielfalt und Verflechtung entsprechend zu gestalten  : »Hier ist für immer nur die Nationalitätenföderation in einem übernationalen Staatswesen möglich«.22 Dadurch näherte sich Weber, trotz der konkreteren und fachfokussierten Zugangsweise, der allgemeinen Vorstellung Naumanns wieder an, die eine übernationale Lösung vorsah und dafür auch entsprechende Institutionen plante. Bemerkenswert war es nicht zuletzt auch, dass gerade bei einem Denker, der den Aspekt der Macht in der Politik explizit betonte, zugleich die multikulturelle Vielfalt und das interkulturelle Verständnis eine derartige wichtige Funktion einnehmen konnten.

4. Mitteleuropa als Wegbereiter  ? Am Ende seines Buches bemerkt Höbelt  : »Die EU […] bemüht sich um den Ausbau jener Mechanismen, die einst für Mitteleuropa vorgesehen waren«.23 In der Tat sind viele und tiefgreifende Analogien feststellbar, sodass trotz gewisser Unterschiede insbesondere in der Art und Weise, Politik zu verstehen (man vergesse nicht die Kriegsverhältnisse, unter denen das Projekt diskutiert wurde), Mitteleuropa als ein Wegbereiter für die Europäische Union betrachtet werden kann. Die Zusammengehörigkeit der teilnehmenden Völker ist natürlich auf einer anderen und umfassenderen Basis aufgebaut. Nichtsdestoweniger ist Naumann und anschließend Weber das Verdienst anzuerkennen, eine übernationale Perspektive erschlossen zu haben, die dann von der Europäischen Union verwirklicht wurde. Die Befürworter des Mittel­ europaprojekts hatten sich etwas vor Augen geführt, was dann durch die Globalisierung noch deutlicher geworden ist, und zwar, dass die Staaten zunehmend mit Schwierigkeiten rechnen mussten, wenn sie isoliert auf einer internationalen Ebene ihren Standpunkt geltend machen wollten. Deswegen war damals (und heute noch mehr) eine Form der Vereinigung, wie Naumann und Weber eben behaupteten, eine Notwendigkeit, die nur durch einen festen gemeinsamen Willen langsam und all20 Ders., Deutschland unter den europäischen Weltmächten, in  : Ders., Gesamtausgabe, Bd. I/15, Tübingen 1984, 161–194, hier 189. 21 Vgl. dazu auch  : M a ri a n ne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 3. Aufl. 1984, 567 f. 22 Weber, Deutschland unter den europäischen Weltmächten, 189. 23 Höbelt, »Stehen oder fallen  ?«, 274.

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mählich in die Tat umgesetzt werden konnte. Die geforderte Ergänzung durch den Willen bleibt nach wie vor eine wesentliche Komponente der politischen Organisation und gilt umso mehr für eine übernationale Entität wie die Europäische Union. Dieser Wille allein kann eine allmähliche Entstehung von Kooperation und Solidarität sowie von Prozessen von unten bewirken, die sich mit den Institutionen und ihrer Unterstützung dienlich verflechten und in denen die Mitgliedsstaaten, aber auch die Bevölkerungen, sich berücksichtigt, respektiert und als ebenbürtig behandelt fühlen. Kein Herrschaftsgedanke also, sondern Mitbestimmung auf demokratischer Basis kann heute wie damals die Parole für eine derartige Organisation sein. Das Mitteleuropaprojekt hat auch konkrete Maßnahmen suggeriert  : eine gemeinsame Währung, die Angleichung der Systeme und der Institutionen, eine gemeinsame Führung der auswärtigen Angelegenheiten und die allmähliche Bildung von übernationalen Institutionen, die sich mit den bereits existierenden staatlichen integrieren sollen. Noch prägender hat die Reflexion über seine Bedeutung und sein Anliegen auf die Beschaffenheit Europas hingewiesen, die viele Minderheiten, kleinere Nationen und Nationalitäten beherbergt. Zum einen wurde dadurch veranschaulicht, dass eine sehr aufmerksame Kulturpolitik gebraucht wird, die diese kulturelle Vielfalt als Reichtum wahrnimmt und sie befördert sowie daraus neue Potentiale schöpft. Zum anderen werden dadurch Grenzen verflüssigt, dadurch können vielfältige Kooperationen und Projekte auf lokaler und überregionaler Ebene entstehen, weil friedliche Formen der Koexistenz und der Zusammenarbeit gestiftet und entfaltet werden. In dieser Hinsicht kann und soll das Mitteleuropaprojekt nicht nur als Wegbereiter der Europäischen Union verstanden werden, sondern auch als eine mögliche Grund- und Vorlage für innereuropäische Projekte und Kooperationen, die innerhalb des EU-Raums Chancen und Gelegenheiten für ihren Ausbau finden und auf eine Verstärkung und Intensivierung der zwischenregionalen und transnatio­ nalen Beziehungen produktiv hinzielen.

5. Überblick Das Mitteleuropaprojekt hatte bereits eine Vorgeschichte, aber seine programmatische Konzeption rückte insbesondere während des Ersten Weltkriegs in den Vordergrund und verdankte dem Buch Friedrich Naumanns seine Popularität. Durch das Werk Naumanns wurde die Konzeption einer übernationalen Gemeinschaft entwickelt, die von der Herstellung engerer wirtschaftlicher Beziehungen ausging, aber zugleich auf eine politische Zusammenarbeit setzte, die die Völker in Mitteleuropa zu weiteren und ausführlicheren Formen der Vereinigung anregte und anschließend die Schaffung von einheitlichen Systemen und Institutionen in Erwägung zog. Weber war mehr auf konkrete politische Fragen seiner Zeit fokussiert und sah im

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mitteleuropäischen Projekt eine Chance, stabile Verhältnisse zwischen den Staaten herzustellen, was ihn zu einer konkreten Beteiligung am Ausschuss für Mitteleuropa bewog. Nichtsdestoweniger befasste sich auch Weber mit der Thematik der Gestaltung einheitlicher Strukturen und Konzepte, die auf die Bildung einer soliden übernationalen politischen Organisation hinausliefen. Wie Höbelt hervorgehoben hat, haben diese Gedankengänge trotz der damaligen fehlenden Umsetzung eine große Tragweite nachgewiesen, indem sie Begriffe und Institutionen suggerierten, die zumindest teilweise in der Europäischen Union eine fruchtbare Fortentwicklung gefunden haben. Die Überlegungen Naumanns und Webers haben insbesondere die Weichen für einen Umgang zwischen den europäischen Staaten und Völkern gestellt, der auf Ebenbürtigkeit und gegenseitigem Respekt basiert sowie besonders den Minderheiten und ihrer kulturellen Vielfalt Aufmerksamkeit schenkt. Ihre Projekte waren bereits damals dazu gedacht, wenngleich in einem kleineren Umfang, Konflikte zu lösen und Formen der Kooperation innerhalb Europas zu befestigen und auszubauen.

Frank-Lothar Kroll, Chemnitz

Die europäische Freiheit Nicht nur für den Jubilar rangieren freiheitliche Werte und die mit solchen Werten verbundenen Möglichkeiten und Grenzen politisch-sozialen Gestaltungswillens an vorderster Stelle akademischen Selbstverständnisses und persönlicher Lebensführung. Auch den Promotoren und Protagonisten des unverhofften Wandlungsgeschehens von 1989/90 in der Mitte und im Osten Europas stand bei ihren Protesten gegen die jahrzehntelange Gewaltherrschaft des Kommunismus das Sehnsuchtsziel freiheitlicher Persönlichkeitsentfaltung vor Augen, wie es im Westen des Kontinents, der von dieser Gewalterfahrung glücklicherweise verschont blieb, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mehr und mehr realisiert worden ist. Lothar Höbelt, der Freund und Kollege, hat als damals noch junger Nachwuchshistoriker an der Wiener Universität den Kollaps des Ostblocks aus nächster Nähe miterlebt. Und er hat dem Ringen um eine inhaltliche Konkretisierung und Ausgestaltung der damit verbundenen Chancen zu einer politischen Neuordnung Ostmitteleuropas reges Interesse entgegengebracht. Titel und Thema dieses Beitrags dürfte daher als Geburtstagsgruß zu Lothars »Fünfundsechzigstem« auf ein wohlwollendes Interesse des Adressaten hoffen. Dass »der Mensch durch sich selbst bestimmt ist, frei zu sein«, hatte Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) als Leitprinzip seiner Rechts- und Staatsphilosophie formuliert und als Fundament eines genuin europäischen Selbstbewusstseins identifiziert.1 Die Verknüpfung europäischen Wesens mit der Perspektive freiheitlicher Persönlichkeitsformung reicht zurück bis ins klassische Hellenentum. Herodot (ca. 490–ca. 430 v. Chr.) hatte einst das Freisein des Einzelnen von Unterdrückung und Zwang im Lebensgefüge der athenischen Polis der despotischen Herrschaft der persischen Großkönige gegenübergestellt.2 Vorbereitet durch die stilbildende aristotelische Orientierung der hellenischen Freiheitsauffassung in Richtung einer Teilnahme der »freien Bürgerschaft« am öffentlichen Leben,3 verbanden sich im republikanischen Rom mit

1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Sämtliche Werke. Hg. von Hermann Glockner. Bd. 11  : Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Mit einem Vorwort von Eduard Gans und Karl Hegel, Stuttgart 1928, 524. 2 Vgl. Dieter Nestle, Eleutheria. Studien zum Wesen der Freiheit bei den Griechen und im Neuen Testament. Teil I  : Die Griechen, Tübingen 1967. 3 Dazu umfassend Christi a n Meier, Kultur, um der Freiheit willen. Griechische Anfänge – Anfang Europas  ?, München 2009, bes. 16ff., 73ff.

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dem libertas-Begriff zunehmend politische Ansprüche.4 Sie basieren auf einem Verständnis von »Freiheit«, deren Radius sich nicht auf die bloße Verfügungsmacht über die eigene Person beschränkte, sondern auch die Möglichkeit umfasste, sich politisch zu artikulieren und gegebenenfalls für die res publica zu engagieren. Der in Hellas begründete, in Rom fortentwickelte Gedanke der persönlichen Freiheit und ein davon gespeistes Verlangen nach Beteiligung der Regierten am öffentlichen Leben ihres Gemeinwesens – Mitbestimmung des Volkes statt Willkürherrschaft eines Tyrannen – sind dann vor allem im Jahrhundert der Aufklärung zu Gradmessern eines »guten Regiments« erhoben worden. Von dort aus haben sie Einlass in den Kanon verbindlicher europäischer Grundwerte gefunden und ihre Strahlkraft später auch in jenen Weltregionen entfaltet, die keine vergleichbaren Vor­ aussetzungen für entsprechende Entwicklungen aufwiesen. Im Europa des 19. Jahrhunderts konkretisierte sich dieses Freiheitsbewusstsein zusehends in der Forderung nach »Befreiung« von staatlicher Bevormundung vermittelst einer durch Recht und Gesetz gewährleisteten Sphäre individueller Daseinsgestaltung. Politisch gewendet, ergab sich daraus das vermehrte Streben nach Etablierung einer Staats- und Gesellschaftsordnung, die auf Grundlage einer kodifizierten Verfassung die Partizipation breiter Bevölkerungsschichten an demokratischen Entscheidungsprozessen zu garantieren vermochte. Alle drei europäischen Geschichtsregionen, der Osten ebenso wie der Westen und die Mitte des Kontinents, haben an dem damit einhergehenden Emanzipationsprozess ihren Anteil genommen. Das geschah mit unterschiedlicher Intensität und in zeitlich versetztem Verlauf. So kamen im Westen Europas bestimmte partizipationsfördernde Impulse der Aufklärung früher und stärker zur Auswirkung als beispielsweise in den jahrhundertelang von den Osmanen beherrschten Regionen Südosteuropas5 oder etwa im Imperium der Romanovs.6 Doch auch in Kreisen aufgeklärter Sankt Petersburger Zeitgenossen des fortgeschrittenen 18. Jahrhunderts fanden die mit dem Ideal freiheitlicher Persönlichkeitsentfaltung verbundenen politischen Emanzipationsforderungen, die den Weg Europas in die Moderne markierten und signalisierten, zunehmende Resonanz.7 Seit Beginn der großen Staatsreformen der 4 Vgl. Ch a im Wirszubsk i, Libertas als politische Idee im Rom der späten Republik und des frühen Prinzipats, Darmstadt 1967. 5 Vgl. aber z. B. Em a nuel Turczy nsk i, Gestaltwandel und Trägerschichten der Aufklärung in Ost- und Südosteuropa, in  : Erna Lesky – Strahinja K. Kostić – Josef Matl – Georg von Rauch (Hg.), Die Aufklärung in Ost- und Südosteuropa. Aufsätze, Vorträge, Dokumentationen, Köln–Wien 1972, 29–49, sowie zu den Wirkungen der Aufklärung im europäischen Osten noch immer Josef M atl, Europa und die Slaven, Wiesbaden 1964, 209–269. 6 Dazu paradigmatisch Fr a nk-Loth a r K roll, Rousseau in Preußen und Russland. Zur Geschichte seiner Wirkung im 18. Jahrhundert, Berlin 2012, bes. 33–50. 7 Für den Zusammenhang R einh a r d Wit tr a m, Das Freiheitsproblem in der russischen inneren Ge-

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1860er Jahre, mit denen Zar Alexander II. (1818–1881) sein Reich »europäischen« Standards anzupassen versuchte, bot sich den Bürgern Russlands dann endgültig jene »Kultur der freien Ausgestaltung der humanen Lebenszwecke« im Sinne eines anzustrebenden Entwicklungsziels, die der Philosoph und Theologe Ernst Troeltsch (1865–1923) 1903 treffend als die Haupterrungenschaft der »modernen Welt« gerühmt hat.8 Hingegen stand dem säkularen Gegenmodell zum Reich der Zaren in Sankt Petersburg – dem von Lenin und seinem Nachfolger Josef Wissarionowitsch Stalin (1879–1953) installierten Zwangssystem des Bolschewismus – eine solch gemeineuropäische Zielvorgabe von Anfang an denkbar fern. Ihrer beider Herrschaftsentwurf gewährte dem (im bolschewistischen Sinne) »allseitig entwickelten Menschen« keinerlei Recht zur Entfaltung freiheitlich-individueller Lebensweisen, von emanzipatorischen oder partizipatorischen Formen politischen Agierens ganz zu schweigen. Die bolschewistische Ideologie und die sie exekutierende sowjetische Praxis unterwarfen den Einzelnen vielmehr der absoluten Verfügungsgewalt einer dirigierenden und kontrollierenden Staats- und Parteispitze, die über das »richtige« Bewusstsein der Menschen zu wachen hatte und für autonome Daseinsentwürfe keinen Raum ließ. Darin lag die fundamentale Differenz begründet, die den zeitweise auch von westlichen Intellektuellen geschätzten »Sowjethumanismus« von allen bisherigen Formen des »bürgerlichen« Humanismus trennte. Ein hellsichtiger Zeitzeuge wie der 1922 auf Anweisung Lenins aus Russland zwangsexilierte Philosoph Fedor Stepun (1884–1965) hatte dieses Konstrukt schon früh in all seiner »Mißachtung des menschlichen Lebens, der Persönlichkeit, in seiner […] Verhöhnung aller Normen eines Kultur- und Rechtsstaates […], seiner bis ins tiefste Innere greifenden Schamlosigkeit«9 entlarvt. Denn alle natürlichen Freiheitsrechte des Einzelnen, alle davon getragenen positiven Bestimmungsfaktoren seines individuellen Lebens – Freundschaft und Pflichttreue, Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft, Selbstlosigkeit, Toleranz und Wahrhaftigkeit – galten einer solch inhumanen, weil diktatorischen Variante des »Humanismus«10 nur noch in ihrem Bezug zum Proletariat. Andere Geschichte. Gedanken zu einigen Fragestellungen, in  : Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 2 (1954), 369– 386  ; allgemeiner Dietrich Gey er, Die Idee der Freiheit in der osteuropäischen Geschichte, in  : Leviathan 18 (1990), 327–338.  8 Ernst Troeltsch, Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie. Hg. von Hans Baron, Tübingen 1925, 825.  9 Fedor Stepu n, Die Mission der Demokratie in Russland (1924), wiederabgedruckt in  : Ders., Russische Demokratie als Projekt. Schriften im Exil 1924–1936, hg. von Christian Hufen, Berlin 2004, 7–54, Zitat 32f. 10 Darüber zuletzt Ju t ta Scherrer, Baustelle Mensch – der proletarische Humanismus in der Sowjetunion, in  : Frank-Lothar Kroll – Antonia Sophia Podhraski (Hg.), Weltwende 1917 – Russland, Europa und die bolschewistische Revolution, Dresden 2021, 92–106.

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sellschaftsklassen waren vom Genuss der Freiheitsrechte ausdrücklich ausgeschlossen. Der Widerspruch solcher Einstellungen zu den utopischen Verheißungen des Kommunistischen Manifestes von 1848, dessen beide Verfasser bekanntlich eine Gesellschaftsordnung beschworen, »worin die freie Entwickelung eines jeden die Bedingung für die freie Entwickelung aller« sein sollte,11 ist nicht erst von kritischen Interpreten des »real existierenden Sozialismus« in der Hochphase des Kalten Krieges unmissverständlich herausgestellt worden.12 Im Gegensatz dazu ließen die Freiheitsvorstellungen der (frühen) deutschen Sozialdemokratie für die von Marx und Engels geforderte »freie Entwickelung aller« durchaus Raum13 – und wiesen damit ihrerseits eine begrenzte Offenheit gegenüber entsprechenden Konzeptionen linksbürgerlicher Provenienz auf. Dass »Freiheit«, verstanden als singuläres Ideal und exklusiv charakterisierendes »Losungswort« europäischen Wesens,14 indes keineswegs nur auf die Verwirklichung eines Lebens nach eigenen Gesetzen »im Sinne eines bedingungslosen Beliebens«15 zielt, dass ihr Besitz vielmehr stets auch bestimmte Verpflichtungen nach sich zieht, gehörte seit der paulinisch-neutestamentlichen Überlieferung ebenfalls zu den festen Bestandteilen des europäischen Freiheitsdiskurses. Der Befreiung des Menschen durch die Heilstat Christi korrespondierte die Aufgabe des ihm zugewiesenen Dien­ stes am Mitmenschen – Unterordnung unter den Willen Gottes im Gehorsam gegenüber der seinen Geboten folgenden und daher gerechten Ordnung der Welt. So lehrt es die christliche Tradition seit nunmehr zwei Jahrtausenden. Personale Freiheit und überpersonale Bindung gelten ihr als wechselseitig aufeinander bezogene Größen. Sie waren als solche für die libertas christiana des Mittelalters16 ebenso konstitutiv wie für das reformatorische Freiheitsverständnis mit seiner bekannten lutherischen 11 Das Kommunistische Manifest 1848. Mit Vorreden von Karl Marx und Friedrich Engels, München 1919, 28. 12 So etwa von Iring Fetscher, Die Freiheit im Lichte des Marxismus-Leninismus (1957), Bonn 4. Aufl. 1963, bes. 47ff., 79ff. 13 Vgl. Susa n ne Miller, Das Problem der Freiheit im Sozialismus. Freiheit, Staat und Revolution in der Programmatik der Sozialdemokratie von Lassalle bis zum Revisionismusstreit, Frankfurt am Main 1964, bes. 13ff. 14 Jürgen Schlumbohm, Freiheitsbegriff und Emanzipationsprozeß. Zur Geschichte eines politischen Wortes, Göttingen 1973, 23. 15 So Rudolf Bultm a n n, Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit für die abendländische Kultur, in  : Ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Tübingen 5., erw. Aufl. 1968, 274–298, hier 281. 16 Dazu weiterhin grundlegend Ger d Tellenbach, Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreits (1936), Neudruck Stuttgart 1996  ; zusammenfassend bereits Herbert Grundmann, Freiheit als religiöses, politisches und persönliches Postulat im Mittelalter, in  : Historische Zeitschrift 183 (1957), 23–53  ; eine ebenso umfassende wie leider allzu kleinteilige Behandlung des Themas bietet der Tagungsband von Johannes Fried (Hg.), Die abendländische Freiheit vom 10. zum 14. Jahrhundert. Der Wirkungszusammenhang von Idee und Wirklichkeit im europäischen Vergleich, Sigmaringen 1991.

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Unterscheidung von innerer Gewissensfreiheit und äußeren Gehorsamspflichten des Einzelnen gegenüber dem Staat und der Gesellschaft  : Vollkommen libertinistisch gelebte Bindungslosigkeit führt zu Chaos und Anarchie. Freiheit ohne Bindung entbehrt der Gegenständlichkeit und ist daher ohne Sinn und Ziel. Nur eine in Form, Inhalt und Ausmaß wie immer beschränkte Freiheit bietet die verlässliche Garantie für ein harmonisches soziales Miteinander. In solche Deutungshorizonte ist das Freiheitsproblem dann nicht nur von konservativen, mit der Thematik befassten Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts hineingestellt worden, allen voran von Publizisten wie Friedrich von Gentz oder Alexis de Tocqueville (1805–1859). Ihnen erschien, politisch gewendet, eine starke Regierung als notwendiges Korrektiv zum ungezügelten, in Despotismus mündenden Freiheitstaumel der Massen.17 Auch Vertreter des englischen oder preußischen Liberalismus wie John Stuart Mill (1806–1873) oder David Hansemann (1790–1864) warnten, bei aller Hochschätzung des Rechts auf individuelle Persönlichkeitsentfaltung und politische Partizipation, vor den Gefahren einer »totalen« Demokratie, die alle gesellschaftlichen Unterschiede nivelliere.18 Sie setzten der Parole »Freiheit und Gleichheit« die Gegenparole »Freiheit und Eigentum« zur Seite. Das Recht auf Eigentum galt hier als Voraussetzung politischer Freiheit. Diese wurde an jenem gemessen. Vollkommene Gleichheit – so haben im 19. Jahrhundert viele Vertreter des klassischen Liberalismus mit guten Gründen gegenüber dogmatisch-radikalen Egalitätsfanatikern argumentiert – führe überdies zur Planierung aller herausragend Qualifizierten, zur willkürlichen Herabsetzung des Einzelnen in seiner individuellen Existenz – und damit letztlich zum Verlust seiner persönlichen Freiheit. Gleichheit und Freiheit figurierten hier beinahe als inkommensurable Größen.19 Bei dieser Argumentation spielten zweifellos die katastrophalen historischen Erfahrungen totalitärer Entartung des Gleichheitspostulats im Gefolge der Französischen Revolution während der jakobinischen Terrorherrschaft 1793/94 eine Rolle. Im erneuten Blick auf Russland, das von einer integralen europäischen Geschichtsbetrachtung nicht ausgespart werden darf, wenn von »Freiheit« die Rede ist, bietet die dort im Sprachgebrauch geläufige Unterscheidung zwischen den Wörtern svo17 Vgl. z. B. Friedrich Gentz, Uiber politische Freyheit und das Verhältniß derselben zur Regierung, in  : Ders. (Hg.), Edmund Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution, Hohenzollern [=Berlin] Neue Aufl. 1794, Bd. 2, 172–215, bes. 183f.; A lexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika (1835/1840), Teil I, Stuttgart 1959, 296–301. 18 Vgl. z. B. John Stua rt Mill, Die Freiheit (1859), Zürich 1945, 125f.; Ders., Betrachtungen über die Repräsentative Demokratie (1861), Paderborn 1971, 133f.; David H a nsem a n n, Über Preußens Lage und Politik am Ende des Jahres 1830, als Manuskript gedruckt, Aachen 1845. 19 Dieses Problemfeld diskutiert mit Blick auf das vormärzliche Deutschland ausführlich Uwe Back es, Liberalismus und Demokratie – Antinomie und Synthese. Zum Wechselverhältnis zweier politischer Strömungen im Vormärz, Düsseldorf 2000, 157–208.

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Frank-Lothar Kroll, Chemnitz

boda und volja einen für den vorliegenden Zusammenhang sehr erhellenden semantischen Fingerzeig. Beide Wörter bezeichnen gleichermaßen den deutschen Begriff »Freiheit«. Sie bringen jedoch genau jene Differenz auf den Punkt, die Autoren wie Gentz oder Mill andeuteten, wenn sie zwischen »geregelter Freiheit« und »natürlicher Freiheit« eine Trennlinie gezogen wissen wollten. Svoboda meint ein Leben in freiheitlicher Selbstachtung, mit Entfaltung voller Persönlichkeitsrechte, jedoch unter ausdrücklicher Rücksichtnahme auf die Belange der Mitmenschen und auf die Verpflichtungen des Einzelnen gegenüber dem gesellschaftlichen Ganzen – wie dies im Übrigen der stark gemeinschaftsbezogenen Tradition der russisch-orthodoxen Kirche entspricht. Volja hingegen verweist auf eine vollkommen bindungsfreie und beziehungslose Existenz, bis hin zu entfesselter Anarchie und hemmungslos ausgelebter Willkür – wie dies etwa im Handeln mancher Romanfiguren aus der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts plastisch veranschaulicht wurde. Die zweifache Bedeutung des Freiheitsbegriffs im Russischen20 verweist zurück auf dessen weitgespannten Sinnhorizont im gesamteuropäischen Rahmen. Sie bestätigt jene in der neueren Philosophiegeschichte geläufige Unterscheidung zwischen einer »negativen« Freiheit, deren Handlungsmaxime sich in der Abwehr von Zwängen, Zumutungen und Einmischungen jedweder äußerer Gewalten erschöpft, und ihrem »positiven« Gegenstück, dessen Willensimpulse und Handlungsvorgaben sich auf ein wie immer bewusst zu führendes Leben richten und prinzipiell eine das Wohl des Einzelnen transzendierende Qualität besitzen.21 Ihre vielleicht entschiedenste Ausprägung hat diese Vorstellung einer Freiheit in der verantwortungsvollen Gebundenheit des Dienstes dann im Rahmen jener »Ideen von 1914« gefunden, mit denen von deutscher Seite versucht wurde, eine Alternative zum vermeintlich amorphen und atomistischen Freiheitsverständnis der Zivilisation des »Westens« zu präsentieren.22 Freiheit galt hier, einmal mehr, nicht als Freiheit von etwas – etwa als weitgehende Abwesenheit von staatlichen Zwängen –, sondern als Freiheit zu etwas hin, als Entscheidung für einen übergeordneten Wert und für eine transpersonale Institution, die diesen Wert glaubwürdig verkörperte. Gemäß dieser, einer langen Tradition verpflichteten Deutung23 stand dem Einzelnen nur dann wirkliche »Freiheit« zu, wenn 20 Zum Ganzen vorzüglich M a nfred H agen, Die russische Freiheit. Wege in ein paradoxes Thema, Stuttgart 2002, 9–22. 21 Darüber speziell Isa i a h Berlin, Zwei Freiheitsbegriffe (1958), wiederabgedruckt in  : Ders., Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt am Main 1995, 197–256, sowie zuletzt in umfassender Perspektive Otfried Höffe, Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne, München 2015, bes. 21ff., 26ff. 22 Vgl. zusammenfassend Wolfga ng J. Mommsen, Die »deutsche Idee der Freiheit« (1992), wiederabgedruckt in  : Ders., Bürgerliche Kultur und politische Ordnung. Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle in der deutschen Geschichte 1830–1933, Frankfurt am Main 2000, 133–157. 23 Vgl. Fr a nk-Loth a r K roll, Die konservative Position, in  : Peter Nitschke (Hg.), Konservatismus heute. Über die Bestimmung einer politischen Geisteshaltung, Paderborn 2022.

Die europäische Freiheit

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er sich in eine als ebenso notwendig wie sinnvoll und gerecht erkannte Ordnung einfügte, wenn er sich einer Lebensform verschrieb, deren Bindungen er zu akzeptieren und innerhalb derer er sich seinen Fähigkeiten entsprechend zu entfalten vermochte. Mittlerweile ist diese »deutsche Freiheit« längst eine nunmehr historische Größe geworden. Die Schattenseiten und manipulativen Verformungen in ihrer bewegten Entwicklungsgeschichte während des zweiten Drittels des 20. Jahrhunderts sind allzu bekannt. Doch auch sie ist ein fester Bestandteil des Freiheitsdiskurses in der europäischen Geschichte und darf bei dessen historischen Inblicknahme nicht unerwähnt bleiben. Allerjüngste Außerkraftsetzungen bewährter Grund- und Freiheitsrechte, wie sie im Gefolge der »Corona«-Pandemie seitens zahlreicher europäischer Regierungen mit Verweis auf das öffentliche Wohl in einer Art Selbstermächtigung des Staates vorgenommen und in Deutschland wesentlich eilfertiger akzeptiert wurden als in der österreichischen Heimat des Jubilars, können durchaus als zeitgemäße Anverwandlungen dieser spezifischen Variante einer »positiven« Freiheit in der Gebundenheit gelten. Ob diese Variante in Zukunft wieder stärker an Gewicht gewinnt, ist derzeit noch nicht abzusehen. Sicher ist jedoch, dass Lothar Höbelt nach der Entpflichtung vom Wiener Lehramt allen noch bevorstehenden Wandlungen der europäischen Freiheitsidee auch weiterhin seine wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuwenden wird.

PA R LA MEN TA R ISMUS

Mario Di Napoli, Rome*

The Presidents of the Neapolitan Parliament (1820–1821) In common with many other parliamentary assemblies, the Chamber of Deputies of the Italian Republic has a collection of portraits of its former presidents. The Chamber of Deputies gallery, however, contains other portraits than just those of the presidents of the parliaments of post-unification Italy. When the Kingdom of Italy came into existence in 1861, it was as a result of the expansion of the Kingdom of Sardinia, which it thus superseded, and the gallery includes portraits of the lower house presidents from the years preceding unification (1848–1860). Their inclusion is effectively an acknowledgement of the institutional continuity obtained between the parliament of the Kingdom of Sardinia and its successor, the parliament of the Kingdom of Italy (so much so that the eighth parliament of the former simply became the eighth parliament, rather than the first, of the new unitary kingdom). The presidential portrait gallery also bears the distinctive imprint of its creator, Francesco Crispi, who was elected President of the Chamber in 1877 before ­going on to become head of government several times in the 1880s and 1890s. Crispi wanted the gallery also to include the portraits of the presidents of the diverse parliamentary assemblies of the various pre-unitary Italian states. By their inclusion, Crispi was sending a powerful political message of recognition to all the regions of Italy for their contribution to the formation of the new unified nation. This is the reason that the first portraits in the gallery are pictures of the presidents of the Neapolitan Parliament of 1820–1821, the first parliamentary legislature of modern Italy. The public was reminded of the story of the Parliament of the Kingdom of Two Sicilies last year during celebrations in Rome and Naples to mark its bicentennial.1 Participating in the celebrations was ICHRPI honorary president, Maria Sofia Corciulo, whose book, Una rivoluzione per la Costituzione (‘A Revolution for the Constitution’)2, underscores the historical importance of the 1820–1821 uprisings. The Parliament of the Kingdom of Two Sicilies was elected by indirect universal male suffrage in the summer of 1820 after the Bourbon king, Ferdinand I, had been compelled by Carbonari revolutionaries into granting a constitution, the model for * Paper presented to the 72nd Conference of the International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions (ICHRPI), Athens, October 2021. 1 La prima assemblea elettiva dell’Italia contemporanea (Napoli, 1820–21). I Presidenti del Parlamento delle Due Sicilie nella Galleria di Montecitorio, Roma 2020. 2 M a ri a Sofi a Coricul a, Una rivoluzione per la Costituzione, Roma 3rd edition 2017.

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Mario Di Napoli, Rome

which was the 1812 Constitution of Cadiz3, at the time regarded as the most progressive of its kind to be found among Mediterranean nations, thanks also to its provisions for a single-chamber parliament, that is, without a royally appointed upper chamber. The Constitution of Cadiz provided the template for the Parliament of the Kingdom of Two Sicilies, which also adopted, to the letter, the parliamentary rules of procedure that the Spanish Cortes had approved for itself in 1813, including Rule 34 prescribing a one-month mandate for the President of the House. As a result, the Chamber of Deputies’ gallery displays no fewer than five portraits of presidents from this parliament. The constitutional system of government lasted nine months (July 1820 to March 1821) until it was snuffed out by the Holy Alliance.4 During that period, the parliament convened for a first session that lasted four months (October 1820 to January 1821) and ended with the solemn approval of a new constitution based on the Constitution of Cadiz suitably recast and adapted to the particular needs of the Kingdom of the Two Sicilies. During this session, the presidency was successively held by Matteo Galdi, Pasquale Borrelli, Pietro Antonio Ruggiero, and Innocenzo De Cesare. In February 1821 Galdi once again sat as president of the parliament when it convened in extraordinary session in the face of a threatened foreign invasion. The following month, the parliament opened for a second session, this time under the presidency of Gerolamo Arcovito, yet it was destined for a short life owing to Ferdinand I’s decision to abrogate the constitution.5 The parliament had 89 deputies elected indirectly by the provinces of the Kingdom according to the Spanish model of parish-based, district-based and province-based constituencies.6 The MPs should have numbered 98, but no elections could be held in the provinces of Palermo and Agrigento where the separatists of the Sicilian independence movement were strong. No fewer than twenty members of the clergy were elected. The other MPs consisted of eight soldiers, eleven members of the judiciary, thirteen lawyers, nine doctors, and 28 land owners.7 While the five presidents represented the different regions that elected them, namely Campania, Calabria, Abruzzo and Basilicata, they all resided in Naples. They 3 Las Cortes de Cadiz y la historia parlamentaria / The Cortes of Cadiz and parliamentary history, Universidad de Cadiz, 2012 (CD-ROM). 4 Aurelio Lepre, La rivoluzione napoletana del 1820–1821, Roma 1967. 5 Vincenzo Fonta na rosa, Il Parlamento nazionale napoletano per gli anni 1820 e 1821. Memorie e documenti, Roma 1900. 6 Gi a nluca Fruci, “La catena delle elezioni”. Il momento spagnolo del voto nelle Due Sicilie del 1820, www. sissco.it [20.5.2022]. 7 See for all the following quotations from the parliamentary proceedings of the Assembly  : A n niba le A lberti, (ed.), Atti del Parlamento delle Due Sicilie, Bologna, 4 v., 1926–1931.

The Presidents of the Neapolitan Parliament

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were also all versed in the law, having been at one or other stage in their lives practising lawyers or members of the judiciary. Each month, MPs elected as president of their assembly the person who had been its deputy president in the previous month and thus guaranteed the preservation of experience and the continuity of parliamentary work. The election of the first president was obviously an exception. This election was conducted not in the seat of parliament itself but was decided by a “Preparatory Council”, a body patterned on the Spanish model, in charge of verifying that all MPs had been legitimately elected and properly sworn-in, and that all the other official requisites for the opening of a new parliament had been fulfilled. In fact, the Constitution of Cadiz specified that the president should not be elected at the first sitting of parliament but at a meeting held beforehand, perhaps with a view to ensuring that at its first sitting the parliament would already have appointed its highest-ranking member to deliver the king’s speech. Meeting in a room once used as a library in the former convent of Monteoliveto, the MPs of the Neapolitan Parliament convened three times as a Preparatory Council in late September 1820. The Council appointed perhaps its most prestigious member, Matteo Galdi, as chairman, who, unsurprisingly, was then appointed president of the parliament for its first month of work. Later, in 1821, Galdi was elected chairman of the Permanent Deputation, a body, once again based on the Spanish model, that stood in for parliament between sessions. Most importantly, he was appointed president of the parliament that convened in extraordinary session to galvanize the Kingdom’s resistance to the Holy Alliance’s attempts to undo the constitution that Ferdinand I had granted. Ferdinand I went to the Congress of Ljubljana supposedly to defend the constitution that he had granted, but immediately turned round and repudiated it instead. Matteo Galdi emerged from the great tradition of the Neapolitan Enlightenment that included figures such as Filangieri and Pagano. During the Franco-Napoleonic period, he had been a prominent servant of the Crown, first as ambassador of the Kingdom of Italy to the Netherlands, and later as a close associate of Joachim Murat, king of Naples, in matters of education. The very first words he addressed to the Preparatory Council are expressive of his concern to reconcile the new constitutional arrangements with respect for royal authority, for he evidently already had a foreboding of the betrayal to come. He therefore invoked virtue, moderation and justice to dispel the clouds that threatened to darken the shining orb of newly won freedom. With both energy and competence Galdi lost no time in taking charge of the preparatory work for the inauguration of the parliament. His influence was decisive when it came resolving on the name of the new assembly, which some rather over-zealous supporters of the Constitution of Cadiz wanted to call the Corti, in imitation of the Spanish Cortes. Instead they chose to call it a parlamento, a parliament, a name that, as Galdi put it, “is not only noble and dignified in England and France,

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Mario Di Napoli, Rome

but is also deserving of our appreciation as it evokes a thousand cherished and sweet memories of our ancient virtue.” He immediately objected to the use of the Church of San Sebastiano as the seat of parliament on the grounds that it was too small. He raised the issue with the relevant government minister, a certain Giuseppe Zurlo who, like Galdi himself, had once worked with Joachim Murat. The hope at the time was that a competition would be announced for the architects of the Kingdom to design a more worthy and permanent seat of parliament. Galdi also presided over the swearing-in of newly elected deputies, who had to declare their Catholic faith and take an oath to uphold the political constitution and honour their mandate. Galdi expanded on the key political issue of the day in the course of his speech inaugurating the parliament, which opened for its first session on 1 October 1820. Galdi delivered his speech after taking an oath of allegiance to the Crown, but ahead of the king’s speech to the new parliament, the reading of which, moreover, Ferdinand I had entrusted to his son Francesco, citing health reasons, but clearly intending also thus to distance himself from the parliament. For Galdi, the constitution was the lodestar of the Kingdom. He saw it as a social covenant that delivered the people from the arbitrary violence of the government. He viewed this Spanish model of governance as offering a “point of contact” between popular rights and royal prerogatives. Galdi used the metaphor of a pyramid to describe his vision. At the base of the pyramid was the declaration of the rights and duties of the citizens, while at the apex was the Sovereign, the supervisor and guarantor of parliament. His successor, Pasquale Borrelli, appointed president for the month of November 1820, was elected only on the third ballot. Borrelli had had to face a committee meeting in secret session and chaired by his deputy to hear a complaint of persecution lodged against him by some citizens relating to his former activities as director of public security. Even so, Borrelli merits recognition for introducing the practice of publishing final reports of parliamentary activities, and thus establishing the principle that parliament should give an account of itself to citizens. A monthly report on parliamentary work was prepared also for the following month of December under the presidency of Pietro Antonio Ruggiero, and became a weekly publication in January 1821 when the successor president, Innocenzo De Cesare, assigned his secretary De Luca to the task.8 De Cesare’s presidency saw out the conclusion of the first ordinary session of the parliament after four months, one month longer than expected, the extra time being needed to allow parliament to complete its revision of the constitution, the new version of which, once it had received royal assent, 8 Werner Daum, Oscillazioni dello spirito pubblico. Sfera pubblica, mercato librario e comunicazione nella rivoluzione del 1820–21 nel Regno delle Due Sicilie, Napoli 2015.

The Presidents of the Neapolitan Parliament

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parliament officially adopted at the end of the month. Borrelli grandly defined the new constitution as the “code of our freedom” and “the political bible of all the citizenry”, and expressed his pleasure that people could finally affirm their support for the “Constitution of the Two Sicilies” instead of the “Constitution of Spain” (as the Constitution of Cadiz was also called). After the closing of the first session of parliament, Matteo Galdi, as mentioned above, was appointed chair of the seven-member Permanent Deputation. Taking up the post on 1 February 1821, he published a manifesto in which the Deputation affirmed its intention to uphold the constitution, from which, the manifesto declared, the Crown derived its legitimacy. When the prince regent Francesco convened parliament for an extraordinary session, Galdi once again became chair of the Preparatory Council and president of the assembly itself. In a sign not only of Galdi’s acknowledged authority but also of the urgency of the matters to be addressed, he was elected unanimously without the need for ballot voting. At the inaugural session of 13 February 1821, Galdi affirmed that, thanks to the constitution, the Kingdom had awoken from its slumbers and compressed the work of an entire century into the space of just a few months, yet without violent upheavals or the overturning of ancient institutions.9 In bitter tones, he reminded the Bourbon monarchy that it had twice sworn allegiance to the constitution, which he in any case defined as “immortal.” He was referring to the fact that on 1 October 1820 King Ferdinand I had taken an oath of allegiance to the Constitution of Cadiz, and, on 31 January 1821, his son Francesco had likewise sworn to uphold the amended version of the constitution which parliament had revised and adapted to the needs of the Kingdom, even though it already feared that it would be forced to convene in extraordinary session to defend itself. So idyllic had the relationship between the Crown and parliament seemed at the time that the then president of the latter, Innocenzo De Cesare, had described the MPs as the Crown’s “family council.” Francesco is a historical figure about whom more might be written, and who, as Maria Sofia Corciulo observes in her book, should not necessarily be equated with his father’s reactionary politics. Speaking before the extraordinary session of parliament, Francesco had declared that he was ready to grapple with “the fate of the nation” without renouncing his oath. The parliament was left with little choice but to protest against foreign interference that was in open violation of international law and the independence of the Kingdom. One MP, Giuseppe Poerio, appointed as rapporteur, asserted the justice of the national cause and claimed that all the social classes were in agreement on the need for a common defence and on the intolerability of foreign domination. At the final sitting of the extraordinary parliament on 28 February 1821, 9 Jens Späth, Promotori del liberalismo  : i Parlamenti del Regno di spagna e del Regno delle Due Sicilie, 1820– 1823, in  : Rivista storica italiana 130, 2018, 615–638.

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Mario Di Napoli, Rome

Galdo described the decisions of the Congress of Ljubljana as the “condemnation of a nation to civic death”, and he placed his last hopes in an agreement between the parliament and the prince regent. On the following day, 1 March, the crisis of its own survival notwithstanding, the Parliament of the Two Sicilies convened to inaugurate its second ordinary session. The prince regent once again made promises to defend the Kingdom and respect the constitution, and called for national harmony. The new president of the parliament, Girolamo Arcovito, drew heavily on ancient Roman sources and quoted Pompey the Great’s exhortation  : “Marching is urgent  ; living is not.” Invoking a direct alliance between peoples and their sovereigns, Arcovito declared that it was not the monarchs of Europe who opposed the new constitutional arrangements but their ministers, whom he branded “oligarchs.” A week later, the Battle of Antrodoco, fought between two sides of unequal military strength, marked the end of the constitutional experience of the Two Sicilies. The MPs remained in their seats and proudly defended their cause at the last recorded session of 21 March, but three days later a police commissioner cleared them out of the premises. The printer who had published thousands of copies of the new constitution petitioned in vain for his compensation. The most moving words to seal the history of the Parliament of the Two Sicilies were uttered by the MP for Apulia, Domenico Nicolai, who would be among the first to join Giuseppe Mazzini’s Young Italy movement ten years later  : “Parliament will always exist in law and no present power shall destroy the memory of future centuries.”

Werner Drobesch, Klagenfurt*

Politisches »Netzwerken«  : die Verknüpfung von Partei, Vereinskultur und Mandat in Kärnten, 1867–1918 1. Politisches »Netzwerken«: Annäherung an den Begriff Im Rahmen demokratischer Prozesse spielt bzw. spielte »policy network« als Element zur Schaffung von Öffentlichkeit und Wählerrekrutierung, aber auch zur politischen Partizipation und Gestaltung im Kontext von Machterlangung und -perpetuierung eine maßgebliche Rolle. Hierbei handelt es sich um »informelle, nicht oder wenig hierarchische Verbindungen und Koordinierungsmechanismen zwischen verschiedenen […] Akteuren«,1 die sich durch Gemeinsamkeiten in der Programmatik und in den Zielsetzungen verbunden fühlen bzw. sind und somit eine gemeinsame Identität bezüglich der weltanschaulichen Orientierung und des Agierens generieren. Das galt auch für das politische Handeln im cisleithanischen Reichsteil, seit 1867 ein Verfassungsstaat und eine Parteiendemokratie, vorerst noch nach (alt)liberalem Verständnis. Das erforderte neue Kommunikationsformen. Zu diesen gehörten neben persönlicher Präsenz, Versammlungen und publizistischem Aktivismus die Schaffung eines Netzwerks. Für die politischen Akteure bildete das »Netzwerken« nicht nur in der innerparteilichen Machterlangung und -sicherung (Schlagwort  : »Seilschaft«) ein essentielles Element, sondern auch hinsichtlich der Präsenz in der öffentlichen Wahrnehmung.

2. Wahlrechtsreformen und Wandel der Kärntner Parteienlandschaft Mit der liberalen Verfassungsbewegung der Revolutionsjahre 1848/49 deutete sich diese Option zur Schaffung einer politischen Öffentlichkeit zum ersten Mal an, um sich dann seit der »Dezemberverfassung« 1867 zu intensivieren. Vorerst wurden die Abgeordneten noch durch die Landtage in das Reichsparlament, das am 10. Februar 1868 erstmals zusammentrat, entsandt. 2 Erst die Wahlrechtsänderung des Jahres * Abkürzungen  : LGBl.: Landesgesetzblatt  ; RGBl.: Reichsgesetzblatt. 1 Wolfr a m K a iser, Politiknetzwerke in der europäischen Integration. Zeitgeschichte und Politikwissenschaft im Dialog, in  : Integration 32, 2009, 123–135, hier 124. 2 Zur Wahlrechtsentwicklung siehe Gesetz vom 21. Dezember 1867, wodurch das Grundgesetz über

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Werner Drobesch, Klagenfurt

1873 wies die Bahn in Richtung der direkten Wahl der Abgeordneten auf Basis eines Zensus- und Kurienwahlrechts, das »an Steuerträger und nicht an Personen gebunden« war.3 Am Ende der Wahlrechtsentwicklung stand 1907 für den Reichsrat das gleiche, geheime und direkte Wahlrecht für Männer, die älter als 24 Jahre alt waren. Das Landtagwahlrecht orientierte sich in wesentlichen Punkten an den Prinzipien des Wahlrechts für das Abgeordnetenhaus – so auch in Kärnten, wo die Einführung des gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts auf sich warten ließ.4 So blieb die Landtagswahlreform des Jahres 1902 das Maximum.5 Mit dieser rang man sich zwar zur Einführung einer »Allgemeinen Wählerklasse« durch, der Zensus blieb aber ebenso erhalten wie die Kurien.6 Mit den Wahlrechtsreformen veränderten sich das Spektrum der zur Wahl antretenden Parteien und die Chancen der Kandidaten, in den Reichsrat bzw. Landtag gewählt zu werden. Bei den Landtagswahlen 1902 bot sich den neuen Massenparteien von Sozialdemokratie und Christlichsozialen erstmals die Möglichkeit, insbesondere über die »Allgemeine Wählerklasse«, den Einzug in den Landtag bzw. ab 1907 auf der Basis des Beck’schen Wahlrechts in das Abgeordnetenhaus zu schaffen. Bei den Landtagswahlen des Jahres 1902 blieb es noch beim Wunschdenken, keiner der beiden Parteien gelang der Einzug in den Landtag, was auch dem Wahlrecht geschuldet war. Das änderte sich. 1909 zogen die Sozialdemokraten mit einem Abgeordneten, und zwar in der »Allgemeinen Wählerklasse«, in den Landtag ein. Wilhelm Eich war es im Wahlbezirk Villach-Ferlach gelungen, sich gegen den deutschnationalen Kandidaten durchzusetzen.7 Die Christlichsozialen und die katholisch-konservative »Partei der Kärntner Slowenen/Koroška slovenska stranka« stagnierten. Lediglich in der Landgemeindenkurie gelang es ihnen, zwei Abgeordnetensitze zu gewinnen. Bei den Reichsratswahlen zwei Jahre zuvor war es allen drei Parteien gelungen, einen Sitz im Abgeordnetenhaus zu erlangen. Die dominante Kraft blieb sowohl bei den die Reichsvertretung vom 26. Februar 1861 abgeändert wird  ; RGBl. Nr. 141/1867  ; des weiteren  : Gesetz vom 2. April 1873, RGBl. Nr. 40  ; Gesetz vom 12. November 1886, RGBl. Nr. 162  ; Gesetz vom 14. Juni 1896, RGBl. Nr. 168 und Gesetz vom 26. Jänner 1907, RGBl. Nr. 15)  ; vgl. auch Wilhelm Br au neder, Die Entstehung des Parlamentarismus 1861/1867 und seine Weiterentwicklung, in  : Herbert Schambeck (Hg.), Österreichs Parlamentarismus. Werden und System, Berlin 1986, 83–119, hier 83. 3 Vgl. Vasilij Melik, Wahlen im alten Österreich. Am Beispiel der Kronländer mit slowenischsprachiger Bevölkerung (= Anton Gindely Reihe zur Geschichte der Donaumonarchie und Mitteleuropas, 3), Wien– Köln–Weimar 1997, 132ff. 4 M a rtin Wu t te, Die geschichtliche Entwicklung der Kärntner Landtage und der Landesverfassung, in  : Karl Pacher (Hg.), Schlagwörterverzeichnis zum Landes-Gesetzblatt für Kärnten 1863–1932, Klagenfurt 1933, 7–17, hier 12. 5 LGBl. 1902, Nr. 14. 6 Vgl. Patrick Durchschl ag, Die Wahlen zum Kärntner Landtag 1861–1909, Diplomarbeit, Klagenfurt 2013, 72f. 7 Ebd., 82.

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Politisches »Netzwerken«

Reichsrats- als auch Landtagswahlen weiterhin das deutschnationale »Lager« und in diesem die »Deutsche Volkspartei« (Tabelle 1, 2 und 3), deren Kandidaten sich mehrheitlich durchsetzten. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Parteienlandschaft im Lande neue Konturen angenommen. Sowohl die Reichsrats- als auch die Landtagswahlen des ausgehenden 19. und des ersten Dezenniums des 20. Jahrhunderts waren bereits unter den Vorzeichen des Wandels abgelaufen. Die Dominanz des deutschliberalen bzw. deutschnationalen »Lagers« perpetuierte sich, begünstigt durch das Wahlrecht.8 Sowohl bei den Landtagswahlen 1909 als auch bei den Reichsratswahlen 1911 erreichte es die meisten Mandate. Allerdings verschob sich innerhalb des »Lagers« die Kräfteverteilung. In der »Deutschen Volkspartei«, die zur mandatsstärksten Gruppierung wurde, sammelten sich die Deutschnationalen, bei den Alldeutschen die radikale Anhängerschaft Georg von Schönerers, und der »Verfassungstreue Großgrundbesitz« als eine Partei »alten Typs« und als deutschliberaler Überrest verlor weiter an Bedeutung. Das Parteienspektrum vervollständigten die Sozialdemokratische Partei und die Christlichsoziale Partei als aufstrebende Massenparteien, erstere deutlich präsenter in der Öffentlichkeit positioniert als zweitere. Und die »Partei der Kärntner Slowenen/Koroška slovenska stranka« entwickelte sich zum Sammelbecken der slowenischsprachigen Bevölkerung. Sie trat ab den Landtagswahlen 1902 nach einer kurzzeitigen Allianz mit den Christlichsozialen 1896 wieder eigenständig an. Tabelle 1  : Verteilung der Reichsratsabgeordneten nach politischen Gruppierungen 1872–19019

Kurie

Partei

Großgrundbesitz

deutschliberal

Zahl der Abgeordneten 1873

1879

1885

1

1

1

Vereinigte Deutsche Linke

1891

1897

1

Deutsche Volkspartei

1

Verfassungstreuer Großgrundbesitz Städte und Märkte

deutschliberal

1 1

1

3

Vereinigte Deutsche Linke

2

Deutschnationale Vereinigung

1

Deutsche Volkspartei »wild«

1901

3

2 1

8 Ausführlich zur Entwicklung des Landtagswahlrechts siehe ebd., 22–49. 9 Erstellt nach Rudolf Siegl, Die Reichsratswahlen in Kärnten (1861–1911), Diplomarbeit, Klagenfurt 2014, 127–131.

444

Werner Drobesch, Klagenfurt

Kurie

Partei

Handels- und Gewerbekammer

deutschliberal

Zahl der Abgeordneten 1873

1879

1885

3

3

1

1891

1897

1901

 1

 1

Deutsche Volkspartei

 3

 4

Slowenische Katholische Volkspartei/Slovenska katoliška ljudska stranka

 1

Deutsche Volkspartei

 1

 1

10

10

Vereinigte Deutsche Linke

1

Deutsche Volkspartei Landgemeinden

deutschliberal

4

4

deutschklerikal

Allgemeine Wählerklasse

3 1

Vereinigte Deutsche Linke

3

Deutschnationale Vereinigung

1

9

9

9

9

Tabelle 2  : Verteilung der Reichsratsabgeordneten 1907 und 191110 Zahl der Abgeordneten

Partei

1907

1911

Deutsche Volkspartei

 6

 8

Sozialdemokratische Arbeiterpartei

 2

 1

Christlichsoziale Partei

 1

Partei der Kärntner Slowenen/Koroška slovenska stranka

 1

 1

10

10

Tabelle 3  : Verteilung der Landtagsmandate 1896, 1902 und 190911 Kurie Großgrundbesitz

Partei deutschliberal

Zahl der Abgeordneten 1896

1902

1909

6

Verfassungstreuer Großgrundbesitz Deutsche Volkspartei

3

unbestimmt

1

10 Erstellt nach Siegl, Reichsratswahlen in Kärnten, 130f. 11 Erstellt nach Durchschl ag, Wahlen zum Kärntner Landtag, 114, 120 und 121.

6

6

4

4

445

Politisches »Netzwerken«

Kurie

Partei

Städte und Märkte

Zahl der Abgeordneten 1896

1902

1909

 7

10

 9

deutschliberal

 2

 2

(2)

Deutsche Volkspartei

 1

 1

(1)

 9

11

Christlichsoziale Partei

 3

 2

Partei der Kärntner Slowenen/Koroška slovenska stranka

 1

 2

»parteilos«

 2

Deutsche Volkspartei

 4

deutschliberal

 2

Deutsche Volkspartei Alldeutsche Partei Handels- und Gewerbekammer Landgemeinden

Allgemeine Wählerklasse Virilstimme

 1

Deutschliberal

 0

Deutsche Volkspartei

10

Katholische Volkspartei

 4

Sozialdemokratische Arbeiterpartei Bischof von Gurk

 3  1

 1

 1

 1

37

43

43

3. Wahlverein, Wahlpartei oder politische Partei  ? Einhergehend mit den Reformen des Wahlsystems wandelte sich der Parteientypus. Die »alten Parteien« wie die deutschliberale »Verfassungspartei«, quasi »große, einheitlich geführte Verbände mit weit umfassenden Programmen«, die strukturell wie organisatorisch mehr einem Wahlverein ähnelten, mutierten zu einer Marginalie. Sie besaßen zwar Programm und Statut, waren aber – wie im Übrigen auch die nach der Wahl gebildeten Fraktionen im Abgeordnetenhaus –, keine straff geführte Organisation, sondern mehr eine lose politische Gesinnungsgemeinschaft. Spätestens seit den Reichsratswahlen 1907 waren sie Vergangenheit. Sie entsprachen sie nicht mehr den Bedürfnissen der modernen Politikgestaltung, die von den sich seit den achtziger Jahren entwickelnden Massenparteien mit ihren neuen Formen der Wahlwerbung und Wählerrekrutierung effizienter abgedeckt wurden. Diese sprachen mit ihrer Programmatik ein breiteres Wählerspektrum an und agierten, was die Mobilisierung der Anhängerschaft betraf, wie eine Wahlbewegung. Abseits der Frage, ob Wahlverein oder Wahlbewegung, stellt sich für die Existenz und das Agieren der Parteien die Frage nach den rechtlichen Rahmenbedingungen, die weder durch die Verfassung noch durch ein Gesetz expressis verbis geregelt waren. Die »Dezemberverfassung« enthielt »weder Regeln über die Tätigkeit noch Hinweise auf die Existenz Politischer Parteien«, die für ihre Organisation und Tä-

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Werner Drobesch, Klagenfurt

tigkeit nur im Vereinsgesetz 1867,12 und zwar in den Bestimmungen über die »politischen Vereine«, eine legistische Grundlage besaßen.13 Demnach waren sie eine »freiwillig, für die Dauer bestimmte organisierte Verbindung mehrerer Personen zur Erreichung eines bestimmten gemeinschaftlichen Zweckes mittels fortgesetzter gemeinschaftlicher Tätigkeit«.14 Somit herrschte »die ausgesprochene Tendenz« vor, »kompulsiv auf die Bildung des staatlichen Willens, sei es durch Beeinflussung der zur Bildung staatlicher Organe führenden Wahlen, sei es durch sonstige diesem Zwecke dienende Tätigkeit«, einzuwirken.15 Die andere Möglichkeit war die Konstituierung als Wahlpartei zum Zweck der Beteiligung an Wahlen. Ihr Bestand basierte auf der zum Zeitpunkt der Konstituierung geltenden Wahlordnung. War das Wahlverfahren abgeschlossen, hörte sie auf zu bestehen – nicht so die politische Partei, deren Rechtsbasis (nach dem Vereinsgesetz 1867) der »politische Verein« war und die nach dem Ende des Wahlverfahrens weiterbestand. Beide Typen unterschieden sich voneinander durch die Art der Entstehung, das Ende der »Organqualität«, die Zusammensetzung des Mitgliederkreises, die Bestandsdauer, die Funktion sowie die Vertretung nach außen. Bis auf die Sozialdemokratische Arbeiterpartei und die Christlichsoziale Partei existierten bis 1914/18 alle anderen Parteien sowohl als Wahlpartei als auch als »politischer Verein«. Das war im Falle des »Katholisch-politischen Volksvereins für Kärnten« (gegründet  : 1869), des »Katholisch-politischen und wirtschaftlichen Vereins für die Slowenen in Kärnten/Katoliško-politično in gospodarsko društvo za Slovence na Koroškem« (1886), der bei den Wahlen unter der Bezeichnung »Partei der Kärntner Slowenen/Koroška slovenska stranka« auftrat, des »Kärntner Bauernbundes« (1886), des »Deutschen Volksvereins für Kärnten« (1890) sowie des »Vereins der Alldeutschen für Kärnten« (1894) so.16 Ab den frühen achtziger Jahren begann die Vereinskultur ein konstitutives Element im Prozess der sich ausbildenden »Lager«, zu deren ideologischer Schärfung aus ihren Reihen wesentliche Impulse kamen, zu werden.17 Sie wurde zu einem integrativen Kitt im Rahmen der Festigung der »Lager«mentalitäten und -kultur. So ergaben die unterschiedlichen sozialdemokratischen Vereine als Summe die Sozial12 Gesetz über das Vereinsrecht  ; RGBl. Nr. 134/1867. 13 Wilhelm Br au neder, Die Verfassungsentwicklung in Österreich 1848 bis 1918, in  : Helmut Rumpler – Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918 (= Verfassung und Parlamentarismus, 7/1), Wien 2000, 69–237, hier 227. 14 Gesetz über das Vereinsrecht  ; RGBl. Nr. 134/1867. 15 So Friedrich Tezner, Die Volksvertretung, Wien 1912, 510f. 16 Kärntner Landesarchiv Klagenfurt, Vereinskataster, Heft 2, 11, 13, 15 und 23. 17 Zur Bedeutung des Vereinswesens für Politisierung der Massen siehe Dorothe a Doliner, Die politischen Organisationen, Verbände und Vereine in Kärnten von 1860–1914, Dissertation, Innsbruck 1953, sowie Werner Drobesch, Vereine und Verbände in Kärnten (1848–1938). Vom Gemeinnützig-Geselligen zur Ideologisierung der Massen (= Das Kärntner Landesarchiv, 18), Klagenfurt 1991, 168–211.

Politisches »Netzwerken«

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demokratischen Arbeiterpartei. Breit war das Spektrum der Vereine, welche Teil der sozialdemokratischen Parteiorganisation waren. Dazu gehörten u. a. die »ArbeiterKranken- und Invalidenkassenvereine«, die »Konsumvereine«, die »Arbeiter-Lesevereine«, »Die Naturfreunde«, die »Arbeiter-Gesangsvereine«, der Verein »Freie Schule« oder der »Arbeiter-Abstinentenbund« sowie insbesondere die Gewerkschaftsvereine. Alle waren ein Teil des »Lagers« und agierten, de jure als »nichtpolitische Vereine« klassifiziert, im Vorfeld der Partei. Dieses Modell praktizierten auch andere Parteien, die die Vereine in ihre politische Tagesarbeit miteinbezogen.18 Bei den Christlichsozialen waren das etwa die »Katholischen Bauernvereine«, die »Katholischen Arbeitervereine«, der »St. Josef-Verein« und Vereinigungen im unmittelbaren Umfeld der katholischen Kirche wie der »Verband katholischer Wohltätigkeit für Kärnten«, bei der »Partei der Kärntner Slowenen/Koroška slovenska stranka« vor allem die Bildungs- und Gesangsvereine, die Ortsgruppen der »Bruderschaft der Hll. Cyrill und Method«/»Družba svetega Cirila in Metoda« oder der »Slowe­ nischen Wacht«/»Slovenska Straža« und nicht zuletzt das Genossenschaftswesen. Verwobener stellte sich die Situation im Falle der deutschliberalen und -­ nationalen Parteigruppierungen, die über eine Vielzahl von Vereinen in der Bevölkerung verankert waren und deren Lebensinteressen – von der Freizeit und Geselligkeit bis zum Bildungsbereich – ansprachen, die aber nicht auf eine einzige Partei fixiert waren. In Summe ergab das ein Panoptikum an Vereinen, wie etwa den »Germanenbund«, den Verein »Wartburg. Verband alter Burschenschafter«, den Verein »Deutsche Heimat« oder den »Österreichischen Wandervogel. Bund für deutsches Jugendwandern«. Die Ortsgruppen des »Deutschen und Österreichischen Alpenvereins«, des »Deutschen Turnerbundes«, des »Deutschen Schulvereins« oder des Vereins »Südmark« vervollständigten mit ihren unzähligen Ortsgruppen und großen Mitgliederzahlen die breite Palette der Vorfeldorganisationen, in deren Agieren sich der Wandel vom Deutschliberalismus zum Deutschnationalismus im Rahmen des Procederes der Auswahl der Kandidaten für Wahlen widerspiegelt. Ab den neunziger Jahren gingen die »Führer des […] vorwiegend liberalen Bauernbundes langsam ins [deutsch]nationale Lager« über, und es wurden deutschnationale Bauernvertreter bei der Erstellung der Kandidatenliste immer mehr berücksichtigt.19 Aus den Vorfeldorganisationen rekrutierten die Parteien vermehrt ihre Wählerschaft, vor allem aber ihre Kandidaten, die wiederum vice versa diese für ihre politischen Ambitionen, das heißt die Erlangung eines Abgeordnetenmandats und die Tagesarbeit nutzten. Vereinszusammenkünfte wurden zur parteipolitischen Agitation 18 Detailreich dargestellt bei Doliner, Die politischen Organisationen, Verbände und Vereine in Kärnten. 19 Vgl. Loth a r Höbelt, Die deutschnationalen und liberalen Gruppierungen in Cisleithanien. Von der Vereinigten Linken zum Nationalverband, in  : Gabor Erdödy (Hg.), Das Parteiwesen Österreich-Ungarns, Budapest 1987, 77–90.

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Werner Drobesch, Klagenfurt

genützt. Daher gewann, um politisch reüssieren zu können, die Verankerung in einem Verein, besser noch in mehreren Vereinen des jeweiligen Lagers, sei es als bloßes Mitglied, sei es als Teil des Vorstands oder gar als Obmann, an Wichtigkeit. Gleiches gilt für die Präsenz im Genossenschaftswesen. Darum wusste man Bescheid. Für die Kandidaten und Mandatare wurde – unabhängig von der Parteizugehörigkeit – der Aufbau eines politischen Netzwerks eine vorrangige Aufgabe. So waren sie nicht nur »am Ohr der Wählerschaft«, sondern sie verfügten über eine Ressource zur Absicherung ihrer Position, wie es im ersten Jahrzehnt des Verfassungslebens bereits praktiziert wurde, als der »linke« Flügel der »Verfassungstreuen« um 1870 einer organisatorischen Stärkung durch die Demokratenvereine bedurfte.20 Oder man bezog in Vereinsversammlungen Stellung zu Themen der politischen Auseinandersetzung, etwa zur Wahlrechtsfrage, zur Steuerfrage, zu wirtschafts- und sozialpolitischen oder nationalpolitischen Fragen, die Ziele der Partei, der man sich zugehörig fühlte bzw. war, vertretend.21

4. Politisches Agieren im Netzwerk von Vereinen Die Verknüpfung von parteipolitischen Aktivismus und Vereinswesen spiegelt sich grosso modo im politischen Curriculum Vitae der Reichsrats- und Landtagsabgeordneten wider. Mit der Ausweitung der Wählerschaft intensivierte sich das Engagement in Vereinen und die Bestrebungen, sich ein Netzwerk über die Vereine aufzubauen. In den siebziger Jahren hielt sich das Bemühen noch in Grenzen. In der Regel bildeten Besitz und Vermögen oder eine öffentliche Funktion die Basis für die politische Aktivität. Das galt insbesondere für die Kurie der Großgrundbesitzer, der Städte und Märkte sowie der Handels- und Gewerbekammer. Anders stellte sich die Situation in der Kurie der Landgemeinden dar. Deren Abgeordnete engagierten sich politisch meist in der Gemeindepolitik, sei es als Gemeinderat, sei es als Bürgermeister, erkannten aber früh die Möglichkeiten der Organisationsform »Verein« für die politische Tagesarbeit. Gustav Hock, Landwirt und Gutsbesitzer, war neben seiner Tätigkeit als Gemeinderat von Maria Saal (1863–1880) nicht nur Mitbegründer und Obmann des »Glantaler Demokraten-Vereins« (bis 1887), sondern auch 1894 Gründungsmitglied des »Deutschen Volksvereins für Kärnten«. Der Kirchbacher Postmeister Franz Unterberger, nur für knapp ein Jahr (1870/1871) im Landes20 Loth a r Höbelt, Die Stellung der Kärntner in der Politik der liberalen Ära (1861–1879), in  : Wilhelm Wadl (Hg.), Kärntner Landesgeschichte und Archivwissenschaft. Festschrift für Alfred Ogris zum 60. Geburtstag (= Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie, 84), Klagenfurt 2001, 433–452, hier 435. 21 Vgl. Doliner, Die politischen Organisationen, Verbände und Vereine in Kärnten, 145–183.

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parlament, war Obmann des »Gailtaler volkswirtschaftlichen Fortschrittsvereins«.22 Sein Engagement in diversen Vereinigungen verstärkte sich bis 1914. Franz Kirschner, Landwirt in Maria Rain [Žihpolje], war 1886 Gründungsmitglied sowie von 1893 bis 1902 und seit 1911 Obmann des »Kärntner Bauernbundes«, darüber hinaus von 1906 bis 1910 Vizepräsident der »Landwirtschaftsgesellschaft für Kärnten«.23 Er entwickelte sich zum Prototypen des Multifunktionärs und Vereinsmeiers, wie ihn auch der Deutschliberale Josef Luggin – gewählt in die Kurie der »Städte und Märkte« – verkörperte. Von Beruf »Advokat«, war er mehr als 33 Jahre lang Landtagsabgeordneter und in dieser Zeit nicht nur Mitglied des Klagenfurter Gemeinderats, sondern auch Mitglied (seit 1882), Ausschussmitglied (seit 1892), Vizepräsident (1900–1903) und schließlich Präsident der »Kärntner Sparkasse« (bis 1911). Dem nicht genug. Von 1884 bis 1892 bekleidete er die Funktion des Vizepräsidenten und von 1892 bis 1908 des Präsidenten der Kärntner Advokatenkammer. In der letzten Phase seiner politischen Tätigkeit war er zudem Mitglied des Verwaltungsrats der »Hüttenberger Eisenwerksgesellschaft«.24 Luggin bildete keinen Einzelfall. Die beiden Brüder Arthur und Josef Lemisch, als Mandatare der »Deutschen Volkspartei« mehrere Perioden im Kärntner Landtag, ersterer auch von 1897–1907 Reichsratsabgeordneter, waren in führender Position in Vereinigungen tätig  : Arthur war unter anderem seit seinen Gymnasial- und Studententagen Mitglied der Burschenschaft »Tauriska/Klagenfurt«, der Burschenschaft »Suevia/Innsbruck« (seit 1882) und der Burschenschaft »Stiria/Graz« (seit 1885), zudem Gründungsmitglied des »Deutschen Volksvereins für Kärnten« (1894), Präsident des »Kärntner Forstvereins« (1895) sowie Vizepräsident der »Landwirtschaftsgesellschaft für Kärnten« (seit 1906). Sein Bruder Josef war 1883 Mitgründer der »Kärntner Landesbrandschadenversicherung Kälabrand«.25 Hans Angerer, Gymnasialprofessor und in seiner Freizeit auch Gletscherforscher sowie knappe 17 Jahre Landtagsabgeordneter, baute auf die Mitgliedschaft in zahlreichen deutschnationalen Vereinen, etwa in der pennalen Burschenschaft »Tauriska/Klagenfurt« und im »Verein der Alldeutschen in Kärnten«, wo er die Funktion des Obmanns bekleidete.26

22 Informativ zu seiner Biographie sowie derjenigen der Kärntner Landtagsabgeordneten die im Status Nascendi befindliche Dissertation von Rudolf Siegl, Die Abgeordneten zum Kärntner Landtag 1848 bis 1938  : Sozialprofil – Karrieren – Landtagstätigkeit – »Vernetzungen« (Manuskript), o. S. Herrn Siegl sei für die Einsichtnahme und die Erlaubnis der Benützung herzlich gedankt. 23 Ebd. 24 Ebd.; Peter Joh a m, Kärntens Advokaten und ihre Kammer als Institution organisierter Standesinteressen 1849–1919, Masterarbeit, Klagenfurt 2021, 84, 89f., 127 und 140f. 25 Siegl, Die Abgeordneten zum Kärntner Landtag. 26 Ebd.; weiters Gero Stuller, Hans Angerer (1871–1944) – ein deutschnationaler Kärntner Bildungspolitiker, Diplomarbeit, Klagenfurt 1999.

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Werner Drobesch, Klagenfurt

Sie fanden Nachahmer, sowohl im eigenen »Lager« als auch in anderen Parteien. Der Trend verstärkte sich. Der Priester Konrad Walcher, von 1909 bis 1915 Landtagsabgeordneter und von 1907 bis 1911 Abgeordneter zum Reichsrat, war nicht nur Spiritus Rector der Kärntner Christlichsozialen, sondern als solcher fest in deren Vereinskultur sowie Medienlandschaft verankert. »Ehrenphilister« der katholischen CV-Verbindung »Rudolfina/Wien« und den Prinzipien des politischen Katholizismus verpflichtet, hatte er seit 1899 die Chefredaktion des Parteiblattes »Kärntner Zeitung« (seit 1906 »Kärntner Tagblatt«) inne und trat zudem als Mitbegründer des »Katholischen Arbeitervereins in Klagenfurt« und des »Katholischen Bauernbundes von Kärnten« auf. Er war auch Mitglied des »Katholisch-politischen Volksvereins in Klagenfurt« sowie der katholischen Studentenverbindung »Karantania/ Klagenfurt«.27 Der Abgeordnete der »Partei der Kärntner Slowenen/Koroška slovenska stranka« und einer der zentralen politischen Akteure der Slowenen in Kärnten, Franc/Franz Grafenauer, von Beruf Orgelbauer, war von 1888 bis 1916 Gemeinderat in Egg [Brdo], drei Gesetzgebungsperioden im Landtag (1896–1916) und von 1907 bis 1916 im Reichsrat, verfügte über ein breites Repertoire an Vereinsaktivitäten, von denen seine Rolle als Gründungsmitglied (1890) und Vorstandsmitglied des »Katholisch-politischen und wirtschaftlichen Vereins für die Slowenen in Kärnten/ Katoliško in politično društvo za Slovence na Koroškem«, der zentralen politischen Organisation der Slowenen des Landes, sowie als Gründungsmitglied des »Slowenischen Schulvereins/Slovensko šolsko« in Klagenfurt (1908) herausragten.28 Im gleichen Fahrwasser bewegten sich die Reichsratsabgeordneten, für die – wie aus der Biographie Konrad Walchers und Franz/Franc Grafenauers ersichtlich – sich der Aufbau eines politischen Netzwerks mittels Vereinsmitgliedschaften gleichfalls aufdrängte. Dr. Otto Steinwender – von 1885 bis 1918 nahezu durchgehend Abgeordneter zum Reichsrat, dort Mitglied unterschiedlicher Klubs, 1909 bis 1911 Vizepräsident des Abgeordnetenhauses und zudem Obmann der 1896 von ihm mitgegründeten »Deutschen Volkspartei« – war Gründungsmitglied des mitgliederstarken »Deutschen Schulvereins«, des Weiteren Vorstandsmitglied des deutschen Schutzvereins »Südmark«, sowie seit 1885 Mitglied des »Deutschen Vereins«, dessen Obmann er 1892 für zwei Jahre wurde. Hinzu gesellten sich Mitgliedschaften in der pennalen Verbindung »Caranthania/Klagenfurt« und (ab 1865) der Burschenschaft »Silesia/ Wien«.29 Wie Steinwender entsprach Josef Wolfgang Dobernig, über 23 Jahre Reichs27 Siegl, Die Abgeordneten zum Kärntner Landtag (Biographie Konrad Walcher)  ; https://www.parlament. gv.at/WWER/PAD_01406/index.shtml (Zugriff  : 2.11.2021)  ; Biographie Konrad Walcher (https:// oecv.at/Biolex/Detail/13209400  ; Zugriff  : 2.11.2021). 28 Detailliert Josef Luk a n, Franz Grafenauer (1860–1935). Volkstribun der Kärntner Slowenen (= studia carinthiaca slovenica, 2), Klagenfurt/Celovec 1981. 29 Siehe Edith Vanek, Die politische Tätigkeit des Abgeordneten Dr. Otto Steinwender, Dissertation, Wien, 1948  ; Lothar Höbelt, Otto Steinwender. Porträt eines Nationalliberalen (= Personengeschichtliche Reihe des Frei-

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ratsabgeordneter für die »Deutsche Volkspartei« und sieben Jahre im Landtag, einem neuen Politikertypus, und zwar jenem des beginnenden Zeitalters der Massenparteien, erkannte er doch frühzeitig die neuen Formen des politischen Marketings. Seit 1889 war er Herausgeber und seit 1892 Eigentümer der deutschnationalen »Freien Stimmen« und der dazugehörigen Druckerei in Klagenfurt, zudem Gründungsmitglied (1889), bis 1910 Vorstandsmitglied und von 1914 bis 1918 Obmann des deutschen Schutzvereins »Südmark«, ferner auch Obmann des »Deutschen Volksvereins für Kärnten« sowie Ehrenmitglied in zahlreichen Vereinen des deutschnationalen »Lagers«.30 Der Textilfabrikant Leopold Ritter von Moro, bis 1899 Gesellschafter der Feintuchfabrik »Gebrüder Moro« in Viktring, Gutsbesitzer und Bürgermeister von Viktring bei Klagenfurt (1861–1899), bekleidete von 1878 bis 1898 die Funktion des Vizepräsidenten der Kärntner Handels- und Gewerbekammer Klagenfurt und war zudem Präsident des »Kärntner Gartenbauvereins«.31 Es gab aber auch Ausnahmen, deren politisches Mandat auf einer Funktion entweder auf kommunaler Ebene, in einem Aufsichtsgremium oder in der Partei basierte. Valerius Ritter, Realitätenbesitzer in St. Leonhard bei Villach, gehörte im Reichsrat unterschiedlichen Klubs des deutschliberal-nationalen »Lagers« an. Er saß im Verwaltungsrat mehrerer Banken und Industriebetriebe, so unter anderem von 1872 bis 1875 in jenem der »Österreichischen Hypothekar-Rentenbank«, und war von 1883 bis 1902 Vizepräsident der Lemberg-Czernowitz-Jassy-Eisenbahn.32 Oswald Nischelwitzer, Gutsbesitzer in Mauthen, 23 Jahre lang Reichsrats- und fast 31 Jahre lang Landtagsabgeordneter, allen Wechsellagen des deutschliberal-nationalen »Lagers« ausgesetzt, verfügte über kein dichtes Vereinsnetzwerk. Er war in der Ortsgemeinschaft fest verwurzelt und stützte seine Aktivitäten vor allem auf das Amt des Bürgermeisters von Mauthen, das er von 1850 bis 1894 ausübte.33 Bei der Sozialdemokraheitlichen Bildungswerkes, 1), Wien 1992  ; Werner Drobesch, Der Deutsche Schulverein 1880–1914. Ideologie, Binnenstruktur und Tätigkeit einer nationalen Kulturorganisation unter besonderer Berücksichtigung Sloweniens, in  : Geschichte und Gegenwart 12, 1993, 195–212  ; Horst Grimm – Leo Besser-Wa lzel, Die Corporationen. Handbuch zu Geschichte, Daten, Fakten, Personen, Frankfurt am Main 1986, 373. 30 Fr a nz A dlgasser, Die Mitglieder der österreichischen Zentralparlamente 1848–1918. Konstituierender Reichstag 1848–1849. Reichsrat 1861–1918. Ein biographisches Lexikon, Bd. 1  : A–M, Wien 2016, 210  ; Fritz Freu nd, Das österreichische Abgeordnetenhaus. Ein biographisch-statistisches Handbuch 1911–1917. XII. Legislaturperiode, Wien 1911, 159. 31 Siegl, Die Abgeordneten zum Kärntner Landtag (Biographie Leopold von Moro)  ; A dlgasser, Die Mitglieder der österreichischen Zentralparlamente, Bd. 2, 1023f. 32 Siegl, Die Abgeordneten zum Kärntner Landtag (Biographie Valerius Ritter)  ; Fr a nz A dlgasser, Die Mitglieder der österreichischen Zentralparlamente 1848–1918. Konstituierender Reichstag 1848–1849. Reichsrat 1861–1918. Ein biographisches Lexikon, Bd. 2  : M–Z, Wien 2016, 1023f.; weiters Höbelt, Die Stellung der Kärntner in der Politik der liberalen Ära. 33 Siegl, Die Abgeordneten zum Kärntner Landtag (Biographie Oswald Nischelwitzer)  ; A dlgasser, Mitglieder der österreichischen Zentralparlamente, Bd. 2, 853f.

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Werner Drobesch, Klagenfurt

tischen Arbeiterpartei spielte die Verwurzelung in der Parteiorganisation bzw. – als Säule dieser – in der Gewerkschaft das entscheidendere Momentum. Das gilt für die beiden Reichsratsabgeordneten Julius Lukas und Arnold Riese in gleicher Weise wie für den Landtagsabgeordneten Wilhelm Eich.  Julius Lukas, ein gelernter Schuhmacher und von 1907 bis 1911 Reichsratsabgeordneter, war fest in der Partei und der Gewerkschaftsbewegung verankert, zum einen als Redakteur der Parteizeitung »Arbeiterwille« (seit 1905), zum anderen als Mitglied der »Landesgewerkschaftskommission in der Steiermark« und nach seiner Übersiedlung nach Kärnten als Gründungsobmann des »Gewerkschaftsverbandes für Kärnten« (1906).34 Arnold Rieses, des »Intellektuellen unter den frühen Kärntner Sozialisten«35 und seit 1905 des ersten Sozialdemokraten im Klagenfurter Gemeinderat, politische Vernetzung basierte auf seiner Funktion als Landesparteisekretär des »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Kärnten«. Als solcher zog er die innerparteilichen Fäden. Seine Tätigkeit als Redakteur des »Volkswillens« bzw. »Arbeiterwillens« war ihm hierbei hilfreich.36

5. »Netzwerken« – eine neue politische Kommunikationsstrategie Am Vorabend des Ersten Weltkriegs gehörte das politische Agieren über Netzwerke, in denen den Vereinen als im Vorfeld der Parteien agierenden Organisationen ein besonderer Stellenwert zukam, zum Grundinventar des Politiker-Seins, wenngleich sich Netzwerkstrukturen mit der Zeit als wandelbar erwiesen. Interne Differenzen, ja sogar Spaltungen traten auf, persönliche Positionen, Handlungsspielräume und Prioritäten verschoben sich. Doch war der Mehrwert für die politischen Akteure – unabhängig von der »Lager«zugehörigkeit – evident. Das geschaffene Netzwerk bildete eine Plattform sowohl für die innerparteiliche Stärkung der eigenen Position als auch im Kampf um Wählerstimmen. Es ermöglichte zudem die Mobilisierung der Öffentlichkeit und die Durchsetzung von Anliegen. Im Rahmen der politischen Kommunikationsstrategie war ein Instrumentarium entstanden, das im Aktivitätsmodus der Politik einen festen Platz einnahm und auf das auch nach 1918 zurückgegriffen wurde.

34 Siegl, Die Abgeordneten zum Kärntner Landtag (Biographie Julius Lukas)  ; A dlgasser, Die Mitglieder der österreichischen Zentralparlamente, Bd. 1, 739. 35 https://de-academic.com/dic.nsf/dewiki/2254622 (Zugriff  : 2.11.2021). 36 A dlgasser, Die Mitglieder der österreichischen Zentralparlamente, Bd. 2, 1020.

Petr Valenta, Prag*

Im Dienste der deutschen liberalen Politik Richard Dotzauer im Böhmischen Landtag (1861–1883)

Nach Wiederherstellung der Verfassungsverhältnisse in der Habsburgermonarchie zu Beginn der 1860er Jahre wurden die Auseinandersetzungen um Modelle der sozialen und politischen Organisation auf die Repräsentativkörperschaften übertragen. Dies entsprach dem damaligen liberalen Credo, wonach Konflikte zwischen verschiedenen nationalen und sozialen Konzepten durch Institutionen innerhalb des bestehenden Rechtsrahmens gelöst werden sollten. Die Rolle des zentralen Parlaments sowie der Landtage überschritt jedoch allmählich die engen Grenzen, die den Repräsentativkörperschaften in den Verfassungsdokumenten der frühen 1860er Jahren gesetzt worden waren. Die Mitglieder der Parlamente in der Monarchie gingen aktiv mit ihrer neuen Rolle um und bauten schrittweise die politische Emanzipation des Parlaments gegenüber der Exekutive aus. Dies waren vor allem die Vertreter der deutschen liberalen Partei, die alle Möglichkeiten des oktroyierten Konstitutionalismus nutzen wollten, um ihr politisches Programm durchzusetzen. Für den politischen Erfolg der deutschen Liberalen bedurfte es jedoch nicht nur einer ausreichenden Begeisterung und Überzeugung von ihrer unbestreitbaren zivilisatorischen Mission. Ebenso wichtig war die personelle Zusammensetzung der deutsch-liberalen Partei in den österreichischen wie auch in den Böhmischen Ländern. Die Liberalen konnten sich auf eine ausreichende Zahl politisch engagierter Personen stützen, die sich aus den Reihen des Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums rekrutierten. Ihre Vertreter formulierten nicht nur programmatische Postulate, sondern reagierten auch schnell auf konkurrierende Konzepte. Gleichzeitig verfügten sie aufgrund ihrer erfolgreichen beruflichen Laufbahn außerhalb der Politik über ein besonderes Selbstbewusstsein, mit dem sie gegenüber dem Staatsapparat auftraten. In dieser Hinsicht hatten sie zu Beginn der neuen Verfassungsepoche einen unbestreitbaren Vorteil im Vergleich zu anderen politischen Lagern.1 Ziel dieses Beitrags ist es, das parlamentarische Engagement einer der wichtigsten Figuren der deutschen liberalen Politik in Böhmen – Richard Dotzauer – darzu* Abkürzungen  : AHMP, Archiv hlavního města Prahy/Archiv der Hauptstadt Prag  ; Bd.: Band  ; Ebd.: ebenda  ; Fasz.: Faszikel  ; Jg.: Jahrgang  ; K.: Karton  ; Nl.: Nachlass  ; SOkA  : Státní okresní archiv/Staatliches Bezirksarchiv. 1 Pieter M. Judson, The Habsburg Empire  : A New History, Cambridge–Massachusetts, 2016, 251f.

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Petr Valenta, Prag

stellen. Zweifellos lässt sich die oben erwähnte Eigenschaft eines selbstbewussten Politikers, dessen Selbstvertrauen aus seinem reichen wirtschaftlichen Hintergrund resultiert, auf ihn anwenden. Im Folgenden werden wir uns nicht nur auf Dotzauers Aktivitäten während der Verhandlungen des Böhmischen Landtags konzentrieren. Wir werden uns auch mit Dotzauers Rolle hinsichtlich der Strategien der deutschen Partei für den Landtag befassen, insbesondere mit seiner Beteiligung an der Organisation von Wahlen und der Sicherung von Unterstützung für deutsche Kandidaten. Richard Dotzauer wurde 1816 in Graslitz im Erzgebirge in eine Apothekerfamilie hineingeboren, die zu den Honoratioren der Stadt gehörte. Schon in jungen Jahren schlug er eine kaufmännische Laufbahn ein, machte eine Lehre bei Kaufleuten in Wien und Pressburg und trat dann in die Dienste des Wiener Großhändlers Ale­ xander Schoeller. Mitte der 1840er Jahre etablierte er sich, auch dank seiner Heirat, in den Prager Geschäftskreisen und wurde Leiter eines der mächtigsten Großhändler für Farbstoffe und Kolonialwaren. Ab den 1860er Jahren erweiterte er sein Geschäftsportfolio um das Bankwesen und den Maschinenbau, vor allem durch seine führende Position im Vorstand der Prager Maschinenbau-Aktiengesellschaft, dem sogenannten Ruston. Sein Erfolg in der Wirtschaft prädestinierte ihn dazu, sich in die Öffentlichkeit zu begeben. Ab 1862 war er Vizepräsident und ab 1874 Präsident der Prager Handels- und Gewerbekammer.2 Neben seinen allgemeinen Bemühungen, den Handel in der Prager Agglomeration zu fördern, versuchte er natürlich auch, die Position der Prager deutschen Gesellschaft in der Kammer zu verteidigen. Noch deutlicher aber tat er dies im Deutschen Casino, das er Anfang der 1860er Jahre gemeinsam mit Franz Schmeykal gründete und das zum Epizentrum des gesellschaftlichen und politischen Lebens der deutschen Liberalen in Prag wurde. In all diesen Institutionen handelte Dotzauer nach seinem liberalen Credo, das er sich bereits im Vormärz zu eigen gemacht hatte und auch in den 1850er Jahren nicht verlor, als der Staat das Defizit an politischen Rechten durch Freiheiten im Bereich der Wirtschaft auszugleichen suchte. Für ihn stellte der politische Liberalismus das Ideal der Ordnung der politischen Verhältnisse dar, denen sich die Monarchie nach 1867 annäherte, als der Einsatz für das Gemeinwohl durch konstitutionelle Institutionen durchgesetzt werden sollte. In Dotzauers Augen verschmolzen alle konkurrierenden Kräfte, die Gegner des liberalen zentralistischen Projekts darstellten, zu einer einzigen Gruppe von antimodernen, klerikalen und feudalen Hindernissen für die Werte des Fortschritts, des Rationalismus und des Konstitutionalismus. Dies bedeutete ein Missverständnis und eine Missachtung der tschechischen nationalen Emanzipation, die Dotzauer angesichts der wichtigeren Aufgaben, die der Liberalismus zu bewältigen hatte, um seine programmatischen Postulate zu verwirklichen, als anachroni­ stisch erschien. 2 Mil a n Myšk a (Hg.), Historická encyklopedie podnikatelů Čech, Moravy a Slezska, Ostrava 2003, 93–94.

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Dotzauer saß im Saal des Prager Landtags neben vielen anderen Unternehmern. Diese waren im Landtag recht stark vertreten. In der zweiten und dritten Kurie stellten sie seit den 1860er Jahren etwa ein Drittel der Abgeordneten, während die übrigen Sitze an Vertreter des Bildungsbürgertums und in geringem Umfang an die Bauernschaft gingen. Von den 47 Personen, die in der ersten Legislaturperiode nach 1861 als Unternehmer bezeichnet werden können, gehörte ein erheblicher Teil der Abgeordneten der deutschen Partei an (38 Personen). Dieser Anteil spiegelt zum Teil die Gesamtstruktur der Unternehmerschicht zu Beginn der 1860er Jahre wider, als deutsche Unternehmer vorherrschten.3 Das Verhältnis des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums der deutschen liberalen Vertretung war zur Zeit von Dotzauers Mandat ähnlich. Dazu trug auch die privilegierte Stellung der Handels- und Handwerkskammern bei, denen fünfzehn Sitze vorbehalten waren, die bis 1883 ausschließlich von der deutschen Vertretung besetzt wurden.4 Die parlamentarische Karriere von Richard Dotzauer begann 1862. Dank einer Delegation der Handels- und Gewerbekammer gewann er einen Sitz im Landtag. Er gehörte diesem anschließend mehr als zwei Jahrzehnte lang an und war während der gesamten Zeit gewählter Abgeordneter in der Prager Kammer. Er war jedoch in Richtung Landtag tätig, bevor er bei den ersten Landtagswahlen nach dem Februarpatent sein Mandat erlangte. Er beteiligte sich an den Aktivitäten des Wahlausschusses der deutschen Partei, der den Erfolg der deutschen Kandidaten in ganz Böhmen sicherstellen sollte. Der zentrale Slogan des Komitees war fast identisch mit dem Slogan, den Dotzauer einige Jahre später unter sein Ritterwappen setzte – »freisinnig und deutsch  !«. Der Ausschuss tagte in unmittelbarer Nähe von Dotzauers Haus im Hotel de Saxe und Dotzauer nahm regelmäßig an den Sitzungen in den dortigen Räumen teil, in denen der Wortlaut der Proklamation ausgearbeitet wurde. Alois Brinz, Eduard Herbst, Joseph Knoll und Rudolph Haase beteiligten sich gemeinsam mit ihm an der Arbeit des Ausschusses. Dotzauer sah seine Rolle gerade in der Organisation der Kampagnen. Bei der ersten Wahl hatte er sich gar nicht um ein Mandat bemüht. Zunächst sah er sein eigenes Engagement auf den parlamentarischen Bänken als unvereinbar mit seiner unternehmerischen Tätigkeit an. Wahrscheinlich 3 Jiří Kořa lk a, Tschechische bürgerliche Landtagsabgeordnete in Böhmen 1861–1913, in  : Ernst Bruckmüller et al. (Hg.), Bürgertum in der Habsburgermonarchie, Wien 1990, 215. 4 Es muss berücksichtigt werden, dass die damalige Terminologie das Wort Unternehmer nicht kannte und von Fabrikanten, Händlern, Großhändlern oder Bankiers spricht. Zur allgemeinen Zusammensetzung des böhmischen Landtages nach Berufen. Vgl. Ot to Urba n, Der böhmische Landtag, in  : Helmut Rumpler – Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Band VII  : Verfassung und Parlamentarismus. 2. Teilband  : Die Regionalen Repräsentativkörperschaften, Wien 2000, 2002. Zu Unternehmerbiographien im Reichstag zuletzt Fr a nz A dlgasser. Die Mitglieder der österreichischen Zentralparlamente 1848–1918  : konstituierender Reichstag 1848–1849, Reichsrat 1861–1918. Ein biographisches Lexikon, 2 Bde, Wien 2014.

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trugen das Erstarken der tschechischen Politik und die Erkenntnis, dass der Landtag unmittelbar nach seiner Einberufung zu einer angesehenen Institution wurde, dazu bei, dass er seine Position revidierte.5 Die erste Wahl in der Kammer, die über sein Mandat entschied, fand am 6. Dezember 1862 statt. Die Wahl Dotzauers war eindeutig, da er 27 von 32 abgegebenen Stimmen erhielt.6 Am Ende des Jahres notierte er in seinem Tagebuch seine Freude darüber, wie die Bewohner der Monarchie zu Bürgern wurden, deren Patriotismus durch ihre Hingabe für den Staat und den Kaiser unterstrichen wurde.7 In das neue Jahr, in dem er zum ersten Mal im Landtagsgebäude am Fünfkirchenplatz sitzen sollte, ging er mit einem Optimismus, der auf der allmählichen Liberalisierung des Reichs und der politischen wie auch geistigen Vorherrschaft der Deutschen in der Monarchie fußte. Am 12. Januar legte er in einer Sitzung des Landtags den Amtseid ab.8 Anschließend wurde er zum Mitglied des Petitionsausschusses und Haushaltsausschusses gewählt. Der Böhmische Landtag war damals ein heißes Pflaster, auf dem vor allem die Positionen der tschechischen und deutschen Politik zur staatsrechtlichen Form der Monarchie formuliert wurden. Im Kreis der tschechischen Abgeordneten reifte der Gedanke eines endgültigen Boykotts des Wiener Reichsrats heran. Dotzauer äußerte sich jedoch nicht im Plenum zu diesen wichtigen Fragen des Staatsrechts. An seiner Position, die auf der Integrität und Einheit der Monarchie beruhte, konnte es keinen Zweifel geben. Dotzauer, wie auch andere Kollegen, beschäftigte sich mit der Frage nach dem Grad der Autonomie der Repräsentativorgane gegenüber der Regierung und ihren Behörden. Dabei spielte es keine Rolle, ob der Status des Korps auf provinzieller oder reichsweiter Ebene gestärkt werden sollte. Dies geschah im Rahmen der Prüfung von Artikel 34 der Geschäftsordnung, wonach die Vertreter der Regierungsstellen freien Zugang zum Plenum hatten, sich dieses einer solchen Anwesenheit also nicht widersetzen konnte. Am Vorabend der Erörterung dieses Punktes fand ein Treffen in Dotzauers Haus statt, an dem die Abgeordneten der deutschen Partei Herbst, Brinz und Klier teilnahmen. Dotzauer wies in der Sitzung darauf hin, dass in der jüngsten Vergangenheit Abgeordnete im Wiener Reichsrat in ähnlicher Weise das Feld für die Regierung freigemacht hätten.9 Am folgenden Tag verteidigte Edu5 6 7 8 9

Státní okresní archiv (SOkA) in Sokolov/Falkenau, Nachlass (Nl.) Dotzauer, Tagebuch 17.3.1861. Wahlliste im Archiv hlavního města Prahy (AHMP), Bestand Richard Dotzauer, Karton (K.) 3. SOkA Sokolov, Nl. Dotzauer, Tagebuch 22.12.1862. Stenographische Berichte des böhmischen Landtages, Jg. 1863, 12.1.1863, 46. SOkA Sokolov, Nl. Dotzauer, Tagebuch 6.2.1863. Die Nutzung parlamentarischer Versammlungen für die schrittweise Einführung liberaler Politik und politischer Kultur bringt Pieter Judson, Forcing Constitutional Change through Parliamentary Practice in 1861, in  : Franz Adlgasser et al. (Hg.), Hohes Haus  ! 150 Jahre moderner Parlamentarismus in Österreich, Böhmen, der Tschechoslowakei und der Republik Tschechien im mitteleuropäischen Kontext, Wien 2015, 119–134.

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ard Herbst den Standpunkt der parlamentarischen Souveränität, wofür er von der tschechischen Presse gelobt wurde.10 Diese Episode zeigt, wie empfindlich die deutschen liberalen Abgeordneten auf jeden Moment reagierten, der die Position der Parlamente in Richtung souveräner und von der Regierung unabhängiger Organe verschieben könnte. Sie bietet uns auch einen Einblick in die innere Arbeitsweise der deutschen Fraktion. Dotzauer war eine ihrer zentralen Figuren und wurde regelmäßig in den Vorstand gewählt. Er traf Herbst oder Schmeykal oft während der Sitzungen des Landtags. Gleichzeitig war er sich aber wahrscheinlich der Grenzen seiner rhetorischen Fähigkeiten bewusst und überließ daher allgemeinere parlamentarische Themen oftmals gerade Herbst. Insgeheim bewunderte er dessen rhetorische Fähigkeiten.11 Dotzauers engster Verbündeter und Mitstreiter im Landtag war aber Schmeykal. Gemeinsam war ihnen auch, dass sie den Prager Landtag einem Engagement im Wiener Reichsrat vorzogen.12 Angesichts seiner Rolle in der deutschen Fraktion war es logisch, dass er an allen Sitzungen der Versammlung fleißig teilnahm, auch wenn er nicht zu den Rednern gehörte. Dies geschah sicherlich nicht nur im Wissen um den drohenden Verlust seines Sitzes, der dem Abgeordneten angedroht wurde, wenn dieser wiederholt nicht zu den parlamentarischen Sitzungen erschien. An den Tagen, als der Landtag zusammenkam, intensivierte Dotzauer seine Besuche beim Statthalter Kellersperg oder beim obersten Vertreter des verfassungstreuen Adels – Fürst Karl Wilhelm Auers­ perg. Nicht zu vernachlässigen ist auch, dass Dotzauer direkten Kontakt zu Mini­ sterpräsident Schmerling hatte, mit dem er sowohl bei seinen Besuchen in Wien als auch zu dessen Besuch in Prag im Frühjahr 1863 sprach. Die Tatsache, dass diese Treffen nicht formell waren, zeigt sich in ihrer Dauer, die in der Regel zwei Stunden betrug. Neben parlamentarischen Geschäften ging es auch um die Organisation der Wahlen zur Prager Stadtversammlung und um die Situation in der Handels- und Gewerbekammer.13 Auf der Märzsitzung des Landtags ging es unter anderem um den Versuch der tschechischen Partei, die Wahlordnung zu ändern, was vor allem durch eine gründliche Analyse von František Palacký unterstützt wurde.14 Auch wenn die Teilnahme an den Sitzungen nicht seiner Idealvorstellung von einem gut verbrachten Tag entsprach, gerade auch im Anbetracht von geschäftlichen und anderen gesell-

10 Dvanácté sezení zemského sněmu království českého, in  : Národní listy, 7.2.1863, S. 1. 11 Bspw. SOkA Sokolov, Nl. Dotzauer, Tagebuch 7.3.1863  : »Herbst sprach famos  !« 12 Zu Schmeykals Rolle im Böhmischen Landtag Vgl. Josef Tomeš, Tváře našich parlamentů, Praha 2012, 391. Autor des Stichworts ist Lothar Höbelt. 13 Notizen zu den Gesprächen mit Schmerling finden sich an mehreren Stellen des Tagebuchs  : »Er (Schmerling – Anm. d. Autors) war sehr freundschaftlich und vertraut zu mir.« SOkA Sokolov, Nl. Dotzauer, Tagebuch 1.12.1863. 14 Ot to Urba n, Die tschechische Gesellschaft 1848 bis 1918, Bd. I, Wien 1994, 249–255.

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schaftlichen Aktivitäten,15 unternahm Dotzauer dieses Unterfangen in voller Überzeugung von der Ernsthaftigkeit und Sinnhaftigkeit seines Engagements, wie sein privater Ausruf in seinem Tagebuch am Ende der Legislaturperiode im März 1863 beweist  : »Hoch unserem Deutschtum  ! Gott erhalte uns und Österreichs  !«16 Ein genauerer Blick auf Dotzauers Agenda im Landtag zeigt ihn nicht nur als Organisator und Hüter des gemeinsamen Handelns der deutschen Liberalen, sondern auch als Experten für Wirtschafts- und Finanzfragen. So befasste er sich beispielsweise mit den Umständen der Gründung einer Hypothekenbank des Königreichs Böhmen. Er widersetzte sich aktiv dem Plan, den Bau des städtischen Gaswerks in Prag finanziell zu unterstützen, und zog es vor, die Gasversorgung einem privaten belgischen Unternehmen anzuvertrauen.17 Dotzauer vertrat die Interessen des Prager Handelsstandes im Landtag, als er gegen die Einführung einer Maut auf Lebensmittel kämpfte, die mit dem Zug zum Prager Bahnhof gebracht wurden. Während seiner gesamten Amtszeit versuchte er, zum wirtschaftlichen Aufschwung seines heimatlichen Erzgebirges beizutragen. Er setzte sich für den Bau einer Eisenbahnlinie in die Region ein. Aus wirtschaftlichen Gründen war er ausnahmsweise auch bereit, sich gegen seine deutschen Kollegen auszusprechen. Dies war zum Beispiel bei einer Debatte im Februar 1866 der Fall, als es um die Funktionsweise der Strafanstalten ging. Damals wurde Dotzauer zeitweise sogar zum Verfechter der Landesautonomie, allerdings nur in einem Einzelfall. Ironischerweise war sein Diskussionspartner Karel Sladkovský, der eine ähnliche Auffassung vertrat, und Schmeykal vertrat die gegensätzliche Position. Konkret ging es um die Frage, ob die Regierung über die Statthalterschaft oder das Land und der Landtag über die Einweisung von Personen in die Vollzugsanstalten entscheiden sollte. Schmeykal vertrat die Auffassung, dass das Land den Strafvollzug zweifellos verantworten sollte, die Regierung sich aber die Strafgewalt nicht aus der Hand nehmen lassen dürfe. Dotzauer hingegen war der Ansicht, dass der Landesausschuss die Entscheidung nicht nur deshalb treffen sollte, weil das Land die Kosten für den Betrieb der Vollzugsanstalten trug, sondern wies auch anhand konkreter Beispiele darauf hin, dass die Auswahl dieser Personen nicht immer korrekt sei. Den Interessen des Landes wäre also besser gedient, wenn es diese Kompetenz in den eigenen Händen halten würde.18 Wenn Dotzauer also von der Sinnhaftigkeit eines Vorgehens überzeugt war, das die Lösung bestimmter Fragen der lokalen oder Landesebene überließ, konnte er sich von der zentralistischen 15 Vielsagend seine Seufzer im Tagebuch, wo er am 2., 3., 4. und 5. März bemerkte »Nichts als Sitzungen«. SOkA Sokolov, Nl. Dotzauer, Tagebuch 2.–5.3.1863. 16 »Hoch [keineswegs Heil  ! – Anm. Valenta] unserem Deutschtum  ! Gott erhalte uns und Österreich  !« Ebd., 30.3.1863. 17 Das Plenum des Landtags vertrat jedoch auch mit Hilfe der Stimmen anderer deutscher Liberaler die gegenteilige Auffassung. Stenographische Berichte, Jg. 1864, 9.5.1864, 5–6. 18 Ebd., Jg. 1866, 19.2.1866, 28.

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Leitlinie lösen. Er reagierte besonders empfindlich auf jeden Transfer von Finanzmitteln außerhalb des Königreichs. In diesem Fall war er sich der Tatsache bewusst, dass die wirtschaftlichen Ressourcen des Landes beiden ethnischen Gruppen, die es bewohnten, zugutekamen. So wandte er sich zum Beispiel gegen einen Vorschlag des Prager Erzbischofs, einen kleinen Betrag von dreihundert Gulden an einen wohltätigen Wiener Verein zur Unterstützung armer Mägde zu zahlen. Auch in anderen Fällen verfolgte er die Ausgaben des provinziellen Reichtums recht detailliert. Die veränderte politische Situation in der Habsburgermonarchie nach der Niederlage bei Königgrätz brachte neue Herausforderungen für Dotzauers politische Tätigkeit. Für die deutschen Liberalen bedeutete Königgrätz nicht nur die Niederlage der österreichischen Armee, sondern eine totale Niederlage des bestehenden politischen Systems, das nur halbherzig auf eine liberale Ordnung hingearbeitet hatte. Vielleicht flossen diese Gedanken auch in das zweistündige Gespräch Dotzauers mit dem neuen Außenminister Baron Beust Anfang November 1866 ein.19 Wir wissen nicht, ob die Möglichkeit, dass sich die deutschen Liberalen mit dem dualistischen Wiederaufbau des Reichs im Ausgleich für eine weitere Garantie ihrer herausragenden Position in Cisleithanien abfinden würden, bereits bei dieser Gelegenheit angesprochen wurde. Immerhin war Beust damals nur Außenminister. Bezeichnenderweise war es Dotzauer, der Beust in diesen entscheidenden Monaten über die Lage in Böhmen Bericht erstattete. Weniger als eine Woche später wurde Dotzauer auch vom Kaiser zur Audienz geladen, der ihm kurz zuvor den Orden der Eisernen Krone verliehen hatte. Während des Gesprächs versicherte der Kaiser Dotzauer, dass er von dessen Loyalität wisse und sich gerne auf dessen Dienste verlassen wolle.20 Der Böhmische Landtag trat erst Ende 1866 zusammen, und seine Beratungen wurden erneut zu einem Schauspiel rhetorischer Duelle für oder gegen die Föderalisierung des Reichs. Am Vorabend der Eröffnung des Landtags hatte Dotzauer für ein Treffen mit seinen Abgeordnetenkollegen eine kurze Rede vorbereitet, deren Inhalt viele der Argumente vorwegnahm, die in den folgenden Tagen in der Debatte zur Sprache kommen sollten. Die Kriegserfahrungen des jüngsten Konflikts hätten ihn in seiner Überzeugung bestärkt, dass die Integrität des Reichs, die die einzige Sicherung der Machtposition der Monarchie sein sollte, gewahrt werden müsse, so Dotzauer. Er betonte jedoch, dass die Stärke Österreichs vom Funktionieren seines politischen Systems und seiner verfassungsmäßigen Institutionen abhänge. In dieser Hinsicht müsse sichergestellt werden, dass ein aktiver Reichsrat und in »angemessenem Umfang die regionalen Körperschaften« an der Gesetzgebungstätigkeit beteiligt sein würden. Die Wahl der Terminologie zeigt also eine Tendenz, die Landtage in die Arbeit einzubeziehen, ihnen aber gleichzeitig keine Bedeutung zu geben, die 19 SOkA Sokolov, Nl. Dotzauer, Tagebuch, 9.11.1866. 20 Ebd., 14.11.1866.

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zu föderalistischen Interpretationen führen und an die Idee des böhmischen Staatsrechts erinnern könnte. Dotzauer sprach auch einen Aspekt an, der ihm als gewähltem Mitglied der Handels- und Gewerbekammer besonders am Herzen lag, als er über Eigentum und interessenbezogene Vertretung sprach. Er reagierte damit auf die tschechischen Vorschläge zur Änderung der Wahlordnung, die für die Zukunft keine Mandate für die Handels- und Gewerbekammern vorsahen und stattdessen die Zahl der Sitze in der Landkurie leicht erhöhten, um eine stärkere tschechische Vertretung zu erreichen.21 Dotzauer legte seine Ansichten über die Rolle der Landtage in einem Memorandum an Handelsminister Freiherr von Müllersdorf zur Verteidigung der Handelsund Gewerbekammern dar. Seiner Ansicht nach stellte der Landtag kein klassisches Repräsentativorgan modernen Typs dar, das die Zahl der Wähler und deren Steuer­ kraft repräsentierte. Er betrachtete den Böhmischen Landtag als eine moderne Form eines Standesorgans, das dank der Kurie der Handels- und Gewerbekammern auch eine starke Position für die Vertreter des Großhandels und der Industrie bot.22 Interessant ist, dass Dotzauer nicht zögerte, die traditionelle feudale Terminologie zu verwenden, die eher für die Vertreter des historischen tschechischen Adels und in begrenztem Maße für die tschechische bürgerliche Politik typisch war, um die Position der Kammer (und damit der deutschen Partei im Landtag) zu verteidigen, obwohl es offensichtlich war, dass dieses Instrument für einen ganz anderen Zweck eingesetzt wurde. In den folgenden Jahren, in denen die österreichische Politik von den Liberalen dominiert wurde, war Dotzauer weiterhin eine der zentralen Figuren, die politische Positionen formulierten und deren Aufgabe es war, die Beziehungsnetze zwischen den wichtigen Akteuren der politischen Auseinandersetzung, auf die sich die deutsche liberale Partei stützen konnte, pragmatisch zu stärken. Besonders wertvoll waren seine Verbindungen zur Geschäftswelt und zur Statthalterei in Prag. In der tschechischen Öffentlichkeit war Dotzauer damals eine der unbeliebtesten Figuren der deutschen Politik in Böhmen. Dies bewies er zu einer Zeit, als die Verhandlungen über die grundlegenden Artikel endgültig scheiterten und die tschechische Öffentlichkeit unangenehme Briefe an ihn richtete. Während das kaiserliche Reskript vom 12. September 1871, in dem der Kaiser die Krönung und die Wiederherstellung der historischen Rechte des Böhmischen Königreichs versprach, von tschechischen Druckereien in einer festlichen Fassung gedruckt wurde und öffentliche Räume schmückte, erwartete das Reskript mit der Ablehnung dieser fundamentalen Punkte ein anderes Schicksal. Damals druckte die Druckerei von Jan Skrejšovský den Text des kaiserlichen Reskripts auf Toilettenpapier. Die Beleidigung des Kaisers und der 21 Ebd., Fasz. Reden, 4.12.1866. 22 Edmu nd Schebek, Richard Ritter von Dotzauer, Prag 1895, 136.

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Monarchie wurde dann durch die Übersendung von Umschlägen mit dem R ­ eskript auf bereits offensichtlich benutztem Papier an die Prager Statthalterei vollendet. Mehrere solcher Umschläge erreichten jedoch auch Dotzauers Haus. Interessanterweise bewahrte der Empfänger diese auf und versah den Umschlag sogar mit einem Aufkleber, auf dem stand, dass es sich um ein Zeugnis der politischen Debatte in Böhmen im Jahr 1871 handelte.23 Der Höhepunkt des Zusammentreffens von Dotzauers politischen Ambitionen und seinen Kenntnissen des Bankwesens waren die Ereignisse rund um die ChabrusWahlen 1872. Im Mittelpunkt der Taktik der deutschen Partei im Vorfeld der Landtagswahlen im April stand der Versuch, möglichst viele Landgüter zu erwerben, deren Besitz mit dem Wahlrecht in der ersten Wahlkurie verbunden war. Damit sollte die Zahl der Wähler für die verfassungstreue Partei erhöht und so eine verfassungstreue Mehrheit im Landtag erreicht werden. Bereits im März hatte Dotzauer in seiner Eigenschaft als Vorstandsvorsitzender mit den Wiener Bankiers Lippmann und Mautner verhandelt.24 Und zwar über finanzielle Mittel, die die Wiener Banken für den Kauf von Gütern zur Verfügung stellen konnten. Am 30. März erschien Dotzauer im Büro des Statthalters, wo Baron Koller ihn bat, ein Konsortium zu leiten und einen Verfügungsfonds zu gründen, mit dem der Ankauf von Gütern durchgeführt werden sollte. Dotzauer begann die Zusammenarbeit mit Karl Auersperg, Moritz Zdekauer und Johann Starck. Die finanzielle Dimension des ganzen Unterfangens übertraf alle bisher durchgeführten Kampagnen, was Dotzauer mit dem Seufzer, dass es ein teurer Kampf sei, durchaus bewusst war.25 Für den Erfolg der Aktion war es wichtig, dass die von Dotzauer geführte Unionsbank die Aktienemission des neu gegründeten Finanzinstituts Credit foncier übernahm, das nach den Wahlen die Immobilien der Eigentümer zu einem Zeitpunkt übernahm, als deren Wert drastisch gesunken war. Dotzauers Hauptaufgabe bestand darin, sich an der raschen Bereitstellung von Kapital zu beteiligen, das innerhalb weniger Wochen von den verschiedenen Wiener Institutionen zur Verfügung gestellt und überwiesen werden musste. Insgesamt gelang es der konstitutionellen Partei, vor der Wahl achtunddreißig Güter zu erwerben, und der Gesamtbetrag, für den der Kauf getätigt wurde, belief sich auf fast neuneinhalb Millionen Gulden.26 Diese Mittel reichten aus, um der verfassungstreuen Partei die Kontrolle über die erste Kurie des Landtags zu ermöglichen. Der Böhmische Landtag 23 AHMP, Dotzauer. Den Fall des kaiserlichen Reskriptes auch bezüglich der »anhaftenden« Beweismittel beschreibt Luboš Velek, Böhmisches Staatsrecht auf »weichem Papier«  : Tatsache, Mythos und ihre symbolische Bedeutung in der tschechischen politischen Kultur, in  : Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 47, 2006/07, 103–118. 24 SOkA Sokolov, Nl. Dotzauer, Tagebuch 3.3.1872. 25 »Es sind dies doch recht kostspielige Kämpfe.« Ebd., 30.3.1872. 26 Das tschechische Konsortium investierte im Gegensatz dazu die Hälfte. Ja rosl av Purš, Volby do českého zemského sněmu v dubnu 1872, Praha 1987, 136.

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nahm damit eine aus zentralistischer Sicht angemessene Form an, und der Entsendung von Abgeordneten in den Wiener Reichsrat, die einer Verfassungsreform hin zu direkten Wahlen in den Reichsrat wohlgesonnen waren, stand nichts im Wege. So konnte Ende April eine feierliche Soiree im Gebäude des Statthalters abgehalten werden, zu der auch Koller, Karl Auersperg und Minister Banhans kamen, und Dotzauer freute sich, dass die Führer der deutschen Partei mit ihm anwesend waren.27 Dotzauers Herangehensweise an den Landtag war systematisch. Die Kommissionen, denen er angehörte, wurden in all seinen Amtsperioden wiederholt. Dies gab ihm die Möglichkeit, bei Bedarf substanzielle Kommentare zu den diskutierten Themen abzugeben. Im Vergleich zu anderen der Unternehmen hatte er eine relativ lange Amtszeit. Gemeinsam mit den anderen deutschen (deutschösterreichischen) liberalen Abgeordneten widmete er sich der Verwaltung des Böhmischen Königreichs in jenen Bereichen, die durch die österreichischen Verfassungsgesetze für den Landtag festgelegt waren. Daraus lässt sich vielleicht schließen, dass Dotzauer und seine Parteifreunde das Land als ihre Heimat betrachteten, zu deren positiver Entwicklung sie beitragen wollten, auch wenn die Verhältnisse in Böhmen gleichzeitig einen ständigen Kampf um die Vorherrschaft zwischen den beiden Nationalitäten bedeuteten und die Emanzipation der tschechischen Gesellschaft unbestreitbar und offensichtlich war. Die Selbstverständlichkeit der politischen Führung der deutschen liberalen Partei leiteten diese Männer aus der vermeintlichen zivilisatorischen Überlegenheit der deutschen Kultur ab, die der natürliche Garant für den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt sei. Diese Behauptung stand jedoch im Widerspruch zur gesellschaftlichen Realität in Böhmen, wo die Dominanz der deutschen Liberalen von der tschechischen politischen Vertretung, aber im Laufe der Zeit auch von jenen politischen Lagern in der deutschen Gesellschaft bekämpft wurde, deren Popularität in den unteren sozialen Schichten verwurzelt war.28 Viele von Dotzauers Aktivitäten zeigen, dass er sich der Gefahren des limitierten Aktionsradius bewusst war und sich mit seinen Projekten an das weniger wohlhabende soziale Milieu wandte. Letztlich sah aber auch er die Auftraggeber seiner Projekte immer eher als passive Empfänger von Ressourcen oder Ideen, die aus dem Epizentrum der Macht in der deutschen Gesellschaft in Böhmen kamen. Ein solches Verhalten verdeutlichte jedoch der breiten deutschen Öffentlichkeit die soziale Exklusivität der oberen Schichten der deutschen Gesellschaft, was letztlich zum Ende der politischen Dominanz der Liberalen in Österreich beitrug.29 27 SOkA Sokolov, Nl. Dotzauer, Tagebuch 29.2.1872. 28 In diesem Zusammenhang verweist J. Štaif nicht nur auf die zweifelhaften Vorstellungen von zivilisatorischen Leistungen der Liberalen, sondern auch auf ihr schwaches Koalitionspotential. Vgl. Jiří Šta if, Modernizace na pokračování. Společnost v českých zemích (1770–1918), Praha 2020, 176. 29 Den politischen Rückzug der Liberalen und das Aufkommen alternativer politischer Formationen verfolgt Ga ry B. Cohen, The politics of ethnic survival. Germans in Prague, 1861–1914, Princetown 1981, 141f.

Christian Neschwara, Wien*

»Die Schönerianer und der Abgeordnete Löcker« Eine Episode aus der Geschichte des allgemeinen Wahlrechts in Österreich

1. Einleitung 1 In seinen Arbeiten zum Parlamentarismus in der Habsburgermonarchie hat sich Lothar Höbelt oft mit Spielarten und Facetten parlamentarischer Obstruktion auseinandergesetzt.2 Wohl einmalig scheint eine Aktion im Abgeordnetenhaus aus Anlass der Ankündigung der Regierung über den vorzeitigen Schluss der Reichsratssession am 5. Februar 1909 gewesen zu sein  :3 Berichten der Presse4 zufolge war es im Anschluss an die Ankündigung der Regierung im Reichsratssaal zu einer handfesten »Keilerei« (Neue Freie Presse) zwischen Tschechen und Deutschen nach Art einer »Kirchmeßrauferei« (Reichspost) gekommen. Die »Prügelei« (Arbeiter-Zeitung) löste sich erst auf, nachdem »im ganzen Haus« Lieder angestimmt worden waren  : Den Beginn in diesem »Kampf der Gesänge« (Reichspost) machten die Tschechen mit nationalen Kampfliedern, »worauf die Sozialdemokraten das Lied der Arbeit anstimmten, die Bürgerlichen mit der Volkshymne konterten und die Freiheitlichen als Draufgabe noch ›Die Wacht am Rhein‹ zum Besten gaben.«5

* Abkürzungen  : RGBl.: Reichsgesetzblatt für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder. StPAH 1907  : Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrates im Jahre 1907, Band XLIII (440.−453. Sitzung, Seite 39165 bis 40154), Band XLIV (454.−464. Sitzung, Seite 40055−41010), Wien 1907. 1 Das Zitat im Titel des Beitrags findet sich als Untertitel zum Artikel Reichsrath. Abgeordnetenhaus, in  : Deutsches Volksblatt, 13.11.1906 A, 3. 2 Loth a r Höbelt, Parteien und Fraktionen im cisleithanischen Reichsrat, in  : Helmut Rumpler – Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848−1918 (Verfassung und Parlamentarismus  : Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit, zentrale Repräsentativkörperschaften, 7/1), Wien 2000, 952−960 passim  ; Loth a r Höbelt, Kornblume und Kaiseradler. Die deutschfreiheitlichen Parteien Altösterreichs 1882−1918, Wien 1993, 150−166, 166−180. 3 Hierzu Höbelt, Parteien, 980. 4 Höbelt bezog sich auf den Bericht der Grazer Tagespost. – Vgl. Österreichischer Reichsrat, in  : Neue Freie Presse, 5.2.1909 A, 2  ; Die Schließung der 18. Reichsratssession, in  : Reichspost, 6.2.1909, 2f.; Die Schlußsitzung, in  : Arbeiter-Zeitung, 6.2.1909, 2. 5 Höbelt, Parteien, 980.

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Eine diesem »Wettgesang«6 vergleichbare Darbietung, durch Anstimmen von Studentenliedern, hatte sich im Abgeordnetenhaus ein gutes Jahr davor zugetragen, zu Beginn der zweiten Lesung der Wahlrechtsreformvorlagen, welche Anfang 1907 zur Einführung des allgemeinen, gleichen Männer-Wahlrechts in Österreich führen sollte. In Zusammenhang mit der Verlesung des Ausschussberichts kam es am 7. November 1906 im Abgeordnetenhaus zu einer Obstruktion alldeutscher Abgeordneter gegen den Berichterstatter des Wahlreformausschusses, Rechtsanwalt Dr. Julius Löcker, deutschfreiheitlicher Abgeordneter der Stadtgemeindekurie für den Wahlkreis Linz in Oberösterreich.7 Im Mittelpunkt der Übergriffe der Alldeutschen stand der Vorwurf des Verrats am deutschen Volk – was damals wohl als eine ehrenrührige Injurie empfunden werden konnte, zumal der Beleidigte in Wien Mitglied der schlagenden Burschenschaft Germania war.8

2. Die Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts 2.1 Vorgeschichte Nachdem 1896 die Einführung einer fünften neben den seit 1861 bestehenden vier Wählerklassen dem allgemeinen Wahlrecht bereits den Boden bereitet hatte, sollte das alte Kurienwahlrecht mit seinen Privilegien für Großgrundbesitz und Handelsund Gewerbetreibende alsbald durch ein für alle großjährigen männlichen Staatsbürger gleiches Wahlrecht abgelöst werden.9 Vorangegangen war eine von der österreichischen Sozialdemokratie unter der Parole »Weg mit den privilegierten Kurien« initiierte Kampagne.10 Unter Eindruck der nach Niederlagen im russisch-japanischen Krieg im Zarenreich Anfang Jänner 1905 ausgelösten sozialrevolutionären  6 Neue Freie Presse, wie Anm. 4, 2.  7 Löcker Julius, in  : H a rry Sl a pnick a, Oberösterreich – Die politische Führungsschicht 1861 bis 1918, Linz 1983, 153f.  8 Löcker Julius, in  : Helge Dvor a k (Hg.), Biographisches Lexikon der Deutschen Burschenschaft (Politiker. I−L, 1/3), Heidelberg 1999, 301f.  9 Neben den 353 den bestehenden Kurien (Großgrundbesitz, Handels- und Gewerbekammern, Stadtund Landgemeinden) vorbehaltenen Mandaten hatten die 72 Wahlkreise, in denen ohne Bindung an einen Zensus gewählt werden durfte, kein nennenswertes Gewicht  : Vgl. Loth a r Höbelt, Die Wechselwirkung von Wahlrecht und Parteiensystem, in  : Thomas Simon (Hg.), Hundert Jahre allgemeines und gleiches Wahlrecht in Österreich. Modernes Wahlrecht unter den Bedingungen eines Vielvölkerstaates, Frankfurt am Main−Berlin−Bern−Bruxelles−New York−Oxford−Wien 2010, 155−157. − Die wenigen Frauen, denen aufgrund ihrer Steuerleistung zumindest ein aktives Wahlrecht (durch Ehemann oder Stellvertreter) zukam, waren vom Wahlrecht nun vollends ausgeschlossen  : Ilse R eiter, »Das Wahlrecht gebt uns frei  !«. Kampf der Sozialdemokratie für das allgemeine und gleiche Reichsratswahlrecht, in  : ebd., 199−212, hier  : 203. 10 R eiter, Wahlrecht, 186.

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Bewegungen und der innenpolitischen Umwälzungen in Ungarn nach dem Sieg der Unabhängigkeitspartei bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus in Budapest11 führte dies in Ungarn zur Vorlage eines Entwurfs für ein allgemeines Wahlrecht12 und hatte in Cisleithanien eine Befeuerung der Diskussion um seine Einführung zur Folge.13 Während die Regierung in Ungarn die Einführung des allgemeinen Wahlrechts – im Hinblick auf die Gefahr einer (weiteren) Stärkung der Sozialdemokraten – verhindern konnte, kam es in Cisleithanien – dessen ungeachtet – Anfang 1907 zu seiner Einführung.14 Den Beginn machte ein von Sozialdemokraten mit Unterstützung der Tschechen und Südslawen in der Herbstsession des Reichsrats am 6. Oktober 1905 eingebrachter Dringlichkeitsantrag auf Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts zum Abgeordnetenhaus, welcher die erforderliche Zweidrittelmehrheit mit 155 Pro- bei bloß 114 Gegenstimmen aber deutlich verpasste.15 Bis zum geplanten Wiederzusammentritt des Reichsrats Ende November kam es zu einer Serie von sozialdemokratisch organisierten Massenkundgebungen, insbesondere in Wien und Prag. Unter diesem Druck sah sich die Regierung unter Ministerpräsident Gautsch zu einem Einlenken in der Wahlreformfrage genötigt und stellte die Ausarbeitung eines Entwurfs bis Februar 1906 in Aussicht.16 2.2 Die Wahlreform im Reichsrat 2.2.1 Einbringung im Abgeordnetenhaus Am 23. Februar 1906 kam es dann tatsächlich zu einer Wahlreformvorlage im Abgeordnetenhaus, getragen von den »Grundgedanken der Beseitigung aller Wahlvorrechte und jedes Zensus« sowie der Intention, »nationale Wahlrechtsverluste möglichst zu verhüten«.17 Während der Entwurf von den Sozialdemokraten und den Christlichsozialen unterstützt wurde, war bei den deutschfreiheitlichen Parteien keine klare Linie festzustellen. Die in der Deutschen Volkspartei organisierten Deutschnationalen, welche 1896 mit einem Zugewinn von Mandaten (von 12 auf 11 Höbelt, Kornblume, 249  ; Höbelt, Parteien, 970. 12 Ist vá n Szá bo, Das ungarische Wahlrecht am Anfang des 20. Jahrhunderts, in  : Simon (Hg.)  ; Hundert Jahre Wahlrecht, 277−285, hier  : 280. 13 R eiter, Wahlrecht, 187ff. 14 Zum äußeren Ablauf Willi a m A. Jenks, The Austrian Electorial Reform of 1907, New York 1950, 27ff. (Initiative), 40ff. (Regierungsvorlage), 53ff. (Verhandlungen in Verfassungsausschuss und Plenum Abgeordnetenhaus), 62ff. (Verhandlungen Herrenhaus)  ; ferner Höbelt, Parteien, 970−974  ; R eiter, Wahlrecht, 188−195. 15 Ebd., 188  ; Höbelt, Parteien, 971. 16 R eiter, Wahlrecht, 191f.; Höbelt, Kornblume, 249. 17 Gautsch anlässlich der Einbringung, zitiert nach R eiter, Wahlrecht, 192.

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31) einen bemerkenswerten Erfolg verzeichnen konnten, weil sie die Einführung der allgemeinen Wählerklasse vor allem als Waffe gegen die (Alt-)Liberalen erfolgreich einzusetzen wussten18, waren angesichts der prognostizierten Wahlerfolge für die Sozialdemokraten19 gespalten  : Unter den Abgeordneten aus den Alpenländern bestand eher Ablehnung, nicht so sehr aber bei jenen aus den Sudetenländern.20 Auch bei den Deutschfortschrittlichen und den deutschen Agrariern waren die Meinungen in dieser Frage geteilt. Nur die Deutschradikalen und Alldeutschen waren der Wahlreform als entschiedene Gegner entgegengetreten, ebenso wie die konservativen Fraktionen der katholischen Volkspartei und der Großgrundbesitz. Unter den nichtdeutschen Nationalitäten standen die Tschechen und Südslawen sowie die polnische Volkspartei und die galizischen Ruthenen überwiegend auf der Seite der Befürworter der Reform, auf entschiedene Ablehnung stieß sie nur bei den tschechischen Agrariern, den liberalen Slowenen und Alt-Polen sowie allgemein beim Großgrundbesitz.21 2.2.2 Im Wahlreformausschuss  : Löckers Kompromissvorschlag Ende März 1906 wurde ein Wahlreformausschuss gewählt, dessen 49 Mitglieder im Oktober 1905 mehrheitlich noch im Lager der Gegner des allgemeinen Wahlrechts gestanden waren. Es überrascht, dass es schlussendlich doch zu keiner Verhinderung der Wahlreform kommen konnte  : Im Hintergrund stand ein politisches Tauschgeschäft mit der polnischen Volkspartei, welche sich gleich nach Konstituierung des Ausschusses im Abtausch für ihre Zustimmung zur Wahlreform eine Erweiterung der Landesangelegenheiten zusichern ließen.22 Die Verhandlungen im Ausschuss,23 die über mehr als 60 Sitzungen umfassten, begannen am 28. März 1906 mit einer »Generaldebatte«, welche sich über sechs Sitzungen bis zum 18. Mai erstreckte und von 25. Mai bis 19. Juli in eine »Spezial­ debatte« über die Festlegung des Verteilungsschlüssels für die Mandatsverteilung auf die einzelnen Länder und insbesondere die Wahlkreiseinteilung überging. Der 18 Loth a r Höbelt, Die Vertretung der Nationalitäten im Reichsrat, in  : Herbert Schambeck (Hg.), Österreichs Parlamentarismus. Werden und. System, Berlin 1986, 185−222, hier  : 206  ; Höbelt, Kornblume, 129  ; Höbelt, Parteien, 952f. 19 Nach der Erweiterung des Kurienwahlrechts 1896 konnten sie zunächst nur 14 der 72 Mandate in der allgemeinen Wählerklasse für sich verbuchen  : R eiter, Wahlrecht, 184. 1906 wurde damit gerechnet, dass ihnen von den künftig 516 Abgeordnetensitzen bis zu 60 zufallen könnten  : Höbelt, Kornblume, 356. 20 Ebd., 249f.; Höbelt, Parteien, 971. 21 Ebd.; Höbelt, Kornblume, 251f. 22 2727 der Beilagen zu den StPAH 1907, Band XXVII (enthaltend die Beilagen 2727 bis 2741), 193, sowie eine Resolution dazu ebd., 80a. 23 Im Überblick Jenks, Reform 55–64.

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Druck auf die Ausschussmitglieder in ihrem Ringen um einen Kompromiss zur Abgrenzung der nationalen »Besitzstände« in multinationalen Ländern wurde durch einen zweimaligen Regierungswechsel verstärkt. Nachdem der kurzfristig zum Ministerpräsidenten berufene Konrad Hohenlohe im Ausschuss erklärte, dass »die Reform nicht scheitern« dürfe, und der Ausschuss »den Abschluß des Kompromisses weiter […] betreiben«24 möge, hatte sich auch sein Nachfolger Max Waldimir Beck im Ausschuss für die Fortführung der Wahlrechtsreform auf Basis der in Verhandlung stehenden Vorlagen ausgesprochen25  : Die Wahlrechtsreform gehöre zu den »brennendsten aller Fragen«, die Regierung erachte »die Durchführung der Wahlreform als eine ihrer hauptsächlichsten Aufgaben«, sie beabsichtige »nicht […], die Regierungsvorlagen zu modifizieren oder neue Vorschläge zu machen«, weil dies »einer Verzögerung der Wahlreform gleichkommen« würde.26 Nachdem er sich im Verlauf der Sitzungen bis zum Schluss der »Spezialdebatte« zunächst nur in Zusammenhang mit der Beratung der Wahlkreiseinteilung für sein Heimatland Oberösterreich an der Debatte beteiligt27 hatte, trat Löcker am 21. Juli in der 33. Sitzung mit einem »Kompromissvorschlag« hervor, mit welchem die festgefahrenen Positionen über die Wahlkreiseinteilung in Böhmen, Mähren, Galizien, Tirol und Steiermark mit großer Mehrheit auf einen gemeinsamen Standpunkt gebracht werden konnten. In der Debatte wurden die von ihm über die Anzahl und verhältnismäßige Aufteilung der Wahlkreise in den umstrittenen multinationalen Ländern gemachten Vorschläge übernommen.28 Als am 29. Oktober 1906 die Vorberatungen im Wahlreformausschuss beendet waren, standen 32 Pro- gegen 12-Gegenstimmen (bei 4 Enthaltungen).29 Zum Berichterstatter des Ausschusses wurde Julius Löcker bestimmt  ; er war von der Unabwendbarkeit der Wahlreform überzeugt, aber auch bemüht, durch die Wahlkreiseinteilung der deutschen Volksgruppe eine allzu weitgehende Beschneidung ihres »nationalen Besitzstandes« zu ersparen.30 24 2727 Beilagen StPAH 1907, 219. 25 Vgl. Höbelt, Kornblume, 251. 26 2727 Beilagen StPAH 1907, 233. 27 Ebd., 245. 28 Ebd., 415, 418, 421, 423, 428. − Zu Zusammensetzung und Haltung der Mitglieder in der Wahlreformfrage  : Höbelt, Parteien, 971 Anm. 156. Zu den Gegnern zählten  : 2 Alldeutsche und 1 Deutschradikaler, je 1 deutscher und 1 tschechischer Agrarier, 1 tschechischer National-Sozialer, 1 Ruthene, 2 Feudale. Unter den 4 Enthaltungen 3 Mitglieder des verfassungstreuen Großgrundbesitzes  : Ebd., 973 Anm. 160. 29 2727 Beilagen StPAH 1907, 1–14 (Bericht Wahlreformausschuss). 30 StPAH 1907, 39560  : »In Wahrheit sind die Anträge des Ausschusses ein Kompromiss«, erklärte Löcker  ; dieser komme »zur Geltung in der Qualifikation der wahlberechtigten Person, in der … Frage der national abgegrenzten Wahlbezirke … zum Schutze der Nationen, in der Verminderung der nationalen Reibungsflächen, in einer gewissen Berücksichtigung der Steuerleistung, des Bildungsgra-

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2.2.3 Die Debatten im Plenum 2.2.3.1 Ausgangslage Dass der Ausschuss von einer deutschen Mehrheit getragen war, konnte natürlich nicht als ein Indiz für eine entsprechende Zustimmung im Plenum gewertet werden, weil die Deutschen dort schon lange über keine Mehrheit mehr verfügten  ; überdies bestanden unter den Fraktionen der deutschen Abgeordneten unterschiedliche politische Interessen und weltanschauliche Positionen.31 Unter den slawischen Abgeordneten kamen außerdem nationale Differenzen hinzu, sodass auch eine slawische Mehrheit realistischerweise kaum erwartet werden konnte. In der politischen Praxis war die Frage einer deutschen oder slawischen Mehrheit im Abgeordnetenhaus auch ohne Auswirkungen geblieben, weil sich die Regierung für ihre legislativen Programme stets passende »Arbeitsmehrheiten« suchen musste.32 Auch 1906 hatte Ministerpräsident Beck, der im Mai 1906 auf Gautsch und Hohenlohe gefolgt war, diesen Weg beschritten  : Mittels »Parlamentarisierung« des Kabinetts sollte durch Einbindung der besonders betroffenen Nationalitäten verhindert werden, dass sich einer der großen nationalen Blöcke als Hindernis für den Erfolg der Wahlreform herausstellen könnte. Störungen waren aber von Randgruppen zu erwarten, und zwar weniger von den tschechischen Radikalen als vielmehr von den Alldeutschen33, welche die Einführung des allgemeinen Wahlrechts vehement bekämpften, weil sie danach mit einer »slawischen« Übermacht im Abgeordnetenhaus rechneten. Rein rechnerisch betrachtet, war diese Mehrheit auch evident  : Den Deutschen sollten – nach den unter Federführung von Löcker ausgearbeiteten Vorschlägen des Wahlreformausschusses – von den künftig 516 Abgeordneten nur mehr 233 Mandate zukommen. 2.2.3.2 Abstimmung über die Dringlichkeit  : Erfolg der Wahlreformbefürworter Um der Wahlreform – angesichts der Kürze der Legislaturperiode und der langwierigen Vorberatungen im Ausschuss, welche zu einem tragfähigen Kompromiss geführt hatten34 – möglichst rasch zum Erfolg zu verhelfen, wurde am 5. November des und wirtschaftlicher Verhältnisse, in Rücksicht auf die Bevölkerungszahl innerhalb der einzelnen Wahlkreise, in der Bestimmung, daß jede Gemeinde Wahlort sei und in der Vermeidung einer allzu sprunghaften und darum ungesunden Entwicklung und Ausgestaltung des Wahlrechtes, die mit der allgemeinen Berücksichtigung der Kopfzahl verbunden wäre«. 31 Nur unter Einrechnung des (deutschensprachigen) Großgrundbesitzes wäre rein rechnerisch eine Mehrheit bis 1907 möglich gewesen  : Höbelt, Nationalitäten, 212. 32 Höbelt, Kornblume, 181, 254. 33 Höbelt, Parteien, 971f. 34 Abgeordneter Geßmann (christlichsozial) in der Begründung seines Antrags  : StPAH 1907, 39438.

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1906 im Plenum die »Dringlichkeit« der Behandlung der Wahlreform beantragt. Die anschließende Debatte, welche sich über die nächsten Tage bis 7. November erstreckte, wurde schließlich beim Stand von noch etwa 60 Abgeordneten auf der Rednerliste durch einen erfolgreichen Antrag auf Schluss der Debatte beendet. Bei der Abstimmung wurde mit 227 Pro- und 46-Contrastimmen die für die Dringlichkeit erforderliche Zweidrittelmehrheit klar erreicht, um die zweite Lesung der Wahlreform sofort in Verhandlung nehmen zu können.35 Der Erfolg der Wahlreform schien – angesichts dieser deutlichen qualifizierten Mehrheit – gesichert zu sein. Dessen ungeachtet waren unter den Gegnern der Wahlreform die Alldeutschen entschlossen, den Fortgang der Verhandlungen durch Obstruktion zumindest zu verzögern. 2.2.3.3 Obstruktion der Alldeutschen gegen Berichterstatter Löcker Schon während der Abstimmung über die Dringlichkeit herrschte laut Protokoll »anhaltender Lärm« im Abgeordnetenhaussaal. Nach fast einstündiger Unterbrechung wurden die Verhandlungen mit der Berichterstattung durch Löcker wiederaufgenommen. Als er mit seinem Bericht begann, herrschte laut Protokoll abermals »Lärm«  ; »zahlreiche […] Zwischenrufe« waren von den Sitzen der Alldeutschen zu vernehmen. Sie sollten den Redner stören und hielten – trotz mehrfacher Ordnungsrufe und des Einsatzes von »Glockenzeichen« durch den Präsidenten – auch »bis zum Schlusse der Rede« an. Löcker ließ sich bis zum Ende seiner Rede aber nicht aus dem Konzept bringen. Im Protokoll wurde festgehalten  : »Lebhafter Beifall und Händeklatschen. – Der Berichterstatter wird beglückwünscht. – Großer Lärm und anhaltende Zwischenrufe«.36 Einzelheiten über die Störaktionen der Alldeutschen wurden im Protokoll nicht festgehalten. In einer Reihe von Berichten, welche in den nächsten Tagen von der Presse offengelegt wurden, kamen sie ans Tageslicht. Demnach versuchte eine Handvoll alldeutscher Abgeordneter, namentlich genannt wurden Schönerer, Stein, Malik, Iro und Herzog, den Redner durch Zwischenrufe sowie auch durch das Anstimmen von Studentenliedern zu desavouieren, bevor er das Wort ergreifen konnte. Am folgenden Tag wurde darüber berichtet  :37 »Die Alldeutschen schreien wild durcheinander«, Schönerer rief – in Anspielung an Löckers Mitgliedschaft in der Wiener Burschenschaft Germania – dem Berichterstatter entgegen  : »Heil Dir Germania  ! Heil 35 Ebd., 39438–39459, 39502–39518, 39544–39558. 36 Der Ausschussbericht wurde mit derselben Mehrheit wie der Dringlichkeitsantrag vom 5.11. angenommen  : StPAH 1907, 38561. 37 Reichsrat. Beginn der zweiten Lesung, in  : Neues Wiener Journal, 8.11.1906, 2  ; vgl. Reichsrat. Abgeordnetenhaus, in  : Deutsches Volksblatt, 8.11.1906, 3.

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dem Ergebnis der Erziehung deutscher Burschenschafter  !«  ; und setzte abschließend hinzu  : »Heil dem deutschen Burschenschafter, der dem deutschen Volk den Strick um den Hals drehen hilft  !«. Begleitet wurde er von Iro, der das Studentenlied »O alte Burschenherrlichkeit« anstimmte  ; Parteikollege Stein regte an  : »Herr Präsident, lassen Sie abstimmen, ob der Burschenschaft Germania ein Glückwunschtelegramm geschickt werden soll«, während Iro weitersang  : »Wo sind sie, die vom breiten Stein  …  ?«.38 Nachdem Löcker seinen Bericht – unbekümmert von den Angriffen der Alldeutschen – beendet hatte, legte Schönerer in der anschließenden Generaldebatte mit einem »Bannfluch« nach  : »Möge […] dieser Verrat an den Pranger gestellt, und der verdienten Verachtung preisgegeben werden  !«. Löcker und die Unterstützer der Wahlreform aus dem Lager der deutschen Parteien galten ihm als »die bewußten Totengräber der geschichtlich und kulturell begründeten bisherigen Stellung der Deutschen in Österreich«.39 Die beleidigenden Ausfälle der Alldeutschen gegen Löcker riefen auch eine Reaktion der Burschenschaft Germania hervor, welche sich – angesichts der in den Pressemedien verbreiteten Beleidigungen gegen die Burschenschaft und eines ihrer Mitglieder – mit ihrem »Alten Herrn« solidarisierte. Am folgenden Tag erschienen sodann zwei ihrer Vertreter im Reichsrat und sprachen Löcker öffentlichkeitswirksam in den Couloirs des Parlaments das »uneingeschränkte Vertrauen der Burschenschaft Germania aus«. Mehrere Pressemedien berichteten über diese studentische »Kundgebung«.40 2.3 Fortgang und Abschluss der Wahlreform41 Nach dem Spektakel der Alldeutschen am Beginn der Generaldebatte konnten die Beratungen über die Änderungen des Grundgesetzes über die Reichsvertretung und der Reichsratswahlordnung (samt Wahlkreiseinteilung) sowie über ein Gesetz zum Schutz der Wahlfreiheit zügig aufgenommen werden. Nach vier Sitzungen war die Generaldebatte bis 10. November 1906 erledigt, am 13. November schloss sich die 38 Ein- und Ausfälle, in  : Reichspost, 11.11.1906, 1  : Die Alldeutschen benahmen »sich […] wie politische Analphabeten«  : es wurde durch sie auch »eine der schönen Künste, die des Gesanges, durch ihre Inanspruchnahme blamiert«  : »Mehr laut als würdevoll erscholl die Studentenmelodie ›O alte Burschenherrlichkeit‹«. 39 StPAH 1907, 39568. 40 Neue Freie Presse, 9.11.1906 A  ; Grazer Tagblatt, 9.11.1906, 2  ; ausführlicher Neues Wiener Abendblatt, 9.11.1906, 2. – Die Innsbrucker Burschenschaft Germania, deren Ehrenmitglied Schönerer war, distanzierte sich öffentlich von Löcker (Deutsches Volksblatt, 13.11.1906). 41 Siehe zum Folgenden Index zu den StPAH 1907, 357–359 und 453, bzw. Index zu den Stenographischen Protokollen des Herrenhauses des Reichsrates XVII. Session 1901−1907, Wien 1907, 71–73.

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Spezialdebatte an, welche nach 15 Sitzungen am 1. Dezember abgeschlossen werden konnte. Im Herrenhaus, wo schon am 23. November 1906 eine Spezialkommission zur Behandlung der Beschlüsse des Abgeordnetenhauses eingesetzt worden war, wurde am 20. Dezember 1906 eine weitere Regierungsvorlage, über die Beschränkung von Pairsschüben durch Ernennung von Mitgliedern auf Lebenszeit mittels Festlegung eines numerus clausus42, eingebracht. Die Behandlung der vom Abgeordnetenhaus beschlossenen Änderungen des Grundgesetzes über die Reichsvertretung sollten im Herrenhaus aber erst auf die Tagesordnung kommen, nachdem der vom Herrenhaus beschlossene numerus clausus im Abgeordnetenhaus die erforderliche Zustimmung gefunden hatte, was letztendlich am 10. Jänner 1907 der Fall war. Die Beschlüsse des Abgeordnetenhauses über die Wahlreform wurden nun im Herrenhaus verhandelt und fanden am 21. bzw. am 24. Jänner auch dessen Zustimmung. Am 26. Jänner wurden alle vier Beschlüsse des Reichsrats gleichzeitig vom Monarchen sanktioniert.43 Am 14. Mai 1907 kam das allgemeine, gleiche Wahlrecht in Österreich erstmals zur Anwendung.

3. Resümee und Ausblick: Die Folgen der Wahlreform 3.1 Im Allgemeinen In der Beurteilung durch Lothar Höbelt brachte die Wahlreform 1907 »für die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses einschneidende Änderungen […] – und auch wieder nicht«  :44 Auf der einen Seite verschwand der adelige Großgrundbesitz mit seinem Anteil von gut 15 Prozent der Abgeordneten und auf der anderen Seite etablierte sich – bei verhältnismäßig mehr Abgeordneten – mit einem vergleichbaren Anteil die Sozialdemokratie als Repräsentantin der Arbeiterschaft45, was in dieser Dimension nicht erwartet worden war.46 In den Proportionen zwischen den großen nationalen Blöcken hatten sich dagegen nur geringe Veränderungen ergeben  ; die prognostizierte »slawische Mehrheit« war daher nicht zustande gekommen. Ein42 Zunächst von mindestens 150 bzw. maximal 180 Mitgliedern auf Lebenszeit, und nach den Vorschlägen der Wahlreformkommission, auf 170 fixiert. Zu diesem Problem  : Höbelt, Parteien, 973f. 43 Die Änderungen des Grundgesetzes über die Reichsvertretung in RGBl. 15 bzw. 16  ; die Reichsratswahlordnung in RGBl. 17  ; und das Gesetz zum Schutz der Wahl- und Versammlungsfreiheit in RGBl. 18. 44 Höbelt, Parteien, 975. 45 Höbelt, Wechselwirkung, 155, 158. 46 Zum Schrecken der deutschen Parteien, vor allem aber zum Entsetzen des Kaisers, dem Ministerpräsident Beck weniger als die Hälfte der errungenen Mandate, nämlich 35, prognostiziert haben soll  : Höbelt, Kornblume, 252.

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schneidender waren aber die Verschiebungen innerhalb der nationalen Blöcke im Verhältnis der jeweiligen nationalen Fraktionen zueinander47, wobei die Ergebnisse bei den Italienern und Tschechen sowie den Deutschen eine »erstaunliche Parallelität« aufwiesen.48 Unter den nichtdeutschen Parteien war eine stärkere weltanschauliche Differenzierung zu verzeichnen, womit auch eine Aufweichung der nationalen Solidarität einherging. Bei den deutschen Parteien kam es dagegen zu einer gewissen Konsolidierung durch Schärfung der Lagergrenzen mit dem Zusammengehen von Christlichsozialen und katholischer Volkspartei sowie durch die Konzentrierung der deutschnationalen Parteien und der deutschen Volkspartei in einem gemeinsamen »Nationalverband«.49 Die Beschwörung der Gefahr eines definitiven Verlusts der Mehrheit der deutschen Abgeordneten als zentrales Argument der Wahlreformgegner beruhte auf der Fiktion, dass alle deutschgesinnten Abgeordneten bei Abstimmungen bisher homogen zusammenwirkt hätten  ; dies war ebenso unrealistisch wie die Befürchtung der Entstehung einer homogenen slawischen Mehrheit mit Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts.50 3.2 Für das deutschnational-freiheitliche Lager Für das deutschnational-freiheitliche Lager brachten die Wahlen ziemlich genau eine Halbierung seines Anteils an den Mandaten. Bis 1907 waren es 13751, danach nur mehr 84 (allerdings bei gleichzeitiger Erhöhung der Zahl der Sitze im Abgeordnetenhaus von 425 auf 516)  : Dies kam einem Rückfall von 32 Prozent auf etwa die Hälfte davon gleich, abgeschlagen vom christlich-sozialen Lager mit 96 Mandaten. Aber auch die Sozialdemokraten hatten allein 50 ihrer 87 Mandate in deutschen Wahlkreisen errungen. Viele der deutschnationalen Kandidaten waren nach dem ersten Wahlgang 1907 nicht einmal in die Stichwahl gekommen. Nur in Kärnten und Salzburg wurden Direktmandate erzielt  ; im zweiten Wahlgang gelang es aufgrund erfolgreicher Allianzen mit den Sozialdemokraten aber, weitere Mandate gegen christlich-soziale

47 Ebd., 261. 48 Höbelt, Wechselwirkung, 158  ; Höbelt, Parteien, 975f. 49 Ebd., 975, 980  ; Höbelt, Wechselwirkung, 158, 163. − Zwischen den beiden Partei-Verbänden wurde nach 1907 auch vielfach zusammengearbeitet  : ebd., 164  ; ferner Höbelt, Parteien, 980  ; Höbelt, Kornblume, 258f., 261. 50 Die befürchtete slawische Mehrheit kam zwar bei letzten Reichsratswahlen 1911 zustande, aber auch nur mit einer Stimme Überhang  : Höbelt, Nationalitäten, 212f. 51 Innerhalb des Lagers kam es zu erheblichen Verschiebungen  : Die Deutschfreiheitlichen und die Deutsche Volkspartei wurden halbiert, Gewinne verzeichneten die deutschen Agrarier (auf Kosten der Großgrundbesitzer) sowie die Deutschradikalen (auf Kosten der Alldeutschen)  : Ebd., 256, 258.

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Konkurrenten zu erzielen. Nur in zwei Landeshauptstädten wurden solide Stimmenanteile erreicht, in Salzburg fast 40 Prozent, in Linz fast 25 Prozent.52 3.3 Für Löcker Löcker, Kandidat der deutschen Volkspartei im 2. Wahlkreis Linz, wurde zum tragischen Opfer der durch das neue Wahlrecht hervorgerufenen Verschiebungen im Spektrum der deutschen Parteien. Im ersten Wahlgang lag er mit 1325 Stimmen noch deutlich vor seinen Konkurrenten, dem Sozialdemokraten Gruber mit 974 Stimmen und dem Christlich-Sozialen Esser mit 723. Im Stichwahlgang am 23. Mai wurde dem sozialdemokratischen Kandidaten jedoch durch christlich-soziale Wähler zum Sieg verholfen, sodass dieser nun mit 1463 Stimmen deutlich vor Löcker lag, der mit 1398 Stimmen das Ergebnis des ersten Wahlgangs kaum verbessern konnte.53 Löcker wurde als federführender Befürworter der Wahlreform für den Verlust seines Mandats etwa ein Jahr später mit der Berufung zum Mitglied des Verwaltungsgerichtshofs in Wien im April 1908 entschädigt.54 Er hatte einen prominenten Protektor für seine Ernennung zum Hofrat, nämlich den ehemaligen Ministerpräsidenten Beck. In seiner persönlichen Initiative an das Präsidium des Gerichtshofs betonte er, dass er auf Löckers »Ernennung zum Rate des Verwaltungsgerichtshofes ad personam, [ …] aus gewichtigen Gründen den größten Wert […] legen« müsse. An Löckers Befähigung bestand angesichts jahrelanger praktischer Berufserfahrung als Anwalt in Linz seit 1898 zwar kein Zweifel, das Besetzungsgutachten enthielt aber mehrere Formulierungen, welche zeigten, dass die Zustimmung des Verwaltungsgerichtshofs zu dieser Ernennung – wegen der politischen Einflussnahme − nur widerwillig erteilt wurde.

52 Ebd., 257. 53 Ebd., 258. − Zu den Ergebnissen im 2. Wahlkreis Linz  : Die Stichwahlen in Oberösterreich Linz, in  : Linzer Volksblatt, 25.5.1907, 2. − Die deutsche Volkspartei verlor 3 ihrer 5 Mandate (2 in Linz gegen sozialdemokratische Konkurrenten, 1 in Wels gegen einen katholischen), nur in 2 Wahlkreisen konnten sich die Kandidaten mit Unterstützung der Sozialdemokraten gegen einen katholischen bzw. christlich-sozialen Konkurrenten sichern. 54 Friedrich W. K remzow, Rechtsanwälte als Mitglieder des k. k. Verwaltungsgerichtshofes, in  : Friedrich Lehne – Edwin Loebenstein – Bruno Schimetschek (Hg.), Die Entwicklung der österreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Festschrift 100 Jahre Verwaltungsgerichtsbarkeit, Wien−New York 1976, 39−58, 50−53.

Michael Pammer, Linz*

Not so Fragmented  : The Party System in the Last Parliamentary Election of Imperial Austria The 1911 election to the Imperial Diet of Imperial Austria (the Austrian part of the Austro-Hungarian Monarchy) was the last parliamentary election of the country, and the second election with universal franchise of male citizens. A large number of parties competed, many of which existed in only one or few of the crown-lands, and the outcome was a variegated assembly of parties of diverse political orientation and ethnic character. Within the Diet, the situation became somewhat clearer because the majority of members joined parliamentary groups, most of which included several parties. This short article does not discuss all aspects of this election. We analyse neither the voter turnout nor the successes of single parties in the election. We rather focus on the heterogeneity of the party landscape and on political fragmentation on the national, regional, and local levels. We discuss in which sense the system was fragmented, in what respect it may be considered rather homogenous, and where we can observe regional differences.1

1. The election regulations The 1911 election was held according to the respective regulations of 1907.2 The Kingdoms and Lands represented in the Imperial Diet (this was the official name of the country) were divided into electoral districts within which the voters enjoyed equal voting rights  ; thus, there were no voting classes any more. All male citizens from 24 years of age were entitled to vote, except professional military, persons under tutelage, people on public welfare, bankrupts, and certain criminals.3 There were 516 members of parliament and 480 electoral districts. The 36 rural electoral districts of Galicia elected two members each, whereas the 36 urban vot-

* Abbreviations  : RGBl  : Reichsgesetzblatt. 1 The data come from Bure au der k. k. Statistischen Zentr a lkommission (Bearb.), Die Ergebnisse der Reichsratswahlen in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern im Jahre 1911 (= Österreichische Statistik, Neue Folge 7/1), Wien 1912. 2 RGBl 15/1907  ; RGBl 17/1907. 3 § 7, RGBl 15/1907  ; § 7–8, RGBl 17/1907.

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ing districts in Galicia, and all of the remaining 410 voting districts in other lands, elected one member each. In the single member districts, a candidate was elected on the first ballot if he received more than half of the vote. If no candidate made it on the first ballot, a run-off election between the two most successful candidates followed. In the Galician double districts, the first member was elected if he received more than half of the vote  ; the second member had to receive more than a quarter of the total. If there was no such result, either a complete second ballot or a run-off election between two or three candidates followed, depending on the outcome of the first ballot. Since the first ballot shows voters’ preferences more precisely than the run-off elections, we use only the results of the first ballot in this article. Apart from the Galician particularities, the election regulations provided also for a special election order in Moravia. The whole of this crown-land was divided into electoral districts twice, once into thirty electoral districts for Czech speaking voters, and once into nineteen electoral districts for German speaking voters. There was no such division in mixed language areas of the other crown-lands. Throughout the country, there was a division between urban and rural electoral districts. Middle-sized cities like Klagenfurt, Trento, or Liberec formed one complete voting district each, larger cities were divided into several voting districts. Vienna had 33 electoral districts, Prague and Lwów/Lviv had 7 each, Kraków/Cracow had 5. Smaller cities and market towns were combined into electoral districts, although they lay quite far apart from each other in some cases. For instance, the 3rd electoral district in the Duchy of Salzburg consisted of 26 major places scattered across the whole crown-land. Altogether, there were 196 urban electoral districts. The remaining rural communities formed 320 voting districts with contiguous territory, mostly mergers of several judicial districts with or without cities, sometimes also with fractions of judicial districts added (judicial districts were subdivisions of political districts, the main administrative units of the lands).4 In terms of voters’ numbers, rural electoral districts were about one and a half times the size of urban voting districts. However, both categories display a large spread between 2,200 and 22,800 voters in urban voting districts, and between 3,700 and 30,000 voters in rural voting districts (here, we use only half the actual numbers in the Galician double districts). Normally, the whole area of an electoral district lay within one crown-land. As an exception, the so-called Moravian enclaves in Silesia (the judicial districts of Hennersdorf and Hotzenplotz, and a few additional communities) formed part of Moravian voting districts.

4 The appendix of the election law provides a detailed description  : Anhang zur Reichsratswahlordnung, RGBl 17/1907.

The Party System in the Last Parliamentary Election of Imperial Austria

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Due to these principles of demarcation, electoral districts only rarely (mostly in cases of single cities) were identical with political districts or judicial districts. Only in a small number of cases electoral districts are exactly identical with a combination of several judicial districts, that is, in cases where no cities or market towns of that area were combined into an urban electoral district. Altogether, the demarcation of voting districts is unfavourable to an analysis of the election results because many of the data that can be used in such an exercise, such as the sectoral structure, the age distribution, and others, are normally available only for political districts and judicial districts. For the voting districts, the election statistics provide data on language groups, with some minor additions to be gathered from the 1910 census statistics. Apart from the documentation of election results in the voting districts, a separate section of the election statistics also shows the distribution of votes in political districts and judicial districts. Results for political districts almost always are an amalgamation of votes from various electoral districts, be it urban or rural ones. This information is certainly not irrelevant given that votes are listed by parties involved. But there is still good reason to assume that from the beginning the candidacy was predetermined by the structure of voting districts. Had there been, for instance, no division into urban and rural electoral districts, that is, had cities and market towns been part of the same electoral districts as the surrounding rural communities, conditions for candidates would have been quite different.

2. Candidates, parties, Klubs Almost all elected members of the Diet were affiliated to parties, and the election statistics display results by parties, not by names of candidates. Some parties existed in several crown-lands, but altogether the party constellations varied considerably from land to land, and there was a large number of parties. One of the reasons for this inflation of numbers of parties was the habit of organising parties by ethnicity, that is, in this context, by language communities. Hence, we must distinguish between German, Czech, Italian, Slovenian, Croatian, Serbian, Polish, Ukrainian, and Romanian parties and candidates. In addition, we find one elected Jewish-Nationalistic member and several Zionist candidates. These ethnically defined parties were either Christian Social, social democratic, or liberal and nationalistic in various shades. In the Diet, the members were divided into parliamentary groups (Klubs) which were organised according to both ethnic criteria and political orientation.5 For instance, the German Christian Socials formed their own Klub, while their Italian coun5 For the parties in the Imperial Diet, see Loth a r Höbelt, Parteien und Fraktionen im ­cisleithanischen Reichsrat, in  : Helmut Rumpler – Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918

478

Michael Pammer, Linz

terpart, the Italian People’s Party, was part of the Unio Latina, a Klub that included also the Italian liberals and two Romanian parties. Similarly, the Moravian Catholic National Party joined the Unified Bohemian Klub, an umbrella association of mostly Czech Klubs of nationalists and liberals, but also Ukrainian russophiles.6 The Polish Christian Socials, on the other hand, were part of the Polish Klub, where most Polish members participated, except the Polish Social Democrats.7 The Slovenian counterpart, the All-Slovenian People’s Party, which operated under different names in the crown-lands concerned (Styria, Carinthia, Carniola, Gorizia and Gradisca), formed a Croatian-Slovenian Klub together with the Slavic Nationalists of Istria, and the Croatian Party of Law, which was based in Dalmatia. The other Dalmatian members, in turn, were organised in their own Dalmatian Klub.8 Another national Klub was the Ukrainian League of Ukrainian National Democrats and Radicals from Galicia, and the Young Ruthenians from Bukovina. The most important ethnically defined Klub was the German National League, the largest of all parliamentary groups, with a hundred members. The Social Democrats generally did not belong to politically integrative ethnic Klubs. The Italian Social Democrats kept away from the Unio Latina, and sat in on the German Social Democratic Klub, as did the Ukrainian Social Democrats. The Czech Autonomistic Social Democrats formed their own Klub, which did not take part in the Unified Bohemian Klub, just as the Polish Social Democrats, who were not part of the Polish Klub. The Czech Centralistic Social Democrats, on the other hand, were part of the Polish Social Democratic Klub, too. Confusing as the scene might seem if assessed in its entirety, from the perspective of voters, the decisions were much easier, as parties and candidates faced always a limited number of competitors in the respective voting district. Within the Christian Social camp, Germans and Slowenes confronted each other only in one lower Styrian and four Carinthian voting districts (in all cases none of them stood a chance). In

(= Verfassung und Parlamentarismus. Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit, zentrale Repräsentativkörperschaften, 7/1), Wien 2000, 895–1006, hier 975–996. 6 For the Ukrainian parties, see K l aus Bachm a n n, Ein Herd der Feindschaft gegen Rußland. Galizien als Krisenherd in den Beziehungen der Donaumonarchie mit Rußland (1907–1914), Wien 2001, 138–159, 196– 201. H a r a ld Binder, Galizien in Wien. Parteien, Wahlen, Fraktionen und Abgeordnete im Übergang zur Massenpolitik (= Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie, 29), Wien 2005. 7 For the Polish parties, see K rzsztof Du nin-Wąsowicz, Die sozialen und politischen Bewegungen der polnischen Bauern in Galizien am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in  : Karlheinz Mack (Hg.), Galizien um die Jahrhundertwende. Politische, soziale und kulturelle Verbindungen mit Österreich, Wien 1990, 50–67  ; Binder, Galizien in Wien. 8 For the parties in Dalmatia, see Joh a n nes K a lwoda, Parteien, Politik und Staatsgewalt in Dalmatien (1900–1918). Zur Wechselwirkung zwischen staatlicher Verwaltung und parlamentarischer Vertretung, Diss. Universität Wien 2017.

The Party System in the Last Parliamentary Election of Imperial Austria

479

some Viennese districts, both candidates of the Christian Social Party and independent Christian Social candidates competed. In one such case the independent Alois Heilinger won, a former Christian Social Party politician, who defeated Leopold Kunschak, the official and rather weak party candidate  ; in the other cases, Social Democrats won. The Italian People’s Party, the Czech Christian Socials, and the Moravian Catholic Nationals, nowhere faced another Christian Social Party. A competition between Social Democrats ensued only in the Bohemian lands. The Czech Autonomistic Social Democrats faced German Social Democrats in three Bohemian electoral districts, the Polish Social Democrats in one Silesian electoral district, and the Czech Centralistic Social Democrats in major parts of Czech Moravia and some Bohemian and Silesian voting districts. There was no such competition among social democratic parties elsewhere. While Christian Socials and Social Democrats appeared mostly unified in the respective electoral districts, nationalistic and liberal parties showed a higher propensity toward competition among themselves. Within the spectrum of German liberal parties, we find the proverbial heterogeneity with ever new transformations, party splits and party fusions, which resulted in frequent changes in the general appearance of this part of the political landscape.9 Similar processes can be observed among Polish, Ukrainian, and Romanian parties.

3. A measure of fragmentation The total heterogeneity or total fragmentation ft of the party landscape can be calculated using the following index formula  : 𝑓𝑓𝑓𝑓𝑡𝑡𝑡𝑡 =

𝑁𝑁𝑁𝑁

�𝑉𝑉𝑉𝑉𝑡𝑡𝑡𝑡 2 – �𝑛𝑛𝑛𝑛=1 𝑃𝑃𝑃𝑃𝑛𝑛𝑛𝑛 2 � 𝑉𝑉𝑉𝑉𝑡𝑡𝑡𝑡 · (𝑉𝑉𝑉𝑉𝑡𝑡𝑡𝑡 – 1)

(1)

where Vt is the total number of valid votes, and P1 to Pn are the votes for party 1 to party n. This calculation has the following implications  : • If there is only one party, which consequently takes all valid votes, there is no fragmentation, and ft is 0. • If every voter votes for a different party, and consequently there are as many parties as voters, and each party receives exactly one vote, fragmentation reaches the maximum, and ft is 1. 9 Loth a r Höbelt, Kornblume und Kaiseradler. Die deutschfreiheitlichen Parteien Altösterreichs 1882–1918, Wien–München 1993.

480

Michael Pammer, Linz

• If the denominator were Vt² instead of (Vt · (Vt – 1)), an equal distribution of the votes among n parties would result in an ft of (1–1/n). That is, in an equal distribution among two parties (50 per cent each), the index value would be 0.50. In an equal distribution among three parties (with a third of the vote each), ft would be 0.67, in an equal distribution among four parties, it would be 0.75, and so on. Since there are at most as many parties as voters, ft would be smaller than 1 even in the case of maximal heterogeneity. • In electoral districts the size of the Austrian districts in 1911 (1,500 to 50,000 voters, with a mean of 9,500 voters) the difference between a denominator of (Vt · (Vt – 1)) and a denominator of Vt² is immaterial. The results differ only in the third to fifth decimal place. • For some districts, the election statistic summarises votes for several candidates in one number under headings like “fragmented votes” (or similar). In principle, these votes should be attributed precisely to the different candidates. However, the numbers are so small that they do not change the overall picture. Generally, a major number of parties (n) tends to result in a larger degree of fragmentation, and generally fragmentation decreases, the more dominant one party becomes. The minimal value of ft in every party constellation tends toward 0, but never arrives at 0 (except settings with only one party). The minimal value appears when all parties except the dominant party obtain just one vote each, and the dominant party obtains the rest. When the votes are distributed among a certain number of parties perfectly equally, ft is larger than in an unequal distribution among the same number of parties. This value fmax for n parties with equal share of the vote is defined as €[maximum Formel (2), S. 480:]  1 𝑉𝑉�   𝑓𝑓��� � �1– � � 𝑛𝑛 𝑉𝑉� – 1

(2)

  For the maximum value of ft in a system with n parties with unequal shares of the vote,

a similar principle applies. Here, fmax is attained when the votes that are not cast for the dominant party are distributed equally among the remaining parties. This value   is defined as 𝑛𝑛𝑛𝑛 – 𝑛𝑛𝑛𝑛𝑛𝑛𝑛𝑛𝑑𝑑𝑑𝑑 ² + 2𝑟𝑟𝑟𝑟𝑑𝑑𝑑𝑑 – 2 𝑉𝑉𝑉𝑉𝑡𝑡𝑡𝑡 [Formel (4), S. 482:]  𝑓𝑓𝑓𝑓𝑚𝑚𝑚𝑚𝑚𝑚𝑚𝑚𝑚𝑚𝑚𝑚 = · 𝑉𝑉𝑉𝑉𝑡𝑡𝑡𝑡 – 1 𝑛𝑛𝑛𝑛 – 1 (3)  

 

where rd is the share of votes obtained by �the dominant party. � 𝑐𝑐 � � of heterogeneity in two ex�𝑉𝑉� – � ��� � Figure 1 (a) and (b) displays a𝑓𝑓 graphical expression   � � 𝑉𝑉� �of�𝑉𝑉 amples. Example (a) shows the distribution votes � – 1� among two parties of equal size (ft = 0.50), example (b) shows a distribution among parties of different size (ft = 0.68). The shares of the parties, plotted on either the horizontal or the vertical axis, are

P1

ft =

/

=

(a) 2 parties: P1 50%, P2 50% 0.50

P2

P2 P3

P4

/

=

0.68

P5

P1

P2 P3

P4

/ /

= =

= 0.61 = 0.42

= P3 + P4 + P5 = 0.41

= ( + + ) / = 0.41·0.7² + 0.61·0.3² + 0.42 = 0.68

/

=

Camp 2

(c) 5 parties as in (b), 2 political camps: Camp 1 = P1 + P2

f c1 f c2 fi ft

Figure 1: Calculation of the measure of fragmentation

ft =

(b) 5 parties: P1 50%, P2 20%, P3 5%, P4 10%, P5 15%

P1

C1

P5

C2

The Party System in the Last Parliamentary Election of Imperial Austria

481

Fig. 1  : Calculation of the measure of fragmentation.

482

Michael Pammer, Linz

squared, and are visible as dark squares. Due to squaring, the remaining lighter area, which is the graphical expression of ft, becomes larger the more parties are present, €[Formel (2), S. 480:]  and the more equal the votes are distributed among them. 1 𝑉𝑉� By analogy, heterogeneity can categorical variables, for   𝑓𝑓���be�calculated �1– � � for other 𝑉𝑉� same – 1 principles apply, that is, hetinstance, for the shares of language groups.𝑛𝑛 The erogeneity is 0 when everyone speaks the same language, and it is 1 when everyone   speaks a different language.   The index can be calculated not only for the overall result of an election (ft), but also for parts of the political spectrum, for instance, for the fragmentation within a   political camp. For that purpose, we add up the votes obtained by the parties that [Formel (4), S. 482:]  belong to that camp. By analogy with formula (1), the fragmentation within the political camp fc is calculated as   �

�𝑉𝑉� � – ���� 𝑐𝑐� � � 𝑓𝑓� �   𝑉𝑉� � �𝑉𝑉� – 1�

(4)

where Vc is the number of the combined votes obtained by the parties that belong to the political camp, and C1 bis Cn are the votes of camp party 1 to camp party n. Since the index formula is a simple addition, the index value can easily be disaggregated. An obvious question would be how the overall heterogeneity can be divided into a heterogeneity between political camps fi and a heterogeneity within political camps. Again, by analogy with formula (1), the fragmentation between political camps fi is calculated as 𝑓𝑓𝑓𝑓𝑖𝑖𝑖𝑖 =

𝑁𝑁𝑁𝑁

�𝑉𝑉𝑉𝑉𝑡𝑡𝑡𝑡 2 – �𝑛𝑛𝑛𝑛=1 𝑉𝑉𝑉𝑉𝑐𝑐𝑐𝑐𝑛𝑛𝑛𝑛 2 � 𝑉𝑉𝑉𝑉𝑡𝑡𝑡𝑡 · (𝑉𝑉𝑉𝑉𝑡𝑡𝑡𝑡 – 1)

(5)

where Vc1 to Vcn are the votes for political camp 1 to political camp n as used in formula (4). The fragmentation within the political camps must then be weighted by the share of the respective camp because a large fragmented camp contributes more to overall fragmentation that a small camp be it even as fragmented in itself. Then we get  : 𝑁𝑁𝑁𝑁

𝑓𝑓𝑓𝑓𝑡𝑡𝑡𝑡 = 𝑓𝑓𝑓𝑓𝑖𝑖𝑖𝑖 + �𝑛𝑛𝑛𝑛=1(𝑓𝑓𝑓𝑓𝑐𝑐𝑐𝑐𝑛𝑛𝑛𝑛 · 𝑟𝑟𝑟𝑟𝑐𝑐𝑐𝑐𝑛𝑛𝑛𝑛 2 )

(6)

where fc1 to fcn are the values of fragmentation within the political camps 1 to n calculated using formula (4). rc1 to rcn are the vote shares of camps 1 to n. Figure 1 (c) provides a graphical illustration. Clearly, the result depends on the definition of camps. In principle, both extremes are possible, that is, a camp may comprise all parties (fi = 0), or, each party forms a separate camp (fi = ft). For the definition of political camps, the competition between

The Party System in the Last Parliamentary Election of Imperial Austria

483

parties is no criterion, because there are parties which do not compete (above all, due to different regional bases) although they belong to different camps, and there are parties of the same camp that compete with each other. Again, by analogy, the overall heterogeneity can be divided into a heterogeneity within ethnic groups and a heterogeneity between ethnic groups. For a sensible and useful classification of the 1911 election results by fragmentation and heterogeneity, we must consider what values of f will appear in typical constellations. For instance, a system with only two parties, and an equal vote share of both parties, results in a ft of 0.5. Such a value cannot be regarded as an indicator of a larger degree of political fragmentation because a party system that consists of just two equally strong parties is not fragmented in any sense. In a two-party system, 0.5 is the maximum value of f. The value of f diminishes, the more unequal the vote shares of the two parties become. If the proportion is 1  :2 (33 per cent for one party, 67 per cent for the other), f is 0.44  ; if the proportion is 1  :4 (20 per cent for one party, 80 per cent for the other), f is 0.32  ; if the proportion ist 1  :19 (5 per cent for one party, 95 per cent for the other), f is 0.1. That is, small parties remain visible. A f of 0.5 can appear not only in a two-party system, but also in systems with any number of parties. For instance, in a ten-party system, the maximum value of fragmentation fmax is 0.5 if the dominant party obtains a vote share rd of 0.7 (70 per cent) (the result changes only minimally with varying Vt).10 This means, with the use of f as a measure of fragmentation, a system with two equally strong parties counts as equally fragmented as a ten-party system where the largest party gets 70 per cent of the vote, and each other party gets 3.3 per cent. In other words, f informs about the number of competing parties only to a limited degree. A low f indicates a strong dominance of one party but does not inform about the number of parties. A large f suggests, due to formula (2) and formula (3), that there is a larger number of parties, of which no one dominates extremely. Thus, for the classification of f values in the maps, we distinguish between the following types  : • one class includes areas with a pronounced dominance of one party and hence a f smaller than 0.40  ; • one class includes areas without fragmentation, be it a system with a small number of parties with balanced vote shares, or be it a system with a larger number of parties where one party clearly dominates, hence a f between 0.40 and 0.50  ; 10 The calculation follows formula (3) transformed as follows  : rୢ ൌ

1 V୲ – 1 n – 1 2 1 ൅ ඨ ଶ ൅ 1 – f୫ୟ୶ ൉ –   n n n V୲ n

484

Michael Pammer, Linz

• we then distinguish between four classes of areas with stepwise increasing fragmentation, with a f of 0.50–0.55, 0.55–0.60 and so forth  ; • the final class includes areas with extreme fragmentation, and a f larger than 0.70. • In the outcome of the 1911 election, the different classes comprise between 67 and 82 electoral districts, except the uppermost class (highest fragmentation) with 40 electoral districts.

4. Results Adding up the votes for all parties in all crown-lands, and calculating the heterogeneity on the national level on that basis, yields a f of 0.95. This extremely large value is due to the inclusion of each and every party in the estimate, even parties that are present only locally. A distinction by local conditions leads to a much lower degree of heterogeneity. The fragmentation was lowest in the southernmost electoral district of Dalmatia and the whole country (Cattaro) where the Serbian Party gained more than 99 per cent of the vote, which yields a f of 0.01. The highest degree of fragmentation appears in a rural electoral district in the westernmost part of Galicia (Myślenice and Saybusch) where candidates of seven Polish parties, an independent Polish candidate, and various other candidates contested the two seats. Here none of the candidates had a dominant position, and f consequently is 0.87. Map 1 displays f for all electoral districts, that is, for Moravia in separate maps of the Czech and the German voting districts, and for Galicia in one single map of the double districts. In addition, some major cities appear enlarged. The map shows the effect of two factors immediately. The first factor is urbanisation  : urban voting districts, in the map small units within the larger rural areas, stand out against their surroundings, mostly as darker dots, which means, they are more fragmented. The exception of the rule is Galicia where urban electoral districts tend to display a lower degree of fragmentation than the surrounding rural voting districts. The other factor is the effect of regional conditions. Vorarlberg, large parts of the Tyrol, parts of Upper and Lower Austria, Eastern Styria, and Bukovina show a lesser degree of fragmentation, whereas Bohemia, Moravia (both Czech and German Moravia), and East Galicia seem much more heterogenous. As pointed out above, f can be disaggregated in order to determine how the observed fragmentation is due to a fragmentation between political camps, and a fragmentation within political camps. For a definition of political camps in the period between the Austro-Hungarian Compromise of 1867 and World War I, we might consider the following criteria  :

0.60–0.65 0.65–0.70 > 0.70

Map 1  : Fragmentation in the electoral districts, 1911.

0

50

100 150 200 250 km

a. Imperial Austria with the Czech voting districts of Moravia b. German voting districts of Moravia

< 0.40 0.40–0.50 0.50–0.55 0.55–0.60

1. f in the electoral districts, 1911

a. b.

c.

e.

f.

0 2 4 6 8 10 km

c. Vienna d. Prague metropolitan area e. Lwów/Lviv f. Kraków/Cracow

d.

The Party System in the Last Parliamentary Election of Imperial Austria

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486

Michael Pammer, Linz

• the relation to the Catholic Church regarding political programs, the role of the clergy in politics, and the loyalty toward the Catholic Church as such  ; • the social base of the electorate, that is, the occupation by sectors and branches, the hierarchical position within a branch, and the income of the main target groups  ; • the position in constitutional matters and ethnic policy, in particular regarding the relation between Hungary and Imperial Austria, rights of ethnic groups in ethnically mixed areas, the autonomy of certain areas within the country, a separation of certain areas from the country, and a unification of certain areas with other countries. These criteria work in varied ways, that is, parties that differ from each other in certain respects may resemble each other in other respects. Thus, the result is a more or less usable compromise. In the case of the 1911 party system, a consistent Christian Social camp can be accepted due to the efficacy of political Catholicism and the large vote share of the respective parties. Another, equally plausible camp is Social Democracy. In both cases, the camps can be defined as reaching across ethnicities, considering that within them there was little ethnic competition. The situation becomes more complex regarding parties for which ethnicity and relating constitutional matters played a decisive role. Given that these parties pursued opposed aims, depending on ethnic affiliation, it does not make sense to assign them to one single camp. Thus, they are treated separately by ethnicity. The heterogeneity by political camps (Map 2) resembles the patterns of political fragmentation as a whole  : in those areas where total heterogeneity is high, the heterogeneity between political camps is also high. This means, conversely, that the defined camps display a large degree of homogeneity, and that within electoral districts there was little competition within political camps (this is not displayed in maps). We find an exception in West Galicia where competition occurred mainly within political camps (in this case, among Polish parties) and where the fragmentation between camps is correspondingly low  ; in other words, the defined political camps cover West Galician conditions badly. The distinction between ethnicities and within ethnicities points to the same direction (Map 3). The fragmentation between ethnically defined parties is generally very weak, f stays mostly under 0.1 here. The remainder then refers to the fragmentation within ethnicities, that is, between parties belonging to the respective ethnic group. Clearly, this does not concern nationalistic parties only, but all parties of a camp. For instance, the fragmentation within the German ethnicity is calculated as the fragmentation between German Christian Socials, German Social Democrats, various German liberal parties, and so on. The calculation for other ethnic groups follows the same principles. We find one exception to this far-reaching homogeneity of ethnicities in East Galicia, where Polish and Ukrainian parties competed in a number of

0.60–0.65 0.65–0.70 > 0.70

Map 2  : Fragmentation between political camps, 1911.

0

50

100 150 200 250 km

a. Imperial Austria with the Czech voting districts of Moravia b. German voting districts of Moravia

< 0.40 0.40–0.50 0.50–0.55 0.55–0.60

2. f between political camps, 1911

a. b.

c.

e.

f.

0 2 4 6 8 10 km

c. Vienna d. Prague metropolitan area e. Lwów/Lviv f. Kraków/Cracow

d.

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0.60–0.65 0.65–0.70 > 0.70

Map 3  : Fragmentation between ethnicities, 1911.

0

50

100 150 200 250 km

a. Imperial Austria with the Czech voting districts of Moravia b. German voting districts of Moravia

< 0.40 0.40–0.50 0.50–0.55 0.55–0.60

3. f between ethnicities, 1911

a. b.

c.

e.

f.

0 2 4 6 8 10 km

c. Vienna d. Prague metropolitan area e. Lwów/Lviv f. Kraków/Cracow

d.

488 Michael Pammer, Linz

The Party System in the Last Parliamentary Election of Imperial Austria

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electoral districts (in addition, there were often several Ukrainian parties competing in this area). A further point to be addressed is the heterogeneity within the German liberal camp. The idea of a pronounced fragmentation in this part of the political spectrum is a constant in the literature on Austrian liberalism, but actually such a fragmentation is a regional matter rather than a universal phenomenon (not displayed in the maps). Areas that behave in this sense were parts of Bohemia (a major part of the district of the Cheb/Eger Chamber of Commerce, parts of the Liberec Chamber of Commerce), southern Moravia, and a few scattered electoral districts in the Alpine lands. In the major parts of the Alpine lands and Moravia, and in the rest of Bohemia, the fragmentation of the German liberal camp is weak. A certain caveat, however, comes from the urban voting districts, where the heterogeneity in this segment is usually more pronounced than in the surrounding areas. This is a relevant point, given that the German liberal parties were clearly stronger in cities, with a vote share about double their share in the countryside  ; the urban prevalence in the liberal camp was similar to the corresponding results of the social democrats.

5. Summary Even the simple analysis presented here yields a clear picture. Competition between political parties in Imperial Austria a few years before the start of World War I meant a competition between political camps, that is, between Christian Socials, Social Democrats, and various nationalistic and liberal parties. This competition happened mostly within the respective ethnicity. In contrast, the competition between ethnicities became relevant only rarely, apart from some scattered cases only in major parts of Eastern Galicia. In all other areas, including almost all areas with mixed ethnicity, this factor was unimportant. Within the political camps we see relatively little competition. Christian Social parties appeared well coordinated and almost never ran against each other. Within social democracy, competition on a larger scale occurred only in the Czech voting districts of Moravia. Even within the German liberal camp the competition between parties was restricted to a few areas. Compared with other ethnicities (Czechs, Poles, Ukrainians, Romanians), the German liberal parties are no exception in this respect.

Roland Kleinhenz, Erfurt*

Der Reichsrat von Österreich und die Kriegsführung Österreich-Ungarns im Jahre 1918 Sogleich ist zu betonen, dass Österreich-Ungarn im Vergleich zu anderen Hauptkriegsmächten des Ersten Weltkriegs einen Sonderfall darstellt. Dies liegt aus der parlamentarischen Perspektive betrachtet daran, dass es für die Doppelmonarchie, die Realunion zweier Staaten,1 kein einheitliches Reichs- oder Zentralparlament gab. Jeder Staat hatte sein eigenes Staatsparlament neben den in den Ländern des Staates bestehenden Landesparlamenten (Landtagen). In der cisleithanischen Reichshälfte, kurz Österreich, war es der Reichsrat,2 bestehend aus zwei Kammern, dem Oberhaus (Herrenhaus) und dem Unterhaus (Abgeordnetenhaus). In der transleithanischen Reichshälfte, kurz Ungarn, war es der Reichstag, ebenfalls aus zwei Kammern bestehend, dem Oberhaus (Magnatentafel) und dem Unterhaus (Repräsentantentafel).3 Jeder Staat regelte unter Mitwirkung seiner Parlamente (Staatsparlament und Landtage) seine Angelegenheiten selbst. Jedoch waren die bedeutsamsten Staatsangelegenheiten, nämlich auswärtige Angelegenheiten, Kriegswesen und Finanzwesen der gemeinsamen Angelegenheiten, zurückgehend auf die Erbfolgeregelung der Pragmatischen Sanktion vom 19. April 1713,4 gemeinsame (»pragmatische«) Angelegen* Erweiterte Fassung meines Vortrages, auf der 70. Tagung der International Commission for the History of Parliamentary and Representative Institutions (ICHRPI) am 10.9.2018 in Wien gehalten. Abkürzungen  : AOK  : Armeeoberkommando  ; Beil.: Beilage  ; DG  : Delegationsgesetz, RGBl. 146/1867  ; GA  : Gesetzesartikel  ; GO  : Geschäftsordnung  ; k. k.: kaiserlich-königlich  ; k.  u.: königlich-ungarisch  ; k. u. k.: kaiserlich und königlich  ; RGBl.: Reichsgesetzblatt  ; StGG  : Staatsgrundgesetz  ; StPA  : Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrates, 22. Session 1917–1918, Wien 1917/1918  ; StPH  : Stenographische Protokolle des Herrenhauses des Reichsrates, 22. Session 1917–1918, Wien 1917/1918  ; ung. AGH  : Repräsentantentafel (Abgeordnetenhaus) des ungarischen Reichstags. 1 Zur historischen Entwicklung des Titulierungsproblems für den Gesamtstaat seit dem Ausgleich von 1867 Ger a ld Stourzh, Der Dualismus 1867 bis 1918  : Zur staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Problematik der Doppelmonarchie, in  : Helmut Rumpler – Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918 (= Verfassung und Parlamentarismus. Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit, zentrale Repräsentativkörperschaften, 7/1), Wien 2000, 1183f. 2 Rechtsgrundlage  : StGG über die Reichsvertretung vom 21.12.1867, RGBl. 141/1867, abgedruckt mit Erläuterungen bei Edmu nd Bernatzik (Hg.), Die österreichischen Verfassungsgesetze mit Erläuterungen, Wien 2. Aufl. 1911, 390f. (Nr. 133). 3 Hierzu ausführlich László R év ész, Der ungarische Reichstag 1848 bis 1918  : Rechtliche Grundlagen und praktische Umsetzung, in  : Rumpler – Urbanitsch, Habsburgermonarchie 7/1, 1007–1060. 4 Text bei Bernatzik, Verfassungsgesetze, 15f. (Nr. 2). Die Annahme der Pragmatischen Sanktion durch

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heiten.5 Für diese gemeinsamen Angelegenheiten entsandten Österreich und Ungarn aus ihren jeweiligen Parlamenten, Reichsrat und Reichstag, jeweils 60 Mitglieder, 20 aus dem Oberhaus und 40 aus dem Unterhaus, die als »Delegation« bezeichnet wurden, jeweils getrennt und einmal jährlich, abwechselnd in Wien und Budapest tagten, aber nur zusammen entscheiden konnten.6 Für die drei gemeinsamen Angelegenheiten bestand jeweils ein Ministerium.7 Formal waren die einzelnen Minister der drei gemeinsamen Ministerien und der Gemeinsame Ministerrat als Kollektiv (Gesamtministerium) nur den beiden parlamentarischen Staatsdelegationen gegenüber verantwortlich, und zwar jeweils sowohl gegenüber der Staatsdelegation des Teilstaats als solcher als auch gegenüber den beiden Staatsdelegationen zusammen (Gesamtdelegation), aber nicht gegenüber den jeweiligen Staatsparlamenten der beiden Reichshälften.8 Diese Verantwortlichkeit war rechtlich voll ausgeprägt bis zur Ministeranklage und politisch beschränkt im Sinne des konstitutionellen Systems, dass nämlich Abberufung und Ernennung der Minister nicht durch die Delegationen erzwungen werden konnten, sondern ausschließlich dem Kaiser von Österreich und König von Ungarn vorbehalten blieben.9 Die politische Verantwortlichkeit gegenüber den jeweiligen Staatsparlamenten oder den Staatsdelegationen/der Gesamtdelegation bestand hauptsächlich in der Pflicht der Regierung oder der einzelnen Minister bzw. des Gemeinsamen Ministerrats und der drei gemeinsamen Minister zur Auskunft und Aufklärung gegenüber den legislativen Körperschaften. Das vorzügliche parlamentarische Mittel dieser Kontrolle war die Interpellation.10 Speziell die ungarischen Stände erfolgte durch die GA I, II und III, 1722/23 (sog. »Ungarische Pragmatische Sanktion«), Text des GA I bei ebd., 24f. (Nr. 3−5).  5 DG vom 21.12.1867, RGBl. 146/1867), § 1  ; Text mit Erläuterungen bei Bernatzik, Verfassungsgesetze, 439f. (Nr. 138). Für die Länder der ungarischen Krone  : GA XII vom 12.6.1867, abgedruckt bei Bernatzik, Verfassungsgesetze, 329f. (Nr. 119), §§ 8, 9–15, 16–18.  6 Hierzu die Gesetze in Anm. 5.  7 K. u. k. Ministerium des Äußern, k. u. k. Kriegsministerium und k. u. k. Gemeinsames Finanzministerium.  8 Hierzu § 16 DG für die cisleithanische Reichshälfte und § 50 GA XII für die transleithanische Reichshälfte. Das nach § 18 DG vorgesehene spezielle Gesetz über die Verantwortlichkeit des gemeinsamen Ministeriums wurde aber nicht erlassen (Bernatzik, Verfassungsgesetze, 447 Fn. 32).  9 Artikel 3 des StGG vom 21.12.1867 über die Ausübung der Regierungs- und der Vollzugsgewalt, RGBl. 145/1867 (Bernatzik, Verfassungsgesetze, Nr. 137) sowie GA VIII vom 12.6.1867, § 12 (Bernatzik, Verfassungsgesetze, Nr. 115). 10 Für das Abgeordnetenhaus des Reichsrats  : §§ 67–69 der GO vom 6.6.1917, StPA, 6.6.1917, 105 (der Text der gesamten Geschäftsordnung ist abgedruckt in den Beil. StPA, Nr. 222, 11–41). Die Beantwortung der Interpellation konnte durch die Regierung, zumeist durch den zuständigen Ressortminister, mündlich sofort oder in einer anderen Sitzung oder, wie sehr häufig, schriftlich erfolgen. Über § 69 GO konnte eine Debatte erzwungen werden, die ggf. mit Abstimmung enden konnte, auch mit Überweisung an einen ständigen oder noch zu berufenden Ausschuss. Zur Interpellationspraxis insgesamt, für die Zeit von 1861 bis 1909  : K a rl Neisser – Ot to Neisser, Die Geschäftsordnung des

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bei Fragen der Kriegsführung, also insbesondere alles, was mit Fragen der Strategie, mit der Planung und Ausführung von jedweden militärischen Operationen und Fragen der militärischen Taktik, als unterster Ebene der Kriegsführung, zu tun hatte, war jedoch die das Wehrsystem beherrschende Prärogative des Kaisers und Königs zu beachten. Kraft derer hatte er den Oberbefehl über die bewaffnete Macht (Heer, Kriegsmarine, k. k. Landwehr und k. k. Landsturm und k. u. Honvéd [Landwehr] und k. u. Landsturm), deren Leitung, Führung und die innere Organisation, inne. Diese Prärogative war in der »Dezemberverfassung« von 1867 ausdrücklich, wenn auch nur kryptisch, verankert worden.11 Das Heer war also verfassungsmäßig, um es auf eine kurze Formel zu bringen, ein Kaiser- und Königsheer, aber kein Parlamentsheer. Während dem Kaiser und König also der sogenannte Allerhöchste Oberbefehl über Heer und Kriegsmarine zustand, kurz »Kommandogewalt« genannt, hatten sich die Staaten der Realunion das Recht vorbehalten, über die Rekrutierung der Soldaten, die Bestimmung der Dienstzeit und über Verpflegung und Dislozierung des Militärs zu bestimmen.12 Hier hatten die jeweiligen Parlamente unstreitig das Recht, aber auch die Pflicht der Mitbestimmung, insbesondere in Form der Verabschiedung der notwendigen Gesetze. In tatsächlicher Hinsicht war bedeutsam, dass mit Karl I./IV. am 21. November 1916 ein junger Monarch voller Tatendrang ans Ruder gelangte. Er machte, indem er als Armeeoberkommandant die persönliche Führung des mit dem Hauptteil in Baden bei Wien residierenden Armeeoberkommandos13 übernahm, seinen Einfluss in militärischen Angelegenheiten ganz besonders geltend.

Abgeordnetenhauses des Reichsrates. Ihre Geschichte und ihre praktische Handhabung von 1861 bis 1909, II. Band. Praktische Handhabung, Wien 1909, 355–392. Für das Herrenhaus des Reichsrates  : die GO vom 24.10.1917 (StPH, 24.10.1917, 320 in Verbindung mit Beil. StPH, Nr. 38, 3–24, dort §§ 55, 56). Für die Delegation  : Bernatzik, Verfassungsgesetze, Nr. 138 (DG), § 28, letzter Absatz und Nr. 119 (GA XII), § 39. 11 Rechtsgrundlagen  : Artikel 5 des StGG vom 21.12.1867, RGBl. 145/1867  ; § 5 Abs. 2 DG  ; § 11 GA XII. Die Prärogative wurde gewohnheitsrechtlich so interpretiert, dass damit die Krone bei Ausübung der militärischen Gewalt von der sonst geforderten Mitwirkung der Minister (die gewöhnlich mit der Gegenzeichnung [Kontresignatur] abschließt) entbunden war  : Bernatzik, Verfassungsgesetze, 695 sowie Christoph Schmet terer, Hans Kelsens Vorschläge zur Reform der österreichisch-ungarischen Wehrverfassung, in  : Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 6, 2016, 129–155, hier  : 129f., 132 mwN, 138 (Kelsen, Gutachten 1). 12 § 11.b) des StGG vom 21.12.1867, wodurch das Grundgesetz über die Reichsvertretung vom 26.2.1861 abgeändert wird, RGBl. 141/1867  ; bei Bernatzik, Verfassungsgesetze, 390f. (395)  ; § 1.b) DG  ; GA XII, § 12. 13 Das AOK war die höchste Führungsebene der bewaffneten Macht Österreich-Ungarns, vergleichbar seinem deutschen Pendant, der Obersten Heeresleitung. Seit 1.3.1917 war Chef des Generalstabs der aus Siebenbürgen stammende Generaloberst Artur Freiherr Arz von Straussenburg (gleichzeitig Mitglied der Magnatentafel) als Nachfolger Conrads von Hötzendorf. Zum AOK u. a. Christoph Führ, Das k. u. k. Armeeoberkommando und die Innenpolitik in Österreich 1914–1917, Graz–Wien 1968.

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Ein weiteres gravierendes Problem aus der Sicht des Reichsrats war, dass dieser wegen der jahrelangen Vertagung vom 16. März 191414 bis 29. Mai 1917 überhaupt nicht in das Geschehen hatte eingreifen können und in der österreichischen Reichshälfte damit ein vollendeter Kriegsabsolutismus der Exekutive herrschte, die insbesondere mit (Not-)Verordnungen regierte.15 Doch nutzte der Reichsrat nach seinem Wiederzusammentritt keineswegs das »Königsrecht« des Parlaments, die Budgetbewilligung, um in irgendeiner Art und Weise Einfluss auf die Kriegsführung zu nehmen.16 Die Budgetprovisorien (Gesetz über die Führung des Staatshaushaltes) für die Zeiträume 1. März 1918 bis 30. Juni 1918 und 1. Juli 1918 bis 31. Dezember 1918 wurden im Abgeordnetenhaus, wenn auch nicht mit allzu großen Mehrheiten, verabschiedet.17 Für den zweiten Zeitraum wurde die Regierung ermächtigt, 12 Milliarden Kronen durch Kreditoperationen für die durch den Krieg verursachten Ausgaben zu beschaffen.18 Das Herrenhaus erklärte am 29. Juli 1918 den Beitritt und die kaiserliche Sanktion erfolgte am 30. Juli 1918.19 Ebenso nutzte der Reichsrat die ihm kompetenzmäßig zugewiesene Rekrutenbewilligung und und die Entscheidung über den Einsatz des (österreichischen) Landsturms außer Landes in keiner Weise zur Einflussnahme auf die Kriegsführung aus.20 Wie war die militärische Lage für Österreich-Ungarn Anfang 1918  ? Im Oktober/November 1917 hatten die österreichisch-ungarischen Truppen im Verein mit reichsdeutschen Verbänden in der 12. Isonzoschlacht (bekannt als Schlacht von Caporetto oder auch Durchbruchsschlacht von Flitsch-Tolmein) einen gewaltigen Sieg errungen, der das k. u. k. Heer schließlich bis Anfang November 1917 bis an den Fluss Piave brachte.21 Das Abgeordnetenhaus des Reichsrats war bereits am 26. Oktober 1917, anlässlich des Durchbruchs am Isonzo, in überschwänglichen Jubel aus14 Wiener Zeitung, 17.3.1914, 1f.; als Grund wird die Obstruktion im Abgeordnetenhaus genannt. 15 Durch die Vertagung des Reichsrats waren auch die Delegationen handlungsunfähig  ; sie wurden erst am 3.12.1917 durch Kaiser Karl wieder einberufen. 16 Zudem hatte der Reichsrat durch Gesetz vom 24.7.1917 (RGBl. 307/1917) die Regierung ermächtigt, »die notwendigen Verfügungen auf wirtschaftlichem Gebiete zu treffen«. 17 StPA, 19.2.1918, 3164  ; 26.7.1918, 4281. 18 StPA, 16.7.1918, 3830 und Beil. StPA, Nr. 1059, 2. 19 StPH, 29.7.1918, 1159 und 21.10.1918, 1172  ; die Staatsschuld für die Kriegsanleihen per 30.6.1918 betrug 29,255 Milliarden Kronen (Beil. StPA, Nr. 1144, 76)  ; für die »mobilisierte bewaffnete Macht« betrug die Kreditaufnahmeermächtigung (8. Kriegsanleihe) 12 Milliarden Kronen (ebd., 7, vgl. auch 46 [Hauptübersicht über die Ausgaben]). 20 Näheres  : StPA, 30.5.1917, 21, 25, 31  ; 26.6.1917, 487  ; StPH, 20.7.1917, 223 und Beil. StPH, Nr. 2 (26.5.1917). 21 Für einen Gesamtüberblick aus der Sicht des k. u. k. Heeres und der verbündeten deutschen Truppen  : Edmu nd Gl a ise von Horstenau (Hg.), Österreich-Ungarns letzter Krieg 1914–1918, Bd. 6, Das Kriegsjahr 1917, Wien 1936, 493–678 und Beilagenband, Beilagen 26–33.

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gebrochen.22 Mit Russland und Rumänien war Anfang Dezember 1917 jeweils ein Waffenstillstand erzielt worden. Wegen der überragenden Siege im Osten und an der Isonzofront hatte der Reichsrat im Jahr 1917 zunächst noch keine Veranlassung, Kritik am Militär oder verantwortlichen Ministern zu üben, was Fragen der Kriegsführung anbelangte. Der Reichsrat beschäftigte sich Anfang 1918 vor allem mit Fragen, wie die Friedensverträge mit Russland und Rumänien auszugestalten seien  ; auch beschäftigte er sich mit dem Friedensvertrag, welcher mit dem neu geschaffenen Staat Ukraine abzuschließen war.23 Mitte März 1918 endete die Sitzungsperiode und die Kammern des Reichsrats vertagten sich. Das Abgeordnetenhaus nahm erst am 16. Juli 1918 seine Sitzungen wieder auf.24 Zwischenzeitlich war militärisch viel geschehen. Nach monatelanger Vorbereitung und vor allem auf Drängen der deutschen Obersten Heeresleitung hatten an der Südwestfront (Gebirgs- und Piavefront) zwei Heeresgruppen des österreichisch-ungarischen Heeres unter Feldmarschall Franz Graf Conrad von Hötzendorf und Feldmarschall Svetozar Boroević de Bojna25 mit drei Armeen,26 zusammen 48 Divisionen, unterstützt von 5473 Geschützen aller Kaliber und über 400 Flugzeugen, am 15. Juni 1918 auf einer Frontbreite von über 100 Kilometern einen Großangriff nach Art eines Zangenangriffs – Heeresgruppe Conrad mit einer Hauptstoßrichtung auf Vicenza und Heeresgruppe Boroević mit einer Hauptstoßrichtung auf Padua – unternommen, um die italienische Front zum Einsturz zu bringen. Bereits nach wenigen Tagen musste das Unternehmen jedoch, trotz einiger örtlicher Erfolge, namentlich an der Piavefront, abgebrochen und die Truppen mussten auf die Ausgangsstellungen zurückgenommen werden.27 Die Verluste auf österreichisch-ungarischer Seite betrugen bis 24. Juni 1918 11.643 22 StPA, 26.10.1917, 1761. Zu weiteren vom Abgeordnetenhaus mit frenetischem Jubel entgegengenommenen Siegesmeldungen des Generalstabs  : ebd., 6.11.1917, 1811, anlässlich des Überschreitens des Tagliamento durch die österreichisch-ungarischen Truppen und der Räumung der ganzen Dolomitenfront durch den Gegner  ; ebd., 5.12.1917, 2628, anlässlich der österreichisch-ungarischen Offensive auf der Hochfläche der Sieben Gemeinden (Sette Comuni). 23 Die Friedensverträge von Brest-Litowsk mit der Ukraine sowie mit Russland wurden am 9.2.1918 bzw. 3.3.1918 abgeschlossen, derjenige mit Rumänien am 7.5.1918. 24 Es war mit Ermächtigung Kaiser Karls ab 4.5.1918 durch Ministerpräsident v. Seidler unter Berufung u. a. auf die sich zuspitzende Kriegslage vertagt worden  ; Wiener Zeitung, 4.5.1918, 3. 25 »Der Löwe vom Isonzo«, gebürtiger Kroate und einer der glänzendsten Heerführer des k. u. k. Heeres. 26 11., 6. und Isonzoarmee. 27 Für einen Gesamtüberblick siehe Edmu nd Gl a ise-Horstenau – Rudolf K iszling (Hg.), Öster­ reich-Ungarns letzter Krieg 1914–1918, Bd. 7, Das Kriegsjahr 1918, Wien 1938, 221–339 und Beilagenband, Beilagen 10 (Operationsplan 1918 gegen Italien), 11 (Kriegsgliederung des k. u. k. Heeres am 15.6.1918), 12–22  ; Ministero della Difesa. Stato maggiore dell’Esercito-ufficio storico (Hg.), L’Esercito Italiano nella Grande Guerra (1915–1918), vol. V/1, Le operazioni del 1918, Rom 1980, 275–670  ; A ndr ás Sik lós, Die letzte Offensive der Österreichisch-Ungarischen Monarchie (15.–24. Juni 1918), in  : Acta Historica Academiae Scientiarum Hungaricae 30/1–2, 1984, 69–127.

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Tote, 80.852 Verwundete und 25.574 Vermisste, davon 24.475 Kriegsgefangene.28 Die beteiligten italienischen sowie britischen und französischen Einheiten hatten demgegenüber deutlich weniger Gesamtverluste mit 84.830 Mann, darunter 8.030 Tote, 28.998 Verwundete und 47.802 Vermisste (zumeist Kriegsgefangene).29 Die gründlich fehlgeschlagene Junioffensive war der Auslöser für das Abgeordnetenhaus des Reichsrats, in drei geheimen Sitzungen am 23., 24. und 25. Juli 1918 militärische Dinge rund um diese Niederlage äußerst detailliert zu diskutieren und Schuldige zu suchen.30 Bei der dreitägigen Debatte im Abgeordnetenhaus vom 23. bis 25. Juli 1918 handelte es sich um die einzige Debatte des Reichsrats, in der Fragen der Kriegsführung in extenso diskutiert wurden. Eine vergleichbare Debatte hat es im Herrenhaus nicht gegeben. Im ungarischen Abgeordnetenhaus begann die Aufarbeitung der Niederlage in der parlamentarischen Form der Interpellation bereits am 26. Juni 1918 und wurde am 28. Juni 1918 fortgesetzt. Der ungarische Ministerpräsident Sándor Wekerle gab an diesem Tag Verlustzahlen für die österreichisch-ungarischen Truppen bekannt (in geschlossener Sitzung  !), die im Vergleich zu den geschätzten italienischen und alliierten Verlusten jedoch viel zu niedrig waren, und versuchte auf diese Weise die Niederlage in einen Sieg umzumünzen.31 Die Hauptdebatte fand am 3. Juli 1918 zur Interpellation des Abgeordneten László Fényes statt, die mit einiger Schärfe geführt wurde.32 Die Debatte endete damit, dass Ministerpräsident Wekerle auf die diversen Vorhalte des Abgeordneten Fényes zu den Gründen der Niederlage nun

28 Gl a ise-Horstenau, Österreich-Ungarns letzter Krieg, Bd. 7, 359 (Verlustzahlen vom 14. bis 25.6. 1918). 29 Ebd., 338 (Verlustzahlen vom 15. bis 25.6.1918)  ; Sik lós, Letzte Offensive, 102. 30 Die unveröffentlichten stenographischen Protokolle der drei Sitzungen (80., 81. und 82.) umfassen insgesamt 600 lose Blätter, »teilweise handschriftlich in Kurrent und teilweise in Maschinenschrift«  ; Elisa beth Dietrich-Schulz, Die Stenographischen Protokolle der geheimen Sitzungen des Abgeordnetenhauses des Reichsrates im Juli 1918, in  : Parlamentsdirektion (Hg.), Zu Wort gemeldet ist … Das Buch. 150 Jahre Parlamentsbibliothek, Salzburg–Wien 2019, 47–53, hier  : 48, dort auch weitere aufschlussreiche Einzelheiten zu den Protokollen und deren Edition. Die Veröffentlichung erfolgte am 12.7.2018 als Online-Publikation auf der Parlaments-Webseite https://www.parlament.gv.at/PERK/ HIS/DEB/GEHEIMSITZ/index.shtml [6.1.2022]  : Abgeordnetenhaus des Reichsrats   : Stenographische Protokolle der geheimen Sitzungen Juli 1918. Das amtliche veröffentlichte Protokoll der drei geheimen Sitzungen besteht nur aus drei Seiten, Internetfundstelle wie zuvor. 31 Hierzu Sik lós, Letzte Offensive, 117, 118. Országgyülési Magyar Parlamenti Gyüjtemény, 1861–1990 közötti idöszak  : országgyülési naplók, irományok, AZ 1910. ÉVI JUNIUS HÓ 21-ÉRE HIRDETETT ORSZÁGGYÜLÉS NYOMTATVÁNYAI KÉPVISELÖHÁZ.-NAPLÓ.XL. [Protokolle des Hauses der Abgeordneten des Parlaments ab 21. Juni 1910- Band XL.], 99, 100 (ung. AGH, Band XL, 25. Juni bis 19. Juli 1918, online abrufbar unter  : https://library.hungaricana.hu/hu/view/OGYK_KN-1910_40/ [6..2022]). 32 Sik lós, Letzte Offensive, 118, 119  ; ung. AGH, ebd., 3.7.1918, 222–230.

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konkrete Auskünfte verweigerte.33 Bestärkt wurde der Ministerpräsident darin von Graf Tisza, der Fényes als Verräter brandmarkte.34 Die Debatten im ungarischen Abgeordnetenhaus und diejenigen im österreichischen Abgeordnetenhaus Wochen später waren aus staatsrechtlicher Perspektive ein Novum in zweierlei Hinsicht. Aus Sicht der ministeriellen Verantwortlichkeit handelte es sich um Stellvertreterdebatten. Denn die Regierungen der beiden Reichshälften waren erstens für die gemeinsame Angelegenheit des Kriegswesens gar nicht zuständig. Zweitens überschritten die beiden Abgeordnetenhäuser ihre Kompetenzen, indem nicht weniger als die parlamentarische Verantwortlichkeit und Kon­trolle für die Ausübung der sogenannten Kommandogewalt gefordert wurde, die aber staatsrechtlich einer parlamentarischen Kontrolle entzogen war. Tatsächlich kam es nicht zur Einsetzung der bereits in der Debatte des ungarischen Abgeordnetenhauses geforderten parlamentarischen Untersuchungskommission zur Aufklärung von Gründen und Suche nach Verantwortlichen für die militärische Niederlage.35 In den geheimen36 Sitzungen des Abgeordnetenhauses des Reichsrats vom 23. bis 25. Juli 1918 brach sich eine Art (staatsrechtliche) Revolte des Abgeordnetenhauses Bahn. Denn diese Sitzungen waren die ersten, wo besonders über militärische Ereignisse, über Strategie und Taktik, über die katastrophale Verpflegungslage und über Fehler der Heeresführung im Übermaß gesprochen und breite Kritik an der höchsten militärischen Führung geübt wurde. Dies betonte besonders prägnant der Abgeordnete Cäsar Ritter Haller von Hallenburg (Polenklub), indem er in der zweiten Sitzung, am 24. Juli 1918, ausführte  : »Es ist zum ersten Mal seit Beginn des Weltkrieges, […] dass dem Hohen Hause die Möglichkeit geboten wird, über die militärischen Ereignisse und die Heeresführung zu sprechen und eine gründliche Kritik des Vorgefallenen zu üben«.37 Für die geschäftsführende Regierung38 fiel dem Minister für Landesverteidigung, Feldmarschalleutnant Karl Czapp von Birkenstetten, die 33 Sik lós, Letzte Offensive, 118  ; ung. AGH, ebd., 228. 34 Sik lós, Letzte Offensive, 118, 119  ; ung. AGH, ebd., 229ff. 35 Generalstabschef Arz berichtet, dass Kaiser Karl ihm am 26.7.1918 mitgeteilt habe, dass die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission zur Erhebung der Ursachen der missglückten Offensive geplant sei und er den Kaiser gebeten habe, seine Genehmigung dazu nicht zu erteilen, weil die Bestellung einer solchen Kommission ein Eingriff in die Hoheitsrechte des Kaisers und ein solcher Eingriff in eine gemeinsame Institution, wie die Armee, vollkommen unzulässig sei (A rthur A rz von Str aussenburg, Zur Geschichte des großen Krieges 1914–1918, Wien–Leipzig–München 1924, 277). Kaiser Karl hatte bereits am 15.7.1918 wegen der militärischen Niederlage in der Junischlacht an der Südwestfront Feldmarschall Conrad von Hötzendorf seines Kommandos über die Tiroler Heeresgruppe enthoben  ; zum kaiserlichen Schreiben  : http://wk1.staatsarchiv.at/operativekriegsfuehrung/conrad-von-hoetzendorf-und-das-aok/#/?a=artefactgroup92 [6.1.2022]. 36 Hierzu § 34, B.-D. GO. 37 StP geheime Sitzungen 1918, 120f. 38 Die Regierung v. Seidler war am 22.7.1918 zurückgetreten  ; StPA, 23.7.1918, 4193.

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Aufgabe zu, die Heeresführung zu verteidigen.39 Der Reichsrat erwies sich also – schon durch die über dreijährige Vertagung verhindert – als vergleichsweise absoluter Spätzünder in der Befassung mit Fragen der Kriegsführung und Feststellung von Verantwortlichkeiten. Insoweit führte der Abgeordnete Dr. Ivo Benkovič (Kroatischslowenischer Klub) treffend und richtig aus  : »Es besteht da ein gewaltiger Unterschied zwischen unserem Parlament und den westlichen Demokratien, wo man, wie zum Beispiel im englischen und französischen Parlament, sich nicht gescheut hat, schuldige Generäle durch Anklagen und Untersuchungen zur Verantwortung zu ziehen«.40 Allerdings gibt es auch eine weitere Besonderheit, die im Vergleich mit anderen Parlamenten (Frankreich, Großbritannien etwa) einzigartig dasteht. Die zu Beginn der Debatte am 23. Juli 1918 eingebrachten Anträge und die am Ende der Sitzungen einstimmig beschlossenen Anträge wurden von allen Parteien des Abgeordnetenhauses unterstützt. Dies wurde von Rednern auch mehrfach betont.41 Dagegen musste mehrfach, anders als in den Parlamenten Großbritanniens und Frankreichs, von Rednern hervorgehoben werden, dass die Diskussion derartiger mili­tärischer Angelegenheiten und der Ausspruch von Kritik und Tadel gegenüber der Heeresführung eine besondere Aufgabe des Parlaments sei. Einige prägnante Zitate mögen dies veranschaulichen. So erklärte der Abgeordnete Max Friedmann (Deutscher Nationalverband) in der Sitzung vom 23. Juli 1918  : »Aber eines wird hoffentlich diese Debatte zutage fördern  : dass endlich das Militär sieht, dass militärische Sachen nicht ein Nolimetangere sind. Es handelt sich auch nicht um eine Geheimwissenschaft, sondern das Parlament rafft sich endlich auf und erfüllt das, was seine Pflicht ist. Es kümmert sich um diese Angelegenheiten.«42 Der Abgeordnete Dr. Herman Lieberman (Polenklub) forderte vehement eine parlamentarische Kontrolle der militärischen Führung mit drastischen Worten ein, indem er a­ usführte  : »so müssten wir alle wie ein Mann aufstehen und eine parlamentarische Unter­ suchung verlangen. (Lebhafte Zustimmung.) Denn nur eine parlamentarische Untersuchung wäre geeignet, Licht in das Dunkel der Ursachen dieser Massentragödie zu bringen, die sich an den Ufern des Piave und in den venezianischen Bergen abgespielt hat. […] Wissen Sie, Exzellenz [den Landesverteidigungsminister meinend], und sagen Sie es der Krone  : Die Zeiten der Kriegsherrlichkeit sind endgültig vorbei […] Sagen Sie, dass wir, wiewohl wir uns nicht einreden, den militärischen Betrieb beherrschen zu wollen, das Recht haben, diese Generäle, denen das Leben unserer

39 Er versuchte dies in der 1. Sitzung am 23.7.1918 mit einem ausführlichen militärischen Ablauf- und Lagebericht, mit dem er die Abgeordneten aber letztlich nicht überzeugen konnte (StP geheime Sitzungen 1918, 6–22). 40 StP geheime Sitzungen 1918, 194. 41 Ebd., 35 (Abg. Dr. v. Mühlwerth), 181 (Abg. Johann Mayer), 235 (Abg. Albert Sever). 42 Ebd., 34.

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Brüder anvertraut wurde, uns von der Nähe zu besehen, dass wir das Recht haben, ihr Verschulden zu prüfen, über sie unser Urteil abzugeben und ihre Entfernung und Bestrafung zu verlangen. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen.).«43 Der Abgeordnete Dr. Rudolf Ritter Lodgman von Auen (Deutscher Nationalverband) beleuchtete am zweiten Tag der Sitzung das Problem der dualen Verantwortlichkeiten in Heeresangelegenheiten sehr dezidiert mit folgenden Worten  : »Das größte Hindernis für eine Gesundung der jetzigen Zustände, auch ein Hindernis dafür, dass wir mit der Armeeverwaltung in eine direkte Berührung kommen können, sind zweifellos die staatsrechtlichen Verhältnisse, der Dualismus. Der Landesverteidigungsminister muss hier eine Angelegenheit vertreten, für welche er eigentlich in persona gar keine Verantwortung trägt, denn er ist ja nur der Subdelegierte. (Abgeordneter Gröger  : Der Blitzableiter  !) Der Blitzableiter, wenn Sie wollen […] Ich bedaure lebhaft, dass er als parlamentarisch verantwortliche Person hier erscheint, während die wirklich Verantwortlichen ganz woanders sitzen. (Zustimmung.) […] Aber diese Debatte muss etwas zeitigen und wird hoffentlich ein Gutes haben  : Das Armeeoberkommando muss das Bewusstsein eingeimpft bekommen, dass es unter der Kritik des Hauses steht (Beifall und Händeklatschen), so wie es überall der Fall ist. Es geht nicht an, dass das Armeeoberkommando mit Rücksicht darauf, dass das Heer eine gemeinsame Sache ist, sich einer derartigen Kritik entziehen will. Das ist ganz ausgeschlossen […] Es wurde mit Recht hervorgehoben, dass wir heute kein Heer im Sinne früherer Jahrhunderte ins Treffen führen. Was heute kämpft, das ist das Volk. (Beifall.) Volk gegen Volk stehen sich die Heere gegenüber, und daher darf es auch keine Unterschiede der Verantwortlichen geben, welche diesem Heere angehören.«44 Der Abgeordnete Antonín Kalina (Vereinigung der unabhängigen fortschrittlichen Abgeordneten aus Böhmen und Mähren) schlägt in der zweiten Sitzung in die gleiche Kerbe, wenn er die parlamentarische Verantwortlichkeit des Landesverteidigungsministers als Stellvertreter der Heeresführung mit drastischen Worten wie folgt einfordert  : »Exzellenz, […] Sie sind dem Parlamente verantwortlicher Minister und wir sind hier doch keine Schulkinder, die die Hände auf die Bank legen müssen, wenn ein Minister spricht  ; […] Es ist ausgeschlossen, dass wir keine Kritik in diesem Hause üben, es ist ausgeschlossen, dass wir nach vier Jahren dieses entnervenden Kampfes, auch des Kampfes im Hinterlande, so ohne Weiteres alles ruhig und kaltblütig hinnehmen können.«45 Insgesamt bleibt bemerkenswert, dass nicht ein Redner in den drei Sitzungen die Heeresführung in Schutz nimmt. Der Landesverteidigungsminister gesteht schließlich in der dritten Sitzung dem Abgeordnetenhaus zu, dass sich einer seiner Ausschüsse (gemeint ist wohl der Wehrausschuss) weiter mit den behan43 Ebd., 79. 44 Ebd., 114, 115. 45 Ebd., 174.

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delten militärischen Vorgängen befassen dürfe, und verspricht, diesem Ausschuss »nach Maßgabe der militärischen Möglichkeiten die entsprechenden Aufklärungen zu geben«. Er schließt es jedoch aus, dass durch den Reichsrat eine spezielle Kommission eingesetzt wird, die diese militärischen Vorgänge untersucht. Denn der Legislative sei durch die Verfassung die Führung, Leitung und Organisation der bewaffneten Macht entzogen.46 Dagegen wendet sich der Abgeordnete Albert Sever (Klub der deutschen Sozialdemokraten) kurz vor Schluss der Debatte am 25. Juli 1918 mit einer scharfen Gegenrede und führt u. a. aus, dass das Abgeordnetenhaus das Recht habe, »die Blutsteuer zu beschließen«, und deshalb auch »bei all der verunglückten Führung, die sich in diesen vier Kriegsjahren ereignet hat«, mitreden wolle.47 Zu den Gründen der Niederlage von Österreich-Ungarns letzter Großoffensive nehmen einige der Redner in ausführlichster Art und Weise Stellung, etwa der Abgeordnete Dr. Lodgman von Auen, selbst als Frontsoldat bis 1917 im Einsatz gewesen. Es geht etwa um das gescheiterte Gasschießen, weil die gegnerische Artillerie nicht ausgeschaltet werden konnte48, oder die neue Taktik des Gegners, vordere Stellungen nicht bzw. nur dünn zu besetzen und ohne hohe Verluste in hinteren Stellungen den Angriff der österreichisch-ungarischen Truppen mit unerschütterten Truppen zu stoppen.49 Ein Abgeordneter zitiert in extenso den beeindruckenden Erlebnisbericht eines am Angriff teilnehmenden Offiziers, der militärische Fehler und Versäumnisse deutlich benennt.50 Zum Gegenstand der Aussprache wurde auch der bereits am 9./10. Juni 1918 erfolgte größere Vorstoß der k. u. k. Kriegsmarine in die südliche Adria gemacht, um die gesperrte Straße von Otranto zu durchbrechen. Das Unternehmen war vorzeitig abgebrochen worden, nachdem ein italienisches Torpedoboot das modernste Schlachtschiff der k. u. k. Kriegsmarine, SMS Szent István, am 10. Juni 1918 vor der Insel Premuda versenkt hatte. Der Abgeordnete Gustav Habermann vom Klub der böhmischen Sozialdemokraten sprach darüber in der Sitzung am 23. Juli 1918 und forderte vom Landesverteidigungsminister Auskunft zur Frage der Verantwortung des Schiffskommandanten Heinrich Seitz, der den Befehl zum Verlassen des Schiffs viel zu spät erteilt hätte, weshalb 400 Matrosen den Tod gefunden hätten.51 Am Ende 46 Ebd., 218. 47 Ebd., 230. 48 Ebd., 110. 49 Ebd., 164. 50 Ebd., 161f. 51 Ebd., 68  ; tatsächlich fanden 89 Besatzungsmitglieder den Tod  ; Dieter Wink ler – Erwin Sieche – Wa lter Bl asi, Seiner Majestät Schlachtschiff Szent István, in  : Österreichische Militärische Zeitschrift 44, 2006, 563–578. Der Untergang der Szent István wurde von einem Kamerateam des k. u. k. Kriegspressequartiers vom Schwesterschiff SMS Tegethoff aus gefilmt und kann im Internet abgerufen werden  : https://www.youtube.com/watch?v=5pSiCjfhUUw oder https://m.youtube.com/c/

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der Debatte, am 3. Sitzungstag, wurden zwei Anträge zur Untersuchung der in Rede stehenden militärischen Operationen durch den Präsidenten des Abgeordnetenhauses verlesen und sodann einstimmig angenommen und an den Wehrausschuss des Abgeordnetenhauses überwiesen.52 Konsequenzen hatten die Beschlüsse jedoch offensichtlich nicht. Denn das Abgeordnetenhaus vertagte sich nach der Sitzung am 26. Juli 1918 und trat dann nach der Sommerpause erst wieder am 1. Oktober 1918 zusammen. Am 2. Oktober 1918 wurde ein in der Sache noch tiefer in die Kommandogewalt eingreifender Antrag der Abgeordneten Leuthner und Genossen, der sich neben der gescheiterten Junioffensive noch mit der militärischen Lage in Albanien beschäftigte, zusammen mit einem Antrag des Abgeordneten Staněk vom 24. Juli 1918 über die ungenügende Berichterstattung des Landesverteidigungsministers zu den in Rede stehenden militärischen Operationen durch den Präsidenten des Abgeordnetenhauses ohne erste Lesung dem Wehrausschuss überwiesen.53 Der Wehrausschuss befasste sich jedoch bis zur allerletzten Sitzung des Abgeordnetenhauses am 12. November 1918 nicht mehr mit den ihm zugewiesenen Anträgen. Anfang Oktober 1918 war die militärische Lage für Österreich-Ungarn wie auch für das Deutsche Reich bereits prekär. Ende September war Bulgarien gefallen und hatte um Waffenstillstand gebeten, die Türkei folgte.54 Die Doppelmonarchie erlebte in Folge ihre letzten Zuckungen und die Aufkündigung des Ausgleichs durch Ungarn am 31. Oktober 1918 und der übereilte Abzug der ungarischen Truppen von der Front machten jede Hoffnung auf ein Hinauszögern der militärischen Niederlage unhaltbar. Folgende wesentliche Ergebnisse sind festzuhalten  : 1. Staats- und verfassungsrechtlich standen dem Reichsrat von Österreich seit dem Ausgleich mit Ungarn von 1867, wie auch schon zuvor, keinerlei Mitwirkungs-, Teilhabe- oder Kontrollrechte in Fragen der Kriegsführung zu. Dies blieb auch im letzten Kriegsjahr 1918 des Weltkriegs, zugleich letztes Jahr der Doppelmonarchie, so. Allein der Kaiser und König hatte die Kommandogewalt über die gesamte bewaffnete Macht inne, und zwar ohne ministerielle Gegenzeichnung und damit ohne parlamentarische Ministerverantwortlichkeit. TheFederalFile unter »Videos« vor 4 Jahren »Sinking of the Austrian Battleship SMS Szent István 1918 WWI film« [6.1.2022]. 52 StP geheime Sitzungen 1918, 237. 53 StPA, 2.10.1918, 4345  ; Anträge  : Beil. StPA, Nr. 1132, 1158  ; zur verfahrensmäßigen Behandlung  : § 38, D. GO. 54 Entsprechend düster wurde die Lage in den Sitzungen des Gemeinsamen Ministerrats vom 27.9.1918 und 22.10.1918 gezeichnet  : Mik lós Komjáth y, Protokolle des Gemeinsamen Ministerrates der Österreichisch-Ungarischen Monarchie (1914–1918), Budapest 1966, 682, 701  ; auch unter https://hw.oeaw.ac.at/ ministerrat/serie-2/oe_hu_mrp_VII/pdf/oe_hu_mrp_VII_z39.pdf und https://hw.oeaw.ac.at/minister rat/serie-2/oe_hu_mrp_VII/pdf/oe_hu_mrp_VII_z41.pdf [6.1.2022].

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2. Der Reichsrat war vom 16. März 1914 bis zum 29. Mai 1917 vertagt. Die Delegationen von Reichsrat und Reichstag waren deshalb ebenfalls handlungsunfähig und wurden erst am 3. Dezember 1917 wieder einberufen. 3. Der Reichsrat unternahm seit dem Wiederzusammentritt am 30. Mai 1917 bis zum Waffenstillstand am 3. November 1918 keinen Versuch, über sein »Königsrecht« der Finanzbewilligung (insbesondere Haushaltsgesetzgebung mit Kreditaufnahmeermächtigung [Kriegsanleihen]) auf die Kriegsführung in irgendeiner Art und Weise Einfluss zu nehmen. Selbiges galt für die zahlreichen gesetzlichen Regelungen auf dem Gebiet der Heeresverwaltung, z. B. Rekrutenbewilligung und Landsturm, wo der Reichsrat staatsrechtlich zu beteiligen war. 4. Unter dem Eindruck der sich abzeichnenden Kriegsniederlage nach der gescheiterten Großoffensive des österreichisch-ungarischen Heeres gegen Italien an der Piave und an der Tiroler Front (15. bis 24. Juni 1918) begehrte das Abgeordnetenhaus des Reichsrats erstmals ungeniert und mit außergewöhnlicher Schärfe gegen die Art und Weise der Kriegsführung in drei geheimen Sitzungen am 23., 24. und 25. Juli 1918 auf. Es forderte Mitwirkungsrechte in Fragen der Kriegsführung, insbesondere auf umfassende Auskunft und Aufklärung gegenüber der militärischen Führung über die Ursachen der Niederlage und Kontrolle der militärischen Führung bis hin zur Forderung auf Absetzung hoher Militärs. Die Forderungen des Abgeordnetenhauses blieben aber ohne Folgen. 5. Als Gesamtergebnis bleibt festzuhalten, dass eine Einflussnahme allein des Abgeordnetenhauses des Reichsrats auf die Kriegsführung Österreich-Ungarns im letzten Kriegsjahr 1918 ab Ende Juli 1918 in der Entstehung begriffen war, sich aber wegen des Zerfalls der Doppelmonarchie Ende Oktober 1918 und des Waffenstillstands am 3. November 1918 nicht zu einer Praxis ausbilden konnte.

R ECHTSGESCHICHTE

Stefan Wedrac, Wien*

Das Völkerrecht und die Bombardierung von Städten aus der Luft im Ersten Weltkrieg

1. Entwicklung der Technologien für Bombardements bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Die Anfänge der militärischen Luftfahrt lassen sich bis ins ausgehende 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Ausgangspunkt war die Erfindung des Heißluftballons, welchen man militärisch bis zum zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich für Aufklärungsdienste und Artilleriebeobachtung sowie für Nachrichten- und Feuer­leitdienste nutzte. Der nächste Schritt war die Entwicklung von lenkbaren Luftschiffen, die nach der Erfindung des Benzinmotors mit einer hohen Reichweite und einigen Tonnen Nutzlast für Bombenkrieg geeignet waren, wie etwa die deutschen Luftschiffe des Typs »Zeppelin«.1 Wesentlicher ist jedoch die Entwicklung des Flugzeugs. Diese setzte um 1900 mit der Entwicklung des Gleit- und Motorflugzeugs ein. In den folgenden Jahren baute man Traglast und Reichweite der Flugzeuge aus. Die ersten wesentlichen Einsätze von Bombern in einem Konflikt findet man im Libyen-Krieg  : Am 1. November 1911 warf der italienische Pilot Giulio Gavotti von seinem Flugzeug – einer in Österreich entwickelten »Etrich-Taube« – händisch einige Bomben auf feindliche Stellungen in zwei Oasen in Tripolitanien ab. Ähnliche Einsätze gab es in den Balkankriegen.2 * Abkürzungen  : HLKO  : Haager Landkriegsordnung  ; ÖStA KA  : Österreichisches Staatsarchiv, Abteilung Kriegsarchiv  ; ÜBS  : Übereinkommen vom 18. Oktober 1907, betreffend die Beschießung durch Seestreitkräfte in Kriegszeiten (IX. Übereinkommen der II. Haager Friedenskonferenz). 1 Georg W. Feuchter, Der Luftkrieg, Frankfurt am Main–Bonn 3. Aufl. 1964, 17–23  ; Militärgeschichtliches Forschu ngsa mt (Hg.) – K arl Köhler (Bearb.), Die Militärluftfahrt bis zum Beginn des Weltkrieges 1914. Textband, Frankfurt am Main 2. Aufl. 1965, 1f  ; Eberh ar d Spetzler, Luftkrieg und Menschlichkeit. Die völkerrechtliche Stellung der Zivilpersonen im Luftkrieg (= Göttinger Beiträge zu Gegenwartsfragen des Völkerrechts und der internationalen Beziehungen 12), Göttingen–Berlin–Frankfurt 1956, 28f  ; ÖStA KA Manuskriptsammlung, Manuskripte zur Geschichte der militärischen Luftfahrt, Nr. 25  : Josef K.F. Naum a n n, Das erste Luftbombardement auf eine Stadt, ohne Ort ohne Jahr. 2 Köhler (Bearb.), Die Militärluftfahrt Textband, 111  ; Militä rgeschichtliches Forschu ngsa mt (Hg.) – K a rl Köhler (Bearb.), Die Militärluftfahrt bis zum Beginn des Weltkrieges 1914. Technischer Band. Die Entwicklung der Heeres- und Marineflugzeuge, Frankfurt am Main 2. Aufl. 1966, 3–32  ; Tullio Scova zzi, Diritto internazionale e bombardamenti aerei  : Chi bombarda meglio degli altri ha più ragione degli altri  ?, in  : Massimo Annati – Tullio Scovazzi (Hg.), Diritto internazionale e bombardamenti aerei,

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Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs setzte man Flugzeuge zunächst nur zur Erkundung, Artillerieaufklärung und Feuerleitung ein. Feindliche Piloten schossen zunächst noch mit Handfeuerwaffen auf nahe gegnerische Flugzeuge. Bald kam es jedoch zur Entwicklung von Jagdflugzeugen, indem man ein nach vorne schießendes Maschinengewehr mit einem speziellen Mechanismus unterbrach, sobald sich ein Rotorblatt des Propellers direkt davor befand, und somit eine präzise steuerbare, effektive Waffe im Flugzeug hatte.3 Was den Bombenkrieg betrifft, fanden von Anfang des Krieges an Bombenangriffe durch deutsche Luftschiffe statt. Sie waren aufsehenerregend, aber wenig effektiv. Zudem führten Aufklärer und Jagdflugzeuge mitunter Bomben mit, welche die Piloten mit der Hand abwarfen. Später entwickelte man spezialisierte Bombenflieger wie die großen Bombenflugzeuge namens »Gotha« des Deutschen Reiches. Sie wurden unter hohen finanziellen Aufwendungen bis 1917 perfektioniert, hatten eine Geschwindigkeit von 130 Kilometern pro Stunde, stiegen bis über 3.600 Meter auf und konnten mehr als 450 Kilogramm Bomben mitführen. Ab Mai 1917 flogen sie Angriffe auf die Alliierten. Die Gotha-Bomber waren freilich nur ein Beispiel für zahlreiche Groß- und »Riesenflugzeuge«, in den anderen kriegführenden Staaten arbeitete man an ähnlichen Projekten.4 Schon im Ersten Weltkrieg wurde an der Front und im Hinterland extensiv bombardiert. Betroffen waren zunächst Städte unmittelbar hinter der Front. Ein österreichisch-ungarisches Beispiel dafür ist Triest  : Die Hafenstadt hinter der Isonzofront war 1915–1917 mehrfach Ziel von Fliegerangriffen, die zumindest 45 Todesopfer und mehrere Dutzend Verletzte forderten. Auf der anderen Seite der Front litt Venedig besonders unter österreichisch-ungarischen Bombardements. In insgesamt 32 Bombeneinsätzen warfen Flieger der Donaumonarchie 1.029 Bomben ab, welche 52 Menschen töteten, 84 verletzten und einen Sachschaden von über 22 Millionen Lire anrichteten. In Deutschland war es Freiburg im Breisgau, wo die Bevölkerung sehr bald unmittelbare Erfahrungen mit dem Luftkrieg sammelte. Französische und britische Flieger warfen im Laufe des Krieges in 25 Angriffen fast 290 Bomben ab, die 31 Menschen töteten, rund 100 verwundeten und große Sachschäden anrichteten.5 Milano 2012, 83–262, hier 97  ; ÖStA KA Manuskriptsammlung, Manuskripte zur Geschichte der militärischen Luftfahrt, Nr. 24  : Gustav Kühnel, Das Luftkriegsrecht Österreich-Ungarns, ohne Ort ohne Jahr. 3 Willi a mson Murr ay, Der Luftkrieg von 1914 bis 1945, Berlin 2000, 26–37. 4 M a ximili a n Czesa n y, Nie wieder Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Eine völkerrechtliche Untersuchung des Luftkrieges 1939–1945, Graz 1961, 14  ; Feuchter, Luftkrieg, 26–31  ; Paul Lieser, Bombardements durch deutsche Luftschiffe im Ersten Weltkrieg, München 2013, 81  ; Murr ay, Der Luftkrieg, 72f  ; Kurt Stot tmeister, Die Flugzeuggattungen, in  : Georg Paul Neumann, Die deutschen Luftstreitkräfte im Weltkriege, Berlin 1920, 81–113, hier 98ff. 5 Fr a nco Cecot ti, Trieste 1914–1919. La città spopolata, la città rifugio, in  : Franco Cecotti (Hg.), »Un

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Einen höheren Bekanntheitsgrad erreichten die Angriffe auf die Städte London und Paris  : Der Bombenkrieg über London erreichte im Ersten Weltkrieg bereits bedeutende Dimensionen. Bei Luftschiffangriffen auf die britische Hauptstadt wurden 181 Menschen getötet und über 500 verletzt. Eine ähnliche Bilanz haben die Fliegerangriffe aufzuweisen. In Dutzenden Einsätzen, welche 486 Todesopfer forderten und fast 1.500 Menschen verletzten, entstanden Sachschäden von rund 1,2 Millionen Pfund. Die Verteidigung Londons gegen Luftangriffe band über 13.000 Mann mit fast 470 Luftabwehrgeschützen, weit mehr als 600 Scheinwerfern und rund 370 Flugzeugen. Ähnlich intensiv war der Bombenkrieg über Paris. Die Bombengeschwader der Obersten Heeresleitung griffen 44 Mal die französische Hauptstadt an. Man warf 170 Tonnen Bomben ab, welche rund 900 Menschen töteten oder verletzten. Neben den Einschlägen der deutschen Ferngeschütze war somit der Bombenkrieg für die Einwohner von Paris eine tatsächliche Bedrohung.6

2. Die Haager Friedenskonferenzen und das Verbot des Werfens von Geschossen und Sprengstoffen aus Luftschiffen In den Jahren 1898 und 1899 wandte sich der russische Zar Nikolaus II. mit mehreren Manifesten an die Staaten der Welt und schlug eine große Abrüstungs- und Friedenskonferenz vor. Er unterbreitete mehrere Themen, die diskutiert werden sollten. Eines betraf den Bombenkrieg  : Es sei »[i]m Krieg de[r] Gebrauch der schweren […] Sprengkörper, die schon bestehen, einzuschränken und das Werfen von Projektilen oder Sprengkörpern jeder Art aus Ballons oder durch ähnliche Mittel zu verbieten.«7 esilio che on ha pari«. 1914–1918. Profughi, internati ed emigrati di Trieste, dell’Isontino e dell’Istria, Gorizia 2001, 155–182, hier 167f  ; Roger Chick ering, Freiburg im Ersten Weltkrieg. Totaler Krieg und städtischer Alltag 1914–1918, Paderborn–München–Wien–Zürich 2009, 96–107  ; Giova n ni Scar a bello, Il martirio di Venezia durante la Grande Guerra e l’opera di difesa della marina italiana. Bd. 1, Venezia 1933, 59. Das Werk Scarabellos ist ganz im Geist des faschistischen Italien geschrieben und daher weitgehend mit Vorsicht zu genießen, bildet jedoch die einzige umfassende und detailreiche Schilderung des Schicksals der Stadt im Ersten Weltkrieg. Siehe außerdem Peter Schupita, Die k. u. k. Seeflieger. Chronik und Dokumentation der österreichisch-ungarischen Marineluftwaffe 1911–1918, Koblenz 1983, passim. 6 I a n Castle, The First Blitz. Bombing London in the First World War, Oxford 2015  ; Fr a nk Buchholz, Flieger über England 1917, in  : Frank Buchholz – Horst Schuh, Bombenkrieg 1914–1918. London und Paris im Visier, Aachen 2016, 4–46  ; Horst Schuh, Bomben über Paris, in  : ebd., 47–88, hier 73 und 79f  ; Luftschiffangriffe erfolgten kaum auf Paris  : ebd. Zur Aktion Gabriele D’Annunzios über Wien siehe M a nfried R auchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914– 1918, Wien–Köln–Weimar 2013, 1010. 7 Übersetzung in  : Philipp Zorn, Die beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 (= Handbuch des Völkerrechts 5), Berlin–Stuttgart–Leipzig 1915, 4.

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Im Zuge der Konferenz kam es zu intensiven Debatten über die rechtliche Regelung des Luftkriegs. Einige Delegierte wollten Bombardements aus der Luft gänzlich verbieten und sprachen von »Höllenmaschinen«.8 Die Mehrheit aber wollte kein totales Verbot, und so kam es zur folgenden Erklärung der I. Haager Friedenskonferenz 1899  :9 »Die vertragschliessenden Mächte sind übereingekommen, dass das Werfen von Geschossen und Sprengstoffen aus Luftschiffen oder auf anderen ähnlichen neuen Wegen für die Dauer von 5 Jahren verboten ist.« Sie enthielt eine Einladung an andere Staaten zum Beitritt (Adhäsionsklausel) und wurde von allen Großmächten außer Großbritannien und dem Osmanischen Reich angenommen und ratifiziert.10 Diese Erklärung war letztendlich damit begründet, dass eine noch nicht ausgereifte Waffe auch Zivilisten gefährden könnte, war aber andererseits auf fünf Jahre beschränkt, weil man die Anwendung einer vielversprechenden neuen Waffe nicht für immer verbieten wollte.11 Für eine zeitliche Beschränkung machten sich vor allem Großmächte wie die USA stark, welche bereits in die Entwicklung von Flugapparaten investiert hatten.12 Ebenso einschränkend wirkte eine Allbeteiligungsklausel, die vorsah, dass die Erklärung nur in einem Krieg zwischen zwei oder mehreren von ihnen bindend war und ihre Wirksamkeit verlor, sobald eine Nichtvertragsmacht in den Konflikt eintrat.13 Immerhin wäre eine Anwendbarkeit nach 1899 politisch noch realistisch und denkbar gewesen, sofern Großbritannien und das Osmanische Reich an einem potentiellen Konflikt nicht beteiligt gewesen wären. Auf der II. Haager Friedenskonferenz von 1907 kam es zu einer Diskussion über die mittlerweile ausgelaufene Regelung. Der Standpunkt Großbritanniens hatte sich mittlerweile geändert, da man dort eine militärische Bedrohung durch den technischen Fortschritt der Luftfahrzeuge erkannt hatte.14 Ebenso für ein Verbot sprachen sich die Vertreter vieler kleinerer Staaten aus, die den Rüstungswettlauf aus Geld 8 Heinz M a rcus H a nk e, Luftkrieg und Zivilbevölkerung. Der kriegsvölkerrechtliche Schutz der Zivilbevölkerung gegen Luftbombardements von den Anfängen bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, Juristische Dissertation, Salzburg 1989, 4.  9 A lbert Er delbrock, Das Luftbombardement. Eine Darstellung der für das Luftbombardement geltenden Völkerrechtssätze im Anschluss an das Urteil des Deutsch-Griechischen Gemischten Schiedsgerichts vom 1. Dezember 1927, Bonn 1929, 16. 10 Spetzler, Luftkrieg und Menschlichkeit, 29f  ; Kühnel, Das Luftkriegsrecht Österreich-Ungarns, 1. 11 Er delbrock, Das Luftbombardement, 16f. 12 H a nk e, Luftkrieg und Zivilbevölkerung, 4f. 13 Dr. K riege, Die völkerrechtliche Bedeutung des Luftkriegs im Weltkriege, in  : Johannes Bell (Hg.), Völkerrecht im Weltkrieg. Band 4. Der Gaskrieg. Der Luftkrieg. Der Unterseebootkrieg. Der Wirtschaftskrieg (= Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919–1928 3. Reihe), Berlin 1927, 84–106, hier 90. Der Vorname des Autors war nicht eruierbar. 14 Er delbrock, Das Luftbombardement, 16f  ; Spetzler, Luftkrieg und Menschlichkeit, 31.

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und Ressourcenmangel nicht mitmachen wollten.15 Es wurde eine Verlängerung der Erklärung mit einer kleinen Mehrheit von 28 der 44 Teilnehmerstaaten angenommen, welche bis zu einer zukünftigen, dritten Friedenskonferenz hätte dauern sollen. Blickt man im Hinblick auf die Allbeteiligungsklausel jedoch auf die Liste der Staaten, welche der Erklärung 1907 nicht mehr zugestimmt oder sich der Stimme enthalten haben, so wird die praktische Unanwendbarkeit klar  : Bei den acht Gegenstimmen handelte es sich unter anderem um die Stimmen von Deutschland, Italien, Österreich-Ungarn und Russland und unter den acht Staaten, welche sich enthalten hatten, waren Frankreich, Spanien und Japan. Ratifiziert wurde die Erklärung schließlich von 18 Staaten, aber nur drei Militärmächten, nämlich China, Großbritannien und den USA.16 Diese Erklärung als erste völkerrechtliche Regelung des Luft- und Bombenkriegs war für die Staaten, welche sie ratifiziert hatten, zu Beginn des Weltkriegs daher technisch gesehen in Kraft, wegen der Allbeteiligungsklausel aber ohne jegliche Bedeutung.17 Eine interessante Frage in Bezug auf die Erklärung ist, ob ihr Inhalt – das Verbot von Luftbombardements – im Laufe der Jahre zu Völkergewohnheitsrecht geworden ist. Völkergewohnheitsrecht ist laut Statut des Internationalen Gerichtshofs »Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung«.18 Schon aus der geringen Anzahl von ratifizierenden Staaten ist ersichtlich, dass von einem allgemeinen Konsens nicht die Rede sein kann.19 Dazu kommt, dass Flugzeuge in allen Kriegen zwischen der II. Haager Friedenskonferenz und dem Ersten Weltkrieg eingesetzt wurden,20 und auch im Weltkrieg selbst gebrauchten sie alle beteiligten Militärmächte. Daher kann man von einer dauernden Übung, ja von einer Praxis überhaupt nicht sprechen. Auch beim Treffen des Instituts für Internationales Recht in Madrid im Jahre 1911 wurde festgehalten  : »La guerre aérienne est permise, mais à la condition de ne pas présenter pour les personnes ou les propriétés de la population pacifique de plus grands dangers que la guerre terrestre ou maritime.«21 Es ist also für den Ersten Weltkrieg davon auszugehen, dass Bombardements aus der Luft völker-

15 H a nk e, Luftkrieg und Zivilbevölkerung, 8f. 16 A mos S. Hershey, The International Law of Aerial Space, in  : The American Journal of International Law 6/2, 1912, 381–388, hier 384  ; Spetzler, Luftkrieg und Menschlichkeit, 31. 17 Spetzler, Luftkrieg und Menschlichkeit, 30  ; Kühnel, Das Luftkriegsrecht Österreich-Ungarns, 7. 18 § 38 Absatz 1 Littera b des Statuts des Internationalen Gerichtshofes, BGBl. 120/1956. 19 H a nk e, Luftkrieg und Zivilbevölkerung, 37. 20 Wilmot E. Ellis, Aerial-land and Aerial-maritime Warfare, in  : The American Journal of International Law 8/2, 1914, 256–273, hier 261. 21 Ja mes Wilfor d Ga rner, Recent Developements in International Law (= Tagore Law Lectures 1922), Calcutta 1925, 170–172  ; Textes votés à la Session de Madrid (1911). Sur le régime juridique des aérostats, in  : Annuaire de l’Institut de Droit International 24, 1911, 346.

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rechtskonform waren. Es konnte sich jedoch eine Völkerrechtswidrigkeit aufgrund der Art und Weise des Bombardements ergeben.

3. Die Haager Landkriegsordnung und das Luftbombardement Als einschlägige Regelung kommt die Haager Landkriegsordnung (HLKO) in Betracht. Sie ist eine Anlage22 des IV. Übereinkommens der II. Haager Friedenskonferenz vom 18. Oktober 1907 mit dem Titel »Ordnung der Gesetze und Gebräuche des Landkrieges«. Dieses Übereinkommen geht auf ein früheres, bei der I. Haager Friedenskonferenz 1899 abgeschlossenes zurück.23 Bei der Konferenz 1907 wurden einige Änderungen vorgenommen,24 diese zweite Version ist die Grundlage für die Betrachtung der für den Luftkrieg einschlägigen Artikel weiter unten. Beide Versionen waren mit einer Allbeteiligungsklausel ausgestattet. In Bezug auf den Ersten Weltkrieg ist festzuhalten, dass alle daran beteiligten kriegführenden Staaten entweder die Version von 1899 oder die leicht veränderte Version von 190725 unterzeichnet hatten. Weil die Fassungen fast gleichlautend waren, reichte es für die Erfüllung der Allbeteiligungsklausel aus, eine der beiden Versionen unterzeichnet zu haben, wenngleich dann nur die übereinstimmenden Teile galten.26 Drei Artikel beschäftigen sich mit Fragen des Bombardements, nämlich Artikel 25, 26 und 27 HLKO. Artikel 25 handelt von der Rechtmäßigkeit des Beschusses von unverteidigten Siedlungen, Artikel 26 spricht ein Benachrichtigungsgebot aus und Artikel 27 normiert den Schutz bestimmter Objekte bei Beschießungen. Da Artikel 26 auf Luftbombardements nach allgemeiner Meinung nicht anzuwenden war,27 sollen im Folgenden nur die beiden anderen Artikel besprochen werden. 3.1 Artikel 25 HLKO Artikel 25 HLKO untersagt, »unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude, mit welchen Mitteln es auch sei, anzugreifen oder zu beschießen.« Der Einschub »mit welchen Mitteln es auch sei« wurde erst 1907 dezidiert im Hinblick auf mögliche Luftbombardements eingefügt. Er galt als Ersatz für das gescheiterte ge22 RGBl 174/1913. 23 Zorn, Die beiden Haager Friedenskonferenzen, 30–42. 24 Ebd. 79–83. 25 Das Übereinkommen in der Form von 1907 wurde von Österreich-Ungarn am 17. November 1909 ratifiziert  : RGBl 180/1913. 26 K riege, Die völkerrechtliche Bedeutung des Luftkriegs, 91. 27 H a nk e, Luftkrieg und Zivilbevölkerung, 51–54 mit zahlreichen weiterführenden Hinweisen  ; ebenso Spetzler, Luftkrieg und Menschlichkeit, 43ff.

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nerelle Verbot von Bombenabwürfen aus Luftfahrzeugen und sollte »den Bombenwurf […] wenigstens unter Aussparung unverteidigter Ortschaften auf bestimmte Zwecke beschränken und damit den humanitären Regeln des Artikels 25 HLKO unterstellen.«28 An dieser Stelle ist ein Exkurs zum Begriff der sogenannten »offenen Stadt« angebracht. Dies ist im militärischen Sprachgebrauch des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine unbefestigte Stadt als Gegensatz zur Festung. Der Begriff der »offenen Stadt« fehlt aber sowohl in der Fassung von 1899 als auch in jener von 1907 der HLKO. Er kam in früheren Übereinkünften und Entwürfen vor, wurde aber zugunsten der Formulierung »unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude« in Artikel 25 HLKO aufgegeben, weil kriegsrechtlich nur die Beschießung von tatsächlich unverteidigten Siedlungen verboten werden sollte. Das Völkerrecht gewährte daher zur Zeit des Ersten Weltkriegs der »offenen Stadt« keinen darüber hinausgehenden, besonderen Schutz.29 Bei der Anwendung vom Artikel 25 der Haager Landkriegsordnung traten mehrere Probleme auf. Eines davon ist die schwammige und anachronistische Formulierung »unverteidigt«, die eine typische Schwierigkeit des Völkerrechts im Ersten Weltkrieg war  : »The fuzziness of many rules for war on land contributed to the increase of legal grey areas. […] A[n] […] example was the prohibition of attacks on so-called undefended cities. Cities are classified as such, when the defending parties renounce defensive actions from the outset. The rules for war on land prohibited attacks on such cities. However, when the rule was created, the thought was only of towns situated in battle zones that were defended on the ground and could be surrendered. But what applied to cities behind the front line  ?«30 Diese Frage ist zentral und führt zu einem prinzipiellen Problem  : Artikel 25 HLKO bezog sich aufgrund des erwähnten Einschubs nicht mehr nur auf rechtlich unproblematische Bombardements in unmittelbarer Nähe des Operationsgebiets der

28 Spetzler, Luftkrieg und Menschlichkeit, 35. Da die Haager Landkriegsordnung von einigen Staaten nur in der Fassung von 1899 angenommen wurde, galt dieser Einschub allerdings in Bezug auf Konflikte mit ihnen nicht als maßgebendes Vertragsrecht. Es sind dies etwa Serbien, Italien, Bulgarien und die Türkei. Siehe dazu K riege, Die völkerrechtliche Bedeutung des Luftkriegs, 92. Generell Rechtsverbindlichkeit ablehnend sogar  : Cy ril Moses Picciot to, Some Notes on Air Warfare, in  : Journal of the Society of Comparative Legislation 15/2, 1915, 150–155, hier 153. Entgegengesetzte Meinungen findet man referiert bei H a nk e, Luftkrieg und Zivilbevölkerung, 36–42, denen zufolge schon in der Version von 1899 eigentlich Bombardements aus der Luft umfasst waren, da es keine Beschränkung auf den Landkrieg gab. 29 Ernst Schmitz, Die »offene Stadt« im geltenden Kriegsrecht, in  : Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 10, 1940, 618–628, hier 618f. 30 Oliv er Diggelm a n n, Beyond the Myth of a Non-Relationship  : International Law and World War I, in  : Journal of the History of International Law 19, 2017, 93–120, hier 111f. Hervorhebung im Original.

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Landstreitkräfte, sondern auch auf Aktionen der Luftwaffe im sogenannten »Hinterland«, welche nichts mit den unmittelbaren Kampfhandlungen zu tun haben. Da der Artikel eigentlich die Beschießung einer einzunehmenden Stadt an der Front regeln soll, die danach kapituliert oder erobert wird und dann besetzt werden soll, ist er jedoch nur schwer auf Fliegerangriffe im Hinterland anzuwenden, welche die Stadt nur beschädigen oder zerstören und nicht einnehmen können. Es gab Juristen, die deswegen eine Anwendbarkeit des Artikel 25 HLKO für den sogenannten »selbständigen Luftkrieg« weit hinter der Front ablehnten, weil er keine Analogie mangels der Einnehmbarkeit der Siedlung zulässt.31 Andernfalls käme es zu absurden Situationen, wie etwa ein britischer Offizier 1914 ausführte  : »I will put an extreme case. The commander of an enemy’s war balloon might arrive over London if unopposed and signal, as a matter of courtesy, ›I am going to drop explosives.‹ We answer, ›You cannot drop explosives, we are not defended.‹ The commander replies, as it seems to me quite logically, ›Then you surrender. Good. You will now obey orders.‹ […] The Hague Convention as worded does not appear to provide an adequate safeguard.«32 Selbst wenn man jedoch die Anwendbarkeit bejaht, treten begriffliche Probleme mit dem Adjektiv »unverteidigt« auf, die seine Effektivität letztendlich bis zur Bedeutungslosigkeit einschränken, weil es aufgrund der technischen Entwicklung zweifelhaft geworden war, wie der Begriff der »unverteidigten Stadt« auszulegen war.33 Verteidigte Städte an der Front lassen sich mehr oder weniger leicht definieren, entweder durch permanente oder vorübergehende Befestigungsanlagen oder durch die Präsenz und Verteidigungsbereitschaft von anwesenden Armeeangehörigen, mit anderen Worten »vom Land her gerade umkämpft oder wirklich in Verteidigungszustand gesetzt«.34 Zur Frage, wann eine Stadt im Hinterland als verteidigt galt, gab es unter den Zeitgenossen verschiedene Ansätze, welche alle mit dem gleichen Problem zu kämpfen hatten  : Im Ersten Weltkrieg kam es zur Entwicklung von Fliegerabwehrwaffen, welche in Städten hinter der Front gegen Fliegerangriffe positioniert wurden, ohne dass jedoch weitere Befestigungen vorhanden waren. Eine wiederkehrende Meinung ist daher, dass die mit Fliegerabwehrkanonen gesicherte Siedlung sehr wohl im Sinne des Artikels 25 HLKO verteidigt ist.35 Dies galt wohl auch für das gesamte Hinterland, sobald der Gegner über genug wirksame Jagdflugzeuge im Operationsbereich der feindlichen Bomber verfügte.36

31 Spetzler, Luftkrieg und Menschlichkeit, 35f. 32 Ja mes Molon y Spa ight, Aircraft in War, London 1914, 13. 33 Kühnel, Das Luftkriegsrecht Österreich-Ungarns, 4, 8f. 34 Spetzler, Luftkrieg und Menschlichkeit, 38. 35 Czesa n y, Nie wieder Krieg, 22  ; Ga rner, Recent Developments, 168. 36 Czesa n y, Nie wieder Krieg, 22  ; Spetzler, Luftkrieg und Menschlichkeit, 38–43.

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3.2 Die »Doktrin des militärischen Objekts« Eine Lösung bietet sich in der Natur des Zieles an. Da die völkerrechtlichen Regelungen des Landkriegs vom humanistischen Prinzip ausgehen, dass die Zivilbevölkerung zu schützen sei, stellte man auf die militärische Bedeutung des Zieles ab  : Der Luftkrieg sollte auf die Zerstörung militärischer Objekte beschränkt sein.37 Ein Ansatz für eine mögliche Analogie38 findet sich im Übereinkommen vom 18. Oktober 1907, betreffend die Beschießung durch Seestreitkräfte (ÜBS) in Kriegszeiten. (IX. Übereinkommen der II. Haager Friedenskonferenz).39 Artikel 1 ÜBS bestimmt  : »Es ist untersagt, unverteidigte Häfen, Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude durch Seestreitkräfte zu beschießen. Eine Örtlichkeit darf nicht aus dem Grunde allein beschossen werden, weil vor ihrem Hafen unterseeische selbsttätige Kontaktminen verankert sind.« Artikel 2 ÜBS gewährt jedoch eine wichtige Ausnahme  : »In diesem Verbote sind jedoch nicht einbegriffen militärische Werke, Militäroder Marineanlagen, Niederlagen von Waffen oder von Kriegsmaterial, Werkstätten und Einrichtungen, die für die Bedürfnisse der feindlichen Flotte oder der feindlichen Armee nutzbar gemacht werden können, sowie im Hafen befindliche Kriegsschiffe. Der Befehlshaber einer Seestreitmacht kann sie nach Aufforderung mit angemessener Frist durch Geschützfeuer zerstören, wenn jedes andere Mittel ausgeschlossen ist und die Ortsbehörden nicht innerhalb der gestellten Frist zu der Zerstörung geschritten sind. […] Wenn zwingende militärische Gründe, die ein sofortiges Handeln erfordern, die Bewilligung einer Frist nicht gestatten, so versteht es sich, daß das Verbot der Beschießung der unverteidigten Stadt […] bestehen bleibt und daß der Befehlshaber alle erforderlichen Anordnungen zu treffen hat, damit daraus für die Stadt möglichst wenig Nachteile entstehen.« Die implizite Benachrichtigungspflicht gemäß Artikel 2 ÜBS ist nach Artikel 6 ÜBS in manchen Situationen nicht anzuwenden  : »Mit Ausnahme des Falles, wo die militärischen Erfordernisse es nicht gestatten, soll der Befehlshaber der angreifenden Seestreitmacht vor Eröffnung der Beschießung alles, was an ihm liegt, tun, um die Behörden zu benachrichtigen.« Diese Bestimmungen wurden von Juristen und Militärs als Analogie herangezogen, um daraus auch für den Luftkrieg entsprechende Verhaltensregeln abzuleiten. Begründet wird dies unter anderem damit, dass 37 Siehe dazu etwa die Artikel 22, 23 Littera b, 23 Littera g und 46 HLKO und die Präambel des entsprechenden Abkommens, in dem von »Interessen der Menschlichkeit und den immer steigenden Forderungen der Zivilisation« die Rede ist  ; siehe Christine Chink in – M a ry K eldor, International Law and New Wars, Cambridge–New York 2017, 237  ; H a nk e, Luftkrieg und Zivilbevölkerung, 43–45. 38 Dies wurde vielfach von den Zeitgenossen vorgeschlagen  ; siehe besonders Picciot to, Some Notes on Air Warfare, 153f. 39 RGBl 185/1913. Dieses Abkommen wurde unterzeichnet von Österreich-Ungarn am 18. Oktober 1907 und ratifiziert am 17. November 1909.

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Flugzeuge so wie vorher schon Schiffe in der Lage sind, den Gegner außerhalb des Operationsgebiets anzugreifen, aber die Siedlungen in der Regel nicht einnehmen können, und daher eine fundamentale Ähnlichkeit besteht.40 Solch eine Analogie kommt schließlich zum Schluss, dass militärische Objekte bombardiert werden können. Diese »Doktrin des militärischen Objekts« ist schon 1914 in der Fachliteratur eine prominent vertretene Meinung.41 Während des Weltkriegs formulierte der französische Völkerrechtler Paul Fauchille sogar eine weitergehende Ansicht, die wohl auch der Praxis am meisten Rechnung trug  : »Erstens. Mit Luftstreitkräften ist es nur erlaubt, an allen Orten, seien sie befestigt, verteidigt oder militärisch besetzt, Einrichtungen der Armee oder Flotte, Waffen- oder Kriegsmaterialdepots, Werkstätten und Arbeitsplätze, welche für die Notwendigkeiten der Armee und Flotte des Feindes zu gebrauchen sind, Kriegsschiffe, den Regierungschef und seine Repräsentanten und die Militärs sowie die anderen, nicht durch die Genfer Konvention geregelten, offiziell zur Armee oder Flotte gehörenden Personen zu bombardieren. Harmlose Bürger ebenso wie privates und öffentliches Eigentum, bis auf das, das Sitz der Regierung oder ihrer Repräsentanten ist, und das nicht einem militärischen Zweck dient oder eine generelle strategische Wichtigkeit hat wie die Brücken, Bahnhöfe und Eisenbahnschienen, sollen möglichst geschont werden. Zweitens. Um besonders den Respekt vor Gebäuden, die dem Gottesdienst, den Künsten, der Wissenschaft und der Wohntätigkeit dienen, vor historischen Stätten, Krankenhäusern und Versammlungsplätzen von Kranken und Verwundeten sicherzustellen, sollen diese Gebäude, Monumente oder Plätze mit sichtbaren Zeichen versehen werden, sodass sich die Kriegführenden im Voraus darüber in Kenntnis setzen.«42 Diese Ansicht wurde von vielen Zeitgenossen akzeptiert und fand sich oft in diversen Vorschlägen für Kodifikationen wieder. Wie gut sie praktisch anwendbar war, ist eine andere Frage.43 3.3 Der Schutz des Artikels 27 der HLKO Im Gegensatz zum Artikel 26 HLKO war es um 1914 generell anerkannt, dass Artikel 27 HLKO auf Luftangriffe auf Städte anzuwenden ist. Er lautet  : »Bei Belagerungen und Beschießungen sollen alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen werden, um die dem Gottesdienste, der Kunst, der Wissenschaft und der Wohltätigkeit gewidmeten Gebäude, die Spitäler und Sammelplätze für Kranke und Verwundete so 40 Kühnel, Das Luftkriegsrecht Österreich-Ungarns, 9  ; Spetzler, Luftkrieg und Menschlichkeit, 41f. 41 Spa ight, Aircraft in War, 16–19. 42 Paul Fauchille, Le bombardement aérien, in  : Revue Générale de Droit International Public 24, 1917, 56–74, hier 73. Übersetzung des Autors. 43 Ga rner, Recent Developments, 169.

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viel wie möglich zu schonen, vorausgesetzt, daß sie nicht gleichzeitig zu einem militärischen Zwecke Verwendung finden. Pflicht der Belagerten ist es, diese Gebäude oder Sammelplätze mit deutlichen besonderen Zeichen zu versehen und diese dem Belagerer vorher bekannt zu geben.« Er entspricht dem Artikel 5 ÜBS44 und regelt die Art und Weise, wie Bombardements zu erfolgen haben, nämlich möglichst schonend. Es ist die Frage, ab wann ein Bombardement völkerrechtswidrig ist. Das Gebot der Schonung gewisser Objekte kann jedenfalls nicht so weit ausgelegt werden, dass Luftangriffe rechtmäßig nicht mehr möglich wären, denn das würde den Zweck der Norm übersteigen.45 Der Völkerrechtler Coleman Phillipson skizzierte, wie ein rechtlich gedecktes Bombardement aussah  : »We may reasonably infer from this provision that if any of those protected buildings are destroyed or damaged, or if civilians are killed or injured in the efforts to strike defensive works or military establishments, the assailants will not be chargeable with unlawful conduct if they did not aim intentionally at such buildings or civilians, and did not shoot at random without caring what was struck. Whether such acts are deliberate or unavoidable must be gathered, in the absence of direct evidence, from the general proceedings of the attacking enemy, from his known professions, and from his previous conduct in the same war or in preceding wars.”46 Absichtliche Zerstörung von geschützten Objekten und zielloses (Massen-)Bombardement von Siedlungen verletzen also Artikel 27 HLKO. Ob die unabsichtliche Zerstörung im Rahmen eines erlaubten Bombardements auch völkerrechtswidrig sein kann, ist hingegen eine schwierigere Frage. Jedenfalls müssen die »erforderlichen Vorkehrungen« getroffen worden sein und es darf sich nur um Schieß- oder Meldungsirrtümer handeln,47 oder um unvermeidbare Schäden erlaubter48 Kampfhandlungen, etwa aufgrund zu großer Nähe von geschützten Objekten zu legitimen Zielen.49

44 Artikel 5 ÜBS lautet  : »Bei der Beschießung durch Seestreitkräfte sollen von dem Befehlshaber alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen werden, um die dem Gottesdienste, der Kunst, der Wissenschaft und der Wohltätigkeit gewidmeten Gebäude, die geschichtlichen Denkmäler, die Hospitäler und Sammelplätze für Kranke oder Verwundete soviel wie möglich zu schonen, vorausgesetzt, daß sie nicht gleichzeitig zu einem militärischen Zwecke Verwendung finden. Pflicht der Einwohner ist es, diese Denkmäler, Gebäude oder Sammelplätze durch sichtbare Zeichen kenntlich zu machen […].« 45 Er delbrock, Das Luftbombardement, 33f. 46 Colem a n Phillipson, International Law and the Great War, London 1915, 161. 47 Er delbrock, Das Luftbombardement, 34. 48 Daher stand nicht zur Debatte, Bombardements aufgrund jedes irgendwie möglichen Schadens für Zivilisten, Privateigentum und kulturelle Objekte generell zu verbieten  ; dazu, sowie zur Nachkriegsentwicklung siehe Paul Whitcomb Willi a ms, Legitimate Targets in Aerial Bombardment, in  : The American Journal of International Law 23/3, 1929, 570–581. 49 Spetzler, Luftkrieg und Menschlichkeit, 46.

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4. Zusammenfassung Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der »selbständige Bombenkrieg« auf Siedlungen der Front nicht verboten war und ohne Warnung erfolgen konnte. Bombardiert werden durften allerdings nur militärische Ziele, während kulturelle und humanitäre Objekte nicht zu bombardieren oder möglichst zu schonen waren. Diese »Doktrin des militärischen Objekts« setzte sich im Laufe des Krieges bei den wesentlichen Luftmächten durch. Ungezielte Angriffe gegen Siedlungen zum Einschüchtern der Zivilbevölkerung lehnte man ab.50 In der Praxis der Luftbombardements gab es jedoch zahlreiche Fälle, in denen Völkerrecht missachtet wurde.51 Wenn Christine Chinkin und Mary Keldor 2016/2017 mit Blick auf die »neuen Kriege« des 21. Jahrhunderts konstatieren, dass Kriegsvölkerrecht scheitert, die gegenwärtige Erfahrung der vielgestaltigen Kriege zu meistern,52 so kann dies auch für den Ersten Weltkrieg gelten. Die völkerrechtlichen Regelungen zum Luftkrieg und insbesondere zum Bombardement von Siedlungen im Hinterland aus der Luft vom Anfang des 20. Jahrhunderts waren weit davon entfernt, den modernen technischen Möglichkeiten gerecht zu werden. Die schon anfängliche Unzulänglichkeit mancher Bestimmungen, gepaart mit formaljuristischen Bedenken und einem technologischen Fortschritt, der vollkommen neue Situationen schuf, machten das Luftkriegsrecht zwischen 1914 und 1918 zu einem zahnlosen Tiger. In der ohnehin schon schwierigen Situation, in der sich Recht im Krieg befindet, können schwache oder problematische Regelungen erst recht keine Überzeugungskraft und Wirkung entfalten.

50 Isa bel V. Hull, A Scrap of Paper. Breaking and Making International Law during the Great War, Ithaca– London 2014, 224–228  ; Spetzler, Luftkrieg und Menschlichkeit, 141f. 51 Siehe dazu beispielsweise K riege, Die völkerrechtliche Bedeutung des Luftkriegs, 102–104. 52 Chink in – K eldor, International Law and New Wars, 3.

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Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung als historisches Problem 1. »Bonn ist nicht Weimar« Im Jahr 1956 veröffentlichte der Schweizer Journalist Fritz René Allemann ein Buch, dessen Titel schon bald zum geflügelten Wort in der alten Bundesrepublik Deutschland werden sollte  : »Bonn ist nicht Weimar«. Schon sieben Jahre nach der Gründung des westdeutschen Teilstaats wurde der noch jungen westdeutschen Republik damit von einem aus der neutralen Schweiz kommenden auswärtigen Beobachter ein glänzendes Zeugnis ausgestellt,1 denn dieser Buchtitel besagte ja nichts anderes, als dass die politische Ordnung der 1949 begründeten Bundesrepublik im Ganzen ein Erfolgsmodell darstellte, dem nicht nur der phänomenale ökonomische Wiederaufstieg, das »deutsche Wirtschaftswunder«, zu danken sei, sondern ebenfalls die innere und äußere politische Stabilität diesseits der – damals als »Eiserner Vorhang« bezeichneten – Grenze durch Deutschland und Europa. Wenn also Bonn nicht Weimar war, d. h. wenn die damals noch sehr junge Bundesrepublik als Staatswesen von innen her nicht mehr ernsthaft gefährdet schien, dann musste dies gute Gründe haben, und in der Perspektive vieler urteilsfähiger Zeitgenossen lagen diese Gründe zuerst in der alles in allem gelungenen und gut funktionierenden Verfassungsordnung des 1949 geschaffenen und in Kraft getretenen Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland – damit also einer politischen Ordnung, der man bei ihrer Entstehung nicht einmal den stolzen Titel einer »Verfassung« gegeben hatte2 und die eigentlich, sogar nach eigenem Anspruch, nur ein Provisorium darstellte. Denn im letzten Artikel 146 hieß es ausdrücklich  : »Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.«3 Hinter diesen Formulierungen verbarg sich nämlich der mehr oder weniger dezente Hinweis darauf, dass das Grundgesetz eben nicht vom deutschen Volk in wirklich »freier Entscheidung« zustande gekommen war. 1 Fritz R ené A llem a n n, Bonn ist nicht Weimar, Köln 1956. 2 Zur Entstehung des Grundgesetzes eingehend  : Mich a el F. Feldk a mp, Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Die Entstehung des Grundgesetzes, Göttingen 2019. 3 Dieter K a k ies (Hg.), Deutsche Verfassungen. Die grundlegenden Dokumente deutscher Demokratie von der Paulskirche bis zum Grundgesetz, München 1965, 151.

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Das ominöse Stichwort »Weimar« bildete dennoch in den 1950er Jahren mehr als alles andere die dunkle Hintergrundfolie, von der sich das westdeutsche Grundgesetz der zweiten Nachkriegszeit nur um so heller und strahlender abheben sollte – oder, um es anders zu sagen  : Auch deshalb, weil Bonn eben nicht nur nicht Weimar war, sondern auch das Gegenteil von Weimar sein wollte, konnte sich die Bonner Republik als neues Gemeinwesen unter den schwierigen Bedingungen der Jahre nach dem verlorenen Krieg politisch behaupten. Von der vermeintlich so schmählich gescheiterten Weimarer Reichsverfassung des Jahres 1919 wollte man also in dieser Zeit – übrigens in beiden Teilen Deutschlands – nicht mehr viel wissen.

2. Deutsche Verfassungsgebungen bis 1949 Dabei handelte es sich gerade bei dieser Verfassung der ersten deutschen Republik, die innerhalb etwa eines halben Jahres nach Beendigung des Ersten Weltkriegs entstanden war, um das Resultat der einzigen erfolgreich vollzogenen und auf wirklich demokratischem Wege zustande gekommenen Verfassungsgebung der jüngeren deutschen Geschichte.4 Und ausgerechnet diese Verfassungsordnung war es, die nach einem durchaus erfolgreichen, in mancher Hinsicht verheißungsvollen Auftakt am Ende noch katastrophaler scheiterte als die vorherigen politischen Verfassungen, die in den Jahren 1849 und 1918 gescheitert waren. Werfen wir einen kurzen Blick zurück  : Ebenfalls auf demokratischem Wege – also mittels der allgemeinen, freien und gleichen Wahl einer verfassungsgebenden Natio­nalversammlung – hatten die Träger der Revolution von 1848 eine gesamtdeutsche Verfassung zu schaffen versucht. Aber während das demokratische Prinzip einer allgemeinen Volkswahl am Anfang der Verfassungsgebung stand, scheiterte das Verfassungswerk der Versammlung in der Frankfurter Paulskirche5 letzten Endes daran, dass man sich bei der Erarbeitung einer allgemeinen deutschen Verfassungsurkunde viel zu viel Zeit ließ und dass man es daneben ebenfalls versäumte, die weiter bestehenden, größeren und kleineren deutschen Bundesstaaten in diese Verfassungs4 Zur Entstehung der Weimarer Reichsverfassung und zu ihrem Autor Hugo Preuß siehe u. a. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd.  V  : Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914–1919, Stuttgart–Berlin–Köln–Mainz 1978, 1178–1205  ; Fritz H a rtu ng, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 8. Aufl. 1964, 310–320  ; H a ns Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. II  : Von 1806 bis zur Gegenwart, München 1990, 224–242  ; Mich a el Drey er, Hugo Preuß. Biografie eines Demokraten, Stuttgart 2018, 329–403, und neuerdings sehr ausführlich Jörg-Detlef Kühne, Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung. Grundlagen und anfängliche Geltung, Düsseldorf 2018. 5 Hierzu eingehend M a nfred Botzenh a rt, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848– 1850, Düsseldorf 1977, 641–716.

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beratungen angemessen mit einzubeziehen. So blieb die – als historischer Rechtstext immer noch sehr eindrucksvolle und vielfach wegweisende – 1849 verabschiedete Verfassung der Nationalversammlung ein unausgeführtes Versprechen und damit letztendlich ein tragisches Monument politischen Versagens. Eine andere, ebenfalls im Jahr 1848 vorgenommene Verfassungsgebung gelang dagegen – nämlich die erste preußische Verfassung, die im Dezember 1848 von König Friedrich Wilhelm IV. kurzerhand oktroyiert, d. h. per königlicher Verordnung in Kraft gesetzt wurde und die ein gutes Jahr später, nach einigen wenigen Änderungen und Ergänzungen, auch vom Parlament bestätigt und anschließend vom König beeidigt wurde.6 Diese revidierte Verfassung von 1850 hat in Preußen tatsächlich bis zum Umsturz von 1918 bestanden, also volle siebzig Jahre – nur war sie, da zuerst oktroyiert, im Kern eben nicht im vollen Sinne demokratisch legitimiert. Ähnliches gilt ebenfalls für die Bismarck’sche Reichsverfassung von 1871, die bereits 1867 als Verfassung für den Norddeutschen Bund in Kraft getreten war und vier Jahre später mit nur einigen wenigen Änderungen als Verfassung des neu gegründeten Deutschen Kaiserreichs übernommen wurde. Diese norddeutsche Verfassung war zwar nicht (wie eine lange geglaubte Legende besagte) von Bismarck persönlich geschrieben worden, sondern sie beruhte auf mehreren Entwürfen aus der preußischen Staatskanzlei, die am Ende – und dies nun allerdings unter sehr maßgeblicher Mitwirkung Bismarcks – zu einem einzigen Text zusammengefügt worden waren.7 Diese Verfassung ist im Jahr 1867 mit nur sehr wenigen Abänderungen von den Fürsten und den Parlamenten des Norddeutschen Bundes akzeptiert worden – vier Jahre später auch von den Regierungen und Volksvertretungen der neu hinzugekommenen süddeutschen Länder. Immerhin befand sich diese Verfassung erfolgreich ein halbes Jahrhundert lang, von 1867 bis 1918, in Kraft.8 Aber auch sie war eben nicht auf wirklich demokratischem Wege zustande gekommen, nämlich durch die freie, allgemeine und gleiche Wahl einer nur für den speziellen Zweck einer Verfassungsgebung vom Volk gewählten Nationalversammlung. Und das Gleiche gilt schließlich für das am 23. Mai 1949 in Kraft getretene Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland  : Auch diese neue politische Grund6 Gü nther Grü nth a l, Parlamentarismus in Preußen 1848/49–1857/58. Preußischer Konstitutionalismus – Parlament und Regierung in der Reaktionsära, Düsseldorf 1982, 27–174  ; Ders., Zwischen König, Kabinett und Kamarilla. Der Verfassungsoktroi in Preußen vom 5. Dezember 1848, in  : Ders.: Verfassung und Verfassungswandel. Ausgewählte Abhandlungen, hg. v. Frank-Lothar Kroll – Joachim Stemmler – Hendrik Thoß, Berlin 2003, 76–125. 7 Sehr ausführliche und immer noch grundlegende Darstellung der Entstehung dieser Verfassung  : Ot to Beck er, Bismarcks Ringen um Deutschlands Gestaltung, hg. v. Alexander Scharff, Heidelberg 1958, 158–624 u. passim. 8 Vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd.  III  : Bismarck und das Reich, Stuttgart–Berlin–Köln–Mainz 3. Aufl. 1988, 742–1074.

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ordnung – bisher jedenfalls die erfolgreichste aller deutschen Verfassungen – wurde von einer nur indirekt gewählten Delegiertenversammlung ausgearbeitet und verabschiedet, vom Parlamentarischen Rat, der wiederum aus Abgeordneten bestand, die von den damals in den drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands bestehenden Landtagen gewählt worden waren. Zudem waren die Grundprinzipien der neuen westdeutschen Verfassung von den drei westlichen Besatzungsmächten klar vorgegeben worden.9 Über keinerlei demokratische Legitimität verfügte auch die erste, im Oktober 1949 in Kraft gesetzte Verfassung des damaligen ostdeutschen Teilstaats auf dem Territorium der Sowjetischen Besatzungszone, der Deutschen Demokratischen Republik. Schon 1946 hatte der Jurist Karl Pollak, ein überzeugter Kommunist, im Auftrag der soeben neu begründeten Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) einen Verfassungsentwurf vorgelegt, der dann drei Jahre später in allen wesentlichen Zügen übernommen wurde.10 Beschlossen wurde diese Verfassung vom »Deutschen Volksrat«, hervorgegangen wiederum aus einem »Deutschen Volkskongress«, der über zweitausend Personen umfasste. Der Letztere war allerdings nicht etwa frei und mit einem Auftrag zur Verfassungsgebung von der Bevölkerung der sowjetischen Zone gewählt worden, sondern setzte sich aus »Delegierten« der seit 1945 in der sowjetischen Zone neu entstandenen politischen Parteien und »Massenorganisationen« zusammen  ; er wurde – darin bestand der Zweck des Ganzen – von den Kommunisten klar dominiert.11 In rein formaler Hinsicht haben also alle der soeben knapp in den Blick genommenen deutschen Verfassungen – die Reichsverfassung von 1849, die revidierte preußische Verfassung von 1850, die Norddeutsche Verfassung bzw. die Reichsverfassung von 1867/71 und endlich das westdeutsche Grundgesetz sowie die erste DDR-Verfassung von 1949 – bestimmte Defizite aufzuweisen  : sei es nun ein mehr oder weniger deutlich erkennbares Legitimitätsdefizit im Prozess ihrer Entstehung oder sei es die Tatsache, dass wenigstens eine dieser Verfassungen – gemeint ist die Revolutionsverfassung von 1849 – niemals wirklich in Kraft getreten ist.

 9 Siehe dazu neben der in Anm. 2 genannten Arbeit von Feldk a mp auch Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. II (Anm. 4), 311–326. 10 Hierzu siehe M a rcus Howe  : Karl Polak – Parteijurist unter Ulbricht, Frankfurt am Main 2002, bes. 59–106. 11 Vgl. Herm a n n Weber, Geschichte der DDR, München 2. Aufl. 2000, 101–112  ; K l aus Schroeder, Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR 1949–1990, Köln–Weimar–Wien 2013, 79–92  ; Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. II (Anm. 4), 300–305.

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3. Zur Genese des Weimarer Verfassungswerks Im Vergleich mit den hier eben kurz erwähnten fünf deutschen Verfassungsbildungen des 19. und des 20. Jahrhunderts erweist sich die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung von 1919 als die einzige wirklich demokratische, auf eine direkte Volkswahl zurückgehende, deshalb alle Interessen ausgleichend berücksichtigende Verfassungsgebung der jüngeren deutschen Geschichte, deren Produkt, eben die Weimarer Reichsverfassung, auch kein totgeborenes Kind war, sondern am 1. Januar 1920 fristgemäß und pünktlich in Kraft treten konnte. Trotzdem ist die durch sie begründete politische Ordnung bereits dreizehn Jahre später katastrophal gescheitert. Und genau hierin liegt das historische Problem bei der Betrachtung dieser Verfassung. Aber fragen wir zunächst nach den Einzelheiten ihrer Entstehung. Die Weimarer Verfassungsväter waren von Anfang an fest entschlossen, die Fehler früherer Verfassungsgeber zu vermeiden  : Die neue Verfassung sollte also weder undemokratisch »von oben« oktroyiert werden, noch wollte man sich mit der Verfassungsarbeit derart lange aufhalten wie seinerzeit die Deutsche Nationalversammlung der Paulskirche in den Jahren 1848/49. Um also unnötige, sich eventuell gefährlich auswirkende Verzögerungen zu vermeiden, hatte die seit dem 9. November 1918 in Berlin amtierende provisorische »Regierung der Volksbeauftragten« unter der Leitung von Friedrich Ebert schon kurz nach dem politischen Umsturz einen Entwurf in Auftrag gegeben, der als Grundlage für die Verfassungsberatungen dienen sollte. Ebert hatte hiermit allerdings keinen Sozialdemokraten beauftragt, sondern einen bekannten Juristen und Berliner Kommunalpolitiker des bürgerlich-linksliberalen Lagers, der bereits während des Kaiserreichs einer der entschiedensten Kritiker der alten Reichsverfassung gewesen war  : den seit dem 15. November 1918 amtierenden neuen Staatssekretär des Innern Hugo Preuß.12 Dessen erster, schon Anfang Dezember 1918 vorgelegter Verfassungsentwurf, der anschließend bis Ende des Jahres vom Innenministerium etwas abgewandelt, aber im Kern nicht verändert wurde (bezeichnet allgemein als »Entwurf I«),13 sah eine starke Präsidialverfassung in der Form eines »dezentralisierten Einheitsstaats« vor.14 Zwei politische Grundformen versuchte Preuß anfänglich zu vermeiden  : Er wollte erstens keine plebiszitären Elemente einer direkten Demokratie in die neue Verfassung aufnehmen, und er lehnte – zweitens – ebenfalls den traditionellen deutschen Föderalismus, der noch die Verfassungsordnung des Bismarckreichs geprägt hatte, strikt 12 Vgl. auch zum Folgenden vor allem Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V (Anm. 4), 1178ff.; Drey er, Hugo Preuß (Anm. 4), 336ff. 13 Neu abgedruckt in  : Hugo Preuss, Gesammelte Schriften, Bd.  III  : Das Verfassungswerk von Weimar, hg. v. Detlef Lehnert – Christoph Müller – Dian Schefold, Tübingen 2015, 533–540. 14 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V (Anm. 4), 1179.

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ab. Es sollte im künftigen Deutschland also keine Staaten oder Länder mehr geben, sondern nur noch »Gebiete«, und vor allem sollte der bisherige größte deutsche Bundesstaat Preußen aufgelöst und in seine Einzelteile zerlegt werden. Dieser erste Entwurf sah ein aus nicht weniger als 16 Teilgebieten zusammengesetztes Deutschland vor  ; der Name »Preußen« sollte nur noch die zusammengefassten früheren Provinzen Ost- und Westpreußen umfassen  ; das 15. Gebiet war Österreich und das 16. »Wien«, denn man ging Ende 1918 noch selbstverständlich von einem baldigen Anschluss der soeben erst begründeten und allgemein als Provisorium angesehenen Republik Deutsch-Österreich aus.15 Doch dieses erste Konzept eines starken, von einem direkt gewählten Präsidenten regierten, auf der Auflösung Preußens beruhenden dezentralisierten Einheitsstaats konnte sich nicht durchsetzen – obwohl sich seinerzeit sogar führende Intellektuelle, auch in Preußen selbst, für die Auflösung des früher territorial dominierenden größten deutschen Staats einsetzten.16 Friedrich Meinecke zog dabei mit einem vergleichenden Blick auf das soeben untergegangene Reich der Habsburger eine bemerkenswerte historische Parallele  : »Es würde einen tiefen weltgeschichtlichen Sinn haben, wenn Altpreußen und Altösterreich, diese einst fast gleichzeitig in Europa emporgekommenen Großmächte, nachdem sie durch zwei Jahrhunderte feindlichfreundlich nebeneinander gelebt und durch eine geheime Relation aufeinander angewiesen waren, nun auch gleichzeitig ihre alten Schalen zerbrächen und unter dem höheren Zeichen des allgemeinen Deutschtums, dem sie in gebrochener Weise immer schon dienten, ihre deutschen Inhalte miteinander vereinigten. Die ostdeutsche Kolonisierung des Mittelalters würde dann ihr letztes Ziel erreichen und Muttervolk und Kolonialvolk harmonisch zusammenfassen.«17 Jedenfalls waren die Weimarer Verfassungsväter bestrebt, auch einen weiteren Fehler der einstigen achtundvierziger Revolutionäre nicht zu wiederholen, denn sie wollten ihr Werk nicht nur möglichst rasch abschließen, sondern auch, trotz anfänglichen starken Widerspruchs, die deutschen Länder, also die früheren Bundesstaaten des nunmehr ehemaligen Deutschen Kaiserreichs, in die Verfassungsgebung ausdrücklich 15 Vgl. Preuss, Gesammelte Schriften, Bd. III (Anm. 13), 536f. (§ 29.1 des Verfassungsentwurfs I). Zum erst vorgesehenen, später von den Siegern untersagten Anschluss Österreichs vgl. auch Kühne, Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung (Anm. 4), 171–178, sowie die ebenda, 919–921 abgedruckten Dokumente. 16 Als Beispiel sei hier Friedrich Meinecke genannt, der in einem im Januar 1919 veröffentlichten Aufsatz nachdrücklich für eine Auflösung Preußens eintrat, und zwar mit dem Argument, die jetzt neu zu begründende, als Bundesstaat zu organisierende deutsche Republik vertrage keine übermächtigen Einzelstaaten mehr  : Friedrich Meineck e, Verfassung und Verwaltung der deutschen Republik, in  : Ders., Werke, Bd.  II  : Politische Schriften und Reden, hg. v. Georg Kotowski, Darmstadt 1958, 280–298. 17 Friedrich Meineck e, Bemerkungen zum Entwurf der Reichsverfassung (1919), in  : Ders., Werke, Bd. II (Anm. 16), 299–312, hier 305.

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mit einbeziehen.18 Deshalb berief der Rat der Volksbeauftragten im Januar 1919 eine »Länderkommission« ein, die aus insgesamt 129 Vertretern des Reichs und der Länder bestand. Dieser Kommission gelang es, sich nach ihren ersten Sitzungstagen in der Form eines »Staatenausschusses« zu institutionalisieren, der wiederum seit Februar 1919 zuerst in Berlin und anschließend in Weimar tagte und dem es am Ende tatsächlich gelang, die Interessen der deutschen Länder sowie allgemein das bundesstaatliche Prinzip im Kontext der Verfassungsberatungen nachhaltig zur Geltung zu bringen. Es kam, wie es unter diesen Bedingungen und im Rahmen der damaligen Verhältnisse wohl kommen musste  : Natürlich waren die deutschen Länder – allen voran Preußen und Bayern – mit dem ersten Entwurf überhaupt nicht einverstanden  ; vor allem dem Konzept des dezentralisierten Einheitsstaats setzten sie ihren vehementen Widerstand entgegen, und natürlich widersetzte sich die Regierung Preußens vor allem der im Entwurf vorgesehenen Auflösung des bisherigen preußischen Staates. Insgesamt gesehen konnten die Länder also im Rahmen der vorbereitenden Verfassungsplanungen das Konzept einer allgemeinen Reföderalisierung durchsetzen. Wichtigste Resultate dieser Bemühungen waren erstens, dass der Staat Preußen als solcher nicht zerschlagen wurde, sondern bestehen blieb, und zweitens, dass die künftige Verfassung über kein frei zu wählendes »Staatenhaus« mehr verfügen sollte, das noch im Entwurf I von Hugo Preuß als zweite Kammer vorgesehen war,19 sondern nur mehr über einen »Reichsrat«, der sich in seiner Ausgestaltung stark an den Bundesrat der alten Bismarck’schen Reichsverfassung anlehnte, auch wenn er künftig nicht mehr über dessen frühere Machtfülle verfügen sollte. Damit war im Kern die klare Gestaltung des von Hugo Preuß konzipierten ersten Entwurfs vom Dezember 1918 bereits zerstört worden – und man muss sich im Nachhinein eigentlich darüber wundern, dass sich die Länder so rasch mit ihren Gegenvorstellungen durchsetzen konnten. Vermutlich hofften die für die Verfassungsplanung verantwortlichen Funktionsträger im damals von Hugo Preuß geleiteten deutschen Innenministerium, dass die Abgeordneten der Nationalversammlung die jetzt eingefügten, nunmehr deutlich föderalistischen Elemente des neuen Entwurfs wieder rückgängig machen würden. Darin hatte man sich, wie sich sehr bald schon zeigen sollte, allerdings getäuscht, denn diese neuen, von den Ländern im eigenen Interesse durchgesetzten Elemente erwiesen sich im späteren Verlauf des Verfahrens als nicht mehr eliminierbar.20

18 Hierzu und zum Folgenden  : Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V (Anm. 4), 1181ff.; ebenfalls Kühne, Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung (Anm. 4), 303ff. 19 Vgl. Preuss, Gesammelte Schriften, Bd. III (Anm. 13), 536 (§§ 24, 26–28 des Verfassungsentwurfs I)  ; ein »Staatenhaus« hatte bereits die Paulskirchen-Verfassung von 1849 vorgesehen  ; siehe K a k ies (Hg.), Deutsche Verfassungen (Anm. 3), 21ff. (§§ 85–92). 20 Vgl. die Darstellung bei Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V (Anm. 4), 1184ff.

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Nachdem sich die am 19. Januar 1919 gewählte Verfassungsgebende Deutsche Nationalversammlung Anfang Februar in Weimar konstituiert hatte, wurde im eigens eingerichteten Verfassungsausschuss21 um viele weitere Verfassungsbestandteile intensiv gerungen – etwa um die von Hugo Preuß ebenfalls nicht vorgesehenen, nun aber erneut in den Verfassungsentwurf eingefügten plebiszitären Elemente (also die Instrumente von Volksbegehren und Volksentscheid), um die Frage der Möglichkeiten und Begrenzungen einer legalen Verfassungsänderung, um die (vor allem seitens der Linken geforderte) Aufnahme von »rätedemokratischen« Elementen in die neue deutsche Wirtschaftsordnung oder auch um die künftige Benennung des neuen Staats  : »Deutsche Republik« oder »Deutsches Reich«. Besonders intensiv wurde auch über das Problem einer Beschränkung der poli­ tischen Rechte der entthronten deutschen Fürstenhäuser verhandelt – aber man konnte sich in Weimar am Ende doch nicht für ein Gesetz entscheiden, das den Bestimmungen des österreichischen »Habsburgergesetzes«22 nahegekommen wäre  : Zwar verlangte die politische Linke in der Nationalversammlung aus Furcht vor der Möglichkeit einer Wiederkehr der Monarchie eine Sperrklausel, in der festgelegt werden sollte, dass Angehörige der bis 1918 regierenden fürstlichen Häuser in den ersten fünfzehn Jahren des neuen Staates von der Wählbarkeit für das Amt eines deutschen Reichspräsidenten ausgeschlossen werden sollten – doch genau diese zuerst eingefügte Klausel wurde aus dem letzten Verfassungsentwurf auf Betreiben der bürgerlichen Mitte und der Rechtsparteien wieder herausgenommen.23 Dagegen wurden die Ausnahme- und die Notstandsrechte des Reichspräsidenten als »Hüter der Verfassung« im Krisenfall – sie waren festgelegt in den später sehr bekannt gewordenen Artikeln 48 und 49 der Weimarer Reichsverfassung über Reichsexekution und »Diktaturgewalt« – noch weiter verschärft. Auch hier gelang es den Vertretern der Linken nicht, diese von ihnen als gefährlich angesehenen Notstandsbestimmungen des Verfassungsentwurfs zu Fall zu bringen. Eine weitere wesentliche, über die alte Bismarck’sche Reichsverfassung weit hinausgehende Neuerung der Weimarer Verfassung bestand in den hier neu formulierten und zusammengestellten »Grundrechten und Grundpflichten der Deutschen«, die zu einem eigenständigen Teil des Verfassungsdokuments von nicht weniger als 56 Artikeln ausgestaltet wurden.24 Dieser Teil der Verfassung, in dem erstmals nicht nur die Rechte der Staatsbürger, sondern in enger Verbindung hiermit ebenfalls ihre 21 Zu Bedeutung und Zusammensetzung siehe ebenda, 1190f. 22 Dazu Wilhelm Br au neder, Österreichische Verfassungsgeschichte, Wien 10. Aufl. 2005, 135. 23 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V (Anm. 4), 1193. 24 Abdruck der Weimarer Reichsverfassung (WRV) in  : K a k ies (Hg.), Deutsche Verfassungen (Anm. 3), 77–109, hier 96–106 (§§ 109–165). Hierzu eingehend Horst Dreier, Grundrechtsrepublik Weimar, in  : Ders. – Christian Waldhoff (Hg.), Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung, München 2018, 175–194.

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Pflichten aufgeführt wurden, konnte seinerzeit als besonders zukunftsträchtig angesehen werden. Damit entstand, wie Ernst Rudolf Huber es zutreffend formulierte, ein »neues Grundrechtsverständnis«, nämlich ein in dieser Form bisher nicht dagewesenes »Grundrechtssystem, das nicht bloß staatsabwehrend den negativen Freiheitsraum der Einzelnen gegenüber dem Staat gewährleistete, sondern das zugleich staatsgestaltend das nationale Gesamtdasein in seinen positiven Erscheinungsformen, nämlich als Rechtsstaat, als Kulturstaat und als Wirtschafts- und Sozialstaat, neu zu bestimmen unternahm«.25 Am Ende der Beratungen, die fast ein halbes Jahr gedauert hatten, stimmte die Nationalversammlung der neuen Verfassung mit großer Mehrheit zu. An der Schlussabstimmung im Weimarer Nationaltheater nahmen allerdings nur 338 von insgesamt 420 Mitgliedern der Nationalversammlung teil (82 fehlten also). Von den Anwesenden stimmten 262 Abgeordnete für die Verfassung, 75 stimmten dagegen, ein Mitglied enthielt sich. Bezogen auf die Gesamtzahl aller Abgeordneten stimmten 62 Prozent der neuen Verfassung zu  ;26 es waren vor allem die Vertreter der sogenannten »Weimarer Koalition«, also der Sozialdemokraten, des katholischen Zentrums sowie der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei.

4. Das historische Problem Was im Sommer 1919 – trotz der äußerst schwierigen Gesamtlage des ein Jahr vorher im Krieg besiegten Deutschen Reiches – anfänglich durchaus verheißungsvoll und mit vielen positiven Hoffnungen für eine neue deutsche Zukunft begonnen hatte, endete im Jahr 1933 mit dem von Hitler am 24. März dieses Jahres eingebrachten »Ermächtigungsgesetz«, dem, wie es offiziell hieß, »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich«,27 mit dem wesentliche Elemente des demokratischen Verfassungsstaats ausgehebelt und damit die rechtliche Grundordnung der Weimarer Republik faktisch beseitigt wurde. Tatsächlich wurde dieses auf vier Jahre befristete verfassungsändernde Gesetz in den folgenden Jahren noch drei Mal verlängert, zuerst vom gleichgeschalteten Pseudo-Reichstag des NS-Staats, zuletzt noch, bereits mitten im Krieg, von Hitler per »Führererlass«.28 Und das bedeutet  : Selbst Hitler hielt in einem rein formalen Sinne an den freilich inhaltlich jetzt komplett ausgehöhlten 25 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V (Anm. 4), 1199. 26 Vgl. ebenda, 1204f. 27 Text in  : K a k ies (Hg.), Deutsche Verfassungen (Anm. 3), 154  ; grundlegend zur Entstehung und Bedeutung die Quellenedition von Rudolf Morsey, Das »Ermächtigungsgesetz« vom 24. März 1933. Quellen zur Geschichte und Interpretation des »Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich«, Düsseldorf 2010  ; siehe ebenfalls Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. II (Anm. 4), 261f. 28 Siehe hierzu die Angaben bei Morsey, Das »Ermächtigungsgesetz« (Anm. 27), 91–119  ; zum Reichs-

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Bestimmungen der – im Übrigen niemals aufgehobenen, also bis zur deutschen Kapitulation im Mai 1945 staatsrechtlich gültigen – Weimarer Reichsverfassung fest.29 Bekanntlich bestimmte er in seinem politischen Testament zwei Nachfolger  : einen Reichspräsidenten (Karl Dönitz) und einen Reichskanzler (Joseph Goebbels).30 Genau hierin liegt nun das historische Problem, das bei einer näheren Betrachtung und Analyse der Weimarer Reichsverfassung und ihrer komplizierten Entstehungsgeschichte erkennbar wird  : Einerseits handelt es sich um die einzige auf wirklich demokratischem, die Rechte aller Beteiligten angemessen berücksichtigenden Wege entstandene und immerhin eine Reihe von Jahren erfolgreich in Kraft befindliche Verfassungsordnung der neueren deutschen Geschichte, – doch andererseits ermöglichte diese Verfassung im Rahmen ihrer Bestimmungen die wenigstens formal legale sogenannte »Machtergreifung« eines zu allem entschlossenen skrupellosen Politikers, der die rechtlichen Möglichkeiten, die diese Ordnung bot, überaus erfolgreich nutzen konnte, um seine Ziele durchzusetzen – und zwar ohne eine (von ihm auch gar nicht beabsichtigte) grundlegende Verfassungsreform oder gar eine Abschaffung der bestehenden Verfassung.31 Die Gründe hierfür liegen wohl zuerst in der allzu ausgeprägten inneren Heterogenität der Weimarer Reichsverfassung, auf die bereits in den Jahren vor 1933 kompetente Kritiker wie etwa Carl Schmitt immer wieder hingewiesen haben32  : Die von den Verfassungsgebern durchaus beabsichtigte Kombination äußerst unterschiedlicher Elemente  : eines starken Reichstags, eines ebenfalls starken (weil gleichfalls vom Volk direkt gewählten) Reichspräsidenten, aber auch der legalen Möglichkeit einer plebiszitär durchzuführenden sogenannten »Volksgesetzgebung« per Volksbegehren und Volksentscheid, – diese Mischung führte zu Ungleichgewichten, zu inneren Störungen und eigentlich vermeidbaren Blockaden, die als solche noch verstärkt wurden durch eine extreme Parteienzersplitterung infolge des reinen Verhältniswahlrechts und des Fehlens jeglicher Sperrklauseln. Auch zwei weitere Elemente wirkten sich am Ende verhängnisvoll aus  : Zum einen die starken, fast diktatorischen Befugnisse des Reichspräsidenten in Krisenzeiten, verbunden vor allem (erinnert sei an die umstrittenen Verfassungsartikel 48 und 49) tag der NS-Zeit siehe ausführlich Peter Hubert, Uniformierter Reichstag. Die Geschichte der PseudoVolksvertretung 1933–1945, Düsseldorf 1992, hier 58ff. zum Ermächtigungsgesetz. 29 Zu den zahlreichen – von Hitler bekanntlich niemals akzeptierten – Plänen und Entwürfen für einen Verfassungsumbau im nationalsozialistischen Sinne vgl. ausführlich Uwe Bachnick, Die Verfassungsreformvorstellungen im nationalsozialistischen Deutschen Reich und ihre Verwirklichung, Berlin 1995. 30 Vgl. I a n K ersh aw, Hitler 1936–1945, Stuttgart 2000, 1057. 31 Vgl. Bachnick, Die Verfassungsreformvorstellungen (Anm. 29), 377ff. 32 Ca rl Schmit t, Verfassungslehre (1928), Berlin 6. unv. Aufl. 1983, bes. 221–359 u. passim  ; dazu auch H a ns-Christof K r aus, Carl Schmitts »Verfassungslehre« – Systementwurf und Zeitdiagnose, in  : Detlef Lehnert (Hg.)  : Verfassungsdenker. Deutschland und Österreich 1870–1970, Berlin 2017, 263–288.

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mit der Möglichkeit zum Erlass von Notverordnungen, die als solche wiederum erst später vom Parlament bestätigt oder abgelehnt werden konnten, – zum anderen aber auch die letzten Endes viel zu weit gefassten Bestimmungen über die Möglichkeit einer legalen Verfassungsänderung, die es, wie eben schon bemerkt, Hitler im März 1933 ermöglichten, die Weimarer Reichsverfassung von innen her auszuhöhlen und sie auf diese Weise ihres demokratischen und rechtsstaatlichen Kerns auf Dauer zu berauben – ohne sie als solche aufheben zu müssen. Vielleicht wäre eine zeitweilige Diktatur des Reichspräsidenten von Hindenburg unter Ausschaltung des Reichstags für einige Monate eine Möglichkeit gewesen, die innenpolitische Lage in Deutschland in der ersten Jahreshälfte 1933 wieder zu beruhigen und anschließend zu geordneten Verhältnissen zurückzukehren – aber dazu reichten die bestehenden Notverordnungsrechte wiederum nicht aus  ; eine »Verfassungsdurchbrechung« zur Rettung der wesentlichen Elemente der Reichsverfassung von 1919 wagte man am Ende nicht.33 Und vielleicht hätte wenigstens eine formallegale Machtfestigung Hitlers und seines Regimes verhindert werden können, wenn die Weimarer Verfassung strengere Bestimmungen für eine Verfassungsänderung vorgesehen hätte – aber auch dies war eben nicht der Fall. Fragt man nach den Gründen hierfür, dann wird man unweigerlich auf die (von mir voranstehend nur äußerst knapp skizzierte) Entstehungsgeschichte der Weimarer Reichsverfassung im Jahr 1919 zurückkommen müssen. War es am Ende das Bestreben, so demokratisch, so »westlich« wie nur irgend möglich zu sein, war es das Bestreben, es allen politischen Parteien, allen beteiligten Ländervertretern, allen Regierungsangehörigen recht zu machen, die endlich dahin führten, dass sich die deutsche Verfassung von 1919 zu einem hybriden, schwer zu handhabenden, in bestimmten Situationen und Lagen immer neue Krisen geradezu herbeiführenden Rechtsinstrument entwickelte, das am Scheitern der Weimarer Republik im Jahr 1933 schließlich einen nicht geringen Schuldanteil tragen sollte  ? Es scheint, dass man diese Frage wohl mit Ja beantworten muss.34

33 Schmit t definiert in seiner Verfassungslehre (Anm. 32), 99f., den von ihm geprägten Begriff der »Verfassungsdurchbrechung« folgendermaßen  : »Verletzung einzelgesetzlicher Bestimmungen für einen oder mehrere bestimmte Einzelfälle, aber als Ausnahme, d. h. unter der Voraussetzung  ; daß die durchbrochenen Bestimmungen im übrigen unverändert weitergelten, also weder dauernd aufgehoben noch zeitweilig außer Kraft gesetzt (suspendiert) werden«. – Zur Debatte in der neueren Rechtswissenschaft siehe Ulrich Hufeld  : Die Verfassungsdurchbrechung. Rechtsproblem der Deutschen Einheit und der europäischen Einigung. Ein Beitrag zur Dogmatik der Verfassungsänderung, Berlin 1997. 34 Es reicht daher nicht aus, die Weimarer Reichsverfassung nur als »eine glücklose«, aber »keine missglückte Verfassung« zu bezeichnen und sie sogar noch retrospektiv als »Meilenstein von Freiheit und Demokratie in der Verfassungsgeschichte« zu rühmen, so auch neuerdings wieder Christoph Gusy, 100 Jahre Weimarer Verfassung. Eine gute Verfassung in schlechter Zeit, Tübingen 2018, 323ff.

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Betrachtet man zuerst die Entstehung, sodann die Entwicklung und schließlich das traurige Ende der – wie es jedenfalls anfangs schien – geradezu in jeder Hinsicht vorbildlich demokratischen Weimarer Verfassung, so drängt sich der Gedanke auf, dass es, blickt man in die Geschichte zurück, eigentlich fast immer die von wenigen Fachleuten relativ rasch und unkompliziert entworfenen, nach einheitlichen Gesichtspunkten straff gestalteten, klare und eindeutige Regelungen enthaltenden, innere Widersprüche nach Möglichkeit vermeidenden Verfassungen gewesen sind, denen nicht nur eine längere Lebensdauer beschieden war, sondern die auch imstande waren und imstande sind, für ein deutlich größeres Maß an innerer wie äußerer Stabilität des Gemeinwesens zu sorgen, dessen politische Ordnung sie konstituieren. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland darf als Beispiel hierfür gelten. Vielleicht liegt genau hierin eine der wesentlichsten und wichtigsten Lehren, die man heute aus der tragischen Geschichte der Weimarer Reichsverfassung ziehen kann, denn gerade die historischen Problemlagen können unser Bewusstsein für bestimmte Gefahren, aber auch für manche Notwendigkeiten der Gegenwart in besonderer Weise schärfen. So können wir im Blick zurück – um abschließend eine berühmte Formulierung Jacob Burckhardts aufzunehmen – zwar sicher nicht »weise für immer«, vielleicht aber doch »klug für ein andermal« werden.35

35 Jacob Burck h a r dt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, hg. v. Rudolf Marx, Stuttgart 1978, 10.

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»Christlich« – »deutsch« – »ständisch« Zur Leitidee des »Ständischen« in der österreichischen »Maiverfassung von 1934

1. Fragestellung Viel weniger als das politische System des »Austrofaschismus« alias »Ständestaat« stand bislang dessen Verfassung zur Debatte.1 Sie wird »noch immer nicht als integraler Teil der österreichischen Verfassungsgeschichte betrachtet. Entsprechend wenig ist über den Inhalt dieser Verfassung bekannt.«2 So die Einschätzung von Ewald Wiederin, der sich allerdings selbst eingehend mit dieser Verfassung auseinandergesetzt hat.3 Vor allem der Monographie von Helmut Wohnout verdanken wir eine profunde Darstellung des Entstehungsprozesses der Maiverfassung und ihres ideologischen Hintergrundes, aus dem sie hervorgegangen ist.4 Adolf Merkl hat gleich 1935 eine bemerkenswerte Kommentierung zu dieser Verfassung geschrieben – bemerkenswert deshalb, weil er zwar in einzelnen Punkten deutliche Kritik äußert, sie aber keineswegs prinzipiell verwirft, sondern im Gegenteil auch ihre Vorzüge gerade auch im Vergleich mit der »Bundesverfassung 1920« herausstellt  ; Letztere habe ein höchst ungutes System des »Parlamentsabsolutismus« und der ungezügelten »Parteiherrschaft« etabliert.5 Gleich zu Beginn seiner Kommentierung stellt Merkl eine »auffällige Neuerung« der Verfassung 1934 heraus, in der sie sich »von allen ihren österreichischen Vor* Abkürzungen  : B-VG  : Bundes-Verfassungsgesetz 1920  ; V-ÜG  : Verfassungs-Übergangsgesetz 1934. 1 Zur sog. »Mai-Verfassung« 1934 neuerdings Helmu t Wohnou t, Die Verfassung 1934 im Widerstreit unterschiedlicher Kräfte im Regierungslager, in  : Ilse Reiter-Zatloukal – Christiane Rothländer – Pia Schölnberger (Hg.), Österreich 1933–1938. Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß-/Schuschnigg-Regime, Wien–Köln–Weimar 2012, 17–30. 2 Ewa ld Wiederin, In Vorarlberg geschrieben  ? Landeshauptmann Otto Ender und die Verfassung 1934, in  : Montfort. Zeitschrift für Geschichte Vorarlberg 67/2, 2015, 153. 3 Siehe vor allem Ewa ld Wiederin, Christliche Bundesstaatlichkeit auf ständischer Grundlage  : Eine Strukturanalyse der Verfassung 1934, in  : Reiter-Zatloukal – Rothländer – Schölnberger, Österreich 1933– 1938, 31–41. 4 Helmu t Wohnou t, Regierungsdiktatur oder Ständeparlament  ? Gesetzgebung im autoritären Österreich, Wien–Köln–Graz 1993. 5 A dolf Merk l, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs. Ein kritisch-systematischer Grundriss, Wien 1935, 4f.

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gängerinnen« unterscheide  : das Proömium der neuen Verfassung nämlich. »Im Namen Gottes, des Allmächtigen«, so hebt dieses Proömium an, »von dem alles Recht ausgeht, erhält das österreichische Volk für seinen christlichen, deutschen Bundesstaat auf ständischer Grundlage diese Verfassung«.6 In der Tat lag diese Verfassung schon mit ihrer »Berufung auf Gott als oberster Ursprung und letzte Quelle jeglichen weltlichen Rechtes und jeglicher Staatsautorität«7 quer zum letztlich im Vernunftrecht, Liberalismus und Konstitutionalismus wurzelnden verfassungsgeschichtlichen Mainstream.8 Gleiches gilt für die drei Topoi »christlich«, »deutsch« und »ständisch«, die in diesem Proömium mitgeführt werden – Merkl spricht hier von den »legislativ-politischen Leitgedanken der Verfassung«.9 Hier möchte ich im Folgenden ansetzen  : Was für »Leitgedanken« waren das  ? Welche politischen Ordnungsentwürfe standen dahinter  ? Dabei soll insbesondere auf den Terminus »ständisch« eingegangen werden  : Welche Bedeutung kam diesem Begriff in den ordnungspolitischen Debatten jener Zeit zu  ?

2. Die »Leitgedanken« der Präambel  : »Christlich«, »deutsch« und »ständisch« Geht man diese von Merkl so genannten »Leitgedanken« der Reihe nach durch, so stößt man an erster Stelle auf das Adjektiv »Christlich«  : Die neue Verfassung soll die Verfassung eines »christlichen Bundesstaates« sein. »Christlich« heißt hier selbstverständlich »katholisch«. In einem einzigen Satz sind hier zwei politische Weltbilder zusammengeschlossen  : die Idee des Verfassungsstaats einerseits und ein religiö­ ses politisches Weltbild andererseits. Das eine schließt das andere weitgehend aus, denn im Konzept des westlichen Verfassungsstaats ist die Verfassungsordnung eine rein menschengemachte, eine entweder vom Volk oder vom Monarchen kraft souveräner Vollgewalt gesetzte Ordnung.10 Üblicherweise beinhalten Verfassungen daher  6 Druck bei Ilse R eiter, Texte zur Österreichischen Verfassungsentwicklung 1848–1955, Wien 1997, 65ff.  7 Merk l, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs, 14.  8 Überblick über die ideellen Grundlagen dieses »Mainstreams« bei Thom as Simon, Constitutional monarchy, the rule of law and fundamental laws in Austria, in  : Enes Karić – Richard Potz – Denise Quistorp (Hg.), State and religions in Bosnia and Herzegovina and Austria  : A legal framework for Islam in a European context, Wien 2018, 23–30.  9 Merk l, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs, 14. 10 Hierzu grundlegend Ernst-Wolfga ng Böck enför de, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in  : Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1976, 41–64  ; Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, 1776–1866. Vom Beginn des modernen Verfassungsstaats bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Frankfurt am Main 4. Aufl. 2015, 16–18.

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keine religiösen Legitimationsformeln – sieht man von der formalen Weiterführung des traditionellen »Gottesgnadentums« in den monarchischen Titulaturformeln des Konstitutionalismus ab. Diese Formeln lassen den eigentlichen Setzungsakt der Verfassung aber unberührt – dieser beruht ausschließlich auf dem Willen des Volkes, das sich seine Verfassungsordnung selbst schafft, oder auf dem souveränen Willen des Monarchen. Das Konzept des Verfassungsstaats stellt in seinem Ursprung einen Gegenentwurf zu den aus dem Mittelalter überlieferten religiösen Legitimationsmustern für Staat und Herrschaft dar.11 Beides – Staat und Herrschaft – war hier Teil ­einer prinzipiell vorgegebenen göttlichen Weltordnung. Das Konzept des westlichen Verfassungsstaats hingegen entstand im Kontext der vernunftrechtlichen Revolutionierung des Staatsdenkens, wie sie vor allem in Westeuropa seit dem 17. Jahrhundert über die Bühne ging. Die vernunftrechtlichen Rechtskonzepte kommen weitgehend ohne religiöse Begründungsmuster aus. Augenscheinlich will die Maiverfassung mit eben dieser Tradition brechen  : Sie deklariert Gott zur Quelle allen Rechts, also auch der Verfassung  : »Im Namen Gottes, des Allmächtigen, von dem alles Recht ausgeht, …«. Die Maiverfassung strebt jedenfalls in diesem Punkt zurück in die Zeit vor der Französischen Revolution, ja sie strebt zurück in ein älteres, vorvernunftrechtliches, noch religiös fundiertes Staats- und Rechtsdenken. Sie deklariert sich insofern geradezu im klassischen Sinne als »konservativ«, denn der europäische »Konservativismus« entstand bekanntlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Gegenreaktion auf die Französische Revolution  ; der Konservativismus strebte danach, das Aufklärungsdenken im Staats- und Rechtsdenken und die damit verbundene Säkularisierung zu überwinden durch Wiederaufrichtung tradierter Ordnungs- und Legitimationsmuster.12 Für die konkrete Ausgestaltung der Maiverfassung blieb das Attribut »christlich« allerdings ohne Bedeutung. »Die einzigen Verfassungsinhalte«, so Merkl, »die als unmittelbare Realisierung christlichen Gedankenguts angesprochen werden können, sind die mit Verfassungskraft rezipierten Bestimmungen des Konkordats«.13 Mit dem Motiv des christlichen Staates wird also kein verfassungsrechtliches Grundprinzip zum Ausdruck gebracht, das dann in den Einzelbestimmungen der Verfassung konkretisiert wird. Die Funktion dieses Motivs lag vielmehr darin, dem neuen Staat, dem sog. »Bundesstaat Österreich«, ein bestimmtes Image in der Selbstdarstellung zu verpassen. Dahinter stand die Idee einer Rekatholisierung der Gesellschaft, die hier zum Staats- und Gesellschaftsprogramm erhoben wurde  : »1933 schien dem 11 Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, 10–12. 12 Rudolf Vierh aus, Konservativ, Konservatismus, in  : Otto Brunner – Werner Conze – Reinhart Kosel­ leck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 2004, 531–565. 13 Merk l, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs, 15.

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politischen Katholizismus in Österreich der Zeitpunkt für eine neue Offensive, für einen neuen Kreuzzug, für eine neue Gegenreformation gekommen«, so beschreibt es Ernst Hanisch in seiner grundlegenden Untersuchung zum politischen Katholizismus  : »Die pluralistischen Strukturen in der Gesellschaft sollten zerschlagen, die Ideen von 1789 überwunden werden«.14 Von Bundespräsident Miklas ist die Prognose überliefert, »die Epoche der Säkularisierung des europäischen Geistes« neige »sich ihrem Ende zu«,15 und darauf gründeten sich augenscheinlich auch die Hoffnung der katholischen Kirche und des politischen Katholizismus,16 die Gesellschaft wieder »verchristlichen« zu können. Demgemäß wurde die staatliche Repräsentation in der Diktatur in einen dezidiert kirchlichen Rahmen eingeordnet. Betrachtet man die photographischen Aufnahmen solcher Auftritte, dann fehlt fast nirgendwo der geistliche Würdenträger, der mit seiner Anwesenheit den engen Schulterschluss zwischen Staat und Kirche demonstriert. Zu allen erdenklichen Anlässen wurde eine Messfeier in das politische Ritual aufgenommen. Deshalb kam dem Deutschen Katholikentag und den »Türkenbefreiungsfeiern« in Wien bei der Selbstdarstellung und bei der ideologischen Selbstvergewisserung des »Ständestaats« auch ein zentraler Stellenwert zu, denn hier ließ sich vor einem gesamtdeutschen Publikum die Idee eines katholischen Österreichs zelebrieren, das nicht nur der deutschen Nation, sondern dem ganzen »christlichen Abendland« verpflichtet ist.17 Das neue, das christliche Österreich sollte aber auch ein deutsches Österreich sein. Hatte das Wort »christlich« zumindest noch einen programmatischen Gehalt, so hatte der Begriff »deutsch« nicht einmal dies. Der Sinn und Zweck dieses Wortes beschränkte sich im Grunde darauf, dem bürgerlichen Publikum deutschnationaler Ausrichtung so etwas wie eine Brücke zu bauen, um zumindest einen Teil dieses Milieus zu sich hinüberziehen zu können. Denn gerade das bürgerliche Lager, vor allem, soweit es nicht ausgesprochen katholisch gebunden war, war seit je national orientiert. Wollte man hier nicht Terrain verlieren, dann durfte man das »nationale Thema«, das Bekenntnis zum Deutschtum, nicht allein den Nationalsozialisten überlassen. Dies umso mehr, als die Christlich-Soziale Partei ja bekanntlich gerade 14 Ernst H a nisch, Der politische Katholizismus als ideologischer Träger des »Austrofaschismus«, in  : Emmerich Tálos – Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938, Wien 2005, 75. Siehe hierzu vor allem auch Ernst H a nisch, Die Ideologie des politischen Katholizismus in Österreich 1918–1938, Wien–Salzburg 1977. 15 Zit. nach H a nisch, Der politische Katholizismus, 76. 16 H a nisch, Der politische Katholizismus, 72. 17 Isa bell a Ack erl, Die Türkenbefreiungsfeiern des Jahres 1933. Historische Jubiläen als politische Propagandavehikel, in  : Geschichte und Gegenwart. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Gesellschaftsanalyse und politische Bildung 3, 1984, 18–26. Siehe auch A nton Staudinger, Austrofaschistische »Österreich«-Ideologie, in  : Emmerich Tálos – Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938, Wien 2005, 28–53.

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diejenige Partei war, die am frühesten und am deutlichsten auf Distanz zur Anschlussidee gegangen war – dem Herzstück nationaler Programmatik in Österreich. Am frühesten hatte die Christlich-Soziale Partei auf der Eigenständigkeit Österreichs als eines zweiten, ja besseren, da dezidiert christlich-katholischen deutschen Staates beharrt.18 Das Bekenntnis zu einem auf Dauer eigenständigen Österreich sollte mit dem Bekenntnis zum Deutschtum für die nationalen Kreise akzeptanzfähig gemacht werden. Schließlich die »ständische Grundlage«, wie es in der Präambel heißt. Dem Prädikat »ständisch« soll augenscheinlich besondere Bedeutung zukommen, denn gleich in Art. 2 der Verfassung wird noch einmal eigens herausgestellt  : »Der Bundesstaat ist ständisch geordnet«. In der Tat sollte dies so etwas wie das Markenzeichen der Verfassung sein, ja es sollte geradezu das Markenzeichen des politischen Systems sein, das sich mit dem Akt der Verfassungsgebung zu legitimieren gedachte  : Eben des sog. »Ständestaats«. Für Merkl ist die durch die neue Verfassung bewirkte »Grundlegung ständischer Einrichtungen« die »originellste Neuerung«, die diese Verfassung zu bieten hat. »Sie allein werden in der rechtsvergleichenden Kritik der österreichischen Verfassung ihre besondere Note geben.«19 Merkl legt den größten Wert auf diese »ständische Einrichtungen«, denn ohne sie, so warnt er – zurückhaltend, aber deutlich genug – würde das System in nackte Despotie abgleiten.

3. (Neo)ständisches Ordnungskonzept und Korporatismus Welches politische Ordnungskonzept steht nun hinter dem Wort »ständisch«  ? Das Wort verweist zunächst ganz offensichtlich auf den sog. Korporativismus/Korporatismus. Freilich ist mit dieser Einsicht noch nicht sehr viel gewonnen, denn unter diesem Begriff wird ein Ordnungsmodell gefasst, das im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert in den unterschiedlichsten politischen Kontexten auftaucht.20 Vor allem Paul Nolte hat sich eingehend mit dem Fortleben ständischer oder vielleicht besser  : neoständischer Vorstellungen im bürgerlichen Zeitalter auseinandergesetzt.21 »Vorstellungen und Zukunftsentwürfe ständischer Ordnung waren«, so betont Nolte, »in der Zwischenkriegszeit in Mitteleuropa nicht auf einen kleinen, rechtsra18 Staudinger, Austrofaschistische »Österreich«-Ideologie, 28  ; M a derth a ner, Legitimationsmuster des Austrofaschismus, 131, spricht treffend von einem »altösterreichisch, klerikal und habsburgisch ge­sinn­ te(n) Separatismus«  ; siehe auch H a nisch, Der politische Katholizismus, 6. 19 Merk l, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs, 27. 20 Gu nther M a i, Europa 1918–1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart–Berlin–Köln 2001, 15 und 196. 21 Siehe hierzu vor allem Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000.

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dikalen, reaktionären oder faschistischen ›lunatic fringe‹ beschränkt, sondern waren ganz weit verbreitet bis in den politischen ›mainstream‹ der Weimarer Republik und die sie tragenden politischen Parteien und gesellschaftlichen Bewegungen hinein«.22 Das Phänomen des Korporatismus begegnet ebenso als Teil liberaler und demokratischer Verfassungsordnungen, wie es auch als wesentliche ordnungspolitische Grundlage des italienischen Faschismus auftaucht. Ebenso ist es konstitutiv für die katholische Soziallehre und damit zentraler Bestandteil von Ordnungsentwürfen, wie sie im politischen Katholizismus gehandelt werden.23 Gleichermaßen spielt der Korporatismus in der Staats- und Gesellschaftslehre Othmar Spanns eine zentrale Rolle.24 Demzufolge kann der Korporatismus als Alternative zum parlamentarischdemokratischen Ordnungsmodell gemeint sein, er kann aber auch in eine parlamentarisch-demokratische Verfassungsordnung integriert sein. Ersteres begegnet im italienischen Faschismus, gleichermaßen bei Spann. In den Konzepten zur Zweiten B-VG Novelle suchte man hingegen mit dem sogenannten »Länder- und Ständerat«, der an die Stelle des Bundesrats treten sollte, korporatistische Elemente in eine demokratische Verfassungsordnung einzubauen.25 In der katholischen Soziallehre schließlich wird diese Frage vielfach offengelassen – so etwa bei Johannes Messner.26 Es kommt angesichts solcher Vielfalt politischer Kontexte, in denen das korporatistische Ordnungsmodell begegnet, darauf an, den ideellen Kern dieses Konzeptes zu erfassen. Lässt sich so etwas wie ein »gemeinsamer Nenner« aller korporatistischen Ordnungskonzepte ausmachen  ? Der Korporatismus beinhaltet zunächst eine Strategie der Dezentralisierung. Seit dem 19. Jahrhundert – so kann man sagen – waren die meisten politischen Ordnungsentwürfe geprägt vom Streben nach Dezentralisierung.27 Das gilt jedenfalls für die konservativen wie auch für die liberalen Ordnungsleitbilder  : Beide waren sie 22 Paul Nolte, Ständische Ordnung im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit. Zur Ideengeschichte einer sozialen Utopie, in  : Wolfgang Hardtwig – Philip Cassier (Hg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, Berlin–Boston 2009, 233–255, hier  : 235  ; für Österreich vor allem Gerh a r d Botz, Der »4. März 1933« als Konsequenz ständischer Strukturen, diplomatischer Krisen und autoritärer Tendenzen, in  : Erich Fröschl – Helge Zoitl (Hg.), 4. März 1933. Vom Verfassungsbruch zur Diktatur, Wien 1984, 24ff. 23 Dazu vor allem Ernst H a nisch, Der Politische Katholizismus, 77. 24 Zur politischen Ideologie Spanns  : Thom as Simon, Austrofaschismus und moderne Faschismusforschung, in  : Parliaments, Estates and Representation 41/2, 2021, 173. 25 Wohnou t, Regierungsdiktatur, 33ff. 26 Zu Messner  : Helmu t Rumpler, Der Ständestaat ohne Stände. Johannes Messner als »Programmator« der berufsständischen Idee in der Verfassung des Jahres 1934, in  : Reinhard Krammer – Christoph Kühberger – Franz Schausberger (Hg.), Der forschende Blick. Beiträge zur Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert. Festschrift für Ernst Hanisch zum 70. Geburtstag, Wien–Köln–Weimar 2010, 229–245. 27 Über den epochalen Wandel des Staatsverständnisses von der »Maschine« zum »Organismus« grundlegend Mich a el Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, 123ff.

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gegen den absolutistischen Zentralisierungsdrang gewendet  ; sie suchten der »Vielregiererei« des absolutistischen Policeystaats einen Riegel vorzuschieben. Denn bis ins 18. Jahrhundert war der Aufbau der institutionellen Strukturen des modernen Flächenstaates mit der unausweichlichen Konsequenz einer ständig vorangetriebenen Zentralisierung verbunden. Das Zauberwort gegen den in alles und jedes hineinregierenden Staat, der in alles und jedes seine Nase hineinhängt, war die »Selbstverwaltung« – das »Self-Government«, wie es verbreitet hieß, weil man sich hier im 19. Jahrhundert vielfach an englischen Vorbildern orientierte.28 Die zündende Idee dahinter war die Vorstellung, den Staat durch eine möglichst weitgehende Verlagerung von Regulierungs- und Verwaltungskompetenzen von »oben« nach »unten« zu entlasten, um auf diese Weise den Moloch »Staat« abspecken zu können und zu einem »schlanken« und damit natürlich auch sparsameren Staat zu kommen. Denn aus liberaler wie konservativer Sicht schien das unaufhörliche Wachstum der staatlichen Verwaltungsinstitutionen hypertroph. »Verlagerung von oben nach unten« heißt  : Regulierungs- und Verwaltungsaufgaben werden von der staatlichen Ebene auf unterstaatliche, in der Regel korporativ verfasste Einheiten ausgelagert. Diese Untereinheiten können territorial radiziert sein, wie etwa die Länder eines Bundesstaats oder die Kommunen, aber sie können auch rein personal radiziert sein, wie es bei der sog. »beruflichen Selbstverwaltung« der Fall ist, um hier das wichtigste Beispiel solcher personal radizierten Selbstverwaltungskörperschaften zu nennen  : Es waren bevorzugt diese personal radizierten Körperschaften der beruflichen Selbstverwaltung, auf die der uralte Begriff der »Stände« übertragen wurde  : Die Berufsstände sollten an die Stelle der alten Geburtsstände treten.29 In der Institution des sog. »Länder- und Ständerats«, die der ursprünglichen Intention der B-VGNovellierung 1929 gemäß an die Stelle des Bundesrats treten sollte, kommt dieses Nebeneinander von territorial und personal radizierter Selbstverwaltung gut zum Ausdruck  : Neben die Dezentralisierung durch »Verländerung«, wie sie 1920 eintrat, sollte 1929 ursprünglich eine weitere Form der Dezentralisierung treten, nämlich die korporative Dezentralisierung in Gestalt der beruflichen Selbstverwaltung. Und wie die Länder sollten auch die Körperschaften der beruflichen Selbstverwaltung über den Bundesrat Einfluss nehmen können auf die Gesetzgebung des Bundes. Von dieser neo-ständischen Dezentralisierung versprach man sich nicht nur einen schlanken und daher kostengünstigeren Staat, sondern etwas, was in der modernen 28 Dazu eingehend Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte der Ideen und Institutionen, Stuttgart 1950, 69–83  ; zu dem in den politischen Diskursen des 19. Jahrhunderts zentralen Begriff der »Selbstverwaltung« und seinem Bedeutungswandel siehe auch Bernd Wu nder, Selbstverwaltung (Verwaltung), in  : Otto Brunner – Werner Conze – Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, Stuttgart 1992, 80–85. 29 Nolte, Ständische Ordnung, 235ff.

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Verwaltungslehre mit »Bürgernähe« zum Ausdruck gebracht wird  : Die Aufgabenverlagerung nach unten bringt Verwaltung und Regulierung näher an den Bürger, so eine weitere Hoffnung. Im Kern entsteht diese Nähe dadurch, dass die Verwaltungs- und Regulierungsaufgaben von den in der jeweiligen Korporation zusammengeschlossenen Bürgern selbst wahrgenommen werden. Die Bürger verwalten diejenigen Angelegenheiten selbst, d. h. ohne staatlichen Verwaltungsapparat, die nicht notwendig zentralstaatlich reguliert und administriert werden müssen. Bekanntlich ist damit das sog. »Subsidiaritätsprinzip« angesprochen und es ist kein Zufall, dass dieses »Prinzip« nicht nur von liberaler, sondern vor allem auch von Seiten der katholischen Soziallehre stets besonders betont wurde.30 Schließlich größere »Sachnähe«  : Insbesondere durch die Verlagerung von Rege­ lungskompetenzen in die Körperschaften der beruflichen Selbstverwaltung versprach man sich größere Sachnähe und zugleich so etwas wie die »Professionalisierung der Regelungsfunktion«. Warum  ? Weil die Regulierungsaufgaben hierbei auf diejenigen verlagert werden, die den größten Sachverstand, das solideste Expertenwissen haben, was den jeweiligen Regelungsgegenstand anbelangt. Dies gilt vor allem für den gesamten wirtschaftlichen Bereich  : Die beste und sachgerechteste Regelung eines bestimmten wirtschaftlichen Problems findet sich, wenn man dessen Regulierung denjenigen überlässt, die am meisten davon verstehen und in einer bestimmten Branche über die größten praktischen Erfahrungen verfügen. Dann kann sich das Expertenwissen am unmittelbarsten in den jeweils erforderlichen Regelungen niederschlagen.31 Derartige Hoffnungen finden sich in praktisch allen korporatistischen Ordnungskonzepten – so vielgestaltig die konkreten politischen Kontexte sein mögen, in denen sie jeweils stehen. Wir finden sie in den dezidiert liberalen Dezentralisierungskonzepten ebenso wie in der katholischen Soziallehre, die ja bekanntlich selbst noch einmal in unterschiedlichen Varianten auftritt. Aber wir finden sie auch bei Spann und im italienischen Faschismus.32

30 Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, 84. 31 Nolte, Ständische Ordnung, 244, unter Verweis auf die katholische Soziallehre in Gestalt des sog. »Solidarismus«. Siehe hierzu etwa R eina ld Dassel, Gegen Parteienstaat für Ständestaat, Wien–Graz– Klagenfurt 2. Aufl. 1929, 27  : »Führung durch den Sachkundigen ist das erste Gesetz des ständischen Staates«. Hinter dem Pseudonym »Dassel« verbarg sich der Sekretär der Heimwehr-»Bundesführung« Walter Heinrich. Zu ihm und seiner antiparlamentarischen Schrift »Gegen Parteienstaat« eingehend Simon, Austrofaschismus und moderne Faschismusforschung, 173. 32 Simon, Austrofaschismus und moderne Faschismusforschung, 176.

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4. Die politische Vieldeutigkeit der korporatistischen Ordnungsmodelle Demgemäß hat das korporatistische Modell jeweils ganz unterschiedliche Einfärbungen angenommen, je nachdem, in welchem politischen Kontext es verankert ist. Die Unterschiede lagen vor allem in den folgenden Punkten  : Sie lagen zunächst in der unterschiedlichen Verortung der »Stände« zwischen Staat und Gesellschaft. Es geht hier um die Frage, wo – also auf welcher Seite – die mit Selbstverwaltungskompetenzen begabten Korporationen verankert sind  : Handelt es sich um Organe gesellschaftlicher, also staatsfreier Selbstverwaltung und entstehen sie demgemäß aus der gesellschaftlichen Sphäre heraus, entstehen sie also letztlich in den diversen Milieus der verschiedenen Berufe selbst  ? Oder werden sie von Seiten des Staates hochgezogen – womöglich noch als Zwangskorporationen, der alle Berufstätigen einer bestimmten Branche angehören müssen, wenn sie ihren Beruf weiterhin ausüben wollen  ?33 Eng damit zusammenhängend war dann die Frage, wie demokratisch die ständische Selbstverwaltung ausgestaltet, wie groß also der Einfluss der Standesangehö­ rigen auf die Organe der ständischen Selbstverwaltung sein sollte  : Werden sie stärker »von oben« oder stärker »von unten«, also im Wege demokratischer Wahl bestimmt  ? Und welche Kompetenzen sollten den Organen der (berufs-)ständischen Selbstverwaltung zukommen  ?34 Und schließlich macht es naheliegenderweise einen fundamentalen Unterschied, ob das korporatistische Selbstverwaltungsmodell als Ergänzung oder als Alternative zu einem parlamentarischen System gedacht ist. Ersteres ist bei allen liberalen Selbstverwaltungskonzepten der Fall  : Sie ergänzen das parlamentarisch-demokratische Modell – sie wollen das Parlament lediglich entlasten, indem sie einen Teil der Regelungsfunktion nach unten verlagern. Von konservativer Seite wurde hingegen ein korporatistisches Modell anvisiert, das als Alternative zum überwundenen parlamentarischen Modell gedacht war. Hier war der Korporatismus offensichtlich gegen den Parlamentarismus gewendet – war gegen den sog. »Parteienstaat« und die »Formaldemokratie« gerichtet. »Formaldemokratie«, »Parteienstaat« oder gar »Parteiendiktatur« waren im politischen Diskurs der 1920er und 1930er Jahre geradezu allgegenwärtige rhetorische Topoi, und zwar keineswegs nur in einem Manifest, wie dem sog. »Korneuburger Eid« der Heimwehren,35 sondern bemerkenswert deutlich auch bei einem juristischen Autor wie Merkl.36 Sie waren Teil einer weit verbreiteten 33 Dazu im einzelnen Wohnou t, Regierungsdiktatur, 15ff und 25ff. 34 Ebd. 35 Dazu eingehend Simon, Austrofaschismus und moderne Faschismusforschung, 177. 36 Siehe hierzu nur Merk l, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs, 4ff.

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Liberalismus- und Kapitalismuskritik von rechts und links und üblicherweise brachte man dabei das parlamentarische System in enge Verbindung mit dem Liberalismus, was ja historisch betrachtet auch gar nicht falsch war. Der Korporatismus stellt sich hier dar als Teil jener nach dem Ersten Weltkrieg mächtig anschwellenden Kritik an der aus dem 19. Jahrhundert überkommenen politisch-sozialen Ordnung – einer Ordnung, ruhend auf dem Fundament von Konstitutionalismus, Liberalismus und Kapitalismus einschließlich des dahinterstehenden individualistischen Menschenbildes.37 »Dahinter stand« – so Nolte – »die während dieser Zeit im deutschsprachigen Mitteleuropa weithin geteilte Überzeugung, eine ständische Sozial-, Wirtschaftsund möglicherweise auch Staatsverfassung werde die überkommene und überlebte Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts mitsamt dem Individualismus und politischen Liberalismus in Zukunft ablösen können und zum eigentlichen, zeitgemäßen Ausdruck einer funktional hochgradig differenzierten Gesellschaft werden«.38 Dies war keineswegs nur rechts- oder linksextreme Fundamentalkritik, sondern es war eine Kritik, die von weiten Teilen des bürgerlichen Lagers geteilt wurde. Kaum irgendwo zeigt sich das deutlicher als in der ideologischen Entwicklung der Christlich-Sozialen Partei in der Zwischenkriegszeit  : Beginnend vor allem mit Seipel wurde dort mehr und mehr eine Parteielite maßgeblich, die die parlamentarische Demokratie und das ihr zugrundeliegende Gesellschaftsmodell für eine offensichtlich überholte Angelegenheit hielt. Die demokratischen Parteikräfte wurden demgegenüber in den Hintergrund gedrängt.39 Augenscheinlich konnte sich auch Adolf Merkl solcher Fundamentalkritik jedenfalls zum Teil durchaus anschließen, wenn er in seinem Grundriss zur ständisch-autoritären Verfassung harsche Kritik übt am »Demokratismus«, wie er es nennt, der zusammen mit dem Parlamentarismus in Österreich zu einer ungezügelten Parteiendiktatur geführt habe.40 Es war diese »idée fixe« einer elementaren Kritik am liberalen Gesellschafts- und Demokratiekonzept, aus dem auch das Korporatismusmodell der österreichischen »Maiverfassung« 1934 erwuchs.41 Der Korporatismus war hier nicht als Ergänzung, sondern als Alternative zur parlamentarischen Demokratie gedacht.42 Der wesentliche Punkt dieser im weitesten Sinne konservativen, antiliberalen Entwürfe lag darin, dass die Idee des Korporatismus hier viel mehr umfasste als nur eine Stärkung der beruflichen Selbstverwaltung. Es ging hier vielmehr um einen Neuaufbau der Gesellschaft als ganzer, und zwar unter Anknüpfung an ein Grundprinzip der vormo37 Lu tz R a ph a el, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945, München 2011, 97f. 38 Nolte, Ständische Ordnung, 233. 39 Simon, Austrofaschismus und moderne Faschismusforschung, 168. 40 Merk l, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs, 1ff. 41 Zum ideologischen Hintergrund dieser Verfassung eingehend Erik a Kustatscher, »Berufsstand« oder »Stand«  ?  : Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit, Wien 2016. 42 Wohnou t, Regierungsdiktatur, 20ff.

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dernen Ständegesellschaft, nämlich die Gliederung und Aufteilung der modernen Gesellschaft in sich selbst verwaltende Teilordnungen – Spann spricht hier von »Lebenskreisen«  ;43 in der katholischen Soziallehre ist unter direktem Rückgriff auf die Scholastik von »Gemeinschaften« die Rede.44 Zweierlei versprach man sich von solchen konservativen neo-ständischen Ordnungsmodellen  : zum einen die Überwindung der modernen »Massengesellschaft«. Die »Vermassung« und ihr Resultat, die »Massengesellschaft«, waren zentrale Topoi konservativer Kultur- und Gesellschaftskritik an der Moderne  : Die Vermassung bewirke eine verhängnisvolle Hyperindividualisierung des Einzelnen und damit auch eine gefährliche Atomisierung der Gesellschaft. Um dies zu überwinden, strebte man nach erneuter Untergliederung der Gesellschaft  : Nach Aufteilung der Gesellschaft in kleinere, überschaubarere Gemeinschaften, in die der Einzelne dann auch stärker integriert werden kann als in die moderne Massengesellschaft.45 Natürlich erschien dabei die vormoderne Ständegesellschaft gerade aus konservativer Sicht als Urbild einer in zahllose Gemeinschaften untergliederten Gesellschaft. Das heißt selbstverständlich nicht, dass man in die geburtsständisch gegliederte Gesellschaft der Vormoderne zurück wollte. Aber man wollte jedenfalls zurück in eine ständisch gegliederte Gesellschaft – oder besser ausgedrückt  : In eine neoständisch gegliederte Gesellschaft, denn die neuen Stände sollten eben nicht mehr geburts-, sondern berufsständisch definiert sein. In der modernen Erwerbsgesellschaft des Industriezeitalters konnte selbstverständlich nicht mehr der Geburtsstand maßgeblich sein. Maßgeblich war vielmehr, welche Funktion dem Einzelnen innerhalb der Volkswirtschaftsordnung zukommt  : Von dieser Funktion hing es ab, welchem »Lebenskreis« der Einzelne jeweils zuzuordnen war. Mit der neoständischen Untergliederung der modernen Gesellschaft verband sich aber auch die Hoffnung, bei der Überwindung der modernen Massengesellschaft den Klassenkampf beilegen zu können, der die modernen Gesellschaften fortlaufend zu desintegrieren drohte  : Die neuen, im weitesten Sinne als »Berufsstände« konzipierten Gemeinschaften sollten zugleich als Foren eines gerechten Interessenausgleichs zwischen der lohnabhängigen Arbeiterklasse und den Gewerbetreibenden dienen.46

43 Kustatscher, »Berufsstand« oder »Stand«  ?, 303ff. 44 So etwa bei Joh a n nes Messner, Die soziale Frage der Gegenwart, Innsbruck 1934  ; zu diesem Werk und seinem Autor  : Simon, Austrofaschismus und moderne Faschismusforschung, 168ff. 45 R einh a rt Koselleck – Fritz Gschnitzer – K a rl Fer dina nd Werner – Bernd Schönem a n n, Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in  : Brunner – Conze – Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, 141–431. Zum Topos der »Vermassung« in der im weitesten Sinne konservativen Literatur siehe auch Kustatscher, »Berufsstand« oder »Stand«  ?, 87 und 92 mit zahlreichen Beispielen. 46 Mit zahlreichen Belegen Kustatscher, »Berufsstand« oder »Stand«  ?, 119, 143 und 179  ; Gerh a r d Botz, Der »christliche Ständestaat«  : Weder System noch Faschismus, sondern berufsständisch verbrämte

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5. Die Bedeutung des neoständischen »Leitprinzips« in der Maiverfassung 1934 Es waren solche neo-ständischen Ordnungsvorstellungen, an denen die Maiverfassung anknüpfen wollte. Neoständisch-berufsständisch waren bekanntlich vor allem die Gesetzgebungsorgane ausgestaltet  : An die Stelle des vom Volk unmittelbar gewählten Nationalrats, der die Gesetze berät und beschließt, trat der Bundestag als beschließendes, und traten Staatsrat, Bundeswirtschafts- und Bundeskulturrat als lediglich vorberatende Organe. Der Bundeswirtschaftsrat selbst war in einem berufsständischen Sinne strukturiert, denn er sollte von den Organen der berufsständischen Selbstverwaltung, den sog. »berufsständischen Hauptgruppen« beschickt werden. Wie demokratisch diese Hauptgruppen gebildet werden und wie sie die Beschickung des Bundeswirtschaftsrats genau vornehmen sollten, blieb allerdings in der Verfassung offen  ; dies blieb einem später zu erlassenden Bundesgesetz überlassen. Genau dies wäre allerdings der Punkt gewesen, an dem sich, wenngleich sehr bescheidene, demokratische Strukturelemente in die Verfassung hätten einbauen lassen, wie sie von Merkl so nachdrücklich eingefordert wurden. Und so lag es wohl auch in der Intention Otto Enders, den man sicherlich demjenigen – dann allerdings 1934 ausgebooteten – Flügel der Christlich-Sozialen Partei zuordnen kann, der darum bemüht war, gewisse Restbestände demokratischen Gedankenguts in die neue Verfassungsordnung hinüberzuretten.47 Er stieß hierbei aber auf den massiven Widerstand der Heimwehren, die gerade damals, in der Phase der Verfassungskonzeption, auf dem Höhepunkt ihrer Macht waren. Helmut Wohnout zeigt diesen Konflikt im Einzelnen  : Die Heimwehren wollten die Autonomie der ständischen Selbstverwaltung gegenüber dem Staat möglichst gering halten  ; demokratische Strukturelemente suchen sie weitgehend auszuschließen. Demgegenüber suchte insbesondere Otto Ender die Autonomie der (berufs-)ständischen Selbstverwaltung zu bewahren.48 Letztendlich hat sich schließlich die Heimwehrlinie durchgesetzt  : Zum einen schon deshalb, weil die in Art. 48 IV der Verfassung vorgesehenen sog. »berufsstän­ dischen Hauptgruppen« faktisch nur ansatzweise gebildet wurden, nämlich nur die »Hauptgruppen« »Land- und Forstwirtschaft« und »Öffentlicher Dienst«, während die viel wichtigeren Gruppen – vor allem Industrie, Gewerbe und Handel – nie verwirklicht wurden. Zum anderen aber auch deshalb, weil selbst da, wo diese »Hauptgruppen« gebildet wurden, dies ohne Auswirkung auf die Zusammensetzung des Bundeswirtschaftsrats blieb. Denn mit dem V-ÜG (B-VG v. 19. 6. 1934 betr. den »halbfaschistisch«-autoritäre Diktatur im Wandel, in  : Lucile Dreidemy (Hg.), Bananen, Cola, Zeitgeschichte. Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert, Bd. 1, Wien 2015, 202–217, hier  : 205. 47 Wiederin, In Vorarlberg geschrieben  ?, 153. 48 Wohnou t, Regierungsdiktatur, 47.

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Übergang zur ständischen Verfassung) wurde die in der Verfassung eigentlich vorgesehene Entsendung aus den »berufsständischen Hauptgruppen« in den Bundes­ wirtschaftsrat eliminiert  : An die Stelle der Entsendung trat vorerst die Ernennung seitens des Bundespräsidenten auf Vorschlag des Bundeskanzlers,49 sodass den »berufsständischen Hauptgruppen« keinerlei Einfluss auf die Zusammensetzung des Bundeswirtschaftsrats zukam. Aber selbst wenn man in vollem Umfang zum Aufbau der berufsständischen Organe gekommen wäre, hätte dies an der praktisch vollständigen Ausscheidung des demokratischen Prinzips nichts geändert, da dem Bundeswirtschaftsrat als gesetzesvorberatendem Organ ja ohnedies nur ein beratendes Votum zukam. Das demokratische Prinzip war in der Maiverfassung also konsequent eliminiert, das »ständische« Prinzip blieb im Endeffekt ein kläglicher Torso. Ohnehin gab es hochrangige Entscheidungsträger in der Ministerialverwaltung, die »das Ständische« am »Ständestaat« anscheinend selbst nicht so recht ernst nehmen wollten. Von Robert Hecht, Sektionschef und ab 1932 juristischer Berater von Dollfuß, bekannt geworden vor allem als derjenige, der sich die rechtliche Legitimierung des Staatsstreichs einfallen ließ,50 ist die Bemerkung überliefert, die Charakterisierung des neuen Staates als Ständestaat entspreche »keiner realen Vorstellung der Bevölkerung«. »Ständestaat« sei doch bloß »ein leeres Wort, nichts als eine Antithese zum erledigten Parlamentarismus«.51 Oder anders ausgedrückt  : Die in Art. 2 genannte »ständische Ordnung« war bloßes Schmuckwerk.

49 § 21 V-ÜG. 50 Peter Huemer, Sektionschef Robert Hecht und die Zerstörung der Demokratie in Österreich. Eine historisch-politische Studie, Wien 1975. 51 Wiederin, Christliche Bundesstaatlichkeit auf ständischer Grundlage, 75.

Estevão de Rezende Martins, Brasilia

Rechtsstaatlichkeit und formale Befugnisse Legislative, Exekutive und Judikative  : Perspektiven im 21. Jahrhundert aus der Sicht brasilianischer Erfahrung

1. Zur Einführung  : Der notwendige Staat In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zu einer gesellschaftlichen Krise der Ungeduld gegenüber dem Staat. Einige Thesen, wie die des französischen Poli­ tologen Guy Sorman, plädierten sogar praktisch für das Verschwinden des Staates – »der Minimalstaat« wäre tolerierbar, um zwei Situationen zu vermeiden, die als Risikosituationen gelten.1 Die eine Situation (meistens als unerwünscht angesehen) würde zu viel Staat, dem einschneidenden und begrenzenden Staat, entsprechen. Die andere befürchtete Situation wäre Anarchie aufgrund der Abwesenheit des Staates oder wenn er seinen Verpflichtungen nicht nachkommt. Eine solche ultraliberale These steht der Erfahrung des allmächtigen und allgegenwärtigen Staates, der unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg für wirtschaftliche Entwicklung (mit Vollbeschäftigung) und soziales Wohlergehen (mit allgemeiner öffentlicher Bildung, universeller Gesundheits- und Altersversorgung) für ihre Bürger sorgte, entgegen. Dieser Staat war auch unternehmungslustig, regulierend, lenkend, äußerst intervenierend. Die politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Umwälzungen der letzten fünfzig Jahre haben einen Staat mit solcher Tragweite zu einer wahren »Mission  : impossible« gemacht. Die Geschwindigkeit der Transformationen, die die Welt durchläuft, hat dieses Format des Staates, im Allgemeinen aber auch in Bezug auf seine Leistung, zu einem langsamen, behinderten Mastodon gemacht. Die Krise der Effektivität des Staates, sowohl in seiner Organisation als auch in seiner sozialen Wahrnehmung, ist enorm gewachsen und hat begonnen, seine Handlungsfähigkeit zu beeinträchtigen, öffentliche Politiken zu formulieren, die die Erfüllung grundlegender Bedürfnisse der Gesellschaft sicherstellen. Der Minimalismus steht jedoch einem stillen näher als einem notwendigen Staat. Die institutionellen Reformen, die in den wichtigsten westlichen Demokratien im Gange sind, neigen dazu, den Staat von der Rolle des wirtschaftlichen Unternehmers zu entfernen und seine Rolle als soziale und politische Regulierungsbehörde im Namen des öffentlichen Interesses zu stärken. Dieser Förder-, Regulierungs- und Kontrollstaat 1 Gu y Sorm a n, L’État minimum, Paris 1985.

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entspricht dem, was man heute den notwendigen Staat nennt.2 Der Staat sorgt auf Initiative des Einzelnen für das Gleichgewicht der Gerechtigkeit für alle. Die elementaren institutionellen Funktionen des Staates wurden daher nicht unmittelbar bestritten. Die klassische politische Theorie der Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative wird beibehalten. Die politische Praxis und die träge Tradition der Rechtsformalität, insbesondere der rechtsstaatlichen, in der sich Nationalstaaten kristallisiert haben, haben jedoch ein diffuses gesellschaftliches Gefühl der Entfernung und Entfremdung erzeugt. Die Bürger verstehen wenig oder nichts von der grundlegenden Architektur des Staates und dem Funktionieren der Macht. Dieser Umstand tut jedoch der funktionalen Legitimität der Befugnisse keinen Abbruch. Die Frage stellt sich heute im Hinblick auf das Verständnis der Funktionsstruktur des Staates durch die Bürger – und nicht nur durch Spezialisten oder seine Agenten – und auf die Optimierung seiner Funktionsweise. Daher werden an die öffentlichen Akteure, Betreiber des Staates, drei Anforderungen gestellt  : Förderung der Transparenz der Organisationsprinzipien und der Regeln für ihre Anwendung, Vereinfachung der Verwaltungsverfahren und Erleichterung des Zugangs der Bürger zu allen Dienstleistungen, die für die Lebensfähigkeit ihres politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens notwendig sind. Diese dreifache Aufgabe des öffentlichen Akteurs hängt jedoch von der ursprünglichen politischen Legitimität ab. Diese Legitimität basiert eigentlich auf dem geeigneten, kollektiv getragenen Verfahren für die Wahl der politischen Amtsträger im Staate. Das Wahlsystem spielt daher eine wichtige Rolle bei der öffentlichen und kulturellen Artikulation der Bürger mit ihren staatlichen Organen. Die Lenkbarkeit selbst hängt von dieser Artikulation ab. Diese Legitimationsverankerung ist also unabdingbar. Dies ist eine mühsame Mission, denn es gilt, das Boot in voller Navi­ gation zu renovieren, ohne die Kontrolle über die Ruderpinne zu verlieren oder vom politischen Sturm oder der rauen See der Interessenkonflikte erfasst zu werden. Diese Fähigkeit ist für die Demokratie unverzichtbar und erfordert eine starke und kontinuierliche gesellschaftliche Teilhabe.

2. Politische Legitimität  : Wahlsystem Als Voraussetzung für diese Betrachtungen gilt, dass die Option einer repräsentativen und partizipativen Demokratie im gesellschaftlichen Rechtsstaat die Hauptreferenz jedes Ansatzes zur institutionellen Organisation der Gesellschaft in Form des 2 Vgl. Estevão de R ezende M a rtins. Estado social de direito  : projeto e missão da socialdemocracia na América Latina e no Brasil, in  : João Paulo M. Peixoto (Hg.), Reforma e modernização do Estado. Aspectos da experiência brasileira recente, Sobral 2000, 25–70.

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Staates darstellt. Die Rechtsstaatlichkeit drückt im Allgemeinen das Vorherrschen gemeinsamer Regeln für kollektives und individuelles Verhalten aus, die unpersönlich gültig und persönlich zurechenbar sind. Ein wichtiges Element der Reform im Rechtsrahmen eines jeden Staates ist die Vereinfachung, Kodifizierung, Organisation (und Organisierung) des normativen Systems. Die Geschichte des Rechtssystems ist kumulativ. Die Verstrickung – manche werden sagen, das Labyrinth – der daraus resultierenden Normen, mit der sich der Bürger konkret auseinandersetzen muss, wenn sie für den Fachmann entzifferbar ist, ist für den Normalbürger selten erschließbar. Der Fachmann – insbesondere wenn er ein öffentlicher Beauftragter ist – ist dafür verantwortlich, zur Realisierbarkeit dieser grundlegenden Komponente der gesellschaftlichen Teilhabe am Leben des Staates beizutragen  : Ein gutes Verständnis dafür, warum und wofür der Staat und seine Regeln da sind, ist eine wichtige Form der dauerhaften Legitimität des Staates und seiner Manager. Es scheint keinen Zweifel daran zu geben, dass es im täglichen Leben der Bürger viele Frustrationen gibt. Folglich muss die gesellschaftliche Wahrnehmung des Mandats- und Jurisdiktionssystems entwickelt, geklärt und – soweit möglich – partizipativ gestaltet werden. Die gesellschaftliche Durchdringung der politischen Kultur betrifft in erster Linie die gesetzgebende Gewalt, dann die Justiz und zuletzt die Exekutive. Die Regierung greift oft und unmittelbar ein, was schnell wahrgenommen wird. Bei Richtern und Gerichten scheint die Entfernung entsprechend dem geltenden Rechtssystem und der Art des Zugangs eher mittelbar gespürt. Was weiter entfernt erscheint, ist das institutionelle und routinemäßige Funktionieren des Parlaments.3 Erst das Wahlsystem schafft die politische Legitimität, die dem Parlament die Eigenschaft eines Repräsentanten der Gesellschaft verleiht, um der Regierungsgewalt die Macht anzuvertrauen, die aktuellen öffentlichen Angelegenheiten zu verwalten. Die Ernennung zu Richterämtern und -funktionen – auf Lebenszeit oder auf Zeit – ergibt sich aus der doppelten, gemeinsamen Legitimität des Parlaments und der Regierung. Im modernen politischen System ist der Ausdruck der Volkssouveränität in Wahlen der eigentliche Träger der politischen Legitimität. Die drei Staatsgewalten sind für die öffentliche Verwaltung des Staates mitverantwortlich. Wenn die Regierung auf parlamentarische Investitur angewiesen ist, wird sie auch – theoretisch – vom Gesetzgeber kontrolliert und ihr Handeln unterliegt der Gerichtsbarkeit. Die Unabhängigkeit und Harmonie der Mächte sind theoretische Bestandteile ihrer ursprünglichen Definition. Die Legitimität öffentlichen Handelns muss ein regelmäßiges und systematisches gesellschaftliches Aufklärungsprogramm für die öffentliche Meinung über das Funktionieren von Institutionen beinhalten. Staatsundurchsichtigkeit ist eine schwere 3 Estevão de R ezende M a rtins, Cultura e Poder, Brasília 2002.

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Hypothek. Transparenz muss mehr als ein Ziel sein. Öffentliche Verbreitungs- und Bildungsprogramme über das parlamentarische System – natürlich einschließlich lokaler und regionaler Vertretungen – sind ein interessanter (und effizienter) Mechanismus zur Erhöhung der gesellschaftlichen Teilhabe an öffentlichen Angelegenheiten und zur Legitimation staatlichen Handelns. Dadurch würde die mögliche Distanz zwischen der Wählerschaft und dem lokalen, regionalen oder nationalen Parlamentarier verringert, deren Legitimität also besser anerkannt würde. Aus praktischer Sicht sind hierüber zwei grundlegende Fragen zu stellen  : ­Erstens, wie kann die Legitimität der Gewählten erreicht werden  ? Zweitens, wie kommt diese Legitimität am besten zum Ausdruck  ? Unter Legitimität versteht man die Angemessenheit zwischen dem allgemeinen Willen, der durch allgemeine, direkte und individuelle Abstimmung zum Ausdruck gebracht wird, dass dieser oder jener Regierungsvorschlag die Mehrheit hat, und der Wahl der Kandidaten, die sich im Namen von politischen Vorschlägen präsentiert haben (notwendigerweise alternativ, angesichts des Wettbewerbscharakters der Parteien), programmatisch allgemein (Satzungen und Programme der Parteien) und spezifisch (staatliche Projekte für die Dauer der angestrebten Legislaturperiode). Um diese Fragen zu beantworten, ist es wichtig zu bedenken, dass es in einer repräsentativen Demokratie keine perfekte Formel für die Nähe oder Distanz zwischen Repräsentanten und Repräsentierten gibt. Andererseits kann das Wahlinvestiturverfahren nicht so an eine kleine Klientel gebunden sein, dass die kommunalen, regionalen und nationalen Wahlbasen nicht zu unterscheiden seien. Wie beantwortet man die beiden Legitimitätsfragen  ? Ich glaube, dass die doppelte Wahlformel, wenn man eine begrenzte territoriale Basis (der Kreis selbst) und eine breite (der territoriale Umfang einer Region oder Provinz) betrachtet, am vollständigsten ist. Ursprung des Modells ist das Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bei nationalen oder regionalen Wahlen hat jeder Wähler zwei Stimmen – Direktund Proporzwahl sind also hier kombiniert. Um die Zusammensetzung der jeweiligen Kammer nicht pervers zu verzerren, muss (je nach Größe des Wahlgremiums) die Einführung einer Art »Wahlversicherungspolice« in Erwägung gezogen werden, indem eine Mindestanteilnahme im Wahlkreis, im Bundesland oder in der Region festgelegt wird, damit die Partei auf der Verhältnisliste antreten kann (in Deutschland z. B. werden mindestens fünf Prozent der gültigen Stimmen benötigt, damit diese oder jene Partei auf der Liste bleibt). Auf diese Weise wäre sichergestellt, dass der bei den Bezirkswahlen beobachtete Mehrheitsprozess nicht durch eine schwache Wählerpräsenz beeinträchtigt wird, die ohne den entsprechenden lokalen Aufwand auf regionaler oder provinzieller Ebene »gerettet« würde. So stärken die Parteien ihre institutionelle Position, indem sie diejenigen ausschließen, die eine zu geringe Anzahl von Stimmen (unter dem festgelegten Mindestprozentsatz) für den Umfang der Wahlen erhalten. Man muss sich noch vor Augen halten, dass die Wirkung der

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Klausel unterschiedlich ist, je nachdem, ob es sich um Wahlen für nationale Mandate oder für regionale Mandate handelt. Die Mandatsträger sind daher aus zwei sich ergänzenden Gründen legitimiert  : Einerseits besteht eine Verbindung mit der Wahlvolkbasis durch den Mechanismus der Kreisverteilung, die nach dem geographischen und sozioökonomischen Profil der territorialen Basis definiert wird. Auf der anderen Seite gibt es mit der sozioökonomischen Basis eine (zumindest vorausgesetzte) programmatische Legitimität, die zum primären Gegenstand der Entscheidung der Wählerschaft wird, wenn es dazu kommt, ihre Stimme »Nummer 2« abzugeben. Das Thema beschränkt sich nicht auf die formale akademische Debatte mit dem traditionellen Aufeinanderprallen von Argumenten. Das System hat sich behauptet, und zwar sehr gut. Wir sollten heute also bedenken, dass eine pragmatische Option zugunsten eines solchen Systems in weiteren Ländern außerhalb Europas sehr zu empfehlen wäre. In diesem Zusammenhang kann man auf das brasilianische Beispiel der Wahl der Exekutive hinweisen (allerdings im Präsidialsystem). Kritik gibt es noch immer an der 1988 eingeführten Regel, dass die Wahlen zum Präsidenten der Republik, zum Landeshauptmann und zum Bürgermeister (mit mehr als 200.000 Wählern) in zwei Gängen abgehalten werden sollen. Es würde nur dann keinen zweiten Wahlgang geben, wenn ein Kandidat im ersten die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen erhielt. Die Erfahrungen mit den Mehrheitswahlen seitdem weisen auf eine Konsolidierung der Wahlmöglichkeit für dieses Format als zusätzliche Legitimationsquelle für die Amtsinhaber eines direkten Exekutivmandats hin. Ich halte es für unvernünftig, wenn man eine konkurrierende Legitimität zwischen der parlamentarischen Investitur der Regierung und der eines durch Direktwahl gewählten Präsidenten der Republik sehen und sie eventuell gegeneinander ausspielen würde. Im heutigen Europa wählen 21 Länder ihre Präsidenten direkt. In neuester Zeit wurde diese Formel 1962 in Frankreich per Volksbegehren in die Verfassung eingeschrieben. Die Befugnisse des französischen Staatspräsidenten sind zahlreicher und weitreichender als formell vorgesehen in den weiteren Ländern. Erst Russland nach 1990 versah das Präsidialamt mit so viel Macht, dass der Ministerpräsident des Landes eher die Rolle eines delegierten Verwalters spielt. Selbstverständlich sind die Gründe dafür im Frankreich des Generals de Gaulle und in Russland von Vladimir Putin völlig verschieden. Wir gehen hier nicht darauf ein, aber wollen nur in Erinnerung rufen, dass »halbpräsidiale« Systeme in Europa doch weiterbestehen. Die institutionelle Konkurrenz kann aber vorkommen, wenn die Mehrheit der Wahlberechtigten einen Präsidenten und ein Parlament aus opponierenden politischen Lagern wählt. Das Gegeneinanderspielen ist dann wohl unvermeidbar – und kompliziert erheblich die Ausübung der jeweiligen Befugnisse. So geschah es in Frankreich zweimal unter François Mitterrand (Sozialistische Partei  ; 1981 bis 1995)  : 1986 bis 1988 mit dem Premier Jacques Chirac (zentrumsrechte RPR) und 1993 bis

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1995 mit dem Premier Edmond Balladur (zentrumsrechte RPR). Ein drittes Mal fand dies unter Präsidenten Jacques Chirac (1995–2007) statt, als Lionel Jospin (Sozialistische Partei) 1997 die Wahl gewann und das Land bis 2002 regierte. Dies bewirkte eine angespannte Situation, die in anderen Ländern nicht vorkommt, wegen der weitgehenden Befugnisse des französischen Staatspräsidenten im Regierungsalltag. Der französische Fall ist einzigartig. Nachahmungen wie im jüngsten Fall der Tschechischen Republik oder Polens haben keine praktischen Ergebnisse gebracht. Ein Hinweis noch auf die Kommunalwahl. Aufgrund ihrer lokalisierten Spezifität kann diese Art der Auswahl eine proportionale Listenformel beibehalten, ohne dass auf das bisher beschriebene gemischte Zweistimmensystem zurückgegriffen werden muss.

3. Die gesetzgebende Gewalt und die exekutive Gewalt Die Beziehung zwischen Legislative und Exekutive aus der Perspektive eines effektiven Staates kann nicht im politischen Kontext konkurrierender Legitimität stattfinden.4 Unbeschadet der notwendigen Dichotomie zwischen Situation und Opposition, die dem demokratischen System eigen ist, muss die Legislative die Investiturquelle der Exekutive sein. Aus der parlamentarischen Erfahrung ist bereits bekannt, dass politischer Wettbewerb gewöhnlich ist, nur eine eventuelle politische Sackgasse zu vorgezogenen Wahlen führen würde. Die republikanische Tradition in Ländern mit naher oder entfernter kolonialer Herkunft tendiert zu einer zentralisierten Ausübung der Staatsmacht in den Händen des Präsidenten der Republik. Dies ist der Fall im republikanischen Brasilien. Obwohl die Verfassung von 1891 die föderative Staatsform annahm, die durch die Verfassung von 1988 stark verstärkt und von denen von 1934, 1946 und 1967 nie geleugnet wurde, war der brasilianische Föderalismus nicht entscheidend für die Verteilung und Ausübung der politischen Macht.5 Die regionalen Oligarchien, die über einen erheblichen machtpolitischen Einfluss verfügten, stützten ihre Autorität auf Abhängigkeitsnetzwerke und Klientelismus unabhängig von der geopolitischen Organisation des Bundesstaates. Der Präsident der Republik wurde vor allem nach 4 Estevão de R ezende M a rtins, Relações entre o Poder Legislativo e o Poder Executivo, in  : Maria das Graças Rua (Hg.), O estudo da política. Brasília  : Paralelo 15, 1998, 45–80 5 Estevão de R ezende M a rtins, The Brazilian Federal Parliament and the State Parliaments in the Republican History 1891–1988, in  : Wilhelm Brauneder – Elisabeth Berger (Hg.), Repräsentation in Föderalismus und Korporativismus. Frankfurt am Main u. a. 1999, 71–100  ; Ders., Föderalismus und föderative Institutionen in Brasilien nach der Bundesverfassung 1988, in  : Gábor Hamza – Milan Hlavačka – Kazuhiro Takii (Hg.) Rechtstransfer in der Geschichte. Internationale Festschrift für Wilhelm Brauneder zum 75. Geburtstag, Berlin u. a. 2019, 271–304.

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der Diktatur von Getúlio Vargas (1930–1945) zum Symbol und Träger der politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Macht des Landes. Das demokratische Interregnum zwischen 1946 und 1963/64 änderte das politische Spiel unter den großen regionalen Gruppen nicht wesentlich. Dazu kamen große wirtschaftliche Interessengruppen (verbunden mit staatlichen Initiativen z. B. für Öl oder Stahl). Die Zeit des Militärregimes zwischen 1964 und 1984/85 stärkte nur das Image der zentralen Bundesmacht, als die einzige, die mit Kraft und Effektivität ausgestattet war, um alle öffentlichen Aktionen des brasilianischen Staates zu initiieren und zu realisieren. Die Rückkehr zur vollen demokratischen Normalität im Jahr 1985, zunächst in der Form eines institutionellen Übergangs (noch unter dem rechtlichen und politischen Rahmen, der von der Verfassung von 1967 übernommen wurde, geändert durch die Verfassungsänderung Nr. 1 von 1969, die vom Militärrat genehmigt wurde), wurde als neue Phase gesehen, der die große politische Mobilisierung und politische Kultur der Diretas-Já-(Direkte Wahlen gleich  !)-Bewegung im Jahr 1984 vorausging, die in diesem Jahr Direktwahlen für das Amt des Präsidenten der Republik forderte. Der Mobilisierungsprozess setzte die Vor- und Nachbereitung der Arbeit der verfassungsgebenden Nationalversammlung fort, die durch die Verfassungsänderung Nr. 25 von 1985 einberufen und am 3. Oktober 1986 gewählt wurde. Es ist wichtig, den Faktor konkurrierender Legitimität im Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative zu berücksichtigen. Daher ist es ebenso wichtig, dass ein Netzwerk des Austauschs zwischen der/den Mehrheitspartei(en), ihrer/n Fraktion(en) und der von ihnen gebildeten Regierung besteht. Dies muss dem Bürger möglichst klar sein. Ein Staatsreformprojekt scheint also ständig nötig zu sein. Um zu dessen institutioneller Transparenz und Effizienz beizutragen, erscheinen einige wichtige Vorschläge angemessen  : • Die gesellschaftliche Teilhabe – nicht nur die der Militanten der mehrheitlichen politischen Vereinigungen – an öffentlichen Anhörungen zu wichtigen Entscheidungen ist zu fördern. • Im Rahmen der parlamentarischen Versammlungen ist auf allen Ebenen ein »Petitionsausschuss« einzurichten, eine echte ›Beschwerdekammer‹, nach Art einer Ombudsperson oder eines Vermittlers. • Es sind Formen der Verbreitung und sozialen Erklärung der Bedeutung des repräsentativen Systems und der Funktionsweise der Versammlung(en) zu fördern. Dies kann durch Massenmedien und soziale Netzwerke geschehen. In die schulische Bildung ist auf allen Ebenen ein Mindestbestand an Staatsbürgerkunde einzubeziehen, der auch die praktische Funktionsweise staatlicher Institutionen umfasst. • Schließlich soll eingeführt werden, Gesetzesentwürfe sogenannter »populärer« Herkunft vorzulegen (sofern etwas Ähnliches noch nicht vorhanden ist), sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.

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Klarheit in den politischen Mehrheits- oder Oppositionsbeziehungen ist eine wichtige Variable. Die Kontinuität und Unpersönlichkeit des Staates sind struktureller Natur, und obgleich sie in fortgeschrittenen Demokratien verankert sind, bleiben sie aber in der politischen Realität vielen zyklischen Risiken ausgesetzt. Schwächen in der professionellen Regierung des Staates können ein erhebliches Manko sein. Die programmatische Umsetzung eines Regierungsprogramms entspricht der konkreten – historischen, politischen, wirtschaftlichen, finanziellen, kulturellen – Realität der Gesellschaft und des Landes. Eine solche Zusammenkunft könnte eventuell mit ›magischen‹ Erwartungen an bezaubernde Lösungen für alle möglichen oder realen Missstände des Landes verbunden sein. Es ist jedoch ein ernsthaftes Risiko, zuzulassen, dass die öffentliche Politik von imaginären Zielen, Illusionen und Populismus durchdrungen wird. Die politische Erfahrung muss unreflektiert strukturelle Fragen von illusionären Vorstellungen streng unterscheiden. Harmonie und Unabhängigkeit der Gewalten, eine verfassungsrechtliche Grundvoraussetzung und politische Grundauffassung des Staates, bedürfen einer besonderen Aufmerksamkeit gerade in einem parlamentarischen Regime, da die Legitimität der Exekutive unmittelbar von der Mehrheit im Parlament abhängig ist. Dass es aber wirksame politisch-parlamentarische Mehrheiten gibt, also  : dass eine Regierung einen wirksamen legislativen Rückhalt hat, sollte nicht bedeuten, dass das Parlament der Exekutive untergeordnet ist. Darüber hinaus ist die gesetzgebende Gewalt eine beständige Institution des Staates, wie die Exekutive. Ein Regierungschef oder ein nationales Parlament, das unter den vorgegebenen Umständen einer bestimmten Konstellation gewählt wird, verkörpert zwar durch die Ausübung seines Mandats die ihm übertragenen Befugnisse, erschöpft sie jedoch nicht, noch ersetzt es sie in irgendeiner Weise. In ihrer Sphäre ist die gesetzgebende Gewalt möglicherweise die erste unter allen institutionellen Sphären, in der ein Zusammenprall widerhallt. In starken politischen Regimen besteht häufig die Versuchung, wenn nicht sogar die Tendenz, dass die gesetzgebende Gewalt bei der Ausübung ihrer Vorrechte absichtlich oder träge nachgibt. Ein interessantes Beispiel, das diesen Umstand auszudrücken scheint, findet sich in der von britischen Parlamentariern verwendeten Bezeichnung für den Vorsitzenden der jeweiligen Gruppe  : whip – also  : Peitsche. In den englischsprechenden Ländern (meistens frühere Kolonien oder Protektorate) hat sich der Ausdruck auch eingebürgert. Government whips its majority, heißt es. Es ist offensichtlich ein Ausdruck figurativer Natur, der aber eine wichtige Form der politischen Beziehungen zwischen Parlament und Regierung bezeichnet. Dieser Ausdruck verrät, dass es sich um eine Erwartung und ein Verhalten handelt. Die Erwartung ist Programmtreue und das Verhalten betrifft die Wahldisziplin (sowohl

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für die Situation als auch für die Opposition). Dieses Verhältnis weist auch auf die Kontrollfunktion der Legislative gegenüber der Exekutive hin, in der die jeweilige Opposition eine wesentliche Rolle spielt. So hat sich beispielsweise in der Bundesrepublik seit 1949 eine parlamentarische Tradition festgesetzt, den Vorsitz des Haushaltsausschusses der Opposition zu übertragen – ein schönes Beispiel für politische Reife und für die Praxis des demokratischen Ausgleichs. Der Gesetzgebungsprozess ist ein wichtiges Feld der Interaktion zwischen den Mächten. Die Komplexität der Entscheidungsfindung in demokratischen Versammlungen macht die damit unvertrauten Bürger oft ungeduldig, vor allem dann, wenn die diskutierten Projekte erwünschte oder abgelehnte Veränderungen in den sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen implizieren, die organisierte Gruppen der Gesellschaft mobilisieren. Anteilhabe geht hier mit Transparenz zusammen. Die positive Seite des demokratischen Zusammenpralls, wenn er im institutionel­ len Rahmen der Legislative stattfindet, hat oft einen problematischen Aspekt. Tatsächlich versuchen viele der organisierten Sektoren der Gesellschaft, insbesondere die stärksten (wie Gewerkschaften oder Unternehmensvertretungen), sicherlich Einfluss auf die Verwaltungsakte der Regierung und die Ausarbeitung ihrer Legislativvorschläge zu nehmen, jeder aus seiner Perspektive. Es ist oft der Fall, dass solche Interaktionen nicht oder nur teilweise die gewünschten Ergebnisse erreichen. Im Falle der Ausarbeitung eines Gesetzes ist das Forum notwendigerweise das Parlament. Das Parlament befindet sich also im Fadenkreuz oder im Beschuss unzähliger sektoraler Interessen – von denen einige sogar sagen, dass sie korporativ sind, um partikularistische Vorurteile aufrechtzuerhalten und möglicherweise dem Gemeinwohl zu schaden. Ein effektiver Staat muss sicherlich die breiteste offene Beteiligung fördern, die Überspannungen entschärft und das Risiko institutioneller Abweichungen minimiert. Die Beziehungen zwischen der Exekutive und der Legislative finden daher auf drei großen Ebenen statt  : auf der institutionellen, entsprechend der politischen Organisation des Staates  ; auf der der politischen Parteien, verbunden mit der Wahlkonstellation, die die Legitimität der Mandatsträger bildet, sowie auf der des sozioökonomischen und politischen Zusammenhangs im weitesten Sinne, artikuliert mit der täglichen Interaktion gesellschaftlicher Akteure in der Dialektik von Interessengruppen und Entscheidungssystemen. Politische Akteure spielen eine dreifache Rolle  : die der Herrschenden und der Regierten, die der Vollstrecker und der Gesetzgeber, die der interessierten Parteien und der Entscheidungsträger. Die Bühne, auf der solche Leistungen vollbracht werden, ist die der politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Geschichte einer bestimmten Gesellschaft. Die Merkmale dieser Geschichte bestimmen offensichtlich die Charaktere, ihre Einfassung, ihre Bezüge und ihre Ziele. In den Gesellschaften des frühen 21. Jahrhunderts muss die Beziehung zwischen Regierung und

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Parlament die patrimonialistische Tradition der Zentralisierung von Machtstrukturen überwinden, die die wirtschaftlichen und finanziellen Verzerrungen ihrer Partikularismen verstärkt.

4. Die Justiz Wir haben gesehen, wie Exekutive und Legislative miteinander eng verbunden sind. Die Justiz scheint der politischen Lebendigkeit der Gesellschaft etwas Fernes und Fremdes zu sein. Sie ist jedoch ein elementarer Bestandteil staatlicher Institutionen. Wenn das normative System vom Gesetzgeber geschaffen wird, ist es die Justiz, die es anwendet. In einem demokratischen Umfeld findet der Schutz individueller, kollektiver und diffuser Rechte seine geeignete Instanz in der Justiz. Das Justizsystem ist von grundlegender Bedeutung, um Rechtssicherheit und Stabilität von Entscheidungsprozessen zu gewährleisten. Die Einhaltung des Rechtsrahmens ist eine wesentliche Funktion für die Lebensqualität der Bürger und für die Leistungsfähigkeit des Staates. Die Justiz ist mit zwei globalen Aufgaben organisch betraut  : • institutionelle (verfassungsmäßige) Einhaltung des Rechtssystems. • die Zuständigkeitsbestimmung. Die erste dieser Aufgaben ist vom Alltag der Bürger weit entfernt, wenn auch nicht ohne unmittelbare Bedeutung für die Gesellschaft als Ganzes. Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen ist eine wesentliche Voraussetzung für die demo­ kratische Ordnung und für den Erhalt der institutionellen Architektur des Staates. Es stimmt, dass auf juristischer Ebene das Tempo langsamer ist und dass die Per­ spektive – nicht auf der analytischen Ebene der Doktrin, sondern auf der aktuellen Rechtslage – manchmal der Vergangenheit angehört, auch wenn diese Vergangenheit relativ nah ist. Wie versteht man das  ? Der Richter wendet, auch wenn er auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze zurückgreift, die Regel an, die aus einem bestimmten Umstand der Vergangenheit übernommen wurde und manchmal schon seit Langem in Kraft ist. Es ist eine mühsame Aufgabe, die vom Richter eine hochwertige Ausbildung und die Fähigkeit verlangt, den Wortlaut des Gesetzes nicht nur dem Willen des Gesetzgebers, sondern auch dem Zeitgeist und berechtigten gesellschaftlichen Erwartungen anzupassen. Die zweite Aufgabe liegt unmittelbar in der Nähe des Bürgers, nicht nur beim einfachen Bürger, beim sogenannten »Mann auf der Straße«, sondern zunehmend auch bei Einzelpersonen und Organisationen, die im Wirtschafts-, Finanz- und Handelsbereich tätig sind. Die traditionellen Rechtsgebiete, privat und öffentlich, sind komplexer geworden. Ebenso komplex und undurchsichtig werden Normen und Prozesscodes, die zweifellos die nötige Schärfe erfordern, um die Universalität

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und Unpersönlichkeit von Regeln zu würdigen. Die Anhäufung von Traditionen – und oft die eventuellen Kollisionen zwischen lokalen Traditionen, zum Beispiel mit in das Rechtssystem importierten ausländischen Gepflogenheiten [denke man einmal zum Beispiel an die mit dem Code Napoléon vererbte Trägheit] – bringt oft Gewichte der Undurchsichtigkeit mit sich, die der Bürger, für den schließlich die ganze Institutionalisierung des Staates bestimmt ist, nur selten imstande ist zu entziffern. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stiegen insbesondere in der westlichen Welt die gesellschaftlichen – und institutionellen – Forderungen nach Achtung, Pflege und Ausweitung individueller, kollektiver und diffuser Rechte rasant an. In den 1990er Jahren wurde diese Anforderung auf praktisch alle Staaten der Welt ausgedehnt. Die multisäkulare Theorie der Grundrechte scheint unstrittig zu sein. Unter Beibehaltung des transzendentalen Kriteriums der Unparteilichkeit der Gerichtsbarkeitsbestimmung, ohne die jedes Verfahren definitiv voreingenommen und kompromittiert würde, lässt sich nicht leugnen, dass auch in gerichtlichen Instanzen Politik im erhabenen Sinne praktiziert wird. Es kann daher vorgeschlagen werden, dass die Justiz an mindestens drei Arbeitsfronten zur Geschwindigkeit und Effizienz des Staates bei der Anpassung an die Geschwindigkeit der Transformationen in der heutigen Welt beitragen könnte. Dies sind die folgenden Fronten  : • Vereinfachung der Mechanismen für den Zugang zur Justiz (Gerichte für geringfügige Forderungen in Zivil- und Strafsachen  ; Flexibilität bei der prozessualen Vertretung durch einen Rechtsanwalt oder durch die betroffene Partei, wobei die mit einer solchen Option verbundenen Risiken in Kauf genommen werden  ; sofortige Vollstreckbarkeit bestimmter Arten von strafrechtlicher Verurteilung). • Vereinfachung von Verwaltungs-, Zivil- und Strafverfahren. • Interaktion mit anderen Befugnissen zur Gestaltung der Architektur von Gerichtsinstanzen (erste Instanz oder natürliche Richter, Berufungs- oder Appellverfahren), insbesondere bei der dezentralen territorialen Verteilung.6 Im Hinblick auf die Dezentralisierung der Justiz ist beispielsweise daran zu erinnern, dass die Bundesrepublik Deutschland von 1949 nie der Versuchung nachgab, mittlere und übergeordnete Justizinstanzen in seiner Bundeshauptstadt zu konzentrieren. Dieses Phänomen hat sich seit der Verlegung der Hauptstadt nach Berlin behauptet. Die hohe Glaubwürdigkeit und das soziale Vertrauen der deutschen Justiz sind bekannt. Mutatis mutandis können die Erfahrungen mit Dezentralisierung und Kooperation zwischen den Mächten vergleichend betrachtet werden. Die vorgelegten Überlegungen wurden vor dem Hintergrund der brasilianischen Erfahrung seit 1988 (geltende Verfassung) kurz angestellt, um Wege aufzuzeigen, 6 Ein Beispiel  : Am 22.9.2021 wurde das 6. Bundesberufungsgericht in Brasilien per Gesetz eingerichtet. Es ist die erste größere Reform der Justizstruktur seit 1988.

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wie das Zusammenwirken der Befugnisse zu einer bürgernäheren und handlungseffizienteren Gestaltung eines Staates wirksam beitragen kann. Die Reflexion nimmt auch keine Einzelheiten vorweg, die in anderen Zusammenhängen ihren Platz haben, wie Maßnahmen zur Vereinfachung der Verwaltungsbürokratie, zur Professionalisierung des öffentlichen Dienstes, zur Flexibilisierung der Wirtschaft usw. Auf der öffentlichen Bühne der vielen Länder wird von den Staatsakteuren und den Bürgern im Allgemeinen erwartet, dass sie zur ständigen Debatte über die staatlichen Institutionen – ohne die die politische Organisation der Gesellschaft verwaist wäre – und zur Anpassung derer an die Anforderungen der Zeit beitragen.

W IRTSCH A F TSGESCHICHTE

Bogusław Dybaś, Toruń/Thorn

Ein Konzept für den Bau einer Waffenmanufaktur im Großfürstentum Litauen im Jahr 1670 Der im Anhang zu diesem Beitrag wiedergegebene Brief, der sich mit einem um 1670 entstandenen Konzept zur Gründung einer – für diese Zeit – großen, man kann sagen sogar riesigen Waffenmanufaktur in der Nähe von Sluzk1 befasst, scheint nicht nur eine sehr interessante, sondern auch eine ziemlich rätselhafte Quelle zu sein. Deshalb habe ich mich entschieden, sie in extenso zu veröffentlichen, obwohl weitere mühsame Untersuchungen dieses Problem vielleicht noch erläutern könnten. Hier möchte ich, als Einleitung zur Quellenedition, auf einige mit dieser Quelle verbundene Umstände hinweisen, die die Richtungen dieser Forschungen aufzeigen können. Der hier publizierte Brief befindet sich in der V. Abteilung des Radziwiłłschen Archivs, das im Hauptarchiv der Alten Akten (poln. Archiwum Główne Akt Dawnych) in Warschau aufbewahrt wird, in der Mappe der Korespondenz von Gustav De La Valleé. De La Valleé war lange Jahre Offizier und Ingenieur im Dienst des Fürsten Bogusław Radziwiłł (1620–1669).2 Bogusław war der letzte männliche Vertreter der calvinistischen Linie der Familie Radziwiłł. Seine politische Tätigkeit während des Krieges 1655–1660 zwischen Polen-Litauen und Schweden, in dem er zusammen mit seinem Cousin Janusz Radziwiłł (1612–1655) mit dem schwedischen König vereinbarte, Litauen einerseits vor einer russischen Invasion zu schützen und andererseits einen unabhängigen »radziwiłłschen Staat« auf dem Gebiet des Großfürstentums Litauen zu schaffen, wurde in der polnisch-litauischen Republik weithin als Verrat am polnischen König und als Bruch der polnisch-litauischen Union gesehen. Obwohl Bogusław später mit Unterstützung des Kurfürsten von Brandenburg amnestiert wurde und in den 1660er Jahren in Polen-Litauen politisch aktiv 1 Sluzk war die im südlichen Teil des Großfürstentums Litauen (heute in Belarus) gelegene, damals zur hochadeligen Familie Radziwiłł gehörende große Handels- und Festungsstadt. Siehe  : Mikol a Volk au, Private Festungen der Magnaten als Element des Verteidigungssystems der Republik am Beispiel der Stadtfestung Słuck, in  : Heeresgeschichtliches Museum (Hg.), »Sintflut und Simplicissimus«. Österreich und Polen im 17. Jahrhundert (= Acta Austro-Polonica, 5), Wien 2013, 157–162. 2 Über Bogusław schrieb umfangreich Tadeusz Wasilewski in der Einleitung zu der Edition seiner Selbstbiographie  : Bogusł aw R a dziwiłł, Autobiografia, hg. von Tadeusz Wasilewski, Warszawa 1979, 7–99  ; siehe auch Ta deusz Wasilewsk i, Radziwiłł Bogusław h. Trąby (1620–1669), koniuszy litewski, generalny gubernator Prus Książęcych, in  : Polski Słownik Biograficzny [Polnisches Biografisches Lexikon], Bd. 30, Wrocław [u. a.] 1987, 161–172.

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war, gelten seine Taten (zusammen mit Janusz) aus der Zeit des schwedischen Krieges im polnischen kollektiven Gedächtnis immer noch als Symbol des Hochverrats (»radziwiłłscher Verrat«).3 Gustav De La Valleé als Offizier und Ingenieur im Dienst von Radziwiłł führte für ihn in den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts verschiedene fortifikatorische Arbeiten in den Festungen Sluzk und Kopyl durch. Der größte Teil der Briefe in der Mappe, in der sich auch unser Brief befindet, wurde an Radziwiłł selbst (der damals als Statthalter des »Großen Kurfürsten« Friedrich Wilhelm im Herzogtum Preußen in Königsberg weilte4) in diesen Angelegenheiten geschrieben. Unser Brief entstand aber mehr als ein halbes Jahr nach dem Tod von Radziwiłł, der am 31. Dezember 1669 in Königsberg starb. Gustav De La Valleé hat diesmal an Johann Richard Fehr, den Berater und nahen Mitarbeiter von Radziwiłł, geschrieben. Fehr war auch Mitglied des Rates, der im Testament von dem Fürsten zur Verwaltung seiner Güter im Namen seiner unmündigen Tochter berufen worden war.5 Leider wissen wir nicht, ob die in dem Brief dargestellte Idee, die Waffenmanufaktur zu bauen, eine Fortsetzung einer früheren Konzeption von Bogusław Radziwiłł oder eine selbständige Initiative von De La Valleé und Fehr war. Der Brief ist zweifellos eine Fortsetzung des früheren Briefwechsels zwischen den beiden Korrespondenten. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Berichts befindet sich das gesamte Konzept jedoch noch in einem sehr frühen Stadium der Konsultation und der Überlegungen. De La Valleé befürchtete verschiedene Schwierigkeiten bei dem Projekt und bat darum, vor ihnen gewarnt zu werden. Er berichtet seinerseits von seinem Gespräch mit einer Person, die er einmal als »Herr Gouverneur« und einmal als »Herr Stolnick« bezeichnet und der er das Projekt vorsichtig und schrittweise vorstellen will, weil er befürchtet, dass er dessen Verwirklichung behindern könnte. Diese Person war höchstwahrscheinlich Kazimierz Kłokocki (circa 1625–1685), der langjährige Mitar3 In den letzten Jahren wurde eine Reihe von Arbeiten zu diesem Thema veröffentlicht  : Bogusł aw Dybaś, Wallenstein und Radziwiłł. Visionäre und Verräter, in  : Hans Henning Hahn – Robert Traba (Hg.), Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, Bd. 3  : Parallelen, Paderborn 2012, 166–181  ; Jacek Wijaczk a, Vaterland oder Familie. Das Dilemma des Fürsten Bogusław Radziwiłł (1620–1669), in  : Bulletin der Polnischen Historischen Mission, Nr. 8  : 2013, 75–98  ; K arin Friedrich, Political Loyalties in the Commonwealth’s Borderlands. Bogusław Radziwiłł and the Problem of Treason, in  : Yvonne Kleinmann – Jürgen Heyde – Dietlind Hüchtker – Dobrochna Kałwa – Joanna Nalewajko-Kulikov – Katrin Steffen – Tomasz Wiślicz (Hg.), Imaginations and Configurations of Polish Society. From the Middle Ages through the Twentieth Century, Göttingen 2017, 143–173. Im Jahr 2022 sollte von Karin Friedrich das Buch zu demselben Thema im Routledge Verlag veröffentlicht werden  : K arin Friedrich, Traitor or Patriot  ? Bogusław Radziwiłł (1620–1669) and the Dilemmas of a Transnational Aristocrat (im Erscheinen). 4 Jörg Jacoby, Boguslaus Radziwill. Der Statthalter des Grossen Kurfürsten in Ostpreussen, Marburg an der Lahn 1959. 5 Testament von Radziwiłł in  : Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, XX. HA, EM 85i, Nr. 4, Bl. 15.

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beiter von Bogusław Radziwiłł und Verwalter der radziwiłłschen Güter. Er hatte ab 1666 die Würde des »Stolnick« (= Truchsess) von Plock inne. Zwischen 1663 und 1669 bekleidete er auch das Amt des Gouverneurs des »Fürstentums von Sluzk«. Diese Bedenken von De La Valeé könnten darauf hindeuten, dass das Projekt, eine Manufaktur zu errichten, dennoch eine recht neue Idee von ihm war, die er mit Fehr teilte und die er übrigens als »mein vorgesetztes Werck« bezeichnete. Erwähnenswert ist die Dimension des geplanten Unternehmens. Die entworfene Manufaktur sollte fast 200 Personen beschäftigen, was – besonders in der Realität der polnisch-litauischen Republik – eine ungeheuer große Zahl gewesen wäre.6 Diese Leute sollten einer entsprechenden Zucht und einem Reglement unterworfen werden (»welche alle unter einen gewißen Regul leben sollten«). Die Manufaktur sollte innerhalb der drei Jahre gebaut werden. Sehr interessant sind auch die von De La Valleé dargestellten Möglichkeiten, die hergestellten Waffen (»Pistolen, Carabiner und dergleichen«) zu exportieren. Er hat die Ausfuhr ausschließlich bei Benutzung der Wasserwege vorgesehen – über die Flüsse Prypjat und Dnjepr nach Kiew und über die Memel zur Ostsee. Damit ist die Frage des Zugangs zu diesen Wasserwegen verbunden. Dies wirft ein sehr interessantes Licht auf eine andere wirtschaftliche Konzeption von Bogusław Radziwiłł. De La Valleé wollte die Manufaktur nicht zu nahe bei Sluzk bauen. Er befürchtete einen schlechten Einfluss, den die Stadt (»allwo daß Sauffen und Debosieren bey den Handtwerckern eingewurtzelt«) ausüben könnte. Deswegen wählte er eine Stätte südlich von Sluzk aus, in der Nähe von der Stelle, an der der Fluss Moratsch in den Fluss Slutsch (der weiter zum Fluss Prypjat fließt) einmündet. Eine solche Lokalisierung erschwerte aber den Zugang zur Memel und die Benutzung dieses Flusses. Hier wirft sich eine Assoziation mit der schon früher von Radziwiłł vorgeschlagenen Idee eines Kanalbaues auf. Der Kanal sollte Dnjepr mit Memel (das heißt, die Ostsee mit dem Schwarzmeer) verbinden.7 Diese Idee blieb unrealisiert,8 obwohl es im 6 Die fast hundert Jahre später gebaute radziwiłłsche Tuchmanufaktur in Njaswisch (bzw. Neswisch, poln. Nieśwież) beschäftigte nur 56 Personen, vgl. Witold Kul a, Szkice o manufakturach [Skizzen über Manufakturen], Warszawa 1956, 51–55. 7 Informacya domowa i polityczna Xięcia Bogusława Radziwiłła, koniuszego W.X.L. [Häusliche und politische Information des Fürsten Bogusław Radziwiłł, litauischer Stallmeister], veröffentlicht in  : Wł a dysł aw Sy rokoml a, Przyczynki do historii domowej w Polsce [Beiträge zur häuslichen Geschichte in Polen], Wilno 1858, 43–60, hier  : 59  : »Jeśliby też z sukcessorów moich miał pamiątkę po sobie zostawić, niech to kończy albo zacznie, to jest  : Dniepr z Niemnem złączy przez rzekę Łoszę, a zapewniam, że dzieło godne pamięci uczyni« [Sollte einer meiner Nachfolger eine bleibende Erinnerung hinterlassen wollen, so möge er es beenden oder beginnen  : den Dnjepr und die Memel durch den Fluss Losha (Losja) zu verbinden, und ich versichere ihm, dass er ein Werk vollbringen wird, an das man sich erinnern wird]. 8 Ein solcher Kanal (der sog. Ogiński-Kanal) entstand erst hundert Jahre später. Er wurde in den Jahren 1765–1783 auf Initiative von Michał Kazimierz Ogiński, dem litauischen Großhetman, gebaut.

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Bogusław Dybaś, Toruń/Thorn

Jahre 1670 schien, dass sie doch realisierbar sei. Die Aussage von Radziwiłł ist ziemlich rätselhaft, vielleicht wurden einige Vorbereitungen für dieses Konzept getroffen. Anhand unseres Briefes kann man vermuten, dass De La Valleé diese Möglichkeit in seinen Plänen berücksichtigen konnte. Es ist eher unwahrscheinlich, dass der Bau einer Waffenmanufaktur in der Nähe von Sluzk begonnen wurde. Der Brief von Gustav De La Valleé an Johann Richard Fehr ist nur ein Beweis für die Entstehung eines kühnen Konzepts auf den Gütern von Bogusław Radziwiłł, die zu den größten Magnatenlatifundien in der polnischlitauischen Republik gehörten. Die Größe dieser Güter (mehrere Städte, über Tausend Dörfer) ermöglichte offenbar, solche kühnen wirtschaftlichen Konzepte zu entwickeln.9

Quellenanhang Gustav De La Valleé an Johann Richard Fehr Sluzk, am 5. August 1670 Original  : Archiwum Główne Akt Dawnych [Hauptarchiv der alten Akten] Warschau, Radziwiłłsches Archiv, Abt. V, Mappe 415, Nr. 16828, S. 16–19, Siegelringstempel in schwarzem Lack [S. 19, Adresse] Monsieur. Monsieu Fehr, Conselier de son Altesse Electoral de Brandenburg etc. a Königsberg. [S. 16] Hochedler, Vester und Manhaffter, insonders Hochgerter Herr etc. Deßelben sehr angenehmes, den 29. passato datieret, ist mier woll einhendiget worden, wordurch ich ermuntert werde, in meinem Oppinion weiter zu schreiten, und mein vorgesetztes Werck nach Mühgligkeit einzuführen  ; wie ich abmercken kann, so meinet mein Hochgerter Herr, daß eß nicht rahtsam wehre, nahe bey der Festung einen absonderlichen Orthe zu fundieren  ; welches ich auch gestehen muß. Aber eß ist nöthig zu gedencken, daß zu Słucko dergleichen Wesen nicht kann eigerichtet werden, allwo daß Sauffen und Debosieren bey den Handtwerckern eingewurtzelt, und derjennige, der ihnen daß abgewehnen will, thut die Arende einen großen Schaden. Nahe bey Słucko wollte ich nichtes anpfangen, aber 9 strarcke [?] Meilen davon, hinter Starubin,10 dar der Moroczische Fluß in die Słucza einfelt, den Ohrt gedencke  9 Über die Verwaltung der Güter von Bogusław Radziwiłł siehe M a rek Miłuńsk i, Zarząd dóbr Bogusława Radziwiłła w latach 1636–1669 [Die Verwaltung der Güter von Bogusław Radziwiłł in den Jahren 1636–1669], in  : Urszula Augustyniak (Hg.), Administracja i życie codzienne w dobrach Radziwiłłów XVI–XVIII wieku [Verwaltung und Alltagsleben in den radziwiłł’schen Gütern im 16. bis 18. Jahrhundert], Warszawa 2009, 195–283. 10 Starobin, eine Stadt am Fluss Slutsch.

Ein Konzept für den Bau einer Waffenmanufaktur

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ich am gelegnesten darzu zu emploieren  ; der Ursach, weill man mitt Baydacken11 ein Teill Wahren nach Pinsky,12 Turow,13 Petrikow,14 Mozyr15 [S. 17] Czernobel16 und Kyow hinunter fyhren kann  ; der andre Teill auff die Wittinen,17 den Memell Strom hinunter  ; der dritte Teill der Wahren aber kan man auff den hierumbgehaltnen Jahrmerckte woll gelößen. Nach Breßlaw aber halte ich eß nicht vor rahtsam, weill eß weit abgelegen18 und auff die Axe muß geführet werden, eß sey dan Pistolen, Carabiner und dergleichen. Ich wende mich aber nocheinmahl zu dem vermeinten Ohrte und wollte ihm bey mehligen besetzen, biß daß ich erstlich 25 gute Meisters, 50 Gesellen und 100 Lehrjungen darinnen hette  ; welche alle unter einen gewißen Regul leben sollten. Waß aber daß Bauwen betrifft, könnte die Pauren mitt 4 gute Zimberleute solches woll verrichten  ; aber der Anpfang scheinet villeicht zwer zu sein, aber ich vor mein Person habe eß woll erwogen und befunden, daß negst Götlicher Hilff und nach Verflißung dreyen Jahren ein jeder waß sehn wird, waß man vordem an den Ohrt nicht vermuhten war. Sollte in dieße Sache oder Werck andre Difficultäten sein, bitte ich dienstlich mich davor zu warnen. [S. 18] Ehrgestern traff sich eine gelegne Stunde, daß der Herr Gouverneur von den hißigen Handtwerckern redete, wozu ich mitt etzliche Wörter meine Meinung entdeckte, wollte aber bey ein solcher Gelegenheit, und erstes Mahl, nicht soviell reden  ; wen aber Mein Hochgerter Herr den Herren Stolnick darvon durch Schreiben zuberichten geliebete, und ehr mich darumb fragen, wollte ich zur Sache antworten. Sollte aber jenner hiervon wißen, eß würde auß dieses Werck nichtes werden, satis sapienti. Erwarte Antwort und verharre, Meines Hochgerten Herren dienstschuldiger und treiwer Diener G. De La Valleé

11 Auf den Flüssen Pripjat und Dnjepr gebrauchtes Boot. 12 Pinsk, eine Stadt am Fluss Pripjat, die wichtigste Stadt der Region Polesien, inmitten der Pripjatsümpfe gelegen. 13 Turau, eine Stadt am Fluss Pripjat, im Gebiet der Pripjatsümpfe gelegen. 14 Petrykau, eine Stadt auf dem Nordufer des Pripjat. 15 Masyr oder Mosyr, eine Stadt am Fluss Pripjat. 16 Tschornobyl oder Tschernobyl, eine Stadt am Fluss Pripjat, in der Ukraine. 17 Das Flussschiff, das auf dem Fluss Memel eingesetzt wird. 18 Korrigiertes Wort.

Jürgen Angelow, Potsdam

»Zu früh« und »genau richtig« Deutsch-karibische Kaffeenetzwerke im 19. Jahrhundert

Nicht immer liegen Erfolg und Misserfolg in unseren Händen. So zeigt der hier angestellte Vergleich zweier transnationaler Netzwerke der Produktion und des Handels mit Kaffee im 19. Jahrhundert, dass nicht allein den Akteuren im deutschkubanischen und deutsch-guatemaltekischen Kaffeegeschäft Gewicht eingeräumt werden muss. Er verdeutlicht, von welch disparaten Faktoren das »große Geschäft« zuweilen abhängig ist, welche Rolle der richtige Ort, aber auch Zeit und Unzeit spielen und welche, für den Einzelnen unbestimmbaren, globalen Funktionszusammenhänge für dessen wirtschaftlich erfolgreiches Tun erfüllt sein müssen. Der Handel mit Kaffee ist ein globales Geschäft. Die Orte der Erzeugung und die des hauptsächlichen Konsums fallen weit auseinander. Das erfordert transnationale Verbindungen und Verknüpfungen, die sich im Laufe der Geschichte verändern können, sowohl qualitativ als auch durch regionale Verschiebungen. Ihre Akteure greifen auf Unterstützungsstrukturen zurück, familiäre, lokale, regionale und landesweite, deren Qualität in Abhängigkeit von großen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Konstellationen schwankt. Das »große« Kaffeegeschäft erfordert globale Märkte,1 Investitionen, Technologien und Kommunikationsmittel, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich ausgeweitet haben. Zum Bedingungsgefüge zählen aber auch klimatische und geologische Besonderheiten, Geschäftsklima und die Verfügbarkeit einer ausreichenden Anzahl von Arbeitskräften. Das »große Geschäft« verändert die beteiligten Akteure, lässt sie reich oder arm werden und wirkt sich nicht zuletzt auf die Sozial- und Infrastruktur der Herkunftsregion aus. Kaffee ist sowohl in Kuba als auch in Guatemala produziert und von dort nach Deutschland geliefert worden. Doch eine vergleichende Betrachtung des deutschen Engagements beim Anbau und bei der Vermarktung von Kaffee zweier karibischer Regionen des 19. Jahrhunderts stößt auf die Schwierigkeit, dass das Thema im Falle Guatemalas zwar behandelt worden ist,2

1 Globalisierung als Prozess der Bildung einheitlicher und weltweit integrierter Märkte   : K evin O’Rourk e – Jeffrey G. Willi a mson, Globalization and History. The Evolution of a NineteenthCentury Atlantic Economy, London 1999. 2 Überblicksartig  : R egina Wagner, Historia del Café de Guatemala (The History of Coffee in Guatemala), Bogotá 2001  ; Dies., Los Alemanes en Guatemala (1828–1944), Guatemala 3. Aufl. 2007.

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sich aber weitaus weniger Hinweise zu Kuba finden, sodass an dieser Stelle nur Schlaglichter auf die dortige Szenerie fallen können. Der aus Äthiopien stammende Kaffee hatte sich wegen seiner anregenden Wirkung als Genussmittel der Oberschicht im späten 17. Jahrhundert in Europa etabliert. Im 19. Jahrhundert fand Kaffee Eingang auch in breitere Gesellschaftskreise. Kaffeebohnen wurden zunächst in Amsterdam gehandelt, und Holländer waren es auch, die diese Kultur auf Java und Ceylon zu kultivieren gesucht hatten. Ein Franzose brachte den Kaffee 1723 nach Martinique,3 einer Insel der Kleinen Antillen, wo es 1726 eine erste Ernte und 1778 bereits mehr als 16 Millionen Kaffeebäume gab. Ein Kaffeebaum wird gewöhnlich beschnitten, sodass er sich zu einem Busch entwickelt, der vom fünften Jahr an in den nun folgenden 25 bis 30 Jahren jährlich mindestens ein bis zwei Kilo marktfähigen Kaffee liefert.4 Da Kaffeesträucher zwar helle Standorte bevorzugen, nicht aber der prallen Sonne ausgesetzt sein dürfen, werden sie in den Tropen mit Schatten spendenden Gewächsen kombiniert, etwa dem Mangobaum, der eine breite Krone besitzt, oder der Banane mit ihren breiten Palmenblättern. Schnell wanderte der Kaffee von Martinique über Guadeloupe nach Santo Domingo auf Hispaniola (Dominikanische Republik) und Jamaika. Von Hispaniola kommend, erreichte er 1748 Kuba, blieb dort aber relativ unbemerkt bis zu jenem Zeitpunkt, als französische Emigranten aus Santo Domingo, die vor dem großen Sklavenaufstand 1791–1793 geflohen waren, Kaffee in größeren Mengen anzubauen begannen und einen Kaffeeboom auf Kuba auslösten, der namentlich die Regionen um Santiago de Cuba, Trinidad und Havanna-Matanzas berührte. Das ehemalige »Cafetal La Isabelica« mit seinem luxuriös möblierten Herrenhaus, in der Nähe von Santiago, zeugt vom Kaffeeboom dieser Zeit. Die wenigen in deutscher Hand befindlichen Kaffeeplantagen auf Kuba waren wenig bedeutend. In der Nähe Matanzas, wo einige Deutsche lebten, befand sich die Kaffeepflanzung »El Fundador«, die einem Deutschen gehörte, der neben Kaffee auch Kochbananen, Ananas, Mais, Wurzelfrüchte und Baumfruchtsorten anbaute. Als die Plantage im Frühjahr 1839 von drei Naturwissenschaftlern, Eduard Otto, Johannes Gundlach sowie Ludwig Pfeiffer, besucht wurde, fanden diese den Besitzer in ärmlichen Verhältnissen vor. Etwas wohlhabender waren die Besitzer der an der Südküste gelegenen Plantage »Chimborasso«, die ebenfalls deutschen Auswanderern gehörte. Diese waren zuweilen Gastgeber in Kuba weilender Europäer, die ihre Zeit dort mit Glücksspiel und Trinkgelagen zubrachten.5 Auf »Chimborasso« gab es

3 Wagner, The History of Coffee, 26. 4 Helmer K ey, Kaffee, Zucker und Bananen. Eine Reise nach Cuba und Guatemala, München 1929, 225– 226. 5 Edua r d Ot to, Reiseerinnerungen an Cuba, Nord- und Südamerika 1838–1841, Berlin 1843, 79–80.

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80.000 Kaffeebäume. Daneben wurden Orangen und Bananen, Ananas, Baum- und andere Früchte angebaut.6 Viel bedeutender war die bei Artemisa unweit Havannas befindliche Kaffeeplantage »Angerona«, die 1813 vom deutschstämmigen Cornelio Souchay angelegt worden war. Es handelte sich um die zweitgrößte kubanische Kaffeeplantage ihrer Zeit.7 Der aus Hanau stammende Souchay hatte eine kaufmännische Ausbildung absolviert und sich nach Zwischenstationen in Havanna niedergelassen. Dabei konnte er auf ein erfolgreich operierendes deutsch-englisches Familiennetzwerk zurückgreifen. In Havanna als Schreiber eingestellt, besaß er als stiller Partner bald 25 Prozent der bekannten Firma »Antonio de Frias & Compania«, die nach außen mit amerikanischem Mehl handelte, in Wirklichkeit aber tief im illegalen Sklavengeschäft steckte. Schnell zu beträchtlichem Reichtum gelangt, erwarb er schließlich jene Ländereien bei Artemisa, aus denen die Kaffeeplantage erwuchs. Souchay starb bereits 1837, kinderlos und unverheiratet. Legendär war seine Beziehung zu Ursula Lambert, einer auf Haiti freigelassenen Sklavin, die nach Kuba geflohen war und seit 1822 auf »Angerona« die Rolle einer informellen Hausherrin übernommen hatte. In der Forschungsliteratur ist von einer »heftigen Liebe« die Rede.8 Jedenfalls hat diese Geschichte die Phantasie der Nachwelt angeregt.9 Auf »Angerona« arbeiteten zu Cornelio Souchays Zeiten etwa 450 Sklaven. Sie kultivierten auf 500 Hektar ungefähr 800.000 Kaffeepflanzen. Ihr Einsatz ist anhand von Grundrissen und baulichen Überresten gut rekonstruierbar, ebenso die neuartige Verbindung von moderner Technologie und auf Sklaverei basierender Arbeitsorganisation. Die Sklaverei wurde auf Kuba per Gesetz erst 1886 abgeschafft. Sie war auf den Kaffeeplantagen des frühen 19. Jahrhunderts üblich und ließ diese überhaupt erst wirtschaftlich rentabel sein. Dabei fügte sich das System der »Second Slavery«, der Plantagensklaverei, beinahe idealtypisch in die kapitalistische Verwertungslogik des Zeitalters ein. Der hohe Pflegeaufwand der Kaffeekulturen sowie der unregelmäßige, im Erntezyklus überaus stark ausgeweitete Arbeitskräftebedarf ließen sich durch Sklavenarbeit und die damit mögliche, intervallartig intensivierte Ausbeutung von 6 Ebd. 7 Gü nther Roth, Angerona. Facts and Fictions about Cornelio Souchay and Ursula Lambert’s Cuban Coffee Plantation, in  : blogs.cuit.columbia.edu/gr17/files/2012/04/angerona5.doc [17.10.2021]. 8 Mich a el Zeusk e, Preußen und Westindien. Die vergessenen Anfänge der Handels- und Konsularbeziehungen Deutschlands mit der Karibik und Lateinamerika 1800–1870, in  : Sandra Carreras – Günther Maihold (Hrsg), Preußen und Lateinamerika. Im Spannungsfeld von Kommerz, Macht und Kultur, Münster 2004, 188. 9 Leonardo Padura in »Juventud Rebelde« 1987 »El Romance de Angerona«. Der kubanische Liebesfilm »Der Duft der Eiche« (»Roble de Olor«, 2002, Regie Rigobert López Pego) behandelt die Beziehung zwischen Lambert und Souchay im Zeichen der kubanischen Rassentrennung des frühen 19. Jahrhunderts. Vgl. Roth, Facts and Fictions.

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Arbeitskräften kostengünstig und – angesichts drakonischer Strafen – beinahe widerstandslos bewältigen. Kein Wunder also, dass der Rückgang und die Abschaffung der Sklaverei im karibischen Raum in Folge von Sanktionen und Aufständen zu einer starken Reduzierung des Kaffeeanbaus und langfristig zum Zusammenbruch der Plantagenökonomie geführt haben.10 Allerdings hat die durch die Verbote bewirkte Verteuerung der Sklaven seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts dazu geführt, dass der Sklavennachwuchs auf den Plantagen selbst herangezogen wurde, was erst 1870 durch das »Gesetz des freien Bauchs«, das geborene Kinder von Sklavinnen für frei erklärte, seinen Sinn verlor.11 Bereits im Alter von fünf Jahren wurden die Kinder auf der Plantage eingesetzt. Angesichts derartig kurzer Reproduktionszyklen konnte Souchay paternalistische Verhaltensweisen an den Tag legen. Steingebäude waren für Familien mit Kindern reserviert, während die übrigen Sklaven in Holzbaracken wohnten, wo sie nachts eingeschlossen wurden.12 Höhere Kosten bei der Beschaffung der Sklaven verringerten auch auf Angerona die Gewinnaussichten des Kaffeeanbaus. Hinzu kam die erste Überproduktionskrise, die 1832 durch den Export südamerikanischen Kaffees ausgelöst worden war.13 Souchay war gezwungen, seinen Kaffee zu einem geringeren Preis zu verkaufen. Das Gut wurde nach seinem Tod 1837 weitergeführt. Der bereits erwähnte Botaniker Eduard Otto, der dort von April bis September 1839 weilte, beschreibt die Gegend wortreich als einen blühenden Garten.14 Zum Wohnhaus des neuen Besitzers, André Souchay, dem Neffen des Verstorbenen Cornelio, führte eine vierreihige Palmenallee. Das Haus selbst, »ein Palast, wie ihn keine andere Pflanzung auf Kuba aufzuweisen hat«, war behaglich eingerichtet. Auf dem Gut befanden sich weitere Deutsche  : neben dem Besitzer und seiner Frau drei Aufseher, ein Tischler und ein Arzt. Daneben lebten hier noch immer circa 400 Sklaven, einschließlich ihrer Kinder, die außer an Sonn- und Feiertagen von Tagesanbruch bis gegen 19 Uhr arbeiten mussten.15 In seinen Ausführungen über das Leben und die Behandlung der Sklaven hatte sie Eduard Otto als arbeitsscheu, schlau, diebisch, eitel und triebgesteuert hingestellt. Gutherzigkeit würde von ihnen als Schwäche interpretiert, nur eine harte Behandlung würde zum Erfolg führen. Die üblichen Auspeitschungen indes würden von ihnen mit gleichgültiger Gefühllosigkeit ertragen.16 Karl von Schlitz, ein späterer 10 Juli a Laur a R ischbieter, Mikro-Ökonomie der Globalisierung. Kaffee, Kaufleute und Konsumenten im Kaiserreich 1870–1914, Köln–Weimar–Wien 2011, 35. 11 Ulrik e Schmieder, War die iberoamerikanische Sklaverei milde  ?, in  : Zeitschrift für Weltgeschichte. Interdisziplinäre Perspektiven, 4, Heft 1, 2003, 115–132, hier 116. 12 Dieses Vorgehen war üblich auf Kuba, vgl. Schmieder, War die iberoamerikanische Sklaverei, 121. 13 Mich a el Zeusk e, Kleine Geschichte Kubas, München 3. Aufl. 2007, 86. 14 Ot to, Reiseerinnerungen, 81. 15 Ebd. 16 Ebd., 97.

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Diplomat, der sich auf Bildungsreise befand und unter dem Pseudonym Carl Heinrich Graf von Goertz 1845 Angerona besuchte, auf dem es damals noch 320 Sklaven gab,17 reflektierte in seinen sieben Jahre später erschienenen Reiseerinnerungen die Gespräche mit André Souchay, die ihn belehrt hätten, »dass der Negercharakter so unendlich tief stehe, dass man nach moralischen Antrieben zu seinen Handlungen vergebens sucht  : das moralische Gefühl ist vollkommen unentwickelt, vielmehr gehen alle ihre Handlungen aus thierischem Triebe, oder aus schlauer Berechnung des eigenen Vortheils hervor. […] Es ist keiner unter den Negern, der nicht schon die Peitsche erhalten hat, aber auch keiner der sie nicht verdient hätte.«18 Nach Schätzungen Alexander von Humboldts hatte es 1822 auf Kuba ungefähr 900 Kaffeepflanzungen mit 54.000 Sklaven gegeben,19 eine neuere Veröffentlichung spricht von 2000 Pflanzungen fünf Jahre später,20 wozu sicher auch die kleinen und ganz kleinen gezählt worden sind. Doch nach den beiden Hurrikans 1844 und 1846, die die Region um Havanna und Matanzas verwüstet hatten, brach die Kaffeeproduktion um 1848 bis auf Überreste in Oriente und bei Trinidad zusammen.21 Neben den Naturereignissen waren hierfür ebenso Stockungen im Absatz verantwortlich, die durch das »Elend der Massenarmut« in Europa,22 als Begleiterscheinung der frühen Industrialisierung, sowie durch amerikanische Schutzzölle auf kubanischen Kaffee, als Reaktion auf spanische Zölle, eintraten. Auf Angerona wurde bereits in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein Teil der Produktion auf Zucker umgestellt. Mitte der vierziger Jahre betrug die Produktion der Plantage zwei- bis dreitausend Zentner Kaffee und zwei- bis zweieinhalbtausend Zentner Zucker,23 1863 war es ausschließlich noch Zucker. Die Plantage befand sich auch 1886, dem Jahr der Abschaffung der Sklaverei, noch im Besitz der Familie Souchay. Im kubanischen Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien (1895–1898) wurde das Herrenhaus niedergebrannt. Die Nachkommen der Familie gaben das Anwesen auf und zogen nach Havanna. Der Kaffeeboom auf Kuba hatte sich als Episode erwiesen. Weiterführende makroökonomische Wachstumsimpulse hinterließ er nicht. Dafür war er zu kurzlebig und auf der Zeitachse der ersten Globalisierungswelle zu früh angesiedelt. Hinzu kam, dass die Profite des durch Plantagensklaverei erworbenen Vermögens entweder in städtischen Immobilien, Ländereien, Fabriken, Schiffen, Aktien und Kreditgeschäften angelegt oder nach Europa transferiert und damit jedenfalls einer in-

17 Ca rl Heinrich Gr a f Von Goertz, Reise um die Welt, Stuttgart 1852, Bd. 2, 39. 18 Ebd., 39–40. 19 Zeusk e, Kleine Geschichte Kubas, 81. 20 Ebd., 86. 21 Ebd. 22 Hierzu A lexis De Tocqueville, Das Elend der Armut. Über den Pauperismus, Hamburg 2007. 23 Goertz, Reise, Bd. 2, 33.

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vestierenden Verwendung am Produktionsort entzogen wurden.24 Der systemische Funktionszusammenhang der Plantagenwirtschaft war damit in seiner Entwicklung gehemmt oder blockiert. Als sich die Bedingungen für den Welthandel infolge des industriellen Aufschwungs, verbesserter Absatzbedingungen sowie der neuartigen Kommunikations- und Transportmittel deutlich verbesserten, durch Telegraphen, Eisenbahnen und Dampfschiffe, war der kubanische Kaffeeboom bereits Geschichte. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts sich durchsetzenden Globalisierung konnte er nicht mehr profitieren. Ebenso wenig hat er – von wenigen Ausnahmen abgesehen – zu einer sozialen Verschmelzung von deutschen Einwanderern und kubanischen Eliten geführt. Hierfür waren zu wenige Personen involviert. Die Anzahl der nach Kuba ausgewanderten Deutschen war und blieb gering, ihre Verbindungen waren Diaspora-Netzwerke. Diejenigen, die auf Kuba bleiben wollten, wurden über Generationen assimiliert, allerdings ohne dass sie ihren sozialen Status verbessert hätten. Von den großen Antillen war der Kaffee nach Zentralamerika gekommen. Die Produktion und Ausfuhr von Kaffee hatten in Guatemala zu Beginn des 19. Jahrhunderts eingesetzt.25 Ab den dreißiger Jahren begann der Kaffee in Zentralamerika eine gewisse wirtschaftliche Bedeutung zu erlangen, zu jenem Zeitpunkt, der in etwa den Scheitelpunkt des kubanischen Kaffeebooms markierte. Costa Rica spielte dabei die Vorreiterrolle, es folgten Guatemala, El Salvador und Nicaragua.26 In größeren Mengen wurde guatemaltekischer Kaffee allerdings erst ab 1853 exportiert, wodurch die Koschenille als Hauptexportgut nach und nach abgelöst wurde.27 Der wirtschaftliche Strukturwandel Guatemalas von Koschenille, Indigo und Baumwolle hin zu Kaffee bedeutete gleichzeitig die Emanzipation von Großbritannien und seinem Wirtschaftsimperium zugunsten neuer, globaler Abhängigkeiten von den USA und Deutschland, spürbar ab 1871.28 Diese wirtschaftsstrukturellen Veränderungen wurden von einer Massenmigration begleitet, die nach 1848 einsetzte und bis 1913 über 4 Millionen Deutsche auswandern ließ. Zwar konnte Guatemala zunächst nur in einem geringen Umfang von dieser Entwicklung profitieren, 1860 lebten hier nur circa 100 Deutsche, 1880 waren es 221 und 1892 bereits 1008,29 jedoch bot es den 24 Ulrik e Schmieder, Nach der Sklaverei. Martinique und Kuba im Vergleich, Münster 2014. 26. 25 Wagner, History of Coffee, 29–32. 26 Christi a ne Berth, Aus Hamburg in die Kaffee-Welten Zentralamerikas. Die Nottebohm Hermanos in Guatemala, in  : Jörn Arfs – Ulrich Mücke (Hg.), Händler, Pioniere, Wissenschaftler. Hamburger in Lateinamerika. Münster 2010, 67–88, hier 68. 27 Wagner, History of Coffee, 42–49. 28 Vgl. Stefa n K a rlen, Ausländische Wirtschaftsinteressen in Guatemala  : Deutschland, 1871–1944. Unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1931–1944, in  : Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas, 31, 1994, Heft 1, 267–304, hier 270–271. 29 Ebd., 281. Abweichend Berth, Aus Hamburg, 69. 1897 waren es ca. 900 Deutsche, davon 85 Prozent Männer.

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Auswanderern geradezu ideale Betätigungsmöglichkeiten. Das Klima der Region Alta Verapaz ist gemäßigt-warm und niederschlagsreich, es erinnert an den Frühling in Deutschland. Die Aussichten auf gute Gewinne im Kaffee-Geschäft übten ebenfalls einen großen Reiz aus. Auch die politische Situation war für wirtschaftliche Investitionen günstig  : 1871 war eine liberale Regierung in Guatemala mit Hilfe amerikanischer Gewehre auf das Schild gehoben worden,30 die eine lange, bis 1944 währende liberale Ära einleitete. Sie offerierte hervorragende Bedingungen zum Landerwerb an kreditwürdige und zahlungskräftige Investoren mit Verbindungen zu den europäischen Kaffeemärkten, solche, die genug Land erwerben konnten, um die kritische Masse der Rentabilität zu erreichen, und gleichzeitig in der Lage waren, Wachstum und Reife der Kaffeebäume abzuwarten. Land konnte ihnen ausreichend zur Verfügung gestellt werden, zum einen gab es noch brachliegende Flächen, zum anderen durch Umverteilung. Durch das 1877 erlassene Gesetz zur Privatisierung von kommunalem Landbesitz verloren Zehntausende indianischer Bauern ihre Existenzgrundlage.31 Der Landraub betraf gerade die indigene Bevölkerung im westlichen Hochland und in der Provinz Alta Verapaz.32 Seit 1876 hatten lokale Regierungsvertreter die Befugnis, den Arbeitskräftebedarf der Kaffeeplantagen durch Zwangsrekrutierung in den Indianerdörfern zu decken. Die Indigenen gerieten in ein sklavenähnliches Abhängigkeitsverhältnis. Jeder Kredit und jede Verfehlung verlängerten ihre Arbeitspflicht, die so ins Unendliche wuchs und sich auch auf ihre Kinder übertrug.33 Neben der Beschaffung von Land und Arbeitskräften hing der wirtschaftliche Erfolg des Kaffeegeschäfts in einem hohen Maße von der Fähigkeit der Produzenten ab, ihr Produkt schnell, sicher und günstig an die Konsumenten weiterzuleiten. Von der Kaffeeplantage Angerona auf Kuba waren die kleinen Häfen Mariel an der Floridastraße und Batabanó an der Karibik im Süden etwa 30 bzw. 60 Kilometer entfernt. Die auf den unbefestigten Landstraßen dorthin durchgeführten Transporte blieben beschwerlich genug, vor allem in der Regenzeit.34 Zwar verfügte Kuba bereits 1837 über die erste Dampfeisenbahnlinie Lateinamerikas (Havanna-Bejucal), die bis 1844 nach San Antonio und Batabanó weitergeführt worden war, sodass sich die Wegstrecke von Havanna nach Artemisa um mehr als die Hälfte verkürzte, doch die Beschleunigung der Transporte konnte das Ende des Kaffeebooms nicht mehr aufhalten. 30 Sebasti a n Gru ndberger – K a rl-Dieter Hoffm a n n, Das politische System Guatemalas, in  : Klaus Stüwe – Stefan Rinke (Hg.), Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika, Wiesbaden 2008, 246–269, hier  : 247. 31 Ebd. 32 Berth, Aus Hamburg, 68. 33 Helmu th Schmolck, Welthandel selbst erlebt. Wanderjahre in den Tropen, Heidelberg 1951, 78. 34 Ot to, Reiseerinnerungen, 87–88.

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Weit mehr als im Falle Kubas kamen in Guatemala neue Transportmittel zum Einsatz, die die Transportkosten und damit den Preis des Kaffees senkten. Anfangs verlief der Weg des Kaffees an die Atlantikküste über den Izabal-See nach Livingston und von dort zu den Häfen nach Belize. Mit Fertigstellung der Panama-Eisenbahn 1855 konnte der Kaffee alternativ auch an die Pazifikküste gebracht, vom Hafen San José über Panama an die Atlantikküste und von dort weiter – mit Dampf- und Segelschiffen – nach Europa transportiert werden.35 Infolge des Infrastrukturprogramms der liberalen Regierungen ab 1871 wurden Häfen ausgebaut und Bahnlinien angelegt, um den Export zu steigern  ; dieser hat sich zwischen 1871 und 1884 verfünffacht.36 1895 wurde die Verapaz-Bahn fertiggestellt, die den Kaffee von den deutschen Kaffeefincas in Alta Verapaz nach Panzós brachte, von wo aus über den Izabal-See und den Río Dulce regelmäßig Schiffe in die Karibik nach Livingston unterwegs waren. Dadurch war eine Strecke entstanden, die den Umweg über den Panamakanal vermied und die Transportkosten weiter senkte. Durch die Anbindung der guatemaltekischen Kaffeebauregionen an die mexikanischen Häfen ab 1908 wurde der Transport weiter beschleunigt, und der guatemaltekische Kaffee traf nun vor der brasilianischen Ernte in Europa ein, woraus deutliche Verkaufsvorteile resultierten.37 Ein reger Schiffsverkehr nach Europa komplettierte die Handelsverbindung. Seit 1870 betrieb die HAPAG eine direkte Schifffahrtslinie nach Zentralamerika, später kam die Hamburger Kosmos-Reederei hinzu. Ab 1866 gab es dauerhafte Transatlantikkabel für Telegraphen, 1900 ging das erste Kabel der Deutsch-Atlantischen Telegraphengesellschaft zwischen Emden und New York in Betrieb. Innerhalb der Kontinente war die Vernetzung mit Kabeln weit vorangekommen, sodass nun schnelle Kommunikationsverbindungen existierten, die den Geschäftsverkehr und das Börsengeschehen erleichterten. Die Knotenpunkte des guatemaltekischen Kaffeehandels, Anbau, Finanzierung und Transport, befanden sich zu diesem Zeitpunkt zu einem großen Teil in deutschen Händen. Zwar waren 1913 von den 1830 Kaffeeplantagen auf Guatemala nur 170 in deutschem Besitz, davon allein 80 im Departement Alta Verapaz, diese machten allerdings 36 Prozent der nationalen Kaffeeproduktion aus. Der Anteil Deutschlands an den Kaffee-Exporten des Landes betrug dagegen immerhin 55 Prozent.38 Diese Entwicklung wurde durch den Rückhalt der diplomatischen Vertreter, durch Verträge und politische Einflussnahme abgesichert. Bereits 1847 hatten Hamburg, Bremen und Lübeck einen Vertrag mit Guatemala abgeschlossen, in dem die 35 Christi a ne Berth, Biografien und Netzwerke im Kaffeehandel zwischen Deutschland und Zentralamerika 1920–1959, Hamburg 2014, 61. 36 Gru ndberger – Hoffm a n n, Das politische System, 247. 37 Berth, Biografien und Netzwerke, 73. 38 K a rlen, Ausländische Wirtschaftsinteressen, 282.

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Bedingungen für den Handel der drei deutschen Hansestädte mit dem zentralamerikanischen Land im Sinne einer bedingten Meistbegünstigung vorteilhaft geregelt worden waren. Hamburg verfügte bereits seit 1841 über ein Generalkonsulat in Guatemala, das von Rudolf Klee (1803–1853) besetzt wurde, der 1830 in die mächtige kreolische Familie salvadorianischen Ursprungs Ubico eingeheiratet hatte. Derartige Verbindungen trugen zur Stabilisierung der autoritären Herrschaftsverhältnisse Guatemalas bei, indem sie Kapital, Macht und Erfahrungswissen miteinander verbanden. Die Integration der Deutschen in Guatemala verlief allerdings regional sehr unterschiedlich. Es gab die relativ autarken deutschen Kolonien genauso wie Familien deutscher Auswanderer, die sich mit der einheimischen Oligarchie verbunden hatten, wodurch transnationale politisch-wirtschaftliche Allianzen entstanden, die mit sozialem Kapital ausgestattet waren, das ihnen bei der Anbahnung neuer Geschäftsbeziehungen und beim Überdauern in politischen Krisenzeiten half. Vierzig Jahre nach den Verträgen von 1847 hatten das Deutsche Reich und die Republik Guatemala am 20. September 1887 ein weiteres Abkommen unterzeichnet, das – bis zu seinem Auslaufen 1915 – eine großzügige Regelung der Handels- und Besitzverhältnisse, Meistbegünstigung und Freizügigkeit festschrieb.39 Zeit hatte sich in Vertrauen gewandelt. Vor dem Hintergrund dieser günstigen Voraussetzungen und der sprunghaft erhöhten Nachfrage konnten deutsche Investoren in Guatemala auf einem ganz anderen wirtschaftlichen Niveau und mit einer viel größeren politischen Absicherung als auf Kuba starten, wenn sie in die Kaffeeproduktion und in den Kaffeehandel einsteigen wollten. Und doch kam es auf hartnäckige, durchsetzungsfähige Akteure an, die N ­ etzwerke, Kapital und eine Geschäftsmentalität mitbrachten, die Produktivität und Rentabilität in den Mittelpunkt stellte. Sachkenntnis, Beharrlichkeit, unternehmeri­sches Denken, Experimentierfreude und Erfindungsgeist hätten sich im Falle der deutschen Unternehmer – wie Karl Rudolf Klee, Erwin-Paul Dieseldorff und Richard Sapper – mit einer ausreichenden Kapitalbasis und Investitionsbereitschaft gepaart.40 Diese Faktoren wirkten nicht für sich allein  : Sie waren ›conditio sine qua non‹ des geschäftlichen Erfolgs. Doch nur im Kontext der günstigen systemischen und strukturellen Voraussetzungen, dem billig erworbenen Land, den ausreichend verfügbaren Arbeitskräften, der moderaten Besteuerung, dem gesicherten Absatz, der entwickelten globalen Kommunikations- und Verkehrswege sowie der politisch-sozialen

39 Der Vertrag sah auch im Falle eines Krieges den Schutz des gegenseitigen Eigentums vor. https:// de.wikisource.org/wiki/Freundschafts-,_Handels-,_Schiffahrts-_und_Konsularvertrag_zwischen_ dem_Deutschen_Reich_und_der_Republik_Guatemala [17.10.2021]. 40 K a rlen, Ausländische Wirtschaftsinteressen, 279–280. Den Eigenschaften der deutschen Unternehmer wird ein überragender Stellenwert eingeräumt, die systemischen Voraussetzungen und Funktionszusammenhänge geraten dadurch ins Hintertreffen.

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Verankerung ihrer Vertreter im Heimat- und im Gastland konnten sie zur Wirkung gelangen. Von besonderer Bedeutung war die Hamburger Bankiersfamilie Nottebohm, die unter Carl Friedrich Wilhelm, dem ältesten Sohn des Firmengründers, voll in das Kaffeegeschäft einstieg.41 Das Unternehmen beteiligte sich erfolgreich an der Vorfinanzierung der guatemaltekischen Kaffeeernten in Form von ›Termingeschäften‹. An der Hamburger Kaffeebörse wurden Kaffeeernten zu einem Festpreis aufgekauft, noch bevor sie geerntet wurden. Stieg der Kaffeepreis, machte der Händler einen großen Gewinn. Kam es zu unvorhergesehenen Katastrophen, trug er das Risiko. Die Gleichung lautete schlicht Risikominimierung gegen Gewinnmaximierung. Letztendlich stellten diese am Hamburger Sandtor-Kai getätigten ›Termingeschäfte‹ transatlantische Handelsverbindungen auf gegenseitiger Vorteilsbasis dar, von denen die deutschen Cafetaleros in Guatemala und die Händler gleichermaßen profitierten. Da die Nottebohms beim Erwerb von Fincas von der durch die Überproduktionskrise von 1897 ausgelösten Pleitewelle profitieren konnten, mehrten sie ihren Landbesitz, sodass sie im Kaffeehandel die wichtigsten Stationen der Verwertungskette kontrollieren konnten.42 Vergleicht man die sozialen Verhältnisse und Arbeitsbedingungen, die auf den kubanischen und guatemaltekischen Kaffeeplantagen des 19. Jahrhunderts herrschten, wird man – trotz des unterschiedlichen rechtlichen Status der Beschäftigten – nur wenige Differenzen feststellen können. Wohnmöglichkeiten, Beköstigung, Bekleidung und Arbeitsrhythmus ähnelten sich. Ebenso gering fallen die Unterschiede bei der Beschreibung der indigenen Bevölkerung Guatemalas im Vergleich zu den kubanischen Sklaven ins Gewicht. Die von ihren Erwerbsquellen getrennte und in die Schuldknechtschaft überführte indianische Bevölkerung wurde in der Regel als arbeitsunwillig, seelenlos und passiv beschrieben, sodass entweder Zwang oder »Erziehung« zur Arbeit Abhilfe versprechen würde. Doch anders als bei den Beschreibungen der karibischen Sklaven sah man die Indigenen Guatemalas als weitgehend fügsam an. Sie würden wenigstens keinen Ärger bereiten, es sei denn, sie erschienen nicht zur Arbeit.43 Beide Erzählungen waren Kolonialdiskurse, bei denen die individuellen Eigenschaften der Beschriebenen zugunsten einer herabsetzenden Gruppenklassifizierung zurücktraten. Das System der guatemaltekischen Schuldknechtschaft hat sich funktional von dem der Sklaverei nur wenig unterschieden. Auch hier bestand das Ziel darin, den massenhaft ausgeweiteten Arbeitskräftebedarf gerade im Erntezyklus zu bündeln und darüber hinaus die Pflege der Kaffeesträucher 41 Detlef K r ause, Die Commerz- und Disconto-Bank 1870–1920/23. Bankgeschichte als Systemgeschichte, Stuttgart 2004, 115. 42 Berth, Aus Hamburg, 72–74. 43 Ebd., 106.

»Zu früh« und »genau richtig«

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und seiner Begleitkulturen sowie die Weiterverarbeitung der Ernten sicherzustellen. Zwischen den Verwaltern der Plantagen und den Arbeitern bestand ein Abhängigkeitsverhältnis. Übergriffe und Gewalttätigkeiten waren keineswegs ausgeschlossen. Das System konnte mal mehr, mal weniger rigide sein  : Einerseits riet Paul Dieseldorff, Cafetalero der Finca Santa Margarita in Alta Verapaz, zukünftigen deutschen Auswanderern zur Milde und ermahnte sie, »in ein möglichst gutes Verhältnis zu den Arbeitern zu treten, damit sie in ihm nicht allein den gestrengen Herrn, sondern auch einen ratenden und helfenden Freund sehen.«44 Andererseits war er es, der jene Gesetze »contra la vagancia« Ubicos von 1934 inspirierte, in denen die Schuldknechtschaft zwar offiziell abgeschafft, aber die Zwangsarbeit für die indigene Bevölkerung bei absoluter Willkür der Plantagenbesitzer bis hin zur straflosen Tötung der Arbeiter festgeschrieben wurde.45 Die Forschung hat auf den Erfahrungstransfer zwischen der deutschen Kolonialgesetzgebung und Guatemala hingewiesen.46 Doch auch der Vergleich zur repressiven Sklaverei-Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts ist möglich. Ein Sklavenhalter konnte seine Sklaven kaufen, verkaufen und vermieten. Das konnte ein guatemaltekischer Cafetalero mit seinen Arbeitern nicht. Sie züchtigen oder Gewalt an ihnen verüben, das war ihm allerdings gestattet, sowohl vor als auch nach der gesetzlichen Abschaffung der Schuldknechtschaft, also bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Die auf Kuba gültigen Sklavengesetze haben Körperstrafen zwar eingeschränkt, dies war in der Praxis allerdings so gut wie wirkungslos.47 Auch hier unterschieden sich beide Systeme nur graduell. Die Kaffeeproduktion hat sich im 19. Jahrhundert innerhalb des karibischen Raums nach Westen verschoben, wobei veränderte Produktions- und Absatzbedingungen, klimatische Besonderheiten, auch was das »Geschäftsklima« anging, und große wirtschaftspolitische Zyklen den Ausschlag gegeben haben. ›Alles hatte seine Zeit‹, auch die Konjunkturen jenes globalen Modernisierungsprozesses, der den individuellen Rahmen für wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg setzte. Dass »zu früh« des Einen korrespondierte mit dem »genau richtig« des Anderen. Ort und Zeit kamen dem guatemaltekischen Standort zugute. Der Funktionszusammenhang passte  : Aktiviert worden war er durch die Entstehung des globalen Marktes und die deutlich erweiterte Nachfrage, Verfahren der Risikoabsicherung der Kaffeeproduktion sowie die zeitliche Beschleunigung von Transporten und Kommunikationen. Kaffeeproduktion und Kaffeehandel beruhten im 19. Jahrhundert auf einer Arbeits-

44 Erwin Paul Dieseldorff, Der Kaffeebaum. Praktische Erfahrungen über seine Behandlung im nördlichen Guatemala, Berlin 1908, 33. 45 Im Dekret hieß es  : »Die Eigentümer von Plantagen werden jeder strafrechtlichen Verantwortung enthoben.« Gru ndberger – Hoffm a n n, Das politische System, 247. 46 Berth, Biografien und Netzwerke, 206, Fußnote 568. 47 Vgl. Schmieder, War die iberoamerikanische Sklaverei, 121–123.

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organisation, die sich auf Kuba und in Guatemala vor allem in Bezug auf den rechtlichen Rahmen unterschied. Doch beide Systeme tickten ähnlich, wenn es um die Methoden der großräumigen Produktion und Arbeitsorganisation ging sowie die Behandlung jener Menschen, die diese Produktion auf den Plantagen oder Kaffee-Fincas aufrechterhielten. Es gab eben nicht nur ein zeitliches Nacheinander sowie die räumliche Trennung von Sklaverei und Kapitalismus, sondern auch deren Gleichzeitigkeit  : Fügte sich doch das System der Plantagensklaverei des 19. Jahrhunderts, solange es intakt war, genauso in die kapitalistische Verwertungslogik der Zeit ein wie die auf Schuldknechtschaft basierende guatemaltekische Kaffeefinca-Wirtschaft.

Wilhelm Brauneder, Wien–Budapest

Strom contra Kohle Beginn der Vollbahnelektrifizierung in Österreich

In der Entwicklung der Zugförderung mit Dampf, Strom und Diesel stellt in Öster­ reich, im Unterschied zu den Nachbarn Schweiz und Deutschland, das Ende des Ersten Weltkriegs eine entscheidende Zäsur dar. Sein Ausgang ist ursächlich für die rasch anhebende Elektrifizierung der wichtigsten Vollbahnstrecken.1

1. Vor 1900: elektrifizierte Straßenbahnen Vor dem Jahr 19002 wurden mit Strom nur Straßenbahnen und Überland-Straßenbahnen betrieben. Die erste derartige von Anfang an elektrifizierte Strecke stellte ab 1883 die Überlandstraßenbahn von Mödling an der Südbahn in den Wienerwald nach Hinterbrühl dar.3 Erst nach über zehn Jahren folgten weitere elektrifizierte Straßenbahnen  : als erste 1895 jene in Gmunden am Traunsee, weiters beispielsweise 1897 Wien, Graz, Linz, zum Teil durch Elektrifizierung von Pferdestraßenbahnen. Eine längere Überlandstraßenbahn mit teils gebirgigem Charakter nahm 1904 ihren Betrieb auf  : die Stubaitalbahn von Innsbruck nach Fulpmes im Stubaital. Ab 1907 gab es durchgehenden elektrischen Betrieb auf der Badener Bahn, die vom Zentrum Wiens gegenüber dem Opernhaus an der Ringstraße auf sechsundzwanzig Kilometer Länge in das Zentrum Badens am Josefsplatz führt.4 Der Bau elektrifizierter Straßenbahnen und Überlandstraßenbahnen stand oft im engsten Zusammenhang 1 Die Arbeit erschien auch in tschechischer Sprache mit der hier fortgelassenen Betonung der Erzeug­ nisse der Prager Waggonfabrik Ringhoffer  : Wilhelm Br au neder, Elektrina kontra uhlí  : pocátek elektrifikace zeleznicnich tratí v Rakousku, in  : Milan Hlavačka – Miloš Hořejš (Hg.), Fenomén Ringhoffer. Rodina, podnikání, politika, Praha 2019, 244ff. – Die Eisenbahnliteratur ist nahezu uferlos  ; in der Folge stets eine Auswahl. 2 Josef Ot to Sleza k, Die Lokomotiven der Republik Österreich, Wien 3. Aufl., 1983, 23, 24, 25  ; R ich ar d Rot ter – Helmut Petrovitsch, Triebfahrzeuge der österreichischen Eisenbahnen, Düsseldorf 2. Aufl., 1999, 911ff. 3 M a nfred Hohn – Dieter Sta nfel – Hellmth Figlhuber, Mödling – Hinterbrühl. Die erste elektrische Bahn Europas für Dauerbetrieb, Wien 1983. 4 H a ns Sternh a rt – H a ns Pötschner, Hundert Jahre Badner Bahn. Die Geschichte der Badner Straßenbahn und der Lokalbahn Wien – Baden, Wien 1973, 21ff.

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mit der allgemeinen Elektrifizierung vor allem anfangs in den Städten5 oder auch regional wie im Salzkammergut.6

2. Ab 1905: elektrifizierte Vollbahnen Neben einer kurzen Werksbahn im Fabriksgelände von Wöllersdorf 1902 entstand 19057 in Vorarlberg die Montafonerbahn von Bludenz an der noch mit Dampf betriebenen Westbahn nach Schruns im Montafon.8 Sie nutzte die dortige Wasserkraft zur Stromerzeugung. Besonders bemerkenswert sind 1901/02 und 1906/07 Versuche, die mit Dampf betriebene Stadtbahn in Wien zu elektrifizieren.9 Das Motiv dazu liegt auf der Hand  : die Vermeidung der Folgen des Dampfbetriebs im städtischen Häusermeer. Bei dem ersten Versuch erfolgte die Stromzuführung über eine Mittelschiene im Gleiskörper zu einem Triebwagenzug. Zum zweiten Versuch wurde die Strecke zwischen den heutigen Schnellbahnstationen Praterstern und Wien-Mitte mit einer doppelpoligen Gleichstrom-Oberleitung für eine Elektrolokomotive mit Achsfolge B (= zweiachsig) überspannt  ; nach einem Umbau versah sie noch bis 1962 –   ! – Verschubdienste am Hauptbahnhof zu Prag,10 da die Elektrifizierung der Stadtbahn – vorerst – unterblieb. Besonders bemerkenswert ist die Elektrifizierung der – allerdings schmalspurigen – Mariazellerbahn von St. Pölten an der Westbahn über den steierischen Wallfahrtsort Mariazell nach Gußwerk 1911.11 Die geplante Verlängerung dieser 1907 mit Dampf betriebenen Strecke zu der ihr von Kapfenberg an der Südbahn nach Au-Seewiesen entgegenkommenden Bahn unterblieb allerdings. Den Grund der Elektrifizierung gab der steigende hohe Pilgerverkehr nach Mariazell ab, der nur auf diese Weise vor allem auf der Bergstrecke der 760-Millimeter-Schmalspurbahn ab Laubenbachmühle bewältigt werden konnte.12 Auch hier unterblieb übrigens ein Weiterbau, nämlich vom weit außerhalb des Ortes liegenden Bahnhof Mariazell mittels einer Stichstrecke in das Ortszentrum, obwohl  5 K l aus-Jürgen Vet ter, Die Eisenbahn in Österreich. Geschichte, Strecken, Lokomotiven, München 2007, 24f.  6 Wilhelm Br au neder, Die »Elektrifizierung« des Salzkammergutes, in  : Borut Holcman – Markus Steppan (Hg.), Festschrift für Gernot Kocher zum 75. Geburtstag. »… ich rief dich bei deinem Namen und gab dir Ehrennamen« (Jes 45, 4), Maribor 2017, 80–86.  7 Sleza k, Lokomotiven, 24  ; Rot ter – Petrovitsch, Triebfahrzeuge, 13, 31f.  8 Rot ter – Petrovitsch, Triebfahrzeuge, 249.  9 R ich a r d Heinersdorf, Die k. k. Eisenbahnen, 1957, 212  ; H a ns Peter Pawlik – Josef Ot to Sleza k, Wagners Werk für Wien. Gesamtkunstwerk Stadtbahn, Wien 1999, 149. 10 Rot ter – Petrovitsch, Triebfahrzeuge, 193f.; Pawlik – Sleza k, Wagners Werk, 151. 11 H a ns Peter Pawlik, Technik der Mariazellerbahn, Wien 2001. 12 Rot ter – Petrovitsch, Triebfahrzeuge, 186.

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deren Trasse bereits fertiggestellt war. In den Jahren 1912/13 folgten zwei weitere elektrifizierte Bahnen. Die Preßburgerbahn führte von Wiens Zentrum am Hauptzollamt in Ringstraßennähe vorerst als Straßenbahn nach Schwechat und von hier als Vollbahn und schließlich wieder als Straßenbahn vor das Stadttheater im Zentrum von Preßburg (Poszony, erst seit 1919 Bratislava).13 Aus ganz anderem Grund wurde die Mittenwaldbahn von Innsbruck nach Garmisch sogleich für elektrischen Betrieb geplant und gebaut  : Um ein langes Ausfahren erst das Inntal abwärts und sodann in Gegenrichtung aufwärts zu vermeiden, entschied man sich für eine direkte Strecke mit allerdings bis zu vierunddreißig Promille Steigung, die nur im elektrischen Betrieb zu bewältigen war.14 Überdies stand diese Elektrifizierung im Zusammenhang mit jener der anschließenden bayerischen Karwendelbahn. Ähnlich wurde der Fahrdraht aus dem bayerischen Freilassing in den Salzburger Hauptbahnhof 1914 verlängert, um einen durchgehenden elektrischen Betrieb von hier über Freilassing nach Berchtesgaden und ab 1928 bis München zu ermöglichen.15 Der innerösterreichische Verkehr ab Salzburg Hauptbahnhof erfolgte damals noch in Dampftraktion. 3. Die Folgen des Ersten Weltkriegs Bei sämtlichen Elektrifizierungen vor dem Ersten Weltkrieg spielten Energiefragen kaum eine Rolle, im Vordergrund standen stets andere Motive. Einerseits verfügte der damalige österreichische Staat über genügend eigene Vorkommen hochwertiger Kohle und es wickelte sich deren Transport auf inländischen Strecken ab, die oft dafür gebaut worden waren.16 Andererseits hatten die zunehmenden Verbesserungen in der Konstruktion von Dampflokomotiven noch lange nicht ihren Höhepunkt erreicht, Leistungssteigerungen ließen sich weiterhin erwarten, währen die Konstruktion von Elektrolokomotiven noch in ihren Anfängen stak. Der Zerfall Österreich-Ungarns am Ende des Ersten Weltkriegs, vor allem das Auseinanderbrechen Cisleithaniens in neue Staaten und der dadurch erheblich zerstörte Wirtschaftsraum, schuf eine völlig neue Lage. Betroffen davon war vor allem der neue Staat der Republik (Deutsch-)Österreich17 auch in Hinblick auf die Energieversorgung gerade mit Kohle.18 So gut wie alle Kohlevorkommen vor allem von hochwertiger 13 A lfred Horn, Die elektrische Bahn Wien – Preßburg 1994–1989, Wien 1989. 14 Rot ter – Petrowitsch, Triebfahrzeuge, 128. 15 Dieter Bä zold – Gü nther Fiebig, Ellok-Archiv, Berlin 5. Aufl. 1984, 34, 38  ; Erich Preuß – K l aus Pöhler, Deutsche Bahnhöfe. Das große Gleisplanbuch, München 2018, 76. 16 Wilhelm Br au neder, Das Bergwerk  : Mutter der Eisenbahn, in  : Ders., Studien V  : Entwicklungen des Öffentlichen und Privatrechts II, Frankfurt am Main u. a. 2015, 250. 17 Dazu Wilhelm Br au neder, Deutschösterreich 1918, Wien–München 2000, insbes. 205ff. 18 A lex a nder Koci, Die Österreichischen Bundesbahnen elektrifizieren. Zur Aufnahme des durchgehenden elektrischen Betriebes auf der Westbahnstrecke bis Wien, 1952, 5.

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Qualität lagen nun im Ausland. Der Import von Kohle beispielsweise aus Galizien, nunmehr polnisch, hatte zwei Staatsgrenzen zu überwinden – Polen/Tschechoslowakei sowie Tschechoslowakei/Österreich – und war durch drei Bahnverwaltungen zu besorgen. Beides verursachte nicht nur erhebliche Kosten, sondern unterlag in den Jahren unmittelbar nach 1918 auch politischem Boykott. So betrug der Kohlenbedarf Wiens 1918/19 täglich 200 Waggons, aber es trafen nur mehr 20 Waggons ein.19 Dies zog die Einstellung des Zugverkehrs auf manchen Strecken fast zur Gänze nach sich, auf einigen zeitweise oder sogar dauerhaft wie Letzteres auf Strecken der Wiener Stadtbahn. Auf der Salzkammergutbahn zwischen Attnang-Puchheim und StainachIrdning stellte sich dies so dar  : 1919/20 Einstellung, 1920 ein und dann fünf Zugpaare täglich, 1921 vier, 1922 sechs, 1923 acht, aber im Winter 1923/24 nur vier.20 Das Umstellen auf eine neue Energiequelle vor allem für den Bahnbetrieb wurde nun nahezu schlagartig erkannt. Dafür bot sich allein die Elektrifizierung an  : Der Kohlenmangel »erzwang« sie tatsächlich.21

4. Das Elektrifizierungsprogramm von 1919/20 und seine Umsetzung Bereits 1919 konnte aufgrund von Plänen aus der Vorkriegszeit mit Vorarbeiten zur Elektrifizierung auf der Arlbergstrecke und der Salzkammergutbahn begonnen werden.22 Mit dem Finanzgesetz 1919 und sodann durch weitere Bundesgesetze von 1920 wurde ein »Elektrifizierungsprogramm« für die Eisenbahnen festgelegt. Für dieses gab es Vorläufer aus dem Jahr 1912, doch hatte sich damals die Heeresverwaltung gegen Elektrifizierungen ausgesprochen, weil derartige Strecken in Kriegsfällen zu anfällig seien.23 Nun, 1920, war vorgesehen, mit der Elektrifizierung im Westen an das dort bereits elektrifizierte Bahnnetz der Schweiz anzuschließen und diese schrittweise nach Osten fortzuführen. So sollte die Strecke vom Schweizer Grenzbahnhof Buchs SG (= Kanton St. Gallen) nach Salzburg über Schwarzach-St.Veit, weiters die Abzweigungen von Innsbruck zur neuen italienischen Grenze auf den Brenner und von Schwarzach-St.Veit nach Spital am Millstättersee bis 1930 elektrisch betrieben wer19 Ulrich Schefold, 150 Jahre Eisenbahn in Österreich, München 1986, 103  ; Wa lter Goldinger, Geschichte der Republik Österreich, Wien 1954, 490. 20 M a rtin Thom as Pollner, Das Salz-Kammergut. Grundzüge einer allgemeinen Geschichte des Salzkammergutes und einiger angrenzender Landesteile, Wien 2008, 191ff. 21 So Schefold, 150 Jahre, 91, auch 132  ; ferner Goldinger, Geschichte, 490 f. 22 Koci, Bundesbahnen elektrifizieren, 4f.; Helmut Griebl, Österreichs Krokodil. Die Baureihe 1100 / E 89 / 1089, Freiburg im Breisgau 2005, 5  ; Peter Wegenstein, Die Salzkammergut-Strecke, Wien 1996, 5. 23 Schefold, 150 Jahre, 91.

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den. Damit wären westlich von Salzburg die wichtigsten Bergstrecken vom teuren Dampfbetrieb entlastet  : die Arlbergbahn, die Brennerbahn, die Tauernbahn und, als elektrischer Inselbetrieb, die Salzkammergutbahn. Tatsächlich wurde mit der Elektrifizierung laut Plan 1922 begonnen.24 192625 wurde Innsbruck erreicht, im Jahr darauf die deutsche Grenze bei Kiefersfelden, 1928 der Brennerpass, zwischen 1928 und 1935 folgten die Strecke von Wörgl bis Salzburg und die Tauernbahn nach Kärnten. Nach Westen erreichte der Fahrdraht 1934 Bregenz. Damit lief auf allen Bahnen im Westen Österreichs der Bahnbetrieb elektrisch ab, und zwar in Anschluss an die dortigen Schweizer und deutschen Bahnen. Im Zweiten Weltkrieg verlängerte sich die Elektrifizierung der Westbahn 1940 noch bis Attnang-Puchheim, wo sie den schon 1922 bis 1924 elektrifizierten Inselbetrieb der Salzkammergutbahn erreichte. Angesichts des auch in Deutschland noch überwiegenden Dampfbetriebs stellte eine elektrifizierte Bahnanlage eine auffallende Neuerung dar wie zu einer deutschen Strecke beschrieben. Im Bahnhof Bitterfeld »grüßt die Dampflokomotive eine neu heraufkommende Zeit, denn dieser Bahnhof ist überzogen von eisernen Jochen, an denen schwere Porzellanklötze und Kupferdrähte hängen. Hier geht die elektrische Vollbahnstrecke Magdeburg – Dessau – Bitterfeld – Leipzig – Halle vorüber«.26 Ein Abkommen von 1913 zwischen den damals noch deutschen Länderbahnen, Österreich und der Schweiz, dazu auch Norwegen und Schweden, über die Verwendung von Wechselstrom 15 kV 162/3 Hz ermöglichte vor allem in den erstgenannten Staaten einen einheitlichen elektrischen Betrieb.27 Soweit Geleichstrombahnen diese Strecken mitbenutzten, geschah dies vorerst etwa durch Gleichrichterwagen wie durch die Lokalbahn Lambach – Haag am Hausruck bis zur späten Umstellung auf Wechselstrom wie bei der Montafonerbahn erst 1972.28

5. Dampflokomotiven – Elektrolokomotiven Mit dem Bau von Elektrolokomotiven betrat man in Österreich nach 1918 im Wesentlichen Neuland. Voraufgegangen waren die Elektroloks für die Mittenwaldbahn und die Preßburgerbahn, die aber kommenden Anforderungen nicht genügten.29

24 Goldinger, Geschichte, 493. 25 Zum Folgenden u. a. Rot ter – Petrovitsch, Triebfahrzeuge, 31f.; Griebl, Österreichs Krokodil, 7. 26 A rtur Fürst, Die hundertjährige Eisenbahn. Wie Meisterhände sie schufen, Berlin 1925, 304. 27 Sleza k, Lokomotiven, 26  ; im Detail Rot ter – Petrovitsch, Triebfahrzeuge, 12ff. 28 Helmu t Weis, Die Unternehmung Stern und Hafferl, Bd. I, 1980, 51ff.; Rot ter – Petrovitsch, Triebfahrzeuge, 237ff., 249. 29 Rot ter – Petrovitsch, Triebfahrzeuge, 131  ; Griebl, Österreichs Krokodil, 7.

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Die ersten Elektroloks waren vom Vorbild der Dampflok noch stark beeinflusst.30 Dies zeigt sich schon im Äußeren. An die Stelle des Heizkessels trat ein Gehäuse mit den Bedienungseinrichtungen, die wie jene bei Dampfloks am Heizkessel von außen über seitliche Laufstege zugänglich waren. In der Regel besaßen sie wie jene auch nur ein Führerhaus. Auf diesen Aufbauten saßen die beiden Stromabnehmer. Ein Prototyp besaß sogar ein rundes, kesselförmiges Gehäuse für die Elektroeinrichtungen (Reihe 1082). In einer modernen Variante rückte das einzige Führerhaus etwa in die Lokomotivmitte wie bei der Reihe 1061, bis heute übrigens bei Verschubloks gebräuchlich. Anfangs waren sämtliche Elektroloks Festrahmenloks ohne Drehgestelle. Wie bei Dampfloks bewegte sämtliche Achsen als Triebachsen ein Stangenantrieb, allenfalls ergänzt um Vorlaufachsen. Die Klassifizierung folgte dem der Dampflokomotiven  : Gebirgsschnellzuglok, Talschnellzuglok, Güterzuglok, Verschublok.31 Dies betraf auch die Reihenbezeichnung, freilich mit einem vorgestellte »E«, später ersetzt durch die Tausenderziffer.32 So entsprach die Reihe E 89, später 1089 und 1189, in etwa der Dampflokreihe 89. Es war dies übrigens die wegen ihres langgezogenen Äußeren als »Krokodil« bezeichnete erst Gebirgsschnellzugslokomotive Österreichs, eine Art doppelter Festrahmenlok mit der Achsfolge 1’Co Co’1, gebaut in der Schweiz nach dem dort bewährten »Gotthard-Krokodil«.33 Der Lokomotivbau verließ jedoch bald das Vorbild der Dampflokomotive wie etwa in Ansätzen mit den zwei durch den Kasten verbundenen Gelenksteilen des »Krokodils«. Maßgebend wurde die Kastenform in Waggonbauweise und die Abkehr vom Festrahmen zugunsten von Drehgestellen ohne Vorlaufachsen, meist zweiachsig als Achsfolge Bo Bo. In dieser Bauweise entstand erstmals in Österreich 1927 die Baureihe 1045, die in mehreren »Auflagen« als Reihe 1245 noch im Zweiten Weltkrieg gebaut wurde. Gedacht war sie für die weniger gebirgigen Strecken östlich der Stadt Salzburg, erwies sich jedoch in der Folge als allseits verwendbare »Universallokomotive«. Für die weitere Elektrifizierung bis Wien bestellte die Bundesbahn 1937 die Schnellzuglokomotive der Reihe E 18, eine Variante der Reichsbahn-E 18, was eine Rückkehr zur Festrahmenlok mit Vorlaufachsen, aber ohne Stangenantrieb bedeutete (1’D’1).34 Sie war allerdings zu dieser Zeit Europas modernste Elektrolok. Zur Auslieferung kam sie erst 1940 und blieb lange nach 1945 die Paradelok der Bundesbahn. Das Rückgrat der Elektrotraktion stellte noch die Reihe 1245 dar,35 vor allem neben der Reichsbahn-E 94, dem »deutschen Krokodil« (Co Co), deren erste Exemplare

30 Rot ter – Petrovitsch, Triebfahrzeuge, 166, 169, 175, insbes. 178f. 31 Ebd., 14f. 32 Griebl, Österreichs Krokodil, 7. 33 Ebd.; Schweiz  : Christi a n Zellweger, Krokodil. Königin der Elektrolokomotiven, Zürich 2005. 34 Rot ter – Petrovitsch, Triebfahrzeuge, 60ff. 35 Ebd., 108, 113, 115.

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1940 an die Reichsbahndirektion Innsbruck ausgeliefert wurden. Sie kamen übrigens auch aus der Floridsdorfer Lokomotivfabrik, die sie noch nach 1945 baute.36

6. Die Elektrifizierung: ein großer Erfolg Die Elektrifizierung verringerte, wie angestrebt, die Kohlenabhängigkeit, brachte aber noch weitere Vorteile. Rauch, Ruß, Funkenflug und die dadurch vielfach hervorgerufenen Brände am Bahndamm und in seiner Nähe sowie die Geruchsbelästigung verschwanden. Das wurde nicht nur im städtischen Bereich, vorerst Innsbruck und dann Salzburg, als wohltuend empfunden, sondern etwa auch in der Tourismusregion des Salzkammerguts. In den langen Tunneln durch den Arlberg und den Tauernkamm musste sich das Lokpersonal gegen den Rauch nicht mehr mit nassen Tüchern den Kopf umhüllen. Vor allem kam es zu Verkürzungen der Fahrtzeit. Auf der Mariazellerbahn verringerte sie sich um eine –   ! – Stunde. Auf der Arlbergstrecke fuhren doppelt so schwere Güterzüge nahezu mit doppelter Geschwindigkeit, auf seiner Ostrampe (fünfundzwanzig Kilometer) um eine Viertelstunde kürzer  ; hier konnte auch der Bestand an Lokomotiven um über 50 Prozent reduziert werden.37

7. Um 1925: Rückschlag zugunsten Kohle Im Jahre 1930 waren vom gesamten Bahnnetz elektrifiziert  : in der Schweiz 60 Prozent des Streckennetzes, in Österreich hingegen nur 10 Prozent.38 Man konnte sich damit trösten, dass das Streckennetz im Deutschen Reich lediglich zu 4 Prozent elektrisch betrieben wurde, hier 1933 etwa nur 6 Prozent des Bestands an Triebfahrzeugen der Elektrotraktion dienten, davon überdies zwei Drittel Triebwagen.39 Der gravierende Unterschied zu Österreich bestand jedoch darin, dass es in Deutschland genug Kohlevorkommen gab und vor allem die Dampflokentwicklung von Erfolg zu Erfolg eilte  : Schnellzüge erreichten Durchschnittsgeschwindigkeiten von 120 Stundenkilometern, Dieseltriebwagen eine solche von 125 Stundenkilometern.40 36 Ebd., 64ff. 37 Ebd., 187, 181  ; Sleza k, Lokomotiven, 26  ; Schefold, 150 Jahre, 104. 38 Josef Ot to Sleza k, Da staunt das Vorsignal. Seltsames von den Eisenbahnen aus aller Welt, Wien 1952, 73. 39 Loth a r Ga ll – M a nfred Pohl (Hg.), Die Eisenbahn in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, 177. 40 Toni Liebel – Wolfga ng Stoffels – Eberh a r d K rummheuer., 150 Jahre Deutsche Eisenbahnen. Offizieller Jubiläumsband der Deutschen Bundesbahn, München 1985, 44f.

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Wilhelm Brauneder, Wien–Budapest

Der doch geringe Anteil an Elektrifizierung in Österreich verstand sich daraus, dass diese zwar nie gänzlich abgebrochen,41 aber doch merklich verringert wurde. Gegen den Ausbau der Wasserkraft stemmten sich die sogenannten »Kohlebarone« (Slezak) und es war sogar von einer »Intrige der Kohlenwirtschaft« (Vetter) die ­Rede.42 Symbolhaft für zumindest einen Teilsieg der »Kohleninteressen« steht 1928 die seit dem Vorjahr entwickelte Neubau-Dampflok der Reihe 214 mit der Achsfolge 2’D’1 und einem Durchmesser ihrer Triebräder von knapp zwei Metern  !43 Sie stellte nicht nur die schwerste, sondern auch stärkste und schnellste Dampflok Europas zu diesem Zeitpunkt dar. Als sie ihren Einsatz auf der Westbahn zwischen Salzburg und Wien aufnahm, war das erstrebte Elektrifizierungsprogramm von 1920 noch lange nicht erreicht  : 1935 sollte der Fahrdraht bereits bis Wien führen, tatsächlich endete er aber in Salzburg, das er schon fünf Jahre zuvor, 1930, hätte erreichen sollen  ! Insoferne war die neue Dampflok 214 für einen modernen Zugbetrieb höchst erwünscht gekommen, wäre aber wohl überflüssig gewesen bei termingerechter Durchführung des Elektrifizierungsprogramms.44 Durch die weitere Elektrifizierung der Westbahn bis Attnang-Puchheim 1940 verringerte sich der Einsatzbereich der D 214 nur geringfügig.

8. Ausklang: Nach 1945 Die Elektrifizierung der Westbahn erreichte 1949 Linz, sodann Amstetten 1951 und schließlich Wien gegen Ende 1952. Um 1950 waren erst 20 Prozent der österreichischen Strecken elektrifiziert. Allerdings gab es einen umfangreichen Elektrifizierungsplan, doch war vor allem für die Strecken in die östlichen Nachbarstaaten – nun hinter dem »Eisernen Vorhang« – die »Beibehaltung des Dampfbetriebes geplant«.45 Fahrpläne enthielten daher entsprechende Hinweise wie etwa zur Mariazellerbahn »St. Pölten – Mariazell – Gußwerk«  : »Elektrische Schmalspurbahn« oder auch für Streckenteile wie zu »Wien Westbf – Linz«  : »Amstetten – Linz elektrischer Betrieb«.46 Entgegen der Annahme des Militärs von 1912 bewiesen Kriegs- und Nachkriegszeit 1944 bis 1946 den großen Vorteil des elektrischen Zugbetriebs gegenüber dem mit Kohlebedarf. Bereits 1945 konnte trotz zahlreicher Schäden durch die Bombar41 Goldinger, Geschichte, 495, 498. 42 Ebd., 424f.; Sleza k, Lokomotiven, 23  ; Vet ter, Eisenbahn in Österreich, 31. 43 Sleza k, Vorsignal, 17. 44 A lfred Niel, Vom Dampfroß zur E-Lok. Die Eisenbahn in Österreich, Graz 1987, 117f.; Vet ter, Eisenbahn in Österreich, 76. 45 Sleza k, Vorsignal, 74  ; Ders., Lokomotiven, 24  ; Schefold, 150 Jahre, 115. 46 U. a. Amtlicher Österreichischer Taschenfahrplan 1952, Fahrpläne 27d, 25.

Strom contra Kohle

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dierung von Bahnanlagen im elektrifizierten Westen Österreichs der Bahnbetrieb nahezu im vollen Umfang aufgenommen werden, während dies im auf Dampfbetrieb angewiesenen Süden und Osten erst nur notdürftig und äußerst mangelhaft möglich war.47 Nicht nur die Abgabe von 540 Dampfloks an die Sowjetunion vor allem aus deren Besatzungszone war dafür ursächlich – die Elektrolokomotiven befanden sich so gut wie ausschließlich in den Besatzungszonen der westlichen Alliierten im Westen –, sondern auch der gravierende Mangel an Kohlen wie nach dem Ersten Weltkrieg.48 Die weiteren Elektrifizierungen zogen sich reichlich lange hin wie etwa der Südbahn über Kärnten nach Italien 1957 und über Graz nach Jugoslawien 1972 oder der Nordbahn in die Tschechoslowakei 1986. Mit der Errichtung des S-Bahn-Netzes ab 1962 im Raum Wien begann die Elektrifizierung jener Teile der Stadtbahn, auf welchen nicht schon 1925 der verstärkte Straßenbahnbetrieb der »Wiener elektrischen Stadtbahn« eingeführt worden war, den ab 1976 die U-Bahn ersetzte. Der Dampfbetrieb wurde ab 1952 schrittweise von der Dieseltraktion abgelöst, der letzte Dampfzug verkehrte 1977.49 Im Jahre 1968 waren zwar 39 Prozent des Streckennetzes elektrifiziert, auf ihnen wickelten sich aber immerhin 70 Prozent des Verkehrs ab, 1982 auf den 52 Prozent Strecke unter Fahrdraht bereits 92 Prozent des Gesamtverkehrs.50 Nun erst bewahrheitete sich die Feststellung von 1925  : Züge »werden elektrische Förderung haben. Damit wird der schmutzende Ruß von den Strecken verschwunden sein. Die Fahrzeuge werden mit freundlichen, hellen Farben angestrichen werden.«51

47 Rot ter – Petrovitsch, Triebfahrzeuge, 74  ; Sleza k, Lokomotiven, 24. 48 Koci, Bundesbahnen elektrifizieren, 6  ; Schefold, 150 Jahre, 113. 49 Schefold, 150 Jahre, 162  ; Sleza k, Lokomotiven, 291. 50 Sleza k, Lokomotiven, 291. 51 Fürst, Hundertjährige Eisenbahn, 308.

M ILITÄ RGESCHICHTE

Erwin A. Schmidl, Wien*

Ein Wanderer zwischen den Welten Johann Friedrich Löffler in österreichischen, niederländischen und britischen Diensten, 1787 bis 1819

1. Allgemeines Ausgangspunkt sind die Erinnerungen des Schlesiers Johann Friedrich Löffler, auf die ich durch die bemerkenswerte Arbeit des jungen russisch-israelisch-britischen Historikers Dr. Ilya Berkovich »Motivation in War«, über die Lebensbedingungen der Soldaten im 18. Jahrhundert, stieß.1 Das Buch erschien 1836 in Breslau bei Groß, Barth und Comp., unter dem Titel »Der alte Sergeant  : Leben des Schlesiers Johann Friedrich Löffler. Ein Beitrag zur Geschichte der Zeitgenossen«.2 Das Frontispiz zeigt das einzige bekannte Porträt des Autors, in Form eines Stiches von F. Koska. Allerdings  : Der Text ist zwar in Ich-Form geschrieben, doch scheint als »Verfasser« Gustav Rieck auf. Im Vorwort schrieb Rieck, wie er Johann Friedrich Löffler kennenlernte  :3 »Am Weihnachtsabende des Jahres 1831 war ich vom nahen Breslau bei Verwandten zu Schweidnitz angelangt. […] Ein großer, wie mir schien, noch recht kräftiger alter Mann, doch mit schon gebleichtem Haar« beeindruckte ihn so, dass er sich entschloss, die Erzählungen des Mannes aufzuschreiben  : »Alles aus seinem scharfen Gedächtnisse und seinen eignen Worten treu niedergeschrieben, kann es mir nicht einfallen, irgend ein Verdienst dadurch auf meine Seite zu bringen.« Rieck und sein Bruder, dem Löffler Englischunterricht erteilte, nahmen sich der Erinnerungen Löfflers an. Dieser »erzählte […] bruchstückweise, […] wobei natürlich die Zeitfolge oft unterbrochen und die wichtigsten Einzelheiten nicht sobald dem Ganzen angepaßt werden konnten«. Das Unternehmen dauerte fünf Jahre. Im Sinne der Quellenkritik ist unklar, ob Löffler seine »Lebensgeschichte« vor der Drucklegung überhaupt selbst lektorieren und korrigieren konnte. Jedenfalls ist * Abkürzungen  : K  : Karton  ; KA  : Kriegsarchiv  ; ML  : Musterlisten  ; ÖStA  : Österreichisches Staatsarchiv. Für ihre Unterstützung bei meinen Arbeiten danke ich Dr. Ilya Berkovich sowie Frau Renate Domnanich vom Kriegsarchiv in Wien sehr herzlich. 1 Ilya Berkovich, Motivation in War  : The Experience of Common Soldiers in Old-Regime Europe, Cambridge u. a. 2017. 2 [G. R ieck (Hg.)], Der alte Sergeant  : Leben des Schlesiers Johann Friedrich Löffler. Ein Beitrag zur Geschichte der Zeitgenossen, Breslau 1836. 3 Ebd., 1f.

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Abb. 1  : Frontispiz und Titelseite der Originalausgabe von Löfflers Erinnerungen.

zu erwarten, dass zu den üblichen Fehlern und Irrtümern (von absichtlich geschönten Darstellungen ganz zu schweigen), wie sie in jedem autobiographischen Werk vorkommen können, Missverständnisse durch den Verfasser der Aufzeichnungen traten. Wir werden solchen noch begegnen. Gustav Rieck veröffentlichte später weitere Soldatenerinnerungen – so 1840 »Der böhmische Veteran« über die Erlebnisse Franz Berslings. Dieser, 1775 in Gitschin (Jičín) im nördlichen Böhmen geboren, diente ab 1791 bei der österreichischen Artillerie, desertierte 1797, ließ sich in der Schweiz für die spanische Armee anwerben, geriet in britische Gefangenschaft und trat 1798 in britische Dienste, machte die Kämpfe in Ägypten mit, desertierte 1804 erneut und war schließlich über zehn Jahre lang, bis 1815, bei den Royal Marines.4 4 Der böhmische Veteran  : Franz Bersling’s Leben, Reisen und Kriegsfahrten in allen fünf Welttheilen. Nach mündlichen und schriftlichen Mittheilungen bearbeitet vom Verfasser des »Alten Sergeanten etc.« Gustav Rieck (Schweidnitz 1840). Weitere Bücher Riecks galten den Erlebnissen Johann Gottliebs (»Friedrich

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2. Löfflers Leben Johann Friedrich Löffler wurde am 5. Februar 1768 zu Schweidnitz in Schlesien geboren (Świdnica, heute in Polen). Er hatte vier Geschwister und erhielt »nicht einmal die nothdürftigste Erziehung«, verbrachte nur wenige Jahre in der Schule. Die Familie lebte in Armut  ; der Vater hatte sie, dem Alkohol verfallen, verlassen. Im Jungen erwachte »sehnsüchtig der Gedanke auf, die große Welt so weit als möglich kennen zu lernen«, und so packte er zu Ende der Lehrzeit »meine wenigen Habseligkeiten, den nöthigen Reisepaß, auch einige Empfehlungsbriefe zusammen« und zog im Sommer 1785 los.5 Die Wanderung führte ihn zuerst durch Preußen, dann über Mähren nach Wien, von wo es per Schiff donauabwärts ging – angeblich wollte er bis Konstantinopel (Istanbul) fahren. Er kam aber nur bis Fünfkirchen (Pécs) und Stuhlweißenburg (Székesfehérvár) in Ungarn, bevor er im Herbst 1786, krank und von den Strapazen der Reise erschöpft, zurück nach Wien gelangte. Sein geschwächter Zustand hinderte in Wien einen »ältliche[n] Mann in österreichischer Uniform« nicht, ihm vorzuschlagen, »Ob ich wohl Lust hätte, Sr. Majestät dem Kaiser Joseph zu dienen  ?«. Er sei österreichischer Werber vom Regimente Deutschmeister und versichere, dieser Entschluß würde mich sicher nicht gereuen. […] Das Handgeld versuchte mich, ich gab’s zu, daß er, nach seinem Ausdrucke, mich ein wenig erquicken lassen könne, und folgte ihm in ein bedeutendes Gasthaus, wo er eine große Portion saures Fleisch und einen Krug Wein auftragen ließ.«6 Löffler verpflichtete sich für sechs Jahre Dienst, gegen 45 Gulden Handgeld. Er kam nach seinen Angaben zum Leib-Bataillon, das in Bruck an der Leitha in Garnison lag, in die Kompanie des »sehr nachsichtigen« Hauptmanns Wilhelm von Lindenberg.7 Den Musterlisten des Regiments Teutschmeister – so die damalige Schreibweise – zufolge wurde der Tuchmacher Johann Friedrich Löffler aus Schweidnitz tatsächlich am 18. Oktober 1786 als Rekrut gestellt, und zwar als Ersatz für den entlassenen Gemeinen Leonhard Schwerdner. Geführt wurde er als »Ausländer« und »Kapitulant«, also als jemand, der nicht der Wehrpflicht unterlag, sondern des Großen letzter Dragoner«, 1838) und des weitgereisten Mensen Ernst (1841). 1839 verfasste er »Der Freiwilliger-Veteran  : Volksbuch für die Deutschen« sowie eine »Erste vollständige Schweidnitzer Chronik alter und neuer Zeit« und 1840 die Geschichte Schlesiens unter preußischer Herrschaft (»Schlesien 100 Jahre Preußisch«). 5 [R ieck (Hg.)], Der alte Sergeant, 4f. 6 Ebd., 29f. 7 Ebd., 32. Zum IR 4 vgl. Gustav R it ter A mon von Treuenfest, Geschichte des k. k. Infanterie-Regimentes Hoch- und Deutschmeister Nr. 4, Ergänzungs-Bezirks-Station Wien, Wien 1879  ; Fr a nz Schultz, Vorgeschichte des Regimentes Hoch- und Deutschmeister nebst einem Anhang  : Eine Festgabe zu dessen 200-jähriger Jubelfeier, Wien 1896  ; A lois Veltzé, k. und k. Infanterieregiment Hoch- und Deutschmeister Nr. 4 (Hassenberger’s Regimentsgeschichten Nr. 1), Wien 1906.

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freiwillig eine Kapitulation, also einen Dienstvertrag auf sechs Jahre, unterzeichnet hatte.8 Seiner Erzählung nach erlebte Löffler den Dienst im Militär positiv und erholte sich schnell. Im März 1788 kam die Nachricht vom Krieg zwischen Österreich und der Türkei – »Schon der Name »Türke« war durch ihre bewiesene Grausamkeit gegen Verwundete und Gefangene aus den früheren Kriegen genugsam gebrandmarkt.«9 Löffler kam zum III. Bataillon (»leider steckte unter dieser Abteilung das schlechteste, unbrauchbarste Volk, meistentheils neu geworbene Ausländer«) vor die osma­ nisch besetzte Festung Dubitza (Duwieza – heute Kozarska Dubica) auf der bosnischen Seite der Una (Unna). Ein Nachtangriff auf die Festung scheiterte in der Nacht vom 24. April 1788 unter schweren Verlusten. Löffler wurde verwundet, kam nach Agram (Zagreb) ins Spital und kehrte im Juli zum Regiment zurück. Erst am 22. August 1788 gelang es, Dubitza einzunehmen. Den Winter 1788/89 verbrachten Löffler und seine Kameraden in Winterquartieren bei Petrinia (Petrinja) in Kroatien. Während im Sommer die mangelhafte Versorgung das Leben der Soldaten erschwert hatte, war man hier überversorgt, Löffler lobte seine Wirtsleute. Im Frühjahr 1789 ging es nach Karlstadt (Karlovac) und Semlin (Zemun, heute ein Teil Belgrads/Beograds). Im Oktober 1789 erlebte Löffler die Beschießung und Übergabe von Belgrad. Beim Abzug der osmanischen Truppen wurden 36 Überläufer ausgeliefert und »im Angesichte der ganzen Armee, jeder von seinem Regimente, aufgeknüpft«.10 Während der Belagerung der Festung Czettin (Cetin in Kroatien, nahe der heutigen bosnischen Grenze) geriet Löffler 1790 zusammen mit einigen Kameraden in osmanische Gefangenschaft, wurden aber – »Wir wissen, daß der Frieden nahe ist  !« – gut behandelt und nach vier Tagen ausgetauscht.11 Den Winter 1790/91 verbrachte die Truppe in Karlstadt, »theils in Kasernen, theils bei den Bürgern einquartirt«.12 Im Herbst 1791 marschierte das Regiment über Warasdin (Varaždin), Neusiedl und Bruck zurück nach Wien. Löffler selbst hatte zwei schwere Blessuren – einmal in der Brust und einmal im Fuß – und war »glücklich, eine türkische Kugel im Leibe, mit dem Leben davongekommen« zu sein. »Der Garnisonsdienst in der Kaiserstadt ging nun wieder seinen alten, gere-

 8 ÖStA KA  : ML K. 345  : Infanterie-Regiment Nr.  4, 1787. Er ist allerdings nicht in der Musterliste der Kompanie Lindenberg verzeichnet, sondern in jener der Kompanie des Zweiten Majors, Ludwig Baron Blavier  ; sein Alter ist mit 21 Jahren angegeben, also drei Jahre älter, als Löffler damals war – sofern das von ihm angegebene Geburtsdatum stimmt.  9 [R ieck (Hg.)], Der alte Sergeant, 33. 10 Ebd., 58. 11 Ebd., 69f. 12 Ebd., 71.

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gelten Gang.«13 Eine ältere Witwe machte ihm einen Heiratsantrag – er hatte schon zweimal einen solchen abgelehnt, diesmal aber nahm er nach längerer Überlegung an und lebte einige Monate mit seiner Geliebten zusammen. Aus der geplanten Heirat wurde aber nichts  ; kurz vor dem Hochzeitstermin zog das Regiment im Spätherbst 1792 in den Krieg gegen die Französische Revolution. Anfang 1793 erlebte Löffler die Belagerung von Mainz und die Operationen in Belgien und in Nordfrankreich, mit der Einnahme von Maubeuge und Le Quesnoy. Wegen des Verdachts, sich auf Vorposten mit feindlichen Spionen unterhalten zu haben, wurde Löffler schwer bestraft  : »Nur mein guter Ruf und die lange Dienstzeit wurden in Erwägung gebracht, sonst hätte ich wohl am Pfahle gehangen. Man verurtheilte mich also ungerechter Weise  : vierundzwanzig Stunden bei Wasser und Brot krumm geschlossen zu werden, d. h. ich wurde am Boden mit den Händen an die Füße angeschlossen und mußte in dieser entehrenden Stellung […] ausharren […]. Es war die erste Strafe, welche ich erlitt, und man kann sich leicht vorstellen, welche Wirkung sie auf mein bisher unverletztes Ehrgefühl machen mußte. – Der Soldat hängt, dem General wird’s geschenkt, das hab’ ich noch oft erfahren müssen.«14 Es kam aber noch schlimmer  : Gegen Jahresende 1793 zwangen ihn einige Kameraden, mit ihnen zu desertieren. Die Gruppe wurde erwischt und die beiden Rädelsführer zum Tod durch den Strang verurteilt, Löffler und zwei andere Unteroffiziere degradiert und zum Spießrutenlauf verurteilt – zehnmal musste er die von 300 Kameraden gebildete Gasse durchlaufen. Nach dem Spießrutenlauf war sein Rücken blutig, »geschwollen und wund gepeitscht«, »auch die Brust war arg zerschmitzt«. Aber  : »Die harte Strafe, unrechtmäßig erduldet, erhob mich gleichsam über andere Kameraden, und aus der Demüthigung entwickelte sich bald ein mächtigerer Antrieb zur Ehre.«15 Seinen Angaben nach war Löffler rasch zum Korporal und Feldwebel avanciert, verlor seine Charge wegen der versuchten Desertion, gewann sie danach aber zurück. In den vorhandenen Musterlisten und Standestabellen des Regiments Deutschmeister scheint er hingegen stets als Gemeiner auf – allerdings liegen nicht für alle Jahre Musterlisten auf. 1794 machte Löffler den verlustreichen Feldzug in Belgien mit. Nach anfänglichen Erfolgen allerdings wendete sich das Blatt  ; im Juni und Juli kapitulierten nacheinander Ypern, Charleroi, Mons, Gent und Brüssel  : »Wie unbeständig ist das Kriegsglück  !«16 Die Deutschmeister gehörten zur Besatzung der Festung Landrecy. Hunger und Seuchen grassierten  : »Wir sahen aus wie die Gespenster, voll Unrath, wollten unsere Leiber den schweren Dienst nicht mehr ertragen.« Nach sechswöchiger Belagerung 13 Ebd., 79. 14 Ebd., 96f. 15 Ebd., 107f. 16 Ebd., 114.

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mussten die Kaiserlichen kapitulieren.17 Dass Löffler mit dem Rest des Regiments bei der Übergabe der Festung Landrecy am 16. Juli in französische Kriegsgefangenschaft geriet, bestätigen die Standestabellen des Regiments für 1794.18 Die Gefangenen sollten in »die lausige Champagne« gebracht werden. Sie wurden von »Insurgenten«, mit Düngergabeln und Spießen bewaffnet, »dem Treiben einer Heerde Vieh sehr ähnlich«, von Landrecy über Reims nach Chalons (Châlonsen-Champagne) gebracht, eine Entfernung von gut 170 Kilometern. Von der Bevölkerung wurden sie misshandelt und als »sacre cochon de l’Allemagne  !« beschimpft, »die Monturen wurden uns fast vom Leibe gerissen«. Frauen leerten über den Marschierenden die Nachttöpfe aus, die Quartiere waren schmutzig, oft wurden sie in kalten Kirchen eingesperrt. Als Verpflegung gab es bestenfalls ¾ Pfund Brot. Ruhr, Hunger und Ungeziefer plagten die Gefangenen  ; viele erkrankten oder starben.19 Im Spätherbst 1794 landete Löffler mit einem Kameraden in der Commune Dalmage, wo ein jakobinischer Bürgermeister die örtlichen Bauern drangsalierte. Die beiden Gefangenen waren im verlassenen Pfarr- und Schulhaus einquartiert, mussten um Nahrung betteln, fingen Sperlinge, aßen auch Katzen, Kröten, Mäuse oder Frösche, um nicht zu verhungern. Nach dem Frieden von Basel, mit dem Preußen aus der Koalition gegen Frankreich ausschied (5. April 1795), sollten nicht nur preußische Soldaten, sondern »alle Prisonniers, die aus preußischen Landen gebürtig seien, zur Auswechselung« kommen  : Daher »wollten plötzlich so Viele für Preußen gelten«. In Châlons erhielt Löffler einen Pass mit festgelegter Marschroute und Etappen, wo ihm täglich ein Pfund Fleisch, 1 Quart (= 1,17 Liter) Bier, 1,5 Pfund Brot und 10 Sous gegeben werden sollten. Löffler war inzwischen 27 Jahre alt und wollte, bevor er nach Hause zurückkehrte, die Gelegenheit nützen, »die ausgezeichneten Tuchfabriken in den Niederlanden« kennenzulernen.20 Er wanderte im Sommer 1795 über Mons und Brüssel nach Antwerpen, wo er Fabriken besuchte. Statt in die Heimat zurückzukehren, überredeten ihn aber vier Deutsche, mit ihnen nach Rotterdam zu gehen – wo sie prompt auf die Versprechungen eines eleganten Mannes hereinfielen, der sie fürsorglich bewirtete, dann aber unter einem Vorwand auf eine niederländische Fregatte brachte und an den Kapitän verkaufte. Dieser erklärte ihnen  : »Ihr seid von nun an meine Gefangenen  ; jener Mann hat Euch so eben gegen Einlegung von fünf Hundert Gulden an die Staaten verkauft  ! […] Findet Euch als Männer in Euer Schicksal.«21 17 Ebd., 124. 18 ÖStA KA  : ML K. 370  : Infanterie-Regiment Nr.  4, Standestabellen 1794. 19 [R ieck (Hg.)], Der alte Sergeant, 126f. 20 Ebd., 156f. 21 Ebd., 179f.

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Löffler machte mehrere Küstenpatrouillen mit  ; im Jänner 1796 ging es mit anderen Schiffen zum Schutz der Walfänger nach Grönland. Wenig später verließ ein größerer Flottenverband Holland – ein Teil fuhr in die Karibik, neun Schiffe nach Südafrika. Der Befehlshaber der Flotte, Konteradmiral Engelbertus Lucas (1747– 1797), wollte zunächst Brasilien ansteuern, entschloss sich aber, direkt zum Kap der Guten Hoffnung zu segeln, das die Flotte Ende Juli erreichte. Da die Briten die bis dahin niederländische Kolonie am Kap 1795 eingenommen hatten, beschloss Lucas, in der Bucht von Saldanha, etwas nördlich von Kapstadt, einige Rasttage einzulegen. Nach der gut zweimonatigen Seefahrt war es notwendig, die Schiffe zu überholen und die zahlreichen Kranken zu versorgen. Nach wenigen Tagen aber, am 17. August, zwangen britische Schiffe, die von Kapstadt und Simonstown nach Saldanha gefahren waren, die Niederländer zur Übergabe. Löffler war erneut Gefangener. Die Briten behandelten ihre Gefangenen in Kapstadt zunächst gut, um sie zum Übertritt in britische Dienste zu veranlassen, doch änderte sich das rasch. Ende 1796 wurde Löffler mit anderen nach Portsmouth gebracht und im dortigen Kastell eingesperrt. Es war »so kalt wie das Herz meiner Wächter«. Schließlich überredete ihn ein französischer Emigranten-Offizier, doch in britische Dienste zu treten. Er wurde Sergeant in der »aus Mannschaften aller Nationen zusammengesetzte Legion Montalambert« und erhielt eine rote Uniform, »alles neu und schön«.22 Löffler gehörte damit zu jenen neugeworbenen Verstärkungen, die im Frühjahr 1797 nach Amerika eingeschifft wurden. Diese Légion de Montalembert (auch Chasseurs britanniques de Saint-Domingue) war vom französischen Obristen und dann britischen Generalmajor Jean-Charles, Baron de Montalembert de Cers (1757–1810), 1794 für die Kämpfe in der Karibik aufgestellt worden.23 Löffler und seine Kameraden kamen Mitte 1797 nach Kingston auf Jamaika – »wohl immer mit Recht die köstlichste Besitzung der Engländer in Westindien«.24 Die Rekruten der Legion Montalembert wurden in das britische 60. Infanterie-Regiment eingeteilt – Löffler kam, seinen eigenen Angaben nach, zum IV. Bataillon. Dieses Regiment war zu Beginn des Siebenjährigen Krieges 1756 als Royal American Regiment in Nordamerika aufgestellt worden. Es bestand zu einem erheblichen Maße aus Deutschen und anderen Ausländern und war bis zum Ende der Napoleonischen Kriege so etwas wie eine britische Fremdenlegion, mit bis zu acht Bataillo22 Ebd., 263–267. 23 Vgl. dazu R ené Ch a rtr a nd, Légion Britannique de Sainte Domingue (Haiti) 1795–1797 (Company of Military Historians, Plate 843 = Volume 59/4), 304. Dies ist der Text zu einer Illustration von Cecil C.P. Lawson in der Anne S.K. Brown Military Collection in der Brown University, Providence, R.I.)  ; sowie http://lasabretache.fr/produit/legion-de-montalembert-chasseurs-britanniques-de-saintdomingue-1794-1798/ [3.11.2021]. Für ergänzende Informationen danke ich Dr. René Chartrand. 24 [R ieck (Hg.)], Der alte Sergeant, 278.

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nen, die auf den verschiedensten Kriegsschauplätzen eingesetzt waren. Aus dem 60. Regiment wurde später das King’s Royal Rifle Corps.25 Die Kämpfe in der Karibik waren seit 1793 einer der »Nebenkriegsschauplätze« der Napoleonischen Kriege, forderten aber Zigtausende Opfer. Britische, französische, spanische und andere Soldaten starben in den Kämpfen, erlagen dem Gelben Fieber und anderen Krankheiten. Strategisch ging es um die Absicherung der Handelsrouten und Stützpunkte auf den »Zuckerinseln« und damit um die britische Position im überseeischen Handel. Die folgenden Jahre verbrachte Löffler in Jamaika, das ihm bald »wie das zweite Vaterland« erschien. Er wurde Drill-Sergeant und lernte Englisch  ; der BataillonsAdjutant, Lieutenant John Heslop, »ein alter, wackerer Mann«, gab ihm dazu ein Wörterbuch. Seinen eigenen Angaben zufolge genoss Löffler dank seiner Erfahrungen aus der kaiserlichen Armee hohes Ansehen.26 1798 gehörte Löfflers Bataillon zur Expeditionstruppe ins Mittelmeer, wurde aber in Ägypten nicht an Land gebracht. Später kam er ins I. Bataillon, wo er in der Grenadier-Kompanie diente und als Fahnen-Sergeant im vorderen Glied eingeteilt war – britische Regimenter hatten neben den vier Füsilier-Kompanien jeweils eine Grenadier- und eine leichte (= Jäger-) Kompanie, die als Elitetruppen galten. Löffler nannte in seinen Erinnerungen mehrere Offiziere, die sich anhand der Regimentslisten identifizieren lassen, darunter William Marlton, der 1795 als Lieutenant zum Regiment kam und es bis zum Oberstleutnant im I. Bataillon brachte.27 Wegen starker Schmerzen von seinen Kriegsverletzungen wurde Löffler als Halb­ invalide beurlaubt. Er wurde Buchhalter bei verschiedenen Pflanzern in unterschiedlichen Teilen der Insel, später Exerziermeister der Stadtmiliz von Kingston. Zudem begann er um 1804 eine Beziehung zu »Friendship«, einer schwarzen Sklavin, die von der Goldküste, dem heutigen Ghana, verschleppt worden war und einem reichen Juden gehörte.28 Es war »eine schwierige Liebschaft«, zumal sie kaum eine gemeinsame Sprache sprachen  ; außerdem war das Mädchen nicht getauft, was Löffler in arge Gewissensnöte stürzte. Er wollte sie freikaufen und dafür Geld leihen  ; ihr Besitzer überließ sie schließlich Löffler gegen die Zahlung von drei Spanischen Talern pro Monat. Ein portugiesischer Priester taufte sie, und damit stand der Hochzeit mit 25 Nesbit Willoughby Wa ll ace, Regimental Chronicle and List of Officers of the 60th or the King’s Royal Rifle Corps, formerly the 62nd or the Royal American Regiment of Foot, London 1879, 1f, 46–49. Eine Überprüfung der Angaben Löfflers anhand der Akten im National Archives in Kew war dem Autor wegen der Corona-Einschränkungen noch nicht möglich. Das IV. Bataillon wurde 1797 von den Kanalinseln, wohin es 1796 verlegt worden war, zurück in die Karibik verlegt – das würde zu der von Löffler angegebenen Datierung passen. 26 [R ieck (Hg.)], Der alte Sergeant, 293, 276. 27 Vgl. neben der Regimentsgeschichte den New Jamaica Almanach and Register for the Year of the Lord 1806, Kingston [1806], 160. 28 Löfflers Text ist nicht frei von antijüdischen Formulierungen.

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»Nancy« Ende 1804 nichts mehr im Wege.29 Löffler baute ein eigenes Haus und in den folgenden Jahren kamen die Kinder Jonny und Elena zur Welt. Nach seinen Erzählungen wurde Löffler 1808 wieder einberufen  : Das I. Bataillon wurde nach England verschifft, um neue Rekruten nach Jamaika zu bringen. Für Löffler war es eine »bittre Trennungsstunde«. Er war nicht allein  : »Mancher mußte sein schwarzes Liebchen zurücklassend fortziehen, und sah es nicht wieder.« Doch blieb ihm die »Hoffnung auf baldige Rückkehr«  ; das Bataillon sollte ja nach Jamaika zurückkehren.30 Daraus aber wurde nichts  : In Portsmouth angekommen, erhielten die Mannschaften neue Uniformen und segelten weiter nach Südafrika. Das Kap der Guten Hoffnung war nach dem Frieden von Amiens 1802 wieder niederländisch geworden  ; 1806 aber besetzten es die Briten erneut. Hier ist eine Diskrepanz zwischen den von Löffler genannten Daten und der Regimentsgeschichte anzumerken  : Löffler nannte 1808. Tatsächlich wurde das I. Bataillon aber erst Ende April 1810 nach England verlegt, nachdem es alle »efficient men« an andere Bataillone abgegeben hatte. Mit Kriegsgefangenen aufgefüllt, wurde das Bataillon ein Jahr später, im Sommer 1811, in die Kapkolonie verlegt.31 Eine Erklärung mag in der Entstehungsgeschichte der Memoiren liegen  : Löffler verfasste diese ja nicht selbst, sondern sein Schüler Rieck brachte sie nach seinen Erzählungen zu Papier, wodurch sich leicht falsche Jahreszahlen ergeben konnten. Die Lage im Osten der Kapkolonie war in den Jahren davor durch das Vordringen weißer Siedler von Westen und von Xhosas aus dem Norden eskaliert  ; 1811 wurde eine gemischte Truppe unter Oberst John Graham (1778–1821) an die Grenze verlegt, um die Xhosa zurückzudrängen (Vierter Xhosa-Krieg). Zur Verstärkung marschierten Anfang am 8. Jänner 1812 weitere 200 Mann von Kapstadt nach Osten.32 Darunter war Löfflers Grenadier-Kompanie. Der zeitweise beschwerliche Marsch führte über Caledon und Swellendam zur Mossel Bai, also durch jenes Gebiet, das heutigen Touristen als Garden Route bekannt ist. Über den Gamtoos-Fluss ging es zur erst 1804 gegründeten Hauptstation Uitenhage (Löffler schrieb phonetisch Eitenhagen  ; heute Kariega), nahe der Grenze zum Gebiet der Xhosas. Dort organisierte der Landdrost (etwa  : Distrikts- oder Bezirkshauptmann) »die zweckmäßige Vertheilung der Detachements zum Schutze 29 Diese Angaben ließen sich bisher trotz der Bemühungen des Staatsarchivs von Jamaica nicht verifizieren. 30 [R ieck (Hg.)], Der alte Sergeant, 363f. 31 Lewis Bu tler, The Annals of the King’s Royal Rifle Corps, Vol. I  : The Royal Americans, London 1913  ; repr. o. J., 282f  ; Wa ll ace, Regimental Chronicle, 24, 50f. 32 Report of the Commission of Circuit for the year 1813, To His Excellency Sir John Francis Cradock, Knight &c., in  : George McCall Theal (Hg.), Records of the Cape Colony from April 1814 to December 1815, Vol. X, London 1902, 61–100.

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der Kolonisten gegen die räuberischen Kaffern«.33 Die Truppe wurde auf mehrere Stützpunkte verteilt. Die einzelnen Pikets (Posten) waren rund zehn Mann stark  ; mit Entfernungen von 20 Meilen und mehr zwischen den Stützpunkten. Löfflers Detachement wurde auf einer kapholländischen Farm in Sandflad einquartiert – er schrieb von einem großen Meierhof mit Nebengebäuden.34 Später kam Löffler auf einen anderen Stützpunkt, etwas weiter von der Grenze entfernt. Bei einem Zusammenstoß mit Xhosa wurde er erneut verletzt. Erst 1815 traf eine Ablöse im östlichen Kapland ein  : »Ein Freudentaumel ergriff uns, Jeder beeilte sich mit den Vorkehrungen, die Einöde zu verlassen.« Löffler kehrte nach Kapstadt und wenig später nach Portsmouth zurück – nur um zu der Eskorte eingeteilt zu werden, die Napoleon Bonaparte in sein Exil nach St. Helena begleitete. Von dort ging es wieder zurück nach Kapstadt, wo Löffler als »Pay-Sergeant« (Zahlmeister) fungierte. Wie der neue Gouverneur, Lord Charles Henry Somerset (1767–1831), im September 1816 an den Kriegs- und Kolonialminister Henry, 3rd Earl Bathurst (1762– 1834), schrieb, waren die Angehörigen des 60. Regiments »all foreigners« und überdies »restless in their characters, anxious to return to their own countries.« Die Dienstverpflichtungen der meisten Soldaten liefen bald aus.35 Löffler gehörte offenbar zu jenen Mannschaften, die 1817 nach England zurückkehrten. Von Portsmouth ging es über London nach Hannover, das »von heimgekehrten Kriegsleuten schon sehr überfüllt« war. Im Frühjahr 1819 wurde der 51-jährige Sergeant Löffler aus britischen Diensten entlassen. Als Abfindung erhielt er 208 Taler und hatte, als er seine Quartierschulden beglichen und sich »neue bürgerliche Kleidung« besorgt hatte, »noch 16 bis 17 Goldstücke übrig«.36 Eigentlich wollte er nur kurz nach Schweidnitz, um zu seiner Familie nach Jamaika zu reisen. In Leipzig allerdings wurde ihm sein Geld gestohlen, und so kam er verarmt in seiner Geburtsstadt an. In Gräditz (Grodziszcze) fand er einen Bruder, der 33 [R ieck (Hg.)], Der alte Sergeant, 395. Wegen der besonderen Lage an der gefährlichen »Kafferngrenze« war der Landdrost für Uitenhage immer ein Offizier, damals Major – später Oberstleutnant – J. Cuyler (vgl. The African Court Calendar for 1815, Cape Town 1815  ; Reprint  : Cape Almanac Series 14, Cape Town 1983, 50 – Im Internet abrufbar unter https://babel.hathitrust.org/cgi/pt  ?id=uc1. b3879338&view=1up&seq=1 [10.4.2020]. 34 Damit war wohl die Farm Sandfontein gemeint, auf dem Weg von Uitenhage zum Koega River. Für diesen Hinweis danke ich Prof. Dr. Johan de Villiers. Vgl. dazu auch J. de Villiers, Perspective on John Graham and the Fourth Cape Eastern Frontier War, 1811–1812, in  : New Contree, No. 68 (December 2013), 29–50  ; und J. S. Bergh – J. C. Visagie, The Eastern Cape Frontier Zone, 1660–1980, Durban 1985. 35 Cape of Good Hope, 19.9.1816, in  : African Court Calender and Directory, Vol 11, Cape Town 1816, 186 (online einzusehen über Google Books). Die Reste des I. Bataillons kehrten 1819 nach England zurück und wurden in das II. Bataillon integriert, das I. Bataillon aufgelöst. 36 [R ieck (Hg.)], Der alte Sergeant, 448.

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noch lebte  : »Zwei leibliche Brüder standen sich gegenüber, welche der Sturm der Zeit als Knaben getrennt, und wie durch ein blindes Ohngefähr als gealterte Männer wieder zusammenwarf.«37 Allerdings hatte Löfflers Gesundheit durch die Jahre des anstrengenden Dienstes mit mehreren Verwundungen und einem doppelten Bruch gelitten  ; dazu kamen schwere Schmerzen im Unterleib. Daher untersagte ihm die Behörde die Reise nach Jamaika wegen seines Alters und seiner Gesundheit. Stattdessen unternahm er eine »Erinnerungs-Reise«, wanderte über Wien, Linz und Salzburg nach Tirol und weiter über Kärnten und Triest nach Kroatien – allzu schlecht dürfte es um seine Gesundheit doch nicht bestellt gewesen sein. Im Herbst 1821 kehrte er nach Schweidnitz zurück.38 Er arbeitete beim Straßenbau und erhielt schließlich »ein Plätzchen in dem Bürger-Armenhause (einem ehemaligen Klostergebäude)«. Ein bescheidenes Einkommen verschaffte er sich, indem er Englischunterricht erteilte. Es ist derzeit nicht bekannt, wann er starb und wo er begraben wurde.39

3. Die Aufzeichnungen Löfflers Erzählungen enthalten neben der Schilderung seiner Erlebnisse teils lange und ausführliche Beschreibungen der Landschaften, in denen er diente. Bemerkenswert scheint, dass er aus der Zeit auf Jamaika keinerlei militärische Operationen erwähnte – obwohl sowohl das I. wie das IV. Bataillon immer wieder in den Kämpfen in der Karibik zum Einsatz kamen. Ausführlicher schilderte Löffler hingegen die Operationen im Türkenkrieg von 1788 bis 1791 und in den folgenden Kriegen gegen die Französische Revolution. Dabei vergaß er nicht, die Leiden der Zivilbevölkerung zu erwähnen, wie etwa im Zusammenhang mit der Belagerung von Maubeuge 1793  : »Um sie [= die Einnahme der Festung] jedoch möglichst zu beschleunigen, sahen wir uns genöthigt, die umliegenden Dörfer zum Theil anzuzünden, wobei das heftige Bombardement hinein und heraus fast eben so viel Ursache hergab, da die Brandkugeln aus den Geschützen es mit ihrem Ziele nicht so genau halten. Natürlich war, daß dadurch viel Jammer und Elend unter dem armen Landvolke entstand  ; doch der Soldat darf das Herz nicht in der Hand haben.«40

37 Ebd., 455. 38 Ebd., 473. 39 Erste Anfragen an polnische Archive und die polnische Botschaft in Wien erbrachten bisher keine Ergebnisse. 40 [R ieck (Hg.)], Der alte Sergeant, 93.

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So sehr er die Ausschreitungen der Jakobiner gegen die französische Bevölkerung kritisierte, so sehr lobte er den »ausharrenden Muthe der Republikaner« und »die kühnen Operationen eines freien Volkes« und prangerte die »Kabalen und Intriguen« an, die die Kampfkraft der Kaiserlichen lähmten.41 Ob dieses seine damaligen Empfindungen oder jene vier Jahrzehnte später wiedergab, muss dahingestellt bleiben.

4. Die drei Neuauflagen Löfflers Werk erlebte insgesamt drei Neuauflagen. 1937 erschien das Buch in einer überarbeiteten und gekürzten Version unter dem bezeichnenden Titel »Ein Deutscher hilft die Welt erobern«.42 Herausgeber war der Verleger Otto Dikreiter (1899–1990)  ; das Geleitwort verfasste kein geringerer als Generalmajor a. D. Prof. Dr. Karl Haushofer (1869–1946), Mitbegründer der Geopolitik. Er nannte Löffler als »Beispiel, wie in der Zeit einer großen Neuverteilung der Erde Deutsches Blut und Deutscher Schweiß überall das Grundgemäuer neuer Herrschaftspracht über weite Räume verkittet, wie mit redlichstem Gefühl die beste Lebensweise in fremde Rassen mit Teufelsdank verschäumt, und zuletzt für ein Lebensopfer nicht das stolze Erinnern erworben wird, ein Baustein für die eigene Volkheit gewesen zu sein, sondern nur das seltsame Traumbild der außerordentlichen Erlebnisse und Schicksale eines Abenteurerlebens für fremde Weltgeltung«. Die Beziehung zu Friendship/ Nancy in Jamaika erschien Hausdorfer unverzeihlich  : »Nur als er sich in fremde Rasse hinein wegwarf, da verließ ihn die Instinkt-Sicherheit und er kam ins Treiben, wie ein Stück Trift im kosmopolitischen Wellengang einer Zeit, die nur Schichten und Teilen, nicht dem ganzen deutschen Volksboden den festen Halt gab, den wir heute im endlich gefundenen Einklang der Volksgemeinschaft besitzen, für Alle, für Groß und Klein  !« Aber  : »Eine unzerstörbare Rassenmitgift und sein deutscher Seelenwert hat [sic  !] den tapfern Schlesier innerlich heil durch ein wildbewegtes Abenteurerleben dennoch zurück in Heimat und Vaterland geführt.«43 Dikreiter korrigierte Schreibweisen (etwa »Koburg« zu »Coburg«) sowie Daten und eliminierte alle »nicht-deutschen« Elemente. Löffler erwähnte etwa seinen Oberleutnant, Karl Chevalier Dumont, »von Geburt ein Franzose« (Dumont stammte aus Mons im heute belgischen Hennegau).44 In der Fassung von 1937 wurde

41 Ebd., 115, 117. 42 Serge a nt Löffler, Ein Deutscher hilft die Welt erobern, 1787–1819  : Schicksale & Abenteuer des in österreichischen, holländischen und englischen Kriegsdiensten auf drei Erdteilen. Neu herausgegeben und bearbeitet von Otto Dikreiter (Lutz’ Memoiren-Bibliothek 7. Reihe, 8. Band), Stuttgart 1937. 43 Ebd., 7–9. 44 [R ieck (Hg.)], Der alte Sergeant, 40.

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daraus ein namenloser Oberleutnant. Ebenso fehlt in der Ausgabe von 1937 Löfflers positive Sicht der Franzosen als »eines freien Volkes«.45 Einen Weltkrieg später, 1950, erschien das Buch erneut, bearbeitet von Jakob Schönholzer. In seinem Vorwort erklärte dieser  : »Der Stoff mußte zum Teil neu geordnet und Unwesentliches und Belangloses ausgeschieden werden, um die Darstellung für heutige Ansprüche lesbar und fesselnd zu gestalten.«46 Der Text endet auf Seite 318 mit dem Wiedersehen Löfflers mit seinem Bruder – die letzten 30 Seiten, die in der Ausgabe von 1937 wenigstens kurz zusammengefasst waren, fehlen ganz. Kürzungen und Umformulierungen nahmen den Ausgaben von 1937 und 1950 einiges vom Charme des Originals. 1971 erschien Löfflers Text in einer vierten Version, als schmales Taschenbuch in der Serie »Abenteuerliche Lebensläufe«. Ulrich Bertram Staudenmayer, der auch andere Texte neu edierte, schrieb von »einer Kürzung und gelegentlichen Straffung der Erzählung« – die aber recht radikal ausfiel  :47 Der Text des Taschenbuchs umfasst 110 Seiten – das Original fast 500  ! Mag das mit Rücksicht auf den modernen Leser erklärbar sein, so zeugen einige der zur Überbrückung der Kürzungen eingefügten Zwischentexte von wenig Fachwissen. Das Vorwort von Dr. Helmut Christmann atmet deutlich den militärfeindlichen und moralisierenden Geist der 1968er, spricht von Löfflers »einfache[m] Gemüt« und prangert sein »letztlich verpfuschtes – Leben« an. Löffler erscheint als abschreckendes Beispiel für »eine grausame Soldateska«.48 Besonders unschön an der Ausgabe von 1971 ist, dass sie den Text inhaltlich verfälscht. So folgt die Episode um das Abschneiden der Zöpfe um 1805 zunächst recht korrekt dem Original  : Es erging der »Befehl an alle Besatzungen in den Kolonien, daß sich Offiziere und Mannschaften die Zöpfe abschneiden sollten. Allgemeines Murren unter der Truppe war die Folge dieses Befehls. Überall fanden sich Widerspenstige. […] Der Zopf galt als die größte Zier, besonders dann, wenn er, wie bei mir, aus eigenen Haaren geflochten war.« Schließlich wurden die »hartnäckigsten Verehrer« ihrer Zöpfe ausgepeitscht. Soweit stimmt die Version von 1971 inhaltlich mit dem Original überein. Dort aber folgte auf diese Episode eine Passage, die der Bearbeiter von 1971 wohl mit Absicht unterschlug  : Als sich viele Soldaten weiter weigerten, erschien Oberstleutnant Robert Lethbridge (Löffler schrieb Lodbridge) 45 Ebd., 117f. 46 Der alte Sergeant  : Merkwürdige Begebenheiten und Abenteuer aus dem Leben von Johann Friedrich Löffler, von ihm selbst erzählt. Neu bearbeitet und herausgegeben von Jakob Schönholzer, Affoltern am Albis [1950], 7. 47 Joh a n n Friedrich Löffler, Abenteuer in drei Erdteilen  : »Der alte Sergeant  : Leben des Schlesiers Johann Friedrich Löffler«, bearbeitet von Ulrich Bertram Staudenmayer (Abenteuerliche Lebensläufe Bd. 8), Heidenheim 1971, 14. 48 Ebd., 9f.

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persönlich im Schlafrock vor der versammelten Mannschaft, begleitet von seinem Friseur, und ließ sich den Zopf abschneiden. Dieses psychologische Vorgehen wirkte besser als die Zwangsmaßnahmen, passte aber offenbar nicht zur negativen Militärsicht Staudenmayers und wurde daher aus der Fassung von 1971 gestrichen.49 Insgesamt ist die Geschichte der Änderungen in späteren Auflagen durchaus von Interesse. So angenehm lesbar auch die verkürzte Taschenbuch-Ausgabe von 1971 ist – den Charme des Originals erreicht sie in keiner Weise, und das ist schade. Gelegentlich taucht Löffler in der Literatur als Beispiel für abenteuerliche Geschichten auf. So widmete ihm der Autor Dr. Frank Westenfelder (geb. 1953) eine kurze (in Details ungenaue) Biographie auf der Website »Kriegsreisende – die Sozialgeschichte der Söldner«.50 Als Quelle für ein Soldatenleben im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert sind Löfflers Erinnerungen – unbeschadet all der hier aufgezeigten Caveats – jedenfalls eine bemerkenswerte Fundgrube.

49 [R ieck (Hg.)], Der alte Sergeant, 303f  ; Version 1971  : 79f. Der Befehl, die Zöpfe abzuschneiden, erging mit General Order vom 20. Juli 1808. Die Reaktionen waren unterschiedlich. Vgl. dazu Ben Tow nsend, Fashioning Regulation, Regulating Fashion  : The Uniforms and Dress of the British Army 1800–1815, Vol. 1 (From Reason to Revolution 28), Warwick 2018, 242–246. 50 http://www.kriegsreisende.de/absolutismus/loeffler.htm [23.11.2021].

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Alfred T. Mahan und die Englisch-Niederländischen Seekriege Das 19. Jahrhundert war ein britisches Jahrhundert. Um 1900 umfasste das britische Empire in etwa ein Viertel des Planeten, gut ein Fünftel der Weltbevölkerung lebte in diesem Empire.1 Englisch wurde zur Weltsprache. Und auch Großbritannien selbst, seit der Industriellen Revolution mit England die Industriemacht schlechthin, veränderte sich mit dem globalen Reich, das im postkolonialen Diskurs freilich äußerst ambivalent beurteilt wurde.2 Das Königreich wurde kosmopolitisch. Was aber waren die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, um dieses Reich, bestehend aus »Siedlungs- und Beherrschungskolonien, Protektorate[n], sowie eine[m] Verbund von de facto nahezu souveränen Staaten«3 mit dem »Kronjuwel« Indien, über das Queen Victoria seit 1877 als »Empress of India« herrschte, aufbauen zu können  ? Die Antwort darauf ist freilich komplex und wäre nur unter der Berücksichtigung geopolitischer, innenpolitischer, ökonomischer, fiskalischer, religiöser, kultureller, gesellschaftlicher, infrastruktureller, geographischer, technischer und weiterer Aspekte so umfassend wie überzeugend zu erklären. Ein wichtiger Aspekt, der zur Entwicklung und Etablierung dieses »Seaborne Empire«, wie es der britische Historiker Jeremy Black in einer gehaltvollen Studie genannt hat,4 beiträgt, ist der militärische Aspekt. Als militärhistorischer Ausgangspunkt und Initialzündung für die Bildung der englischen Seemacht gelten in der Literatur die Englisch-Niederländischen Seekriege. So beginnt auch der US-Seekriegsstratege und Marinehistoriker Alfred T. Mahan sein bekanntestes Werk »The Influence of Sea Power Upon History, 1660–1783«5 in der 1 Dazu vgl. Peter Wende, Das britische Empire, in  : Michael Gehler – Robert Rollinger (Hg.), Imperien und Reiche in der Weltgeschichte. Epochenübergreifende und globalhistorische Vergleiche. Teil 2  : Neuzeitliche Imperien, zeitgeschichtliche Imperien, Imperien in Theorie, Geist, Wissenschaft, Recht, Architektur, Wahrnehmung und Vermittlung, Wiesbaden 2014, 1101–1118, hier 1102, ausführlich Ders., Das britische Empire. Geschichte eines Weltreichs, München 2008. 2 Vgl. dazu die Ausführungen von Ashley Jackson, Das Britische Empire (= Reclams Universal-Bibliothek, 19247), Stuttgart 2015, 11–26. 3 Wende, Britische Empire, 1102. 4 Jeremy Bl ack, The British Seaborne Empire, New Haven–London 2004. 5 A lfred T. M a h a n, The Influence of Sea Power upon History, 1660–1783, Boston 1890, hier verwendet Boston 12. Aufl. 1947 und die deutsche Übersetzung A lfred T. M a h a n, Der Einfluß der Seemacht auf die Geschichte 1660–1812. Überarbeitet und herausgegeben von Gustav-Adolf Wolter, Herford 1967, die deutsche Übersetzung fasst zwei Werke Mahans zusammen und ist gegenüber der englischen Ausgabe in verschiedenen Teilen stark verkürzt.

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historischen Retrospektive mit dem zweiten Englisch-Niederländischen Seekrieg. Hier soll kurz auf seine Theorien und den Ausgangspunkt des Britischen Empires eingegangen werden.

1. Alfred T. Mahan: Biographische Daten und sein Werk Alfred Thayer Mahan wurde am 27. September 1840 in West Point, New York, geboren.6 Sein Vater, Dennis Hart Mahan, lehrte an der dortigen, 1802 gegründeten Militärakademie als Professor zivile und militärische Ingenieurswissenschaft. So verbrachte der junge Alfred seine frühen Jahre in West Point, bis er 1852 auf ein Internat geschickt wurde. Zwei Jahre später trat er in das Columbia College in New York City ein. Mit Hilfe von Jefferson Davis, dem späteren Präsidenten der Konföderierten Staaten von Amerika, erhielt er einen Lehrplatz an der Marineakademie. Während des Bürgerkriegs versah er auf mehreren Schiffen Kriegsdienst, war als Ausbilder an der Naval Academy Newport, Rhode Island (während des Krieges verlegte die US-Navy die Akademie von Annapolis nach Rhode Island), tätig und wurde 1865 in den Rang eines Lieutenant Commanders befördert. Nach dem Bürgerkrieg war der Marineexperte bei Missionen in Asien unterwegs, die ihn auch nach Japan führten, einem Land, das sich erst allmählich zu öffnen begann. Nach Asien besuchte er Europa. Noch bevor Mahan also seine Theorien zu Papier brachte, konnte er viel an Erfahrung sammeln. Im Dezember 1872 übernahm er sein erstes Kommando auf der USS Wasp, die im Verband des US Südatlantik-Geschwaders operierte. An der Akademie gewann er 1878 den dritten Preis im Wettbewerb des Marineinstituts für den besten Aufsatz über »Naval Education for Officers and Men« – sein erster Artikel, der publiziert wurde. Im Oktober 1885 wurde er als Dozent für Taktik und Geschichte der Marine am kürzlich gegründeten Naval War College (NWC) eingesetzt, und bereits 1886 wurde er zum Präsidenten des NWC ernannt. Das NWC verfolgt heute noch den Zweck, Strategien und Konzepte der Seekriegsführung wissenschaftlich zu erarbeiten und Offiziere der US Navy auszubilden.7 Als Dozent und Präsident des Naval War College fing seine wissenschaftlich äußerst produktive Zeit an. Seine Monographien entstammten zu einem großen Teil den Vorlesungen am College. So ver6 Zum Leben Mahans vgl. die ausführliche ältere Standardbiographie von Robert Se ager, Alfred Thayer Mahan. The Man and his letters, Annopolis 1977  ; ein kurzer biographischer Abriss bei Dietm a r Schössler, Clausewitz – Engels – Mahan  : Grundriss einer Ideengeschichte militärischen Denkens (= Politik Forschungen und Wissenschaft, 27), Münster 2009, 487–490  ; zu Leben und Werk Philip A. Crowl, Alfred Thayer Mahan. The naval historian, in  : Peter Paret (Hg.), Makers of Modern Strategy  : From Machiavelli to the Nuclear Age, Princeton 1986, 444–477. 7 Siehe dazu  : https://www.usnwc.edu/ [12.08.2021].

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öffentlichte er im Jahr 1890 seine Studie über die Seekriegsführung, genannt »The Influence of Sea Power Upon History, 1660-1783«,8 das erste von zwanzig Büchern und über zwanzig Aufsätzen zu diesem Thema.9 Eine zwei Jahre später erschienene Monographie beschäftigte sich mit der Seekriegsführung im Zeitalter der Französischen Revolution. Diese verstand sich als Nachfolgewerk der ersten umfassenden Seekriegsstudie.10 Ein drittes Werk zur Seekriegsgeschichte und Seekriegsführung rundete diese Trilogie der Seemacht von den Englisch-Niederländischen Seekriegen bis zur Zeit Napoleons ab.11 Insgesamt schrieb Mahan über 160 Aufsätze bzw. Artikel zu verschiedenen Themen sowie auch zahlreiche Zeitungsartikel.12 Der streng religiöse Offizier (er gehörte der Episkopalkirche der Vereinigten Staaten an) schrieb auch ein theologisches Werk, das zur Erbauungsliteratur zu zählen ist.13 Es waren aber gerade seine Studien zur Seekriegsführung und zur weltgeschichtlichen Bedeutung der Seemacht, die Marineoffiziere sowie Politiker rund um den Globus ebenso begeisterten wie den deutschen Kaiser Wilhelm II. Mit Theodore Roosevelt war Mahan bereits vor dessen Präsidentschaft bekannt. Zwei weitere größere Werke beschäftigten sich mit Admirälen, Horatio Nelson, dem britischen Seehelden, und David Glasgow Farragut,14 der im Amerikanischen Bürgerkrieg mit einer Flotte den strategisch äußerst wichtigen Mississippi für die Nordstaaten geöffnet hatte. Sein Werk zu Nelson, das man auch als viertes Buch seiner Seekriegsstudien lesen kann,15 stellte vor allem den wichtigen menschlichen Faktor im Kriegsgeschehen heraus – Nelson als entscheidende und prägende Figur in den Napoleonischen Kriegen. Nelson und Trafalgar standen freilich auch für Mahans Idealtypus der Entscheidungsschlacht, der er große Bedeutung in der Seekriegsführung beimaß.16 1893 erhielt der erfolgreiche Schriftsteller und reaktivierte Kapitän noch einmal ein Kommando über ein Flaggschiff eines Geschwaders, das für diplomatische Zwe 8 A lfred T. M a h a n, The Influence of Sea Power upon History, 1660–1783, Boston 1890, hier verwendet 12. Auflage Boston 1947.  9 Eine Auswahl seiner Werke und auch eine ausführliche biographische Skizze auf  : https://www.history. navy.mil/research/library/research-guides/z-files/zb-files/zb-files-m/mahan-alfred.html [25.08.2021]. 10 A lfred T. M a h a n, The Influence of Sea Power upon the French Revolution and Empire, 1793–1812, Boston 1892. 11 A lfred T. M a h a n, Sea Power in It’s Relations to the War of 1812, Boston 1905. 12 Ba rry M. Gough, The Influence of History on Mahan, in  : John B. Hattendorf (Hg.), The Influence of History on Mahan, Newport/Rhode Island 1991, 7–23, hier 8. 13 A lfred T. M a h a n, The Harvest Within  : Thoughts on the Life of a Christian, Bosten 1909. 14 A lfred T. M a h a n, Admiral Farragut, New York 1897 und The Life of Nelson  : The Embodiment of the Sea Power of Great Britain, 2 Bände, Bosten 1897. 15 So Jon Sumida, Alfred Thayer Mahan, geopolitician, in, The Journal of Strategic Studies, 22  :2-3, 1999, 39–62, hier 51. 16 Vgl. dazu auch die relativierten Bemerkungen von Be atrice Heuser, Den Krieg denken. Die Entwicklung der Strategie seit der Antike, Paderborn–München–Wien–Zürich 2010, 246f.

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cke nach Europa entsandt wurde. Während seines Aufenthalts in Großbritannien, das für den Seekriegstheoretiker freilich das Paradesujet schlechthin war, wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universitäten Oxford und Cambridge verliehen. Weitere hohe Auszeichnungen in Großbritannien und in den USA folgten. Auf eigenen Wunsch wurde er am 17. November 1896, nach vierzig Jahren aktiven Dienst, in den Ruhestand versetzt, um sich ganz dem Schreiben über Marinethemen widmen zu können. Zu Beginn des Spanisch-Amerikanischen Krieges kehrte er wieder in den aktiven Dienst zurück und wurde 1898 zum Mitglied des Naval Board of Strategy ernannt. 1899 nahm er als einer der amerikanischen Delegierten an der ersten Friedenskonferenz in Den Haag teil. Auch in den folgenden Jahren wurde der zum Konteradmiral beförderte Mahan immer wieder als Mitglied verschiedener Ausschüsse und Kommissionen in den aktiven Dienst zurückgerufen. Alfred T. Mahan starb am 1. Dezember 1914 in Washington, DC.

2. Kein »Clausewitz of the sea« »Clausewitz of the sea« ist im deutschen Wikipedia-Eintrag zu seiner Person zu lesen. Diese Zuschreibung ist unzutreffend. Denn Alfred T. Mahan orientierte sich viel mehr an den militärtheoretischen Gedanken des Schweizer Antoine-Henri Jominis als am Werk des deutschen Militärphilosophen Carl von Clausewitz.17 Wichtige strategisch-taktische Prinzipien wie die Konzentration militärischer Kräfte, die Bedeutung der inneren Linie sowie Logistik und Kampfverfahren machte sich auch Mahan zu eigen.18 Sein Buch aus dem Jahre 1890 wurde als »one of the most influential American books of the 19th century« bezeichnet.19 Der Historiker Charles Webster trug gar öffentlich vor, dass die navalistischen Theorien Mahans einer der Gründe für den Ersten Weltkrieg gewesen wären.20 Und in der Tat, wenngleich Websters Behauptungen natürlich schwer übertrieben waren, beeinflusste der amerikanische Navalist maßgebliche Staatslenker und Flottenverantwortliche. Wie auch Kaiser Wilhelm II. gab Alfred von Tirpitz, Großadmiral und Staatssekretär des Reichsmarineamts, eine Übersetzung von »The Influence of Sea Power Upon History, 1660–1783« für deutsche Marineoffiziere in Auftrag, um hier nur zwei äußerst prominente Bewunderer des US-Seestrategen zu nennen.21 Mahans Werke wurden 17 Dazu Schössler, Clausewitz – Engels – Mahan, 495–501. 18 Crowl, Alfred Thayer Mahan, 457. 19 Rona ld J. Kurth, Opening Remarks, in  : John B. Hattendorf (Hg.), The Influence of History on Mahan, Newport/Rhode Island 1991, 3–5, hier 3. 20 Gough, The Influence of History on Mahan, 8. 21 Holger H. Herwig, The Influence of A. T. Mahan upon German Sea Power, in  : Hattendorf, The Influence of History on Mahan, 67–80, hier 67f.

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jedoch nicht nur ins Deutsche übersetzt, auch ins Chinesische, Niederländische, Französische, Italienische, Japanische und in einige andere Sprachen mehr. Was aber war so faszinierend an seinen Gedanken  ? »The definite object«, schrieb Mahan in seinem Vorwort zu »The Influence of Sea Power …«, »proposed in this work is an examination of the general history of Europe and America with particular reference to the effect of sea power upon the course of that history.«22 Anhand von ausgesuchten historischen Beispielen wollte Mahan die Bedeutung der Seemacht für den Verlauf der menschlichen Geschichte zeigen.23 Als »Seemacht«, im ­Englischen »seapower«, definierte der Amerikaner dabei sowohl den Einsatz militärischer Machtmittel und die Stärke der Seestreitkräfte, um die Herrschaft über die See, in diesem Kontext, die Herrschaft über die Weltmeere, zu erreichen, als auch die Ausübung der Seemacht durch den Staat für politische Zwecke in einem gesamtstrategischen Sinn, sprich ein Staat, der die See in die strategische Planung zur Bildung des Staatswesens oder zur Bildung eines Imperiums mit einbezieht.24 »Seapower« war für Mahan also ein wesentlicher Gestaltungsfaktor der Weltgeschichte, den er aber in der Geschichtsschreibung oft zu kurz gekommen sah. Der Amerikaner tat das zu einem Zeitpunkt, in dem sich das Seekriegswesen in einer massiven Umbruchsphase befand (vom Segel zur Dampfkraft und auch zur Panzerung, wie bereits im Amerikanischen Bürgerkrieg zu sehen war) und die USA in Begriff waren, selbst zur führenden Industriemacht zu werden.25 Die Vereinigten Staaten waren ökonomisch auf der Überholspur  : Die USA, die von einer starken Einwanderung profitierten, legten sich rechtliche, ökonomische und produktionstechnische Rahmenbedingungen zu, die die Bildung großer Konzerne ermöglichten. Bald schon waren die USA in der Stahlund Erdölproduktion eine Weltmacht. Allerdings sah Mahan um 1890 die US Navy und deren globale Infrastruktur noch als sehr mangelhaft an.26 Prospe­rie­rende Wirtschaft und starke Seestreitkräfte hingen für Mahan aufs Engste zusammen. Der gerne als Imperialist apostrophierte Admiral plädierte jedoch auch für eine internatio­nale

22 M a h a n, The Influence of Sea Power, V. 23 Zu den zahlreichen Interpretationen über Mahans Werk vgl. nur auf Deutsch  : R eto Proksch, Die wesentlichen politischen Thesen im Werk des Alfred Thayer Mahan und sein Einfluss auf die Außen- und Sicherheitspolitik der USA, Inauguraldissertation der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 2001 (hier auch weitere Literatur zu finden)  ; kurz Schössler, Clausewitz – Engels – Mahan, 487–513  ; auf Englisch die Aufsätze in John B. H at tendorf (Hg.), The Influence of History on Mahan, Newport/Rhode Island 1991  ; Crowl, Alfred Thayer Mahan  ; eine neuere Interpretation der Thesen Mahans von Jon T. Sumida , Inventing Grand Strategy and Teaching Command. The Classic Works of Alfred Thayer Mahan Reconsidered, Baltimore–London 1997. 24 Vgl. dazu Gustav-A dolf Wolter, Zur Einführung, in  : Alfred Thayer Mahan, Der Einfluß der Seemacht auf die Geschichte 1660–1812, Herford 1967, 7–13, hier 12. 25 Dazu vgl. kurz Jürgen Heidek ing, Geschichte der USA, Tübingen–Basel 3. Aufl. 2003, 197–207. 26 M a h a n, The Influence, 83f.

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­ usammenarbeit und Freihandel, vor allem eine Kooperation zwischen GroßbritanZ nien und den USA schienen ihm wichtig, um den Weltfrieden zu erhalten. Die historisch untermauerten Fallbeispiele und Gedanken Mahans, die ohne Zweifel eine geostrategische Weite aufweisen und auch die internationalen ­politischen Beziehungen stark betonen,27 wurden von ihm jedoch nie zu einer gesamtsystematischen Analyse zusammengeführt. Der weltpolitische Denker, unter denen ihn Heinz Gollwitzer eingeordnet hat,28 blieb ein Empiriker, der aus exemplarischen militärhistorischen Ereignissen Schlüsse oder zumindest Fallbeispiele für die Gegenwart zog.29 Eine stringente, in sich geschlossene Theorie des Seekriegswesens brachte der Amerikaner nicht zu Papier. Dennoch  : Seine Fragen, Schlussfolgerungen und Beobachtungen, die zum Teil stark kritisiert, aber auch missverstanden bzw. zu einseitig interpretiert wurden,30 lieferten aufschlussreiche Erkenntnisse zur Bedeutung von Seemacht und Seekriegsführung. Die Kritik gegen Mahan richtete sich oft gegen eine zu starke Betonung der Bedeutung der Seemacht und die zu geringe Beachtung der Entstehung von Kontinentalimperien und der Effektivität von militärischen Landoperationen.31 Wie bereits angedeutet, stellte der US-Marinespezialist, der im Übrigen der wesentlich talentiertere Schriftsteller als Seeoffizier war, einen ausgeprägten Konnex zwischen Handel und Seestreitkräften her. Kurz dargestellt können Mahans Ausführungen zur Seemacht in drei Leitlinien zusammengefasst werden  : Erstens, so postulierte er, ist der Seehandel für den wirtschaftlichen Wohlstand einer Großmacht unerlässlich. Zweitens braucht es zum Schutz der eigenen Handelsflotte und Handelswege sowie zur Unterbindung des Handels eines Gegners eine starke Kriegsflotte. Drittens war es einer Nation mit überlegenen Seestreitkräften möglich, einen Gegner mit starken Landstreitkräften zu besiegen.32 Die Bedeutung jedoch, die er 27 Vgl. dazu Sumida, Alfred Thayer Mahan, geopolitician, 39–62. 28 Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens. Band II  : Zeitalter des Imperialismus und der Weltkriege, Göttingen 1982, 168–171. 29 Dazu auch Schössler, Clausewitz – Engels – Mahan, 495f. 30 So Jon Sumida, New Insights from Old Books, in  : Naval War College Review 54/3, 2002, 100–111. Sumida kritisiert bei vielen Mahan-InterpretInnen, dass sie sich nicht mit dem Gesamtwerk des Schriftstellers auseinandergesetzt, sondern meist nur einige Werke betrachtet haben. 31 Crowl, Alfred Thayer Mahan, 452–455. In diesem Zusammenhang sei auf die Studie von Brenda n Simms, Three Victories and a Defeat  : The Rise and Fall of the First British Empire, 1714–1783, London 2007 verwiesen, in der der Autor die kontinentaleuropäischen politischen und militärischen Implikationen für die Etablierung des Empire als wesentlich wichtiger erachtet als die globale maritime Politik Großbritanniens. 32 Diese Leitlinien zusammengefasst bei Sumida, Alfred Thayer Mahan, geopolitician, 39. Theoretische Ausführungen zur Seemacht durchziehen das Gesamtwerk von Mahan. Grundsätzliche These findet man jedoch in der Einleitung und im Kapitel I von M a h a n, The Influence of Sea Power, 1–89  ; gekürzt in der deutschen Ausgabe M a h a n, Der Einfluß der Seemacht, 7–35.

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einer starken Schlachtflotte als kriegsentscheidend beimaß, schien schon durch den Ersten Weltkrieg widerlegt. Als allgemeine Voraussetzung zur Entwicklung einer Seemacht nannte der Seestratege die geographische Lage (zum Beispiel Insellage, Zugriff auf Handelsrouten), die physische Beschaffenheit (Küstentopographie, Beschaffenheit der Häfen, Notwendigkeiten einer Schifffahrt), die Größe des Territoriums (auch in Hinblick auf die Verteidigungsfähigkeit der Küsten), die Bevölkerungsanzahl (in Hinsicht auf Einsatzbereitschaft für die Seefahrt), der Nationalcharakter (zum Beispiel die Veranlagung zu Handelsunternehmungen) und der Charakter der Regierung (hier nicht die Regierungsform, sondern die Maßnahmen einer Regierung für die Seefahrt).33 Alle diese Faktoren spielten eine Rolle für die Etablierung einer Seemacht, allerdings wandte er diese allgemeinen Kategorien kaum noch systematisch und durchgehend in seiner historischen Erzählung an.

3. Mahan und die Englisch-Niederländischen Seekriege Nach diesen theoretischen und allgemeinen Ausführungen beginnt Mahan seine historischen Betrachtungen zur Unterlegung seiner Thesen zu Recht mit den EnglischNiederländischen Seekriegen,34 um den Aufstieg Englands, aber auch die weitere Entwicklung des kommenden globalen Konkurrenten Frankreichs zu erklären. Die Niederlande, die Seehandelsnation mit der bei weitem höchsten Handelstonnage schlechthin zu jener Zeit (neben vielen technischen Innovationen hatten die Niederlande ein innovatives Finanz- und Versicherungssystem35), erlebten im 17. Jahrhundert zwar ihr »Goldenes Zeitalter«, wurden dann jedoch immer mehr zurückgedrängt (wenngleich die Niederlande bis ins 20. Jahrhundert hinein eine reiche Kolonialmacht blieben). Der Seekriegshistoriker betrachtet – in den Details nicht immer ganz korrekt, aber im Wesentlichen zutreffend – in den beiden Kapiteln zur englisch-niederländischen Auseinandersetzung die internationalen und nationalstaatlichen politischen Rahmenbedingungen und Konfliktlagen, die handelspolitischen Voraussetzungen, einige wichtige Akteure, ausgewählte Schlachten sowie taktische und strategische Gegebenheiten während der Kriege.36 Bemerkenswerterweise jedoch fängt er mit dem zweiten Englisch-Niederländischen Seekrieg (1665–1667) bzw. mit der Restauration des Königreichs an. Den ersten Krieg, der von 1652 bis 33 M a h a n, The Influence of Sea Power, 29–82. Analysiert und zusammengefasst bei Proksch, Die wesentlichen politischen Thesen, 50–55. 34 Zu diesen militärischen Auseinandersetzungen vgl. Robert R ebitsch, Die Englisch-Niederländischen Seekriege, Wien–Köln–Weimar 2014 (mit der weiteren relevanten Literatur). 35 Zu den zahlreichen Innovationen in den Niederlanden vgl. die Aufsätze in K a rel Davids – Ja n Lucassen (Hg.), A Miracle mirrored. The Dutch Republic in European Perspective, Cambridge 1996. 36 M a h a n, The Influence of Sea Power, 90–172.

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1654 stattfand, erwähnt Mahan zwar an verschiedenen Stellen, ein eigenes Kapitel hat er ihm jedoch nicht gewidmet. Dabei hätten gerade der erste Krieg und schon die fünf Jahre zuvor gute Argumentationsgrundlagen für Mahans Thesen und seine sechs »general conditions« liefern können. Tatsächlich rüsteten die Republik und Oliver Cromwell die englische Navy,37 die im Bürgerkrieg eine oft unterschätzte, aber nicht unbedeutende Rolle spielte, auf. Der englische Historiker Bernard Capp nannte die in der Zeit der Republik aufgerüstete (und auch ideologisch neu ausgerichtete) Marine »Cromwell’s Navy« und in Anspielung auf die Parlamentsarmee »New Model Army« die »New Modelled Navy«.38 1588, der Sieg gegen die spanische Armada, war für die englische Seegeschichte ohne Zweifel ein im Nachhinein viel beachteter Höhepunkt, danach allerdings ging es bergab mit der englischen Seemacht. Gut fünfzig Jahre später, 1639, musste die englische Flotte sogar zusehen, wie der Niederländer Maarten H. Tromp eine spanisch-portugiesische Seestreitmacht in den Downs, einem wichtigen Ankerplatz der Royal Navy, vernichtete.39 Als der Bürgerkrieg auf der Insel entschieden war, meuterte die englische Flotte und ein Teil lief zu den exilierten Royalisten über.40 Das Commonwealth musste die Seekriegskapazitäten zur Bekämpfung der nunmehr royalistischen Flotte unter ihrem Admiral Rupert von der Pfalz massiv ausbauen.41 Die Rüstungsoffensive setzte sich mit Cromwells expansiver Außenpolitik fort. Die Republik rüstete aber nicht nur militärisch auf, sondern ging auch in die handelspolitische Offensive. Aufgrund der niederländischen Dominanz in der Handelsschifffahrt und der in England herrschenden Depression erließ das Commonwealth im Jahre 1651 die sogenannte Navigationsakte. Dieser Erlass besagte, dass Güter, aus den Kolonien kommend, nur in englischen Schiffen transportiert werden durften und europäische Güter entweder in englischen oder in »solchen Schiffen, die wirklich den Einwohnern des Landes oder Platzes gehören, wo die Güter gewachsen oder erzeugt (worden) sind oder wie sie gemeinhin zuerst verschifft werden«.42

37 Zu den zahlreichen Publikationen zur englischen/britischen Marine vgl. nur die rezente Darstellung von Ben Wilson, Empire of the Deep. The Rise and Fall of the British Navy, London 2013. 38 Berna r d Ca pp, Cromwell’s Navy  : The Fleet and the English Revolution 1648–1660, Oxford 1989. 39 Zur Schlacht gegen die Armada und in den Downs vgl. nur Wilson, Empire of the Deep, 126–133 und 174f. 40 Dazu vgl. Robert R ebitsch, Rupert von der Pfalz. Ein deutscher Fürstensohn im Dienst der Stuarts. Innsbruck–Wien–Bozen 2005, 43–56. 41 Dazu vor allem die Studie von H a ns-Christoph Ju nge, Flottenpolitik und Revolution. Die Entstehung der englischen Seemacht während der Herrschaft Oliver Cromwells (= Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, 6), Stuttgart 1980, 108–165. 42 Zur Navigationsakte vgl. Ludwig Beu tin, Die britische Navigationsakte von 1651, in  : Die Welt als Geschichte 12, 1952, 44–53, Zitat auf 48  ; Ju nge, Flottenpolitik, 147–165  ; ausführlich zu diesem Act Lawrence A. H a rper, The English Navigation Laws  : A Seventeenth Century Experiment in Social En-

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Nachdem die Engländer Ende der vierziger Jahre des 17. Jahrhunderts gegenüber den Generalstaaten stark ins ökonomische Hintertreffen gerieten, herrschte für das »trading Parliament«, wie Westminster zur Zeit der Republik genannt wurde, und für die führenden Handelscliquen an der Themse, den New Merchants, Handlungsbedarf. 1650 gründete das Rump-Parliament den Council of Trade, um die Handelspolitik in geordnete und regulierte Bahnen zu bringen. Die Exponenten dieses Councils traten sämtlich für den Freihandel und für freie Häfen (zur Förderung des englischen Re-Export- und Zwischenhandels) ein, waren radikale Republikaner sowie Verfechter einer offensiven, ja zum Teil aggressiven imperialistischen Handelspolitik, und hatten starke Verbindungen mit der Londoner Kaufmannsschicht. In diesem Sinne brachte sich diese Clique nicht nur in die merkantile Gesetzgebung ein, sondern sprach auch in rüstungsstrategischen Fragen (Flottenausbau und Konvoischutz) mit.43 Vor dem zweiten Englisch-Niederländischen Seekrieg spielte die »Company of the Royal Adventurers of England trading into Africa« eine maßgebliche Rolle zur Verschlechterung der Beziehungen. Diese Handelskompanie, die den Niederländern das Sklavenhandelsmonopol an der Westküste Afrikas streitig machen wollte, hatte eine höchst interessante Gesellschafterstruktur, da in ihr nicht nur Unternehmer und Überseehändler, sondern auch Teile der politischen und militärischen Establishments wie Jakob, der Thronfolger, und Pfalzgraf Rupert, einer der höchsten Militärs Englands, vertreten waren.44 Auch weiterhin spielten königlich privilegierte Handelsgesellschaften eine wichtige Rolle für die Imperiumsbildung Großbritanniens. Es seien hier nur diese beiden Beispiele genannt, wie sehr Seehandelspolitik und militärische Seemacht in England verschränkt waren. So darf man von einer »Handelskriegstradition« Englands in der Frühen Neuzeit sprechen.45 Im Mahan’schen Sinne kann man diese Faktoren unter »National Charakter« und »Character of the Government« subsumieren. Welche Auswirkungen, welche historischen Folgen hatten nun die drei Seekriege  ? Bedeuteten sie den Aufstieg Englands zur ersten Seemacht und den Niedergang der Niederlande  ? Die Ergebnisse der Friedensschlüsse dieser Kriege waren keineswegs von großen Landübertragungen geprägt, sieht man von der Übergabe Neu Amsterdams an die Engländer ab.46 Aber auch das durch die Engländer umbenannte New York war in den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts einer von vielen kleineren

gineering, New York 1939  ; Robert Bren ner, Merchants and Revolution. Commercial Change, Political Conflict, and London’s Overseas Traders, 1550–1653, London–New York 2003, 613–628. 43 Bren ner, Merchants and Revolution, 602–608. 44 R ebitsch, Englisch-Niederländische Seekriege, 84–96. 45 So Heuser, Den Krieg denken, 244. 46 Zu den Friedensschlüssen vgl. R ebitsch, Englisch-Niederländische Seekriege, 291–307.

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Handelsstützpunkten in der Neuen Welt. Die heutige Bedeutung der Weltmetropole konnte sich damals noch kein Mensch ausmalen. Dennoch  : England, das man gewiss nicht als glänzenden Sieger des dritten Krieges bezeichnen kann, stieg stetig, wenn auch vorerst nicht spektakulär auf. Die drei Seekriege oder besser gesagt die nachfolgenden Friedensschlüsse zwischen den führenden Handelsnationen England und Niederlande brachten somit weder den sofortigen Abstieg der Generalstaaten als handelspolitisch weltweit agierende Potenz noch den kometenhaften Aufstieg des Inselkönigreichs zur unangefochtenen Nummer 1 des Welthandels  : Britannia rules the waves konnte man in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch nicht intonieren. Aber die Engländer begriffen, dass die Seemacht weiter gestärkt werden musste. Schon zu Ende des dritten Krieges wurde die Royal Navy personell, infrastrukturell, administrativ und logistisch unter der Federführung des bekannten Tagebuchschreibers und (ab 1673) Secretary of the Admirality Samuel Pepys professionalisiert.47 Pepys sorgte vor allem für eine administrative Effizienz in der Royal Navy. Geographisch, topographisch und physisch, um wieder auf Mahans Rahmenbedingungen zurückzukommen, hatte die Insel ohnehin alle Vorteile auf ihrer Seite. Und man darf diese für die Reichsbildung Englands bzw. Großbritanniens so grundlegende Epoche nicht beim Frieden von Westminster 1674 enden lassen. Mahan deutete den Fortgang und die nächsten Meilensteine in der Geschichte dieser beiden Seefahrernationen an, wenngleich auch wieder mit einer ihm eigenen historischen Inexaktheit  : »When William III. came to the throne, the governments of England and Holland were under one hand, and continued united in one purpose against Louis XIV. until the Peace of Utrecht in 1713.«48 Eine Personalunion im klassischen Sinne war es schon aufgrund des Regierungssystems (staaten generaal – Generalstaaten) in den Niederlanden nicht. Aber die niederländische Invasion von 1688 (in England präferiert »Glorious Revolution« genannt) war ein dramatischer Einschnitt in der Geschichte des Königreichs.49 Der oranische Statthalter Wilhelm III., seit 1677 mit Maria Stuart verheiratet und erbitterter Gegner Ludwigs XIV., kam in Begleitung von 20.000 Soldaten nach England und übernahm den Thron von Jakob, der Hals über Kopf die Insel verließ. In England konnte man daraus die Glorreiche Revolution machen, denn schließlich waren weite Teile des politischen Establishments und vermutlich auch der Bevölkerung mit dem Katholiken Jakob und seiner Politik unzufrieden. Die Glorreiche

47 Dazu vgl. J. D [avid] Davies, Pepys’s Navy. Ships, Men & Warfare 1649–1689, Barnsley 2008  ; sehr konzise dazu N [ichol as] A. M. Rodger, The Command of the Ocean. A Naval History of Britain, 1649–1815, London 2004, 95–111. 48 M a h a n, The Influence of Sea Power, 61. 49 Vgl. dazu Stev en C. A. Pincus, 1688  : The first modern Revolution, Yale 2009, der das Ereignis von 1688 als erste Revolution sieht und nicht von einer Invasion sprechen möchte.

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Revolution kann man auch als Annahme des niederländischen Vorbilds einer auf Konsens basierenden politischen Einstellung, die nach den Prinzipien der Freiheit der Meinungsäußerung und der Freiheit des Handels orientiert waren, bezeichnen. Dieser »Anglo-Dutch Moment« 50 von 1688 und den folgenden Jahren ist zweifellos ein Meilenstein für die weitere Entwicklung Großbritanniens. Die Vertreibung des Stuart-Königs Jakob II., die Inthronisierung des Oraniers Wilhelm III. als König von England (und freilich seiner Gattin Maria als Königin) und die Implementierung der parlamentarischen Monarchie sowie die Übernahme typisch niederländischer wirtschaftspolitischer Maßnahmen und Regierungstechniken waren von großer Bedeutung. Mit Wilhelm von Oranien kam viel niederländisches Kapital und finanzpolitisches Fachwissen nach England, das dem Inselkönigreich enorme Impulse gab. Das Ineinandergreifen der Flotten-, Fiskal- und Handelspolitik der Niederlande war für die Engländer vorbildlich. Man muss dabei nicht unbedingt so weit gehen wie die englische Historikerin Lisa Jardine, die ihrer hauptsächlich kulturwissenschaftlich angelegten Studie »Going Dutch«51 den ausdruckstarken Untertitel »How England Plundered Holland’s Glory« gegeben hat. Die Engländer wurden nicht zu Holländern, eine Plünderung war es wohl ebenso wenig. Und selbstverständlich hatte dieses punktuelle Ereignis eine längere Vorgeschichte. Der ganze Prozess war ein sehr komplexer und auch langfristiger. Die englische Wirtschaft und Gesellschaft waren in der Zeit der drei Seekriege und den folgenden Jahren daher großen Veränderungen unterworfen. So stellte Pincus in seiner Betrachtung zum historischen Kontext des Jahres 1688 fest  : »England had indeed followed the Dutch economic path to modernity. And like the Dutch, foreign trade provided the stimulus to English economic modernization.«52 In der Epoche zwischen dem Bürgerkrieg und der Übernahme des englischen Throns durch Wilhelm III. legten die Engländer ihr Fundament für das globale Empire. Dafür brauchte man nicht nur eine starke Wirtschaft und eine engagierte Handels- und Finanzpolitik, sondern auch das juristische und militärische Instrumentarium. Beides wurde in der Zeit der Seekriege entwickelt. Die Navigationsakte des Commonwealth und die nachfolgenden Verordnungen im restaurierten Königreich, die noch lange Zeit die Rechtsgrundlage für die merkantilistische Politik blieben, konnten nur mit einer starken Flotte durchgesetzt werden. Diese Epoche kann daher mit guten Gründen als umfassender Transformationsprozess begriffen werden.53

50 Zu dieser Thematik vgl. die instruktiven Aufsätze in Jonath a n I. Isr a el (Hg.), The Anglo-DutchMoment  : Essays on the Glorious Revolution and its World Impact, Cambridge 2003. 51 Lisa Ja r dine, Going Dutch. How England Plundered Holland’s Glory, London 2008. 52 So Pincus, 1688, 90. 53 Vgl. dazu die ausgezeichnete Studie von Ja mes S. Wheeler, The making of a World Power. War and Military Revolution in Seventeenth Century England, Stroud 1999.

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War England zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch eine Randmacht mit unterentwickelter Kriegsmarine und unterentwickeltem Heer, so präsentierte man sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts in einer komplett anderen Verfassung. Die englische Marine war überall auf den Weltmeeren in einer dominanten Stellung zu finden und das englische Heer war ein umworbener Partner und entscheidender Faktor im europäischen Mächteringen und ebenso in Nordamerika geworden. Freilich, man muss nicht allen Thesen und Schlussfolgerungen des Seekriegsstrategen Alfred T. Mahan zustimmen, aber eines ist neben vielen anderen Faktoren unstrittig  : England bzw. Großbritannien baute das Empire auf einer starken und stetig professionalisierten Seemacht auf, in der es zu einer starken Verschränkung von Politik, Wirtschaft und Militär kam.54

54 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Crowl, Alfred Thayer Mahan, 462–469, besonders 467.

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Die Decknamen der Truppenverbände und höheren Kommanden der österreichisch-ungarischen Streitkräfte 1914–1918 Dem hingebungsvollen, den Quellen zugewandten Forscher – wie dies unser Jubilar einer ist – begegnen im Quellenmaterial nicht selten Phänomene, welche für die Erzeuger der Quellen in deren Entstehungszusammenhang Selbstverständlichkeiten darstellten, die keiner ständigen Erläuterung bedurften, den Forscher aber mitunter Rätsel aufgeben können. Im gegenständlichen Fall handelt es sich dabei um Decknamen, die während der ersten Hälfte des Ersten Weltkriegs in den Führungsetagen der k. u. k. Armee zu Geheimhaltungszwecken Verwendung gefunden haben, um die wahre Identität der in Rede stehenden höchsten und höheren Kommandostellen zu verschleiern. Die Decknamen (auch »Deckadressen«) wurden als Zusammensetzungen aus einem »Kennwort« (erstes Teilwort) und einem »Bestimmungswort (zweites Teilwort) gebildet. In dieses System waren »Gedächtnishilfen« eingebaut, welche – dem Wissenden – die zutreffende Wahl bzw. die Auflösung des Decknamens erleichtern sollten. Hinweise wurden anfänglich durch den Anfangsbuchstaben des »Bestimmungsworts« gegeben, während das »Kennwort« auswies, ob es sich um ein operierendes höheres – den Korpskommanden übergeordnetes – Kommando oder das zugehörige Etappenkommando (ab 1.1.1916 Quartiermeisterabteilung) handelte. Um den unbefugten Mithörer oder Mitleser einer Nachricht zumindest kurzfristig zu verwirren, wurden bald für die Gültigkeitsperiode eines Decknamenschemas bei den höheren Kommanden die Wahl zwischen zwei gleichrangigen »Kennwörtern« angeboten sowie bei den Korps die Erhöhung der Nummer um eine bestimmte Anzahl von Zehnersprüngen vorgeschrieben. Von der Korpsebene abwärts blieb das »Kennwort« innerhalb seiner Gültigkeitsperiode unveränderlich. Einzelne nach ihrer Bezeichnung nicht ins Schema passende Verbände oder nach Kommandanten oder Einsatzgebiet bezeichnete »Namensverbände« erhielten eigene Decknamen. Die Bezeichnung als »Gruppe« oder »Armeegruppe« lässt kaum einen Hinweis auf die Größe oder Be* Abkürzungen  : A  : Armee  ; AEK  : Armeeetappenkommando  ; AOK  : Armeeoberkommando  ; EOK  : Etappenoberkommando  ; K  : Karton  ; KA  : Kriegsarchiv  ; OAK  : Operierendes Armeekommando  ; OOK  : Operierendes Oberkommando  ; Op.: Operations-  ; ÖStA  : Österreichisches Staatsarchiv  ; Res.: Reservat-.

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deutung dieses Verbandes zu, wenn auch mehrfach der Anlass für die Vergabe eines Decknamens die – wenn auch zumeist nur kurzfristige – Sonderstellung innerhalb der Befehlshierarchie war, etwa in Form einer direkten Unterstellung unter das Armeeoberkommando (AOK). Da die Decknamenlisten teilweise beträchtlich vor dem tatsächlichen Inkrafttreten ausgegeben wurden – so etwa am 9.9.1914 für den 15.9.1914 – kam es nicht selten vor, dass enthaltene Verbände von Umorganisationen betroffen waren oder namensgebende Funktionäre bereits entfernt waren. Ob in solchen Fällen der Deckname weggefallen war oder dessen Gebrauch »nahtlos« auf die Nachfolgeorganisation, nur einen Teil derselben und/oder auf die an sich gleiche Organisationseinheit – deren Unterstellungsverhältnis sich geändert haben konnte – unter neuem Kommandanten übergegangen war, lässt sich in solchen Fällen meist nur aus dem tatsächlichen Gebrauch des Decknamens nach dem Datum des Inkrafttretens der Liste erschließen. Generell übte die hierarchische Gliederung der österreichisch-ungarischen Landstreitkräfte den entscheidenden Einfluss auf die Vergabe von Decknamen aus. Frühzeitig – am 14.8.1914 – war die erste Decknamenliste1 ausgegeben worden. Die Decknamen dieser ersten Liste (in Geltung 16.8.1914–5.9.1914) waren schon derart gebildet, dass die erwähnten Hinweise – »Gedächtnishilfen« – eingebaut waren. Dies geschah offensichtlich ohne Rücksicht darauf, dass es nicht auszuschließen war, dass auch ein findiger Gegner in der Lage sein könnte, von diesen Hinweisen vorteilhaften Gebrauch zu machen. Während das »Kennwort« für die höheren Kommanden einheitlich »Uzl…« lautete, deutete der Anfangsbuchstabe des »Bestimmungsworts« auf Nummer oder Kommandanten des Armee-, Armeeetappen- oder Gruppenkommandos hin  : Ein »…olymp« für »Ober…« führte wohl den hierarchischen Rang deutlich vor Augen. Die Nummer des Armeekommandos enthüllte 1 Häufig liegen die Decknamenlisten im Archivalienbestand nicht an der Stelle, wo dies laut Aktenzahl zu erwarten wäre. Die Ursache dafür dürfte darin zu suchen sein, dass die Unterlagen – über die ausgegebenen Exemplare und die weiters aufgelegten »Reserveexemplare« hinaus – in Verwendung genommen wurden bzw. die befassten Referenten in den Kommandostellen entgegen der vorgesehenen Aktenordnung bei sich Sammlungen von Handexemplaren anlegten, um im Bedarfsfall die Decknamenlisten für ein Nachschauen griffbereit zu haben. Diese »Pertinenzlegung« – nach Betreff – setzte sich auch im Kriegsarchiv fort, wo die Vorhaltung derartiger Sammlungen zu archivischen und historiographischen Zwecken aus praktischen Gründen geboten schien. Die umfangreichste dem Autor bekanntgewordene Sammlung derartiger Selecta stellt ein Konvolut dar, das sich im Teilbestand des Armeeoberkommandos »Kriegsgliederungen« befindet (ÖStA, KA, AOK Kriegsgliederungen K 139 Decknamen). Soweit erkennbar, sind die einzelnen Stücke unterschiedlichsten Aktenserien, vor allem der Feldakten der Truppenverbände, entnommen. Abschriftliche Zusammenstellungen der Decknamenlisten finden sich in diesem Konvolut und im Bestand »Manuskripte« (ÖStA KA Manuskripte zur Geschichte des 1. Weltkriegs Allgemein A 105). Die erste Decknamenliste findet sich nicht unter der eigentlichen Zahl der betreffenden Aktenserie, sondern unter einer späteren, wohl sachlich zugehörigen, jedoch aktenmäßig nicht verknüpften Zahl (ÖStA, KA, AOK Op. 653 in Op. 1387).

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der Anfangsbuchstabe des »Bestimmungsworts – »…empor« für »1.«, »…zobel« für »2.« usw. Die ab 31.8.1914 hinzugefügten Decknamen für Verbände vom Korps abwärts wurden gebildet aus »Ulm…« mit einem Zusatz, der nicht immer nur durch seinen Anfangsbuchstaben einen Hinweis auf die Gattung des Truppenverbandes gab  : »Ulmklotz« für Korps, »Ulmtexas« für Truppendivision der Infanterie, »Ulmkosak« für Truppendivision der Kavallerie. Die Benennung »Ulmlabil« war wohl wenig geeignet, Vertrauen in die damit bezeichneten Landsturmbrigaden hervorzurufen. Hingegen lässt die Benennung »Ulmmaxim« für »Marschbrigade« die Frage offen, ob der Gegner in die Irre geführt werden sollte oder ob es bitterer Zynismus war angesichts der zu erwartenden geringen Kampfkraft der Marschbrigaden, die man auch mit dem Decknamen »Ulmmangel« hätte versehen können. Bemerkenswert, dass man für die »normalen« Brigaden keinen Decknamen vorsah, was darauf hindeutet, dass mit einem unabhängigen Operieren oder einer strategischen Verschiebung von aus dem Divisionsverband gelösten Brigaden nicht gerechnet wurde. Die zweite Decknamenliste2 (in Geltung 15.9.1914–5.10.1914) bringt zu den Anfangsbuchstaben des Bestimmungsworts eine weitere Spezifizierung, indem nun unterschiedliche Kennwörter für die operierenden Kommanden und die zugehörigen Etappenkommanden normiert wurden, Erstere stets mit »Fels…«, Letztere mit »Hoch…« bezeichnet. Gewiss geeignet, beim Gegner vorerst ein wenig Verwirrung zu stiften, war die Neueinführung, die Nummer des Korps um die Zahl 50 zu erhöhen. Damit kam etwa das XVII. Korps zur Bezeichnung »Erzklotz 67«, womit man in Ziffernbereiche kam, die nach Friedensorganisation lediglich durch Brigadekommandos getragen werden konnten. Dass man gegenüber der bis dahin gültigen Liste bei der Benennung »Erzklotz« geblieben war, mag allerdings die Wirkung geschmälert haben. Die dritte Decknamenliste3 (in Geltung 6.10.1914–30.11.1914) bringt schließlich eine Abkehr vom verräterischen, die Nummer des Kommandos potentiell enthüllenden Anfangsbuchstaben des Bestimmungsworts und normiert für die hohen Kommanden die Kennwörter »Flur…« (für operierende Kommanden) beziehungsweise »Heil…« (für Etappenkommanden). Neu war die Freiheit, den Wortteil »Flur…« beliebig durch »Wald…« zu ersetzen, um damit einen größeren Variantenreichtum zu erzielen. Auch bei den Verbänden vom Korps abwärts entfiel der auf die Gattung des Verbandes hinweisende verräterische Anfangsbuchstabe. Die Marschbrigaden – welche inzwischen gleichsam aufgebraucht waren – fielen weg. Die Erhöhung der Nummern des Korps – nunmehr »Maxopium« – wurde auf 30 normiert.

2 ÖStA, KA, AOK, Kriegsgliederungen K 139, Op. 1962. 3 ÖStA, KA, AOK, Kriegsgliederungen K 139, Op. 5500/EOK.

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Die vierte Decknamenliste4 (in Geltung 1.12.1914–31.12.1914) kehrt zurück zu einheitlichen Kennwörtern  : »Max…« für die hohen Kommanden und »Uzl…« für die Verbände vom Korps abwärts. Mit »Uzl…« wurde auf das durch die erste Decknamenliste normiert gewesene Kennwort für die hohen Kommanden – nunmehr aber für eine andere Verbandsgattung – zurückgegriffen. Als Alternative für »Max…« wurde »Gas…« zur Verfügung gestellt. Die Nummer des Korps (»Uzloskar«) war nunmehr lediglich um 10 zu erhöhen und erstmals war für die Infanterie- oder Gebirgsbrigade ein Deckname »Uzlklein« vorgeschrieben. Es war wohl allzu üblich geworden, dass Brigaden außerhalb des Verbandes der Truppendivision operierten bzw. hatte sich immer öfter die Notwendigkeit ergeben, mit einer Brigade als »halbe Truppendivision« fernab ihrer angestammten Division ein Loch in der Front zu stopfen. Die fünfte Decknamenliste5 hatte eine bedeutend längere Geltungsdauer (1.1.1915– 14.5.1915). Möglicherweise war man der häufigen Wechsel der Decknamen müde geworden, zumal bedeutsame oder überhaupt per »Radio« (= Funk) übermittelte Nachrichten in aller Regel zu chiffrieren waren. Auch waren inzwischen alle höheren Kommanden mit »Hughes-Telegraphenapparaten« ausgestattet. Diese galten als das sicherste Übertragungsmittel, da die korrespondierenden Apparate gleichsam aufeinander kalibriert sein mussten, sodass man sich der Überzeugung hingeben konnte, dass eine derartige Verbindung während des Gebrauchs nicht anzuzapfen war. Zwar verwendete man auch im Hughesverkehr6 noch die Decknamen, doch wurden massenhaft ganz ungeniert – weil nicht chiffriert – »Hughesgespräche« geführt, wobei an einem Apparat der dazu berechtigte Generalstabsoffizier dem »Operator« eindiktierte, was der Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung in ebensolcher Weise beantwortete. Von beiden Geräten wurde das »Gespräch« zeitgleich auf Papierstreifen einzeilig ausgedruckt und wurde danach häufig zurechtgeschnitten und aufgeklebt den Akten beigefügt. Etwas umständlicher zwar, doch – wenn auch auf nur zwei Kommunikationspartner beschränkt – mit dem gleichen Effekt wie ein moderner Online-Chat und unmittelbar veraktbar. Als Kennwörter für die hohen Kommanden wurde wieder unterschieden zwischen operierenden Kommanden »Raps…« und Etappenkommanden »Reck…«, wobei auch »Burg…« bzw. »Grat…« zur Anwendung gebracht werden konnte. Für die Verbände vom Korps abwärts galt »Lenz…«, die Nummer des Korps war um 20 zu erhöhen.

4 ÖStA, KA, AOK, Kriegsgliederungen K 139, Op. 11.400/EOK, hier nach der darauf basierenden 1.A. Res.1093. 5 ÖStA, KA, AOK, Kriegsgliederungen K 139, Op. 15.900/EOK. 6 Zum »Typendruckapparat Hughes« siehe Joh a n n Prikowitsch, Telegraph und Telephon in der k. (u.) k. Armee und Marine, 2. Bd., Wien 2. Aufl. 2017, 64–79.

Die Decknamen der Truppenverbände und höheren Kommanden

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Auch die sechste Decknamenliste7 hatte eine beträchtliche Geltungsdauer (15.5. 1915–30.9.1915) und erfuhr am 24.5.1915 als Folge des Kriegseintritts Italiens eine wesentliche Erweiterung. Die operativen Kommanden, auch die inzwischen in der österreichisch-ungarischen Nordostfront etablierten deutschen Armeekommanden, werden mit »Star …« oder »Stix …«, die Etappenkommanden mit »Wolf …« oder »Wels …« bezeichnet. »Hoch …« oder wahlweise »Heil …« dient als Kennwort für die deutschen Etappenkommanden, aber auch für das k. u. k. AOK  : »Hochpegel« bzw. »Heilpegel«. Dieses AOK erscheint in dieser Liste nun erstmals neben dem bis dahin allein angeführten »OOK«. Tatsächlich bestand das AOK vorschriftsgemäß aus dem Operierenden Oberkommando – »OOK« – und dem Etappenoberkommando – »EOK«8. Dies findet seine Entsprechung bei der nächsten Hierarchiestufe in der Befehlsstruktur, den Armeekommanden, welche aus Operierendem Armeekommando – »OAK« – und Armeeetappenkommando – »AEK« – bestanden9. Im Schriftverkehr fand »OAK« vor allem seitens der Armeekommanden bis Ende 1916 überwiegend Anwendung, doch zeichnete das – ursprünglich eigentlich – »OOK« seine Befehle frühzeitig schon als »AOK«, abgeleitet wohl von den Befugnissen des Armeeoberkommandanten Erzherzog Friedrich, der als Ursprung der Befehle ausgewiesen wurde und nicht dessen Untergebener und eigentlicher Leiter der Operationen, Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf. Intern wurden die Armeekommandos nicht als »OAK«, sondern »AKdo« abgekürzt. Die Korpsnummer war um 10 zu erhöhen. Mit der siebenten Decknamenliste10 (Geltung ab 1.10.1915) trat eine wesentliche Vereinfachung ein, in welcher sich das schwindende Bedürfnis an der Verwendung der Decknamen widerspiegelt. In der gewonnenen Überzeugung, dass die Hughestelegramme und -gespräche nicht mitgelesen werden konnten, beschränkte man den Gebrauch der »Deckadressen« ausdrücklich auf »alle Telegramme und Telephongespräche«. Hingegen  : »Im direkten Hughesverkehr bzw. bei den Hughesgesprächen zwischen Armeeko[m]m[an]dos und dem OOK. sowie im schriftlichen Verkehr sind an Stelle der Decknamen die normalen K[o]m[man]dobezeichnungen anzuwenden.« Das AOK hatte nun den Decknamen »Franzorest«, die operativen Kommanden das Kennwort »Hoch…«, die Etappenkommanden das Kennwort »Mars…«. Nicht nur verzichtete man auf die Möglichkeit von Varianten für diese Kennwörter, sondern man kehrte sogar zurück zur alten »Gedächtnishilfe«, dass der erste Buchstabe des Bestimmungsworts dem Rang bzw. der Nummer des Kommandos entspricht  : »…orest« für »Ober…«, »…vlies« für »4. […]« etc. Der Hinweis konnte auch auf  7 ÖStA, KA, AOK, Kriegsgliederungen K 139, Op. 42.800/EOK.  8 E-53. Reservat. Vorschrift für die Höheren Kommandos der Armee im Felde, Wien 1. Aufl. 1913, 4f.  9 Ebd., 6f. 10 ÖStA, KA, AOK, Kriegsgliederungen K 139, Op. 81.600/EOK.

618

Rudolf Jeřábek, Wien

den Namen des Kommandanten oder des Generalstabschefs gegeben werden. So bezog sich »Hochfuror« auf die von Feldmarschallleutnant Artur Fülöpp kommandierte Gruppe und das Kommando der Südwestfront wurde unverblümt als »Hochkraus« bezeichnet, womit dessen Generalstabschef Feldmarschallleutnant Alfred Krauß eine besondere Ehrung erfuhr. Die übrigen Kommandos erhielten als Kennwort »Hau…«. Unter Verzicht auf eine verschleiernde Zuzählung wurde das Korps als »Haudegen« bezeichnet, während auch bei den niedrigeren Kommandos die altbekannte »Gedächtnishilfe« eine Wiederkehr feierte, indem etwa mit »Hauideal« die Infanterietruppendivision, mit »Haubrand« die Infanterie- beziehungsweise Gebirgsbrigade zu benennen war. Mit dem Bedeutungsverlust des Decknamenwesens auf den obersten Kommandoebenen wurde mit der achten und letzten Decknamenliste11 (gültig ab 15.4.1916) zwar das Kennwort für die unteren Verbände von »Hau…« auf »Lux…« geändert, doch die höheren Kommanden blieben unverändert. Vielmehr mag die Liste der Erinnerung an neue Klarbezeichnungen der Kommandostellen oberhalb des Korpskommandos gegolten haben, denn das Höchstkommando erschien nun nur noch in der bereits eingebürgerten Form als »AOK« – statt auch als »OOK«, die Armeekommanden als »AKmdo.« statt »OAK«, vor allem aber waren die Etappenkommanden seit 1.1.1916 umbenannt in Quartiermeisterabteilungen – »QAbt.«. Mit Erlass vom 28.10.1916 wurden die seitens des AOK ausgegebenen Decknamen außer Kraft gesetzt.12 In Hinkunft waren die normale Kommandobezeichnung oder der Standort des Kommandos als Adresse zu verwenden. Dies betraf selbstverständlich nicht die auf unteren Ebenen, oft bis zum kleinsten Frontabschnitt her­ab oder innerhalb einer Batterie gebrauchten Decknamen, welche im vollkommen ungesicherten und leicht »anzapfbaren« Telefonverkehr das Deuten der mitgehörten Kommunikationen erschweren sollten. Aufrecht blieben nur die Bezeichnungen »Telpegel« und »Eispegel«, wohl gedacht eher als Kurzbezeichnungen für die relativ klobigen »Klarnamen« wie »Chef des Feldeisenbahnwesens«. Alphabetisierte Liste der acht Decknamenlisten des AOK und deren Nachträge Deckname

Truppenverband oder Kommando

Gültigkeit Beginn

Ende

Bugdachs 13

3. Korps

15.05.1915

30.09.1915

Bugspiel 12

12. Landsturmbrigade

15.05.1915

30.09.1915

Bugtrapp 10

10. Kavalleriebrigade

15.05.1915

30.09.1915

Bugweide 7

7. Kavallerietruppendivision

15.05.1915

30.09.1915

11 ÖStA, KA, AOK, Kriegsgliederungen K 139, Tel.Nr.17.330. 12 ÖStA KA AOK Chef des Feldtelegraphenwesens AOK Tel.Nr.37.220.

619

Die Decknamen der Truppenverbände und höheren Kommanden Gültigkeit

Deckname

Truppenverband oder Kommando

Beginn

Ende

Bugzille 30

30. Infanterietruppendivision

15.05.1915

30.09.1915

Bugzwerg

Infanterie-bzw. Gebirgsbrigade

15.05.1915

30.09.1915

Burgalibi

Feldzeugmeister Potiorek

01.01.1915

14.05.1915

Burgamsel

4. Armeekommando

01.01.1915

14.05.1915

Burgeilig

5. Armeekommando14

01.01.1915

14.05.1915

Burgeisen

Deutsche Südarmee Linsingen

01.01.1915

14.05.1915

Burgesche

3. Armeekommando

01.01.1915

14.05.1915

Burgflink

2. Armeekommando15

08.02.1915

14.05.1915

Burgpivot

2. Armeekommando

01.01.1915

08.02.1915

Burgpivot

Armeegruppe Kövess17

08.02.1915

14.05.1915

Burgquere

1. Armeekommando

01.01.1915

14.05.1915

Burgspeer

Selbständige Division Šnjarić

01.01.1915

14.05.1915

Burgsteig

Armeegruppe Pflanzer

01.01.1915

14.05.1915

Burgtaube

Deutsches 11. Armeekommando

26.04.1915

14.05.1915

Burgterno

6. Armeekommando18

01.01.1915

10.02.1915

Burgtobel

Kombiniertes Korps

01.01.1915

14.05.1915

Burgvikar

General der Infanterie Schemua20

01.01.1915

14.05.1915

Burgzinne

Armeeoberkommando

01.01.1915

14.05.1915

Eispegel

Chef des Feldeisenbahnwesens

15.05.1915

Bleibt

Eiszinne

Chef des Feldeisenbahnwesens

11.02.1915

14.05.1915

Erzklotz 51

1. Korps

15.09.1914

05.10.1914

Erzkosak 1

1. Kavallerietruppendivision

15.09.1914

05.10.1914

Erzlabil

Landsturmbrigade

15.09.1914

05.10.1914

Erzmaxim

Marschbrigade

15.09.1914

05.10.1914

Erztexas 1

1. Infanterietruppendivision

15.09.1914

05.10.1914

13

16

19

13 Übergegangen mit 27.12.1914 auf General der Infanterie Sarkotić, Kommandant der Streitkräfte in Bosnien-Herzegowina. 14 Seit 27.12.1914 »Kommando der Balkanstreitkräfte«. 15 »Neue« 2. Armee unter dem Kommandanten der bisherigen 2. Armee General der Kavallerie v. Böhm-Ermolli vornehmlich aus Teilen der bisherigen 3. A. 16 Geht mit 8.2.1915 über auf Armeegruppe v. Kövess. 17 Übernahm am 8.2.1915 das Kommando der aus dem Rest der 2. Armee bestehenden Armeegruppe und die Deckbezeichnung »Rapspivot«. 18 Ab 27.12.1914 Deckname der Gruppe Feldmarschallleutnant Tamásy. 19 7.1.1915 wurde das Kombinierte Korps [Feldmarschallleutnant Alfred Krauß] in XIX. Korps umbenannt. 20 Kommando der Brückenköpfe Krems–Tulln–Wien–Poszony

620

Rudolf Jeřábek, Wien Gültigkeit

Deckname

Truppenverband oder Kommando

Beginn

Ende

Felsdraht

3. Armeekommando

15.09.1914

05.10.1914

Felsemsig

1. Armeekommando

15.09.1914

05.10.1914

Felsfeuer

5. Armeekommando

15.09.1914

05.10.1914

Felskorea

Armeegruppenkommando Kummer21

15.09.1914

05.10.1914

Felslargo

Deutsches Landwehrkorps

15.09.1914

05.10.1914

Felslazur

Armeegruppenkommando Lütgendorf

15.09.1914

05.10.1914

Felsokuli

Armeeoberkommando

15.09.1914

05.10.1914

Felsprinz

Potiorek

15.09.1914

05.10.1914

Felsserum

6. Armeekommando

15.09.1914

05.10.1914

Felsverdi

4. Armeekommando

15.09.1914

05.10.1914

Felszenit

2. Armeekommando

15.09.1914

05.10.1914

Flurbeton

Armeeoberkommando

06.10.1914

30.11.1914

Flurepheu

6. Armeekommando

06.10.1914

30.11.1914

Fluridyll

1. Armeekommando

06.10.1914

30.11.1914

Flurobhut

Potiorek

06.10.1914

30.11.1914

Flurquell

4. Armeekommando

06.10.1914

30.11.1914

Flurrapid

3. Armeekommando

06.10.1914

30.11.1914

Flurrobot

Armeegruppenkommando Krauß

06.10.1914

30.11.1914

Flurulrik

5. Armeekommando

06.10.1914

30.11.1914

Flurungar

Armeegruppenkommando Lütgendorf

06.10.1914

30.11.1914

Flurwespe

2. Armeekommando

06.10.1914

30.11.1914

Franzorest

Armeeoberkommando

01.10.1915

28.10.1916

Gasbiber

Armeeoberkommando

01.12.1914

31.12.1914

Gasbravo

Etappenoberkommando

01.12.1914

31.12.1914

Gasemsig

Armeegruppenkommando Temesvár

01.12.1914

31.12.1914

Gasenorm

6. Armeekommando

01.12.1914

31.12.1914

Gasexakt

6. Armeeetappenkommando

01.12.1914

31.12.1914

Gasfluks

Armeegruppenkommando Pflanzer

01.12.1914

31.12.1914

23 24

22

21 Die Armeegruppe Kummer wurde mit 17.9.1914 aufgelöst. 22 Entfällt mit 27.12.1914. 23 Steht ab etwa 27.12.1914 bei Wegfall des 6. Armeekommandos für »Gruppe Feldmarschallleutnant Tamásy«. 24 Entfiel mit etwa 27.12.1914 infolge Vereinigung mit 5. AEK zum »AEK der Balkanstreitkräfte«.

621

Die Decknamen der Truppenverbände und höheren Kommanden Gültigkeit

Deckname

Truppenverband oder Kommando

Beginn

Ende

Gasinnig

1. Armeekommando

01.12.1914

31.12.1914

Gasisola

1. Armeeetappenkommando

01.12.1914

31.12.1914

Gasneuen

Selbständige Division Šnjarić

01.12.1914

31.12.1914

Gasolymp

Potiorek25

01.12.1914

31.12.1914

Gasquitt

4. Armeekommando

01.12.1914

31.12.1914

Gasquote

4. Armeeetappenkommando

01.12.1914

31.12.1914

Gasradau

Armeegruppenkommando Krauß

01.12.1914

31.12.1914

Gasrebus

3. Armeekommando

01.12.1914

31.12.1914

Gasrunen

3. Armeeetappenkommando

01.12.1914

31.12.1914

Gasumweg

5. Armeekommando

01.12.1914

31.12.1914

26

Gasutopi

5. Armeeetappenkommando

01.12.1914

31.12.1914

Gaswilly

2. Armeekommando

01.12.1914

31.12.1914

Gaswomit

2. Armeeetappenkommando

01.12.1914

31.12.1914

Gasyella

Armeegruppenkommando Syrmien

01.12.1914

31.12.1914

Goldborte

Etappeninspektion der deutschen Südarmee

01.10.1915

28.10.1916

Gratamsel

4. Armeeetappenkommando

01.01.1915

14.05.1915

Grateilig

5. Armeeetappenkommando

01.01.1915

14.05.1915

Grateisen

Etappengruppenkommando 7

01.01.1915

14.05.1915

Gratesche

3. Armeeetappenkommando

01.01.1915

14.05.1915

Gratflink

2. Armeeetappenkommando

11.02.1915

14.05.1915

Gratpivot

2. Armeeetappenkommando

01.01.1915

10.02.1915

Gratpivot

6. Armeeetappenkommando

11.02.1915

14.05.1915

Gratquere

1. Armeeetappenkommando

01.01.1915

14.05.1915

Gratsteig

Etappengruppenkommando 8

11.02.1915

14.05.1915

Grattaube

Etappengruppenkommando 11

26.04.1915

14.05.1915

Gratzinne

Etappenoberkommando

01.01.1915

14.05.1915

Haubrand 24

24. Infanterie- bzw. Gebirgsbrigade

01.10.1915

01.04.1916

Haudegen 3

3. Korps

01.10.1915

01.04.1916

27

25 Übergegangen 27.12.1914 auf General der Infanterie Sarkotić, Kommandant der Streitkräfte in Bosnien-Herzegowina. 26 Steht ab etwa 27.12.1914 infolge Verschmelzung mit dem 6. AEK für »AEK der Balkanstreitkräfte«. 27 Ist das AEK der Armeegruppe v. Kövess.

622

Rudolf Jeřábek, Wien Gültigkeit

Deckname

Truppenverband oder Kommando

Beginn

Ende

Hauideal 30

30. Infanterietruppendivision

01.10.1915

01.04.1916

Haukeule 4

4. Kavallerietruppendivision

01.10.1915

01.04.1916

Haukrupp 10

10. Kavalleriebrigade

01.10.1915

01.04.1916

Haulinie 12

12. Landsturmbrigade

01.10.1915

01.04.1916

Heilbeton

Etappenoberkommando

06.10.1914

30.11.1914

Heilepheu

6. Armeeetappenkommando

06.10.1914

30.11.1914

Heilerika

Etappeninspektion der 11. deutschen Armee

15.05.1915

30.09.1915

Heilidyll

1. Armeeetappenkommando

06.10.1914

30.11.1914

Heillotse

Etappeninspektion der deutschen Südarmee

15.05.1915

30.09.1915

Heilpegel

Armeeoberkommando

15.05.1915

30.09.1915

Heilquell

4. Armeeetappenkommando

06.10.1914

30.11.1914

Heilrapid

3. Armeeetappenkommando

06.10.1914

30.11.1914

Heilrobot

Etappengruppenkommando Petrovaradin

06.10.1914

30.11.1914

Heiltaube

Etappeninspektion der 11. deutschen Armee

26.04.1915

14.05.1915

Heilulrik

5. Armeeetappenkommando

06.10.1914

30.11.1914

Heilwespe

2. Armeeetappenkommando

06.10.1914

30.11.1914

Hocharpad

1. Armeekommando

10.08.1916

28.10.1916

Hochborte

Deutsche Südarmee

01.10.1915

28.10.1916

Hochdraht

3. Armeeetappenkommando

15.09.1914

05.10.1914

Hochdrall

Landesverteidigungskommando Tirol28

01.10.1915

20.07.1916

Hochdruck

3. Armeekommando

01.10.1915

01.04.1916

Hochdruck

19. Korps

02.04.1916

28.10.1916

Hochemsig

1. Armeeetappenkommando

15.09.1914

05.10.1914

Hocherich

1. Armeekommando29

01.10.1915

10.08.1916

Hocherika

Etappeninspektion der 11. deutschen Armee

15.05.1915

30.09.1915

Hochfahne

12. Armeekommando

04.07.1916

28.10.1916

Hochfahne

Heeresgruppenkommando Erzherzog Karl

10.08.1916

28.10.1916

30

28 War mit 20.7.1916 infolge Wegfalls des Kommandos zu streichen. 29 War ab 10.8.1916 nach Auflösung zu ersetzen durch »Hocharpad« für das neue 1. Armeekommando in Siebenbürgen. 30 Der Thronfolger wurde am 1.7.1916 zum Kommandanten der k. u. k. 12. A. ernannt. Das Kommando wurde mit 4.7.1916 aufgestellt und zugleich durch Unterstellung der k. u. k. 7. A. und der deutschen Südarmee das »Heeresgruppenkommando Erzherzog Carl Franz Joseph« gebildet. Dieses Kom-

623

Die Decknamen der Truppenverbände und höheren Kommanden Gültigkeit

Deckname

Truppenverband oder Kommando

Beginn

Ende

Hochfeder

5. Armeekommando

01.10.1915

28.10.1916

Hochfeuer

5. Armeeetappenkommando

15.09.1914

05.10.1914

Hochfuror

Gruppe Fülöpp

01.10.1915

01.04.1916

Hochgunst

11. Armeekommando

18.03.1916

28.10.1916

Hochkomet

3. Armeekommando32

02.04.1916

28.10.1916

Hochkraus

Kdo. der SWFront

01.10.1915

01.04.1916

Hochkraus

Heeresgruppenkommando Erzherzog Eugen

02.04.1916

28.10.1916

Hochlotse

Etappeninspektion der deutschen Südarmee

15.05.1915

30.09.1915

Hochokuli

Etappenoberkommando

15.09.1914

05.10.1914

Hochorest

Operierendes Oberkommando

01.10.1915

01.04.1916

Hochpauke

Etappengruppenkommando Petrovaradin

15.09.1914

05.10.1914

Hochpegel

Armeeoberkommando

15.05.1915

30.09.1915

Hochrotte

Gruppenkommando Rohr34

01.10.1915

01.04.1916

Hochrotte

10. Armeekommando

02.04.1916

28.10.1916

Hochsarca

Gruppe Sarkotić

01.10.1915

01.04.1916

Hochsarca

Kommandierender General in Bosnien-Herzegowina36

02.04.1916

28.10.1916

Hochsatan

Gruppe Sorsich

01.10.1915

01.04.1916

Hochsegel

Armeegruppe Kövess

01.10.1915

01.04.1916

Hochsegel

12. Korps

02.04.1916

28.10.1916

Hochserum

6. Armeeetappenkommando

15.09.1914

05.10.1914

Hochsilbe

7. Armeekommando

01.10.1915

28.10.1916

Hochtaube

Etappeninspektion der 11. deutschen Armee

26.04.1915

14.05.1915

Hochverdi

4. Armeeetappenkommando

15.09.1914

05.10.1914

31

33

35

mando übernahm mit 5.10.1916 als »Heeresfront Erzherzog Carl Franz Joseph« den Südabschnitt der russischen Front. Der Deckname dürfte jeweils auf die neue Organisationsform übergegangen, doch zu jener Zeit kaum noch gebraucht worden sein. 31 Früherer »Rayon Banat«. 32 Führte nach der Errichtung an der Tiroler Front für einige Zeit die Deckbezeichnung »Major Schäfer«. 33 Bis dahin Kommando der Südwestfront, das von 25.3.1916 bis März 1917 auf eine Heeresgruppe reduziert war, danach wieder Kommando der Südwestfront. 34 Auch »Armeegruppenkommando General der Kavallerie Rohr«. 35 Die am 25.1.1916 umbenannte »Armeegruppe Rohr«. 36 General der Infanterie Stefan Sarkotić.

624

Rudolf Jeřábek, Wien Gültigkeit

Deckname

Truppenverband oder Kommando

Beginn

Ende

Hochvlies

4. Armeekommando

01.10.1915

28.10.1916

Hochzange

2. Armeekommando

01.10.1915

28.10.1916

Hochzenit

2. Armeeetappenkommando

15.09.1914

05.10.1914

Lenzguido 24

4. Korps

01.01.1915

14.05.1915

Lenzmelee 3

3. Kavallerietruppendivision

01.01.1915

14.05.1915

Lenzspatz 95

95. Landsturmbrigade

01.01.1915

14.05.1915

Lenztatze 19

19. Infanterietruppendivision

01.01.1915

14.05.1915

Lenzwenig 1

1. Infanterie- bzw. Gebirgsbrigade

01.01.1915

14.05.1915

Luxdelta 30

30. Infanterietruppendivision

02.04.1916

28.10.1916

Luxjuwel 24

24. Infanterie- bzw. Gebirgsbrigade

02.04.1916

28.10.1916

Luxkalif 3

3. Korps

02.04.1916

28.10.1916

Luxkoran 10

10. Kavalleriebrigade

02.04.1916

28.10.1916

Luxlegat 12

12. Landsturmbrigade

02.04.1916

28.10.1916

Luxrappe 4

4. Kavallerietruppendivision

02.04.1916

28.10.1916

Marsarpad

Quartierabteilung 1

02.04.1916

28.10.1916

Marsborte

Etappengruppenkommando 938

01.10.1915

28.10.1916

Marsdrall

Quartierabteilung Landesverteidigungskommando Tirol

18.03.1916

20.07.1916

3. Armeeetappenkommando

01.10.1915

01.04.1916

Marsdruck

Quartierabteilung 19

02.04.1916

28.10.1916

Marserich

1. Armeeetappenkommando40

01.10.1915

01.04.1916

Marserich

Quartierabteilung 14

02.04.1916

28.10.1916

Marsfahne

12. Armeekommando

04.07.1916

28.10.1916

Marsfeder

5. Armeeetappenkommando

01.10.1915

01.04.1916

Marsgunst

11. Armeekommando (Quartierabteilung)43

18.03.1916

01.04.1916

Marskomet

Quartierabteilung 3

02.04.1916

28.10.1916

Marskraus

Quartierabteilung Heeresgruppenkommando Erzherzog Eugen

20.7.1916

28.10.1916

39

Marsdruck

37

41

42

37 Ab 10.8.1916, Quartiermeisterabteilung der in Siebenbürgen neu errichteten 1. Armee. 38 Ab 1.1.1916 Quartierabteilung 9. 39 War mit 20.7.1916 infolge Wegfalls des Kommandos zu streichen. 40 Ab 1.1.1916 Quartierabteilung 1. 41 Vorherige Quartierabteilung 1, umbenannt im August 1916 in Quartierabteilung 14. 42 Ab 1.1.1916 Quartierabteilung 5. 43 Ab 1.1.1916 Quartierabteilung 11.

625

Die Decknamen der Truppenverbände und höheren Kommanden Gültigkeit

Deckname

Truppenverband oder Kommando

Beginn

Ende

Marsorest

Etappenoberkommando44

01.10.1915

28.10.1916

Marsrotte

Etappengruppenkommando 1045

01.10.1915

28.10.1916

Marssarca

Quartierabteilung 8

01.01.1916

28.10.1916

Marssegel

Etappengruppenkommando 646

01.10.1915

01.04.1916

Marssilbe

7. Armeeetappenkommando

01.10.1915

01.04.1916

Marsvlies

4. Armeeetappenkommando

01.10.1915

01.04.1916

Marszange

2. Armeeetappenkommando

01.10.1915

01.04.1916

Maxalaun 1

1. Kavallerietruppendivision

06.10.1914

30.11.1914

Maxbiber

Armeeoberkommando

01.12.1914

31.12.1914

Maxbravo

Etappenoberkommando

01.12.1914

31.12.1914

Maxemsig

Armeegruppenkommando Temesvár

01.12.1914

31.12.1914

Maxenorm

6. Armeekommando51

01.12.1914

31.12.1914

Maxexakt

6. Armeeetappenkommando

01.12.1914

31.12.1914

Maxfluks

Armeegruppenkommando Pflanzer

01.12.1914

31.12.1914

Maxinnig

1. Armeekommando

01.12.1914

31.12.1914

Maxisola

1. Armeeetappenkommando

01.12.1914

31.12.1914

Maxneffe 1

1. Infanterietruppendivision

06.10.1914

30.11.1914

Maxneuen

Selbständige Division Šnjarić

01.12.1914

31.12.1914

Maxolymp

Potiorek

01.12.1914

31.12.1914

Maxopium 31

1. Korps

06.10.1914

30.11.1914

Maxquitt

4. Armeekommando

01.12.1914

31.12.1914

Maxquote

4. Armeeetappenkommando

01.12.1914

31.12.1914

47 48

49

53

52

50

44 Ab 1.1.1916 Quartierabteilung des Armeeoberkommandos. 45 Ab 1.1.1916 Quartierabteilung 10. 46 Ab 1.1.1916 Quartierabteilung 6. 47 Ab 1.1.1916 Quartierabteilung 7. 48 Ab 1.1.1916 Quartierabteilung 4. 49 Ab 1.1.1916 Quartierabteilung 2. 50 Fällt mit 27.12.1914 weg. 51 Steht ab etwa 27.12.1914 bei Wegfall des 6. Armeekommandos für »Gruppe Feldmarschallleutnant Tamásy«. 52 Entfiel mit etwa 27.12.1914 infolge Vereinigung mit 5. AEK zum »AEK der Balkanstreitkräfte«. 53 Übergegangen mit 27.12.1914 auf General der Infanterie Sarkotić, Kommandant der Streitkräfte in Bosnien-Herzegowina.

626

Rudolf Jeřábek, Wien Gültigkeit

Deckname

Truppenverband oder Kommando

Beginn

Ende

Maxradau

Armeegruppenkommando Krauß

01.12.1914

31.12.1914

Maxrebus

3. Armeekommando

01.12.1914

31.12.1914

Maxrunen

3. Armeeetappenkommando

01.12.1914

31.12.1914

Maxstuhl 1

1. Landsturmbrigade

06.10.1914

30.11.1914

Maxumweg

5. Armeekommando

01.12.1914

31.12.1914

Maxutopi

5. Armeeetappenkommando

01.12.1914

31.12.1914

Maxwilly

2. Armeekommando

01.12.1914

31.12.1914

Maxwomit

2. Armeeetappenkommando

01.12.1914

31.12.1914

Maxyella

Armeegruppenkommando Syrmien

01.12.1914

31.12.1914

Rapsalibi

Feldzeugmeister Potiorek

01.01.1915

14.05.1915

54 55

56

Rapsamsel

4. Armeekommando

01.01.1915

14.05.1915

Rapseilig

5. Armeekommando57

01.01.1915

14.05.1915

Rapseisen

Deutsche Südarmee Linsingen

14.01.1915

14.05.1915

Rapsesche

3. Armeekommando

01.01.1915

14.05.1915

Rapsflink

2. Armeekommando

58

08.02.1915

14.05.1915

Rapspivot

2. Armeekommando59

01.01.1915

08.02.1915

Rapspivot

Armeegruppe v. Kövess

08.02.1915

14.05.1915

Rapsquere

1. Armeekommando

01.01.1915

14.05.1915

Rapsspeer

Selbständige Division Šnjarić

01.01.1915

14.05.1915

Rapssteig

Armeegruppe Pflanzer

01.01.1915

14.05.1915

Rapstaube

Deutsches 11. Armeekommando

26.04.1915

14.05.1915

Rapsterno

6. Armeekommando

01.01.1915

10.02.1915

61

60

54 Steht ab etwa 27.12.1914 bei Verschmelzung mit dem 6. Armeekommando für »Kommando der Balkanstreitkräfte«. 55 Entfiel mit etwa 27.12.1914 infolge Vereinigung mit 6. AEK zum »AEK der Balkanstreitkräfte«. 56 Übergegangen 27.12.1914 auf General der Infanterie Sarkotić, Kommandant der Streitkräfte in Bosnien-Herzegowina. 57 Steht ab etwa 27.12.1914 bei Verschmelzung mit dem 6. Armeekommando für »Kommando der Balkanstreitkräfte«. 58 »Neue« 2. A. unter deren bisherigen Kommandanten General der Kavallerie v. Böhm-Ermolli vornehmlich aus Teilen der bisherigen 3. A. 59 Geht mit 8.2.1915 über auf Armeegruppe v. Kövess. 60 Übernahm am 8.2.1915 das Kommando der aus dem Rest der 2. A. bestehenden Armeegruppe und die Deckbezeichnung »Rapspivot«. 61 Geht ab 27.12.1914 über auf Gruppe Feldmarschallleutnant Tamásy über.

627

Die Decknamen der Truppenverbände und höheren Kommanden Gültigkeit

Deckname

Truppenverband oder Kommando

Beginn

Ende

Rapstobel

Kombiniertes Korps62

01.01.1915

14.05.1915

Rapsvikar

General der Infanterie Schemua63

01.01.1915

14.05.1915

Rapszinne

Armeeoberkommando

01.01.1915

14.05.1915

Reckamsel

4. Armeeetappenkommando

01.01.1915

14.05.1915

Reckeilig

5. Armeeetappenkommando

64

01.01.1915

14.05.1915

Reckeisen

Etappengruppenkommando 7

14.01.1915

14.05.1915

Reckesche

3. Armeeetappenkommando

01.01.1915

14.05.1915

Reckflink

2. Armeeetappenkommando

12.02.1915

14.05.1915

Reckpivot

2. Armeeetappenkommando

01.01.1915

10.02.1915

Reckpivot

6. Armeeetappenkommando

11.02.1915

14.05.1915

Reckquere

1. Armeeetappenkommando

01.01.1915

14.05.1915

Recksteig

Etappengruppenkommando 8

11.02.1915

14.05.1915

Recktaube

Etappengruppenkommando 11

26.04.1915

14.05.1915

Reckzinne

Etappenoberkommando

01.01.1915

14.05.1915

Starangel

Gruppe Tamásy

15.05.1915

30.09.1915

Stararoma

Gruppe Sarkotić

15.05.1915

30.09.1915

Starerika

Deutsches 11. Armeekommando

15.05.1915

30.09.1915

Starfritz

Armeegruppenkommando Petrovaradin

24.05.1915

11.05.1915

Starfritz

Armeegruppenkommando Tersztyánszky

11.05.1915

30.09.1915

Starhofer

Landesverteidigungskommando Tirol

24.05.1915

30.09.1915

Starkamin

Armeegruppe Pflanzer

15.05.1915

30.09.1915

Starklaue

Gruppenkommando Rohr

15.05.1915

30.09.1915

Starkopal

Kommando der Südwestfront

24.05.1915

30.09.1915

Starlinde

Kommando der Bugarmee

11.07.1915

30.09.1915

Starlotse

Deutsche Südarmee

15.05.1915

30.09.1915

65 66

68

67

62 7.1.1915 wurde das Kombinierte Korps [Feldmarschallleutnant Alfred Krauß] in XIX. Korps umbenannt. 63 Kommando der Brückenköpfe Krems–Tulln–Wien–Poszony. 64 Seit 27.12.1914 »AEK der Balkanstreitkräfte«. 65 Geht mit 11.2.1915 über auf 6. AEK. 66 Ist das AEK der Armeegruppe v. Kövess. 67 Umbenannt in Armeegruppenkommando Tersztyánszky 11.6.1915. 68 Tatsächlich seit 8.5.1915 »7. Armeekommando«.

628

Rudolf Jeřábek, Wien Gültigkeit

Deckname

Truppenverband oder Kommando

Beginn

Ende

Starnadel

4. Armeekommando

15.05.1915

30.09.1915

Starorgan

5. Armeekommando

15.05.1915

30.09.1915

Starpegel

Operierendes Oberkommando

15.05.1915

30.09.1915

Starpunze

1. Armeekommando69

15.05.1915

30.09.1915

Starpunze

Armeegruppe Kirchbach

23.05.1915

10.06.1915

Starsappe

3. Armeekommando

15.05.1915

30.09.1915

Starsolid

2. Armeekommando

15.05.1915

30.09.1915

Startaler

Armeegruppe Kövess

15.05.1915

30.09.1915

Starviola

Rayon Banat

15.05.1915

30.09.1915

Stixangel

Gruppe Tamásy

15.05.1915

30.09.1915

Stixaroma

Gruppe Sarkotić

15.05.1915

30.09.1915

Stixerika

Deutsches 11. Armeekommando

15.05.1915

30.09.1915

Stixfritz

Armeegruppenkommando Petrovaradin

71

24.05.1915

11.05.1915

Stixfritz

Armeegruppenkommando. Tersztyánszky

11.05.1915

30.09.1915

70

Stixhofer

Landesverteidigungskommando Tirol

24.05.1915

30.09.1915

Stixkamin

Armeegruppe Pflanzer72

15.05.1915

30.09.1915

Stixklaue

Gruppenkommando Rohr

15.05.1915

30.09.1915

Stixkopal

Kommando der Südwestfront

24.05.1915

30.09.1915

Stixlinde

Kommando der Bugarmee

11.07.1915

30.09.1915

Stixlotse

Deutsche Südarmee

15.05.1915

30.09.1915

Stixnadel

4. Armeekommando

15.05.1915

30.09.1915

Stixorgan

5. Armeekommando

15.05.1915

30.09.1915

Stixpegel

Operierendes Oberkommando

15.05.1915

30.09.1915

Stixpunze

1. Armeekommando73

15.05.1915

30.09.1915

Stixpunze

Armeegruppe Kirchbach

23.05.1915

10.06.1915

Stixsappe

3. Armeekommando

15.05.1915

30.09.1915

Stixsolid

2. Armeekommando

15.05.1915

30.09.1915

74

69 Am 23.5.1915 übergegangen auf Armeegruppe Kirchbach. 70 Am 23.5.1915 übergegangen vom 1. Armeekommando auf Armeegruppe Kirchbach bis 10.6.1915. 71 Umbenannt in Armeegruppenkommando Tersztyánszky 11.6.1915. 72 Tatsächlich seit 8.5.1915 »7. Armeekommando«. 73 Am 23.5.1915 übergegangen auf Armeegruppe Kirchbach. 74 Am 23.5.1915 übergegangen vom 1. Armeekommando auf Armeegruppe Kirchbach bis 10.6.1915.

629

Die Decknamen der Truppenverbände und höheren Kommanden Gültigkeit

Deckname

Truppenverband oder Kommando

Beginn

Ende

Stixtaler

Armeegruppe Kövess

15.05.1915

30.09.1915

Stixviola

Rayon Banat

15.05.1915

30.09.1915

Telpegel

Chef des Feldtelegraphenwesens

15.05.1915

Bleibt

Telzinne

Chef des Feldtelegraphenwesens

11.02.1915

14.05.1915

Ulmklotz 1

1. Korps

31.08.1914

15.09.1914

Ulmkosak 1

1. Kavallerietruppendivision

31.08.1914

15.09.1914

Ulmlabil

Landsturmbrigade

31.08.1914

15.09.1914

Ulmmaxim

Marschbrigade

31.08.1914

15.09.1914

Ulmtexas 1

1. Infanterietruppendivision

31.08.1914

15.09.1914

Uzlantik 1

1. Kavallerietruppendivision

01.12.1914

31.12.1914

Uzldampf

3. Armeekommando

16.08.1914

15.09.1914

Uzldruck

3. Armeeetappenkommando

16.08.1914

15.09.1914

Uzlempor

1. Armeekommando

16.08.1914

15.09.1914

Uzlexakt

1. Armeeetappenkommando

16.08.1914

15.09.1914

Uzlfelix

5. Armeekommando

16.08.1914

15.09.1914

Uzlfilms

5. Armeeetappenkommando

16.08.1914

15.09.1914

Uzlklein 1

1. Infanterie- bzw. Gebirgsbrigade

01.12.1914

31.12.1914

Uzlknute

Armeegruppenkommando Krakau

16.08.1914

15.09.1914

75

Uzllitze

Armeegruppenkommando Lütgendorf

31.08.1914

15.09.1914

Uzlnebel 1

1. Infanterietruppendivision

01.12.1914

31.12.1914

Uzlolymp

Operierendes Oberkommando

16.08.1914

15.09.1914

Uzloskar 11

1. Korps

01.12.1914

31.12.1914

Uzlozean

Etappenoberkommando

16.08.1914

15.09.1914

Uzlperle

Potiorek

21.08.1914

15.09.1914

Uzlprag

Etappengruppenkommando Petrovaradin

31.08.1914

15.09.1914

Uzlsport

6. Armeekommando

16.08.1914

15.09.1914

Uzlstahl 1

1. Landsturmbrigade

01.12.1914

31.12.1914

Uzlstolz

6. Armeeetappenkommando

16.08.1914

15.09.1914

Uzltempo

Tersztyánszky

21.08.1914

15.09.1914

Uzlvesuv

4. Armeekommando

16.08.1914

15.09.1914

75 Wurde bald nach Operationsbeginn durchgängig nach ihrem Kommandanten »Armeegruppe Kummer« benannt. Aufgelöst mit 17.9.1914.

630

Rudolf Jeřábek, Wien Gültigkeit

Deckname

Truppenverband oder Kommando

Beginn

Ende

Uzlvolta

4. Armeeetappenkommando

16.08.1914

15.09.1914

Uzlzobel

2. Armeekommando

16.08.1914

15.09.1914

Uzlzwist

2. Armeeetappenkommando

16.08.1914

15.09.1914

Waldbeton

Armeeoberkommando

06.10.1914

30.11.1914

Waldepheu

6. Armeekommando

06.10.1914

30.11.1914

Waldidyll

1. Armeekommando

06.10.1914

30.11.1914

Waldobhut

Potiorek

06.10.1914

30.11.1914

Waldquell

4. Armeekommando

06.10.1914

30.11.1914

Waldrapid

3. Armeekommando

06.10.1914

30.11.1914

Waldrobot

Armeegruppenkommando Krauß

06.10.1914

30.11.1914

Waldtanne

Militärkommando Temesvar

22.10.1914

28.10.1916

Waldteufel

50. Infanterietruppendivision

22.10.1914

28.10.1916

Waldulrik

5. Armeekommando

06.10.1914

30.11.1914

Waldungar

Armeegruppenkommando Lütgendorf

06.10.1914

30.11.1914

Waldwespe

2. Armeekommando

06.10.1914

30.11.1914

Welsaroma

Etappenabteilung Sarkotić

24.05.1915

30.09.1915

Welserika

Etappengruppenkommando 11

15.05.1915

30.09.1915

Welsfranz

Etappengruppenkommando 8

04.07.1915

30.09.1915

Welsfritz

Etappengruppenkommando Petrovaradin

24.05.1915

30.09.1915

Welsfritz

Etappengruppenkommando 1277

27.05.1915

30.09.1915

Welshofer

Etappenabteilung des Landesverteidigungskommandos Tirol

24.05.1915

30.09.1915

Welskamin

Etappengruppenkommando 8

15.05.1915

30.09.1915

Welsklaue

Etappenabteilung des Gruppenkommandos Rohr

15.05.1915

30.09.1915

Welsklaue

Etappengruppenkommando 10

15.05.1915

30.09.1915

Welslotse

Etappengruppenkommando 7

15.05.1915

30.09.1915

Welsnadel

4. Armeeetappenkommando

15.05.1915

30.09.1915

Welsorgan

5. Armeeetappenkommando

15.05.1915

30.09.1915

Welspegel

Etappenoberkommando

15.05.1915

30.09.1915

Welspunze

1. Armeeetappenkommando

15.05.1915

30.09.1915

76

78

76 Etappenkommando der Armeegruppe Terzstyánszky  ? 77 Teil des Etappenkommandos der Balkanstreitkräfte. 78 Tatsächlich seit 8.5.1915 »7. AEK«.

631

Die Decknamen der Truppenverbände und höheren Kommanden Gültigkeit

Deckname

Truppenverband oder Kommando

Beginn

Ende

Welssappe

3. Armeeetappenkommando

15.05.1915

30.09.1915

Welssolid

2. Armeeetappenkommando

15.05.1915

30.09.1915

Welstaler

6. Armeeetappenkommando

15.05.1915

30.09.1915

Wolfaroma

Etappenabteilung Sarkotić

24.05.1915

30.09.1915

Wolferika

Etappengruppenkommando 11

15.05.1915

30.09.1915

Wolffranz

Etappengruppenkommando 8

04.07.1915

30.09.1915

Wolffritz

Etappengruppenkommando Petrovaradin79

24.05.1915

30.09.1915

Wolffritz

Etappengruppenkommando 12

27.05.1915

30.09.1915

Wolfhofer

Etappenabteilung des Landesverteidigungskommandos Tirol

24.05.1915

30.09.1915

Wolfkamin

Etappengruppenkommando 881

15.05.1915

30.09.1915

Wolfklaue

Etappenabteilung des Gruppenkommandos Rohr

15.05.1915

30.09.1915

Wolfklaue

Etappengruppenkommando 10

15.05.1915

30.09.1915

Wolflotse

Etappengruppenkommando 7

15.05.1915

30.09.1915

Wolfnadel

4. Armeeetappenkommando

15.05.1915

30.09.1915

Wolforgan

5. Armeeetappenkommando

15.05.1915

30.09.1915

Wolfpegel

Etappenoberkommando

15.05.1915

30.09.1915

Wolfpunze

1. Armeeetappenkommando

15.05.1915

30.09.1915

Wolfsappe

3. Armeeetappenkommando

15.05.1915

30.09.1915

Wolfsolid

2. Armeeetappenkommando

15.05.1915

30.09.1915

Wolftaler

6. Armeeetappenkommando

15.05.1915

30.09.1915

80

79 Etappenkommando der Armeegruppe Terzstyánszky  ? 80 Teil des Etappenkommandos der Balkanstreitkräfte. 81 Tatsächlich seit 8.5.1915 »7. AEK«.

Peter Fitl, Öblarn*

Lublin – Kragujevac Manipulierte milde und harsche Militärjustiz nach den Heimkehrermeutereien im Frühjahr 1918

Mit dem Waffenstillstand vom 15. Dezember 1917 war der Krieg Österreich-Ungarns gegen Russland beendet.1 Da nach der Machtübernahme durch die Bolschewiken die Kriegsgefangenen nicht mehr interniert waren, konnten sie trotz fehlender zwischenstaatlicher Vereinbarungen über den Gefangenenaustausch – der Friedensvertrag von Brest-Litowsk wurde erst am 3. März 1918 geschlossen – heimkehren. Bis April 1918 erreichten circa 360.000 österreichische Kriegsgefangene die Heimat.2 Der Empfang in der Heimat war für die Heimkehrer indes ernüchternd. Sie kamen zunächst in Quarantänelager, in denen sie neben ärztlichen Kontrollen auch eine disziplinäre Nachschulung zu absolvieren hatten. Von den Lagern wurden sie zu ihren jeweiligen Ersatzkörpern verfrachtet, wo sie sich den demütigenden Rechtfertigungsverfahren zu unterziehen hatten  : Man argwöhnte, ihre Gefangennahme wäre in Wahrheit Desertion gewesen und sie hätten sich bolschewistische Ideen zu Eigen gemacht. Erst nach dieser mehrwöchigen Prozedur erhielten sie einen meist vierwöchigen Heimaturlaub, bei dem sie die desillusionierende Notlage des Hinterlands erwartete. Deprimierend waren auch die Verhältnisse bei den Ersatzformationen. Es fehlt an allem und jedem  : an Nahrung, Kleidung, Ausrüstung und nicht zuletzt an fähigen Offizieren. Damit sind die Hauptursachen der Heimkehrermeutereien, die im Kern Hungerrevolten waren, umrissen, mögen am Rande auch revolutionäre Ideen eine Rolle gespielt haben und mögen einige der Meutereien – so auch jene in Kragujevac – aus dem Ruder gelaufene Alkoholexzesse gewesen sein.

* Abkürzungen  : AOK  : Armeeoberkommando  ; HHStA  : Haus-, Hof- und Staatsarchiv  ; K  : Karton  : KA  : Kriegsarchiv  ; KM  : Kriegsministerium  ; MDA  : Ministerium des Äußeren  ; MGG  : Militärgeneralgouvernement  ; MilKdo  : Militärkommando  ; MIÖG  : Mitteilungen des Institutes für Österreichische Geschichtsforschung  ; MKSM  : Militärkanzlei Seiner Majestät  ; MStG  : Militärstrafgesetz  ; MStPO  : Militärstrafprozessordnung  ; ÖStA  : Österreichisches Staatsarchiv  ; PA  : Politische Abteilung. 1 Auf die Offensive der Mittelmächte als Reaktion auf die Erklärung Russlands, den Krieg einseitig zu beenden, wird hier nicht näher eingegangen. 2 Vgl. Ot to Wasserm a ir, Die Meutereien der Heimkehrer aus russischer Kriegsgefangenschaft bei den Ersatzkörpern der k. u. k. Armee im Jahr 1918, phil. Diss. Wien 1968, 70– 93.

634

Peter Fitl, Öblarn

Über Ursachen und Ablauf der Meutereien liegen detaillierte historische Arbeiten vor,3 nicht indes über die folgenden Kriegsgerichtsprozesse. Im Folgenden wird daher nach einer ganz bewusst sehr knapp gehaltenen Schilderung des Ablaufs der Meutereien in Lublin und Kragujevac auf die nachfolgenden Standgerichtsprozesse eingegangen, die die beiden Extreme markieren  : verständnisvolle Milde und drakonische Strenge. Von besonderem Interesse ist, dass – als Reaktion auf die Extremsituation der Meutereien – die höheren Kommanden auf den Ausgang der Prozesse Einfluss nahmen. Rechtsdogmatischen Überlegungen wird nur soweit Raum gegeben, wie dies für das Verständnis der Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, erforderlich ist.

1. Der Ablauf der Meutereien 1.1 Lublin Mitte Mai 1918 informierte Baron Hoenning, der Vertreter des Außenministeriums im Militärgeneralgouvernement Polen, den Generalgouverneur, General Anton Liposzak, über ihm, Hoenning, gegebene Informationen, »unter den aus dem Ausland zurückgekehrten Kriegsgefangenen würde sich eine starke Gärung und Erbitterung bemerkbar machen«.4 General Liposzak ordnete daraufhin in der Absicht, »den Ursachen der Bewegung unter den Mannschaften auf den Grund zu kommen,«5 eine Besichtigung des Ersatzbataillons Infanterieregiment 58 für den 20. Mai an und forderte an diesem Tag die angetretenen Soldaten – vorwiegend Ruthenen – zu Beginn der Besichtigung auf, sie mögen ihm ihre Wünsche und Beschwerden vorbringen.6 Ein Gefreiter, der daraufhin vortrat und vorbereite Fragen aus seinem Notizbuch vorlas, vergriff sich dabei im Ton, woraufhin General Liposzak ihn verhaften ließ und damit die Meuterei auslöste.7 Als der Gefreite durch eine Eskorte in den Arrest abgeführt werden sollte, stürmten Soldaten, die zugleich Schüsse in die Luft abfeuerten, auf die Eskorte zu, befreiten den Gefreiten und verschanzten sich in ihrem Quartier. Erst als die Erstürmung 3 Ebd., passim  ; R ich a r d Georg Pl aschk A – Horst H aselsteiner – A rnold Suppa n, Innere Front. Militäreinsatz, Widerstand und Umsturz in der Donaumonarchie 1918, Band 1, passim, Wien 1974. 4 ÖStA HHStA MDA PA I 818, Krieg 10, Bericht 71B, Bericht Hoenning an Außenminister Burian (22.5.1918). 5 ÖStA KA MKSM 1918, 28-2/39-2, Bericht Liposzak an MKSM (21.5.1918). 6 ÖStA HHStA MDA PA I 818, Krieg 10, Bericht 71B, Bericht Hoenning an Außenminister Burian (22.5.1918)  ; General Liposzak sprach fließend Russisch und konnte sich daher mit den Soldaten ohne Zuziehung eines Dolmetschers problemlos verständigen. 7 Wasserm a ir, Meuterei, 131–133  ; Pl aschk a – H aselsteiner – Suppa n, Front, 309f  ; ÖStA KA KM Abt. 4G 1918 A8-1/134.Urteil des Gerichtes des k. u. k. Gouvernementinspizierenden in Lublin K 1862/18 (28.5.1918).

Lublin – Kragujevac

635

des Quartiers durch das mittlerweile alarmierte Sturmbataillon angedroht wurde, gaben die Meuterer auf und wurden arretiert. 1.2 Kragujevac In Kragujevac war Alkohol im Spiel  : Am 2. Juni – einem heißen Sonntag – hatten die Mannschaften des Ersatzbataillons Infanterieregiment 71 in der Stadt scharf gezecht. Als einer der Soldaten bei seiner verspäteten Rückkehr im Quartier randalierte und vom diensthabenden Feldwebel für den nächsten Tag zum Rapport befohlen wurde, kamen dem Soldaten seine betrunkenen Kameraden zu Hilfe und verprügelten den Feldwebel. Damit war der Bann gebrochen  : Die Mannschaften des Bataillons bewaffneten sich und stürmten die Kaserne. Dem Feldwebel war es zwar gelungen zu entkommen und die Kasernenwache zu alarmieren, die aber – gerade elf Mann stark – überrannt wurde. Der Wachkommandant erhielt einen Lungendurchschuss und einen Kolbenhieb über den Kopf. Die Kaserne wurde geplündert, die Kantine demoliert und die Kompaniekasse mit 110.000 Kronen erbrochen. Ein Plan für das weitere Vorgehen fehlte. Ein Trupp zog zum Arsenal, um Munition zu beschaffen, ein anderer zum Bahnhof, der besetzt und dessen Telefonanlage zerstört wurde. Das Gros der Soldaten indes plünderte die Geschäfte in der Stadt. Der Angriff auf das Arsenal schlug fehl. Die Garnison war mittlerweile alarmiert worden und deren Kommandant hatte entschlossene Gegenmaßnahmen organisiert. Die Meuterer konnten nach und nach unter Einsatz von Maschinengewehren in die Kaserne zurückgedrängt werden, wo sie sich verschanzten. Die Rückeroberung der Kaserne gelang erst nach Artilleriebeschuss. 500 bis 600 Mann hatten gemeutert, sechs von ihnen waren getötet, zehn verwundet worden. Von den Truppen, die gegen die Meuterer eingesetzt worden waren, fielen ein Offizier und ein Infanterist.

2. Militärjustiz im Ersten Weltkrieg In der Habsburgermonarchie unterstanden Soldaten einer eigenen Militär- als Sondergerichtsbarkeit, deren Personal sich ausschließlich aus Offizieren ergänzte. Jurisdiktionelle und prozessuale Grundlage dieser Sondergerichtsbarkeit war die am 1. Juli 1914 in Kraft getretene Militärstrafprozessordnung 1912 (»MStPO«). Sie verwirklichte die zeitgenössische Vorstellung, das Strafverfolgungsrecht müsse Teil der Kommandogewalt sein, durch die »zuständigen Kommandanten«,8 die als Kommandanten militärischer Einheiten von der Brigade aufwärts zugleich Chefs der militärischen Anklagebehörde und als solche von keiner zivilen Staatsanwaltschaft 8 § 30 MStPO.

636

Peter Fitl, Öblarn

abhängig waren. Die Militärgerichte selbst waren hingegen personell, disziplinär und organisatorisch von der Militärverwaltung vollkommen getrennt. Die Unabhängigkeit der Richter war gesetzlich festgelegt.9 Das Prinzip des gesetzlichen Richters war in moderner Weise auch hinsichtlich der Truppenoffiziere als beisitzende Laienrichter dadurch verwirklicht, dass deren Kommandierung in einer zu Beginn eines jeden Jahres im Voraus zu bestimmenden Reihenfolge zu geschehen hatte.10 Für mobilisierte Truppen wurden die ordentliche Gerichte indes durch mobile Feldkriegsgerichte ersetzt,11 die ein vereinfachtes summarisches Verfahren anzuwenden hatten und im Grunde nur ad hoc gebildete Spruchsenate waren, die »über Berufung des zuständigen Kommandanten fallweise zusammen tr[a]ten«.12 Diese Senate setzten sich wie jene der ordentlichen Gerichte aus einem Justizoffizier (dem »Auditor«, einem Juristen) und vier Truppenoffizieren als Laienrichter zusammen. Der zuständige Kommandant konnte aber im Gegensatz zum ordentlichen Verfahren die Besetzung nach Belieben bestimmen  : Er war bei der Kommandierung der Offiziere als beisitzende Laienrichter an keine vorherbestimmte Reihenfolge gebunden und konnte die »ihm zugewiesenen« Justizoffiziere nach freiem Ermessen in richterlicher oder staatsanwaltschaftlicher Funktion einsetzen.13 Nach Meinung des zeitgenössischen Strafrechtsordinarius Wenzel Graf Gleispach war der Begriff »zugewiesen« nur in dem Sinne zu verstehen, dass die Justizoffiziere dem Stab des zuständigen Kommandanten organisatorisch angegliedert wurden, ohne dass sich daraus deren Unterordnung ergab.14 Die militärische Praxis im Ersten Weltkrieg sah freilich anders aus  : So bestimmte das Kommando Südwestfront, dass »das gesamte […] Militärjustizpersonal und die aus diesem Personal gebildeten […] Feldgerichte ihrem zuständigen Kommandanten« unterstehen.15 Wenig später ergänzte das Heeresgruppenkommando Erzherzog Eugen, dass im Feldverfahren »alle zugewiesenen Offiziere für den Justizdienst […] dem zuständigen Kommandanten untergeordnet [sind] und in disziplinärer Bestimmung ausschließlich den Bestimmungen des Dienstreglements unterliegen.«16 Dies galt wohlgemerkt auch dann, wenn diese Justizoffiziere in richterlicher (und damit grundsätzlich unabhän 9 § 26 MStPO. 10 §§ 53–55 MStPO. 11 §§ 451–486 MStPO. 12 § 462 MStPO. 13 § 472 MStPO. 14 Wenzel Gr a f Gleispach, Die Unabhängigkeit der Richter bei der Armee im Felde. Eine Erwiderung, in  : Albin Schager (Hg.), Zeitschrift für Militärrecht Band 1, Wien–Leipzig 1917, 353–361, hier  : 356. 15 Kommando Südwestfront Op. 13.365/1915, Text bei A lbin Sch ager (Hg.), Das militärische Strafverfahren im Felde. Nach Gesetzen, Verordnungen, Erlässen als Hilfsbuch zusammengestellt, Basiswerk Wien 1916, mit Nachträgen I und II, Wien 1916, und III, Wien 1918, hier  : Basiswerk, 167. 16 Ebd. Nachtrag II, 585.

Lublin – Kragujevac

637

giger) Funktion tätig wurden. Es gab also Möglichkeiten, die Feldkriegsgerichte im Interesse einer strengeren Rechtsprechung zu beeinflussen, von denen die höheren Kommanden auch Gebrauch machten, wie etwa mit Erlass des Armeeoberkommandos Op. 47.057/16, der strengere Urteile einforderte.17 Die Offiziere des Soldatenstandes, die als Laienrichter im Spruchsenat die Mehrheit hatten, neigten indes zur Milde. Im standrechtlichen Verfahren versuchten sie häufig dem gesetzlichen Zwang, im Falle eines Schuldspruchs ein Todesurteil zu fällen,18 dadurch zu entgehen, dass sie das Verfahren in die Länge zogen, sodass nach Ablauf der maximalen Frist von 72 Stunden, in denen ein Standrechtsverfahren beendet sein musste, die Strafsache an das ordentliche (Feldkriegs-) Gericht abzutreten war – eine häufig geübte Praxis nach dem Bericht des zeitgenössischen Auditors Fritz Byloff.19 Nach Ernst Lohsing, einem anderen zeitgenössischen Auditor, wurde ein Todesurteil im Standrechtsverfahren oftmals erst möglich, nachdem der Auditor auf das Recht, einen Begnadigungsantrag zu stellen, hingewiesen und allfällige Bedenken, ob diesem auch stattgegeben würde, zerstreut hatte.20 Die höheren Kommanden und das Kriegsministerium versuchten daher auch, die Besetzung der Spruchsenate zu beeinflussen. Der Erlass des Kriegsministeriums vom 13. Juni 1918 beispielsweise ordnete an, dass Offiziere, die als prinzipielle Gegner der Todesstrafe bekannt waren, nicht als Richter bestimmt werden sollten.21 Gegen Ende des Krieges verfügte der Chef des Generalstabs mit Erlass vom 4. Oktober 1918 sogar, dass gegen Offiziere, die wegen ihrer prinzipiellen Ablehnung der Todesstrafe in einer Gerichtsverhandlung gegen die Todesstrafe stimmen, »das gerichtliche Verfahren platzzugreifen« habe.22 Eine eklatante Missachtung der gesetzlich garantierten richterlichen Unabhängigkeit, die freilich angesichts des Datums dieses Erlasses keine praktische Wirkung mehr entfaltet haben wird. Einflussnahmen im konkreten Fall waren heikel, weil es legal unmöglich war, das Abstimmungsverhalten der grundsätzlich unabhängigen Richter vorzugeben. Man wird es also vermieden haben, derartige Versuche aktenkundig zu machen, wie es – ein seltener Fall – im Standgerichtsverfahren nach der Meuterei in Pécs von 20. Mai 1918 geschehen ist  : Das Militärkommando Budapest meldete in seinem Bericht an das Kriegsministerium vom 14. Juni. 1918, dass »zwei Offiziere in unauffälliger Weise von den Standgerichtsamtshandlungen enthoben wurden, da sie im Ver17 Ebd. Nachtrag I, 49. 18 § 444 MStPO. 19 Fritz By loff, Zur Psychologie des Standrechtes, in  : Monatszeitschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform, 1921/22 (1922), 78–91, hier  : 89. 20 Ernst Lohsing, Feldgerichtliche Erinnerungen eines Deutsch-Österreichers, in  : Archiv für Kriminologie 73, 1921, 54– 69, hier  : 60. 21 ÖStA KA KM Abt. 5, 1918, 64-26/3, Erlass KM Nr. 6035 (13.6.1918). 22 ÖStA KA KM Abt. 5, 1918, 64-26/39, Erlass Generalstab Op. 112.513 (4. Oktober 1918).

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Peter Fitl, Öblarn

dacht waren, prinzipielle Gegner der Todesstrafe zu sein.«23 Die Wortwahl – »in unauffälliger Weise« – verdeutlicht, dass die Anrüchigkeit dieser Vorgangsweise sehr wohl bewusst war. In diesem Bericht heißt es weiter, dass »wegen Einschränkung der Justifizierung […] nach dem Vollzug der ersten Todesstrafen Weisungen später folgen [werden], die nach § 444 III Abs.Mil.Straf.-PO zu berücksichtigen« wären. Der zitierte § 444 MStPO erlaubte den Richtern eines Standgerichtes statt der eigentlich zwingenden Todesstrafe eine Kerkerstrafe zu verhängen, wenn der Vollzug der »Todesstrafe an einem oder mehreren der Strafwürdigsten« für die gewünschte abschreckende Wirkung genügte. Diese Entscheidung hatten aber die unabhängigen Richter zu treffen. Vorgaben, wie sie das Militärkommando Budapest ankündigte, waren klar gesetzwidrig. Dessen Bemühungen hatten freilich nur teilweise Erfolg, weil sich die Truppenoffiziere als beisitzende Richter doch nicht im gewünschten Sinne steuern ließen  : Zwar trug »die Militäranwaltschaft […] den strengen Forderungen der Disziplin Rechnung, doch wurden ihre Bemühungen oft überraschend für sie selbst durch die Urteilsabstimmung vielfach eingeengt. […] Einige Standgerichte haben entschieden versagt«,24 heißt es im vorerwähnten Bericht. Das Gros der militärgerichtlichen Todesurteile im Ersten Weltkrieg wurde freilich nicht vollstreckt, weil die höheren Kommanden in vielen Fällen zur Erzielung der gewünschten abschreckenden Wirkung die Verhängung der Todesstrafe allein als ausreichend betrachteten und danach Gnade walten ließen.25 Machte der zuständige Kommandant von seinem Gnadenrecht Gebrauch und wandelte Todesurteile in Kerkerstrafen um, konnte er überdies den Strafvollzug aufschieben oder unterbrechen und gegebenenfalls auch »eine Strafmilderung oder Strafnachsicht für den Fall des tapferen Verhaltens vor dem Feind in Aussicht stellen.«26 Angesichts des Mangels an Mannschaften wurde von dieser Möglichkeit häufig Gebrauch gemacht. Im Verordnungsweg wurden detaillierte Vorgaben getroffen.27

3. Die Prozesse Lublin und Kragujevac 3.1 Lublin Dies war das Szenario in Lublin  : General Liposzak, der Verständnis für die berechtigten Sorgen und Nöte der ihm unterstellten Mannschaften hatte, reagierte auf die 23 ÖStA KA KM Abt. 5, 1918, 64-50/91, MilKdo. Budapest an KM (14.6.1918). 24 Ebd. In Pécs tagten vier Standgerichte. 25 Peter Fitl, Die Verzeichnisse der k. u. k. militärgerichtlichen Standrechtsurteile – ein Sensationsfund  ? Überlegungen zur Zahl der militärgerichtlichen Exekutionen in der österreichisch-ungarischen Armee im Ersten Weltkrieg und die Thesen Hans Hautmanns, in  : MIÖG 129/2 (2021), 387–410  : hier 404, Tabelle 410. 26 § 480 MStPO. 27 Vgl. die Verordnungen bei Sch ager, Militärstrafverfahren, Basiswerk, 175–178, II, 8, III 233–235.

Lublin – Kragujevac

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Meuterei ungewöhnlich  : Er ließ anderntags die Mannschaften des Ersatzbataillons nochmals antreten und forderte sie neuerlich – diesmal mit Erfolg – auf, ihm ihre Wünsche und Beschwerden vorzutragen. Die Berechtigung ihrer Beschwerden – mangelnde Nahrung und Kleidung, schleppende Auszahlung der Gebühren, der für die auch nur ansatzweise Inangriffnahme der Beseitigung der Schäden an den Anwesen im zerstörten Ostgalizien mit nur vier Wochen viel zu kurz bemessene Heimaturlaub – war Liposzak bewusst. Am Ende seines Berichtes28 an die kaiserliche Militärkanzlei schreibt er, es sei »die Erhebung29 der Anordnung des Standgerichtsverfahrens, bei der [er] die größtmögliche Strenge walten lassen wolle, im Zuge«.30 Er »bitte aber, diese Erscheinungen nicht lediglich auf dem einseitigen Boden der Kriegsartikel zu beurteilen, sondern in das Licht aller Ursachen zu rücken, die [er] im Bericht angeführt habe.«31 Ein Widerspruch  ? Dieser vermeintliche Widerspruch wird durch Baron Hoenning aufgeklärt, der in seinem noch vor Eröffnung des Standgerichtsprozesses verfassten Bericht an Außenminister Burian schreibt  : »Die standgerichtliche Untersuchung ist im Gange und muss mit der Verurteilung zur Todesstrafe aller Beteiligten endigen, es ist aber (wie mir streng vertraulich mitgeteilt wurde) sicher, dass sie bei keinem zur Anwendung gelangen wird. Sie werden alle zu Kerkerstrafen begnadigt werden.«32 Es liegt auf der Hand  : General Liposzak zog im Hintergrund die Fäden. Als ranghöchster Repräsentant des Heeres im Generalgouvernement konnte er zweifellos seinen Vorstellungen – die möglicherweise ohnehin auf offene Ohren stießen – Nachdruck verleihen. Es spricht alles dafür, dass er mit dem zuständigen Kommandanten des Ersatzbataillons, Generalmajor Heinrich von Testa – als solcher zwei Rangstufen unter General Liposzak – Einvernehmen erzielte, ganz so wie von Baron Hoenning avisiert, zwar der Papierform nach ein Exempel zu statuieren und alle für schuldig befundenen Soldaten zum Tode zu verurteilen, diese sodann aber zu Kerkerstrafen zu begnadigen und nach Ablauf einer gewissen Frist zur Bewährung an der Front aus der Haft zu entlassen. Der Gerichtsakt ist – sollte er physisch noch existieren – nicht greifbar  ; es gibt aber eine Abschrift des Urteils des Gerichtes des k. u. k. Inspizierenden in Lublin vom 25. Mai 1918,33 das Informationen zum Prozess enthält. Angeklagt waren 101 28 ÖStA KA MKSM 1918, 28-2/39-2, Bericht Liposzak an MKSM (21.5.1918). 29 Gemeint wohl die Ermittlungen vor der Entscheidung, ob ein Standrechtsverfahren angeordnet werden soll. 30 General Liposzak war nicht zuständiger Kommandant des Ersatzbataillons und hatte daher im Standrechtsverfahren keine Funktion. 31 ÖStA KA MKSM 1918, 28-2/39-2, Bericht Liposzak an MKSM (21.5.1918). 32 ÖStA HHStA MDA PA I 818, Krieg 10, Bericht 71B, Bericht Hoenning an Außenminister Burian (22.5.1918). 33 ÖStA KA KM Abt. 4G 1918 A8-1/134.Urteil des Gerichtes des k. u. k. Gouvernementinspizierenden in Lublin K 1862/18 (28.5.1918).

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Peter Fitl, Öblarn

Soldaten. Die Hauptverhandlung wurde am 25. Mai um 08  :00 Uhr eröffnet und am 28. Mai um 05  :20 Uhr geschlossen – die Nacht zuvor war offensichtlich durchverhandelt worden, um sämtliche Angeklagten und sechs Offiziere als Zeugen noch vor Ablauf der 72-stündigen Frist einzuvernehmen. Das Urteil wurde im unmittelbaren Anschluss an die Hauptverhandlung schriftlich durch den Verhandlungsleiter trotz seiner gewiss gegebenen Übermüdung sehr präzise ausgearbeitet und ist sorgfältig begründet. Das Urteil differenziert zwischen dem Anfangsstadium der Meuterei, als zunächst nur einige Soldaten beteiligt waren, und der späteren Entwicklung, als die immer größer werdende Zahl der Meuterer die Alarmierung des Sturmbataillons erforderlich machte, wodurch die Meuterei in das schwerere Delikt der Empörung umschlug.34 Folgerichtig wurden 18 Angeklagte wegen Meuterei und Empörung, zehn hingegen nur wegen Empörung schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. 73 Angeklagte wurden freigesprochen. Sämtliche Angeklagte waren unbescholten und geständig, soweit sie sich tatsächlich etwas hatten zuschulden kommen lassen, und »legten [vor Gericht] ein offenes, freimütiges und soldatisches Benehmen an den Tag«.35 Dieses Verhalten dürfte es Generalmajor Testa leicht gemacht haben, im Sinne der zuvor getroffenen Absprachen zugleich mit der Urteilsbestätigung die Todesurteile »im Gnadenweg« in mehrjährige Kerkerstrafen umzuwandeln und nach kurzer Vollzugszeit »bei guter Aufführung denjenigen, die sich ins Feld melden, Strafunterbrechung […] und bei deren tapferem Verhalten vor dem Feinde Strafmilderung bzw. Strafnachsicht in Aussicht zu stellen.«36 3.2 Kragujevac In den überlieferten Berichten über die Meuterei in Kragujevac und den folgenden Standgerichtsprozess (der Gerichtsakt ist so wie jener zu Lublin verschollen) finden sich keine konkreten Hinweise auf allfällige Manipulationsversuche. Dennoch können diese mit Bestimmtheit angenommen werden  : Der Verhandlungsleiter, Hauptmannauditor Dr. Julius Kappel, traf am Nachmittag des 3. Juni (in den frühen Morgenstunden dieses Tages war die Meuterei niedergeschlagen worden) gemeinsam mit seinem Vorgesetzten, dem Justizreferenten des Militärgeneralgouvernements 34 §§ 159, 167 MStG. Meuterei ist die Auflehnung mehrerer Soldaten zum Ungehorsam  ; sie wird zur Empörung, wenn »eine Masse bewaffneter Soldaten« eine bewaffnete Gegengewalt zur Wiederherstellung der Ordnung erforderlich macht. Vgl. Georg Lelev er, Grundriss des Militärstrafrechtes, Leipzig 1909, 80f  ; Fer dina nd Schmid, Das Heeresrecht der österreichisch-ungarischen Monarchie, Wien 1903, 545f. 35 ÖStA KA KM Abt. 4G 1918 A8-1/134. Urteil des Gerichtes des k. u. k. Gouvernementinspizierenden in Lublin K 1862/18 (28.5.1918). 36 Ebd., Bestätigungsklausel.

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Serbien, Oberstleutnantauditor Dr. Cornelius Bardosy, in Kragujevac ein. Bardosy hatte im Prozess keine Funktion. Dennoch hat er die energische »Fortführung [der Vorerhebungen] in der von [ihm] angegebenen Richtung« betrieben.37 Die Vorerhebungen waren am 5. Mai abgeschlossen  ; der zuständige Kommandant ordnete das Standrechtsverfahren gegen 59 verdächtige Soldaten an. Die Hauptverhandlung begann am 6. Juni38 und wurde – wie die Erhebungen zuvor – »unter persönlicher Aufsicht von Oberstleutnant Bardosy […] durchgeführt«,39 der wohlgemerkt keine prozessuale Funktion wahrzunehmen hatte. Dr. Kappel war als Hauptmannauditor gewiss ein erfahrener Jurist, der keines Aufpassers bedurft hätte. Die Bedeutung des Prozesses ließ es aber offenbar angebracht erscheinen, für alle Fälle Vorsorge zu treffen und ihm einen höherrangigen Aufpasser beizugeben. Die Hauptverhandlung wurde am 7. Juni abends – also bereits nach zwei Tagen – beendet und das Urteil gefällt. Das Standgericht hatten in diesen zwei Tagen somit nicht nur die 59 Angeklagten und 69 Zeugen, zusammen 128 Personen einvernommen, sondern überdies mehrere Lokalaugenscheins- und Tatbestandsprotokolle, Situationsberichte des Kreiskommandanten sowie durch die Zensur abgefangene Briefe der Angeklagten verlesen.40 Angenommen an jedem dieser beiden Tage wurde zwölf Stunden – eine lange Zeit – verhandelt, dann standen für die Einvernahme jeder dieser 128 Personen nur wenig mehr als zehn Minuten zur Verfügung. Mangels Gerichtsakt stehen die Einvernahmsprotokolle nicht zur Verfügung. Die Vermutung liegt aber nahe, dass angesichts des gegebenen Zeitdrucks von maximal 72 Stunden, in dem das Verfahren beendet werden musste, die Vernehmung der Angeklagten, von denen keiner geständig war oder Kameraden verraten hatte,41 sehr schnell beendet war, ohne den Versuch zu unternehmen, durch intensiveres Befragen doch noch zu einer inhaltlich relevanten Aussage zu gelangen. Die Ausfertigung des Urteils durch Dr. Kappel »erfolgte noch in der Nacht auf den 8. Juni, sodass genannter Hauptmannauditor vom 7. Juni früh bis 8. Juni 8 Uhr 30 vM mit bloß einer je einstündigen Pause zu Mittag und abends die ganze Zeit bei Anspannung seiner ganzen Kraft arbeiten musste.«42 44 Soldaten wurden schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. Das Urteil selbst ist flüchtig ausgearbeitet. Die von den Angeklagten als erwiesen angenommenen Taten stützen sich – keiner von ihnen war geständig gewesen – ausschließlich auf die schriftlichen Berichte der Offiziere und deren mündliche Aussagen  ; 37 ÖStA KA KM Abt. 5A 1918, 64-50/9-17, Bericht Bardosy an MGG Serbien (11.6.1918). 38 Ebd. 39 ÖStA KA KM Abt. 5A 1918, 64-50/9-20, Bericht Kappel an MGG Serbien (29.6.1918). 40 ÖStA KA KM Abt. 4/G 1918 A 8-1/94, Urteil des Militärgerichtes des k. u. k. Kreiskommandos Kragujevac K 403/18 (8.6.1918). 41 Ebd  ; ÖStA KA KM Abt. 5A 1918, 64-50/9-20, Bericht Kappel an MGG Serbien (29.6.1918). 42 ÖStA KA KM Abt. 5A 1918, 64-50/9-17, Bericht Bardosy an MGG Serbien (11.6.1918).

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eine Beweiswürdigung im Sinne einer Auseinandersetzung mit widersprüchlichen Aussagen findet nur bei 16 der 44 verurteilten Angeklagten statt. Bei 14 Angeklagten erschöpft sich der im Urteilstenor festgehaltene Tatvorwurf in der abstrakten – und daher in Wahrheit nichtssagenden – Floskel, sie hätten »an den Exzessen der Aufständischen bewaffnet« teilgenommen. Logisch kaum nachvollziehbar ist die kryptische kurze rechtliche Würdigung, die im Folgenden vollständig zitiert wird  : »Unter den vorangeführten Fakten befinden sich auch solche, welche dem Tatbestande anderer ebenfalls unter standrechtlichem Verfahren stehenden Delikte näher zu kommen scheinen als jenem der Empörung. Abgesehen von allen auf der Hand liegenden Opportunitätsgründen wurden sie aber als Empörung klassifiziert, weil die Deliktsmerkmale ihre Anpassung in den allgemeinen Rahmen der letztgenannten strafbaren Handlung im gegebenen Fall mit Rücksicht auf den Zeitpunkt der Tatverübung sowie auf die Art und Umstände der Ausführung zweifellos ermöglichten.«43 Offenbar hatte Dr. Kappel § 443 MStPO im Auge, demzufolge ein Standgericht sich auf jene Tat zu beschränken hatte, die Anlass für die Anordnung des standrechtlichen Verfahrens gewesen war, und auf andere Straftaten keine Rücksicht zu nehmen hatte (die aber, wenn an dem betreffenden Angeklagten nicht die Todesstrafe vollzogen wurde, in einem nachfolgenden kriegsgerichtlichen Verfahren verfolgt werden konnten). Delikte wie Raub, Diebstahl oder Sachbeschädigung, die Soldaten nur gelegentlich der Empörung begangen hatten, wären daher an das Feldkriegsgericht abzutreten gewesen, was offenkundig unerwünscht war. Mit anderen Worten  : Das Gericht rechtfertigte »aus Opportunitätsgründen« die Verurteilung einzelner Angeklagter wegen Empörung, die sie tatsächlich nicht zu verantworten hatten, mögen sie sich auch anderer Delikte schuldig gemacht haben. Nach dem Urteilstenor traf dieses Szenario seltsamerweise nur auf einen einzigen, den Angeklagten Nr. 3, zu, dem die Verschleppung von 31.600 Kronen aus der erbrochenen Kompaniekassa und fremden Eigentums (also Diebstahl und Raub), nicht aber die Teilnahme an der Empörung zur Last gelegt wurde.44 Das fertiggestellte schriftliche Urteil wurde vom zuständigen Kommandanten am Morgen des 8. Juni bestätigt, um 10.00 Uhr den verurteilten Soldaten verkündet und um 14.00 Uhr bei angetretener Garnison zur Erzielung eines maximalen Abschreckungseffekts öffentlich vollzogen.45 Mit Befehl vom 7. Juni 1918 ordnete der Militärgeneralgouverneur in Serbien, Generaloberst von Rhemen, an, das Urteil allen Mannschaften des Militärgeneralgouvernements zu verlautbaren.46 43 ÖStA KA KM Abt. 4/G 1918 A 8-1/94, Urteil des Militärgerichtes des k. u. k. Kreiskommandos Kragujevac K 403/18 (8.6.1918). 44 Ebd. 45 Ebd., Vollzugsklausel. 46 ÖStA KA KM Abt. 5 1918 64-50/9-17, Befehl Rhemen (7.6.1918).

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Jene fünfzehn Soldaten, die nicht schuldig gesprochen worden waren, hatten sich gemeinsam mit weiteren neunzehn verdächtigen Soldaten in einem nachfolgenden feldkriegsgerichtlichen Verfahren zu verantworten. 29 von ihnen wurden noch vor Erhebung der Anklage mangels Beweisen »außer Verfolgung gesetzt«,47 fünf wegen Empörung zu langjährigen Kerkerstrafen verurteilt.48

4. Resümee Wie unterschiedlich die Militärjustiz auf die großen Heimkehrermeutereien im Frühjahr 1918 reagieren konnte, machen die beiden Urteile Lublin und Kragujevac deutlich  : Im Falle Lublin wurden die zum Tode verurteilten Meuterer infolge der zuvor arrangierten Begnadigung nach kurzer Zeit aus der Haft entlassen und durften bei Bewährung auf gänzliche Strafnachsicht hoffen. Im Falle Kragujevac wurde das drakonische Urteil indessen konsequent vollzogen  ; keine einzige Begnadigung wurde gewährt. War das Urteil in Kragujevac angemessen  ? Bei der Beantwortung dieser Frage lohnt sich ein Blick auf die Relation zwischen der Anzahl der Meuterer einerseits und den Exekutionen bei den großen Heimkehrermeutereien andererseits. Diese fanden innerhalb der kurzen Zeitspanne von gerade einmal drei Wochen statt  : Am 12./13. Mai 1918 in Judenburg (1200 Meuterer, 7 Exekutionen), am 20. Mai in Lublin (über 100 Meuterer, keine Exekution), am 20. Mai in Pécs (2000 Meuterer, 13 Exekutionen), am 21. Mai in Rumburg (650 Meuterer, 24 Exekutionen), am 23. Mai in Radkersburg (1600 Meuterer, 8 Exekutionen) und schließlich am 2. Juni in Kragujevac (500–600 Meuterer, 44 Exekutionen).49 Angesichts der Zahl der Meuterer von mehreren Hundert, zum Teil auch weit über tausend Mann und der Befürchtung, aus Meuterei könnte Revolution werden, blieb die Reaktion der Militärgerichte aus zeitgenössischer Sicht im Rahmen. Ein Sonderfall ist Kragujevac mit signifikant mehr Exekutionen, weil sich als Folge der Meutereien zuvor das Bestreben ergab, ein drastisches Exempel zu statuieren, um den Meutereien ein Ende zu bereiten. Und  : Kragujevac lag – anders als die Garnisonen der meuternden Mannschaften zuvor – in Serbien, im besetzten Feindesland. Dennoch wurden selbst in Kragujevac fünfzehn der Angeklagten nicht schuldig gesprochen – die Richter differenzierten also allen fachlichen Mängeln des Urteils zum Trotz zwischen Schuld und Unschuld. Die nach dem Krieg eingesetzte staatliche Kommission zur Erhebung militärischer Pflichtverletzungen kam in ihrem Bericht vom 7. April 1921 auch zur Conclusio, dass »das Urteil und der Vollzug des47 § 239 Abs. 2 MStPO. 48 ÖStA KA KM Abt. 5A 1918, 64-50/9-20, Bericht Kappel an MGG Serbien (29.6.1918). 49 Wasserm a ir, Heimkehrermeutereien, Statistik 435–448.

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selben wohl strenge, aber durch die Umstände geboten [war, weshalb] wohl keinem der daran Beteiligten der Vorwurf einer Pflichtverletzung gemacht werden kann.«50

50 ÖStA KA Feldakte AOK Parlamentarische Untersuchungskommission K 14/13, Bericht 97/19 (7.4.1921).

GESCHICHTE VON SCHU LE U N D U N I V ERSITÄT

John W. Boyer, Chicago*

The Universities as Realms of Political Discourse Student Protests and Party Politics in Imperial Austria

Perhaps the most formidable cultural institutions of the Monarchy after 1867 were the universities, not only as institutions of research, but as places of elite generation and cultural transformation. The Liberal Party in the 1860s and 1870s saw the universities as key agents of a system of general cultural enhancement sponsored by the state and manifesting a soft privileging of German culture.1 The University of Vienna between 1870 and 1918 was a particularly prestigious enterprise, and the list of notable scholars with European and even international reputations was stunning. In formal terms the universities were not only neutral, but they claimed a peculiar kind of autonomy from the state that paid their bills and from the civil servants and Cabinet ministers who ultimately approved their senior faculty appointments. Robert Luft has argued that university professors played a key role in the assemblage of political elites among the Czechs, and they frequently held influential party-political leadership roles as well. Among senior faculty in the German-speaking universities Walter Höflechner’s assessment of the situation in Graz, namely that “the professors were for the most part German-National oriented, even if they quite naturally avoided associating themselves with anti-Austrian radicalisms. Many of the faculty belonged to student fraternities as alumni [Alte Herren], and they were often honorary members of these groups and frequently took part in their social gatherings”, is likely applicable to Innsbruck and Vienna as well.2 Like their German counterparts, many Austrian academics were involved in political causes, if only from the sidelines as vociferous citizens, such as the professors who denounced the Badeni reforms in 1897. But they were no ordinary citizens since, as Jan Havránek has argued, univer* Abbreviations  : AVA  : Austrian State Archives, Allgemeines Verwaltungsarchiv  ; NÖLA  : Niederösterrei­ chisches Landesarchiv  ; Statt. Präs.: Statthalterei Präsidium  ; UAW  : Vienna University Archive. 1 Robert A. K a n n, Higher Education and Politics in the Austrian Constitutional Monarchy (1867–1918), in  : Stanley B. Winters (Hg.), Dynasty, Politics and Culture. Selected Essays, Boulder-Highland Lakes, New Jersey 1991, 312, 326–330. For the Liberal political tradition see Loth a r Höbelt, Kornblume und Kaiseradler. Die deutschfreiheitlichen Parteien Altösterreichs 1882–1918, Wien 1993. 2 Robert Luft, Parlamentarische Führungsgruppen und politische Strukturen in der tschechischen Gesellschaft. Tschechische Abgeordnete und Parteien des österreichischen Reichsrates 1907–1914, München 2012, 634–636  ; Wa lter Höflechner, Zur Geschichte der Universität Graz, in  : Kurt Freisitzer et al. (Hg.), Tradition und Herausforderung. 400 Jahre Universität Graz, Graz 1985, 39–40.

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sity professors enjoyed growing levels of social and civic prestige over the second half of the nineteenth century, leading some to enjoy prominent civic roles in the Abgeordnetenhaus and the Herrenhaus, in the regional Diets, in the high courts, and in various forms of ministerial positions. Inevitably, all of this movement complicated lines between political partisanship and scientific objectivity, and while within their classrooms academics could claim unalloyed academic freedom, once they stepped out onto the political stage, they became fair game, as did their universities they represented.3 Universities in Austria were not politicized suddenly in 1938 – partisan commitment to many different political and civic causes in the persons of individual professors was evident long before 1918. Yet the most prominent feature of the political character of the universities after 1880 was not the politics of their faculties, but rather their image as sites tolerating the unruly and disruptive political activities of a subset of their students. The emergence and expansion of both German Nationalist and anti-Semitic thought and advocacy on the part of significant numbers of Austrian university students beginning in the 1880s is well known. We still lack a systematic treatment of the student culture before 1914, but numerous articles, statistical studies, and smaller monographs, together with a vast memoir literature, old and new, can be assembled to give a reasonably plausible portrait of the radical political behavior of significant numbers of Austrian students, especially those who settled in the pan-German Lager.4 How many students were actually involved has never been completely clear, and even more frustrating has been the lack of concrete information as to how the mass of the students actually conceived of their political activities. Michael Gehler has estimated that well over 50 percent of all university students in German-speaking Austrian universities were members of a pan-German, Jewish, or Catholic fraternity or other student club after 1918, and it is likely that at least 80 percent of the students in such groups belonged to the pan-German camp.5 But formal membership did not necessarily mean 3 Ja n H av r á nek, The University Professors and Students in Nineteenth-Century Bohemia, in  : Mikuláš ­Teich (Hg.), Bohemia in History, Cambridge 1998, 215–228, bes. 222–24. 4 See A lex a nder Gr a f, “Los von Rom” und “heim ins Reich.” Das deutschnationale Akademikermilieu an den cisleithanischen Hochschulen der Habsburgermonarchie 1859–1914, Berlin 2015  ; Gernot Stimmer, Eliten in Österreich 1848–1970, vol. 1, Wien 1997, 116–245  ; A ndre as Bösche, Zwischen Franz Joseph I. und Schönerer. Die Innsbrucker Universität und ihre Studentenverbindungen, 1859–1918, Innsbruck 2008  ; Robert Hein, Studentischer Antisemitismus in Österreich, Wien 1984  ; Robert Hoffm a n n, Gab es ein “schönerianisches Milieu”  ? Versuch einer Kollektivbiographie von Mitgliedern des “Vereins der Salzburger Studenten in Wien”, in  : Ernst Bruckmüller – Ulrike Döcker – Hannes Stekl – Peter Urbanitsch (Hg.), Bürgertum in der Habsburgermonarchie, Wien 1990, 275–298. 5 Mich a el Gehler, Korporationsstudenten und Nationalsozialismus in Österreich. Eine quantifizierende Untersuchung, in  : Geschichte und Gesellschaft 20, 1994, 9. For the 80 % datum, see Die Universitäten und der österreichische Staatsgedanke, in  : Danzer’s Armee-Zeitung, 28.11.1907, 8. Popp estimates that the rate of Catholic CV members, as a percentage of the total student body, ranged from 6 % in Vienna

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political consistency or even political literacy, and from this distance it is difficult to reconstruct the range of views held by these students that scholars have been able to analyze for the generations after 1945, most recently by Bernhard Weidinger.6 Two examples may elucidate the challenges of understanding student behavior, one relating the student riots of November 1897, the other to the riots of May 1913. For the riots that preceded and became enmeshed in the Badeni Affair in 1897 we have large numbers police reports from Vienna, Graz, and elsewhere, but even with these reports, it is difficult to obtain a sense of how most individual students understood the political world and how comprehensive their grasp of the issues were.7 Ritchie Robertson has rightly observed that many of these groups “with their bizarre drinking and dueling, were a major form of student sociability against the loneliness and insecurity of late adolescence.”8 That is, they were not political debating societies in the first order, but rather conventicles of sociability, friendship, and personal identity formation, however strange those assumptions might seem in the context of the often unruly behavior for which they soon became publicly known. In the case of the November 1897 riots in Vienna reports from the police, based on interviews with ringleaders who started the disturbances, found that large programmatic issues involving Badeni’s language policies were not the initial driving force behind the riots. Rather they began as a small-group collective action of friends to defend the honor (Ehre) of Karl Hermann Wolf against the alleged insults by Karl Lueger’s forces in and outside of parliament.9 These ringleaders went so far as to send a private delegation to Wolf, at his apartment, seeking his approval of their tactics, and Wolf not only welcomed the students’ interest but it was he who urged them to stage a street protest.10 Karl Hermann Wolf was ultimately a marginal figure in national parliamentary politics even among the German Bürgerlichen, but for many students to 14 % in Innsbruck in 1913. Gerh a r d Popp, CV in Österreich 1864–1938. Organisation, Binnenstruktur und politische Funktion, Wien 1984, 335.  6 Bernh a r d Weidinger, ‘Im nationalen Abwehrkampf der Grenzlanddeutschen’. Akademische Burschenschaften und Politik in Österreich nach 1945, Wien 2015.  7 The Vienna student protests were covered extensively by the Neue Freie Presse and Neues Wiener Tagblatt, and in police reports found in NÖLA Statt. Präs, series J13 ad 8202 (November 1897). For Graz, see the detailed discussion in Berthold Su t ter, Die Badenischen Sprachenverordnungen von 1897. Ihre Genesis und ihre Auswirkungen vornehmlich auf die innerösterreichischen Alpenländer, Graz 1960–65, vol. 2  : 177–230.  8 R itchie Robertson, The ‘Jewish Question’ in German Literature 1749–1939. Emancipation and its Discontents, Oxford 1999, 244.  9 For Wolf’s special attraction to the German National university students, see Gr a f, Los von Rom, 183–188. 10 NÖLA, Statt. Präs., series J13 ad 8202, Nr. 63/b, Protokoll aufgenommen am 11. November 1897, bei der k. k. Polizei-Direction mit dem vorgerufenen Hans Neumann, stud. Jur., und Sprecher der Burschenschaft ‘Teutonia’ VI. Gumperstorferstrasse (1897).

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at the University of Vienna he was a hero down to World War I, and their support for his sectarian style of friend-foe politics was a signal that many students had formally repudiated any support for, or even lacked any understanding of, the democratic-electoral process.11 It was only after this “transaction” that the students then proceeded to organize protests, first at the University and then in front of parliament. The protests soon escalated, with hundreds of hangers-on joining in, and in front of parliament they proceeded to sing the “Wacht am Rhein” and the “Bismarcklied”. Not only were there few clear “ideological” claims, but many who joined the riots were random participants who just happened to be present, while others included members of a Jewish fraternity who joined the protests, and whose leaders were then attacked by another Zionist fraternity, the Kadimah, for fraternizing with the enemy.12 The main object of hatred here was not initially Badeni, but Karl Lueger and the “clericals”, perhaps explaining the motley, coalition-like grouping in which pan-German and (some) Jewish students jointly participated. A second feature of these riots was the confused, and in the end rather hapless behavior of the Rector of the University of Vienna, Carl Toldt, in trying to control student behavior. Toldt was a prominent anatomist, author and editor of the famous Anatomischer Atlas für Studierende und Ärzte, and later member of Herrenhaus, but he was also, as were most university rectors, appointed to his honorific office for one year with no necessary prior administrative experience, especially in managing student life issues in an academic setting. In the Liberal and pan-German press Toldt was celebrated a hero for respecting the protest rights of the students.13 But he also irritated both the Court and the Ministry of Education, who had little patience for radical pan-German student behavior. During the November riots the police responded aggressively, and to maintain order entered the precincts of the main University building in order to contain student protestors. This in turn led to angry protests against the police by students and sympathetic faculty, for whom these incursions were violations of the legal autonomy of the physical precincts of the University. Yet what was evident from the police reports is that Toldt had no plan for dealing with the student unrest, pendulating between pleading with the students to behave and not escalate more violence while also cautioning the police not to 11 Knoll admits this in a short excursion on why his student protégés abandoned democracy in favor of integral nationalism before 1914. See Kurt K noll, Die Geschichte der schlesischen akademischen Landsmannschaft ‘Oppavia’ in Wien im Rahmen der allgemeinen studentischen Entwicklung an den Wiener Hochschulen, Wien 1923, 551–552. 12 Ebd., 485. 13 A later commentary in 1923 by Knoll praised Toldt as “seldom was a rector of the University so able to acquire the love of his students as did Karl Toldt.” Ebd., 487. For a modern evaluation, see Tatja na Buk lijas, The Politics of fin-de-siècle Anatomy, in  : Mitchell G. Ash – Jan J. Surman (eds), The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848–1918, London 2012, 218–224.

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overplay their hand and provoke still more uncontrolled emotions. In the end, when he was quoted by the Liberal press as having urged the police to restrain themselves, Toldt was forced to apologize to the authorities, claiming that he had said nothing like this, but when they demanded that Toldt issue a press release confirming that he had been misquoted, Toldt prevaricated, embarrassed by the mess in which he found himself. As an administrator Toldt was simply caught up in high stress situation over which he had no control, no plan, and no real guidance. The Lower Austrian Statthalter, Count Erich Kielmansegg, was particularly unimpressed with Toldt’s evasive behavior, and the fact that the Statthalter found himself issuing blunt warning to Toldt on November 30 about the consequences of the University allowing a post-crisis celebration by the students suggests that what Kielmansegg saw as feckless and weak behavior by the University’s leaders was hardly likely to encourage broad streams of good will toward the University among the administrative elites of the state.14 Yet Kielmansegg’s churlishness notwithstanding, the riots were not easily unpacked, and Toldt himself, in his efforts to explain his fence-straddling behavior to the state authorities, made one salient comment, namely, that ideology aside the students felt that protecting the independence of the University from external political or social forces was a critical component of their self-assigned mission and indeed of their rights as students. In this particular sense of institutional defense, the students felt that they were “called” to defend the University along with the faculty.15 Toldt’s observation was relevant not only because it illuminated the ways in which students had internalized the faculty’s own neo-proprietary rhetoric about being agents for the University’s autonomy against the state, but because it suggested the dilemma in which the faculty found themselves when their nominal protégés claimed that autonomy in ways that disrupted the mission of the University as a place of learning and research. Toldt himself had used such neo-corporatist rhetoric only a few weeks before the riots, when in his inaugural lecture as Rector on October 28, 1897 he had invited the students to see themselves, along with the faculty, as part of a “corporation of teachers and learners, united by the Geist of Wissenschaft, fresh and lively in its internal programs, with our successes generating external recognition.”16 Unfortunately for Toldt the rowdy nationalist students assimilated the idea of a corporate Geist, but not of harmonious Wissenschaft. The years that followed the Badeni riots saw a mushrooming growth of tensions among the student bodies of the German-speaking universities, as new groups associated with Catholic and Jewish-nationalist identities emerged to claim a share of 14 See K noll, Oppavia, 487, note 1395. 15 See NÖLA, Statt. Präs, J 13 ad 8202, Nr. 9506, Toldt to the Ministry of Education (21.12.1897). 16 See Die feierliche Inauguration des Rectors der Wiener Universität für das Studienjahr 1897/98 am 28. October 1897, Wien 1897, 26.

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social world of organized late-adolescent student life. Even though these groups did not represent a majority of the total student body, their numbers were substantial and they helped to create a more pluralistic ambient culture on the campus at large. The Catholic student groups gained powerful support among the Christian Social political leadership, and after 1911, the public patronage of the clerically minded Minister of Education Max von Hussarek.17 Inevitably this led to more collisions, including wild accusations in the Catholic press that pan-German and Jewish students were cooperating in attempts to marginalize Catholic student fraternities that began to gain a significant foothold in the campus in the mid 1890s. During a raucous uproar in May 1900, for example, when pan-German clubs attacked Catholic students seeking to present their colors in the Aula, the Liberal press acknowledged joint tactical cooperation among all “freisinnig” students against the Catholics, leading the Deutsches Volksblatt to complain that “the same German National corporations, which have been so strongly attacked by the ‘freisinnig’ side, are now going hand in hand with their fellow Jewish Commilitonen in order to evict German colleagues [of the Catholic fraternities] who are themselves anti-Semitic supporters.”18 Although some scholars (Andrew Whiteside, John Haag) have suggested that student violence was dissipating after 1900, Gernot Stimmer is probably correct in arguing that the last years of the Monarchy were marked by “an increasing brutalization of conflicts [among various student groups], which resulted in an increasing number of injuries, and this being coupled with an increasing aggressiveness on the part of the students towards the institutions of the University itself.”19 Yet the radicalization that Stimmer has postulated also manifested new features after 1900. The riots that paralyzed the University of Vienna in May 1913 afford a good example. They were of a different causality, but ironically like November 1897 they too were deeply focused on Ehre. Beginning in the early 1890s Jewish student groups led by Kadimah switched from being academic clubs to become dueling fraternities (or were founded with the latter status), and the Jewish students proved able and often successful swordsmen. In a fair description of these early efforts Julius Schoeps has described the Jewish students as wanting to affirm their general citizenship rights

17 For the Catholics, the standard accounts are Popp, CV in Österreich  ; Gerh a r d H a rtm a n n, Im Gestern bewährt, im Heute bereit  : 100 Jahre Carolina  : zur Geschichte des Verbandskatholizismus, Graz 1988  ; and Ernst Bruck müller, Die Verbindungen des CV in Österreich vor dem Ersten Weltkrieg  : Gründungsphase und erste Konsolidierung, in  : Gerhard Hartmann (Hg.), Der CV in Österreich. Seine Entstehung, seine Geschichte, seine Bedeutung, Wien 1977, 1–36. 18 Deutsches Volksblatt, 13.5.1900 M, 4  ; Neues Wiener Tagblatt, 13.5.1900 M, 6. 19 Gernot Stimmer, Die Mythologisierung der Revolution von 1848 als Modell einer Studentenrevolution, in  : Karsten Bahnson – Franz Gall – Detlef Grieswelle (Hg.), Student und Hochschule im 19. Jahrhundert. Studien und Materialien, Göttingen 1975, 289.

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and their personal dignity in the face of anti-Semitic slurs and taunts.20 But they were also means for Jews to demonstrate their worthiness and personal courage against stereotypes of the lazy or cowardly Jew. Fritz Roubicek remembered of his friends in these societies that some aspired to become reserve officers, for whom the settling of Ehreangelegenheiten was a required feature of proving oneself worthy of being an officer.21 Over time the size of these Jewish dueling fraternities grew in number and by the eve of the War they constituted a not insignificant component of Jewish student culture at the University, taking on a life of their own, and often aggressively so. Their focus was on self-defense and pride, but also on a remarkable copy-catting of the anti-Semitic students’ quest for neo-feudal Ehre.22 Ute Frevert has argued of late nineteenth-century dueling that these practices were in some respects a bastardization of older aristocratic values, no longer practiced by the aristocracy, but cultivated among arriviste bürgerlich and even kleinbürgerlich circles who sought to claim social exclusivity as well as assert personal honor, and this was doubtless as true for Austria as it was for Germany.23 As access to the universities increased to more diverse segments of the middle and especially the lower middle classes, older forms of honor formation became all the more important as new-old status symbols and status reinforcements, helping those who sought to flee the banality of everyday “democratic” life to attain new-old forms of socially imagined distinction and privilege. In case of the Jewish nationalist students, as Edmund Schechter has noted, they intended to fight assimilation by deploying assimilationist practices.24 The rise of strong Jewish-national, late-adolescent student clubs also created both a new target for the pan-Germans and a group that was prepared to strike back (and 20 Julius H. Schoeps, Modern Heirs of the Maccabees. The Beginning of the Vienna Kadimah, 1882–1897, in  : Year Book of the Leo Baeck Institute 27, 1982, 164–67  ; [A dolf] Ga isbauer, Eine Jugendbewegung. Zur Geschichte der jüdisch-nationalen Studentenbewegung in Österreich 1882–1914, in  : Zeitgeschichte 2, 1975, 135–147  ; M a rsh a L. Rozenblit, The Jews of Vienna 1867–1914. Assimilation and Identity, Albany 1983, 159–166  ; M a rsh a L. Rozenblit, The Assertion of Identity. Jewish Student Nationalism at the University of Vienna before the First World War, in  : Year Book of the Leo Baeck Institute 27, 1982, 171–86. 21 Fritz Roubicek, So streng war’n dort die Bräuche  ! Erinnerungen eines alten jüdisch-nationalen Couleur­ studenten, Wien 1983, 27  ; Fritz Roubicek, Von Basel bis Czernowitz. Die jüdisch-akademischen Studentenverbindungen in Europa, Wien 1986. See also Isidor Sch a lit, 1890–1904. Erinnerungen, in  : Festschrift zur Feier des 100. Semesters der akademischen Verbindung Kadimah, Mödling 1933, 71–83. 22 H a r a ld Seewa n n, Zirkel und Zionsstern. Bilder und Dokumente aus der versunkenen Welt des jüdisch-nationalen Korporationswesens, vol. 1, Graz 1990, 88–96. 23 Ute Frev ert, Men of Honour. A Social and Cultural History of the Duel, Cambridge 1995, 174–75, 196–200. 24 Bemerkungen zur Geschichte des jüdisch-nationalen Couleurstudententums in Frage und Antwort, in  : Harald Seewann (Hg.), Zirkel und Zionsstern. Bilder und Dokumenten aus der versunkenen Welt des jüdisch-nationalen Korporationswesens, vol. 4, Graz 1994, 12.

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in some instances strike first)  ; and it is fitting that one of the last major academic disruptions in Vienna on the eve of the war was several days of nasty battles between Jewish National and German National student groups, all the while the majority of the students stood on the sidelines. Longstanding tensions between these groups peaked in 1912 and 1913. In 1912 several Jewish fraternity students were accused of assaulting pan-German counterparts in an effort to compel them to undertake a duel, which the latter refused to do under the principles of the so-called Waidhofen Principle from March 1896, which stipulated that Jews were unworthy of receiving or giving honor and thus that pan-German students could not and indeed should not engage in duels with them to receive “satisfaction.”25 We also know that in some cases duels were fought between Jewish and gentile students, the latter out of fear that their reserve officers commission of the latter would be forfeited if they refused to fight  ; hence the Waidhofen Principle was not universally practiced.26 But a large number of German National clubs retained the practice, leading to severe tensions between them and their Jewish rivals. The altercation in 1912 occurred off the university’s grounds, but the Senate suspended the Jewish students involved and eventually expelled them. A similar situation erupted a year later, but on a larger and more violent scale.27 It began on May 17, 1913 when rival Jewish and German National fraternities each sought to dominate space in the central Aula of the University. The collision peaked in a confrontation on the stairs leading to and in front of the offices of the Rector, where pushing and shoving from both groups led to the office staff feeling besieged by dangerous and unruly crowd.28 The standoff in spatial politics led each side to mobilize more supporters, and over the course of nearly a week the University saw individual students beaten and assaulted with clubs and other instruments of violence as the two sides sought to pillory each other. Eventually the police 25 See Jüdische Zeitung, 17.5.1912, 1  ; 23.5.1912, 1–2  ; Seewa n, Zirkel und Zionsstern, 115–116. 26 K noll, Oppavia, 646–647  ; Kurt K noll, Die Geschichte der wehrhaften Vereine deutscher Studenten in der Ostmark von den Anfängen bis an die Gegenwart, Wien 1924, 398–407  ; Roubicek, So streng war’n dort die Bräuche, 28  ; Paul Molisch, Politische Geschichte der deutschen Hochschulen in Österreich von 1848 bis 1918 Wien 2. Ed. 1939, 131–132  ; Bruce F. Pauley, From Prejudice to Persecution. A History of Austrian Anti-Semitism, Chapel Hill 1992, 34  ; Gü nter Cerwink a, … und heraus mit mut’gem Sang. Beiträge zur österreichischen Studenten- und Studentenvereinsgeschichte, Graz 2002, 323–326  ; Hein, Studentischer Antisemitismus, 53–60. 27 For these events see, K noll, Oppavia, 545–50  ; and Seewa n n, Zirke und Zionsstern, 85–95. 28 For the background to the May 1913 riots, see Neue Freie Presse, 18.5.1913 M, 8  ; 20.5.1913 M, 8. See also UAW, Protokoll Nr. VI, aufgenommen bei der am 3. Juni 1913 im Senatssaale der k. k. Universität Wien stattgefundenen außerordentlichen Sitzung des akademischen Senates, Untersuchung der Vorfälle an der Universität am 17. und 19. Mai 1913  ; and Protokoll Nr. VIII, aufgenommen bei der am 21. Juni 1913 im Senatssaale der k. k. Universität Wien stattgefundenen außerordentlichen Sitzung des akademischen Senates  ; as well as the police reports in NÖLA, Statt. Präs., Z. 1746 (17.5.1913, 17.9.1913, 20.5.1913).

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had to intervene to try to separate the crowds of screaming students, each of whom appealed to the University Rector to side with them. By May 24 the numbers of student involved in the demonstrations had grown to sizable share of the student body  : 300 pan-German students were arrayed against 700 Jewish national students along opposite sides of the Ringstraße.29 Following the protests came a war of memoranda, with each side denouncing the other and creating its own version of the facts. The Jewish students claimed that the Waidhofen Principle created an impossible condition for their co-religionists and demanded that the University suspend all German National fraternities who refused to afford Jews the honor of “satisfaction.” The German Nationalist students in turn portrayed themselves as the victims of thuglike behavior on the part of the Jewish students, who, they claimed, assaulted them because they refused to engage in duels with the latter, and asked the University to discipline the Jewish students in order to punish them for this anti-social behavior. They insisted that “German students, sons of the most prosperous and most loyal citizens of the state are now being treated in an illegal manner at the second-oldest German university [in Central Europe] and forced into an embarrassing defensive situation, because the sons of some Polish and Russian Jews, revolutionaries and liquor dealers as well as Jewish-Magyar bankrupts desire to do so.”30 Both sides appealed to the broader press, and the conflicts provoked an especially sharp reaction on the part of Jewish Zionist groups who believed that the civil rights of the Jewish students were at deep risk.31 Again caught in the middle, a faculty committee of the University Senate investigated the causation of the riots, but was unable to cite any individual ringleaders on either side for wrongdoing, instead issuing pleas for a return to peaceful conditions but also complaining about the rude and uncivil format of the student memoranda. Most fascinating about these riots was not only their focus on warring concepts of neo-feudal Ehre, but the divergent reactions that they provoked in the political class. Within the Jewish community clear fissures were evident, with the Jüdische Zeitung complaining that the “Grossjuden and jüdische Professoren” were complacent in not supporting the students, while the Jewish parliamentarian Camill Kuranda brought down scorn on his head by arguing in parliament that both sides – the pan-Germans and the Jews – were equally guilty of behaving in intemperate and irresponsible ways. The Arbeiter-Zeitung was predictably caustic about both groups, pointing out that if two or three twenty-year old workers had behaved like the students they would 29 NÖLA, Statt. Präs., Z. 1783 (24.5.1913). 30 Zu den jüngsten Vorfällen auf der Wiener Universität, in  : Deutsche Hochschulstimmen aus der Ostmark, 25.6.1913, 270. 31 See Jüdische Zeitung, 30.5.1913, 1  ; 23.5.1913, 1–3  ; 30.5.1913, 1  ; 5.6.1913, 3–4  ; 20.6.1913, 4–5  ; K noll, Die Geschichte der wehrhaften Vereine, 403–404.

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have ended up in jail for two years, but the bürgerlich students of both sides with their “Temperamentsausbrüche” were completely immune from the consequences of behaving in a terroristic and rowdy ways.32 But what was most characteristic was the Catholic response, which accused the anti-clerical German Nationalists in parliament of restraining their criticisms of both groups of students, presumably out of fear that encouraging an increase of anti-Semitism would serve to weaken the anti-clericalism card as a cause that would unite both Jewish and Nationalist voters against the Church. The Reichspost complained that until the most recent riots an unsteady alliance of pan-German and Jewish Freisinn had operated against both Catholic students and Catholic academic interests more generally  : “no one took exception to the fact that in all interventions of those in favor of Hochschulfreisinn, and in all the negative actions directed at Catholic students, Jewish and German National students engaged in a brotherly alliance on the [university] battlefield. One only has to remember the stormy events associated with the name of Wahrmund to understand what has been going on.”33 All of these tangles demonstrated the strange new political environment in which the universities were now caught after 1900 by virtue of shifting demographic and social-normative structures but also by the growing complexities of convergent economic interests. The student riots, which eventually forced the Rector Anton Weichselbaum to suspend both lectures and exams for several days in June, generated an unusual public denunciation from an eminent Vienna faculty leader, Eugen von Philippovich, of colleagues like Leopold von Schroeder who were overtly sympathetic to the pan-German students.34 In a tough critique published in the Neue Freie Presse in early July Philippovich asked who was in charge of the University – the faculty or a group of German National students  ? For Philippovich the dissidents were a noisy minority who disturbed the majority of students who simply wanted to study.35 If the faculty did not take back control of the University, an ominous fate awaited, damaging not only the “Ansehen of the greatest German-Austrian university domestically, but also throughout the whole academic world.” Another faculty member, the physicist Ernst Lecher, argued that the security procedures implemented by the University in June 1913 were more characteristic of a prison for major criminals and not a place of learning, and concluded, ”Thank God that the great majority of our students 32 Arbeiter-Zeitung, 21.5.1913, 12. 33 Reichspost, 25.5.1913, 1–2. 34 For Schroeder’s nationalist proclivities see Leopold von Schroeder, Lebenserinnerungen, Leipzig 1921, 242–244  ; and Wa lter Höflechner, Die Baumeister des künftigen Glücks. Fragment einer Ge­ schichte des Hochschulwesens in Österreich vom Ausgang des 19. Jahrhundert bis in das Jahr 1938, Graz 1988, 27. 35 Disziplin und Ordnung an der Universität. Ein Rückblick und Ausblick, in  : Neue Freie Presse, 16.6.1913 M, 7.

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have the proper attitude, namely, that they appreciate the great sacrifices that their families and their government have made for them and they in return are ready to sacrifice as well [to get an education].”36 Similar commentaries were apparent in the Cabinet, with Guido Haerdtl, the Minister of Internal Affairs in the Bienerth Cabinet, in early 1909 warning of the consequences of allowing pan-German student groups to pursue such radicalized behavior, which not only affected the day-today operations of the universities but also, via proxy actions, worsened the general climate of political action across the spectrum.37 One result of the May 1913 riots was pressure from the Ministry of Education that the University take matters more aggressively in hand, with Max von Hussarek urging (demanding) that the faculty create mandatory honor commissions (ehrenrätliche Schiedsgerichte) that would hear cases involving conflicts of honor between students and render authoritative judgments, thus obviating the need for self-help duels. After protracted negotiations, the University Senate passed such a regulation in December 1913.38 Even more telling was a resolution that the Senate passed in December 1908, in the aftermath of violent confrontations between pan-German and Italian students at the University in late November, requesting that the Ministry of Education provide a dedicated, uniformed police force (Wache) of 50 to 80 men for the University, given that, as Rector Franz Exner argued, “the means available to the academic Senate to maintain order do not suffice to maintain peace and order” and that “repeated warnings from the Rectors and a repeated appeal to the honor of the students and to our academic traditions have not prevented the students from perpetrating acts of violence on the University’s campus.”39 The government was leery of proceeding along such lines for fear of setting an unpredictable precedent in the creation of targeted police units, but the transaction revealed that the senior faculty had grown impatient of the claims of student radicals about their rights to disrupt the operations of the University. In fact, from the perspective of the pan-German dueling fraternities, these years did see a heightened level of scrutiny of their bad behavior by both University and police authorities, and it was thus all the more remarkable that their subsequent chronicler, Professor Kurt Knoll, writing in 1923, would bemoan the fact that many pan-German students after 1900 simply turned away from any concern with public politics altogether, becoming more involved in alcoholism and rowdy behavior against fellow students, and increasingly split into an array of jealous rival factions among the fra-

36 Ernst Lecher, Die Vorgänge an der Wiener Universität, in  : Neue Freie Presse, 22.6.1913 M, 2. 37 AVA Ministerium für Cultus und Unterricht, Präs, Z. 194, K. 38 (15.1.1909). See also Molisch, Politische Geschichte, 227–229. 38 See UAW, Hussarek to the Rector of the University of Vienna (24.5.1913, 28.8.1913, 22.10.1913), and the related documents in the same file. Z. 1783, 1913. 39 AVA Ministerium d. Innern Präs., K. 2021, Z. 1620, Exner to the Ministry of Education (13.12.1908).

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ternities and Vereine that disagreed about a host of issues involving the behavioral norms to be sanctioned by the groups, thus heightening the already negative image that they carried among the general public.40 This was in contrast to the behavior of their Czech and Polish counterparts in Prague, Cracow or Lemberg, who, so Paul Molisch would later argue, rarely disrupted the operations of their own universities, preferring to engage in political activism as part of the public party-political scene more generally.41 The pan-German students had no such natural constituency, especially in the city of Vienna, filled as it was with Clericals, Jews, and Social Democrats, all of whom (for different reasons) the radical students tended to despise. Hence their behavior was all the more isolated and disconnected from the wider party-political environment in which they found themselves on the eve of the War. It was revealing that a lead author for the pan-German student journal Der Kyffhäuser would complain in 1913 that while (in his mind) the “inexorable progress” of the Jews was continuing to manifest itself in Austria, the anti-Semitic movement was losing its “sharpness”, with more and more leaders being unwilling to take a forthright stand against the Jews.42 Paradoxically, as Waltraud Heindl has observed, the radicalization of the student body in the German-speaking universities after the 1880s was a leading cause of the failure of the ideals that informed the founding model of Leo Thun. Rather than educating and nurturing students as state patriots, the universities ended up providing several generations of young elite leaders the means and occasions to embrace pan-German and anti-Semitic radicalism in a kleindeutsch mode.43 This was particularly critical in the intellectual formation of the large number of Austrian students enrolled in the various Law Faculties, whose mandate was to train new generations of civil servants and jurists who would become the administrative custodians of the state.44 This conveyor belt of ambivalence and in extreme cases of outright disloyalty 40 K noll, Oppavia, 590–592, 637, 652–655. He concluded that “so bot die Vereinsstudentschaft, als der Weltkrieg ausbrach, wiederum das Bild der unheilsvollsten Zerrissenheit,” 658. 41 Molisch, Politische Geschichte, 229. 42 Zur Judenfrage, in  : Der Kyffhäuser, 15.6.1913, 4. 43 Wa ltr aud Heindl, Universitätsreform – Gesellschaftsreform. Bemerkungen zum Plan eines “Universitätsorganisationsgesetzes” in den Jahren 1854/55, in  : Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 35, 1982, 149  ; Linda Eerk er, Studierende der Universität Wien und ihr Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit, in  : Gertrude Enderle-Burcel – Ilse Reiter-Zatkoukal (Hg.), Antisemitismus in Österreich 1933–1938, Wien 2018, 785–806. 44 Robert Hoffmann has noted the large percentage of pan-German fraternity students in Vienna who ended up in civil service, judicial, and Mittelschul teaching careers. See Hoffm a n n, Schönerianisches Milieu, 291. In general, Austrian university students, including members of the pan-German fraternities and other clubs, tended to choose law more frequently than their German counterparts. See Hugo v. H a a n, Statistische Streiflichter zur österreichischen Hochschulfrequenz, in  : Statistische Monatsschrift N.F. 22, 1917, 161–163, 166–67, who observed that the eight Austrian law faculties had

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not only had fateful consequences for the history of the First Republic, but it constituted a profound challenge for the communications strategies of the German-speaking universities even under the Empire. At a protest meeting of Jewish citizens in late May 1913 about the disturbances at the University, an engineer on the state railways, Emil Fried, complained about the pan-German students (whom he called “hooligans”) that “the pan-German students will remain, once they become the future judges, state prosecutors, etc. [of the Austrian state], just as rigidly anti-Semitic.” Fried’s remarks were made in one particular and even benign context, the Imperial world of 1913, but unfortunately, his prediction proved all too true in the altered context of the Republic in the 1920s and 1930s.45 In the face of such disjunctions how could the complex institutional systems of higher education after 1900, ever more dependent upon governments that were themselves subject to intense public scrutiny and mass political control, maintain their claims to autonomy and to the presumption that they could organize their own, self-willed relationships to an ever more complex civil society  ? It said much about the bewilderment of the universities that as prescient a commentator as Richard Wettstein, a distinguished botanist and sometime faculty leader of the University of Vienna, would claim in September 1907, three months after the first elections in Austria based on universal suffrage, that Austrian academics needed to organize themselves since “we can no longer count on a sufficient encouragement and support for the interests of our universities by our parliamentary institutions.”46 Remarkably, the universities began to scramble to find new ways to explain their self-assigned virtues just as the social priorities and political structures of their host societies were changing radically. Could university leaders still defend nineteenth-century Liberal ideals of faculty self-governance or institutional autonomy as realistic norms, or was it inevitable that the growth of the mass political parties like Christian Socialism and almost as many students as the twenty-one German legal faculties  ; and Stimmer, Eliten in Österreich, 233–245. See also Ilse R eiter-Zatlouk a l, Antisemitismus und Juristenstand. Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät und Rechtspraxis vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum “Anschluss” 1938, in  : Oliver Rathkolb (Hg.), Der lange Schatten des Antisemitismus. Kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2014, 183–205, as well as Oliv er R athkolb, Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien zwischen Antisemitismus, Deutschnationalismus und Nationalsozialismus 1938, davor und danach, in  : Gernot Heiss et al. (Hg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 bis 1945, Wien 1989, 197–232  ; Ga ry B. Cohen, Education and Middle-Class Society in Imperial Austria, 1848–1918, West Lafayette, Indiana 1996, 188 notes that the percentage of matriculated students in law who came from propertied families and educated elites was higher than those who attended the philosophical, medical or theological faculties. 45 NÖLA, Statt. Präs., Z. 1846 (24.5.1913). 46 See Verhandlungen des ersten deutschen Hochschullehrer-Tages zu Salzburg im September 1907. Herausgegeben von dem engeren Ausschuß für 1907/08, Straßburg 1908, 66.

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Social Democracy placed great strains on the traditional identities of the Austrian universities as bastions of German nationalist values  ? In the case of Austria, the late nineteenth-century universities prized their fictive legal autonomy as “independent corporations” while at the same time competing aggressively with numerous other policy domains for more state financial resources. Each cluster of “national” Hochschulen avidly sought support from their own ethnic political blocs, and according to Surman, it was the non-German universities where faculty moved most deliberately toward active political involvement, in contrast to Vienna and the other German-speaking schools, where faculty did not feel the need or desire for “actively participating in politics.”47 After 1918, with the collapse of a large German Nationalist camp in Austrian politics, the universities were isolated. It said much about the peculiar political isolation of the University of Vienna as a faculty-dominated corporation within its own city even before 1914 that it was the chairman of the Deutsche Nationalverband, Karl von Chiari (himself a graduate of the University of Vienna), who had to argue in a debate about university funding in May 1910 that Austria’s “Renommée” depended on maintaining the University of Vienna as a cultural and scientific institution of “allererstem Rang”.48 Chiari was a German Nationalist elected from Moravia, not Vienna, and the silence during the same parliamentary debate on this issue from the Christian Socials, who controlled the city of Vienna up to 1918, and the Social Democrats, who would control it after 1919, was astounding. This disjunction between the University and the two large mass parties that dominated the First and Second Republics would become even more acute in the 1930s and 1940s, when after the purge of Jewish academics in 1938, large numbers of the remaining senior faculty in Vienna ended up supporting the Nazi occupiers.49

47 Ja n Surm a n, Universities in Imperial Austria 1848–1918. A Social History of a Multilingual Space, West Lafayette, IN 2019, 276. 48 Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten, Wien 1910, 2710 (27.5.1910). 49 Rom a n Pfefferle – H a ns Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert. Die Professorenschaft der Universität Wien von 1944 in den Nachkriegsjahren, Göttingen 2014, 263–266  ; K l aus Taschwer, Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert, Wien 2015.

Zdeňka Stoklásková, Brünn*

Die Emanzipation der tschechischen Sprache an der Karl-Ferdinands-Universität in Prag 1850–1882 Die Bemühungen um die Einführung des Tschechischen als Unterrichtssprache reflektieren die spezifische Entwicklung der ethnisch-nationalen Bemühungen im Universitäts- und Wissenschaftsmilieu. Das im Jahre 1849 zuerkannte Recht zum Unterricht in tschechischer Sprache fand nur wenig Anwendung, und zwar unabhängig vom Lehrfach. Der tschechischen Sprache mächtige Professoren blieben nach 1850 bei der deutschen, in bestimmten Fächern lateinischen Sprache, auch wenn sie Tschechisch hätten unterrichten können und ein Teil der Studenten zweifellos Tschechisch sprach. Wie lässt sich diese Tatsache interpretieren  ? In den naturwissenschaftlichen Fächern spielte zweifellos die Tatsache einer nichtexistierenden Terminologie eine Rolle, was für einen effektiven Unterricht ein gravierendes Problem darstellte. Dieser Umstand änderte sich aufgrund der Untätigkeit der tschechischen Akademiker lange Zeit kaum. In den 1860er Jahren, als man von tschechischer Seite energisch die Gleichberechtigung des Tschechischen gegenüber dem Deutschen einforderte, stellte sich die Situation weitgehend unverändert dar. Die tschechischen Akademiker und Abgeordneten im Landtag forderten die Einführung der sprachlichen Gleichstellung in einer paradoxen Situation, als der Unterricht im Tschechischen bereits viele Jahre möglich schien, für gewöhnlich aber nicht realisiert wurde. Das Fehlen einer Fachterminologie im Tschechischen hatte die Tschechen lange Zeit nicht gestört, zumindest nicht insofern, dass sie Bemühungen hinsichtlich einer Reform der Verhältnisse an den Tag gelegt hätten, und erst in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts diente dies der deutschen Seite als Gegenargument für die Verankerung vollständiger sprachlicher Gleichberechtigung. Das Argument, die Nichtverwendung der tschechischen Sprache sei das Ergebnis der Bequemlichkeit der tschechischen Akademiker gewesen, erweist sich freilich als problematisch. Wahrscheinlich dürfte sein, dass die Ursache für die Laxheit in der Benutzung der tschechischen Terminologie eine Kollegienfrage darstellte  : Die Tschechisch sprechenden Professoren und Dozenten fürchteten einen quantitativen Rückgang der * Der Beitrag entstand im Rahmen des Projekts der tschechischen Wissenschaftsstiftung [Grantová agentura] GA ČR GA19-01035S »Staatsfinanzierung und autonome Verwaltung von Hochschulen«. Abkürzungen  : AUC – HUCP  : Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis  ; ebd.: ebenda  ; Hg.: Herausgeber  ; LGBl.: (Landes-)Gesetz-(und Verordnungs-)Blatt  ; SPBL  : Stenografische Protokolle des böhmischen Landtags.

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Zdeňka Stoklásková, Brünn

Studenten, und damit auch der Kollegiengebühren, was für sie einen bedeutsameren Grund als das Thema nationaler Emanzipation bildete. Sie konnten jedoch, wie dies beispielsweise Václav Vladivoj Tomek tat, in ihrem Fach ein Jahr in deutscher und das andere Jahr in tschechischer Sprache Vorlesungen halten, sodass für die Studenten die Möglichkeit bestand, die Sprache zu wählen, in der sie ihr Fach hören wollten. Dieses Vorgehen konnte allerdings nicht an allen Fakultäten Anwendung finden. Eine Übersicht jener Sprachen, in denen an den Universitäten in Zisleithanien Vorlesungen gehalten wurden, präsentiert die nachfolgende Tabelle  : Tabelle 1  : Lehrsprachen an den Universitäten im späteren Zisleithanien im Jahre 1857  : Anzahl der vorgetragenen Fächer1 Universität

Latein

Deutsch

Wien Theol. Fakultät Übrige Fakultäten

10

1 108

Graz Theolog. Fakultät Übrige Fakultäten

10

2 47

Innsbruck Jurid. Fakultät Phil. Fakultät Prag Theol. Fakultät Jurid. Fakultät Medizin. Fakultät Phil. Fakultät Krakau Theol. Fakultät Jurid. Fakultät Medizin. Fakultät Phil. Fakultät Lemberg Theol. Fakultät Jurid. Fakultät Phil. Fakultät Insgesamt

Tschechisch

Polnisch

Ruthenisch

21 19  9

5 32 35 56

5 1 1 7

12

 1 18 19 30

 6  1

 9

 1 20 24

51

Italienisch

437

2

 2 9

11

2

5

Die Unterrichtssprachen an den Universitäten spiegelten weder die ethnisch-nationale Zusammensetzung der Monarchie noch die Nationalität der Studierenden wider. Den Stand im Jahre 1857, also im ersten Jahr der österreichischen Volkszählung, zeigt die nachfolgende Tabelle. Die Kategorie »Juden« entspricht der Quelle und beruht auf Selbstdeklaration der Hörer. 1 Mitteilungen aus dem Gebiete der Statistik 7, 1858, Nr. 1, 59.

663

Die Emanzipation der tschechischen Sprache

Innsbruck

79,6

Prag

38,5

50,2

 0,2

 0,1

Krakau

 9,7

  2,3

77,8

 0,9

Lemberg

15,5

 0,8

32,6

45,6

 7,8

 4,1

33,4

 3,7

Andere

 0,6

 0,3

Juden

 3,7

 6,0

Ungarn

Ruthenen

16,9

53,0

Rumänen

Polen

40,2

Graz

Italiener

Tschecho­ slowaken

Wien

Slowenen, ­Kroaten, Serben

Deutsche

Universität

Tabelle 2  : Nationalität der Hörer an den Universitäten im späteren Zisleithanien im Jahre 1857 (in Prozent)2

0,7

12,6

12,5

0,9

 3,3

 0,3

20,4  0,7

 0,1

0,1

 0,5 1,3

 1,0

 9,1

 0,5

 8,3

 0,3

 3,6

0,3

Ein Bestandteil der Debatte über die Stellung der Sprachen im Unterricht an der Prager Universität war die Frage nach Gründung einer eigenständigen Universität mit tschechischer Unterrichtssprache. Die Gründung einer solchen Universität in Prag mit tschechischer Unterrichtssprache schlugen freilich nicht die tschechischen Abgeordneten des Landtags vor, sondern dies tat im Jahre 1864 der deutsche Abgeordnete David Kuh  : »Ich glaube, wenn man der Gleichberechtigung volle Rechnung tragen, wenn man eben nicht ein Stiefkind sein will, muß man auch in vollem gleichberechtigtem Maße der Universität eine Anstalt gegenüber oder neben ihr stellen. [… ] Ich stelle daher auch den Antrag, der h. Landtag wolle beschließen, es sei die Errichtung einer čechischen Universität zu beantragen und bei der h. Regierung zu befürworten.«3 Sein Vorschlag stieß jedoch bei den Tschechen auf Ablehnung, und dies vor allem aus zwei Gründen. David Kuh war ein deutscher Politiker jüdischer Herkunft, der zwar in der Vergangenheit den Tschechen nahestand, nachdem er jedoch mehrere Artikel gegen die mittelalterliche Herkunft der Königinhofer Handschrift publiziert hatte, verhielten sich die Tschechen ihm gegenüber äußerst reserviert.4 Einen 2 Mitteilungen aus dem Gebiete der Statistik 7, 1858, Nr. 1, 57. 3 SPBL, 11.5.1864, 27. 4 David Kuh (1819–1879) veröffentlichte im Jahre 1858 im Periodikum Tagesbote eine Serie von Artikeln gegen die Echtheit der Königinhofer Handschrift und bezeichnete Václav Hanka als Fälscher. Václav Hanka seinerseits reichte gegen David Kuh eine Klage wegen Ehrenbeleidigung ein. Kuh wurde am 25. August 1859 für schuldig befunden, zu einer zweimonatigen Gefängnisstrafe, der Erstattung der Prozesskosten und einem Verlust der Kaution verurteilt. Das Obergericht bestätigte das Urteil, das Oberste Gericht in Wien jedoch verwarf die Anklage und ließ Kuh auf freien Fuß setzen.

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weiteren Grund bildete das Misstrauen der tschechischen Politiker gegenüber der vorgeschlagenen Lösung, mit den Worten František Ladislav Riegers, »wir sollen nur möglichst viel verlangen, damit wir nichts bekommen«.5 Die tschechische Seite stellte sich daher eher hinter das Programm eines Sprachenutraquismus der Universität, wenngleich sie am Beispiel der Technischen Hochschule sehen konnte, dass eine solche Lösung sehr umstritten war. Rieger argumentierte in der Debatte im Jahre 1864 mit der Notwendigkeit einer Beherrschung des Tschechischen bereits während des Studiums unter Berücksichtigung der späteren Berufe, bei denen die Kenntnis der tschechischen Sprache unumgänglich war. »Es ist keineswegs gleichgültig, in welcher Sprache der Fachmann seine Bildung erlangt hat, denn, sofern er der Sprache vollständig mächtig ist, wird er auch die Wissenschaft in dieser Sprache sowie die Amtsführung zwischen den Menschen beherrschen.«6 Das Ergebnis der Forderungen der tschechischen Abgeordneten im Landtag bildete die Wahl einer neunköpfigen Landtagskommission, in der jeweils drei Repräsentanten der einzelnen Wahlkurien vertreten waren. Keineswegs dem Zufall geschuldet ist die Tatsache, dass zu den Kommissionsmitgliedern fünf Professoren der Prager Universität zählten  : als Virilist und Rektor Vincenc Náhlovský, die beiden Vertreter der deutschen Seite Konstantin von Höfler und Leo­pold von Hasner für die städtische Kurie sowie die tschechischen Professoren Jan Evangelista Purkyně und Václav Vladivoj Tomek für die Kurie der Landgemeinden.7 Das Ergebnis der Verhandlungen der Kommission stellte ein mit Stimmenmehrheit angenommener Entwurf dar  : für die Durchführung der sprachlichen Gleichberechtigung an der Universität parallele Professuren in allen Prüfungsfächern schaffen und das Ablegen der Prüfung in der Sprache der Wahl des geprüften Hörers ermöglichen. In der am 1. März 1866 stattfindenden Landtagsverhandlung zum Entwurf der Kommission nahmen die Ereignisse jedoch einen raschen Verlauf. Egon Erwin K isch, Pražský pitaval, Praha 1964, 189–193  ; deutsche Ausgabe  : Ders., Prager ­Pitaval. Historische Kriminalfälle aus Böhmen, Berlin 1931. Josef Boček, Die Königinhofer und Grünberger Handschriften als Gegenstand politischer Auseinandersetzungen in Böhmen (1858–1938), in  : Die Deutschen in den böhmischen Ländern. Mitteilungen der Gesellschaft für die Geschichte der Deutschen in Böhmen, Ústí nad Labem  : Společnost pro dějiny Němců v Čechách 1, 2001, 13–119  ; Václ av Petrbok, David Kuh and Jan Neruda, in  : Judaica Bohemiae 46/2, 2011, 95–126. 5 SPBL, 11.5.1864, 30. 6 Rieger führte folgende Konversation eines Arztes an, um auf die Notwendigkeit zu verweisen, beide Landessprachen zu beherrschen  : Ein Kollege des bekannten Mediziners Johann Theobald Held hatte einen sehr kranken Patienten gefragt, ob ihn »die Lava schmerze und er eine Kerze trage«. Tatsächlich wollte er aber wissen, ob ihm der Kopf weh tue und er Licht ertragen könne. SPBL, 22.1.1866, 24. 7 Weitere Mitglieder der Kommission waren  : Jaromír Graf Černín, Rudolf Graf Chotek für die Kurie der Großgrundbesitzer, Dr. Václav Seidl für die Städtekurie und Rieger für die Kurie der Landgemeinden. K a rel Litsch, F. L. Rieger o univerzitní otázce v českém zemském sněmu roku 1866, in  : AUC – HUCP 22, 1/1982, 27–33, hier 32.

Die Emanzipation der tschechischen Sprache

665

Den Landtagsverhandlungen über die Sprachenfrage an der Karl-FerdinandsUniversität gingen zwei Ereignisse voraus. Per Gesetz vom 18. Januar 1866 wurde in Böhmen die »Gleichberechtigung der beiden Landessprachen in Volks- und Mittelschulen« verkündet.8 Ein ähnlicher Prozess wurde auch an der Universität in Prag erwartet, zumal am Technikum bereits im Jahre 1863 die Sprachenautonomie eingeführt worden war. Das Polytechnikum in Prag unterstand in dieser Zeit allerdings – im Unterschied zur Universität – dem Land. In der Sitzung des böhmischen Landtags am 1. März 1866 argumentierte Rieger mit einer begrenzten Autonomie der Universität. Letztere war eine staatliche Einrichtung mit einer Autonomie, der jedoch klare Grenzen gesetzt waren, welche wiederum zwei Agenden überschritten  : die Vermögensverwaltung und die Festlegung der Lehrsprache. Die Universität konnte Rieger zufolge nicht frei über den Besitz verfügen und die Lehrsprache festlegen.9 Der vorgeschlagene Bilingualismus mochte als Aufforderung zur Erhöhung der Konkurrenz verstanden werden. Die Studenten konnten die Vorlesungen der Professoren der anderen Sprache besuchen, was zu jener Zeit am Prager Technikum geschah. Sofern es gelang, das vorgeschlagene Modell beizubehalten, konnte es sich um ein sehr modernes sprachlich-utraquistisches Vorgehen handeln, das im Ergebnis möglicherweise zu einer Verringerung des »nationalen Überdrucks« in Böhmen hätte führen können. Die deutsche Minorität im Landtag stellte sich gegen den Entwurf der Kommission. Eines der Hauptargumente bildete die anhaltende Möglichkeit, auf Tschechisch zu lehren, wobei freilich auch die des Tschechischen mächtigen Professoren dies entweder nicht nutzten oder eben nur in sehr geringem Umfang. Diesen Umstand bestätigte im Übrigen auch der Berichterstatter des tschechischen Vorschlags Václav Vladivoj Tomek. Der Referent der deutschen Minderheit Leopold Hasner begründete die ablehnende Haltung mit dem ungewöhnlichen Charakter einer zweisprachigen Lehre und der Gefahr eines Präzedenzfalls für eine zweisprachige Universität, der auch in anderen Teilen des Reichs eine Nachahmung finden könnte. Als gewichtigen Einwand wertete er das Fehlen einer Fachliteratur und Terminologie im Tschechischen, das die Pflege einer wissenschaftlich orientierten Lehre unmöglich mache. In unserem Zusammenhang erweist sich der Standpunkt des Regierungsbevollmächtigten Bach als interessant, der sich um eine ethnisch-national neutrale Haltung bemühte und unterstrich, die Regierung werde den Standpunkt des böhmischen Landtags respektieren. Er verwies dabei auf den »ganz korrekten Vorgang« des Vorschlags.10

 8 LGBl. Böhmen, 1/1866, 1f.  9 SPBL, 1.3.1866, 51. 10 Ebd., 55. Der Regierungsbevollmächtigte besaß kein Stimmrecht.

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Die Beratungen des böhmischen Landtags am 1. März 1866 dauerten ungewöhnlich lang und es kam in ihrem Verlauf zu einer entscheidenden Wende  : Man stimmte überraschenderweise nicht über den ursprünglichen Entwurf der Kommission zur Einführung einer völligen rechtlichen Gleichstellung des Tschechischen ab, sondern über den Gegenentwurf der deutschen Minderheit, die ganze Angelegenheit dem Akademischen Senat der Karl-Ferdinands-Universität zur Entscheidung als Teil der Agenda zur Hochschulautonomie zu übergeben. Das Abstimmungsergebnis – 100 Stimmen für den Vorschlag, 121 dagegen – wurde unmittelbar von der Galerie aus vom Publikum verfolgt, das das Abstimmungsergebnis mit Hochrufen kommentierte (zu den Beratungen war die Teilnahme der Öffentlichkeit erlaubt). Die unzufriedenen deutschen Abgeordneten forderten eine Räumung der Galerie, der Oberstlandmarschall des Landtags, Karl Graf Rotkirch-Panthen, der sich der Abstimmung enthielt, beendete jedoch die von Unmutsbekundungen der Öffentlichkeit begleiteten Beratungen. Unmittelbar nach der Sitzung schrieb er an den böhmischen Statthalter Graf Lažansky einen Brief, in dem er diesen um mögliche Schritte gegen derartige Situationen bat, wie sie sich gerade abspielten, d. h. die Belagerung des Parlaments durch die Öffentlichkeit.11 Widersprüchliche Gefühle äußerte Aloisie Kirschner in ihren Kindheitserinnerungen mit Blick auf dieses Ereignis  : »Noch heute erinnere ich mich der maßlosen Aufregung, die uns an diesem Tage befiel, an dem die Entscheidung über die tschechische Universität fallen sollte. […] endlich drei Stunden später als sonst, hörten wir den Wagen heranrollen. Kurz darauf trat mein Vater in den Hausflur. Über dem mächtigen Bojarenpelz um seine Schultern leuchtete sein Gesicht triumphierend. ›Sieg  !‹, rief er, ›Sieg auf der ganzen Linie  ; die böhmische Universität ist gesichert  !‹ […] Im Laufe des Abends erzählte uns Vater von der atemlosen Beklommenheit, in der das slawische Prag den ganzen Tag befangen gewesen, […] bis endlich, als die Stunde der Abstimmung nahte, ein horchendes Schweigen die Zungen bannte und wie ein Augenzeuge ihm berichtet hatte, selbst die Wagen stehengeblieben waren, um das Horchen nicht zu stören. Vor dem Abgeordnetenhause staute sich ein Meer von Menschen. Es war finster geworden. Mit dem dramatischen Instinkt, der dem tschechischen Volke eigen ist, hatte sich eine große Zahl der Horcher mit Fackeln bewaffnet, die gesenkt und ausgelöscht werden sollten, wenn die Sache schief ging. Da wurde ein Fenster im Abgeordnetenhaus geöffnet. Man verkündete der Menge das Ergebnis der Abstimmung. Mein Vater versicherte, nie im Leben würde er den feierlichen Eindruck vergessen, als die Deputierten zwischen einem patriotischen Menschenspalier und den Umständen gemäß hochgeschwungenen Fackeln aus dem Abgeordnetenhause schritten, während immer wieder neue ›Sláva‹-Salven die Luft 11 Seinen administrativen Schritt teilte er den Abgeordneten am Folgetag zu Beginn der Beratungen mit. SPBL, 2.3.1866, 1.

Die Emanzipation der tschechischen Sprache

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erschütterten. Es sei ein Jauchzen gewesen, dass, wie die tschechischen Patrioten sich ausdrückten, die Märtyrer der Schlacht am Weißen Berg es in ihren Gräbern hören mussten […] Immerhin hatte es etwas Paradoxes, dass wir deutsch erzogene [sic  !] Kinder so lebhaft für die tschechische Sache fühlten  ; man fühlte slawisch, und man sprach deutsch.«12 »Nachdem mein Vater den erhebenden Eindruck der großen historischen Episode zu Ende geschildert hatte, kraulte er sich den Kopf und bemerkte  : ›Eigentlich war’s verflucht leichtsinnig von mir, mir’s so mir nichts dir nichts mit den Deutschen zu verderben. Nachdem ich meine Stimme abgegeben, rief ich dem (er nannte den Namen eines befreundeten Abgeordneten) zu  : ›Sind Sie auch ein solcher Selbstmörder wie ich  ?‹«13 Die Abstimmung über die Sprachenautonomie war für den Abgeordneten Karl Kirschner und dessen Familie von grundsätzlicher Bedeutung. Kirschner hatte nämlich für den Erwerb einer Brauerei einen großen Kredit bei deutschen Bankhäusern aufgenommen, die ihm für sein Verhalten bei der Abstimmung des Landtags den Kredit kündigten. Noch im gleichen Monat musste Kirschner Konkurs anmelden. Die Familie verarmte, musste umziehen, einen Großteil des Personals entlassen und die Mädchen verloren ihren gesellschaftlichen und finanziellen Status. Der böhmische Landtag zählte im Untersuchungszeitraum 241 Mitglieder, an der Abstimmung am 1. März 1866 nahmen 221 Mitglieder teil. Die nachfolgende Tabelle zeigt den Standpunkt der adeligen und mit Virilstimme ausgestatteten Mitglieder des böhmischen Landtags.14 Den Gegenstand unserer in der Tabelle festgehaltenen 12 Ossip Schubin, Meine Kindheit. Erinnerungen einer Siebzigjährigen, in  : Westermanns Monatshefte 136, 1924, 485–492, 546–564, hier 552f. Ossip Schubin, mit eigentlichem Namen Aloisia Kirschner (1854–1934), war eine böhmische Schriftstellerin, die in deutscher Sprache schrieb. Eine Auswahl ihrer Erinnerungen veröffentlichte Wilm a A. Iggers, Frauenleben in Prag. Ethnische Vielfalt und kultureller Wandel seit dem 18. Jahrhundert, Wien 2000, 134–164. Ein Teil der Erinnerungen erschien auch auf Englisch  : Women of Prague. Ethnic Diversity and Social Change from the Eighteenth Century to the Present, Providence–Oxford 1995. Das Todesdatum der Schriftstellerin ist nicht ganz sicher. W. A. Iggers nennt als Todesjahr 1930, während das Österreichische Biographische Lexikon, Bd. 3, Wien 1965, 345–346, das Jahr 1934 angibt. Einen Teil der Erinnerungen veröffentlichte zudem H a ns Lemberg, Universität oder Universitäten in Prag – und der Wandel der Lehrsprache, in  : Ders. (Hg.), Universitäten in nationaler Konkurrenz. Zur Geschichte der Prager Universität im 19. und 20. Jahrhundert, München 2003, 19–32, 19. 13 Karl Kirschner stimmte am 1. März 1866 gegen den Vorschlag der Minderheit (der Deutschen), wodurch er den Vorschlag der Tschechen unterstützte. Seine Haltung ist keineswegs so überraschend, wie dies die Autorin beschreibt, ebenso stimmte die Mehrheit des böhmischen Adels, der allgemein als prodeutsch galt, wobei die tschechische Haltung auch der (Deutsch sprechende) Rektor der Universität Josef Schindler und der Prager Erzbischof Friedrich Schwarzenberg unterstützten. SPBL, 1.3.1866, 368–424. 14 Die Virilisten wurden auf der Basis ihres Postens ernannt, es handelte sich um vier römisch-katholische kirchliche Würdenträger und einen Universitätsangehörigen, nämlich den Prager Erzbischof, die Bischöfe von Budweis, Königsgrätz und Leitmeritz sowie den Rektor der Karl-Ferdinands-Universität.

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»fotografischen Momentaufnahme« bildet hier die Abstimmung der Aristokraten über die Gleichberechtigung der tschechischen Sprache an der Prager Universität. Für die Untersuchungszwecke wurden die Stimmen aller Männer zusammengefasst, die einen Adelstitel besaßen oder Virilisten waren. Abgestimmt wurde für oder gegen den Vorschlag der deutschen Minderheit, die Abstimmung »ne«/»nein« bedeutete folglich eine Stimme für die tschechische Mehrheit. In der Tabelle sind die ursprünglichen Worte der abstimmenden Männer festgehalten, die zweifellos auch durch ihre Sprache ihre Haltung zum Ausdruck bringen wollten. Der Rektor der Karl-Ferdinands-Universität, der Theologe Vincenc Náhlovský, unterstützte die Forderung nach Autonomie der tschechischen Sprache, wobei diese Forderung unter anderem auch aus der dominierenden Zahl tschechischer Theologiestudenten und der Notwendigkeit einer Kenntnis der tschechischen Sprache für die künftigen Pfarrer in den böhmischen Ländern resultierte. Die Virilisten stimmten entweder mit der tschechischen Mehrheit oder enthielten sich der Stimme. Gerade die Stimmen der konservativen – für eine prinzipielle Gleichheit beider Landessprachen stimmenden – Aristokratie brachten der tschechischen Seite den Sieg bei dieser Abstimmung. Demgegenüber stimmten die meisten neu nobilitierten Männer (aus den Reihen der sog. Zweiten Gesellschaft), keineswegs jedoch die Angehörigen der alteingesessenen Adelsgeschlechter, gemeinsam mit den Deutschen gegen eine sprachliche Gleichstellung. Tabelle 3  : Abstimmung der Adeligen über die Sprachautonomie an der KarlFerdinands-Universität auf der Sitzung des böhmischen Landtags am 1. März 1866 Name des Adeligen

Adelstitel

Abstimmung

Erzbischof von Prag

Virilist

Nein

Bischof von Budweis

Virilist

Ne

Bischof von Königgrätz

Virilist

Enthalten

Bischof von Leitmeritz

Virilist

Enthalten

Rektor der Karl-Ferdinands-Universität

Virilist

Ne

Chotek Rudolf

Graf

Ne

Clam-Martinic

Graf

Nein

Černín Jaromír

Graf

Nein

Černín Ottokar

Graf

Nein

Desfours-Walderode Franz

Graf

Enthalten

Fürstenberg Emil

Fürst

Nein

Nach der Teilung der Universität im Jahre 1882 wurden beide Rektoren der deutschen und der tschechischen Universität in diese Funktion berufen, womit sich die Zahl der Virilisten um eine Person erhöhte.

669

Die Emanzipation der tschechischen Sprache Name des Adeligen

Adelstitel

Abstimmung

Fürstenberg Maximilian

Fürst

Nein

Harrach Franz

Graf

Nein

Harrach Johann

Graf

Ne

Hassner Leopold

Ritter

Ja

Kalina Mathias

Ritter

Nein

Kinský Ferdinand Karl

Graf

Nein

Kolowrat-Krakovský Johann

Graf

Ne

Korb Franz

Freiherr

Ja

Korb Karl

Ritter

Ja

Limbel Johann

Ritter

Ja

Limbel Karl

Ritter

Ja

Lobkowitz Georg

Fürst

Nein

Lobkowitz Moritz

Fürst

Nein

Maiersbach Adolf

Ritter

Ne

Mallowetz Ernst

Freiherr

Nein

Mladota Franz

Freiherr

Ja

Neupauer Karl

Ritter

Enthalten

Nostic Albert

Graf

Enthalten

Nostic Erwein

Graf

Ja

Nostic Joseph

Graf

Nein

Nostic Hugo

Graf

Nein

Peche Joseph

Ritter

Ja

Plener Ignaz

Edler

Ja

Rothkirsch-Panthen Karl

Graf

Enthalten

Stark Johann

Edler

Ja

Sternberg Jaroslaw

Graf

Nein

Sträruwitz Adolf

Ritter

Ja

Schönborn Erwein

Graf

Nein

Schwarzenberg Adolf

Fürst

Nein

Schwarzenberg Johann Adolf

Fürst

Enthalten

Schwarzenberg Karl

Fürst

Nein

Taaffe Eduard

Graf

Enthalten

Thun-Hohenstein Franz

Graf

Ja

Thun-Hohenstein Leo

Graf

Nein

Thun-Hohenstein Leopold

Graf

Enthalten

Thun-Hohenstein Theodor

Graf

Nein

Thun-Hohenstein Oswald

Graf

Enthalten

Thurn-Taxis Hugo

Fürst

Nein

670

Zdeňka Stoklásková, Brünn

Name des Adeligen

Adelstitel

Abstimmung

Waidele Ernst

Edler

Ja

Waldstein Ernst

Graf

Ja

Wenisch Johann

Ritter

Ja

Zedtwitz Karl M.

Graf

Ja

Zeidler Hieronymus

Freiherr

Ja

Zessner Vincenz

Freiherr

Nein

16

Abstimmung von Adeligen über die Gleichheit der Sprachen an der Karl-Ferdinands-Universität 1866

14 12 10 8 6 4 2 0

Virilisten

Fürsten

Grafen Nein

Ritter Ja

Freiherren

Edle

Enthalten

 

Die autonomen Organe der Universität und ihrer Fakultäten bezogen keine einheitliche Haltung zum Beschluss des Landtags vom 1. März 1866. Im Übrigen war dieser für sie nicht bindend, da die Universität nicht der Landesverwaltung unterstand. Die Theologische Fakultät unterstützte die Landtagsresolution, wobei der Grund hierfür im hohen Anteil Tschechisch sprechender Theologiestudenten gelegen haben mag. Die Fakultätsleitung erkannte offenkundig den Bedarf an Tschechisch sprechenden Geistlichen bei der Besetzung ländlicher Pfarrstellen  ; darüber hinaus wurde Pastoraltheologie bereits seit Längerem in tschechischer Sprache gelehrt. Die Mehrheit des Professorenkollegiums der Juridischen Fakultät wandte sich nicht grundlegend gegen einen in sprachlicher Hinsicht utraquistischen Unterricht, bestand freilich auf Deutsch als einziger Prüfungssprache.15 Die Medizinische Fakultät zeigte sich in ihrer Haltung gegenüber der Zweisprachigkeit gespalten, die tschechische Minderheit plädierte hier für eine Gleichberechtigung der Sprachen, die Majorität des 15 Ja n H av r á nek u. a., Dějiny Univerzity Karlovy. III (1802–1918), Praha 1997, 109.

671

Die Emanzipation der tschechischen Sprache

Professorenkollegiums beharrte auf dem Unterricht in der Weltsprache, was neben Deutsch auch Latein sein konnte. Jan Evangelista Purkyně (1787–1869) verteidigte die Gleichberechtigung der Sprachen, allerdings unter der Voraussetzung lediglich eines Übergangszeitraums, bis eine vollwertige Universität mit ausschließlich tschechischer Unterrichtssprache eingerichtet sein werde. Die Philosophische Fakultät empfahl für den weiteren Unterricht deutsche und tschechische Lehrstühle, deren Inhaber obligatorisch auch in der anderen Sprache unterrichten könnten. Prüfungssprachen könnten daher sowohl Deutsch als auch Tschechisch sein. Die Philosophische Fakultät neigte nichts desto weniger zur Einrichtung zweier eigenständiger Fakultäten. Der Akademische Senat bezog im Februar des Jahres 1868 eine sehr ähnliche Haltung wie die Philosophische Fakultät. Die Nationalität der Studenten der noch ungeteilten Universität verdeutlicht die nachfolgende Tabelle. Die Nationalität ist hier eine Frage der eigenen Deklaration der Hörer  ; in den damals existierenden cisleithanischen Statistiken, insbesondere in den Volkszählungsbögen, fand die nationale Zugehörigkeit keine Berücksichtigung. Seit 1880 wird in der Volkszählung die sog. Umgangssprache angegeben, für gewöhnlich irrtümlicherweise als Nationalität interpretiert. Judentum als Nationalität zu nennen war in der Zeit der Monarchie als Angabe nicht möglich, im Unterschied zur Volkszählung in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Tabelle 4  : Nationalität der Hörer der Karl-Ferdinands-Universität im Wintersemester 1855/185616

Nationalität

Theologische ­Fakultät (absolut u. relativ)

Juridische Fakultät (absolut u. relativ)

Medizinische ­Fakultät (absolut u. relativ)

Philosophische Fakultät (absolut u. relativ)

Deutsch

 55

40,1 %

209

43,9 %

109

  59,8 %

 42

35,0 %

Tschechisch

 82

59,9 %

250

52,6 %

 55

  30,2 %

 73

60,9 %

Italienisch

  3

  0,6 %

Ungarisch

  1

  0,2 %

  4

  2,2 %

  3

2,5 %

Nicht angegeben

  5

  1,1 %

  9

  5,0 %

  1

0,8 %

Andere

  8

  1,6 %

  5

  2,8 %

  1

0,8 %

476

100 %

182

100 %

120

100 %

Studenten insgesamt

137

100 %

16 H av r á nek, Dějiny Univerzity, 359. In der Tabelle sind neben der tschechischen und deutschen die beiden zahlenmäßig am stärksten vertretenen Nationalitäten aufgeführt. Weitere Nationalitäten lagen unterhalb der gewählten Grenze, d. h. 3 und weniger Hörer an der gesamten Universität.

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Zdeňka Stoklásková, Brünn

Tabelle 5  : Anteil der Hörer an Universitäten und Technischen Hochschulen entsprechend der Muttersprache im Jahre 1863 in Prozenten17 Anteil in der österrei­ chischen Monarchie nach der Volkszählung 1857

Anteil der Hörer der Universitäten 1863

Anteil der Hörer an Technischen Hoch­ schulen 1863

Deutsche

23,6

28,9

37,2

Böhmen, Mährer, Slowaken

17,8

13,6

28,4

7,4

10,3

14,1

Slowenen, Kroaten, Serben

11,2

5,5

0,4

Ungarn

15,0

18,7

12,6

8,8

15,7

4,0

Nationalität in der öster­ reichischen Monarchie

Polen und Ruthenen

Italiener, Friauler, Ladiner Rumänen

7,6

1,2

0,2

Juden (als Konfession)

3,0

9,4

8,0

Übrige Gesamt

0,6

1,7

0,2

100,0

100,0

100,0

Wie nahm nun die Regierung Einfluss auf die Sprachensituation an der Prager Universität vor deren Teilung im Jahre 1882  ? Dies hing ganz grundsätzlich von der politischen Einstellung der Regierung ab. In der Zeit der Regierung des Ministerpräsidenten Richard von Belcredi (1823–1902, im Amt 1865–1867) lässt sich das Bemühen hinsichtlich einer realen Umsetzung der Gleichberechtigung der tschechischen Sprache beobachten. Im Übrigen wurde Richard Belcredi angesichts seiner Bemühungen um eine föderalistische Ordnung des Reichs und um eine größere Autonomie auch für die slawische Bevölkerung als »ziemlich wenig deutsch« bewertet. Die Haltung Belcredis resultierte mit ziemlicher Sicherheit aus der Kenntnis der Verhältnisse in den böhmischen Ländern und den vernünftigen Überlegungen über die Zukunft des Reichs.18 In der Zeit des liberalen Kabinetts Carlos von Auersperg 17 Ernst Pliwa, Österreichs Universitäten 1863/4–1902/3. Statistisch-graphische Studie nach amtlichen Quellen bearbeitet, Wien 1908, 24–27  ; Gustav Otruba, Die Universitäten in der Hochschulorganisation der Donau-Monarchie. Nationale Erziehungsstätten im Vielvölkerreich 1850 bis 1914, in  : Student und Hochschule im 19. Jahrhundert. Studien und Materialien, Göttingen 1975, 75–155, hier 120. 18 Richard Belcredi setzte sich für eine Gleichberechtigung des Deutschen und Tschechischen im Unterricht an den Volks- und Mittelschulen ein  : »[N]ational extreme Richtungen können nur durch praktische Erfahrungen geheilt werden«. Staatsminister wider Willen – Graf Richard Belcredi (1823–1902). Der Aufhaltsame Aufstieg des Nationalismus, https://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2001/PK0763/ index.shtml [11.11.2021]  ; Loth a r Höbelt – Joh a n nes K a lwoda – Jiří M a líř (Hg.), Die Tagebücher des Grafen Egbert Belcredi 1850–1894. Nach editorischen Vorarbeiten von Antonín Okáč, Wien–Köln– Weimar 2016.

Die Emanzipation der tschechischen Sprache

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(1814–1890, im Amt des Premiers 1867–1868) stagnierte die Sprachenautonomie eher. Die tschechischen Interessen an der Universität waren zwar während der Regierungszeit Alfréd Józefs von Potocki (1822–1889, im Amt 1870–1871) und dann insbesondere in der Regierung Karl Siegmunds von Hohenwart (1824–1899) erkennbar, als Josef Jireček (1825–1888) 1871 zum Minister für Kultus und Unterricht ernannt wurde. An der Philosophischen Fakultät stieg die Zahl der tschechischen Professoren und Dozenten, dessen ungeachtet lässt sich dieser Umstand nicht einseitig interpretieren. Auch in der Zeit, als das Ministerium für Kultus und Unterricht in den Jahren 1872–1879 Karl von Stremayr (1823–1904) leitete, wuchs die Zahl der tschechischen Dozenten und Professoren.19 Die Zunahme der tschechischen Professuren und Dozenturen dokumentiert, dass es nicht mehr möglich war, die Ansprüche einer fünf Millionen Menschen umfassenden Nation auf Hochschulbildung in der eigenen Sprache zu übersehen. Diese Interpretation wird auch durch die Spezialisierungen begründet  : Hier nahm die Zahl der Fachleute insbesondere an der Philosophischen Fakultät in deren naturwissenschaftlichem Bereich zu, folglich setzte sich der Bildungstrend in den notwendigen Fächern durch. Der Prozess der Teilung der Universität beschleunigte sich wesentlich, nachdem die tschechischen Abgeordneten am 7. Oktober 1879 in den Reichsrat zurückgekehrt waren, zwei Tage später verlasen sie gemeinsam mit dem konservativen Teil des Adels einen staatsrechtlichen Protest.20 Die Haltung der einzelnen Fakultäten zu einer Aufteilung entsprechend der Sprache erwies sich dessen ungeachtet als sehr voneinander abweichend. Die Philosophische Fakultät sprach sich für eine Teilung aus, an der Juridischen und Medizinischen Fakultät gab es keine einheitliche Haltung und die Theologische Fakultät war ganz aus den Verhandlungen ausgenommen. Kardinal Friedrich Schwarzenberg hielt die Theologische Fakultät für eine Priesterausbildungsstätte der Diözese und stellte sich bewusst gegen deren Aufteilung. An der Universität erhöhte sich zwar das Tempo bei der Umsetzung der Sprachenautonomie und es entstand ein gewisser politischer Druck auf die Regierungsstellen, doch aus Sicht des Ministeriums für Kultus und Unterricht entwickelte sich die Situation in Richtung einer völligen sprachlichen Gleichberechtigung zu schnell. Die Ursachen für diese Haltung lassen sich zum einen im ökonomischen Bereich, also den Aufwendungen für eine völlige sprachliche Gleichberechtigung, zum anderen in den Befürchtungen des Ministeriums vor einem Rückgang der Qualität der Arbeit bei einer allzu raschen Realisierung des Prinzips einer Sprachenautonomie durch 19 Das Wirken Karl von Stremayrs interpretieren einige Autoren als ungünstig für das tschechische Schulwesen. H av r á nek, Dějiny Univerzity, 110. 20 A dolf Srb, Politické dějiny národa českého od roku 1861 až do nastoupení ministerstva Badenova r. 1895, Praha 1899, 566.

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die akademischen Organe finden. Karl von Stremayr, der in dieser Zeit sowohl das Justizministerium als auch das Ministerium für Kultus und Unterricht leitete, musste sich zwischen dem durch Josef Jireček am 6. Februar 1880 vorgelegten Entwurf der tschechischen Seite und dem Druck des liberalen deutschen Abgeordneten Eduard Herbst entscheiden, der den Minister aufforderte, sich zum Jireček-Vorschlag zu äußern. Jireček hatte um eine Unterstützung der Regierung für eine rasche Durchführung einer völligen sprachlichen Gleichberechtigung an der Universität angesucht. Stremayr hielt die Forderungen der tschechischen Politiker für berechtigt und deren Erfüllung für erforderlich, doch die finanzielle Situation des Staates gestattete aus seiner Sicht keine Realisierung der Sprachenautonomie in Gestalt einer Teilung der Universität. Stremayr sah in dem deutschen Charakter der Universität darüber hinaus keineswegs einen Erfolg der deutschen Nation, sondern für ihn lag dies im Interesse des Staates und der Kultur.21 Diese Haltung lässt sich als repräsentativ für die herrschenden Kreise der Habsburgermonarchie ansehen, die das Deutsche nicht mit der deutschen Nation als solcher, sondern mit der Existenz des Staates, der Monarchie und des Kaiserhauses verbanden. Die Agenda zur Einführung einer Sprachenautonomie in Gestalt einer Universitätsteilung erwies sich auf Seiten der Akademiker und der tschechischen politi­ schen Elite als vom Zeitpunkt her ungünstig gewählt, zumal im Jahre 1880 der Erlass der sog. Stremayr-Verordnung erfolgte, die eine gleichberechtigte Stellung des Tschechischen im Umgang mit den staatlichen Behörden garantierte.22 Minister Stremayr und Ministerpräsident Taaffe glaubten offenkundig, dass gegenüber den Forderungen der tschechischen Seite ausreichend entgegenkommende Schritte unternommen worden seien und es aktuell keiner weiteren Maßnahmen bedürfe. In den autonomen Organen der Universität lässt sich zu dieser Zeit bereits eine Veränderung in der Einstellung beobachten, die sich in Richtung einer völligen Trennung der tschechischen und deutschen Fakultät bewegte. Gemeinsam sollte lediglich das Amt des Rektors bleiben, was im Vergleich zu den vorangegangenen Einstellungen eine große Umorientierung bedeutete. Den Gedanken einer Teilung der Fakultäten entsprechend der Sprache nahm auf der Grundlage eines Vorschlags des Prorektors Ernst Mach der Akademische Senat der Universität auf, allerdings unter der Bedingung, dass die tschechischen Einrichtungen vollständig abgespalten und später in die neu gegründete Universität eingegliedert werden.23 Die einzige Stimme gegen 21 Ja rosl av Goll, Rozdělení pražské univerzity Karlo-Ferdinandovy roku 1882 a počátek samostatné univerzity české, Praha 1908, 25f.; Srb, Politické dějiny, 572. 22 Stremayrs Sprachenverordnung wurde am 19. April für Böhmen und am 28. April für Mähren veröffentlicht. LGBl. Böhmen, 14/1880, 34f.; LGBl. Mähren, 17/1880, 31–33. 23 Der Vorschlag des bedeutenden Physikers Ernst Mach wurde – mit Ausnahme einer einzigen Stimme – mit sämtlichen Stimmen angenommen. Ja n H av r á nek, Česká univerzita v jednání rakouských úřadů do roku 1861, in  : AUC – HUCP 22, 1/1982, 35–69, hier 55.

Die Emanzipation der tschechischen Sprache

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eine Teilung war Clement Borový, Professor an der Theologischen Fakultät, der in einem separaten Entwurf den Plan zur Schaffung einer eigenständigen Universität unterstützte. In gewissem Umfang, wenn auch aus anderen Gründen, unterstützten diesen zwei Professoren der Juridischen Fakultät, Friedrich Rulf (1820–1900) und Friedrich Heinrich Vering (1833–1896), die für Machs Vorschlag stimmten, zumal sie die Bildung einer eigenständigen tschechischen Universität mit Blick auf die deutschen Interessen für das geringere Übel im Vergleich zur Einrichtung paralleler Fakultäten hielten. Die Bemerkung des Prager Polizeidirektors verweist auf den Kern des Problems, nämlich die Furcht vor einer Verringerung der Einnahmen aus den Kollegiengeldern und weiteren Taxen.24 Die Chronologie der Ereignisse, die zur Entstehung der Tschechischen Universität führten, verdient Beachtung. Die tschechischen Abgeordneten kehrten am 7. Oktober 1879 in den Reichsrat zurück. Am 6. Februar 1880 forderte Josef Jireček als Sprecher des Haushaltsausschusses von der Regierung Garantien für die Umsetzung der Sprachenautonomie an der Universität. Im April 1880 gewann, nachdem der Haushaltsausschuss Jirečeks Entwurf gebilligt hatte, Jirečeks Resolution die Stimmenmehrheit auch im Abgeordnetenhaus des österreichischen Reichsrats. Im gleichen Monat wurde Stremayrs Sprachenverordnung erlassen. Am 9. Dezember 1880 forderte das Ministerium für Kultus und Unterricht den Akademischen Senat auf, sich zum Plan für eine Teilung der Universität zu äußern. Der Senat der Universität verabschiedete am 8. Januar 1881 den Entwurf des Prorektors Mach hinsichtlich des oben erwähnten Beschlusses über die Teilung der Universität. Durch weitere Zugeständnisse gegenüber den tschechischen Forderungen kam es zur Nobilitierung des Professors für bürgerliches Recht Antonín Randa und seine Einberufung in das Herrenhaus am 13. Januar 1881, zwei Tage später zur Ernennung des Repräsentanten der mährischen Alttschechen Alois Pražák zum Justizminister. Am 21. Januar 1881 äußerte der böhmische Statthalter Weber seine Ablehnung gegenüber den tschechischen Forderungen in der Agenda der Universität und am 9. Februar 1881 teilte der Minister für Kultus und Unterricht Conrad von Eybesfeld auf einer Beratung des Haushaltsausschusses mit, die Regierung anerkenne den Anspruch der tschechischen Nation auf eine eigenständige Universität. Vom 2. bis 6. März 1881 berieten Fachleute in der Statthalterei in Prag  ; anwesend waren Vertreter der Universität, der Statthalterei und des Ministeriums für Kultus und Unterricht. Das Treffen wurde als Vorbereitung für eine Teilung der Universität wahrgenommen. Der tschechische Klub im Abgeordnetenhaus beschuldigte die Regierung der Untätigkeit und diese legte Eile an den Tag. Am 11. April 1881 24 »Einige deutsche Professoren, die lediglich wegen ihrer Collegiengelder schreien, werde man nicht berücksichtigen und die tüchtigen Köpfe unter ihnen würden keine Schäden leiden, weil sie ihre czechischen Hörer ohnedies behalten werden«. H av r á nek, Česká univerzita, 54.

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Zdeňka Stoklásková, Brünn

verkündete der Kaiser eine »allerhöchste Entscheidung«, in der er die Teilung der Universität in Prag in eine tschechische und eine deutsche Hochschule und die historische Kontinuität für beide Institutionen billigte. Am 28. Februar 1882 wurde das Gesetz über die Teilung der Universität veröffentlicht. »Vom Beginne des Wintersemesters 1882/1883 an werden in Prag zwei Universitäten bestehen, nämlich die ›k. k. deutsche Karl-Ferdinands-Universität‹ und die ›k. k. böhmische Karl-Ferdinands-­ Universität‹. An der deutschen Universität ist die deutsche Sprache, an der böhmischen die böhmische die ausschließliche Unterrichtssprache. Der Gebrauch der lateinischen Sprache bleibt jedoch im üblichen Umfange aufrecht. […] Das der Prager Karl-Ferdinands-Universität oder einzelnen Facultäten derselben derzeit gehörige Vermögen ist als ein gemeinschaftliches Vermögen der beiden Universitäten, beziehungsweise der betreffenden Facultäten, anzusehen.«25 Der gesamte Prozess der Anerkennung der völligen sprachlichen Gleichberechtigung des Tschechischen an der Prager Universität verlief sehr schnell  ; in Betracht gezogen werden müssen die damaligen Kommunikationsmöglichkeiten, die sich mittels der per Eisenbahn und daran anknüpfend Pferdekuriere beförderten Post abspielten. Die Sprachenautonomie der Prager Universität wäre vermutlich früher zustande gekommen, sofern sich die tschechischen Abgeordneten am Parlamentsleben beteiligt hätten.

25 Reichsgesetzblatt für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder, 24/1882, 33f. Die Fakten für die chronologische Übersicht wurden aus den nachfolgenden Quellen und der entsprechenden Literatur gewonnen  : Reichsgesetzblatt aus den Jahren 1879–1882  ; Stenographische Protokolle des Abgeordnetenhauses des österreichischen Reichsrathes, VI. Legislaturperiode, IX. Session  ; H av r á nek, Česká univerzita  ; Srb, Politické dějiny  ; Goll, Rozdělení university.

Josef Leidenfrost, Wien

Von Ex-cathedra-Universitäten zu Helikopter-Unis Beobachtungen zum hochschulischen Kulturwandel seit den 1960ern

1. Über diesen Beitrag Dieser Beitrag stellt die (eigen)dynamischen Entwicklungen an heimischen Universitäten seit den 1960ern dar und analysiert den mentalitätsgeprägten Kulturwandel1 von Ex-cathedra-Universitäten (bis in die 1970er) zu Helikopter-Unis (in den 2020ern). Behandelt werden die in den 1960ern neuen Hochschulkultur-Attribute massiver Studenten- Bewegungen2 über die jüngsten hochschulkulturinnovativen Entwicklungen der »Helikopter-Unis« zum neuartigen Phänomen social-media-getriebener Regungen wie »unibrennt« Ende der 2000er Jahre. Der Beitrag ist eine Art Mikro-Studie ergänzend zu kompendiösen Universitätsgeschichten3 resp. zu Spicilegia wie z. B. jüngst die Übersicht zur Zeitgeschichte in Österreich.4 Neben politischer Geschichte ist Universitätsgeschichte auch Sozial-, Verwaltungs-, Wissenschafts- / Bildungs- sowie Territorial- / ­Regionalgeschichte5 – und Mentalitätsgeschichte.6 Diese konzentriert sich auf die bewussten und unbewussten Leitlinien, nach denen Menschen in epochentypischer Weise Vorstellungen entwickeln, nach denen sie empfinden und nach denen sie handeln,7 hier Akteure 1 »Kulturwandel« steht im Netz meist im Kontext von Diversitätsmanagement und Gleichstellung. 2 Zu den Begriffsverschiebungen von »Studenten« zu »Studierenden« siehe z. B. den Online-Beitrag »Studenten-Studierende  : Arbeitsrechts-Professoren vs. Hochschul-Funktionäre« vom 25. August 2017 des Arbeitsrechtsprofessors Dr. Arnd Diringer, Hochschule Ludwigsburg, https://efarbeitsrecht. net/studenten/ [10.12.2021]. Im Universitätsorganisationsgesetz 1975 ist der bis dahin verwendete Begriff »Studenten« in »Studierende« geändert worden. Hier werden die beiden Begriffe sequenziell verwendet. 3 Zur europäischen Universitätsgeschichte siehe z. B. Wa lter Ruegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, 4 Bände, München 1993–2010 oder institutionenspezifisch, zur Universität Wien, als Webapplikation unter https://geschichte.univie.ac.at/de [10.12.2021]. 4 Zur Zeitgeschichte jüngst M a rcus Gr äser – Dirk Rupnow (Hg.), Österreichische Zeitgeschichte – Zeitgeschichte in Österreich. Eine Standortbestimmung in Zeiten des Umbruchs, Wien–Köln 2021. 5 Thom as Ellwein, Die deutsche Universität. Vom Mittelalter bis zu Gegenwart, Wiesbaden 1997, 15f. 6 Zu Mentalitätsgeschichte https://de.wikipedia.org/wiki/Mentalitätsgeschichte [10.12.2021]. 7 Peter Dinzelbacher, Europäische Mentalitätsgeschichte, Stuttgart 2008, IX

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Josef Leidenfrost, Wien

im Hochschulleben in unterschiedlichen gesellschaftlichen Umgebungen und politischen Situationen.

2. Zu den Begrifflichkeiten 2.1 »Hochschulkultur« »Hochschulkultur« erscheint in der analogen und virtuellen Literatur selten, sie ist dennoch ein präsentes Schlagwort in der Welt der Academia. Eine Fundstelle steht – ausgerechnet – mit dem sonst kritisierten »Bologna-Prozess« im Kontext.8 Eine andere, die Netzseite der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum, beschreibt unter »Hochschulkultur« anregende Kommunikation, wertschätzenden Umgang miteinander, vielfältige Bildungsanregungen sowie spirituelle und kulturelle Angebote als Kennzeichen.9 Im Netzauftritt der Fachhochschule Graubünden in Chur stellt diese unter »Hochschulkultur« fest, dass sie eine attraktive Arbeitgeberin sein wolle, dass sie mit gesellschaftlichen Entwicklungen und sich wandelnden Ansprüchen der Mitarbeitenden Schritt halten und nebst zeitgemäßen Anstellungsbedingungen passende Angebote für die individuellen Lebensphasen und -realitäten geben wolle.10 Der deutsche Philosoph Jürgen Mittelstraß relevierte Hochschulkultur verknappt gesagt als »die Lust des Studierens«.11 Eine Allgemeindefinition zu »Hochschulkultur« gibt es nicht. Es geht dabei aber, trivial ausgedrückt, summa summarum um (Hochschul)Menschen und ihre (Hochschul)Umgebung. 2.2 »Ex-cathedra-Universität« »Kathedra« (aus dem Griechischen für Sitz oder Sessel) ist seit der Antike das Symbol der Vollmacht eines öffentlichen Amtsträgers.12 Das sich daraus ableitende Wort »Katheder« ist veraltet für das Pult eines Schul- oder Hochschullehrers.13. »Ex ca-

 8 A n ne Dudeck – Bet tina Ja nsen-Schulz (Hg.), Zukunft Bologna  !  ? Gender und Nachhaltigkeit als Leitideen für eine neue Hochschulkultur, Frankfurt am Main 2007.  9 https://www.evh-bochum.de/hochschulkultur.html [10.12.2021]. 10 https://www.fhgr.ch/fhgr/medien-und-oeffentlichkeit/publikationen/wissensplatz/februar-2021/einewerteorientierte-hochschulkultur-vorleben/ [10.12.2021]. 11 Jürgen Mit telstr ass, Hochschulkultur. Die Anstrengung des Begriffes und die Lust des Studierens, Oldenburg 1991. 12 https://de.wikipedia.org/wiki/Kathedra [10.12.2021]. 13 https://de.wikipedia.org/wiki/Katheder [10.12.2021].

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thedra«, so das Oxford Reference Dictionary, bedeutet  : »with the full authority of office«.14 In seinem Aufsatz »›Das Abenteuer auf dem Katheder‹. Zur Vorlesung als rhetorischer Lehrform« analysiert der Schulpädagoge Hans Jürgen Apel dieses Thema.15 Vorlesungen (ex cathedra) sind für Apel eine zentrale Methode universitärer Wissensvermittlung, in denen Sachverhalte abschnittsweise vermittelt und Probleme zunehmend entfaltet und gelöst würden.16 Vorlesungen, so Apel resümierend, seien eine sinnvolle Lehrform, wenn sie u. a. zur Einführung oder Orientierung über ein Gebiet beitragen und den neuesten Stand des Wissens wiedergeben, grundlegende Probleme und Streitfragen einer Disziplin diskutieren, unterschiedliche Positionen herausstellen und Argumente pro und contra erörtern und die Sache mit Nachdruck und als Ausdruck persönlicher Auffassung vermitteln. In den Studentenbewegungen der späten 1960er war der Ex-cathedra-Unterricht aufgrund seiner Einseitigkeit ein stark kritisiertes Element von Hochschulkultur. In einem Interview für Hugo Portischs Fernsehserie »Österreich II«, ein Zeitgeschichte-Dokument sui generis, 17 ist Marina Fischer-Kowalski zu »1968« als Zeitzeugin interviewt worden.18 Sie gibt darin ein beeindruckendes universitäres »Sittenbild«  : »Es gab eine nach parlamentarischen Fraktionen gewählte Studentenvertretung, die Österreichische Hochschülerschaft, und es gab an den Instituten selbstherrliche Professoren, die über den gesamten Studien- und Prüfungsbetrieb bestimmen konnten. Die Masse der Studenten hatte weder nach der einen noch nach der anderen Seite viel zu sagen.«19 Damit ist einerseits eindeutig die Struktur der 1960er an Universitäten geschildert, andererseits die Frontallehre der Ex-cathedra-Universitäten deutlich herausgearbeitet.

14 https://www.oxfordreference.com/view/10.1093/oi/authority.20110803095803489 [10.12.2021]. 15 H a ns Jürgen A pel, »Das Abenteuer auf dem Katheder«. Zur Vorlesung als rhetorische Lehrform, in  : Zeitschrift für Pädagogik 45, 1999/1, 61–79. 16 Ebd., 63. 17 https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96sterreich_II [10.12.2021]. 18 Im Rahmen eines vom Österreichischen Zukunftsfonds finanzierten und vom ORF-Archiv, dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und dem Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung Graz gemeinsam durchgeführten Projekts werden insgesamt 1046 Zeitzeug/inneninterviews, die seinerzeit für die TV-Serien »Österreich II« und »Österreich I« durchgeführt worden sind (etliche davon auch vom Autor dieses Beitrags), öffentlich zugänglich gemacht. http://zukunftsfonds-austria.at/ workshop.php?id=36 [10.12.2021]. 19 Hugo Portisch – Sepp R iff, Österreich II, Jahre des Aufbruchs – Jahre des Umbruchs, Wien 1996, 289.

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2.3 »Helikopter-Uni« Der Terminus »Helikopter-Uni« ist neu und ist an den Begriff helicopter parent angelehnt. Helicopter parent, ein populärwissenschaftlicher Begriff, wurde erstmals 1969 vom israelischen Psychologen Haim Ginott20 in seinem Buch »Parents & Tennagers« verwendet. Er ist mittlerweile zu Lexikon-Ehren gekommen. Im Cambridge Dictionary, Ausgabe 2014, wird er definiert als »a parent who is closely involved with their child’s life and tries to control it too much, especially their child’s education.«21 Daniel Wilhelm und Wiebke Esdar diagnostizierten zum Phänomen »Helikopter-Eltern« vier gleichzeitig auftretende Konsequenzen aus dem Elternverhalten  : Überinvolviertheit, Autonomieeinschränkung, Überbehütung und externale Schuldzuweisungen.22 Steigende Studierendenzahlen und die soziale Öffnung der Hochschulen habe zu ausbordend involvierten und risikoaversiven Eltern geführt, was durch erheblichen Beratungs(mehr)aufwand die Hochschulen vor neue Herausforderungen stellt.23 Es gibt einen »Helikopter-(Eltern-)Konnex« zu Hochschulen, wie beispielsweise der Bericht »Genervte Studentenberater. Wenn Helikopter-Eltern an der Uni landen«24 im SPIEGEL zeigt. Ähnlich hat der Deutschlandfunk berichtet  : »Invasion an der Uni  : Die Helikopter-Eltern kommen  !«25 Der KURIER behandelte das Thema unter  : »Helikoptereltern landen auf heimischen Universitäten. Von der Inskription zur Intervention.« 26 Der Begriff »Helikopter-Unis« ist ad interim lexikal (noch) nicht verankert, aber publizistisch und wissenschaftlich in Verwendung, so z. B. von der Frankfurter Sprachwissenschaftlerin Helen Leuninger.27 Sie beschreibt ihre Erfahrungen seit den 1980ern mit jungen Studenten und dem Faktum, sie richtig »zu steuern«. Tagespublizistisch erscheint »Helikopter-Uni« in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Herbst 2021, Untertitel »Bonn warnt Studenten vor un-

20 https://de.wikipedia.org/wiki/Haim_G._Ginott [10.12.2021]. 21 https://dictionary.cambridge.org/de/worterbuch/englisch/helicopter-parent [10.12.2021]. 22 Da niel Wilhelm – Wiebk e Esda r, Helicopter Parenting, Prävalenz sowie Einfluss von Bildungshintergrund und sozio-ökonomischem Status, in  : Die Hochschule 2/2014, 69. 23 Ebd., 71. 24 Heik e K lov ert, Genervte Studentenberater. Wenn Helikopter-Eltern an der Uni landen, in  : Der Spiegel, 27.10.2015. 25 Sendung vom 7.11.2019, https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/studium-helikoptereltern-ander-uni [10.12.2021]. 26 Kurier, 30.10.2019. 27 Helene Leu ninger, Universum Universität, Berlin 2020, 27–29.

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schöner Wirklichkeit«.28 Für diesen Artikel auslösendes Element war eine Broschüre des Gleichstellungsbüros der Universität Bonn mit dem Titel »Informationen und Anregungen zum Umgang mit Inhaltshinweisen in der Lehre«.29 Darin wird empfohlen, u. a. mit folgenden Inhalten (Auswahl) in der Lehre sensibel vorzugehen  : sexuelle Übergriffe, Kindesmissbrauch/Pädophilie/Inzest, Selbstverletzung und Suizid, Gewalttätigkeit, Pornographische Inhalte, Entführung und Verschleppung, Tod oder Sterben, Fehlgeburten/Abtreibung, Tierquälerei oder Tod von Tieren, Rassismus und rassistische Beleidigungen, Sexismus und Frauenfeindlichkeit, Klassenkampf, Polizeigewalt, Homophobie und Heterosexismus.30 In einem Kommentar31 dazu heißt es, dass in einer in den in den USA begonnenen Bewegung Studierende immer häufiger verlangten, vor bestimmten Studieninhalten quasi geschützt zu werden, wofür mittlerweile der Begriff »trigger warnings« steht.32 Damit Hand in Hand geht die sogenannte »cancel culture«, systematische Bestrebungen zum sozialen Ausschluss von Personen, denen beleidigende, unanständige oder diskriminierende Aussagen oder Handlungen vorgeworfen werden.33 Die Kombination »cancel« mit »culture« ist netzbasiert nicht aufklärbar. Deutsche Begriffe dafür sind Absage-, Lösch- oder Zensurkultur. Sie ist ein neues Phänomen auch in der akademischen Welt, eine neue Art von »Hochschulunkultur«. Zu den elektronischen Quellen für diesen Beitrag sei bemerkt, dass die Verwendung von InternetEinträgen damit zusammenhängt, dass für die Themenstellungen relevantes Material nur elektronisch zu finden ist, da »abgestorbenes Holz als Trägermaterial«34 mit der kontextuell notwendigen thematisch schnelllebigen Internetpublizistik nicht mehr – oder noch nicht – mithalten kann.

28 Thom as Thiel, Die Helikopter-Uni, in  : Frankfurter Allgemeine Zeitung 22.9.2021, 11. Der Titel, so der Verfasser Thiel in einem Telefonat mit dem Autor dieses Beitrages, sei bewusst in Anlehnung an »Helikopter-Eltern« erfolgt. 29 Informationen und Anregungen zum Umgang mit Inhaltshinweisen in der Lehre  ; Kopie im Besitz des Autors. 30 Ebd., 7. 31 Josef K r auss, Helikopterhochschulen folgen Helikoptereltern. Vom Kreißsaal bis in den Hörsaal  : die gepamperten Studenten, https://tichyseinblocik.de/kolu,mem/josef-kraus-lernen-und-bildung/helikoptereltern-helikopterhochschulen/ [10.12.2021]. 32 Triggerwarnung bezeichnet eine Warnung vor möglichen Auslösereizen (Auslöser, englisch trigger). https://de.wikipedia.org/wiki/Triggerwarnung [10.12.2021]. 33 https://de.wikipedia.org/wiki/Cancel_Culture [10.12.2021]. 34 Thom as Wozni a k – Jürgen Nemitz – Uwe Rohwedder (Hg.), Wikipedia und Geschichtswissenschaft, Berlin–Boston 2015, VII.

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3. 1968: »épater le bourgeois?« »1968« wurde rasch zu einer und blieb aus vielen Gründen eine Chiffre in der Hochschul(kultur)geschichte. Es gibt verschiedenste Kategorisierungen dazu, »die zahme Revolution«,35 »die heiße Viertelstunde in Wien«,36 »Zeitikone mit verwackeltem Sinn«,37 »kurzer Sommer – lange Wirkung«,38 das »unterschätzte Wendejahr«39 bis zu »Sternstunde zivilen Ungehorsams«.40 Eine besonders pointierte Kennzeichnung gibt die Soziologin und Sozialökologin Marina Fischer-Kowalski,41 die die Ereignisse 1968 mit »épater le bourgeois«42 umreißt, die Reizung der Bürgerlichen durch bewusste Provokationen. Für eine 1968er-Rückschau im Juni 2008 lautete der Titel dann gar »Blut, Scheiß und Tränen«.43 Das abgewandelte Zitat folgt Winston Churchills Worten aus dessen Antrittsrede im britischen Unterhaus am 13. Mai 1940  : »I would say to the House, as I said to those who have joined this Government  : I have nothing to offer but blood, toil, tears and sweat.«44 Zur (möglichen) Inspiration für diese bewusst provokante TAZ-Überschrift diente wohl ein 1968er-Ereignis mit schon zeitgenössisch vieldiskutiert Konventionen brechenden Aktivitäten45 im Hörsaal I des Neuen Institutsgebäudes der Universität Wien am 7. Juni 1968, im Rahmen einer von der Studentengruppierung SÖS (Sozialistischer Österreichischer Studentenbund)46 vorbereiteten Veranstaltung. Der von 35 Paul Ebner – K a rl Vocelk a, Die zahme Revolution. ’68 und was davon blieb, Wien 1998. 36 Fritz K eller, Wien, Mai 1968 – Eine heiße Viertelstunde, Wien 1983. 37 Rudolf Siev ers, 1968. Eine Enzyklopädie, Frankfurt am Main 2008, 9. 38 A ndre as Pflitsch – M a nuel Gogos (Hg.), 1968. Kurzer Sommer – lange Wirkung, München 2008. 39 Profil 03/2018, 24–31. 40 Konr a d Paul Liessm a n n, Die Folgen von 1968. Von einer Sternstunde zivilen Ungehorsams zur Bürokratisierung der Universitäten  ?, in  : Emil Brix – Jürgen Nautz (Hg.), Universitäten in der Zivilgesellschaft, Wien 2002, 63–74. 41 M a rina Fischer-Kowa lsk i, Zur Entwicklung von Universität und Gesellschaft in Österreich, in  : Heinz Fischer, Das politische System Österreichs, Wien 1972, 571–624, hier 603. 42 https://en.wikipedia.org/wiki/%C3%89pater_la_bourgeoisie [10.12.2021]. Im online Oxford Reference Dictionary beschrieben als »a French phrase that can be translated only rather clumsily, as ›to shock the (respectable) middle-class citizens‹«. https://www.oxfordreference.com/view/10.1093/oi/ authority.20110803095754207 [10.12.2021]. 43 Robert Misik, Blut, Scheiß und Tränen, in  : taz, 7.6.2008  ; https://taz.de/  !841853/ [10.12.2021]. Zum Journalisten und Schriftsteller Robert Misik  : https://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Misik [10.12.2021]. 44 Hier zitiert nach M a rtin R asper, »No sports« hat Churchill nie gesagt. Das Buch der falschen Zitate, Salzburg–München 2017, 83. 45 https://de.wikipedia.org/wiki/Kunst_und_Revolution [10.12.2021]. 46 https://geschichte.univie.ac.at/de/glossar/sozialistischer-oesterreichischer-studentenbund-soes [10.12.2021].

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Aktionskünstlern vorgesehene Ablauf war dem SÖS nicht bekannt, er distanzierte sich nach dem Eklat. Die Aktion am Ankündigungsplakat war als Vortrag benannt und mit »Kunst und Revolution« betitelt. Die dabei vollzogenen Aktionen bestanden in Nacktheit, Verrichten der Notdurft, Masturbation, Auspeitschen, Selbstverstümmelung, Verschmieren der eigenen Exkremente am nackten Körper und Erbrechen, unter Absingen der österreichischen Bundeshymne. Dies kostete den SÖS seine politische Existenzberechtigung47 und ging als »Uni-Ferkelei« in die Hochschulgeschichte ein. Die Boulevard-Presse reagierte darauf entsprechend aggressiv wie z. B. der Wiener MONTAG am 10. Juni 1968  : »›Uni-Skandal‹ in Wien  : Ins Gefängnis mit dem obszönen Gesindel«,48 der EXPRESS  : »Sex-Orgien radikaler Studenten«49 oder der KURIER  : »Uni-Orgie  : Drei in Haft. Rädelsführer – keine Studenten«.50 Solche tage-, teilweise wochenlangen Negativ-Berichte taten dem Ansehen der Studenten, ihren Anliegen und der »Hochschulkultur« insgesamt weder situativ noch mittelfristig gut. In ihrer Analyse zu diesem Kapitel der Studentenbewegung in Österreich kommt Marina Fischer-Kowalski zu dem Urteil, dass dieses Ereignis blitzartig in ganz Österreich Aggressionen gegen die studentische Linke auslöste und ihre Aktionen zum Gegenstand allgemeinen Gespötts machte.51 Es gab aber auch traditionellere Interventionsformen im Rahmen von »1968«, darunter Mitte Juni eine Diskussionsveranstaltung des VSStÖ-Vertreters Peter Kowalski mit Unterrichtsminister Theodor Piffl-Perčević im Auditorium Maximum der Universität Wien. Es wurde danach eine ministerielle Hochschul-Reformkommission eingesetzt, unter studentischer Beteiligung.52

47 Detailreiche Schilderungen bei K a zuo Friedem a n n K a ndu tsch, Das Jahr 1968 am Beispiel der Veranstaltung »Kunst und Revolution« in der (gesellschafts-)politischen Diskussion in Österreich, Diplomarbeit Universität Wien 2007, 24ff. Zur Berichterstattung darüber jüngst  : A n na Mona K atzbauer, Das Jahr 1968 in den zeitgenössischen österreichischen Printmedien, Diplomarbeit Universität Graz 2020, darin vor allem 163–182. 48 Faksimilierte Titelseite wiedergegeben in  : H a n nes Etzlstorfer (Hg.), Die 60er. Beatles, Pille und Revolte, Wien 2010, 263. 49 Zitiert nach Die ›Uni-Ferkelei‹ im Spiegel des Boulevard, in  : Der Standard, 7.6.2018. 50 Kurier, 14.6.1968, 1. 51 Fischer-Kowa lsk i, Universität und Gesellschaft in Österreich, 603. 52 Ebner – Vocelk a, Zahme Revolution, 178–180.

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4. Post-»1968«: Neue (extramurale) Politikfelder, sinkende (interne) Interessen  ? Die unmittelbaren Post-»1968«er waren von immer neuen politischen Interaktionen gekennzeichnet.53 Es gab Diskussionsveranstaltungen und Demonstrationen, teachins, sit-ins, bed-ins, go-ins, love-ins und zumindest ein shit-in.54 In den 1970ern folgten zunehmend »extramurale« Protestbewegungen unter studentischer Beteiligung oder auf deren Initiative. Dazu zählten die Besetzung des (Auslands)Schlachthofs (»Arena«) St. Marx in Wien gegen dessen Abriss55, der Marsch auf Zwentendorf56 an der Donau gegen die Inbetriebnahme des Atomkraftwerks und die Besetzung der Hainburger Au57 gegen ein Donau-Laufkraftwerk. Selbige war von der ÖH mittels Bus-Transfers unterstützt worden.58 Der Einsatz des eigenen Körpers machte – nicht nur bei Demonstrationen – schon seit den Spät-Sechzigern eine bestimmte Attraktivität (nicht nur) für Jugendliche aus, er wurde durch Haartracht und auffallende Kleidung zum sichtbaren Zeichen für Widerstand.59 In Gustav Peichls Karikaturen kommt die sichtbare Symbiose zwischen äußeren Protestkennzeichen, langen Haaren und Bärten, Glockenhosen und Fransenjacken, sowie der intrinsischen Politik-Gestaltung pointiert zum Ausdruck.60 Hochschulische Agitation erfolgte mittels hektographierter61 Flugblätter, Fotokopien waren noch zu teuer.62 Ein erinnerlicher Wortlaut eines damaligen Handzettels, verteilt bei einer Vorlesung des ordentlicher Universitätsprofessors für österreichi53 Siehe dazu z. B. Robert Foltin, Und wir bewegen uns doch. Soziale Bewegungen in Österreich, Wien 2004, 64–75. 54 Fischer-Kowa lsk i, Universität und Gesellschaft in Österreich, 655. Gemeint ist das bereits geschilderte Ereignis an der Universität Wien im Juni 1968. 55 https://de.wikipedia.org/wiki/Arena_(Wien) [10.12.2021]. 56 https://de.wikipedia.org/wiki/Kernkraftwerk_Zwentendorf [10.12.2021]. Das betriebsbereite Kernkraftwerk ist aufgrund einer Volksabstimmung am 5. November 1978 nicht ans Netz gegangen. 57 Der Verlauf der Demonstrationen und die Art der Beteiligung wurden zu Marksteinen des Demokratieverständnisses und der Energiepolitik in Österreich, https://de.wikipedia.org/wiki/Besetzung_der_ Hainburger_Au [10.12.2021]. 58 Zu den ÖH-Bustransfers  : 60 Jahre ÖH, Wien 2006, 56. 59 Foltin, Und wir bewegen uns doch, 65. 60 Siehe Beispiele in Ironimus, Cartoons 1948–2018, Wien 2018. 61 Hektographie in ihrer Anwendung spielte eine große Rolle, da es die bei weitem günstigste Möglichkeit zur Herstellung von Druckwerken war. Die relativ preiswerten Hektographen erlaubten es z. B. auch Schülern und Studenten, Flugblätter und Schülerzeitungen herzustellen. Siehe dazu https:// de.wikipedia.org/wiki/Hektografie [10.12.2021]. 62 Im Universitätsarchiv der Universität Wien gibt es lediglich im Vorlass von Alt-Rektor Günther Winkler drei Mappen mit studentischen Flugblättern, von 1968 bis 1971.

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sche Geschichte Adam Wandruszka,63 ist bis heute speziell in der Erinnerung des Autors geblieben  : »Es trug der gute Wandruszka das braune Hemd einst der SA.« Ein Überblick über die Studentengruppen und ihre Ziele mit schwer zu memorierenden Akronymen (GRM, MLS, KSV, ÖSU, VSSTÖ, JES, RFS etc.) war nicht leicht zu behalten. Dazu kamen Listen mit ausgefallenen (Spaß-)Bezeichnungen (und offensichtlich mangelndem politischen Gestaltungswillen) wie »Die Rebellen vom Liang Shan Po«, »Penner und Versager«, »Forrest Gump« u. ä.64 Außer Flugblättern und Aufklebern per se (besonders beliebter Anbringungsort  : der Pater-NosterAufzug im NIG der Universität Wien) sind damalige studentenpolitische Themen nicht mehr präsent. Die Teilnahme an den biannualen Wahlen zur (damals noch so genannten) Hochschülerschaft65 waren im neuen ungewohnten Polit-Terrain Universität die einzigen hochschulpartizipativen Aktivitäten des Autors dieses Beitrags  : Es gab seinerzeit Professoren, die bei mündlichen Prüfungen im papierenen (damals noch so genannten) Studentenausweis die Stempelbestätigungen über die Teilnahme an den Wahlen kontrollierten. Konrad Paul Liessmann, selbst ehemaliger Studentenaktivist,66 beschreibt in »Die Folgen von 1968. Von einer Sternstunde zivilen Ungehorsams zur Bürokratisierung der Universitäten  ?«67 die Verdienste der Studentenbewegung der 1960er Jahre. Rund um 1968 seien die Universitäten im Brennpunkt gesellschaftlicher Entwicklungen gestanden, nicht nur wegen der (aus Deutschland »importierten«) Kernparole »Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren«,68 sondern vor allem mit studentischen Forderungen nach einer Demokratisierung der Universitäten. Der Impakt studentischer Aktivitäten an den Hochschulen verlor in den Post-­ »1968«-Jahren an Bedeutung. Dies hatte mit dem nachhaltigen Absturz der Wahlbeteiligung und damit stark verminderter Legitimation zu tun. Gleichzeitig fällt innerhalb der ÖH-Strukturen das damalig weitgehende Fehlen von Funktionären und Aktivisten auf.69 63 Zur Biographie sowie zur SA-Vergangenheit Adam Wandruszkas siehe Thom as Wink elbauer, Das Fach Geschichte an der Universität Wien, Wien 2018, 251f. 64 Einen Überblick zu wahlwerbenden Gruppen 1970 und 2010 gibt Josef Leidenfrost, Der »Minoritenplatz« und etliche Generationen homines poltici, in  : Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (Hg.), 40 Jahre Wissenschaftsministerium 1970–2010, Wien 2010, 186–195. 65 Über jüngere Entwicklungen zum Hochschulwahlrecht siehe neuerdings Mich a el Gruber – Siegfried Sta ngl, Praxishandbuch Hochschülerinnen- und Hochschülerschaft, Wien 2017, 23–28. 66 Zum Leben und Werk siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Konrad_Paul_Liessmann [10.12.2021]. Zu seinen hochschulpolitischen Aktivitäten in der Marxistisch-Leninistischen Studentenorganisation MLS https://de-academic.com/dic.nsf/dewiki/925804 [10.12.2021]. 67 Brix – Nau tz, Universitäten in der Zivilgesellschaft, 63–74. 68 https://de.wikipedia.org/wiki/Unter_den_Talaren_%E2%80%93_Muff_von_1000_Jahren [10.12.2021]. 69 Paulus Ebner, Alles neu  ? Die ÖH und die österreichischen Studierenden in den 1960er- und 1970er-

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5. #unibrennt  : Ein gescheiterter Veränderungs-Diskurs  ? »1968« ist ein wichtiger Referenzpunkt für folgende studentische Proteste. Mit der Einführung der sogenannten »Bologna-Studienarchitektur« in den 2000er Jahren gab es neue System-Widerstände, gegen die damit einhergehenden Studienreformen. In den 2000ern betreiben Studentenfunktionäre – anders noch als in den 1960ern papieren – die digitale Verteilung ihrer Botschaften. Die Etablierung von SocialMedia-Diensten brachte einen abermaligen Hochschulkulturwandel mit sich. Allerdings sind Netz-Inhalte studentischer Provenienz für den Historiker elektronisch nicht mehr (so leicht) auffindbar, analog sind sie es nur dann, wenn sie zitiert worden sind und werden. WWW-Auftritte, Facebook- und Whatsapp-Gruppen, TwitterMeldungen, Instagram-Beiträge, Online-Chats, Livestreams,70 Blogs, Podcasts, Flashmobs, Shit Storms und Mail Bombings sind im Regelfall nicht archiviert, wer macht schon systematisch Screenshots  ? Ähnlich wie »1968« ist »#unibrennt« 2009 ein herausragendes hochschulpolitisches Phänomen. Es war – auch eine zeitlich begrenzte »elektronische« Bewegung, bewusst provokant so benannt – erfreulicherweise ohne tatsächlich brennende Universitäten. Es war ein neu(artig)er, doch in der Langzeitsicht gescheiterter Veränderungs-Diskurs.71 So heißt es in einem Eintrag vom 20. August 2014 auf www.unibrennt.at  : »unibrennt.at ist im Oktober 2009 binnen weniger Tage zu einer wichtigen, vielseitig bespielten, rasant wachsenden und sehr schnell in Suchmaschinen-Rankings bedeutenden Website explodiert. Ein knappes halbes Jahr lang hat sich hier viel getan. Mit der Zerschlagung der unibrennt Bewegung sind die neuen Einträge und relevanten Informationen auf der website weniger geworden. […] 5 Jahre nach dem heißen Herbst von unibrennt wollen wir versuchen, das digitale Erbe der unibrennt Bewegung auf unibrennt.at zugänglich zu machen. Das ist eine große Herausforderung. Das wird viel und eine langwierige Arbeit.«72 Es gibt dazu seit 2014 keine weiteren Netzeintragungen mehr. Jahren, Göttingen 2020, 51ff. 70 Aus einer Folienpräsentation mit dem Titel »Livestream« von Luca Hammer vom 30. November 2009 (veröffentlicht unter https://de.Slideshare.net/unibrennt/unibrennt-livestream [10.12.2021]) geht hervor, dass es mit 25. Oktober 2009 drei Streams parallel mit vier Kameras gegeben habe, bis Ende November 2009 in Summe 21 Tage übertragene Zeit, 11.774 Tage gesehene Zeit mit rund 500.000 Zuschauern. 71 Siehe z. B. den Artikel Fünf Jahre ›unibrennt‹  : Viel blieb nicht, in  : https://wien.orf.at/v2/news/stories/2674027/, 16.10.2014 [10.12.2021]  ; oder Fünf Jahre Audimax-Besetzung  : Von ›unibrennt‹ blieb nur ein Glimmen, in  : Der Standard, 15.10.2014. 72 https://unibrennt.at/blog/author/hcv/ [10.12.2021].

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Zum Repräsentativcharakter von »#unibrennt« sei festgehalten, dass es nach den initialen Hörsaalbesetzungen nicht die offizielle Studentenvertretung ÖH, sondern sogenannte basisdemokratische Strukturen (u. a. das Plenum als Entscheidungsfindungsorgan aller Anwesenden) waren, welche weitere Schritte bestimmten. Es konstituierten sich für alle Interessenten zugängliche Arbeitsgruppen, die wiederum die Besetzungen und auch außerhalb der Universitäten stattfindende Aktionen organisierten.73 In ihren Analysen »Politik 2.0« konstatieren Andrea Heigl und Philipp Hacker, dass man mit »#unibrennt« erstmals via Internet live an einer Protestbewegung teilnehmen konnte. Mittels eigener Webseite, auf Facebook und Twitter wurde agiert, per Livestream konnte das Geschehen in den Hörsälen live mitverfolgt werden, 24 Stunden am Tag.74 Die Bewegung hatte allerdings, bewusst, kein Gesicht, auch keinen offiziellen Pressesprecher. Es dauerte eine Woche nach den ersten Besetzungen, bis ein Forderungskatalog75 veröffentlicht wurde. Als sich in den Hörsälen langsam Routine einstellte, schrumpften die Besetzungen zu Kurzmeldungen, der Neuigkeitswert der Proteste sank. Durch ihre Forderungen, so Heigl und Hacker, hätten die Unibesetzer jedenfalls Anstoß für einen neuen Diskurs über die heimische (und internationale) Hochschulpolitik gegeben, der die Politik mehrere Monate lang beschäftigte.76 Mit welchen Alltags-Problemen die Bewegung u. a. konfrontiert war, ist aus nachfolgendem FLICKR-Eintrag im Netz unter »Audimaxismus« zu entnehmen  : »Während der letzten Audimax – Besetzungstagen gab es zahlreiche sexistische Vorfälle und Übergriffe. Beispiele gefällig  ? • ›Ausziehen‹, ›Schleich dich du Hure‹, Buh – Rufe aus dem Plenum während (antisexistische) Redebeiträgen von Frauen […] • Nackte Männerkörper und Schwänze auf der Bühne • Sexistische Wortmeldungen im Chat während dem Livestream • Sexistische Angriffe gegen Frauen  : ›Ihr seid sogar zu schiach um euch zu missbrauchen‹ […] • Sexuelle Übergriffe im Schlafsaal • Sprüche zur sexuellen Verfügbarkeit von Frauen während der Besetzung, in Foren, im Chat,…zb.: ›Ich habe gehört es gibt hier ein Puff‹ […] • Solche Vorfälle zu verhindern ist in unser aller Verantwortung  !

73 M a rtin H aselwa ntner, »›Die Uni brennt  !‹ … in Innsbruck, in Wien und überall«, in  : https://www. uibk.ac.at/zeitgeschichte/hidden-histories/uni-brennt.html, 25.8.2019 [10.12.2021]. 74 A ndre a Heigl – Philipp H ack er, Politik 2.0. Demokratie im Netz, Wien 2010, 127. 75 Allgemeiner Forderungskatalog, 30. Oktober 2009, abgedruckt in  : Unbedingte Universitäten. Was passiert  ? Stellungnahmen zur Lage der Universität, Zürich 2010, 37–40. 76 Heigl – H ack er, Politik 2.0, 131.

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• Sexistische Übergriffe und Situationen sind Teil eines Gesellschaftssystems, in dem wir alle leben. Das es zu solchen auch während dieser Besetzung kommen kann, ist unser aller Problem  ! […] • Viele Frauen fühlen sich vor allem in der Nacht unwohl und empfinden den ›Freiraum Uni‹ nicht als ausreichenden Schutzraum vor sexuellen Übergriffen. • Sexistischer Umgang ist Ausschlussmechanismus  ! Eine breite Protestbewegung wird damit unmöglich  ! • Daher fordern wir alle BesetzerInnen auf, sich am Aufbau und Erhalt eines antisexistischen Raumes ›Universität‹ zu beteiligen. • Wir fordern  : • Keine Akzeptanz von sexistischen Wortmeldungen am Podium  ! • Starkes Eingreifen von Allen bei sexistischen Übergriffen und Vorfällen  ! • Keine Diskussionen mit übergriffigen Typen, sondern Rauswurf  ! • Mindestens 50% Frauen bei Vorträgen, auf Podien, bei Diskussionsbeiträgen,…  ! • Respektvoller Umgang miteinander  ! • Ein Frauenraum als Rückzugsraum, Schlafraum, Diskussionsraum,… […] • Eine freie Uni für Alle heißt vor allem auch einen Freiraum zu schaffen in dem Sexismus, Transphobie, Homophobie, Antisemitismus, Rassismus,… KEINEN Platz haben  !«77 Der hier zitierte Netz-Eintrag auf flickr steht neben einer Bildstrecke zu Hörsaalbesetzungen. Es bleibt unklar, wer die Akteure waren. Die Vorkommnisse sind ein eklatantes Beispiel für Alltagsrealitäten von Protestbewegungen und daraus folgende Spontan-Forderungen – und damit auch Ausdruck einer anderen Art von »Hochschulkultur«. Für den Kommunikationswissenschafter Christian Schwarzenegger war die Bewegung »#unibrennt« nicht nur die vorläufig letzte große Erhebung der heimischen Studenten, sondern auch die erste Social-Media-Protestbewegung.78 Sie gab StatusMeldungen über besetzte Hörsäle und betrieb Mobilisierung, Identitätsmanagement sowie Protestkommunikation. Der Meinungsfindungsprozess konnte medienöffentlich eingesehen werden. Attraktivität und Konnektivität der Bewegung ließen allerdings bald nach. Schwarzeneggers Insgesamt-Resümee  : »Die Räumung des Audimax [der Universität Wien] im Dezember 2009 war schließlich beinahe schon eine Erlösung für ein festgefahrenes Szenario, aus dem sich die Bewegung nicht mehr 77 Veröffentlicht unter https://www.flickr.com/photos/daniel-weber/4048550168/in/photostream/ [10. 12.2021]. Der Text weist keinen Autor auf. Die Originalorthographie ist beibehalten. 78 Christi a n Schwa rzenegger, Geschichte der Social Media in Österreich, in  : Matthias Karmasin – Christian Oggolder (Hg.), Österreichische Mediengeschichte, Bd. 2  : Von Massenmedien zu sozialen Medien 1918 bis heute, Wiesbaden 2019, 291–314, hier  : 300–304.

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alleine befreien konnte. Politisch betrachtet sind die Proteste gescheitert, nicht nur, weil sie es nicht geschafft hatten, eine handhabbare politische Forderung für ein Exitszenario oder einen kalkulierbaren Erfolg zu entwerfen. Der Fall Unibrennt illustriert, dass Social Media helfen, Proteste sichtbar zu machen, zu mobilisieren und zu koordinieren, aber nicht zwingend zu einem Erfolg führen.«79 In seiner mit Cornelia Brantner gemeinsam verfassten »#unibrennt«-Analyse über die Effizienz von Protest- und Kampagnengemeinschaften kommen die Autoren zum Urteil, »dass die reine Existenz von Kommunikationsinfrastruktur, wie Internetseiten oder die Präsenz auf sozialen Netzwerken allein, nicht automatisch dazu führt, dass ›offline‹ etwas passiert. Proteste bzw. die soziale Community, die Kampagnengemeinschaft sind keine unmittelbare Folge der technischen Möglichkeiten.«80

6. Schöne neue Hochschul(kultur)welt 2022ff. Zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Beitrags, Herbst 2021, werden die hohen Schulen von mehreren neuen Phänomenen beeinflusst bzw. beherrscht, die augenblicklich neue »Hochschulkultur(en)« darstellen. Eines der Phänomene, nebst virtueller Universität wegen Corona, ist im Kontext der oberwähnten Helikopter-Uni die sogenannte »cancel culture«, ein Kampf- und Stigmawort, das sich gegen die Praxis (oder auch bereits gegen die Forderung) des Absagens, Ausladens, Boykottierens moralisch missliebiger und politisch bekämpfter Personen, Organisationen und Positionen wendet. Der Ausdruck beschreibt eine Neigung, die argumentative und kritische Auseinandersetzung mit abgelehnten Positionen und ihren Vertretern zu verweigern und stattdessen missliebige Standpunkte, Veranstaltungen und Personen aus dem Diskurs zu drängen. An die Stelle der inhaltlich-argumentativen Auseinandersetzung treten die Zurschaustellung von Emotionen und Empfindungen oder identitätspolitische Merkmale beteiligter Personen.81 Bei einem Bericht über eine Diskussion in ORF online im September 2021 über »cancel culture« werden Wortmeldungen des Rektors der Universität Klagenfurt, Oliver Vitouch, ausführlich releviert  : »Zu verstehen, warum es beispielsweise Forderungen gab, den Auftritt der deutschen Feministin Alice Schwarzer zum Thema Feminismus an der Universität für angewandte Kunst 2019 wegen ›antimuslimi79 Ebd., 304. 80 Corneli a Br a ntner – Christi a n Schwa rzenegger, Der Fall unibrennt  : Mobilisierung, Kommunikationsverhalten und kollektive Verständigung von Protest- und Kampagnengemeinschaften heute, in  : SWS-Rundschau 52(3), 2012, 227–248, hier  : 247. 81 https://diskursmonitor.de/glossar/cancel-culture/ [10.12.2021].

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schem Rassismus‹ abzusagen, falle ihm dennoch schwer. Wenn der Austausch nicht mit Gegenargumenten, sondern mit subjektiver Betroffenheit behindert wird, dann ›ist das problematisch, weil sich damit jeder Diskurs aufhört.‹ Das Problem sei die Subjektivität, die dem Thema der Diskriminierung innewohne – jeder und jede könne sich subjektiv betrachtet in irgendeiner Art und Weise diskriminiert fühlen, ›und der Versuch, das gänzlich auszuschalten, führt letztendlich zu Stummheit.‹«82 Zuallerletzt sei zum Thema Hochschulkultur kontextuell auf biographische Ereignisse rund um Lothar Höbelt in den letzten Jahren eingegangen, die (auch netzgesteuerten) Demonstrationen vor und in seinen Vorlesungen. Störungen durch Linke und »Saalschutz« durch Rechte haben die Wogen hochgehen lassen.83 Es gab parlamentarische Anfragen dazu und Plenardebatten im Nationalrat, so am 21. Jänner 2020. »Die Presse« berichtete darüber Wissenschaftsminister Heinz Faßmann referenzierend  : »Die intellektuelle Diskussion, die geistige (und niemals die körperliche) Auseinandersetzung würden zum Wesen der Universität gehören. Die Grenzen der freien Wissenschaft und der freien Meinungsäußerung seien durch Gesetze (Stichwort Verbotsgesetz) gesetzt. Innerhalb dieser Grenzen müsse die Freiheit aber garantiert werden. Es müsse ›unzweifelhaft möglich sein‹, dass Professor Höbelt eine Vorlesung halte, so Faßmann.«84 Universitäten  : inhaltlicher Diskurs, Organisation von Protest, Verbreitung von Emotionen  : Das Netz wird in der neuen Hochschul(kultur)welt unterschiedlichst genützt,85 die weiteren Entwicklungen 2022 ff. dürfen mit Spannung verfolgt werden. Lothar Höbelt ist mittlerweile in Pension.

82 https://science.orf.at/stories/3208678 [10.12.2021]. 83 Dazu gibt es unzählige Netz-Berichte, 28.800 nur zum Namen, und 671 zu »lothar höbelt lehrveranstaltungen uni wien«. 84 Die Presse, 22.1.2020, https://www.diepresse.com/5756621/hobelt-vorlesungen-mussen-unzweifelhaft-moglich-sein [10.12.2021]. 85 M a ri a n ne K neuer – Sask i a R ichter, Soziale Medien in Protestbewegungen. Neue Wege für Diskurs, Organisation und Empörung  ?, Frankfurt am Main 2015, 11.

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Scheitern auf hohem Niveau Erkenntnisse zur Schul- und Bildungspolitik von 1970 bis 1985

1. Ausgangssituation und Problemstellung Die Jahre sozialdemokratischer Dominanz in Österreich unter Bundeskanzler Bruno Kreisky gelten gemeinhin als Jahre des Aufbruchs und der Öffnung hin zur Moderne. Dies umfasst in der zeitgenössischen Wahrnehmung die soziale Absicherung, kulturelle Gestaltung und Selbstwahrnehmung bis hin zum subjektiven »Lebensgefühl«, dessen Grundlage die selbstbestimmte Freiheit sein sollte. Fortan sollte eine Bevölkerung herangebildet werden, die die Gesellschaft als mündige, selbstbewusste und vor allem politisch versierte und interessierte Individuen nachhaltig prägen würde. Der vorliegende Beitrag geht der Fragestellung nach, ob damalige Jugendliche aufgrund des Modernisierungsanspruchs der Sozialdemokratie später als Erwachsene das Land als kritische und selbstbewusste Bürger stärker geprägt haben als die Generation davor. Wer sich um das Jahr 2000 bis heute gesellschaftlich engagierte bzw. engagiert, hat (mehrheitlich) seine politische Prägung während der Jahre 1970 bis 1985 erhalten. Und selbst Menschen, die heute im Alter eines Maturanten oder eines Studenten sind, wurden durch Pädagogen sozialisiert, die in der »KreiskyZeit« geprägt worden waren. Politische Bildung war ein zentrales Element sozialdemokratischer Bildungs- und Kulturpolitik, verbunden mit dem Postulat, emanzipierte und kritische Bürger zu formen. Aktive politische Teilnahme war das Ziel politischer Bildungspolitik, ebenso das Widerstehen gegenüber antidemokratischen Tendenzen und schließlich die offensive Gleichstellung von Mann und Frau. Anders gefragt  : Hat diese jahrzehntelange sozialdemokratische Hegemonie (SPUnterrichts- und Wissenschaftsminister dominierten auch nach dem Ende der absoluten SP-Regierungen) ihre selbstgesteckten Ziele erreicht  ? Woher kommt das Phänomen, dass sich 50 Jahre nach Kreiskys erster »Absoluten« 1971 große Teile der österreichischen Bevölkerung gerade nach dem Gegenteil dessen sehnen, und dies, obwohl sie in den 1970er und 1980er Jahren sozialisiert worden waren  ? Sind die Corona-Skeptiker und Non-Konformisten des Jahres 2021 vielleicht auch Ergebnisse der sozialistischen Bildungspolitik – indem sie nämlich Autorität

* Abkürzungen  : KvVI  : Karl von Vogelsang-Institut.

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und Wissenschaft per se kritisch sehen  ? Folglich gilt das Interesse dieses Aufsatzes einem »gesellschaftspolitischen Ideal«. Auch als Historiker kann man nicht alle möglichen Aspekte, die dazu geführt haben, ansprechen und thematisieren. Es lohnt aber, die Maßnahmen, die Diskurse, Entwicklungen und Folgen der damaligen bildungspolitischen Impulse zu reflektieren. Schwerpunktmäßig wurden in der vorliegenden Arbeit Primärquellen des sozial­ demokratischen und bürgerlichen Spektrums im Schulbereich stärker untersucht als andere Materialien parteipolitischer Provenienz, andererseits gewährleistet die permanente Überprüfung und Abstimmung mit anderen Quellen einen gesamtöster­ reichischen Ansatz.1 Durch die Darstellung von bildungspolitischen Aspekten, wie der Diskussion von Lehrplänen, der zunehmenden Einflussmöglichkeit von Schülerorganisationen auf die Unterrichtsgestaltung und nicht zuletzt der generellen Stellung von Minderjährigen in der Gesellschaft werden Motive für spätere Reformen auf diesem Gebiet verdeutlicht und erklärbar. Die inhaltlichen und auch methodischtechnischen Differenzen wurden im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit zumeist auf der polemischen Ebene innerhalb der Parteien ausgetragen. In den seltensten Fällen stand ein Streitthema länger in der Öffentlichkeit, als es staatspolitisch gefährlich werden konnte. Auch die Erziehungswissenschaft hat sich im Rahmen der seit den achtziger Jahren geführten Diskussion um die innere Schulreform intensiv aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln mit den damit zusammenhängenden Fragestellungen befasst. Die Forderung nach mehr Selbständigkeit und erweiterten Gestaltungsfreiräumen für die einzelne Schule bei gleichzeitiger Rücknahme des staatlichen Steuerungsanspruchs korrespondiert hier mit der alten reformpädagogischen Forderung, die Schule selbst solle zu einem demokratischen Lebens- und Erfahrungsraum werden.2

2. Schule und Schüler in sozialhistorischer Betrachtung Ein schulpolitischer Grundkonsens der Zweiten Republik bestand darin, neben der früher nachgeordneten Schulbildung der Mädchen auch die Unterrepräsentation von Arbeiterkindern zu verringern bzw. abzuschaffen.

1 Das KvVI verwahrt umfangreiche Materialien von der Österreichischen Schülerunion, Union Höherer Schüler und der Jungen Volkspartei aus dem Zeitraum 1968 bis 2018. Hinzu kommen Materialien zur historischen Darstellung von SPÖ- und FPÖ-Schülerorganisationen. 2 Zur besonderen Tradition der Reformpädagogik in Österreich vgl. auch Leopold Rosenm ay r, Geschichte der Jugendforschung in Österreich, Studie des Österreichischen Instituts für Jugendforschung, Wien 1962  ; hier besonders 107–132.

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Der Ausbau der Schuldichte ab den 1960er Jahren bedeutete, dass sich die Politik eine höhere Ausbildung der Jugend im Rahmen allgemeinbildender und weiterführender Schulen zum Ziel gesetzt hatte. Erschwerende Faktoren wie Schulgeld und hohe Einschulungshürden sollten zugunsten von Erleichterungen aufgegeben werden. Vor allem die SPÖ-Schulpolitiker sahen darin eine Demokratisierung des Schulwesens. Zu Beginn des Jahres 1971 gab der neue sozialistische Unterrichtsminister Leopold Gratz Pläne der Regierung zur Schaffung eines neuen Schülerbeirats bekannt, vor allem um »die Errichtung von Schülerparlamenten an den höheren Schulen zu forcieren.«3 Daraufhin forderte die österreichische Gewerkschaftsjugend in einer Stellungnahme zur »Österreichischen Schulpolitik« die Aufnahme von Vertretern der Berufsschulen in den neuen Schülerbeirat.4 Vom Konzept her war diese Forderung eindeutig eine Aufwertung der Jugendlichen aus Arbeiterschichten. Trotzdem verweigerte die SPÖ-Regierung dieser Initiative ihre Zustimmung. In der Folge wurden die Landesschulräte angewiesen, die Vertreter der mittleren und höheren Schulen für den Schülerbeirat durch Los zu ermitteln. Vertreter der Berufsschulen gehörten diesem Gremium politischer Schülervertretung nie an. Dass sich dieser soziale Aufstieg zunächst stärker über Realschulen, dann Gymnasien und schließlich Hochschulen vollzogen hat, ist im Grunde verständlich und nachvollziehbar. Auch dass die weiterführende Schulbildung (Handelsakademien, Höhere Technische Lehranstalten etc.) zunächst stärker von den mittleren als von den bildungsferneren Schichten in Anspruch genommen wurde, ließ sich zu diesem Aufsatz herausarbeiten. Die Gymnasien blieben folglich »Mittelschicht-Institutionen«. Von besonderem Interesse gestalteten sich die ab den siebziger Jahren zunehmend artikulierten Phänomene des »Schulstresses« und des »Leistungsdrucks«. Als eine der Schattenseiten größerer Ausbildungsmöglichkeiten und breiterer Bildungsangebote war die falsche Wahl von Schulen eine häufig auftretende Erscheinung geworden. Zahlreiche Dokumente spiegeln die Warnungen von Lehrern, Berufsberatern und Ausbildnern vor zu hochgestellten Erwartungen an die intellektuelle Leistungsfähigkeit und Durchhaltekraft der Schüler wider.5 Das war ein direktes Ergebnis der Verherrlichung der obersten Bildungsebene. Übrigens wurde »Stressgeplagtheit« nur halb so häufig für die eigene Person festgestellt wie für die Übrigen angenommen. Sofern man die Mängel in den Schulleistungen sowohl persönlichkeitsspezifisch als auch sozialschichtbezogen und »zeitgeistunterworfen« (d. h. als Resultat einer an-

3 Die Presse, 22.1.1971. 4 Stellungnahme der Österreichischen Gewerkschaftsjugend, in  : Wiener Zeitung, 19.8.1971. 5 KvVI-Archiv, Sign. JVP-Landessekretärekonferenz 6395/294, Protokoll der Konferenz der Landessekretäre der JVP NÖ (14.10.1978). Die Tagung beschäftigte sich vorrangig mit dem Umgang mit »Schulstress«.

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tiautoritären Schule) einschätzen mag, sollte man diese Begrenzungen längstens ab den siebziger Jahren bei der Planung der Schullaufbahn einkalkulieren.6 Welche Faktoren konnten die Ausbildung von Generationsmentalitäten beeinflusst und verändert haben  ? Insgesamt kann der unübersehbaren Veränderung der Bildungswege, Lehrpläne und didaktischen Modelle aller Schultypen in Österreich seit 1945 in dieser Arbeit nicht nachgegangen werden. Mit dem administrativen Auf- und Ausbau des Schulwesens, der Einführung von Förderkursen und anderen Übergängen gingen interne Veränderungen und Reformen in den Richtlinien für die Lehrinhalte und Lehrziele, im Unterrichts- und Erziehungsstil sowie im Schulleben einher. Sie wurden begleitet von einer reichhaltigen Diskussion über Begabungsunterschiede und Begabungsschwund, Über- bzw. Unterforderung der Schüler, Leistungsmotivation und Leistungsabfall, über die Problematik der Schulnoten, des »Sitzenbleibens« etc. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Auffassungen von Schülern und Lehrern über die Erziehungsziele, welche die Pädagogen vor Augen haben, teilweise weit auseinander klaffen.7 Während die Lehrer davon überzeugt sind, vor allem zu Selbstvertrauen, Selbständigkeit, zum Bilden einer eigenen Meinung, zu Kritikfähigkeit und Vorurteilslosigkeit zu erziehen, entsteht bei den Betroffenen eher der Eindruck, Fleiß, gutes Benehmen, Gehorsam, Ordnung, Sauberkeit und die Aufnahme möglichst vieler Informationen seien die vordringlichsten Ziele der Lehrer. Nach einer Erhebung der Union Höherer Schüler klaffte noch Anfang der achtziger Jahre bei der Einschätzung der Ziele der Bereich »Kritikfähigkeit« und »Durchsetzungsvermögen« am weitesten auseinander. Das eine rangiert bei den Lehrern ganz oben, das andere bei den Schülern ganz unten.8 Die gesellschaftliche Veränderung, die das ganze Land Anfang der 1970er Jahre erfasste, machte selbstverständlich auch vor der Lehrerschaft nicht Halt. Die moderne Ausbildung der Pädagogen stand im Zeichen von Antiautoritarismus und abseits von überholter »Kathederpädagogik«. Für die Mehrheit der Eltern hatte die Schule vordringlich die Aufgabe, auf das Berufsleben vorzubereiten und Bildungswissen zu vermitteln. Persönlichkeitsbildung wurde von einer klaren Minderheit der Eltern erwartet. So banal diese Feststellung auch klingen mag  : Als Eltern sich immer weniger um die Erziehung kümmern konnten oder wollten, wurde diese Erziehungskomponente gegenüber der Schule immer massiver gefordert. So sah sich bereits 1980 das Internationale Forschungszentrum für Grundlagen der Wissenschaften, Institut für Medienpädagogik unter der Lei6 Zum Thema Stress siehe auch  : Erich Bru nm ay r – Horst Schön (Hg.), Jugend zu Beginn der achtziger Jahre. Österreichischer Jugendbericht 1, Wien 1981, 31ff. 7 Ernst Gehm acher, Die Schule im Spannungsfeld von Schülern, Eltern und Lehrern, Wien 1979. 8 KvVI-Archiv, Sign. 437/43, Bestand UHS, Schülerbefragungen der UHS in Wien, Niederösterreich, Oberösterreich und Burgenland.

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tung von Marian Heitger veranlasst, bei einem Symposium in Salzburg genau diese Rollenverteilung zu thematisieren.9 Demnach sollte die Ausbildung der Lehrerpersönlichkeiten im österreichischen Schulsystem verbessert werden, doch gleichzeitig stehe die Hauptaufgabe der Erziehung von Schüler und Jugendlichen bei der Familie. Es verwundert daher nicht, dass solche Einstellungen wenig dazu beigetragen haben, die Schüler zu demokratischen Aktivitäten anzuregen  : Bezeichneten sich bei einer Umfrage 1978 in der ersten Oberstufenklasse lediglich acht Prozent der Schülervertreter als »ein wenig aktiv«, so stieg dieser Anteil in der vierten Oberstufenklasse bereits auf immerhin 26 Prozent.10 Die faktische Ohnmacht der Schülervertreter brachte es auch mit sich, dass die Mehrheit für eine Änderung der gesetzlichen Bestimmungen über die Schülermitverwaltung eintrat und mehr als zwei Drittel der Schülersprecher eine verbindliche Festlegung der Schülerrechte forderte, anstatt sie dem Schulgemeinschaftsausschuss zu überlassen. Schließlich dominierten »die Probleme Politikverdrossenheit, Apathie, Nichtwissen und Interesselosigkeit bei Lehrern und Schülern«.11 ÖVP-Schulsprecher Hans Katschthaler befürchtete einen negativen Einfluss der Gesamtschule auch auf den Gegenstand »Politische Bildung«. Wenn gleichzeitig eine von der SPÖ angestrebte integrierte Gesamtschule in der Tat realisiert werde, könne dies auch das Ende der erfolgreichen Tätigkeit einer Vielzahl von Jugendorganisationen im Schul-, Sport- und Freizeitbereich sein. Dies hätte, so folgerte Katschthaler weiter, neuerlich fatale Folgen für die politische Prägung von Schülern und Jugendlichen.12 Keine großen Illusionen machten sich die Schülerorganisationen hinsichtlich der Unterstützung für ihre Anliegen durch die Eltern. Bei derselben Umfrage13 begrüßte nicht einmal ein Drittel der Eltern die Übernahme einer Funktion in der Schülermitverwaltung durch ihr Kind. Wahrscheinlich saß die Angst vor schulischen Repressionen und vor Leistungsabfall aufgrund der Beschäftigung in der Schülervertretung bei den Eltern noch viel tiefer als bei den Schülern selbst. Das alles ging auf Seite der Bildungsinstitutionen einher mit Diskussionen über Form und Inhalt von Unterricht sowie Wandel bzw. Kontinuität von Erziehung. Dieser Prozess war verbunden mit einer starken Zunahme außerschulischer »Informationen« im weitesten Sinne. Ein besonders wichtiges Problem im Bewusstsein der Jugend und der Familie stellte sich mit der »Chancengerechtigkeit« im Bil 9 KvVI-Archiv, Sign. BPL 78 c-f, Vereine, Symposiumsbericht. 10 Gü nther Ofner (Hg.), Umfrage unter den Schulsprechern der Allgemeinbildenden und Berufsbildenden Höheren Schulen Österreichs, Wien 1978. Diese Daten erhob die Arbeitsgemeinschaft für Schule und Bildung im Auftrag des Mittelschüler-Kartellverbandes. 11 Herbert Dachs, Der sieche Prometheus. Österreichs Politische Bildung in den Mühen der Ebene, in  : Öster­ reichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, Wien 1996/1, 15f. 12 Ebd. 13 Ofner, Umfrage.

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dungssystem und hinsichtlich der unterschiedlichen Schulabschlüsse. »Chancengerechtigkeit« war als Trend nach 1945 eindeutig zu erkennen, besonders spürbar seit 1970.14 Einen weiteren Faktor dieser Entwicklung stellte das Verhältnis zwischen »Gleichmacherei« und sozialer Diversität dar. Im Durchschnitt waren Gymnasiasten, Maturanten und Studenten kritischer gegenüber gesellschaftlichen Vorgängen eingestellt als Absolventen von Hauptschulen oder Berufsschulen. Offenbar nahmen sie stärkeren Anteil an der Entwicklung ihrer weniger privilegierten Altersgenossen. Unter den Schülern bzw. Studenten gab es relativ oft Klagen, dass »Eltern mit Bildung wenig anzufangen wissen«,15 obwohl diese ihnen positive Bildungsbedingungen ermöglicht hatten. Es fällt auf, dass sich die Beschränkungen der Schul- und Berufsbildungslaufbahnen der Kinder durch die Sozialschicht der Eltern seit etwa Anfang der siebziger Jahre deutlich verringerten. Die gleichsam retrograde Determination des Nachwuchses durch den Status der Eltern ist offenbar in den vergangenen dreißig Jahren stark zurückgegangen. Diese konkreten Konvergenzen zwischen erweiterten und in diesem Jahrzehnt (1970 bis 1980) realisierten Chancen und Hilfen des Bildungssystems übten offenbar einen stärkeren Entscheidungseinfluss aus als die von der Soziologie verwendeten Begriffe wie »Ungleichheiten« und »Deprivation«. Eher wirkten noch psychische und kulturelle Mängel der Eltern hinderlich – sowie Mängel in der Familienstruktur. Die veränderte Einstellung in zahlreichen Familien zugunsten einer verlängerten, höher qualifizierenden Bildungsphase durchlief alle sozialen Schichten. Interessanterweise stellte sich nach 1980 neuerlich eine Skepsis hinsichtlich dieser verlängerten Bildungsphase ein.16 Unberücksichtigt blieb bei bisher vorliegenden Untersuchungen oftmals die Frage, zu welchen Lebenszielen freigesetzte Chancen für Schüler eigentlich führen sollten  : Einkommen, Prestige, Aufstieg, Sicherheit, Heiratschancen, Berufszufriedenheit oder einfach eine Lebensweise mit einer stark ausgeprägten Möglichkeit zur Selbstbestimmung. Auch darin haben sich Wandlungen vollzogen. Unklar blieb die generelle Grundfrage der Schulpolitik  : Sollte man durch verbesserte Bildung nur Chancen und Funktionen leichter wahrnehmen können, oder war das Ziel eine allgemeine »Verbesserung« der Gesellschaft in ethischer Hinsicht, wie es in man-

14 Vgl. Werner Clement – Wolfga ng Schüssel (Hg.)  : Bildungsplanung und Hochschulexpansion, Wien 1975, 7ff. 15 Vgl. KvVI-Archiv, Sign. JVP Landessekretäre-Konferenz, Protokoll der Landessekretärekonferenz der Jungen VP NÖ (Obmann Othmar Karas) zum Thema »Stress in der Schule«. 16 Vgl. KvVI-Archiv, Sign. JVP Landessekretäre-Konferenz Institut für Österreichische Jugendkunde (Hg.), in  : Jugend in Verbänden und offenen Gruppen. Jugendarbeit in Österreich. Österreichischer Jugendbericht 3  ; 67ff.

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chen Dokumenten klar formuliert wurde  ? Gleichsam stand sich ein individuelles Bildungspostulat einem kollektivistischen Ziel gegenüber.17 Die Probleme der Chancengleichheit bzw. Chancengerechtigkeit sind in der Schulpolitik der Zweiten Republik vielfach ideologisch überhöht und simplifiziert worden  : Die Reformer gingen zum Teil von einer Gleichheitsideologie (d. h. Gleichheit der Begabungen bei allen Schülern) aus.18 Die Reformer haben auch die Prägekraft in der Gesellschaft mitunter einseitig als unerwünscht und korrigierbar dargestellt. Dagegen wurde seitens bürgerlicher Bildungspolitiker argumentiert, heimisches Kulturmilieu und Tradition, frühe Interessensmotivation, stabile Tendenzen zum Verbleib im erlernten Beruf seien unverzichtbare Konstanten der Schulpolitik. Vor allem die Untersuchung von späteren Biographien der Schülergeneration, die z. B. in den frühen siebziger Jahren ihre entscheidenden Prägungen erhielt, brachte interessante Gemeinsamkeiten zu Tage  : Je mehr grundsätzlich allen Schülern oder Jugendlichen die gleichen höheren Bildungsangebote geöffnet wurden, umso härter wurde unter diesen »Gleichen« der Kampf um Erfolg, Bestätigung und gesellschaftlichen Rangplatz. Unzureichend geklärt wurden von Bildungsexperten, Lehrern und Schülern die Unterschiede bzw. Zusammenhänge zwischen unerlässlichem Faktenwissen und operativer (d. h. kreativer) Intelligenz des Beurteilens. Etwas vergröbert kann man aufgrund der erfassten Dokumente sagen, dass sich dadurch »Klassenschranken« oftmals eher verschärft haben. Die Hauptschule – um bei diesem Beispiel zu bleiben – sank zumindest im großstädtischen Raum zu einer Bildungseinrichtung der Minderqualifizierten. Beispielsweise erbrachte der Einsatz von EDV-Programmen und Computern ab Mitte der achtziger Jahre Angleichungen und Unterschiede mit sich. Diese Beeinflussung betraf sowohl die Lehrpläne als auch die Art des Unterrichts. Der sogenannte »Frontalunterricht« war durch dieses Medium schlichtweg unmöglich geworden. Andererseits erlaubte der Computerunterricht, der bald auf eine Vielzahl von Unterrichtsgegenständen ausgeweitet wurde, eine größere Selbständigkeit der Schüler. Die Schulpolitik war ins Spannungsfeld zwischen technologisch-rationaler Welterfassung und einem nicht unbedeutenden Maß an Technik-Pessimismus, der seiner17 Wenngleich sich in manchen Bereichen die Schulpolitik in Österreich anders entwickelte als in der Bundesrepublik Deutschland, war der grundsätzliche Befund über »Vorbilder und Ideale« in der Schule doch ähnlich. So konstatierte der deutsche Bildungswissenschafter Paul Röhrig 1974 für die Bundesrepublik eine Überbewertung der Bildungsmöglichkeiten zur »Verbesserung« der Gesellschaft. »Die Überschätzung der Methode und der Zweifel an der Kraft von Erziehung und Bildung sind charakteristisch für die gegenwärtige Pädagogik.« Diese Feststellung traf wohl auch auf Österreich zu. Vgl. Paul Röhrig, Politische Bildung. Herkunft und Aufgabe, Stuttgart 1974, 201–205. 18 Vgl. KvVI/Archiv, Sign. BPL 75/23/c-SPÖ (Schule und Bildung), Memorandum des SPÖ-nahen Bildungspolitischen Nachrichtendienstes über die Gesamtsituation der Schulversuche in Österreich.

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seits die Rückkehr zum »einfachen Leben« propagierte, geraten. Jede Bildungspolitik musste darauf achten, dass beim Schüler biologische und intellektuelle Fortschritte die emotionalen und moralischen Verarbeitungsmöglichkeiten nicht überstiegen und den Schüler schlussendlich überforderten.

3. Politische Bildung in den Schulen Die Notwendigkeit einer allgemeinen politischen Jugendbildung hat das demokratische Nachkriegsösterreich frühzeitig erkannt und mit Erlass des Bundesministeriums für Unterricht vom 6. Juli 1949 staatsbürgerliche Erziehung als Unterrichtsprinzip in den Schulen des Landes eingeführt. Es sollte dabei um eine Staatsbürgerkunde im Sinne der Österreichkunde gehen, um das Finden einer nationalen Identität zu erleichtern und sie schließlich bewahren zu helfen angesichts der Besetzung durch fremde Mächte. Diese Absicht mag anfangs eine Bevorzugung des Staates im Rahmen politischer Bildung begünstigt haben.19 Der politische Bereich mit seinen internationalen und sozioökonomischen Vernetzungen ist so unübersichtlich, dass es einiger Mühen bedarf, ihn zu kategorisieren, um schließlich zu einem persönlichen Urteil zu gelangen. In einer Demokratie, deren Lebenselement die Politik ist, kann dies schulisch nicht länger von anderen Fächern oder universitär von anderen Wissenschaften als den politischen behandelt werden. Ihre Verselbständigung ist ein notwendiger dem demokratischen System immanenter Vorgang. Wer Demokratie will, muss sich zur Politik bekennen, wer Rationalisierung und Transparenz des öffentlichen Lebens will, muss sich für eine rationale Politik einsetzen. Diese kann bis zu einem gewissen Punkt gelehrt werden, und die erforderlichen, rational begründeten Verhaltensdispositionen, politischen Habitualisierungen und Einstellungen können angeregt werden. Ein Grund für das relative Versagen des politischen Unterrichtsprinzips hängt mit der politischen Einstellung der Lehrer zusammen. Es setzt engagierte und unvoreingenommene Demokraten unter ihnen voraus. Diese sind jedoch unter den Lehrern proportional gesehen wahrscheinlich ebenso viel oder so wenig vorhanden wie in anderen Berufen, obgleich gerade der Lehrer ein besonderes Bewusstsein von seiner hervorgehobenen Rolle in der Gesellschaft haben sollte. Sein Amt enthält als ein öffentliches Amt immer politische Implikationen. Demnach kann als erste Problemstellung festgehalten werden, dass politische Bildung am effektivsten nur im Rahmen eines wissenschaftlichen Unterrichtsfachs angestrebt werden sollte. Da19 Vgl. A ndre a Wolf (Hg.), Der lange Anfang. 20 Jahre »Politische Bildung in den Schulen«, Wien 1998. Diese Arbeit gibt auch für diesen Aspekt den besten Überblick über die Entwicklung und politische Diskussion zum Thema Politische Bildung in der Zweiten Republik.

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rüber hinaus sollte sie als Unterrichtsprinzip in allen Fächern angestrebt werden. Freilich setzt diese Überlegung voraus, dass sich die Schule insgesamt als ein Instrument der Gesellschaft versteht, deren Struktur und Herrschaftsverhältnisse denen in der gegenwärtigen Gesellschaft entsprechen oder ihr sogar im Hinblick auf das zu verwirklichende demokratische Potential voraus sind. Eine einheitliche Gesamtkonzeption von Umfang und Aufgabe der politischen Bildung fehlt. Die Problematik der bisherigen Konzeptionen zeigt sich besonders an dem grundverschiedenen Zugang, einerseits der Geschichte, andererseits der Sozialkunde zur gemeinsamen Aufgabe der politischen Bildung. Die in Österreich angewandte Synthese durch die Fächerverbindung von »Geschichte und Sozialkunde« erforderte eine Neukonzeption in beiden Disziplinen  : kulturmorphologische, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Fragestellungen müssen im Geschichtsunterricht stärker in den Vordergrund treten  ; die demokratische Denkweise und Gesellschaft müssen andererseits als Ergebnis gesellschafts- und ideengeschichtlicher Prozesse bewusst werden. Die Frage, ob Bildungs- und Kulturpolitik als Indikator der »politischen Kultur« gelten kann, muss vorderhand noch offen bleiben. Der Zwang, in allen politischen Kräften Bildungspolitik hauptsächlich unter der Prämisse der Wirtschaftlichkeit zu sehen, verhinderte von vornherein »elegante« resp. einvernehmliche Lösungen. Zu sehr unterschieden sich die Wirtschaftsinteressen von SPÖ und ÖVP voneinander. Trotzdem ist eine Hemmschwelle zu beobachten, die vermeiden sollte, den politischen Gegner zu sehr herauszufordern. Dieser Umstand ist nur bedingt mit dem Jahr 1955 zu beschränken. Die eigentliche Zäsur bilden die Schulgesetze 1960, die für kurze Zeit andere schwelende Konflikte zu unterdrücken halfen. Erst Anfang der siebziger Jahre wurde ein fächerübergreifendes Unterrichtsfach »Politische Bildung«, teilweise als Ergänzung zum Fach Geschichte und Sozialkunde, vorbereitet, dessen vorrangigste Aufgabe die Erziehung zur Demokratie sein sollte. Die Widerstände gegen einen solchen Pflichtgegenstand an öffentlichen Schulen hatten mehrerlei Motive  : Zum einen befürchteten die Schulen selbst massive Eingriffe und Veränderungen in die Gestaltung des Schulalltags und der Lehrpläne. Zum anderen waren sich sowohl Unterrichtsministerium als auch die politischen Parteien nicht über die Zweckmäßigkeit im Klaren.20 Ideologische Vorbehalte hinsichtlich der unbeabsichtigten Beeinflussung der Schüler durch einzelne Lehrer verzögerten weitere Entwicklungen. Die Versuche zur Schulreform 1979 bis 1982 schlugen sich exemplarisch in den innerparteilichen Diskussionen der SPÖ nieder. Problematisch waren auch die Feststellungen von »der Jugend als Objekt der Schulpolitik« und »alleine mit technokratischem Bemühen um Verbesserungen sind keine echten systemsprengenden Ände20 Wolf, Der lange Anfang, 7ff.

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rungen zu erreichen. Die Betroffenen können die Änderungen nicht begreifen, da sie ohne ihr Zutun entstanden sind. Genauso müssen wir uns um die Lehrer bemühen, um sie als Subjekte für eine sozialistische Schulpolitik zu gewinnen«, wie Fred Sinowatz festhielt.21 Stellungnahmen von Interessensvertretungen und Parteienvertretern bis hin zu einander widersprechenden Schülerorganisationen erschwerten eine sinnvolle Diskussion. Erst 1978 wurde der »Grundsatzerlass über Politische Bildung in den Schulen« fertiggestellt. Doch die Diskussionen darüber fanden kein Ende. Noch Ende der achtziger Jahre wussten laut einer Umfrage beinahe 35 Prozent der Lehrer nicht, dass »Politische Bildung« gesetzlich geregelt ist.22 Im Jahre 1985 trat das Unterrichtsprinzip »Umwelterziehung in den Schulen« in Kraft und 1989 wurde die »Medienerziehung in den Schulen« erlassen. Diesen Erneuerungen, die sich allesamt als Ergänzungen zur »Politischen Bildung« verstanden, folgten 1992 ein »Erlass zum Projektunterricht« und 1995 ein »Erlass zur Gleichstellung von Mann und Frau«. Gemeinsam war allen diesen Beiträgen zur »Politischen Bildung« die geringe schulische Akzeptanz. Die Diskussionen über den Sinn eines solchen Unterrichts setzten sich allerdings unvermindert fort.

4. Resümee Ein Resümee hinsichtlich der österreichischen Schulpolitik zeigt einmal mehr die Konfrontation zwischen linken und rechten Ideologien. Ab 1969/70 wurden Schulund Bildungsfragen immer mehr zu zentralen Anliegen der politischen Diskussion in Österreich. Seitens der politischen Parteien setzte eine Phase der »Reformeuphorie« des Bildungswesens ein. Die Schule sollte nicht nur den Zugang zu höherer Bildung gewährleisten, sondern auch den Nachholbedarf der Jugend an höherer Bildung decken. Der gesellschaftspolitische Stellenwert der Schule wurde ab nun neu definiert, nämlich, dass sie »als Stätte der Chancenverteilung gesellschaftsverändernd zu wirken habe«.23 21 Vgl. Zukunft. Sozialistische Wochenzeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur, November 1982, 21ff. 22 Vgl. Heinz Faßm a n n – R a iner Mü nz, Politische Bildung im Schulunterricht. Bericht über eine empirische Erhebung im Auftrag des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst, Wien 1991, 7–11. 23 KvVI-Archiv, Sign. BPL 285-23 Schule, Stellungnahme des Unterrichtsministeriums vom 19. Mai 1969 zum Ausgang des Volksbegehrens über die »Aussetzung des 13. Schuljahres«. Von den 5,014.978 Stimmberechtigten unterschrieben 339.407 Österreicher (6,8 %) dieses Volksbegehren. Wenngleich dieses Volksbegehren nicht die Erwartungen der Initiatoren erfüllte, und schließlich Ende des Monats zu der Ablöse von Unterrichtsminister Theodor Piffl-Perčević durch Alois Mock führte, war die Schulproblematik dadurch doch zu einem Anliegen der politischen Diskussion geworden.

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Die Schüler standen somit am Anfang ihrer verstärkten schulpolitischen Artikulation in einer von ihnen selbst erkämpften neuen Position. Wurden sie bisher von den Machthabern in der Diskussion zur Schulerneuerung nur als Reformobjekt gesehen, so ist es ihnen nun gelungen, sich selbst als die letztlich Betroffenen in den Mittelpunkt der bildungspolitischen Debatte zu stellen. Formiert in »Interessensorganisationen«, die sich aus Schülern rekrutieren, stellen sie nunmehr den Anspruch auf »Partizipation« am Schulgeschehen, d. h. Mitwirkung und Mitbestimmung am »Demokratisierungsprozess« der Schule. Im Laufe der Zeitspanne von 1965 bis 1975 zeigte sich, dass die bürgerlichen Schülerorganisationen im Gegensatz zum linken Schülerlager wesentlich auf die Erneuerung der österreichischen Schule einwirken konnten. Die linke Schülerszene war gekennzeichnet durch größtenteils theoretische, nicht den Anliegen der Schüler entsprechende soziale Visionen. Die sozialistischen Schülergruppen betrieben ihre Reformarbeit mit ausschließlich ideologischen Motiven. Den extremen linken Schülergruppierungen wie »Roter Schülerbund«, »Gruppe Revolutionärer Marxisten« und »Kommunistischer Schülerbund« gelang es nicht, sich zu etablieren. Auch der »Verband Sozialistischer Mittelschüler« verschwand trotz verschiedener Erfolge auf Mittelschulebene aufgrund des Zerwürfnisses mit der SPÖ. Danach versuchte die SPÖ neuerlich eine Mittelschülerorganisation ins Leben zu rufen, die ab Mitte der siebziger Jahre mehrmals ihren Namen änderte. Anfang der siebziger Jahre wurde das Postulat der Mittelschüler nach Demokratisierung der Schule unüberhörbar. Gestützt auf die Schülerorganisationen der rechten Mitte, ohne welche die Aktionen in den Schulen selbst bald erlahmt wären, wurde die Öffentlichkeit auf diese Thematik aufmerksam gemacht. Es entstand ein neues Bild der Schüler im Bewusstsein der mit der Schulpolitik befassten Gruppierungen. Das Image des unmündigen Schülers, der nicht in der Lage ist, seine Meinung zu artikulieren, und der Meinung der Lehrer passiv gegenübersteht, konnte nicht mehr länger aufrechterhalten werden. Der Wunsch, seine eigenen Verhältnisse mitgestalten zu können, zeugte von einem gesteigerten Selbstbewusstsein der Schüler. Der erste Erfolg, den die Schülerorganisationen erringen konnten, war 1970 die Zusage des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst hinsichtlich der Errichtung eines Bundesschülerbeirats, analog zu dem seit 1958 bestehenden Elternbeirat. Allerdings blieben die Kompetenzen des Bundesschülerbeirats gesetzlich nicht geregelt. Das vom Bundesschülerbeirat 1972 vorgebrachte Konzept bezüglich einer gesetzlichen Fundierung der überregionalen Schülervertretung wurde vom Unterrichtsminister abgelehnt. Es dauerte dann bis 1981, ehe der Bundesschülerbeirat auf eine gesetzliche Basis gestellt wurde.24 Im Bundesschülerbeirat waren sowohl Schülervertreter als auch Vertreter von Schülerorganisationen präsent. 24 A ndre a Wolf, Der lange Anfang, Wien 1998, 49ff.

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In der Praxis bedeutete das, es war die Zustimmung mindestens eines Vertreters der Lehrerschaft entscheidend. Es zeigte sich jedoch, dass den Schülern nur in sehr bescheidenem Maße Rechte zugestanden wurden. Kernstück für eine Förderung und Festigung der Schulgemeinschaft bildete nach den Intentionen des Gesetzgebers der Schulgemeinschaftsausschuss (SGA). Die Hauptkompetenz des SGA lag in der Festsetzung des Umfangs der Schülerrechte. Dieses Gremium konnte darüber hinaus einem Schüler die Wählbarkeit zum Schülervertreter aberkennen. In diesem Kontext war es den Schulverantwortlichen nicht länger möglich, der Verabschiedung des Schülervertretungsgesetzes (SchVG) auszuweichen. 1981 erfolgte die Beschlussfassung des seit der ersten Bundesschülerbeiratssitzung 1972 geforderten SchVG, das im Gegensatz zum Schulunterrichtsgesetz 1974 die Schülervertretung im überschulischen Bereich regelt. Als Meilenstein zu diesem Gesetz war ein bereits 1976 von den Nationalratsabgeordneten Josef Höchtl, Josef Gruber und Erhard Busek eingebrachter Initiativantrag betreffend ein Schülervertretungsgesetz zu werten. Mit dem Gesetz wurde den Bundes- und Landesschülerbeiräten (BSB und LSB) eine rechtliche Grundlage gegeben. Die den Beiräten zugestandene Kompetenz lag hauptsächlich in der Beratungstätigkeit und dem Vorbringen von Anliegen und Beschwerden gegenüber dem Ministerium und den Landesschulräten. Das Gesetzwerk wurde von Anbeginn mit massiver Kritik seitens der Schülervertreter und Schülerorganisationen bedacht. Die Kritik der linken Schülergruppierungen ging überhaupt ins Grundsätzliche  : »Der BSB sei eine anonyme Institution, die jeden Kontakt zur Basis verloren habe.«25 Auch der Umstand, dass man die bisher geübte Praxis, ebenfalls Vertreter von Schülerorganisationen in den BSB einzuladen, nicht weiter geführt hat, erregte das Missfallen der sozialistischen Schülerorganisationen. Die vorläufig letzte bedeutende Neuentwicklung auf dem Sektor der Bildungspolitik stellt die im Sommer 1982 vom Nationalrat beschlossene 7. Schulorganisationsgesetz-Novelle dar. Versuche über eine Vorschulstufe, die neuen Hauptschulen und Neuerungen in diversen Schularten wurden stufenweise bis zum Jahr 1989/90 in den Normalbetrieb übernommen. Das große Politikum »Integrierte Gesamtschule« wurde nicht realisiert. Änderungen traf man gleichfalls in der Lehreraus- und Lehrerfortbildung. Anhand der angeführten gesetzlichen Entwicklung in der Schulpolitik und der Dokumentation der Arbeit der Schülerorganisationen der rechten Mitte lässt sich die jeweilige Situation in den Demokratisierungs- und Reformbestrebungen der österreichischen Schule verfolgen. Die »68er Generation« gab einen Anstoß, vorerst eher aus gesellschaftspolitischen Motiven, den »Kampf« um eine Schule der Zukunft aufzunehmen. Ohne das damit einsetzende kontinuierliche Engagement der Schülergruppierungen wären die Schüler- und Studentendemonstrationen des 25 Vgl. Memorandum des SPÖ-nahen Bildungspolitischen Nachrichtendienstes über die Gesamtsituation der politischen Bildung an Österreichs Schulen (21.9.1977).

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Jahres 1968 ohne Auswirkungen geblieben. In Anlehnung daran fasste die linke Schülerszene ihre schulpolitischen Aktivitäten als integrierten Bestandteil in ihren Bemühungen auf, eine »bessere Gesellschaft« zu schaffen. Die bürgerlichen Schülerorganisationen arbeiteten auf den Schüler hin, geleitet von der Intention, in ihm den Keim für demokratisches Verständnis anzulegen. Erst unter Unterrichtsminister Helmut Zilk übernahmen die Sozialisten ab 1983 ohne großes Aufsehen die Position, die den Schüler im Mittelpunkt der Reformansätze sieht, und bekannten sich erstmals zu Leistung und Auslese. Diese neue sozialistische Position kam für zahlreiche Schülervertreter überraschend. Noch Anfang 1980 stellte die Sozialistische Jugend auf der 27. Vollversammlung des Österreichischen Bundesjugendrings den Antrag, das »Hauptunterdrückungsinstrument« gegen die Schüler, nämlich das System der Leistungsbeurteilung, abzuschaffen. Deshalb erhob die Sozialistische Jugend wiederholt die Forderung nach Erprobung alternativer Leistungsbeurteilung. Zentrale Motivation sollte nicht mehr Druck, sondern Solidarität, Eigenverantwortung, Selbständigkeit und Kreativität sein. Der Antrag wurde schließlich auf der Vollversammlung des Österreichischen Bundesjugendrings abgelehnt.26 Die Schulpolitik des Jahrzehnts 1975 bis 1985 übersah gegenüber der unterrichtspolitischen Komponente »Ausbildung« zwei ebenso wesentliche Bereiche, nämlich »Bildung« und »Erziehung«. Es mangelte an einem neuen einheitlichen Bildungsbegriff. Diesen zu entwerfen war jedoch Aufgabe der Schulpolitik, die bis jetzt die innere Schulreform (Reform der Bildungsinhalte) zugunsten der äußeren (Reform der Schulformen) vernachlässigt hatte. Die Schule sollte nicht mehr primär reine Wissensweitergabe betreiben, sondern die Vermittlung von Fähigkeiten, mit deren Hilfe der Lernende den Anforderungen seiner Aktivzeit gerecht werden kann, in den Vordergrund stellen.27 Eine Demokratisierung der Schule setzte bei allen Überlegungen ein gewisses Maß an demokratischer Reife des einzelnen Schülers voraus. Deshalb wurde von linken wie auch von bürgerlichen Schülerorganisationen die Forderung nach einem Mehr an politischer Bildung in den Schulen erhoben, um das Defizit an demokratischer Reife und an politischem Interesse der Schüler zu kompensieren. Die Verwirklichung des von den Schülerorganisationen geforderten demokratischen Prinzips »Partizipation« sollte nicht derart erfolgen, dass mit der »Verlagerung der zu treffenden Entscheidungen in kollektive Instanzen« (z. B. Schulgemeinschaftsausschuss) 26 Vgl. KvVI-Archiv, Sign. BJR 60, Österreichischer Bundesjugendring-Tagungsbericht. 27 Vgl. KvVI-Archiv, Sign. BPL 78c-f, Vereine, Bericht des Symposions des Internationalen Forschungszentrum für Grundfragen der Wissenschaften (Salzburg) vom 31. Oktober 1980 unter der Leitung von Univ.-Prof. Marian Heitger, Institut für Medienpädagogik »Innere Schulreform« (Verantwortung für Erziehung in Familie und Schule, Verbesserung der Lehrerpersönlichkeit eine Voraussetzung).

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persönliches Engagement der Schüler, die Leistungsbereitschaft und Verantwortung schwinden. Demokratische Mitbestimmung der Schüler erfordert Sachwissen wie auch die Fähigkeit zu einsichtiger, mündiger Urteilsbildung.28 Aus diesen Gründen sollte politische Bildung an den Schulen nicht fehlen, wenn man von Schulreformbestrebungen in Richtung einer demokratischen Schule von morgen spricht, die das Kind aus der Begrenztheit seines Wissens und seines Urteilsvermögens herausholen möchte. Politische Bildung sollte als politische Allgemeinbildung ihre Hauptaufgabe in der Vermittlung politischer Urteilsfähigkeit neben der Vermittlung von politischer Information sehen  ; sie darf sich nicht in »Institutionskunde« erschöpfen. Es war das Übermaß an einem subjektiven »Freiheitsgefühl«, das ein normales (und notwendiges  !) Solidaritätsgefühl für eine Gemeinschaft überlagerte und verkümmern ließ. Hier erreichte das sozialistische Bildungsideal der »Kreisky-Zeit« einen Endpunkt, der auch vor einer Marginalisierung der früheren Impulsgeber nicht Halt machte.29 Gegenwärtig stellt in der Tat die jugendliche globale Internet-Generation den Anspruch, politisch endgültig mündig, emanzipiert und demokratisch legitimiert zu sein. Dabei wird übersehen, dass auch diese Generation nicht davor gefeit ist, Opfer einer gelenkten Agitation – von welcher Seite auch immer – zu werden.

28 Wie dieses Postulat gegenwärtig (2021) interpretiert wird, zeigt eine aktuelle Publikation des BMBWF  : Werte leben, Werte bilden. Wertebildung in der frühen Kindheit. Impulse für das pädagogische Handeln, hg. v. Pädagogische Hochschule Niederösterreich. Im Auftrag des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) in Kooperation mit dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF), Wien 2021. 29 So ist es bezeichnend, dass die Stadt Wien als letztes österreichisches Bundesland erst 2021 (beginnend mit dem Jahr 2022) offiziell der Österreichischen Gesellschaft für Politische Bildung (ÖGPB) beigetreten ist.

IDEN TITÄTEN U N D ER I N N ERU NGSKU LTU R

Bertrand Michael Buchmann, Wien

Das Traugemundslied – eine Rätselballade Für Jung und Alt zählt das Rätselraten zum beliebten Zeitvertreib. Aber das Rätsel hat nicht nur für unsere Gegenwart eine freizeitgestaltende Funktion, auch frühere Generationen übten sich im Konstruieren und Beantworten schwieriger Fragen. Als Beispiel möge hier die mittelalterliche Ballade vom kundigen Traugemund untersucht werden. Die »Volksballade« ist eine Gattung des volkstümlichen Liedes und wird als Sammelbegriff für das »erzählende Lied« verwendet.1 Sie wurde von berufsmäßigen Balladensängern einem unterhaltungswilligen Publikum vorgetragen, war also ursprünglich nicht für den gemeinschaftlichen Gesang bestimmt. Ihre Entwicklung begann im hohen Mittelalter, im späten Mittelalter reifte dieser Liedtypus aus  ; die Zuhörer waren damals in kleinadeligen und städtisch-handwerklichen Kreisen zu suchen. Der Flugblattdruck hat etliche Beispiele in die Neuzeit herübergerettet. Alle überlieferten Volksballaden erzählen von fiktiven oder zumindest teilweise fiktiven Geschehnissen. Doch hinter der Fiktion verbergen sich zeitgemäße Verhaltens- und Denkweisen, Wertvorstellungen, Gemeinschaftsregeln und bisweilen auch Sehnsüchte, insgesamt also die Mentalität der Bevölkerung. Diese ist selbst historische Wahrheit und lässt sich aus dem Text erschließen.2 Solche Heldenballaden, Sagenballaden, Legendenballaden, Geister-, Teufels- und Totenballaden, Liebesballaden oder auch Rätselballaden hätten ihr Publikum nicht fesseln können, wenn sie ganz realitätsfremd gewesen wären. Jedes Rätsel ist eine Wissensaufgabe, die gelöst werden soll. Im übertragenen Sinn kennzeichnet es aber auch das Geheimnisvolle, das Unbegreifliche. In dieser erweiterten Bedeutung reicht das Rätsel tief hinab in kultische Bezirke.3 In ihm begegnet uns jene Urform von Magie und Dichtung, welche den ältesten literarischen Erzeugnissen der Völker zuzurechnen ist. In den frühesten Rätseln stellten sich Priester in rituellem Wettkampf die Fragen um den Ursprung des Seins, um Wesen und Wirken der Götter. In den Sanskritliedern des indischen »Rigveda«4 lesen wir von Fragen 1 Viele Beispiele dazu  : Ludwig Erk – Fr a nz M agnus Böhme, Deutscher Liederhort Bd. 3, Leipzig 1894  ; Lu tz Röhrich – Rolf Wilhelm Brednich, Deutsche Volkslieder Bd. 2, Düsseldorf 1967. 2 Bertr a nd Mich a el Buchm a n n, Daz jemant singet oder sait … Das volkstümliche Lied als Quelle zur Mentalitätengeschichte des Mittelalters, Frankfurt am Main 1995. 3 Joh a n n Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek bei Hamburg 1987, 119ff. 4 Rudolf Hillebr a nd (Übersetzer) Lieder des Rigveda (= Quellen zur Religionsgeschichte, VII/5), Göttingen 1913, 105.

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nach der Entstehung des Kosmos  ; König Salomon beantwortet in einem philosophisch-sakralen Rätselwettkampf die Fragen der Königin von Saba.5 Die griechische und lateinische Antike ist besonders reich an Verschlüsselungsformen. Noch heute bekannt ist das Rätsel, das die Sphinx dem Oedipus aufgab. Das im 4. nachchristlichen Jahrhundert aufgezeichnete Rätsel vom »Vogel federlos« (siehe unten) soll im Zusammenhang mit spätantiken Zaubersprüchen gestanden sein  : Verschiedene, in sich selbst widerspruchsvolle Naturvorgänge sollten eine Krankheit bannen und deren Wiederkehr als unmöglich darstellen. Im Hintergrund der magischen Beschwörung steht, wie die Lösung vermuten lässt, eine mythische Sonnenmetaphorik  : R ätsel aus dem 4. Ja hrhu ndert: 6 Origina l  : Übersetzu ng  : Volavit volucer sine plumis, Es flog ein Vogel ohne Federn, sedit in arbore sine foliis  ; saß auf einem Baum ohne Blätter  ; venit homo absque manibus, es kam ein Mann ohne Hände, conscendit illum sine pedibus, bestieg jenen ohne Füße, assavit illum sine igne, kochte ihn ohne Feuer, comedit illum sine ore. verschlang ihn ohne Mund. Lösu ng (in Geheimschrift dem Rätsel angefügt) Nix a Titane. Schnee, der vom Sonnengott geschmolzen wird (Titan = Helios)

Hatte das alte Rätsel auch seine Wurzel im Mythischen, so verleugnete es doch nie seinen Charakter als heiliges Spiel. Im Laufe der Zeit überwog der spielerische und kommunikative Aspekt der Rätsel  ; deutschsprachige Zeugnisse gibt es nur von diesen. Die lateinische Rätseltradition setzte sich indessen das ganze Mittelalter hindurch in den Klöstern fort. Dort waren die Rätsel sogar Schullektüre und sollten den Verstand schärfen sowie neue Einsichten in die Zusammenhänge der von Gott geordneten Welt geben. Parallel dazu existierte wohl noch immer eine germanische Rätseltradition in Form von Prüfungsfragen, Antithesen und Weisheitsfragen, wofür schon das eigensprachliche germanische Wort »radislo« (altniederdeutsch  : Rätsel) zeugt  ; sie hat aber keinen schriftlichen Niederschlag gefunden. Auch das älteste auf deutschem Boden entstandene Rätsel ist wahrscheinlich in lateinischer Sprache verfasst worden. Karl der Große soll es 783 dem gelehrten langobardischen Geschichtsschreiber Paulus Diaconus gestellte haben  :

5 Altes Testament 1 Könige 10. 6 Reichenauer Handschrift, 10. Jahrhundert, Badische Landesbibliothek Karlsruhe, cod.Aug. CCV.

Das Traugemundslied – eine Rätselballade

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K arolingisches R ätsel aus dem 9. Ja hrhu ndert  :7 Origina l  : Dat genitor genito, quod se non sentit habere nec quaquam in genitore potes cognoscere, lector, quod praebuit firmo nascenti pectore proli. Übersetzu ng  : Der Erzeuger gibt dem Erzeugten etwas, von dem er fühlt, dass er es selbst nicht hat. Und nirgends kannst am Erzeuger du erkennen, Leser, was er dem entstehenden Spross mit starker Brust verlieh. Vermutliche Lösu ng  : Fleischwerdung Christi.

Im Hoch- und Spätmittelalter gehörte die deutschsprachige Rätseldichtung zu einem beliebten gesellig-literarischen Spiel des Adels und des Bürgertums. Hier leistete sie ihren Beitrag als gemeinschaftsbildendes Element. Zu den ältesten Beispielen zählen das Gedicht vom Sängerkrieg auf der Wartburg (2. Hälfte des 13. Jahrhunderts), die Sprüche Reinmars von Zweter (gest. nach 1252) und das unten wiedergegebene Traugemundslied aus dem 14. Jahrhundert. Das gesungene Rätsel begegnet uns in der Form des Meistergesangs, des Rätsellieds und der Rätselballade. In ihr werden Rätsel nicht nur aufgegeben, sondern auch gelöst, wobei meist statt des isolierten Einzelrätsels ein ganzes Bündel von Fragen mit ihren Antworten präsentiert wird.8 Das Rätsel ist also im Grunde eine Prüfungsfrage mit direkten oder indirekten (allegorischen) Angaben. In der Rätselballade werden oft wettkampfähnliche Bestimmungen vereinbart und in die erzählende Rahmenhandlung eingefügt. In manchen Liedern geht es beim Frage- und Antwortspiel lediglich um die Ehre des Wissens, in anderen, wie beim Traugemundslied, um das Ausforschen des ankommenden Gastes durch den Hausherrn. Die Rätsellösung kann auch an schicksalhafte Konsequenzen gebunden sein, in harmloser Ausprägung als Heirats- und Liebesprobe (»Mädchen, ich will dir ein Rätsel aufgeben und wenn du’s errätst, so heirat’ ich dich«), in dramatischer Ausprägung als »Halsrätsel«, als Ratespiel um Leben und Tod  ;9 eine späte Form des Halsrätsels (18., 19. Jahrhundert) verbirgt sich hinter dem volkstümlichen Lied  :

7 K a rl Neff (Hg.), Die Gedichte des Paulus Diaconus, München 1908, 85. 8 K a rl Müllenhoff – Wilhelm Scherer (Hg.), Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem VIII.– XII. Jahrhundert, Bd. 1, Berlin 3. Aufl. 1892, 20f.; Volk er Schupp (Hg.), Deutsches Rätselbuch, Stuttgart 1972. 9 H a nsjörg Mey er, Das Halslösungsrätsel, phil. Diss. Würzburg 1967.

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Bertrand Michael Buchmann, Wien

»Losk auf vom Militär«  :10 »Hauptmann, Herr Hauptmann, ich bitte Sie so sehr, lassen’s mein’ Geliebten ab vom Militär. Ich gebe Ihnen alles, was ich hab, lassen’s mein Geliebten von’ Soldaten ab  !« »O, du schönes Mädel mit deinem vielen Geld, dei Bua muss sterben für’s Vaterland als Held, doch eines will ich dir zu raten geb’n. Kannst du dies erraten, so sollst dei’ Bub mitnehm. Rate, was ist das  : ein König ohne Land  ; rate, was ist das  : ein Wasser ohne Sand  ; rate, was ist das  : ein Haus, darin kein Tisch  ; rate, was ist das  : ein Wasser ohne Fisch  ?« […] »Der König auf der Karte, der ist ohne Land, das Wasser in den Augen, das ist ohne Sand, das Schneckenhaus, darinnen ist kein Tisch, das Wasser in der Küche, das ist ohne Fisch.« […]

Rätsel lassen sich in drei große Gruppen einteilen  : Die erste Gruppe umfasst die »echten« Rätsel mit scheinbar unlösbaren Fragen und pointiert einfachen Antworten – siehe die Fragen der Sphinx oder die Fragen der Prinzessin Turandot in der arabischen Märchensammlung »Tausendundeine Nacht«. Die zweite Gruppe führt zur Allegorie, der Verbildlichung eines Begriffes – vgl. Allegorisierung der Sonne als Titan im Rätsel vom »Vogel federlos«. In der dritten Gruppe bilden Fragen und Antworten eine Einheit und hängen oft sogar durch den Reim zusammen, wie in der unten besprochenen Volksballade vom Spielmann Traugemund. Auch hier können viele Antworten nicht geraten werden  ; man muss sie wissen wie eine Parole. Mit dem Tr augemundslied begegnet uns das umfangreichste und berühmteste mittelhochdeutsche Rätselgedicht. Die hier wiedergegebene Fassung entstammt einer Handschrift aus dem 14. Jahrhundert.11 Die Mundart des Schreibers ist indiffe10 Aus  : Rolf Wilhelm Brednich – Lu tz Röhrich – Wolfga ng Swuppa n (Hg.), Handbuch des Volksliedes, 2. Bd., München 1973, 205ff.; siehe auch  : Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 4, Lieferung 1, Berlin 1951, 491  ; Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 7, Berlin–New York 2. Aufl. 1989, 1036–1039. 11 Öffentliche Bibliothek zu Strassburg, HS A 94, Bl. 17d–18c.

Das Traugemundslied – eine Rätselballade

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rent, Melodie wurde keine gefunden. Auch wenn die älteste Überlieferung aus dem Spätmittelalter stammt, so sind zumindest die Einzelrätsel wesentlich älter und können teilweise in das Frühmittelalter rückdatiert werden.12 Ältere Lieder dieser Art sind zwar nicht bekannt, doch wird vermutet, dass es Vorläufer gegeben hat, sodass diese Rätselballade als Vertreterin einer langen Traditionskette angenommen werden kann, die bis zu den germanischen Weisheitsfragen zurückreicht. In den Rätseln spiegelt sich nicht unbedingt das Volkswissen wider, vielmehr zeigt sich, welche Kategorie von Erscheinungen durch welche Symbole assoziiert werden  ; wer antworten will, muss die Lösung schon in sich tragen. Und diese Lösung ergibt sich aus den Erfahrungen, Einsichten und Ahnungen des Menschen, der sich sein Naturbild nicht nur religiös, sondern auch magisch und symbolisch zeichnete. Einerseits verweist es auf brauchtumsartige Handwerks- und Weidmannsgrüße, andererseits zeigt es, dass auch Ritter und niedere Adelige dem fahrenden Volk angehörten und als Gegenleistung für ihren Gesang gastliche Aufnahme erwarteten. Der Name Traugemund taucht bereits in den Spielmannsdichtungen des 12. Jahrhunderts auf und gilt einem weit gereisten Pilger. Aus dem arabischen »targomân«, mittellateinisch »dragumanus« oder »drogamundus« (der Dolmetsch) wird in volksetymologischer Umdeutung »Traugemund« oder »Tragemunt«, in negativer Auslegung vielleicht auch »Trügemund«. Schon im Altertum herrschte die Vorstellung, dass es auf der Welt nur 72 Länder bzw. Sprachen gäbe, das Mittelalter übernahm diese Ansicht (vgl. Wolframs »Willehalm«)  ;13 von dem Fahrenden, der 72 Länder durchreist und ihre Sprachen verstanden hat, durfte demnach höchste menschliche Weisheit erwartet werden. Das Traugemundslied ist eine Mischung aus Rätseln und Prüfungsfragen. Es beginnt mit der Darstellung der epischen Situation, welche den gesellschaftlichen Anlass des folgenden Ratespiels erschließt  ; hier hat das Rätsel die Funktion einer Prüfung des ankommenden Gastes. Der sesshafte Frager und Gastgeber erkundigt sich zunächst nach den Lebensumständen des Fahrenden, der seine Antwort poetisch verklärt (Himmelsdach, Rosenlager), aber auch seine ritterliche Herkunft (»eines stolzen Knappen Weise«) betont. Unvermittelt weiß der Gastgeber Namen und Art des Fahrenden  ; diese vorweggenommene Kenntnis ist charakteristisch für die Volksdichtung. Nun folgen Rätsel und ihre Lösungen, jeweils in der gleichen Formelhaftigkeit. Immer gehören zwei Strophen als Dialogeinheiten zusammen und vereinen

12 Robert Petsch, Das deutsche Volksrätsel, Straßburg 1917, 33ff.; Thom as Tom aschek, Das deutsche Rätsel im Mittelalter, Habil. Kiel 1989, 367ff.; Burgh a rt Wachinger, Rätsel, Frage und Allegorie im Mittelalter, in  : Ingeborg Glier (Hg.), Werk – Typ – Situation. Studien zu den poetologischen Bedingungen in der älteren deutschen Literatur, Stuttgart 1969, 137ff. 13 Leopold K retzenbacher, Die heilige Rundzahl 72. Zur Zahlenmystik in Legende, Sakralbau, in Volksglaube und Redensart, in  : Blätter für Heimatkunde, hg. v. Historischer Verein Steiermark 26, 1952, 11ff.

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das aus vier Versen gebildete Rätselbündel sowie die zugehörigen Antworten. Bei 12 Strophen ergibt das 6x4 = 24 Fragen. Reine Wissensfragen wechseln mit solchen ab, deren Antworten bei scheinbarer Unlogik bestimmten Spielregeln folgen und nur den, der damit nicht vertraut ist, verblüffen. Die Rätselbündel lassen mehrere Gattungen erkennen, die, jede für sich, wesenstypisch für das deutsche Volksrätsel sind  : Die Eingangsfragen, welche sich auf die Person Traugemunds beziehen (Str. 1), werden mit den Interrogativpronomina »wo« und »womit« sowie mit den Worten »in welcher Weise« eingeleitet und sind lediglich informativer Natur, also noch keine Rätselfragen. Der Wirt will sich genauere Kenntnis über Art und Charakter des Ankömmlings verschaffen. Das zweite Fragenbündel (Str. 3) enthält die »OhneRätsel«, welche einen Mangel bezeichnen und so den Schein des Irrealen erzeugen. In der dritten Gruppe (Str. 5) geht es um das Übertreffen des Inbegriffs einer Eigenschaft (»weißer als Schnee«)  : Auch hier entsteht der Eindruck des Unmöglichen, wenn das, was als Idealtyp einer Wesenheit gilt, noch in den Schatten gestellt werden soll. Solche Komparativfragen entstammen einer theologischen Tradition. Der Dichter des Traugemundslieds, dem die religiöse Beziehung fehlt, hat hier vielleicht die Kontrafaktur, also die Übernahme eines beliebten religiösen Modells vorgenommen. Die Rätselbündel von Strophe 3 und 5 betreffen die Natur (in Str. 3 und 4 sind in Z. 4 und 5 Frage und Antwort vertauscht)  ; anschließend folgen Fragen aus der Vorstellungswelt des Rittertums (Str. 7 und 9). Hier handelt es sich um »Wodurch-« und »Warumfragen«, die jeweils eine ganz bestimmte Antwort heischen. In antithetischer Weise werden den Fragen über die kraftvolle Natur und die edle höfische Kultur (Str. 7) solche über Verfall und Niedergang gegenübergestellt (Str. 9). Die vier letzten Fragen (Str. 11) sind wieder komparativischer Art und führen zu ein und derselben Antwort  : Gemeint ist die Elster  ; die Doppelbedeutung des Wortes, das auch Akelei, eine Blumenart, meint, ist beabsichtigt. Strophe 11 und 12 weichen hinsichtlich der formelhaften Wiederholungen vom übrigen Strophenschema ab. Sie geben aber zugleich auch die letzte Bewährungsprobe des Geprüften wieder. Mit der erbrachten Lösung kann sich der welterfahrene Meister in die Gemeinschaft aufgenommen wissen. Diese Schlussstrophen runden das Lied von Traugemund ab und bestätigen zugleich den durchkomponierten Aufbau des Textes. Tr augemu ndslied14 1. Willekome, varender man  ! Wô læge du hînaht  ? Oder wô mite wære du bedaht  ? Oder in welre hande wîse 14 Aus Buchm a n n, Daz jemant singet oder sait, 317.

[diese Nacht] [bedeckt] [auf welche Weise]

Das Traugemundslied – eine Rätselballade

bejageste kleider oder spîse  ?

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[bejagteste  : erlangtest du] 2.

Daz hestu gefrâget einen man, der dir ez in ganzen triuwen wol gesagen kan. Mit dem himel was ich bedaht und mit den rosen was ich umbestaht, in eins stolzen knappen wîse bejage ich kleider unde spîse. 3. Nu sage mir, meister Tragemunt, zwei und sübenzig lant die sint dir kunt  : Waz boumes birt âne bluot  ? Waz vogel söiget sîne junge  ? Waz vogel ist âne zunge  ? Waz vogel ist âne mage  ? Kanstu mir daz iutziut gesagen, sô wil ich dich für einen weidelîchen knappen haben. 4. Des hestu gefrâget einen man, der dirz in ganzen triuwen wol gesagen kan  : Der queckolter birt îne bluot. Der stork ist âne zunge. Die fledermûs söiget ire junge. Der swarbe ist âne magen. Ich wil dirz in ganzen triuwen sagen, und frâgestu mich iutziut mêre, ich sage dirz fürbaz an dîn êre. 5. Nu sage mir, meister Tragemunt, zwei und sübenzig lant sint dir kunt  : Waz ist wîzer denne der snê  ; Waz ist sneller denne daz rêch  ? Waz ist hoeher denne der berg  ? Waz ist vinsterre den die naht  ? Kanstu mir iutziut daz gesagen, sô wil ich dich für einen jegerlîchen knappen haben. 6. Des hestu gefrâget einen man, der dirz von grunde wol gesagen kann  : Die sunne ist wîzer den der snê.

[hestu  : hast du] [triuwen  : in Treue, Wahrheit] [umsteckt]

[birt  : bringt Frucht  ; bluot  : Blüte]

[Magen] [iutziut  : jetzt] [weidelîch  : tüchtig]

[queckolter  : Wacholder] [stork  : Storch] [swarbe  : Taucherente]

[fürbaz  : noch mehr]

[Reh]

[jegerlîch  : stattlich]

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Der wint ist sneller den daz rêch. Der boum ist hoeher den der berg. Die rame ist swerzer den die naht. Doch wil ich dir in ganzen triuwen sagen  : Frâgtestu mich iutziut mêre, ich sage dirz fürbaz an dîne êre.

[Baum, auf dem Berg stehend] [rame  : Rabe]

7. Nu sage mir, meister Tragemunt, zwei und sübenzig lant die sint dir kunt  : Durch waz ist der Rîn sô tief  ? [Rîn  : Rhein] Oder warumbe sint frowen alsô liep  ? Durch waz sint die matten sô grüene  ? [matten  : Wiesen] Durch waz sint die ritter sô küene  ? Kanstu mir daz iutziut sagen, sô wil ich dich für ein stolzen knappen haben. 8. Des hestu gefrâget einen man, der dirz wol gesagen kann  : Von manigem ursprunge ist der Rîn sô tief. Von hôher minnen sint die frowen liep. Von manigen würzen sint die matten grüene. [würzen  : Kräuter] Von maniger starken wunden sint die ritter küene. Unde frâgtestu mich iutziut mêre, ich sage dir fürbaz an dîn êre. 9. Nu sagent mir, meister Tragemunt, zwei und sübenzig lant die sint üch kunt  : [üch  : euch] Durch waz ist der walt sô grîse  ? [grau, greis] Durch waz ist der wolf sô wîse  ? [wîse  : gewitzigt] Durch waz ist der schilt verblichen  ? Durch waz ist maniger guot geselle von dem andern gewîchen  ? Kanstu mir daz iutziut gesagen, sô wil ich dich hân für ein weidelîchen knaben. 10. Des hestu gefrâget einen man, der dirz von grunde wol gesagen kan  : Von mannigem alter ist der walt sô grîse. Von unnützen gengen ist der wolf sô wîse. [durch das Herumstreunen] Von maniger starken herverte ist der schilt verblichen. [herverte  : Heerfahrt] [Von] unnützen Sübichen ist manig guot geselle entwichen. [Sübichen  : Sibich, s. unten]

Das Traugemundslied – eine Rätselballade

11. Nun sage mir, meister Tragemunt, zwei und sübenzig lant die sint dir worden kunt  : Waz ist grüene alsam klê  ? Waz ist wîzer den der snê  ? Waz ist swerzer den der kol  ? Waz zeltet rehter den der vol  ? 12. Daz hab ich balde gesaget dir  : Die ageleie ist grüene alsam der klê. Und ist wîz alsam der snê, und ist swerzer den der kol, und zeltet reht alse der vol  ; und frâgstu mich iutziut mêre, ich sage dirz fürbaz an dîn êre.

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[Kohle] [zeltet  : geht  ; vol  : Fohlen]

[ageleie  : Elster  ; Akelei  ?]

Lässt sich die Rätselballade vom Meister Traugemund als kultur- und mentalitätsgeschichtliche Quelle nützen  ? Oder bleibt sie auch dem der Historie Nachspürenden ein Rätsel  ? Um dies herauszufinden, sollen an den Text selbst einige Fragen gestellt werden  :15 1. Frage  : Wie alt ist das Traugemundslied  ? Die handschriftliche Überlieferung datiert in das 14. Jahrhundert, es gibt aber Hinweise auf ein höheres Alter (siehe auch Frage 7)  : So spricht die Ritter- und Minnethematik (Str. 7, 9) ebenso für einen hochmittelalterlichen Ursprung des Traugemundslieds wie die Bezugnahme zur mittelhochdeutschen Heldenepik  : In Strophe 10 erscheint der Typus der Untreue in der literarischen Verkörperung des treulosen Sibich aus der Ermanerichsage (Z. 6). 2. Frage  : Wie alt sind die Einzelrätsel  ? Wahrscheinlich sind etliche Rätsel des Traugemundslieds nicht erst mit dem Text gedichtet worden, sondern waren schon seit Langem bekannt und geläufig. Manche Rätsel liefern durch ihren Stabreim einen Hinweis auf ihre Entstehungszeit im Frühmittelalter (Str. 3, Z. 3  ; Str. 5, Z. 3  ; Str. 6, Z. 3, 5  ; Str. 9, Z. 3, 4). Bestimmte Rätsel haben ein langes Leben – so wurden die Fragen nach dem Vogel ohne Zunge bzw. dem Vogel, der seine Jungen säugt (Str. 3), noch in Rätselgedichten des 19. und 20. Jahrhunderts gehört. 3. Frage  : Welche formalen Gemeinsamkeiten lassen sich bei älteren Rätseln und beim Traugemundslied feststellen  ?

15 Hier und folgend ebd., 319ff.

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Das Traugemundslied weist zwei formale Charakteristika auf  : die stereotype Einleitung der Fragen und Antworten und die Viergliedrigkeit des Rätsels. Das viergliedrige Rätselbündel ist so alt wie die gesamte indogermanische Rätselüberlieferung  : Schon das altindische Rätsel der Rigveda kannte diese Form, ebenso das Heidreksrätsel in der eddischen Harvarasage  ; in dieser Hinsicht stützt sich unser Gedicht auf eine uralte Tradition. Auch die Einleitungs- und Endformel hat ihre Parallelen, beispielsweise im eddischen Wafthrudnirlied oder im Heidreksrätsel. 4. Frage  : Welches Volkswissen spiegeln die Rätsel wider  ? Zur Untersuchung dieses Problems können nur die naturkundlichen Rätsel betrachtet werden, also die Rätsel von Strophe 3. Die – meist falschen – Antworten entsprechen den biologischen »Erkenntnissen« des von Konrad von Megenberg (1309–1374) in deutscher Sprache verfassten »Buches der Natur«, welches wegen seiner allegorisierenden Darstellungen eine größere Verbreitung genoss. Wo liegen die Ursachen für die naturkundlichen Irrtümer des mittelalterlichen Menschen  ? 1) Beim Rätsel von der Pflanze, welche ohne Blüte Frucht bringt, lässt sich dies leicht erklären  : Wohl blüht auch der (im Volksglauben gegen Hexen und Unholde schützende) Wacholder (Juniperus), aber ganz unscheinbar  ; seine als (Gewürz und Arzneimittel verwendete) Frucht reift im zweijährigen Rhythmus und wird daher mit der Blüte kaum in Zusammenhang gebracht. 2) Die Fledermaus ist wegen ihrer vermeintlichen Zwitterstellung (Vogel – Säugetier) schon seit der Antike ein beliebtes Rätselobjekt  ; dem mittelalterlichen Naturverständnis entsprach es, alle fliegenden Wesen als »Vogel« zu bezeichnen, also auch Fledermäuse oder Insekten. 3) Jahrhunderte lang hielt sich das populäre »Wissensgut« vom Storch, der keine Zunge hat  ; wie kann eine derartige Volkssage entstehen  ? Möglicherweise glaubte man, dass ein Vogel, der stumm ist (der ausgewachsene Storch hat keine Stimme und kann nur mit dem Schnabel klappern), keine Zunge hat. Andererseits kann auch »Zunge« mit »Stimme« gleichgesetzt worden sein. 4) Die Frage nach der Taucherente ohne Magen ist ähnlich zu verstehen wie die nach der Pflanze ohne Blüte  : Der besonders kleine Magen der Ente wurde von den Menschen nicht als solcher erkannt, obwohl sie die Ente als Haustier hielten. 5. Frage  : Entsprach das Geschehen im Traugemundslied einer realen Situation  ? Vorstellungsgespräche zwischen einem Gast und seinem Wirt waren gewiss zu allen Zeiten üblich, denn von jedem Ankommenden, der das Gastrecht beanspruchte, wurde Auskunft über seinen Namen, seine Herkunft und seinen Weg gefordert. In dichterischer Ausschmückung erfährt ein solcher Dialog zur Prüfung des Fremden die Erweiterung durch einige Rätsel (z. B. Wafthrudnirlied). Doch auch im täglichen Leben des Mittelalters und der Neuzeit hatte das Frage- und Antwortspiel seinen brauchtumsartigen Niederschlag gefunden  : Wechselreden als Handwerksgrüße oder Weidmannsgrüße (vgl. die der Jägersprache entnommenen Epitheta »weidelîch«, »jegerlîch« in Str. 3, 5, 9) bzw. als Empfangsgespräche zwischen dem Wanderbur-

Das Traugemundslied – eine Rätselballade

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schen und dem Altgesellen dienten nicht nur der Information, sondern nahmen oft den Charakter eines formelhaften Wettredens an. Bisweilen haben solche Rätselfragen die Funktion eines Codes, dessen Entschlüsselung Auskunft über die jeweilige Ausbildungsstufe des wandernden Gesellen gibt. Ein Beispiel ist der Schmiedegruß  :16 Altgesell  : »Mein Schmied, Fremder  : »Mein Schmied, Altgesell  : »Mein Schmied, Fremder  : »Mein Schmied,

von wannen kommst Du, wo weht Dich der Wind her  ?« er weht mich daher über Wiesen und Äcker.« […] wovon wird der Wolf so greiß, wovon wird der Berg so weiß wovon wird das Wasser so trüb, weswegen haben mich die schönen Frauen so lieb  ?« vom Alter wird der Wolf so greiß, vom Schnee wird der Berg so weiß, vom Regen wird das Wasser so trüb, von der Tugend haben mich die schönen Frauen so lieb.« […]

Bis ins 18. Jahrhundert wurden Hochzeitsgäste mit Rätseln des Traugemundslieds empfangen, formelhafte Wettreden sind bis ins 19. Jahrhundert nachweisbar. 6. Frage  : Wer hat das Lied verbreitet, vor welchem Publikum  ? Da vom Traugemundslied keine Melodie erhalten ist, kann über die Art und Weise des Gesangs nichts gesagt werden  ; vielleicht wurde der Text gleich den älteren Formen der Volksballade rezitativ aufgeführt. Der Interpret gehörte vermutlich dem Stand der Fahrenden an  ; die beiden Einleitungsstrophen tragen weniger biographische als vielmehr ganz typische Züge eines ritterlichen Balladensängers, der von Burg zu Burg, von Stadt zu Stadt zog und durch seinen Vortrag den Lebensunterhalt verdiente. Sein Publikum dürfte zunächst in adeligen und patrizisch-bürgerlichen Kreisen zu suchen sein, später war das Lied auch in der städtischen Mittel- und Unterschicht bekannt, da es in einem Nürnberger Fastnachtspiel des ausgehenden 15. Jahrhunderts (»Von dem freiheit«) parodiert wurde.17 7. Frage  : Welche sozialgeschichtlichen Assoziationen weckt das Traugemundslied  ? In den Einleitungsstrophen und in den Beiworten (jegerlîcher, weidelîcher, stolzer Knappe) erfahren wir, dass auch Ritter oder niedere Adelige der »varenden diet«, 16 Mey er, Das Halslösungsrätsel, 95f. 17 Basti a n H agen, Mummenschanz. Sinneslust und Gefühlsbeherrschung im Fastnachtspiel des 15. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1983, 105f.

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dem fahrenden Volk angehörten. Wir hören auch vom ritterlichen Stolz des Sängers  ; er hat zwar kein Dach über dem Kopf, sieht aber darin keinen Anlass, sich dessen zu schämen. Er will seinen Wirt unterhalten und informieren. Als Gegenleistung erwartet er gastliche Aufnahme. Die Gewährung des Gastrechts behauptet in einer Gesellschaft, in der Wandern und Reiselust Ausdruck einer kollektiven Sehnsucht nach Änderung und Wechsel sind, einen hohen Stellenwert. Diese allgemeine Mobilität verfällt mit dem späten Mittelalter – von nun an gelten die Fahrenden als Vagabunden, denen man mit Misstrauen begegnet. Das Traugemundslied scheint in der Übergangsphase zwischen der hochmittelalterlichen Wanderbewegung und dem spätmittelalterlichen Wunsch nach sesshafter Behaglichkeit entstanden zu sein. In dem oben erwähnten Nürnberger Fastnachtspiel (»Von dem freiheit«) des späten 15. Jahrhunderts wird daher der Fahrende deutlich herabgewürdigt  ; dort heißt er nicht mehr »Traugemund«, sondern wird als »jaufkint« oder »freiheit« bezeichnet – diese Begriffe waren negativ besetzt und betrafen die von der städtischen Gemeinschaft als gefährlich eingestuften Gaukler, Landstreicher und Müßiggänger. Nicht »in eins stolzen knappen wîse« (= Traugemundslied), sondern »mit sprechen und mit prugels weis/ han ich verdient herberg und speis« (= Fastnachtspiel). 8. Frage  : Wie können die nicht naturkundlichen Fragen gelöst werden  ? Die Traugemundsrätsel greifen eine bestimmte Eigenschaft des zu erfragenden Gegenstands heraus, erwecken dadurch das Interesse für diesen und lassen ihn in poetischem Lichte erscheinen. Die meisten Rätsel können nicht erraten werden – hier bilden Frage und Antwort eine Einheit  ; wer antworten will, muss die Lösung von vornherein kennen. Da aber Sprichwörter bzw. Idiome und Rätsel Ähnlichkeiten aufweisen, dürfte dem mittelalterlichen Menschen die Deutung bestimmter Fragen, insbesondere der 7. und 9. Strophe, nicht schwer gefallen sein. Er musste nur wissen, welche Kategorie von Erscheinungen durch die Symbole Schnee, Reh, Nacht usw. angedeutet bzw. welche Farben mit welchen Tieren assoziiert wurden. Die Spielregeln, nach denen die Traugemundsrätsel gelöst werden können, sind verschiedener Art  : Sie reichen von der poetischen Umschreibung der Natur bzw. der Menschen (z. B. Str. 7) über Scherzfragen (z. B. Str. 5, Z. 5) bis zur Farbsymbolik (schwarzweiß-grün  ; siehe Str. 6 und 7 sowie Str. 11). Das Traugemundslied ist also ein Glied einer langen Kette. Es ist Vertreter einer Räseltradition, die bis zu den germanischen Weisheitsfragen zurückreicht. Der hochmittelalterliche Text enthält zum Teil Rätsel, die schon in der Antike und im Frühmittelalter bekannt waren. Sein Quellenwert liegt in der Erfassung der sozialen Stellung mancher Fahrender und in der Zeichnung gesellschaftlicher Unterhaltungsmöglichkeiten von Rittern und Bürgern. Er liegt aber auch in der Erkenntnis von der Vorliebe des mittelalterlichen Menschen nach Verschlüsselung. Der Mensch vermeidet eine direkte Aussage, Symbolik und Allegorien müssen erst entziffert werden. Manche Rätsel fungieren, wie das Elsterrätsel zeigt, als poetischer Ausdruck tie-

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ferer, heute freilich nicht mehr nachvollziehbarer Sinnzusammenhänge. Die Lösung der Rätsel ergibt sich insgesamt aus den Erfahrungen, Einsichten und Ahnungen des homo mediaevus, der aufgrund naiver, unkritisch verarbeiteter Beobachtungen seine Umwelt zu erfassen und zu deuten sucht. Naturerlebnis und Naturbild will er sich religiös, aber auch magisch und symbolisch verständlich machen.

Reinhard Rudolf Heinisch, Salzburg

Das Werden des deutschen Nationalgefühls Nationalgefühl und Nationalbewusstsein gehören in Zeiten wie diesen zum politisch unkorrekten Vokabular, besonders wenn es sich um deutsches handelt. Vor allem in der Bundesrepublik ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs darüber Acht und Bann verhängt worden, nicht nur durch Politiker, sondern in erster Linie durch Journalisten und deren medial diktierte Polemik. Österreich hat sich nach 1945 – im Gegensatz zur Situation nach dem Ersten Weltkrieg – überhaupt von der deutschen Geschichte verabschiedet, nachdem es in der Zeit davor nicht laut genug seine Identität als »zweiter und besserer deutscher Staat« wortgewaltig betont hatte,1 Seither gilt hierzulande ein Bekenntnis zur deutschen Volks- und Kulturgemeinschaft fast als staatsgefährdend und wird bestenfalls mit dem Schlagwort »Deutschtümelei« abgetan. Dass es sich beim Nationalgefühl um eine natürliche Lebensäußerung handelt, wird zwar anderen Nationen zugestanden, nur nicht der eigenen. Ungeachtet dessen darf die Frage aufgeworfen werden, wie es zu den Anfängen des deutschen Nationalgefühls überhaupt gekommen ist. Nationale, emotionale Gefühlsregungen von Menschen sind seit dem späten Mittelalter festzustellen, und zwar nicht nur in den Territorien des Heiligen Römischen Reiches, sondern generell in den europäischen Ländern, wie ältere Untersuchungen von Hans Kohn2 und Eugen Lemberg3 ergeben haben. Während im Mittelalter engere Gemeinschaften der Stämme und Landsmannschaften stärker als die Völker gewirkt haben und Ordnungskräfte wie Dynastie, Stand und christliches Bekenntnis über einem Bezug zu Sprache und Volk gestanden sind – was das Erkennen von sprachlichen und mentalitätsmäßigen Differenzierungen nicht ausschloss –, wurde in der Neuzeit »das Nationale in einem vielschichtigen historischen Vorgang die bestimmende Ordnungsvorstellung«, die Nation zu einer beherrschenden Gruppenform, die alle anderen an Bedeutung übertraf.4 1 Wa lter Wiltschegg, Österreich – Der »zweite deutsche Staat«  ? Der nationale Gedanke in der Ersten Republik, Graz–Stuttgart 1992. 2 H a ns Kohn, Die Idee des Nationalismus. Ursprung und Geschichte bis zur Französischen Revolution, Frankfurt am Main 1962. 3 Eugen Lemberg, Nationalismus, Bd. 1  : Psychologie und Geschichte, Reinbek bei Hamburg 1964. 4 R einh a r d Wit tr a m, Die nationale Vielfalt als Problem der Einheit Europas. Zur Geschichte und Problematik der kontinentaleuropäischen Nationalitätenfragen, in  : Ders., Das Nationale als europäisches Problem, Göttingen 1954, 9. Vgl. auch Heinrich August Wink ler (Hg.), Nationalismus, Königstein/ Taunus 1978.

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Frühe, exemplarische Zeugnisse dieser Entwicklung finden sich bereits im Hochmittelalter  : In den multinationalen Kreuzfahrerheeren hat es natürlich eine Konkurrenz zwischen den beteiligten Ländern gegeben. Johann von Würzburg hat in seiner um 1165 entstandenen »Descriptio terrae sanctae«, einer Art Handbuch für Pilger in das Heilige Land, die Heldentaten der deutschen Ritter im ersten Kreuzzug (1096–1099) verherrlicht, denen die Befreiung Jerusalems vom heidnischen Joch zu verdanken sei. Dagegen gab Odo von Deuil, der als Kaplan des französischen Königs Ludwig VII. am zweiten Kreuzzug (1147–1149) teilnahm, zwar die Arroganz seiner Landsleute zu, bezeichnete die Deutschen aber als unerträglich. Sie hätten mit Franzosen nicht lagern können, ohne Streit zu beginnen, was auch auf sprachliche Verständigungsschwierigkeiten zurückzuführen war. Deshalb sei der gemeinsame Angriff auf Damaskus und damit der ganze Kreuzzug gescheitert.5 Ein frühes deutsches Nationalgefühl konstatiert Hartmut Fröschle in der zunehmenden Bedeutung der deutschen Sprache, die immer häufiger in Rechtsdokumenten und Chroniken, in der Stauferzeit auch in literarischen Schöpfungen verwendet wurde. Bessere Möglichkeiten des Verständnisses und der Breitenwirkung waren dafür maßgebend, auch wenn diese Veröffentlichungen nur einen relativ kleinen Bereich politischer und geistiger Eliten erreicht haben. Die Verwendung der Volkssprache anstelle des gelehrten Latein war also eher durch praktische Überlegungen bestimmt und muss nicht unbedingt mit »nationalen« Gefühlen zu tun haben. So ist das bereits um 1085 erschienene »Annolied« das erste zeitgeschichtliche und biographische Werk in deutscher Sprache, desgleichen eine »Kaiserchronik« vor der Mitte des 12. Jahrhunderts. Der Mainzer Landfrieden von 1235 war schließlich das erste auf Deutsch verfasste Reichsgesetz. Es entstanden daneben die großen höfischen Epen eines Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue, Gottfried von Straßburg oder Wolfram von Eschenbach, das Nibelungenlied, »Kudrun« und die Dietrich-Epen. Diese mittelhochdeutschen Werke stellen zusammen mit den liebes- und zeitkritischen Liedern der Minnesänger einen ersten Höhepunkt der deutschsprachigen Literatur dar. Der herausragendste Dichter der Stauferzeit, Walter von der Vogelweide, sang an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert bereits Deutschlands Lob, etwa im Lied »Ihr sult sprechen willekommen«, in dem er meint, »Deutsche Zucht geht über alle« – im Vergleich zu anderen Ländern (»Lande hab ich viel gesehen«) – oder »Deutsche Männer, die sind wohlgezogen, und wie Engel sind die Frauen schön«. Und weiter voller Stolz  : »Von der Elbe bis zum Rheine und hinwieder bis zum Ungarland mögen wohl die besten sein, die ich auf weiter Erde fand«.6 In seinem glü5 Zur Gesamtproblematik siehe die jüngste umfassende Publikation von H a rtmu t Fröschle, Geschichte des deutschen Nationalbewusstseins, Lüdinghausen–Neuruppin 2021, speziell 15f. 6 Ludwig R einers, Der ewige Brunnen. Ein Handbuch deutscher Dichtung, München 1955, 512.

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henden Patriotismus wandte er sich gegen das »welsche« Rom, gegen die Päpste und ihre Bannflüche gegen Kaiser wie Friedrich II. In einem späten, fast verzweifelt anmutenden Gedicht beklagt er den Zerfall der traditionellen weltlichen Ordnung, den Untergang alter Werte und Maßstäbe.7 In diesem Zusammenhang ist auf die Tatsache hinzuweisen, dass neben dem Papsttum auch der französische »Drang nach dem Osten« – wie man ihn dem vielzitierten deutschen gegenüberstellen muss – zunehmend stimulierend auf ein deutsches Nationalbewusstsein gewirkt hat. Der Kölner Kanonikus Alexander von Roes bemühte sich in einer 1281 verfassten »Denkschrift über die Würde des Römischen Reiches« mit einer Charakterisierung der Deutschen, Italiener und Franzosen noch um Objektivität und meinte, den Italienern stehe das Sacerdocium, den Franzosen das Studium, den Deutschen aber das Imperium zu. Es sei seine feste Überzeugung, das Reich sei »notwendig, heilig und deutsch«. Gerade wegen der wachsenden politischen Widerstände gegen das Reich hat sich das deutsche Selbstbewusstsein »nationalisiert«, sodass ein Lupold von Bebenburg bekennt, er habe seinen »Tractatus de iuribus regni et imperii« aus »glühender Liebe zum deutschen Vaterland« verfasst.8 Ähnlich klang es im lyrischen Bereich bis zu Johann Walter (1496–1570), der in seinem Gedicht »Wach auf, Deutschland  !« meint  : »Wach auf, wach auf, du deutsches Land, du hast genug geschlafen  ! Bedenk, was Gott an dich gewandt, wozu er dich geschaffen  !« Ein klarer Aufruf, auch wenn der religiöse Hintergrund nicht zu verkennen ist.9 Diese Äußerungen stammen bereits aus der Neuzeit, fest steht aber, dass schon das ausgehende Mittelalter eine zunehmend patriotische Besinnung auf das Reich hervorgebracht hat, auf ein politisches Gebilde, das jedoch mehr und mehr zu einem losen Staatenbund verfiel. Ohne Wirkung sind die 1440 verfassten »Gravamina nationis Germaniae« des Mainzer Erzbischofs Martin Mayr geblieben, in denen er die zunehmende finanzielle Ausbeutung durch die Kurie anprangerte und die Machtlosigkeit des Reichs beklagte. Die allgemeine Rechtsunsicherheit, die auch durch den »Ewigen Landfrieden« des Wormser Reichstags von 1495 nicht grundlegend beseitigt wurde, zunehmende soziale Spannungen und das Aufkommen religiöser Konflikte haben weiter zur Vertiefung nationaler Gefühle an der Wende zur Neuzeit beigetragen. Sicher auch die nationaltschechischen Hussitenkriege (1419–1436), die weite Teile des Reichs verwüsteten und das Deutschtum in Böhmen partiell vernichteten.10  7 Fröschle, Geschichte des deutschen Nationalbewusstseins, 17ff.  8 Ebd., 19f.  9 Wilhelm Hork el (Hg.), So weit die deutsche Zunge klingt. Deutschland im Spiegel der Lyrik aus tausend Jahren, Berg am Starnberger See 1987, 18ff. 10 So bei Fröschle, Geschichte des deutschen Nationalbewusstseins, 21f.

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Sichtbarer Ausdruck dieses vertieften Nationalgefühls oder -bewusstseins ist im politischen Bereich der Zusatz »Nationis Germanicae« zum »Sacrum Imperium Romanum« im späten 15. Jahrhundert.11 Er ist aufgetaucht zu einem Zeitpunkt, als sich das Reich fast nur noch auf das Gebiet des deutschen Sprachraums erstreckte  : Diese Formulierung findet sich im Landfriedensgesetz Kaiser Friedrich III. aus dem Jahre 1486, der vergrößerte und ab nun immer gebrauchte Titel »Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation« erstmals 1512 in der Präambel des Abschieds des Kölner Reichstags. Er konnte ein Hinweis auf die territoriale Einschränkung, aber auch eine Betonung der Trägerschaft des Reichs durch die deutschen Reichsstände bedeuten, auf ihren Anspruch auf die Verkörperung der Reichsidee.12 Der Begriff »Deutschland« ist jedoch erst im 17. Jahrhundert allgemein gebräuchlich geworden. Nach den Ansätzen dieses nationalen Bewusstseins im Spätmittelalter stellt zweifellos die Renaissance »eine markante Phase in der allgemeinen ideengeschichtlichen Entwicklung des nationalen Gedankens« dar, wie Erich Zöllner bemerkt hat.13 Die der Renaissance entsprechende Reformbewegung des Humanismus, die auf antike oder als antik angesehene Vorstellungen zurückgriff,14 hat vor allem in Italien noch im 15. Jahrhundert den zweifellos berechtigten Stolz auf die Vergangenheit des alten Rom propagiert und ein Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Nationen geweckt, sicher auch bedingt durch einen Komplex, entsprach doch die aktuelle politische Zerrissenheit der Appeninenhalbinsel keineswegs dem Glanz des Imperium Romanum. Den italienischen Intellektuellen galt das Land nördlich der Alpen als »Heimstätte trunksüchtiger und jähzorniger Barbaren, deren minderwertige Sprache den niedrigen Entwicklungsstand dieses Volkes widerspiegelte«.15 Diese zweifellos präpotente Haltung rief bei französischen und vor allem deutschen Humanisten aus dem Gefühl einer vermeintlichen nationalen Unterlegenheit heraus eine Gegenbewegung hervor und man begann nun ebenfalls, die eigene Geschichte zu erforschen. Im deutschen Bereich mag ähnlich wie in Italien die Zersplitterung in zahllose Fürstentümer dafür ausschlaggebend gewesen sein. In dieses Szenario traten schon in der ersten Hälfte des 15. Jahrhundert ausgerechnet italienische Humanisten, die mit der Auffindung einer längst verschollenen Handschrift der »Germania« des Tacitus einen unerhörten Aufschwung des deut11 Zur Entwicklung des Reiches in diesem Zeitraum vgl. etwa A xel Got th a r d, Das Alte Reich 1495– 1806, Darmstadt 2003, oder Ba rba r a Stollberg-R ilinger, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806, München 2013. 12 So das mehr als hundert Jahre alte Urteil von K a rl Zeumer, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Eine Studie über den Reichstitel, Weimar 1910, 26f. 13 Erich Zöllner, Das geschichtliche Bild des Nationalismus, in  : Wissenschaft und Weltbild 1, 1948, 155– 164, hier  : 158f. 14 Dazu etwa Paul Osk a r K risteller, Humanismus und Renaissance, 2 Bde., München 1974–1976. 15 Thom as Lau, Teutschland. Eine Spurensuche 1500 bis 1650, Stuttgart 2010, 17.

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schen Nationalgefühls auslösten.16 Hatte doch Tacitus mit großer Hochachtung von den Germanen gesprochen und vor allem ihre Treue und Tapferkeit gelobt, wenn seine Aussagen zuweilen auch überinterpretiert worden sein mögen. Das Werk des römischen Verfassers aus dem 1. Jahrhundert war im Altertum wenig gewürdigt und auch im Mittelalter nicht sehr geschätzt worden, sodass die »Germania« lange Zeit als unauffindbar galt. Fest steht nur, dass zwischen 820 und 850 in Hersfeld oder Fulda eine Abschrift davon angefertigt worden ist. Erst 1425 haben italienische Gelehrte vom Vorhandensein eines Hersfelder Codex der kleinen Schriften des Tacitus, zu denen die »Germania« gehörte, erfahren, und zwar durch einen Hersfelder Mönch, der auf Verlangen ein Verzeichnis der klösterlichen Handschriften nach Rom geschickt hatte. Es glückte aber den Italienern vorerst nicht, den Codex Hersfeldensis in ihre Hand zu bekommen, 30 Jahre später soll er jedoch von italienischen Gelehrten schon benutzt worden sein, die ihn durch Betrug oder Kauf erworben hätten. Danach wäre die Handschrift wieder verschwunden.17 Dazu wird in der Literatur, etwa bei Kohn18 und Lemberg,19 ein Mann ins Blickfeld gerückt, dem letztendlich diese erste starke Aufwallung des deutschen Nationalgefühls zu verdanken ist  : (Gian Francesco) Poggio Bracciolini, einer der namhaftesten italienischen Humanisten.20 Geboren in Terranuova bei Arezzo – ihm zu Ehren 1862 in Terranuova Bracciolini umbenannt – studierte er in Florenz, um Notar zu werden. Als gut bezahlter Schreiber wirkte er an der römischen Kurie seit Papst Bonifaz IX. bis zum Gegenpapst Johannes XXIII., unter dem er am Konzil von Konstanz teilnahm,21 entgegen einer weitverbreitenden Ansicht jedoch keinen Bericht über die Verurteilung des Jan Hus verfasst hat.22 Nach der Absetzung seines päpstlichen Dienstherrn arbeitslos, nutzte er die Zeit, um in deutschen und französischen Bibliotheken und Klöstern nach antiken Texten zu suchen, deren Existenz zwar be16 Von den vielen Ausgaben sei die zweisprachige, von A rno M auersberger, München 2020, angeführt. 17 Ebd., 21. M auersberger stützt sich auf die Teubner-Ausgabe von E. Koesterm a n n, Leipzig 3. Aufl. 1970. 18 Kohn, Die Idee des Nationalismus, 135ff. 19 Eugen Lemberg, Geschichte des Nationalismus in Europa, Linz 1951, 146ff. 20 Dazu Ernst Wa lcher, Poggius Florentinus. Leben und Werke, Leipzig–Berlin 1914 (Nachdruck  : Hildesheim–New York 1974), und Helene H a rth, Poggio Bracciolini, in  : Lexikon des Mittelalters 7, München 1995, Sp. 38f. Vgl. auch Emilio Bigi – A rm a ndo Petrucci, Bracciolini, Poggio, in  : Alberto M. Ghisalberti (Hg.), Dizionario Biografico degli Italiani 13, Rom 1971. Bracciolini ist übrigens in der deutschen Literatur ein Denkmal gesetzt worden, er ist die Titelfigur in Conrad Ferdinand Meyers Novelle »Plautus im Nonnenkloster«  ! 21 A lex a nder Patschov k y, Der italienische Humanismus auf dem Konstanzer Konzil (1414–1418), Konstanz 1999. 22 Poggio Bracciolini and Johannes Hus  : A Hoax Hard to Kill, in  : Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 19, 1956.

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kannt, ihr Standort aber nicht mehr zu eruieren war. So entdeckte Bracciolini Abschriften unter anderem von Cicero, Vitruv, Quintilian, Lukrez, Petronius und eben auch von Tacitus. Im Jahre 1455 soll er dessen »Germania« im Kloster Hersfeld gefunden haben, wodurch er zum Kontrahenten seiner italienischen Kollegen wurde  : Deren Programm einer quasi Einzigartigkeit italischer Geschichte wurde nun nach und nach in der Publizistik konterkariert. Dem italienischen »Hochmut« wurde zunehmend der deutsche Stolz auf die germanischen Vorvorderen entgegengesetzt. Es entstand ein unkritisches und unwissenschaftliches Geschichtsbewusstsein von einer glänzenden Vergangenheit, das vorerst natürlich nur in einem kleinen Kreis gepflegt wurde. Im nationalen, aber vorerst unpolitischen Überschwang wurde sogar Adam als Germane gefeiert. Die Gleichsetzung von deutsch und gut, fremd und schlecht als Ausdruck dieser Euphorie wurde dann vor allem im 17. Jahrhundert propagandistisch und in einer größeren Breitenwirkung ausgeschlachtet, dann bedingt durch politische und militärische Niederlagen. Die Rezeption der Entdeckung Bracciolinis ist bereits am Hofe Kaiser Friedrich III. festzustellen. In seine Dienste war Anfang 1443 der in der Nähe von Siena geborene Enea Silvio Piccolomini getreten, der als Sekretär des Habsburgers ein Leben als Dichter und ausgesprochener Lebemann führen konnte, aber seit 1458 als Pius II. die päpstliche Tiara trug.23 Er war »auf gewundenen Wegen« in den Besitz des Tacitus-Textes gelangt, zog daraus jedoch andere Schlüsse  : Einerseits pries er sein Gastland in den höchsten Tönen, indem er etwa im Jahre 1457 dem Kanzler des Mainzer Erzbischofs mitteilte, die Deutschen seien zu keinem Zeitpunkt ihrer Geschichte vor allem kulturell so reich gewesen wie jetzt. Deutschland wäre für ihn zwar eine ruhmreiche Nation, aber sie verdanke diese Entwicklung vor allem Rom, »das in selbstloser Missionstätigkeit die tumben Germanen in ein Volk verwandelt hatte, das sich mit den edlen Römern messen könne«, und forderte nichts weniger als die Unterwerfung der Deutschen unter die Hegemonie der großen italienischen Lehrmeister.24 Trotzdem ist Tacitus zu einer unerschöpflichen Quelle für deutsche humanistischpatriotische Literaten geworden. Conrad Celtis,25 Dichter aus dem Umkreis Maximilians I., hat die »Germania« wahrscheinlich durch Piccolomini kennengelernt, jedenfalls gab er bereits 1497 einen deutschen Erstdruck heraus und hielt Vorlesungen darüber an verschiedenen Universitäten. Die eifrige publizistische Tätigkeit deutscher Humanisten sorgte weitum für eine schnelle Verbreitung der Kenntnisse 23 Volk er R einh a r dt, Pius II. Piccolomini. Der Papst, mit dem die Renaissance begann. Eine Biographie, München 2013. 24 Lau, Teutschland, 12ff. 25 Vgl. den Artikel in  : Walter Killy (Hg.), Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, 2. Bd., Gütersloh/München 1991, 395.

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von den germanischen Ahnen. Für seine Rede über Tacitus und sein Werk wurde Heinrich Bebel 1501 von König Maximilian zum »poeta laureatus« ernannt, Jakob Wimpfeling ist 1505 in seinen »Epitome« auf den antiken Autor eingegangen, wie auch Johannes Nauklerus 1516 in seiner eigenen »Germania«.26 Tagespolitisch kämpferischer war dann Ulrich von Hutten,27 der den Kampf gegen Rom zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat, nicht nur in religiöser, sondern zunehmend auch in nationaler Hinsicht. In seinen Schriften, die er ab 1520 endgültig in deutscher Sprache zu schreiben begann, griff er – so in der »Klag und Vermanung gegen den übermässigen Gewalt des Bapsts« – die weltliche Herrschaft des Oberhaupts der Christenheit an und führte der deutschen Nation ein Bild ihrer Zerrissenheit vor Augen. Immer wieder verwies er auf das materielle und moralische Unheil, das seit langem von Rom aus über Deutschland hereingebrochen war. Seine Schlagworte waren etwa »Deutschland geknechtet sehen kann ich nicht« oder »Jetzt schrei ich an das Vaterland, deutsch Nation in ihrer Sprach, zu bringen diesen Dingen Rach[e]  !«28 Ein neuer deutscher, ein »reichischer« Nationalstolz wurde auch durch die Erfindungen und Entdeckungen der westeuropäischen Völker angeregt, man wollte eben in der modernen Entwicklung nicht zurückbleiben. Auch Deutsche konnten in der beginnenden Neuzeit beachtliche naturwissenschaftliche, kulturelle und historiographische Leistungen aufweisen und so zur Vertiefung des Nationalstolzes beitragen. Für einen immer größer werdenden Interessentenkreis wurden die Entdeckungen etwa durch die Astronomen Nikolaus Kopernikus, der heute gerne von den Polen vereinnahmt wird, und Regiomontanus, durch den Begründer der Mineralogie und Metallurgie Georg Agricola sowie durch den Arzt, Botaniker und Chemiker Paracelsus publiziert. Deutsche erfanden in diesem Zeitraum den Buchdruck durch Johannes Gutenberg, die Taschenuhr durch den Nürnberger Peter Henlein, international berühmte Künstler wie Dürer, Grünewald, Altdorfer, Cranach und Holbein, Riemenschneider, Krafft, Vischer und Stoß begründeten den Ruf einer deutschen Kulturnation und hoben damit ebenfalls das nationale Selbstbewusstsein der Deutschen. Durch die Berufung der deutschen Humanisten auf die ehrenwerten und tapferen Vorfahren wurde auch in aktuelle politische Streitfragen eingegriffen, wobei immer mehr der westliche Nachbar Frankreich ins Visier geriet und die Bezeichnung »welsch« zunehmend eine Bedeutungsverschlechterung erfuhr. In Diskussionen um die Westgrenze oder um die nationale Zuordnung Karls des Großen wurden besonders Autoren aus dem oberrheinischen Gebiet und aus Straßburg aktiv  : Wimpfeling, Sebastian Brant und Geiler von Kaisersberg. Historiker betrieben fundierte Quel26 Fröschle, Geschichte des deutschen Nationalbewusstseins, 24. 27 Vgl. Gü nter Scholz (Hg.), Ulrich von Hutten. Glanzvoller Humanist, gescheiterter Reichsreformer, Böblingen 1989 (Ausstellungskatalog). 28 Zitiert bei Fröschle, Geschichte des deutschen Nationalbewusstseins, 25.

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lenstudien und -kritik, wie die Arbeiten von Beatus Rhenanus (»Rerum Germanicorum libri tres«) und Celtis (»Norumberga«) unter Beweis stellen, und in Augsburg und Nürnberg sammelten Conrad Peutinger (»Tabula Peutingeriana«) und Willibald Pirkheimer Material für geographische, geologische, genealogische und geistesgeschichtliche Forschungen.29 Auch in der hohen Politik sind zu dieser Zeit immer mehr Anzeichen eines »Reichs­patriotismus« festzustellen,30 im Umkreis Maximilians I. finden sich derartige Formulierungen, die sich immer mehr gegen Rom, die aufsteigende Macht Frankreichs im Kampf um das burgundische Erbe und gegen die Bedrohung durch die Osmanen gerichtet haben.31 In diesem Sinne muss auch der Plan Maximilians zu einem Reichsregiment verstanden werden, einer Behörde, zu der kein anderer zugelassen sein sollte als der, »der rechter deutscher Nacion herkomen und geborn sei«. Im Kampf um die Nachfolge des Kaisers überboten sich im Jahre 1519 die beiden Kandidaten mit Äußerungen ihrer angeblich nationaldeutschen Überzeugung, die die Kurfürsten beeindrucken sollten  : Der Habsburger Karl, der unter 32 Ahnen nur vier Deutsche aufzuweisen hatte, versicherte treuherzig, »das wir ain Teutscher von Gebluet und Gemuet, von Gepurt und Zungen sein«, und auch Franz I. von Frankreich versuchte, propagandistisch berechnend und auf die Empfänglichkeit deutschen Nationalgefühls zählend, seine angeblich deutsche Herkunft unter Beweis zu stellen  : Die französischen Könige und ihre Untertanen hätten »ihren Ursprung […] aus teutschen Landen von dem Ort genant Franckfordt, daher auch die Franzosen, zuvor Galli genant, itzo Franci heißen«.32 Wobei wohl der damals diskutierte Ahnherr Karl der Große mitgespielt haben mag, der jedoch seinem französischen Ableger nicht zum Sieg verhalf. Die Rolle Martin Luthers und seiner Reformation im Hinblick auf eine Vertiefung des nationalen Gedankens ist unterschiedlich beurteilt worden. Sie hätte diesbezügliche Erwartungen weitaus weniger erfüllt, als man annehmen möchte,33 Luthers Schriften gegen den Papst hätten in erster Linie dem religiösen Oberhaupt gegolten und nur ganz peripher dem »Walschen«.34 Nun sind aber gerade von evangelischer Seite im politischen Kampf um ihre reichsrechtliche Anerkennung mitunter recht 29 Ebd., 26. 30 Dieser Begriff wurde vor allem für das 17. Jahrhundert geprägt durch A da m Wa ndruszk a, Reichspatriotismus und Reichspolitik zur Zeit des Prager Friedens 1635, Wien 1955. 31 Kohn, Die Idee des Nationalismus, 134. 32 K a rl Got tfried Hugelm a n n, Stämme, Nation und Nationalstaat im deutschen Mittelalter, Würzburg 1955, 425. 33 So bei Zöllner, Das geschichtliche Bild des Nationalismus, 159. Vgl. die ältere Arbeit von Paul Joachimsen, Vom deutschen Volk zum deutschen Staat. Eine Geschichte des deutschen Nationalbewusstseins, in  : Aus Natur und Geisteswelt 511, Leipzig–Berlin 1916, 33ff. 34 Kohn, Die Idee des Nationalismus, 138.

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nationalbetonte Äußerungen gegen Karl V. gefallen  : In einem Kampflied nach dem Schmalkaldischen Krieg wird sehr wohl gegen die Romanen opponiert und »kein Walch soll uns regieren, dazu auch kein Spaniol« gefordert  !35 Solche antiromanischen Parolen sind damals weit verbreitet gewesen, wenn man an die ständische Opposition gegen den Günstling Ferdinands I., den Spanier Gabriel von Salamanca, denkt, der gar für einen getauften Juden gehalten wurde, zumindest aber für einen ungeliebten Landfremden. Es war eben ein Zeitalter, »das allem Welschen so tiefen Hass entgegenbrachte«.36 Luthers epochale Leistung, die Bibelübersetzung, hatte nach Ansicht älterer Forschungen einen großen, wenn auch nur indirekten Einfluss auf das Werden eines deutschen Nationalgefühls.37 Das 1522 gedruckte Neue Testament brachte nach dieser Wertung zwar eine Vertiefung und Verbreiterung der Nationalsprache, wäre aber in erster Linie konfessionell motiviert gewesen. Vermutlich haben aber die protestantischen Regionen, in denen das Wort Gottes in der Volkssprache verkündet wurde, doch einen Vorsprung gegenüber den altkirchlichen Ländern gehabt, die Bibelübersetzung besaß demnach »eine hohe normierende Kraft, wie im Fall des sächsisch-meißnischen Dialekts, den Luther gesprochen hatte, der von späteren Grammatikern und Sprachgesellschaften bei ihren Bemühungen um eine einheitliche deutsche Schriftsprache zugrunde gelegt wurde und daher bei den Gebildeten in den deutschsprachigen Gebieten das größte Prestige besaß«.38 Luthers von dogmatischen Einflüssen gereinigtes Evangelium breitete sich rasch über ganz Deutschland aus und beeinflusste in der sprachlichen Form den allgemeinen Sprachgebrauch der Deutschen.39 Auch die deutschen Predigten und die Flugschriftenliteratur der Protestanten haben dazu beigetragen, was letztendlich das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen gleicher Zunge gestärkt hat. Die deutsche Sprache als Bindeglied ist demnach ein nicht zu unterschätzender Faktor bei der Vertiefung des Nationalgefühls gewesen. Luther wurde für die Protestanten klarerweise zu einer Art von Heldenfigur, die vor allem in den konfessionell umkämpften Gebieten ein »deutschnational« gefärbtes Gemeinschaftsgefühl bewirkt hat, wie dies etwa für die österreichischen Länder und speziell für das Land ob der Enns nachzuweisen ist.40 Auch ein Mitstreiter Lu35 Joachimsen, Vom deutschen Volk zum deutschen Staat, 37. 36 A lphons Lhotsk y, Das Zeitalter des Hauses Österreich. Die ersten Jahre der Regierung Ferdinands I. in Österreich (1520–1527), Wien 1971, 137. 37 So u. a. Kohn, Die Idee des Nationalismus, 138. 38 H agen Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 2. Aufl. 1994, 174. 39 Fröschle, Geschichte des deutschen Nationalbewusstseins, 27. 40 So in der Arbeit von Wolfga ng Jellinek, Oberösterreich – eine kulturgeschichtliche Kraftquelle, in  : Walter Jambor (Hg.), Der Anteil der Bundesländer an der Nationswerdung Österreichs, Wien–München 1971, 199.

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thers, Philipp Melanchton, formulierte diese Tendenz mit den Worten  : »Da nämlich nichts süßer ist als das Vaterland, wie Homer sagt, ist es sehr förderlich, die Vergangenheit und die alten Denkmäler des Vaterlandes kennen zu lernen«. Auch er schrieb einen Kommentar zur »Germania« des Tacitus und pries darin die Vorfahren der Deutschen, weil sie keine Knechtschaft ertrugen, der Grausamkeit, den sinnlichen Leidenschaften und der Tyrannei feindlich waren,41 negative Eigenschaften, die man im Glaubensstreit den Katholiken immer wieder vorwarf. Nach einem längeren Zeitraum ohne besondere Regungen eines deutschen Nationalgefühls kam es erst unter dem Eindruck des Dreißigjährigen Krieges wieder zu kräftigen Formulierungen eines nationalbewussten Reichspatriotismus. Hans Kohn hat dazu ganz allgemein bemerkt, dass das 17. Jahrhundert ein Zeitalter ist, »in dem die weltliche und raumgrenzende Idee des Nationalismus vorherrschend wird«.42 Einem starken Wandel war vor allem der Begriff des Vaterlands unterworfen. Hatte man bisher, befangen im jahrhundertealten lokalen Sonderbewusstsein, einen außerhalb des engeren Landes geborenen Untertan desselben Landesfürsten als Ausländer bezeichnet – etwa den Märker in Preußen oder den Steirer in Tirol –, so wurde jetzt der Begriff des engeren Heimatlands überhöht vom viel häufiger gebrauchten Begriff des »gemeinen Vaterlands«, des »geliebten Vaterlands deutscher Nation«.43 »Teutschland« erfuhr jetzt endgültig die Ausbildung zur Nation,44 auch wenn die Einigung zu einem Gesamtstaat erst im 19. Jahrhundert gelang. Sichtbarer Ausdruck des mit neuen Inhalten versehenen deutschen Nationalgefühls ist ein Schreiben des sächsischen Kurfürsten Johann Georg I. an die in schwedischen Diensten stehenden deutschen Offiziere vom 20. September 1635, in dem schon die Idee eines »Deutschland über alles« angeklungen ist. Der Sachse meinte, die Offiziere sollten sich aus Liebe zu ihrem Vaterland der höchsten Pflicht erinnern, »welche einem jeden in die Natur gepflanzet und er daraus Ehr und Gewissens halber verbunden ist, seines eignen Vaterlandes Hochheit, Wohlstand und Beruhigung allem andern, was in der Welt sein mag, vorzuziehen«.45 Das Vaterland sollte den Deutschen persönlich über allem in der Welt stehen, also nicht über anderen Völkern, wie das bis in die Gegenwart von gewissen Kreisen – auch im Zusammenhang mit der deutschen Nationalhymne heute in der Bundesrepublik Deutschland – unterstellt wird. 41 Fröschle, Geschichte des deutschen Nationalbewusstseins, 24. 42 Kohn, Die Idee des Nationalismus, 179. 43 A da m Wa ndruszk a, Vom Begriff des »Vaterlandes« in der Politik des Dreißigjährigen Krieges, in  : Hans Ulrich Rudolf (Hg.), Der Dreißigjährige Krieg. Perspektiven und Strukturen, Darmstadt 1977, 175– 184, hier  : 177. 44 Dazu vor allem Lau, Teutschland, passim. 45 Wa ndruszk a, Vom Begriff des Vaterlandes in der Politik des Dreißigjährigen Krieges, 179 (aus den Friedensakten der Reichskanzlei, HHStA, Fasz. 13b).

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Das nationale Motiv wurde in dieser Zeit von den meisten Reichsfürsten in den Vordergrund gerückt. So versicherte etwa im Erzstift Salzburg der Landesherr Markus Sittikus von Hohenems im Kontext des geforderten Beitritts zur katholischen »Liga«, »das mein Intention in diesem Werkh teutsch, aufrecht und guet ist«, und brachte damit die übliche Synonymie der Begriffe deutsch, ehrlich, aufrichtig, tapfer usw. zum Ausdruck. Auch sein Nachfolger Paris Graf Lodron sprach vom Römischdeutschen Reich als »unserem geliebten Vaterland«, das es für ihn ungeachtet seiner »welschen« Herkunft tatsächlich bedeutete.46 Es kam zu einer allgemeinen Wiederbelebung deutsch-patriotischer Formulierungen des 16. Jahrhunderts – schon im Augsburger Religionsfrieden von 1555 hatte man »Ehre, Nutz und Wohlfahrt« für das Heilige Reich, das »geliebte Vaterland teutscher Nation« beschworen –, und diese stehenden Formeln wurden in den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts, bedingt durch die Dauer des Krieges und die Gräuel der Soldateska, in der kaiserlichen wie in den landesfürstlichen Kanzleien als Stereotype verwendet. Immer wieder sprach man von diesem geliebten Vaterland deutscher Nation, vom »alten deutschen Vertrauen«, der »teutschen Redlichkeit«, vom »teutschen und aufrichtigen Gemüth« usw. Dieser propagandistischen Parolen, die das gesteigerte nationale Empfinden zum Ausdruck brachten, bediente sich das Haus Habsburg bzw. Haus Österreich in der Hoffnung, damit eine Aufwertung des Kaisertums zu erreichen. Die emotionale Begeisterung zeigte sich auch im Herbst 1634 in einem Schriftstück der Reichskanzlei, es »sollte ja jedwedern getreuen Patrioten des Vaterlands tiefst zu Herzen gehen der elende betrübte Zuestand desselben«, und bei den Verhandlungen zum Prager Frieden von 1635 warfen die kaiserlichen Unterhändler der gegnerischen Seite vor, dass sie »sich gar zu Vasallen der Cron Schweden und Frankreich gemacht« und »das Reich, ihr Vaterland, der werten deutschen Nation mit unauslöschlichem Spott desselben fast in eine überzwungene Provinz der frembden, ausländischen Nationen« verwandelt hätten. Es würde nun ein Frieden geschlossen »zur längst gewünschten Beruhigung des lieben Vaterlands teutscher Nation«, getragen von einer Gesinnung »teutscher Ehrbar- und Aufrichtigkeit« und zur Wiederherstellung des »alten guten aufrechten teutschen Vertrauens«.47 Derartige Topoi hielten sich sehr lange, noch Friedrich Wilhelm I. von BrandenburgPreußen (1713–1740) wird eine, wahrscheinlich von einem seiner Berater verfasste Flugschrift zugeschrieben, in der er sich als einen »ehrlichen Deutschen« bezeichnet, dem sein Vaterland lieb und wert ist, und jeden Landsmann auffordert, die Ehre des deutschen Namens zu verteidigen. Sein markiger Schlusssatz »Bedenke, daß Du ein 46 R einh a r d Rudolf Heinisch, Patriotismus und Nationalismus in den österreichischen Ländern im konfessionellen Zeitalter und im Hochbarock (1521–1713), in  : Erich Zöllner (Hg.), Volk, Land und Staat. Landesbewußtsein, Staatsidee und nationale Fragen in der Geschichte Österreichs, Wien 1984, 34. 47 Ebd., 34f.

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Deutscher bist«48 wurde später immer wieder zitiert, sogar von Maria Theresia in einem Schreiben an die nach Neapel verheiratete Tochter Maria Josepha  : »Vergiss niemals, dass Du als Deutsche geboren bist«.49 Es muss nicht extra betont werden, dass derartiges Vokabular mit seinen mehr oder weniger starken Vorbehalten und Vorurteilen auch bei anderen Völkern festzustellen ist, in der Habsburger Monarchie vor allem bei Tschechen und Ungarn.50 Ein Spezifikum der Menschheit im Allgemeinen und der Deutschen im Besonderen scheint der Trieb zu sein, Fremdes nachzuahmen, ja nachzuäffen. Auch in den nationalbetonten Perioden unserer Betrachtung müssen sich immer wieder intellektuelle und kulturelle Kreise mit der allzu willigen Aufnahme ausländischer Normen auseinandersetzen, zumeist unter dem Eindruck politischer und militärischer Überlegenheit von Gegnern des Reiches. Schon 1529 war gewarnt worden  : »Es reißen itzunt ein welsche, hispanische und französische Kleidung. Und ist zu besorgen, es werden auch welsche, hispanische und französische Herzen und Gemüter  !«51 Zur Bekämpfung dieser als Überfremdung verstandenen Entwicklung bildeten sich im Umfeld des großen Krieges von Adeligen und Bürgern gegründete Gesellschaften zur Pflege und Erhaltung der deutschen Sprache, die mit Fremdwörtern überschwemmt zu werden drohte – Parallelen zur Gegenwart sind rein zufällig  ! Aufgabe der Publizistik wurde die Abwehr des vielbeschworenen »Alamode-(Un)wesens«. Aus diesen durchaus national gefühlten Motiven heraus kam es schon 1617 zur Gründung der sogenannten »Fruchtbringenden Gesellschaft« durch Ludwig von Anhalt-Köthen mit den bekannten Mitgliedern Johann Michael Moscherosch, Martin Opitz und Friedrich von Logau. Es gab einen Heidelberger und einen Königsberger Kreis, eine »Deutschgesinnte Genossenschaft«, alle mit denselben Zielsetzungen in der dunkelsten Zeit der Reichsgeschichte. Ein Kaplan Ellinger formulierte im Jahre 1630  : »Der eine geht französisch, alamodisch wie ein rechter Pantalon, der andere italienisch, der dritte spanisch, der vierte halb und halb, wie man die Hunde schiert«, und von Moscherosch stammt ein Spott-Flugblatt von 1643 gegen den deutschen Michel mit der Sorge »Alamode macht mir bang, weil der Teutschen Untergang«. Auch Grimmelshausen polemisierte in einem Flugblatt gegen die »Vaterlands- und Muttersprachverächter«, Andreas Gryphius ließ in einem Lustspiel den Sprachmischmasch mit sogar hebräischen Brocken ironisieren, und Friedrich von Logau dichtete ein Epigramm »Soll denn sein, daß Frankreich Herr, Deutschland aber Diener sei  ? Freies Deutschland, schäm Dich doch dieser schnöden Kriecherei«. Es erschienen Wörterbücher mit Vorschlä48 Fröschle, Geschichte des deutschen Nationalbewusstseins, 37. 49 Wiltschegg, Österreich, 48. 50 Heinisch, Patriotismus und Nationalismus, 36ff. 51 Zu den folgenden Ausführungen Fröschle, Geschichte des deutschen Nationalbewusstseins, 33ff.

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gen für die Übersetzung der Flut von modischen Fremdwörtern, wobei es zu oft kuriosen und lächerlichen Neuschöpfungen kam. Ernsthafter war das 1624 erschienene »Buch von der deutschen Poeterey« von Martin Opitz, mit dem er die Ebenbürtigkeit der deutschen Sprache unter Beweis stellen wollte. Es entstanden gerade in der Barockzeit zahlreiche Dichtungen, die das Deutsche gesellschaftsfähig machen sollten  ; erwähnt seien hier die Namen Paul Gerhardt, Paul Fleming und auch Hans Jakob von Grimmelshausen mit seinem »Simplicissimus«, ein erschütterndes Dokument der schrecklichen Zeit, die mit der deutschen Niederlage im Westfälischen Frieden von 1648 noch nicht zu Ende war.52 Die historische Forschung stellt fest  : »Das Jahr 1648 ist eines der großen Katastrophenjahre unserer Geschichte, […] der Frieden bedeutete für unser Volk ein nationales Unglück«.53 In dieser Zeit nach 1648 mit der politisch-kulturellen Hegemonie Frankreichs, in der das Reich aus über 300 jetzt völlig souveränen Fürstentümern bestand, mit einem Reichstag, der bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation keinen Beschluss mehr fassen konnte, war der kämpferische Reichspatriotismus, das deutsche Nationalgefühl, in den Hintergrund gedrängt worden und hatte anderen Sorgen Platz gemacht. Für lange Zeit musste man sich mit der Monopolstellung der französischen Sprache und Kultur abfinden, die von vielen als »chic« empfunden wurde. Natürlich ist in den neuzeitlichen Jahrhunderten das deutsche Nationalgefühl zeitweilig überspitzt und nationalistisch propagiert worden, oft aber als Reaktion auf echte oder vermeintliche Angriffe gegen Volk und Reich, sei es von außen oder von innen im Sinne der oft zitierten »deutschen Zwietracht«. Aber auch andere Völker haben derartige Parolen gebraucht, wie etwa im England des 17. Jahrhunderts  : John Milton, der Autor des bekannten »Paradise lost«, setzte als Sekretär von Oliver Cromwell das Schlagwort »We are God’s own people« in die Welt  ; ein Schlagwort, das die anglikanische Kirche als Nationalkirche schon im ausgehenden 16. Jahrhundert im Sinne des englischen Nationalbewusstseins mit der Vorstellung vom »auserwählten Volk« geprägt hatte.54 Wie ernst diese Parole gemeint war, hat die Geschichte »Albions« bis ins 20. Jahrhundert bestätigt. Dem gegenüber scheinen die Ursprünge des deutschen Nationalgefühls bei aller Emotionalität keineswegs anormal oder extrem verlaufen zu sein. Die heute gängigen Klischees auch der Historiker wären also durchaus zu korrigieren.

52 Ebd., vgl. auch Lau, Teutschland, 22f. 53 Fritz Dick m a n n, Der Westfälische Frieden, Münster 2. Aufl. 1965, 494. 54 So bei Wa lter Pl atzhoff, Geschichte des europäischen Staatensystems 1559–1660, München–Berlin 1928, 42 und 236.

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Schwedische Spuren in Wien Vermutlich kommt einem zuerst der Dreißigjährige Krieg in den Sinn, wenn man an Schweden und Österreich denkt, aber es gibt noch viele andere schwedische Erinnerungen in Wien, von denen ich hier einige vorstellen möchte. Der erste bekannte Schwede, der in Wien wohnte, dürfte der gelehrte Bero Magni de Ludosia gewesen sein. Er soll im Jahr 1429 nach Wien gekommen sein und etwa 30 Jahre an der philosophischen Fakultät in Wien gelehrt haben. Als er 1465 starb, war er auch Kanoniker (Canonicus) von St. Stephan.1 Im Dreißigjährigen Krieg standen einander Schweden und Kaiserliche als Feinde gegenüber. Zwar hatte Gustav II. Adolf vor seinem Tod in Lützen 1632 wahrscheinlich vom Erwerb der Kaiserkrone geträumt, aber weder ihm noch einem der anderen schwedischen Feldherren gelang die Eroberung der kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt Wien. Sucht man in Wien nach Spuren aus dem Dreißigjährigen Krieg, so findet man etwa die sogenannte Brigittenau, den 20. Wiener Gemeinde-Bezirk, der nach der schwedischen Heiligen Birgitta2 benannt ist. In dem Bezirk steht die 1874 gebaute Brigittakirche. Der Bezirk soll seinen Namen von einem Ereignis aus dem Jahr 1645 bekommen haben. Der schwedische Heerführer Lennart Torstensson3 und die Schweden drohten Wien zu besetzen. Erzherzog Leopold Wilhelm soll in seinem Zelt kniend ein Gebet an die Heilige Birgitta ausgesprochen haben, als eine 1 https://sok.riksarkivet.se/sbl/Presentation.aspx?id=18102 [28.10.2021]. 2 Birgitta Birgersdotter, 1303 oder 1302 in Schweden geboren, 1373 in Rom verstorben). Mit 13 Jahren heiratet Birgitta Ulf Gudmarson. Die Ehe brachte acht Kinder hervor, eines davon war Tochter Katarina, die für das Kloster Vadstena (Provinz Östergötland) eine große Bedeutung hatte. Birgitta und ihr Mann Ulf unternahmen in den Jahren 1339 bis 1344 Pilgerreisen nach Nidaros in Norwegen und Santiago de Compostela in Spanien. Kurz danach starb Ulf, woraufhin Birgitta in der Nähe des Zisterzienserklosters Alvastra wohnte. Hier bekam sie mehrere Offenbarungen und beabsichtigte, ein Kloster zu gründen. König Magnus Eriksson Ladulås und Königin Blanka spendeten den Königshof in Vadstena. Im Jahr 1349 ging Birgitta nach Rom, um dort von Papst Clemens VI. aus Avignon eine Genehmigung für die Zulassung ihres Ordens zu erbitten. Erst im Jahr 1370 genehmigt Papst Urban V. Birgittas Ordensregel. Drei Jahre später starb sie in Rom. Sie ist aber in Vadstena begraben. Im Jahr 1391 wurde sie von Papst Bonifacius IX. heiliggesprochen und im Jahr 1999 zur Schutzheiligen Europas ernannt. Vgl. Gü nther Schiw y, Birgitta von Schweden. Mystikerin und Visionärin des späten Mittelalters. Eine Biographie, München 2003  ; Dick H a rrisson, Heliga Birgitta, Lund 2021  ; https:// www.svenskakyrkan.se/vadstena/heliga-birgitta [28.10.2021]. 3 Lennart Torstensson (1603–1651), schwedischer Graf und Feldmarschall.

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schwedische Kanonenkugel durch das Zelt kam. Der Legende nach soll die Heilige Birgitta die Kugel gelenkt haben, sodass Leopold Wilhelm nicht verletzt wurde. In der Kuppel der Brigitta-Kapelle, die ebenfalls im 20. Bezirk steht, ist diese Legende als Fresco abgebildet. Erwähnenswert ist auch, dass nicht weit von der Wolfsschanze, einem Befestigungswerk am linken Donauufer in der Wolfsau, die 1645 den Schweden unter Lennart Torstensson preisgegeben werden musste, und von wo die oben genannte Kugel vermutlich abgefeuert wurde, in der Florisdorfer Hauptstraße 6–8, der Dag-Hammarskjöld-Hof4 liegt, wo es auch eine Gedenktafel für ihn gibt.5 Man könnte auch meinen, die in Österreich sehr beliebten »Schwedenbombe« hätte etwas mit dem Dreißigjährigen Krieg zu tun. Dies ist aber nicht der Fall. Der Konditor Walter Niemetz und seine Frau kreierten diese Süßigkeit im Jahr 1926 mithilfe eines schwedischen Freundes. Als Dankeschön erhielt sie den Namen Schwedenbombe.6 Der Künstler Martin van Meytens (1695–1770) ist in Schweden nicht allzu bekannt. Er wurde aber am 16. Juni 1695 in Stockholm geboren und erhielt seine erste Ausbildung in der Malerei von seinem Vater. Mit 19 Jahren verließ er Schweden, um in den Niederlanden und England zu studieren. Als er 1729 oder 1730 nach Wien kam, malte er die kaiserliche Familie. Da diese von seinen Gemälden angetan war, wurde er zum Kammermaler ernannt. Kurz danach, in den Jahren 1730/31, besuchte er seine Eltern in Schweden. Auch in Schweden bekam er vom Hof Aufträge und malte Portraits von König Fredrik I. und Königin Ulrika Eleonora. Van Meytens malte während seines Schwedenaufenthalts auch andere Gemälde, die heute beispielsweise im Schloss Gripsholm und im Kunstmuseum in Göteborg ausgestellt sind. Den Höhepunkt seines Schaffens erlangte er während der Zeit Maria Theresias, was sich auch in der Ernennung zum Direktor der Wiener Kunstakademie 1759 zeigte.7 Als er 1770 in Wien starb, wurde er in der damaligen Schwarzspanierkirche im 9. Wiener Gemeindebezirk begraben.8 In Schweden wurde die Zeit von 1719 bis 1772 die »Freiheitszeit« genannt, weil sich die Reichsstände von der autokratischen Monarchie befreiten. Diese Zeit endete, als König Gustav III. mit einem Putsch die Macht ergriff. Dieser wurde nicht wirklich geschätzt, und am 16. März 1792 wurde er bei einem Maskenball von Jakob 4 Dag Hammarskjöld (1905–1961) war von 1953 bis zu seinem Tod UN-Generalsekretär. Er erhielt posthum den Friedensnobelpreis. 5 Ca rl-Uno Sjöblom, Sverigeminnen i Österrike [Schwedenerinnerungen in Österreich], Stockholm 1988, ohne Seite. 6 Ebd. 7 Martin Meytens, van, https://sok.riksarkivet.se/sbl/artikel/9338, Svenskt biografiskt lexikon (Artikel von Görel Cavalli-Björkman) [6.10.2021]. Vgl. auch Birgit ta Lisholm, Martin van Meytens d.y., Göteborg 1974. 8 Sjöblom, Svenskminnen i Österrike.

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Johan Anckarström durch einen Schuss in den unteren Teil des Rückens schwer verletzt. Zwei Wochen später starb er an einer Blutvergiftung. Sein Sohn, Gustav IV. Adolf, wurde 1809 nach einem Putsch abgesetzt, nachdem er Finnland verloren hatte. Neuer schwedischer Kronprinz wurde 1809 der dänische Prinz Karl August, er erlitt aber einen Schlaganfall und starb 1810. Auf Wunsch der Schweden wurde der französische Marschall Jean Baptiste Bernadotte (1763–1844) noch im selben Jahr schwedischer Kronprinz. Bernadotte, der von Napoleon am 12. Januar 1798 zum französischen Gesandten in Wien ernannt worden war, wäre gerne Oberbefehlshaber der Italienarmee geworden. Dies goutierte allerdings Napoleon nicht, denn er erhoffte sich, Bernadotte werde mit den Österreichern ein gutes Einvernehmen herstellen. Am 8. Februar kam Bernadotte in Wien an. Mit den Bürgerlichen soll er gut ausgekommen sein. Nicht so gut erging es ihm mit den Aristokraten. So soll er Schwierigkeiten gehabt haben, ein Gebäude für die Botschaft zu finden. Schließlich erhielt er aber die Möglichkeit, das Palais Geymüller in der Wallnerstraße 8 im 1. Wiener Gemeindebezirk zu mieten. Bei den Habsburgern stieß Bernadotte auf Ablehnung, der Umgang mit ihm und seinem französischen Gefolge verlief nicht konfliktfrei. Diese sollen sich sehr provokativ verhalten haben. Höhepunkt der Provokation war der 13. April 1798, als Bernadotte eine französische Fahne vom Balkon des Palais herabhängen ließ. Die Fahnenstange war in den Farben der Trikolore bemalt. Es kam zu einem Chaos, da die Leute offenbar glaubten, es handle sich um eine Freiheitsdemonstration, und dagegen protestierten. Bernadotte verließ Wien am 15. April nach 66 Tagen Aufenthalt. Seine diplomatische Tätigkeit in Wien war weder lang noch erfolgreich gewesen.9 An den Sohn des oben genannten schwedischen Königs Gustav IV. Adolf und der Königin Fredrika von Baden, Prinz Gustav (1799–1877), gibt es in Wien einige Erinnerungen. Im 9. Bezirk befindet sich etwa die Wasagasse, die nach ihm benannt ist. Der Prinz wohnte dort im Haus Nr. 12 in seinen letzten Lebensjahren. Gustav IV. Adolf war ja, wie bereits erwähnt, im Jahr 1809 abgesetzt und die Familie aus Schweden vertrieben worden. Sie hatten Zuflucht in Baden genommen, der Heimat der Königin Fredrika. Fredrika und die Kinder zogen zu den Großeltern nach Karlsruhe. Gustav, der sich Oberst Gustafsson nannte, verließ die Familie und begab sich in die Schweiz. Sein ältester Sohn, Prinz Gustav, suchte 1823 beim Kaiser um Aufnahme in die kaiserliche Armee an und erhielt später ein eigenes Regiment, das Kaiserlich königliche Infanterieregiment Prinz Wasa Nr. 60. Einer von seinen Untergebenen war Napoleons Sohn, der Herzog von Reichstadt. Am 5. Mai 1829 verlieh Kaiser Franz II. Gustav offiziell einen neuen Titel  : Gustav Prinz von Wasa.10 Zwischen  9 Vgl. M a rga reta Beck m a n, Jean Baptiste Bernadotte, Stockholm 2003, 88ff. 10 H a r a ld Hultm a n, Prinsen av Vasa  : den siste gustavianen [Der Prinz von Vasa  : der letzte Gustavian], Stockholm, 1974, 153.

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1825 und 1833 mietete Prinz Gustav das Palais Auersperg in der Auerspergstraße 1 im 8. Wiener Gemeindebezirk, wo er zuerst allein, dann mit seinen Schwestern und schließlich mit seiner Frau, Luise von Baden, wohnte. Da ihr die kaiserliche Familie nahestand, waren oft Mitglieder derselben bei ihnen zu Besuch. Es gab auch das Gerücht, dass Erzherzogin Sofie und Prinz Gustav ein Verhältnis gehabt hätten. Es ging so weit, dass man ihre Söhne Franz Joseph und Maximilian als die »Wasabuben« bezeichnete. Beweise dafür gibt es aber keine. Vom Palais Auersperg zog die Familie Wasa im Jahr 1833 ins Palais Modena in der Herrengasse 7 im 1. Wiener Gemeindebezirk um. Prinz Gustav und Prinzessin Luise verbrachten einige Sommer in Schönbrunn, genauer gesagt im sogenannten »Kaiserstöckl«. Der Sommer 1833 war ihr letzter Sommer dort, denn Prinz Gustav hatte gerade das Schloss Hacking im 13. Wiener Gemeindebezirk gekauft. Bevor sie Schönbrunn verließen, wurde ihre Tochter Karola dort am 5. August 1833 geboren.11 Die Söhne der Erzherzogin Sofie kamen oft auf Besuch ins Palais Modena und wurden zu Spielkameraden Karolas. Im Schlösschen in Hacking verbrachte die Familie mehrere Sommer und für Prinz Gustavs Schwester Amalia wurde Hacking ein wichtiger Ort.12 Die Ehe zwischen Gustav und Louise war nicht glücklich, daher ließen sie sich im Jahr 1843 scheiden. Die gemeinsame Tochter Karola heiratete 1853 Albert von Sachsen und wurde 1873 Königin von Sachsen. Um heiraten zu können, konvertierte Karola 1852 zum Katholizismus. Es wird von ihr gesagt, dass sie eine sehr hübsche Frau gewesen sei  ; sowohl Napoleon III. als auch Franz Joseph sollen von ihr geschwärmt haben.13 Die letzten Jahre seines Lebens lebte Prinz Gustav, wie bereits erwähnt, in einer Wohnung im 9. Bezirk, in der heutigen Wasagasse. Er verbrachte aber nicht so viel Zeit dort, sondern reiste oder hielt sich im Schloss Hacking auf. Am 5. August 1877 starb er in Pillnitz in Sachsen, beim Besuch seiner Tochter. Viele seiner Gegenstände, die seine Tochter geerbt hatte, kamen nach Dresden und wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Aus der Vasabibliothek fanden aber einige Bände ihren Weg nach Schweden. Heute kann man etwa 20 davon in der Königlichen Bibliothek in Stockholm finden.14 Der Kaiser-Ferdinand-Platz im 1. Wiener Gemeindebezirk erhielt gemäß Beschluss in einer Stadtratssitzung vom 6. November 1919 den Namen »Schwedenplatz«. Nach dem Ersten Weltkrieg waren schwedische Hilfsorganisationen in Wien tätig. Sie organisierten nicht nur die Ausspeisung der unterernährten Wiener Kinder, sondern auch deren Transport zu Pflegeeltern nach Schweden. Schon im Mai 1919 11 Hultm a n, Prinsen av Vasa, 173. 12 Ebd., 175f. 13 Ebd., 228. 14 Ebd., 265  ; vgl. Ull a Ehrensvä r d, Vasasamlingen [Die Vasasammlung], Stockholm 1984.

Schwedische Spuren in Wien

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kamen die ersten österreichischen Kinder in Schweden an. Der Aufenthalt eines Kindes dauerte normalerweise drei bis vier Monate. Die Kinder kamen nach Schweden, um dort Kräfte zu sammeln und durch nahrhaftes Essen wieder Gewicht zuzulegen. Die Gewichtszunahme der Kinder wurde genau beobachtet und es wurde als ein Zeichen der schwedischen Gastfreundlichkeit gesehen, wenn die Kinder viele Kilogramm zunahmen. Laut Berichten des Roten Kreuzes waren das normalerweise 4 bis 6 Kilogramm. Einige nahmen sogar 10 bis 12, ein Mädchen sogar 16 Kilogramm zu. Das Schwedische Rote Kreuz (SRK) war stolz auf diese Aktion. Neben dem Schwedischen Roten Kreuz verteilte auch die schwedische Organisation »Rettet das Kind« (SRB) Kleider und Essen. Das Schwedische Rote Kreuz hatte zwölf Säle in der Hofburg zur Verfügung. Man hatte auch Geld für den schwedischen Pavillon im Spital in Grimmenstein gesammelt, wo Kinder mit Beintuberkulose gepflegt wurden. Die neu gegründete Republik Österreich wollte seinen Helfern auf eine effektive, aber günstige Weise danken. So erhielt der Schwedenplatz seinen Namen.15 Übrigens kam auch das Koller Gustav Adolfs im Juni 1920 als Geschenk nach Schweden. Nach dem Zweiten Weltkrieg versorgt die schwedische Organisation »Rettet das Kind« erneut Wiener Kindern zwischen 3 und 6 Jahren mit Suppe.16 Ende 1945 wurde beschlossen, dass Schweden eine Hilfsorganisation nach Wien schicke. Der schwedische Arzt Torsten Arnéus stellte nahrhafte Suppenrezepte zusammen, die den unterernährten Kindern helfen sollten. Zusammen mit einem Brot mit Butterkäse und einem Stück vitaminisierter Schokolade oder einer Karamelle hatte die Mahlzeit etwa 729 Kalorien. Die Kinder erhielten die Suppe zwei Monate lang, dann kam es zu einer Pause, in der die Kinder 350 Gramm Trockenmilch bekamen. Die ersten Transporte mit Lebensmitteln trafen am 20. Januar 1946 in Wien ein. 114 Lkws fuhren von Schweden nach Wien, wo die Lebensmittel im Palais Liechtenstein gelagert wurden. Die Lkws durften im dortigen Schlosspark parken. Nach einigen Tagen Aufenthalt fuhren sie wieder zurück und neue Transporte kamen mit Lebensmitteln aus Schweden an. Am 4. Februar 1946 begann die Ausspeisung. Schon in der Früh kamen schwedische Frauen, die sogenannte »Käsekompanie«, zum Palais Liechtenstein, um Butter, Käse und Schokolade vorzubereiten. Die schwedischen Lkws holten die vorbereiteten Zutaten ab und fuhren zum ehemaligen Kriegsministerium, wo die Suppe vorbereitet wurde. Jeden Morgen wurden dort 11.000 bis 12.000 Liter Suppe gekocht. Die Fahrer holten dann die Suppe und bekamen eine Liste, wohin sie mit dem Essen fahren sollten. Oft wurde die Suppe in einem Kindergarten oder einer Schule serviert. Schwedische Frauen fuhren, wenigstens am Anfang, mit, um den Fahrern mit der Sprache zu helfen, aber auch um zu kon­ 15 R enate Schreiber, »Großmacht in Menschenliebe«. Schwedische Kinderhilfe nach dem Ersten Weltkrieg, in  : Wiener Geschichtsblätter 64, 2009/3, 56–80. 16 Zum Folgenden vgl. Elsa Björk m a n-Goldschmidt, Wien vaknar, Stockholm 1950.

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strollieren, ob die Kinder das Essen aufaßen. Oft wollten die Mütter, dass die Kinder ein Brot oder eine Schokolade mit nach Hause nahmen. Dies war aber nicht erlaubt. Ein Stück Schokolade kostete am Schwarzmarkt 40 Schilling. Zum Vergleich  : Das Monatsgehalt eines Arbeiters betrug ungefähr 120 Schilling. Die Hilfsaktion dauerte bis 1. Oktober 1949. Ein Mitarbeiter von »Rettet das Kind«, Arne Karlsson, kam während seiner Tätigkeit in Österreich ums Leben. Er wurde am 11. Juni 1947 erschossen, als er mit Torsten Arnéus, seiner Frau Ilse und seinem Sohn Tommy von Budapest nach Bratislava unterwegs war. Im Dorf Berg an der tschechoslowakischen Grenze verfuhr er sich, und als er umdrehen wollte, überhörte er einen russischen Soldaten, der »Halt« rief. Es wurde nie geklärt, warum der russische Soldat in Kopfhöhe schoss – auf ein Auto mit schwedischer Fahne  ! Im 9. Wiener Gemeindebezirk liegt heute der Arne-Karlsson-Park. Dieser Park war 1932 als Bürger-Park eingerichtet und später in Guido-Holzknecht-Park umbenannt worden. Nach dem Tod von Arne Karlsson wurde der Park nach ihm benannt. Im Park steht seit 1965 eine Büste von Elsa Brändström, die in Schweden der »weiße Engel« genannt wird. Sie pflegte während des Ersten Weltkriegs deutsche und österreichische Kriegsgefangene in Russland und Sibirien. Im 10. Wiener Gemeindebezirk befindet sich die Per-Albin-Hansson-Siedlung, deren Grundstein am 23. August 1947 gelegt wurde. Das Wohngebiet wurde nach dem schwedischen Premierminister Per Albin Hansson genannt, als Dankeschön für die schwedische Hilfe nach dem Krieg. In diesem Wohngebiet finden wir auch Straßen und Plätze mit schwedisch-klingenden Namen wie Göteborggasse, Brantinggasse, Jenny Lindgasse und Stockholmer Platz.17 An weiteren Spuren der Schweden in Wien ist eine schwedische Kapelle im Haus Nummer 7 am Petersplatz im 1. Wiener Gemeindebezirk zu nennen, die vermutlich zwischen 1627 und 1781 dort stand.18 Zwischen 1920 und 1974 war die Schwedische Israelmission in Wien tätig. Schon im März 1920 kamen zwei schwedische Frauen, um für die Mission zu arbeiten, und zwei Jahre später kaufte man in der Seegasse 16 im 9. Wiener Gemeindebezirk ein Haus. 1941 wurde die Mission von der Gestapo geschlossen und die schwedischen Mitarbeiter mussten Österreich verlassen.19 Nach dem Krieg war das Haus teilweise zerstört. Als die schwedischen Mitarbeiter von »Rettet das Kind« 1946 nach Wien kamen, halfen sie mit, das Haus wieder zu reparieren. Während »Rettet das Kind« 17 Sjöblom, Sverigeminnen i Österrike, ohne Seite. 18 Ebd. 19 Dazu vgl. beispielsweise Thom as Pa mmer, »Barnen som var räddning värda«  ? Die Schwedische Israel­ mission in Wien 1938-1941, ihre Kindertransporte und der literarische und wissenschaftliche Diskurs, phil. Diplomarbeit Wien 2012.

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Abb. 1  : Im Gebäude der ehemaligen Schwedischen Israelmission ist heute die Pfarrgemeinde A.B. Wien Alsergrund beheimatet.

in den Jahren 1946 bis 1949 in Wien tätig war, stellte die Schwedische Israelmission einige Zimmer für die Mitarbeiter der Organisation zur Verfügung. Eine der Mitarbeiterinnen der Schwedischen Israelmission, Anna-Lena Peterson, hatte bereits 1938 bis 1941 für die Mission gearbeitet. 1946 kam sie mit »Rettet das Kind« nach Wien zurück. Sie hatte ihre Wohnung in der Seegasse 16. Die Vorgängerin der Schwedischen Kirche in Wien wurde sozusagen in ihrer Wohnung gegründet. Schwedische Bürger in Wien trafen einander dort und feierten verschiedene schwedische Feste. Ab 1973 feierte man mit der Hilfe von schwedischen Pfarrern aus Deutschland und der Schweiz Gottesdienste. 1982 richtete die Schwedische Kirche einen Pfarrdienst für Wien ein. Am Anfang war man in der Seegasse. 1986 übersiedelte man in die Gentzgasse 10 im 18. Wiener Gemeindebezirk, wo die Schwedische Kirche immer noch zu Hause ist.20 Die Schwedische Schule wurde 1986 als Ganztagsschule in der Gentzgasse 10 im 18. Wiener Gemeindebezirk errichtet. Als die Schule größer wurde, musste man sich um ein neues, größeres Gebäude umsehen und mietete 1995 ein Haus in der Scheibelreitergasse 15 im 19. Wiener Gemeindebezirk. Dort ist die Schwedische Schule auch heute noch untergebracht.

20 https://www.svenskakyrkan.se/wien/historik [8.10.2021]  ; Anna Helena (Anna-Lena) Peterson, www. skbl.se/sv/artikel/AnnaHelena AnnaLenaPeterson, Svenskt kvinnobiografiskt lexikon (Artikel von Håkan Bengtsson) [8.10.2021].

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Nachdem ein Pfarrer in die Schwedische Kirche gekommen war, schaute man sich nach einem eigenen Lokal in Wien um. In der Seegasse war seit 1974 eine evangelische Kirche beheimatet und man mietete einige Lokale an, etwa am St.-UlrichsPlatz. Durch Kontakte erfuhr man von der Immobilie in der Gentzgasse. Damals war das Gebäude vom Abriss bedroht und es wurde ein Mieter gesucht, der imstande war, das kirchlich-kulturelle Erbe zu verwalten  ; dies war für die Schwedische Kirche wegen der Lage ideal. Das Gebäude hat eine lange Geschichte. Die älteste Urkunde, die von einem Haus auf dem Grundstück spricht, stammt aus dem 16. Jahrhundert. Im Jahr 1668 wurde das Haus von Johann Ulrich Carphim von Kronnenfels gekauft. Davor war das Haus im Besitz der Augustiner Barfüßer. Im Jahr 1681 wurde die Liegenschaft an einen gewissen Georg Khnoll weiterverkauft und während der Zweiten Wiener Türkenbelagerung 1683 wurde das Haus teilweise durch einen Brand zerstört. Um das Haus wieder aufbauen zu können, borgte sich Khnoll Geld von Gräfin Maximiliana Lambert. Da er den Geldbetrag nicht zurückzahlen konnte, kam das Haus 1697 in ihr Eigentum. Als die Barnabiten nach Wien 1626 kamen, übernahmen sie das Haus in Währing als Eigentümer  ; sie betrieben eine intensive Kaufpolitik und konnten so das Haus 1730 kaufen. Das Haus in der Gentzgasse 10 wurde der Nabel der Barnabiten in Währing. In den 1770er und 1780er Jahren wurde das Haus in eine Sommerresidenz der Barnabiten umgebaut. Nach der Auflösung der Wiener Barnabitenprovinz 1920 verfiel das Haus immer mehr. Erst in den 1980er Jahren renovierte man das Haus und die Schwedische Kirche zog ein. Damit schloss sich der Kreis. Im 17. Jahrhundert holte Kaiser Ferdinand II. die Barnabiten, um die Protestanten zu bekämpfen, und nun gibt es genau in diesem Gebäude eine protestantische Kirche.21 Von den zahlreichen schwedischen Spuren in Wien ist hier nur eine Auswahl präsentiert. Herzlich danken möchte ich meinem akademischen Lehrer für das gemeinsame Interesse an den österreichisch-schwedischen geschichtlichen Beziehungen.

21 Vgl. beispielsweise Jen n y Öhm a n, Heft zu der Geschichte der Schwedischen Kirche in Wien, Wien 2000.

Alma Hannig – Christopher Brennan, Bonn – Wien*

“I was always prouder of the fact that I had a good career in the civil service with this name and in spite of this name …” Jews in Governmental Politics and Diplomacy in Germany and Austria-Hungary 1. Introduction “I was always prouder of the fact that I had a good career in the civil service with this name and in spite of this name, and that it has never hindered me from being honoured and decorated by rulers, statesmen and church dignitaries at home and abroad, without the slightest hurtful allusion to my name  ! Only during the earliest stages of my career did I have to endure this bitter insult  !”1 In September 1920, the highest-ranking official in the Ministry of Foreign Affairs of the Republic of Austria, Alfred Rappaport von Arbengau, was forced to retire due to his Jewish origins. He had been one of the few diplomats who had continued to work in the new, republican foreign ministry after the end of the monarchy. Rappaport initially headed the department for Scandinavia, Russia and the Balkans and was involved with peace negotiation affairs before becoming the head of the political section. After a few months, however, the social-democratic Chancellor Karl Renner told him that his remaining in office was not possible because of his Jewish-sounding name. Only three weeks before Renner’s own resignation, Rappaport had to retire. Like many famous Austrian-Jewish authors such as Stefan Zweig and Joseph Roth who glorified the Habsburg Monarchy after its downfall, Rappaport did it in a certain way too, when he ultimately claimed that his Jewish origins did not obstruct his career in the civil service of the Habsburg Monarchy. In fact, it was almost impossible for a Jew to gain access to the foreign ministry, especially to the diplomatic corps. Only a few Jews who converted to Catholicism – like Rappaport himself – managed * Abbreviations  : AAng  : Auswärtige Angelegenheiten  ; AdR  : Archiv der Republik  ; BKA-AA  : Bundeskanzleramt Auswärtige Angelegenheiten  ; HHStA  : Haus-, Hof- und Staatsarchiv  ; Hg.: Herausgeber  ; K.: Karton  ; NAR  : Neue Administrative Registratur  ; Nl.: Nachlass  ; ÖStA  : Österreichisches Staatsarchiv. 1 ÖStA, AdR, AAng BKA-AA NAR Fach 4 Serie A, Personalakte Alfred Rappaport, Alfred Rappaport to the Foreign Ministry 30.9.1920 – cited after Willi a m Godsey, “Seine Sporen im Kosovo verdienen …” Ein Altösterreicher als Albanienkenner  : Alfred Ritter Rappaport v. Arbengau (1868–1946), in  : David. Jüdische Kulturzeitschrift 45, July 2000, http://david.juden.at/kulturzeitschrift/44-49/kosovo-45.htm [13.06.2022].

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Alma Hannig – Christopher Brennan, Bonn – Wien

to get a job there, mostly through a career in the less elitist and less prestigious consular service. And as we can see from his fate, this situation did not improve by any means after the end of the monarchy.2 Despite the existing extensive research on Jewish history in Germany and Austria-Hungary, a systematic treatment of the incorporation of people of Jewish origins into the monarchy’s ruling circles is still lacking.3 Even though some political institutions have been researched,4 more studies that examine important positions, structural conditions as well as personnel, networks, and social permeability in the government institutions are needed. For example, the history of the foreign ministries in the Habsburg as well as German Empire is still a desideratum. A few studies have done important groundwork  ; however, a coherent and comprehensive investigation of the foreign ministries from 1867/1871 to 1918 is still to be written.5 Comparative studies examining Germany and Austria-Hungary, or even other countries, are entirely lacking. The purpose of this paper is to give a short overview over the opportunities and chances for Jews in Vienna and Berlin pursuing higher diplomatic and (non-party-)political careers.6 Although many studies about National Socialism emphasize that there was a high degree of personnel continuity between the German Empire and the national social2 Godsey, Seine Sporen, passim. 3 For an overview of the literature see Thom as Brechenm acher – Mich a ł Szulc, Neuere deutsch-jüdische Geschichte. Konzepte – Narrative – Methoden, Stuttgart 2017. 4 For example Ernest H a mburger, Juden im öffentlichen Leben Deutschlands. Regierungsmitglieder, Beamte und Parlamentarier in der monarchischen Zeit, Tübingen 1968  ; Mich a el Berger , Für Kaiser, Reich und Vaterland. Jüdische Soldaten. Eine Geschichte vom 19. Jahrhundert bis heute, Zürich 2015  ; Erwin Schmidl, Habsburgs jüdische Soldaten 1788–1918, Wien–Köln–Weimar 2014  ; K l aus Schwa be (Hg.), Die Regierungen der deutschen Mittel- und Kleinstaaten 1815–1933, Boppard am Rhein 1983  ; Ba rba r a Strenge, Juden im preußischen Justizdienst 1812–1918. Der Zugang zu den juristischen Berufen als Indikator der gesellschaftlichen Emanzipation, München 1996. 5 La m a r Cecil, The German Diplomatic Service, 1871–1914, New York 1976  ; Eck a rt Conze, Das Auswärtige Amt. Vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, München 2021  ; Willi a m D. Godsey, Aristocratic Redoubt. The Austro-Hungarian Foreign Office on the Eve of the First World War, West Lafayette 1999  ; K l aus Schwa be (Hg.), Das Diplomatische Korps 1871–1945, Boppard 1985. Despite some errors see also K a rl-A lex a nder H a mpe, Das Auswärtige Amt in Wilhelminischer Zeit, Münster 2001. 6 We are aware of the problem of definition  : Is it for example valid still to refer to people who had converted to Christianity as Jews  ? We know from source material that many converted solely because of their careers. Since our aim is to examine the accessibility for people with Jewish roots to certain political and diplomatic offices, as well as to scrutinize the repeatedly expressed allegation in the literature that there was almost no anti-Semitism in these institutions, we think it legitimate to include converts as well as those whose parents or grandparents were Jews and thus refer to them as people with Jewish roots. Peter Grupp explains the difficulties and chances of this approach  : Peter Grupp, Antisemitismus und jüdische Fragen im Auswärtigen Amt in der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Eine erste Annäherung, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 46, 1998, 237–245, here 237–240.

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ist administration, especially in the foreign ministry,7 there is only one short study dealing with anti-Semitism among diplomats and civil servants in the German Empire.8 For the Dual Monarchy, William D. Godsey’s and Solomon Wank’s studies do not go beyond 1918.9 In light of the considerable requirements for a comprehensive overview of the topic, this study can only outline the main features and present striking examples, which will constitute the starting point for our further research. Our current thesis is as follows  : despite a few successes regarding the emancipation and integration of Jews in Germany and Austria-Hungary, certain areas remained all but closed to them – particularly in the highest offices of government and in diplomacy. Imperial protection and legal parity improved life for the monarchy’s Jews in many areas from the 1850’s onwards. Nevertheless, the gap between official equality and administrative practice remained wide with respect to many civil-service jobs.10 Although the constitutions of the Habsburg and German Empires from 1867 and 1871 (and of the Norddeutscher Bund in 1869) removed all discriminatory laws, and specified that all public offices were open to any citizen of the state, and despite the fact that their foreign offices never imposed confessional quotas, no unbaptized Jew belonged to the diplomatic corps in Berlin or Vienna. Among converted Jews, only very few exceptions succeeded in entering the foreign ministry or in rising to other higher political offices. What was the reason for that  ?11

2. Foreign policy – the domain of the emperor and the sphere of the influence of the aristocracy Both in Germany and Austria-Hungary, foreign policy was the domain of the emperor, who ultimately had the power to declare war and conclude peace. While in Berlin the emperor was dependent on the consent of the chancellor, in Vienna, the

 7 Steph a n M a linowsk i, Nazis & Nobles. The History of a Misalliance, Oxford 2020  ; Steph a n M alinowsk i, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003  ; Eck a rt Conze – Norbert Frei – Peter H ay e – Moshe Zimmerm a n n, Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, Bonn 2011.  8 Grupp, Antisemitismus, passim.  9 Willi a m D. Godsey, The Nobility, Jewish Assimilation, and the Austro-Hungarian Foreign Service in the Late Imperial Era, in  : Austrian History Yearbook 27, 1996, 155–180  ; Godsey, Seine Sporen, passim  ; Solomon Wa nk, A Case of Aristocratic Antisemitism in Austria  : Count Aehrenthal and the Jews, 1878–1907, in  : Leo Baeck Institute Year Book 30, 1985, 435–456. 10 Peter Pulzer, Rechtliche Gleichstellung und öffentliches Leben, in  : Stev en M. Lowenstein et al., Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, vol. 3  : 1871–1918, München 2000, 151–192. 11 Alma Hannig is responsible for chapters 1–6, Christopher Brennan for chapter 7.

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foreign minister, as well as the crown council, were mere advisory bodies without a right of veto. However, in practice, Emperor Franz Joseph relied on the opinion of his foreign ministers, who were at the same time Ministers of the House Habsburg. The foreign offices in Germany and Austria-Hungary were, as one of Germany’s leading bourgeois businessmen observed, a “club into which one had to be admitted by and through birth.”12 And vice versa  : to the nobility, diplomacy was a birthright. This was actually in the tradition of all European Great Powers, even in France. Aristocrats were considered to be politically reliable, they were fluent in foreign languages, genteel and charming. Additionally, high representation costs required wealth. Until the outbreak of the Great War, in Berlin and Vienna the diplomatic corps remained primarily a preserve of those with older titles from the higher and highest nobility. They managed not only to maintain, but actually to increase, their traditional presence in the service in the course of the late nineteenth century. As in noble society at large, a distinction was drawn between old and new nobility. Diplomats of old aristocratic families were sometimes intolerant of their colleagues whose titles were recent, and they argued that diplomats who could maintain an independent judgment could be found solely among their own ranks.13 In Germany as well as in Austria-Hungary, the admission to, as well as the advancement in the foreign ministry depended on different factors, all of which disadvantaged Jews. Although many wealthy Jewish families or families of Jewish origins had received patents of nobility, Jews were considered unsuitable for diplomacy. Between 1701 and 1918, Austrian rulers granted noble status to some 450 Austrian Jews, while in Hungary in the period from 1800 to 1918, 346 Jewish families achieved a similar standing. The strict genealogical standards of the imperial court excluded from court nobility all descendants in the direct male line of formerly Jewish families.14 Those who had recently received their title of nobility were treated as the second society in contrast to the first society, and were excluded from the old aristocratic networks, which functioned excellently. The Jews shared this fate with all other bourgeois people who had been ennobled comparatively recently. According to the ruling circles, bourgeois and new noble families lacked the experience, the sophistication and the cosmopolitan connections of the old nobility. However, the interesting fact is that there were parallels between both Jewish and noble families, which might (or indeed should) have been considered as a good basis for the integration of Jews in diplomatic work  : through their private and professional 12 La m a r Cecil, Albert Ballin  : Business and Politics in Imperial Germany, 1888–1918, Princeton 1967, 123. 13 Cecil, Diplomatic Service, 58–93  ; Conze, Das Auswärtige Amt, 27–30  ; Godsey, Nobility, 155–157. 14 Pulzer, Rechtliche Gleichstellung, 191. The only exception was Rothschild. The best study on this topic is K a i Drewes, Jüdischer Adel. Nobilitierungen von Juden im Europa des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2013.

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connections they had excellent international networks. A well-considered marriage policy enabled them to climb the social ladder and to increase their influence and economic power. There was a rise of marriages between aristocratic and Jewish families, even though Jewish families usually insisted that their male members only marry Jewish partners. The greatest commonalities between the Jewish and older noble families were their loyalty to the dynasty, the absence of nationalism and the sense of security they felt only the dynasty could guarantee. Other ways in which advantageous relationships could be initiated or extended were memberships of university fraternities and commissions in elite regiments of the army. In this case, however, both were nearly unattainable for Jews.15 Nevertheless, it is important to stress that, generally, there was never any aspiration or will to represent the different confessions and nationalities adequately. Therefore, not only Jews, but also many other nations, nationalities, denominations and socio-economic groups were scarcely represented. While in Prussia, the large majority of the diplomats were Protestants (81,5 %) and only 17,3 % Catholics, in the strongly Catholic Habsburg monarchy, 84 % were Catholics, 7 % Protestants and 6 % Orthodox Christians. Only the Jews, who comprised nearly 5 percent of the people of Cisleithania, lacked representatives in the corps (whereas they made up 1,12 % of it in Germany).16 However, religion and nationality played a role when it came to making decisions regarding which diplomats would be sent to which countries. For example, for political reasons, the Habsburg Monarchy did not send South Slavs to Serbia or Poles to Russia. Following these considerations, it might have been difficult to send Jews abroad at all. Even if the foreign office and the crown had not held any prejudices against Jews whatsoever, the ubiquitous anti-Semitism at many foreign courts made their appointment as envoys impossible – at any rate unadvisible. In their central offices in Vienna and Berlin, the foreign ministries were also opposed to appointing Jews to significant positions. Only a few exceptions of Jews who were baptized are known, which will be addressed in the fourth chapter.

3. Anti-Semitism among the ruling circles in Berlin and Vienna The attitude of the rulers of both countries is also a key element in seeking to understand this topic, since they were in a position to appoint men directly. Many diplomats and influential politicians owed their carrier to their good relations or friendship with the royal or imperial family. 15 Cecil, Diplomatic Service, 79, 98. 16 Ibid, 94–97  ; Godsey, Nobility, 163.

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At both courts, in Austria as well as in Prussia/Germany, there had been a long tradition of so-called court Jews (Hofjuden), later often also referred to as the emperor’s Jews (Kaiserjuden). These were Jewish men who provided the imperial court with luxury and capital, and enjoyed privileges in return. They were respected by the rulers, but often ignored and despised by the society at court. In the eyes of the majority of the population, their close relationship with the ruler suggested “the illusion of political power”.17 The court or emperor’s Jews were, however, entirely dependent on the favour of the rulers and their position could easily change, not least because of the mortality of individual emperors. Although there were indeed some Jews with whom, for example, the German Emperor Wilhelm II had close relations, his biographer John Röhl convincingly demonstrated that Wilhelm’s anti-Semitism occupied “a very significant position” in his Weltanschauung, and that in the course of his life he advocated all forms of anti-Semitism – from so-called “salon anti-Semitism” to the “anti-Semitism of extermination.”18 For his surroundings, especially his advisors and his men at the foreign ministry, it was easy to use anti-Semitic arguments if they wished to prevent the entry or promotion of certain persons to important positions and offices. In contrast to Wilhelm II, Emperor Franz Joseph was known for his tolerant attitude towards all religions of his subjects, and his protective attitude towards the Jews in the Habsburg Monarchy. Many of them received their noble status from Franz Joseph – the Rothschilds even gained access to the court –, but there is no proof that Jews were granted any career privileges by Franz Joseph, despite his alleged philosemitism (which was, in fact, more of a lack of anti-Semitism). However, he never accepted or even tolerated anti-Semitic arguments, contrary to his heir to the throne, Archduke Franz Ferdinand, whose anti-Semitic attitude was well known (and obvious in both word and deed). The foreign ministers and many other servants in leading positions in Vienna and Berlin considered themselves the guardian of tradition. Often this implied the social unacceptability and unsuitability of Jews for diplomacy and the civil service. In Germany for example, Chancellor Otto von Bismarck placed “some of his business affairs in the hands of Jews and he used them as sources of information”   ; however, he considered that Jews lacked “the necessary inborn refinement and manners so requisite for a diplomat.” His son Herbert, who was foreign minister from 1886 to 1890, was known to voice his anti-Semitic sentiments openly and frequently, and

17 H a n na h A rendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 82001, 159. 18 John C. G. Röhl, Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München 2002, 205. For Röhl’s argument and examples see 209–222.

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refused to hire Jews because they were “always pushy”. According to him, Jewish diplomats would create dissent in the ranks.19 While Karl-Alexander Hampe claimed in his study on the German Foreign Office that there was no anti-Semitism,20 Peter Grupp at least conceded that the noble diplomats from the main political section “shared without doubt anti-Semitic […] aversions”,21 which he ascribed to the grudge against their economic success. Grupp puts the extent of anti-Semitic statements into perspective by noting, on the one hand, that derogatory statements about Jews were “commonplace” in Germany before 1914, and by describing them as largely comparable to the usual attitudes in the “educated, politically moderate, bourgeois-aristocratic upper class”   ; on the other hand, he characterized them as “vague”, “contradictory, irrational, unreflective”.22 Not only Grupp’s, but also Hampe’s examples, which are supposed to prove that there was no anti-Semitism in the foreign office, show exactly the opposite  : they are full of clearly anti-Semitic statements, anti-Semitic codes23 and so-called positive anti-Semitism. One of the most important men in the foreign ministry was Friedrich von Holstein. Due to his close relations with Chancellor Bismarck and his son Herbert, Holstein had enormous influence and was later regarded as the grey eminence of the Wilhelmstraße. His anti-Semitic comments can be found not only in his papers, but also in the memoirs of other diplomats. He was opposed to Jewish candidates. When he heard that Bismarck’s banker Bleichröder wished to get his youngest son into the diplomatic service, Holstein only noted in his diary  : “He will not succeed.”24 The correspondence and the memoirs of many diplomats from Austria-Hungary and Germany are full of tasteless remarks about Jews.25 For example, Kajetan von Mérey, one of the most influential officials and diplomats in the decade before the First World War, found Jews “unsuitable material for the delicate work of diplomacy”   ; he made numerous anti-Semitic statements about his colleagues with (alleged) Jewish roots.26 Given the anti-Semitic sentiment prevalent among the nobility, it follows that no avowed or practicing Jews were represented among imperial and royal diplomats. 19 Cecil, Diplomatic Service, 98–99. 20 H a mpe, Das Auswärtige Amt, 43, 146. See also K a rl-A lex a nder H a mpe, Das Auswärtige Amt in der Ära Bismarck, Bonn 1995, 71–72. 21 Grupp, Antisemitismus, 241. 22 Ibid. 23 For antisemitic codes see Shul a mit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, München 2000. 24 Norm a n R ich – M. H. Fisher (Hg.), Die geheimen Papiere Friedrich von Holsteins, 4 vols., Göttingen 1961 [henceforth  : Holstein Papers], here vol. 2, Diary, 12.2.1884, 86. 25 See many examples in Cecil, Diplomatic Service, 99–104. 26 Godsey, Nobility, 166–167.

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The example of Berthold Molden illustrates how difficult it was for (converted) Jews to get even a job in the archive of the foreign ministry. Molden was a political insider who was close to the Austro-Hungarian Foreign Ministry. He was a highly respected journalist, as well as an author of books on philosophical, political, and historical subjects, best known for his brief biography of Foreign Minister Alois Lexa von Aehrenthal. From 1913 until 1918, Molden worked on a freelance basis for the foreign ministry in its press bureau, as well as an adviser to the Foreign Minister Berchtold and his successor. When he applied for regular employment in the archive of the foreign ministry, the new director Hans Schlitter rejected Molden because of his Jewish background. Although several influential personalities supported Molden’s appointment, Schlitter remained firm and refused this – once again – descendant of Jews (“Judenstämmling”).27 The official explanation was that Schlitter questioned Molden’s reliability and discretion because he was a journalist  ; later he classified Molden’s qualifications as insufficient. But Schlitter explained the real reason to the heir to the throne, Archduke Franz Ferdinand  : “I declared that I only wanted to accept young men who were not only scientifically proficient, but who were also impeccable in character and at the same time either good Austrians or loyal Hungarians. I wish to exclude Jews and descendant of Jews, if only because of the secret files that the state archives keep. The Archduke praised all this.”28 It is hardly surprising that the heir to the throne agreed with Schlitter on all points.

4. “Ausnahmejuden” Given the blue-blooded origins and clannish nature that prevailed among diplomats, it is likely that few Jews even bothered to attempt to secure admission. Despite having converted to Christianity, or being the offspring of a mixed marriage, one was still liable to be seen by Jews and Gentiles alike as purely Jewish. There are only a few exceptions who succeeded. As Hannah Arendt explained of the exceptional Jews (“Ausnahmejuden”29), “society never opened the doors of its salons for Jews, but only for exceptions among the Jewish people”. These were expected to remain Jews without behaving like Jews.30 While the “exceptional Jews of prosperity” (“Ausnahmejuden des Reichtums”) never gave up their religion and culture, nearly all “exceptional

27 HHStA, Nl. Schlitter, Schlitter Diary 15.12.1913, 24.2.1914, 26.2.1914, 27.2.1914, 28.2.1914, 5.3.1914, 14.4.1915. 28 Ibid., 5.3.1914. 29 A rendt, Elemente, 141. See also H a n na h A rendt, Privileged Jews, in  : Jewish Social Studies 8, 1946, 3–30. 30 A rendt, Elemente, 141.

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Jews of education” (“Ausnahmejuden der Bildung”) converted to the Christianity. However, they did not necessarily stop being Jews in their own conscience, nor in the perception of others.31 This seems to have applied to the diplomats, politicians and civil servants with Jewish roots too. As far as we know, only one unbaptized Jew, Albert von Goldschmith-Rothschild, was admitted to the service and assigned abroad. His family was the wealthiest in Germany. In addition, Max Thielmann, whose mother was Jewish, became ambassador to Washington.32 In the most important department of the Foreign Ministry in Berlin, the Political Department IA, there were no Jews. In contrast, the department for trade policy (Handelspolitische Abteilung) as well as the colonial division (Kolonialabteilung) were lead by baptized Jews – Max von Philipsborn and Paul Kayser – at least for some years  : they left office due to the anti-Semitism they experienced. In the memoirs of various diplomats, numerous anti-Semitic remarks concerning Kayser are to be found.33 Anti-Semitism does not necessarily mean that all statements were formulated in a negative way – there also existed a so-called “positive anti-Semitism”, for example when Arthur von Brauer, a former diplomat and consultant of Bismarck, described Philipsborn as a “fearful gentleman”, who had the “endurance and capacity of his race and a fine feeling for difficult business”.34 The same diplomat described another “exceptional Jew”, Rudolf Lindau, who reached the peak of his career in 1880, when he became the counsellor for press affairs (Pressereferent) in the political department, and whose father had already been baptized  :35 Brauer claimed that the official press had never been so badly managed as under Lindau, whom he described as ignorant, incompetent and lazy. Similarly to Kayser, Lindau was also accused of ingratitude towards Bismarck, because he remained in office after Bismarck’s fall and quickly came to terms with his successor.36 Only in a completely subordinate position did an unbaptized Jew, Wilhelm Cahn, work in the foreign ministry. His way to the Wihelmstraße went via Munich, where 31 Ibid, 163. 32 Grupp, Antisemitismus, 240. Goldschmidt-Rothschild is not even mentioned in  : Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945, 5 vols., Paderborn et al. 2000–2013. 33 See for example Ludwig R aschdau, Unter Bismarck und Caprivi. Erinnerungen eines deutschen Diplomaten aus den Jahren 1885–1894, Berlin 1939, 109, 195–196. 34 A rthur von Br auer , Im Dienste Bismarcks. Persönliche Erinnerungen, Berlin 1936, 37. 35 Lamar Cecil mistakenly charaterized Lindau as an unbaptized Jew. Cecil, Diplomatic Service, 102. See Biographisches Handbuch, vol. 3, 90–91  ; Naujoks does not comment on Lindau’s Jewishness  : Eberh a r d Naujoks, Rudolf Lindau und die Neuorientierung der auswärtigen Pressepolitik Bismarcks (1871/78), in  : Historische Zeitschrift 215, 1972, 299–344. 36 Br auer, Im Dienste Bismarcks, 121–122.

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his career in the civil service began. For many years he was an assistant in the legal section.37 The wealthy Baron Max von Oppenheim from Cologne, a legal expert in the judicial and administrative service, aspired to a position in the diplomatic corps. However, Friedrich von Holstein rejected his entry and justified his decision with openly anti-Semitic comments  : “The matter is hopeless. He has two qualities that have so far been considered disqualifying  : full-blooded Semite (we have a lot of half-blooded ones) and a member of a banking family. There are numerous applications from people of this category  ; one can only reject them if one relies on a principle. If one makes an exception, one is in trouble.”38 Whether the reasons for Holstein’s refusal lay in the fact that he feared Oppenheim as the son of an influential banking family (as Marc Hanisch recently argued) rather than because of his Jewishness (and the corresponding increase of Jewish elements in his service), is irrelevant. Ultimately, the “general legitimacy of anti-Semitism” as a reason for rejection in the foreign service was the real “scandal”.39 Herbert Bismarck prevented Oppenheim’s entry into the diplomatic corps, “arguing that Jews in general were tactless, that their admission would offend their Gentile colleagues, and that Oppenheim’s name was so prominently Jewish that he would be ridiculed”.40 Oppenheim, whose father had already converted to Catholicism, continued his career – due to the protection of the influential diplomat Paul von Hatzfeldt and Paul Kayser – in the less prestigious consular service  ; his first and main station was Cairo.41 All his attempts at switching to the diplomatic corps failed due to his Jewish origins, and his situation remained precarious  : Oppenheim was officially assigned to the general consulate, but was not included in the regular foreign service. He was not even granted the status of an expert, although he was most certainly one. His temporarily employment contract only ever lasted one year, and was prolonged each time (until his retirement in 1910).42 However, his position was perceived as much more influential by foreign diplomats and by his host country. Oppenheim influenced the political decision-making process in Berlin on the Oriental question to a considerable extent, although Marc Hanisch, in his meticulously researched study, 37 Biographisches Handbuch, vol. 1, 366. 38 Gerhard Ebel (Hg.), Botschafter Paul Graf von Hatzfeldt. Nachgelassene Papiere, 1838–1901, vol. 2, Boppard 1976, 18.8.1891, 854. See also M a rc H a nisch, Der Orient der Deutschen. Max von Oppenheim und die Erfindung eines außenpolitischen Raumes (1896–1909), Frankfurt am Main 2021, 54–55. 39 H a nisch, Orient der Deutschen, 58. 40 Cecil, Diplomatic Service, 101. 41 Biographisches Handbuch, vol. 3, 408–409. Recently, several books were published on Oppenheim, above all the excellent PhD thesis by H a nisch, Orient der Deutschen. See also Ga briele Teichm a n n – Gisel a Völger (Hg.), Max von Oppenheim. Forscher, Sammler, Diplomat, Köln 2001. 42 H a nisch, Orient der Deutschen, 59.

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deconstructed the legend of Oppenheim’s being “the initiator and mastermind of the German revolutionary efforts” in the Orient during the First World War.43 While the Habsburg armed forces contained a rather high percentage of Jewish officers, the Ballhausplatz (home of the Austro-Hungarian Foreign Ministry) tolerated the proliferation of bourgeois and Jews only in subsidiary positions. The best possible method of entry was the roundabout way through the consular service, which made no demands with respect to birth or income. As Lamar Cecil stated for the German case, it is likely that “some men who might have preferred a diplomatic career contented themselves with consular positions in distant commercial centres.”44 The above-mentioned Alfred Rappaport was, next to Theodor Ippen, probably the most successful one. Due to their Jewish ancestry, a regular diplomatic career was impossible. However, they found their way to the Ballhausplatz through the consular service. In Vienna, they became important advisers to the foreign minister due to their special expertise in the Balkans.45 If we consider all men with Jewish roots (whether converted, or with Jewish ancestry through one parent or grandparent etc.), as William Godsey did, it is possible to identify a notable increase in the last years of the monarchy.46 However, all these family members had converted to Christianity long before, so the initial claim still applies  : only baptized Jews got the opportunity to climb up the higher ranks in politics and diplomacy. The question arises as to how these exceptional Jews managed to make a career in the foreign service at all. They undoubtedly had to have very good qualifications, as well as a lot of patience and perseverance, and the ability to withstand open and covert anti-Semitic attacks inside and outside the office. Additionally, they usually needed good contacts with influential men. Paul Kayser’s best advocates were his former students, Bismarck’s sons  ; above all, the chancellor himself held him in high esteem. Max von Oppenheim also had important connections  : his uncle was Heinrich von Kusserow, who, despite having a Jewish mother, was a diplomat and long-time employee of the Political Department of the Foreign Office  ; one of Oppenheim’s best friends was Hermann von Hatzfeldt, the son of the influential diplomat Paul von Hatzfeldt. Finally, Paul Kayser himself also played a central role in finding ways to employ Oppenheim in the Foreign Service.47 In his study on Paul Kayser from 1943, Walter Frank intended to use the example of Kayser to show “the history of Jewish 43 Ibid, 42. 44 Cecil, Diplomatic Service, 59. 45 Godsey, Sein Sporen  ; A n neliese Wernick e, Theodor Anton Ippen. Ein österreichischer Diplomat und Albanienforscher, Wiesbaden 1967. 46 Godsey claims that eventually 11 percent of the diplomats had some Jewish roots. Godsey, Nobility, 168, 177. 47 For more details see Chapter I.3 in  : H a nisch, Orient der Deutschen, 80–94.

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infiltration into the hierarchy of the imperial state”.48 The scientific value of Frank’s work suffers enormously as a result of his anti-Semitic and defamatory statements suggesting a Jewish conspiracy. Nevertheless, one aspect that he partially covered and that has not been examined academically so far is the existence of possible Jewish networks. Those might have enabled individual Jews to gain access to the foreign ministry. Of course, the opposite case is also conceivable  : that exceptional Jews who succeeded in getting a position in the foreign service did not want to endanger their own achievement by promoting other Jews. This research gap needs to be closed in future. Regardless of how Jews obtained their positions, one thing united them all  : “The Jews could never please.” Either they were called “pretentious parvenus or timid gentlemen” and “if they were assimilated, they were accused of hiding their ancestry  ; but if they confessed to it, they were considered foreign bodies.”49

5. Jews as informal diplomats – a neglected field of research Some prominent Jews enjoyed privileged relations with the monarch and, even though they did not hold an official government position, they were entrusted with important missions. Two prominent examples are Albert Ballin and Gerson von Bleichröder. Of the emperor’s Jews in Germany, Albert Ballin was undoubtedly the most prominent. As the chief executive of the Hamburg-America Line, which for a time was the world’s largest shipping company, Ballin was one of the most prominent business leaders in Germany. He had access to the highest circles in Germany, above all Emperor Wilhelm II, as well as to the highest diplomatic, political and economic spheres in London. For that reason, he was almost predestined for informal diplomacy. Diaries, correspondence and memoirs of influential politicians and diplomats impressively document the fact that Albert Ballin was involved in many political decisions and was charged with diplomatic missions, especially negotiating a naval agreement between Great Britain and Germany and easing tensions that had heightened since the end of the 19th century.50 Similarly to the Kaiserjuden, we might call Gerson von Bleichröder a chancellor’s Jew (Kanzlerjude)  : he was Otto von Bismarck’s banker and advisor, especially in finan-

48 Wa lter Fr a nk, Der Geheime Rat Paul Kayser  : Neues Material aus seinem Nachlass, in  : Historische Zeitschrift 168, 1943, 302–335 and 541–563, here 302. 49 Grupp, Antisemitismus, 242. 50 Cecil, Ballin, passim.

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cial issues.51 Bismarck and Bleichröder were linked by a long-standing relationship, which facilitated their ascent. Bleichröder took on the role of mediator and transmitter of information between institutions and states. His role as negotiator in the peace talks with France in 1871, especially with regard to reparations payments, can hardly be overestimated. (The Rothschilds, with whom Bleichröder had very close relations, negotiated on behalf of France.) Bleichröder also regularly passed reliable information from London and Paris to Berlin, which he partly received through the Rothschilds. Arthur von Brauer described Bleichröder as a “semi-official diplomat”52 and in Europe he was often known as “Bismarck’s secret agent”.53 Both Ballin and Bleichröder never forgot their Jewish origins, or as Fritz Stern put it  : others did not let them forget.54 They were repeatedly targets of anti-Semitic outbursts, sometimes even from their closest circles and despite the protection they enjoyed from men in the highest positions of state. Bismarck’s son Herbert, with whom Bleichröder originally maintained friendly contact, attacked him for many years using all possible slurs and anti-Semitic terms  ; for example, he called him a “sleazy Jew” (schmieriger Jude), a “shithead” (Mistvieh)55 and a “bastard” (Schweinhund). He used anti-Semitic codes when he claimed that Bleichröder, like most of “his riffraff”, might be useful “only when one treats them miserably and holds them in constant fear.”56 Herbert von Bismarck never missed an opportunity to express his hatred and his general anti-Semitic attitudes, especially towards Bleichröder, both publicly and privately.57 As mentioned above, not every anti-Semitic remark was formulated in a negative way (hence the concept of positive anti-Semitism), and often there was a combination of both. For example, Arthur von Brauer described Bleichröder as a stimulating, interesting, well-informed interlocutor, who organized wonderful and exclusive dinner parties. At the same time, he mentioned the alleged humorous anecdote involving Count Heinrich Lehndorff, the imperial aide-de-camp, who at one of these dinners remarked  : “If the host were not here, the table would be exclusive to an extent that one rarely encounters these days  !”58 The prominent Jewish family Rothschild, which was often regarded as the royal Jewish family, very often acted as informal diplomats. Niall Ferguson has made some 51 Fritz Stern, Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder, Reinbek bei Hamburg 1999. For Bleichröder’s role in 1870/71 see 217–232. 52 Br auer, Im Dienste Bismarcks, 206. 53 Stern, Bleichröder, 11. 54 Ibid, 12. 55 Herbert von Bismarck to Friedrich Holstein, 22.2.1884, in  : Holstein Papers, vol. 3, 93. 56 Ibid, 3.3.1884, 95. 57 Stern, Bleichröder, 361–371. 58 Br auer, Im Dienste Bismarcks, 208.

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important points in his extensive study on the Rothschilds, but we still lack a systematic analysis of their role in diplomacy.59 For example, Holstein’s papers alone show the impressive role they played in Anglo-German, Anglo-Russian as well as Franco-Russian relations.60 Those were only a few examples, which might show the enormous potential of this field of research. Informal Jewish diplomats required a mixture of expert knowledge, exceptionally good networks and discretion. However, they had to alternate between anonymity and discretion. The effect was that they were perceived as enigmatic and mysterious – at times this gave off a negative impression, which was only a short step away from conspiracy theories.

6. Anti-Semitic Conspiracy Theories and Being Jewish as a Defamation Statement We have shown that anti-Semitic attitudes and images prevailed in both foreign ministries. In some cases, even non-Jews were defamed as being Jews. Being accused of having a Jewish name, an exotic appearance, bad manners, or having a Jewish background in general, was a fairly transparent way to criticize a man and his policies. One prominent example was Austro-Hungarian Foreign Minister Alois Lexa von Aehrenthal. Rumours of Aehrenthal’s Jewish ancestry circulated during his lifetime, though it was never evident who launched them and when. Fifty years ago already, Solomon Wank could show that two originators of the rumour were Henry Wickham Steed, the influential London Times correspondent in Vienna (and noted anti-Semite), and the Russian foreign minister Alexander Izvolsky. However, even Julius Szilassy, who served directly under Aehrenthal, perpetuated the myth of the foreign minister’s alleged Jewish ancestry.61 This continued even in historical research after World War II. Some authors attributed certain characteristics of Aehrenthal’s personality to his assumed Jewish roots, while others described his motives and methods as Jewish.62 There is no doubt that the intention was to criticise the foreign minister, and at the same time to explain his failures as inherent problems of his character due to his apparent Jewish 59 Ni a ll Ferguson, Die Geschichte der Rothschilds. Propheten des Geldes, 2 vols., Stuttgart–München ²2002. Ferguson’s study focuses on the English line of the Rothschilds. 60 Holstein Papers, vol. 4. See ibid, vol. 2, 440–488  ; Egon Ca esa r Conte Corti, Das Haus Rothschild in der Zeit seiner Blüte 1830–1871, mit einem Ausblick in die neueste Zeit, Leipzig 1928, 470–493. 61 Solomon Wa nk, In the Twilight of the Empire. Count Alois Lexa von Aehrenthal (1854–1912). Imperial Habsburg Patriot and Statesman, Vol. 2, ed. by Franz Adlgasser – Maria Höhn – Alexander Knaak, Wien– Köln–Weimar 2020, 360. 62 Ibid, Vol. 1, 2009, 28.

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heritage. Assigning him an invented Jewishness allowed a simple explanation for highly complex processes  ; further research thereby becomes unnecessary and no other person has to take responsibility for failures on his watch. Taking this into account, we have to ask ourselves how present and dominant anti-Semitism was among the diplomatic and political world, especially among the aristocratic elites, when so many contemporaries and later authors accepted and used this false assumption about Aehrenthal. Many other Austro-Hungarian diplomats such as Leopold von Andrian, János Forgách or Alexander Nemes were described as Jewish-looking, or as acting like typical Jews. They were accused of being less loyal, dishonest and deceitful.63 Interestingly enough, despite the fact that virtually no Jews worked in the service, rumours abounded according to which it was Jewish-dominated, going so far as to claim that Jewish intrigues controlled both Habsburg and Hohenzollern diplomacy. Non-Jews assumed that the Jews were in a position of power and they claimed that, for example, a war did not take place because Rothschild did not want it. The Rothschilds especially were often used as an example of Jewish world domination. Partly unreflectively, some historians adopted such patterns of interpretation.64

7. Successes or signs of collapse? The rise of Jews in the service of the state during the First World War Despite the vastly incomplete research on the subject, it does appear that – whether in Imperial Germany or Austria-Hungary – the legal emancipation of the Jews did very little to open the doors of the diplomatic or civil service for the practising Jews, lapsed Jews, converted Jews or men of Jewish ancestry. The outstanding exceptions are relatively well known, although further study of their cases would not be without merit. Some remain more obscure to this day, for instance Emil Steinbach, a convert to Catholicism who served as Austrian Minister of Finance between 1891 and 1893, before becoming President of the Austrian Supreme Court of Justice between 1904 and 1907.65 However, these atypical cases cannot help us understand the broader picture for aspiring diplomats and ministers who were considered Jewish, by whichever definition. Remarkable works on the Austro-Hungarian civil service do exist, notably those of Karl Megner66 and Waltraut Heindl,67 and the topics of Judaism 63 Godsey, Nobility, 161. 64 A rendt, Elemente, 76, 82–83. 65 For a biography of Steinbach, see  : Wolfga ng Fritz, Finanzminister Emil Steinbach – der Sohn des Goldarbeiters, in  : Austria  : Forschung und Wissenschaft – Soziologie, vol. 5, Wien 2007. 66 K a rl Megner, Beamte. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte des k. k. Beamtentums, Wien 1985. 67 Wa ltr au t Heindl, Josephinische Mandarine. Bürokratie und Beamte in Österreich, vol. 2, Wien–Köln– Graz 2013.

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and anti-Semitism in public office are not entirely ignored. Nevertheless, such is the scope of these books that the study of the topic is fleeting (even though it leads us to the same conclusion as above). For instance, Megner dug up the personal file of a certain Jakob Donath, whose sluggish early career (which began in 1879) was most likely the result of his Judaism and of prevailing anti-Semitism. Later, an assessment of his personality and work from 1913 read  : “Energetic leader, very good conceptual thinking, exactitude and thoroughness  ; he is committed to simplifying and accelerating the work of the department…excellent.” Yet this outstanding civil servant had spent four years as a trainee and ten years in the lowest rank of the service.68 An even more obvious example of anti-Semitism is provided by a letter of Prince Wilhelm von Schaumburg-Lippe to the Austro-Hungarian Finance Minister in 1897, urging him to allow one Oskar Mann to remain in post in Vienna. The prince was keen to stress that his protégé came from “a very honest Israelite family”, hastening to add in brackets that he “had become a Christian” and, later in the letter, that he was “no longer an Israelite” and that he constituted an exception because he was so “unusually competent”, “came from such a uniquely decent family”, which was “of rare dignity”. His plea – which chiefly relied on erasing his Jewishness – was to no avail.69 Tellingly, Jews in Austria-Hungary only began to obtain positions worthy of their skills and competence as the empire was on its last legs. Indeed, the appointment of non-converted Jews to ministerial posts occurred only in the penultimate year of the war, at a time when the Dual Monarchy was beyond salvation. Moreover, this first occurred in Hungary, not Austria. Emperor Karl – who, despite his youth and somewhat liberal leanings, had inherited some of the prejudices of his uncle Franz Ferdinand, and occasionally made the crass anti-Semitic comments which were usual for the time,70 but hardly befitting a Habsburg ruler (in contrast to Franz Joseph) – was astonished by these appointments on the other side of the Leitha. In June 1917, he told German General Hans von Seeckt of his concern about having sworn in Vilmos Vázsonyi – a Jew – as Hungarian Minister of Justice on the Virgin Mary and Saint Stephen.71 Vázsonyi (whose family had Hungarianized its name from Weiszfeld) became the first professing Jewish minister in Hungary, in the short-lived cabinet of Móric Esterházy (15 June – 20 August 1917), which had only been appointed after Karl had finally sacked the all-powerful István Tisza. Esterházy was replaced by the veteran Sándor Wekerle (who had been the first non-noble Prime Minister of Hungary). After several reshuffles, the cabinet contained 3 Jews by the beginning 68 Megner, Beamte, 68–69. 69 Ibid, 85. 70 HHStA, Nl. Franz Ferdinand, K. 4, Archduke Carl Franz Joseph to Franz Ferdinand, undated but likely 27.2.1911. 71 H a ns von Seeckt, Aus meinem Leben 1866–1917, ed. by Friedrich Rabenau, Leipzig 1938, 582.

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of the following year, leading Count Leopold Berchtold to note in his diary in January 1918  : “The emperor finds the presence of three Hebrews in the cabinet not very pleasing but says that, since they are accompanied by seven ‘respectable’ men, the percentage is not so bad after all  !”72 When the game was up, and Karl finally appointed the reformist maverick Mihály Károlyi as prime minister on 27 October 1918, the latter – who thought Karl anti-Semitic – noted that, when Karl nominated him, he was so gloomy and exhausted that “he did not even ask if his future ministers were to be Jews or not, a question he rarely failed to put”.73 This attitude likely explains Karl’s attitude in Austria, where he was more actively involved in domestic politics. When Karl was desperately seeking a prime minister to reform the country in early July 1917, many suggested the distinguished Jewish jurist and parliamentarian Josef Redlich to him, as the ideal candidate for a democratic cabinet of national unity. Redlich, a respected Anglophile who was a member of the German National Union of Deputies (Nationalverband), was summoned to Baden to talk to the emperor, where, during a long, productive conversation, both seemed to be in agreement on the issues undermining Austria and on the necessary solutions. Impressed, Karl asked him the following day if he would take on the job. Redlich agreed in principle.74 Yet the matter dragged on due to Karl’s indecision and to the various recommendations (and warnings) from other cliques. Finally, Karl chose the non-political bureaucrat Ernst Seidler as prime minister, eschewing bolder and more radical choices (and indeed the Jewish choice). A year later, in August 1918, Johann von Chlumecký told Redlich that he had once again mentioned him to Karl as a man who could provide a great deal of help to Austria in these difficult times. Incredibly, Karl responded  : “I know him, he was at mine. But tell me, he is a sugar industrialist, is he not  ? And is he completely reliable  ?”75 Finally, long after the eleventh hour, on 27 October 1918, Redlich was appointed finance minister for two weeks in the Lammasch Cabinet, who sole mission was to liquidate the monarchy. Redlich was thus the first and last Jewish minister in imperial Austria.

72 HHStA, Nl. Berchtold, K. 5, Diary 26.1.1918. 73 Mich a el K á rolyi, Fighting the World  : The Struggle for Peace, London 1924, 163, 407. 74 Fritz Fellner – Doris A. Corr a dini (Hg.), Schicksalsjahre Österreichs 1869–1936  : Die Erinnerungen und Tagebücher Josef Redlichs, 3 vols, Wien–Köln–Weimar 2011, here vol. 2, 5.7.1917, 213–216  ; 6.7.1917, 216–218  ; 75 Ibid, 27.8.1918, 428.

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8. Conclusion Hannah Arendt’s thesis of Jewish “disinterest in power” fails to fully explain the reason for the almost complete absence of Jews from diplomacy and foreign policy.76 It is much more likely that the anti-Semitic prejudices of the old elites prevented their entry and their rise through the foreign ministry. Despite democratization, parliamentarization and legal equality for Jews, it was almost impossible for them to pursue a career in diplomacy and in the higher civil service. The reasons for that were, to a great extent, the same which excluded other disadvantaged groups from the foreign ministry  : despite receiving titles of nobility and intermarrying with nobles, they were not accepted among the older and higher nobility  ; they were lacking alternative networks such as university fraternities and elite military regiments. It is also highly probable that Jewish diplomats would not have been accepted and treated well in their host countries either. One important aspect that has been underestimated so far and that was a major discriminating factor against them was the ubiquitous anti-Semitism of the ruling elites. Whether this was “decent”,77 cultural, Christian or racial anti-Semitism, it excluded Jews and promulgated conspiracy theories and other false allegations. More research is needed  : on anti-Semitism among the noble, ruling circles  ; on the exceptional Jews in diplomacy and the reasons for their success  ; on possible Jewish networks as well as on the role of Jews in informal diplomacy. Finally, we need far more comparative and transnational studies.

76 A rendt, Elemente, 76, 134. 77 Stern, Bleichröder, 14. See also M a linowsk i, Vom König, 161–194, 480–481, 487–488.

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“Servus Březina  !”, or On the History of a Viennese Anti-Czech Hetz “Perhaps only by chance – but to some extent characteristically of us – it is criticised in a study on the economic development of Vienna that the Viennese are polite but that they like to make fun of foreign language speakers although they have no reason to do so. The study states that there is no such thing in other great nations.”1 The quote clearly indicates the well-known phenomenon of coexistence of the German-speaking Viennese with other inhabitants of Vienna, specifically the area defined by the terms Wiener Hetz, Wiener Hamur, Wiener Gemütlichkeit or Wiener Lieder, i. e. a set of thousands of different songs commenting on current events. A significant role in this set is played by songs about Viennese Czechs or Czechs in general. Around 1900, Vienna was one of the cities with the largest Czech-speaking population. For the Viennese, the Viennese Czechs were above all a socially disadvantaged, nameless mass of manual workers. That predestined them (as with the Jews) to vari­ ous forms of persecution. Both images and music were used to depict national stereotypes, sometimes separately, sometimes together. Unfortunately, neither Czech nor Austrian musicology has taken into account the potential of this repertoire. Stereotypes in the depiction of Czechs in music is a great topic for interdisciplinary Czech-Austrian research that has not yet been dealt with. This study will introduce the topic as a whole, briefly presenting several songs and plays, but it mainly aims to map the occurrence of the phrase Servus Březina  !,2 its reception and interpretation of meaning. The gemischter Charakter of this study connects mainly politics, sociology, music and theatre, offering also evidence of how differently Wiener Lieder about the Czechs were perceived by their Czech and German recipients.

1. In the beginning was music!? “Numerous couplets and Heuriger-songs which deal with Viennese Czechs were focused from the beginning on the comic, but initially on tender mockery. It was not

1 Fr a ntišek A lois Soukup, Česká menšina v Rakousku, Praha 1928, 486. 2 German variants of the surname Březina  : Pscheschina, Pschesina, Brezina, Brzezina, Brszenina, Bře­ sina.

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until around the turn of the century that their tone intensified.”3 The quote perfectly suggests a shift from the provocative comic and cheerful nudging to insults, provocations and denunciations. Given the character limit of this study, I would like to briefly introduce several Březina-Lieder – the oldest should be understood as impulses for the non-musical environment, the later ones (especially of parodic nature) returned social reflection to music. It can be said that two couplets met with the greatest response  : Servus Březina  ! and Hausball bei Březina. Paradoxically, the first one was used often and became part of common usage but, to my knowledge, it has survived in only one copy  ! Thanks to this, we know the lyrics, the author of the lyrics and the origin of the melody taken over. The second couplet has received a number of arrangements, it is still featured, can be found, for example, on YouTube, and is part of the golden collection of the Austrian comic. What both couplets share is the fact that they were the basis for vari­ ous parodies or other responses. And they were also very popular. 1.1 Servus Březina  ! (summer 1902) Lyrics  : Walter E. Walla Music  : based on the melody Chin, Chin, Chinamann from the operetta Geisha4 Interpretation  : Emil Várady (Varieté Gartenbau) Publisher  : Josef Blaha (Wien 1902), No. 1183 Instructions for interpretation  : Sing at a slow tempo, possibly in a Chinese costume with a Bohemian nose, with a slow Chinese dance between the individual verses. A strong Bohemian accent. The content of the lyrics exists in a series of brief versions, all offering a similar conclusion  : the Bohemian (Czech) is a symbol of all evil, a thief, a mischief, a cannibal, a murderer, a histrion or a juggler, finding compatriots everywhere in the world, “therefore, apostrophing this couplet […] is a profound national insult.”5 The following description is not entirely accurate and probably concerns a different song, but a similar motif can be found in the third verse of the couplet Servus Březina  !  : “[…] a certain Viennese expedition, wrecked on the high seas, was driven to the island of savages. There the unfortunates were brought before the king to be judged by the same for daring to disturb the peace in the realm of the savage potentate. One of the Viennese looks at the king more closely and recognises in him an old acquaintance 3 Monik a Gletller, Böhmisches Wien, Wien–München 1985, 108. 4 Music  : Sidney Jones and Lionel Monckton, lyrics  : Harry Greenbank and James Philip (based on Owen Hall’s book)  ; Servus Březina  !, in  : Deutsches Nordmährerblatt, 12.12.1903, 2. See below, chapter 4. 5 Národnostní spory v semináři pražském, in  : Věstník katolického duchovenstva, 25.12.1903, 105.

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from Vienna – Březina. He approaches him, crying, ‘Servus Březina  !’ The Czechs meant to be ridiculed by the couplet by implying that they are everywhere.”6 There are a number of reports from the turn of 1902/1903 proving the popularity of the couplet. Writing about the epidemic, the Czech-Viennese press called on the police to combat this insult of Czech nationality. The response of the Czech press was intensified by Várady’s performance in Prague. At the end of 1902, he pointed out that the couplet was on display in the shop windows of German-Jewish companies and urged readers to boycott it. The Austrian press often pointed out that those that bought zithers received this couplet as a bonus. Excerpts from the lyrics appeared, for example, on postcards with anti-Czech content. The use in music is evidenced, for example, by the column Der kleine Sohn from 1902 (“a charming German-Bohemian melody” 7). Let us present (regardless of chronology) parodic counter-facts connected with a melody from Geisha  : Brezina’s Nordpolreise Lyrics  : Walter Walla Publisher  : Josef Blaha (Wien 1902), No. 1237 Instructions for interpretation  : The performer appears in the well-known Březina-mask, but with a high bushy cap, in felt boots and with a thick scarf around his neck. Servus Teitelbaum  ! Lyrics  : Louis Taufstein Publisher  : J. Linschütz (Wien 1902), No. J. L. 3 (Concession Adolf Hirsch sen.) Jessas, da Pschesina  ! da böhmische Chineser  ! Lyrics  : Carl Lorens Publisher  : Wilhelm Hegenauer (Wien) Sometimes it is not clear what song’s melody was used to sing the lyrics to  : Březina am Gänsehäufel  ! Komischer Vortrag Lyrics (music  ?)  : Carl Lorens Publisher  : J. Linschütz (Wien) The couplet was sometimes only arranged  : “Servus Březina”. Marsch 6 Pěkní soudci, in  : Národní listy, 31.1.1903, 3. 7 W. Fred, Feuilleton. Der kleine Sohn, in  : Neues Wiener Tagblatt, 20.9.1902, 3.

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Music  : Wilhelm Bednarz Publisher  : Josef Blaha (J. B. 2509, for piano or orchestra, op. 153, Dec. 1902) Servus Březina. Für Orchester mit Sgst. Music  : Paul Mestrozi (manuscript, Wienbibliothek im Rathaus) Some reports suggest that Servus Březina  ! was related to a play, operetta or farce.8 Perhaps to the one called Servus Březina  ! (premiered on 12 September 1903, JantschTheater in the Prater). It was the work of the imperial administrator Benjamin Schier (lyrics) and Georg Klammer (music). It was a great success, soon also performed on other Viennese stages, and in the spring of 1904 at the Stadttheater in Bratislava and in the summer of the same year also at the theatres in Linz and Gmunden.9 Frequent references to an unspecified operetta can also be found in the press  : “In a stupid operetta it was claimed that the first thing Columbus heard when he set foot on the American soil was the greeting ‘Servus Březina  !’.”10 Another similar reference  : “It happened that in an operetta, made in Vienna, it was sung that Christopher Columbus, setting foot on the American soil, recognised that the first person he met there was Czech, and that he greeted him with the words  : ‘Servus Březina’.”11 The question is whether Schier’s play and the aforementioned operetta refer to the same work. The exclamation Servus Březina  ! was used in a number of other operettas, plays, short stories, etc., even outside Vienna. It was mostly an attempt at a joke, an improvisation. Adolf Brabec (1875–1928) used it in the novel Hlubiny (Jindřichův Hradec, 1904) to illustrate “a Germanised Viennese Bohemian”. František Mathesy satirically put the exclamation into the context of Czech-German coexistence in Prague  : when describing the costly plans to celebrate Czech-German peace in Prague, “Master Bobleigh” receives an explanation that Servus Březina  ! is just “an innocent joke. An international greeting.”12 In 1908–1910, the German school student Březinová performed in České Budějovice. The Czech press commented on the performance in December 1908 using the exclamation Servus Březina  !.13 In April 1910, the name of the performer M. Břez 8 The first association of this type of play is Bruno Zappert’s famous singing burlesque Ein/Der Böhm in Amerika (in Bohemia and Moravia staged under the title Auf nach Amerika). Premiered on 29 January 1881 at the Theater in der Josefstadt, music  : Max von Gothow-Grüneke.  9 M a x Morold, Reichsdeutscher Literaturdünkel, in  : Neues Wiener Tagblatt, 11.3.1907, 2. 10 Josef Penížek, Z mých pamětí z let 1878–1918. I, Praha 1923, 113. 11 “Servus Brszenina”, in  : Národní listy, 13.7.1925, 2. 12 Fr a ntišek M athesy, Vzducholodí ke kráteru sopky. Fantastický román od Jul. Verna, in  : Humoristické listy, 18.7.1913, 429. 13 To je “Němkyň”  !, in  : Venkov, 18.12.1908, 8.

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inová and the couplet Servus Nepustil  ! appeared on the entertainment programme for German orphans  ! – the Czech press recommended including the couplet Servus Březina  !.14 Deserved punishment for bragging – this is roughly what is implied by the article about the fatal fall of eighteen-year-old Heinrich Pichler. His risky climbing was preceded by the sentence “Servus Pschesina, if we never see each other again, think of me.”15 1.2 (Ein) Hausball bei Březina (March 1903) Lyrics and music  : Carl Lorens Interpretation  : Josef Modl Publisher  : Josef Blaha (Wien 1903), No. 1267 (J. B. 2570) It was probably first heard at the famous Ronacher performed by the comedian Josef Modl (1863–1915). Carl Lorens (1851–1909), one of the most significant authors of Wiener Lieder, was again a success. The existence of the couplet was also promptly and critically noticed by the Czech press  : it criticised not only the performance in Vienna but also that in Karlovy Vary, where Modl performed as a guest in the summer. There, “[…] the performance was banned by the local district governor office […] due to the intervention of the vicegerency”.16 Perceiving the couplet as “harmlos” [harmless], the Austrian press considered the intervention pointless.17 We know from the press that the Czechs did not even hesitate to use violence for defence against this couplet. Apart from the variety show environment, the couple also appeared in high society.18 Many arrangements were later created, and it is still recorded and performed in cabarets.19 The couplet also became part of the popular form of potpourri  : Was gibt’s denn Neues  ?. Wienerlied-Potpouri (1906) Music  : Carl Wilhelm Drescher (1850–1925) Publisher  : Josef Blaha, Wien, op. 210 (J. B. 2740)

14 “Servus Nepustil  !”, in  : Plzeňský obzor, 11.4.1910, 2. 15 Von der Zenzerlwand abgestürzt, in  : Grazer Volksblatt, 19.4.1906, 4. 16 Brezina verboten, in  : Salzburger Volksblatt, 5.8.1903, 3. 17 Ibid. 18 Záležitosti stavu a zprávy spolkové, in  : Časopis českého lékárnictva, 5.12.1906, 650. 19 https://www.youtube.com/watch?v=5oC9tpUUtZg&list=RD5oC9tpUUtZg&start_radio=1 [20.10.2021].

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A parody was created as well  : Ä jüdischer Hausball Lyrics  : Alfons Mayer Publisher  : Josef Blaha, Wien (J. B. 1456) An episodic occurrence of the surname Březina/Pschesina can be found in other Wiener Lieder  : Was der Březina all’s Lyrics (music  ?)  : J. Hornig Publisher  : Josef Blaha (Wien), No. 1270 Bruder, mehr sag’n mir net  ! Lyrics and music  : Carl Lorens Performer  : Hirschmann und Xandl Publisher  : E. Fritz (Wien) Wissens was g’scheh’n ist  ? Lyrics and music  : Carl Lorens Performer  : Josef Modl Publisher  : Josef Blaha (Wien), No. 1244 (J. B. 2540)

2. Servus Bř ezina  ! sounded everywhere Let us now follow the non-musical context of the exclamation Servus Březina  !. 2.1 In Parliament, in the imperial family and in the Court Opera A quarrel in Parliament – during one of the parliamentary sessions (October 1902), Georg Schönerer did not agree that Augustin Sehnal defined his speech (in Czech  !) as a factual correction. The quarrel escalated with the shouts “Tschechische Komödianten  !” and “Servus Březina  !”. Václav Choc subsequently demanded that the meeting be chaired by a chairman who understood Czech (for example, Count Moritz Vetter-Lilie).20 – The exclamation reappeared in Parliament in January 1903, again

20 Říšská rada. Poslanecká sněmovna. Schůze 161. Z Vídně, 22. října, in  : Národní listy, 23.10.1902, 2  ; Drahtnachrichten. Österreichischer Reichsrat. 17. Session, in  : Grazer Volksblatt, 23.10.1902, 5.

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thanks to Schönerer.21 – In March 1907, German deputies began to greet the Czech deputy Antonín Kalina Servus Kalina  !.22 Franz Ferdinand d’Este – accompanied by his wife, the Archduke visited the Vene­ dig in Wien variety theatre in the summer of 1903, among other things, having the couplet Servus Březina  ! sung and appreciating the performers.23 This event was the content of Václav Choc’s interpellation at a meeting of the Imperial Council.24 Due to an insult, he called on “[…] the chairman to ask the Prime Minister to reprimand Archduke Franz Ferdinand for his actions […].”25 Naturally, the German newspaper responded with irritation (“Speaking like this at the Imperial Council, this is what the shoemaker’s best apprentice can do if he is a deputy”), and Choc’s speech was viewed as an inappropriate interference in the events in Vienna  : “Then we can sing our ‘Servus Brezina’ without fear of being reprimanded and Mr Choc would have no opportunity to become angry over it in our German Vienna and to interpellate others as a Czech lout.”26 The affair sparked a new wave of jokes and caricatures, and advertising leaflets with the Březina motif were printed. One joke as an example  : “Strange  ! The German emperor arrives to see ‘Servus Brzezina  !’ in capital letters on all the walls.”27 At that time, even one of the racehorses was named Servus Březina  !, and the exclamation was written on spittoons. During a Vinohrady Theatre trip to Vienna, “[…] a soc. dem. confectioner sold chocolate cakes in the theatre with the text  : ‘Servus Březina’  !”28 “Years ago, the following story was told in political circles  : Archduke Friedrich and his wife, Archduchess Isabella, once held a private party at their castle in Slovakia. […] The couplet [sung by Fritz Schrödter] was very much enjoyed by the guests from high society. This story did not reach the general public.”29 The journalist Josef Penížek (1858–1932) adds to this event in his memoirs that the Czech singer Vilém Heš (1860–1908) reproached his father-in-law (also an opera singer) Schrödter

21 První schůze sněmovní. Z Vídně, 16. ledna, in  : Národní listy, 16.1.1903, 1  ; Wien, 21. Jänner, in  : Politik, 22.1.1903, 4  ; Abgeordnetenhaus. Wien, 21. Jänner, in  : Brünner Zeitung, 21.1.1903, 3. 22 “Servus Březina – Servus Kalina”, in  : Národní listy, 29.3.1907, 2  ; Sněm království českého. V Praze, 26. března, in  : Národní listy, 27.3.1907, 2. 23 Reichsrath. Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 5. Juni, in  : Mährisches Tagblatt, 6.6.1903, 3. 24 Sněmovna poslanecká, in  : Katolické listy, 6.6.1903, 2  ; Pěkný výstup. Vídeň, 10. června, in  : Slavie. Týdenník věnovaný […], 23.6.1903, 5  ; Zajímavou byla interpelace, in  : Dennice novověku, 25.6.1903, 7  ; Říšská rada. Poslanecká sněmovna. Schůze 221. Z Vídně, 5. června, in  : Národní listy, 6.6.1903, 1  ; Říšská rada, in  : Plzeňské listy, 5.6.1903, 5  ; Posl. Choc, in  : Čas, 6.6.1903, 1. 25 Reichsrath. Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 5. Juni, in  : Mährisches Tagblatt, 6.6.1903, 3. 26 Landplaudereien, in  : Znaimer Wochenblatt, 13.6.1903, 4, 5. 27 Seltsam  !, in  : Kikeriki  !, 20.9.1903, 2. 28 Česká Vídeň, 26.9.1908, 3  ; Nikdy se nezaprou  !, in  : Naše snahy, 2.10.1908, 3. 29 M., Servus, Březina  !, in  : Národní listy, 22.1.1927, 3.

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(1855–1924) for the inadequacy of this singing30 in connection with his father-inlaw’s extemporisation at the Court Opera (see below). Let me add that performing the couplet Servus Březina  ! in the environment of Czech nobility was also denounced by the press.31 Court Opera, Friday 16 January 1903, three members of the imperial family in the audience, the role of Jeník in The Bartered Bride performed by Fritz Schrödter – during the play he signed a document and called to the audience what he had just written  : Servus Březina  !. The Czech press responded with irritation to this joke  : “Audacity from the stage was promptly acknowledged by audacity from the auditorium, as the Viennese understood the Viennese.”32 The description of the event in Národní listy was responded to by the Viennese Neue Freie Presse with the words “ein Scherz” [joke] and “ein kleines Extempore” [a small extempore]  ;33 in the second report, it tried to clarify and downplay everything by saying that the singer was encouraged to do so by the good course of the play and the good mood in the theatre and that he did not want to offend anyone  : “First of all, it is not true that court singer Schrödter sang ‘Servus Brezina  !’, but instead of the name Waclav Kruschina he roared with his tenor voice to the audience ‘Waclav Brezina’  ; to which the audience responded with a laugh.”34 The case escalated on four fronts  : The Young Czech Party deputy and National Theatre intendant Dr. Josef Herold (1850–1908) decided to resolve the case with his counterpart, i. e. the Court Theatre intendant, and should he fail, “[…] the Young Czech Party [was] resolved to submit an interpellation to the Imperial Council in this matter.”35 Apparently, an agreement, in the sense of banning attacks on other nationalities, was reached  : “[…] the g ­ eneral intendant ordered members of the court theatre to refrain from all improvisations in the future.”36 – In a letter published in the Prague music periodical Dalibor, the influential priest Alois Kolísek (1868–1931) called on the heirs to the composer Bedřich Smetana to complain to the directorate of the Imperial-Royal Opera and to consider not performing the opera in Vienna.37 – At the end of January, “Servus Bře­zina  !” was again addressed to the Czechs during interpellations. – Court Opera again  : the Czech singer František Pácal (1865–1938) learned from Vilém Heš that Schrödter 30 Josef Penížek, Z mých pamětí z let 1878–1918. I, Praha 1923, 111–113. 31 Feuilleton. V Praze, 6. srpna 1910, in  : České slovo, 7.8.1910, 3. 32 Denní zprávy. Protičeské extempore, in  : Národní listy, 24.1.1903 M, 2. 33 Ein Zwischenfall in der Hofoper, in  : Neue Freie Presse, 24.1.1903 A, 3. 34 Theater- und Kunstnachrichten. Der Zwischenfall […], in  : Neue Freie Presse, 25.1.1903, 11  ; Pěkní soudci, in  : Národní listy, 31.1.1903, 3. 35 Ein Extempore des Kammersängers Schrödter, in  : Illustriertes Wiener Extrablatt, 27.1.1903, 5. 36 Servus. Březina. Z Vídně, 28. ledna, in  : Plzeňské listy, 28.1.1903, 5. 37 Pan prof. dr. Alois Kolísek, in  : Dalibor, 14.2.1903, 52.

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considered him the one who had denounced him to Národní listy.38 This allegation spread around the Court Opera, Pácal was denunciated by his colleagues at the rehearsal on 2 February, and subsequently he resorted to a lawsuit for defamation. Other bullying followed (Pácal’s colleagues shouted Servus Březina  ! at him), as well as a hearing which proved that Pácal was not the informant.39 The hearing held on 16 February 1903 was “enriched” several times by Schrödter’s lawyer, Dr Frischauer, mocking Pácal for his declaration of Czech nationality – for which the judge reprimanded him several times.40 The singer and actor Ernst Freiherr von Nadherny (1885–1966) later recalled  : “This tribunal turned into a comedy.”41 According to the Czech press, Schrödter was punished with an official reprimand.42 2.2 Shouting and physical violence An interpellation of deputy Karel Hermann Wolf ended a case that took place in Trutnov/Trautenau. Josef Siegl/Siegel, a local German, was punished in court for shouting “Servus Březina” and other insults at the leader of the Czech Sokol procession on the local railway platform on 9 August 1903. The leader was JUDr. Josef Čížek, a Náchod lawyer and district mayor. On 8 October 1903, a Czech judge sentenced Siegl to a fine. However, at the instigation of Čížek, who found the sentence too mild, the case went to the regional court in Jičín and “the court of appeal […] sentenced Siegl to four weeks’ imprisonment”.43 The Germans from Trutnov complained, followed by a public meeting and speeches by deputies Wolf and Kasper.44 The phrase Servus Březina  ! also filled the pages of the press in 1904. Among other things, journalists wrote about a concert of the Czech violin virtuoso Jaroslav Kocián (1883–1950) in Innsbruck (26 April 1904) disturbed by the local Pan-Germans and the Burschen with the exclamation.45 The exclamation also accompanied Sokol events from time to time. The event that took place on 19 November 1903 in Kroměříž also attracted the attention of the press. After the performance in the theatre hall of the German society Concordia, some of the guests (including the officers) went to the café. The director 38 Chauvinismus pánů nad Vltavou, in  : Česká Vídeň, 7.2.1903, 5. 39 “Servus, Březina  !”, in  : Moravská orlice, 18.2.1903, 5. 40 Ještě “Václav Pschesina” z c. k. dvorní opery, in  : Česká Vídeň, 21.2.1903, 4. 41 Peter Pa nholzer – Christi a ne R eich-Rohrwig (Hg.), Ernst Freiherr von Nadherny. Erinnerungen aus dem alten Österreich, Wien 2009, 69. 42 Pěkní soudci, in  : Národní listy, 31.1.1903, 3. 43 Rectus  : Gerichtssaal. “Servus Březina  !”, in  : Deutsches Nordmährerblatt, 5.12.1903, 8. 44 Telef., in  : Národní listy, 15.12.1903, 4  ; Deutsche Volksversammlung, in  : Prager Tagblatt, 15.12.1903, 4. 45 Denní zprávy. Kulturní čin inšpruckých Všeněmců o koncertu Kocianově, in  : Národní listy, 1.5.1904, 3  ; Telegrafické zprávy. A opět zazářila německá kultura  !, in  : Národní listy, 27.4.1904, 1.

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of the society’s music school, Camillo Schuster, sang a melody from the opera Geisha at the piano, and the present malthouse director Heinrich Wertheimer encouraged Wilhelm Lackner (son of the present theatre director Josef Lackner) to sing Servus Březina  !. After a while, Max Arnstein, a local private official, came to the guests, asking who was the couplet interpreter, and “[…] after Lackner introduced himself, Arnstein gave him four loud slaps, and then disappeared as quickly as possible”.46 This event and its after-effects in local politics were reported on extensively by the Mährisches Tagblatt.47 Later the newspaper returned to the event in an effort to describe it objectively  :48 the singing of the song allegedly disturbed the Czech guests in the adjacent room. Since the café owner did not want to resolve the matter, the German guests left. However, the municipal council cancelled other theatrical performances due to fears of an escalation. That was followed by court proceedings  : “Mr Max Arnstein, who was sued for defamation by Mr Wilhelm Lackner at the Kroměříž District Court on 20 November 1903, openly expressed his regret for becoming carried away by the scene […].”49 Two weeks later, on 3 December 1903, a call written in German appeared on the corners, signed on 1 December by Mayor Dr Josef Pištecký  : the Czechs have been insulted and that will not be tolerated. The Germans immediately complained to the vicegerency  ; the article further describes the penalty against Schuster, as well as other events. Other articles also describe the demonstrations of the Kroměříž Czechs (7 December 1903 in front of the Concordia building).50 Max Arnstein was presented in the Czech press only as the one who, for his courage, was assaulted by three officers after his action  ; the interest of higher places in investigating this case and the course of demonstrations were also mentioned.51 The press also wrote about a skirmish that took place in Prague’s Panská Street on 14 June 1904 (a procession in support of the Podkrušnohoří Region). The singing of national songs (such as Hey, Slavs  !) aroused the resentment of the guests of the German Casino. According to the Czech press, the worker Josef Holoubek from Žižkov was attacked after Servus Březina  ! was shouted  ; the press called for a police 46 Servus Březina  !, in  : Deutsches Nordmährerblatt, 12.12.1903, 2. 47 (Servus Brzezina – in Kremsier), in  : Mährisches Tagblatt, 12.12.1903, 6. 48 Kremsierer Brief. (Zur “Servus Brzezina“-Sache.). Kremsier, 8. Juli, in  : Mährisches Tagblatt, 9.7.1904, 3, 4. 49 Ibid. 50 Demonstrationen in Kremsier, in  : Mährisches Tagblatt, 9.12.1903, 6. 51 Jak třem důstojníkům ztratila se zmužilost, in  : Hlas lidu, 11.12.1903, 4, 5  ; “Servus Březina”, Čas, 22.11.1903, 8  ; Z Brna, 21. listopadu, in  : Plzeňský obzor, 21.11.1903, 5  ; Z Kroměříže. 21. listopadu, in  : Plzeňské listy, 21.11.1903, 6  ; Důstojníci v Kroměříži, in  : Plzeňské listy, 23.11.1903, 3  ; Vření v Kroměříži, in  : Národní listy, 9.12.1903, 2  ; Provokace “Servus Březina  !” důstojnictvem, in  : Národní listy, 22.11. 1903, 3.

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investigation, which also followed.52 On the contrary, the German press wrote that members of German societies had been attacked.53 The depiction of similar clashes filled the pages of the press as early as 1903 and also in the following years.54 However, it should be added that the German press wrote about provocations from the Czechs (such as the greeting “Nazdar” [Hello in Czech]).55 Another skirmish took place at Easter 1904 in Úborsko. Several Germans from Nýrsko, six kilometres away, drank in Linzmajer’s inn and later provoked the Czech guests in Švarc’s pub  : they sang Wacht am Rhein and shouted “Fuj Čechen” [phooey Czechs], “Servus Březina” and “Heil”, to which the Czechs responded by singing the Czech anthem.56 – The following report comes from May of the same year  : “Šimon Bloch, a Nýrsko merchant, known as Tschida-Jud, hung a poster with the words ‘Servus Březina’ in the shop window of his shop. Having learned of this brazen provocative act, the Imperial-Royal District Governor’s Office in Klatovy issued an order to remove this poster. Šimon Bloch, who often also goes to Klatovy, and although he speaks Czech well, he is reluctant to speak Czech, is now in Nýrsko shouted at mockingly with the new nickname ‘Bžezina’.”57 Two years later, another similar event took place in Nýrsko.58 2.3 In the environment of the church Although Prague’s Catholic Theological Faculty was formally divided into two parts, it had a common archbishop’s seminary. “In Advent 1903 [on Sunday, 13 December 1903], the seminary leadership (and eventually the archbishop) dealt with verbal skirmishes between the Czech and German seminarians in the improvised ‘German smoking room’ of the Klementinum (through which, however, the Czech seminarians had to pass from the Czech smoking room)  ; the subject of the initial dispute was whether the greeting ‘Servus Březina  !’ addressed to a Czech seminarian [Alois Tylínek, later dean in Nusle59] was uttered in an insulting tone or not. The dispute was then ‘seasoned’ with the allegedly wilful singing of Czech songs to the provincial patrons after the common Latin Divine Office, which was perceived by the German seminarians as a wilful provocation of their Czech colleagues. The essen-

52 Ze soudní síně. Buršácké provokace na Příkopě, in  : Národní listy, 2.10.1903, 3. 53 Deutschfeindliche Demonstration in Prag. Prag, 15. Juni, in  : Neues Wiener Tagblatt, 15.6.1903, 6. 54 Výstava kuchařského umění v Plzni, in  : Šumavan, 9.7.1904, 2. 55 Rechtlosigkeit der Deutschen im Staate Oesterreich, in  : Mährisch-Schlesische Presse, 29.6.1904, 2. 56 Spasitel šumavského němectví I, in  : Šumavan, 14.5.1904, 2. 57 Servus Březina  ! v  Nýrsku, in  : Šumavan, 21.5.1904, 5. 58 Na nedělním sjezdu Boehmerwaldbundu v Žel. Rudě, in  : Šumavan, 7.9.1906, 5. 59 Mikul áš Lev ý, Papežský prelát Msgre Jan Nep. Říhánek, Praha 1936, 75, 76.

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tially banal dispute was highly publicised (Národní listy, Katolické listy, Reichspost, Bohemia).”60 Further information can be added to the quote. From the domestic press, reports from the periodicals Mährisches Tagblatt, Čas and Věstník katolického duchovenstva can be supplemented  ; the reports were reprinted, for example, by the Innsbrucker Nachrichten and the Reichspost. Catholic papers obtained information from two Czech seminarians and one German, among other people. According to the press, the ban on the singing of spiritual songs was supposed to apply to the St Wenceslas chorale. Rector Jan Nepomuk Řihánek (1863–1935) first tried to resolve the incident, subsequently followed by archbishop Lev Skrbenský of Hříště (1863–1938) – encouraging the German seminarians to be considerate and rebuking the Czechs for their exaggerated touchiness. The archbishop made the German seminarian apologise. The press differed (as always) in the interpretation of the participants’ actions. The German press refused that Servus Březina  ! was “gerufen” [exclaimed], saying it was “scherzend gesagt” [said jokingly]. It also disagreed that Heil Wolf  !61 was shouted, refusing the accusation that it was a deliberate provocation  : the German seminarian allegedly did not know about the presence of his Czech colleague and only greeted his colleagues  ; he apparently did not know the meaning and did not want to offend anyone.62 Here, the Czech press aptly responded with the sentence that “[a] decent man does not use such a greeting anywhere at all.”63 The exchange of views of the Czech and German press also contained criticism about who inaccurately informed about what, concluding that there were more national issues in the seminary. 2.4 In army circles The exclamation Servus Březina  ! was not only used to humiliate ordinary Czech soldiers, but it also reached the officers’ casinos.64 For example, reports can be found about a party organised by the officers of the Hradec Králové garrison, with Lieutenant Semenec (Ludwig Semenetz) from the sapper corps in Terezín (42nd Regiment) singing offensive songs. When he repeated the singing later in the officers’ casino, the Czech press called for the intervention of the authorities  : “However, we know that our objection will be to no avail. After all, last year Mr Semenec was called on by

60 Mirosl av Ku nštát, Katolicismus mezi univerzalismem, partikularismem a autonomií – Příspěvek k typologii středoevropské náboženské kultury, in  : Acta Universitatis Carolinae 2008, Studia Territorialia XIII, 262. 61 Karl Hermann Wolf (1862–1941). 62 Nationale Hetze gegen deutsche Theologen, in  : Bohemia, 18.12.1903 M, 2, 3. 63 K událostem v semináři, in  : Katolické listy, 19.12.1903, 4. 64 Národnostní poměry v armádě, in  : České slovo, 4.2.1908, 3.

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the General himself to perform the couplet ‘Servus Březina’.”65 Eventually, however, an intervention took place  : Semenetz was transferred to Terezín, and “the Imperial Minister of War forbade all members of the army from singing couplets that would offend any nationality or religion.”66 Failure to comply with the ban is documented by the Klatovy affair (1910).67 The subject of the case was the Shrovetide party in the private flat of a lieutenant of the Klatovy dragoons. According to one version, the Czech nation was disgraced there (among other things, by a banner reading Hausball bei Brezina). Having conducted his own investigation, Mayor MUDr. Alois Mašek found that the interpellating deputies Václav Prunar and Václav Klofáč used the case to attack him  ! Mašek, a member of the Young Czech Party (deputy of the Bohemian Diet), as a competitor of both deputies, defended himself at a meeting of the municipal council. The singing of the couplet Servus Březina  ! had a remarkable outcome in Beijing in the Imperial-Royal Naval Department (17 August 1909, celebration of the emperor’s birthday). Czech soldiers whistled in response to the singing of Servus Březina  !, for which they were sentenced the next day to 21 days of tightened imprisonment, and one Czech non-commissioned officer was demoted. The Czech press again called on Czech deputies to take action.68 2.5 After 1918 After the establishment of independent Czechoslovakia and Austria, the exclamation fell out of fashion in Vienna, becoming a symbol of the times of the monarchy. After all, as a result of remigration, the number of Czechs in Vienna decreased radically. Articles on Servus Březina  ! appeared less in the press, and if so, it was especially in the Czech press, in connection with the community of Czech Germans.69 2.6 Who was the Březina in Servus Březina  !  ? I have found confirmation of the idea that the Březina from the song had a real model. According to Josef Holeček, it was JUDr. Emanuel Březina (1848–1895), a native of Přibyšice near Benešov.70 Having graduated in law in Prague, he first 65 Z Terezína. (Poručík Semenec), in  : Národní listy, 7.2.1908, 3. 66 Výborný výnos, in  : Čech, 15.5.1908, 4. 67 Feuilleton. Rub a líc, in  : Plzeňský obzor, 9.3.1910, 1, 2. 68 (“Servus Brzezina” in – Peking.), in  : Mährisches Tagblatt, 11.9.1909, 4 (reprint of this report  : Jak se baví němečtí důstojníci v Pekingu, in  : České slovo, 11.9.1909, 3.) 69 “Servus Brszenina”, in  : Národní listy, 13.7.1925, 2. 70 JUDr. Emanuel Březina, in  : Kalendář Čechů vídeňských, Vídeň 1896, 70–72  ; JUDr. Emanuel Březina, in  : Amerikán. Národní kalendář, Chicago 1896, 67, 201.

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worked for the Czech Commercial Railways operated by Jan Muzika and then made a career in the civil service (for example, as a state railway inspector, chief engineer, tariff expert, representative for meetings at conferences in Russia and Italy). He also ran a coal business, published national economic journal articles in Národní listy71 and was a friend of the journalist Jan Stanislav Skrejšovský (1831–1883). In Vienna, he was a member of Sokol 1 (elected chairman in March 1892), and two years later he co-founded the Sokol Division of Lower Austria. He was a member of a number of local Czech societies and provided his flat for meetings of the Czech-Viennese intelligentsia. He died after several days of pneumonia on 28 March 1895. He left behind widow Ludmila, two sons (law student Emanuel and minor Svatopluk) and a daughter. In 1897, the painter Adolf Werner gave his portrait to Sokol. “Everything about him [Březina] was radically Czech. He viewed Skrejšovský as a national radical and therefore clung to him. He had two sons, whom he raised only in Czech. He was horrified by bureaucrats, Germans and old Viennese-Bohemian residents. He became the hero of the famous Viennese couplet ‘Servus Březina’. [This is followed by an incident with Březina’s uncle, Mr Čech – he was not a renegade, but did not show his Czechness  ; he told Březina that, considering his family, he should not be so radical.] “Dr Březina was a national radical by nature. He was big, with black, thick and spiky hair, beard cut short, defiant gaze and short neck, as if his head was placed directly on his trunk. His voice was high-pitched, sharp and defiant. He was not a man born for opportunism and compromise. With his angularity and thorniness, he had more success in Vienna than he would have had if he had not left Prague. That is because he was an excellent force in his office.”72 However, questions remain. Why did Emanuel Březina become the “hero” of the couplet seven years after his death  ? Why does no other source confirm Holeček’s claim if it was an insult to one of the prominent personalities in Czech Vienna  ? Nevertheless, Holeček’s statement is supported by the fact that the exclamation Servus Březina  ! was extremely provocative for the Czechs. Would it have been the case if it had not aimed at a specific person  ?

3. Conclusion In conclusion, it is necessary to point out something that is in a way overlooked despite its obviousness  : the overall effect did not depend only on the content of the lyrics or place of interpretation, but especially on the performer – some interpreted the song in a folklore and rather provocative way, others chose the form 71 Denní zprávy. JUDr. Emanuel Březina, in  : Národní politika, 29.3.1895, 3. 72 Josef Holeček, Pero. Román – paměti. Díl 4. S Janem Skrejšovsým, Praha 1925, 314–316.

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of insult. The following sentence uttered by a comedian is documented  : “Gentlemen, I am not a politician, I am a comedian, and if said by a comedian it is not an insult  !”73 For German Vienna, the exclamation Servus Březina  ! and everything similar was “gemütlich” [kind-hearted] and “Hetz” [fun], “Scherzwort” [a jokey word] and “harmloser Spottenruf” [harmless jibe]. German Vienna liked to make fun of Slavic ethnicity, for example, due to their poor knowledge and pronunciation of German. Similarly, the British and Americans caricatured the bad English of Asians  ; therefore, the melody from the operetta Geisha was chosen for the couplet lyrics. Are there equivalents in other countries  ? In Paris, it was the exclamation “Hé, Lambert”. No less interesting is what is used in Russia  : “Ivan Turgenev once wrote that if a Russian cannot refute the arguments of his opponent, he will hiss at him  : chepukha  !”74 In Czech history, the exclamation will primarily remain a symbol for the feeling of bullying, xenophobia and provocation. This study has clarified many things. Unanswered questions will perhaps be illuminated by the planned musicological study. It may also bring details about Servus Nepustil  !, Servus Silberstein75  ! or Servus Marjano  !.76

4. Servus Březina! 77 I. Ich komm’ direkt von China nach Europa zur Visit, Da ist mir Komisches passiert, als ich das Land betritt: Am Ufer stand auch ein Chines’, der schaut mich an und lacht, Auf einmal eilt er auf mich zu, die Freude hat’s gemacht: »Servus Březina«, hat er zu mir g’sagt. No ich schau mir ihn an und hab’ ihn gefragt: »Swoboda, bist du’s? – Ježiš, Sapperlot! Hab’ mir’s gleich gedacht, grüß dich Gott!«

73 Ve společnosti Luegrovců, in  : Nová doba, 5.12.1903, 3. 74 “Servus Brszenina.”, in  : Národní listy, 13.7.1925, 2. 75 Der Silberstein. Parodie auf Servus Březina von Josef Modl (Josef Blaha, Wien 1902, Nr. 1195) – the phrase Servus Silberstein does not appear in the lyrics of Der Silberstein, it is not impossible though, that the one and the same song was meant. 76 Servus Marjano  !, in  : Česká Vídeň, 23.12.1902, 6. 77 Verlag Josef Blaha, No. 1183.

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II. Zur See bin ich sehr viel gereist, ich kenne die Gefahr; Ja, einmal überfielen Seeräuber das Schiff sogar! Man packte mich und band mich an den Mastbaum ziemlich grob. »Servus Březina«, hat er zu mir g’sagt. No ich schau mir ihn an und hab’ ihn gefragt: »Wessely, bist du’s? – Ježiš, Sapperlot! Hab’ mir’s gleich gedacht, grüß dich Gott!« III. Der Hunger hat mich sehr geplagt, ich gehe ins Hotel, Und will Etwas zu essen hab’n und ruf’ den Kellner schnell. Der Kellner, der versteht mich nicht und ruft den Hotelier, Er kommt, und wie er mich hat g’sehn, so wird sein Blick ganz stier. »Servus Březina«, hat er zu mir g’sagt. No ich schau mir ihn an und hab’ ihn gefragt: »Nowotny, bist du’s? – Ježiš, Sapperlot! Hab’ mir’s gleich gedacht, grüß dich Gott!« IV. Sie, neulich war beim Barnum ich, da sah ich einen Mann, Dem man auf seinem harten Kopf ’nen Stein zerschlagen kann. Also, ich bleib’ a bissl steh’n und schau die G’schicht mir an. Da plötzlich springt der Kerl auf und lacht, was er nur kann: »Servus Březina«, hat er zu mir g’sagt. No ich schau mir ihn an und hab’ ihn gefragt: »Zapletal, bist du’s? – Ježiš, Sapperlot! Hab’ mir’s gleich gedacht, grüß dich Gott!« V. (Draufgabe.) Sie lachen, weil verraten ich, wo meine Wiege stand; Doch schau ich rings im Kreis herum, so hab’ ich gleich erkannt: Zum Bespiel jenen (zeigt hin) Herrn dort, der auch aus meinem Land. Wie ich jetzt hab’ auf ihn gezeigt, hat er sich weggewandt. »Servus Nechledil, oder bist du bös? Bin ja der Březina, nur äußerlich Chines’!« Ha, jetzt lacht er schon, er wird sogar rot, Hab’ mir’s gleich gedacht, grüß dich Gott!

Robert Rill, Wien*

Heinrich Drimmel als konservativer Denker Caspar von Schrenck-Notzing unterscheidet drei Ausrichtungen des Konservativismus, die er drei unterschiedlichen historischen Phasen zuordnet  :1 Der »klassische« Konservativismus habe sich im Wesentlichen gegen die Aufklärung gewandt, als diese Gott und die Schöpfung durch den Primat der Vernunft zu ersetzen begonnen habe. Im bürgerlich-nationalen Konservativismus – hier mögen die Gesellschaftsmodelle des viktorianischen England oder des wilhelminischen Deutschland eher Pate stehen als die übernationale Donaumonarchie – wird der Konservative als Hüter des (staatstragenden) Patriotismus verstanden, während der moderne Konservativismus die Auseinandersetzung mit der Kulturrevolution der Jahre nach 1960 bzw. deren Überwindungsversuch meint. Heinrich Drimmel (1912–1991), ÖVP-Unterrichtsminister (1954–1964) und Vizebürgermeister von Wien (1964–1969), entsprach in allen drei Punkten den genannten Forderungen.2 Die Politik an der Transzendenz Gottes, nicht an weltimmanenten und somit vergänglichen Gegebenheiten zu orientieren, dies wurde bald zur Determinante seines gesamten Handelns, das ihn bald bei politischen Freunden mehr denn bei Feinden als unbequem erscheinen ließ  : Sein Wille zum Staat, der das larmoyante Kakaniertum des zeitgenössischen Hofrat-Geiger-Patriotismus gegen jeden Zeitgeist bis zur Reichsidee hin überschritt, und seine permanente Liberalismus-Kritik und kritische Auseinandersetzung mit der Bewegung von 1968 machten ihn schließlich zum Fleisch gewordenen Denkmal, dessen messianischradikale Ansprüche zwar im allgemeinen Rückzug katholischen Denkens aus der Welt zum Scheitern verurteilt waren, das aber jenseits der Tagespolitik weiter mahnt.3

* Abkürzungen  : ÖVP  : Österreichische Volkspartei. 1 Caspa r von Schrenck-Notzing, Konservatismus, konservativ, in  : Ders., (Hg.), Lexikon des Konservatismus, Graz–Stuttgart 1996, 321f. 2 Siehe hiezu generell  : Robert R ill, Vom Heimwehrmann zum Polyhistor  : Heinrich Drimmel – sein Wirken und sein Werk, in  : Ulrich E. Zellenberg (Hg.), Konservative Profile. Ideen & Praxis in der Politik zwischen FM Radetzky, Karl Kraus und Alois Mock, Graz–Stuttgart, 395–422. 3 Vergleiche dazu die Ausführungen seiner späteren Amtsnachfolgerin anlässlich einer an ihn erinnernden Gedenktafelenthüllung  : Elisa beth Gehrer, Vorwort, in  : Heinrich Drimmel (†)  : Österreichs Sternstunden. Aspern und der Aufstieg eines Kaisertums, Wien 2002, 7–10.

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Robert Rill, Wien

Drimmels tiefe Religiosität war jener rote Faden, an dem sich sein Denken stets orientierte.4 Somit befand sich Drimmel, betrachtet man die Entwicklung jener »Alten Welt«, für die er stand, in einem latenten Rückzugsgefecht in jenem steten Kulturkampf, als den er den Gang der Geschichte, zunehmend auch der selbst erlebten, begriff  :5 Nach seinen eigenen Angaben lagen die Wurzeln seiner Glaubenskraft in seiner Familie – im Kindesalter Geborgenheit und Kontinuität suggerierend – findet sich diese Familie auch selbst aus dem Garten Eden niederösterreichischer Weinbauernidylle vertrieben und in hartem Überlebens- und Abwehrkampf gegen die Atrozitäten gesellschaftlicher Umwälzung am sozialen Schnittpunkt von Kleinbürgertum und Armut in der Wiener Vorstadt – als intakte kleine, kampferprobte Einheit in einer zu Ende gehenden Phase des Kulturkampfs.6 Im März 1988 erklärte Drimmel in einem Vortrag vor der Wiener ÖVP, von seiner Mutter das Beten gelernt zu haben.7 Die auf allen Ebenen von Anfang an vorhandene Akzeptanz der katholischen Lehre führte zwangsläufig zu einem ganzheitlichen Denken, das zu einer als Wissenschaftskritik im allgemeinen missinterpretierten Kritik der »Technokraten« führte, jener also, die sich in Drimmels Augen allzu elastisch Einzelphänomenen anpassen zu müssen meinten und dabei das gesamte Ziel, damit auch die gesamte Wahrheit, aus den Augen verloren.8 Dieses ganzheitliche Denken führte aber auch zu einer Hierarchie auf der Werteskala, derzufolge die Politik eine Stellung als »ancilla theologiae« einzunehmen habe, als untergeordneter weltlicher 4 Hierzu  : Robert R ill, Ein Katholik sagt nein, in  : Jan Mikrut (Hg.), Faszinierende Gestalten der Kirche Österreichs 8, Wien 2003, 39–60. 5 Vergleiche dazu die Begeisterung und den Pessimismus, mit denen er den Aufstieg und das Scheitern jener christlich-sozialen Bewegung charakterisiert, die er rudimentär noch selbst kennengelernt hatte  : »Das Unglaubliche war im letzten Vierteljahrhundert eine praktische Realität geworden  : eine christliche Partei, kein Haufen von Kerzlschluckern, Weihbrunnenten und Sakristeiwanzen, wie die Gegner höhnend sagten, sondern eine mächtige klassenlose Volkspartei. Eine Volkspartei, die auch in den Kronländern mit slawischer Bevölkerung Nachahmung fand und überall die seit Jahrzehnten verschüchterten Christen ermutigte, sich der Herausforderung im werdenden Parteienstaat zu stellen und entsprechende Antworten zu geben. Sie und ihre Kinder werden noch einen Weltkrieg überleben, und dann wird ihre Existenzmöglichkeit im Meer der modernen Massenversorgung versinken. Das waren sie, die Schwarzen von 1918.« Heinrich Drimmel, Vom Umsturz zum Bürgerkrieg. 1918–1927, Wien–München 1985, 156. 6 Vgl. hierzu  : Helmu t Wohnou t, Heinrich Drimmel. Skizzen zur Biographie eines homo politicus, in  : Ders. (Hg.), Demokratie und Geschichte. Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich 9/10, 2005/2006, 65f. Gerh a r d H a rtm a n n, Der gar nicht unpolitische Heinrich Drimmel, bevor er Politiker wurde, in  : Wohnout, Demokratie und Geschichte 9/10, 2005/2006, 80–92. 7 Geschichte ist Gegenwart. Vortrag von Heinrich Drimmel vom 3. März 1988, in  : pro Wien, Zeitschrift für Bürgerservice 12. Jg., März 1988, Nr. 6, 51. 8 Siehe hierzu Ders., Über Ideologen und Technokraten. Neue Sprachregelungen beherrschen die siebziger Jahre, in  : Die Furche, 10.4.1971, 3.

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Arm und Ausführungsorgan der Kirche  ; womit der Politik auch ihre Grenzen nach oben gesteckt werden konnten  : »In der Kirche gibt es Recht, das nicht vom Volk ausgeht  ; unzerstörbares, göttliches Recht«.9 Spätestens in den sechziger Jahren zerbrach dieser ordo. In dem eintretenden Chaos bewegten sich Kirche und Partei in sich beschleunigendem Tempo von den ursprünglichen Positionen hinweg, ohne sich dabei allerdings, und dies verkomplizierte die Situation, parallel zueinander zu bewegen. Der Theologe und Judaist Ferdinand Dexinger stellte 1980 rückblickend fest, es sei »schwierig (gewesen), den Grad von innerkirchlichem Pluralismus vorauszusehen oder gar abzufangen, der ohne Zweifel seinen Beitrag zum sozialistischen Wahlerfolg von 1970 leisten sollte.«10 Dass sich um diese Zeit die Geister scheiden, veranschaulicht Drimmels politisches Karriereende. Er wollte nichts »abfangen«. Es waren die Jahre der großen Enttäuschungen und des schrittweisen Rückzugs, freilich nicht in das absolute Privatleben des Pensionisten, sondern in die Welt des Analytikers in einem erbitterten Kulturkampf. Die Folgen jenes liturgischen Konzils, das als »2. Vaticanum« die Geschichte der Kirche und des abendländischen Denkens in kaum für möglich gehaltenem Ausmaß verändern sollte, trafen den ganzheitlich denkenden Politiker deshalb so hart, weil er vom zentralen Stellenwert der Liturgie nicht weniger wissen konnte als jene, die hier den Hebel für die projektierte Kursänderung erkannten und benutzten. An die vorkonziliare Kirche erinnerte er sich  : »Das Continuum im Religiösen, nicht eine gewisse Ausrichtung für das Politische wurde der Haltepunkt […] meines Lebens […] Die stillen Messen, die Rorate in der Adventzeit und die stumme Betrachtung im Aufblick zu dem Schönen, das die christliche Kunst dem Wahren geweiht hat, brachte mir denselben Ertrag wie die Betsingmesse oder ein Requiem, das nicht für den Konzertsaal komponiert wurde, sondern angesichts der vier letzten Dinge, um die der Komponist wusste.«11 Und wie erlebte Drimmel seine Kirche nach der Liturgiereform  ? – »Der Tisch bleibt am besten leer, denn jetzt muß auch im sakralen Raum Platz geschaffen werden für die moderne Technik. Man wird den stillen Betern, die mit ihrem Gebet den Weg zu Gott suchen, austreiben, derlei in der Stille zu tun. Lautsprecher […] ahmen den Höllenlärm einer Diskothek nach«.12  9 Ders., Proteste, Revolten, Reformen. Katholizismus auf dem Prüfstein, in  : Die Furche, 8.2.1969, 11. 10 Fer dina nd Dexinger, ÖVP, Katholische Kirche und Äquidistanz, in  : Josef Höchtl (Hg.), Akzente, Argumente, Alternativen. Beiträge zu einer Politik des selbständigen Menschen (= Schriftenreihe »Sicherheit und Demokratie«, 3), Wien 1980, 127. Siehe auch  : Christi a n Mertens, Heinrich Drimmel und die ÖVP in den 1960er Jahren, in  : Wohnout, Demokratie und Geschichte 9/10, 2005/2006, 227f. 11 Heinrich Drimmel, Die Häuser meines Lebens. Erinnerungen eines Engagierten, Wien–München 1975, 79. 12 Ders., Gott sei uns gnädig. Die Welt von Josef Stalin bis Jimmy Carter, Wien–München 1979, 293f.

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Die Verletzung der einander kausal bedingenden Liturgie, Ästhetik und Kontinuität in der katholischen Kirche führte bei ihm zu einer doppelten Erkenntnis  : Erstens, das vielgepriesene »aggiornamento« erfüllte keine der damit verbundenen naiven Erwartungen  ; denn die traditionelle Kirche sei vielleicht auch nicht beliebt und geachtet, allerdings sehr wohl beachtet gewesen, die progressive hingegen wirke unglaubwürdig, so, als wäre sie sich ihres Glaubens nicht mehr sicher. Zweitens, und noch wesentlich schwerwiegender  : Durch das Antasten der Tradition im liturgischen Bereich erschwere sich der Druck auch in Dogmatik und Kirchenrecht, womit auf breiter Front mit einem Brechen der innerkirchlichen Dämme zu rechnen sei  : »Katholische Theologen, die über eine ›Theologie der Revolution‹ und über eine ›revolutionäre Theologe‹ meditieren, wie weiland andere über Nation und Sozialismus, geraten in Nachbarschaft derer, die von ›Christentum ohne Religion‹ sprechen oder von der ›Explosion der Kirche‹, das heißt, von ihrer Zerstörung.«13 Der kulturrevolutionäre Geist erreichte indessen auch die Politik. Prägend für Drimmel war der die Programmatik der Volkspartei seltsam paralysierende Schulterschluss zwischen Kardinal Franz König und Neobundeskanzler Bruno Kreisky.14 Scharf kommentierte er diese Entwicklung  : »Während die nach Herkunft und Anschauung längst dem Marxismus ergebenen Parteigänger den Neo- (besser  : Spät-) Marxismus mit einiger Gelassenheit erlebten und Kreisky feststellte, es sei nicht so wichtig, ob Marx in diesem oder jenem Punkt recht gehabt habe oder nicht, wurden die katholischen Anhänger des Neomarxismus von einer geradezu stürmischen ersten Liebe zum Marxismus erfasst.«15 Den Gang der Geschichte meinte der Enttäuschte nun erkannt zu haben, als der in der Liturgie ansetzende und sich über die verschiedensten Ebenen der Theologie fortsetzende Kulturkampf das Politische erreicht hatte. Heinrich Drimmel, der unter diesen Umständen sich wandelnder Kirche und Partei im Grunde nicht mehr viel tun konnte, scheint zwischen 1965 und 1970 sein zum Teil scholastisch anmutendes Grundkonzept jener pessimistischen 13 Ders., Was von den sechziger Jahren übrig bleibt. Blick zurück im Schmerz, in  : Die Furche, 24.1.1970, 3  ; siehe auch  : M a ximili a n Liebm a n n, Freie Kirche im freien Staat. Heinrich Drimmel und die Stellung der Kirche in Österreich, in  : Wohnout, Demokratie und Geschichte 9/10, 2005/2006, 202f. 14 Laut Karl Blecha habe Bruno Kreisky 1967 festgestellt, »dass die Sozialistische Partei mit der Durchsetzung ihrer Ziele nicht so lange warten könne, bis sie die Mehrheit habe. Sie sei bereit, ein Bündnis mit anderen einzugehen. Als Partner kämen die Kommunisten nicht in Frage und auch nicht die Neoliberalen. Es bleibe daher nur die katholische Soziallehre übrig  ; hier die Hindernisse auf dem Weg der Zusammenarbeit wegzuräumen, sei nichts anderes als praktische Politik.« – K a rl Blech a, Demokratischer Sozialismus und christliche Grundwerte, in  : Heinz Fischer (Hg.)  : Rote Markierungen ’80, Wien–München–Zürich 1980, 46. Deutlicher kann die Funktionalisierung der Kirche zum Zweck eigener Machtpolitik wohl kaum angekündigt werden. 15 Heinrich Drimmel, Confiteor vor Marx und Freud  ? Die Kirche und der herrschende Zeitgeist, in  : Die Furche, 12.5.1973, 10  ; siehe auch Ders., Es war eine Messe wert. Sozialismus und Katholizismus in Österreich, in  : Die Furche, 12.10.1974, 23.

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Geschichtsauffassung entwickelt zu haben, die bei den meisten seiner Werke und Ansprachen den Hintergrund bildeten. Dieses Grundkonzept scheint Drimmel im immerwährenden Kampf zweier antagonistischer Prinzipien, nämlich des konservativen gegen das liberale (progressive), erkannt zu haben, einem (wiederum) allumfassenden Kulturkampf, der seit der Aufklärung mit verschiedensten Waffen und unter verschiedensten Masken bei gleichbleibender Gegnerschaft geführt wurde. Ein Teil seines im Besitz der Familie befindlichen Nachlasses besteht aus einem Zettelkatalog. Unter dem Begriff »Antiklerikalismus« findet sich dort folgende Eintragung  : »unveränderliche Zielansprache jedes kämpferischen Liberalismus und Sozialismus […] Unterdrückung des kirchlichen Schul- und Erziehungswesens, Diffamierung und Lächerlichmachung der Priester und Ordensleute, letztlich Ausdruck von Atheismus und Agnostizismus«.16 Es ist ein gegnerisches Prinzip, das die gottgewollte Ordnung bekämpft, dies in zwar sich ändernder, doch durchaus nachvollziehbarer Strategie. Der allumfassende Dualismus zwischen konservativ und liberal (progressiv) – und hier lässt sich der zweite Baustein untersuchen, der den eingangs geforderten »Patriotismus« als eines der möglichen Kriterien für konservatives Denken darstellt – wird von Drimmel konsequenterweise auch in der Geschichte von Staaten und Gemeinwesen der letzten beiden Jahrhunderte erkannt, mit gleicher Konsequenz jedoch in stetem Rückbezug auf die Kirche Christi als primum movens jeder Werthierarchie. Für die österreichische Geschichte ergibt sich so folgender Frontverlauf  : »Die öster­ reichischen Konservativen haben sich vor hundert Jahren angesichts der Tatsache gesammelt, dass zum ersten Mal in der Geschichte des Katholischen Österreich die Kirche einem Staat gegenüberstand, dessen Machthabern es nicht bloß um die Trennung von Kirche und Staat ging, sondern um die Unterdrückung des Glaubens als Kriterium politischer Entscheidung im demokratischen Zeitalter.«17 Zwei Tatsachen erklären sich aus Drimmels auf dem immerwährenden Kulturkampf der Prinzipien basierender Weltanschauung  : Die Frage nach der bevorzugten Staatsform ist im Grunde obsolet. Drimmel, der selbst fünf verschiedene Staatsformen erlebt hat (postulieren wir mit 1955 eine weitere Zäsur, so wären es sechs), bleibt die Antwort schuldig  ; sie ist ihm irrelevant. Im Kampf der Prinzipien kommt der Staatsform als taktischer Variable untergeordnete Bedeutung zu. Weiters ist unschwer zu ersehen, wie es ihm im Grunde leichtfallen muss, seinen persönlichen Patriotismus (die zweite tragende Säule) aus seiner katholischen Weltanschauung zu legitimieren. Dennoch erlaubt Drimmels Biographie, seinen Patriotismus auch als weltanschauliche Wurzel – primär vorhanden und nicht sekundär erschlossen – zu bezeichnen. 16 (Heinrich Drimmel), Schlagwortkartei, Familienbesitz. 17 Heinrich Drimmel, Kontinuität und Krise. Skizzen zum österreichischen Konservatismus, in  : Criticón. Konservative Zeitschrift 4, März/April 1974, Nr. 22, 57.

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Sobald der Jüngling im Stande war, den Kopf ein wenig über das familiäre Kleinbürgeridyll hinaus zu erheben, blies ihm auch schon ein rauer Wind ins Gesicht, den er zunächst mehr in instinktiver Abwehr denn intellektuell erfasste. Das gefühlsmäßig Angenommene erwies sich als das Prägendste und Resistenteste. Da waren in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zunächst die Massendemonstrationen der Sozialdemokratie, vor deren uniform forderndem Auftreten es dem sensiblen Bürschchen zunächst einmal graute,18 während er schon bald darauf in ihrem theo­ retisch propagierten Pazifismus einen gewissen Widerspruch zum martialischen Gehabe der kraftstrotzenden Aufmärsche entdeckte  ; schließlich wäre sein eigener Vater, als Sicherheitswachebeamter in Dienst, bei einer dieser Gelegenheiten fast von einem durch die Luft geschleuderten Bügeleisen getötet worden. Auch musste er es im Jünglingsalter selbst erleben, was es im »Roten Wien« um 1930 hieß, wenn man als Mitglied einer katholischen Verbindung auf dem Heimweg einer Gruppe politisch Andersdenkender begegnete. Neben dem Christentum ist es die Ablehnung des IstZustands, die hier absolut formend wirkte und die ihn bis zu seinem Tod begleiten sollte. Anders als andere christlich-soziale Politiker, die meist in prinzipiell positiver Einstellung zur sozialen Umwelt und um Werte zu bewahren an irgendeiner Basis Aufbauarbeit leisteten, stand das »Nein« zum Zeitgeist19 zunächst in einer Mischung von gefühlsmäßig Erfahrenem und empirisch Erlebtem, aber doch immer stärker intellektuell untermauert,20 an der Wiege seines politischen Denkens. Und diesen Zeitgeist, das liberale Prinzip eben, mit einem klaren »Nein« in die Schranke zu weisen (bei welcher Gelegenheit auch immer), wurde schließlich Drimmels wenig bedankte Lebensaufgabe. Als Politiker wie als Autor nahm er am großen Schachspiel zwischen konservativem und liberalem Prinzip teil. Seine stilistisch gesteuerte Parteinahme in den historischen Werken verleiht diesen eher den Charakter belehrender Dramen als quantifizierender Analysen, wie man sie nach eineinhalb Jahrhunderten positivistischer Wissenschaftstheorie gewohnt ist. Damit sei auch der Mangel an wissenschaftlichen Zitaten und Anmerkungen erklärt. Drimmel wollte nicht wie Ranke »Geschichte schreiben, wie es wirklich gewesen ist«, sondern den Kampf der Prinzipien illust-

18 Noch in den siebziger Jahren analysiert Drimmel die Gefahren eines kommunistischen Putschversuches nach dem Ersten Weltkrieg  : Ders., Von den Kaiserlichen zum Schutzbund. Zum 100. Geburtstag des Bundespräsidenten Theodor Körner, in  : Die Furche, 7.4.1973, 13  ; Ders., Der Umsturz 1918 in ÖsterreichUngarn. Soldaten geben den Ausschlag, in  : Die Furche, 26.4.1975, 12. 19 Man vergleiche in diesem Zusammenhang allein den Titel einer seiner wichtigsten programmatischen Publikationen  : Ders., 10 Reden wider den Zeitgeist, Wien–München 1965. 20 Ludwig Reichhold attestiert Drimmel, er habe im Kabinett Gorbach »die stärkste intellektuelle Potenz« gebildet. – Ludwig R eichhold, Geschichte der ÖVP, Graz–Wien–Köln 1975, 333. – Man beachte, dass dieses Urteil noch vor dem Hervortreten Drimmels als Buchautor abgegeben wurde.

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rieren. Maria Theresia,21 Franz II. (I.), dem mit der Ausrufung des »Kaiserthums Oesterreich« die eleganteste und nüchternste Antwort auf die napoleonische Bedrohung gelungen sei,22 Fürst Metternich,23 Franz Joseph – »Nichts blieb ihm erspart, nichts sollte ihm erspart bleiben […] Nach dem 3. Juli (1866) wuchs Franz Joseph in die Haltung, in der ihn unsere Großväter gekannt und respektiert, derentwegen sie ihm gedient haben«24 – Karl I.,25 aber auch Andreas Hofer,26 Karl Lueger27 oder Julius Raab28 sind daher weniger als konkrete historische Persönlichkeiten greifbar, sondern als Kommandanten in der Armee des kämpfenden konservativen Prinzips, wobei Drimmel seine Helden zwar durchaus mit den als Gemeingut geltenden Charakterzügen ausstattet und sie in ihre konkrete historische Epoche stellt, aber doch als jeweils hoch- oder höchstrangige Kämpfer für – besser  : gegen – dasselbe Prinzip – ein österreichisches Walhalla, ein Heldenberg mit höchster politischer, auch zukunftsweisender Relevanz, auf dem sich Drimmel vielleicht auch sein eigenes Denkmal gewünscht haben mag.29 21 Maria Theresia steht für Drimmel aber auch am Anfang der Aufklärung  : »[S]ie hatte nie ganz erfasst, was der Ursprung dessen war, worin das Neue sich aktualisierte  : Religion ohne Mysterium, Moral ohne Dogmen, Politik unter völligem Verzicht auf Recht, das göttlichen Ursprung hat.« – Heinrich Drimmel, Kaiser Franz. Ein Wiener übersteht Napoleon, Wien–München 1981, 13f. 22 Ebd., 239. 23 Ders., Franz von Österreich. Kaiser des Biedermaier, Wien–München 1982, 136ff. 24 Ders., Gott erhalte. Biographie einer Epoche, Wien–München 1976, 169f. 25 Kaiser Karl sei im letzten Kampf um die Monarchie gefallen  : »Nicht vor dem Feind, sondern in einem Exil, dessen Ärmlichkeit die völlige Bedeutungslosigkeit des untergegangenen Reiches und seines letzten Monarchen vor der Welt der Sieger und ihrer neuen Mitläufer sichtbar machen sollte.« Ders., Franz Joseph. Biographie einer Epoche, Wien–München 1983, 516. Weiters attestierte er Österreichs letztem Kaiser  : »Er blieb bis zum Tod Oberster Kriegsherr und von Gottes Gnaden Kaiser von Öster­reich. Was ihm von Gott verliehen worden war, konnte weder er selbst abgeben, noch konnte es ihm von einer irdischen Macht genommen werden. Das Gottesgnadentum, an dem Karl wie an einer Dornenkrone bis zu seinem Tode trug, war ja das Angriffsziel der Revolution, die von Nordamerika über den Atlantik getragen wurde, um zuletzt die Alte Welt zu überschwemmen.« (Hervorhebung im Original). – Ders., Die Antipoden. Die Neue Welt in den USA und das Österreich vor 1918, Wien–München 1984, 503. 26 Drimmel, Franz, 293f. 27 Diesen sieht Drimmel bereits mit dem nüchternen Blick des Kommunalpolitikers und – nahezu – Amtsnachfolgers  : »Für meine Meditation über das Thema Luegers  : zuerst braucht es eine geordnete Verwaltung der Hauptstadt Wien, hatte ich Zeit und Muße, wenn ich im Senatssitzungssaal einer der zahlreichen offiziellen Jubiläen, Ehrungen und Festakte beiwohnen mußte.« Drimmel, Häuser, 368f. 28 »Julius Raab ist für mich einer der drei oder vier Männer, denen ich meine Erziehung außerhalb des Elternhauses verdanke.« Drimmel, Häuser, 209. 29 Weiters wären noch Engelbert Dollfuß und Kurt von Schuschnigg anzuführen  : Ersteren traf Drimmel persönlich im Sommer 1933, um ihm, selbst Senior der CV-Verbindung »Nordgau-Wien«, deren Ehrenband im Kanzleramt zu überreichen. Diese Begegnung scheint einen eher skurrilen Eindruck auf Drimmel hinterlassen zu haben, dem im Übrigen, vom Patriotismus und der damit verbundenen

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Komplementär hiezu stehen auch die Kräfte des gegnerischen Prinzips unter einer die Möglichkeiten einer Generation sprengenden Strategie. Die Kontinuität ihres Handelns durch mehrere historische Epochen illustriert er in seinem Werk über den Oktober 1848 in Wien  : »Um 1848 schien auch in Österreich die Zeit gekommen zu sein, um die Herrschaft des Adels durch die eines liberalen Bürgertums und dessen adelige Verbündete zu ersetzen.«30 Wer sollte im Stande sein, den Gang der Geschichte über ein gutes Jahrhundert hinweg zu planen  ? Zweifellos keine historisch fassbaren politisch handelnden Individuen wären dieses politischen Gleichschritts fähig gewesen, sondern Politiker im Dienste eines Prinzips. In drei massiven Vernichtungsschlägen habe dieses liberale Prinzip das Kollabieren des Konservativismus erzwungen  : »Mit einem jähen Riss ging im Sommer 1866 der tausendjährige Zusammenhalt in der Mitte Europas entzwei. Der Erste Weltkrieg hat mit der Zerreißung Österreich-Ungarns, der Zweite Weltkrieg hat mit der Zerreißung Deutschlands diese Region in ein politisches Schüttgebiet verwandelt […] Der Ouverture unter dem Thema ›Finis Austriae‹ folgte das Finale ›Finis Europae‹.«31 Eine Kontinuität der Prinzipien führt Drimmel hier zu einer geopolitischen Argumentationslinie, die in ihrem simplifizierend wirkenden Absolutheitsanspruch geradezu zwangsläufig gewisse Missverständnisse herbeiführen zu müssen scheint. Drei Argumente gilt es einer postulierten Kontinuitätstheorie vom Heiligen Römischen Reich bis 1945 entgegen zu halten  : Zunächst sei Drimmels noch zu behandelnder Antiamerikanismus – ganz untypisch für Christlichsoziale der Nachkriegszeit, aber konsequent dem bipolaren Kulturkampfdenken entsprechend – erwähnt, der diesen Siegerstaat und seine Politik eindeutig in die Reihen des weltanschaulichen Gegners (»liberal«, »progressiv«) verbannte  ; durch seine zweidimensionale Weltsicht wäre Drimmel sich selbst im Weg gestanden, hätte er jemals versucht, Abwehrhaltung gegen den Nationalsozialismus abgesehen, keine weitere Affinität zur Ideologie des Ständestaats nachgewiesen werden kann  : »›Du musst das so sehen‹, belehrte ihn der Kanzler, ›Stell’ Dir vor, wir befänden uns in einem Tunnel, in dem ein Eisenbahnzug entgleist ist. Dampf strömt aus, Rauch und Trümmer versperren die Sicht und niemand weiß genau, in welcher Richtung der kürzeste Weg aus dem Tunnel ist. Es kommt aber darauf an, die Menschen rasch vom Ort der Katastrophe weg und in Sicherheit zu bringen. Schon kommt Panik auf. Es gibt Verwundete, die hysterisch werden und Hysteriker, die die Führung an sich reißen möchten. In diesem Moment unternehmen es einige, auf ihre Verantwortung die Richtung einzuschlagen, in der sie den nächsten Ausweg aus dem Tunnel und aus der Katastrophe zu finden hoffen.‹ Ich verließ den Kanzler in einiger Verwirrung.« – Drimmel, Häuser, 368f  ; in Schuschnigg schätzte er den Rechtsgelehrten und Theoretiker, der mit ihm selbst die Ansicht teilte, dass »jede Revolution aus einem Rechtsbruch hervorgeht, um damit zugleich die Rechtswidrigkeit derer, die sie ablösen, zum Ausdruck zu bringen.« Heinrich Drimmel, Vom Kanzlermord zum Anschluß. Österreich 1934–1938, Wien–München 1987, 67  ; siehe auch Ders., Einer, der nicht hassen konnte. Erinnerungen an Altbundeskanzler Kurt Schuschnigg, in  : Die Presse, 11.11.1979. 30 Ders., Oktober Achtundvierzig. Die Wiener Revolution, Wien–München 1978, 14. 31 Drimmel, Gott erhalte, 209.

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hier quantitativ, qualitativ oder auch nur ethisch zum stalinistischen Russland zu differenzieren. Zweitens konnte Drimmel sich schon aufgrund seiner persönlichen Biographie – Studentenbeauftragter und Heimwehrmann bis 1938 – des Verdachts von Verständnis für das Dritte Reich erwehren. Drittens aber ging es Drimmel gar nicht um eine Analyse des Nationalsozialismus, der ihn weltanschaulich überhaupt nicht interessierte, sondern um den Streit der Prinzipien, innerhalb derer er der Bewegung oder der Ideologie Hitlers keinen Platz einräumte  ; aus einem satirischen Kommentar über die Haltung vor allem der liberalen Westmächte gegenüber Öster­ reich vor dem März 1938 wird deutlich, dass er dem Gegner des Ersten Weltkriegs nahezu vorwirft, sich des Nationalsozialismus’ in Fortführung alter Politik zu bedienen  ; mehr als Mittel zum gegnerischen Zweck zu sein, konnte und wollte er Hitler und Co. schon aufgrund von deren historischer Flüchtigkeit nicht attestieren  : »Nur ausgesprochene Narren und Verbrecher, wie die Dollfuß-Anhänger in Österreich, konnten die Anerkennung, die damals der Hitler aus West und Nord und Süd, bald auch aus Ost, bekam, nicht teilen. Mit der Zeit ärgerte man sich im Westen über diese lächerliche Starrsinnigkeit.«32 Die vom Westen ab 1935 verfolgte Strategie basierte laut Drimmel in dessen Befürchtung, man würde »das Raubtier nach Westen zurücktreiben«,33 wenn man »an Hitlers Süd- und Ostgrenze zuviel Stacheldraht errichte […] So lag Österreich wie ein unter einem Baum angeketteter Köder im Busch, um das erwähnte Raubtier nach Osten zu locken.« Dass diese Rechnung nicht unmittelbar aufging, sollte sich bald erweisen  ; doch immerhin  : »In Österreich hatte Hitler den Demokraten die schmutzige Arbeit abgenommen, mit dem Klerikofaschismus aufzuräumen.«34 War es dem Gegner aber erst gelungen, sei es über den Umweg des Verkaufs Österreichs an Hitler, sei es durch dessen Sturz, das Machtvakuum, das man im Zentrum des alten Europa bewusst herbeigeführt hatte, durch die Kolonialtruppen außereuropäischer Supermächte aufzufüllen, dann würden nun auch die Europäer »einrückend gemacht in die Brückenköpfe, die fortan die USA und die UdSSR in Europa unterhielten«.35 Hierbei gilt es allerdings festzuhalten, dass er bei allem Pessimismus sich in keine weiteren Endzeittheorien versteigt, obwohl doch nach dem Sieg des einen Prinzips entweder der weitere Gang der Geschichte oder deren Grundlagen fragwürdig erscheinen mussten. Ein Einfluss der welthistorischen Ereignisse in Zusammenhang mit der Wende nach 1989 auf Drimmels Geschichtsbild kann nicht nachgewiesen werden.36

32 Heinrich Drimmel, Gott mit uns. Das Ende einer Epoche, Wien–München 1977, 191. 33 Ders., Vier »Herren« im Ambassador und ein Raubtier auf der Straße, in  : Die Presse, spectrum, 11./12. 3.1978. 34 Ders., Lehren, Legenden, Lügen. 1934   : 1974. Dollfuß und die Demokraten, in  : Die Furche, 20.7.1974, 15. 35 Drimmel, Häuser, 79. 36 In seinem (wohl) letzten Interview im Sommer 1991 gibt Drimmel sich weiterhin pessimistisch. Siehe  :

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Das auf der katholischen Kirche basierende konservative Prinzip, geopolitisch vertreten durch das historische Österreich in ständiger Abwehrhaltung und unter sukzessivem Terrainverlust, getragen durch schematisiert gezeichnete Einzelkämpfer in gemeinsamer Tradition, es wird plastisch und erscheint liebenswert durch Drimmels immer wieder propagierte Bilder. Aber genügt dessen gedankliche Negation, um die bestimmenden Kräfte für das liberale (progressive) Prinzip zu begreifen, dessen Proponenten zeitlich, räumlich und ideengeschichtlich das Spektrum vom amerikanischen Unabhängigkeitskrieg37 über die Revolutionen von 1789,38 1848 und 1917 bis hin zur 68er-Bewegung oder das kommunistische Vietnam besiedeln  ? Die Auseinandersetzung mit den Wachablösen im gegnerischen Lager, denen Drimmel einen beträchtlichen Teil seines Lebenswerkes widmet, lassen sein strategisches Denken komplexer erscheinen und legitimieren seine Integration, nach der eingangs aufgestellten Definition von Schrenck-Notzing, auch in den Bereich der Denker des modernen Konservativismus. Für Drimmel ist der Wille zur Zerstörung der gemeinsame Nenner aller progressiven Kräfte, denen er die »reuelose Ablösung von allen historischen Stilen« zu betreiben attestiert  ; und vor diesem Hintergrund weiter  : »Es soll, hat man erst die Schiffe hinter sich verbrannt, keinen Unterschied mehr ausmachen, ob es sich um ein Geschäftshaus, ein Wohnhaus, eine Fabrik, eine Kirche handelt und ob das Ding in Europa, Amerika oder Asien zu stehen kommt.«39 Diese Ablehnung aller Werte und Traditionen per se sei die gemeinsame Wurzel von Liberalismus und Nihilismus – weshalb der Nihilismus der 68er-Generation eine systemimmanente Fortsetzung des Liberalismus etwa der Gründungsväter der Vereinigten Staaten darstelle. Mit dem liberalen Axiom von der Gleichheit aller Menschen basiere der Liberalismus auf einer Ideologie, die die Glaubensstärke einer Offenbarungsreligion verlange und als deren Evangelium der postulierte »common sense« fungiere (hier kann sich Drimmel den Vergleich mit dem Begriff des »gesunden Volksempfindens« nicht verkneifen).40 Diese einfachen Voraussetzungen garantierten die Weiterentwicklung innerhalb des liberalen Prinzips  : »Das aus der Philosophie der Aufklärung des 18. Jahrhunderts hervorragende liberale Prinzip […] begnügt sich mit der Erlösung der Menschheit im Diesseits und ordnet danach eine Welt, die lebende Menschen erkennen und ordnen können. So gesehen wird der in der Geschichte vielfach bezogene ÜberÜber Kirche und Partei. Früher haben wir Menschen geprägt. Ein Interview, in  : Die weiße Rose. Zeitschrift gegen den Zeitgeist, 1991, Nr. 3, 8f. 37 Heinrich Drimmel, Der Amerikanismus in uns. Eine Epoche des Kolonialismus in Europa  ?, in  : Die Furche, 20.12.1969, 13. 38 Vergleiche Ders., Ludwig XVI. und Marie-Antoinette. Politische Lüge als revolutionäre Kampfmethode, in  : Die Furche, 14.6.1975, 16. 39 Ders., Der konservative Mensch und die Revolution, Wien–München 1970, 28. 40 Drimmel, Antipoden, 36.

Heinrich Drimmel als konservativer Denker

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gang vom Liberalismus zu den in Anschluss an Marx entstandenen politischen Richtungen folgerichtig«.41 Verständlich und bis zu einem gewissen Grad vorhersehbar waren das Desaster des Vietnamkriegs oder die Kulturrevolution von 1968, seien die betreffenden Revolutionäre doch nur den vom Liberalismus gewiesenen Weg zu Ende gegangen  : »Die Krisis der Autorität, von der jetzt in Gesellschaft, Staat und Kirche so viel die Rede ist, kommt primär nicht von den Verneinern der Autorität, sondern von jenen Autoritätsträgern, für die es eine Selbstverständlichkeit geworden ist, selbstherrlich zu schmälern, preiszugeben, zu diskriminieren und schließlich zu verneinen.«42 Im Unterschied zu anderen Konservativen kann Drimmel dem Scheitern des Liberalismus in dessen eigenem Lager wenig Sympathie, schon gar keine Schadenfreude abgewinnen, denn bei aller Neuformierung und Neuadjustierung handelt es sich doch nur um eine Organisationsänderung der feindlichen Armee bei gleichbleibendem Vernichtungswillen und Verlangen nach »unconditional surrender«43 der Alten Welt. Im unausgesprochenen Postulat von der Bipolarität der Welten und vom immerwährenden Kampf der Weltanschauungen, basierend auf der Liturgie und ihrer Zerstörung, dem Alten Reich und seiner Zerstörung sowie der Absorption des klassischen Liberalismus durch Nihilismus und 68er-Bewegung bedient sich Drimmel nahezu teleologisch-dialektischer Geschichtsmodelle. Allerdings ist der Kampf zwischen Gut und Böse, beide geleitet von intelligenten Wesen in Zeit- und Raumlosigkeit, uraltes christliches Gemeingut  : »So wie das Leben des Menschen von zwei Wirklichkeiten abhängt, von Gnade und Sünde, so ist die Geschichte der Menschheit durch das Gute und das Böse bedingt«,44 interpretiert der katholische Journalist Carlo Cremona das philosophische Denken von Augustinus und könnte dabei ebenso Heinrich Drimmel vor Augen haben  ; dies überrascht nicht weiter, denn man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass Drimmel seine Kirchenväter, so auch den Antagonismus zwischen »Civitas Dei« und »civitas terrena«, gründlichst studiert hatte. Drimmel wäre wohl selbst gerne so etwas wie ein Kirchenvater seiner Partei geworden. Ansätze dazu gab es, seine Vorstellungen flossen durchaus in die Programmatik ein45 – etwa in die Grundsatzdebatten des ÖAAB, der Drimmel seinen Ehrenring verlieh.46 Robert Kriechbaumer erkennt drei Prinzipien, die Drimmel – langfristig und beharrlich – als tragende Säulen in die ÖVP einzupflanzen versuchte  : »1) Verbreiterung der geistigen Basis der ÖVP nach rechts  ; 2) Ablehnung und Kampf gegen 41 Ebd., 36. 42 Heinrich Drimmel, Selbstzerstörung der Demokratie  ? Außerparlamentarisches und Unparlamentarisches, in  : Die Furche, 26.7.1969, 3. 43 Drimmel, Gott erhalte, 281f. 44 Ca rlo Cremona, Augustinus. Eine Biographie, Mailand 1988, 308. 45 Siehe  : R ill, ÖVP, 274. 46 Fritz Neugebauer – Werner A mon – Ta m a r a Scheer, 60 Jahre ÖAAB, Wien 2005, 26.

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alle Spielarten des ›Sinistrismo‹, sei es in der Kirche, der Politik oder dem geistigen Leben, da dies zu einem linken Totalitarismus führen werde. Besonders anfällig für diese Tendenzen seien die Liberalen, für die der Feind stets rechts, nie aber links stehe  ; 3) Stärkung des Ordnungsdenkens gegenüber der drohenden Auflösung traditioneller Werte. Werte wie Abendland, Ethik, Familie, Anständigkeit u.s.w. dürften nicht über Bord geworfen werden zugunsten einer fragwürdigen Freiheit, die nur zu neuen Knechtschaften führen werde.«47 Dem Umstand aber, dass es nicht (ganz) so kommen sollte48 und dass Drimmel daraus äußerst radikale Konsequenzen ziehen zu müssen meinte, verdanken wir ein gutes Dutzend historischer und kulturkritischer Werke von Weltklasse.

47 Robert K riechbaumer, Parteiprogramme im Widerstreit der Interessen. Die Programmdiskussion und die Programme von ÖVP und SPÖ 1945–1986 (= Österreichisches Jahrbuch für Politik, Sonderband 3), Wien 1987, 399  ; zumindest der erste Punkt entspricht auch dem kontinuierlichen Bestreben der CSU unter Franz Josef Strauß, »dass es rechts von uns keine demokratisch legitimierte Partei geben darf.« Fr a nz Joseph Str auss, Die Erinnerungen, Berlin 1991, 587. 48 Wendelin Ettmayer etwa betont die zunehmende Prägung der Programmatik der ÖVP durch liberales Gedankengut  : »Angesichts dieser immer wieder feststellbaren Einwirkungen liberaler Denker auf grundsätzliche Aussagen der ÖVP ist wohl die Schlussfolgerung richtig, dass von Exponenten der ÖVP das Gedankengut des Rechtsstaates im Sinne des Liberalismus vertreten wurde  : Man berief sich einerseits bewusst auf die Errungenschaften und das Erbe des Liberalismus, andererseits betrachtete man Demokratie und Rechtsstaat als Formen des menschlichen Zusammenlebens, die auf eine fortschreitende Entwicklung, auf Wandel und Veränderung zugeschnitten sind.« Wendelin Et tm ay er, Der Stellenwert der Liberalen in der ÖVP, in  : Alois Mock (Hg.), Durchbruch in die Moderne. Von der industriellen zur nachindustriellen Gesellschaft. Festschrift aus Anlaß des 70. Geburtstages von Altbundeskanzler Dr. Josef Klaus, Graz–Wien–Köln 1981, 110.

Arnold Suppan, Wien

Rijeka/Fiume – Europäische Kulturhauptstadt 2020 Am 12. September 2019 hing am ehemaligen Gouverneurspalast von Fiume, heute das kroatische Rijeka, eine große italienische Flagge mit Insignien aus der Mussolini-Zeit. Aktivisten einer nationalistischen Gruppierung aus Italien hatten sie in der Nacht angebracht und verbreiteten später in den sozialen Netzwerken Bilder von Männern in schwarzen T-Shirts, die vor der Trikolore posierten. Die kroatische Polizei entfernte die Flagge umgehend. Obwohl es der kleinen italienischen Minderheit von 2200 Personen heute grundsätzlich gut geht – auch dank finanzkräftiger Unterstützung aus Rom – haben Italien und Kroatien nach wie vor eine völlig unterschiedliche Sichtweise auf die Geschichte der Stadt, die von 1471 bis 1918 unter habsburgischer Herrschaft stand.1 Fiume/Rijeka gehörte nie zum venezianischen Istrien und Dalmatien. Die kroatischen Fürsten von Frankopani hatten schon im 13. Jahrhundert an der Stelle des illyrischen Tarsatica das Kastell Tersatto im Hinterland der Hafenstadt Fiume errichtet. Der habsburgische Kaiser Friedrich III. erwarb die Stadt an der oberen Adria im Jahre 1471 von den Grafen Wallsee, die 1399 die Herren von Duino beerbt hatten. In lateinischen Urkunden hieß die Stadt Flumen sancti Viti, der früheste Beleg des slawischen Ortsnamens in der ikavischen Form »Richa« stammt aus einer Gerichtsurkunde von 1230/32. Der in der frühen Neuzeit übliche deutsche Name der Stadt lautete Sankt Veit am Pflaum. Während deutsche Pfleger und Hauptleute die grundherrlichen Besitzungen verwalteten, lebten in der Stadt vor allem Kroaten und Italiener. Kaiser Maximilian I., der auch den Titel eines Herrn von Fiume trug, verlieh 1515 an das fidelissimum oppidum terrae Fluminis ein Diplom. In den 1520er Jahren besuchte hier der Müllersohn Primož Trubar aus Unterkrain, der spätere slowenische Reformator, die städtische Schule, angeblich auch eine kroatische glagolitische Schule. Aus Innerösterreich wanderten deutsche Handwerker und Gewerbetreibende zu. In den 1530er Jahren begann Ferdinand I. als österreichischer Erzherzog wie als ungarisch-kroatischer König Fiume gegen das Vordringen der Osmanen zu befestigen und verlegte eine Grenzerbesatzung in die Hafenstadt. Fiume wurde ein Umschlagplatz für den Handel mit Innerösterreich, Nordkroatien und der kroatischen Militärgrenze. Im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts war der Hafen von Fiume auch immer wieder Anlandeplatz von aus dem Osmanischen Reich ge-

1 Volk er Pa bst, Fiume wirft seine Schatten auf Rijeka, in  : Neue Zürcher Zeitung, 24. Dezember 2019, 5.

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flüchteten Uskoken, die zum Teil als Piraten die obere Adria unsicher machten und vor allem venezianische Schiffe angriffen und plünderten.2 Im Jahre 1717 verkündete Kaiser Karl VI. die freie Schifffahrt in der Adria und erhob 1719 Triest und Fiume zu Freihäfen. Um den Handel zwischen der mittleren Donau und der Adria zu fördern, ließ Karl VI. die Save und die Kupa regulieren und 1726 eine neue Straße zwischen der vom innerösterreichischen Erzherzog Karl errichteten Festung Karlstadt/Karlovac an der Kupa und Fiume errichten (Karolinska cesta). Auf diese Weise konnte nun südungarisches und slawonisches Getreide mit Lastschiffen auf der Save und der Kupa bis Karlstadt und von hier mit schweren Wagen bis Fiume gebracht werden. Dieser Transithandel wurde zum ersten Ansatzpunkt eines neuen kroatischen Handelsbürgertums. Kaiserin und Königin Maria Theresia ließ 1750 im Freihafen Fiume die erste österreichische Zuckerraffinerie errichten und erklärte die Stadt 1776 mit dem 1671 von den aufständischen Fürsten Zrinski und Frankopani konfiszierten Litorale (mit den Häfen Buccari/Bakar und Porto Ré/Kraljevica) zu einem eigenen »Ungarischen Küstengebiet« (separatum regni Hungariae coronae adnexum corpus). Von nun an war die Hafenstadt direkt dem Ungarischen Statthaltereirat unterstellt.3 Nach dem Frieden von Schönbrunn 1809 fasste Napoleon Zivil- und Militärkroatien, das ehemals venezianische Istrien und Dalmatien, Ragusa/Dubrovnik, Fiume/ Rijeka, Triest/Trieste/Trst, Görz/Gorizia/Gorica, Krain, Oberkärnten und Osttirol zur französischen politisch-administrativen Einheit Les Provinces Illyriennes zusammen, in denen auch der Code Napoléon in Kraft trat. Bereits im Herbst 1813 eroberten aber österreichische Truppen die »Illyrischen Provinzen« zurück, die vom Staatskanzler Fürst Metternich 1816 zum »Königreich Illyrien« zusammengefasst wurden, allerdings ohne Dalmatien. Im Jahre 1832 verfasste der Vertreter Kroatiens in der ungarischen Magnatentafel, Graf Janko Drašković, in štokavischer Sprache das Promemoria Disertatia iliti Razgovor [Dissertation oder Gespräch], in der er den künftigen Abgesandten zum ungarischen Reichstag auftrug, eine politische Einheit Velika Ilirija [Groß-Illyrien] zu verlangen, die die Länder Kroatien, Slawonien, Militärgrenze, Fiume, Dalmatien und Bosnien umfassen und in der der Banus im Namen des Königs die oberste Regierungsgewalt wahrnehmen sollte. Tatsächlich verlangte am 25. März 1848 eine große Volksversammlung in Zagreb die Vereinigung der kroatischen Länder unter Generalmajor Josip Jelačić als Banus, und dieser ließ am Beginn seines Feldzugs gegen Ungarn am 31. August 1848 Fiume besetzen. Die Regierung des Fürsten Felix von Schwarzenberg hob dann im März 1849 die Sonderstellung des Königreichs Ungarn auf und anerkannte die völlige Unabhängigkeit 2 Rijeka, in  : Igor K a r a m a n (Hg.), Enciklopedija Hrvatske povijesti i kulture, Zagreb 1980, 547–550. 3 A rnold Suppa n (Hg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas. Zwischen Adria und Karawanken, Berlin 1998, 117–120, 154.

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Kroatiens, Slawoniens und des Küstengebiets mit Fiume  ; Banus Jelačić wurde auch Gubernator von Fiume und Dalmatien. Der junge Kaiser und König Franz Joseph I. ließ zwar bei den kroatisch-slawonischen Behörden die »Volkssprache« gelten, Innenminister Alexander Bach verlangte allerdings 1854 vom Banus, dass die Behörden nicht nur in ihrem inneren Dienst, sondern auch in der Korrespondenz mit den untergebenen Stellen die deutsche Sprache einzuführen hätten. Die höheren Schulen wurden zum Gebrauch des Deutschen als Unterrichtssprache angehalten. Dies stieß in Fiume auch auf den Widerstand des italienischen Bürgertums.4 Nach dem Ende des Neoabsolutismus begann 1860 eine Phase der verfassungsmäßigen Neuordnung der österreichisch-ungarischen sowie der ungarisch-kroatischen Beziehungen. Die in Fiume bestimmenden italienischen Großkaufleute, Schiffseigentümer und Industriellen vertrauten der Bereitstellung ungarischen Kapitals für den wirtschaftlichen Aufschwung des Hafens und forderten daher die unverzügliche und unmittelbare Vereinigung mit Ungarn. In Fiume wurden Demonstrationen gegen Kroatien und die Kroaten organisiert, die gesamte ungarische Öffentlichkeit unterstützte die Anschlussforderung. Der Sprecher des ungarischen Landtags, der Jurist Ferenc Deák, verlangte die Wiederherstellung des ungarischen Reichstags unter Einbeziehung von Vertretern Siebenbürgens, Kroatien-Slawoniens, der Militärgrenze und Fiumes. Der kroatisch-slawonische Landtag (Sabor) entschied sich 1861 für eine Realunion mit Ungarn. Nach dem von Kaiser Franz Joseph und Deák akkordierten österreichisch-ungarischen Ausgleich im Februar bzw. Juni 1867 und der Ernennung des Grafen Gyula Andrássy zum ungarischen Ministerpräsidenten ernannte dieser einen Regierungskommissär für Fiume und löste die Stadt und ihre Umgebung administrativ von Kroatien. Entgegen den Forderungen des kroatischslawonischen Landtags anerkannte König Franz Joseph im ungarisch-kroatischen Ausgleich 1868 Fiume als separatum sacrae regni coronae adnexum corpus des Königreichs Ungarn.5 Die ungarischen Regierungen bauten Fiume in der Ausgleichsepoche zu einer modernen Hafenstadt aus und ließen 1873 auch eine Bahnlinie von Budapest über Zagreb nach Fiume errichten  ; die Fahrt mit dem Schnellzug sollte bald nicht länger als zwölf Stunden dauern (nach Wien 12,5 Stunden). Wenige Monate nach der Seeschlacht bei der Adriainsel Lissa 1866, in der der österreichische Admiral Wilhelm von Tegetthoff das italienische Flaggschiff Re d’Italia versenkt hatte, war in Fiume erstmals ein »automobiler Torpedo« erprobt worden, dessen Erfinder, Robert Whitehead aus Lancashire, einige Jahre beim Triester Stabilimento Tecnico tätig gewesen war. Das Wiener Kriegsministerium entschied sich zwar für den Erwerb von Whiteheads Torpedo, war aber nicht bereit, ihm auch noch die Verpflichtung 4 Ebd., 190–217. 5 Ebd., 217–228.

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abzukaufen, es an keinen anderen Staat weiterzugeben. Die königlich-ungarische Seeschifffahrtsaktiengesellschaft »Adria« betrieb wöchentlich von Fiume aus den Mittelmeerdienst nach Palermo, Napoli, Genova, Marseille, Barcelona und Valencia. In Fiume wurde neben dem italienischen Gymnasium auch ein ungarisches eingerichtet, und die Wiener Architekten Helmer und Fellner errichteten ein Stadttheater. Als sich im Oktober 1905 in Fiume Vertreter der kroatischen Oppositionsparteien trafen und eine Resolution für eine ungarisch-kroatische Zusammenarbeit gegen die österreichische Politik beschlossen, schrieb die Wiener christlichsoziale »Reichspost« von Hochverrat. Im Jahre 1910 wies die ungarische Volkszählung für Fiume/ Rijeka 49.806 Einwohner aus, von denen 48,6 % Italienisch als Muttersprache angaben, 26 % Kroatisch, 13 % Ungarisch sowie je 4,7 % Slowenisch und Deutsch.6 Bereits am 4. September 1914 formulierte die serbische Regierung unter Ministerpräsident Nikola Pašić ihre wesentlichen Kriegsziele und teilte der Entente mit, dass sie im Falle des Sieges erwarte, »turning Serbia into a strong South-Western Slav state comprising all Serbs, all Croats, and all Slovenes«. Und der serbische Ethnograph Jovan Cvijić ließ Karten mit den Grenzen des künftigen jugoslawischen Staates zeichnen, die auch Triest/Trieste und Fiume/Rijeka mit einschlossen. Auch der 1915 von Ante Trumbić, einem ehemaligen Bürgermeister von Spalato/Split, in Paris gebildete »Südslawische Ausschuss« (Jugoslovenski odbor) verlangte alle östlichen Adriagebiete bis Triest. Im Geheimvertrag von London im April 1915 sprachen allerdings Großbritannien, Frankreich und Russland dem Königreich Italien für den Kriegseintritt gegen Österreich-Ungarn das Küstenland (mit den Kronländern Triest, Görz-Gradisca und Istrien) und das nördliche Dalmatien bis Spalato zu  ; nur Fiume und sein Hinterland blieben außerhalb des Vertrags. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs verlangte Italien von seinen Alliierten aber nicht nur die Erfüllung des Londoner Geheimvertrags, sondern auch die Übergabe von Fiume. Der am 29. Oktober 1918 in Zagreb proklamierte »Staat der Slowenen, Kroaten und Serben« (Država Slovenaca, Hrvata i Srba) schloss hingegen Dalmatien, Fiume, Istrien, Triest und Görz-Gradisca mit ein. Aufgrund des Waffenstillstands in der Villa Giusti bei Padova vom 3. November 1918 erhielt aber Italien das Recht zur Besetzung des Küstenlands und Dalmatiens, sodass italienische Truppen auch in Fiume einrückten. Andererseits war Rijeka bereits im ersten jugoslawischen Parlament vom März 1919 vertreten. Und die jugoslawische Friedensdelegation stellte am 18. Februar 1919 vor dem Rat der Zehn in Paris den Besitz der Häfen von Triest und Fiume als unverzichtbar für die slowenische und kroatische Wirtschaft dar.7

6 Ebd., 243–262. 7 M a rina Cat ta ruzza, L’Italia e il confine orientale 1866–2006, Bologna 2007  ; M a rina Catta ruzza, Italy and Its Eastern Border, 1866–2016, New York–London 2017.

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Während US-Präsident Woodrow Wilson in den Pariser Friedensverhandlungen in der Frage Südtirol (auch des deutschen Teils) sofort auf die italienischen Forderungen einging, stellte er sich in der Frage der Aufteilung der habsburgischen Gebiete zwischen Italien und Jugoslawien (damals das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen) gegen eine Zuerkennung Fiumes und Dalmatiens an Italien, sodass es im April 1919 zum Bruch mit dem italienischen Ministerpräsidenten Vittorio Orlando kam. Im Juni 1919 legte Wilson einen abgeänderten Vorschlag vor, der Fiume (wie Danzig) den Status eines Freistaats zuerkennen sollte. Als die Republik Österreich am 10. September 1919 den Vertrag von Saint-Germain-en-Laye unterzeichnen musste, der auch die Aufteilung der österreichischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie festlegte, war jedoch die Adriafrage noch nicht entschieden. In dieser ungeregelten Lage besetzte am 12. September 1919 der Dichter und Kriegsheld Gabriele d’Annunzio mit seinen 2500 Legionären Fiume und herrschte mit Unterstützung der italienischen Bevölkerung 16 Monate im Gouverneurspalast. Am 12. November 1920 einigten sich jedoch die italienische und die jugoslawische Regierung im Vertrag von Rapallo auf einen Kompromiss, nach dem Triest, Istrien und Görz sowie die norddalmatinische Hafenstadt Zara/Zadar mit einigen Adriainseln an Italien fielen, der größte Teil von Dalmatien jedoch an Jugoslawien. Fiume/ Rijeka und das umliegende Gebiet wurde ein Freistaat mit 28 km2 und 52.891 Einwohnern, freilich mit territorialem Zugang zum italienischen Istrien. Im Vertrag von Rom vom 27. Jänner 1924 teilten schließlich die Ministerpräsidenten Benito Mussolini und Nikola Pašić den Freistaat, sodass das Zentrum von Fiume an Italien angeschlossen wurde, die südliche Umgebung mit dem Hafen von Sušak an Jugoslawien. Für die jeweilige Minderheit wurden Schutzklauseln eingefügt. Dennoch intensivierte die faschistische Regierung die Italianisierung Fiumes in Verwaltung, Gerichtswesen und Schulwesen.8 Nach dem von Hitler befohlenen Aprilkrieg gegen Jugoslawien 1941 ließ Mussolini nicht nur das südliche Slowenien und die Umgebung von Fiume/Rijeka mit Sušak und die nördlichen Adriainseln an Italien anschließen, sondern auch Dalmatien bis nach Spalato/Split. Präfekt von Fiume wurde Temistocle Testa, Gouverneur von Dalmatien Giuseppe Bastianini. Im Verlauf des Jahres 1942 fasste Titos Partisanenbewegung auch im Hinterland von Dalmatien und Fiume Fuß. Die italienischen Generäle befahlen ihren Soldaten, mit aller Härte gegen die kommunistischen Partisanen vorzugehen  : »Es muss für jeden gefallenen Kameraden das Leben von zehn Rebellen genommen werden.« Entlang der Küste füllten sich die italienischen Lager mit kroatischen Zivilinternierten. Als Ustaša-Milizen bereits im Juni 1941 in Zagreb begannen, jüdische Bürger ins KZ Jasenovac zu verschleppen, versuchten 8 A rnold Suppa n, The Imperialist Peace Order in Central Europe. Saint-Germain and Trianon, 1919–­1920, Wien 2019.

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viele in die italienische Besatzungszone zwischen Fiume und Spalato zu flüchten, wo sie Unterstützung durch einen jüdisch-italienischen Verein erfuhren. Im Frühjahr 1943 wurden etwa 3000 Juden aus den Küstenstädten auf der Insel Veglia/Rab im Quarnero/Kvarner interniert. Jüdische Kinder wurden nach Italien oder in die Türkei – und von dort nach Palästina – transferiert. Als die Deutschen im September 1943 die Insel besetzten, versuchte die Mehrheit der Juden in die Partisanengebiete zu entkommen, einigen Hundert gelang auch die Flucht nach Italien. Unmittelbar nach der Kapitulation Italiens bestellte Hitler am 10. September 1943 den Kärntner Reichsstatthalter und Gauleiter Friedrich Rainer zum »Obersten Kommissar« in der »Operationszone Adriatisches Küstenland«. Rainer selbst hatte bereits zuvor den Reichsführer-SS Heinrich Himmler darauf hingewiesen, dass die obere Adria Operationsgebiet der Briten werden könne und dass die jugoslawische Partisanenbewegung im Raum Fiume–Laibach–Görz–Triest bedrohlich zunehme. Tatsächlich wurde die Operationszone – bestehend aus den Provinzen Friaul, Görz, Triest, Istrien, Fiume, Quarnero und Laibach – sofort von Einheiten der Deutschen Wehrmacht und der SS besetzt. Fiume wurde am 14. September 1943 vom italienischen dem deutschen Platzkommandanten übergeben. Auf bewaffnete Aktionen der Partisanen in Sušak antworteten die Deutschen Anfang 1944 mit Terrormaßnahmen. Bis zur Landung der Alliierten in Südfrankreich im August 1944 wurde dem Ausbau der Küstenverteidigung besonderes Augenmerk beigemessen, da mit einer alliierten Landung an der Küste Istriens gerechnet wurde. Obwohl der Befehlshaber in der Operationszone, General Ludwig Kübler, für den Kampf gegen die Partisanen den Befehl ausgegeben hatte, »Terror gegen Terror« zu setzen, und SS-General Odilo Globocnik in Istrien ganze Dörfer niederbrennen ließ, behaupteten sich die Partisanen auch in der Provinz Fiume mit Ausnahme der Hafenstadt. Im März 1945 setzten Fluchtbewegungen der Italiener aus Fiume und den Quarnero-Inseln ein. Erst am 3. Mai 1945 konnte die 4. Jugoslawische Armee die deutsche Besatzung in Fiume zum Rückzug zwingen. Nun fielen Tausende Italiener aus den istrischen Küstenstädten Racheakten der Partisanen zum Opfer  ; viele wurden in die dortigen Karsthöhlen (foibe) geworfen. Dies führte zu einem Massenexodus der meisten Italiener aus der Stadt und ihrer Umgebung. Ihre Vermögenswerte wurden vom jugoslawischen Staat entschädigungslos eingezogen.9 Nach 1945 war die staatliche Zugehörigkeit der Hafenstadt Rijeka zu Jugoslawien – im Unterschied zu Triest – nicht mehr umstritten. Im Friedensvertrag von Paris 1947 musste Italien alle Besitzungen an der östlichen Adria einschließlich Fiumes an Jugoslawien abtreten, nur der künftige Besitz von Triest blieb offen. Der Vertrag 9 A rnold Suppa n, Hitler–Beneš–Tito. National Conflicts, World Wars, Genocides, Expulsions, and Divided Remembrance in East-Central and Southeastern Europe, 1848–2018, Wien 2019  ; K a rlo Ruzicic-K essler, Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941–1943, Berlin–Boston 2017.

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von London 1954 teilte die Zone A des Freistaats Triest Italien zu, Zone B mit Capodistria/Koper Jugoslawien. Der Vertrag von Osimo 1975 beeendete schließlich den nahezu 60 Jahre dauernden Grenzstreit zwischen Italien und Jugoslawien. Bereits im Jänner 1952 hatte sich Jugoslawien in den ersten Handelsvertragsverhandlungen mit Österreich eine intensivere Nutzung des Hafens von Rijeka seitens Österreich gewünscht, wofür freilich eine Elektrifizierung der Südbahn erforderlich gewesen wäre. Auch im Vorfeld der Staatsvertragsverhandlungen 1955 spielte diese Frage eine Rolle in jugoslawisch-österreichischen Diskussionen. Im Verlauf der nächsten Jahrzehnte rückte aber der von Slowenien betriebene Ausbau des Hafens von Koper in den Mittelpunkt von österreichischen Export- und Importinteressen. Mit Parlamentsbeschluss vom März 2004 erklärte die Republik Italien den 10. Februar, den Tag der Unterzeichnung des Friedensvertrags im Jahre 1947, zum Tag des Gedenkens an den »Exodus« der Italiener aus dem Küstenland, Fiume und Dalmatien. Gleichzeitig sollte an die italienischen Opfer des kommunistischen Terrors in Jugoslawien erinnert werden. Nach Ausstrahlung eines italienischen Fernsehfilms über Racheaktionen jugoslawischer Partisanen an italienischen Faschisten setzten schlagartig intensive Diskussionen in Slowenien, Kroatien und Italien ein. Sogar der italienische und der kroatische Staatspräsident, Giorgio Napolitano und Stjepan Mesić, warfen sich Geschichtsrevisionismus vor. Aber der slowenische Schriftsteller Drago Jančar wies mit Recht sowohl auf die italienisch-faschistischen als auch auf die jugoslawisch-partisanischen Verbrechen hin. Auch für den nördlichen Adriaraum stellt sich daher das Erfordernis, die gemeinsame Geschichte mit den unterschiedlichen Erinnerungen in Einklang zu bringen. Rijeka als europäische Kulturhauptstadt 2020 konnte dafür einen wertvollen Beitrag leisten.

Emil Brix, Wien

Erinnerungspolitik in Putins Russland 1. Mythos und Identität Für den Historiker ist es selbstverständlich, dass Erinnerungspolitik einen unverzichtbaren Bestandteil jeder Schaffung und Erhaltung kollektiver Identitäten darstellt.1 Gemeinschaften, und hier insbesondere jene, die wie Nationen und Staaten politische Ansprüche stellen, bedürfen der Mythen, die ihnen Stabilität verleihen.2 Sie konstruieren und erhalten ihre kollektive Identität immer mit materiellen und immateriellen Erinnerungsorten, die von möglichst vielen Mitgliedern der Gemeinschaft oder zumindest von den herrschenden Eliten als wesentlich gesehen und geteilt werden. Für diese Gemeinschaften hat Erinnerungspolitik notwendigerweise sowohl innen- als auch außenpolitische Bedeutung. Als Regel lassen totalitäre Regime neben der offiziellen staatlichen Erinnerungspolitik weniger alternative Interpretationen der eigenen kollektiven Identität zu, als dies in Demokratien der Fall ist. Dennoch stellt die Russische Föderation seit der Wahl von Wladimir Putin zum russischen Präsidenten im Jahr 2000 einen Sonderfall dar. Schließlich wurde in Russland ein ausschließlich auf die Zukunft gerichtetes kommunistisches Jahrhundert (1917–1991) unter Präsident Jelzin von einem Jahrzehnt liberal-marktwirtschaftlicher Konzentration auf die Gegenwart abgelöst. Erst unter Präsident Putin wurde die Frage der russischen nationalen und staatlichen Identität zum Thema einer öffentlichen Erinnerungspolitik, die darauf abzielt, das gegenwärtige Russland mit den großen Narrativen von »Imperium« und »Opfer« in Traditionszusammenhänge zu stellen, die vom Heiligen Vladimir über die Herrschaft der Romanovs bis zu Stalin und der Auflösung der Sowjetunion, ja selbst der Annexion der Krim reichen. Damit dominiert im gegenwärtigen Russland die Legitimierung der Herrschaft durch Interpretationen der kollektiven »Vergangenheit« in Form von bewusst eingesetzter Erinnerungspolitik, die langfristige Kontinuitäten in Innen- und Außenpolitik konstruiert.3 1 Zum theoretischen Rahmen von Erinnerungspolitik siehe  : Mich a el Bernh a r d – Ja n Kubik (Hg.), Twenty Years after Communism  : The Politics of Memory and Commemoration, Oxford 2014 sowie A leida Assm a n n, Der lange Schatten der Vergangenheit  : Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006. 2 Geoffrey A. Hosk ing – George Schöppflin (Hg.), Myths & Nationhood, Hurst 1997. 3 Mit Betonung des Interesses der regierenden Elite an Kontinuität und Stabilität siehe  : Susa n Stewa rt, Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands. Wie die Gegenwart die Vergangenheit beeinflusst (= Stiftung Wissenschaft und Politik-Studie 2020/22), Berlin November 2020.

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Emil Brix, Wien

Tatsächlich besitzt die Themenstellung dieses Beitrags eine zumindest doppelte Aktualität, die deutlich macht, dass instabile Weltordnungen »kollektives Erinnern« zum wichtigen Thema für politische Gemeinschaften nach innen und außen machen. Zum einen sind seit dem Ende der bipolaren Welt staatliche politische Ordnungen weltweit sehr deutlich von Identitätsdiskursen begleitet und teilweise bestimmt.4 Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts ist die klare ideologische Unterscheidung zwischen kapitalistischen und kommunistischen Regimen von der Opposition zwischen liberalen und autoritären (»illiberalen«) Ordnungen abgelöst worden. Die daraus entstehenden meist nationalen Identitätsdiskurse bedürfen der Bezugnahme auf kollektive Erinnerungen, die von politischen Akteuren zur Legitimation genutzt werden können, weil sie nicht ohne zusätzlichen Erklärungsbedarf als Ergebnis unterschiedlicher ideologischer Annahmen dargestellt werden können. Auf wissenschaftlicher Ebene wird diese Zunahme von »Identitätspolitik« von einer weltweiten Konjunktur an Analysen über Erinnerungs- und Geschichtspolitik begleitet. Zum anderen sind die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Russland – nach dem Zerfall der Sowjetunion und nach der liberalen Transformationsphase im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts unter Präsident Jelzin – derart stark durch eine öffentliche politische Instrumentalisierung von »kollektiver Erinnerung« bestimmt, dass die gesamte bisherige Innen- und Außenpolitik Russlands unter Präsident Putin als Ergebnis einer gezielten Erinnerungspolitik gesehen werden kann. Die Politikwissenschaftlerin Susan Stewart formuliert dies etwas zurückhaltender  : »Grundsätzlich ist Geschichte für die russische Führung ein wichtiges Element, das der Stärkung von Diskursen über Patriotismus, Sicherheit, interne Konsolidierung und externe Einmischung dient«.5

2. Zum Begriff »Erinnerungspolitik« Es ist Disziplinen übergreifend unbestritten, dass der Begriff »Erinnerungspolitik« auf das jeweilige erinnerungspolitische Handeln, insbesondere seine Akteure, Methoden, Ziele und Funktionen, verweist  : »Die Thematisierung von vergangener Geschichte ist dabei Medium und Instrument. Die Ziele erinnerungspolitischen Handelns lassen sich als Einwerbung von Legitimität zusammenfassen. Dies kann die Legitimität von kollektiver Identität, die Legitimität einer neuen Ordnung oder die 4 Beispielhaft wird darauf verwiesen, dass der us-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama fast dreißig Jahre nach seinem wendezeitlich bedeutsamen Buch »The End of History« eine Studie über »Identity« publiziert hat  : Fr a ncis Fuku ya m a, Identity. The Demand for Dignity and the Politics of Resentment, New York 2018. 5 Stewa rt, Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands, 34.

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Legitimität von politischen Akteuren … (bedeuten)«.6 Gemeinsam ist all diesen Formen der Politik, dass sie der Vergangenheit eine Bedeutung für die gesellschaftliche Gegenwart zuschreiben.

3. Wer sind die Handelnden in der russischen Erinnerungspolitik  ? In der »Machtvertikale« der russischen Herrschaftsstruktur ist es nicht überraschend, dass die zentralen erinnerungspolitischen Botschaften und das gesamte erwünschte nationale »Geschichtsnarrativ« entweder direkt von Präsident Putin7 oder für den historischen Hintergrund der russischen Außenpolitik von Außenminister Sergey Lavrov8 und für den Kultur- und Bildungssektor von Präsidentenberater Wladimir Medinskij9 öffentlich dargelegt werden. Den jeweiligen Bildungs- und Kulturministern kommt die Aufgabe zu, dies vom Schulunterricht bis zum Denkmalschutz und der staatlichen Kulturpolitik durchzusetzen. Der Durchsetzung des offiziellen Geschichtsbilds dienen auch gesetzliche Verbote, die in erster Linie eine Leugnung der zentralen Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg unter Strafandrohung stellen. Dies ist seit 2021 Teil der russischen Verfassung. Eine wichtige ausführende Aufgabe kommt der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft und der Russischen Historischen Gesellschaft zu, die als NGOs organisiert sind, aber völlig unter Kontrolle des staatlichen Apparats stehen. Als einzige national und international bekannte und vom Staat bis Ende 2021 geduldete Einrichtung mit einem abweichenden Geschichtsnarrativ galt die NGO »Memorial International«, die sich um die Dokumentation der Opfer des sowjetischen Terrors und besonders um die Aufarbeitung der Geschichte der »Gulags« sehr verdient gemacht hat. Im Putin’schen nationalen Geschichtsnarrativ ist zunehmend weniger Platz für Kritik an der Sowjetunion. Der

6 Mich a el Kohlstruck, Erinnerungspolitik  : Kollektive Identität, Neue Ordnung, Diskurshegemonie, in  : Birgit Schwellig (Hg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, Wiesbaden 2004, 173–193, hier  : 173. 7 Siehe als Beispiel den Artikel von Vl a dimir Pu tin, Anniversary of the Great Victory  : Shared Responsibility to History and our Future, [Moskau 2020]  ; zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges auf der offiziellen Webseite des Präsidenten  : http://static.kremlin.ru/media/events/files/en/VlMXX g4uCU1WOilGCMNzd8sPyIujZg3y.pdf [11.8.2021]. 8 Als zentralen Text siehe  : Sergey Lav rov, Russia’s Foreign Policy in a Historical Perspective, in  : Russia in Global Affairs, 30.3.2016  : https://eng.globalaffairs.ru/articles/russias-foreign-policy-in-a-historicalperspective/ [25.10.2021]. 9 Die erste Sitzung einer interministeriellen Kommission unter Leitung von Medinskij über den Geschichtsunterricht in der Russischen Föderation fand am 28.9.2021 statt. Siehe  : http://en.kremlin.ru/ events/administration/66806 [23.10.2021].

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Oberste Gerichtshof Russlands beschloss im Dezember 2021 das Verbot von »Memorial«, weil die Organisation »Lügen über die UdSSR« verbreitet habe.

4. Was sind die zentralen Bestandteile der offiziellen staatlichen Erinnerungspolitik  ? Im Zentrum der staatlichen Erinnerungspolitik steht die Geschichte des Zweiten Weltkriegs ab Beginn des Angriffskriegs des »Dritten Reichs« auf die Sowjetunion im Juni 1941. Der in Russland verwendete Begriff »Großer Vaterländischer Krieg« (1941–1945) unterstreicht die Bedeutung für die Verteidigung des »Vaterlandes«, erinnert an die Millionen militärischer und ziviler Opfer und betont den Sieg (»pobedy«) über das nationalsozialistische Deutschland und damit über den »Faschismus«. Zentraler Erinnerungsort ist der 9. Mai 1945 als Tag des Kriegsendes, der jedes Jahr mit einer Militärparade am Roten Platz in Moskau gefeiert wird. Zu einem wesentlichen Bestandteil der Erinnerungspolitik des 9. Mai wurde in den letzten Jahren das »Unsterbliche Regiment« (»Bessmertny polk«). In einem Gedenkmarsch werden dabei Bilder von Familienmitgliedern, die im Großen Vaterländischen Krieg gekämpft haben, mitgetragen. Dieser jährlich durchgeführte Erinnerungsmarsch wird seit 2012 in immer mehr russischen Städten und auch im Ausland organisiert und von staatlicher Seite finanziell und durch die Teilnahme hoher staatlicher Repräsentanten unterstützt. Um die russische Erzählung des heldenhaften Verteidigungskriegs gegen das nationalsozialistische Deutschland nicht in Frage zu stellen, wurde der zwischen Hitler und Stalin vereinbarte Nichtangriffspakt vom August 1939 zur notwendigen Maßnahme für die Vorbereitung auf einen Verteidigungskrieg, die noch dazu als Folge des Verhaltens von Polen und den Westmächten unvermeidbar gewesen sei. Die öffentlichen Stellungnahmen von Präsident Putin zum Hitler-Stalin-Pakt verdeutlichen den Wandel von der Einschätzung als »moralisch verwerflich« (2009) hin zum taktisch klugen und für den Sieg über den Faschismus notwendigen Verhalten (zuletzt 2019). Die erinnerungspolitische Verwendung des Kampfes gegen den »Faschismus« wurde sowohl nach dem Bau der Berliner Mauer (»antifaschistischer Schutzwall«) als auch in der heutigen Verurteilung nationalistischer Kräfte in der Ukraine verwendet. Ausgehend von den gewaltigen militärischen und zivilen Opfern der Sowjetunion und dem patriotischen Zusammenhalt des Staates, die zu Recht als Voraussetzung für den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland interpretiert werden, dient die wachgehaltene Erinnerung an den 9. Mai 1945 als zentralen »lieu de mémoire« für die derzeitige offizielle Erinnerungspolitik Russlands. International wird Respekt für diese Leistung eingefordert und innenpolitisch wird dies als unzweifelhafter Beweis für die Kontinuität des russischen Reichs seit der Zeit der Staatsbildung durch

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die »Rus« im neunten Jahrhundert, der Herrschaft der Romanovs, der sowjetischen Zeit und der derzeitigen Russischen Föderation dargestellt. Auf diese Weise können so unterschiedlich zu bewertende historische Perioden wie das imperiale zaristische Reich, die bolschewistische Revolution von 1917, die stalinistische Herrschaft und selbst die aggressive Außenpolitik Putins in ein großes Narrativ der »Kontinuität« patriotischer staatlicher Herrschaft gestellt werden. In diesem Geschichtsbild stellten die kurze polnische »Fremdherrschaft« am Beginn des 17. Jahrhunderts und die Auflösung der Sowjetunion 1991 Angriffe auf die Kontinuität dar, die vom Ausland gesteuert wurden. Selbst die bolschewistische Revolution von 1917 und der folgende Bürgerkrieg werden in diesem nationalen Geschichtsnarrativ als in wesentlichen Teilen vom westlichen Ausland gesteuerte Ereignisse dargestellt. Daher war es das zentrale offizielle Thema anlässlich des hundertsten Jahrestags der Russischen Revolution, dass nur ein geeintes Russland mit einer starken Staatsmacht die Identität Russlands verteidigen kann.10 Für die politische Führung galt es jedenfalls zu vermeiden, dass der Jahrestag der Revolution zu einer Abrechnung mit der gesamten Periode der kommunistischen Herrschaft wurde. Dies hätte – mit unvermeidbaren Diskussionen über die bis heute bestehende Kommunistische Partei, die vom Bolschewismus versuchte Ausschaltung der Orthodoxen Kirche, die Einrichtung von Straflagern (Gulags) und die Gewaltverbrechen Stalins – zu einer stärkeren Polarisierung der Gesellschaft beitragen können.11 Während der ersten Präsidentschaftszeit Putins ab dem Jahr 2000 wurde die in den 1990er Jahren unter Boris Jelzin versuchte kritische Auseinandersetzung mit der kommunistischen Zeit zumindest teilweise fortgesetzt. Die Person Stalins wurde auch in offiziellen Dokumenten ambivalent diskutiert, Präsident Putin ließ eine Diskussion über die mögliche Entfernung des Leninmausoleums vom Roten Platz in Moskau zu und die Massenerschießung polnischer Offiziere in Katyn durfte von russischen und polnischen Historikern gemeinsam aufgearbeitet werden. Ein derartiges »fractured memory regime« führte allerdings in der Interpretation der Kremlführung zu einer innen- und außenpolitischen Schwächung der Staatsmacht. In der aktuellen Präsidentschaftszeit Putins wurde daher von der Führung im Kreml die strategische Entscheidung getroffen, die angestrebte politische Stabilität Russlands durch eine offizielle Erinnerungspolitik zu unterstützen, die keinen Zweifel an der

10 Siehe  : A ndrej Kolesnikov, Erinnerung als Waffe. Die Geschichtspolitik des Putin-Regimes, in  : Osteuropa 70, 2020, 6, 3–28. 11 Siehe  : Iva n Kurill a, History and Memory in Russia during the 100-Year Anniversary of the Great Revolution (Washington D.C., Institute for European, Russian and Eurasian Studies, January 2018, PONARS Eurasia Policy Memo Nr. 503)  ; siehe auch https://www.ponarseurasia.org/wp-content/uploads/attach ments/Pepm503_Kurilla_Jan2018_0-4.pdf [26.10.2021].

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Kontinuität und Stärke des russischen Staates und seiner Führung zulässt. Die Beispiele dafür sind zahlreich und reichen von der militärischen Besetzung und Annexion der Halbinsel Krim (2014) über die Errichtung eines monumentalen Denkmals für den Fürsten Wladimir an der Moskauer Kremlmauer (2017) bis zu offiziellen Auftritten Putins, in denen er den konservativen Patriotismus der Philosophen Nikolai Berdyayev (1874–1948) und Ivan Ilyin12 (1882–1954) zum Ideal staatlicher russischer Politik erklärt.

5. Warum braucht Putins Russland so viel Geschichte  ? Die Russische Föderation ist auch nach der Auflösung der auf einer gemeinsamen Ideologie gegründeten Sowjetunion ein multinationaler Staat, in dem unterschiedliche ethnische und religiöse Identitäten politisch und kulturell berücksichtigt werden müssen. Es ist daher gerade wegen der fundamentalen Brüche in der Regierungsform, der geographischen Dimension und der geopolitischen Rolle im 20. Jahrhundert eine verständliche Strategie des derzeitigen russischen Regimes, historische Kontinuitäten zu betonen, um trotz Revolutionen mit einer inzwischen gescheiterten Ideologie und trotz totalitären Perioden mit Gulags und stalinistischer Gewaltherrschaft Stabilität vermitteln zu können. Die derzeit von allen staatlichen und staatsdominierten Institutionen sowie von der politischen Elite verbreitete offizielle Erinnerungspolitik versteht sich als strategisch notwendige Antwort auf die fundamentalen Veränderungen Russlands in den letzten hundert Jahren. Die gesamte Geschichte Russlands wird zum Instrument, um die gegenwärtige autoritäre Innenpolitik und die aggressive Außenpolitik zu rechtfertigen. Im internationalen Vergleich ist Putins Russland weder wirtschaftlich noch gesellschaftspolitisch ein erfolgreicher Staat. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die Betonung von Erinnerungspolitik ein Ausdruck davon ist, dass die derzeitige russische Führung den Glauben daran verloren hat, dies ändern zu können. Damit bleibt Putin zur Erhaltung der Macht nur mehr der Rückgriff auf Kontinuität und Stabilität, die sich von außen als postimperiale, postsowjetische und Post-Transformations-Reflexe darstellen. Derzeit vergeht kaum eine Woche, in der nicht Präsident Putin selbst diese Problematik analysiert. Ich schließe daher mit einem Auszug aus einer Rede, die er im Oktober 2021 im Rahmen einer Veranstaltung des »Valdai International Discussion Club« gehalten hat  : »The state and society must not respond radically to qualitative shifts in technology, dramatic environmental changes or the destruction of traditio12 Ausführlich dargelegt im Redebeitrag Vladimir Putin am 21.10.2021 im Rahmen des »18th annual Valdai Discussion Club meeting«  : http://en.kremlin.ru/events/president/news/66975 [25.10.2021].

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nal systems. It is easier to destroy than to create, as we all know. We in Russia know this very well, regrettably, from our own experience, which we have had several times. Just over a century ago, Russia objectively faced serious problems, including because of the ongoing World War I, but its problems were not bigger and possibly even smaller or not as acute as the problems the other countries faced, and Russia could have dealt with its problems gradually and in a civilised manner. But revolutionary shocks led to the collapse and disintegration of a great power. The second time this happened 30 years ago, when a potentially very powerful nation failed to enter the path of urgently needed, flexible but thoroughly substantiated reforms at the right time, and as a result it fell victim to all kinds of dogmatists, both reactionary ones and the so-called progressives – all of them did their bit, all sides did«.13

6. Postskriptum. Das Ende der Nachkriegszeit Am 24. Februar 2022 ordnete Präsident Putin einen Angriffskrieg Russlands gegen den seit 1991 unabhängigen Nachbarstaat Ukraine an. Für Europa endete damit die Nachkriegszeit, die nach Jahrzehnten des »Kalten Krieges« eine stabile und dauerhafte europäische Sicherheitsarchitektur versprochen hatte. Dies stellt nicht nur den vorläufigen Höhepunkt geschichtspolitisch legitimierter imperialer Ambitionen Russlands dar, sondern kann als konsequente Umsetzung der im Sommer 2021 beschlossenen neuen russischen »Nationalen Sicherheitsstrategie«14 interpretiert werden. Darin wird die Gefahr einer »Verwestlichung« der russischen Welt zur existenziellen Bedrohung erklärt und die Verteidigung der »historischen Wahrheit« und der Kampf gegen jegliche Geschichtsfälschung werden als Grundlagen der Sicherheitsstrategie genannt  : »Die informationelle und psychologische Diversion und die ›Verwestlichung‹ (westernisazija) der Kultur verstärken die Gefahr, dass die Russländische Föderation ihre kulturelle Identität verliert«15. Der Krieg gegen die Ukraine, der in Russland unter Strafandrohung nur »militärische Operation« zur »Denazifizierung« und »Demilitarisierung« der Ukraine und zur Verhinderung eines »Genozids« an der russischsprachigen Mehrheitsbevölkerung des ostukrainischen »Donbass« bezeichnet werden darf, wurde von Wladimir Putin im russischen Staatsfernsehen bereits am 21. Februar 2022 mit einer ausführ-

13 Redebeitrag Vladimir Putin am 21.10.2021 im Rahmen des »18th annual Valdai Discussion Club meeting«  : http://en.kremlin.ru/events/president/news/66975 [25.10.2021]. 14 http://publication.pravo.gov.ru/Document/View/0001202107030001 [3.4.2022]. 15 Zitiert in  : H a ns-Hen ning Schröder, Feinde ringsum. »Der Westen« als Gefahr für Russlands innere Sicherheit, in  : Länder-Analysen – Russland Nr. 411, 16.12.2021, 21–23, https://www.laender-analysen. de/russland-analysen/411/RusslandAnalysen411.pdf [21.5.2022].

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lichen geschichtspolitischen Leugnung eigenständiger ukrainischer Geschichte und Identität vorbereitet. Nach fast einem Jahrtausend gemeinsamer Geschichte innerhalb der russischen Welt habe erst die Sowjetunion eine »Sowjetukraine« geschaffen, die das gemeinsame Volk der Russen und Ukrainer getrennt hat  : »Die Ukraine ist für uns nicht einfach ein Nachbarland. Sie ist integraler Bestandteil unserer eigenen Geschichte«16. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Postscriptums ist der Krieg in der Ukraine weder militärisch noch politisch entschieden. Aber in jedem Fall kann bereits jetzt analysiert werden, dass der russische Präsident Erinnerungspolitik als Vorwand für einen Krieg gegen die Ukraine verwenden konnte, ohne dass dieses »Geschichtsnarrativ« von einer Mehrheit der russischen Bevölkerung in Frage gestellt wurde. Gleiches gilt für die Tatsache, dass Präsident Putin geopolitisch das Ende der Zeit nach dem »Kalten Krieg« erklärt hat, weil er den Krieg gegen die Ukraine ausdrücklich als Kampf gegen den »Westen« und seine liberale Weltordnung bezeichnet.

16 Siehe Vl a dimir Pu tin, Rede an die Nation vom 21.2.2022, in  : Zeitschrift Osteuropa, 2022, https:// zeitschrift-osteuropa.de/blog/putin-rede-21.2.2022/ [3.4.2022].

A N H A NG

Johannes Kalwoda*

Werkverzeichnis von Lothar Höbelt (Auswahl) In dieses Werkverzeichnis sind – neben den Monographien und Herausgeberwerken – diejenigen Aufsätze Lothar Höbelts aufgenommen, die er in wissenschaftlichen oder in populärwissenschaftlichen Medien veröffentlicht hat (Letztere nur vereinzelt), wie dies großteils auf der Homepage des Instituts für Geschichte der Universität Wien nachzulesen ist.1 Nicht erfasst sind tagesaktuelle journalistische Textsorten wie (Gast-)Kommentare oder Interviews, die in Zeitungen und Zeitschriften erschienen sind, oder andere kleine Schriften, Kommentare oder Transkriptionen der Gabelsberger Kurzschrift, wie sie in den »InstitutsMitteilungen« des Karl von VogelsangInstituts oder in größerer Zahl im Bulletin des Geschichtsvereines für Kärnten veröffentlicht worden sind. Monographien 18) »Größter Fehler ist nervös zu werden«. Seipel, der »Bürgerblock« und die »Genfer Sanierung« 1922 (im Erscheinen). 17) Die Zweite Republik Österreich und ihre Besonderheiten (= Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für Politisch-Historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg, 76), Wien–Köln–Weimar 2020 [316 Seiten]. 16) Die Erste Republik Österreich (1918–1938). Das Provisorium (= Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg, 64), Wien–Köln–Weimar 2018 [456 Seiten]. 15) Von Nördlingen bis Jankau. Kaiserliche Strategie und Kriegführung 1634–1645 (= Schriften des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien, 22), Wien 2016 [501 Seiten].

*  Ein herzliches Danke für die Unterstützung bei der Werksuche ergeht an Eva Hain, Beate Pamperl (beide Universität Wien), Sabina Schiftar (Politische Akademie der Volkspartei), Luboš Velek, T. G. Otte, Pavel Marek, Šárka Höbeltová und Claudia Reichl-Ham. 1 https://ifg.univie.ac.at/ueber-uns/mitarbeiterinnen/wissenschaftliche-mitarbeiterinnen/lotharhoebelt/#c4 [5.1.2021]. Das dort angeschlossene Werkverzeichnis reicht allerdings nur bis 2012. Die daran anschließenden jüngeren Publikationen sind über das Forschungsinformationssystem der Universität Wien (https://ucris.univie.ac.at/portal/de/) abzurufen  : https://ucris.univie.ac.at/portal/de/pu blications/searchall.html?searchall=H%C3%B6belt [10.2.2022]. Nach seiner Pensionierung wurden seine Homepageeintragungen in die Rubrik »Frühere wissenschaftliche MitarbeiterInnen« verschoben  : https://geschichte-archiv.univie.ac.at/fruehere-mitarbeiterinnen/fruehere-wissenschaftliche-mit arbeiterinnen/lothar-hoebelt/ [10.2.2022].

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14) Die Heimwehren und die österreichische Politik 1927–1936. Vom politischen »Kettenhund« zum »Austro-Fascismus«  ? Mit Bildern aus dem Archiv von Mario Strigl, Graz 2016 [456 Seiten]. 13) »Stehen oder fallen  ?« Österreichische Politik im Ersten Weltkrieg, Wien–Köln–Weimar 2015 [323 Seiten]. 12) Böhmen. Eine Geschichte, Wien–Leipzig 2012 [214 Seiten]. 11) Franz Joseph I. Der Kaiser und sein Reich. Eine politische Geschichte, Wien–Köln–Weimar 2009 [171 Seiten]. 10a) Die Habsburger. Aufstieg und Glanz einer europäischen Dynastie, Darmstadt 2009 (Lizenzausgabe für Wissenschaftliche Buchgesellschaft) [178 Seiten]. 10) Die Habsburger. Aufstieg und Glanz einer europäischen Dynastie, Stuttgart 2009 [178 Seiten]. 9a) Ferdinand III. (1608–1657). Mirový císař proti vůli [Ferdinand III. Friedenskaiser wider Willen], České Budějovice 2015 [489 Seiten]. 9) Ferdinand III. 1608–1657. Friedenskaiser wider Willen, Graz 2008 [488 Seiten]. 8) Landschaft und Politik im Sudetenland. Böhmen, Mähren und Schlesien in der ÖsterreichischUngarischen Monarchie (= Eckartschrift, 173), Wien 2004 [110 Seiten]. 7) Defiant Populist. Jörg Haider and the Politics of Austria, West Lafayette 2003 [281 Seiten]. 6) Von der vierten Partei zur dritten Kraft. Die Geschichte des VdU, Graz–Stuttgart 1999 [303 Seiten]. 5) 1848. Österreich und die deutsche Revolution, Wien–München 1998 [334 Seiten]. 4) Otto Steinwender. Portrait eines Nationalliberalen (= Personengeschichtliche Reihe des Freiheitlichen Bildungswerkes, 1), Wien 1992 [32 Seiten]. 3a) Kornblume und Kaiseradler. Die deutschfreiheitlichen Parteien Altösterreichs 1882–1918, Wien– München 1993 [387 Seiten]. 3) Kornblume und Kaiseradler. Die deutschfreiheitlichen Parteien Altösterreichs 1882–1918, unpublizierte Habilitationsschrift Univ. Wien 1990 [502 Seiten]. 2) Die Bundespräsidentenwahlen in der 1. und 2. Republik (= Sozialwissenschaftliche Studienreihe des Institutes für politische Grundlagenforschung, 7), Wien 1986 [40 Seiten]. 1a) Die britische Appeasement-Politik  : Entspannung und Nachrüstung 1937–1939 (= Militärgeschichtliche Dissertationen österreichischer Universitäten, 1), Wien 1983 [232 Seiten]. 1) Studien zu den Voraussetzungen der britischen Appeasement-Politik 1937–1939, phil. Diss. Wien 1981 [366 Seiten].

Herausgeberschaft 15) Loth ar Höbelt – Joh a nnes K a lwoda – Joh a nnes Schönner (Hg.), Klubprotokolle der Christlichsozialen und Großdeutschen 1918/19 (= Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg, 80), Wien–Köln 2022 [1009 Seiten]. 14) Loth ar Höbelt – Robert R ebitsch – Erwin A nton Schmidl (Hg.), Vor 400 Jahren. Der Dreißigjährige Krieg (= Innsbrucker Historische Studien, 32), Innsbruck 2019 [243 Seiten]. 13) Winfried Heinem a nn – Loth ar Höbelt – Ulrich La ppenküper (Hg.), Der

Werkverzeichnis von Lothar Höbelt (Auswahl)

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preußisch-österreichische Krieg 1866 (= Otto-von-Bismarck-Stiftung, Wissenschaftliche Reihe, 26), Paderborn 2018 [374 Seiten]. Lothar Höbelt – Fabian Walch (Hg.), 60 Jahre FPÖ Tirol, Innsbruck 2018 [147 Seiten]. Loth ar Höbelt – Joh a nnes K a lwoda – Jiří M a líř (Hg.), Die Tagebücher des Grafen Egbert Belcredi 1850–1894. Nach editorischen Vorarbeiten von Antonín Okáč (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, 114), Wien–Köln–Weimar 2016 [1138 Seiten]. Jea n-Paul Bled – Loth ar Höbelt (Hg.), L’Autriche-Hongrie et la Première Guerre Mondiale (1915–1916) (= Études Danubiennes 31, 2015), Paris 2016 [160 Seiten]. European Parliaments in World War I. Proceedings of the 65th International Commission for the History of Representative and Parlamentary Institutions, Vienna 3–5 September 2014 (= Studia Universitatis Cibiniensis, Series Historica 12), Sibiu/Hermannstadt 2015 [250 Seiten]. Aufstieg und Fall des VdU. Briefe und Protokolle aus privaten Nachlässen 1948–1955 (= Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-WilfriedHaslauer-Bibliothek, Salzburg, 50), Wien–Köln–Weimar 2015 [346 Seiten]. Jea n-Paul Bled – Loth ar Höbelt (Hg.), L’Autriche-Hongrie et la Première Guerre Mondiale (1914–1915) (= Études Danubiennes 30, 2014), Paris 2015 [125 Seiten]. Loth ar Höbelt – Thom as G. Ot te (Hg.), A Living Anachronism  ? European diplomacy and the Habsburg Monarchy. Festschrift für Francis Roy Bridge zum 70. Geburtstag, Wien–Köln–Weimar 2010 [272 Seiten]. Republik im Wandel. Die große Koalition und der Aufstieg der Haider-FPÖ, München 2001 [472 Seiten]. Wilhelm Br au neder – Loth ar Höbelt (Hg.), Sacrum Imperium. Reich und Österreich 996–1806, Wien 1996 [376 Seiten]. Festschrift für Burghard Breitner. Im Gedenken an einen großen Österreicher (= Personengeschichtliche Reihe des Freiheitlichen Bildungswerkes, 5), Wien 1994 [64 Seiten]. Anton von Schmerling. Österreichs Weg zur konstitutionellen Monarchie. Aus der Sicht des Staatsministers Anton von Schmerling (= Rechts- und sozialwissenschaftliche Reihe, 9), Frankfurt am Main 1994 [249 Seiten]. Der Vater der Verfassung. Aus den Denkwürdigkeiten Anton Ritters von Schmerling, Wien 1993 [248 Seiten]. Loth ar Höbelt – Othm ar Huber (Hg.), Für Österreichs Freiheit. Karl Gruber – Landeshauptmann und Außenminister 1945–1953 (= Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte, 7), Innsbruck 1991 [213 Seiten].

Artikel 2022 (Auswahl) 336) Baroque “Spin-Doctoring”  : The Manipulative Use of Caprara’s Reports from Constantinople in 1682, in  : The English Historical Review (im Erscheinen). 335) Stavovské povstání a mezinárodní konjunktury let 1618–20 aneb volba (ne)vhodného okamžiku [Der Ständeaufstand und die internationalen Konjunkturen der Jahre 1618–20, oder  :

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Die Wahl des (un-)geeigneten Zeitpunkts], in  : Pavel Marek – Anna Nováková (Hg.), Karel Bonaventura Buquoy a jeho doba [Karl Bonaventura Buquoy und seine Zeit], České Budějovice 2022, 18–30. 334) »We alone cannot act as the policemen of the world«. Das Empire und der Kontinent in der Zwischenkriegszeit, in  : Franziska Bartl – Frank-Lothar Kroll – Stefan Schieren (Hg.), Britannien und Europa. Entwicklungslinien und Zukunftsperspektiven vom Mittelalter bis in das 21. Jahrhundert/Britain and Europe. Developments and Future Prospects from the Middle Ages to the 21st Century (= Prinz-Albert-Studien/Prince Albert Studies, 36), Berlin 2022, 55–74. 333) Die Wacht an der Donau – am Rhein, am Po oder an der Elbe  ? Der europäische Hintergrund des »Türkenjahres« 1683, in  : Heeresgeschichtliches Museum (Hg.), Das »Dreiecksverhältnis« zwischen Polen, Osmanen und Habsburgern (= Acta Austro-Polonica, 13) Wien 2022, 157–188. 332) Einleitung  : Die »verkehrten Fronten« des Jahres 1919, in  : Lothar Höbelt – Johannes Kalwoda – Johannes Schönner (Hg.), Klubprotokolle der Christlichsozialen und Großdeutschen 1918/19 (= Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg, 80), Wien–Köln 2022, 23–56. 331) »Travailler pour le roi de Prusse«  : Der kontraproduktive Kickl-Kurs, in  : Österreichisches Jahrbuch für Politik 2021, Wien–Köln 2022, 247–253. 2021 (Auswahl) 330) The Dissolution of the Habsburg Monarchy, in  : Simonetta Conti – Luigi Loreto – Federico Scarano (Hg.), Epilogo della Grande Guerra. Scenari Italiani ed Internazionali (= Quaderno di Polygraphia, 4), Santa Maria Capua Vetere 2021, 223–231. 329) Erwin Schmidl 65  : Friedensmissionen at home and abroad, in  : Alma Hannig – Claudia Reichl-Ham (Hg.), Zwischen Krieg und Frieden. Festschrift für Erwin A. Schmidl zum 65. Geburtstag, Wien 2021, 15–19. 328) Das Problem des Legitimismus in Österreich 1918–1938, in  : Alma Hannig - Claudia ReichlHam (Hg.), Zwischen Krieg und Frieden. Festschrift für Erwin A. Schmidl zum 65. Geburtstag, Wien 2021, 236–250. 327) Rieger und die Deutschliberalen  : Die versäumten Gelegenheiten der Verständigung und ihre Folgen, in  : Viktor Pavlíček – Luboš Velek (Hg.), Vůdce národa. František Ladislav Riegera jeho místo v české politice, kultuře a vědě [Der Führer der Nation. František Ladislav Rieger und sein Platz in der tschechischen Politik, Kultur und Wissenschaft], Praha 2021, 137–158. 326) Die deutschnationale Bewegung in Österreich, in  : Andreas Gottsmann (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918 (= Das kulturelle Leben. Akteure – Tendenzen – Ausprägungen. Staat, Konfession und Identität, Bd. 10/1), Wien 2021, 693–731. 325) Die »bürgerlichen« Wehrverbände in der Ersten Republik, in  : Dieter A. Binder – Militärhistorische Denkmalkommission des BMLV (Hg.), 1934 – Zum Spannungsverhältnis von Politik und Militär, Wien 2021, 112–121. 324) Das bürgerliche Steyr und die Politik der Jahrhundertwende, in  : c.P.! Eysn zu Steyr (Hg.), Julius Gschaider. Burschenschafter, Bürgermeister 1912–1919, Steyr 2021, 11–48.

Werkverzeichnis von Lothar Höbelt (Auswahl)

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2020 323) Italien als Vorbild für Österreich  ? »Berufsständische Ordnung« und »Corporativismo«, in  : Andrea Di Michele – Andreas Gottsmann – Luciano Monzali – Karlo Ruzicic-Kessler (Hg.), Die schwierige Versöhnung, Bozen 2020, 83–104. 322) Buridans Esel  : Die Entente und Rußland 1917–1921, in  : Heeresgeschichtliches Museum (Hg.), Ende und Aufbruch. Die politischen Folgen des Ersten Weltkrieges (= Acta Austro-Polonica, 12), Wien 2020, 147–163. 321) Epidemien und Erinnerungen, in  : Andreas Mölzer (Hg.), Corona. Anatomie einer Krise, Wien 2020, 154–159. 320) Wahlreform und Kulturkampf in Österreich  : Der übersehene Erdrutsch von 1870, in  : Hambacher Jahrbuch 27, 2020, 163–184. 319) No “Road to Canossa” and no “Death Warrant”  : The End of the Austria-Hungary Revisited, in  : Minority Protection. Special Issue, Budapest 2020, 55–83. 318) Austria, the Anschluss and the Entente. How to Make Money from Oppression, in  : Dariusz Makiłła – Miloš Řezník (Hg.), After the Peace Treaty of Versailles (1919)  : New Order of Central Europe (= Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien, 39), Wiesbaden 2020, 197–206. 317) Why fight a Third Balkan War  ? The Habsburg Mindset in 1914, in  : Mark Cornwall (Hg.), Sarajevo 1914. Sparking the First World War, London u. a. 2020, 149–162. 316) Loth ar Höbelt – Christi a n E. R eiter, Die Parteien des »Dritten Lagers« in Ober­ öster­reich 1918–1933, in   : Oberösterreichisches Landesarchiv (Hg.), Oberösterreich 1918–1938, Bd. 6, Linz 2020, 273–442. 315) Teschen 1920  : Die Volksbefragung, die nicht stattfand, in  : Claudia Fräss-Ehrfeld (Hg.), Volksabstimmungen und andere Grenzlösungen nach dem Ersten Weltkrieg (= Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie, 112), Klagenfurt 2020, 151–175. 314) ‘Winning’ in World War I, 1914–1919, in  : Matthias Strohn (Hg.), Winning Wars. The Enduring Nature and Changing Character of Victory from Antiquity to the 21st Century, Oxford–Haverton 2020, 83–96. 313) Ministerpräsident Graf Stürgkh und der böhmische Ausgleich, in  : Martin Klečacký – Martin Klement (Hg.), Führer, Akteure hinter den Kulissen oder tatenlos Zuschauende  ? Der deutsch-tschechische Ausgleich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aus der Perspektive der Vertreter der staatlichen Gewalt und der Selbstverwaltung (= Studie z moderních českých dějin [Studien aus der modernen tschechischen Geschichte], 4), Praha 2020, 54–75. 312) Tauroggen und Bialystok. Österreich und Preußen 1812/13, in  : Werner Drobesch – Elisabeth Lobenstein – Ulfried Burz (Hg.), Politik- und kulturgeschichtliche Betrachtungen. Quellen – Ideen – Räume – Netzwerke. Festschrift für Reinhard Stauber zum 60. Geburtstag, Klagenfurt–Wien–Laibach 2020, 505–516. 311) Exit Russia  : The Failure of Both World Revolution and Counterrevolution in 1918–20, in  : Diplomacy. Austrian Journal of International Studies 1, 2020, 114–132. 310) Hans Steinacher und die gescheiterte bürgerliche Wende in Kärnten, in  : Kärntner Heimatdienst (Hg.), Hans Steinacher in Licht und Schatten. Ein Kärntner seiner Zeit, Klagenfurt 2020, 125–134.

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309) Anmerkungen zu einer Diskussion in memoriam Jörg Haider  : von »Populisten« und »Extremisten«, in  : Horst Peter Groß – Werner Drobesch (Hg.), Zeitzeugen Populismus. Das Phänomen Haider. Gestern in Kärnten, morgen in Europa  ? (= Edition Kunst|Wissen­ schaft|Gesellschaft. Quer denken, 15), Klagenfurt 2020, 81–96. 308) Das Ende der Monarchie und der Übergang zur Republik, in  : Truppendienst 2020 Spezial/2, 4ff. 2019 307) Balkan or Border Warfare  ? Glimpses from the Early Modern Period, in  : Balcanica 50, 2019, 85–103. 306) Der Wechsel der FPÖ von der Opposition zur Regierung, in  : Österreichisches Jahrbuch für Politik 2018, Wien–Köln–Weimar 2019, 367–377. 305) Tecumseh und Metternich  : ›The War of 1812‹ und der Wiener Kongreß, in  : Carl-Christian Dressel – Frank-Lothar Kroll – Glyn Redworth (Hg.), Der Wiener Kongress und seine Folgen/The Congress of Vienna and its Aftermaths (= Prinz-Albert-Studien/Prince Albert Studies, 35), Berlin 2019, 23–45. 304) From Slankamen to Zenta. The Austrian War Effort in the East during the 1690s, in  : Colin Heywood – Ivan Parvev (Hg.), The Treaties of Carlowitz (1699). Antecedents, Course and Consequences (= The Ottoman Empire and its Heritage, 69), Leiden 2019, 153–175. 303) VdU und FPÖ in Oberösterreich 1949–1999, in  : Freiheitliches Bildungswerk (Hg.), Bericht der Historikerkommission. Analysen und Materialien zur Geschichte des Dritten Lagers und der FPÖ, Wien 2019, 127–168. 302) Raab und Reinthaller. Die Stabilisierung der Zweiten Republik, in  : Freiheitliches Bildungswerk (Hg.), Bericht der Historikerkommission. Analysen und Materialien zur Geschichte des Dritten Lagers und der FPÖ, Wien 2019, 93–124. 301) Soldat im Ersten Weltkrieg, in  : Heinrich Fürst zu Fürstenberg – Andreas Wilts (Hg.), Max Egon II. zu Fürstenberg. Fürst, Soldat, Mäzen, Ostfildern 2019, 172–195. 300) Max Egon II. und Österreich, in  : Heinrich Fürst zu Fürstenberg – Andreas Wilts (Hg.), Max Egon II. zu Fürstenberg. Fürst, Soldat, Mäzen, Ostfildern 2019, 150–171. 299) Austria-Hungary and the Russian Revolution, in  : Łukasz Adamski – Bartłomiej Gajos (Hg.), Circles of the Russian Revolution. Internal and International Consequences of the Year 1917 in Russia, London 2019, 182–190. 298) Der Friede von Brest-Litowsk, in  : Heeresgeschichtliches Museum (Hg.), 1918 – das letzte Kriegsjahr (= Acta Austro-Polonica, 11), Wien 2019, 13–42. 297) Die »fünf M« von Queretaro. Märtyrer oder Bösewichte  ?, in  : Heeresgeschichtliches Museum (Hg.), Beiträge zur österreichischen Militärgeschichte 864–2019 (= Schriften des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien, 26), Wien 2019, 193–228. 296) »Der Kaiser sieht alles nur geschäftsmäßig«. Die Staatsauffassung Franz Josephs I., in  : Ulrich Lappenküper – Ulf Morgenstern (Hg.), Überzeugungen, Wandlungen und Zuschreibungen. Das Staatsverständnis Otto von Bismarcks (= Staatsverständnisse, 130), BadenBaden 2019, 215–230. 295) »Masse« und »Eliten« in Österreich 1918–2018, in  : Parlamentsdirektion (Hg.), Umbruch und Aufbruch. Parlamentarische Demokratie in Österreich, Wien 2019, 201–210.

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294) »Der Krieg geht weiter, weil niemand ihn sich leisten kann«. Der Dreißigjährige Krieg als permanente Demobilisierungskrise  ?, in  : Lothar Höbelt – Robert Rebitsch – Erwin A. Schmidl (Hg.), Vor 400 Jahren. Der Dreißigjährige Krieg (= Innsbrucker Historische Studien, 32), Innsbruck 2019, 55–68. 2018 293) Von Regensburg nach Prag 1630 bis 1635. Kaiser und Papst am Höhepunkt des Dreißigjährigen Krieges, in  : Römische Historische Mitteilungen 60, 2018, 101–116. 292) El Emperador, el Imperio y España bajo el reinado de Fernando III, in  : José Martínez Millán – Rubén González Cuerva – Manuel Rivero Rodríguez (Hg.), La Corte de Felipe IV (1621–1665)  : Reconfiguración de la Monarquía Católica, Bd. 4/1  : De la Monarquía Universal a la Monarquía Católica. La Guerra de los Treinta Años, Madrid 2018, 211–257. 291) Austria-Hungary and the establishment of the Salonika Front in 1915/1916, in  : Yannis Mourélos et al. (Hg.), The Salonica Front in World War I. Conference Proceedings, Thessaloniki 2018, 69–76. 290) Why did the Austrians risk War in 1866  ?, in  : Muzeum východních Čech v Hradci Králové (Hg.), Mlhy na Chlumu. Prusko-rakouská válka v optice moderní historiografie [Nebel bei Chlum. Preußisch-österreichischer Krieg im Blick der modernen Historiographie], Hradec Králové 2018, 22–26. 289) Anmerkungen zur politischen Laufbahn Franz Dinghofers, in  : Christian Neschwara – J. Michael Rainer (Hg.), 100 Jahre Republik Österreich. Die provisorische Nationalversammlung und ihre Rolle bei der Entstehung der Republik Deutschösterreich, Graz 2018, 204–213. 288) Die Landtage 1918/19, in  : Christian Neschwara – J. Michael Rainer (Hg.), 100 Jahre Republik Österreich. Die provisorische Nationalversammlung und ihre Rolle bei der Entstehung der Republik Deutschösterreich, Graz 2018, 93–111. 287) Die provisorische Regierung Deutschösterreichs 1918/19  : Staatsrat, Kabinett und Unterstaatssekretäre, in  : Christian Neschwara – J. Michael Rainer (Hg.), 100 Jahre Republik Österreich. Die provisorische Nationalversammlung und ihre Rolle bei der Entstehung der Republik Deutschösterreich, Graz 2018, 70–81. 286) Die Gliederung der Provisorischen Nationalversammlung  : Kronländer und Parteien, in  : Christian Neschwara – J. Michael Rainer (Hg.), 100 Jahre Republik Österreich. Die provisorische Nationalversammlung und ihre Rolle bei der Entstehung der Republik Deutsch­ österreich, Graz 2018, 55–69. 285) Der Beginn der Republik  : Die Volkswehr 1918–1920. Nicht Revolution, sondern Sezession, in  : Truppendienst 57, 2018, 386–395  ; auch unter https://www.truppendienst.com/themen/ beitraege/artikel/der-beginn-der-republik-die-volkswehr-1918-bis-1920/ [16.1.2022]. 284) Die Friedensschlüsse von Brest-Litowsk und Bukarest, in  : Truppendienst 57, 2018 Spezial/2, 16–21. 283) Der Verband der Unabhängigen (VdU), in  : Robert Kriechbaumer – Richard Voithofer (Hg.), Politik im Wandel. Der Salzburger Landtag im Chiemseehof 1868–2018 (= Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für Politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg, 65/1), Wien–Köln–Weimar 2018, 419–426.

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282) Der ständische Landtag 1934–1938, in  : Robert Kriechbaumer – Richard Voithofer (Hg.), Politik im Wandel. Der Salzburger Landtag im Chiemseehof 1868–2018 (= Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für Politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg, 65/1), Wien–Köln–Weimar 2018, 361–363. 281) Zwei Präsidenten als Vertreter Salzburgs im Reichsrat, in  : Robert Kriechbaumer – Richard Voithofer (Hg.), Politik im Wandel. Der Salzburger Landtag im Chiemseehof 1868–2018 (= Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für Politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg, 65/1), Wien–Köln–Weimar 2018, 285–288. 280) Loth ar Höbelt – Rich ar d Voithofer, Alles sehr kompliziert, aber nicht konsequent  : Wahlrechtsentwicklung und Besonderheiten des Wahlrechts vor 1918, in  : Robert Kriechbaumer – Richard Voithofer (Hg.), Politik im Wandel. Der Salzburger Landtag im Chiemseehof 1868–2018 (= Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für Politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg, 65/1), Wien–Köln–Weimar 2018, 67–85. 279) Coalition Warfare in 1918  : The Case of the Central Powers, in  : Ares & Athena 13/June 2018, 19–20. 278) Der polnische Thronfolgekrieg – ein zweiter Spanischer Erbfolgekrieg  ?, in  : Heeresgeschichtliches Museum (Hg.), Polen-Litauen und die Habsburgermonarchie im Zeitalter Maria Theresias (= Acta Austro-Polonica, 10), Wien 2018, 77–105. 277) Kein Albert und kein Hertling. Österreich und Sachsen im Ersten Weltkrieg. Eine diplomatische Miszelle, in  : Konstantin Hermann – Matthias Rogg (Hg.), Sachsen im Ersten Weltkrieg. Politik und Gesellschaft eines deutschen Mittelstaates 1914 bis 1918 (= Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte, 43), Stuttgart 2018, 84–89. 276) Die vierte Frau, oder  : Ein Wendepunkt der englischen und deutschen Reformation  ?, in  : FrankLothar Kroll – Glyn Redworth – Dieter J. Weiß (Hg.), Deutschland und die Britischen Inseln im Reformationsgeschehen. Vergleich, Transfer, Verflechtungen (= Prinz-AlbertStudien/Prince Albert Studies, 43), Berlin 2018, 29–49. 275) Protestanten in Österreich – Katholiken in Preußen, in  : Thomas Stamm-Kuhlmann (Hg.), Auf dem Weg in den Verfassungsstaat  : Preußen und Österreich im Vergleich, 1740–1947 (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 48), Berlin 2018, 11–27. 274) The Forgotten Fronts in Europe. Russia, Italy and the Balkans in 1918, in  : Matthias Strohn (Hg.), 1918. Winning the War, Losing the War, Oxford–New York 2018, 156–175, 271– 274. 273) Die zeitgenössische Perspektive, in  : Armin Kammel – Barbara Kolm (Hg.), Die österreichische Schule der Nationalökonomie aus österreichischer Perspektive, Marburg 2018, 9–24. 272) Königgrätz und der Ausgleich mit Ungarn  : Kehrtwende oder Katalysator, in  : Winfried Heinemann – Lothar Höbelt – Ulrich Lappenküper (Hg.), Der preußisch-österreichische Krieg 1866 (= Otto-von-Bismarck-Stiftung, Wissenschaftliche Reihe, 26), Paderborn 2018, 333–350. 271) Winfried Heinem a nn – Loth ar Höbelt – Ulrich La ppenküper, Einleitung, in  : Winfried Heinemann – Lothar Höbelt – Ulrich Lappenküper (Hg.), Der preußisch-

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öster­reichische Krieg 1866 (= Otto-von-Bismarck-Stiftung, Wissenschaftliche Reihe, 26), Paderborn 2018, 7–15. 270) Italien und die Heimwehr 1928–1934, in  : Maddalena Guiotto – Helmut Wohnout (Hg.), Italien und Österreich im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit/Italia e Austria nella Mitteleuropa tra le due guerre mondiali (= Schriftenreihe des Österreichischen Historischen Instituts in Rom, 2), Wien–Köln–Weimar 2018, 349–370. 2017 269) Die FPÖ und die EU. Schlingerkurs oder optische Täuschung, in  : Österreichisches Jahrbuch für Politik 2016, Wien–Köln–Weimar 2017, 121–132. 268) Das Ende der Zweiten Republik  ?, in  : Thomas Köhler – Christian Mertens (Hg.), Manifest. Zu Österreichs Dritter Republik (= Jahrbuch für politische Beratung, Sonderbd. 1), Wien 2017, 75–83. 267) Ein italienischer Bericht über den Pfrimer-Putsch in Kärnten, in  : Carinthia I 207, 2017, 497– 503. 266) Legitimacy or Stability  : The Enduring Dilemmas of the Congress of Vienna, in  : Hans Winkler (Hg.), The Long Shadow of Austria-Hungary  : A Counterfactual Exploration (= Favorita Papers, 1/2017), Wien 2017, 89–99. 265) Ernst von Streeruwitz 1874–1952. Ein österreichischer Bundeskanzler aus (West-)Böhmen, in  : Bohemia Occidentalis Historica 3, 2017, 15–29. 264) »Verraten und verkauft  ?« Napoleon III., Österreich und Mexiko, in  : Heeresgeschichtliches Museum (Hg.), Kontinuitäten und Zäsuren – die 1860er Jahre (= Acta Austro-Polonica, 9), Wien 2017, 167–204. 263) Marburg – Negotin – Tarnów. Der italienische Kriegseintritt und die militärischen Alternativen der Mittelmächte, in  : Jaroslav Láník – Tomáš Kykal (Hg.), Léta do pole okovaná 1914–1918 [Im Feld geschmiedete Jahre 1914–1918], Bd. 2  : 1915 – noví nepřátelé, nové výzvy [1915 – Neue Feinde, neue Herausforderungen], Praha 2017, 13–27. 262) Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg, in  : Thomas Kolnberger – Benoît Majerus – M. Christian Ortner (Hg.), Krieg in der industrialisierten Welt (= Krieg und Gesellschaft, 4), Wien 2017, 45–70. 261) Die Innen- und Außenpolitik der Habsburgermonarchie 1915–1917, in  : Truppendienst 56, 2017 Spezial/2, 76–85  ; auch unter https://www.truppendienst.com/themen/beitraege/ artikel/die-innen-und-aussenpolitik-der-habsburgermonarchie-1915-1917 [16.1.2022]. 260) Egbert Belcredi, die mährischen Konservativen und das böhmische Staatsrecht, in  : Právněhistorické studie 46/2, 2017, 152–160  ; auch unter https://karolinum.cz/data/clanek/3689/ PHS_2_2016_09_Hobelt.pdf [22.1.2022]. 259) Austro-Fascismus  ? Die Suppe ist zu dünn, in  : Historicum. Zeitschrift für Geschichte N.F. III/IV, 2017, 62–69. 258) Franz Joseph I. als Politiker, in  : Montfort. Zeitschrift für Geschichte Vorarlbergs 69/1, 2017, 5–9. 257) »Schlimmer noch als die Böhmen …« Der Putsch vom 20. Juli als letzter Akt des Bruderzwists, in  : Robert Rebitsch (Hg.), 1618. Der Beginn des Dreißigjährigen Krieges, Wien–Köln– Weimar 2017, 129–148.

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256) Tannenberg  : Tactical victory and strategic failure  ?, in  : Jean-Paul Bled – Jean-Pierre Deschodt (Hg.), De Tannenberg à Verdun la Guerre totale (= Études danubiennes 32, 2016), Paris 2017, 141–144. 2016 255a) “Only the Dead Do Not Avenge Themselves”  : The Austro-Italian “Negotiations” of 1914/15, in  : Andreas Gottsmann – Romano Ugolino – Stefan Wedrac (Hg.), Österreich-Ungarn und Italien im Ersten Weltkrieg/Austria-Ungheria e Italia nella Grande Guerra (= Publikationen des Historischen Institutes beim Österreichischen Kulturforum in Rom, 1/18), Wien 2019, 121–129. 255) “Only the Dead Do Not Avenge Themselves.” The Austro-Italian “Negotiations” of 1914/15, in  : Giovanni Orsina – Andrea Ungari (Hg.), L’Italia neutrale 1914–1915, Rom 2016, 454–468. 254) The “Unqualified Majority”. The Austrian Parliament in 1917–18, in  : Le rôle des parlements pendant la grande guerre 1914–1919 (= Revue d’Histoire diplomatique, 130), Paris 2016, 360–377. 253) Diplomatie zwischen Bündnissicherung und Friedenshoffnungen. Die Außenpolitik ÖsterreichUngarns 1914–1918, in  : Helmut Rumpler (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918 (= Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg, Bd. 11/2), Wien 2016, 1017– 1094. 252) Die Schlacht von Tarnów-Gorlice. Der größte Sieg des Ersten Weltkrieges, in  : Heeresgeschichtliches Museum (Hg.), Schlachtfeld Galizien (= Acta Austro-Polonica, 8), Wien 2016, 133–155. 251) Österreich und der Deutsch-Dänische Krieg  : Ein Präventivkrieg besonderer Art, in  : Oliver Auge – Ulrich Lappenküper – Ulf Morgenstern (Hg.), Der Wiener Frieden 1864. Ein deutsches, europäisches und globales Ereignis (= Otto-von-Bismarck-Stiftung, Wissenschaftliche Reihe, 22), Paderborn 2016, 163–184. 250) Graf Egbert Belcredi – der »echte« Konservative, in  : Lothar Höbelt – Johannes Kalwoda – Jiří Malíř (Hg.), Die Tagebücher des Grafen Egbert Belcredi 1850–1894. Nach editorischen Vorarbeiten von Antonín Okáč (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, 114), Wien–Köln–Weimar 2016, 15–37. 249) Europa und die Welt 1914–1918, in  : M. Christian Ortner – Hans-Hubertus Mack (Hg.), Die Mittelmächte und der Erste Weltkrieg. Symposium 16. bis 18. Juni 2014, Wien 2016, 221–244. 248) The Context of the Somme. The Pripet Marshes to the Federal Reserve, in  : Matthias Strohn (Hg.), The Battle of the Somme, Oxford–New York 1916, 23–39. 247) The Austro-Polish Solution  : Mitteleuropa’s Siamese Twin, in  : Jean-Paul Bled – Jean-Pierre Deschodt (Hg.), La crise de juillet 1914 et l’Europe, Paris 2016, 125–136.

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2015 246) Vorwort  : Der Weltgeist zu Pferde und das Papiergeld, in  : Jan Ganschow – Olaf Haselhorst (Hg.), 1815 – Die Befreiungskriege und das Ende des Napoleonischen Zeitalters. Vorgeschichte, Verlauf, Folgen, Graz 2015, 9–12. 245) Der unterschätzte Märtyrer  : Ministerpräsident Graf Karl Stürgkh (1859–1916), in  : Études Danubiennes 31, 2015, 1–17. 244) Why did Austria-Hungary decide for War in 1913–1914  ?, in  : Dragoljub R. Živojinović (Hg.), The Serbs and the First World War 1914–1918, Belgrade 2015, 169–173. 243) Die österreichischen Alldeutschen und der 1. Weltkrieg. Der Irredentismus vor dem Ende, in  : Jaroslav Láník – Thomáš Kykal (Hg.), Léta do pole okovaná 1914–1918 [Im Feld geschmiedete Jahre 1914–1918], Bd. 1914 – Proměny společnosti a státu ve válce), [1914 – Umwandlungen der Gesellschaft und des Staats im Krieg], Praha 2015, 50–60. 242a) The Austrian Army 1849–1866, in  : Peter Fichtenbauer – M. Christian Ortner (Hg.), A history of the Austrian Army from Maria Theresa to the present day in essays and pictorial representations, Wien 2015, 150–154. 242) Die Österreichische Armee 1849–66, in  : Peter Fichtenbauer – M. Christian Ortner (Hg.), Die Geschichte der österreichischen Armee von Maria Theresia bis zur Gegenwart in Essays und bildlichen Darstellungen, Wien 2015, 150–154. 241) Starhemberg und Schober, in  : Festschrift für Georg Heilingsetzer zum 70. Geburtstag (= Jahrbuch der Gesellschaft für Landeskunde und Denkmalpflege Oberöstereichs, 160), 2015, 231–248. 240) Die Invasion in der Normandie, in  : Heeresgeschichtliches Museum (Hg.), Zeitenwende 1944 (= Acta Austro-Polonica, 7), Wien 2015, 189–212. 239) »Nur Tote üben keine Rache«. Österreich-Ungarn und Italien 1914/15, in  : Montfort. Zeitschrift für Geschichte Vorarlbergs 67/2, 2015, 55–62. 238) Montenegro and the Central Powers 1915–16, in  : Mathieu Dubois – Renaud Meltz (Hg.), De part et d’autre du Danube. L’Allemagne, l’Autriche et les Balkans de 1815 à nos jours. Mélanges en l’honneur du professeur Jean-Paul Bled, Paris 2015, 79–94. 237) Mourir pour Liege  ? World War I War Aims in a Long-Term Perspective, in  : Holger Afflerbach (Hg.), The Purpose of the First World War. War Aims and Military Strategies (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 91), Berlin–Boston 2015, 143–159. 236) Wilhelm Brauneder  : Verfassungsjurist, Dritter Präsident des Nationalrates, in  : Mitchell G. Ash – Josef Ehmer (Hg.), Universität – Politik – Gesellschaft (= 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert, 2), Göttingen 2015, 383–388. 235) An Embarrassment of Options  : Fascism and Catholicism in Austria, in  : Jan Nelis – Anne Morelli – Danny Praet (Hg.), Catholicism and Fascism in Europe 1918–1945 (= Historische Texte und Studien, 26), Hildesheim–Zürich–New York 2015, 303–316. 234) Staatssprache oder Zweiteilung  ? Der Wendepunkt der deutschen Politik in Böhmen 1883–1886, in  : Franz Adlgasser – Jana Malínsá – Helmut Rumpler – Luboš Velek (Hg.), Hohes Haus  ! 150 Jahre moderner Parlamentarismus in Österreich, Böhmen, der Tschechoslowakei und der Republik Tschechien im mitteleuropäischen Kontext (= Studien zur Geschichte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, 35), Wien 2015, 177–186. 233) Die Motive für die Kriegsentscheidung, in  : Jean-Paul Bled – Lothar Höbelt (Hg.), L’Autriche-

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Hongrie et la Première Guerre Mondiale (1914–1915) (= Études Danubiennes 30, 2014), Paris 2015, 1–13. 2014 232) Kronprinz und Thronfolger, in  : Zeitschrift des historischen Vereines für Steiermark 105, 2014, 133–157. 231) Die Deutsche Agrarpartei in Böhmen vor dem Ersten Weltkrieg, in  : Střed. Časopis pro mezioborová studia Střední Evropy 19. a 20. století/Centre. Journal for Interdisciplinary Studies of Central Europe in the 19th and 20th Centuries 6/2, 2014, 30–46. 230) Austria-Hungary and World War I  : All Quiet on the Eastern Front  ?, in  : War in History 21, 2014, 538–545. 229) Napoleon und die ›Peripherie‹  : Polen und Lateinamerika, in  : Heeresgeschichtliches Museum (Hg.), Die Völkerschlacht bei Leipzig (= Acta Austro-Polonica, 6), Wien 2014, 207–240. 228) Die »Aktion Reinthaller«. »Ständestaat« und »nationale Opposition«, in  : Oberösterreichisches Landesarchiv (Hg.), Oberösterreich 1918–1938, Bd. 1, Linz 2014, 47–88. 227) »Herbstmanöver«. Der Pfrimer-Putsch 1931 und seine Auswirkungen auf Oberösterreich, in  : Oberösterreichisches Landesarchiv (Hg.), Oberösterreich 1918–1938, Bd. 1, Linz 2014, 89–138. 226) To fight or not to fight  ? Die »Späteinsteiger« und ihre Entscheidung für den Krieg, in  : Jürgen Angelow – Johannes Großmann (Hg.), Wandel, Umbruch, Absturz. Perspektiven auf das Jahr 1914, Stuttgart 2014, 139–149. 225a) Politická kariéra Hermanna Hallwicha, in  : Robert Rebitsch – Jan Kilián – Milan ­Svoboda (Hg.), Hermann Hallwich 1838–1913. Historik, politik, byrokrat, sběratel a básník, Praha–Teplice 2015, 55–69. 225) Hermann Hallwichs politische Karriere, in  : Robert Rebitsch – Jan Kilián – Milan Svoboda (Hg.), Hermann Hallwich (1838–1913). Historiker und Sammler, Funktionär und Politiker, Innsbruck 2014, 63–76. 224) Die »österreichischen« Liberalen und der Erste Weltkrieg, in  : Jahrbuch zur LiberalismusForschung 26, 2014, 151–170. 223) Außenpolitik und Friedensbemühungen. Macht und Ohnmacht der Diplomatie im Großen Krieg, in  : Jubel & Elend. Leben mit dem Großen Krieg 1914–1918, hg. v. Schallaburg Kulturbetriebsges.m.b.H. 2014, 372–377. 222) »Tyrannei, verschärft durch Schlamperei«. Der Zugriff des Staates 1914–1918, in  : Jubel & Elend. Leben mit dem Großen Krieg 1914–1918, hg. v. Schallaburg Kulturbetriebsges.m.b.H. 2014, 292–297. 221) »Stahlgewitter« oder »Im Westen nichts Neues«  ? Ein britischer Historikerstreit, in  : Stefan Karner – Philipp Lesiak (Hg.), Erster Weltkrieg. Globaler Konflikt – lokale Folgen. Neue Perspektiven (= Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, 27), Innsbruck–Wien–Bozen 2014, 63–79. 220) Das Janusgesicht des liberalen Rechtsstaates. Die Debatte über den »Legalisierungszwang« 1870/ 71, in  : Wilhelm Brauneder – Milan Hlavačka (Hg.), Bürgerliche Gesellschaft auf dem Papier  : Konstruktion, Kodifikation und Realisation der Zivilgesellschaft in der Habs-

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burgermonarchie (= Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, 59), Berlin 2014, 65–82. 219) Die Wahlen in der Großgrundbesitzerkurie des Herzogtums Krain 1861–1883, in  : Carinthia I 204, Teilband 1  : Festschrift für Claudia Fräss-Ehrfeld, 2014, 247–267. 218) Austria-Hungary and the Balkan Wars 1912–13, in  : Jean-Paul Bled – Jean-Pierre Deschodt (Hg.), Les guerres balcaniques 1912–1913, Paris 2014, 131–144. 217) »Frock Coats and Brass Hats«. Vom Verhältnis von Politik und Militär im Ersten Weltkrieg, in  : Wolfram Dornik – Julia Walleczek-Fritz – Stefan Wedrac (Hg.), Frontwechsel. Österreich-Ungarns »Großer Krieg« im Vergleich, Wien–Köln–Weimar 2014, 357–376. 216) Die FPÖ als NGO  ?, in  : Österreichisches Jahrbuch für Politik 2013, Wien–Köln–Weimar 2014, 99–110. 215) Zwischenbilanz 1914/1915, in  : Truppendienst Spezial 2014/2, 92ff. 214) 1900 bis 1914  : Der lange Friede und die kurzen Kriege, in  : Truppendienst Spezial/2 2014, 4ff  ; auch unter https://www.truppendienst.com/themen/beitraege/artikel/1900-bis-1914-­ der-lange-friede-und-die-kurzen-kriege [29.8.2021]. 2013 213) Die Heimwehren 1927–1929  : Die Steiermark und der Bund, in  : Zeitschrift des historischen Vereines für Steiermark 104, 2013, 219–263. 212) The Rollercoaster of Austria-Hungary’s World War I Experience, in  : Matthias Strohn (Hg.), World War I Companion, Oxford–New York 2013, 121–139, 241–244. 211) »Pommerland ist abgebrannt …« Finanzen und Logistik in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in  : Heeresgeschichtliches Museum (Hg.), »Sintflut und Simplicissimus«. Österreich und Polen im 17. Jahrhundert. Symposium 9. November 2012 (= Acta AustroPolonica, 5), Wien 2013, 55–68. 210a) Šlechta ve 20. století/‌Nobility in the 20th century, in  : Peter Geiger – Tomáš Knoz (Hg.), Lich­tenštejnové, Lichtenštejnsko a Československo ve 20. století (= Časopis Matice moravské 132, 2013, Supplementum 6), Brno 2013, 51–60. 210) Adel im 20. Jahrhundert, in  : Liechtensteinisch-Tschechische Historikerkommission (Hg.), Das Fürstenhaus, der Staat Liechtenstein und die Tschechoslowakei im 20. Jahrhundert (= Liechtensteinisch-Tschechische Historikerkommission, 4), Vaduz 2013, 53–62. 209) Prinz Max Egon zu Hohenlohe-Langenburg (1897–1968). Ein unzeitiger Prophet der WestBindung, in  : Alma Hannig – Martina Winkelhofer-Thyri (Hg.), Die Familie Hohenlohe. Eine europäische Dynastie im 19. und 20. Jahrhundert, Wien–Köln–Weimar 2013, 287–306. 208) Prinz Konrad zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1863–1918). Vom »roten Prinzen« zur »Adelsjunta«  ?, in  : Alma Hannig – Martina Winkelhofer-Thyri (Hg.), Die Familie Hohenlohe. Eine europäische Dynastie im 19. und 20. Jahrhundert, Wien–Köln–Weimar 2013, 201–227. 207) Kaiser Karl und sein Außenminister Czernin  : »Hier stehe ich  ; ich kann auch anders«, in  : Heeresgeschichtliches Museum (Hg.), Kaiser Karl I. Symposium, Wien 2013, 17–36. 206a) Kníže Jan z Lichtenštejna jako finanční patron »chabrusových hrabat« v roce 1875/‌Prince Johann of Liechtenstein as a financial patron of the ›Chabrus counts‹ in 1875, in  : Peter Gei-

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ger – Tomáš Knoz (Hg.), Lichtenštejnové  : kontinuity – diskontinuity (= Časopis Matice moravské 132, 2013, Supplementum 4), Brno 2013, 201–214. 206) Fürst Johann Liechtenstein als finanzieller Schutzpatron der »Chabrus-Grafen« 1875, in  : Liechtensteinisch-Tschechische Historikerkommission (Hg.), Die Liechtenstein  : Kontinuität – Diskontinuität (= Liechtensteinisch-Tschechische Historikerkommission, 2), Vaduz 2013, 247–261. 205) Österreich und die Koalitionskriege, in  : Uwe Niedersen (Hg.), Sachsen, Preußen und Napoleon. Europa in der Zeit von 1806–1815. Eine Publikation des Fördervereins Europa Begegnungen e.V., Dresden 2013, 128–134. 2012 204) Parliamentarism in Austria in the Interwar Period, in  : Hans-Christian Maner – Sorin Radu (Hg.), Parliamentarism and Political Structures in East-Central and Southeastern Europe during the Interwar Period (= Studia Universitatis Cibiniensis, Series Historica 9), Sibiu/Hermannstadt 2012, 13–29. 203) Herbst 1929  : Der »Marsch auf Wien« und die Banken. Indizien und Interpretationen, in  : Gerald Schöpfer – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Wirtschaft. Macht. Geschichte. Brüche und Kontinuitäten im 20. Jahrhundert. Festschrift Stefan Karner (= Unserer Zeit Geschichte, 9  ; Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, 23), Graz 2012, 53–64. 202) Maria Theresia und Kaunitz als Gegenspieler Friedrichs, in  : Eberhard Birk – Peter Andreas Popp (Hg.), Wie Friedrich »der Große« wurde. Eine kleine Militärgeschichte der friderizianischen Kriege, Freiburg im Breisgau–Berlin–Wien 2012, 47–51. 201) Les Schwarzenberg dans la vie politique autrichienne après le diplôme d’octobre, in  : Olivier Chaline (Hg.), Les Schwarzenberg. Une famille dans l’histoire de l’Europe XVIè–XXIè siècles, Panazol 2012, 121–127. 200) Die austropolnische Lösung – eine unendliche Geschichte, in  : Heeresgeschichtliches Museum (Hg.), Der Erste Weltkrieg und der Vielvölkerstaat (= Acta Austro-Polonica, 4), Wien 2012, 35–54. 199) Der »Ausgleich« mit Ungarn und mit Böhmen (1861–1871). Determinanten seines Erfolgs und seines Scheiterns, in  : Cinq Continents. Les cahiers du Départment d’Histoire moderne et contemporaine 2011/2, Budapest 2012, 153–168. 198) The Westphalian Peace  : Augsburg Mark II or Celebrated Armistice  ?, in  : Robert John Weston Evans – Peter H. Wilson (Hg.), The Holy Roman Empire, 1495–1806. A European Perspective (= Brill’s Companions to European History, 1), Leiden–Boston 2012, 19–34. 197) Surrender in the Thirty Years War, in  : Holger Afflerbach – Hew Strachan (Hg.), How Fighting ends. A History of Surrender, Oxford 2012, 141–151. 196) Der Jockey Club für Österreich, in  : Miloš Řezník – Luboš Velek (Hg.), Adelsgeschichte als Elitenforschung (= Studien zum mitteleuropäischen Adel, 5), München 2012, 201–212. 195) Devolution Aborted  : Franz Joseph I and the Bohemian ‘Fundamental Articles’ of 1871, in  : Parliaments, Estates & Representation 32, 2012, 37–52. 194) Friedliche Koexistenz – unfriedliche Grenze  : Der Hintergrund der Schlacht von Vezekény 1652, in  : Burgenländische Heimatblätter 73/1, 2012, 1–34.

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2011 193) Der Thronfolger und die politischen Parteien, in  : Études Danubiennes 27, 2011, 13–23. 192) Austria, in  : Fulvio Cammarano – Michele Marchi (Hg.), Il mondo ci guarda. L’Unificazione italiana nella stampa e nell’opinione pubblica internazionali (1859–1861), Firenze 2011, 29–44. 191) Gründerzeit und Börsenschwindel. Politik und Wirtschaft in der liberalen Ära, in  : Ernst Bruckmüller (Hg.), Korruption in Österreich. Historische Streiflichter, Wien 2011, 60–80. 190) Der Kärntner Landtag 1640/41  : Eine Stich- und Kostprobe, in  : Carinthia I 201, 2011, 217– 232. 189) Der österreichische Adel zwischen Ständestaat und Drittem Reich, in  : Zdeněk Hazdra – Václav Horčička – Jan Županič (Hg.), Šlechta střední Evropy v konfrontaci s totalitními režimy 20. století/‌Der Adel Mitteleuropas in Konfrontation mit den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts, Praha 2011, 35–46. 188) “Madrid vaut bien une guerre  ?” Marriage Negotiations between the Habsburg Courts 1653– 1657, in  : José Martínez Millán – Rubén González Cuerva (Hg.), La Dinastía de los Austrias. Las relaciones entre la Monarquía Católica y el Imperio, Bd. 3, Madrid 2011, 1421–1436. 187) Barocke Bomberflotten  ? Die »polnischen Völcker« als habsburgische »Vergeltungswaffe« 1635/36, in  : Heeresgeschichtliches Museum (Hg.), Von Söldnerheeren zu UN-Truppen. Heerwesen und Kriege in Österreich vom 17. bis zum 20. Jahrhundert (= Acta Austro-Polonica, 3), Wien, 2011, 29–43. 186) »Warum gibt es in Österreich keinen Tisza  !« Die »cisleithanischen« Eliten und der »einzige Staatsmann, den die Monarchie besaß«, in  : Maruzsa Zoltán – Pallai László (Hg.), Tisza István és emlékezete. Tanulmányok Tisza István születésének 150. évfordulójára [István Tisza und sein Gedenken. Zum 150. Jahrestag der Geburt von István Tisza], Debreczen 2011, 417–425. 185) Graf Leo Thun als Führer der konservativen Opposition, oder  : Aufstieg und Fall der »Österreichischen Rechtspartei« (1872–74), in  : Dagmar Hájková – Luboš Velek (Hg.), Historik nad šachovnicí dějin. K pětasedmdesátinám Jana Galandauera [Der Historiker auf dem Schachbrett der Geschichte. Zum Fünfundziebzigsten von Jan Galandauer], Praha 2011, 112–133. 184) »Gründerväter«, Konvertiten und »Elder Statesmen«. Die Spitzen des Rechnungshofes vor 1918, in  : 250 Jahre Rechnungshof. Unabhängig. Objektiv. Wirksam. Der Festakt und die Ausstellung in Wort und Bild, Wien 2011, 225–230, 350. 183) Die mährische Aristokratie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in  : Tomáš Knoz – Jan Dvořák (Hg.), Šlechta v proměnách věků [Adel in den Wandlungen der Zeit] (= Edice Země a kultura ve Střední Evropě, 17), Brno 2011, 245–252. 182) Einleitung, in  : Heinrich von Spreti – Philipp von Spreti (Hg.), »Wie das Leben einen jeden verändert …« Tagebuchaufzeichnungen der Johanna Gräfin von und zu Eltz, geb. Gräfin von Schönborn-Wiesentheid, aus den Jahren 1896–1944, München 2011, 8–11. 181) Der Adel und die Kurie des Großgrundbesitzes 1861–1918, in  : Tatjana Tönsmeyer – Luboš Velek (Hg.), Adel und Politik in der Habsburgermonarchie und den Nachbarländern

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zwischen Absolutismus und Demokratie (= Studien zum mitteleuropäischen Adel, 3), München 2011, 251–263. 180) Der Balkan und die Strategie der Entente, in  : Jürgen Angelow (Hg.), Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan. Perspektiven der Forschung, Berlin 2011, 57–73. 179) Kein zweites Kolin  : »Zieten aus dem Busch« und die »Königin der Nacht«, in  : Sächsische Heimatblätter 57, 2011, 69–74. 178) Richard Schmitz als Protagonist der internationalen Kontakte der Christlichsozialen in der Zwischenkriegszeit (1931–34), in  : Helmut Wohnout (Hg.), Demokratie und Geschichte. Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich 13/14, 2009/10, Wien–Köln–Weimar 2011, 159–171. 2010 177) »Entösterreicherung« im Vergleich   : Die Verfassungsentwicklung der Tschechoslowakei und (Deutsch-)‌Österreichs nach 1918, in  : Lucie Kostrbová – Jana Malínská (Hg.), 1918  : Model komplexního transformačního procesu  ? [1918. Modell eines komplexen Transformationsprozesses  ?], Praha 2010, 93–99. 176) Karst und Küste  : Österreichischer oder venezianischer Erbfolgestreit  ?, in  : Peter Karpf – Werner Platzer – Udo Puschnig (Hg.), Grenzen   : Grenzenlos – 1918/20   :  2010 (= KärntenDokumentation, Sonderbd. 3), Klagenfurt 2010, 49–63. 175) Zeitenwende  ? Die Schlacht von Rocroi 1643, in  : Thomas Kolnberger – Ilja Steffelbauer (Hg.), Krieg in der europäischen Neuzeit, Wien 2010, 209–222. 174) Vom militärischen saisonnier zum miles perpetuus  : Staatsbildung und Kriegsführung im ancien régime, in  : Thomas Kolnberger – Ilja Steffelbauer (Hg.), Krieg in der europäischen Neuzeit, Wien 2010, 59–79. 173) Polen und Österreich im 20. Jahrhundert, in  : Heeresgeschichtliches Museum (Hg.), Österreichisch-polnische militärische Beziehungen im 20. Jahrhundert (= Acta Austro-Polonica, 2), Wien 2010, 13–23. 172) Schreckensszenarien und Autosuggestion  : Die Royal Air Force und die britische Politik vor 1939, in  : Patrick Bormann – Thomas Freiberger – Judith Michel (Hg.), Angst in den Internationalen Beziehungen (= Internationale Beziehungen. Theorie und Geschichte, 7), Bonn 2010, 167–183. 171) Die Wechselwirkung von Wahlrecht und Parteiensystemen, in  : Thomas Simon (Hg.), Hundert Jahre allgemeines und gleiches Wahlrecht in Österreich. Modernes Wahlrecht unter den Bedingungen eines Vielvölkerstaates (= Rechtshistorische Reihe, 400), Frankfurt am Main 2010, 155–165. 170) Loth ar Höbelt – Thom as G. Ot te, Preface, in  : Lothar Höbelt – Thomas G. Otte (Hg.), A Living Anachronism  ? European diplomacy and the Habsburg Monarchy. Festschrift für Roy Bridge zum 70. Geburtstag, Wien–Köln–Weimar 2010, 11–13. 169) The Bosnian Crisis Revisited  : Why did the Austrian liberals oppose Andrássy  ?, in  : Lothar Höbelt – Thomas G. Otte (Hg.), A Living Anachronism  ? European diplomacy and the Habsburg Monarchy. Festschrift für Roy Bridge zum 70. Geburtstag, Wien–Köln–Weimar 2010, 177–198. 168) »Götterdämmerung der Condottieri«. Der Dreißigjährige Krieg, in  : Stig Förster – Chris-

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tian Jansen – Günther Kronenbitter (Hg.), Rückkehr der Condottieri  ? Krieg und Militär zwischen staatlichem Monopol und Privatisierung  : Von der Antike bis zur Gegenwart (= Krieg in der Geschichte, 57), Paderborn–München–Wien–Zürich 2010, 127–139. 2009 167) Das Dritte Lager. Von Steger über Haider zu Strache, in  : Österreichisches Jahrbuch für Politik 2008, Wien–Köln–Weimar 2009, 155–166. 166) »Pracně upředené nitě, které vlastní soukmenovci zpřetrhali …« Karel Kramář a rakouská politika před první světovou válkou [»Mühevoll gesponnene Fäden, welche die eigenen Konnationalen zerrissen hatten …« Karel Kramář und die altösterreichische Politik vor dem Ersten Weltkrieg], in  : Jan Bílek – Luboš Velek (Hg.), Karel Kramář (1860–1937). Život a dílo [Leben und Werk] (= Moderní dějiny, Supplementum 2), Praha 2009, 299–313. 165) Monarch und Parlament  : Der a-symmetrische Sonderweg zur parlamentarischen Monarchie  ?, in  : Gerald Kohl (Hg.), Parliamentarism in Small States – Parliamentarism and Monarchy/Parlamentarismus in Kleinstaaten – Parlamentarismus und Monarchie (= Czasopismo prawno-historyczne, 61/2), Poznań 2009, 167–175. 164) Die Habsburger und das geteilte Polen 1772–1918, in  : Heeresgeschichtliches Museum (Hg.), Polnisch-österreichische Kontakte sowie Militärbündnisse. Symposium und Abendvortrag 11. und 12. September 2008 (= Acta Austro-Polonica, 1), Wien 2009, 165–174. 163) »Erl« und die Meistersinger  : Streiflichter zur Geschichte der Familie Waldstein in der franziskojosephinischen Ära, in  : Zdislava Röhsner (Hg.), Wallenstein und noch viel mehr. 850 Jahre Familie Waldstein, Wien 2009, 169–182. 162) Weltmacht und »Weltgeist«  : Wallenstein und die Casa d’Austria, in  : Zdislawa Röhsner (Hg.), Wallenstein und noch viel mehr. 850 Jahre Familie Waldstein, Wien 2009, 45–62. 161) »Der Bankrott ist eine Steuer wie jede andere …« Die Kriegsfinanzierung und die Währungsreform von 1811, in  : Claudia Fräss-Ehrfeld (Hg.), Napoleon und seine Zeit. Kärnten – Innerösterreich – Illyrien (= Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie, 96), Klagenfurt 2009, 291–300. 160) »Revanche pour Sadowa  ?« Österreich und der Deutsch-Französische Krieg 1870/71, in  : Jan Ganschow – Olaf Haselhorst – Maik Ohnezeit (Hg.), Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71. Vorgeschichte, Verlauf, Folgen, Graz 2009, 178–189. 159) Adel und Reichsidee in der Zwischenkriegszeit, in  : Marcella Rossová (Hg.), Integration und Desintegration in Mitteleuropa. Pläne und Realität, München 2009, 149–158. 158) Der Berliner Kongress als Prototyp internationaler Konfliktregelung, in  : Bernhard Chiari – Gerhard P. Groß (Hg.), Am Rande Europas  ? Der Balkan – Raum und Bevölkerung als Wirkungsfelder militärischer Gewalt. (= Beiträge zur Militärgeschichte, 68), München 2009, 47–54. 157) Arms and the Man  : Helden der Lüfte, in  : Carina Chitta – Ilja Staffelbauer (Hg.), 100 Jahre Flugfeld Wiener Neustadt West. Wo die Zukunft begann. Jubiläumsband zum einhundertjährigen Bestehen des größten und ältesten Naturflugplatzes Europas vor den Toren Wiener Neustadts, veröffentlicht anläßlich der Feierlichkeiten im Juni 2009, Wien 2009, 39–45. 156) »Reservistenrolle für die Koalition«  : Hermann Withalm als Vizekanzler und Parteiobmann, in  :

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Helmut Wohnout (Hg.), Demokratie und Geschichte. Jahrbuch des Karl von VogelsangInstituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich 11/12, 2007/08, Wien–Köln–Weimar 2009, 129–145. 155) Mila n Hlavačk a – Loth ar Höbelt, »Innig bleibt mit Habsburgs Krone …« Böhmen und Österreich in der Neuzeit, in  : Stefan Karner – Michal Stehlík (Hg.), Österreich. Tschechien. geteilt – getrennt – vereint. Beitragsband und Katalog der Niederösterreichischen Landesausstellung 2009, 18. April bis 1. November 2009, Schallaburg 2009, 26–33. 154) Kleine Ursachen, große Wirkungen  ? Der Schwenk der mährischen Mittelpartei 1883/84, in  : Hana Ambrožová – Tomáš Dvořák – Bronislav Chocholáč – Libor Jan – Pavel Pumpr (Hg.), Historik na Moravě. Profesoru Jiřímu Malířovi, předsedovi Matice moravské a vedoucímu Historického ústavu FF MU, věnují jeho kolegové, přátelé a žáci k šedesátinám [Historiker in Mähren. Professor Jiří Malíř, dem Vorsitzenden der Matice moravská und Leiter des Historischen Instituts der Philosophischen Fakultät der Masaryk-Universität, von seinen Kollegen, Freunden und Schülern zum Sechzigsten gewidmet], Brno 2009, 399–411. 153) Parlamente der europäischen Nachbarn II  : Die Vertretung der Nationalitäten im Wiener Reichsrat, in  : Dittmar Dahlmann – Pascal Trees (Hg.), Von Duma zu Duma. Hundert Jahre russischer Parlamentarismus (= Internationale Beziehungen. Theorie und Geschichte, 4), Göttingen–Bonn 2009, 339–359. 2008 152) Loth ar Höbelt – Rich ar d Hufschmied, Ein Altösterreicher im Kreis um Canaris. Generalmajor Ernst von Lahousen, in  : Stephan Schröder – Christoph Studt (Hg.), Der 20. Juli 1944 – Profile, Motive, Desiderate. XX. Königswinterer Tagung, 23.–25. Februar 2007 (= Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944 e.V., 10), Berlin–Münster 2008, 65–80. 151) Die lange Vorgeschichte  : Die Deutsche Agrarpartei und der Landbund für Österreich, in  : Walter F. Kalina, »Auf Bauer – wehr Dich  !« Der Allgemeine Österreichische Bauernverband – die Agrarrebellen der Zweiten Republik, Graz–Stuttgart 2008, 17–29. 150) Vom ersten zum dritten Lager  : Großdeutsche und Landbund in der Ersten Republik, in  : Stefan Karner – Lorenz Mikoletzky (Hg.), Österreich. 90 Jahre Republik. Beitragsband der Ausstellung im Parlament, Innsbruck–Wien–Bozen, 2008, 81–90. 149) Franz Conrad von Hötzendorf – Der Prophet des Präventivkrieges, in  : Alfred Schickel (Hg.), Kein Dogma  ! Kein Verbot  ! Kein Tabu  ! Dem Historiker gehört die Geschichte. Parlament und Justiz mögen schweigen. Festschrift für Prof. Franz W. Seidler, Kiel 2008, 245–254. 148) Die Wotansanbeter, der heilige Josef und das Purgatorium, in  : Franz Schausberger (Hg.), Geschichte und Identität. Festschrift für Robert Kriechbaumer zum 60. Geburtstag (= Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg, 35), Wien–Köln–Weimar 2008, 289–300. 147) Brünn in der deutschen Politik Altösterreichs, in  : Lukáš Fasora – Jiří Hanuš – Jiří Malíř (Hg.), Brno Vídni, Vídeň Brnu. Zemské metropole a centrum říše v 19. století. Sborník příspěvků z mezinárodní konference konané ve dnech 22.–23. listopadu 2007 v Brně/

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Brünn–Wien, Wien–Brünn. Landesmetropolen und Zentrum des Reiches im 19. Jahrhundert. Gesammelte Beiträge der vom 22.–23. November 2007 in Brünn abgehaltenen internationalen Konferenz (= Edice Země a kultura ve střední Evropě, 9), Brno 2008, 15–27. 146) Die Wiener Sicht  : Der Kaiserhof und Österreich, in  : Christine Roll – Matthias Schnettger (Hg.), Epochenjahr 1806  ? Das Ende des Alten Reichs in zeitgenössischen Perspektiven und Deutungen (= Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Universalgeschichte, 76), Mainz 2008, 31–39. 145) Unbelastet oder unverbindlich  ? Das Verhältnis der Deutschen in Cisleithanien zu den Slowaken in Transleithanien, in  : Emilia Hrabovec – Beatá Katrebová-Blehová (Hg.), Die Slowakei und Österreich im 20. Jahrhundert. Eine Nachbarschaft in historisch-literarischer Perspektive (= Europa Orientalis, 3), Wien–Berlin 2008, 7–17. 144) 1848. Aufteilung oder Fortbestand des Habsburgerreiches  ?, in  : Truppendienst 47, 2/2008, 107–113   ; auch unter https://www.bundesheer.at/truppendienst/ausgaben/artikel.php?­ id=698 [29.8.2021]. 143) Traditionspflege jenseits der Klischees der Vergangenheitsbewältigung, in  : Österreichische Militärische Zeitschrift 46, 2008, 191–194. 142) Bismarcks widerwilliger Widerpart  : Alexander Mensdorff (1813–1871), in  : Gerald Kohl – Christian Neschwara – Thomas Simon (Hg.), Festschrift für Wilhelm Brauneder zum 65. Geburtstag. Rechtsgeschichte mit internationaler Perspektive, Wien 2008, 167–180. 141) The Long Nineteenth Century. Introduction, in  : Charles W. Ingrao – Franz A. J. Szabo (Hg.), The Germans and the East, West Lafayette 2008, 105–108. 2007 140) Adam Wandruszka und die »gottgewollten drei Lager«/Adam Wandruszka e i »tre schieramenti politici voluti da Dio«, in  : Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient/Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento 33, 2007, 253–265 139) (K)eine liberale Partei 1918 – Deutschnationale und Liberale, in  : Wolfram Dornik – Stefan Karner – Klaus Poier (Red.), 1918 – Der Beginn der Republik (= politicum, 102), Graz 2007, 17–20. 138) Karl I., der »Teufelspuk« und die Deutschböhmen, in  : Andreas Gottsmann (Hg.), Karl I. (IV.), der Erste Weltkrieg und das Ende der Donaumonarchie (= Publikationen des Historischen Instituts beim österreichischen Kulturforum in Rom, 1/14), Wien 2007, 47–58. 137a) »Hrát na Valdštejnovu notu« bez Valdštejna. Císařská generalita po roce 1643, in  : Eliška Fučíková – Ladislav Čepička (Hg.), Albrecht z Valdštejna. Inter arma silent musae, Praha 2007, 282–286. 137) »Wallsteinisch spielen« ohne Wallenstein. Die kaiserliche Generalität nach 1634, in  : Eliška Fučíková – Ladislav Čepička (Hg.), Albrecht von Waldstein. Inter arma silent musae  ?, Praha 2007, 282–286. 136) Der Orden vom Goldenen Vlies als Klammer eines Weltreiches, in  : Kanzlei des Ordens vom Goldenen Vlies (Hg.), Das Haus Österreich und der Orden vom Goldenen Vlies. Beiträge zum wissenschaftlichen Symposium am 30. November und 1. Dezember 2006 in

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Stift Heiligenkreuz, redigiert v. Leopold Auer – Sonja Dünnebeil – Birgit Charlotte Glaser – Alexander Pachta-Reyhofen, Graz–Stuttgart 2007, 37–52. 135) Der »schwarz-gelbe« Rechtskritikus. Eduard Herbst (1820–1892), in  : Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 19, 2007, 193–209. 134) Agnostic Nostalgics  : Austrian Aristocrats and Politics, 1918–1938, in  : Karina Urbach (Hg.), European Aristocrats and the Radical Right 1918–1938, Oxford 2007, 161–185. 133) Deutschnationale – Nationaldemokraten – Großdeutsche – Bauernpartei. Das »nationale Lager« 1918–1922, in  : Willibald Rosner – Reinelde Motz-Linhart (Hg.), Niederösterreich 1918–1922. Die Vorträge des 19. Symposions des NÖ Instituts für Landeskunde, Obersiebenbrunn, 5. bis 8. Juli 1999 (= Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde, 39), St. Pölten 2007, 101–135. 132) Graf Karl Wolkenstein (1802–1875). Der Alte vom Berge oder das Gewissen der Rechtspartei, in  : Robert Rebitsch – Elena Taddei (Hg.), Politik, Konflikt, Gewalt (= Innsbrucker Historische Studien, 25), Innsbruck 2007, 221–231. 131) »Die Freiheit und die Nationalität  !« Ignaz Kuranda. Ein deutschböhmischer Literat, Publizist und Politiker (1811–1884), in  : Jiří Pokorný – Luboš Velek – Alice Velková (Hg.), Nacionalismus, společnost a kultura ve střední Evropě. Pocta Jiřímu Kořalkovi k 75. narozeninám/Nationalismus, Gesellschaft und Kultur in Mitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Jiří Kořalka zum 75. Geburtstag, Praha 2007, 71–85. 130) Pflichtverteidiger und Substituten  : Anmerkungen zum Thema Österreich und die USA, in  : Klaus Koch – Walter Rauscher – Arnold Suppan – Elisabeth Vyslonzil (Hg.), Von St. Germain zum Belvedere. Österreich und Europa 1919–1955 (= Außenpolitische Dokumente der Republik Österreich 1918–1938, Sonderband), Wien 2007, 60–69. 2006 129) Zwischen Militärregime und nationaler Autonomie. Die Pläne zur Veränderung der böhmischen Verfassung im 1. Weltkrieg, in  : Karel Malý – Ladislav Soukup (Hg.), Vývoj české ústavnosti v letech 1618–1918 [Die Entwicklung der Verfassungsmäßigkeit in den böhmischen Ländern 1618–1918], Praha 2006, 757–764. 128) Der Großgrundbesitz und der Ausgleich, oder  : Vom Nutzen aristokratischer Exklusivität, in  : Lukáš Fasora – Jiří Hanuš – Jiří Malíř (Hg.) Moravské vyrovnání z roku 1905  : Možnosti a limity národnostního smíru ve střední Evropě/Der Mährische Ausgleich von 1905  : Möglichkeiten und Grenzen für einen Nationalen Ausgleich in Mitteleuropa (= Edice Země a kultura ve střední Evropě, 3), Brno 2006, 59–69. 178) Weltgeist und Zauberlehrling  : Das Bismarck-Bild in Österreich, in  : Klaus Hildebrand – Michael Epkenhans (Hg.), Otto von Bismarck im Spiegel Europas (= Otto-von-BismarckStiftung Wissenschaftliche Reihe, 8), Paderborn 2006, 1–24. 126) Kirche und Politik, oder  : Ungeordnete Gedanken zum Sinn und Unsinn von Kulturkämpfen, in  : Wolfgang Dewald – Klaus Motschmann (Hg.), Kirche, Zeitgeist und Nation. Gewandelte Religion, geändertes Volk, Graz 2006, 60–69. 125) Die deutsche Presselandschaft, in  : Helmut Rumpler – Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918 (= Die politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft. Die Presse als Faktor der politischen Mobilisierung, 8/2), Wien 2006, 1819–1894.

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124) The post-Wallenstein Imperial Army of the Thirty Years War 1634–48. Politics and Logistics, in  : http://www.assostoria.it/Armisovrano/Höbelt.pdf. [20.6.2006] 123) »So wie wir haben nicht einmal die Japaner angegriffen …« Österreich-Ungarns Nordfront 1914/15, in  : Gerhard P. Groß (Hg.), Die vergessene Front – der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung (= Zeitalter der Weltkriege, 1), Paderborn 2006, 87–119. 122) The Impact of the Rakoczi Rebellion on Habsburg Strategy  : Incentives and Opportunity Costs, in  : War in History 13, 2006, 1–14. 2005 121) Der Kaiser, der Papst, die Lega und Castro  : Eine Fallstudie zur österreichischen Neutralität, in  : Römische Historische Mitteilungen 47, 2005, 197–226. 120) Einleitung  : Franckenstein, der Diplomat, in  : Georg von Fr a nckenstein, Zwischen Wien und London. Erinnerungen eines österreichischen Diplomaten. Mit Briefen von Hugo von Hofmannsthal, Graz–Stuttgart 2005, 11–17. 119) Der Oberkommandant als Mediator. Zur Ehrenrettung Erzherzog Friedrichs, in  : Ein Leben für Deutschland. Gedenkschrift für Wolfgang Venohr 1925–2005, Berlin 2005, 245–259. 118a) Die Besatzer und die Parteien  : Chicago, nicht Westminster, in  : Andreas Mölzer (Hg.), Als wir »befreit« wurden …  : ausgebombt, gefangen, vertrieben, vergewaltigt. Zeitzeugen berichten über Krieg und Nachkriegszeit (= Zur Zeit. Die Edition, 4), Wien 2. Aufl. 2006, 81–92. 118) Die Besatzer und die Parteien  : Chicago, nicht Westminster, in  : Andreas Mölzer (Hg.), Als wir »befreit« wurden …  : ausgebombt, gefangen, vertrieben, vergewaltigt. Zeitzeugen berichten über Krieg und Nachkriegszeit (= Zur Zeit. Die Edition, 4), Wien 2005, 81–92. 117) Die »vierte Partei«  : Der Verband der Unabhängigen (VdU), in  : Stefan Karner – Gottfried Stangler (Hg.), in  : »Österreich ist frei  !« Der Österreichische Staatsvertrag 1955. Beitragsband zur Ausstellung auf Schloss Schallaburg (= Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums, N.F. 457), Horn–Wien 2005, 127–129. 116) Vinzenz Schumy, in  : Manfried Welan – Gerhard Poschacher (Hg.), Von Figl bis Fischler. Bedeutende Absolventen der »BOKU« Wien, Graz–Stuttgart 2005, 205–211. 115) Anton Reinthaller, in  : Manfried Welan – Gerhard Poschacher (Hg.), Von Figl bis Fischler. Bedeutende Absolventen der »BOKU« Wien, Graz–Stuttgart 2005, 165–169. 114) Der Kaiser, Brandenburg und die Schweden. Krieg, Frieden und Neutralität 1635–1642, in  : 125 Jahre Museum in Wittstock, Pritzwalk 2005, 26–36. 2004 113) »Wohltemperierte Unzufriedenheit«. Österreichische Innenpolitik 1908–1918, in  : Mark Cornwall (Hg.), Die letzten Jahre der Donaumonarchie. Der erste Vielvölkerstaat im Europa des frühen 20. Jahrhunderts, Essen 2004, 58–84 [übersetzte und überarbeitete Fassung von 33a)]. 112) »Sozialpartnerschaft Neu«. Das Ende des Klassenkampfes als gefährliche Drohung, oder  : Historische Anmerkungen zur Spätphase der Arbeiterbewegung, in  : Österreichisches Jahrbuch für Politik 2003, Wien–München 2004, 347–355.

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111) Die Deutsche Fortschrittspartei im alten Österreich (1896–1918), in  : Études Danubiennes 20, 2004, 111–120. 110) Die Wahlen ins Präsidium des Abgeordnetenhauses des Reichsrates 1867–1918  : Richtungsentscheidung, politischer oder nationaler Proporz  ?, in  : Jiří Georgiev – Jan Kysela (Hg.), Kapitoly z dějin stavovského a parlamentního zřízení. Sborník příspěvků z 54. konference Mezinárodní komise pro dějiny stavovství a parlamentarismu v Praze/Chapters from the History of Representative and Parliamentary Institutions. Collection of contributions from the 54th conference of the International Commission for the History of Representative and Parlamentary Institutions in Prague, Praha 2004, 85–94. 109) Der böhmische Adel und k. u. k. Generalität  : Ehrenstandpunkte, in  : Jiří Rak – Martin Veselý (Hg.), Armáda a společnost v českých zemích v 19. a první polovině 20. století [Armee und Gesellschaft in den böhmischen Ländern im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts], Ústí nad Labem 2004, 84–92. 108) Die politischen Landschaften der böhmischen Länder, in  : Claudia Fräss-Ehrfeld (Hg.), Kärnten und Böhmen, Mähren, Schlesien (= Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie, 89), Klagenfurt 2004, 41–64. 107) »Kranke Männer« unter sich  ? Die Donaumonarchie zwischen Berlin und Istanbul, in  : Rainer F. Schmidt (Hg.), Deutschland und Europa. Außenpolitische Grundlinien zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg. Festgabe für Harm-Hinrich Brandt zum siebzigsten Geburtstag (= Historische Mitteilungen, Beiheft 58), Stuttgart 2004, 118–134. 106) Drei Lager und drei Zonen. Deutsche und italienische Nationalliberale in der Habsburgermonarchie, in  : Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 16, 2004, 75–88. 2003 105) Die Bilanz der Wende 2000–  ?, in  : Österreichisches Jahrbuch für Politik 2002, Wien– München 2003, 19–29. 104) Die Grafen Adolph und Viktor Dubsky als »Freiherren von Gemperlein«, in  : Études Danubiennes 19, 2003, 119–133. 103) 1867  : The Empire Loyalists’ last (but one) stand, in  : Parliaments, Estates & Representation 23, 2003, 131–141. 102) Die italienische U-Boot-Waffe im 2. Weltkrieg, in  : Die Flagge. Offizielles Organ des Österreichischen Marine-Verbandes, Jg. 2003, Heft 4, 4  ; Jg. 2004, Heft 1, 3f. 101) Kein Bismarck und kein Moltke  : Regierung, Militär und Außenpolitik in Österreich-Ungarn 1860 bis 1890, in  : Michael Epkenhans – Gerhard P. Groß (Hg.), Das Militär und der Aufbruch in die Moderne 1860 bis 1890. Armeen, Marinen und der Wandel von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in Europa, den USA sowie Japan (= Beiträge zur Militärgeschichte, 60), München 2003, 75–92. 100) Problemi simili, contesti diversi  : La destra Austriaca e la destra Italiana dopo il 1945, in  : Trasgressioni 37, 2003, 37–58. 99) Jiří Georgiev – Loth ar Höbelt  : Graf Heinrich Clam-Martinic und Kaiser Franz Joseph  : Mißverständnisse unter Konservativen, in  : Ulrich E. Zellenberg (Hg.), Konservative Profile. Ideen und Praxis in der Politik zwischen FM Radetzky, Karl Kraus und Alois Mock, Graz–Stuttgart 2003, 169–197.

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98) Mechaniker der Macht. War Metternich ein Konservativer  ?, in  : Dieter Stein – Thorsten Thaler (Hg.), Über den Tag hinaus. Festschrift für Günter Zehm, Berlin 2003, 115–127. 97) L’Austria e il trattato di Versailles, in  : Antonio Scottà (Hg.), La Conferenza di pace di Parigi fra ieri e domani (1919–1920). Atti del Convegno Internazionale di Studi, Portogruaro-Bibione 31 maggio – 4 giugno 2000, Catanzaro 2003, 461–475. 2002 96) Hochverräter aus Größenwahn oder Don Quixote von der Weinstraße  ? Vinzenz Malik – ein »Original« der altösterreichischen Politik, in  : Zeitschrift des historischen Vereines für Steiermark 93, 2002, 255–277. 95) Loth ar Höbelt – Teresa Stochel-Na bielsk a  : »Therapeutischer Nihilismus«. Zukunftsvisionen im »alten Österreich« um 1900, in  : Sönke Neitzel (Hg.), 1900  : Zukunftsvisionen der Großmächte, Paderborn–München–Wien–Zürich 2002, 81–97. 94) Die angelsächsische Historiographie zum Zweiten Weltkrieg  : Große Linien und Periodisierung, in  : Bericht über den 22. Österreichischen Historikertag in Klagenfurt. Veranstaltet vom Verband Österreichischer Historiker und Geschichtsvereine in der Zeit vom 4. bis 7. Mai 1999 (= Veröffentlichungen des Verbandes Österreichischer Historiker und Geschichtsvereine, 31), Wien 2002, 151–155. 93) »Ich wünschte wir hätten gerauft  ?« Schwarzenberg, Preußen und das Reich der Siebzig Millionen, in  : Jonas Flöter – Günther Wartenberg (Hg.), Die Dresdner Konferenz 1850/51. Föderalisierung des Deutschen Bundes versus Machtinteressen der Einzelstaaten (= Schriften zur sächsischen Landesgeschichte, 4), Leipzig 2002, 45–65. 2001 92) Die Durchquerung der Wüste und das gelobte Land. Der Weg zur zweieinhalbten Republik, in  : Österreichisches Jahrbuch für Politik 2000, Wien–München 2001, 541–555. 91) Die Stellung der FPÖ im europäischen Parteienspektrum, in  : Carl Paul Wieland (Hg.), Öster­reich in Europa. Analysen, Hintergründe und Erkenntnisse. Vorträge anlässlich des Symposiums in der Aula der Ludwig-Maximilians-Universität München, veranstaltet von der Österreichisch-Bayerischen Gesellschaft (28.10.2000), Wien–München 15–24. 90) Die deutschböhmischen Parteien, in  : Felix-Ermacora-Institut (Hg.), Europa und die Zukunft der deutschen Minderheiten. mit Beiträgen zur Situation der deutschen Minderheiten in den Ländern Ostmittel- und Südosteuropas (= Schriftenreihe Geschichte, Gegenwart und Zukunft der altösterreichischen deutschen Minderheiten in den Ländern der ehemaligen Donaumonarchie, 1), Wien 2001, 39–51. 89) Former Masters Playing Second Fiddle  : Austria-Hungary in World War I and Britain in World War II, in  : Emil Brix – Klaus Koch – Elisabeth Vyslonzil (Hg.), The Decline of Empires (= Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts, 26), Wien– München 2001, 119–126. 88a) Flota Austro-węgier. Siły morskie ladowej potęgi, in  : Przegląd Morski 11, 2001, 71–80. 88) Temptations for the Small Navy of a Great Power  : The Case of Austria-Hungary, in  : Robert W. Love Jr. – Laurie Bogle – Brian VanDeMark – Maochun Yu (Hg.), New Interpretations in

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Naval History. Selected Papers from the Eleventh Naval History Symposium, Annapolis 2001, 165–175. 87) Die Stellung der Kärntner in der Politik der liberalen Ära (1861–79), in  : Wilhelm Wadl (Hg.), Kärntner Landesgeschichte und Archivwissenschaft. Festschrift für Alfred Ogris zum 60. Geburtstag (= Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie, 84), Klagenfurt 2001, 433–452. 86) Haiders Wähler oder die Legende von den Modernisierungsverlierern, in  : Lothar Höbelt (Hg.), Republik im Wandel. Die große Koalition und der Aufstieg der Haider-FPÖ, München 2001, 94–111. 85) Wahlen aus Parlamenten, in  : Wilhelm Brauneder (Hg.), Wahlen und Wahlrecht. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 10.3.–12.3.1997 (= Der Staat, Beiheft 14), Berlin 2001, 175–195. 2000 84) Bohemia 1913 – a consensual coup d’etat  ?, in  : Parliaments, Estates & Representation 20, 2000, 207–214. 83) Konservative und Christlichsoziale  : Phasen des Übergangs – und seine Folgen, in  : Ulfried Burz – Michael Derndarsky – Werner Drobesch (Hg.), Brennpunkt Mitteleuropa. Festschrift für Helmut Rumpler zum 65. Geburtstag, Klagenfurt 2000, 345–352. 82) Die Deutschliberalen Altösterreichs als Verfassungsbewegung 1848–1914, in  : Anna Gianna Manca – Wilhelm Brauneder (Hg.), L’istituzione parlamentare nel XIX. secolo. Una prospettiva comparata/Die parlamentarische Institution im 19. Jahrhundert. Eine Perspektive im Vergleich, Bologna–Berlin 2000, 193–222. 81) Parteien und Fraktionen im cisleithanischen Reichsrat, in  : Peter Urbanitsch – Helmut Rumpler (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918 (= Verfassung und Parlamentarismus. Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit, zentrale Repräsentativkörperschaften, 7/1), Wien 2000, 895–1006. 80) Konservatismus in Österreich. Literaturbericht, in  : Caspar von Schrenck-Notzing (Hg.), Stand und Probleme der Erforschung des Konservatismus (= Studien und Texte zur Erforschung des Konservatismus, 1), Berlin 2000, 233–242. 79) The Prehistory of the Fourth Party Movement in Austria, 1947–1949, in  : Austrian History Yearbook 31, 2000, 107–125. 78) The Austrian Empire, in  : Robert Justin Goldstein (Hg.), The War for the Public Mind. Political Censorship in Nineteenth-Century Europe, Westport Conn. – London 2000, 211–238.

1999 77) Die FPÖ und die Konflikte in ihren Landesorganisationen, in  : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1998, Wien–München 1999, 161–175. 76) Too Far Left or Too Far Right  ? A Comparison of the Fortunes of Reich German and AustroGerman Liberals, 1867–79, in  : Parliaments, Estates & Representation 19, 1999, 183–189.

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75) Die Konservativen Alt-Österreichs  : Parteien und Politik 1848–1918, in  : Ulrich Zellenberg – Robert Rill (Hg.), Konservativismus in Österreich. Strömungen, Ideen, Personen und Vereinigungen von Metternich bis heute, Graz–Stuttgart 1999, 109–152. 74) Erzherzog Johann und die Revolution von 1848, in  : Reinhold Reimann – Thomas Mader (Hg.), Revolution, Demokratie, Nation. Fragen an das Sturmjahr 1848 (= Schriftenreihe des Steirischen Studentenhistoriker-Vereines, 26), Graz 1999, 69–76. 73) Österreich und die deutsche Revolution 1848, in  : Carl Paul Wieland (Hg.), Die Rolle Öster­ reichs in Europa. Vom habsburgischen Österreich bis zum 21. Jahrhundert. Vorträge anläßlich des Symposiums in der Aula der Ludwig-Maximilians-Universität München, veranstaltet von der Österreichisch-Bayerischen Gesellschaft (20.6.1998), München 1999, 23–31. 72) From Ulm to Osnabrück 1647/1648. Acceptance of Defeat or last-ditch Effort, in  : Klaus-Richard Böhme – Jesper Hansson (Hg.), 1648 and European Security Proceedings, Stockholm 1999, 55–70. 1998 71) Wittstock und die Folgen. Vom Prager Frieden zur Wende des Krieges, in  : Kreis OstprignitzRuppin (Hg.), Museum des Dreißigjährigen Krieges, Wittstock 1998, 55–66. 70) The Austrians in the German National Assembly in 1848, in  : Parliaments, Estates & Representation 18, 1998, 91–101. 69) Das Bürgerministerium, in  : Études Danubiennes 14, 1998, 1–11. 68) Die Österreicher in der Paulskirche, in  : Otto Scrinzi – Jürgen Schwab (Hg.), 1848. Erbe und Auftrag, Graz 1998, 44–53. 67) Die »Achtundvierziger« und die »Siebenundsechziger«, in  : Sigurd Paul Scheichl – Emil Brix (Hg.), »Dürfen’s denn das  ?« Die fortdauernde Frage zum Jahre 1848 (= Reihe Civil Society der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, 3), Wien 1998, 115–126. 66) Die politische Geographie der Deutschen in Österreich  : Ein Vergleich der Frankfurter und Kremsierer Abgeordneten, in  : Eva Danihelová – Josef Harna – Milan Hlavačka – Petr Pálka – Vladimír Přikryl – Jana Starek (Hg.), Kroměřížský sněm 1848–1849 a tradice parlamentarismu ve střední Evropě. Sborník příspěvků ze stejnojmenné mezinárodní konference konané v rámci oslav 150 výročí říšského sněmu v Kroměříži 14.–16. září 1998 v Kroměříži [Der Reichstag von Kremsier 1848–1849 und die Tradition des Parlamentarismus in Mitteleuropa.], Kroměříž 1998, 115–120. 65) Appeasement mit anderen Mitteln. Die Dynamik des Wettrüstens und das Scheitern der britischen Abschreckungsstrategie 1938/39, in  : Reinhard Uhle-Wettler (Hg.), Wagnis Wahrheit. Historiker in Handschellen  ? Festschrift für David Irving, Kiel 1998, 167–177. 64) Civil Society vor und nach 1918, in  : Emil Brix – Jürgen Nautz (Hg.), Zwischen Wettbewerb und Protektion. Zur Rolle staatlicher Macht und wettbewerblicher Freiheit in Österreich im 20. Jahrhundert (= Reihe Civil Society der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, 2), Wien 1998, 263–270.

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1996 63) Die deutschen Parteien, das Reich und der Zweibund, in  : Helmut Rumpler – Jan Paul Niederkorn (Hg.), Der »Zweibund« 1879  : Das deutsch-österreichisch-ungarische Bündnis und die europäische Diplomatie. Historikergespräch Österreich – Bundesrepublik Deutschland 1994 (= Zentraleuropa-Studien, 2), Wien 1996, 345–364. 62) La guerre froide et l’Autriche en 1946  : une opportunite dans l’adversite, in  : Francine-Dominique Liechtenhan (Hg.), Europe 1946. Entre le deuil et l’espoir, Bruxelles 1996, 53–59. 61) The Discreet Charm of the Old Regime. Review Article, in  : Austrian History Yearbook 27, 1996, 289–302. 60) Von Worms bis Münster. Reich und Österreich im Zeitalter der habsburgischen Hegemonie, der Glaubensspaltung und der Türkengefahr, in  : Wilhelm Brauneder – Lothar Höbelt (Hg.), Sacrum Imperium. Reich und Österreich 996–1806, Wien 1996, 131–161. 59) Der Zweibund. Bündnis mit paradoxen Folgen, in  : Michael Gehler – Rainer F. Schmidt – Harm-Hinrich Brandt – Rolf Steininger (Hg.), Ungleiche Partner  ? Österreich und Deutschland in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung. Historische Analysen und Vergleiche aus dem 19. und 20. Jahrhundert (= Historische Mitteilungen, Beiheft 15), Stuttgart 1996, 295–313. 58) Late Imperial Paradoxes  : Old Austria’s Last Parliament 1917–18, in  : Parliaments, Estates & Representation 16, 1996, 207–216. 1995 57) Bürokratie und Aristokratie im Österreich der vor-konstitutionellen Ära, in  : Études Danubiennes 11, 1995, 149–162. 1994 56) Das Verhältnis von polnischen und deutschen Liberalen im Rahmen der Habsburgermonarchie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in  : Hans-Georg Fleck – Ryszard Kołodziejczyk (Hg.), Liberale Traditionen in Polen (= Texte zu Theorie, Geschichte und Gegenwart des Liberalismus, 1), Warszawa 1994, 159–178. 55) Burghard Breitner  : Politiker wider Willen, in  : Lothar Höbelt (Hg.), Festschrift für Burghard Breitner. Im Gedenken an einen großen Österreicher (= Personengeschichtliche Reihe des Freiheitlichen Bildungswerkes, 5), Wien 1994, 7–16. 54) Die »Los von Rom«-Bewegung, in  : Études Danubiennes 10, 1994, 43–53. 53) Karl May, Kaiser Max und Mexiko, in  : Wilhelm Brauneder (Hg.), Realität – Fiktion – Rezeption. Karl May in Österreich, Husum 1994, 366–377. 52) »Wohltemperierte Unzufriedenheit«. Die Deutschösterreicher, die Monarchie und das Nationalitätenproblem, in  : Peter Mast (Hg.), Nationaler Gegensatz und Zusammenleben der Völker. Österreich-Ungarn im Spiegel der deutschsprachigen Literatur, Bonn 1994, 7–14. 51) Adel und Politik seit 1848, in  : Erwein Eltz – Arno Strohmayer (Hg.), Die Fürstenberger. 800 Jahre Herrschaft und Kultur in Mitteleuropa (= Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums, N.F. 342), Korneuburg 1994, 365–377.

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50) Von der »Erbfeindschaft« zur »Europäischen Union«. Frankreich und Deutschland 1494–1994, in  : Truppendienst 33, 1994, 139–143. 49) Die Symbole des national-liberalen Lagers, in  : Norbert Leser – Norbert Wagner (Hg.), Österreichs politische Symbole. Historisch, ästhetisch und ideologiekritisch beleuchtet (= Schriftenreihe des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Neuere Österreichische Geistesgeschichte, 6), Wien–Köln–Weimar 1994, 193–204. 48a) Österreich = deutsch ≠ bundesdeutsch, in  : Gerhard Botz – Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker (= Studien zur historischen Sozialwissenschaft, 13), Frankfurt am Main–New York 2. Aufl. 2008, 338–345. 48) Österreich = deutsch ≠ bundesdeutsch, in  : Gerhard Botz – Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker (= Studien zur historischen Sozialwissenschaft, 13), Frankfurt am Main–New York 1994, 338–345. 1993 47) Der 12. November – Renner und die Republik, in  : Jahrbuch für politische Erneuerung 1994, Wien 1993, 803–807. 46 a) »Daß der nationale Gedanke eine Ausweitung auf das Europäische erfahren hat.« Die europäische Integration in den fünfziger und sechziger Jahren aus der Sicht von WdU – VdU und FPÖ, in  : Michael Gehler – Rolf Steininger (Hg.), Österreich und die europäische Integration seit 1945. Aspekte einer wechselvollen Entwicklung (= Institut für Geschichte der Universität Hildesheim, Arbeitskreis Europäische Integration, Historische Forschungen, Veröffentlichungen, 1), Wien–Köln–Weimar 2. Aufl. 2014, 365–384. 46) »Daß der nationale Gedanke eine Ausweitung auf das Europäische erfahren hat.« Die europäische Integration in den 50er und 60er Jahren aus der Sicht von WdU – VdU und FPÖ, in  : Michael Gehler – Rolf Steininger (Hg.), Österreich und die europäische Integration seit 1945. Aspekte einer wechselvollen Entwicklung (= Institut für Geschichte der Universität Hildesheim, Arbeitskreis Europäische Integration, Historische Forschungen, Veröffentlichungen, 1), Wien–Köln–Weimar 1993, 346–364. 45a) Das Problem der konservativen Eliten in Österreich-Ungarn, in  : Jürgen Nautz – Richard Vahrenkamp (Hg.), Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse – Umwelt – Wirkungen (= Studien zu Politik und Verwaltung, 46), Wien–Köln–Graz 2. Aufl. 1996, 777–787. 45) Das Problem der konservativen Eliten in Österreich-Ungarn, in  : Jürgen Nautz – Richard Vahrenkamp (Hg.), Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse – Umwelt – Wirkungen (= Studien zu Politik und Verwaltung, 46), Wien–Köln–Graz 1993, 777–787. 44) Neutrality  : The Case of Austria 1945–1990, in  : Jukka Nevakivi (Hg.), Neutrality in History, Helsinki 1993, 297–299. 43) Deutschösterreich und die Sudetendeutschen 1918–1919, in  : Hans Lemberg – Peter Heumos (Hg.), Das Jahr 1919 in der Tschechoslowakei und in Ostmitteleuropa. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 24. bis 26. November 1989 (= Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum, 17), München 1993, 159–166.

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Johannes Kalwoda

1992 42) Kuhn und Tegetthoff  : Zwei liberale Militärs, in  : Études Danubiennes 8, 1992, 169–176. 41) Parliamentary Politics in a Multinational Setting  : Late Imperial Austria, in  : David F. Good (Hg.), Economic transformation in Central Europe (= Working Papers in Austrian Studies, 92-6), Minneapolis 1992, 1–15. 40) S wie SPÖ  : Sozialistisch, Sozialdemokratisch oder »Sozial und demokratisch«, in  : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1991, Wien–München 1992, 267–279. 1991 39) The Balkan Perspective, in  : Robert S. Jordan (Hg.), Europe and the Superpowers. Essays on European International Politics, London 1991, 202–216. 38) »Verfassungstreue« und »Feudale«  : Die beiden österreichischen Adelsparteien (1861–1918), in  : Études Danubiennes 7, 1991, 103–114. 37) Der Kärntner Großgrundbesitz und die österreichische Politik um die Jahrhundertwende, in  : Carinthia I 181, 1991, 417–437. 36) Planning, Perception and Reality   : Pre-War Assumptions and War-Time Experiences, in  : L’Annee 40 en Europe, Caen 1991, 75–77. 35) Prag, Wien und London in der ersten Nachkriegszeit  : Eine politisch-ökonomische Dreiecksbeziehung am Beispiel der Anglo-österreichischen Bank 1921, in  : Eva Schmidt-Hartmann – Stanley B. Winters (Hg.), Großbritannien, die USA und die böhmischen Länder 1848–1938/ Great Britain, the United States and the Bohemian Lands 1848–1938. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 2. bis 6. November 1988 (= Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum, 16), München 1991, 269–276. 34) Imperial Diplomacy and the ‘Glorious Revolution’, in  : Parliaments, Estates & Representation 11, 1991, 61–67. 1990 33a) ‘Well-tempered Discontent’  : Austrian Domestic Politics, in  : Mark Cornwall (Hg.), The Last Years of Austria-Hungary. A Multi-National Experiment in Early Twentieth-Century Europe, Revised and expanded edition, Exeter 2002, 47–74. 33) Parties and Parliament  : Austrian Pre-War Domestic Politics, in  : Mark Cornwall (Hg.), The Last Years of Austria-Hungary. Essays in Political and Military History 1908–1918, Exeter 1990, 41–62. 32) Die französische Armee im Blickfeld österreichischer Militärs 1871–1914, in  : Études Danubiennes 6, 1990, 155–159. 31) Zur Militärpolitik des Deutschen Bundes  : Corpseinteilung und Aufmarschpläne im Vormärz, in  : Helmut Rumpler (Hg.), Deutscher Bund und Deutsche Frage 1815–1866 (= Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, 16/17), Wien 1990, 114–135.

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1989 30) Die Handelspolitik der österreichisch-ungarischen Monarchie gegenüber dem Deutschen Reich, in  : Adam Wandruszka – Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918 (= Die Habsburgermonarchie im System der internationalen Beziehungen, 6/1), Wien 1989, 561–583. 29) Die Sackgasse aus dem Zweifrontenkrieg. Die Friedensverhandlungen mit den Osmanen 1689, in  : Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 97, 1989, 329– 380. 28) Die Parteien des nationalen Lagers in der Ersten Republik, in  : Carinthia I 179, 1989, 359–384. 27) Österreicher in der Wehrmacht, in  : Truppendienst 28, 1989, 417–432 26) Otto Steinwender 1847–1921. Pragmatiker der Mitte in einer Zeit des Übergangs, in  : Museum der Stadt Villach. Jahrbuch 26, 1989, 97–107. 1988 25) Von der Jeune Ecale zur Flottenpolitik  : Die Rolle der österreichisch-ungarischen Kriegsmarine im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, in  : Études Danubiennes 4, 1988, 147–156. 24) Von Bismarck zu Metternich, in  : Alfred Kohler – Gerald Stourzh (Hg.), Die Einheit der Neuzeit. Zum historischen Werk von Heinrich Lutz (= Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, 15), Wien 1988, 167–179. 23) Kriegsmarine und Kommunalpolitik  : Der Polaner »Ausgleich« 1908/09, in  : Österreichische Osthefte 30, 1988, 32–59. 22) Die Deutschfreiheitlichen Österreichs. Bürgerliche Politik unter den Bedingungen eines katholischen Vielvölkerstaats, in  : Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 79), Göttingen 1988, 161–171. 21) Ausgleich und Ausstellung – Wirtschaft und Politik in Böhmen um 1890, in  : Bohemia 29, 1988, 141–147. 1987 20) Karl Freiherr von Chiari – der Architekt des Nationalverbandes der deutschfreiheitlichen Abgeordneten, in  : freie Argumente 14/3, 1987, 83–91. 19) Die Europäischen Gemeinschaften – ein historischer Abriß, in  : freie Argumente 14/2, 1987, 51–59. 18) Nationale Interferenzerscheinungen bei den mährischen Reichsratswahlen um die Jahrhundertwende, in  : Ferdinand Seibt (Hg.), Die Chancen der Verständigung. Absichten und Ansätze zur übernationalen Zusammenarbeit in den böhmischen Ländern 1848–1918. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 22. bis 24. November 1985, München 1987, 245–253. 17) Die Linke und die Wahlen von 1891, in  : Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 40, 1987, 270–301.

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16) Literaturbericht  : Österreich in der NS-Zeit, in  : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 38, 1987, 116–128. 15) Die deutschnationalen und liberalen Gruppen in Cisleithanien  : Von der Vereinigten Linken bis zum Nationalverband, in  : Gabor Erdödy (Hg.), Das Parteiwesen Österreich-Ungarns, Budapest 1987, 77–91. 14) Die Marine, in  : Adam Wandruszka – Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918 (= Die bewaffnete Macht, 5), Wien 1987, 687–763. 1985–1986 13) Die Vertretung der Nationalitäten im Reichsrat, in  : Herbert Schambeck (Hg.), Österreichs Parlamentarismus. Werden und System, Berlin 1986, 185–222. 12) The Delegations – Preliminary Sketch of a Semi-Parliamentary Institution, in  : Parliaments, Estates & Representation 6, 1986, 149–154. 11) Deterrence and the Window of Vulnerability in the 1930’s  : Perception and Reality, in  : Defense Analysis 2, 1986, 101–106. 10) Österreich-Ungarn und Italien in der Ära Crispi, in  : La Politica Italiana ed Europea di Francesco Crispi (= Archivio Storico Siciliano, 4/11), Palermo 1985, 143–163. 9) Der Kärntner Abwehrkampf 1918/19, in  : Truppendienst 24, 1985, 378–383. 8) The Great Landowners Curia and the Reichsrat during the Formative Years of Austrian Constitutionalism 1867–1873, in  : Parliaments, Estates & Representation 5, 1985, 175–183. 7) Von St. Gotthard bis St. Germain, in  : Andreas Mölzer (Hg.), Österreich und die deutsche Nation, Graz 1985, 139–150. 6) Wahlen und politische Entscheidungsprozesse in Cisleithanien, in  : Bericht über den 16. Österreichischer Historikertag in Krems/Donau, Wien 1985, 118–125. 1982–1984 5) 4) 3) 2) 1)

Die britische Appeasement-Politik aus heutiger Sicht, in  : Geschichte und Gegenwart 3, 1984, 56–62. Bürgerkrieg in Österreich  : Juli 1934, in  : Truppendienst 23, 1984, 253–259. Schlieffen, Beck, Potiorek und das Ende der gemeinsamen deutsch-österreichisch-ungarischen Aufmarschpläne im Osten, in  : Militärgeschichtliche Mitteilungen 36, 1984, 7–30. Die britische Appeasement-Politik am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, in  : Österreichische Militärische Zeitschrift 20, 1982, 398–404. Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich als Zweibundpartner, in  : Heinrich Lutz – Helmut Rumpler (Hg.), Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert (= Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, 9), Wien 1982, 256–281.

Kurzbiographien für Neue Deutsche Biographie, Österreichiches Biographisches Lexikon, Ostdeutsche Gedenktage, Dictionary of Early Modern Europe

Werkverzeichnis von Lothar Höbelt (Auswahl)

Rezensionen für Austrian History Yearbook, Austrian Studies, Bohemia, Carinthia I Frankfurter Allgemeine Zeitung, German Studies Review, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Historische Zeitschrift, H-Net, H-Soz-Kult, Innsbrucker Historische Studien, International History Review, International Journal of Military History and Historiography, Ius Commune, Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, Journal of Early Modern History, Journal of Ecclesiastical History, Journal of Modern History, Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs, Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Österreich in Geschichte und Literatur, Österreichische Osthefte, Parliaments, Estates & Representation, sehepunkte, Slavic Review, The English Historical Review, War in History, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Zeitschrift für Unternehmensgeschichte

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Autoren und Herausgeber Jürgen Angelow, außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam, Forschungsschwerpunkt  : Politische Geschichte des 19./20. Jahrhunderts. Veröffentlichungen u. a. zur Geschichte des Deutschen Bundes, zur Vorgeschichte und Geschichte des Ersten Weltkriegs, zur dörflichen Sozialgeschichte und zum Eliten-Wandel in Ostdeutschland nach 1990. Kontakt  : Geschäftsführung des Historischen Instituts, Universität Potsdam, Haus 11, Campus Am Neuen Palais 10, D-14469 Potsdam, Deutschland  ; E-Mail  : [email protected]. John W. Boyer, born in Chicago in 1946, is the Martin A. Ryerson Distinguished Service Professor of History at the University of Chicago, and an Editor of the Journal of Modern History. He has written three books on late Imperial Austrian history, and a scholarly history of the University of Chicago. He has just completed a book on Austria, 1867–1955 for Oxford University Press. Contact  : Journal of Modern History, Box 122, University of Chicago, 1126 East 59th Street, Chicago, IL 60637, USA  ; email  : [email protected]. Wilhelm Brauneder, geb. 8. Jänner 1943 in Mödling  ; in Wien Studium der Rechtswissenschaften, Promotion 1965, und der Wirtschaftswissenschaften, Magisterium 1975  ; Universitätslaufbahn ab 1967, Ordentlicher Universitätsprofessor 1980 Universität Wien, emeritiert 2011, Honorarprofesssor Universitäten Budapest und Miskolc, Gastprofessuren. Arbeiten zur Rechts- und Verfassungsgeschichte, zum Verfassungsrecht, zum Bürgerlichen Recht, zur Literaturgeschichte. Stadtrat in Baden/ Wien 1990 bis 1995, Abgeordneter zum Nationalrat 1994, 1996 bis 2000 dessen III. Präsident. Kontakt  : Rechtswissenschaftliche Fakultät Wien, Schottenbastei 10–16, A-1010 Wien, Österreich. E-Mail  : [email protected]. Christopher Brennan, irisch-britischer Historiker aus Frankreich, Gastforscher an der Österreichischen Akademie der Wissenschaft. Er hat Germanistik, Slawistik und Geschichte in Bristol und Oxford studiert und wurde 2012 an der LSE mit einer Arbeit über die Innenpolitik Kaiser Karls und ihre Bedeutung im Hinblick auf das Schicksal

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der Monarchie promoviert. Zurzeit forscht er über die Nachkriegsgeschichte in den Nachfolgestaaten der Monarchie und über deren Erinnerungskulturen. Kontakt  : E-Mail  : [email protected]. Emil Brix, österr. Diplomat und Historiker  ; u. a. Büroleiter des Bundesministers für Wissenschaft u. Forschung  ; Generalkonsul in Krakau  ; Leiter Kulturpolitische Sektion des BMEIA. Ab 2010 Botschafter im Vereinigten Königreich, ab 2015 in der Russischen Föderation. Seit 2017 Direktor der Diplomatischen Akademie Wien. Zahlreiche Publikationen zur mitteleuropäischen Geschichte des 19./20. Jhdt. Kontakt  : Diplomatische Akademie Wien, Favoritenstraße 15a, A-1040 Wien  ; E-Mail  : [email protected]. Bertrand M. Buchmann, geb. 1949 in Wien, Studium der Geschichte und Geographie, ab 1976 Gymnasiallehrer, 1987 Habilitation an der Universität Wien für »Neuere Geschichte Österreichs«. Seither daselbst in Forschung und Lehre tätig. Seit 2007 auch Lehraufträge an der Donau-Universität Krems. 1994 Hauptpreis der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Zahlreiche Veröffentlichungen zur österr. und europ. Geschichte. Kontakt  : Wiedner Hauptstraße 40/41, A-1040 Wien, Österreich  ; E-Mail  : [email protected]. Mark Cornwall, FRHistS, is Professor of Modern European History at the University of Southampton. His publications include The Undermining of Austria-Hungary  : The Battle for Hearts and Minds (2000), The Devil’s Wall  : The Nationalist Youth Mission of Heinz Rutha (2012), and Sarajevo 1914  : Sparking the First World War (2020). In 2017 he was a Visiting Fellow at All Souls College, Oxford. He is now writing a history of treason and traitors in the late Habsburg Monarchy for Oxford University Press. Contact  : Department of History, School of Humanities, Avenue Campus, University of Southampton, Southampton, SO17 1BJ, United Kingdom. email  : [email protected]. Estevão de Rezende Martins, Studium der Philosophie und Geschichte in São Paulo, Innsbruck und München. Promotion 1976 an der Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Professor an der Universität Brasília für Theorie der Geschichte und Geschichte der neuesten Zeit (1977–2017). Generaldirektor des wissenschaftlichen Dienstes des Bundessenats a. D. (1995–1998)  ; Staatssekretär im brasilianischen Bundesjustizministerium a. D.(1990–1993). Kontakt  : PO Box 04363  ; 70842-970 Brasília / DF, Brasilien  ; E-Mail  : [email protected].

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Mario Di Napoli, Secretary General of the International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions, Mario di Napoli works for the Italian Chambertin of Deputies since 1993 and is presently Chief of the Protocol Department. Holding a degree in History by Scuola Normale Superiore of Pisa, he published many studies about Italian Risorgimento and taught Contemporary History at “Sapienza” Rome University. Contact  : Camera dei deputati, Piazza Montecitorio, Roma, Italien  ; email  : [email protected]. Werner Drobesch, geboren 1957  ; ao. Univ.-Prof. am Institut für Geschichte der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt  ; venia docendi für Österreichische Geschichte mit Berücksichtigung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte  ; Forschungsschwerpunkte  : Zeitalter der Reformation und Gegenreformation, Jesuiten in der AlpenAdria-Region, Vormärz, Franziszeischer Kataster, Vereinswesen, Unternehmer- und Agrargeschichte. Kontakt  : Institut für Geschichte/Abteilung Neuere und Österreichische Geschichte der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Universitätsstraße 65–67, A 9020 Klagenfurt am Wörthersee, Österreich  ; E-Mail  : [email protected]. Bogusław Dybaś, geb. 1958, Professor an der Nikolaus Kopernikus Universität und am Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften  ; Direktor des Wissenschaftlichen Zentrums der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien (2007–2019)  ; Forschungsgebiete  : Geschichte der Frühen Neuzeit, Militärgeschichte, Geschichte der polnisch-litauischen Adelsrepublik, Geschichte Livlands. Kontakt  : Uniwersytet Mikołaja Kopernika, Instytut Historii i Archiwistyki / Nikolaus Kopernikus Universität, Institut für Geschichte und Archivkunde, Ul. Bojarskiego 1, PL-87-100 Toruń, Polen  ; E-Mail  : [email protected]. Harald Fiedler, geb. 1980 in Wien, wo er Geschichte mit dem Schwerpunkt Habsburgische und Österreichische Geschichte ab 1848 studierte. Für seine Dissertation »Die politischen Folgekosten der Genfer Sanierung 1924–1926« erhielt er 2018 den Leopold-Kunschak-Wissenschaftspreis. Er ist Referent für den Bestand der k. (u.) k. Kriegsmarine im Österreichischen Staatsarchiv/Kriegsarchiv. Kontakt  : Österreichisches Staatsarchiv – Kriegsarchiv, Nottendorfer Gasse 2, A-1030 Wien, Österreich  ; E-Mail  : [email protected].

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Peter Fitl, geb. 1952, Studium der Rechts- und Politikwissenschaft (Dr. iur. 1975)  ; Tätigkeit in der Anwaltschaft (Rechtsanwaltsprüfung 1978) und in der Mineralölindustrie, zuletzt Bereichsleiter Recht der BP Austria AG  ; Studium der Geschichte (Dr. phil 2017)  ; Publikationen zur Militärjustizgeschichte. Kontakt  : Öblarn 136, A-8960 Öblarn, Österreich  ; E-Mail  : [email protected]. Marino Freschi, Germanist, emeritierter Professor an der Universität Rom III. Er forscht über die Goethezeit und die Österreichische Literatur (Kafka, Roth) und die Moderne (Th. Mann, Innere Emigration)  ; Leiter der Zeitschrift »Cultura Tedesca«. Er hat in Neapel, Rom, Wien und Berlin unterrichtet. Ehrenpräsident der GoetheGesellschaft Italien, Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I Klasse, Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Kontakt  : via Boiardo,19, I-00185 Roma, Italien  ; E-Mail  : [email protected]. Michael Gehler, geb. 1962 in Innsbruck, seit 2006 Professor an der Stiftung Universität Hildesheim und Leiter des Instituts für Geschichte  ; Direktor des Instituts für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), Wien (2013–17)  ; zum vierten Mal Jean Monnet-Chair für die Periode 2020–2023, seit 2021 auch Professor an der Andrássy Universität Budapest. Kontakt  : Jean Monnet Chair, Institut für Geschichte, Universität Hildesheim, Universitätsplatz 1, D-31141 Hildesheim, Deutschland  ; E-Mail  : [email protected]. Maddalena Guiotto, Historikerin an der Fondazione Museo Storico in Trient. Publikationen zu den österreichisch–italienischen Beziehungen, zur Geschichte Österreichs und Italiens im 20. Jahrhundert, zur Gestalt Alcide De Gasperis. U.a.: Italien und Österreich im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit (Co-Hg.), 2018), Alcide De Gasperi und die österreichische Politik vom Reich bis zum »Anschluss« (2020). Kontakt  : Fondazione Museo Storico del Trentino, Via Tomaso Gar 29, I-38122 Trient, Italien  ; E-Mail  : [email protected]. Alma Hannig, Historikerin und Sammlungskoordinatorin für Universitätsmuseen und -sammlungen an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Zahlreiche Publikationen zur Politik- und Diplomatiegeschichte Österreich-Ungarns und Deutschlands im langen 19. Jahrhundert, zur Geschichte des Adels sowie des Populismus und Antisemitismus. Kontakt  : E-Mail  : [email protected].

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Georg Heilingsetzer, geb. 1945, Hofrat, Direktor-Stellvertreter des Oberösterreichischen Landesarchivs i. R., Honorarprofessor für Österreichische Geschichte an der Universität Wien. Publikationen zur Österreichischen Geschichte und zur oberöster­ reichischen Landes- und Regionalgeschichte vom Mittelalter bis zum 20. Jhdt., mit Schwerpunkten in der Frühen Neuzeit. Kontakt  : Lehárstraße 1, A-4020 Linz, Österreich  ; E-Mail  : [email protected]. Reinhard Rudolf Heinisch, geb. am 3. August 1942 in München, Matura 1960 in Salzburg, beim Österreichischen Bundesheer – Reserveoffizier, 1961 Germanistik- und Geschichtestudium an der Universität Wien, 1966 Promotion, Dissertation zu »Salzburg im Dreißigjährigen Krieg«, 1965–1968 Institut für Österreichische Geschichtsforschung, 1967 Assistent am Historischen Institut der Universität Salzburg bei Hans Wagner, 1977 Habilitation, 1980 Ernennung zum Ao. Universitätsprofessor, 2007 Pensionierung. 1996–2015 Präsident der Gesellschaft der Salzburger Landeskunde. Kontakt  : Lasserstraße 25, A-5020 Salzburg, Österreich. Milan Hlavačka, geb. am 7. Mai 1955 in Beroun (Mittelböhmen), 1979 Promotion an der Karlsuniversität Prag, 1995 Habilitation an der Karlsuniversität Prag. Lehrtätigkeit an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversitát sowie Forschungstätigkeit am Historischen Institut der Tschechischen (Tschechoslowakischen) Akademie der Wissenschaften Prag, 2006–2009 Lehrstuhlinhaber für tschechische Geschichte an der Karlsuniversität Prag. Kontakt  : Historický ústav AV ČR v.v.i. Prosecká 76, CZ-190 00 Praha 9 oder Institut für tschechische Geschichte der Philosophischen Fakultät der Karlsunivesität, Náměstí Jana Palacha 2, CZ-116 38 Praha 1. E-Mail  : [email protected]  ; [email protected]. Catherine Horel, Forschungsdirektorin am CNRS (CETOBAC, Paris), Obfrau des International Committee for Historical Sciences (ICHS), ist eine Spezialistin der Geschichte Mittel- und Südosteuropas, der Habsburgermonarchie und Ungarns. Letzte Publikationen  : L’amiral Horthy. Régent de Hongrie, Paris, Perrin, 2014  ; De l’exotisme à la modernité. Un siècle de voyage français en Hongrie (1818–1910), Montrouge, éditions du Bourg, 2018  ; Histoire de la nation hongroise. Des premiers Magyars à Viktor Orbán, Paris, Tallandier, 2021. Kontakt  : Campus Condorcet / EHESS, CETOBaC (UMR8032), 2, cours des Humanités, F-93322 Aubervilliers Cedex, Frankreich  ; E-Mail  : [email protected].

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Rudolf Jeřábek, geb. am 31. Dezember 1956 in Wien. 1975–1982 Studium der Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Wien, Ausbildungslehrgang am Institut für österreichische Geschichtsforschung 1980–1983. Seit 1985 Österreichisches Staatsarchiv  : 1985–1988 Abteilung Allgemeines Verwaltungsarchiv, ab 1988 Abteilung Archiv der Republik, seit Oktober 2020 als Abteilungsleiter. Kontakt  : Österreichisches Staatsarchiv, Nottendorfer Gasse 2, A-1030 Wien, Österreich  ; E-Mail  : [email protected]. Johannes Kalwoda studierte Geschichte und Deutsche Philologie  ; im Schuldienst tätig  ; wiederholt an historischen Projekten beteiligt  ; Assistent am Institut für Rechtsund Verfassungsgeschichte der Universität Wien (2012–2016). Publikationen zu verwaltungs- und verfassungsgeschichtlichen Themen der späten Habsburgermo­ narchie sowie zur österreichischen Zeitgeschichte. Kontakt  : Bauernfeldgasse 4/1/18, A-1190 Wien, Österreich  ; E-Mail  : [email protected]. Andreas Khol, Südtiroler, geb. 14. Juli 1941 in Bergen/Rügen  ; Schulen in Sterzing und Innsbruck, Promotion zum Dr. jur. in Innsbruck, Habilitation (Verfassungsrecht und Internationale Organisationen) in Wien 1969. Beamter im Europarat (Menschenrechtsschutz, 1969 bis 1973), 1973 bis 1991 Direktor der Pol. Akademie der ÖVP, 1983 Abg. im Nationalrat (Tirol) bis 2006. 1993 Klubobmann der ÖVP im Nationalrat, 2002 bis 2006 Präsident des Nationalrats, Präsident des österr. Seniorenbundes 2005 bis 20016, jetzt Ehrenpräsident. Präsidentschaftskandidat der ÖVP 2016. Seit 1975 Herausgeber (mit anderen) des Österreichischen Jahrbuchs für Politik. Kontakt  : Cuviergasse 21, A-1130 Wien, Österreich  ; E-Mail  : [email protected]. Jan Kilián, geb. 1976 in Prag, studierte in Reichenberg und Prag. 2014 Habilitation an der Universität in Königgrätz, zurzeit lehrt er an den Universitäten in Pilsen und Königgrätz Geschichte der Frühen Neuzeit. Er beschäftigt sich mit der sozio-kulturellen Problematik in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges und mit der Geschichte der böhmischen Städte im 17. Jahrhundert. Er hat ca. 25 Bücher und ca. 90 Aufsätze in Tschechien, Deutschland, Österreich, Polen, Luxemburg oder in der Slowakei publiziert. Kontakt  : Katedra pomocných věd historických a archivnictví, Filozofická fakulta, Univerzita Hradec Králové [Lehrstuhl für historische Hilfswissenschaften und Archivwesen, Philosophische Fakultät, Universität Königgrätz], Náměstí Svobody 331, CZ-50003 Hradec Kralove, Tschechien  ; E-Mail  : [email protected].

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Roland Kleinhenz, geb. am 6. Oktober 1957 in Schweinfurt  ; 1978–1983 Studium der Rechtswissenschaft und Grundzüge der Politikwissenschaft an der Universität Würzburg, dort 1. Juristisches Staatsexamen 1983 und 2. Juristisches Staatsexamen 1986  ; 1987–1990 Rechtsanwalt in Würzburg  ; 1990 Promotion zum Dr. iur. utr. an der Universität Würzburg bei Prof. Dr. Hasso Hofmann  ; seit 1991 Rechtsanwalt in Erfurt. Kontakt  : Mainzerhofstraße 1, D-99084 Erfurt, Deutschland  ; E-Mail  : [email protected]. Marc von Knorring, geb. 1971 in Aurich, 2002 MA in Geschichte und Germanistik (Passau), 2004 Dr. phil. (Bonn). 2004–2007 sowie 2018/19 Mitarbeiter der Historischen Kommission München, 2008–2018 Assistent am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Univ. Passau, seit der Habilitation 2013 als Privatdozent. 2019–2022 ebd. Projektleiter und Lehrbeauftragter, seit 2020 zugleich apl. Professor. Kontakt  : Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Passau, Innstraße 25, D-94032 Passau, Deutschland  ; E-Mail  : [email protected]. Hans-Christof Kraus, 1992 Promotion an der Georg-August-Universität Göttingen, 2002 Habilitation an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Lehrtätigkeit an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer sowie an den Universitäten Stuttgart, München und Jena. Seit 2007 Lehrstuhlinhaber für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Passau. Kontakt  : Universität Passau, Lehrstuhl Neuere und Neueste Geschichte, Innstraße 25, D-94032 Passau, Deutschland  ; E-Mail  : [email protected]. Robert Kriechbaumer, geb. 1948, Ao. Univ. Prof. i. R. für Neuere Österreichische Geschichte an der Universität Salzburg und Prof. i. R. für Geschichte an der Pädagogischen Hochschule Salzburg, Vorstandsmitglied und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg, Vorstandsmitglied der Plattform zeithistorischer politischer Archive. Forschungsschwerpunkte  : Österreichische Zeitgeschichte, Geistes- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Kontakt  : Forschungsinstitut für politisch-historische Studien, Dr.-Wilfried-HaslauerBibliothek, Griesgasse 17, A-5020 Salzburg, Österreich  ; E-Mail  : [email protected] und [email protected]. Frank-Lothar Kroll, seit 2003 Inhaber des Lehrstuhls für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Technischen Universität Chemnitz. Vorsitzen-

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der der Preußischen Historischen Kommission (seit 2006), Vorsitzender der PrinzAlbert-Gesellschaft (seit 2011), Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beraterkreises der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung (seit 2016). Forschungsschwerpunkte  : Geschichte Preußens, Nationalsozialismus und Widerstand, vergleichende europäische Monarchie- und Dynastiegeschichte. Kontakt  : Barbarossastraße 60, D-09112 Chemnitz, Deutschland  ; E-Mail  : [email protected]. Ulrich Lappenküper, geb. 1959  ; Studium der Geschichtswissenschaft, Mathematik, Politikwissenschaften und Erziehungswissenschaften an den Universitäten Münster und Bonn  ; 1988 Promotion, 1998 Habilitation an der Universität Bonn  ; 1998 bis 2009 Oberassistent bzw. Außerplanmäßiger Professor an der Universität Bonn  ; seit 2009 Professor an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg  ; 2005 bis 2009 Wissenschaftlicher Mitarbeiter, ab 2009 Geschäftsführer, ab 2012 Mitglied des Vorstands der Otto-von-Bismarck-Stiftung. Kontakt  : Otto-von-Bismarck-Stiftung, Am Bahnhof 2, D-21521 Friedrichsruh, Deutschland  ; E-Mail  : ulappenkueper@bismarck-stiftung. Josef Leidenfrost, geb. am 25. März 1957 als fünftes Kind von Karl Leidenfrost, Müllermeister in Haugsdorf, und Hedwig, geborene Astleithner, Arbeitshauptlehrerin ebendort. 1975 Beginn des Studiums an der Universität Wien, 1986 Dr. phil. 1982– 1988 Mitarbeiter von Hugo Portisch (»Österreich II«). Ab 1988 im Wissenschaftsministerium (u. a. in den Büros von Hans Tuppy, Erhard Busek, Elisabeth Gehrer), seit 2001 Hochschulombudsmann. 2012 MA (Mediation). Kontakt  : Leopold-Leuthner-Straße 8, A-2054 Haugsdorf, Österreich  ; E-Mail  : [email protected] oder [email protected]. Dariusz Makiłła, Rechtshistoriker, arbeitete an der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń (Thorn) 1983–2002, an der Kardinal-Stefan-Wyszyński-Universität in Warschau (2002–2013), seit 2013 Professor am Institut für Rechtswissenschaften der Ökonomisch-Humanistischen Universität in Warschau. Kontakt  : University of Economics and Human Sciences in Warsaw, Okopowa 59, PL-01-043 Warsaw, Poland  ; E-Mail  : [email protected]. Jiří Malíř, Professor für Geschichte an der Masarykova univerzita (Brno), befasst sich mit der politischen und sozialen Geschichte der böhmischen Länder im 19. und 20. Jahrhundert, besonders mit der Geschichte politischer Parteien, den tschechisch-

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deutschen Beziehungen, der Gestaltung der bürgerlichen Gesellschaft und der Landesgeschichte Mährens. Kontakt  : Historický ústav, Filozofická fakulta, Masarykova Univerzita/Historisches Institut, Philosophische Fakultät, Masaryk-Universität, A. Nováka 1, CZ-602 00 Brno, Tschechien  ; E-Mail  : [email protected]. Pavel Marek, Dozent und Direktor des Instituts für Geschichte der Philosophischen Fakultät an der Universität Pardubice. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Habsburgermonarchie im 16. und 17. Jahrhundert, Geschichte des böhmischen Adels in der Frühen Neuzeit sowie die Beziehungen zwischen der spanischen und der österreichischen Linie des Hauses Habsburg. Kontakt  : Institut für Geschichte, Universität Pardubice, Studentská 95, CZ-532 10 Pardubice/Pardubitz, Tschechien  ; E-Mail  : [email protected]. Eduard Mikušek, emeritierter Facharchivar des Staatsgebietsarchivs in Leitmeritz/ Litoměřice. Von 1974 bis 2010 war er Leiter der Zweigstelle in Schütenitz/Žitenice, wo die Familienbestände des böhmischen Hochadels aufbewahrt wurden. Gleichzeitig unterrichtete er an der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität in Aussig/Ústí nad Labem. In seinen Studien konzentrierte er sich vor allem auf die Revolution 1848–1849 und auf die Historiographie der böhmischen Deutschen. Kontakt  : Ukrajinská 882, CZ-436 00 Litvínov, Tschechien  ; E-Mail  : [email protected]. Martin Moll, geb. 1961. Studium Geschichte und Germanistik an der Universität Graz, 1987 Dr. phil. 2003 Habilitation für Neuere und Zeitgeschichte. Seither Univ.-Dozent an der Universität Graz. 2004 Mitgründer des Austrian Center for Intelligence, Propaganda and Security Studies. Forschungsgebiete  : Geschichte der Weltkriege sowie der Habsburgermonarchie, Medien- und Propagandageschichte. Kontakt  : Wilhelm-Kienzl-Gasse 33, A-8010 Graz, Österreich  ; E-Mail  : [email protected]. Luciano Monzali, geb. 1966 in Modena, ist Professor für Geschichte der internationalen Beziehungen am Institut für politische Wissenschaften der Universität Aldo Moro Bari in Italien. Sein Forschungsgebiet ist die italienische und europäische Geschichte, sein besonderes Interesse gilt der italienischen Außenpolitik. Kontakt  : Università degli Studi Aldo Moro, Dipartimento di Scienze Politiche, Piazza Cesare Battisti 1, I-70121 Bari, Italien  ; E-Mail  : [email protected].

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Christian Neschwara, Außerordentlicher Universitätsprofessor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Mitglied der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Kontakt  : Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10–16, A-1010 Wien, Österreich  ; E-Mail  : [email protected]. Jenny Öhman studierte Geschichte und Pädagogik  ; sie ist im Schuldienst tätig und als freie Historikerin wiederholt an Projekten beteiligt. Publikationen zur Diplomatie im Dreißigjährigen Krieg, zur Belagerung Prags durch die Schweden 1648, zu schwedischen Hilfsorganisationen in Wien nach den beiden Weltkriegen. Kontakt  : Vindängsvägen 3, S-451 94 Uddevalla, Schweden  ; E-Mail  : [email protected]  ; [email protected]. T. G. Otte, FRHistS, is Professor of Diplomatic History at the University of East Anglia and currently a Leverhulme Major Research Fellow. Among his most recent publications is Statesman of Europe  : The Life of Sir Edward Grey (2020). Contact  : School of History, University of East Anglia, Norwich Research Park, Norwich NR4 7TJ, United Kingdom  ; E-Mail  : [email protected]. Michael Pammer, Universitätsdozent für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Johannes Kepler Universität Linz. Forschungen über Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 18. bis 20. Jahrhundert. Erwin-Schrödinger-Stipendiat, University of Minnesota 1994/5  ; Lektor an der Università di Catanzaro 2021. Kontakt  : Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Johannes Kepler Universität, A-4040 Linz-Auhof, Österreich  ; E-Mail  : [email protected]. Robert Rebitsch, Privatdozent für Geschichte der Neuzeit, ist Mitarbeiter des projekt. service.büros und Lehrbeauftragter für Geschichte der Neuzeit und Österreichischer Geschichte am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck. Seine Forschungsschwerpunkte sind die politische Geschichte, Militär- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Kontakt  : projekt.service.büro, Universität Innsbruck, Technikerstraße 21a, A-6020 Innsbruck, Österreich  ; E-Mail  : [email protected]. Miloš Řezník, Historiker, seit 2009 Professor für Europäische Regionalgeschichte an der Universität Chemnitz, seit 2014 Direktor des Deutschen Historischen Instituts

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Warschau. Geschichtsstudium und Promotion (1999) in Prag, Habilitation (2007) in Olmütz. Forschungsschwerpunkte  : Geschichte Ostmitteleuropas, Geschichtsfunktionalität, Elitenwandel, Nationsbildung, Regionalismus. Kontakt  : Deutsches Historisches Institut Warschau, al. Ujazdowskie 39, PL-02-954 Warszawa, Polen. E-Mail  : [email protected]. Robert Rill, geb. 1960 in Wien, studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Wien (1978–1985), absolvierte gleichzeitig (bis 1983) den Ausbildungslehrgang des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. 1986 Promotion zum Dr. phil., in der Folge Stipendien für Forschungsarbeiten in Archiven in Rom, Bonn, Paris, Den Haag und München. Seit 1992 Bestandsgruppenleiter im Kriegs­ archiv, 2018 übernahm er dessen Leitung  ; zahlreiche Publikationen zur Kirchen-, Zeit-, Militär- und Kartographiegeschichte. Kontakt  : Österreichisches Staatsarchiv – Kriegsarchiv, Nottendorfer Gasse 2, A-1030 Wien, Österreich  ; E-Mail  : [email protected]. John Rogister, trained at Oxford and began teaching modern and contemporary history at Durham University in 1967. He was promoted in 1981 and went on to hold five distinguished visiting chairs in France (notably three times at the College de France) and two in Italy. He is the author of Louis XV and the Parlement of Paris (Cambridge, 1995) and an edition of the unpublished lettrers of Charles de Brosses and Antonio Niccolini (Oxford, 2016) He was Founder Editor of Parliaments, Estates and Representation (1981–91), the journal of ICHRPI, of which he is now an Honorary President. President Sarkozy made him a Grand Officer of the National Order of Merit (2011). Since 2003 he has been a member of the Institut de France. Contact  : 4 The Peth, Durham DH1 4PZ, United Kingdom  ; email  : [email protected]. Roman Sandgruber, geb. 1947, 1988 bis 2015 o. Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Johannes Kepler Universität Linz  ; Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften  ; jüngste Buchveröffentlichungen  : Rothschild. Glanz und Untergang des Wiener Welthauses, Wien 2018  ; Hitlers Vater. Wie der Sohn zum Diktator wurde, Wien 2021. Kontakt  : Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Johannes Kepler Universität Linz, Altenbergerstraße 69, A-4040 Linz, Österreich  ; privat  : Breinbauerweg 30, A-4040 Linz, Österreich  ; E-Mail  : [email protected].

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Franz Schausberger, geb. 1950. Universitätsprofessor für Neuere Österreichische Geschichte. Ehemaliger Landeshauptmann von Salzburg, Präsident des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Wilfried-Haslauer-Bibliothek in Salzburg, Präsident des Karl von Vogelsang-Instituts in Wien, Vorsitzender des Instituts der Regionen Europas in Salzburg. Kontakt  : Institut der Regionen Europas (IRE), Nonntaler Hauptstraße 58, A-5020 Salzburg, Österreich  ; E-Mail  : [email protected]. Erwin A. Schmidl, geb. 1956 in Wien  ; Studium der Geschichte, Völkerkunde und Kunstgeschichte an der Universität Wien  ; 1981 Dr. phil. sub auspiciis praesidentis. Beamter im Bundesministerium für Landesverteidigung, zuletzt 2012–2021 Leiter des Instituts für Strategie und Sicherheitspolitik der Landesverteidigungsakademie Wien. 2001 Habilitation an der Universität Innsbruck. Kontakt  : Lenaugasse 5/15, A-1080 Wien, Österreich  ; E-Mail  : [email protected]. Johannes Schönner, geb. 1967, Studium der Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Wien. Nach der Promotion Lehrtätigkeit am Privatgymnasium der Wiener Sängerknaben, seit 1994 Archivar sowie seit 2020 Geschäftsführer des Karl von Vogelsang-Instituts. Wissenschaftliche Arbeiten zu Themen der Zeitgeschichte und politischen Bildung, darunter mehrere Studien und Projekte zur österreichischen Parteiengeschichte und der allgemeinen politischen Geschichte Österreichs. Kontakt  : Karl von Vogelsang-Institut, Tivoligasse 73, A-1120 Wien, Österreich  ; E-Mail  : [email protected]. Georg Seiderer, geb. 1961, ist seit 2008 Professor für Neuere Bayerische und Fränkische Landesgeschichte und Volkskunde an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte  : Geschichte Frankens vom 18. bis zum 20. Jahrhundert  ; deutsche Aufklärung im 18. Jahrhundert  ; Geschichte der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert. Kontakt  : Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Department Geschichte, Kochstraße 4, D-91054 Erlangen, Deutschland  ; E-Mail  : [email protected]. Cristiana Senigaglia, Lehrbeauftragte an der Universität Passau, Studium der Philosophie, Studienpreis und Promotion an der Universität Triest mit Auslandsaufenthalt an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Forschungsstipendium an der Universität Regensburg, Post-Doc-Stipendium an der Universität Padua, Forschungsstipendium und mehrere Lehraufträge an der Universität Triest.

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Kontakt  : Philosophische Fakultät, Innstraße 40, D-94032 Passau, Deutschland  ; E-Mail  : [email protected]. Thomas Simon, geb. am 12. November 1955 in Hamburg  ; 1992 Dissertation an der Universität Freiburg i. Br. (»Grundherrschaft und Vogtei«)  ; 1992–2005 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main  ; 2001 Habilitation an der Universität Frankfurt am Main (»Gute Policey«)  ; seit 2005 Professur an der Universität Wien für Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte. Kontakt  : Kaasgrabengasse 22a/10, A-1190 Wien, Österreich  ; E-Mail  : [email protected]. Georges-Henri Soutou, geb. 1943, ist emeritierter Professor für Zeitgeschichte an der Sorbonne Université in Paris und Mitglied des »Institut de France«. Er forscht zu den internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert und hat, unter anderen, folgende Bücher veröffentlicht  : La Grande illusion. Quand la France perdait la paix, 1914–1920, 2015  ; La Guerre froide de la France 1943–1990, 2018. Kontakt  : 4 rue Fallempin, F-75015, Paris, Frankreich  ; E-Mail  : [email protected]. Zdeňka Stoklásková lehrt Geschichte an der Masaryk-Universität in Brünn. Der Schwerpunkt ihrer Forschung beruht in der Sozialgeschichte der Habsburgermonarchie des »langen« 19. Jahrhunderts. Veröffentlichungen siehe  : https://www.phil.muni.cz/en/about-us/faculty-staff/1673-zdenka-stoklaskova/publications [10.2.2022]. Kontakt  : Historisches Institut der Philosophischen Fakultät der Masaryk-Universität, Arne Nováka 1, CZ-60200 Brno, Tschechische Republik  ; E-Mail  : [email protected]. Arnold Suppan, emer. Univ.-Prof. für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien  ; Gastprofessor in Leiden, Fribourg, Stanford und Budapest  ; Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Generalsekretär 2009–2011, Vizepräsident 2011–2013 und 2021/22  ; Monographien zu Österreich-Ungarn 1918, Volksgruppen in Österreich, Jugoslawien und Österreich 1918–1938, Deutsche Geschichte in Slowenien und Kroatien, Kroatien 1835–1918, Tschechen und Österreicher, Saint-Germain und Trianon, Hitler – Beneš – Tito. Kontakt  : Pawlikgasse 30, A-1220 Wien, Österreich  ; E-Mail  : [email protected].

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Petr Valenta wurde an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag promoviert. Er konzentriert sich auf die Geschichte des 19. Jahrhunderts und die Geschichte des Parlamentarismus. Er arbeitet als Fachberater in der Kanzlei des tschechischen Abgeordnetenhauses. Er lehrt Neuere Geschichte und Geschichte des Parlamentarismus an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karls-Universität und am Cevro Institut. Kontakt  : U smaltovny 1380/24, CZ-170 00 Praha 7, Tschechien  ; E-Mail  : [email protected]. Luboš Velek, geb. 1974, Historiker, wirkt im Masaryk-Institut und Archiv der Tschechischen Akademie der Wissenschaften und beschäftigt sich mit der Geschichte der Habsburgermonarchie ca. 1780 bis 1918. Kontakt  : Straße  : Schnirchova 15, CZ-170 00 Praha 7, Tschechien  ; E-Mail  : [email protected]. Viktor Velek, born 1977, musicologist, graduate of the University of South Bohemia in České Budějovice, Masaryk University in Brno and Universität Wien. He works at the Faculty of Fine Arts and Music of the University of Ostrava and at the Masaryk Institute and Archives of the Czech Academy of Sciences. Contact  : University of Ostrava, Faculty of Fine Arts and Music, Sokolská třída 17, CZ-702 00 Ostrava, Czech Republic  ; email  : [email protected]. Stefan Wedrac, Universitätsassistent PostDoc an der Forschungsstelle für Rechtsquellenerschließung des Instituts für Rechts- und Verfassungsgeschichte und Projektmitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien  ; Publikationen zur österreichisch-italienischen Geschichte, zum Ersten Weltkrieg, zur Brauerei- und Krankenkassengeschichte sowie zur Rechts- und Justiz(zeit)geschichte. Kontakt  : Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Forschungsstelle für Rechtsquellenerschließung, Universität Wien, Juridicum, Schottenbastei 10–16, A-1010 Wien, Österreich  ; E-Mail  : [email protected]. Helmut Wohnout, Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs, Priv. Doz. für das Fach Österreichische Geschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz, Autor und Herausgeber zahlreicher Studien, Monographien und Sammelbände. Kontakt  : Österreichisches Staatsarchiv, Nottendorfer Gasse 2, A-1030 Wien, Österreich  ; E-Mail  : [email protected].

Autoren und Herausgeber

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John R. Young is Senior Lecturer in History at the University of Strathclyde, Glasgow. He is a double graduate of the University of Glasgow, a Fellow of the Royal Historical Society, a Fellow of the Society of Antiquaries of Scotland, a Fellow of the Huguenot Society of Great Britain and Ireland, and a Senior Fellow of the Higher Education Academy. He specialises in early modern Scottish History, including the history of the pre-1707 Scottish Parliament, the 1707 Act of Union, the Covenanters, and Scotland’s relations with Ulster. He is the editor of the journal Parliaments, Estates and Representation, published by Taylor and Francis. Contact  : School of Humanities, 141 St James Road, G4 0LT, University of Strathclyde, Glasgow, United Kingdom  ; email  : [email protected].

Bildnachweis

Titelblatt  : https://www.parlament.gv.at/SERV/FOTO/VER/795570/7479010.shtml#  ; Nach dem Vorwort, Abb. 1 und 2  : Šárka Höbeltová. Aufsatz Georg Heilingsetzer  : https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b1/Clau dia_Felicitas_of_Austria.jpg. Aufsatz Jenny Öhman  : Johannes Kalwoda. Aufsatz Michael Pammer, Figure 1 und Map 1–3  : Michael Pammer. Aufsatz Roman Sandgruber  : Stadtarchiv Steyr, Nachlass Goldbacher. Aufsatz Erwin A. Schmidl, Abb. 1  : Erwin A. Schmidl, bearb. v. Johannes Kalwoda. Aufsatz Helmut Wohnout  : ÖStA, KA, Bildersammlung, L 2321.

Unterstützer

Veröffentlicht wurde das Buch mit freundlicher Unterstützung durch  : das Churchill Project Berlin 2019, bestehend aus Burkhardt Otto, Dr. Stephan Melcop, Dr. Hans-Hermann Ponitz, Dr. Klaus Halbhübner, Dr. Volker Laute und Dr. Detlef Meier den Landeshauptmann-Stellvertreter Dr. Manfred Haimbuchner und die Freiheitliche Partei Österreichs, ­Landesgruppe Oberösterreich den Bürgermeister Dr. Andreas Rabl die Vereinigung der Österreichischen Industrie (Industriellenvereinigung) den Österreichischer Vizekanzler und Finanzminister a. D. Dr. Hannes Androsch und AIC Androsch I­ nternational Management Consulting GmbH das Masaryk-Institut und das Archiv der Tschechischen Akademie der Wissenschaften das Historische Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften

Das Buch wurde mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik ­herausgegeben.