Die Heilige Schrift des Neuen Bundes, ausgelegt, erläutert und entwickelt: Teil 2 Das Evangelium von Matthäus, Markus und Lukas [Reprint 2022 ed.] 9783112626207

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Die Heilige Schrift des Neuen Bundes, ausgelegt, erläutert und entwickelt: Teil 2 Das Evangelium von Matthäus, Markus und Lukas [Reprint 2022 ed.]
 9783112626207

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Die

Heilige Schrift des

Bundes,

Neuen

ausgelegt, erläutert und entwickelt.

Ein Andachtsbuch für

die

häusliche

Erbauung

und

ein Handbuch für Prediger und Schullehrer.

Zweiter Theil. Das Evangelium von Matthäus, Markus und Lukas.

Die Worte, die ich rede, die sind Geist und Leben. 2oh. 6, 63.

Berlin, 1828. Bey

G.

Reimer.

Vorwort. L>cr Verfasser sieht sich genöthigt, die anfangs beab­

sichtigte Verschweigung seines Namens aufzugcben, und

mithin die Aufnahme des Werkes unter den Einfluß des Vorurtheils zu stellen, welches man für oder wider seinen

theologischen Charakter hegt.

Und so mag diese erbauliche

Behandlung als ein Beweis gelten, daß eine solche neben der kritischen, wie man sie von mir zu erwarten gewohnt

ist, möglich sey.

Daß ich die kritische Ansicht, als die

gelehrte und noch im Streite liegende, meistens habe zur Seite liegen lassen, bisweilen nicht einmal angedeutet, wird

man natürlich finden, und nicht als Unredlichkeit deuten.

Es gibt zwar keine strenge Scheidung zwischen dem Gelehr­

ten- und Nichtgelehrten-Stande, und was in jenem vor­

geht, läßt sich diesem nicht ganz verhehlen; allein der be­ scheidene und nicht durch Vorurtheile wider die Theologie

eingenommene ungelehrte Christ wird, ohne in seinem

Glauben irre zu werden, wissen dürfen, daß es über

IV manche Dinge Streitigkeiten geben muß, woran er keinen Theil zu nehmen hat, weil er keines Urtheils darüber fähig

und sein Glaubensfriede davon unabhängig ist.

Auf der

andern Seite muß der kritische Theolog so bescheiden seyn,

daß er selbst das, was ihm nach eigener Ansicht als reines, sicheres Ergebniß der Kritik gilt, so lange noch nicht zum

Gemeingute der ungelehrten Christen zu machen sich unter­ fange, als noch ein großer Theil der denkenden Theologen an den alten hergebrachten Meinungen. fest hält.

Die

streng prüfende geschichtliche Behandlung der evangelischen Geschichte verändert die erbauliche,

sittlich und gläubig

fruchtbare Behandlung nur wenig, indem bei der letzter»

das Ideale des Inhalts aufgefaßt wird, dieses aber auch demjenigen eigen ist, was von der Kritik als weniger zu­

verlässig in geschichtlicher Hinsicht erkannt wird.

aber die Auffassung des Idealen betrifft,

Was

so wird man

überall meine sonst aufgestellten Ansichten wiedersinden,

wenn auch nicht in wissenschaftlicher Schärfe und mit pole­ mischer Entgegensetzung, die ich für unverträglich mit der

praktischen Benutzung halte. an den Irrungen Schuld,

Nur die Theologen selbst sind

welche die neuen kritischen Un­

tersuchungen zuweilen stiften, indem sie in den Jugendun-

terricht und den Kanzel-Vortrag dasjenige mischen, was

allein dem dogmatischen Systeme angehört.

Trüge man

allgemein dem Volke nur dasjenige vor, was unmittelbar praktisch ftuchtbar ist, und wiese die Jugend, zumal di: der höheren Stände,

im Geiste freisinniger Duldsamkeit

dazu an, wie sich der nichtgelehrte Christ gegen theologische Streitigkeiten zu verhalten habe: so würden alle Störun­

gen vermieden werden, und es käme nicht mehr die Wider­ sinnigkeit vor, daß fromme Handwerker oder andere un­

gelehrte Christen über die Bestrebungen wissenschaftlicher Theologen das Verketzerungsurtheil fallen.

Die Behandlung der drei ersten Evangelien ist etwas kürzer ausgefallen, als die des Evangeliums Zohannis,

und füllt daher nur einen Band aus.

Diese Verschieden­

heit mag theils im Gehalt dieser Evangelien selbst, theils in meiner Stimmung ihren Grund haben,

indem ich mich

weniger dazu aufgelegt fühlte, den entfernteren praktischen

Anwendungen nachzugehen, und die nahe liegenden weiter auszuführen.

Vielleicht aber ziehen Diele die gedrängtere'

Auslegung vor, und ich glaubte,

mich nicht an eine be­

stimmte Norm binden zu müssen.

Von der Aufnahme dieser beiden Theile wird die Fort­ setzung und Vollendung des Ganzen

abhangen.

Gern

VI werde ich an die Behandlung der paulinischen Schriften

gehen, und hoffe darin auch für Gelehrte manches zu lei­

sten; indessen muß ich mich dem Urtheile des Publikums unterwerfen, und wenn es meinen sollte, daß meine Ar­

beit überflüssig oder unbrauchbar sey,

davon abstehen.

Basel, im März 1828.

Dr. de Wette.

Nachdem wir dem Berichte des Evangelisten und Apostels

Johannes von Jesu Leben und Lehre bis zum letzten Abend vor seiner Gefangennehmung gefolgt sind, wenden wir uns nun zu den drei ersten Evangelisten zurück, welche uns zum

Theil dasselbe, meistens aber Anderes, von Jesu Wirksam­ keit, von seiner Taufe an bis zu seinem Leiden, berichten,

und von denen zwei uns Nachrichten von seiner Geburt und seiner Kindheit mittheilen. Der Verfasser des ersten dieser Evangelien ist, der ein­ stimmigen kirchlichen Ueberlieferung zufolge, Matthäus,

jener Apostel, der vorher ein Zöllner gewesen war (Matth. 9, 9 ff).

Sein eigentlicher Name war nach den entsprechen­

den Berichten der andern Evangelisten

(Luk. 5,

27

ff.

Mark. 2, 14 ff.) Levi. Er soll nach der kirchlichen Ue­ berlieferung hebräisch oder vielmehr aramäisch für seine

Landsleute, die palästinischen Christen,

geschrieben haben.

Wer fein Evangelium ins Griechische übersetzt hat, ist un­

bekannt. Für den Verfasser des zweiten Evangeliums hält man, nach der Meinung der alten Kirche, Markus (eigentlich

Johannes Markus), den Begleiter und Gehülfen des

Apostels Paulus (Ap.G. 12, 12.25. 13, 13. 15, 37. 2Tim. 4, 11. Col. 4, 10. Philcm. 24.), der auch als Gehülfe des Petrus vorkommt (I Pctr. 5, 13.). Nach der Behauptung alter Kirchenlehrer soll er in seinem Evange­ lium die mündlichen Mittheilungen des letztem Apostels ausge­

zeichnet haben.

Jedoch muß er dabei die Evangelien des

Matthäus und Lukas.benutzt haben, da er mit ihnen so sehr, oft wörtlich, übereinstimmt. Bibl. Erbauungsb. II.

A

2

Einleitung.

Das dritte Evangelium wird von der alten Ueberlieferung dem Lukas zugeschricben, der unter den Gehülfen des Apo­ stels Paulus genannt wird (Col. 4, 14. 2Tim. 4, 11. Philcm. 24.), und wahrscheinlich den Apostel auf seinen Reisen begleitete (Ap.G. 16, 10 —17. 20, 5 —15. 21, 1 —17. 27, 1 — 28, 16.). Er schrieb sein Evan­ gelium , so wie die Apostelgeschichte, welche der zweite Theil desselben ist, für einen gewissen'Thcophilus, welcher wahrscheinlich ein vornehmer Italiener und ein Freund des Christenthums war; und nach der Behauptung der alten Kirchenlehrer soll er hierbei die Vortrage des Apostels Paulus benutzt haben r so daß sein Evangelium ebenfalls das Ansehn eines Apostels für sich hatte. Auch Lukas stimmt mit Matthaus oft wörtlich überein, und es ist wahrscheinlich, daß er die Schrift desselben auf irgend eine Weise berücksichtigt hat. Alle diese drei Evangelisten haben nicht nur die meisten Nachrichten von Jesu miteinander gemein, sondern theilen auch dieselbe Eigenthümlichkeit der Ansicht und Darstel­ lung. Wahrend Johannes das Geistige von" Jesu auffaßt tmb darstcllt, und mehr Reden als Begebenheiten berichtet, so halten sie sich mit Vorliebe an das Leibliche seiner Ge­ schichte, an die Wunder, welche ihn verherrlichen; wahrend jener ihn als das ewige Wort Gottes und seinen Ursprung ans Gott darstcllt, weisen sie seine Abstammung von David nach, und erzählen von den Wundern, welche seine Geburt begleiten; und die Reden Jesu selbst, deren sie auch viele anfähren, tragen bei ihnen sehr das jüdische Gepräge, und begünstigen die jüdischen Hoffnungen auf ein irdisches Reich Gottes. Von den Aposteln nämlich scheint der einzige Johan­ nes in den Geist seines göttlichen Meisters ganz eingedrungcn zu seyn, während die übrigen, Petrus nicht ausgenommen, noch an jüdischen Vorurtheilcn hangen blieben: und deren Ansicht ist cs, welche wir in den ersten Evangelien finden. Daher sind sie uns nicht weniger schätzenswerthe Denkmäler, als das Evangelium Johannis, wenn wir gleich, durch den Bericht dieses Apostels und die Lehre des Apostels Paulus

Einleitung.

3

über die jüdische Ansicht hinweggehoben, hie und dadurch die leibliche Hülle, die sie über Jesum ziehen, hindurchzuschauen uns veranlaßt und verpflichtet fühlen müssen. Wir sehen aus ihren Berichten, wie die ersten Jünger des Herrn seine Reden und Thaten auffaßtcn; wir treten gern auf ihren Standpunkt, um mit ihnen auf ihre Weife den Herrn anzu-' schauen und seinen Worten zuzuhören. In dieser Verschiedenhcit der Darstellung bewahrt sich die Wahrhaftigkeit und Unabhängigkeit der Bcrichtserstatter; und zugleich liegt darin die Anregung für uns, das Gegebene mit freiem Geiste aufzufassen und zu bearbeiten, uns an keine Worte und überhaupt an nichts Aeußcrlichcs zu binden, sondern allein den Geist, welcher lebendig macht, uns anzueignen. Bei der Uebereinstimmung, welche zwischen diesen Evan­ gelisten besteht, finden sich auch manche Abweichungen in den Berichten über dieselben Begebenheiten, indem der eine diesen, der andere jenen Umstand hinzufügt, der eine weglaßt, was der andere berichtet, und ein jeder dieselbe Sache auf eine mehr oder weniger verschiedene Weise darstcllt. Diese Verschiedenheit soll uns nicht im Glauben an die Wahrhaf­ tigkeit der Geschichte irre machen, uns aber lehren, daß das Acußerliche in der Geschichte Jesu nicht zum Wesentlichen unsers Glaubens gehört, daß es gleichgültig ist, wie wir uns den Verlauf mancher Begebenheiten denken, und daß besonders die Wunder Jesu, über welche nicht wenige Ver­ schiedenheiten vorkommen, bei weitem nicht so wichtig für unfern Glauben sind, als Manche uns überreden wollen. Sie gehören nur zu der äußeren Herrlichkeit unsers Erlösers, zu dem Glanze, den sein inneres göttliches Licht für das sinnliche Auge von sich wirft; und wir glauben nicht an ihn, weil er diese und jene Wunder gethan, sondern weil er voller Gnade und Wahrheit war. Von seiner in­ neren Hohhcit und Würde enthalten auch diese Evangelien so viel, daß wir nicht nöthig haben, uns ängstlich an die Wundererzählungcn zu halten; wenn wir nur unser Herz aufschlicßen wollen, so finden wir hier Nahrung genug für A2

4

Einleitung.

den Glauben, der uns erhebt, dec uns reiner und heiliger macht, und uns beruhigt und beseligt. Die göttliche Kraft des Geistes Jesu bricht hier, wie bei Johannes, aus sei­ nen Reden hervor, wenn sie auch in etwas andern Formen erscheinen, und trifft mit gleicher Gewalt das empfängliche Herz; seine göttliche Liebe offenbart sich hier, wie dort, im Erbarmen gegen die Elenden und Sünder, in Wohlthat und Hülfleistung, in Nachsicht, Langmuth und Geduld; sein himmlisch reiner Sinn, sein treuer Gehorsam gegen seinen himmlischen Vater, seine unwandelbare Richtung auf die Vollendung des Werkes, das ihm auferlegt war, beweist sich hier, wie dort, in der Verzichtleistung auf alles Irdi­ sche, in erhabener Selbstverleugnung, in der Treue bis zum Tode. So laßt uns denn mit reinem, empfänglichen Herzen an die Lesung dieser evangelischen Berichte gehen, und uns demjenigen hingeben, worin wir die geistige, göttliche Würde des Erlösers, die Wahrheit aus Gott, welche er offenbaret, das Licht, das im Dunkeln leuchtet, die Fülle seines schö­ pferischen Geistes, die reine sich hingebende Liebe, den hei­ ligen gottgeweiheten Willen, finden; laßt uns dasjenige auffassen, was uns erleuchten, bessern, beruhigen, trösten kann; laßt uns aus der Quelle des Lebens schöpfen, die auch hier für uns sprudelt! Und möge Gott und sein Geist uns beistehen und unser Bemühen segnen! —

Erste Abtheilung. Luk. 1. 2. Matth. 1. 2.

Evangelische Vorgeschichte. Luk. 1, 1 — 4.

Vorwort des Evangelisten. Der Evangelist gibt in Kürze Rechenschaft von seinem Un­

ternehmen , einen evangelischen Bericht zu schreiben. Viele vor ihm hatten sich untcrwunden, Erzählungen zu liefern von der evangelischen Geschichte nach Maßgabe der Ueber­ lieferungen der Augenzeugen (V. 1. 2.): und so will auch er eine solche Erzählung aufschreiben, nachdem er Alles von Anbeginn erkundet hat; und zwar will er sie für seinen Freuud Theophilus aufschreiben, damit sich dieser von der christlichen Lehre noch genauer, als es ihm bisher möglich gewesen, unterrichten könne. (V. 3.4.) Hiermit gibt uns der Evangelist zwei lehrreiche Winke. Er­ stens daß wir als Christen verpflichtet sind, die Geschichte Christi genau zu erkunden, und nicht alles, so wie es uns eben vorgesagt wird, anzunehmen, und zu glauben. Leicht­ gläubigkeit ist auch in Sachen der Religion ein Fehler. Zwei­ tens lehrt uns der Evangelist: daß alles Erforschen der Ge­ schichte unsers Herrn den Zweck haben soll, uns von seiner heilbringenden Lehre genauer zu unterrichten, nicht bloß unsere Wiß - und Neubegierde zu befriedigen.

Luk. 1, 5 — 25.

Verkündigung der Geburt des Johannes. Der Evangelist Lukas geht in der Erkundung der evan­ gelischen Geschichte bis auf die Geburt des Vorläufers Jesu,

Erste Abtheilung. Luk. 1. 2. Matth. 1. 2.

Evangelische Vorgeschichte. Luk. 1, 1 — 4.

Vorwort des Evangelisten. Der Evangelist gibt in Kürze Rechenschaft von seinem Un­

ternehmen , einen evangelischen Bericht zu schreiben. Viele vor ihm hatten sich untcrwunden, Erzählungen zu liefern von der evangelischen Geschichte nach Maßgabe der Ueber­ lieferungen der Augenzeugen (V. 1. 2.): und so will auch er eine solche Erzählung aufschreiben, nachdem er Alles von Anbeginn erkundet hat; und zwar will er sie für seinen Freuud Theophilus aufschreiben, damit sich dieser von der christlichen Lehre noch genauer, als es ihm bisher möglich gewesen, unterrichten könne. (V. 3.4.) Hiermit gibt uns der Evangelist zwei lehrreiche Winke. Er­ stens daß wir als Christen verpflichtet sind, die Geschichte Christi genau zu erkunden, und nicht alles, so wie es uns eben vorgesagt wird, anzunehmen, und zu glauben. Leicht­ gläubigkeit ist auch in Sachen der Religion ein Fehler. Zwei­ tens lehrt uns der Evangelist: daß alles Erforschen der Ge­ schichte unsers Herrn den Zweck haben soll, uns von seiner heilbringenden Lehre genauer zu unterrichten, nicht bloß unsere Wiß - und Neubegierde zu befriedigen.

Luk. 1, 5 — 25.

Verkündigung der Geburt des Johannes. Der Evangelist Lukas geht in der Erkundung der evan­ gelischen Geschichte bis auf die Geburt des Vorläufers Jesu,

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Luk. 1, 5 — 25.

Johannes zurück. — Zur Zeit HerodeS, des Kö­ nigs in Judaa (welcher mit Unrecht den Beinamen des Großen tragt) war ein Priester von der Ord­ nung Abia (denn die Priester waren in 24 Ordnungen oder Classen eingetheilt 1 Chrom 25 (24), 7 — 19.), mit Namen Zacharias, und sein Weib von den Töchtern Aarons, welche hieß Elisabeth (V.5.). Sie waren aber allo beide fromm vor Gott, und gingen in allen Geboten und Satzungen des Herrn untadelig (V. 6.). Nur von frommen Eltern können in der Regel fromme Kinder, würdige Die­ ner und Werkzeuge Gottes, erzeugt und erzogen werden; das Gute, wie das Böse, pflanzt sich fort: eine wichtige Mahnung für Eltern, sich, als die Urheber und Vorbilder ihrer Kinder, der Tugend und Gottseligkeit zu befleißigen. Das häusliche Leben ist die Pflanzschule alles Guten und Grqßen im Menschenleben; aus ihm ziehen Staat und Kirche ihre Kräfte: wohl dem Volke, wo cs gut bestellt ist! Und sie hatten kein Kind; denn Elisabeth war un­ fruchtbar, und waren beide wohlbetaget. Ein beklagenswcrthes Schicksal vieler frommer Eltern, des höch­ sten Erdcnglückcs zu entbehren! Gottlose Eltern sind oft reich an Kindern, welche unter ihrer schlechten Erziehung verwildern; und solche, die ihre Kinder gewissenhaft erzie­ hen würden, stehen einsam. Wunderbare, unbegreifliche Vertheilung der Weisheit Gottes! Aber wer im Fall des Za­ charias und der Elisabeth ist, der sey so still ergeben in den Willen des Herrn, wie sie waren. Sie trugen ihre Wünsche Gott im Gebet vor (V. 13.), und bewahrten sich dadurch tzor Murren und Zweifel. Und es begab sich, da er desPriesteramtes pflegte vor Gott zur Zeit seiner Ordnung, traf nach Gewohnheit des Priestcrthums ihn das Loos, daß er räuchern sollte, und er ging in den Tempel des Herrn (V. 8. 9.). Täglich wurde auf dem goldncn Rauchaltar im Tempel, in dem so­ genannten Heiligen, ein Rauchopfer dargcbracht, und die

Luk. 1, 5 — 25.

7

Verrichtung desselben galt als besonders ehren - und segens­ voll. Und die ganzeMenge des Volks war haußen (im Vorhofe)/ und betete unter der Stunde des Räucherns (25.10.). Ein hehrer Augenblick feier­ licher, andachtvollcr Stille! Es ist glaublich, daß auch Za­ charias in heiliger Andacht versunken war, und den wichti­ gen Augenblick benutzte, sein Herz in inbrünstigem Gebet vor Gott auszuschütten. Es erschien ihm aber ein En­ gel des Herrn-, und stand zur rechten Hand am Rauchaltar (V. 11.). Diese Stellung des Engels galt

als günstige Vorbedeutung nach den Begriffen der alten

Welt. Und als Zacharias ihn sah, erschrak er, und es kam ihn Furcht an (V. 12.). Es ist dem Menschen eine solche Furcht natürlich; Ahnungen des Uebcrsinnlichcn, Blicke in die Geistcrwclt, Anschauungen dessen, was sonst unserm Blicke verborgen ist, und wodurch wir über die Schranken unserer Natur hinweggehoben werden, er­ schüttern uns, und lassen uns unsre Kleinheit und Schwach­ heit fühlen; das Gefühl des Todes, die Schauer der Ewig­ keit ergreifen uns. Aber wenn wir ein reines, gläubiges Herz haben, so verwandelt sich diese Furcht bald in frohes Vertrauen, wie denn auch der Engel dem Zacharias Muth einfpricht: Fürchte dich nicht, Zacharias, denn dein Gebet ist erhöret, und dein Weib Elisa­ beth wird dir einen Sohn gebären, deß Na­ men sollst du Johannes (Jochanan, Gotthold) hei­ ßen (V. 13.). Die Erfüllung des liebsten Wunsches wird dem Zacharias angckündigt, des Wunsches, den er in fromm­ ergebenen Herzen genährt, Gott oft im Gebete vorgetragcn hatte. Und diese Erfüllung ist nicht nur freudcbringend und beglückend für ihn und sein Weib, sondern heilbringend für die Menschheit. Und du wirst deß Freude und Wonne haben, und Viele werden sich seiner Geburt freuen (V. 15.). Denen, welche mit eigen­ süchtiger Ungeduld, ohne den Gedanken an Gott, Wünsche hegen, werden sie auch oft erfüllt, aber weder zum Segen für sie selbst, noch für Andere. Ehegatten, welche sich Kin-

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Luk. 1, 5 — 25.

der wünschen aus Eigensucht und Eitelkeit,

und die nicht

um dieses Geschenk zu Gott beten, erhalten wohl oft, was sie wünschen; aber die ersehnten Kinder werden von ihnen, wie unrechtmäßig gewünscht, so auch schlecht erzogen; sie mißrathen und bereiten ihnen und Andern Hcrzcleid.und 23er# derben. Alle unsre Wünsche und Bestrebungen seyen durch das Gebet und den Gedanken an Gott geheiligt; nur so wird uns das Erreichte Segen bringen! Groß und ausgezeichnet war die Bestimmung des Soh« nes des Zacharias. Er wird groß seyn vor dem Herrn, ein wichtiges Werkzeug Gottes, mit großen Ga­ ben ausgerüstet, zu großen Zwecken berufen. Wein und starkes Getränke wird er nicht trinken, erwirb ein Nasiräer, Gottgeweihter seyn, der sich einer beson­ dern Enthaltsamkeit befleißigt, wie im Gesetze 4 Mos. 6. verordnet war, wie auch Simson (Richt. 13.) und Samuel (1 Sam. 1, 11.) solche Nasiräer waren. Johannes, der noch im alten Bunde stand, und den neuen nur vorher verkündi­ gen sollte, gewann dadurch, daß er sich nach dem mosaischen Gesetz einer besondern äußeren Heiligkeit befliß, ein grö­

ßeres Ansehn bei dem Volke. Um Neues vorzubcreiten und hcrbeijuführen, muß man das Alte vollkommen erfüllt und darin zur Auszeichnung gekommen seyn; nicht durch Ver­ nachlässigung oder Zerstörung des Alten wird Besseres herbcigcführt. So kam auch Christus nicht, um das Gesetz aufjuhcbcn, sondern zu erfüllen, und dadurch Besseres zu bringen. Und wird noch im Mutter leibe (besser: schon von Mutterleibe an) erfüllt werden mit dem heil. Geist (V. 15.). Das Größte, was die Men­ schen vollbringen, vollbringen sie nur durch die Kraft, die Gott in sie gelegt hat; jedoch müssen sie diese Kraft pflegen und ausbildcn, wie denn Johannes unstreitig von seinem prie­ sterlichen Vater eine sorgfältige Erziehung erhielt und im Gesetz unterrichtet wurde. Bitten wir daher Gott, daß er unsre Kinder mit Gcistesgabcn ansrüsie, bemühen wir uns aber zu gleicher Zeit, sie wohl zu erziehen und auszubilden. Und er wird der Kinder Israels viele zu Gott

Luk. 1, 5 — 25.

9

ihrem Herrn bekehren (V. 16.) durch seine Predigt nämlich, mit welcher er zur Buße auffoderte. Und wird vor ihm hergehen in Geistund Kraft Elia, zu bekehren die Herzen der Vater zu den Kindern und die Ungläubigen zu der Klugheit der Ge­ rechten, zuzurichten dem Herrn ein bereit Volk (V. 17.). Er sollte der Prophet seyn, von welchem Malcachi4, 5. geweissagt Hatter „Siehe, ich will euch senden den Propheten Elia, ehe denn da kommt der große und schreckliche Tag des Herrn." Maleachi aber verstand darunter nicht den Elias selbst, son­ dern einen ihm an Geist und Kraft gleichen Propheten. Jo­ hannes nun sollte, als dieser Prophet, vor dem Herrn her­ gehen, d. h. die Ankunft des Reiches Gottes, des großen Tages des Herrn, den Eintritt der großen Umwandlung der Dinge, vorbcrcitcn, dem Herrn ein bereites, empfäng­ liches, folgsames Volk jurichtcn. Dazu gehört aber vor­ züglich, daß er die Herren der Väter zu den Kin­ dern (und, wie Maleachi hinzusetzt, die Herzen der Kinder zu ihren Vätern) wende, d. h. Frieden und Eintracht, elterliche und kindliche Liebe zurückführe, als welche die Bedingung eines sittlich guten Lebens in einem Volke ist, und daß er die Ungläubigen, die Unge­ horsamen und Starrsinnigen, zur Klugheit, zur ver­ nünftigen, weisen Gesinnung der Gerechten bekehre. In den Herzen der Menschen soll er die Keime des hervor­ brechenden Reiches Gottes erwecken; wenn es besser mit den Menschen werden soll, so müssen sie selbst besser werden; die Liebe, die Weisheit und Gerechtigkeit müssen unter.ihnen herrschen. Zacharias fragt zweifelnd: Wobei soll ich das er­ kennen? denn ich bin alt und mein Weib ist be­ tagt t (V. 18.). Was er lange gewünscht und im Ge­ bete von Gott cpflcht hatte, kommt ihm jetzt unglaublich vor, da sich ihm die Erfüllung zeigt. Dieses Mißtrauen ist zwar dem Menschen natürlich, man kann nicht sogleich an die Wirklichkeit des so lange Ersehnten glauben; aber es lag

10

Luk. 1, 5

t—

25.

doch etwas Strafbares in der Frage des Zacharias, ein ge­ wisser Zweifel an der Allmacht Gottes. Darum gibt ihm zwar der Engel die Gewahr seiner Verkündigung, indem er sich als den Engclfürsten Gabriel und als von Gott gesandt zu erkennen gibt (V: 18.), legt ihm aber auch zugleich eine Strafe für seine zweifelnde Rede auf, daß er nämlich stumm seyn soll bis zur Geburt des verheißenen Sohnes (V. 19.). Er wird an demselben Gliede gestraft, mit welchem er gefrevelt hatte; der Mißbrauch der Zunge führt die Strafe des Nicht­ gebrauchs mit sich. Jeder Sünde folgt, oft unmcrklich, oft auch sicht- und fühlbar, die angemessene Strafe nach. Wer durch Lügen des Glaubens der Menschen spottet, fin­ det endlich gar keinen Glauben mehr; wer zu viel redet, wird endlich ungern oder gar nicht mehr angchört. Wenn wir auch nicht, wie Zacharias, für jeden kleinen Fehler auf der Stelle und merklich gestraft werden, so wollen wir doch bedenken, daß keine, auch nicht die kleinste Sünde ohne ihre Strafe bleibt, daß jede eine Spur schädlicher Wirkung hinter sich laßt. Es wird nun V. 21 —23. erzählt, wie Zacharias spa­ ter, als gewöhnlich, aus dem Tempel in den Vorhof zurück­ gegangen, und daselbst vor dem versammelten Volke seine Stummheit verrathen habe, Md daß er zu seiner Zeit wie­ der in sein Haus zurückgekehrt sey. Nach diesen Tagen ward sein Weib Elisabeth schwanger, und ver­ barg sich fünf Monate (V. 24.), nämlich um sich ih­ rer Schwangerschaft zu vergewissern, ehe sie sie kund 'werden ließ; und sie pflegte sich, dankbar gegen Gott, so darüber zu äußern: Also hat mir der Herr gethan, da er mich gnädig angesehen, daß er meine Schmach unter den Menschen von mir nehme (V. 25.). Die Unfruchtbarkeit galt für eine Schmach unter den Juden, und Elisabeth sah es als eine große Gnade Gottes an,'da­ von befreit zu seyn. So erkennen frommo Gemüther, alles, wodurch sie sich erfreut und beglückt fühlen, als eine Gabe der Gnade Gottes, und finden darin eine Veranlassung, sich im Glauben und in der Liebe zu Gott zu befestigen.

Luk. 1, 26 — 38.

11

Die ganze Erzählung enthalt noch die für uns tröstliche Wahrheit, daß so wie alles, was geschieht, von der gött­ lichen Vorsicht beschlossen und geordnet ist, so besonders das, was sich auf die Erlösung des Menschengeschlechts und auf unser geistiges Heil bezicht, auf Rathschlüssen der Weisheit Gottes beruht. Die Geburt Johannes, des Vor­ läufers Christi, war von Gott vorhergeschen und geordnet, und der Vater ward einer Verkündigung diefes freudigen Ereignisses gewürdigt. Hier ist kein Zufall, kein Ohnge« fahr, alles gehört zu einem weife geordneten Plan. So geschieht auch in unserer Zeit nichts, was für die höhern Angelegenheiten der Menschheit wichtig ist, ohne Gottes be­ sondere Fügung; kein großer wichtiger Mann wird geboren, ohne daß Gott ihn im Voraus erwählt und bestimmt hat zu dem, was er vollbringt. Ucberhaupt entsteht kein Menschen­ leben, ohne daß Gott schon von Ewigkeit her dessen Schick­ sal und Bestimmung geordnet hat. Fasset, Eltern, diesen tröstlichen Gedanken, wenn euch ein Kind geboren wird! Mütter, die ihr ein werdendes Menschenleben in eurem Schooße traget, und wohl oft frohen und trüben Ahnungen über die Zukunft desselben nachhangct, vertrauet Gott, der vermöge seiner Weisheit und Güte das Beste über dasselbe beschlossen hat, kommen wird.

und sehet getrost dem entgegen, was da

Luk. 1, 26 — 38. Verkündigung der Geburt Jesu. Im sechsten Monat (der Schwangerschaft der Eli­ sabeth) ward der Engel Gabriel gesandt von Göttin eineStadt in Galiläa, diel) eißtNaza-

reth, zu einer Jungfrau, die vertraut (verlobt) war einem Manne, mit Namen Joseph, vom Hause Davids; und die Jungfrau hieß Maria (V. 26.27.). Wenn die Geburt Johannes des Täufers nicht ohneEinwirkung von oben geschah, wie viel weniger konnte das große Ereigniß der Geburt des Weltheilands ohne dieselbe

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Luk. 1, 26 — 38.

geschehen. In ihm neigte sich der Himmel liebend zur Erde herab, um das Band der Versöhnung zu knüpfen, die Sonne der Gnade leuchtete in das irdische Dunkel, um neues Leben in der Menschheit zu entzünden: ehe nun das große, geheimnißvolle Werk der Vereinigung der Gottheit und Mensch­ heit in der Empfangniß des Gottmenschcn geschah, trug ein Engel vom Throne Gottes himmlische Ahnungen herab in die Seele des auscrwahlten Gefäßes, in welchem das göttliche Leben menschlich keimen und sich gestalten sollte. Wer an den göttlichen Ursprung des Christenthums glaubt, der sieht bei der Empfängniß Christi den Himmel offen, und nicht nur den Engel, sondern die ganze göttliche Herrlichkeit hernieder steigen. Ist schon die Zeugung jedes Menschen ein gehcimnißvolles Werk, nicht ohne Gottes schaffende Kraft denk­ bar; wieviel wunderbarer ist die Empfangniß eines Men­ schen, in welchem Gott selbst war! Ja, öffnen wir die Au­ gen des Geistes, und blicken wir auf zu den Himmclsboten, der uns, wie der Maria, die Kunde des größten Heiles bringt, das je der Erde widerfahren ist! Und der Engel kam zu ihr hinein, und sprach: Gegrüßet seyst du Holdselige (Begnadigte), d^r Herr ist mit dir, du Gebenedeiete (Gesegnete) unter den Weibern (V. 28.). Huldvoll und gnaden­ reich ist der Gruß des Engels; cs ist der Gruß der himmli­ schen Liebe an die des ewigen Heiles gewürdigte Erde; himmlische Wonne-Ahnungen wehen der Erden-Tochter ent­ gegen, welche auscrsehcn ist, das Kind des Heils zu em­ pfangen. 'Wonnevoll ist für das Weib die Ahnung, Mut­ ter zu werden, und die schönste weibliche Bestimmung zu erfüllen; unendlich erhöht und verklart mußte aber diese Ah­ nung für die künftige Mutter des Sohnes Gottes seyn. Da sie aber ihn sah, erschrak sie über seine Rede, und gedachte: welch ein Gruß ist das? (V. 29.) Cs war dieß das Erschrecken der Demuth, nicht des Unglaubens. So selig die Ahnung war, so verband sich doch damit ein heiliger Schauer, das Gefühl der mensch­ lichen Schwachheit, die sich der Gnade Gottes unwürdig

Luk. 1, 26—38.

13

achtet. Wer sich von einer hohen Begeisterung ergriffen, zu einem großen Werke berufen fühlt, der wird auch die­ sen Schauer der Demuth in sich fühlen; die Gewalt des Hö­ heren wird ihn zugleich erheben und beugen. Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, du hast Gnade bei Gott gefunden (V.30). Wer sich erniedrigt, der wird erhöhet; das Gefühl der Demuth bringt Vertrauen und heiligen Muth mit sich, Vertrauen auf die Gnade Gottes, nicht auf die eigene Kraft. Nun folgt die Verkündigung. Siehe, du wirst schwanger werden, und einen Sohn gebaren, deß Namen sollst du Jesus heißen. Der wird groß und einSohn des Höchsten genannt wer­ den, und Gott der Herr wird ihm den Stuhl seines Vaters Davids geben; und er wird ein König seyn über das Haus Jakobs ewig­ lich, und seines Königreichs wird kein Ende seyn (V. 31 — 33.). Mit wenigen Zügen ist hier die hohe Würde und Bestimmung des zu erwartenden Kindes gezeichnet. Der Name Jesus, Helfer, Heiland, schließt schon alles ein; erwirb groß, der größte der Menschen^ und Gottes Sohn seyn, mit Gott innig verbunden, den Geist Gottes ohne Maß in sich tragend; er wird der König des ewigen Reiches Gottes-seyn, das vom Haufe Jakobs d. i. vom Volke Israel, ausgehet und in irdischen Vorbildern und Vorbereitungen schon int A. T. begonnen hat, und wird so gleichsam auf dem Throne seines Stammvaters Davids sitzen. Die Scham der jungfräulichen Keuschheit regt sich in Maria gegen den Gedanken, daß sie Mutter werden sollt Wie soll das zugehen? sintemal ich von kei­ nem Manneweiß (V. 34.). Sie war dem Joseph nur; erst verlobt. Der heil. Geist wird über dich kom­ me n und die Kraftd.es Höchste nd ich überschat­ ten: darum auch das Heilige, das von dir geboren wird, Gottes Sohm wird genannt werden (N. 35.). Die Schöpferkrqft Gottes soll den

14

Luk. 1, 26—38.

Schovß der Maria befruchten, unmittelbar, ohne Zuthun eines Mannes; nur ein reiner jungfräulicher Schovß ward gewürdigt, den Sohn Gottes zu empfangen. Es ist dieß für uns etwas schlechthin Unbegreifliches; aber nicht min­ der unbegreiflich und wunderbar ist die Erscheinung eines Menschen, in welchem die Schatze der göttlichen Weisheit verborgen waren, der in Erkenntniß, Gesinnung und That eine vollkommne Einheit mit Gott darstcllte, in welchem keine Sünde erfunden wurde. Dieses glauben wir und glauben es so fest, daß davon das Heil und die Ruhe unsrer Seele abhangt: wir werden daher auch jenes glau­ ben, obgleich sich der natürliche Sinn dagegen sträubt, oder wenigstens diesen Glauben an Andern achten und den Grundgedanken desselben als wahr anerkennen. Der Engel verkündigt der Maria zugleich die trotz der bisherigen Unfruchtbarkeit erfolgte Schwangerschaft ihrer Verwandten Elisabeth, um ihren Glauben zu starken (V. 36.), und setzt hinzu: Denn bei Gott-ist kein Ding un­ möglich (V. 37.). Der Elisabeth hatte jeder die Fähig­ keit zu gebären abgcsprochcn, weil sie in das Alter gekom­ men war, wo die Weiber nicht mehr zu gebären pflegen; allein der Schluß von der Erfahrung auf das Mögliche iss

immer trüglich; Gott weiß die in der Natur schlummern­ den Kräfte ju erwecken, und Leben zu entzünden, wo Alles scheint erstorben zu seyn. Diese Wahrheit ist uns besonders tröstlich in der Anwendung auf unser Streben und Thun. Ist dieses Gott wohlgefällig und mit dem Vertrauen auf ihn verbunden-,* sd können wir das unmöglich Scheinende mit seiner Hülfe vollbringen- Besonders sollen wir unsere Besserung mit Gottes Hülfe für möglich halten, und nie zweifeln,

daß er uns dazu Kraft und Beistand verleihen

werde. Ma^ia aber sprach: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe,-wie du gesagt hast. Und der Engel schied von ihr (V. 38.). Maria ergiebt sich in frommer Demuth in den Willen des Herrn; sic fühlt sich als seine Magd, als das Werkzeug seiner All-

Luk. 1, 39 — 56.

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macht und Weisheit; sie will nichts durch sich und für sich

selbst seyn; sie sucht keine Ehre und keinen Nutzen für sich; nur Gottes Wille soll an ihr und durch sie geschehen. Ein edles, schönes Bild demüthiger Hingebung, das uns zum Muster dienen soll. Auch uns kann der Herr zu einer gro­ ßen Bestimmung erwählen, von welcher wir nichts geahnet, zu welcher wir keinen Trieb in uns gefühlt haben, die uns aber mit einem Male klar und entschieden erscheint: dann sollen wir uns dem Willen des Herrn freudig hingcben, und wirken, was ihm wohlgefällig ist. Ucberhaupt ist die Maria in ihrer Erwählung zu der ausgezeichneten Bestimmung, die Mutter des Weltheilandcs zu seyn, ein allgemein gel­ tendes Vorbild. Sie verdient diese Auszeichnung durch nichts als durch Reinheit, Unschuld und Demuth. Das Göttliche entspringt nicht aus ihr, sondern sie empfangt es nur von oben; sie ist nur das Werkzeug des göttlichen Gei­

stes. So verdient auch kein Mensch die Geistesgaben und den hohen Beruf, die ihm etwa zu Theil werden; auch bringt er das Große nicht aus sich hervor; sondern alles ist Gottes Geschenk, und er ist nur sein Werkzeug; jedoch muß er sich durch Reinheit dessen empfänglich und würdig machen.

Luk. 1, 39 — 56.

Marias Besuch bei Elisabeth. Maria^aber machte sich auf in diesen Ta­ gen, und ging eilends auf das Gebirge zu der Stadt. Juda (wahrscheinlich Hebron oder einer an­ dern Priesterstadt) V. 30. Und kam in das Haus Zachariä,' und grüßte Elisabeth (V. 40.). Es

drängte sie, was ihr begegnet war, ihrer Freundin und Verwandten Elisabeth mitzutheilcn, und zugleich zu sehen, wie sie sich in ihrer Schwangerschaft befände. Theilnahme

und Mittheilung unter Freunden und Verwandten ist die Quelle vieles Trostes und Segens. Dadurch daß Maria die Elisabeth besucht, wird dieser.die frohe Gewißheit, daß der Heiland bald erscheinen soll, und sie wird in heilige

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Luk. 1, 39 — 56.

Begeisterung versetzt; und jene kommt durch die Mittheilung erst zum klaren Bewußtseyn ihrer hohen Bestimmung, und bricht in einen begeisterten Lobgesang aus. O wem Gott Freunde geschenkt hat, der sey ja mitthcilcnd und theilnehnehmend gegen sic; er wird sich dadurch stets belohnt fin­ den. Ein Freund hebt den andern, einer führt den andern zu guten Gedanken und guten Entschlüssen. Nur muß Chri­ stus zwischen ihnen seyn, sie müssen im Namen Christi und Gottes versammelt seyn, wie er hier verborgen zwischen Maria und Elisabeth ist. Und es begab sich, als Elisabeth den Gruß Maria hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leibe (V. 41.). Mit freudiger Huldigung kommt sie der Mut­ ter des Messias entgegen; die Freude über das Glück, das ihr widerfährt, durchdringt ihr ganzes Wesen, und das Kind in ihrem Schooße theilt ihre freudige Erregung. Und Elisabeth ward des heiligen Geistes voll, und rief laut, und sprach: Gebenedeiet bist bti TTn« ter den Weibern, und gebenedeiet ist die -Frucht deines Leibes (V. 42.). Die ältere, die Gattin des Priesters» erkennt ohne allen Neid, mit reiner

Freude den hohen Vorzug der jünger» Freundin, der Armen und Geringen, an. Ihr ist ein minder glänzendes Loos ge­ fallen, aber cs ist ihr vom Herrn zugethcilt, und sie erkennt dankbar seinen Rathschluß. Za, demüthig ordnet sie sich der-Höherbegabten unter: Und woher kommt mir das, daß die Mutter meines Herrn zu mir kommt? Siehe, da ich die Stimme deines Grußes höretr, hüpfte mit Freuden das Kind in meinem Leibe (33. 43. 44.). Und hierauf preist sie Maria selig wegen ihres Glaubens, und bestärkt sie in der Zuversicht der Erfüllung (V. 45.). So soll ein Freund den andern in seinem Glauben und in allem Guten befesti­ gen : die wahre Freundschaft soll zugleich eine fromme ße* mcinschaft seyn. Maria bricht nun in Lob und Dank gegen Gott aus. Meine Seele erhebet den Herrn, und mein

Luk. 1, 39.-.56;

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Geist freuet sich Gottes, mtines Heilandes (V. 46. 47.). Ihre Freude über das herrliche Loos, das ihr geworden, die Mutter des Messias ju seyn, wird jur Begeisterung, zum heiligen Lobgcsang. So soll auch unser Dank gegen die Wohlthaten Gottes sich auf den Flügeln her Begeisterung erheben. Denn er hat die Niedrig­ keit seiner Magd angesehen, (mich trotz meiner Niedrigkeit zu hoher Bestimmung erhoben). Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindes­ kinder; denn er hat große Dinge an mir ge­ than (V. 48. 49.). Oft schon hat Gott Niedrige zu ho­ hem Beruf erkoren; denn bei den Niedrigen ist oft mehr Demuth, Unschuld und Hingebung, als bei; den Hohen. Maria ist in der That und mit Recht zu allen Zeiten selig gepriesen worden als die Auscrrvahlte und Einzige ihres .Geschlechts; aber man sollte in..ihr mir den Herrn preisen, der so Großes an ihr gethan hat, und sie nicht abgöttisch verehren, welche Verehrung sie in.ihrer Demuth gewiß ver­ abscheut haben würde. 'Denn ihr reines Gemüth ist ganz voll vom Lobe Gottes, der da mächtig, und deß Name heilig ist, und seine Barmherzigkeit wahret immer für undfür bei denen, die ihn fürchten (V- 50.); stolze Selbstsucht ist fern von ihr. Sie verharrt bei dem Gedanken der Demuth, aus ihrer Nie­ drigkeit erhoben zu seyn, und preist die Allmacht Gottes, welche die menschlichen Unterschiede ausglcicht und vernich­ tet. Er übet Gewalt mit seinem Arm, und zerstreuet die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößet die Gewaltigen vom Stuhl, Und erhebet die Niedrigen. Die Hungrigen füllet er mit Gütern, und läßt die Reichen leer (25. 51—53.). Wie wahr ist dieß, wie so sehr durch die Erfahrung aller Zeiten bestätigt! Die menschlichen Unter­ schiede von Niedrigkeit und Vornehmheit, Armuth und Reich­ thum, schwanken beständig wie die Fluchen des Meeres, welche der Hauch Gottes bewegt. Niemand verlasse sich in stolzer Zuversicht auf die Dauer seines Glückes; niemand Dibl. Erbauungsb. II.

B

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Luk. 1, 57—80.

verzage in dem Druck und der Niedrigkeit, worin er sich be­ findet. Der Glückliche gedenke an die Unbeständigkeit der menschlichen Dinge zu seiner Warnung, der Unglückliche zu seinem Trost. Gott kann den einen demüthigen, den andern

erheben, ehe man es erwartet. Wenn es Gottes Wille ist, daß du aufsteigen sollst aus deiner Dunkelheit, so wird es geschehen; wo nicht, so verharre in Geduld und Demuth! Die Freude der Maria hat zuletzt nur das Heil ihres Volkes zum Gegenstand. Er gedenket der Barm­ herzigkeit, und hilft seinem Diener Israel auf, wie er geredet hat unsern Vatern, Abra­ ham und seinem Samen ewigkich (V. 54. 55. Sic soll den Messias gebaren, den Retter ihres Volkes: deßwegen frohlockt sie. So sollen auch wir uns besonders dessen freun, was unserm Volke, was der Menschheit zum Heil gereicht; gelingt es uns, etwas für die gemeinsamen Angelegenheiten zu wirken, Macht und Einfluß darauf zu gewinnen: so sey das unsere größte Freude. Maria freut sich aber des zukünftigen geistigen Heiles ihres Volkes und. der Menschheit: und auch unsere Hoffnung und Freude sey vorzüglich auf das Geistige gerichtet. Und Mariablieb bei ihr bei drei Monate: darnach kehrte sic wiederum heim (V. 56.). Die beiden Freundinnen verlängerten ihr Beisammenseyn so weit, als es die Umstande erlaubten: Maria blieb bis gegen die Zeit der Niederkunft der Elisabeth.

Luk. 1, 57—80. Geburt Johannes des Täufers. Als Elisabeth den verheißenen Sohn geboren hatte (V. 57.), freueten sich ihre Nachbarn und Ver­ wandten mit ihr (V. 58.). So sollen immer Nach­ barn, Verwandte und Bekannte Theilnahme und Mitge­ fühl beweisen; jedoch soll dieses Mitgefühl einen frommen Grund haben, kein bloß weltliches seyn. Die Nachbarn und Verwandten der Elisabeth hörten, daß der Herr

Luk. 1, 57 — 80.

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große Barmherzigkeit an ihr gethan hatte (V. 58.), und darüber freuetcn sie sich mit ihr. Am ach­ ten Tage kamen sie, das Kind zu beschneiden (V. 59.), wie es die noch jetzt übliche gute Sitte mit sich bringt, daß die Verwandten an religiösen Feierlichkeiten in der Familie Antheil nehmen. Sie wollten das Kind, dem Herkommen gemäß, nach seinem Vater, Zacharias'nennen (V. 59.). Ueberatt gibt es ähnliche hergebrachte Sitten in den Fami­ lien, und cs ist löblich, daran zu halten. Es soll Manches

von den Vorfahren auf die Nachkommen forterbcn, damit ergangenhcit und Gegenwart verbunden seyen. Man soll aber auch nicht sklavisch am Herkommen hangen, und bis­ weilen aus Gründen davon abgehen, wie es hier der Fall war. Der außerordentliche Sohn der Familie mußte einen neuen Namen haben, wie schon der Engel geboten hatte. Die Mutter erklärter Mit nichte», er soll Johan­ nes heißen (V. 60.). Sie kannte den Willen des Mannes, und war als eine gute Ehefrau mit ihm einver­ standen, hing nicht, wie so viele Frauen, eigensinnig am Herkommen, oder hatte ihre eigene Meinung. Die Ver­ wandten erwiederten: Ist doch niemand in deiner Freundschaft, der also heiße (V. 61.). Aber Zacharias bestätigte schriftlich (da er nicht reden konnte), daßdcrSohnJohannes heißen sollte. Und sie verwun­ derten sich alle (V. 62. 63.), widersprachen aber nicht weiter, und störten die frohe Eintracht nicht. Jetzt erhielt nun auch Zacharias den Gebrauch seiner Sprache wieder, und redete und lobte Gott (V. 64.). Die heilige Feierlichkeit wird durch begeisterte Rede verherrlicht; sie bleibt nicht ein todter Gebrauch r und der Hausvater, dem cs am meisten ziemt, ist es, der das Lob Gottes ausfpricht. Za­ charias war ein Priester; aber jeder Hausvater sollte in sei­ nem Hause Priester seyn. Und es kam eine (heilige) Furcht über alle Nachbarn, und diese Ge­ schichte ward alle ruchbar auf dem ganzen jü­ dischen Gebirge (V. 65.). Es war nicht der leere Eindruck der Verwunderung, de» dieser Vorgang machte, B2

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Luk. 1, 57 — 80.

sondern man erkannte darin die Hand Gottes. Alle die es höreten, nahmen es zu Herzen; sie erkannten darin eine Veranstaltung Gottes; und sprachen: Was, meinest du, will aus dem Kindlein werden? Sie ebneten, daß Gott mit dem Kinde etwas Großes vorhatte. Denn dieHand des Herrn war mit ihm (V.66.V Die Geburt desselben hatte etwas Außerordentliches, und Gott segnete auch sein Gedeihen, und es verrieth große Ga­ ben. — O möchte überall in den Familien und im Volke ein so fromm empfänglicher Sinn für die Erweisungen der Gnade Gottes und die neuen bedeutungsvollen Erscheinungen im Menschenleben herrschen, wie wir hier bemerken! Und Zacharias ward des heil. Geistes voll, weissagte und sprach (V. 67.). Die Aussicht auf die nahe Erscheinung des Messias und den mitwirkenden Be­ ruf seines neu gefronten Sohnes erfüllt den Zacharias mit froher Begeisterung. Er danket Gott, daß er sein Volk besucht und erlöset Hai, daß er es in Gnaden ange­ sehen hat, und es durch den Messias erlösen will (V. 68.). Und hat uns aufgerichtet ein Horn (d. h. einen starken Retter), in dem Hause seines Dieners Davids, wie er vor Zeiten geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten (V.69 79.). Er meint damit das Kind der Maria, welche aui dem Hause Davids war; ans diesem nämlich sollte den Weissa­ gungen der Propheten zufolge der Messias hervcrgchen. Von diesem wurde erwartet, daß Gott durch ihn die Israe­ liten erretten werde von ihren Feind en und von der Hand aller, die sie haßten (3. 71.); man erwartete in ihm einen weltlichen Sieger und Herrscher r jedoch hofften die Frommen, wie Zacharias, auch, Gott werde ihnen geben, daß sie, erlöset aus der Hand ihrer Feinde,Gott dieneten ohneFurcht ihr Leben lang, in Heiligkeit und Gerechtig­ keit, die ihm gefällig ist (V. 74. 75.). Zacha­ rias hofft für sein Volk äußeren Frieden, jedoch nur damit Gottesfurcht, Gerechtigkeit und Heiligkeit herrsche, ohne

Luk. 1, 57 — 80.

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welche alles irdische Glück keinen Werth und keine Bedeu­ tung hat. Er ist ein Freund seines Vaterlandes, überzu­ gleich und noch mehr ein begeisterter Diener seines Gottes; das Reich Gottes geht ihm über das irdische Vaterland. Diese Erlösung hofft er von der Barmherzigkeit Gottes und seiner Treue in Haltung seines Bundes mit dem Volke Israel (V. 72. 73.), nicht von der eigenen Kraft seines Volkes. Nun wendet sich Zacharias zu den Hoffnungen, welche sein Vaterherz besonders erfreuten, daß sein neugcborncr Sohn ein Prophet des Höchsten heißen, und einst vor dem Herrn hergehen soll, seinen Weg zu bereiten (V. 76.). Größer ist keine Freude der Eltern, als die, in ihrem Kinde ein Werkzeug des Herrn zu erblicken, es für Tugend, Gottesfurcht, Gerechtigkeit und alles Gute wirksam zu sehen. Zacharias konnte wohl auch voraussehcn, daß sein Sohn als ein Opfer seines Berufes fallen werde: aber dieß stört seine fromme Freude nicht. Eltern sollen ihre Kinder mit Freuden den Weg gehen lassen, den sie der Herr führet, wenn ihrer auch darauf Leiden und Verfolgung wartet. Zacharias setzt den Beruf seines Soh­ nes darein, Erkenntniß des Heils zu geben sei­ nem Volke zur Vergebung ihrer Sünden(V.77.)r er soll das Volk belehren von dem, was zu seinem Heile dient, cs seiner Sünde überführen, zur Reue und Besserung ermahnen, und es dadurch der Sündenvergebung theilhaf­ tig machen; denn wer seine Sünden ernstlich bereut, der darfauch Vergebung derselben hoffen, nämlich durch die herzliche Barmherzigkeit unsers Gottes, durch welche uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe, das ausgehende Gestirn des Heils, der Erlöser, auf daß er erscheine denen, die da sitzen in Fin­ sterniß undSchatten desTodes, und richte un­ sere Füße auf den Weg des Friedens (23.78.79.).

Die verzeihende Gnade Gottes ist uns durch nichts mehr versi­ chert, als durch die Erscheinung des Welthcilandes; Gott, der die Welt so sehr geliebt, daß er seinen eingebornen Sohn gegeben, damit die an ihn Glaubenden nicht verloren

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Matth. 1, 1 — 17.

gehen, er will nicht den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe. Blicken wir nur vertrauensvoll auf ihn, öffnen wir unser Auge seinem Lichte, folgen wir ihm auf dem Wege, den er uns gezeigt hat; so werden wir den Frieden mit Gott finden, unsre Herzen werden sich erleich­ tert fühlen, ein neues, freudiges Leben wird uns durch­

dringen. Und das Kindlein wuchs und ward stark im Geist, und war in der Wüste, bis daß er sollte hervortreten vor das Volk Israel (V. 80.). Das sind die wenigen Andeutungen, die wir über das Jugendlcbcn des Johannes haben. Er wuchs in der Ein­ samkeit der Wüste heran, fern vom zerstreuenden Geräu­ sche der Welt, in ernster, frommer Sammlung des Gei­ stes. Sein Vater unterrichtete ihn wahrscheinlich in der heil. Schrift; aber die verwirrende, Geist tödtcndc Weisheit der Schriftgclchrtcn der damaligen Zeit blieb ihm fremd. Ehe wir aber dem Evangelisten Lukas weiter folgen,, ho­ len wir ein Paar Abschnitte des Evangelisten Matthäus nach.

Matth. 1, 1 — 17. vgl. Luk. 3, 23 — 38.

Geschlechtsregister Jesu. Der Evangelist Matthäus beginnt mit „dem Buche der Geburt (richtiger: des Geschlechts) Jesu Christi'," um zu beweisen, daß er ein Sohn Davids sey. Diese Abstammung war für die Juden ein wichtiger Grund, an ihn zu glauben, weil die Propheten den Messias als ei­ nen Sohn Davids bezeichnet hatten. Uns sagt mehr die erhabene Ableitung zu, welche der Evangelist Johannes Cap. 1. von Jesu gibt, daß er nämlich das ewige Wort Gottes und von Anbeginn bei Gott gewesen sey: und so kann uns auch die Abweichung dieses Eeschlechtsrcgistcrs bei Matthäus von dem bei Lukas Cap. 3, 23 ff. nicht sehr beunruhigen. Beide nämlich leiten Joseph, den Vater Je­ su, von David ab; Matthäus aber von dessen Sohn Sa­ lomo, und Lukas von dessen Sohn Nathan, wiewohl beide

Matth. 1, 18 — 25.

23

in zwei Gliedern, Forobabel und Salathiel, wieder zusam« mentreffcn (wenn dies nicht etwa verschiedene gleichnamige Personen sind). Die Ausleger nehmen an, daß Matthaus das eigene GeschlechtsrcgistcrJoscphs, Lukas aber das seines Schwiegervaters Eli gebe, indem vielleicht Maria eine Erb­ tochter gewesen seyn möge, in deren Geschlecht Joseph nach dem jüdischen Herkommen (Nehem. 7, 63.) getreten sey. Uns genügt, daß Jesus dem Fleische nach von den Vätern,

und namentlich von David, abstammte, daß aber diese Ab­ stammung zu seiner wahren geistigen Würde, um de­ ren willen wir an ihn glauben, nichts beitragt, daß wir durch den Geist seiner Lehre über solche Acußcrlichkeitcn hinwcggchoben sind, und unsre Beruhigung in dem finden, was er uns gclehret, was er für uns gethan und gelit­ ten hat. Matth. 1, 18—25.

Marias

Schwang erschuft.

Die Geburt Christi war aber also gethan, es hatte damit folgende Bewandniß. Als Maria, seine Mutter, dem Joseph vertraut war, ehe er sie heimholete, erfand sichs, daß sie schwanger war vom heiligen Geist (V. 18.). Joseph aber wußte dieses noch nicht, und hatte seine Braut im Verdacht der Untreue. Jedoch, da er fromm und billig denkend war, wollte er sie nicht rügen, sic nicht wegen ih­ rer Untreue öffentlich beschimpfen; gedachte aber, sie

heimlich zu entlassen, ihr einen Scheidcbricf ohne Anführung des Grundes zu geben, wie solches den jüdischen Ehemännern justand (5 Mos. 24, 1.). Der Gerechte und Edle will nichts mit dem Bösen zu schaffen haben, und mei­ det unreine Gemeinschaft; aber er ist mild gegen den Fehlen­ den , und entzieht sich gern dem betrübenden Geschäfte zu strafen. Indem nun Joseph solches gedachte, er­ schien ihm einEngel desHerrn imTraum, und sprach: Joseph, du Sohn Davids, fürchte dich

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Matth. 1, 18 — 25

nicht, Mariani, dein Gemahl, zu dir" zu neh­ men; denn das in ihr gezeuget ist, das ist vom heil. G e i st (V- 20.). Gott wollte die zwischen Joseph und Maria geschlossene Ehe nicht trennen; denn Gott ist nicht ein Gott der Zwietracht und des Unfriedens, er hat die Ehe ein­ gesetzt und will sie heilig gehalten wissen; auch bedurfte das Kind, das Maria gebaren sollte, des väterlichen Schutzes. Darum wurde dem Joseph der göttliche Ursprung dieses Kin­ des und die wunderbare, heilige Art der Schwangerschaft der Maria geoffenbart, um ihn zu bewegen,'daß er seine Verlobte ehelichte. Auch wird ihm die Bestimmung dieses Kindes geoffenbart. Und sie wird einen Sohn gebären, deß Namen sollst du Jesus heißen; denn er wird sein Volk erretten von ihren Sünden (23. 21.). Vgl. Luk. 1, 31. Joseph soll der Pflegcbater des Heilandes der Welt seyn: mußte er sich nicht freudig dicfcr Bestimmung widmen? Vater und Erzieher sollen sich nicht anders als wie die Pfleger von Werkzeugen Gottes anschcn. Die meisten Eltern lieben ihre Kinder nur, weil sie die ihrigen sind, aus selbstsüchtiger Eitelkeit; sie sollten aber Joseph nachahnicn, welcher wohl wissend, daß das Kind der Maria nicht ihm, sondern Gott angehörte, es

dennoch mit aller väterlichen Liebe und Treue erzog. In der Geburt des Weltheilandes von einer Jungfrau weifet der Evangelist die Erfüllung einer alttestamentlichen Weissagung nach (V. 22. 23.). Jcfaia7, 14. hatte, sei­ nen Zeitgenossen zum Trost, auf eine Jungfrau hingewie« scn, welche schwanger werden und einen Sohn gebaren würde, dessen Namen man Emmanuel heißen würde, das ist verdolmetschet, Gott mit uns. Die Geburt eines so benennten Kindes sollte den bedrängten Israeliten der da­ maligen Zeit ein Zeichen der göttlichen Gnade und Rettung seyn. Ein solcher Emmanuel nun, ein solches Zeichen und Pfand der göttlichen Gnade war Jesus im wahren und höch­

sten Sinne; denn in ihm wollte Gott sich mit den Menschen vereinigen und versöhnen, in ihm war Gott selbst gegen­ wärtig , und offenbarte sich den Menschen in seiner ganzen

Luk. 2, 1 — 20. Liebe.

Da

25

nun Joseph vom Schlaf erwachte,

that er, wie ihm des Herrn Engel befohlen hatte, und nahm sein Gemahl zu sich (23. 24.). Er war in edler Selbstverleugnung der göttlichen Stimme

gehorsam. Aber er erkannte sie nicht, bis sie ihren ersten Sohn gebar; er betrachtete sich nur als Pflegevater des zu gebarenden Kindes; und hieß seinen Namen Jesus (23. 25.).

Luk. 2, 1 — 20. Geburt

Jesu.

Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging, -aß alle Welt (das ganze jüdische Land) geschähet (nach Köpfen und Vermögen ausgezeichnet) würde (23.1.). Und diese Schatzung war die allererste, und geschah zur Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien war (23. 2.). Hierin liegt eine geschichtliche Schwierigkeit. Wir wissen nämlich sicher, daß Cyrenius (Quirinus) damals noch nicht Landpflcger in Syrien war, sondern cs erst spater wurde, und erst ungefähr im eilften Lebensjahre Jesu, nach der Absetzung des Fürsten Archelaus, des Sohnes von dem jetzt noch regierenden Herodes dem Großen, alsJudaa in eine römische Provinz verwandelt wurde, eine Schatzung anstellte, welche-Ap. G. 5, 37. erwähnt wird. Um diese Schwie­ rigkeit zu heben, übersetzen Einige die Stelle so; Und diese Schatzung geschah früher als zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien war. Andere suchen auf andere Weise zu helfen, die Sache wird aber im­ mer unentschieden bleiben. Dem gläubigen Christen kann wenig an solchen Streitigkeiten liegen , welche das Wesent­ liche der Sache nicht betreffen. Die Geburt und die ersten Lebensjahre Jesu sind in Dunkelheit gehüllt, damit wir unsre Aufmerksamkeit vorzüglich auf das richten sollen, was er wahrend seines öffentlichen Wirkens für uns gethan und gc-

26

Luk. 2, 1—20.

litten hat, damit er uns nichts als nur unser Heiland und

Seligmacher sey. Und Jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt, d. h in die Stadt, wo sein Geschlecht eigentlich seinen Sitz hatte (V. 3.). Da machte sich auch auf Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land, zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum daß er von dem Hause und Geschlecht Davids war (welches Geschlecht in Bethlehem seinen Sitz hatte), auf daß er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe, welches schwanger war (V. 4. 5). Die Eltern Jesu erscheinen hier ganz ver­ flochten in die bürgerlichen Verhältnisse ihres Volkes; sie mußten einer damals Statt findenden allgemeinen drückenden Maßregel sich unterwerfen, damit Christus schon bei seiner Geburt als dem Gesetz Unterthan erschiene (Gal4, 4.). Diese vom Kaiser Augustus getroffene Veranstaltung war der Vorbote der Unterwerfung des jüdischen Landes unter die römische Herrschaft, und jeder Freund des Vaterlandes unterwarf sich gewiß mit schwerem Herzen dem Befehl des fremden Unterdrückers; wahrend aber so den Juden äußeres Elend drohete, war die Geburt ihres Heilandes nahe, und die Hoffnung der geistigen Erlösung ging ihnen wie ein freund­ liches Gestirn auf. Ja sie mussten ihre Unabhängigkeit ver­ lieren, und dem Drucke der Römer unterliegen, damit in ihnen die Sehnsucht nach einem Retter recht lebendig würde, und der Messias desto mehr ihre Aufmerksamkeit auf sich zie­ hen könnte. So haben oft gefährliche und verderbliche Welt­ begebenheiten einen geheimen, großen, heilsamen Zweck, der sich erst später enthüllt; und uns ziemt in solchen Fällen stille

Ergebung und hoffnungsvoller Glaube. Maria, die Mut­ ter des Weltheilandes, muß sich dieser beschwerlichen Reise unterwerfen, und darf ihre Entbindung nicht in Ruhe ab­ warten. Welch ein Abstand zwischen dieser ihrer äußern

Lage und der herrlichen Bestimmung, welcher sic entgegen ging! Gewiß aber hat sie sich mit stiller Ergebung in diese

Luk. 2, 1 — 20.

27

Lage gefügt, und die Hoffnung nicht aufgegeben, welche der Engel in ihr erregt hatte; und so sollen auch wir uns nicht durch drückende äußere Verhältnisse entmuthigen und beugen lassen, sondern uns mit dem Gedanken trösten, daß Gott seine Abstchten mit uns hat. Und als sie daselbst wa« rett, kam dieZeit, daß sie gebaren sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn, und wickelte ihn in Windeln, und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Her­ berge (V. 6. 7.). Zn welcher Niedrigkeit und Bedrängniß erscheint der Heiland der Menschen, indem er das Licht der Welt erblickt! Das Kind wird in eine Krippe gelegt, weil sich kein besserer Ort findet. Es sollte das Göttliche ohne allen Glanz in der Welt erscheinen, um sie durch sein eignes Licht zu erleuchten, so wie die Sonne kein Licht von der Erde entlehnt, sondern vielmehr ihr alles Licht verleiht. Es sollte die Wahrheit, die Geisterkraft, die sittliche Erhabenheit und Reinheit allein durch sich selbst gelten, ohne alle Beihülfe irdischer Macht und Majestät. O rührender Gedanke, solche äußre Niedrigkeit, und solche innre Erhabenheit! O schönes Bild des ganzen Wesens des Christenthums, das allein durch die Kraft des Geistes erziehen, bessern und beseligen will! So sollen auch wir unsere Würde nicht im Aeußerlichen su­ chen, sondern im verborgenen Menschen des Her­ zens, in sanftem und stillem Geist (1 Petr. 3, 4.); und auch außer uns selbst sey unser Blick immer auf die innre Hohheit des Menschen gerichtet, und lerne sie unter un­ scheinbarer Hülle erkennen. Aber in dem weltlichen Gedränge der Ab - und Zugehen« den in der Herberge, des Geschäftes der Aufzeichnung in der Stadt erkannte Niemand das Kind, welches in der Krippe lag. Weltlicher Sinn, weltliche Zerstreuung, machen un­ fähig, in das Verborgene zu dringen und das, was des Geistes ist, zu erkennen; nur das Glänzende und Herrliche zieht die Aufmerksamkeit der Wcltmenschcn auf sich. Aber den einfachen Hirten in der Gegend von Bethlehem ward die Offenbarung dessen, was geschehe» war.

28

Luk. 2, 1—20.

Und es waren Hirten in derselbigen Ge­ gend auf dem Felde bei d,en Hürden, die hüte­ ten des Nachts ihre Heerde CV. 8.). Es waren Hirten, einfache, ungebildete Landleute: aber Christus war gekommen, nicht den Weisen und Gelehrten, sondern den Einfältigen das Evangelium zu predigen (Matth. 11, 25): und darum wird ihnen seine Geburt zuerst verkündigt. Sie waren auf dem Felde, in Gottes freier Schöpfung, deren Betrachtung zu Gott führt; sie lebten in dem kindlichen Sinne der Naturmenschen, welche Gott naher stehen, als die Zöglinge der After- und Ucbcrbildung. 'Es war die Zeit der Nacht, in welcher der Geist mehr gesammelt, und für das Ueberirdifche empfänglicher ist. Wir sollen uns diese Hirten zum Muster nehmen, und uns dieser Einfachheit die­ ses kindlichen Natursinnes befleißigen, und uns so oft als möglich in die Stille heiliger Betrachtung begeben, damit auch uns das Höhere sich aufschlicße. Und siehe! des Herrn Engel trat zu ihnen; ein Bote Gottes, das Wort, die Offenbarung aus der Höhe ihnen verkündigend, erschien ihnen. Wenn auch nicht so wunderbar, kann auch uns ein Bote Gottes erscheinen, in einem frommen gottcrlcuchtctcn Menschen, der göttliche

Wahrheit zu uns redet, in einem Gedanken, der in unsrer Seele aufgeht, in einer bedeutsamen Fügung unseres Lebens. Und die Klarheit des Herrn, ein höherer, überir­ discher Glanz, u m leuchtcte sie. Licht umgibt die Himm­ lischen; höhere, himmlische Gedanken erleuchten den Geist. Je dunkler es oft außen um uns her ist, desto heller wird es in unserm Geist; aus der Nacht der Sorgen und Leiden geht uns das Licht himmlischen Trostes auf. Und sie fürch­ teten sich sehr; ein heiliger Schauer kam sie an; ihr Herz ward wunderbar bewegt (V. 9.). Aber die Engel sprachen ihnen Muth ein; fürchtet euch nicht; himm­ lische Erscheinungen und Offenbarungen geschehen nicht, um die Menschen fürchten zu machen, sondern um sie zu erhe­ ben und zu erfreuen: ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; be-

Luk. 2, 1 — 20.

29

sonders diese Erscheinung hatte den Zweck, die froheste Kunde zu bringen, die je den Menschen gekommen ist, die Geburt des Wcltheilandes. Allem Volke sollte diese Freude werden; denn Christus ist der Er loser aller Menschen, .und früher oder spater sollten alle Menschen ihn kennen lernen. Weih­ nachten ist ein Fest von weltgeschichtlicher Bedeutung (V. 10). Auch einem jeden unter uns ist diese frohe Kunde gegeben,

auch für uns ist Christus geboren. Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Chri­ stus der Herr, in der Stadt Davids (V. 11.), Aus dem Hause Davids erwartete man den Messias oder Christus, d. i. den Gesalbten, den König des Gottcsreiches, den Stellvertreter Gottes auf Erden; und dieser sollte der Heiland oder Retter seyn, der Wiederhcrstcllcr dec verlornen Gerechtigkeit und Gottseligkeit, der Versöhner dec Menschen mit Gott. Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewi­ ckelt und in einer Krippe liegend (V. 12.). Eben jenes Kind wird ihnen als der neugcborne Heiland bezeich­ net. Es liegt in Windeln in der Krippe, in äusserer Nie­ drigkeit, und dieß gerade war das Zeichen, daß er der rechte Heiland werden würde. In ihm war die göttliche Liebe zur menschlichen Niedrigkeit herabgcstiegen, um dem Elende des Menschengeschlechtes aufzuhelfcn. Und alsobald war bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerschaaren: neben jenem Engel erschien noch eine Menge anderer Engel, der ganze Himmel thut sich den Hirten auf mit dieser heilsvollen Kunde: die lobten Gott, und sprachen: Ehre sey Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, und den Men­ schen Gnade *)! (V. 13. 14.) Sie priesen Gott, daß er aus Guade gegen die Menschen den Urheber des Friedens und des Heils, den Erlöser hatte geboren werden lassen. Dieser Lobgesang der Engel ertönt fort und fort in den Herzen der Gläubigen, welche die heilsvolle Thatsache der

♦) Luther falsch: ein Wohlgefallen.

30

Luk. 2, 1—20.

Geburt Christi dankbar erwägen, und ist der Ausdruck scder ächt christliche WeihNachtsfteude. Durch Christus ist uns

der wahre Friede geworden, der Friede mit den Ncbenmenschcn, der Friede mit uns selbst und mit Gott; durch ihn hat sich die göttliche Gnade am sichersten und wirksamsten gcoffenbarct, indem die Menschheit mit Gott versöhnt und vereinigt worden ist, seine Geburt ist der stärkste Anlaß, Got­ tes Ehre zu preisen mit dankbarem Herzen. Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten unter einander: Laßt uns nun gehen gen Bethlehem, und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kund gethan hat (V. 15.). Die Hirten glaubten der himmlischen Kunde, und verwarfen sie nicht als einen täuschenden Traum, wie wohlAndere gethan hatten; Empfänglichkeit ist immer mit Gläubigkeit verbunden. Ihr Sinn war für das Höhere aufgeschlossen, und sie vertrauten

auch dem, was ihnen geoffenbart war. Mancher Andere würde an der Möglichkeit, daß das Heil kommen könne, ge­ zweifelt und gesagt haben, so Herrliches könne nicht geschehen, es würde immer beim Alten bleiben und nie besser' werden ü. s. w. Die Hirten waren aber nicht bloß gläubig, son­ dern nahmen auch lebendigen und thätigen Antheil. Sie rissen sich von ihren Geschäften los, und gingen in die nahe Stadt, um das Kind des Heils mit Augen zu sehen, wäh­ rend Andere fühllos an Ort und Stelle geblieben wären, um ja nichts an ihren Geschäften zu versäumen. Die Hirten sind für uns Christen alle ein Muster, wie wir die Kunde von der Geburt Jefu aufnehmem und unsre Theilnahme da­ ran bethätigen sollen. Immer von neuem sollen wir un­ sern Sinn von der Erde und ihren Angelegenheiten wcgwendend, hingchen und die Geschichte sehen, die uns der Herr kund gethan hat, sie betrachten und erwägen und zu unserm Heil benutzen. Die Hirten bethätigen ihren Eifer auch dadurch, daß, nachdem sie Maria und Joseph nebst dem Kinde gefunden hat­ ten (V. 16.), sie die Kunde, die ihnen von den Engeln war

Luk. 2, 1—20.

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gegeben worden, ausbreiteten (V. 17.), daß nämlich

das neugeborne Kind der verheißene Heiland sey. Der Gläu­ bige begnügt sich nicht damit, die Wahrheit gläubig anzu­ nehmen, sondern sucht sie auch Andern mitzutheilen; die all­ gemeine Anerkennung der Wahrheit, die Verbreitung des Reiches Gottes, ist ihm Gegenstand des angelegentlichsten Be­ strebens. Ohnehin drangt es ihn unwillkürlich, auszusprcchen, wcß sein Herz voll ist; er redet, weil er glaubt (2 Cyr. 4, 13.); und dieser innere Drang macht erst sein Streben recht lebendig und kräftig. Die Kunde, welche die Hirten verbreiteten, brachte auch bei denen, die sie hörten, einen großen Eindruck hervor: Alle, vor die es kam, wunderten sich der Rede, die ihnen die Hir­ ten gesagt hatten (V. 18.); und die Verwunderung bahncte ohne Zweifel in Vieler Herzen den Glauben an. Maria aber Behielt alle diese Worte, und be­ wegte sie in ihrem Herzen (V. 19.). Den stärk­ sten Eindruck machte die Rede der Hirten auf das mütterliche Herz; aufmerksam achtete Maria darauf, faßte sie ins Ge­ dächtniß und machte sie zum Gegenstände ihrer Betrachtung. Was kann für ein mütterliches Herz merkwürdiger und wich­ tiger seyn, als Andeutungen, zumal viel versprechende, über die künftige Bestimmung ihres Kindes. Eine Mutter hofft ohnehin viel von dem Gegenstände ihrer Zärtlichkeit, und schaut mit freudig ahnendem Blicke in die Zukunft r ge­ schieht ihr nun gar eine Verheißung, so faßt sie sie begierig auf. Gewiß hat Maria die Rede der Hirten sich zu Nutze gemacht bei der Erziehung ihres Kindes, und davon geleitet, die Entwickelung des Höheren in ihm befördert, oder ihr doch keine Hindernisse in den Weg gestellt. So sollten alle Mütter und Väter auf die Winke aufmerksam seyn, welche ihnen über

Anlage und Bestimmung ihrer Kinder gegeben werden. Und die Hirten kehreten wieder um, und priesen und lobten Gott um alles, das sie gc-, höret und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war (V. 20.). Nachdem sic der göttlichen Kund­ machung geglaubt, und dem dargebotcnen Heile begierig

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Luk. 2, 2,1 — 40.

nachgegangen waren, priesen sie Gott für hie ihnen sene Gnade. Das ist die Stimmung des durch seinen ben selig gewordenen Christen: er danket Gott, daß zum Heil berufen, und sich seiner Hülföbedürftigkeit nommen hat.

erwie­ Glau­ er ihn ange­

Luk. 2, 21 — 40. Beschneidung und Darbringung des Kindes Jesus. Vermöge des gesetzlichen Betragens der Eltern und dem göttlichen Rathschlusse gemäß, daß Jesus, der Heiland der Welt, der Erlöser vom Gesetz, diesem Unterthan seyn sollte (Gal. 4, 4.), um es zu erfüllen und dadurch von ihm zu erlösen, wurde das Kind am achten Tage-gesetzmäßig be« schnitten (V. 21.), und in die religiös-politische Gemein­ schaft des israelitischen Volkes ausgenommen. Das neue Heil sollte aus dem alten religiösen Leben, wie es bestand, hcrvorgehcn, so wie das Neue Jahr (dessen Text-Abschnitt nach altem Gebrauch dieser Vers ansmacht) aus dem Alten hervorgeht; aber zugleich sollte es ein neues, das Aste weit übertref­ fendes, besseres Leben seyn, das Christus brachte, so wie sich unser Leben stets erneuern, und mit jedem Jahre und jedem Tage neu und besser werden soll. Wie wichtig müssen uns Christen die Gebrauche und Anstalten unsers religiösen Lebens seyn, wenn der Heiland der Welt sogar den unvollkommncn mosaischen Gesetzen unterworfen wurde! Aber freilich konimt das Heil nicht von der bloß todten Beobachtung der Gebrau­ che, sondern von dem lebendigen Geiste, mit welchem man sie beobachtet. Denn Christus erfüllte nicht bloß den Buchstaben der Gesetze, sondern ihren Geist, und dadurch ist er der Heiland der Welt geworden. — Bei der Beschneidung war cs üblich den Kindern einen Namen zu geben, und das Kind des Heils erhielt nach der Anweisung des Engels (Cap. 1,31.) den Namen Jesus, d. k. Heiland, den er auch durch die That rechtfertigte. Möchte einem Jeden unter uns, wenn er ins Leben tritt, eine ähnliche für die Welt heilbringende

Luk. 2, 21—40.

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^Bestimmung angewiesen werden! Möchten wir jedes neue Jahr mit dem Vorsatze beginnen, nach unsern schwachen Kräften für das Heil der Menschheit zu wirken. Wie das Gesetz der Beschneidung, so vollzogen die El­ tern Jesu an ihm das Gesetz, vermöge dessen jeder Erstgeborne dem Herrn dargebracht werden mußte (V. 22. 23. vgl. .2 Mos. 13, 2.), und brachten das vorgeschriebene Opfer (V. 24.). Es war dieß eine schöne Feier. So sollten alle neugeborne Kinder dem Herrn geweihet werden. Eie wer­ den es auch bei uns durch die Taufe: wenn es nur immer in der,That und Wahrheit geschahe, und die Eltern erwägtillr, welche Verpflichtungen sie dadurch übernehmen! — Bei die­ ser feierlichen, im Tempel zu Jerusalem vollzogenen Hand­ lung trug sieh nun folgendes Merkwürdige zu. Zu Jerusalem war ein frommer und gottesfürchtiger Mann, mit Namen Simeon, der seine Frömmigkeit besonders auch dadurch bewies, daß er auf den Trost Israels, auf die Erlösung durch den Messias, wartete; denn das war die Hoffnung aller frommen Herzen, welche ihr eigenes und das Elend der ganzen Menschheit und das Bedürfniß eines Retters erkannten. Wie wir, wenn wir fromm sind, an das erschienene Heil glauben, so hofften damals alle wahrhaft Fromme auf das künftige Heil, ja, auch wir müs­ sen noch hoffen, nämlich daß das von Christo bereitete Heil den Menschen und uns selbst immer mehr und mehr zu Theil, und sein Reich immer mehr ausgebreitet werde und zur vollkommnen Herrschaft gelange. Und der heilige Geist war in ihm (V. 25.). Der heilige Geist ist erst durch Christum auf die Menschheit in der Gesammtheit derer, die an ihn glaubten, gekommen: aber vor ihm war er schon in Einzelnen,, in den Propheten und den wahren Frommen des A. T., und so auch in diesem Frommen, welcher gleichsam mitten inne zwischen dem A. und N. T. stand. Niemand kann wahrhaft fromm und gläubig seyn, ohne die Wirksam­ keit des heiligen Geistes, von welchem alle gute Gaben kom­ men. Und ihm war eine Antwort geworden von dem heiligen Geist, eine innere göttliche Stimme hatte Brbl. Erbauungsb. II. C

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Luk. 2, 21—40.

zu ihm geredet, er solle den Tod nicht sehen (er­ fahren, erleiden), er hatte denn zuvor den Christ (Gesalbten) des Herrn gesehen (V. 26.). Die Hoffnung, daß noch bei seinen Lebzeiten seinem Volke und der: ganzen Menschheit das Heil aufgchen werde, war in ihm durch Anre­ gung des heiligen Geistes zur festen Gewißheit geworden. Und er kam aus Anregen des Geistes in den Tempel; es geschah nicht aus einem zufälligen Antriebe, daß er damals gerade in den Tempel kam, als die Eltern Jesu sich dort einfanden (V. 27.). Da nahm er das Kind auf seine Arme, und lobte Gott und sprach; Herr, nun lassest du deinen Diener im. Frieden fahren, ruhig und freudig sterben, wie du gesagt (mirverheißen) hast; denn meine Augen ha­ ben deinen Heiland gesehen, welchen du berei­ tet hast vor allen Völkern (daß er allen Völkern erscheine), ein Licht, zu erleuchten die Heiden, und zum Preis deines Volkes Israel (V. 28 — 32.). Merkwürdig ist, daß Simeon das von Jesu zu er­ wartende Heil auf alle Völker ausdehnt, wahrend viele an­ dere Juden in ihm eyer einen Züchtiger und Bcstrafer, als ei­ nen Erretter derselben erwarten mochten. Eine wahrhaft fromme Hoffnung ist nie selbstsüchtig, sondern hat stets das all­ gemeine Wohl zum Gegenstand. Wie kann sich auch der Fromme wohl befinden,wenn er um sich her noch Elend sicht? Simeon hofft den wahren Ruhm des Volkes Israel nicht von der weltlichen Herrschaft desselben über die Heiden, son­ dern von der Erleuchtung, die von dem aus ihm gcbornen Messias über sie sich verbreiten sollte. Wohl dem, der immer nur seinen und der ©einigen Ruhm in demjenigen sucht, was zum Heil der Andern dient! Die Eltern, roclxfye sich über seine Rede verwundern (V. 33.), segnet Simeon, und zur Mutter (welche wohl die meiste Aufmerksamkeit und Theilnahme bezeugen mochte) spricht er: Siche, dieser wird gesetzt (ist bestimmt) zu einem Fall und Auferstehen Vieler in Is­ rael; er wird machen, daß die Einen,, die ihm nicht glan-

Luk. 2, 21 — 40.

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Bett und ihm widerstehen, sich ins Verderben stützen, und die Andern, die ihm glauben und folgen, Heil und Selig­ keit erlangen: und zu einem Zeichen, dem wider­ sprochen wird: seine Erscheinung wird bedeutsam, gleich­ sam ei» aufgerichtetes Zeichen seyn, an welchem man ßes und Wichtiges erkennt; erwirb seine höhere, göttliche Sendung beurkunden, sich als Geweiheter und Sohn Got­ tes beweisen; man wird aber dieser seiner Sendung und Würde widersprechen, und den Stein verwerfen, der zum Eckstein wird (V. 34.). Und es wird ein Schwert durch deine Seele dringen: dein mütterliches Herz wird das größte Weh erleiden, das eine Mutter treffen kann, wenn du den geliebten Sohn als ein Opfer des Unglaubens und Hasses fallen siehst, wenn du einst unter seinem Kreuze stehst. Simeon kann der Maria, der er so Herrliches von ihrem Sohne verheißt, nicht den Schmerz ersparen, ihr auch das widrige Geschick zu offen­ baren , das ihn treffen wird. Das Gute ist auf dieser Erde nicht ohne Kampf, keine Hoffnung ohne Furcht und Sorge: der Urheber des Heiles der Menschheit selbst, ihr größter Wohlthäter, wird Undank erfahren. Jede Mutter muß, in­ dem sie frohe Hoffnungen über ihr Kind faßt, auch Schmerz­ liches für es fürchten; es wird dem Loose aller Sterblichen, Unglück und Widerwärtigkeit zu erfahren, nicht ent­ gehen; und es wäre selbstsüchtig und anmaßend von einer Mutter, ein ungetrübtes Glück für ihr Kind zu hoffen. Das alles muß Christo widerfahren, auf daß vieler Her­ zen Gedanken offenbar werden (V. 35.). Chri­ stus muß Widerspruch erfahren, damit sich die Herzen der Einen, die an ihn glauben, als rein, und die der An­ dern, die nicht an ihn glauben, als unrein beweisen; da­ mit es klar werde, wer der Wahrheit gehorcht, und wer nicht. Christus erscheint, damit ein Gericht, eine Schei­ dung der Guten und Bösen geschehe. Und so ist das Böse und dessen Kampf mit dem Guten überhaupt in der Welt, damit sich daran die Herzen prüfen. Unsere menschliche Tngend ist nichts ohne Kampf und Prüfung, und es ist norh-

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Luk. 2, 21 — 40.

wendig (obgleich immer zu beklagen), daß das Gute Wi­ derspruch finde, damit ein Jeder sich frei dafür oder dawi­ der entscheiden könne. Nun kommt noch eine begeisterte Greifin (der Evangelist nennt sie Prophetin), mit Namen Hanna, welche in ei­ ner langen Wittwenschaft unter frommen Uebungen ein ho­ hes Alter erreicht hatte, in den Tempel, schließt sich mit dankbaren Lobpreisungen Gottes an die Weißagung Simeons an, und verbreitet die Hoffnung, die sie mit ihm auf das Kind setzte, unter denjenigen Einwohnern Jerusalems, welche auf die Erlösung durch den Messias warteten (V. 36 — 38.). Dieses Zusammentreffen des alten Simeon und der al­ ten Hanna mit dem Kinde Jesus ist ein schönes Bild der Berührung des Alters mit der Jugend, der alten mit der neuen Zeit. Diese Alten hoffen das Bessere von der Zukunft, ja, sie erkennen es mit weißagcndcm Blicke in dem Kinde, das ihnen vor die Augen kommt; sie sind von der Unart des Alters frei, nur in der Vergangenheit das Gute zu sehen, und sich vor allem Neuen zu verschließen. Es ist nichts rüh­ render und erfreulicher, als einen Greis zu sehen, der Freude an Kindern hat und mit heiterem Blicke in die Zukunft schaut. Er erhebt sich über die Zeit und über sich selbst; er kann das Gute, das er hofft, nicht selbst genießen; seine Hoffnung ist uneigennützig, er hofft nur für Andere. So sollte immer die Jugend vom Alter begrüßt und beurtheilt werden, und immer sollte sie ihm Grund zur Hoffnung geben; so sollte die neue Zeit sich an die alte anschließen und deren Hoffnungen erfüllen. Es finden sich aber in der evangelischen Geschichte das Alter und die Jugend im Tempel des Herrn, in seinem heiligen Dienste, zusammen, und die Hoffnungen, welche gefaßt werden, sind dem Herrn und seinem Reiche geweihct; das ganze schöne Bild ruhet auf einem heiligen Grunde: so soll auch bei uns Alter und Jugend, Erfahrung und Hoff­ nung, alte und neue Zeit, auf diesem einzig festen und dauer­ haften Grunde ruhen. Jesu Eltern kehrten nun nach Galilaa in ihre Stadt Na­ zareth zurück (V. 39.), und das Kind wuchs und

Matth. 2, 1 — 12.

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ward stark im Geist, voller Weisheit; es wuchs

so wohl an Körper als an Geist, und entwickelte fich nach und nach. Man darf sich nicht vorstellen, das Jesus, weil er Gottes Sohn war, gleich schon als Kind in göttlicher Vollkommenheit erschien. Er war ganz Kind, aber schon in der Form des kindlichen Lebens mußte sich dem sinnigen Beobachter das Göttliche wie unter einem Schleier zeigen. Er übertraf unstreitig weit alle andere Kinder. Deßwegen setzt auch der Evangelist hinzu r UndGottesGnadewar bei ihm (V. 40.): man sah, daß er unter einem beson­ dern Einflüsse Gottes stand, daß eine höhere Kraft in ihm wirksam war.

Matth. 2, 1 — 12.

Die Ankunft der Weifen aus dem Mor­ genlande. Nach der Geburt Jesu kamen Weise *) vom Mor­ genlande gen Jerusalem (V. 1.). Sie werden im Erundkext Magier genannt. Dieses Wort bezeichnet ei­ gentlich Persische Priester oder Weise, es kann aber auch Weise eines andern Volkes bezeichnen, und zwar scheinen besonders Natur- und Sternkundige darunter gedacht zu werden, weil es von ihnen heißt, daß sie den Stern des neugeborncn Königs gesehen hatten. Woher sie auch kamen, immer waren es heidnische Weise, nicht etwa morgcnländische Juden, wie manche Ausleger angenommen haben. Sie waren gleichsam die Vorboten der fremden Völker, welche einst das Christenthum annchmen sollten; und der Evange­ list will wohl stillschweigend andeuten, daß sich in ihrer An­ kunft jene Weißagung des Jesaia erfüllter „Sie werden aus Saba alle kommen, Gold und Weihrauch bringen, und des Herrn Lob verkündigen" (Jes. 60, 6.). Wie Jesus den Hirten bekannt wird , zur Vor­ andeutung, daß sein Evangelium allen Standen, auch den

*) Luther falsch: die Weisen.

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Matth. 2, 1 — 12.

niedrigsten, Heil bringe: so erhalten auch schon die entfernte­ sten Heiden von ihm Kunde; und die Weisen derselben kom­ men, ihm zu huldigen. Als Könige, wofür sie die kirch­ liche Legende gibt, bezeichnet sie der Evangelist keincswcges, und diese Vorstellung muß man aufgcbcn. Sie fragen in Jerusalem nach dem neugebornen Könige der Ju­ den: so'weltlich dachten sie sich noch in ihrem kindlichen Sinne den Heiland der Welt. Ihre Vorstellungen waren noch unvollkommen, aber ihr Herz war voll höherer, heili­ ger Sehnsucht, und sie hofften von diesem angeblichen Könige gewiß mehr als weltliche Wohlfahrt: sonst hatten sie sich schwerlich so bccifcrt, ihm zu huldigen. Sie sagen, sie haben seinen Stern gesehen im Morgenlande; ihre Stern-Beobachtungen hatten sie gelehrt, daß er geboren sey, indem man im Alterthum glaubte, daß außerordentliche Sterne (Kometen > die Geburt großer Manner anzeigtcn. Ihr Blick war gen Himmel gewandt, und so erschien ihnen ein Licht aus der Höhe, das ihnen das langst ersehnte Heil zeigte. Ihre Weisheit war die achte, die nach oben gerich­ tete, nicht die falsche der Welt, welche an die Erde heftet, llnb sie folgten dem erhaltenen Zeichen mit willigem Herzen, verließen ihr Vaterland, und unternahmen eine große, be­ schwerliche , gefahrvolle Reife. Als Heiden entschlossen sie sich, ins Land der Juden zu reisen, und das gehoffte Heil zu suchen. Der himmlische Sinn erhebt über die irdischen Unterschiede und Vorurtheile; Ein Himmel wölbt sich über allen Völkern. Die Weisen waren gekommen, ihn, den neugebornen König, anzubeten, ihm ihre Huldigung und Verehrung zu beweisen (V. 2.). Sie woll­ ten die ersten ihrer Völker seyn, welche den Heiland der Welt anerkannten. Da das Herodes hörte, er­ schrak er, und mit ihm das ganze Jerusalem (V. 3.). Der Tyrann, der sich den Thron Davids ange­ maßt hatte, und sich der herrschenden Meinung gemäß un­ ter dem Messias einen weltlichen König dachte, fürchtete den Verlust seines Thrones, und erschrak über diese Kunde; die Einwohner von Jerusalem aber erschraken mit ihm, weil

Matth. 2, 1 — 12,

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sie von dem Argwohn des Tyrannen, der seine eigenen Kin­

der nicht schonte, alle Grausamkeit und Gewaltthat zu furch­ ten hatten. So nahm der Wcltsinn und die Selbstsucht die Kunde des Heiles auf. Wie'schön erscheint dagegen der un­ befangene , fromme Sinn der Weisen, welche ohne alle Ncbcnrücksicht, mit treuer Hingebung, allein dem hohem Zuge folgten, der sie aus weiter Ferne herbeiführte! Herodes ver­ sammelte nun, um dem Kurde auf die Spur zu kommen, den hohen Rath der Juden, welcher aus Hohenpriestern und Schriftgclchrtcn bestand, und legte ihm die Frage vor, wo der Messias sollte geboren werden (V. 4.). Wahrscheinlich wendete er irgend eine religiöse Absicht vor; denn die Arg­ list des Tyrannen verstand zu heucheln. Der hohe Rath gab die Antwort: zu Bethlehem im jüdischen Lande, und führte als Grund die Weißagung des Propheten Micha (5, 1.) an, welche sagt, daß aus Bethlehem der Her­ zog (Herrscher) kommen soll, der über das Volk Israel Herr sey, und daß durch diesen Vorzug das kleine Bethlehem mit nichte» die kleinste unter den Fürsten (Gcschlechksortcn) Judäas sey (V. 5. 6.). Nachdem Herodes Nun den Ort der Geburt des Messias er­ fahren hatte, wollte er die Spur weiter verfolgen. Er be­ rief daher die Weifen heimlich zu sich, und erkundigte sich bei ihnen sorgfältig nach der Zeit, wann der Stern erschie­ nen wäre (V. 7.). Der Heuchler stellte sich dienstfertig und von dem gleichen frommen Sinne beseelt. Er wies sie nach Bethlehem, und gab ihnen auf, fleißig nach dem Kinde zu forschen, und wenn sie cs gefunden, es ihm wieder zu sa­ gen, damit er es auch anbetcn könne (V. 8.). Arglos folg­ ten die Weisen dem arglistigen Rathe des Königs, der ihnen wirklich den rechten Weg zeigte. Und als sie den Weg nach Bethlehem eingeschlagcn, zeigte ihnen derselbe Stern, den

sie im Morgcnlande gesehen hatten, den Ort, wo dos'Kind war. Nach dem kindlichen Sinne des Alterthums erzählt der Evangelist, daß der Stern vor den Weisen hcrgcwandelt sey, was wir freilich nach unsern bessern Begriffen von den Gesetzen der Himmelskörper nicht so buchstäblich verstehen

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Matth. 2, 13—23.

können (V. 9.). Die Arglosigkeit des frommen Sinnes fin­ det den Weg zu ihrem Ziele, höhere Kräfte leiten sie; selbst

die Arglist der Gottlosen must ihr dienen. Hocherfreut über die Wiedererscheinung des-Sternes, gingen die Weisen in das Haus, wo Maria mit dem Kinde war, und huldigten ihm, indem sie, nach der Sitte, nicderficlen, und ihm kost­ bare Geschenke darbrachten (V. 10. 11.). Es waren nur irdische Gaben, die sie darbrachten, aber sie drückten dadurch ihre Ergebenheit und die Bereitwilligkeit aus, dem königli­ chen Kinde alles aufzuopfern. Gott ließ es nicht zu, daß sie wieder zu Herodes zurück kehrten, dessen Grausamkeit sie unstreitig erlegen seyn würden; sie erhielten im Traume den Befehl, auf einem andern Wege in ihr Land zurückzu­ kehren (23. 12). So leitet Gott die Arglosen und Unschul­ digen sicher durch alle Gefahren. Der Tyrann aber sah sich in seiner Arglist getäuscht. Möge uns die Geschichte lehren, daß wir von der Erde unsern Blick gen Himmel keh­ ren, und dem himmlischen Winke, der uns wird mit Hintan­ setzung aller selbstsüchtigen Rücksichten und aller Besorgnisse

folgen, und vertrauensvoll den Weg wandeln, den uns Gott zum Ziele des Heiles führt. Christus erscheint nur

denen, die nach oben gerichtet sind, und laßt sich nur von denen finden, die ihn mit ganzer Hingebung suchen.

Matth. 2, 13 — 23.

Verfolgung des Kindes; Flucht nach Aegypten. Ein Engel befiehlt dem Joseph im Traum, mit dem Kinde und der Mutter nach Aegypten zu fliehen, um der Nachstellung des Herodes zu entgehen (V. 13.). Und Jo­ seph thats, und blieb in Aegypten bis nach dem Tode des Herodes, so daß sich das Wort des Propheten (Hosea 11,1.). zum zweiten Male bewährte: Aus Aegypten habe ich

meinen Sohn gerufen. Der Prophet spricht von dem Volke Israel, das Gott aus Aegypten rief: daßelbe Loos traf nun auch den Messias (V. 14. 15.). Herodes nun,

Matth. 2, 13— 23.

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in seiner Hoffnung getauscht, von den Weisen auf die Spur des Kindes geleitet zu werden, befahl, um das Opfer seiner Eifersucht nicht zu verfehlen, alle Kinder in Bethlehem um­ zubringen, die ungefähr seit der Erscheinung des Sternes geboren waren (V. 16.). So scheut die grausame Selbst­ sucht kein Mittel, um ihre Zwecke zu erreichen; Hunderte unschuldiger Kinder müssen fallen, damit eines vernichtet werde. Da erfüllte stch wieder, was der Prophet Jeremia (31, 15.) in Beziehung auf die Wegführung der Ge­

fangenen Judas und Benjamins gesagt hatte: Auf dem Gebirge vernimmt man ein Geschrei, vielKlagens, Weinens und Heulens: Rahe! (die Mutter Benjamins) beweinet ihre (Weggefährten, gctödtetcn) Kinder, und will sich nicht trösten lassen, denn es ist aus mit ihnen (V. 17. 18.). Nach Herodes Tode befahl Gott wiederum dem Joseph aus Aegypten zurückzukchrcn, was er auch that (V. 19—21.). Da er aber horte, daß Archclaus, Sohn des Herodes, und von ähnlicher Gesinnung, im jüdischen Lande herrschte, zog er vermöge eines göttlichen Befehls nach Galiläa, und wählte Nazareth zum Wohnsitz (V. 22. 23.). Der Evan­ gelist findet in diesem Umstande, daß Jesus ein Nazarethaner war, die Erfüllung einer Weißagung (Jes. 11, 1.), in welcher der Messias in hebräischer Sprache Nez er (Sprößling, nämlich Davids) genannt wird, was auf

seinen Wohnort Nazareth zu deuten schien, und er will viel­ leicht mit dieser im Geiste seiner Zeit anfgefaßten propheti­ schen Beziehung dem Vorurtheile begegnen, welches die Ju­ den gegen Nazareth und Galilaa überhaupt hegten, ver­ möge dessen dort Nathanael fragt: Was kann aus Na­ zareth Gutes kommen? (Joh. 1, 46.) In dieser Verfolgung des Kindes Jesus liegt die Vor­ andeutung der Leiden, die den Erlöser und seine Kirche spä­ terhin trafen. Das Göttliche wird bei seinem Eintritt in die Welt von ihr verkannt, gehaßt und verfolgt, und muß von Anfang an mit ihr kämpfen; schon den zarten Keim des­ selben will sie erdrücken. Die Einfältigen und Unverdorbe-

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Luk. 2, 41 — 52.

neu (die Hirten) und die wahren Weisen erkennen es und huldigen ihm; aber der selbstsüchtige Weltsinn befeindet cs. Jedoch die göttliche Vorsicht wacht über ihm, und vereitelt alle bösen Anschläge. Ja, diese Geschichte ist ein Bild der mancherlei Gefahren und Widerwärtigkeiten, welche ein zedcs Kind, das in die Welt tritt, erwarten, und vor welchen die Eltern mit Recht zagen; aber sie dürfen auch der göttli­ chen Vorsicht vertrauen, welche väterlich sorgt und wacht.

Billig bleibt es den Untersuchungen der Gelehrcn über­ lassen , die Zcitfolge und den Zusammenhang der Erzählun­ gen bei Matthäus und bei Lukas über die ersten Schicksale des Kindes auszumachcn, ob nämlich der Besuch der Magier und die Flucht nach Aegypten vor die Darstellung des Kin­ des im Tempel zu setzen sey oder nachher? auch beide Er­ zähler in Ansehung des früheren Wohnortes des Joseph, ob er nämlich schon anfangs in Nazareth gewohnt, oder erst später diesen Wohnsitz erwählt habe, zu vereinigen. Es liegt auf der frühern Geschichte des Heilandes ein Dunkel, welches nie ganz kann zerstreut werden; und es sollte uns darüber keine Klarheit werden, damit wir erkennten, daß die Geschichte seiner Lehrthätigkeit und seines Leidens und Sterbens für uns die meiste Wichtigkeit hat.

Luk. 2, 41—52.

Jesus lehrt im Tempel. Aus dem Knabenalter Jesu hat uns Lukas einen unschätz­ baren Zug aufbewahrt.' Seine Eltern gingen alle Jahre gen Jcrufalem auf das Osterfest (V. 41.), wie das fromme Juden nach der Vorschrift des Gesetzes thaten. Und da er zwölf Jahre alt war, nahmen sie ihn mit nach Jerusalem zum Feste (V. 42.); denn in diesem Alter pflegten die Ju­ den die Knaben an den gottesdienstlichen Feierlichkeiten Theil nehmen zu lassen und zur Beobachtung des Gesetzes anzuhaltcn. Und nach vollbrachtem Feste reisten die El­ tern wieder ab, und der Knabe blieb zurück, ohne ihr

Luk. 2, 41 — 52.

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Wissen, denn sie meinten, er sey bei ihren Gefährten; und nachdem sie eine Tagereise weit gekommen waren, suchten sie ihn unter den Freunden und Bekannten (V. 43. 44.). Man reiste Gesellsclmftsweise zum Feste, und der Knabe war wahrscheinlich schon auf der Hinreise und wah­ rend des Aufenthaltes zu Jerusalem häufig bei den Freun­ den und Bekannten gewesen, daher die Eltern ohne sträfli­ chen Leichtsinn voraussetzen konnten, er sey mit diesen abgereist. Denn solche Reisegesellschaften blieben auf dem Wege nicht immer nahe bei einander; die Einen eilten voraus, die Andern blieben zurück. Auch der Knabe konnte, ohne ungehorsam zu seyn, aus bloßem Irrthum, Zu­ rückbleiben. Da sie ihn nicht fanden, gingen sie wiederum gen Jerusalem, und suchte'» ihn (23.45.). Und nach drei Tagen (nämlich von der Ab­ reise ungerechnet^ fanden sie ihn im Tempel sitzen mitten unter den Lehrern, indem er ihnen zuhörete und sie fragte (23.46.). Im Tempel waren Hal­ len, wo die Gesetzcslchrer sich versammelten und unter einan­ der oder mit ihren Schülern sich über das Gesetz unterredeten. Und alle, die ihn hörten, verwunderten sich sei­ nes Verstandes und seiner Antworten (28.47.). Er fragte sie, um sich zu belehren, und erwiederte ihre Antworten, wobei er einen für sein Alter ungewöhnlichen Verstand zeigte. Und da sie (die Eltern) ihn sahen, entsetzten (verwunderten) sie sich, ihn nämlich an die­ sem Orte zu finden, wo sie ihn zu allerletzt gesucht hatten. Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Sohn, warum hast du uns das gethan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen ge­ sucht (23. 48.). In diesen sanften Vorwürfen spricht sich ganz die Zärtlichkeit eines liebenden Muttcrherzcns aus. Und er sprach zu ihnen: Was ist es, daß ihr mich gesucht habt? Warum suchtet ihr mich an andern Orten, und wäret ungewiß, wo ich sey? Wisset ihr nicht, daß ich seyn muß in dein, das meines Vaters ist? (23. 49.). Er meint, sie hatten ihn nicht da und dort,

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Luk. 2, 41 — 52.

sondern gleich an dem Orte suchen sollen, der dem Dienste seines himmlischen Vaters geweihct war, im Tempel; sie hätten wissen sSllen, daß ihn die Sehnsucht und der Trieb nach dem Göttlichen nirgends hin, als nach dem Heiligthum, geführt haben würde. Ein großes, viel bedeu­

tendes Wort! So finden wir Jesum stets in dem, was seines Vaters ist, in dem erhabenen Berufe, der ihm von Gott geworden war, auf dem'Wege der Pflichter­ füllung, der Erkenntniß und Verkündigung der reinen Wahr­ heit, weder rechts noch links abweichend, nie von der Welt und ihren Lüsten seitwärts gelockt. So blieb er in dem, was seines Vaters ist, als ihn der Satan in der Wüste versuchte und ihn von Gottes zu seinem und der Welt Dienst herüber locken wollte; als man ihn späterhin zum König machen wollte; als ihm der Kelch des Leidens geboten wurde, und er entweder Gort untreu werden oder ihn austrinken mußte. Aber die Menschen suchten ihn nicht immer in dem, was seines Vaters ist. Sie suchten ihn, als er zuerst auftrat, in dem Kreise weltlicher Hoffnungen und Absichten, und er­ warteten von ihm die Stiftung eines weltlichen Reiches; späterhin erwartete der irdische Sinn von ihm eine siegreiche, wunderbare Rückkehr zur Herstellung eines halb irdischen, halb himmlischen Reiches; und als auch diese Erwartung nicht erfüllt wurde, so suchte man ihn in der weltlichen Herrschaft und dem irdischen Glanze seiner Kirche, in dem äußeren Rüstwerk von Gebräuchen und Satzungen; und nur wenige wahrhaft Fromme suchten ihn in dem innern reinen Gebiete des Geistes, in dem, was seines Vaters ist. Und da sollen auch wir ihn stets suchen, und nur da wird er uns als der wahre Sohn Gottes und Seligmacher erscheinen. Eben so aber sollen wir auch nach seinem Bei­ spiel stets seyn in dem, was Gottes ist, in dem Stre­ ben nach Wahrheit und im Bekenntniß derselben, in der Erfüllung unserer Pflicht, in Ausübung des Rechten und Guten , überhaupt in der Richtung nach dem, was droben ist, was der hohen Bestimmung, zu, der uns Gott erschaffen hat, angchört.

Luk. 2, 41 — 52.

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Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte (V. 50.). Wohl uns, daß uns durch sein Leben und seine Lehre der Sinn für das Höhere aufgeschlossen ist! Und er ging mit ihnen hinab, und kam gen Nazareth, und war ihnen Unter­ than. Die Bedingung der Erziehung und Bildung der Kinder ist Gehorsam: dadurch werden die Kinder zur Unter­ werfung unter ein höheres Gesetz und zur Selbstüberwindung gewöhnt. Selbst Christus, in welchem ein höherer Geist wohnte, bedurfte des Gehorsams zu seiner geistigen Entwicke­ lung. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen (V. 51.). Sie beachtete, wie eine sorgsame, gewissenhafte Mutter, diese Aeußerung eines höheren Triebes in ihrem Kinde. Dieß sollten alle El­ tern thun. So wie das Kind Jesus seinen höheren, himm­ lischen Trieb offenbarte, so offenbaren andere Kinder auch ihre Triebe, welche, wenn auch nicht so rein und erhaben, den­ noch beachtet werden müssen, weil Gott sie in sie gelegt und dadurch zu diesem oder jenem Beruft bestimmt hat. Eltern, welche solche Neigungen unbeachtet lassen, und die Kinder nicht in dem suchen, was ihres Vaters ist, wohin sic derSchöpfer'hingcstellt hat, die siez» etwas zwingen, waS ihrer Natur widerstrebt, versündigen sich sehr; und es ist eine der ersten Aufgaben einer guten Erziehung, die Kinder in dem zu fördern, was der Schöpfer in sie gelegt hat. Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen (93.52.). Eine schwierige Aufgabe ist cs, zu bestimmen, in wiefern der göttliche Geist, der in Christo ohne Maß war, sich in ihm doch stufenweise entwickeln und zunehmen konnte. Wir werden diese Aufgabe nie ganz genügend lösen können. Fruchtbar dagegen für uns ist es, diese Zunahme als Ziel der Erziehung unserer Kinder zu betrachten. Sie sollen zunehmen an Weisheit, nicht bloß an Kenntnissen und Fertigkeiten, sondern an wahrer Weisheit, an Erkenntniß heilsamer, fruchtbarer Wahrheit, und sollen nicht bloß die Gunst der Menschen gewinnen, welche meistens nur

Matth. 3, 1 —12.

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nach dem trüglichen Schein und nach dem, was ihren Sinnen schmeichelt, urtheilen, sondern vorzüglich sich der Gnade Gottes, der in das Verborgene sichet, würdig machen.

Zweite Abtheilung. Matth. 3,1-4,11. Mark. 1,1-13. Luk.3,1-4,13.

AuftrittIohannes desTaufers, Je­ su Taufe und Versuchung. Matth. 3,1 — 12. Mark. 1, 1—8. Luk. 3, 1 — 20.

Auftritt

Johannes

des

Täufers.

Mit diesen Geschichten beginnt erst bei Markus das Evan­ gelium von Christus (Mark. 1.). Den Christen ist es be­ sonders wichtig zu wissen, was Jesus gelehrt, gethan und gelitten hat, weniger, welches seine Herkunft und seine Er­ ziehung gewesen; denn jenes' begründet ihr Helf. An das, was er gelehrt, sollen sie. glauben; das- was er gethan, soll ihnen Vorbild und Trost seyn. Lukas (V. 1. 2.) bestimmt den Auftritt Johannes des Täufers nach der Zeitrechnung; und zwar fiel derselbe in die Zeit der Regierung des Kaisers Tiberius, des Landpflcgeramts des Pontius Pilatus über Judaa; der Herr­ schaft der Fürsten Herodes Antipas und Philippus über die Landschaften Galiläa, Jturaa und Trachonitis, und des Hohcnpricsterthums von Annas und Kaiaphas: was auch alles wohl zusammensii'mmt; was hingegen von der Herrschaft des Lysanias über Abilcne angeführt wird, ent­ halt eine Schwierigkeit, deren Lösung wir den Gelehrten überlassen wollen. Sehr wichtig für den Glauben der

Matth. 3, 1 —12.

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nach dem trüglichen Schein und nach dem, was ihren Sinnen schmeichelt, urtheilen, sondern vorzüglich sich der Gnade Gottes, der in das Verborgene sichet, würdig machen.

Zweite Abtheilung. Matth. 3,1-4,11. Mark. 1,1-13. Luk.3,1-4,13.

AuftrittIohannes desTaufers, Je­ su Taufe und Versuchung. Matth. 3,1 — 12. Mark. 1, 1—8. Luk. 3, 1 — 20.

Auftritt

Johannes

des

Täufers.

Mit diesen Geschichten beginnt erst bei Markus das Evan­ gelium von Christus (Mark. 1.). Den Christen ist es be­ sonders wichtig zu wissen, was Jesus gelehrt, gethan und gelitten hat, weniger, welches seine Herkunft und seine Er­ ziehung gewesen; denn jenes' begründet ihr Helf. An das, was er gelehrt, sollen sie. glauben; das- was er gethan, soll ihnen Vorbild und Trost seyn. Lukas (V. 1. 2.) bestimmt den Auftritt Johannes des Täufers nach der Zeitrechnung; und zwar fiel derselbe in die Zeit der Regierung des Kaisers Tiberius, des Landpflcgeramts des Pontius Pilatus über Judaa; der Herr­ schaft der Fürsten Herodes Antipas und Philippus über die Landschaften Galiläa, Jturaa und Trachonitis, und des Hohcnpricsterthums von Annas und Kaiaphas: was auch alles wohl zusammensii'mmt; was hingegen von der Herrschaft des Lysanias über Abilcne angeführt wird, ent­ halt eine Schwierigkeit, deren Lösung wir den Gelehrten überlassen wollen. Sehr wichtig für den Glauben der

Matth. 3, 1 — 12.

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Christen sind solche Bestimmungen nicht, wie denn anch die andern Evangelisten dergleichen nicht geben. Matthaus sagt bloß: zu der Zeit, d. h. einige Zeit nach der Geburt Jesu und der Flucht nach Aegypten, obschon Johannes ge­ raume Zeit nachher (ungefähr 30 Jahre spater) ausgetre­ ten isti Johannes der Täufer trat auf in der Wüste Judäas, und

zwar in dem Theile derselben, welcher an den Jordan gränzte (Luk. 3.), und predigte die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden (Lk. 3. Mk. 4.), d.h. er federte die Menschen zur Buße auf: „Thut Buße, das Hininielreich ist nahe herbcikommen" (Matth. 2.), taufte sie zum Zeichen der Reinigung von Sünden, welche sie sich Vornahmen, im Wasser des Jor­ dans, und versprach ihnen, wenn sie ihre Sünden bekann­ ten (Matth. U.) und wahrhaft bereuten, die Vergebung derselben. Johannes sollte die Menschen zur Ankunft Christi und zur Stiftung seines Reiches vorbercitcn und ihre Her­ zen jur Empfänglichkeit stimmen; dazu gehörte aber, daß sie ihre Sünden einsahen, bekannten und bereuten, und zugleich das Vertrauen zu Gott faßten, er werde ihnen die­ selben vergeben. Um ein neues, besseres Leben zu beginnen, ist vor allen Dingen nothwendig, daß man sein frühe­ res Unrecht cinfche und bereue, aber auch, daß man den frohen Muth habe, die Besserung könne uns gelingen; und dieser Muth wird uns durch die Zusicherung der Verge­ bung der Sünden. Die Taufe oder das Untertauchen ins Wasser sollte die Reinigung von Sünden, sowohl die Reue

als die Vergebung, bezeichnen. Und er ist der, von dem der Prophet Jesaias gesagt hat und gesprochen: Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste, berei­

tet dem Herrn den Weg, und machet richtig seine Steige (Matth. 3.). Alle drei Evangelisten ver­ gleichen den Täufer mit dieser Stimme bei Jesaia 40, 3. und Lukas (V. 5. 6.) führt die Stelle noch vollständiger an: Alle Thaler sollen voll, und alle Berge und

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Matth. 3, 1 — 12.

Hügel erniedrigt, und was krumm ist, soll richtig, und was uneben, schlichter Weg (ge­

rade) werden; und alles Fleisch wird das Heil Gottes sehen. Nach Johannes 1, 23. verglich sich der Lauser selbst, als man ihn gefragt hatte, wer er sey, ob er Elias oder ein Prophet sey, mit jener Stimme bei Jesaia. Der Sinn dieser Vergleichung ist: so wie damals bei der Rückkehr des Volkes aus der Babylonischen Gefan­

genschaft, das Volk aufgcfodcrt wurde, die Gnade des Herrn, seine gnädige Erlösung, mit würdigem Herzen zu empfan­ gen: so fodcrt auch Johannes auf, sich auf die Ankunft des Herrn vorzubereiten. Der Weg, der in der Wüste be­ reitet werden soll, ist, bildlich verstanden, das Herz, das bis jetzt der Besserung unfähig, nunmehr dazu'geschickt gemacht werden soll; die Wüste, in welcher es todt und leer ist, bezeichnet den Tod des Gesctzeswesens, der Gewohn­ heit und Sünde; die Unebenheiten, welche beseitigt werden sollen, sind die dem Heil hinderlichen Gesinnungen, die fleisch­ lichen, selbstsüchtigen Neigungen, der Hochmuth', die Ver­ kehrtheit und alle Laster. Markus (V. 2.) vergleicht den Täufer übrigens noch mit dem von Malcachi 3, 1. verkün­ digten Vorläufer des Messias (Vgl. Luk. 1, 17. 76.). Er aber, Johannes, hatte ein Kleid von Kameelshaaren und einen ledernen Gürtel um seine Lenden — die Tracht der alten Propheten (2Kön. 1 z 8.) —; seine Speise aber war Heuschrecken Und wilder Honig (Matth. 4.). Er führte eine strenge, einfache Lebensart, indem er als Bußprediger auch durch sein Beispiel Eindruck auf das verderbte Zeitalter machen mollte. Nicht so Jesus, der als milder Bote des Friedens auch in seiner Lebensweise alles Rauhe und Strenge vermied (vgl. Matth. 11, 18. 19.). Matthäus (§3.5.6.) und Markus (V. 5.) erzählen nun, daß viele Einwohner von Jerusalem, aus Judäa und der umliegenden Gegend des Jordans zu Johannes hinaus gegangen, von seiner Predigt geweckt, sich haben taufen lassen und ihre Sünden bekannt haben. Dieser Erfolg, den

Matth. 3, 1 — 12.

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Johannes bei seiner Wirksamkeit hatte, setzt doch eine große Empfänglichkeit der Gemüther voraus, obschon Manche Jo­ hannes Tauft als ein Mittel angesehen haben mögen, sich auf eine leichte Art ihrer Sündenlast zu entledigen, unge­ fähr so wie man ehedem Ablaß erkaufte. Dieß merkte Jo­ hannes selbst und darum empfing er die Pharisäer und Sadducäer, die er unter den Ankommenden sah, mit dieser har­ ten Rede: Ihr Otterngezücht (Otternbrut, bösartiges Geschlecht), wer hat euch gewiesen, wie ihr dein zukünftigen Zorne entrinnen möget? Math. 7. Luk. 7.) d. h. ihr kommt wohl hicher aus Fürcht vor der künftigen Strafe Gottes, aber denkt cs euch nur nicht so leicht, ihr werdet ihr nicht so leicht entrinnen. Doch er weist sie nicht ganz ab, und will bloß ihr Herz rühren: er fordert sie nun zur wahren Buße auf. „Sehet zu, thut rechtschaffene Früchte der Buße,"(Matth.8. Luk. 8.) beweiset die Aufrichtigkeit eurer Buße durch die That. Denket nur nicht, daß ihr bei euch wollet sa­ gen: Wir haben Abraham zum Vater, und da­ rum wird uns Gott gnädiger seyn, als den Heiden. Ich sage euch: Gott vermag dem Abraham ans die­ sen Steinen Kinder zu erwecken (Matth.9. Luk.9.). Die fleischliche Abstammung von Abraham hat in Gottes Augen so wenig Werth, daß vor ihm diese Steine der Wüste eben so gut sind, als Abrahams Söhne, wenn diese nicht durch ihren innern Werth sein Wohlgefallen verdienen. Die Juden glaubten durch ihre Abstammung von Abraham nä­ here Ansprüche an Gottes Gnade zu haben, als andere Men­ schen. Ein solcher Volkswahn herrscht in ncurer Zeit nicht nrchr; aber Diele mögen darum, weil sie als Christen ge­ tauft sind, Ansprüche an das Reich Gottes und an die ewige Seligkeit zu haben glauben, und sind in einem ähnlichen Irrthum. Alle äussere Vorzüge sind vor Gott nichtig; er sichet allein das Herz an. Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt: darum, wel­ cher Baum nicht gute Früchte bringt, der wird abgehauen, und ins Feuer geworfen (Matth. 10. Bibl. Erbauungsb. II. D

50

Matth. 3, 1 — 12.

Luk. 9.). Das ist jene göttliche Strafe, welcher dieUnbußfer« tigctt nicht entrinnen werden. Alles Böse führt seine Strafe mit sich, und ist, wie ein Baum, der zum Abhauen bestimmt ist, zum Verderben bezeichnet, mag dieses nun früher oder spater, in diesem oder jenem Leben, eintrcffcn. Das mögen

sich diejenigen gesagt seyn lassen, welche durch irgend eine thörigte Einbildung von Vorzügen sich in fleischliche Sicher­ heit einwiegcn lassen, und nicht an die Besserung ihres Her­ zens und Lebens denken! Lukas 10 —14. hat uns noch einige Reden des Täufers aufbcwahrct, als Proben seiner an Einzelne in Beziehung auf ihre Lebensvcrhaltnisse gerichteten Ermahnungen. Das Volk fragte ihn: was sollen wir denn thun? Es wollte wissen, welche Früchte der Buße es bringen sollte. Er antwortete und sprach zu ihnen: Merzween Röcke hat, der gebe dem, der keinen hat, und

wer Speise hat, thue auch also. Wohlthätigkeit fodert Johannes als Beweis der besseren Gesinnung; aber eben aus Gesinnung soll sie hervorgchen, und nicht ein bloß äußerliches Werk seyn, womit man den Zorn Gottes zu besänftigen und sich von der Strafe loszukaufen sucht. Den Zöllnern, welche sich taufen ließen, und ebenfalls fragten, was sie thun sollten, antwortete er: Fordert nicht mehr Zoll, denn gesetzt ist. Sie sollten nicht, wie sie wohl oft zu thun pflegten, sich mehr bezahlen lassen, als sie durch die Zollgefetze berechtigt waren: also durch Gerech­ tigkeit sollten sie ihre Buße beweisen. Den Kriegslcuten sagte er: Thut niemanden Gewalt noch Unrecht durch Plünderung und Erpressung, und laßt euch be­ gnügen an eurem Solde. Also durch Gerechtigkeit und Gnügsamkeit sollten diese ihre Buße beweisen. Die gute Gesinnung ist in ihrer Quelle eine, in ihren Aeußerun­ gen aber verschieden, je nachdem die Verhältnisse des Lebens verschieden sind. Als das Volk im Wahne, in der Erwartung, war, und alle in ihren Herzen dachten, ob er vielleicht Christus wäre (Luk. 15.), lehnte er diese

Matth. 3, 1 —12.

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Ehre ab, so wie er cs auch in der Antwort an die Botschaft

des hohen Rathes der Juden that (Joh. 1, 19 ff.), und sprachr Ich taufe euch mit Wasser zur Buße; der aber nach mir kommt, ist starker, denn ich, dessen Schuhe zu tragen ich nicht tauglich bin: der wird euch mit dem heiligen Geist und mit Feuer taufen (Matth. 11. Mark. 7. 8. Luk. 16.). Johannes ermahnte nur jur Buße mittelst des Sinnbildes der Taufe, ohne den Menschen einen neuen Geist einhauchen zu können: dieß konnte erst der stärkere, mit höherer Kraft und Gewalt begabte Jesus, dem sich Johannes so sehr unterord­ nete, daß er gestand, er sey nicht einmal tauglich sein Diener zu seyn (denn die Diener trugen den Herrn die Schuhsohlen nach, oder lösten sie ihnen qb, wie Lukas und Markus sagen, wenn sie in das Zimmer traten und die staubigen Sohlen au­ ßen ließen): Christus wird die innere Umwandlung und Sin­ nesänderung vollbringen mittelst des Geistes. Auch wird er mit Feuer taufen, d. h. er wird die Läuterung der Mensch­ heit, die Reinigung vom Bösen vollbringen, wie das Fol­ gende naher angibt. Und er hat seine Wurfschau­ fel in seiner Hand; er wird seine Tenne fegen, und den Weizen in seiner Scheune sammeln, aber die Spreu wird er verbrennen mit ewi­ gem Feuer (Matth. 12. Luk. 17.). Der Weizen ist das Gute, das Gott Wohlgefällige, was im Reiche Gottes eine Stelle findet; die Spreu ist das Böse, das Nichtswürdige, das Gott Mißfällige, welches im Reiche Gottes nicht beste­ het und darum seinen Untergang findet. Und diese Schei­ dung hat Christus schon in dieser Welt begonnen, und wird sie einst in jener ganz vollenden. Durch das Evangelium und dessen geistige Kraft wurde das Böse aus der Menschheit ausgewurzelt, dessen Kraft gebrochen und der Sieg des Guten wenigstens vorbereitet. Und viel anderes mehr vermahnete und verkündigte er de in Volke. Herodcs aber, der Vierfürst, da er von ihm gestraft (getadelt) ward um Herodias, des Weibes seines BruD 2

52

Matth. 3, 13 — 17.

ders, und um alles Uebels willen, das er that, legte er über das alles Johanne in ge­

fangen (Luk. 18 — 20.). Hcrodes nahm das Weib sei­ nes Bruders, gegen alle göttlichen und menschlichen Rechte,

durch offenbaren Ehebruch, zur Ehe, und deßwegen tadelte ihn Johannes, erntete aber auch dafür den Lohn, den die Wahrhaftigkeit so oft findet: er ward gefangen genommen, und, wie wir spater bei Matth. 14. lesen werden, enthaup­ tet. Kurz, aber bedeutsam ist die Laufbahn des Täufers: es ist die Stimme eines Redners in der Wüste, die aber von Wenigen gehört, von Wenigeren recht beherzigt und benutzt und von den verstockten Sündern mit Unwillen gehört und durch blutige Gewalt zum Stillschweigen gebracht wird.

Matth. 3, 13—17. Mark. 1, 9 — 11. 21 — 38. vgl. Joh. 1, 32 — 34.

Luk. 3,

Jesu Taufe.

Zuber Zeit kam Jesus aus Galiläa an den Jordan zu Johannes, daß er sich von ihm tau­ fen ließe. Johannes aber wehrte ihm und

sprach: Ich bedarf von dir getauft zu wer­ den; und du kommst zu mir? (Matth. 13. 14.) Jesus ordnete sich dem Johannes gewissermaßen unter, in­ dem er sich von ihm taufen ließ; denn es war schicklich, daß der Weisere und Frömmere diejenigen ermahnte und taufte, welche das Bedürfniß geistlicher Erweckung und Be­ lehrung fühlten; Johannes aber erkannte Jesum, wenn auch noch nicht für den Messias, so doch für weiser und frömmer. Johannes war, wie alle wahrhaft weisen und frommen Manner, bescheiden, und erkannte gern das Ue« bcrgcwicht Anderer. Jesus aber antwortete und sprach zu ihm: Laß es jetzt! also gebühret es uns alle Gerechtigkeit zu erfüllen. JstJohannes bescheiden, so ist es Jesus noch viel mehr. Ob er schon der Messias ist und es ihm ziemt, Andere ins Reich Got­ tes einzuführen und cinzuweihcn, nicht selbst erst eingewei-

Matth. 3, 13—17.

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hct zu werden: so unterwirft er sich doch selbst diesem Lautcrungs- und Einweihungs-Gebräuche; er hielt cs für seine Pflicht, alles, was zur Gerechtigkeit gehört, was ei­ nem Menschen zum Heil förderlich seyn kann, auch für sich selbst zu benutzen, Andern voran zu gehen mit dem Beispiel der pflichtmäßigen Erfüllung dessen, was gerecht, fromm und gottselig ist. So wie ein König sich zuerst den Gesetzen seines Reiches unterwerfen und der erste Bürger an Gerech­ tigkeit und Tugend seyn soll: so Jesus im Reiche Gottes. Diese Demuth hat ihn erhöhet. Weil er sich seiner Hoheit begebend, dem sich unterzog, was dem geringsten Sünder geziemte, so wurde er dafür zum Haupt des Reiches Gottes erhöht, und in seine Hand die' Macht gelegt, die Men­ schen zur Seligkeit zu führen. Da ließ er es ihm zu (Matth. 15.), Johannes gab nach, und so wurde Jesus

getauft. Und da Jesus getauft war, stieg er als­ bald herauf aus dem Wasser; und siehe! da that sich der Himmel auf über ihm, und er sah den Geist Gottes, gleich einer Taube, her­ abfahren, und über ihn kommen (Matth. 15. Mark. 10. Luk. 21. 22.). Die Taufe, welche bei Andern nur ein Mittel der Sinnesänderung und Sündenvergebung war, hatte für Jesus, den Reinen und Heiligen, die Folge, daß er mit dem Geiste Gottes begabt und mit der göttlichen Kraft erfüllt wurde, das Reich Gottes auf Erden zu stiften. (Vgl. Joh. 1, 32 — 34. und die Anmerkung dazu.) Und siehe! eine Stimme vom Himmel herab sprach: Dieß ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe (Matth. 17. Marc.11. Luk.22.). Jesus und der Täufer erhielten durch göttliche Offenbarung die Gewißheit, daß Gott ihn, den Demüthigen, den Rei­ nen, auserkoren habe, sein Reich auf Erden zu stiften, sei­ nen Willen auf Erden zu vollbringen. Gott hatte Wohlge­ fallen an Jesu Demuth, und gab ihm ein Zeichen seines Bei­ falls, das ihn ermuthigte und mit der Kraft ausrüstcte, sein Werk zu beginnen. — O möchte jeder, der in die

54

Matth. 4, 1 — 11.

christliche Kirche tritt, der ein Amt, einen neuem Lebens­ abschnitt beginnt, so, wie Jesus, des göttlichen Wohlgefal­ lens vcrstchert, so, wie er, mit dem nöthigen Kräften aus­ gerüstet seyn! Hierbei bemerkt Lukas noch V. 23 ff., daß Jesus un­ gefähr dreißig Jahre alt gewcfen sey, als er sein Lehramt angefangen, und gibt dann Jesu Stammtafel, die jedoch, wie schon bemerkt, von der bei Matthaus 1. abweicht. Matth. 4, 1 — 11. Mark. 1, 12.13. Lu ft 4, 1 — 13.

Jesu Versuchung. Da ward Jesus vom Geist in die Wüste ge-

führet, auf daß er von dem Teufel verfucht würde (Matth. 1. Mark. 12. Luk. 1.). Jesus verspürte

einen innern Trieb, den der Geist Gottes in ihm weckte, die Einsamkeit zu suchen, um sich in heiligen Betrachtungen auf sein Lehramt vorzubcreiten. Hierbei ward ihm zugleich eine Prüfung bereitet: ihm ward die Wahl gestellt, ob er den Beweggründen des Bösen Gehör geben und sich. desscmDicnste

weihen, oder ob er Gott und dem ihm aufgctragenen Werke getreu bleiben wollte. Von dieser Prüfung erzählte Jesus seinen Jüngern wahrscheinlich späterhin selbst, und aus sei­

nem Munde berichten sie die Evangelisten. Die Art der Prüfung ist wunderbar und übernatürlich. Der Teufel führt Jesum einmal auf die Zinne des Tempels, dann wie­ der auf einen hohen Berg: dieß kann so in den gewöhnli­ chen Verhältnissen der Dinge nicht geschehen seyn, eine übernatürliche Kraft muß Jesum von einem Ort zum andern getragen haben. Da wir aber den Heiland sonst ganz den Gesetzen der Natur unterworfen sehen, so hat Manchen die Annahme besser gefallen, daß er sich bei seiner Erzählung der bildlichen Lehrart bedient habe, um das, was mit ihm bei jener Prüfung vorgegangen, anschaulicher und eindrück­ licher zu machen, und daß wir also nicht alles wörtlich und eigentlich zu verstehen hatten. Wie dem auch seyn mag, es reicht uns hin zu wissen, baß Jesus versucht und dadurch

Matth. 4, 1 — 11.

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zur Führung seines Amtes vorbereitet worden ist. Er ward versucht allenthalben, gleich wie wir, doch ohne Sünde (Hebr. 5, 15.), damit er Mitleid mit un­ serer Schwachheit haben und uns als Vorbild dienen könnte. Und da er vierzig Tage und vierzig Nachte gefastet hatte, hungerte ihn (Matth. 2. Luk. 2.). Während der frommen Betrachtungen, die er anstcllte, ver­ gaß er der Speise und des Trankes, auch bot ihm die Wüste nichts zu essen dar. Vierzig Tage bezeichnen eine lange Zeit; es ist eine in der Schrift übliche runde Zahl (2 Mos. 34, 28. 1 Kön. 19, 8.), die nicht buchstäblich zu verste­ hen ist. Und der Versucher trat zu ihm, und sprach; Bist du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brod werden (Matth. Luk. 3.). Der Versucher faßt Jesum von zwei Seiten, um ihn von der Bahn des Rechten abzulocken. Er erinnert ihn an seine hohe Wurde als des Sohnes Gottes, indem er sie halb in Zweifel zieht: B.st du Sohn Gottes, will er sagen, so beweise es, so zeige dich als solchen. Zugleich erinnert er ihn an die Noth, in der er sich befand, wodurch seine fleisch­ liche Natur unangenehm berührt wurde. Von dieser Seite

war Jesus ganz Mensch, mithin auch versuchbar; besonders aber konnte die Selbstsucht dadurch in ihm rege werden, daß man ihm vorstcllte, daß es des Sohnes Gottes ganz unwürdig sey, Noth zu leiden. An diesen zwei Seiten, der fleischlichen Schwäche und dem Selbstgefühl oder dem Stolze, sind alle Menschen am reizbarsten. Wären wir bloß dem Gefühle des Bedürfnisses unterworfen, so würden wir, wie die Thiere, der Nothwendigkeit gehorchend, leiden, was zu leiden ist; aber der Stolz reizt uns, die Entbeh­ rung als etwas uns Entehrendes oder als ein an uns be­ gangenes Unrecht anzuschcn, und uns gegen die Nothwen­ digkeit zu empören. Der Mensch urtheilt dann gewöhnlich so, wie hier der Versucher: wie? du, der Vortreffliche, der Vornehme, der Ausgezeichnete u. s. w., solltest diese Noth leiden, solltest dich in dieser unangenehmen Lage be­ finden? — Durch diese Beweggründe sucht nun der Ver-

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Matth. 4, 1 — 11.

facher Jesum dazu zu bringen, daß er etwa^ Unziemliches thue: er soll die in ihm liegenden hohem Kräfte zur Befrie­ digung seiner Selbstsucht gebrauchen; er soll ein Wunder thun, damit er zu essen habe, Steine in Brod verwandeln. Christus hat nie ein Wunder gethan zu seinem Nutzen oder zu seiner Ehre; auch hatte er die hohem Geisteskräfte nicht dazu erhalten, sondern zum Wohlthun und um die Menschen zum Glauben zu erwecken. Sobald man höhere Gaben des Geistes Zur Befriedigung der Selbstsucht gebraucht, so ent­ weiht man sie, und gewöhnlich werden sie auch ihre Kraft und Fülle verlieren; sic gehören der höheren Natur des Gei­ stes an, und mässen daher auch höheren Zwecken, den Zwe­ cken des Reiches Gottes, dienen, müssen mit Liebe, Hin­ gebung und Begeisterung gebraucht werden, oder sie werden in sich selbst gestört und unterdrückt. Wer j. B. die Gabe der Wissenschaft empfangen hat, und sie nur zu selbstsüchti­ gen Zwecken anwcndet, dem wird sich bald das Licht der Wahrheit verdunkeln, und er wird unwissend, ja schlimmer als unwissend werden. — Jesus wurde aber vom Versu­ cher noch dazu aufgefordert, vermöge seiner höhcrn Kräfte ungewöhnliche, übernatürliche Mittel zur Befriedigung sei­ ner Selbstsucht zu gebrauchen; und dieß zu thun, wäre noch mehr Unrecht gewesen. Ist es schon verwerflich, wenn Menschen ihre höheren Geistesgaben zu selbstsüchtigen Zwe­ cken gebrauchen: so ist es noch tadelnswerther, wenn sie dadurch sich außerordentliche Wege zu ihrem Glücke zu öffnen

trachten, und so noch mehr und angelegentlicher ihrer Selbst­ sucht dienen. Jesus antwortete und sprach: Esstehet geschrieben (5 Mos. 8, 3.): Der Mensch lebet nicht vom Brod allein, sondern von allem, das aus dem Munde Gottes hervorgeht*), d. h. was Gott durch seine Allmacht hervorbringt oder herbeiführt (Matth. 4. Luk. 4.). Die von Christo angeführte Schrift-

*) Luther zu wörtlich: von jeglichem Wort, das durch den Mund Gottes gehet.

Matth. 4, 1—11.

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stelle bezieht sich auf die Gabe des Manna, wodurch der Noth der Israeliten in der Wüste abgeholfen wurde, und woraus die Lehre zu ziehen ist, daß der Mcnfch in der Noth, wenn ihm die gewöhnlichen Mittel des Unterhalts abgchcn, nicht verzagen, sondern auf die Allmacht Gottes vertrauen soll, welcher wohl noch andere Mittel finden kann, ein Men­ schenleben zu retten. Dieses Vertrauen, welches ruhig und sorglos macht und alle Einflüsterungen der Selbstsucht zum Schweigen bringt, setzt Jesus der Versuchung entgegen, in­ dem er sagen will: ich brauche nicht in meiner Verlegenheit zum Mißbrauche meiner Wundcrkräfte Zuflucht zu nehmen, Gott wird schon Mittel finden, mir zu helfen. Dieses Ver­ trauen ziemt einem Christen immer, besonders aber in schwie­ rigen Lagen des Lebens, da, wo alle Hülfs- und Rettungs­ mittel erschöpft zu seyn scheinen; und durch dieses Vertrauen wird er vor jedem falschen Wege bewahrt werden. Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt, und stellte ihn auf die Zinne des Tempels, (von wo man in eine grausende Tiefe hinabsah) und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so laß dich hinab: denn es steht geschrie­ ben (Ps. 91, 11. 12.): Er wird seinen Engeln deinetwegen gebieten, und sie werden dich auf den Händen tragen, auf daß du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest (Matth. 5. 6. Luk. 9 —11.). Der Versucher will nochmals Jesu Stolz rege machen, indem er sagt: Bist du Gottes Sohn, und will ihn dadurch zu einem thörichten Wagstücke verleiten:

er soll sich dadurch als Sohn Gottes beweisen, daß er im Vertrauen auf Gottes Hülfe sich mit thörichter Vermessenheit und Tollkühnheit in eine augenscheinliche Gefahr begibt. Dazu könnte ihn nur der Ehrgeiz, nicht das Bedürfniß ver­ mögen; es wäre aber doch auch die Selbstsucht, der er so nachgabe, nämlich die Begierde, seiner Person eine außer­ ordentliche Bewunderung zuzuwenden. Um ihn nun zu die­ sem tollkühnen Schritte zu bewegen, bedient sich der Ver­ sucher derselben Waffe, mit welcher er die erste Versuchung

58

Matth. 4, 1 — 11.

abgeschlagen hat. Er führt ebenfalls eine Schriftstelle an, und zwar gerade eine solche, welche lehrt, daß man auf Gottes Schutz vertrauen soll, mißbraucht sie aber, indem sie von dem Vertrauen spricht, das man in der Noth bewei­ se» soll, in die man ohne seine Schuld gerathen ist, nicht von einem solchen, das zur Vermessenheit und Tollkühnheit verleitet, wozu er Jesum verführen will. Da sprach Jesus zu ihm: Wiederum stehet auch geschrie­ ben (5Mos.6, 16): Du sollst Gott deinen Herrn nicht versuchen (Matth. 7. Luk. 12.). Gott versucht man, indem man ihn durch Ungeduld und Murren in der Noth, wie die Israeliten oft in der Wüste thaten, oder durch tollkühne, gewagte Unternehmungen hcrausfodcrt, außerordentliche Hülfe zu leisten und Wunder zu thun, und ihn gleichsam auf die Probe stellt, ob er auch mächtig genug sey, zu helfen. Christus würde ihn versucht haben, wenn tr sich ohne Noth von dieser schwindelnden Höhe herab in die Tiefe gestürzt und überhaupt bei seiner messianischen Wirk­ samkeit Dinge unternommen hatte, die er ohne einen au­ ßerordentlichen Beistand Gottes nicht hatte ausführen kön­

nen. So versuchten Gott jene falschen Propheten und Messiasse, welche nach Jesu anftratcn, das Volk zum Auf­ ruhr aufwiegcltcn und ihm eine außerordentliche Hülfe von Gott verhießen. Einer derselben beredete eine große Menge Volkes, mit ihm auf den Oclberg zu gehen, wo sic die Mauern Jerusalems auf seinen Befehl einstürzen sehen und die Römer leicht daraus vertreiben würden. Vortrefflich widerlegt nun Jesus das Vorgeben des Versuchers, daß man im Vertrauen auf Gott Alles wagen dürfe, indem er an diese Schriftstelle erinnert. Sie schrankt jene vom Ver­ sucher angeführte ein, oder weist ihr die rechte Bedeutung an. Man soll Vertrauen zu Gott haben, aber kein ver­ messenes, unvernünftiges, man soll dabei bedenken, daß man

ihn nicht versuchen darf. Wir können ebenfalls Gott versuchen, wenn wir, unsre Kräfte nicht berechnend und die Umstande nicht erwägend, ohne Klugheit und Besonnenheit etwas unternehmen, was

Matth. 4, 1 — 11.

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uns in Gefahr bringen kann; wenn wir, gleichsam auf den Beistand und Segen Gottes pochend, tollkühn vorwärts in das Dunkel gehen, wo mancherlei Gefahren unser warten können, oder wenn wir uns in einen Abgrund hinabstürzcn, in welchem wir, ohne ein-Wunder, untergchen müssen. Wir sollen zwar auf Gottes Hülfe hoffen, aber nur in den­ jenigen Lagen des Lebens, in welche uns in der Ausübung unseres Berufes, bei vernünftigen, pflichtmaßi'gcn Be­ mühungen und Unternehmungen, die göttliche. Vorsehung

geführt hat; wir sollen Muth undVertrauen, aber keine Ver­ messenheit und Tollkühnheit haben. So weit versuchte der Versucher Jesum in Ansehung der Mittel, welche er als Messias zur Erreichung seiner Zwecke ans Erden auwendxn sollte; er suchte ihn zum selbst­ süchtigen Mißbrauche .seiner hoher» Kräfte und zum toll­ kühnen Vertrauen auf Gottes Beistand zu verleiten r setzt aberstellte er ihn auch in Ansehung der Zwecke selbst auf die Probe- Vorher suchte er ihn auf falsche Wege zu leiten, die ihn zu seinem Ziele zu führen scheinen konnten) jetzt will er ihn von dem rechten Ziele selbst abwendig machen. Wied.erum führte ihn der Teufel auf einen sehr hohen Berg, und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit; und sprach zu ihm: Dieß alles will ich dir geben, so du nieder fällst und mich anbetest (Matth. 8. 9. Luk. 5 — 7.). Er will ihn durch die ttügcrische Vor­ spiegelung der ihm zu ertheilenden Weltherrschaft dazu ver­ leiten, Gott und seinem Dienste untreu zu werden und sich ihm und seinem Dienste zu ergeben; anstatt Gottes Willen zu erfüllen, Gottes Werk zu vollziehen, Wahrheit, Ge­ rechtigkeit und Gottseligkeit zu verbreiten, das Reich Gottes unter den Menschen zu stiften, soll er sich den entgegenge­ setzten Zwecken widmen, Böses thun und befördern, sich mit den Bösen verbinden und deren Begierden befriedi­

gen, um die Herrschaft der Welt zu erlangen und ihrer Herrlichkeit zu genießen, um als ein weltlicher König in Glanz, Pracht und Wollust zu herrschen. Daß der Meß-

60

Matth. 4, 1 — 11.

stas ein weltliches Reich stiften werde, war die beinahe -allgemeine Erwartung der Zeitgenossen Jesu; zu weltlicher Macht gelangt man aber selten oder nie auf dem Wege der Gerechtigkeit, durch Anwendung bloß guter Mittel, sondern fast immer wird dazu List, Gewalt, Unrecht und Unredlich­ keit führen. Gab Jesus den Erwartungen seiner Zeitge­ nossen nach, und ließ sich von dem Reize der Herrschaft ver­ führen r so war damit auch seine Abtrünnigkeit von Gott entschieden, und er trat in den Dienst des Teufels. Mit Abscheu verwarf Jefus diesen Antrag. Hebe dich weg von mir, Satan, sprach er; denn es stehet geschrieben (5Mos. 6, 13.): du sollst an­ beten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen. Er war entschlossen, seinem himmlischen Vater, und dem, was dieser ihm aufgctragen, treu zu bleiben; dem Guten wollte er dienen, nicht dem Bösen, in Gottes heili­ gem Dienste wollte er lieber das Kreuz tragen, als im Dienste des Satans in weltlicher Lust und Herrlichkeit leben. -Ohne zu wanken, ohne unentschlossen sich halb dahin und halb dorthin zu neigen, ohne einen Mittelweg einzuschlagcn, der ihn zu weltlicher Lust und Freude und doch nicht ganz zum Bösen zu führen hatte scheinen können, ohne mit dem Fürsten dieser Welt sich irgend in einen Vertrag einzulasscn, weist er seinen Antrag ganz entschieden ab. Viele, ja vielleicht Alle, an Jesu Stelle, würden, wenn sic auch das Gute gewollt hatten, doch auch einigermaßen ihr zeitliches Glück mit dem Wohle des Ganzen zu vereinigen gesucht, und die sich darbietende Herrlichkeit der Welt nicht ganz von der Hand gewiesen haben. Aber dann hatten sie schon den einen Fuß in die Schlinge des Dösen gesetzt, und bald würde er auch den andern hineinzuzichen gewußt haben. Gibt man der Selbstsucht, der Sinnenlust nur ein Wenig nach, so betritt man schon den Weg der Sünde; spielt man mit ihr, so wird ba.ld Ernst daraus. Diese Entschlossen­ heit, welche Jesus hier beweist und die er wahrend seines ganzen Lebens bewies, ist die einzige wahre Schutzwachterin der Tugend. O möchte sie uns nie verlassen, möchte uns

Matth. 4, 1 — 11.

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immer der gute, starke Wille zur Seite stehen, wenn zwi­ schen 8cm Guten und Bösen zu wählen ist, damit wir uns nie zu diesem neigen! Da verließ ihn der Teufel (Matth. 11. vgl. Luk. 13.). Entschlossenheit, entschiedene Festigkeit kürzet den Kampf ab, und führt schnell zum Siege, wahrend das Schwanken den Kampf verlängert, die Kraft des Wider­ standes schwächt und sich mit der Niederlage endigt. Der Versucher stand alsbald von Jesu ab, da er merkte, daß in seine reine Seele auch nicht der kleinste Reiz der Sünde Eingang fand. Und siehe, da traten die Engel zu ihm und dieneren ihm (Matth. 11.). Durch den tSieg, den das Gute über das Böse davon trägt, wach­

sen ihm die Kräfte, und im Gefolge des Sieges ist ein er­ hebendes, wohlthucndcs Gefühl, welches die Anstrengung belohnt. So brachten die Engel Christo göttliche Kräfte und das Gefühl himmlischer Seligkeit; nachdem er die ge­ fährliche Nähe des Bösen glücklich bestanden, befand er sich in der stärkenden beseligenden Nähe der guten, himmlischen Geister. So verspricht auch uns jeder Sieg einen Zuwachs an Kraft und den herrlichen Lohn eines guten Gewissens und des göttlichen Wohlgefallens.

Dritte Abtheilung. Matth. 4, 12—18, 35. Mark. 1, 14—9, 50. Luk. 4, 14 — 9, 50.

Jesu Wirksamkeit bis zu seiner letz­ ten Reise nach Jerusalem. Matth. 4, 12 — 17.

Mark. 1, 14. 15. Luk. 4,14.15.

Jesus beginnt zu lehren. Da nun Jesus hörete,

daß Johannes über-

antwortet war (vgl. Luk. 3, 19. 20.), zog er in das galiläische Land (Matth. 12. Mark. 14.). Er ging der Gefahr, die auch ihm drohcte, aus dem Wege, um nicht früher, als er sein Werk begonnen und vollendet, weg­ gerafft zu werden. Er sucht die Gefahr nicht muthwillig auf. Und verließ die Stadt Nazareth, kam und wohnete zu Kapernaum, die da liegt am See (Genncfareth), an den Grenzen Sebulon und Naphthali (Matth. 13.). Er fand in seiner Vaterstadt keine Empfänglichkeit und keinen Glauben (wovon gleich nachher Lukas einen Beweis gibt), und darum wählte er sich einen andern Wohnort. Matthaus weist in dieser Wahl Kapcrpernaums zum Wohnort die Erfüllung einer Wcißagung des Jcsaia (9,1 f.) nach: Das Land Sebulon und das Land Naphthali am Wege des Seees, jenseit des Jordans, Galiläa der Heiden, das Volk, das im Finstern saß, hat ein großes Licht ge­ sehen, und die da saßen am Ort und Schatten des Todes, denen ist ein Licht aufgegangen (Matth. 14 —17.). Der Prophet weißagt, daß auf die

Luk. 4, 16—31.

63

damalige Zeit des Unglücks und der Schmach, welche das Volk Israel, besonders in den nördlichen Gegenden des Landes (welche den Einfällen der Heiden besonders ausge­ setzt waren), zu leiden hatte, eine Zeit der Erlösung und des Glückes folgen sollte, herbeigeführt durch einen Spröß­ ling des Hauses Davids, und daß alsdann selbst jene so unglücklichen Gegenden zu Glück und Ehre erhoben werden sollten. Und wirklich, ward nun der Landschaft Galilaa zu­ erst das Glück zu Theil, die Predigt des Evangeliums zn vernehmen, und den Erlöser feine heilsame Wirksamkeit ent­ falten zn sehen. Von der Zeit an fing Jesus an zu predi­ gen und zu sagen: Thut Buße, das Himmel­ reich ist nahe herbeigekommen (Matth. 17.Mk. 15.). Er fodcrte nun ebenfalls, wie Johannes, zur Buße und Sinnesänderung auf, und kündigte die große Verwandlung der Dinge an, die er zu bereiten gekommen war, jedoch ohne noch sich selbst als Messias zu erkennen zu geben. Er lehrte in ihren Schulen, und ward von je­ dermann gepriesen (Luk. 15.).

Luk. 4, 16 — 31.

Jesus

v,on den

Nazarethanern verwarfen.

Lukas erklärt uns nun, warum Christus seine Vaterstadt verließ. Und er kam gen Nazareth, da er er­ zogen war, und ging in die Schule nach sei­ ner Gewohnheit am Sabbathtage, und stand auf, und wollte lesen (V. 16.). In den Schulen oder Synagogen der Juden war es am Sabbath gewöhnlich, Abschnitte aus dem Gesetz und den Propheten vorzulesen, und es stand damals noch einem Jeden frei, den Vorleser und Erklärer zu machen. Da ward ihm das Buch des Propheten Jesaia gereichet. Und da er das Buch aufrollete*) (die Bücher waren damals, wie bei den Juden zum Theil noch jetzt, auf großen Häuten

) Luther falsch: herumwarf.

64

Lnk. 4, 16 — 31.

geschrieben und zusammengerollt), fand er den Ort (Jes. 61, 1.2.), da geschrieben siehet: der Geist des Herrn ist bei mir, derhalben er mich gesalbt (gewcihet) und gesandt hat, den Elen­ den Frohes*) zu verkündigen, die zerstoße­ nen Herzen zu heilen, den Gefangenen Frei­ heit zu predigen, und den Blinden das Gesicht, und die Geschlagenen in Freiheit zu setzen**), und ein Gnaden-Jahr **') des Herrn auszu­ rufen (V. 17—19.). Es war dieß eine bedeutsame Stelle, welche von dem Heile handelt, welches Gott seinem Volke angedeihen lassen wollte, von der Erlösung des­ selben aus seinem Elende. Die Elenden, die zerstoßenen Herzen, die Gefangenen, die Blinden, die Geschlagenen sind die Israeliten in der babylonischen Gefangenschaft, de­ nen der Prophet Errettung verkündigen soll. Und als

er das Buch zuthat, gab er es dem Diener, und setzte sich. Und aller Augen, die in der Schule waren, sahen auf ihn. Und er fing an, und redete zu ihnen: Heute ist diese Schrift erfüllet vor euren Ohren (B. 20. 21.). Er legte ihnen nun die Schrift aus, und zeigte, daß sie an ihnen in einem höheren, geistigen Sinne in Erfüllung gehe, daß heute vor ihnen der;enige erschienen sey, den Gott mit seinem Geiste begabt und zu seinem Gesandten geweihet habe, daß er ihnen die Heilsbotschaft der Erlösung bringe, daß er den durch ihre Sünden Elenden Buße und SündcnVcrgebung, den von Gefühl der Schuld gedrückten und zerstoßenen Herzen Trost und Erquickung, den in Sünden Gefangenen, von den Fesseln der bösen Begierden und Gewohnheiten Gehaltenen, den von der Macht des Bösen zu Boden Geschlagenen, Freiheit durch die Kraft des Gei­ stes, den Blinden, den im Geiste verfinsterten, den im

*) Luther zu bestimmt: das Evangelium. ♦♦) L. die Zerschlagenen, daß sie frei und ledig seyn sollen. ♦♦♦) L. wörtlich: das angenehme Jahr.

Luk. 4, 16—31.

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Irrthum Wandelnden, Licht und Weisheit zu verkündigen und zu ertheilen, und überhaupt eine Gnadenzeit des Herrn, die.Gelegenheit, sich mit Gott zu versöhnen, auszurufen bestimmt sey. Und alle gaben ihm Beifall, und wunderten sich der holdseligen Worte, die aus seinem Munde gingen, und sprachen: Ist das nicht Josephs Sohn? (V. 22.) Der erste Eindruck,, den Jesu Rede auf die Nazarethaner machte, war günstig; sic konnten der Gewalt der Anmuth, mit welcher er sprach,

nicht widerstehen; aber ihre Verwunderung, daß der Sohn Josephs, ihr Landsmann, so reden könne, hatte schon

keine gute Quelle, und war mit Zweifel gemischt: sic konn­ ten nicht begreifen, wie der Sohn Josephs zu solcher Weis­ heit gekommen sey (vgl. Matth. 13, 54 ff.). Etliche moch­ ten auch denken, er soll Wunder thun und seine Sendung beweisen, wie man aus Jesu Rede schließen kann. Und er sprach zu ihnen: Ihr werdet freilich zu mir sagen dieß Sprüchwort: Arzt, hilf dir selber (hilf den Deinigen). Was wir gehört, daß du in Kapernaum gethan, das thue auch hier in deiner Vaterstadt (V. 23.). JnKapernaum hatte er Wunder gethan, und er sollte auch deren in Nazareth thun. Er aber sprach: Wahrlich, ich sage euch: Kein Prophet ist wohl ausgenommen in sei­ nem Vaterlande (V.24.). Er gibt den Grund an, warum er in Nazareth keine Wunder thue, nämlich ihres Unglaubens wegen (vgl. Matth. 13, 58.), weil sic ihn nicht als Propheten und Gottesgesandten anerkannten. Es ist ein gemeiner Fehler der Menschen, das Einheimische gering zu achten, weil es ihnen alltäglich geworden ist, und sich lieber dem Neuen und Fremden siuzuwcndcn. In Wahr­ heit sage ich euch: Es waren viele Witwen in Israel zu Eliä Zeiten, da der Himmel ver­

schlossen war drei Jahre und sechs Monate, da eine große Theurung war im ganzen Lande; und zu deren keiner ward Elias gesandt (um Dibl. Erbauungsb. II.

E

66

Luk. 4,31 —37.

Hälfe ju bringen), denn allein gen Sarepta der Sidoniec ju einer Witwe (deren Mehlkastcn und Oclkrug so lange nicht versagte, als der Prophet bei ihr war IKön. 17, 9 ff.). Und viele Aussätzige wa­ ren in Israel zu des Propheten Elisa Zeiten; und deren keiner ward gereinigt, als allein Naeman aus Syrien (2Kön. 5, 14.). (D.25—27.) Wegen des Unglaubens der Israeliten thaten die Propheten des A. T. ihre Wunder im heidnischen Lande, an Heiden: so that auch Jesus keine Wunder unter seinen Mitbürgern wegen ihres Unglaubens. Und sie wurden voll Zorn alle, die in der Schule waren, da sie das hörten (V. 28.). Cs beleidigte ihren Stolz, daß Jesus ihnen Unglauben vorwarf, und sie mit Heiden verglich. Das ist die schlimmste Art von Unglauben, welche ihre Quelle im Hochmuth hat, und keinen Tadel verträgt. Und sie standen auf, und stießen ihn zur Stadt hinaus, und führten ihn auf einen Hügel des Berges, darauf ihre Stadt gebaut war, daß sie ihn hinab stürzten. Aber er ging mitten durch sie hinweg (V. 29.). Fast hätten sie das entsetzliche Verbrechen begangen, Jesum unizubringcn. So weit kann der Unglaube und Hochmuth führen! O hüten wir uns vor einer solchen Gesinnung! bewahren wir uns die Empfänglichkeit für das Gute, und nehmen wir einen, selbst harten Tadel stets mit Demuth auf, daß wir in »ns gehen und unsre Fehler erkennen, damit nicht das HeU, wie von den Nazarethancrn, von'«ns weiche! Luk. 4, 31 — 37. Mark. 1, 21 — 28. Heilung eines Besessenen zu Kapernaum.

Und er kam gen Kapernaum in die Stadt Galiläas, und lehrrte sie an den Sabbathen. Und sic verwunderten sich seiner Lehre, denn seine.Rede war gewaltig (Lk.31.32. Mk.21.22.).

Luk. 4, 31 — 37.

67

Es offenbarte sich in seiner Rede die in die Herzen dringende Kraft des Geistes. Er lehrte gcwaltiglich, sagt Markus, und nicht, wie die Schriftgelehrten, welche bloß mit Satzungen und Spitzfindigkeiten die Herzen zu beschweren, aber sie nicht zu bewegen und zu rühren

wußten. Und es war ein Mensch in der Schule, be­ sessen mit einem unreinen Geist, mit Wahnsinn behaftet. Und der schrie laut, und sprach: Ach! was haben wir mit dir zu schaffen, Jesus von Nazareth? Du bist gekommen uns zu verder­ ben. Ich weiß, wer du bist, nämlich der Hei­ lige Gottes (Lk. 33. 34. Mk. 23. 24.). Dem bösen

Geiste in dem Wahnsinnigen wurde unwohl zu Muthe in dec Nahe Jesu, der gekommen war, dem guten Geiste im Men­ schen den Sieg zu verschaffen. Er will nichts mit ihm zu thun haben, den er als seinen Uebcrwinder und Vernichter, als den Heiligen Gottes, erkennt. Es ist auch in dem ver« dorbensten Gemüth ein Gefühl und eine Ahnung des Guten; aber es fürchtet daßclbe, gleichsam wie der Kranke eine bittere Arznei oder eine schmerzhafte Operation; es gefallt sich in seiner Verderbniß und will nicht herausgerisscn seyn. Die Teufel glauben auch, aber zittern (Jak. 2, 19.). So spricht in einem jeden von uns die böse Be­ gierde, die böse Gewohnheit zu der Wahrheit, welche ihr nahet: Was habe ich mit dir zu schaffen? Du bist gekom­ men mich zu verderben 1 Sie sträubt sich gegen jeden Ent­ schluß der Besserung, gegen jede gute Regung. Und Je­ sus bedrohete ihn, und sprach: Verstumme, und fahre aus von ihm! Und der böse Geist warf ihn in die Mitte (auf den Boden), und fuhr von ihm aus, und that ihm keinen Schaden (Luk.35. Mk. 25 f.). Der böse Geist muß der Macht des guten

Geistes weichen, wenn ihn dieser bedrohet, ihm mit Nach, druck zuredet. So muß auch das Böse in uns dem Guten weichen, wenn wir es mit Nachdruck bekämpfen. Und es weicht von uns, ohne uns zu schaden. Es widerstrebt E 2

Matth. 4, 18—22.

68

zwar, und erregt gleichsam einen Kampf in uns; aber nur getrost! cs kann uns nicht schaden! Wie wehe uns auch die Unterdrückung einer Lieblingssünde thun mag, die Seele leidet keinen Schaden, sie wird vielmehr gesund. Und es kam eine Furcht über sie alle, und sie redeten mit einander und sprachen: Was ist das? Er gebietet mit Macht und Gewalt den unreinen Geistern, und sie fahren aus. Und eS erschallte sein Ruf in alle Oerter des umliegenden Landes (Lk. 36. 37. Mk. 27. 28.). Die Zeitgenossen bewunderten an Jesu solche Erweisungen der in ihm wohnenden Kraft, welche mit auffallenden äu­ ßeren Erscheinungen begleitet war; aber bewundernswür­ diger ist die stille Kraft seines Geistes, welche in den Her­ zen nach und nach böse Begierden und lasterhafte Neigungen ausrottct, und dem guten Geiste den Sieg verschafft.

Matth. 4,

18—22.

Mark. 1, 16—20.

Berufung von vier Aposteln.

Als nun Jesus am galiläischen See umher­ wandelte, sah er zween Brüder, Simon, zu­

benannt Petrus, und Andreas, dessen Bru­ der, welche das Netz warfen in den See; denn sie waren Fischer. Und er sprach zu ihnen: Folget mir nach, ich will euch zu Menschen­ fischern machen. Bald verließen sie ihre Netze, und folgten ihm nach (Mtth. 18—20. Mk, 16—18.). Das Gleiche geschah mit zwei andern Fischern, den Söhnen des Zcbcdäus, Jakobus und Jo­

hannes (Mtth. 21. 22. Mk. 19. 20.). Ein schönes Bei­ spiel der Bereitwilligkeit, dem Rufe zu einer höheren Wirk­ samkeit, mit Verlassung alles Irdischen, zu folgen. Diese Männer trieben das gemeine Handwerk der Fischerei; aber kaum ladet sie der Herr ein zur Menschenfischerci, d. h. zum Berufe des Apostelamtes, die Menschen für das Reich Got­ tes zu gewinnen: so verlassen sie Schiff und Netze und fol-

Luk. 5, gen ihm.

1 — 11.

69

O möchte doch auch uns die weltliche Beschäfti­

gung nicht gleichgültig und trage für die Sache des Reiches Gottes machen; möchten wir in jedem Augenblicke, wenn der Herr uns ruft, etwas zur Ausbreitung des Reiches zu thun, bereit seyn, ihm zu folgen!

Luk. 5, 1 — 11. Petrus

Flschzug.

Bei Berufung der vier Apostel hatte nach dcefts Evange­

listen Bericht noch ein merkwürdiger Umstand Statt. Jesus, vom Volke gedrängt, trat in ein Schiff, welches dem Petrus gehörte, und lehrte das Volk von da. Und nachdem er anfgehört hatte zu reden, befahl er dem Simon, auf die Höhe zu fahren » -und die Netze auszuwcrfen, um einen Zug zu thun. Petrus that cs auf Jesu Wort, obgleich sie die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen hatten; und sie fingen so viel Fische, daß das Netz beinahe Zerriß, und sie genöthigt waren, ihre Gesellen zu Hülfe zu rufen (V. 1—7.). Jesu Geist, vom göttlichen Lichte erleuchtet, hatte auch ei­ nen klarern Blick in die Natur, als die andern Menschen, und sah richtiger in dem Geschäfte der Fischerei, als die Fi­ scher selbst. Die Naturkcnntm'ß ist ohne das Licht der gött­ lichen Wahrheit blind und kurzsichtig; erst mit demselben durchschaut sie die Geheimnisse der Schöpfung. Jedoch muß man bei der Betrachtung der göttlichen Wahrheit nicht den weltlichen Zweck im Auge haben. Jesus lehrt erst, und dann erst wendet er seinen Blick auf das Geschäft der Fischerei; und er thut es nur, um dadurch die Gemüther der Apostel für sich und seine Sache zu gewinnen, also um des Reiches Gottes willen. Petrus folgt der höheren Weisheit, und bildet sich nicht ein, es besser zu wissen, als Jesus. Er ist nicht muthlos geworden durch die lange vergebliche Ar­ beit, und scheut nicht die neue Mühe, welche ihm Jesus zumuthet, im Vertrauen auf den göttlichen Wink, den er durch ihn erhalt. Er wird dafür reichlich belohnt, daß er ihn, den Lehrer der Wahrheit, in sein Schiff hat treten

70

Matth. 4, 23—7, 29.

lassen: die Nähe des Himmlischen bringt den Menschen Se­ gen , wenn sie ihm mit gutem Herzen entgegcnkommen; nur muß man nicht lohnsüchtkg auf den Nutzen sehen, den eS bringen kann, sondern, was man thut, aus reiner Liebe

thun. Die Verwunderung über den reichen Fischfang war so groß, daß Petrus die Nahe dieses außerordentlichen Man­ nes fürchtete: Herr, sprach er, gehe von mir hin­ aus, ich bin ein sündiger Mensch! er hielt sich für unwürdig der Gegenwart Christi, den er für einest Gottge­ sandten erkannte. Dieses Gefühl war noch nicht das rechte» es war zwar Demuth darin, welche immer besser ist, als der Hochmuth, aber es war das der knechtischen Furcht, nicht das der Liebe und des Vertrauens, wodurch man sich an Jesum zu seinem Heile anschließen soll. Er nimmt ja die Sünder an: mithin soll man ihn nicht bitten, fortzugehcn, sondern vielmehr ihn um Hülfe anstchcn. Jesus spricht ihm auch Muth ein: Fürchte dich nicht, denn von nun an wirst du Menschen fangen. Er erhebt fein niedergeschlagenes Gefühl durch die Einladung, sein Apostel zu werden, welcher er denn auch sammt seinen Angehörigen folgte und alles verließ (V. 8 —11.). So dürfen wir denn trotz des nicdcrschlagenden Gefühls unserer Unwürdig«

keit uns zu Ihm erheben, der uns zu Hohem beruft. Matth. 4, 23 —7, 29, Vgl. Luk. 6, 17 — 49.*) Die Bergpredigt.

Nachdem Jesus in Galiläa umhergczogen war, gekehrt und geheilt hatte, so daß sein Gerücht selbst kn das benach­ barte Syrien erscholl, und ihm viel Volkes nachfolgte, stieg

♦) Auf das Einzelne bei Lukas gehen wir mit der Erklärung nicht ein, da es anerkannt ist, daß Matthäus die richtigste Darstellung

von der Bergpredigt gibt, und Lukas eben so in der Anordnung des Ganzen, als in der Angabe der einzelnen Bestandtheile der­ selben jenen} nach steh en muß.

Matth. 4, 23 — 7, 29.

71

er auf einen Berg, um eine Rede an das Volk zu halten (Mtth. 4, 23 — 5, 2.). In dieser Rede wollte er sich über den Zweck seiner Sendung ausführlich erklären, be« sonders auch den Geist seiner Sittenlehre im Vergleich zn der Mosaischen Gesetzgebung und den Satzungen der Schriftgelehrten ins Licht fetzen. In der

Anrede Cap. 5, 3 — 16. spricht er die Anforderungen aus, die er an seine Jünger und Bekenner macht, und zeichnet die Gesinnung» die er von ihnen fodert.

Selig sind, die da geistlich arm find; denn das Himmelreich ist ihr (V. 3.). Nicht leiblich Arme, die von ihm bloß Abhülfe ihres leiblichen Leidens er­ warten, denen er ein weltlicher König, ein Spender von Glücksgütern seyn soll, will er selig machen und ins Reich GotteS führen, sondern geistlich Arme, die das Elend ihrer Sünde und ihres Irrthums fühlen, und sich nach geistli­ cher Hülfe sehnen. Diese geistliche Hülfsbedürftigkcit ist die Grundbedingung des von Christo zu erwartenden Heiles, und diese sollen wir in uns erwecken und pflegen. Auch un­ ter uns betrachten Viele die Religion Jesu als eine bloße Anweisung zur Glückseligkeit, und gehorchen ihm nur, da­ mit er sie durch Sicherung und Erhöhung ihrer irdische» Wohlfahrt belohne. Solche bringen nicht bst rechte Gesin­ nung zu ihm, und für sie ist er nicht gekommen! Nein, man muß tief feine Fehler und Gebrechen fühlen, und von der Sehnsucht, bei ihm Heilung zu finden, erfüllt seyn; man niuß das Gute rein um sein selbst willen lieben und der Wahrheit gehorchen, weil man in ihr den Frieden der Seele findet. Selig find, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden (V.4.). Für diejenigen, welche froh sind im Genusse irdischen Glückes ist er nicht gekommen, sondern für diejenigen, welche sich elend und beklagenswerth fühlen, und zwar in geistlicher Hinsicht; und solchen bringet er Trost. " '

72

Matth. 4, 23—7, 29. Selig

sind die Sanftmüthigen;

denn sie

werden das Erdreich hesitzen ^V. 5.). Die Sanftmüthigen sind eben die Demüthigen und Hülfsbcdürftigcn, welche ihr eigenes Elend erkennen, und darum auch Mit­ leid und Nachsicht mit ihren Nebenmcnschen haben, und sie nicht nach der Strenge richten; wahrend die Glücklichen und sich glücklich Wähnenden oft hart und grausam gegen An­ dere sind. Auch diejenigen, welche sich in leiblicher Hin­ sicht unglücklich fühlen, entbehren oft der Sanftmuth, und nähre« die unreinen Gefühle der Rachsucht gegen die Urhe­ ber ihres Unglückes. Hierbei denkt Jesus wahrscheinlich an diejenigen seiner Zeitgenossen, welche mit der Hoffnung auf den Messias «inen glühenden Haß gegen ihre heidnischen Unterdrücker nährten. Nur den Sanftmüthigen wird das Himmelreich zu Theil; denn nichts anders will die Redens­ art: da^ E.rdresch besitzen, bedeuten.

Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit; denn sie sollen satt wer­ den (V. 6.). Den leiblichen Hunger und Durst, die Be­ gierden nach irdischem Wohlseyn, ist Jesus nicht gekommen zu befriedigen; wohl aber bringk er Sättigung für geistlichen Hunger und Durst, für geistliche Hülfsbedürftigkcit. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werdenBarm Herzigkeit erlangen (V. 7.). Barm­ herzig sind die Sanftmüthigen, die Geistlich-Armen, die sich selbst für elend erkennen, und darum auch mit frem­ dem Elend Erbarmen haben; und wie sie ihre Nebenmenschrn mit Bannherzigkrit behandeln, so erlangen sie auch von Cott Barmherzigkeit, Gnade, Sündenvergebung und

Trost. Selig, sind,

die reines Herzens sind., denn

sie werden Gott schauen (V. 8.). Ein reines Her; ist ein solches, das kein irdisches Glück, sondern allein geistliches Heil begehrt, das sich selbst für sündhaft und heilsbcdürftig erkennt, das keine unreinen Gefühle, wie Haß, Rachsucht, Lieblosigkeit, kennt; und ein solches wird

Matth. 4, 23 -7, 29.

73

Gott schauen, in Gottes Gemeinschaft kommen, ihn er, kennen und seine beseligende Einwirkung erfahren. Selig sind die Friedfertigen; denn sie wer­ den Gottes Kinder heißen (V. 9.). Die GeistlichArmen, die sich selbst für hülfsbedürstig erkennen, sind sanftmüthig und barmherzig gegen Andere, und so auch friedfertig; sie kennncn keinen Haß und keine Rachsucht, weil ihr Herz nur von der Sehnfuch: nach geistlicher Hülfe, nicht nach Befriedigung irdischer Begierden, erfüllt ist. Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden: denn das Himmelreich ist*

ihr (V. 16.). Es gab wohl zu Jesu Zeit unter denen, die sich zu ihm drängten, Manche- welche verfolgt waren, aber nicht um Gerechtigkeit willen, sondern um Ungerechtig­ keit willen, wegen aufrührifcher Bewegungen, wegen Ge­ waltthat und Raub; denn die Erwartung des Messias ver­ leitete nicht selten zu solchen Vergehungen. Solchen ver­ heißt Christus keinen Antheil am Reiche Gottes, sondern denen, welche wegen des Guten, das sie gethan oder gelehrt; den Haß der Welt auf sich gezogen hatten. Eine tröstliche Rede für Alle, welche um Gerechtigkeit willen verfolgt sind,

oder sonst auf irgend eine Weise unschuldig leiden: ihr Lohn wird ihnen nicht fehlen. Diese Wahrheit gibt Jesus seinen Bekennern noch besonders zu beherzigen; er preist sie selig, wenn die Menschen sie um seinetwillen, um des Evangeliums, der Wahrheit, des Reiches Gottes willen, schmähen ynd verfolgen, und allerlei Uebel wider sie fälsch­ lich reden; er heißt sie fröhlich und getrost seyn;

denn es werde ihnen im Himmel wohl belohnt werden. Denn also, setzt er hinzu, haben sie ver­ folgt die Propheten, die vor euch gewesen sind (V. 11.12.). Es ist von jeher so gewesen und wird immer so seyn, daß die Wahrheit und Gerechtigkeit von den Menschen gehaßt und verfolgt wird, weil sie ihrer weltlichen Gesinnung, ihren bösen Begierden im Wege steht. Die Verfolgten aber ernten für ihr zeitliches Leiden ewi­ gen, unvergänglichen Lohn; sie haben die ewigen himm-

74

Matth. 4, 23 — 7, 29.

lischt» Güter ergriffen,

und diese werden ihnen nicht ge­

nommen. Ihr seyd das Salz der Erde. Dieß sagt Jesus für seine Jünger, welche das Evangelium verbreiten sollten. So wie das Salz die Speise schmackhaft macht und vor Faulniß bewahrt, so sollten sie die Menschheit bessern, vcr, (bcht, erleuchten und reinigen. Ein großer, wichtiger Be­

ruf, welcher große Anfoderungcn macht, große Pflichten auf­ legt! Diejenigen, welche Andere bessern und erleuchte» wollen, müssen selbst gut und erleuchtet seyn. Wo nun das Salz fade*) (unschmackhaft, kraftlos) wird, womit soll man salzen? Es ist zu nichts hinfort nütze, denn daß man es hinausschütte und lasse es

die Leute zertreten (SS. 13.). Lehrer, die durch in­ nere Untächtigkeit ihrem Berufe nicht genügen, sind verwerf­ licher, als Andere, welche auch noch nicht zur Erkenntniß der Wahrheit gelangt sind, aber doch noch dahin geführt werden können r jene haben Niemanden, der sie leiten könnte. Obgleich diese Rede vorzüglich den Aposteln gilt, so könne» doch auch nicht nur unsere Lehrer, sondern auch solche Chri­ sten sie sich zu Nutze machen, welche als Erzieher und Füh­ rer für das geistliche Heil Anderer wirken sollen. Je wich­ tiger die Stelle ist, die wir im Reiche Gottes einnehmcn, desto schwerer ist die Verpflichtung, die auf uns liegt. Ihr seyd das Licht der Welt, sagtJestrs wei­ ter zu seinen Jüngern und deutet damit ungefähr dasselbe an, als mit dem Bilde des Salzes, daß sie nämlich die Vorbilder der Menschheit seyn sollten. Er vergleicht sie mit einer Stadt, die auf einem Berge liegt, und die sich nicht verbergen kann, mit einer Leuchte, die man nicht unter einen Scheffel, sondern auf den Leuchter stellt, damit sie Alken im Hause leuchte, und schließt dann mit der Aufforderung: Also lasset euer Licht leuchten vor den Leuten, daß sie eure guten Werke sehen, und, dankbar für das

«*) Luth er: btMnm. •

Matth. 4, 23—7, 29.

75

ihnen gewährte gute Beispiel, euren Vater im Him­

mel preisen (V. 14—16.). Diese Ermahnung leidet nun ganz allgemeine Anwendung. Jeder Christ ist verpflich­ tet, den Andern ein gutes Beispiel zu geben, und bei allem, was er thut, daran zu denken, daß Andere auf ihn sehen, und durch seine Handlungen entweder geärgert oder erbaut werden. Nunmehr folgen die kn dieser Rede abzuhandelndm Hauptsätze

Kap. 5, 17 — 20, Erster Hauptsatz V.17—19: Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz öder die Propheten (die ganze Gesetzgebung des A. T.)

aufzuheben. Vom Messias erwartete man eine neue Gesetzgebung, und Viele mochten aus Liebe zur Ungebundcn-

heit die Aufhebung des alten Gesetzes erwarten, damit sie ungestört ihren Lüsten leben könnten. Andere mochten aus einem besseren Grunde, weil sie nämlich mit Recht das alte Gesetz zu drückend fanden, dasselbe erwarten, und eine freiere, lebendigere Gesetzgebung wünschen. Letztere wurden nicht ganz betrogen, Christus brachte eine solche Gesetzge­ bung ; aber er brachte sie nicht auf dem Wege der Aufhebung der alten; er zerbrach und zerstörte nichts, um etwas Neues zu erbauen, sondern er führte das Neue aus dem Alten her­ vor. Ich bin nicht gekommen aufzuheben, son­ dern zu vervollkommnen*). Im weltlichen Re­ giment pflegt es wohl zu geschehen, daß man Altes auf­ hebt , um Neues zu stiften, und oft mag es nicht anders an­ gehen, wenn die Aufhebung nur nicht gewaltthätig geschieht. Aber im Gebiete der Sittlichkeit soll man solches nie thun, es sey denn, daß das Alte schlechthin ungerecht und gottlos ist. Den Götzendienst hob das Christenthum auf, weil er

durchaus verwerflich war und nicht langer bestehen konnte; hingegen die mosaische Gesetzgebung nicht, weil sie etwas

») Luther: erfüllen, welches ungefähr dasselbe bedeutet.

76

Matth. 4, 23—7, 29.

Göttliches einschloß und nur unvollkommen und auf ein ro­

hes Volk berechnet war. Hatte Christus die Aufhebung' derselben verkündigt, so hatte er alle sittlichen Bande ge­ löst, und zwar vom Alten losgerissen, aber das Neue nicht an die Stelle desselben setzen können. Nur durch Vervoll­ kommnung des Alten konnte er das Neue cinführen, dadurch daß er dieses, als den Geist, aus jenem, dem Buchstaben, entwickelte. Dieses nennt er das Alte vervollkommnen. Es bestand aber, wie die Ausführung im Folgenden zeigt, die Vervollkommnung oder Entwickelung darin, daß er das sittliche Handeln zur Sache der Gesinnung machte, und nicht bloß den stärksten Ausbruch der schlechten Gesinnung verbot, sondern jede auch die schwächste Aeußerung derselben' schon für unsittlich erklärte. Denn ich sageeuchwahr-'

lichr ehe Himmel und Erde vergehet, wirp' kein Buchstabe oder Strichlein*) vom Gesetz vergehen, bis daß Alles geschehe. Niemals, so lange diese Welt bestehet, soll auch die kleinste Vorschrift' des Gesetzes ungültig werden. Jesus spricht aber offenbar von dem sittlichen Inhalt des Gesetzes: denn die Opfer- und andere Ccrmonien-Gesetze sind in der That ungültig ge­ worden, und sollten nach Jesu Absicht ungültig werben.

Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten' aufhebet, und lehret die Leute also, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich, der wird eine geringe oder vielmehr gar keine Stelle in demselben einneh­ men; wer es aber thut und lehret, der wird groß heißen im Himmelreich; der wird ein wahrer, würdiger Bürger desselben seyn. Zweiter Hauptsatz V. 20.: Denn ich sage euch: Es sey denn eure Gerechtigkeit besser, denn der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. Zu der vollkommneren Gesetzgebung muß im Reiche Christi auch ein vollkommner reiner Wandel,- eine Frömmigkeit ») Luther: Titel.

Matth. 4, 23 — 7, 29.

77

ohne alle Heuchelei hknzukommen; ,das Gesetz muß in jeder Hinsicht vervollkommnet werden.

Erster Theil. Kap. 4,

20 — 48.

Nunmehr zeigt Jesus an einigen Proben,

wie er die

alte Gesetzgebung zu vervollkommnen gedenke. Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist (nämlich theils von Mose, theils von den auf ihn fol­ genden Eefetzeslehrern): Du sollst nicht tödten

(Gesetz Mosis 2Mos. 20, 13.); wer aber tobtet, der soll des Gerichts schuldig seyn d. i. vor das gewöhnliche Gericht gezogen und bestraft werden (nähere Bestimmung der Gefetzeslchrer). Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig. Nicht bloß der gewaltthatigeAus­ bruch des ZorneS gegen den Nebenmcnschen ist strafbar, sondern schon der Zorn selber, wenn er nämlich ungerecht, lei­ denschaftlich und rachsüchtig ist. Wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha (Nichtswürdiger), wer ihn durch eine, auch nur leichte Schimpfrede beleidigt, der ist des hohen Raths, des höhere Gerichts, schuldig, der soll eine schwerere Strafe leiden; wer aber sagt: du Narr (Bösewicht, Gottloser), wer ihn durch eine schwe­ rere Schimpfrede beleidigt, der ist des höllischen Feuers, der allerschwerstcn Strafe, schuldig (V. 21. 22.). Jesus dringt also mit dem größten Nachdruck auf die gute Gesinnung. Seine Worte sind bildlich stark und müßen nicht buchstäblich verstanden werden. Indem er der, dem Morde noch keincsweges gleichstchendcn Beleidigung des Nächsten die allerschwerste, ewige Strafe zuerkennt, bleibt keine für jenes Vergehen übrig: er will damit sagen, daß der Mord in seinem Reiche eigentlich gar nicht Vorkommen soll. Darum ermahnt er so dringend zur Versöhnlichkeit, da­ mit der Zorn nicht im Gemüthe Wurzel fasse. Darum wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst, und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder

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Matth. 4, 23 — 7, 29.

etwas wider dich habe: so laß allda vor dem Altar deine Gabe, und gehe zuvor hin, und versöhne dich mit, deinem Bruder, und als­ dann komm, und opfere deine Gabe (23.23.24.). Versöhnlichkeit ist Gott wohlgefälliger, als Opfer und an­ dere Gebrauche. Sey willfertig deinem Wider­ sacher bald, dieweil du noch mit ihm auf dem Wege (zum Richter) bist, auf daß dich der Widersacher nicht überantworte dem Richter, und der Richter dich überantworte dem Die­ ner, und werdest in den Kerker geworfen. Ich sage dir: Wahrlich, du wirst nicht von dannen herauskommcn, bis du auch den letzten Heller (den du dem Widersacher schuldig bist) bezahlest (V. 25. 26.). Man soll Rechtosircitigkelten bald auf dem Wege der Güte beizulcgcn suchen, was ohnehin die Klugheit gebietet, weil man dadurch sich selbst das Leben schwer macht. O möchte doch ein Jeder, der gegen sei­ nen Nächsten Groll im Herzen tragt, bedenken, daß er, da­ durch der Gemeinschaft Christi sich unwürdig macht und sich selber von dem Vereine der Liebe,ausschließt, dem Er unter den Seinen gestiftet hat! Keine Rcchtglaubigkcit, kein Fleiß in Beobachtung der christlichen Gebrauche macht den wahren Christe», sondern allein die Liebe und Ver­ söhnlichkeit. Eine andere Probe der sittlichen Gesetzgebung Christi. Ihr habt gehört, daß zu den Alten ge­ sagt ist: Du sollst nicht ehebrechen (2Mos. 20, 14.). Ich aber sage euch: Wer ein Weib an» sichet, ihrer zu begehren, der bat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen (23. 27. 28.). Auch hier ist nicht bloß das äußerlich vollendete Vergehen strafbar, sondern schon die böse Lust, aus welcher es entspringt: nämlich nicht die unwillkürliche Begierde, welche augenblicklich im Herzen aufsteigt, (denn dafür kann kein Mensch), sondern die genährte, gepflegte Begierde, welche nach und nach so wachsen kann, daß sie zum Ehe»

Matth. 4, 23 — 7, 29.

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bruch ober sonst zur Störung des ehelichen Friedens führt, oder wenigstens das Herz verunreinigt. Daß schon die böse Begierde strafbar ist, gilt in jeder Hinsicht, und ist eine äu­ ßerst wichtige Wahrheit. Das Herz des Christen soll rein und nur von den reinen Trieben himmlischer Liebe erfüllt seyn. Will sich Jemand damit entschuldigen, daß er seiner Begierden nicht Herr werden könne; so antwortet Christus

mit folgenden ernsten Worten. Aergcrt dich d. i. reizet dich zur Sünde dein rechtes (bestes) Auge; so reiß es aus und wirf es von dir. Es ist dir besser, daß eins deiner Glieder verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde (V. 29.). Man soll die Begierden mit aller Macht unter­ drücken und ausrottcn, und müßte es mit den größten Schmerzen geschehen: die Sorge für unser ewiges Heil, daß wir uns nicht durch eine Sünde in ewiges Verderben,

in die Hölle, stürzen, soll uns jedes Opfers fähig machen. Dasselbe sagt Christus mit dem Bilde des Abhauens der rech­ ten Hand (V. 30.). Wohl schmerzt es oft, eine Lieblings­ neigung aus dem Herzen zu reißen, vielleicht eben so sehr und noch mehr, als ein Ange auszurcißen oder eine Hand abzuhaucn r aber die Pflicht fodcrt es, und so sey das Opfer gebracht.' Es gilt die Wahl, ob wir sündigen und unser Heil verscherzen, oder ob wir der fleischlichen Natur wehe thun wollen, und wer, dem sein Heil am Herzen liegt, kann schwanken? Die dritte Probe. Es ist euch gesagt (5Mos. 24, l.)t Wer sich von seinem Weibe scheidet, der soll ihr geben einen Scheidebrief (V. 31.). Nach mosaischem Recht stand cs in der Willkür des Mannes, sein Weib um jeder Ursache willen zu entlassen, nur mußte er ihr einen Echeidebrief geben. Von einer gesetzlichen Scheidung, wie bei uns üblich ist, spricht Jesus nicht! eine solche kannten die Juden nicht. Ich aber sage euch; Wer sich von seinem Weibe scheidet, es sey denn um Ehebruch, der macht, daß sie die Ehe bricht; und wer ein^Abgeschiedene freiet, der

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Matth. 4, 23—7, 29.

bricht die Ehe (V. 32.).

Christus findet eine solche

willkürliche, einseitige Ehescheidung der wahren Idee der

Ehe widersprechend, nnd vervollkommnet auch hierin die mo­ saische Gesetzgebung. Die Ehe ist ein gegenseitiger Bund, und kann nicht einseitig aufgehoben werden, außer wenn sie durch Ehebruch wirklich schon getrennt ist; sie besteht fort auch nach der willkürlichen Scheidung, und wer sich diese erlaubt, der macht, daß der geschiedene Theil, der in der That noch nicht geschieden ist, durch eine neue Verbindung die Ehe bricht; und wer eine so willkürlich Abgeschicdne freiet, der bricht die Ehe, tritt mit ihr in eine widerrecht­ liche Verbindung. Christus hat zuerst die wahre Idee der Ehe gefaßt und geltend gemacht, und so die schönste Lebens­ form in die menschliche Gesellschaft eingeführt. Aber miß­ verstanden hat man ihn, wenn man die Ehe für eine ganz unauflösliche Verbindung genommen hat. Wenn er schon im Fall des Ehebruchs dem Manne das Recht zuerkcnnt, sein Weib zu entlassen r warum sollte er es nicht der Obrig­ keit gestatten, in Fallen, wo die Zwecke der Ehe nicht er­ reicht werden, sie gesetzmäßig zu scheiden? Es gibt noch andere Arten von Trennung des Ehcbands, als leiblichen Ehebruch; ja oft laßt es sich nach diesem eher wieder an­ knüpfen, als wenn die Herzen einander entfremdet sind. Unbestritten ist die Wahrheit, die Jesus hier geltend macht, daß die Ehe eine innige Verbindung zweier Menschen für das ganze Leben ist, und daß sie zur innigsten Treue und Anhänglichkeit verpflichtet (vgl. Matth. 19, 3 ff.). Die vierte Probe» Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist (3Mos. 19, 12.): Du sollst keinen falschen Eid thun, und (was die Gesetzes­ lehrer hinjufügtcn zur Einschränkung) du sollst Gott deinen Eid halten, besonders diejenigen Schwüre halten, welche bei Gott gethan sind (V. 33.). Die Gesetzeslchrer, obschon sehr streng und ängstlich, brach­ ten hier doch eine Erleichterung an, indem sie die andern Schwüre, die nicht unter Anrufung des göttlichen Namens geschehen, für weniger unverbrüchlich erklärten. Jesus aber

Matth. 4, 23 — 7, 29.

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will, daß man überhaupt nicht schwöre, weder bei dem Himmel, denn er sey Gottes Stuhl (d.h. es sey eben so gut, als wenn man bei Gott schwöre, da man doch dabei an Gott denke); noch bei der Erde, denn sie sey seiner Füße Schemel (auch bei ihr rufe man eigentlich Gott an); noch bei Jerusalem, denn sie sey des großen Königs Stadt (auch diese Bctheue« rung beziehe sich auf Gott); noch bei dem eigenen Haupte, denn niemand könne ein Haar weiß oder schwarz machen (d. h. es sey eigentlich doch der Schöpfer, der Urheber des Lebens, das nicht in des Men­ schen Hand sichet, den man dabei anrufe) (V. 34 — 36.); genug, man soll auf keine Art schwören, weil man dadurch immer etwas Höheres und Heiliges zur Bctheuerung ge­ braucht, und wenn man leichtsinnig schwört, es entweihet. Eure Rede sey: Ja, ja; nein, nein: was darü­ ber isi, das ist vom Uebel (V. 37.). Der Christ soll die Wahrheit ohne Bcthcucrung ausfagen; jede Bctheuerung setzt voraus, daß der Betheuernde sonst gelogen hat, oder daß Andere zu lügen pflegen, daß im Verkehr keine Wahr­ haftigkeit herrscht, und darum ist sie etwas Ucblcs. Wie hoch stellt so Jesus seine Gesetzgebung über die Mosis und der Schriftgelchrten! Jener erlaubt den Eid und ver­ bietet bloß den Meineid: diese behandeln leichtsinniges Schwören mit Nachsicht; er aber will überhaupt keinen Schwur, als schwaches Gegenmittel gegen die Unwahrhaf­ tigkeit, sondern einfache, ungeschminkte Wahrhaftigkeit aus Gesinnung. Für uns gilt nun unmittelbar die Vorschrift, daß wir nicht leichtsinnig schwören und Bctheurungcn brau­ chen sollen, was auch ohne Schwierigkeit zu halten ist, sobald wir nur wahrhaft seyn wollen ; aber die gerichtlichen Eide dürfen wir nicht verweigern, so lange die Obrigkeit sie noch nöthig findet, weil wir sonst die Pflicht des Gehorsams verletzen würden. Uns bleibt nichts übrig, als durch strenge Wahrhaftigkeit dahin zu arbeiten, daß Treue und Glaube immer mehr herrschend und dadurch der Nothbehelf des Eides immer entbehrlicher werde. Dibl. Erbauungsb. II.

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Matth. 4, 23—7, 29.

Die fünfte Probe Ihr habt gehört, daß da gesagt ist (2Mos. 21, 24.): Auge um Auge,

Zahn um Zahn, d. h. wer dem Andern ein Auge, einen Zahn», s. w. ausschlagt, soll jur Vergeltung dasselbe Glied verlieren (V. 38.): womit überhaupt der Grundsatz der Vergeltung und Sclbstverthcidigung ausgestellt ist, wornach man für jede erhaltene Beleidigung eine entsprechende Ge­

nugthuung fodern oder sich durch Vertheidigung seiner Rechte und Person vor Beleidigung schützen darf. Dieser Grundsatz herrschte unter den Juden, so wie er überhaupt unter solchen Menschen herrscht, welche sich noch nicht zur höhern Stufe der Sittlichkeit erhoben haben. Selbst bei uns, die wir doch vom Gesetz erlöst sind und vom Geiste der Liebe beherrscht seyn sollten, gilt dieser Grundsatz im gemei­ nen Leben; ja, es hangt, nach den gewöhnlichen Begriffen, die Ehre davon ab, daß man für jede Beleidigung Genug­ thuung fodere. Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Uebel (demBösen, derBelcidkgung) d. h. daß ihr euch nicht gegen ungerechte Angriffe vertheidigen, sondern sie geduldig leiden sollt; sondern so dir Jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar; und so Jemand mit dir rechten und (zumPfande) deinen Rock nehmen will, dem laß auch den Mantel; und so dich jemand (zurBotschaft, zum Lasttragen) nöthigt eine Meile, so gehe mit ihm zwo (V. 3 g — 41.). Man soll sich nicht nur gegen Un­ gerechtigkeit nicht vertheidigen und sie geduldig über sich er­ gehen lassen, sondern mit Nachgiebigkeit mehr thun, als der Ungerechte fodert. Man soll überhaupt nicht zu viel Werth auf sein Eigenthum legen; und willfährig zum Geben seyn. Gib dem, der dich bittet; und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will (V. 42.). — Diese Worte Jesu haben von jeher vielen Anstoß gegeben. Wollte man sie buchstäblich nehmen, so würde dadurch alle Rcchtsverfassung und Rechtspflege aufgehoben, und die Herr­ schaft der Ungerechten, der Räuber und Unterdrücker, ein-

Matth. 4, 23 — 7, 29. geführt.

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Aber der Sinn Jesu ist der, daß das Christen­

thum nicht die Ordnung des Rechts aufhcben, sondern ei­ nen Zustand herbeiführen soll, der derselben nicht mehr be­ darf, in dem die Liebe herrscht. Christen sollen unter einan­ der nicht richten, aber auch vor allen Dingen kein Unrecht thun (vgl. 1 Kor. 6, 7. 8.); sie sollen sich gegen einander als Brüder betragen, welche nicht von Rechthaberei noch Rachsucht, sondern von Liebe gegen einander beseelt sind. So lange nun dieser Zustand noch nicht cingetretcn ist, laßt sich dieses Gebot Christi auch nicht ganz erfüllen; widrigen­ falls wir auf alle Ordnung und allen Frieden Verzicht leisten müßten. Aber allerdings sollen wir jetzt schon nicht unser strenges Recht suchen, und durch Nachgiebigkeit, Großmuth und Aufopferung manches Rechtes den Frieden zu er­ halten suchen. Es ist die Pflicht der Friedfertigkeit, welche uns Christus hier gebietet; eine Pflicht, der wir uns nie entziehen dürfen; jedoch muß cs dem Gewissen eines Je­ den überlassen bleiben, wie viel er der Erhaltung des Frie­ dens opfern will. .Die letzte Probe. Ihr habt gehört, daß gesagt ist (3 Mos. 19, 18): Du sollst deinen Näch­ sten lieben, und (was die Schriftgclehrtcn zur Einschrän­ kung hinzufügten) deinen Feind (der nicht von deinem Volke ist) Haffen (V. 43.). In der mosaischen Verfas­ sung lag der Grundsatz der Absonderung des Volkes Israel von andern Völkern und des Hasses gegen diese, als Un­ gläubiger diesen Grundsatz machten auch die Schriftgelehrtcr mehr als billig geltend, und daher jene zum Gesetz hknzugefügte Glosse. Christus hob dagegen die Schranken des Volksthums und jede Trennung des Hasses auf, und führte die Bruderliebe in die Menschheit ein. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch flu­ chen; thut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen: auf daß ihr Kinder seyd eures Vaters im Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgchcn über die Bösen und über die Guten, und läßt regnen F 2

Matth. 4, 23—7, 29.

über Gerechte und Ungerechte (V. 44. 45.).

Auch

im Feinde soll man den Nächsten anerkennen und lieben, und so wie man keiner Rachsucht gegen ihn Raum gibt und dem Frieden jedes billige Opfer bringt (V. 38 ff.): so soll man selbst die Liebe gegen ihn walten lassen, und ihm mit Wohl­ wollen und Wohlthun begegnen. Es ist von keiner so un­ natürlichen Liebe die Rede, daß man den Feind eben so lie­ ben soll, wie den Freund und Bruder; sondern man soll nur, mit Unterdrückung alles Hasses, im Feinde den Menschen, das vernünftige Mitgeschöpf, achten und lieben, und sein Wohl wünschen und befördern. Und sobald man sich nur über die unwürdigen Gefühle des Hasses und der Rachsucht erhoben hat, so findet auch die Liebe und das Wohlwollen im Herzen Raum; und diese Pflicht bedarf keiner übermensch­ lichen Kraft zu ihrer Erfüllung. In dieser allgemeinen, durch nichts unterbrochenen Menschenliebe ist uns Gott Mu­ ster, der, wie ein Vater, alle seine Geschöpfe mit Liebe um­ faßt, und über alle seine Wohlthaten ausgießt, obgleich nicht alle seinen Gesetzen treu und nach seinem Wohlgefallen leben. Durch eine gleiche unumschränkte Liebe sollen wir Gott ähnlich und seine Kinder werden. Hier spricht Chri­ stus zuerst die beiden hohen Gedanken aus, welche die Grundzüge des ganzen Christenthums ausmachen, und wo­ mit aller früherer Aberglaube und aller Irrthum abgethan ist, daß wir Gott als Vater lieben und seine Kinder werden sollen. Darin liegt für das fromme Herz aller Trost, des­ sen es bedarf; und alle Anregung und Anleitung zum Guten. Es folgt daraus ein anderer wichtiger Gedanke, daß alle Menschen Brüder sind und sich untereinander als Brüder betrachten sollen- — Denn so ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Thun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und so ihr euch nur zu eitern Brüdern freundlich thut, was thut ihr Sonderliches? Thun nicht die Zöllner auch also? (V. 46. 47.) Liebt man nur diejenigen, von welchen man wieder geliebt wird, so folgt man einem natür­ lichen Triebe, der auch eigennützig seyn kann; und einer svl-

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chcn Liebe sind auch die unsittlichsten Menschen — für solche galten bei den Juden die Zöllner — fähig. Eine eigennützige Handlung oder Gemüthsbewegung aber hat keinen sittlichen Werth und führt nicht den Lohn der erfüllten Pflicht, das scligmachende Gefühl, aus rein sittlichen Beweggründen ge­ handelt und Gottes Wohlgefallen verdient zu haben, mit sich. Darum sollt ihr vollkommen seyn, gleich­ wie euer Vater im Himmel vollkommen ist (V. 48.). Wie in Allem, so auch in der Liebe, sollen wir die Vollkommenheit des göttlichen Wesens nachahmcn.

Zweiter Theil. Cap. 6, 1 —18. Nunmehr führt Jesus den zweiten Hauptgedanken sei­ ner Rede aus, daß von den Mitgliedern seines Reiches eine vollkommene, ungeheuchclte Frömmigkeit gefedert werde (Kap. 5, 20.). Habt Acht auf eure Gerechtkgkei.t *), daß ihr sie nicht übet vor den Leuten, um von ih­ nen gesehen zu werden; wo nicht, so werdet ihr keinen Lohn haben von eurem Vater im Him­ mel (V. 1.). Man soll das Gute, das man thut, nicht zur Schau stellen; die Uebungen der Gottseligkeit, deren man sich befleißigt, sollen frei von aller Prahlsucht und Heu­ chelei seyn. Dieß wendet Jesus nun zuerst auf die Wohlthätigkeit an. Wenn du nun Almosen gibst, sollst du nicht lassen vor dir posaunen (sollst du es nicht lassen aus­ posaunen), wie die Heuchler thun in den Schu­ len (Synagogen) und auf den Gassen, auf daß sie von den Leuten geprießen werden. Wahr­ lich, ich sage euch: Sic haben ihren Lohn da­ hin (V. 2.). Diejenigen, welche aus Eitelkeit und mit Gepränge Wohlthaten spenden, haben ihren Lohn dahin: sie *) Luther: Almosen, nach einer unrichtigen Lesart; es ist jetzt noch nicht von -em besondern Zweige dieser Tugendübung die Rede.

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Matth. 4, 23 — 7, 29.

erreichen den niedrigen Zjveck, von den Leuten gerühmt zu werden, ihre Handlung hat aber keinen bleibenden Werth und laßt keine wohlthuenden, gesegneten Folgen zurück we­ der in dem, der die Wohlthat gibt (er tragt nicht das ewig bleibende Gefühl, etwas Gutes aus reiner Liebe gethan zu haben, in sich), noch auch in dem, der sie empfangt (er fühlt sich nicht gehoben durch eine Aeußerung wahren Wohlwol­ lens von Seiten des Gebers, und nicht dadurch verpflichtet); auch erhalten sie keinen Lohn dafür bei Gott, denn Gott be­ lohnt nur, was aus Gehorsam und Liebe zu ihm oder aus sittlichen Beweggründen geschieht. Wenn du aber Al­ mosen gibst, so laß deine linke Hand nicht wis­ sen, waö die Rechte thut (lege das Stück Geld nicht von der einen Hand in die andere, vermeide alles zur Schau Stellen), auf daß dein Almosen Verb orgen sey; und dein Vater, der ins Verborgene siehet, wird dirs vergelten öffentlich (V. 3.4.). Die Wohlthätigkeit geschehe aus innerem Triebe, nicht um vor den Leuten zu glanzen und einen Nebenzweck zu erreichen, sondern um dem Gefühle des Erbarmens und dem Bestseben, Nothleidcndcn Hülfe zu bringen, genug zu thun; eine solche That aber wird Gott, der die Herzen erforscht, ihrem wah­ ren Werthe nach würdigen, und einst im ewigen Gericht, wenn alles Verborgene ans Licht gezogen wird, belohnen. Von einer irdischen, in diesem Leben schon sichtbaren Beloh­ nung ist nicht die Rede: verhieße Christus eine solche, so würde er eine andere unreine Nebenabsicht bei der Wohlthä­ tigkeit begünstigen, und er will sie rein ohne alle Nebenab­ sicht geübt wissen. — Vielleicht ist mancher unter uns frei von dieser groben Eitelkeit, bei Ausübung der Wohlthätig­ keit, aber doch nicht von einer feinern Art derselben; oder wenigstens mischt sich in seine Wohlthätigkeit dieser oder je­ ner unreine Beweggrund, und wäre es nur das selbstische Vergnügen, das man daran findet, sich als hülfreich zu beweisen und dadurch seine bessere Glückslage inne zu wer­ den. Jede Gabe, die nicht aus reiner Liebe, ans der rei­ nen Absicht, zu helfen, gereicht wird, entbehrt dcs wah-

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reit sittlichen Werthes. Prüfen wir «ns daher immer vor Gott, der ins Verborgene siehet, ob wir von solchen fal­ schen Beweggründen frei sind, wenn wir Wohlthätigkeit üben. Dasselbe sagt nun Jesus vom Gebet, einer der Haupt­ übungen der Gottseligkeit. Und wenn du betest, sollst du nicht seyn, wie die Heuchler, die da gern stehen und beten in den Schulen und an den Ecken auf den Gassen, auf daß sie von den Leu­ ten gesehen werden. (Die jüdischen Heuchler trugen ihr Beten zur Schau, nicht allein in den öffentlichen An­ dachtsübungen in den Synagogen, sondern auch auf der Straße, indem sie sich vielleicht absichtlich auf ihren Gangen durch die Stadt von den gewöhnlichen Gebetsstunden über­

raschen ließen, und dann stehen blieben, um ihr Gebet zu verrichten.) Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn dahin (ihr Gebet hat keinen Werth in Got­ tes Augen und keine gesegneten Folgen). Wenn aber du betest, so gehe in dein Kämmerlein, und schließ die Thüre zu, und bete zu deinem Va­ ter im Verborgenen; und dein Vater, der in £ Verborgene siehet, wird dirs vergelten öf­ fentlich (V. 5. 6.). Jesu Worte sind hier, wie so oft, nicht wörtlich zu nehmen; er will nur sagen: Das Gebet soll

Sache des Herzens, innere Erhebung der Gedanken zu Gott, nicht äußerliche Uebung seyn, und erst dann ist es Gott wohlgefällig und von gesegneter Wirkung auf das Gemüth. Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern, wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhöret, wenn sie viele Worte machen: Darum spllt ihr ihnen nicht gleich thun. Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, ehe denn ihr ihn bittet (V. 7. 8.). Ist das Gebet Herzenssache und wahre Erhebung des Geistes zu Gott, so bedarf es nicht vieler, ja keiner Worte; denn Gott ist allwissend, und für den Allwissenden sind schon Gedanken und Gefühle hinrei­ chend. Mit diesem Gedanken an Gottes Allwissenheit soll

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Matth. 4, 23- 7, 29.

man beten: dadurch wird der Geist erst recht zu ihm empor­ gehoben. Das vollkommenste Gebet ist bloß innerlich, ein Aufschwung des Geistes zu Gott in unnennbaren Gefühlen; jedoch sind Worte, fremde und eigene, ein nützliches Hülfs­ mittel, die Gedanken zu wecken und zu leiten; selbst vorge­ schriebene Gebete sind nicht ganz zu verwerfen, und für die gemeinschaftliche Andacht fast unentbehrlich; Jesus erklärt sich bloß gegen den Mißbrauch der Worte, wenn man näm­ lich das Wesen des Gebets in das bloße Hersagcn derselben setzt, und durch lange Gebete Gottes Wohlgefallen zu er­ langen hofft. Darum sollt ihr also beten (V. 9.). Jesus schreibt im Folgenden nicht eine eigentliche Gcbctsformel vor, so daß seine Absicht gewesen wäre, die Jünger an seine Worte zu binden, sondern er gibt nur den Inbegriff der Ge­ danken an, die man Gott vortragcn soll. Jedoch thun wir nicht Unrecht, daß wir dieses musterhafte Gebet als Formel gebrauchen, weil selbst in den Worten desselben eine erhebende Kraft liegt, und weil, da wir einmal einer gemeinschaftli­ chen Formel bedürfen, wir am schicklichsten Christi Worte dazu gebrauchen. Dieses Gebet enthalt alle Grundzüge eines wahren Ge­ betes , und bezeichnet die Grenzen, innerhalb deren unsre An­ dacht sich bewegen soll. Unser Vater*) in dem Him­ mel. Schon in diesem Gedanken liegt der Inhalt jedes wahren Gebetes. Wir nennen Gott Vater, und drücken damit aus: das Gefühl unserer Abhängigkeit von ihm, als unserm Urheber und Erhalter, das Gefühl unsers Vertrauens zu ihm, als der uns liebt und für uns sorgt, und das Pflichtgefühl, ihm zu gehorchen und ihm nachzuahmen. Die­ ser Gedanke demüthigt, erhebt und heiligt uns. Wir nen­ nen ihn unsern Vater, den gemeinschaftlichen Vater Al­ ler, den Schöpfer und Erhalter der ganzen Welt, und drü­ cken dadurch das Gefühl der Gemeinschaft mit unsern Brü­ dern, unsers Zusammenhangs mit der ganzen Welt und un*) Luther undeutsch: Vater unser.

Matth. 4, 23—7, 29.

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ferer Unterordnung unter die Gesetze derselben ans. Wir denken uns Gott im Himmel, in der unsichtbaren Welt, als den über die sichtbaren Dinge, über Zeit und Raum erhabenen Herrscher der Welt, als den Allwissenden, als den Gott, der im Geist und in der Wahrheit qngebetet werden muß (Ioh. 4, 24.). Bei dem Ge­ danken an den Vater im Himmel steigen im Gemüthe des Beters schon alle Bitten, Vorsätze und Wünsche auf, welche Gott vorgctragcn werden sollen und dürfen. Die in diesem Gebete enthaltenen, nun folgenden Bitten sind von dreierlei Art. Die ersten drei bezeichnen den un­ gehemmten, kräftig wollenden Aufschwung des Geistes zu Gott, den Ausdruck begeisterter Liebe zum Guten, und schlie­ ßen zugleich Vorsatz und Willensrichtung ein. Die, vier andern enthalten das Gefühl der Hemmung, der Abhän­ gigkeit des Menschen von der irdischen Natur und des Kam­ pfes mit dem Bösen, und suchen bei Gott die Lösung dieses Zwiespaltes. Die ersten drei Bitten. 1. Dein Name werde geheiligt (V. 9.). Der Name Gottes iss das, womit man sein Wesen bezeichnet/ erkennt und den Glauben an ihn bekennt; es ist Gott, insofern er erkannt und ver­ ehrt wird. Sein Name wird geheiligt, wenn man ihn wahrhaft erkennt, würdige Vorstchungcn von ihm hegt, und ihn -auf eine würdige Weife verehrt, wenn man ihn im Geist und in.der Wahrheit anbetet. Werdas thut, dessen Gemüth ist geheiligt, erfüllt mit erhebenden, heiligenden Gefühlen, und unter einem Volke, welches Gott so verehrt, herrschen heilige Gesinnungen. Diese Ditte betrifft also die Beförderung der wahren Religion und An­ dacht, oder den Sieg der wahrcn-Kirche. 2. Dein-Reich komme, (V. 10.) nämlich zu uns; cs trete ein in die Gemeinschaft der Menschen. Gottes Reich besteht schon seit Ewigkeit, seit Schöpfung der Welt, im Weltganzcn, in dem heiligen Einklang aller Dinge mit Gottes Willen, in der nach heiligen .Gesetzen geführten Welt­ regierung ; aber es besteht noch nicht in der Gesellschaft der

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Matth. 4, 23 — 7, 29.

Menschen, welche noch oft durch Sünde und Unsittli'chkcit, d. h. durch Ungehorsam gegen Gott, entweihet ist. Auch das menschliche Leben soll jum Reiche Gottes, zu einer Ge­ meinschaft werden, welche durch göttliche Gesetze, durch die reinen Triebe der Liebe zusammcngchalten und bewegt wird. Wenn die Menschen nicht mehr durch Eigensucht, Ungerech­ tigkeit und Zwietracht unter einander entzweit, sondern durch Liebe und Eintracht als Brüder mit einander verbunden sind, und ihre Gesellschaft ein harmonisches Ganze, gleich dem Ganzen der Welt, darstellt: dann ist das Reich Gottes ge­ kommen. 3. Dein Wille geschehe auf Erden, wie im Himmel (V. 10.). Die in Liebe vereinigten Menschen sollen den Willen Gottes erfüllen, seinen Gesetzen gemäß leben, thun, was ihm wohlgefällig ist. Sein Wille ge­ schieht im Himmel, in der ewigen, unsichtbaren Welt, aber noch nicht auf Erden in der menschlichen Gesellschaft: daß er nun auch in dieser geschehe, ist das Bestreben und Anlie­ gen jedes guten Menschen. Diese zwei Bitten beziehen sich also auf die Beförderung des Guten, der Gerechtigkeit und Tugend, unter den Menschen, so wie die erste auf die Be­ förderung des religiösen Lebens; und alle drei betreffen An­ gelegenheiten, für welche jedes fromme Herz schlägt, und jeder gute, reine Wille entschlossen ist. Aber wenn der Geist in diesen Gedanken sich frei zu Gott und zur übersinnlichen Welt aufschwingt, so zieht ihn die irdische Natur wie mit schweren Gewichten herab. Der Leib ist an die Erde gefesselt, und irdischen Bedürfnissen un­ terworfen, und Sorgen für den Unterhalt beschweren die Seele. Davon kann nur das Vertrancn zum himmlischen Vater befreien, zu welchem wir beten: 4. Unser täglich Brod gib uns heute (V. 11.). Es ist die einzige Bitte um Irdisches, die in diesem Gebete enthalten ist; denn vor Gott sollen wir nicht viel an Irdisches denken. Es wird nur um das tägliche Brod gebeten, um die Befriedigung der unmittelbaren Nothdurft; um reichen Vorrath und Ueberfluß sollen wir nicht bitten, sondern ge-

Matth. 4, 23 — 7, 29. nügsam mit dem Nothwendigen zufrieden seyn.

91 Es wird

nur um das Brod gebeten, womit das Allcrunentbchrlichste bezeichnet ist. Die Nothdurft an Kleidung, Nahrung und dergleichen ist nicht ausgeschlossen, aber nicht ausdrücklich angegeben, damit wir unsere Gedanken vor Gott nicht all­ zusehr mit diesen Dingen beschäftigen. Wir beten um un­ ser Brod, nicht ein jeder um sein eigenes, sondern auch um das unsrer Nebenmenschen, damit wir nicht selbstsüchtig bloß für uns selbst, sondern auch für Andere sorgen. Wenn der Mensch an Gott und seinen heiligen Willen denkt, so fühlt er, daß er ihm bisher auf mannigfaltige Weise ungehorsam gewesen ist; ihn drückt manche Schuld, die er sich durch Uebertretung der göttlichen Gesetze, durch Beleidigung seiner Nebenmenschen aufgeladcn hat. Er wirddicser Schuld gerade dann erst recht inne, wenn er sich im Gebete Gott nahet; aber von Gott erwartet er auch zu­ trauensvoll die Befreiung von diesem drückenden Gefühle, indem er seiner Gnade und Barmherzigkeit vertraut. 5. Und vergib uns unsere Schulden, wie wir unsern Schuldiger» vergeben (V. 12.). Die Befreiung von dem Gefühle der Schuld oder die Sünden­

vergebung besteht darin, "daß der Fehlbare trotz seiner bis­ herigen Fehler den Muth faßt, es werde besser mit ihm werden; daß er in seinen Sünden kein Hinderniß seines Fort­ schreitens zum Guten findet, sondern von Gottes Gnade den Sieg des Guten in seinem Leben hofft; mit einem Worte, sie besteht in der Versöhnung des innern Zwiespaltes. Soll uns aber diese zu Theil werden, so müssen wir. auch zur Versöhnung mit unsern Brüdern bereitwillig seyn. Ohne Versöhnlichkeit gegen den Nebenmenschen keine Versöhnung mit Gott und keine Versöhnung mit uns selber. Dieses hat Jesus ausdrücklich erklärtV. 14 f.: Denn so ihr den Menschen ihre Fehler vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wo ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht ver­ gebet, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben. Sündenvergebung erlangt der

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Matth. 4, 23—7, 29.

Sünder nur durch demüthige Anerkennung seiner Fehler und durch Vertrauen zu Gottes Gnade; die Demuth aber stimmt zur Versöhnlichkeit gegen den Nächsten, weil der Fehlbare Andere nicht streng beurtheilen, daxf, sondern Nachsicht mit der menschlichen Fchlbarkcit haben muß; und das Vertrauen zu Gottes Gnade, worauf der Sünder für sich selbst die Hoff­ nung der Verzeihung gründet, welches ihn vom Schuldge­ fühl befreit, laßt ihn dasselbe auch für den fehlenden Mit­ bruder hoffen, und stimmt ihn milde gegen ihn. Den frommen Beter drückt nicht bloß das Gefühl sei­ ner Fchlbarkcit beim Rückblick auf sein vergangenes Leben, sondern er fühlt sich auch gehemmt und beengt, indem er auf die vor ihm, liegende Lebensbahn sieht. Es erwartet ihn mancher Kampf mit dem Bösen, wozu er sich zu schwach fühlt, wenn ihm-Gott nicht beistcht, Darum betet er: 6. Undfüh^euns nicht-iu Versuchung (23.13.) d.h.Gott soll uns nicht in solcheVersuchungcn führen, welche uns allzuschwer sind, er soll die Versuchung so ein Ende gewinnen lassen, daß wir es ertragen mögen (1 Kor. 10. 13.). EH ist hier von Versuchung nicht in dem Siyne, wie Jak. 1,-13., die Rede: Nie­ mand sage, wenn er versucht, wird, daß er von Gott versucht werde. Denn, Gott ist nicht ein Versuchen zum Bösen? er versucht niemand. Da ist nämlich Versuchung so viel als Reizung, Veranlas­ sung zum Bösen, in unserer Stelle aber ist es nichts als Prüfung; und Prüfung sendet uns Gott allerdings, d. h. er führt uns in solche Lagen, daß wir Festigkeit des guten Willens beweisen müssen, wenn wir nicht fallen sollen. Die menschliche Tugend, muß geprüft werden, wenn sie sich be­ wahren soll: und daher kann eben der Sinn der Bitte nicht der seyn, als spllte uns Gott mit aller Versuchung verscho­ nen. Aber indem wir erwarten müssen, von Gott in solche Lagen gcführttzu werden, in welchen unsere Tugend geprüft wird, müssen wir zugleich zutrauensvoll von ihm Schonung unserer Schwachheit und Unterstützung unsrer geringen

Kräfte erflehen: und das ist der Sinn dieser Bitte.

Matth. 4, 23—-7, 29.

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7.Sondern erlöse uns von demBösen. Gott soll die Gewalt des Bösen so wohl in uns selbst als in An­ dern immer geringer, unsere und fremde Tugend immer stär­ ker und das Gute in der Welt immer herrschender werden lassen. In dieser Bitte liegt die Sehnsucht nach Aufhebung alles Zwiespaltes im Reiche der Sittlichkeit, der letzte und tiefste Seufzer des von der Sünde gedrückten Herzens. Sind wir vom Dösen erlöst, dann ist das Reich Gottes gekommen, und Sein Wille geschieht auf Erden, wie im Himmel: und so schließt sich die letzte Bitte an die drei ersten an. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Diese Worte enthal­ ten die Zuversicht des Betenden zu Gottes Allmacht; er ist der allmächtige, ewige Herrscher der Welt, und darum kann und wird er unsers Bitten erhören und erfüllen. Diese Worte, obgleich sic sich in vielen Handschriften, allen Ueber« setzungen und Kirchenschriftstellern nicht finden, machen doch im kirchlichen Gebrauch mit Recht den Schluß dieses Gebe­ tes, und dienen dazu, dem Ganzen Haltung und Sicherheit zu geben. Ja, frommer Beter, stütze dich nur auf den Glauben, daß Gott dein Gebet erfüllen kann und wird, und du wirst nicht zu Schanden werden ! Nun spricht Christus noch vom Fasten, einer in der da­ maligen Zeit häufigen Uebung der Frömmigkeit, um an ihr dieselbe Forderung geltend zu machen, daß die Frömmigkeit von Heuchelei und Prahlsucht frei seyn soll. Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer aussehen, wie die Heuchler; denn sie verstellen ihr Angesicht, auf daß sie vor den Leuten scheinen mit ihrem Fasten. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn dahin. Wenn du aber fastest, so salbe dein Haupt, und wasche dein Angesicht (so thue eher das Gegentheil von dem, was die Heuchler thun, vermeide alles Prahlen), auf daß du nicht scheinst vor den Leuten mit deinem Fasten, son« der» vor deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der ins Verborgene siehet,

Matth. 4, 23 — 7, 29.

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wird dirs vergelte»

öffentlich (93. 16 —18.).

Das Fasten soll, wie jede sittliche Handlung und Uebung, aus innerem Triebe und Bedürfniß, im Angesichte Gottes geschehen, und hat nur dann einen innern Werth und eine gesegnete Wirkung auf das Gcnjüth. Einzelne

Sprüche.

Cap. 6, 19—7, 23. Nun folgen noch einzelne Sprüche, welche zum Theil von Jesu bei andern Gelegenheiten gesprochen (wo sie auch Lukas anführt), von Matthaus aber hier angereihet wor­ den sind.

Vom Schäßesammeln. Cap. 6, 19 — 21. Vgl. Luk. 12, 33.34.

Ihr sollt

euch nicht Schätze sammeln auf

Erden, da sie die Motten und der Rost fresse» und da die Diebe nachgraben und stehlen, d. h. vergängliche Schätze, welche dem Verlust unterworfen sind, und wozu nicht allein Gold und Silber, Kleider und Lcbensmitttl u. f. w., sondern alles Zeitliche gehört, selbst solche geistige Vorzüge, welche nicht unmittelbar das Heil der Seele angehen, Gegenstände der Liebe, welche sterblicher Natur sind u. a. m. Alles dieses sollen wir nicht mit solcher Begierde und Sorge umfassen, und nicht unser Herz so sehr daran hängen, daß wir darüber unser Seelenheil vergessen. Irdische Schätze zu sammeln verbietet Jesus nicht schlechthin, sondern nur in so weit, als wir sie zum einzigen und höch­ sten Gegenstand unseres Strebens machen, und durch die unrechtmäßige Liebe zu ihnen unfähig geworden sind, sie für höhere Güter und zum Besten der Bedürftigen hinzugeben. Bei Lukas heißt es in diesem Sinne: Verkaufet was ihr habt, und gebet Almosen (Cap. 12, 33.). Dieß ist zwar nicht unbedingt und allgemein gesagt, sodaß jeder Begüterte sich aus Liebe zu den Armen zum Bettler

Matth. 4, 23 — 7, 29.

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machen soll; aber es liegt bann doch die Anfodcrung, daß wir fähig seyn sollen unsre Güter aufzuopfcrn. Sammelt eud) aber Schätze im Himmel, da sie we­ tz er Motten noch Rost fressen und da die Diebe nicht nachgraben, noch stehlen. Solche Schätze sind: die Erkenntniß des Wahren und Guten oder Weisheit; der Glaube an Gott, seine Allmacht, Gnade und Heiligkeit, an Christus und seine Erlösung, und die Beruhigung des Gemüths, welche dadurch gewonnen wird; die Hoffnung auf das Ewige, auf Unsterblichkeit und Vergeltung, ein gutcs Gewissen, das ein pflichtmäßigcs Betragen, ein from­ mer Wandel mit sich führt. Diese Schätze sind himmlischer, unvergänglicher Art; denn sie gehören unsrer unsterblichen Seele. Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz. Auf das, was man liebt, wofür man sorgt, ist das Herz hingcrichtet mit seinen Trieben und Neigungen, seinen Wünschen und Begierden. Strebt nian nach Irdi­ schem, so ist das Herz an die Erde gefesselt, und voll irdi­ scher Begierden; strebt man aber nach Himmlischem, so ist das Herz emporgerichtct und voll heiliger, reiner Triebe.

Vom innern Lichte. Kap. 6, 22. 23. Vgl. Luk. 11, 34—36. Das Auge ist des Leibes Leuchte: wenn nun dein Auge einfältig (rein, gesund) ist, so wird dein ganzer Leib licht (erleuchtet) seyn; wenn aber dein Auge böse*) (krank) ist, so wird dein ganzer Leib finster seyn (so daß du keinen Weg fle­ hest). Wenn nun das Licht, das in dir ist, (die Vernunft) Finsterniß ist: wie groß wird dann die Finsterniß seyn? Wennschon das äußere Auge un­ entbehrlich ist, wie viel wichtiger ist das innere Auge des Geistes, und wie sehr haben wir uns zu hüten, daß wir es nicht durch Aberglauben und Verstockung verfinstern las:) Luther: ein Schalk.

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Matth. 4, 23 — 7, 29.

scn! So schaue darauf (heißt esbciLükas), daß nicht das Licht in der Finsterniß sey! Jesus ist weit entfernt, einen blinden dunkeln Glauben als das Gott Wohl­ gefällige zu federn; nein! er will Ausbildung der Vernunft, Aufklärung, Einsicht, einen freien, denkenden Geist.

Von den Nahrungssorgen. Cap. 6, 24 — 34. Vgl. Luk. 16, 13. 12, 22 — 31.

Niemand kann zweien Herren dienen. Ent­ weder wird er den einen hassen und den an­ dern lieben, oder dem einen anhangen und den andern verachten. Ihr könnet nicht Gott dienen und dem Mammon. Wie man im weltlichen Leben nicht zweien Herren zugleich dienen kann, so kann man nicht Gott und dem Mammon (dem Ncichthume) zugleich die­ nen; beider Dienst vertragt sich nicht mit einander; wer dem Geiz und der Habsucht ergeben ist, dessen Herz ist von Gott und göttlichen Dingen abgcwcndct; er versäumt es, sich himmlische Schatze zu sammeln, er gibt für irdische die himmlischen hin; ja, er sündigt wohl gar aus irdischer Liebe, und erzürnt Gott, indem er dem Mammon dient.. Darum sage ich euch: Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet, auch nicht für euern Leib, was ihr anziehen wer­ det. Ist nicht das Leben mehr, als die Speise, und der Leib mehr, als die Kleidung? Derjenige, -er das Leben gegeben und den Leib geschaffen hat, wird auch Nahrung und Kleidung geben. Sehet die Vögel un­ ter dem Himmel: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nähretsie doch. Seyd ihr denn nicht viel mehr, als sie? und wird nicht Gott auch für euch, und mehr noch, als fürste, sorgen? Der Blick in die reiche Natur, in welcher der Ueberfluß und die Fülle herrscht, stimmt den Menschen zur Sorglosigkeit, zum Vertrauen. Besonders sind die Vögel mit ihrem lcich-

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tcn Umherffattern und muntern Gesang ein Bild fröhl i'chcr Sorglosigkeit. Wer ist unter euch, der seinem Le­ bensalter*) eine Elle zusctzen (sich auch nur um weniges das Leben verlängern) möge, ob er gleich da­ rum sorget! Alles Sorgen ist doch für die Hauptsache vergeblich; das Leben und dessen Verlängerung steht in einer höheren Hand, nicht in des Menschen Macht. Und wa­ rum sorget ihr für die Kleidung? Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbei­ ten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist, als derselben eine. Der köstlichste Purpur wird doch vom Purpur der Lilien über­ troffen. So denn Gott das Gras auf dem Felde also kleidet, d-s doch heute stehet und morgen (abgehauen und) in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht vielmehr euch thun? O ihr Klein­ gläubigen! Der Anblick der schönen, reichen Blumen­ welt erfüllt mit Bewunderung und Vertrauen gegen den Schöpfer, und tilgt die ängstlichen Sorgen aus dem Ge­ müthe: wir fühlen bei ihrer Betrachtung, daß eine höhere Macht, als die menschliche Klugheit und Sorge, Leben gibt und erhalt, und daß auch wir dieser so väterlich sorgenden Macht unterworfen sind; wir werden von unserm kleinen bürgerlichen Standpunkte hinweggcrückt und auf einen Hä­ hern erhoben, von welchem aus alle Sorgen als unbe­ deutend erscheinen. Jesus war gewiß ein Freund der schö­ nen ländlichen Natur, und betrachtete sie ost mit from­ men Gedanken: wir thun daher wohl, recht oft in diesem großen Tempel Gottes anzubctcn. Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir «ns kleiden? Nach solchen allen trachten die Heiden, die keinen rechten Glauben an die göttliche Vor­ sehung haben. Denn e u e r h i m m l i sche r Va t e r weiß, *) Luther: Sänge (Wuchs). Bibl. ErbauungSb. II.

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Matth. 4, 23 — 7, 29.

daß ihr das alles bedürfet.

Wer Vertrauen zu

Gott dem allwissenden Versorger aller seiner Geschöpfe hat, kann nicht ängstlich sorgen. Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtig­ keit (nach der Gerechtigkeit, die Gott fordert, die ihm wohlgefallt): so wird euch solches alles Zufällen. Das Streben nach den geistigen Gütern, nach Wahrheit, Tugend, Gottseligkeit, soll dem Christen das Wichtigste seyn, und ist er in diesem tüchtig, so wird er daneben auch noch so viel irdische Guter erlangen, als ihm nöthig ist; denn er wird daneben auch fleißig seyn in seinen irdischen Geschäften, indem die Pflicht für uns selbst und andere und gemeinnützige Liebe zu unsern Nebcnmcnschen uns dazu auffordert. Un­ fleiß und Trägheit vertragt sich nicht mit dem wahren Trach­ ten nach der Gerechtigkeit Gottes. Aber der Gewinn irdi­ scher Güter soll immer Nebensache bleiben; wohlzuthun und zu nützen ist die Hauptsache; nur soll man nicht zweifeln, daß jene Nebensache sich immer auch einstellcn wird, wenn man auf die Hauptsache gerichtet ist. Ein uneigennütziger Fleiß wird immer belohnt werden. Wenn das Reich Gottes das Wesentliche, Nahrung und Kleidung aber das Unwesentliche ist: so ist es überall so, daß, wer mit Ernst auf jenes ge­ richtet ist, auch dieses mit nebenher empfangt. Das We­ sentliche zieht immer, wie das Licht den Schatten, das Zu­ fällige nach sich. Fürchte dich nicht, du kleine Heerde; denn cs ist eures Vaters Wohlgefal­ len, euch das Reich zu geben. (Luk. 12, 32.) Wer zum Reiche Gottes berufen ist, der braucht nichts auf Er­ den Zu fürchten, und sich nicht mit Sorge» zu plagen. Im Besitz der geistlichen Güter, ist er erhaben über irdische Be­ dürfnisse und Sorgen. Darum sorget nicht für den andern Morgen; denn der morgende Tag wird für das Seine sorge». Man soll nicht ängstlich in die Zukunft blicken und sich dadurch das Leben verbittern: die Zukunft wird schon Hülfe und Rath mit sich bringen; sie birgt in ihrem Schooße vieles, was man nicht vorher sicht, nicht einmal hoffet. ES ist genug, daß ein jegli-

Matth. 4, 23 — 7, 29.

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cher Tag seine Plage habe. Man hat schon genug für jeden Tag zu sorgen: warum soll man sich noch mit Sor­ gen für die Zukunft plagen? Eine vernünftige, gemäßigte Sorge, welche nicht die Heiterkeit des Gemüths stört, ver­ wirft Jesus nicht, sondern nur eine solche, welche die Seele beunruhigt und nicderdrückt. Die fromme Sorglosigkeit aber, die er fordert, ist noch verschieden von dem frohen Leichtsinn, den die Freunde des Lebensgenusses empfehlen. Jene gründet sich auf das Vertrauen auf Gott und die Ge­ ringschätzung der irdischen Güter; dieser aber auf nichts als die Genußsucht oder Gedankenlosigkeit. Auf den Grund und die Quelle kommt es überall an; ein Betragen kann deck

Anschein nach dasselbe seyn, und doch ist cs in der innern Wurzel ein ganz anderes.

Vom Splitterrichten. Cap. 7, 1 — 5.

Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Es ist das lieblose, vcrdammungssächtige Rich­ ten gemeint, das angelegentliche, übelwollende und selbst­ gefällige Aufsuchen der fremden Fehler; nicht ein verständi­ ges, wohlmeinendes Beurtheilen des fremden Betragens zur eigenen oder Anderer Warnung. Letzteres ist nicht nur nicht verwerflich, sondern sogar nothwendig und heilsam; jenes aber ist darum so sehr tadclnswerth, weil es den Gegenstand beleidigt und ihm an seiner Achtung und seinem guten Rufe schadet, weil es zur rachsüchtigen Erwiederung reizt und somit den Frieden stört, und uns gegen unsre eigenen Feh­ ler verblendet. Denn indem man die Fehler Anderer auffaßt, vergißt man leicht die eigenen. Jesus macht hier nur die beiden letzten Nachtheile bemerklich. D e n n m i t welcher­ lei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden. Der Splitterrichter bringt in den Rede - und Besinnungs-Verkehr Haß und Lieb­ losigkeit, indem er ähnliche lieblose Urtheile über sich hervorG 2

ICO

Matth. 4, 23—7, 29.

ruft, und verderbt so das menschliche Leben, bereitet sich aber selbst dadurch seine Strafe. Das menschliche Leben sollte eine Wechselwirkung der Liebe und des Wohlwollens seyn, wodurch ein Jeder gebessert und beglückt würde; der Eplitterrichter bringt aber in dasselbe die Reibung des Has­ ses und der Rachsucht. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balken in deinem Auge? Oder wie darfst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge zie­ hen? Und siehe, ein Balken ist in deinem Auge! Du Heuchler! ziehe am ersten den Balken aus deinem Auge; darnach siehe zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest. Wer sich mit Anderer Fehler selbstgefällig beschäftigt, der vergißt, daß er ebenfalls Fehler hat, und vielleicht größere, als sein Nächster, diese sollte er erst von sich thun, ehe ec Andere so lieblos beurtheilt. Ja, wenn der Andere auch wirklich einen Balken in seinem Auge trüge, einen großem Fehler an sich hatte, so berechtigt dieß nicht zu lieblosem Ur­ theil und zum Vergessen der eigenen obschon kleinern Fehler; nie beurtheile man Andere, als nm sich und seine Fehler selbst an ihren zu spiegeln und sich dadurch zu bessern.

Von der Vorsicht in Mittheilung des Hei­ ligen. Cap. 7, 6. Ihr sollt das Heiligthum nicht den Hun­ den geben, und eure Perlen nicht vor die Saue werfen, auf daß sic dieselben nicht zertreten mit ihren Füßen, und sich wenden und euch zerreißen- Man soll das Heilige, die Wahrheit, den Glauben, die heiligen, innigen Gefühle des Herzens, nicht unwürdigen, unreinen Menschen mittheilen, weil man sie dadurch nicht gewinnt, sondern eher reizt und erbittert: sie verstehen und würdigen das Mitgetheilte nicht, fühlen sich

sßlattff. 4, 23 — 7, 29.

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eher dadurch belästigt und verletzt, als erfreut und gehoben: und so wenden sie sich feindlich gegen die, welche es mittheilen. Cs wird also von denen, welche die Wahrheit zu ver­ kündigen haben, eine kluge Beurtheilung derer, an welche sie sich zu wenden haben, erfordert. Zwar soll man die Wahrheit nicht verhehlen, aber auch nicht wegwersen. Zu­ nächst sagt Jesus dieses wohl für seine Jünger, welche das Evangelium verkündigen sollten; jedoch laßt cs sich auch auf uns in mehr als einer Beziehung anwenden. Wir sollen unsere besten, innersten Gefühle und Ueberzeugungen nicht solchen Menschen aufdringen, welche sie nicht zu fassen und zu würdigen wissen; wir sollen uns mit unserer Mittheilung immer an solche wenden, welchen wir Empfänglichkeit zu­ trauen können.

Von der Erhörung des Gebets. Kap. 7, 7 — 11. Vergl. Luk. 11, 9—13.

Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgethan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da suchet, der findet; und wer da an­ klopft, dem wird aufgethan. Es ist von den Bitten an Gott die Rede,* deren Erhörung Christus sicher verheißt. Er fordert Vertrauen beim Gebet, Vertrauen zu der Liebe Gottes, daß sic die Sehnsucht des bittenden Herzens erfüllen werde. Ohne dieses Vertrauen ist das Gebet ohne Kraft; mit ihm aber ist es voll Trost und Stärkung. Jesus ver­ gleicht Gott mit.einem Vater. Ein Mensch gibt seinem bit­ tenden Sohne, was er begehrt: wenn er nm Brod bittet, so gibt er ihm Brod, und tauscht ihn nicht mit einem der Gestalt nach ähnlichen Steine; wenn er um einen Fisch bittet, so gibt er ihm einen solchen, und nicht eine der Gestalt nach ähnliche Schlange (V. 9. 10.). Wenn ihr nun, fahrt er fort, die ihr doch arg (sündhaft, nicht so heilig und voll reiner Liebe, wie Gott) seyd, könnet dennoch enern Kindern gute Gaben geben: wie viel

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Matth. 4, 23 — 7, 29.

mehr wird euer Vater km Himmel Gutes ge­ ben denen, die ihn bitten? Nichts erweckt so viel Vertrauen zu Gott, als wenn wir ihn uns als einen gütigen Vater denken, und mit kindlichem Herzen ihm nahen. — Damit man aber diese Rede Jesu von der Erhörung des Gebets nicht mißverstehe, und nicht wahne, daß alle und jede Bitten, die wir thun mögen, erfüllt werden: so erwäge man, daß Jesus bloß von Bitten um geistliche Güter redet, wie dieses im Evangelisten Lukas bestimmt gesagt wird, wo statt des Wortes: Gutes, der Ausdruck: heiliger Geist, gebraucht ist. Um irdische Güter dürfen wir auch bitten, aber mit der Ergebung in Gottes Willen, daß wir uns dar­ auf gefaßt machen, auch nicht, erhört zu werden, d. h. die Erfüllung unserer Bitten nicht zu erhalten. Dcmungcachtct sind solche Bitten nicht vergeblich, weil wir uns dadurch in der Ergebung starken, so wie dort im Garten Gethsemane Jesus durch das Gebet sich im Entschlüsse zn leiden stärkte und befestigte.

Von der sittlichen Gegenseitigkeit. Kap. 7, 12. Alles was ihr wollet, daß euch die Leute thun, das thut ihr ihnen auch. In der sittlichen Welt kommt Alles auf Gemeinschaftlichkeit und Wechselwir­ kung und auf Unterdrückung der Selbstsucht an. Die Mei­ sten machen nur Ansprüche an Andere, ohne auch diesen solche

zuzugestchcn und zu erfüllen; sic wollen nur empfangen, aber nicht geben, sie betrachten sich gleichsam als den Mittelpunkt der Welt, um den sich alles drehen müsse. Dagegen fordert Jesus, das Gesetz der Gegenseitigkeit anzuerkenncn, der Selbstsucht zu entsagen, und nicht bloß an sein eigenes Wohl, sondern auch an das der Andern zu denken und dafür zu sorgen. Es ist dasselbe, was das Gesetz sagt: Liebe deinen Nächsten als dich selbst. Der Mensch liebt sich selbst, und will, daß Andere ihm dasjenige leisten, was sein Wohl verlangt; man soll aber auch sie lieben, und für

Matth. 4, 23 — 7, 29.

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ihr Wohl sorgen. Das ist das Gesetz und die Pro­ pheten, d. h. ihr Hauptinhalt; es ist das Grundgesetz der sittlichen Welt, welche erst dann Einheit und Einklang er­ halt, wenn Alle sich gegenseitig helfen und dienen, und ein Jeder die Rechte des Andern anerkennt. Schluß

der Rede.

Kap. 7, 13—27.

Nunmehr kommt Jesus zum Schlüsse oder zum ermah»enden Theile seiner Rede, jedoch bedient er sich noch An­ fangs abgerissener Sprüche, welche mehr oder weniger be­ stimmt den Zweck der Ermahnung haben. Erst V. 24—27. ermahnt er bestimmt zur Befolgung seiner Lehre. Aufforderung, den Weg der Seligkeit

zu betreten. V. 13. 14. Vgl. Luk. 13, 24. Gehet ein durch die enge Pforte, die zum Le­

ben, zur Seligkeit führt. Denn die Pforte ist weit, und der Weg breit, der zur Verdammniß ab­ führt: das Leben der Gottlosigkeit, des Lasters thut dem sinnlichen Menschey-^eincn Zwang an, legt ihm kein Opfer auf, laßt seinen Lüsten freien Spielraum, aber deßwegen führet es auch zum zeitlichen und ewigen Verderben; und ihrer sind Viele, die darauf wandeln: der Weg ist lockend für Viele, weil sie wahnen, in der Zwanglosig­ keit , in der Befriedigung ihrer Lüste liege ihr Heil, weil sie das Scheinbare für'das Wahre, das Augenblickliche für das Ewige ergreifen. Und die Pforte ist enge, und der Weg ist schmal, der zum Leben führet: die Tugend, die Gottseligkeit fodert von dem sinnlichen Men­ schen Opfer und Entsagungen, und zieht ihm (wie zumal

den ersten Christen) Verfolgungen und Leiden zu; und Wenige sind ihrer, die ihn finden: die Meisten lassen sich von diesen Schwierigkeiten abschrecken, indem sie

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Matth. 4, 23—7, 29.

ihr sinnliches, irdisches Wohl mehr lieben, als ihr ewiges. Christus aber federt uns auf, durch die enge Pforte, auf dem schmalen Wege zum Leben einzugchcn. Das Evange­ lium stellt uns aufrichtig die Schwierigkeiten vor, die wir zu überwinden haben; aber zu welchem herrlichen Ziele ladet es uns ein!

Warnung vor falschen Propheten. V. 15 — 20. Seht euch vor vor den falschen Propheten (dergleichen die heuchlerischen Pharisäer waren), die. in Schafskleidern zn euch kommen, inwendig aber reißende Wölfe sind, welche eine sanfte, fromme Au­ ßenseite haben, aber verderbliche Absichten und Gesinnungen hegen, welche nicht das Wohl des von ihnen unterrichteten und geleiteten Volkes, sondern ihren Vortheil, die Befrie­ digung ihrer Herrschsucht, suchen. Woran aber erkennt man solche falsche Lehrer? Jesus gibt nicht als Merkmal gewisse Dogmen, sondern Handlungen an. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Die Handlungen gehen aus dem Innern, aus der Gesinnung hervor , so wie die verschiedenen Früchte der verschiedenen Gewächse aus ih­ ren innern Saften. Kann man auch Trauben lesen von den Dornen oder Feigen vdn den Disteln? Weder des einen noch des andern Gewächses Natur macht solche Früchte möglich. So bringet ein jeglicher guter Baum gute Früchte, aber ein schlechter*) Baum bringet arge Früchte. Ein guterBaum kann nicht arge Früchte bringen, »nd ein schlechter Baum kann nicht gute Früchte bringen. Es ist dieß ein sehr richtiger Satz, daß die Beschaffenheit der menschlichen Handlungen, wie die Früchte eines Baumes, sich nach der Beschaffenheit der innern Natur richtet: daher muß man diese zu bessern suchen, wenn man bessere Werke

) Luther: fauler.

Matth. 4, 23—7, 29. und Früchte erzielen will, nicht aber diese äußerlich hervor-

zubringcn unternehmen. Die Freunde der Werkheiligkeit sehen bloß ans die äußerlichen Früchte, und fragen nicht nach dem Innern; ganz anders das Evangelium: dieses fodert nicht Werke, sondern Gesinnungen, aus welchen jene von selbst hcrvorgchen. Ein jeglicher Baum, der nicht gute Früchte bringet, wird abgchancn und ins Feuer geworfen. Das in seiner Natur und in seinen Wirkungen Schlechte trägt den Keim des Verderbens in sich, und kann in der sittlichen Welt keine dauernde Stelle finden. So ging das heuchlerische Wesen der Pharisäer und Schriftgelchrtcn unter, und so geht zu jeder Zeit früher oder spater das Schlechte und Verderbte unter. Darum an ihrenFrüchten sollt ihr sie erkennen. Noch­ mals weist Jesus auf dieses untrügliche Merkmal falscher Lehre hin: man soll diejenigen fliehen, welche das Gute, das sie predigen, nicht selbst üben.

Gegen die, welche Jesum nur mit dem Munde bekennen. V. 21—23. Vrgl. Luk. 13, 25 — 27.

Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr Herr! in das Himmelreich kommen, son­ dern die den Willen thun meines Vaters im Himmel. Zu Jesus sagen: Herr, Herr! schließt nicht nur das äusserliche Bekenntniß des Glaubens an ihn, als den Messias und Sohn Gottes, das auch heuchlerisch seyn kann, sondern noch viel mehr ein. Jesus rechnet offenbar noch hinzu: das Weissagen in seinem Namen; Weissagen ist aber so viel, als Predigen, Lehr- und Er­ mahnungs-Vorträge halten, und in seinem Namen so viel als über seine Lehre oder den Glauben an ihn: ferner das Teufelaustreiben und Thaten oder Wunder thun in seinem Namen, d. h. unter Anrufung seines Namens. Denn er sagt: Es werden Viele zu mir sagen an jenem Tage (des Gerichts): Herr, Herr,

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Matth. 4, 23 — 7, 29.

haben wir nicht in deinemNamett geweissaget? u. s. w. Dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch noch nie (als die Meinigen) erkannt; weichet alle von mir, ihr Ucbelthater! Hier also dringt Jesus wieder auf das thätige Christenthum, nicht auf sogenannte Rechtgläubigkeit. Würden nicht solche, die nicht nur den Glauben an Jesum predigen, sondern sogar Wunder thun, in unsern Augen als sehr würdige Jünger Christi erscheinen? Würden wir nicht glauben, daß sie eine sehr hohe Stelle in seinem Reiche einnehmen? Aber Jesus urtheilt anders. Er erkennt solche nicht für die ©einigen, wenn sie nicht den Willen seines Vaters im Himmel thun; er heißt sie mit Abscheu von ihm weichen. So wenig gilt ihm das Bekenntniß mit dem bloßen Munde, und wir dürfen auch hinzusetzen: mit dem bloßen Verstände (denn zum Weissagen gehört Geist und Einsicht), wenn es nicht aus dem Herzen kommt, und sich nicht am Handeln beweifet; so wenig gilt ihm auch die Wunderthätigkeit ohne sittliche Ge­ sinnung und That. Schlußermahnung.

V. 24—27. Darum wer diese meine Rede höret und sie thut, den vergleiche ich einem klugen Manne, der sein Haus auf einen Felsen bauete. Da nun ein Platzregen fiel, und ein Gewässer

kam, und die Winde wehrten, und an dasHaus stießen: so fiel es doch nicht, indem es auf einen Felsen gegründet war. Wer Jesu Rede hört, glaubt und thätig befolgt, der gründet dadurch fein Heil unerschütterlich fest; denn er gründet es auf Gott und die göttliche Wahrheit. Kein Wechsel des Schicksals, keine Prüfung durch Gefahren und Leiden kann seine Ruhe erschüt­ tern ; keine Zweifel können seine feste Ueberzeugung von der Wahrheit wankend machen. Wer aber diese meine Rede höret und thut sie nicht, der ist einem

Matth. 4, 23 —7, 29.

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thörigten Manne gleich, der sein Hans auf den Sand bauete. Danun ein Platzregen fiel, und ein Gewässer kam, und die Winde wehr­ ten und an das Haus stießen: da fiel es und that einen großen Fall. Wer an Jesum nicht glaubt und ihm nicht gehorcht, der gründet sein Heil auf den irdi­

schen, vergänglichen Schein, auf die vergänglichen, augen­ blicklichen Befriedigungen, welche die irdischen Lüste gewah­ ren, auf Wahn und Irrthum, welche jeder Windstoß des Zweifels zerstreuet, mithin auf einen lockern, wankenden Grund; er kann in der Prüfung nicht bestehen, hat keine Ruhe und keinen Frieden, und geht seinem Verderben ent­ gegen^ O Christ, der du diese Belehrungen liesest und hörest, laß dir diese seine Warnung zu Herzen gehen! Höre nicht nur, was.er sagt, sondern nimm cs auch mit gläubigem Herzen auf, und übe es in deinem Leben! Cs enthält Alles, was zu deinem zeitlichen und ewigen Heil erforderlich ist! du gründest dadurch dein wahres Wohl unersschüttcrlich fest, so daß cs keine Stürme des Lebens wankend machen können. Alle andere Grundlagen deiner Glückseligkeit sind schwankend und trüglich, und können der Gewalt der Zeit und Ver­ gänglichkeit, den Stürmen des Unglücks und der Prüfung nicht widerstehen. Gib dich redlich deinem Heiland hin, reinige dein Herz von allem todten, heuchlerischen Wesen, von aller irdischen Liebe, und erfülle Sein und Gottes Gesetz mit auf­ richtiger Treuer so wirst du als Lohn ein gutes Gewissen und den Frieden Gottes haben, welcher jedes irdische Glück, jede Befriedigung durch sinnliche Genüsse und Besitzthümer übersteigt. Und es begab sich, da Jesus diese Rede vollendet hatte, entsetzte (erstaunte) das Volk über seine Lehre; denn er predigte gewaltig, und nicht wie die Schriftgelehrten. (Matth. 7, 28. 29.). Die Gewalt der aus dem Innern des Geistes hervorströmenden Rede war dem Volke etwas Neues, da es bisher nur an die klügelnde, spitzfündige, Menschensatzung

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Matth. 8, 1 — 4.

und kleinliche Vorschriften enthaltende Lehre der Schriftgelehrten gewohnt war. Diese Gewalt des Geistes soll leben wahrhaft christlichen Lehrvortrag erfüllen; und wer sich gläubig dem Geiste Christi hingiebt und sein Her; im Gebete zu Gott erhebt und läutert, dem wird diese Gewalt nicht feh­ len. Christi Geist theilt sich fort und fort den ©einigen mit, und leitet sie in alle Wahrheit. Nun lassen die Evangelisten Berichte von einzelnen Wundcrthaten, Reden und Lehrverträgen Jesu folgen, durch die er sich als denjenigen bewies, der gekommen war, das Reich Gottes auf Erden zu stiften.

Matth. 8, 1 — 4. Mark. 1, 40—45. Luk. 5,12 — 16. Heilung

des Aussätzigen.

Als Jesus inVegleitung vieles Volkes vom Berge herab ging (Matth. 1.), da kam ein Aussätziger, und betete ihn an, d. h. fiel vor ihm nieder, und sprach: Herr, so du willst, kannst du mich wohl reinigen (Matth.2.). Er hat das Vertrauen zu Jesu, daß es nur von seinem Wil­ len abhange, ihm von dieser ekelhaften und lästigen Krank­ heit, die er schmerzlich fühlt und verabscheut, zu befreien; und dieses Vertrauen ist hier, wie immer, der Weg, Hülfe von Christo zu erlangen. Jesus streckte seine Hand ans, rührte ihn an (durchBerührung heilte er öfters),

und sprach: Ich will es thun, sey gereinigt! Jesus kommt denen, die ihm vertrauen, immer hülfreich ent­ gegen. Und alsbald ward er von seinem Aus­ satz rein (Matth. 3.). Dieser Aussätzige ist uns ein Bild des Sünders, dessen Seele von der Befleckung des Lasters und der irdischen, fleischlichen Gesinnung verunreinigt ist, und allein durch den Glauben an Jesum gereinigt werden kann. Aber er muß vor allen Dingen seine Unreinheit er­ kennen und verabscheuen; sonst kann er nicht davon befreit werden.

Matth. 8, 1—4.

109

Und Jesus sprach zu ihm: Siehe zu, sage es Niemanden; sondern gehe hin, und zeige dich dem Priester, und opfere die Gabe, die Moses befohlen hat, zum Zeugniß für sie (die Leute). (Matth. 4.) Die Behandlung der Aussätzigen war durch das mosaische Gesetz den Priestern zugewieftn: diese Ordnung wollte Jesus nicht stören; es sollte Niemand wissen, daß er den Aussätzigen geheilt habe; die Priester sollten erst die Heilung erkennen und bestätigen; und der Geheilte sollte das festgesetzte Opfer bringen, zum öffentlichen Zeugniß für alle, daß er geheilt sey. So sehr achtete Jesus die gesetz­ lichen Ordnungen, und so wenig wollte er durch seine Wirk­ samkeit störend eingreifcn. Dieses sollen auch wir in Be­ ziehung auf die bei uns bestehende Ordnung des Staates und der Kirche beherzigen und befolgen, so daß wir sie nie willkührlich und eigenmächtig aufhebcn und verwirren. Selbst für unsere geistlichen Bedürfnisse sollen wir nie die vorhande­ nen Lehr- und Heilsmittcl, den öffentlichen Gottesdienst und die Hülfe der angestcllten Diener des Wortes, verschmähen; zwar mögen und sollen wir uns in Gebet und Betrachtung unmittelbar zu Christo wenden, um von ihm Hülfe zu suchen; aber zugleich sollen wir uns von ihm dahin weisen lassen, wo wir nach menschlicher Ordnung Hülfe und Beistand finden können. Lukas setzt hinzu V. 15. 16. und nach ihm Markus V. 45. daß die Sage von Jesu stch immer mehr verbreitete, und viel Volks zusammengckommcn sey, um ihn zu hören und sich von ihm heilen zu lassen; daß er aber in die Wüste ent­ wichen sey, um zu beten. So gern Jesus hülfreich war und lehrte, so bedurfte er doch von Zeit zu Zeit der höheren Sammlung des Geistes, welche allein das Gebet und die Einsamkeit gewährt r daher zieht er sich vom Andrange des Volkes zurück, um zu beten. Dieß sey uns eine Ermunte­ rung, daß wir uns auch recht oft aus der Zerstreuung der Welk zurückzichcn und uns in Gebet und frommer Betrach­ tung sanimeln.

110

Matth. 8, 5 — 13.

Matth. 8, 5- 13. Luk. 7, 1 — 10.

Vom Hauptmann

zu

Kapernaum.

Zn der Erzählung dieses Hei'lungswunders weichen beide

Evangelisten in Nebenumstanden ab. Ohne uns in Beur­ theilung ihrer, immer unwesentlichen Verschiedenheiten cinzulassen, wollen wir uns vorzugsweise an den ausführlicheren und bestimmteren Bericht des Lukas halten, und diesen er­ läutern. Lukas laßt diese Heilung unmittelbar auf die Berg­ predigt folgen, wahrend Matthaus erst die Heilung des Aus­ sätzigen einschicbt; beide Evangelisten stimmen aber darin überein, daß sie Jesum vom Berge nach Kapernaum ziehen lassen (Lk. 1. vgl. Matth. 5.). Die Geschichte ist folgende. Ein Hauptmann (wahrscheinlich ein Heide im Dienste des Vierfürstcn Herodcs) hatte einen Knecht, den er sehr werth hielt, und dieser war tödtlich krank. Da er nun von Jesu hörte, sandte er die Aeltcsten der Juden zu ihm, und bat ihn, zu ihm zu kommen, und seinen Knecht gesund zu machen. Die Acltestcn legten für ihn eine dringende Fürbitte bei Jesu ein, indem sie sagten: er sey dieser Wohlthat würdig; denn er habe (obschon ein Heide) das jüdische Volk lieb, und habe der Stadt eine Synagoge erbaut. Er gehör'te zu den

Judenfreunden oder Judengcnossen, die sich zum jüdischen Gottesdienste hielten ( Lk. 2 — 5.). Jesus machte sich nun wirklich auf den Weg zum Hauptmann, und war nicht mehr fern von dessen Haufe, als derselbe ihm Freunde entgegen­ schickte, und ihm sagen ließ: Ach Herr, bemühe dich nicht, ich bin nicht werth, daß du unter mein Dach gehest«: darum ich auch mich selbst nicht würdig geachtet habe, zu dir zu kommen. Aber sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht ge­ heilt werden. Denn auch ich bin ein Mensch, der unter einer Obergewalt stehet, und habe Kriegsknechte unter mir; und ich spreche zu diesem: Gehe hin, und er geht, und zum an­ dern: Komm her, und er kommt, und zu mei­ nem Knechte: Thue dieses, und er thut cs (Lk.

Matth. 8, 5 — 13

111

6 — 8.). In dieser Aeusserung des Heiden ist zuerst die Demuth lobenswerth. Er fühlt sich, als ein Heide, nach den Begriffen der Juden, unwürdig, daß ein so heiliger Mann, wie Jesus, in sein Haus trete. Ein Anderer an seiner Stelle hatte auf das weltliche Ansehen, das er besaß, gepocht, und vielleicht geglaubt, Jesu eine Ehre damit zu erzeigen, daß er ihn in sein Haus cinlud. Zweitens ist die Achtung für Jesum und das hohe Vertrauen zu seiner Wun­ derkraft, das er hegte, lobenswerth. Demuth und Ver­ trauen sind gewöhnlich mit einander verbunden, und machen beide die nothwendigen Bedingungen des Heils aus. Er hat von Jesu Wundcrkraft eine sonderbare Vorstellung r er, glaubt, Jesu standen dienstbare Geister oder Kräfte, wie ihm selbst Kricgsknechte, zu Gebote, und er brauche deßwegen nicht überall selbst hinzugchn, sondern könne auch auf mittel« bare Weise wirken. Aber dieser Vorstellung lag ein hohes Gefühl von Jesu Würde zum Grunde, und auf die Vorstel­ lungen und Meinungen kommt es ja in Sachen des Glaubens weniger an, als auf das Gefühl und die Gesinnung. Da das Jesus hörte, verwunderte er sich, und sprach zu dem ihm nachfolgenden Volke: Ich sage euch, solchen Glauben habe ich in Israel nicht gefunden (Lk. 9.). Er will sagen: Dieser Heide übertrifft die Israeliten an Glauben. Nach Matthaus (V. 11. 12.) fügte er noch hinzu, was Lukas anderwärts (Cap. 13, 28. 29.) hat: Viele werden kommen von Morgen und von Abend, d.h. aus allen auch den entferntestenWeltgcgenden, aus den fernsten Heidcnvölkcrn, und mit Abraham und Isaak im Himmelreich zu Tische*) sitzen, d. h. an der Seeligkcit des Reiches Gottes Theil nehmen, die man sich unter dem Bilde eines Gastmahls vorstellte; aber die Kinder des Reichs, die Israeliten, welche zuerst zum Reiche Gottes berufen, dazu geboren sind, werden aus­ gestoßen in die Finsterniß hinaus, hinaus vor den Palast, wo das Gastmahl gehalten wird, d. h. sie werden

*) Luther hat zu Tische ausgclaff.n.

112

Matth. 8,

14—17.

derUnscllgkcit preisgcgcbcn werden: da wird seyn Heu« len und Zähneknirschen, vor Schmer; und Verzweif­ lung werden sie heulen und mit den Zähnen knirschen. So­ mit deutete Jesus die Zulassung der Heiden zum Christenthum und die Ausschließung eines großen Theiles der Juden an. Der Glaube, die vertrauensvolle Hinneigung zu ihm und seiner Lehre, nicht die Abstammung entschied über das geist­ liche Schicksal der Menschen. Dem Hauptmanne geschah nun nach seinem Glauben. Da die Gesandten wiederum zu Harrse kamen, fanden sie den kranken Knecht gesund (Lk. 10.). So wird der Glaube an Jesum nie getäuscht, wenn er nur von der rechten Art ist. Wir freilich können von ihm keine leibliche Hülfe erwarten, da er luit seiner wohlthätigen Ge­ genwart nicht mehr auf der Erde weilt; uns ist er der geist­ liche Wohlthäter und Erlöser, aber als solcher läßt er uns

nie vergebens flehen und hoffen. Matth.8,14—17. Mark. 1,29 —39. Luk. 4, 38—44.

Heilung von Petri Schwiegermutter. Jesus kam in Petri Haus, und fand dessen Schwieger­ mutter krank am Fieber darnieder liegend. Man bat ihn für sie (Lk. 38.), und er schritt sogleich zu ihrer Heilung. Er trat zu ihr, oder richtiger, zu ihren Häupten, ergriff

ihre Hand (Matth. 11.) und gebot dem Fieber, und es verließ sie. Alsbald stand sie auf und dienete ihnen (Lk. 39.). So wie Jesus gleich nach seinem Eintritt ins Haus, ohne erst auszuruhn und sich zu erfrischen, sich der Kranken annahm: so geht sie gleich nach ihrer Genesung an die häuslichen Geschäfte, um ihrem hülfreicheu Gaste dankbar zu dienen, und für seine Bedürfnisse zu sorgen. Ein schönes Bild der sich selbst vergessenden Wohlthätigkeit, welche keinen Augenblick anstcht zu helfen, und der Dankbarkeit, welche sich ganz dem Dienste des Wohl­ thäters weihet.

Matth. S, 14—17.

113

Die Evangelisten bemerken noch, daß man am Abend desselben Tages zu Jesu allerlei Kranke und Besessene ge­ bracht, die er geheilt habe. Die von den Letztem ausfahrcnden Teufel schrieen und sprachen: Du bist Christus, der Sohn Gottes (Lk. 41.). Denn wir haben es schon gesehen (Lk. 4, 34.), daß die bösen Geister Christum er­ kennen. Er aber bcdrohete sie und ließ sie nicht reden, um kein unnützes Aufsehen zu. erregen (Lk. 41.). In der hei­ lenden Wirksamkeit Jesu findet Matthäus (V. 17.) die Er­ füllung einer Weissagung des Jcsaias (53, 4.): Er hat

unsre Schwachheiten weggenommen, und unsre Seuchen (Krankheiten) getragen. Eigentlich ist dort die Rede von der Büßung der Leiden des sündhaften Volkes durch einen frommen Dulder, der sich für dasselbe hinopfcrt, und am natürlichsten laßt sich diese Stelle auf Christi Leiden und Tod beziehen. Aber dieselbe Liebe, welche Jesum in den Tod führte, um die Menschen von den Sünden zu er­ lösen, machte auch, daß er sich der Kranken und Leidenden annahm, und sie heilte. Er wollte der Befreier von jeder Last seyn, welche die leidende Menschheit trug. Als es Tag ward, ging Jesus hinaus in eine wüste

Statte; und das Volk suchte ihn und kam zu ihm, um ihn zurückzuhaltcn, daß er nicht wegginge. Er aber sprach: Ich muß auch andern Städten das Evangelium predigen vom Reiche Gottes; denn dazu bin ich gesandt. Und er predigte in den Schulen Galiläas (Luk. 42—44. Mk. 35 — 39.). Jesu Beruf war nicht so wohl zu heilen und Wunder zu thun, als zu lehren: und diesen seinen Beruf im Auge habend, verließ er jetzt Kapcrnaum, um sich anderswohin zu wenden. Das Mitleid ist ein edler, frommer Beweggrund, und Jesus ließ sich gern von demselben bestimmen; aber oft muß er doch der höher» Pflicht weichen, und so mußte sich Jesus den Leidenden ent­ ziehen und sich anderswohin wenden, um zu predigen.

Bib!. Erbauungsb. IL

H

114

Matth. 8, 18—27.

Matth. 8,18—27. Mark. 4, 35—41. Luk. 8,22—25. 9, 57—60.

Von der Nachfolge Jesu. — Jesus stillet den Sturm auf dem See. Um dem Volke zu entgehen, befahl Jesus über den See hinüberzufahren (Matth. 18.). Ehe er aber sich einschl'ffte, hatte er Gelegenheit sich darüber zu erklären, was er von denjenigen foderte, welche ihm nachfolgen wollten. Wenig­ stens führt es Matthaus hier an. Lukas hingegen erwähnt es erst später bei einer andern Reise Jesu Cap. 9, 57 ff. Ein Schriftgelehrter, der unstreitig gläubig geworden war, erbot sich, Jesu zu folgen, wohin er gehen würde. Dieser aber wollte sein Anerbieten nicht annehmen, ohne ihn zuvor darauf aufmerksam gemacht zu haben, wozu er sich anhei­ schig mache, damit er nichts unternähme, was über seine Kräfte wäre. Die Füchse, sagte er, haben Gruben, und die Vögel unter demHimmel Nester; aber der Menschensohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege (Matth. 20. Lk. 9, 58.). Damit wollte er sa­ gen, daß seine Nachfolger dasselbe unstäte und entbehrungs­ volle Leben, wie er, führen müßten. Jedoch erstreckt sich diese Foderung nur auf die Apostel und Evangelisten, welche das Evangelium in der Welt verkündigten, nicht aber auf alle Christen. Heut zu Tage sind nur diejenigen dazu ver­ pflichtet, welche fremden heidnischen Völkern das Christen­ thum bringen wollen; und in seltnen Fällen werden auch Andern ähnliche Verpflichtungen aufgelegt, um auf ausseror­ dentliche Weise zu wirken. Jesus war weit entfernt, alle seine Bekenner zu einem solchen unstäten Leben zu verpflichten, und so alle Bande der Gesellschaft zu lösen. Aber eben weil er uns zum Besten diese Entbehrungen auf sich nahm, sollen wir um so dankbarer gegen ihn seyn, und unsere Dankbarkeit dadurch beweisen, daß wir die ruhigen Lebensverhältnisse der Familie und des bürgerlichen Lebens, in welchen wir uns befinden, durch christliche Gesinnung veredeln; und wenn es ein edles, christliches Werk fodert, uns ähnliche Entbeh«

Matth 6? 16—>27.

115

rungen aufzulegen, sollen wir nach seinem Bekakele unS

willig dazu finden lassen, und mit Freuden den häuslichen Heerd und die Ruhe des Friedens verlassen, um unfern Brü­ dern ju dienen. Ein anderer feiner Jünger sprach zu ihmr Herr, er­ laube mir, daß ich hingehe, und zuvor meinen Vater begrabe, (nämlich «he ich dich begleite). Aber Jesus sprach zu ihm: Folge du mir, und laß die Todten ihre Todten begraben (Matth. 21.22.Lk. 9, 59. 60). Er nennt die Verwandten des Jüngers todt, weil fie entweder doch für das Gute unthätig waren, und er will das dringende Geschäft der Verkündigung des Evange­

liums nicht durch eine Verrichtung aufgehalten wissen, welche Andere eben so gut übernehmen konnten. Der Beruf eines Nachfolgers und Begleiters Jesu entzog allen bürgerlichen und Familien-Verhältnissen; man mußte Vater und Mutter weniger lieben als Jesum. Heutzutage in unsern ruhigeren Lebenszustande gilt diese Verpflichtung nicht mehr, oder höchst selten. Man kann ein Diener des Worts seyn, und doch die Obliegenheiten des Familien-Gliedes und des Bürgers erfüllen. Aber die Gefinnung, vermöge deren wir die Liebe zu Christo über alle andere Liebe setzen, sollen wir ebenfalls noch haben, und fie dadurch beweisen, baß wir der Pflicht und der Sache Christi unser häusliches Glück aufopfcrn, und alles hintansetzen, wenn es gilt ein christliches Werk zu voll­ bringen. Lukas fügt noch folgendes hinzu: Und ein Anderer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber er­ laube mir zuvor, daß ich Abschied nehme von denen *), die in meinem Hause sind. JesuS aber sprach zu ihm: Wer seine Hand an den Pflug legt, und siehet zurück, der ist nicht ge­ schickt zum Reiche Gottes (Luk. 9, 61.62.). Wie derjenige, welcher den Pflug führt enb lenket, nicht zurück­ blicken darf, sondern unverwandt.auf die zu ziehende Furche

♦) Luther undeutschr einen Abschied mach« mit denen,

H2

116

Matth. 8, 18 — 27.

sehn muß: so darf auch derjenige, der für das Reich Gottes

arbeitet, nicht sein Her; ;u der Welt und ihren Angelegen­ heiten jurückwenden, sondern muß sich gan; seiner heiligen Bestimmung hingeben. Die Nachfolger Jesu mußten ihre Familien verlassen; wir dürfen in dem gewöhnlichen Laufe des Lebens wohl in den Verhältnissen bleiben, welche Gott uns angewiesen hat; aber doch darf uns keine falsche, eigen­ nützige, schwächliche Liebe an sie fesseln, so daß wir unfähig sind, beim Rufe der Pflicht alles, was uns theuer ist, aufzuopfern. Nun trat Jesus in das Schiff und seine Junger folgten

ihm (Matth. 23.). Und wahrend sie schifften, entschlief er; denn er war unstreitig ermüdet von den bisherigen An­ strengungen. Er verdiente diese Ruhe, da er seinen Beruf so treu erfüllt hatte, und genoß ihrer mit derjenigen Ruhe, welche ein gutes Gewiss'» und der innere Friede verleihet. Jesus schlaft: ein anziehendes Bild! So ganz war er uns gleich in menschlicher Schwachheit und Gebrechlichkeit; die ermüdeten Sinne schließen sich der Aussenwelt, um neue Kräfte zu schöpfen. Aber welche himmlische Ruhe mag sich auf sei­ nem Angesichte gemalt haben! Nichts ist schöner, als ein schlafendes Kind, wegen der Unschuld, die sich in seinen Zü­ gen ausdrückt; Jesus aber war mehr als unschuldig, er war rein, heilig, gottinnig. Er schlief fort, als sich ein groß Ungestüm im Meere erhob, also daß das Schifflein (beinahe) mit Wellen bedeckt ward (Matth. 24.); er ruhete sanft im Frieden der Seele, im Vertrauen zu seinem himmlischen Va­ ter , nicht fürchtend die nahende Gefahr. Da traten die Jün­ ger zu ihm, und weckten ihn auf, und sprachen: Herr, hilf uns, wir verderben (Matth. 25.). Seht da in den Jüngern das Bild der Sorglichkeit und Ängstlichkeit gewöhnlicher Menschen! Sie zagen vor der Gefahr, und sehen ihren Untergang vor Augen; rathlos und verzweifelnd bauen sie nur noch auf Jesum die Hoffnung der Rettung. Er strafte ihre Mutlosigkeit mit den Worten: Ihr Klein­ gläubigen, Vertrauenslosen, warum seyd ihr so furchtsam? (Matth. 26.) Sie hätten sollen Vertrauen haben zu Gott, seiner weisen Fürsorge und zu der von ihm

Matth. 8, 28—34.

117

in sie gelegten Kraft, «nd muthig gegen den Sturm ankam« pfen. Und er stand auf, und bedrohete den Wind und das Meer: da ward es ganz stille (Match. 23.). Wohl ist eine solche Einwirkung auf die Elemente durch das bloße Wort wunderbar und unbegreif­ lich, und wir theilen das Erstaunen derer, welche mit Jesu im Schiffe waren, und voll Verwunderung sprachen: Was ist das für ein Mann, daß ihm Wind und Meer gehorsam ist? (Matth. 27.) Aber können wir auch nicht so auf die feindliche Natur cinwirken, so ist uns doch immer die vertrauensvolle Ruhe, mit welcher Jesus handelt, ein Muster der Nachahmung: und wenn wir mit derselben unsre Kräfte und Einsichten gebrauchen im Kampfe mit der Natur, so werden wir sie leichter besiegen. Christus war Herr der Natur, und der Christ soll und kann es auch seyn in niederem oder höherem Grade. Der Geist beherrscht die Natur: in Christo aber ist er erst rein und sieghaft hervor­ getreten, und soll es auch in denen, die ihm durch den Glau­ ben angehörcn. Ucberhaupt sollen wir in allen Widerwär­ tigkeiten und Kämpfen des Lebens diese vertrauensvolle Ruhe beweisen. Sey es Wind und Wasstr, oder seyn es die un­ vernünftigen Gewalten menschlicher Leidenschaft, die sich uns widersetzen; wir sollen immer im Vertrauen auf Gott feff stehn, und die in uns lieMNdrn Kräfte mit Besonnenheit ge­ brauchen. Aber um dieß zu können, müssen wir vor allen

Dingen der Leidenschaften in uns selbst Herr seyn, die sich oft stürmischer gegen die Vernunft erheben, als Wind und Wellen. Weder Furcht noch Lust dürfen in uns die Ober­ hand gewinnen und das Schifflcin der Vernunft mit ihren trüben Wellen bedecken; und auch von dieser innern Herr, schäft ist uns Christus hier Vorbild.

Matth. 8, 28—34. Mark. 5,1 —20. Luk. 8,26—39.

Von dem Besessenen im Gadarener Gebiet. Wir folgen hier dem Markus und Lukas, welche nur von einem Besessenen, nicht, wie Matthäus von zweien, erzäh­ len, und die ausführlichsten Berichte geben.

118

Matth. 8, 28—34.

Als JesuS anS Land trat, begegnete ihm ein Mann aus her Stadt, den die Evangelisten ganz als wahnsinnig fchilhern, nur daß sie sagen, er sey von bösen Geistern besessen gewesen. Er that keine Kleider an, und blieb in keinem Hause, sondern in den Grabern: und wenn man ihn mit Ket­ ten band, so zerriß er sie und ward vom bösen Geiste in die Wüste getrieben (Lk. 27. 29. Mk.2 — 5.). Auch dieser, wie jener Besessene in Kapernaum (Luk. 4, 34.), erkannte in Jesu den Sohn Gottes, und ahnete mit Schauder, daß Jesus ihn von seinem bösen Geiste befreien würde. W a S habe ich, rief er, mit dir zu schaffen, Zesu, du Sohn des Allerhöchsten? Ich bitte dich, du wollest mich nicht quälen. (Lk. 28.) Wirklich gebot auch Iefus sogleich dem unfaubern Geiste, von ihm auszu­ fahren. Jesus fragte ihn nach seinem Namen, und der Mensch antwortete: Legion. (Lk. 30.) Seine eigene Per­ sönlichkeit ganz vergessend, antwortete er im Namen der bö­ sen Geister, von denen er das unselige, peinigende Gefühl in sich trug, und sagte, ihrer sey Legion, d. h. sehr viel, viele Tausend, (eine Legion enthielt bei den Römern 6000 Mann), wie er auch bei Mark. (10.) hinzusetztr denn unser sind viele. Die bösen Geister, die aus dem Men­ schen sprachen, baten nun Jesum, da sie ihre Austreibung unvermeidlich vor sich sahen, daß er sie nicht in die Tiefe, in den Abgrund der Hölle, ihre eigenthümliche Wohnung, fah­ ren heißen möchte; und da in der Nahe am Berge eine Heerde Säue weidete, so baten sie ihn, er möchte sie in diese fahren fassen. Sie wollten lieber in diesen unreinen Thieren, welche die Juden verabscheuten, wohnen, als in die Hölle zurück­ kehren. Und Jesus, der darin ein wirksames Mittel der Heilung des Menschen sah, erlaubte es ihnen (Lk. 31.32.), obschon er vorauSschen mußte, daß die Säue, davon er­ schreckt, sich in den See stürzen und umkommen würden, waS auch geschah (Lk. 33.). Die Hirten, die über den ange­ richteten Schaden erschraken, flohen, und meldeten den Un­ fall ihren Herren, welche hierauf zu Jesu kamen; und ob­ schon sie den Menschen bekleidet und vernünftig zu Jesu

Matth. S, 28 — 34,

119

Füßen fitzen sahen, und erstaunten *), waren sie doch so eng­ herzig, daß sie ihn baten,von ihnen zu gehen, weil sie eine große Furcht angekommen war, d.h.weilsie fürchte­ ten, Iestls möchte ihnen noch mehr Schaden zufügen (Luk. 34—37.). Die Rettung einer Menschenvernunft war Jesu zu wichtig, als daß er den doch immer geringfügigen Schaden, der durch die Heilung des Besessenen angerichtet wurde, hätte in Anschlag bringen sollen; aber die Gadarener, weltlich gesinnte Menschen, dachten nur an den erlittenen Schaden, und baten ihn, sie zu verlassen. O die niedrige Gesinnung, welche die heil­ bringende Nahe des Erlösers als gefahrdrohend fürchtete! Freilich der Glaube an ihn verträgt sich nicht mit niedriger Gewinnsircht; und wenn er die bösen Geister anstreibt,so hat es mit schmutzigem Erwerb, mit Geiz, Wucher und Betrug ein Ende. Ö möchten wir nie, auch nur auf eine feinere

Weise, im Sinne der Gadarener handeln! Möchte uns nie die Gewinnsucht an Ablegung lasterhafter Gewohnheiten hin­ dern! Möchten nie Ettern dem bejstren Geiste ihrer Kinder widerstreben, durch den sie unedle, obschon gewinnreiche Er­ werbsarten verschmähen! Möchte nie eine christliche Regie­ rung, dem reinen Geiste Christi zum Trotz, unsittliche, die Sitte des Volks vergiftende, aber einträgliche Einrichtungen bestehen lassen, oder gar von neuem einführen! Der Mann, der von den unreinen Geistern befreit war, bat Jesum, der «unmehr die Rückreise antrat, bei ihm blei­ ben zu dürfen (Lk. 38.). Er war also gläubig geworden, und eine Seele war für das Reich Gottes gewonnen» ein unschätzbarer Gewinn, gegen den alle Güter der Erde nichts find. JesuS aber hielt es wahrscheinlich dem Menschen nicht zuträglich, daß er ihn begleitete, und hieß ihn heimgehen. Im Kreise derSeinigen sollte sich dieGesundheit seiner Seele befestigen» er sollte eine ruhige Handthierung treiben und feinen Pflichten leben. Seine Dankbarkeit aber sollte er da­ durch beweisen, daß er die an ihm geschehene Wohkthat Got­ tes verkündigte. Gehe wieder heim, sagte Jesus zu -) Luther unrichtig: erschraken.

120

Matth. 9, 1—8.

ihm, und sage, wie große Dinge dir Gott ge­

than hat (Lk. 39.). Wir sehen also, daß rS nach Jesu eigener Ansicht nicht für Alle nützlich war, ihn zu begleiten. So ist es auch nicht Allen gegeben, in frommer Betrachtung zu leben, sondern es ist für Viele besser, sich dem thätigen, bürgerlichen, häuslichen Leben zu widmen. Auch da kann man Gott dienen, und für das Heil seiner Seele sorgen. Matth. 9, 1 — 8. Mark. 2, 1 — 12. Luk. 5, 17—26.

Vom Gichtbrüchigen. Jesirs fuhr nun wieder herüber nach Kapcrnaum, oder kn „seine Stadt," wie Matthäus sagt (V. 1.). Und siehe, da brachten sie zu ihm einen Gichtbrüchi­ gen, der auf einem Bette lag (Matth. 2.). Die andern Evangelisten aber bemerken, daß Jesus damals eben von einer großen Menge Volkes, auch vielen Schriftgelehr­ ten und Gesetzeslehrern umgeben, lehrte, und daß die Men­ schen, welche den Kranken zu ihm bringen wollten, nicht zu ihm kommen konnten vor der Menge, und sich daher einen sonderbaren Weg zu ihm bahnten. Er befand sich wahr­ scheinlich im untern Zimmer des Hauses, wohin der Zugang gehemmt war. Sie stiegen daher, entweder von der Gasse oder vom Hofe des Hauses aus, auf das Dach, durchbrachen dieses, das aus einer platten Decke von Ziegelsteinen bestand, und ließen den Kranken ins Zimmer hinab (Lk. 17—19. Mk. 1—4.). Das große Zutraun, - das sie dadurch be­ wiesen, rührte Jesum, und da er ihren Glauben sahe, sprach er zu dem Gichtbrüchigenr Sey ge­ trost, mein Sohn, deine Sünden sind dir ver­ geben! (Matth. 2.) Er erkannte nämlich mit seinem Scharfblicke,- daß der Mensch sich seine Krankheit durch Sün­ den, vielleicht durch Unkeuschheit und Unmäßigkeit, zugezogen und solches bereut Hatter und so vergab er ihm seine Sünden zugleich mit der Heilung seiner Krankheit. Er machte zugleich den Arzt der Seele und des Leibes, wie dort am Kranken beim Teiche zu Bethesda (Joh. 5, 14.).

Matth. 9, 1 — 8:

121

In dem, was Jesus that, war nichts Anstößiges, so bald man ihn für einen Propheten und Mann Gottes hielte denn ein solcher konnte wohl nach den Begriffen der Israeli­ ten Sünde vergeben. So vergab Nathan dem David seine Sünde (2 Sam. 12, 13.). Aber Jesu Feinde zweifelten an seiner göttlichen Sendung, und so gestanden sie ihm auch nicht die Macht zu, Sünde zu vergeben. Darum sprachen etliche unter den-anwesenden Schriftgelehrtenr Dieser lästert Gott (Matth. 3.). Wer kann Sünde ver­

geben als allein Gott? (Lk. 21.) Allerdings kann dieß nur Gott, aber Menschen, welche mit Gottes Geist be­ gabt sind, können es an Seiner Stat't, wie cs noch jetzt -ei uns die Diener des Wortes können, welche die Macht haben, den bußfertigen Sündern Gottes verzeihende Gnade zu verkündigen. Da aber Jesus ihre Gedanken sah (merkte), sprach er: Warum denket ihr so ArgeS in euren Herzen? Welches ist leichter zu sagen: Dir find -eine Sünden vergeben, oder zu sagen; Stehe auf und wandle? (Matth. 4. 5.) In diesem Falle war eines durch das andere bedingt, die Heilung der Seele durch Sündenvergebung und die Heilung des Leibes, weil die Krankheit ihren Grund in früheren Sünden hatte. Auf daß ihr aber wisset, baß der Menschen­ sohn Macht habe, auf Erden die Sünden z» vergeben, sprach er zu dem Gichtbrüchigen: Stehe auf, hebe dein Bette auf und gehe heim (Matth. 6.). Somit bewies Jesus seine Geistcsmacht durch die That, in­ dem er den Gichtbrüchigen heilte und ihm die gesunde Kraft seiner Glieder wieder verlieh. Dieser stand auch wirklich auf, und ging heim. Das Volk aber verwunderte sich dar­ über, und pries Gott, der solche Macht den Menschen, d. h. einem der Menschen, gegeben hatte (Matth. 7. 8.). Uns, denen Jesus durch seine Lehre und seinen Tod die verzeihende Gnade Gottes verkündigt und den tröstlichen Glauben verliehen hat, daß keine Sünde, die be­

reut wird, ohne Vergebung bleibt, ist diese Geschichte nicht mehr so wichtig, wie den Zeitgenossen Jesu, welche noch

122

Matth. S, 9—.17.

unter dem Joche des Gesetzes seufzend diese- Glaubens er­ mangelten, und das, was fle Jesum thun sahen, seltsam nannten (Lk. 26.). Wie wohlthuend mußte ihnen ein sol­ cher Beweis seyn, daß es eine Vergebung der Sünden gebe! Aber auch unter uns noch ist diese Geschichte denen tröstlich, welche an den Folgen ihrer Ausschweifungen körperlich leiden, und zugleich von ihrem Schuldgefühl niedergedrückt sind, die eben so sehr an ihrer Heilung, als an der Vergebung ihrer Sünde zweifeln. Sie mögen hieraus lernen, daß denen, die aufrichtig bereuen, nichts unverziehen bleibt, und dieser Glaube wird erquickend und stärkend auch auf ihren Körper zurück wirken, so daß ihre körperlichen Leiden, wo nicht ganz

gehoben, doch wenigstens gelindert werden. ES ist ein inni­ ger Zusammenhang zwischen Körper und Geist, und im letz­ ter» liegt die höhere Lebenskraft, aus welcher auch die nie­ dere, körperliche entspringt.

Matth. 9,9—17. Mark. 2,13—22. Luk. 5, 27—39. Matthäi Berufung; vom Fasten.

Und da Jesus von dannen zur Stadt hin­ aus an den See (Mk. 13.) ging, sah er einen Men­ schen an der Zollstätte sitzen, der hieß Matthä­ us, oder wie ihn Markus und Lukas mit seinem andern Na­ men nennen, Levi; und er sprach zu ihm: Folge mir. Und er stand auf, und folgte ihm, indem er alles verließ (Matth. 9. Luk. 27. 28 ). Auch dieser, wie jene vier Apostel, folgte dem Rufe Jesu mit einer solchen gänzlichen Hingabe und Entschiedenheit, daß er sein bürger«

liches Gewerbe dem apostolischen Berufe aufzuopfern den Muth hatte. Und es begab sich, da Jesus zu Tische saß im Hause (Lukas bemerkt, daß ihm Matthäus ei« Gast­ mahl gab): siehe, da kamen viele Zöllner und

Sünder, d. h. Zöllner und Andere, welche für verworfene lasterhafte Menschen galten, und saßen zu Tische mit Jesu und seinen Jüngern (Matth. 10.). DerZöll-

Matth. 9, 9 -17.

123

ner Matthäus lud feine Freunde ein, damit fie Jesum sehen

und hören sollten. Da das die Pharisäer sahen,' sprachen sie zu feinen Jüngernr Warum isset euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? (Matth. 11.) Diese heuchlerischen Menschen ohne wahre Liebe mieden den Umgang mit Menschen, die in schlechtem Rufe standen, um gleichsam nicht durch sie verunreinigt zu werden. Da das Jesus hörete, sprach er zu ih« nenr Die Starken (Gesunden) bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Gehet aber hin, und lernet, was das sey: Ich habe Wohl« gefallen an Barmherzigkeit und nicht an Opfern (Hof. 6, 6.). Ich bin gekommen, die Sünder zurBuße zu rufen, und nicht die From­ men (Matth. 12. 13.). Jefus war gekommen, der Arzt der kranken, leidenden Menschheit zu seyn, Barmherzigkeit war die Triebfeder alles seines Thuns; er wollte nicht, wie die Pharisäer, mit seiner Heiligkeit prahlen, sondern nützen und helfen r und so mußte er fich gerade zu den Irrenden und Sündern halten, um fie auf den Weg des Heiles zu leiten.. So handelte er Gottes Willen gemäß. Gott ist die Liebe, und ihm kann man nur durch Liebe wohlgefällig wer­ den; die Pharisäer hingegen wähnten, sein Wohlgefallen durch Beobachtung frommer Gebräuche zu verdienen, welchen Irrthum schon der alte Prophet aufgedeckt hatte. Auch unter uns gibt es Viele, die zwar den Schein der Tugend kmd Gei­ stesbildung haben, aber ihren Mangel an ächter, guter Ge­ sinnung , an Barmherzigkeit und Liebe, dadurch beweisen, daß sie sich nicht zu den Armen und Leidenden, den Unwissen­ den und Irrenden, und denen, die in unedler, roher und verderbter Sitte leben, herablassen, sondern sich allein zu den Vornehmen, Edlen und Gebildeten halten. Freilich so­ fort jenes manche Opfer, und dieses bietet mehr Annehm­ lichkeit dar; aber die ächte Liebe beweist sich eben in Aufopfe­ rung und Selbstverleugnung. Wer der Menschheit am mei­ sten nützen und für das Reich Gottes wirken will, bet trete in die Kreise der niedern, verwilderten Menschenklassen, und

124

Matth. 9, 9—17.

trage dahin das Licht der Erkenntniß und die Arznei der besseren Sitte. Besonders gilt dieß von der Erziehung. Cs ist freilich leichter und angenehmer, Kinder edler Elter« erziehen; aber wer sich der verwahrlosten Kinder der niedern Stande annimmt, handelt im Geiste Christi und Gottes Wil­ len gemäß. Die Pharisäer knüpften einen andern Streit mitJesu an r

sie fragten ihn, warum die Jünger des Johannes, so wie auch die der Pharisäer, häufig fasteton und beteten, die seinigen aber aßen und tranken (Lk. 35.). (Nach Matthäus (23. 14.) sollen die Jünger des Johannes selbst gekommen seyn und diese Frage gethan haben, was wahrscheinlich auf einer Verwechfetung beruht'. Jesus antwortete; Wie können die Hochzeitleute Leid tragen, so lange der Bräu­ tigam bei ihnen istk Es wird aber die Zeit kommen, daß der Bräutigam von ihnen genom­ men wird: alsdann werden sie fasten (Matth. 15.). Jesus will sagen: das Fasten sey ein Ausdruck trau­ riger Gemüthsstimmung, und habe nur in sofern.Werth und Bedeutung, als es der Mensch aus innerem Drange ver­ richte, nicht aber, wenn cs eine bloß äusserliche Uebung sey, an welcher das Herz keinen Theil habe. Nun seyn seine Jünger jetzt, im frohen Genusse seiner Gegenwart, gleich­ wie die Hochzeitlcutc in der frohen Nähe des Bräutigams, uicht in'der zum Fasten geeigneten Stimmung; einst möchten sie vielleicht seinen Tod auch mit Fasten betrauern, so wie die Jünger des Johannes über die Gefangenschaft ihres Mei­ sters zu trauern Ursache hätten; jetzt aber hatten sie noch kei­ nen Grund, sich zu casteicn. Damit wollte er kcincsweges sagen, daß das Fasten nach feinem Tode ein nothwendiger christlicher Gebrauch werden sollte, wie das die Freunde der Werkheiligkeit aus unserer Stelle herausdeuten; sonder« seine Meinung ist, es solle eines jeden freiem Triebe über­ lassen bleiben. Ja, im Folgenden heutet er an, daß das

Fasten sich für den Zustand des religiösen Lebens, den er her­ beiführe, nickt mehr schicke, und verwirft cs gerade zu.

Matth. 9, 18 — 26,

125

Niemand flickt ein altes Kleid mit einem Lap-

pen von neuem Tuch; denn der Lappe reißt doch wieder vom Kleide, und der Riß wird är­

ger (Matth. 16.). Neues und Altes, Ungleichartiges paßt nicht zusammen, so paßt nicht das Fasten zu der Lehre Jesu. Man fasset auch nichtMost in alte Schläu­ che, sonst zerreißen die Schläuche, und derMosi wird verschüttet, und die Schläuche kommen um; sondern man fasset Most in neue Schlau­ che, so werden sie beide mit einander erhalten (Matth. 17.). Hier ist die Vergleichung noch bestimmter. Dem brausenden, gahrendcn Most entspricht der neue, schöpfe­ rische Geist des Evangeliums; den alten Schlauchen die alten Gebrauche des Fastens und anderer frommen Uebungen; beide vertragen sich nicht zusammen. Bei Lukas (V. 39.) setzt Jesus hinzu: Und niemand ist, der vom alten (Wein) trinket und will alsbald vom neuen; denn er spricht: der alte ist besser*). Hier kehrt Jesus das Glcichniß wieder um; seine Lehre ist hier der bessere Wein, nach dessen Genuß der junge schlechtere unge« nießbar wird.

Matth. 9,18 — 26. Mark. 5, 22—43. Luk. 8, 41 — 56.

Heilung der Tochter des Jairus und des blutflüssigen WeibeS. Da er solches mit ihnen redete, siehe, da kam ein Oberster ihm zu Tische saßen," erfüllte er sic. Ob er auch sonst so gewissenhaft in Erfüllung der Eide war? Hier war es gewiß nur die eitle Rücksicht auf die Gaste, die ihn bestimmte, und die Achtung des Eides diente bloß als Vorwand. Denn kein Cid kann uns bestinimen, etwas Unrechtes zu thun. Es verstand sich ohnehin von selbst, daß das eidliche Versprechen, das Hcrodcs gegeben, sich nur auf Erlaubtes erstrecken könnte. An Gott dachte er schwerlich,- als er sich so ent­ schloß , aber wohl an die Menschen. Aber diese Rücksicht, welche so Viele bei ihren Entschlüssen nehmen, kann leicht irre führen, wenn sich nicht der Gedanke an die Pflicht und den Willen Gottes damit verbindet. Man folgt dann gern dem Herkommen, der leeren äusserlichen Sitte, den Berechnungen des Nutzens und der Eitelkeit. „ Was werden die Leute da­ zu sagen?" Diese Frage zu thun kann nicht ganz verworfen werden, denn uns kann das Urtheil unsrer Nebenmcnschcn nicht gleichgültig seyn; aber man halte sich an das Urtheil der Besseren, und frage vornehmlich das Gewissen. N 2

196

Matth. 14, 13 — 21.

Herodes dient uns zum warnenden Beispiele, wie der Mensch, wenn ihn einmal die Sünde ergriffen hat, von ihrer

Gewalt immer weiter fortgcrissen wird. Es war unrecht, daß er die Hcrodias, das Weib seines Bruders, ehelichte; cs war unrecht, daß er Johannes den Täufer ins Gefäng­ niß legte; da er nun so weit gegangen war, so schritt er auch noch zudem abscheulichen Verbrechen, einen unschuldigen, von ihm selbst als heilig geachteten Lehrer enthaupten zu las­ sen. Und oft ergreift den Menschen, der auf solchen Wegen wandelt, die Sünde da, wo er es am wenigsten vermuthet, wie hier den Herodes in der arglosen, obschon titeln und welt­ lichen Freude eines Gastmahls, wobei er gewiß keine blut­ dürstigen Gedanken hatte. Darum seyn wir stets auf unsrer Hut, weichen wir nie einen Schritt weit von der Bahn des Rechtes, und waffnen wir uns in jedem Augenblicke mit dem Gedanken an Gott und dem streng prüfenden Blicke ins Innere. Als nun das Verbrechen geschehen war, da kamen die Jünger des Johannes, und nahmen seinen Leib und begru­ ben ihn (Matth. 12. Mark. 29.). In welchem abstcchendenGegensatz erscheint diese Ausübung einer stillen, traurigen Pflicht mit dem glanz - und geräuschvollen, aber blutbefleck­ ten Bilde, das der Hof des Herodes darstcllt! Die Jünger waren traurig, aber mit einem Herzen voll Liebe und Ehr­ furcht gegen den geachteten Lehrer der Wahrheit, voll von Ge­ danken an Gott; die Herodias frohlockte, aber mit einem grausamen, vom Gifte der Leidenschaft erfüllten Herzen; und Herodes trug die Vorwürfe eines mit Blutschuld belade­ nen Gewissens aus dem Geräusche der Freude auf fein stilles Lager, wenn er die innere Stimme nicht durch lasterhafteGenüsse zu betäuben suchte. Matth. 14,13 — 21. Mark. 6,30—44. Luk. 9,10 — 17.

vgl. Joh. 6, 1 —15.

Speisung der fünftausend Mann. Die Jünger des Johannes kämen, und berichteten Jesu das Geschehene, worauf dieser zu Schiffe in eine Wüste ent-

Matth. 14, 13 -21.

197

wich, wohin ihm aber das Volk nachfolgte (Matth. 12. 13.). Jesus entwich klüglich der Gefahr, um nicht allzu früh, noch ehe er fein Werk vollendet hatte, aus seiner Lauf­ bahn gerissen zu werden. Es ist, wie wir schon bemerkt ha­ ben, nicht gegen die Pflicht, ja es wird von ihr gefodcrt, der Gefahr aus dem Wege zu gehen, wenn nicht die Sache der Wahrheit und Gerechtigkeit durch ein muthiges Bekennt­ niß und offenen Widerstand gewinnen, sondern eher verlie­ ren. Nach Markus 30. Lukas 10. kamen damals die aus­ gesendeten Jünger von ihrem Lehrgeschäfte zurück, und er­ zählten Jesu, was sic gethan hatten. Als dieser das Volk zu sich kommen sah, ginger aus seiner Einsamkeit hervor; cs jammerte ihn desselben, und er heilete ihre Kranken; auch belehrte er sie vom Reiche Gottes (Matth. 14. Mark. 34.

Luk. 11.). Also hielt ihn nicht die Sorge für seine Sicher-, heit, noch auch das Geschäft, die Berichte seiner Jünger an­ zuhören und sich mit ihnen darüber zu besprechen, von der Ausübung seines Berufes ab; immer war er bereit, den Hilfsbedürftigen beizustehen und den Samen der Wahrheit auszustreucn. Die nun folgende Speisung einer großen Volksmenge mit wenigen Nahrungsmitteln haben wir schon anderwärts nach dem Berichte des Johannes betrachtet (1. Th- S. 148 ff.). Hier wollen wir nur dasjenige herausheben und be» leuchten, was die drei erstem Evangelisten in Angabe der besondern Umstände für sich eigen haben. Nach ihnen mach­ ten die Jünger Jesum aufmerksam auf den zu besorgenden Mangel an Lebensmitteln. Dieß ist eine Wüste, und die Nacht fällt daher; laß das Volk von dir, daß sie hin an dieMärkte gehen und sichSpeise kaufen (Matth. 15. Mark. 35. Luk. 12.). Hierin sprach sich allerdings eine gewisse Fürsorge für das Volk aus, aber sie war lieblos und eigennützig. Die Jünger woll­ ten das Volk vor der Noth, sich aber zugleich vor einer Ver­ legenheit bewahren; ausserdem war es ihnen gleichgültig, ob das Volk länger der Hülfe und Lehre Jesu genoß: er sollte es von sich lassen. Aber die wahre Liebe läßt diejenigen nicht

198

Matth. 14, 22 — 36.

so lcicht von sich, die sich mit Vertrauen anschließen, und hilft gern selbst, setzt Andere nicht bloß in den Stand, sich selber zu helfen. Jesus antwortete den Jüngern: Es ist nicht Noth, daß sie hingehenr gebt ihr ihnen zu essen (Matth. 16. Mark. 37. Luk. 13.). So spricht die wahre Liebe und Barmherzigkeit. HalfJesus dem Man­ gel des Volkes ab, so knüpfte er es noch fester an sich. Die Selbstsucht der Jünger sucht in den geringen Mitteln, welche vorhanden waren, eine Entschuldigung. Sie sprachen: Wir haben hier nichts, denn fünf Brode und zween Fische (Matth. 17. Mark. 37. 38. Luk. 13 ). Aber der wahre hülfreiche Menschenfreund theilt mit, was er hat, wie wenig es sey, im Vertrauen, daß Gott die Gabe der Liebe segnen werde. So machte es Jesus, und sein Ver­ trauen wurde gerechtfertigt. Matth. 14, 22 — 36.’ Mark. 6, 45 — 56. vgl. Joh. 6, 16 — 21.

Jesus wandelt auf dem Wasser. Auch diese Geschichte haben wir schon nach Johannes Darstellung betrachtet (1. Th. S. 155 ff.), und begnügen uns hier bloß einen von Matthaus V. 28 ff. angeführten Nebenumstand zu beleuchten. Petrus sprach zu Jesu, als er sich zu erkennen gegeben: Herr bist du es, so heiß mich zu dir kommen auf dem Wasser. Das Bei­ spiel Jesu ermuthigt den raschen Jünger, denselben Gang zu versuchen, um desto eher zu dem geliebten Meister zu ge­ langen. Das war eine gute, edle Regung. Jesus sprach: Komm her! Und Petrus trat aus dem Schiffe, und ging auf dem Wasser, daß er zu Jesu käme. Man sieht also, es war möglich, dieses Gehen Jesu nachzuthun, wenn auch viel­ leicht nicht mit derselben Leichtigkeit und Sicherheit. Der Mensch hat das Vermögen, die Naturkrafre und Elemente zu'überwinden, wie wir dieses schon in dem gewöhnlichen Schwimmen thun, wozu unser Leib bei weitem nicht so gut eingerichtet ist, wie der der meisten Thiere. Aber es gehört

‘Rattft. 15, 1 — 20.

199

dazu Much und Vertrauen. Auch dieses ungewöhnlichere und wunderbarere Gehen auf dem Wasser konnte ohne Muth und Vertrauen nicht gelingen, trotz der helfenden Nahe Jefu. Petrus erschrak, als er einen starken Wind spürte, fing an zu sinken, und schrie: Herr, hilf mir! Da ergriff ihn Je« sus und sprach, ihm seinen Kleinmuth verweisend: O du Kleingläubiger, warum zweifeltest du? Dieß lehre uns also, daß wir in dem Kampf mit der Natur und äußerer Hindernisse den Glauben und Muth bewahren. — Noch bemerkt Matthaus V. 33, daß die Leute im Schiffe, als Jesus hinein trat und der Sturm sich legte, ehrfurchtsvoll vor ihm niederfielen, und sprachen: Du bist wahrlich Gottes Sohn! Das war aber schwerlich der rechte Glau­ be an ihn, weil er sich bloß auf eine sinnliche Bewunderung gründete, welche das Wunderbare des Wandelns auf dem Wasser und das zu gleicher Zeit cintretende Aufhören des Sturmes erregte. Reiner ist der Glaube an die geistige Kraft und Würde Jesu. Als er nun mit seinen Jüngern hinüber schiffte in das Land Gennesaretff, und die Leute seiner gewahr wurden, schick­ ten sie im ganzen Lande umher, und brachten alle Krauke zu ihm, und baten ihn, daß sie nur den Saum seines Kleides anrühren dürften. Und alle die ihn anrührten, wurden gesund. (Matth. 34—36. Mk. 53 — 56.) Auch hier müssen wir bemerken, daß das Sinnliche vorherrscht. Die Leute waren geschäftiger, die Nähe Jesu für die Heilung körperli­ cher Gebrechen zu benutzen, als von seiner geistigen Hülfe

Gebrauch zu machen. Matth. 15, 1—20.

Mark. 7, 1—23.

Jesu Rede vom Händewaschen und äußerli­ cher Reinigung. Es kamen Schriftgelehrtc und Pharisäer von Jerusalem zu Jesu, und sprachen: Warum übertreten deine Jünger der Aeltesten Satzungen? Sie waschen ihre Hände nicht,, wenn sie Brod essen (Matth.

200

Matth. 15, 1 — 20.

Es war nämlich den Juden don ihren Ecsctzeslehrern vorgeschricben, vor dem Essen die Hande ju waschen, auch Gefäße und Gerathe rein zu halten (wie Mar­ kus dieses ausdrücklich bemerkt). Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Warum übertretet denn ihr Got­ tes Gebot um eurer Satzungen willen? (Matth. 3. Mk. 9.) Er gab ihnen den schweren Vorwurf zurück,

1. 2. Mk. 1 — 5.).

daß sie gerade um ihrer Satzungen willen die wichtigen und wesentlichen Pflichten, welche Gott selbst vorgeschricben, über­ träten. Das ist das Verderbliche des Satzungswesens und der Werkheiligkeit, daß das reine Gefühl für die Pflicht da­ durch unterdrückt und gegen offenbare Pflichtverletzungen ab­ gestumpft wird, indem nämlich die Sittlichkeit in Aeußerlichkeiten gesetzt und das Innere darüber vernachlässigt wird. Besonders aber tritt der Eigennutz derer, welche das Volk für die Werkheiligkeit erziehen, mit ins Spiel, indem sie Opfer und Gaben für den öffentlichen Gottesdienst und dessen Diener als besonders verdienstlich anpreiscn. So machten es die Pharisäer und Schriftgelehrten zu Gunsten des Tem­ pels und der Priesterschaft; zu der sie zum Theil gehörten, mit welcher sie das geistliche Ansehen theilten. So machten es auch die katholischen Priester, und machen cs wohl noch zum Theil. Gott hat geboten: Du sollst Vater und Mutter ehren; wer aber Vater undMukter flucht, der soll des Todes sterben. Christus nennt ein göttliches Gebot, das von der Natur mit unver­ tilgbaren Zügen in unser Herz gegraben ist, das von jedem unverdorbenen Herzen anerkannt und gerne geübt wird, und welches dennoch die Wcrkhciligkeitslehre der Pharisäer zu

umgehen wußte. Aber ihr lehret: Wer zum Vater oder zur Mutter spricht: Es sey geopfert, womit ich dir helfen könnte, der braucht seinen Vater oder seine Mutter mit nichten zu eh­ ren^). Und so habt ihr Gottes Gebot aufge-

♦) Luther falsch: Wenn ichs opfere, so ist dirs viel nutzer; der thut wohl, damit geschiehet es, daßNie-

Matth. 15, 1 — 20.

201

hoben um eurer Satzungen willen (Matth. 4—6. Mk. 9—13.). Das Gebot, die Eltern zu ehren, schließt auch die Pflicht ein, sie zu unterstützen und zu unterhalten; aber davon sprachen die damaligen Satzungslehrer zu Gun­ sten des Tempels los: wer das, womit er die Eltern hätte unterstützen können, zum Opfer weihcte, that nach ihrer herzlosen Sittenlehre wohl.' Sie unterdrückten das stärkste, tiefste Gefühl des Herzens; um der Priestcrschaft recht viele Gaben zuzuführen. Das ist die Folge jeder Sittenlehre, wel­ che nicht auf das Gefühl nnd die Gesinnung, sondern auf bloß äußerliche, sogenannte gute Werke, auf äußerliche Uebungen der Gottseligkeit, hinarbcitet. Kommen bei uns auch nicht mehr so grobe Verirrungen vor, so haben wir uns doch noch immer vor der Werkheiligkeit und dem Scheinwe­ sen der Frömmigkeit zu hüten. Wer sich der Rechtgläubig­ keit und Frömmigkeit befleißigt, und dabei die Pflichten der Liebe verletzt, nicht handelt, wie ein guter Sohn, Gatte, Vater, Bruder und Bürger handeln soll: der begeht den glei­ chen Fehler. Ihr Heuchler! es hat Jesaia wohl von euch geweissagt, indem er spricht (Jes. 29, 13.): Dieß Volk nahet sich zu mir mit seinem Munde, und ehret mich mit seinen Lippen; aber ähr Herz ist ferne von mir. Vergeblich dienen sie mir, dieweil sie lehren solche Lehren, die nichts denn Menschcngebote sind (Matth. 7 — 9. Mk. 6. 7.). Der wahre Gottesdienst besteht in der Rich­ tung des Herzens zu Gott, im Geist und in der Wahrheit; was bloß mit dem Munde oder den Händen geschieht, alle äußere Uebung, gilt vor ihm nichts. Auch Lehrmeinungen, an welchen bloß der Mund, und höchstens das Gedächtniß und der Verstand Theil haben, von denen aber das Herz nichts weiß, haben keinen Werth. Aber auch noch bei uns besteht das, was man Frömmigkeit und Christenthum nennt, ost bloß in dem, was der Mund und die Lippen aussprechcn,

mand hinfort seinen Bater oder seine Mutter ehret.

202

Matth. 15, 1 — 20.

und was nicht aus dem Herzen kommt.

Und woran erkennt

man den Lippendicnst und woran den wahren Herzensdienst? An der Liebe r wer seinem Nächsten achte Liebe beweist, der dient Gott von Herzen; denn die Liebe zu Gott wird in der Liebe zum Nächsten lebendig.

Jesus erklärt sich nun gegen das Volk über den Unwerth äußerlicher Rcinigkeitsübungen. Höret zu und ver­

nehmt es! Was zum Munde eingehet, das ver­ unreiniget den Menschen nicht, sondern was zum Munde ausgehet, das verunreiniget den Menschen (Matth. 10,11. Mk. 14 —16.). Es war dieß eine Glcichnißrede, welche Jesus den Jüngern deuten mußte, da sie noch so ungeübt waren im Verstehen solcher Sprüche. Er warf ihnen ihren Unverstand vor: Seyd ihr denn auch noch unverständig? Indessen vermöge seiner Milde gab er ihnen doch die gewünschte Erklärung. Merkt ihr noch nicht,daß alles, waszumMunde eingehet, das gehet in den Bauch, und timb durch den natürlichen Gang ausgeworfen? Ei­ ne obschon mit Unreinigkeit behaftete Speise kann den Men­ schen sittlich im Gemüthe nicht verunreinigen; denn sie dient nur dem Leibe zur Nahrnng, und, wenn sie verdaut ist, wird ihr Ueberbleibsel ausgeschicden. Wasaberzudcm Munde herausgehet, in Worten ausgesprochen wird und dann auch wohl in Handlungen übergehet, das kommt aus dem Herzen und das verunreiniget de» Menschen. Denn aus dem Herzen kommen ar­ ge Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerei, Die­ berei, falsche Zeugnisse, Lästerung. Das sind die Stücke, die den Menschen verunreinigen; aber mit ungewaschenen Händen es'sen, verun­ reiniget den Menschen nicht (Matth. 15—20. Mk. 17 — 23.). Also auf das Herz und die Gesinnung des Menschen kommt cs an; alle äußerliche feine Zucht, Reinlichkeit, Ordnung, Anmuth und Zierlichkeit, gibt ihm keinen Werth vor Gott, obschon diese Dinge auch in ihrer

Matth. 15, 1 — 20.

203

Art nothwendig und nützlich sind. Auch heißt es nicht viel, wenn man sich äußerlich von bösem Umgang und verdcrblicher Gemeinschaft frei hält, ohne daß das Herz vom Böfcn frei und rein bleibt; denn dann kann immer früher oder spater das Verderben hervorbrechen. Gelbst die äußerliche

Nachahmung des Guten, das in sich Aufnehmen guter Ge­ danken und Grundsätze, ohne daß aus dem Herzen die Selbst­ sucht und die böse Begierde ausgerottct ist, bringt weiter nichts hervor, als eine Art von äußerlicher Reinigkeit. Da­ rum bewahren wir unser Herz und suchen es immer mehr zu reinigen! Als Jesus jenen Spruch ausgesprochen hatte, traten seine Jünger zu ihm, und sprachen: Weißest du auch, daß sich die Pharisäer ärgerten (Anstoß nahmen), als sie das Wort hörten? (Matth. 12.) Die Jünger

fürchteten, scheint es, ihren Zorn, und wollten Jesum zur Vorsicht und Schonung ermahnen. Er aber sprach: Alle Pflanzen, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzet, werden ausgerottet (Matth. 13.). Alle, welche nicht durch gottgefällige Gesinnung eine Stelle im Reiche Gottes finden, in denen nicht sein Geist lebt, tra­ gen in sich selbst die Ursache ihres Untergangs: darum ist ihr Zorn, als ohnmächtig, nicht zu fürchten; die Wahrheit wird über sie siegen, und muß daher ohne Scheu vor ihnen verkündigt werden. Lasset sie fahren! Sie sind blinde Blinden-Leiter; wenn aber ein Blinder den andern leitet, so fallen sie beide in dieGrub e (Matth. 14.). Jenes sittliche Unwesen, jene Werkhei­ ligkeit, mußte ein böses Endenehmen; Führer und Geführte, die Obern und das Volk, mußten beide ins Verderben stür­ zen, wie es auch geschehen ist. Und so wird es immer ge­ schehen. Darum nur Muth gefaßt, ihr Verkündiger dcrWahrheit, ihr, die ihr für die Gerechtigkeit und Gottesfurcht wir­ ket! Das Böse, das euch feindlich in den Weg tritt, wird endlich gewiß unterliegen.

204

Matth. 15, 21—28.

Matth. 15, 21—28. Mark. 7, 24 — 31.

Vom kananäischen Weibe. Jesus begab sich in die Gegenden von Tyrus und Sidon, außerhalb der Grenzen Palästinas, vielleicht um eine Zeit­ lang vor den Nachstellungen seiner Feinde verborgen zu seyn (Matth. 21. Mk. 24.). Markus bemerkt, daß er in ein Haus gegangen, und es niemand habe wollen wissen lassen (V. 24.). Aus dieser Absicht verborgen seyn zu wollen erklärt sich das folgende Betragen Jesu gegen das kananäische Weib. Dieses nämlich, aus jenen Gegenden herkom­ mend, schrie ihm nach, und sprach: Ach! Herr, duSohn Davids, erbarme dich meiner! ÄHeine Tochter wird von einem bösenGeist übel geplagt (Mtth. 22. Mk. 25. 26.). Sie scheint eine Judengenosstn gewesen zu seyn» und von Jesu Wunderthätigkeit gehört zu haben, so daß sie ihn für den Messias hielt. Da nun ihre Tochter an einer Krankheit darnieder lag, welche man einem bösen Geiste zuschriebr so wollte sie die Gegenwart Jesu benutzen, um sie von diesem Uebel befreien zu lassen. Cie bat ihn, wie Mar­ kus sagt, daß er den bösen Geist austriebe. Er aber ant­ wortete ihr kein Wort(Matth. 23.). Erwar nicht hicher gekommen, um Heilungen zu verrichten, sondern ver­ borgen zu bleiben. Auch scheint er bas Weib prüfen gewollt zu haben r nur wenn sie bei ihrer Bitte verharrete, wollte er von seinem Dotsatzc, hier nicht wirksam zu seyn, abgehen. Da das Weib mit Bitten und Schreien fortfuhr, so legten die Jünger eine Fürbitte ein und sagten: Laß sie doch von dir, fertige sie ab, denn sie schreit uns nach (Matth. 23.). Er aber antwortete und sprach: Ich bin nicht gesandt, denn nur zu den verlornen Schafen vom Hause Israel (Matth. 24.). Er will nicht sagen, daß er nicht der Heiland aller Men­ schen sey, sondern daß seine Wirksamkeit zunächst auf die Israeliten beschränkt sey, so wie er auch seine Jün­

ger anfangs nur zu den Israeliten, und nicht einmal zu den Samaritern sandte (Vgl. Matth. 10, 5. 6.). Das

Matth. 15, 21—28.

205

Weib kam nun selbst zu ihm, siel vor ihm nieder, und sprach: Herr, hilf mir! (Matth. 25.) Er aber antwortete auch ihr abweisend, und sie auf die Probe stellend. Es ist nicht recht, daß man den Kindern das Brod nehme und werfe es vor die Hunde (Matth. 26.Mk.27.). Die Juden nannten sich die Kinder Gottes und die Heiden Hunde, und dieses harten Ausdrucks bediente sich Jesus ge­

gen das Weib: gewiß nicht km Ernste, denn er mußte ver­ möge seiner allumfassenden Liebe die Gesinnung des Hasses und der Verachtung, welche dadurch bezeichnet wurde, miß­ billigen > sondern er wollte nur das Weib prüfen, und ihr seine Weigerung, ihr zu helfen, zu erkennen zu geben. Es sey nicht recht, wollte er sagen, seine Wirksamkeit den Juden, welche die ersten Ansprüche darauf hatten, zu entziehen, und den Heiden zuzuwcndcn. Das Weib aber ließ sich nicht irre machen, sondern antwortete: Ja, Herr; aber doch es­ sen die Hunde von den Brosamen, die von ih­ rer Herren Tische fallen (Matth. 27. Mk. 28.). Sie wollte sagen r Wenn auch die Heiden keine Ansprüche darauf hatten, daß Jesus ihnen seine ganze Wirksamkeit zu­ wendete, so dürften sie doch gelege.nheitlich einigen Nutzen da­ von ziehen. Sie ordnete sich demüthig den Juden unter, und wollte nur gleichsam eine flüchtige Gabe der Barmher­ zigkeit sich ausbitten. Diese Demuth rührte Jesum, und er sprach zu ihr: O Weib, dein Glaube ist groß! Dir gescheht, wie du willst! Und ihre Tochter ward gesund zu derselbigen Stunde (Matth. 28.). Nach Markus V. 29 f. verhieß er ihr geradezu, daß. der böse Geist ausgefahrcn sey; und als sie zu Hause kam, fand sie es so. So wird die Demuth und Beharrlichkeit stets belohnt. Nähern wir uns so Gott und Jesu in unsern leiblichen und geistlichen Bedürfnissen: so werden wir nie getäuscht werden. Auch wenn es scheinen sollte, als versage sich uns die helfen­ de Gnade: so geschieht es nur, um uns zu prüfen, ob wir beharrlich sind, und uns zu lehren, daß wir die Hülfe nicht als ein Recht, sondern bloß als eine Gabe des Erbarmens fodern dürfen. Fühlen wir uns der göttlichen Hülfe recht

206

Matth. 15, 32 — 29.

unwürdig, dann sind wir ihrer gerade recht würdig. Denn was sind wir doch in unserer Sündhaftigkeit und in unserm Elende, daß wir uns anmaßen sollten, von Gott etwas als ein Recht zu begehren? Allerdings sind wir seine Kinder, aber nur aus Gnaden sind wir dazu angenommen, nicht, weil

wir dazu berechtigt sind. Matth. 15, 32 — 39. Mark. 8, 1 — 10.

Speisung der viertausend Mann. Aus der Gegend von Tyrus und Sidon begab sich Je­ sus an den galiläischen See, und zwar auf einen Berg da­

selbst, wo er sich setzte. Und es kam zu ihm viel Volks, und brachte allerlei Kranke mit sich, die er heilete. Er machte, daß die Stummen redeten, die Krüppel gesund wurden, die Lahmen gingen und die Blinden sahen, warüber das Volk sich verwunderte und Gott pries (Matth. 29—31.). Wo Jesus erscheint, da versammelt sich um ihn das menschliche Elend in allen Gestalten, und er verbreitet Leben, Gesund­ heit und Thätigkeit. Das gilt in Beziehung auf uns beson­ ders im geistigen Sinne: er entbindet jede gelähmte geistige Thätigkeit, löset die Sprache und gibt Kraft und Freimuth zu reden, erhellet das Auge und gibt Klarheit der Erkennt­ niß. Es ist eine und diefelbe Lebenskraft in ihm, die sich aber auf verschiedene Weife kund thut: Thätigkeit, Rcdegabe und Freimuth zu reden, Erkenntniß und Wissenschaft, alles geht aus derselben Quelle des Lebens hervor. Für diese Wohl­ thaten dankt Jesu das verwunderte Volk: auch wir wollen ihm danken für die mannigfaltigen geistigen Wohlthaten, die wir täglich von ihm empfangen. Nun folgt eine abermalige wunderbare Speisung. Je­ sum jammerte des Volkes, das schon fast drei Tage lang bei ihm verharret und nichts zu essen hatte; und er wollte es nicht ungegessen von sich lassen, damit es nicht auf dem Wege verschmachtete (Matth. 32.). Also drei Tage lang hatte sich Jesus mit dem Volke gemühet, und doch will er unauf-

gcfodert ihm noch eine Wohlthat erzeigen, und es speisen.

Matth. 16, 1 —.12.

207

So unermüdet ist die wahre Liebe! Cr hat die Krankheiten

unter dem Volke geheilt, und die Klage des Schmerzes ge­ stillt: jetzt spendet er eine fröhlichere Gabe, versammelt die Gesunden zu einem traulichen Mahl, und entlaßt sie erquickt und gestärkt. So reicht uns Jesus, nachdem er uns der Sündenlast entladen und unsere geistlichen Krankheiten ge­ heilt, das Lebensbrod, die frische Lebenskraft; so erquickt er die reumüthigen Sünder in seinem Abendmahle mit geisti­ ger Speise.

Matth. 16, 1 — 12. Mark. 8, 11—21. Man fodert vonJesn ein Zeichen; seineWar-

nung vor dem Sauerteige der Pharisäer. Die Pharisäer und mit ihnen die Sadducäer foderten von Jesu abermals ein Zeichen, und zwar ein Zeichen vom Himmel, ein mit göttlicher Kraft gegebenes Wunderzeichen (Matth. 1. Mk. 11. vgl. Matth. 12, 38 ff. Luk. 11, 29 ff.). Er aber befriedigte auch dießmal ihre Wundersucht nicht, weil ihr der Unglaube zum Grunde lag. Er antwortete und sprach: DesAbends sprechet ihr: Es wird ein schöner Tag werden, denn der Himmel ist roth. Und des Morgens sprechet ihr: Es wird heute Un­ gewitter seyn, denn der Himmel ist trüb-roth. Ihr Heuchler! Des Himmels Gestalt könnet ihr beurtheilen: könnet ihr denn nichtauchdie Zeichen der Zeit beurtheilen? So wie man das Wetter ans gewissen Zeichen beurtheilen kann, so gibt es auch Zeichen der Zeit, an welchen man die geistigen Bewegungen im Menschenleben erkennen kann, welche anzeigcn, daß neue, bessere Kräfte sich regen, und der Geist eine höhere Richtung nimmt. Solche Zeichen der Zeit waren die Thaten und die ganze Wirksamkeit Jesu, seine Heilungen, seine Todtenauferweckungen, seine Tenfelaustreibungen, seine Predigt vom Rei­ che Gottes (vergl. Matth. 11, 5.): daran konnte man er­ kennen, daß er der sey, der da kommen sollte, und daß er den Geist Gottes habe; und es bedurfte keiner andern Zeichen.

208

Matth.

16, 1 — 12

So sollen wir beständig auf die Zeichen der Zeit, auf die Spu­ ren neuer geistiger Bewegungen im Volksleben, aufmerksam seyn, um, wenn sie gut und gesund sind, uns dann mitwir­ kend anzuschließen. Gott erweckt den Geist, wo und wie er will, und uns ziemt seinen Winken zu folgen, nicht, von Vor­ urtheilen geblendet, nur das für Wirkung des Geistes zu neh­ men, was wir bisher nach unsern Vorstellungen und Rich­ tungen dafür gehalten haben. Viele sind gegen alles Neue gerade so eingenommen, wie die Pharisäer gegen Christum;

und vergebens werden sie von den Zeichen der Zeit aufgcfodert, an irgend einer heilsamen Bestrebung Theil zu nehmen. Vor solcher Verblendung hüten wir uns! So laden wir das Gericht der Verstockung auf uns, wie die Pharisäer, die, weil sie Jesu nicht glaubten und sich der Bildung der christli­ chen Kirche widersetzten, sich und ihr Volk ins Verderben stürzten. Bei uns fodern die Zeichen der Zeit laut manche Verbesserungen im bürgerlichen und kirchlichen Leben: die­ jenigen nun, die sich dagegen verblenden und Widerstand thun, verhindern nicht nur das Gute, sondern veranlassen auch ei­ nen Kampf, der für sie selbst und für viele Andere verderb­ lich werden kann. Die gewaltsamen blutigen Umwälzungen und Kriege, durch die unsere Zeit erschüttert worden, haben diejenigen verschuldet, welche die Zeichen der Zeiten verken­ nend dem gerechten Verlangen des Volks nach Verbesserun­ gen sich widersetzt haben. — Jesus weist übrigens die wun­ dersüchtige Znmuthung seiner Zeitgenossen durch dieselbe Ant­ wort zurück (Matth. 4. Mk. 12.), welche er früher gege­ ben hatte (Matth. 12, 39. Lk. 11, 29. 30.). Als nun Jesus die Pharisäer verlassen und sich mit sei­ nen Jüngern eingefchifft hatte, um über den See zu fahren, fand sichs, daß letztere vergessen hatten Brod mitzunchmen (Matth. 5. Mk. 13. 14.). In Beziehung auf das so eben zwischen ihm und den Pharisäern Vorgefallene sagte nun Je­ sus zu ihnen: Sehet zu und hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer und Sadducäer (Mtth. 6.— Mk. 15. setzt noch hinzu: vor dem Sauerteig des HerodeS, d. h. der dem Herodcs anhangenden Par-

Ma.tth. 16, 1—12.

209

thek.).

Jesus meinte bie unlautere Gesinnung und.Lehre dieser Menschen, ihre Selbstsucht, ihr Mißtrauen gegen alles Gute, ihre verlaumderischen Urtheile über Jesu Wirksamkeit. Die Jünger aber meinten, er ziele auf ihren Brodmangek, an' warne sie, kein Brod zu kaufen, das vom Sauerteige der Pharisäer durchdrungen sey. Sie dachten bei sich selbst und sprachen: Das wird es seyn, daß wir nicht haben Brod mit uns genommen (Matth. 7. Mk. 16.). In diesem Mißverständnisse zeigte sich nicht nur eine sehr sinnliche Befangenheit des Verstandes, daß sie das Bildliche der Rede Jesu nicht faßten, sondern auch eine ängstliche Sorglichkeit

für die Nahrung, welche keinem Gott-vertrauenden Mensche», am wenigsten den Begleitern Jesu ziemte, welche schon zwei mal Zeuge seiner hülfreichen Fürsorge gewesen waren. Diese Sorglichkeit verwies er ihnen nachdrücklich. Ihr Klein­ gläubigen! was bekümmert ihr euch doch, daß ihr nicht habtBrod mit euchgenommen? Seyd ihr noch unverständig und gedenket nicht an die fünfBrode der fünftausend, und wie viel Körbe ihr da aufhobet? Auch nicht der sieben Brode der vier tausend, und wie viele Körbe ihr da aufhobet? Wie? verstehet ihrdennnicht, daß ich euch nicht sage vom Brod, wenn ich euch sage: Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer und Sadducäer? (Matth. 8 — 11. Mk. 17 — 21.) Die Nahrungssorgen, der auf das Irdische gerichtete Sinn, ziehen den Geist herab, daß er unfähig wird, höhere Andeutungen und Winke zu verstehen. Wer nur die gemeinen Zwecke des Lebens im Auge hak, trägt die Bezie­ hungen darauf selbst in daö Höhere hinein, in die Belehrun­ gen der Wissenschaft, in die Erweckungen der Religion, und entweihet sogar das Gebet zu Gott mit seinen ängstlichen Sorgen. Drum hüten wir uns vor diesem unwürdigen Sinne, und raffen wir unsern Geist empor, daß er erkenne und erfasse, was seiner würdig ist!

Bibl. ErbauungSb. IL

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Mark. 7, 31 — 37.

Mark. 7, 31 — 37. Heilung eines Taubstummen. Ehe wir dem Gange der Berichte des Matthaus weiter folgen, holen wir ein Paar Erzählungen des Markus nach, welche er für sich allein hat. Man brachte zu Jesu, nachdem ec aus den Gegenden von Tyrus und Sidon znrückgekommen war, einen Tauben, der stumm war, und bat ihn, die Hand auf ihn zu legen und ihn zu heilen. Und er führte ihn vom Volke weg beiseite, um seine Heilung vorzunehmen. Er wollte nämlich damals verborgen bleiben: darum vermied er die Augen des Volkes. Sonst that er Wunder, auch in der Absicht die Aufmerksam­ keit auf sich zu lenken: jetzt sucht er die Einsamkeit, und be­ deckt seine Wohlthätigkeit mit dem Schleier des Geheimnisses. So gibt es auch für uns Fälle, wo wir unsre Wohlthaten verbergen müssen; und niemals sollen wir sie üben, bloß um von den Leuten gesehen zu werden. Die Umstände mäs­ sen uns lehren, ob wir sie ins Geheim oder öffentlich üben sollen. In jedem Fall sollen wir uns von unlauter» Ne­ benabsichten frei erhalten. Hierauf beschreibt nun der Evan­ gelist, wie Jesus die Heilung vollbracht hat. Er brauchte dazu ein äußerliches Mittel: er legte ihm die Finger in die Ohren, spukte und berührte mit dem Speichel die Zunge des Kranken. Dann aber blickte er gen Himmel, seufzte und sprach: Hephata, d.i. thue dich auf. Er erflehte die Mitwirkung des Himmels zur Heilung. Das äußerliche Mittel reichte nicht hin, seine Kraft hielt er nicht für hinrei­

chend, vom Beistände Gottes erwartete er Alles. Wenn nun Jesus dieses that, in welchem eine so außerordentliche Kraft war: wie vielmehr mässen wir es thun! An Gottes Segen ist alles gelegen Jesu Vertrauen auf Gott ward gerechtfertigt: die Ohren des Tauben thaten sich auf, und das Band der Zunge lösete sich, und er redete recht. So wird auch unser Wohlthun gesegnet seyn, wenn cs mit Gott gethan ist. Jesus verbot den Leuten, sie sollten es nieman­ den sagen; je mehr er aber verbot, desto mehr breiteten sie

'Mark. 8,22—26.

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es aus". Daran thaten fie freilich unrecht, sie hätten sollen ihrem Wohlthäter gehorchen; aber sie entschuldigt der Drang

der Dankbarkeit, aus dem sie fehlten. Auch die geheime Wohlthat findet endlich Anerkennung und Lob, und um so mehr, je weniger der Wohlthäter nach Ruhm und Dank ge­ geizt hat. Die Leute verwunderten sich über die Maße, und sprachen: Er hat alles wohl gemacht: die Tauden macht er hörend, und die Sprachlosen re­ dend. Von Herzen stimmen wir in dieses Lob Christi ein. Er hat alles wohl gemacht, und macht fort und fort alles wohl. Er hat sein Erlösnngsgeschäft vollbracht, und setzt es in den Herzen der Menschen fort. Er macht km geistigen Sinne die Tauben hörend, öffnet ihnen Herz und Verstand, daß sie das Wort des Heils vernehmen, erhält stets rege die Empfänglichkeit zu lernen und sich auszubilden; und die Sprachlosen macht er redend, er weckt den Trieb, und gibt die Kraft, das Wort der Wahrheit zu verkündigen, und er­ hält in seiner Kirche den freien Austausch der Gedanken, den lebendigen Verkehr der Rede und Schrift, wodurch Leben und Licht verbreitet wird. Hören und Reden ist im Leiblichen und Geistigen gegenseitig bedingt: wer taub ist, ist auch stumm; wer hingegen höret, der redet auch; wer empfängt, der gibt wieder; der Schüler wird zum Lehrer. Drum trenne man nicht die Sorge für den Volks-Unterricht von der Sorge für die Sprech-Lehr- und Schreibe-Freiheit. Nur da ist ein lebendiges Geistesleben, wo die Mittheilung frei und unge­ stört ist.

Mark. 8, 22—26.

Heilung eines Blinden. Auf ähnliche Weise heilte Jesus einen Blinden zu Bethfaida. Auch diesen führte er beiseite, hinaus vor den Flecken; auch zu dessen Heilung bediente er sich seines Speichels, und legte seine Hände auf dessen Augen; auch ihm legte er Still­ schweigen auf. Die Heilung desselben geschah nicht mit ei­ nem Mal. Nachdem Jesus in dessen Augen gespukt hatte,

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Matth. 16, 13 — 28.

fragte er ihn, ob er etwas sahe? Und er sah auf, und sprach: Ich sehe Menschen gehen, als sähe ich Bäume, nämlich er erkannte noch nichts deutlich, und unterschied noch nicht die Glieder und Gesichtszüge der Vorübergehenden. Dann legte Jesus abermals seine Hände auf seine Augen, und hieß ihn abermals sehen: und dann erst zeigte es sich, daß er scharf sehen konnte. Wir sehen also, daß Jesus sich nicht nur gewisser Mittel bediente, sondern auch nach und nach, nicht immer mit einem Mal, wirkte. Um so mehr sind wir bei unserm Wirken an einen Stufengang gebunden, und uns ziemt Geduld und Beharrlichkeit, zumal- in unserm gei­ stigen Wirken, z. B. in der Erziehung. Erwarten wir nicht, daß gleich der vollkommenste Erfolg sich zeige, und seyen wir zufrieden, wenn wir nur einen Anfang zur Besserung se­

hen. Auch in der Bekehrung und Besserung Erwachsener wird es gewöhnlich langsam gehen. Das vorher verhüllte Auge des Geistes wird durch die Einwirkung des Lichtes der Wahrheit anfangs nur undeutlich sehen, und erst durch Be­ harrlichkeit wird die vollkommene Klarheit erlangt werden. Solche langsame Belehrungen sind in der Regel sicherer und gründlicher, als die plötzlichen, und täuschen nicht so leicht, weil sie den gesetzmäßigen Gang der Natur beobachten, und keine Sprünge machen. Matth. 16, 13 — 28. Mark. 8, 27—9, 1. Luk. 9,

18 — 27.

Petri Bekenntniß und gegebenes Aergerniß.' Als Jesus mit seinen Jüngern in die Gegend der Stadt Casarea Philippi an der Nordgrenze von Galiläa kam, fragte erste: Wer sagen die Leute, daß des Menschen Sohn sey? (M^th. 13. Mk. 27. Lk. 18.) Jesus scheint sich absichtlich in 'diese entlegene Gegend begeben zu haben, um mit seinen Jüngern eine ernste Prüfung anzustellen, wie weit es mit ihrem Glauben gediehen sey, und um ihnen wich, tige Mittheilungen zu machen. Da er sich dem Ende seiner irdischen Laufbahn näherte, so wollte er für sich selbst einen

Matth. 16, 13—28.

213

prüfenden Rückblick auf sein bisheriges Wirken und dessen Erfolg werfen. So handett der besonnne, ernste Menfch, und gern sucht er die Ruhe der Einsamkeit, um sich zu sammeln. Jesus fragte seine Jünger über die Meinung, welche die Leute von ihm hegten, theils weil er diese wirklich kennen lernen

wollte, theils um die Aufmerksamkeit der Jünger darauf zu lenken. Indem sie die Meinung Anderer von Jesu in Er­ wägung zogen, mußten sie sich über ihre eigene fragen. An andern Menschen spiegeln wir uns selbst, und fremde Jrthümer veranlassen uns oft die Wahrheit zu finden. Darum sollen wir allerdings darnach fragen, wie Andere über eine Sache, die uns angelegen ist, urtheilen, nicht aber um unsre Verdammungs»und Verleumdungssucht dadurch zu befrie­ digen.

Sie sprachen: Etliche sagens du seyst Johan­ nes der Täufer; die Andern, du seyst Elias; etliche, du seyst Jeremias oder der Propheten einer (Matth 14. Mk. 28. Lk. 19.). Alle sahen in ihm

nur etwas, was schon dagewescn war, und ließen sich in ihrem Urtheile über ihn von der Erinnerung alter Begeben­ heiten leiten. Jener Johannes war erst vor kurzem aufge­ treten; aber sein Wirken war vorüber und iafofcrn auch et­ was Altes. Auch hatte er in seinem ganzen Betragen und Wirken das Bild eines alten Propheten dargestellt, und ge­ hörte zum Theil dem alten Testamente an. Niemand er­ kannte in Jesu den Urheber eines neuen Lebens, einer neuen Schöpfung. So urtheilt der große Haufe: erhängt am Alten, und kann nicht leicht etwas Neues fassen. Alle auch, mit denen man Jesum verglich, waren Menschen, sündhafte, fehlbare Menschen, und so hielt man auch Jesum für nichts weiter, als für einen solchen Menschen; Niemand erkannte in ihm die göttliche, alles übertreffende und überstrahlende Herrlichkeit. Nicht gern erkennen die Menschen etwas Hö^ heres an, lieber ziehen sie es zu sich in den Staub herab. Denn die Anerkennung desselben macht an sie die Anfodcrung sich selbst zu erheben und beugt ihren Hochmuth; dagegen ist

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Matth. 16, 13 — 28.

es bequem und schmeichelt der Eigenliebe, nur Gleiches oder gar Niedrigeres um sich her zu sehen. Jesus fragte nun seine Jünger selbst um ihre Meinung von ihm. Wer sagt denn ihr, daß ich sey! (Mtth. 15. Mark. 29. Luk. 20.) Aber alle schwiegen bis auf Pe« trus, wahrscheinlich weil sie noch nicht fest in ihrer Ueberzeu­ gung waren. Nur Petrus, vermöge der raschen Entschie­ denheit seines Charakters, antwortete r Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn (Matth. 16. Mark. 29. Lük. 20.). Er also hatte in ihm den höheren, gött­ lichen Geist und die hohe Bestimmung, der Schöpfer des Reiches Gottes auf Erden zu seyn, erkannt; er sah in ihm den Abglanz Gottes in seiner lebendigen, schöpferischen Kraft. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Selig bist du Simon, Jonä Sohn! Ja wohl ist selig, werdiesen Glauben hat, wodurch er frei wird von den Fesseln der Sinnlichkeit und Gewohnheit, die göttliche Wahrheit und Vollkommenheit im reinen Glanze schaut, und den Weg fin­ det, selbst zu ihr zu gelangen. Fleisch und Blut, setzt Jesus hinzu, hat dir das nicht geoffenbart, son­ dernmein Vater im Himmel (Matth. 17.). Fleisch und Blut, Sinnlichkeit und Gewohnheit, hinderte die An­ dern, das rechte Urtheil von Christo zu fassen, sich zu einer höher» Ansicht von ihm aufzuschwingen. Ganz andere An­ regungen brachten Petrus zum Glauben an Christus, die Anregungen des göttlichen Geistes, der Trieb einer höheren Liebe, den Gott in ihm erweckte. Nur durch göttliche Erre­ gung kann man Christum als Sohn Gottes erkennen, und überhaupt zu höherer Erkenntniß gelangen. Wer aber em­ pfänglich ist für solche Auregungen und ihnen gehorcht, dee ist selig; denn er gelangt zum Glauben und zur höher» Liebe. Der Glaube aber macht nicht bloß den Gläubigen selbst selig, sondern tragt auch für Andere herrliche Früchte. D u

bist Petrus, fahrt Jesus fort, und auf diesen Fel­ sen will ich bauen meine Gemeinde, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwälti­ gen (Matth. 18.). Petrus bewahrte seinen Namen Fels,

Matth. 16, 13—28.

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Felsen mann, durch das feste Bekenntniß, bas er abge­ legt, und auf dieses, als eine feste Grundlage will Christus seine Gemeinde gründen so fest und sicher, daß die böse Macht der Hölle ( die Pforten der Unterwelt wurden als etwas un­ überwindlich Starkes gedacht, weil niemand vom Tode wiederkchrt) sie nicht erschüttern und zerstören soll. Petrus war der erste, der Jesum für den Messias erkannte, und an ihn schlossen sich die andern Jünger, und an diese andere an, so daß sich die Gemeinde Christi nach und nach bildete. Kei­ nen schönern Lohn konnte aber Petrus für seinen Glauben em­ pfangen, als daß er den Grund legte zur Kirche Christi; denn was kann ein gutes Herz mehr erfreuen, als zur Ver­ breitung des Guten zu wirken? Falsch ist die Erklärung, daß Jesus auf Petri Person, als ein zweites Haupt nach ihm selbst, seine Kirche gründe: Petrus war nicht mehr, als die andern Apostel, und die Kirche sollte kein anderes Haupt ha­ ben, als Christum selbst (vgl. Matth. 23, 8.10.). Ich will dir des Himmelreichs Schlüssel geben.

Alles was du aufErden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden seyn; und Alles was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los seyn (Matth. 19.). Jesus gibt dem Petrus die Ge­ walt, ins Reich Gottes aufzunchmcn alle, die ihn dessen würbig scheinen, und macht ihn gleichsam zum Pförtner dessel­ ben. Aber er soll dabei nicht mit Willkühr verfahren, son­ dern nach der ihm durch seinen Glauben verliehenen Einsicht, nach seiner Mcnschenkenntniß, wodurch er die Würdigen er­ kennen wird. Zu dieser Gewalt gehört auch noch, daß er binden d. h. verbieten, und lösen d. h. erlauben, über die Rechtmäßigkeit von Handlungen und die Würdigkeit von Personen entscheiden kann, so daß Gott seine Entscheidungen, als in feinem Geiste geschehen, billigen wird. Er soll als Apostel und Lehrer, als Herrscher im geistigen Leben, ent­ scheiden können, was Gott wohlgefällig sey oder nicht, und wer ins Reich Gottes ausgenommen werden könne, nnd wer nicht.

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Patth» 16, 13—28.

Diese Gewalt übte Petrus z. D., als er bas hinterlistige Betragen des Anamas richtete (A. G. 5, 1 ff.), als er dm Hauptmann Cornelius in die christliche Gemeinschaft aufnahm (A. G. 10, 46 f.). Aber er übte sie nicht allein; Chri­ stus ertheilte sie auch den andern Aposteln (Matth. 18, 18.), und sie steht noch heute allen wahren Dienern des Wortes zu; ja, jeder achte Jünger Christi, jeder wahre Christ, kann sic üben, wenn er in die Herzen der Menschen schaut, und sic für würdig oder unwürdig erkennt, wenn er durch seinen sittlichen Einfluß den Bösen aus der Gesellschaft der Guten ausschlicßt, und das Döse straft und das Gute geltend macht. Hierauf verbot Jesus feinen Jüngern, daß sie Nieman­ den sagen sollten, daß er Jesus derChrist wäre (Matth. 20. Mark. 20, 21.). Er hielt es noch nicht für zeitgemäß, daß die Jünger ihn als Messias verkündigten, vielleicht weil ihr Glaube an ihn noch nicht genug gelautert und befestigt war, und sie ihn vielleicht als irdischen Messias verkündigen würden, vielleicht auch, weil das Volk ihnen nicht glauben oder ihre Lehre mißverstehen und mißbrauchen würde. Jesus wollte erst nach seinem Tode als Messias anerkannt seyn, weil er dann erst auf die rechte Weise, im geistigen Sinne, anerkannt werden konnte. Darum verkündigt er ihnen auch nun seinen Tod« Von der Zeit an fing Jesus an, und zeigte seinen Jüngern, wie er müßte hin zu Jerusa­ lem gehen und viel leiden von den Aeltesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten, und getödtet werden, und am dritten Tage aufer­ stehen (Matth. 21. Mark. 81. Luk. 22.). Das war eine für die Jünger schwer faßliche Eröffnung, welche ihnen nicht in den Sinn wollte; um sie zu fassen, mußte man sich von allen irdischen Hoffnungen und aller irdischen Liebe gereinigt haben. Das war der Stein des Anstoßes, an welchem so viele strauchelten, und auch Petrus. Dieser nahm ihn zu sich, fuhr lhn an, redete ihm ernstlich zu, und sprach: Behüte dich Gott *), Herr! das wird

*) Luther falsch! schone deiner selbst. x

Matth. 16, 13—28.

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nicht geschehen! (Matth, 22. Mark.32.) Pekrus'llebte feinen Herrn und Meister zu sehr, um den Gedanken seines Todes ertragen zu können; das macht seinen Fehler verzeihlich, aber es war doch ein Fehler. Es war Fleisch und Blut, was ihm diese weichliche, irdische Liebe ekngab, und ihn ver­ leitete, Jesum von seinem Tode abzuwehren. So ist die menschliche Liebe! Sie wird leicht eigennützig und weichlich. Petrus glaubte an Jesum und liebte ihn: das war löblich; aber eben diese Liebe machte ihn unfähig sich einer Aufopfe­ rung zu unterwerfen, welche von Gott selbst als nothwendig gefodert war. Hatte er Jesum rein als Sohn Gottes ge­ liebt, so hatte er vor dessen Tode nicht schaudern sollen, da er als solcher der Erde nicht angehörte, sondern allein dazu Mensch geworden war, den Willen seines himmlischen Va­ ters zu erfüllen. Und so sollten wir immer, je reiner wir eine Person lieben, um so mehr darauf gerüstet seyn, ihren Verlust zu ertragen; denn je edler und erhabener ein Mensch ist, um so mehr ist er dazu verpflichtet, dem Dienste Gottes zu leben und zu sterben. Wie sehr Jesus Petrum wegen seines Glaubensbekennt­ nisses gelobt und erhoben hatte, so sehr strafte und beugte er ihn wegen dieser seiner fleischlichen Schwache. Hebe dich, Satan, von mir! Du bist mir ärgerlich; denn du meinest nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist (Matth. 23. Mark. 33.). Er nennt ihn Satan, d. h. Widersacher oder Verführer, Nennt ihn ärgerlich, d. h. Anstoß gebend, irre oder wan­ kend machend, und gibt ihm eine menschliche, d. h. fleisch­ liche, selbstsüchtige Gesinnung Schuld. Cs fehlte ihm noch die ganz lautere, selbstvergessene Hingebung gegen Gott und dessen heiligen Willen.

Diese aber fodert Jesus von allen den Seinigen. Will mir jemand Nachfolgen, der verleugne sich selbst, und nehme seinKreuz auf sich,und folge mir (Matth. 24. Mark. 34. Luk. 23.). Sich selbst ver­ leugne» soll der Christ; alles, was er in sich und um sein

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Matth. 16, 13 — 28.

selbst willen liebt, was ihm auf Erden werth und theuer ist,

woran sein Herz hangt, soll er Gott und seinem Heilande aufopfern, und nicht suchen, was sein ist, sondern was Got­ tes ist. Er soll, wenn es die Sache Gottes fobert,- sein Le­ ben aufopfern, Marter und Tod erdulden. Denn wer sein (irdisches) Leben erhalten will, der wird es (sein ewiges) verlieren; wer aber sein (irdisches) Leben verlieret um meinet willen, der wird es (sein ewiges) gewinnen (Matth. 25. Mark. 35. Lk. 24. vgl. Matth. 10, 39.). Was hülfe es dem Men­ schen, so er die ganze Welt, alle irdischen Güter und Freuden, gewönne, und nähme doch Schaden an seiner Seele, verscherzte darüber sein geistiges, ewiges Heil? Oder was kann der Mensch geben, da­ mit er seine Seele wieder löse? Es gibt keinen irdischen Kaufpreis, womit man den an der Seele erlittenen Schaden wieder gut machen könnte; aller Reichthum und alle Herrlichkeit der Welt kommt nicht dem Heil der Seele gleich (Matth. 26. Mark. 36 f. Luk. 25.). Der Schade, den ein Mensch an seiner Seele nimmt, die Sündenschuld, die er auf sich geladen, die Nichtigkeit, der er sich hingibt, wenn er sich der irdischen Liebe verkauft, macht ihn unwürdig des Reiches Gottes und schließt ihn von der seligen Gemeinschaft desselben aus. Wer sich meiner und meiner Worte schämet, nicht für mich und meine Sache zu leiden wagt, deß wird sich der Menschen­ sohn auch schämen, den wird er nicht als den Seinigen, nicht als Bürger des ReichesGottes anerkennen, wenn er kommen wird in seiner Herrlichkeit und sei­ nes Vaters und der heiligen Engel, in der gött­ lichen Kraft der siegenden Wahrheit, um sein Reich auf Er­ den in glorreicher Herrlichkeit aufzurichten (Luk. 26. Mark. 38.). Wer Christum verleugnet hat, wird an der Seligkeit dieses Sieges nicht Theil nehmen, sondern in die Vernich­ tung des Bösen und Eiteln, dem er sich ergeben, mit ver­ schlungen werden. Denn es wird der Menschen­ sohn kommen in der Herrlichkeit seines Va-

Matth. 17, 1 —13.

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ters mit seinen Engeln; und alsdann wird er

einem jeglichen vergelten nach feinen Werken ( Matth. 27.). Die Vergeltung wird eben darin bestehen, daß diejenigen, welche der Sache Christi mit Eifer undSelbstverleugnung gedient haben, in sein Reich ausgenommen, die andern aber ausgeschlossen werden. Und nun verheißt Jesus seinen Jüngern, daß die große Entscheidung des Sieges seines Reiches über das Reich der Finsterniß und somit auch jene Vergeltung noch bei ihren Lebzeiten eintreten werde. Wahrlich ich sage euch: Es stehen etliche hier, die nicht schmecken werden den Tod, bis daß sie den Menschensohn kommen sehen in seinem Reich (Matth. 28. Mark. 9, 1. Luk. 27.). Christum kn sein Reich kommen sehen, ist soviel als sein Reich sehen (Luk. 27.)-, den siegreichen Eintritt desselben erleben: und dieses ist in der That mehreren Jüngern Jesu, welche ein höheres Alter erreichten, zu Theil geworden, indem sie das der christlichen Kirche feindliche Judenthum untergehcn, und die Sache Christi über seine erbittertsten Feinde siegen sahen.

Matth. 17, 1 — 13. Mark. 9, 2—13. Luk. 9,28—36.

Verklärung Jesu auf dem Berge. Nach etlichen Tagen (Matthaus und Markus geben sechs, Lukas acht an) nahm Jesus seine vertrautesten Jünger, Petrus, Johannes und Jacobus, zu sich, und stieg auf einen Berg, um zu beten (Luk. 9, 28. Matth. 1. Mk. 2.). Der Gedanke an seinen Tod trieb ihn in die Einsam« keit, um sich im Gebete zu Gott zu starken und zu erheben. Aber die Jünger vermochten ihm in diesen Selbstbetrachtungen, in dieser andächtigen Erhebung der Seele, nicht beizu­ stehen; die körperliche Schwache übermannte sie, und sie ent­ schliefen. Petrus aber und die mit ihm waren, waren voll Schlafs (Luk. 32.). Unvermögend, die geistige Erhabenheit und innere Verklarung Jesu durch den Entschluß, für das Heil der Menschen, aus Gehorsam ge­ gen seinen himmlische« Vater, ju sterben, mit den Augen

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Matth. 17, 1 — 13.

des Geistes zu schauen, wurden sie durch ein Gesicht, das ihnen Jesum in äusserer Verklarung und in überirdischer Um­ gebung zeigte, zu der Ahnung erhoben, daß er einer erha­ benen Bestimmung entgegen gehe. Da sie aber auf­ wachten, sahen sie seine Klarheit (Lk. 32.): näm­ lich da er betete, ward die Gestalt seines Ge­ sichts anders, und sein Kleid ward weiß, und glänzte (Luk. 29.Matth. 2. Mark. 3.). Durch die Er­ hebung seiner Gedanken zu Gott ward Jesus innerlich ver­ klärt, wie auch wir uns im Gebete reinigen und verklären: und diese Klarheit erschien den Jüngern auch äusserlich itt einem überirdischen Glanze. Zugleich erschienen ihnen zween Männer, welche mit ihm redeten, welche waren Moses und Elias: die erschienen in Klarheit und redeten von dem -Ausgang oder Tode, wel­ chen er sollte erfüllen zu Jerusalem (Luk. 30. 31.). Jesus erschien umgeben von abgeschiedenen Seligen, die ihn in dem Entschlüsse, für die Menschheit zu leiden, be­ stärkten. Menschen scheinen diese erhabenen Gedanken, die so sehr die Begriffe der Zeitgenossen Jesu überstiegen, nicht fassen zu können; die Jünger hielten sie für Moses und Elias, von welchen man glaubte, daß sie zur Zeit des Messias er­ scheinen würden. Und wirklich erhob sich auch Jesus in die­ sem Augenblicke, da er den Gedanken seines Todes vor Gott prüfte und sich darin befestigte, aus der Gesellschaft der Le­ bendigen , die doch fast alle mit eigensüchtiger Liebe am Leben hingen, in die Gemeinschaft und den Umgang mit den großen, seligen Todten, welche einst für Gottes Sache mit Hingebung und Aufopferung gelebt und gewirkt hatten. Obgleich es für den vollkommnen Christen keines äusseren Glanzes bedarf, um die Hohheit Christi zu erkennen, und sie dem Gläubigen gerade in der Schmach des Kreuzes am herrlichsten erscheint: so ist doch das Gesicht, das hier die Jünger schauen, ein sehr schönes, crweckliches Bild: Christus, vom himmlischen Glanze umflossen, gleichsam über der Erde, ihren Freuden und Schmerzen, schwebend, von seligen Geistern umringt, erhabene Gedanken mit ihnen wechselnd. Keiner, der auch

Matth. 17, 1 — 13.

22t

noch so frei vom Bedürfniß sinnlicher Anregungen ist, wird es verschmähen, dieses Bild mit Andacht zu betrachten, und wird darin eine Mahnung für sich selbst finden. So sollte

jeder wahre Christ über der Erde schweben, in der Nahe Got­ tes und der seligen Geister; so rein und gelautert von irdi­ schen Gedanken und Gesinnungen sollte ein jeder seyn! Und es begab sich, da die Manner von Jesu wichen, sprach Petrus zu Jesu: Meister, hier ist gut seyn: laßt uns drei Hüttew bauen, dir eine, Mosi eine, und Elia eine. Und wußte nicht, was er redete (Luk. 33. Matth. 4. Mark. 5.). Wie sinnlich befangen und eigensüchtig war diese Aeusserung

Petri! Der hohe Augenblick der Verklarung Jesu war aller, dings für die Junger Jesu erhebend und begeisternd, aber es war keine Zeit des ruhigen, dauernden Genusses. Er verfiog, wie eine höhere, glanzende Erscheinung, und auf ihn folgte dann der ernste, schwere Kampf, durch welchen das hier Erschienene verwirklicht und in der That erreicht werden mußte. Jesus mußte nun leiden und sterben, um die ihm bestimmte Verklarung zu erlangen. Petrus aber wollte die­ sen Augenblick der Weihe fest halten und ruhig genießen, so wie man ein irdisches Glück genießt, nicht einsehend, daß die Bedeutung desselben gerade in der Verzichtleistung auf alles irdische Glück lag. So erscheint Vielen das Himmlische zwar glanzend und erfreulich, aber sie wollen es bequem ge­ nießen, nicht durch Kampf und Leiden erringen; es soll ihnen von aussen als ein fremdes Geschenk kommen, nicht als die Frucht ihres eigenen Strebens; sie wollen in der thatenlosen Betrachtung, nicht im Streben und Handeln himmlisch seyn. Ach! es gibt manche geweihete, selige, Herz - befriedigende Augenblicke im Leben, wo man mit Petrus ausrufen möchte: Hier ist gut seyn, hier laßt uns Hütten bauen! Aber sie

vergehen, der Sturm des Lebens reißt sie von hinnen, und wir müssen, dem Frieden den Rücken wendend, wieder hin­ aus treten in den Kampf und Streit. Da er aber solches redete, kam eine Wolke, und überschattete sie (Jesum und die zween Manner);

222

Matth. 17,

1 — 13.

und sie (die Jünger) erschraken, da jene in die Wolke traten*). Und «s kam eine Stimme aus der Wolke, die sprach: Dieser ist mein lieber Sohn, den sollt ihr hören (Luk. 34. 35. Matth. 5. Mark. 7.). Die Lichterscheinung verschwindet, von einer Wolke verhüllt, und das Gefühl des wonnigen Behagens wird durch die ernste Mahnung verdrängt, daß die Jünger Christum als Sohn Sottes verehren und ihm gehorchen und folgen sollen. Und ihm zu gehorchen, ist keine leichte Sache; denn seine Stimme ruft uns nicht selten in Kampf und Leiden. Auch den Jüngern, wie Jesu selbst, stand eine schwere Zeit bevor; denn nicht nur gericthen sie bei seiner Gefangcnnehmung in die Versuchung, ihn zu verlassen und zu verleugnen, sondern nach seinem Tode mußten sie selbst der Verfolgung entgegen gehen. Die Jünger erschraken, als sie diese Stimme hörten; ja, sie fielen auf ihr Angesicht (Matth. 6.). So wohl es ihnen vorher gewesen war, so sehr erschütterte sie jetzt diese ernste Stimme. Hatten sie sich dem vorigen wohl­ thuenden Eindrücke nicht mit so trägem Sinne hingegeben,

so wären sie jetzt nicht so heftig erschrocken; denn die Thätig­ keit, das kräftige Streben, hält das Gemüth aufrecht, und waffnct es gegen die Schlage des Schicksals. Jesus aber trat zu ihnen, rührete sie an, und sprach: Stehet auf, und fürchtet euch nicht! Da sie aber ihre Augen aufhobcn, sahen sie Niemand, denn Jesum allein (Matth. 7. 8. Mark. 8. Lul. 36.). Die wohlbekannte, tröstende Gestalt ihres Meisters tritt ihnen nahe, und flößt ihnen wieder Muth ein. Wohl ihnen, daß sie so aus ihrem traumähnlichen Zustande geweckt und in die Wirklichkeit zurückgcführt wurden! Sie sahen ihn nicht mehr in der Verklärung, aber doch in seiner geliebten wirklichen Gestalt. Wohl uns, wenn wir nach seligen Augenblicken der Erhebung, aus denen uns der düstre Ernst des Lebens reißt, einen edlen Freund und Führer finden, der uns den

Weg ins Leben zeigt, und uns Muth und Vertrauen einflößt! *) Luther nicht treu genug; da sie di« Wolke überzog.

Matth. 17, 1 — 13.

223

Und da sie vom Berge herabgingen, gebot ihnen Jesus und sprach: Ihr sollt dießGesicht niemanden sagen, bis der Menschensohn von den Todten auferstanden ist. Und sie schwie­ gen, und verkündigten Niemanden nichts in denselbigen Tagen, was sie gesehen hatten (Matth. 9. Mk. 9. Lk. 36.). Niemand hatte dieß Gesicht verstanden, da die Jünger selbst die Bedeutung desselben nicht recht gefaßt hatten. Erst Jesu Tod konnte die Menschen lehren, welche Verklarung ihm bestimmt war; vorher hatten sie entweder etwas Schwärmerisches darin gefunden, und sich dadurch irre führen lassen, öderes mit spöttischen, un­ gläubigen Augen betrachtet. Auch wir wollen die Ahnungen seliger Augenblicke der Weihe und Erhebung nicht Jedermann Preis geben, sondern still bei uns bewahren, bis die Erfah­ rung des Lebens und unsre eigene That die Bewahrung herbeiführen. Und seineJünger fragten ihn, und sprachen: Was sagen denn die Schriftgelehrten, Elias müsse vorher kommen? (Matth. 10. Mk. 11.) Sie wollten näheren Aufschluß über das gehabte Gesicht erhalten. Sie glaubten Elias gesehen zu haben, von welchem die Schrift­ gelehrten sagten, er werde dem Messias und dessen Reiche vorhergehen und alles in gehörigen Stand setzen; und doch

war er wieder verschwunden, ohne bei Jesu zu bleiben, und ihm beizustehen: dieß erweckte ihnen einen Zweifel. Jesus aber befriedigte ihre vorwitzige Wißbegierde nicht, und lenkte sie von der schwärmerischen Hoffnung ab, welche das Gesicht in ihnen erweckt hatte. Er leugnete weder, daß sie Elias gesehen, noch bestätigte er es, sondern wies sie in das wirk­ liche Leben. Elias, sagte er, soll ja zuvor kommen, und alles zurecht bringen. Doch ich sage euch: Es ist Elias schon gekommen; und sie haben ihn nicht erkannt, sondern an ihm gethan,was sie wollten, (nach ihrer bösen Willkühr). Also wird auch der Menschensohn leiden müssen von ih­ nen. Da verstanden die Jünger, daß er von

224

Matth. 17, 14—21.

Johannes, bemTäufer, zu ihnen geredet hatten (Matth. 11 —13. Mk. 12, 13.) Sie sollten nicht eine wunderbare Zukunft des Elias träumend hoffen, sondern mit nüchternem Blicke meiner wirklichen, geschichtlichen Crschei. nung die Erfüllung ihrer Hoffnung finden; und wenn sie diese Erscheinung nicht ganz befriedigte und der Erfolg nicht

bedeutend genug zu seyn schien, sollten sie die Schuld davon im Unglauben und in der Bosheit ihrer Zeitgenossen finden. Johannes hatte wohl, wie Elias, alles zurecht bringen kön­ nen, wenn ihm nicht die Menschen widerstrebt hatten. So hoffen die Menschen zuweilen auf außerordentliche Dinge, und sehen nicht, daß die Wirklichkeit alle Bedingungen zur Erfüllung ihrer Hoffnungen enthalt, ausgenommen die Gesinnung und Handlungsweise der Menschen. Manche setzen ihre Hoffnung auf neue Einrichtungen und Verbesserungen, und sehen nicht, daß die bestehenden alten vortrefflich seyn würden, wenn nur die Bürger den rechten Geist hatten, um sie geltend und wirksam zu machen. Matth.17,14—21.Mark.9,14—29. Lk. 9,37—43.

Heilung eines Dämonischen. Als sie vom Berge herabkamen zu den übrigen Jüngern und dem Volke, das um sie versammelt war, bat Jesum ein Mann, dessen Sohn mit einer bösen Krankheit, der fallenden Sucht, behaftet war, als deren Ursache man einen bösen Geist ansah, ihm zu helfen. Er hatte ihn zu den Jüngern gebracht; sie hatten aber die Heilung nicht bewirken können (Matth. 14—16. Mk. 14—18. Lk. 37 — 40.). Deßwegen war Je­ sus aufgebracht über seineJünger, und rief: Odu unglau-

bige und verkehrte Art! wie lange soll ich bei euch seyn? wie lange soll ich Geduld mit euch haben? (Matth. 17. Mk. 19. Lk. 41.) Aus Unglauben, aus Mißtrauen zu Gott und den ihnen verliehenen Kräften

hatten sie die Heilung nicht zu Stande bringen können. Sie wagten nie auf eigenen Füßen zu stehen, selbstständig zu urtheilen und zu wirkenSelbstständigkeit ist das Ziel aller

Wlattt). 17, 14 — 21.

225

Bildung, und so auch der religiösen. Christo sollen wir anhangen, und aus ihm Licht und Kraft schöpfen; aber mit freiem Geiste sollen wir denken und handeln, nicht ängstlich seine Worte wiederholen, nicht knechtisch sein Muster nach­ ahmen. Jesus ließ nun den Kranken zu sich bringen, und heilte ihn. Vorher aber erkundigte er sich genau nach dem Zustan­ de des Kranken, und wie lange er an diesem Uebel leide. Dann fragte er den Vater, ob er glauben könne, und machte ihm Hoffnung. Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt, sagte er zu ihm. Denn er wollte nicht an solchen Wunder üben, die keinen Glauben hatten. Er federte Em­ pfänglichkeit und Vertrauen, um mit der leiblichen Hülfe zu­ gleich geistig zu helfen, und die Gemüther zu Gott empor zu richten. Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. Mit dem Glauben überwinden wir alle irdischen Uebel, entweder so daß, wenn es Gottes Wille ist, wir Ret­ tung und Befreiung finden, oder wenn eS sein Wille ist, daß wir leiden sollen, so daß wir Kraft erhalten, im Leiden nicht zu unterliegen. Mit dem Glauben aber ist uns alles möglich, was auf unser geistiges Heil Bezug hat; mit ihm können wir alle Vollkommenheit und Tugend erlangen. Der Mann ant­ wortete; Ich glaube, hilf meinem Unglauben! Er war sich zwar bewußt, daß er glaubte; aber wohl fürch­ tend, daß sein Glaube noch schwach sey, bat er, mit ihm Nach­ sicht zu haben und ihm dennoch zu helfen. So müssen wir alle zu Gott beten, daß er uns helfe, obschon wir den rech­ ten Glauben nicht haben. Hierauf vollbrachte Jesus die Heilung (Mk. 21 — 26. Matth. 17. Lk. 42. 43.). So­ dann fragten ihn die Jünger insgeheim, warum ihnen die Heilung mißlungen sey, und er sprach zu ihnen; Um eures Unglaubens willen. Denn ich sage euch wahr­ lich: So ihr Glauben habt als ein Senfkorn, d. h. auch nur einen Keim oder Funken des Glaubens, so möget ihr sagen zu diesem Berge: Hebe dich von hinnen dorthin: so wird er sich besten und euch wird nichts .unmöglich seyn (Matth. 20.). Bibi. Erbauungsb. II. P

226

Matth. 17, 14 — 21.

Berge versetzen heißt in der damaligen bildlichen Sprache so viel, als große Schwierigkeiten überwinden, und darf nicht buchstäblich verstanden werden. Mit dem Glauben, d. h. mit dem Vertrauen auf Gottes Beistand und dem freudigen Gefühle der von ihm in uns gelegten Kräfte, können wir

Großes ausrichten und Wirkungen hervorbringen, welche dem Zaghaften als unmöglich erscheinen. Der Geist beherrscht die Natur, und kann sich deren Kräfte dienstbar machen; er kann Schwierigkeiten, die sich als Berge vor uns aufthür« men, aus dem Wege räumen, nnd er wird um so mächtiger, je mehr er sich durch den Glauben zu Gott, dem unendlichen, allmächtigen Geiste, emporhcbt und sich von den Fesseln der Erde losmacht, je mehr er im Gedanken an Gott das Be« wußtseyn der Freiheit gewinnt. Der Geist ist abhängig und ohnmächtig, insofern er von der Sinnlichkeit und Körper­ welt befangen ist, frei aber und von unerschöpflicher Kraft, insofern er sich über diese Beschränkungen erheben kann, was ihm durch den Glauben gelingt. Aber das Vertrauen darf nie in Vermessenheit und Schwärmerei' ausarten, und uns zu tollkühnen Unternehmungen verleiten. Christus hat zwar Wunder gethan, aber doch keine so abentheuerlichcn, wie die Versetzung eines Berges. Vor solchen Unternehmungen be­ wahrt uns die Weisheit, welche allein das Zweckmäßige und Heilsame sucht, und das Abentheuerliche ist es nie. Wäre es nothwendig und nützlich, einen Berg zu versetzen, so könnte und müßte es auf dem natürlichen Wege durch die Mittel des Fleißes und der Klugheit geschehen, wobei die Hände der Menschen eine nützliche Beschäftigung fänden. Aber selbst zu solchen Unternehmungen, die durch natürliche Mittel aus­ geführt werden, ist Vertrauen und Glauben nothwendig; denn Mißtrauen und Furcht lähmt aste Kräfte. Ist das Ziel gut, nach dem wir streben, und der Weg erlaubt und zweck­ mäßig, auf dem wir es zu erreichen suchen: so sollen wir glauben und hoffen, daß Gott unser Bestreben segnen wird, und sollen alle unsre Kräfte anstrengen, damit wir das Be­ gonnene vollbringen. Jesus setzt hinzu: Aber diese Art von bösen Gei«

Matth. 17, 22.28.

227

stern fährt nicht aus, kann nicht ausgetrteken werden,

denn durch Beten und Fasten (Matth.21.Mk.29). Es gibt Falle, wie diese, wo eine besonders schwere Krank­ heit zu heben war, wo die Kraft des Glaubens durch Gebet und Fasten erhöhet werden muß, wenn der erwünschte Erfolg erreicht werden soll. Durch das Gebet erheben wir uns zu Gott, lautern unser Gemüth von irdischen Begierden, irdi­ scher Furcht und Bangigkeit, und gewinnen eine höhere Kraft. Und dazu dient auch das Fasten, die Enthaltung von berau­ schenden und beschwerenden sinnlichen Genüssen, die Samm­ lung des Geistes durch Zurückziehung von aller weltlichen Zerstreuung. In der alten Welt war das Fasten sehr üblich, und galt für das beste Mittel sich in eine fromme und heilige Stimmung zu versetzen. Bei uns reicht schon Müßigkeit und Einsamkeit mit Nachdenken und Betrachtung hin, um der^ Geist zu erheben und den Glauben zu starken: und diese Mit­ tel laßt uns anwenden, wenn unser Glaube wankt und im Kampfe mit schweren Hindernissen uns das Vertrauen ver­ lassen will. Matth. 17, 22.23. Mark.9, 30—32. Luk.9,43—45.

Jesus sagt spinen Tod voraus. Als sie aber umherzogen *) in Galiläa, und einst das

Volk seine Bewunderung über die Thaten Jesu lebhaft äu­ ßerte, sprach Jesus zu seinen Jüngern: Fasset in eure Ohren diese Reden der Bewunderung, merket wohl, was ihr jetzt vernehmet! denn derMenschensohn wird überantwortet werden in der MenschenHande, und sie werden ihn tödten, und am drittenTage wird er auferstehen (Matth. 22. 23. Mk. 30. 31. Lk. 43. 44.). Trotz der Bewunderung, welche ihm das Volk jetzt zollte, wird Jesus bald seinen Feinden erliegen, und das ihm jetzt zujauchzende Volk wird dann das: Kreu­ zige ihn! gegen ihn ausrufen. Diesen grellen Abstich zwi-

*) Luther: ihr Wesen hatten. P 2

Matth. 17, 24—27.

228

schen Licht und Schatten in seinem Schicksal sieht Jesus mit

prophetischem Geiste voraus, und weist seine Jünger darauf

hin,

damit sie einst nicht vor dem trüben Wechsel erschrecken

sollen. Alle Menschen sind mehr oder weniger dem Wechsel zwi­

schen dem Sonnenschein des Glücks und der Menschengunst und dem finstern Gewölle des Anglücks, der Verkennung

und des Hasses unterworfen; aber eine Binde verhüllet ihre Augen, daß sie nicht in die Zukunft sehen, und Wenige sind

darauf gefaßt.

Lernen wir von Jesu uns über diese Befan­

genheit erheben, und den Leiden, die unser warten, mit Fe­

stigkeit entgegen gehen! Christus sagt aber auch seine Aufer­ stehung oder den Sieg seines ewigen Geistes über den Tod

und das Grab voraus: und auch wir müssen neben der Aus­

sicht auf das bevorstehende Leiden die Hoffnung fassen und uns dadurch über alle Furcht erheben.

Auch wir werden

auferstchen, d. h. entweder noch in diesem Leben über unser Unglück siegen, oder falls wir ganz erliegen sollten, kraft der Geduld und Hoffnung im Geiste siegen, und endlich in jenem Leben den ewigen Sieg erringen.

Die Jünger faßten diese Andeutungen nicht; ihrem be­ fangenen Blicke blieb die Aussicht in Jesu nahe Zukunft ver­ borgen, und sie waren betrübt (Matth. 23. 32. 45.). So sind die meisten Menschen und wir selbst vielleicht waren an

der Jünger Stelle so gewesen. Jetzt, da wir Jesu Schicksal übersehen, und seinen herrlichen Sieg kennen,

meinen wir,

wir würden uns leicht in seinen erhabenen Entschluß zu lei­ den und zu sterben gefügt haben; und vielleicht in demselben

Augenblicke, wo wir dieses wahnen, begehen wir den Fehler, daß wir vor der trüben Zukunft zagen, der wir selbst oder unsre Geliebten entgegen gehen.

Matth. 17, 24— 27. Wie Jesus die Steuer bezahlt. Als Jesus mit seinen Jüngern nach Kapernaum kam, wurde Petrus von den Einnehmern des Zinsgroschens (hal­

ben Seckels), welchen jeder Jude jährlich zur Erhaltung des

Matth. 18.

229

Tempels zahlen mußte, gefragt: Pflegt euer Meister

nicht den Zinsgroschen zu geben? Petrus bejahrte es. Und als er heim kam, kam ihm Jesus zuvor, und sprach: Was dünkt dich, Simon? Von wem nehmen die Könige auf Erden Zoll oder Zins? Von ihren Kindern, oder von Fremden? Petrus ant­ wortete: Von den Fremden. Jesus sprach zu ihm: So sind die Kinder frei. Da nun Jesus Gottes

Sohn war, so war auch er, wenn er es streng nehmen wollte,' von der Abgabe an den Tempel frei. So wie er Herr des Sabbaths war (Matth. 12,8.), wie et den abgebrochenen Tempel wieder aufzurichten die Macht hatte (Joh. 2,19.): so war er auch von der Pflicht ausgenommen, zur Erhaltung des Tempels beizusteuern. Aber er erhob sich nie seiner Hohhcit, sondern demüthigte sich und ward dem Gesetz Unterthan. Und so sprach er zu Petrus: Auf daß wir sie aber nicht ärgern (ihnen keinen Anstoß geben), so gehe hin

an das Meer, und wirf den Angel, und den ersten Fisch, der herauffährt, den nimm; und wenn du seinen Mund aufthust, wirst du einen Stater (Seckcl) finden; den nimm und gib ihn für mich und dich. Wenn wir auch nicht so leicht, wie Jesus, die Mittel finden, unsere Obliegenheiten zu erfüllen; so sollen wir doch eben so bereitwillig dazu seyn, und selbst dann, wenn wir streng genommen uns davon entbinden könnten.

Matth. 18. Mark. 9,33—38. Lk. 9,46—48. vergl.

15,1 — 10.

Rangstreit der Jünger; Jesu Ermahnungen zur Bescheidenheit, zur Sorge fürdas Wohl derKinder und zur Versöhnlichkeit. Unter den Jüngern war ein Streit darüber entstanden, wer der Größeste im Himmelreich seyn werde (Matth. 1. Mk. 33. 34. Lk. 46.). Sie stellten sich das Reich,

230

Matthä IS,

Las IesiiS stiften werde, als ein weltliches vor, fn welchem es verschiedene Stufen der Ehre und der Macht gebe, und die einen (wie nachher die Mutter der Söhne Zebedäi einen solchen Wunsch für ihre Söhne ausspricht, Matth. 20,20 ff.) machten auf eine höhere Stufe, als die andern, Anspruch. Einer ähnlichen selbstsüchtigen Hoffart machen fich noch Viele unter uns schuldig, obschon wir frei sind von dem Wahne weltlicher HoffnungenDie einen glauben wegen ihrer Gei« siesvorzüge, die andern wegen ihrer Tugenden, wieder andere wegen ihrer nützlichen und wohlthätigen Werke, noch andere

wegen ihres reinen Glaubens, ja, manche sogar wegen dessen, was sie gelitten haben, einen höher» Rang in Christi geisti­ gem Reiche ansprechen zu dürfen.—- Da Jesus von diesem Streite Kenntniß erhielt, rief er ein Kind zu sich, und stellte es mitten unter sie, und shrachr Wahrlich ich sage euch: Es sey denn, daß ihr euch umkehret, und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. Wer sich nun selbst erniedrigt, wie dieses Kind, der ist der Grö­ ßeste im Himmelreich (Matth. 2—4.). Ein Kind, wenn es unverdorben und nicht durch die Thorheit der El« tern zur Anmaßlichkeit und zu vorlautem Wesen erzogen ist> ist demüthig und bescheiden. Es sieht zu den Erwachsenen, welche es an Kenntnissen und Erfahrung weit übertreffen, mit Ehrfurcht und dem Gefühle seiner Schwachheit und Un­ vollkommenheit hinauf, und strebt, ihnen gleich zu werden, glaubt aber nicht ihnen gleich zu seyn. So soll auch der wahre Christ stets seiner Unvollkommenheit eingedenk seyn, und sich keines Verdienstes und Lohnes anmaßen. Ein gut­ geartetes Kind hat Lernbegierde und Empfänglichkeit für al­ les Gute r so soll auch der Christ, voll Demuth, nie aufhö­ ren, sich zu vervollkommnen. Ein wohlerzogenes Kind dient gern Eltern, Lehrern und allen Erwachsenen: so soll auch ein Christ dem andern dienen, und sich nicht zum Herrn und Gebieter über die Mitchristen aufwerfen, es sey denn daß ein Amt oder Geschäft Unterordnung fodert, und er als der Weiseste und Tüchtigste an die Spitze gestellet wird. Uqd

Matth. 18.

231

so sagt JesuS bei Markus (V. 35.): So jemand will

der Erste seyn, der soll der Letzte seyn vor al­ len und aller Knecht. So wurde Jesus, welcher der Herr aller war, der Diener aller, und gab sich für alle in den Tod hin. Bescheidenheit, Demuth, Anspruchlostgkeit, Hin­ gebung erhöhet, und gibt den ersten Rang im Reiche Gottes, wahrend die Anmaßlichkeit und stolze Selbstsucht erniedrigt. Indem nun Jesus, der erhabene Kinderfreund, das vor ihm stehende Kind mit dem Auge der Liebe betrachtete, und es in seine Arme nahm (Mk. 36), erfüllte sein Herz die liebe­ volle Sorge für dessen geistliches Heil und für das Heil aller Kinder. Was kann aus einem Kinde werden, wenn man sich seiner annimmt! Wie kann es aber auch verwildern und entarten, wenn es verwahrlost wird! Darum sagt Jesus: Wer ein solchesKind aufnimmt in meinemNamen, der nimmt mich auf (Mtth.5. Mk. 37. Lk.48.). Wer ein Kind im Namen Jesu, weil es an ihn glaubt oder zu glauben Neigung und Drang hat, als Vater und Lehrer aufnimmt, sich seiner Erziehung und Ausbildung annimmt, der thut solche Wohlthat Christo, ja Gott selbst. Denn wer mich aufnimmt, sagt Jesus (Mark. 37. Lk. 48.), der nimmt den auf, der mich gesandt hat. Hortes, ihr Erzieher und Pfleger der Kinder, besonders solcher, die keine Eltern haben, und laßt euch dadurch in euerm löblichen Eifer ermuntern! In den zarten Menfchenpfianzcn, die ihr pflegt, lebt Christus mit seinem Geiste, und was ihr ihnen thut, das thut ihr ihm. Wer aber, setzt Jesus hinzu, ei­ nes dieser Kleinen, die an mich glauben, ärgert, verführet, in seinem Glauben irre macht, dem wäre bes­ ser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehänget, und er ersauft würde im Meer, da es am tiefsten ist (Matth. 6. Mk. 42. vergl. Lk. 17, 2.). Es wäre besser, ein solcher Mensch würde der Vernichtung Preis gegeben und aus der Mitte der Menschen weggetilgt, als daß er eine so schwere Schuld auf sich lüde. Denn indem er ein Kind verführt, verderbt er einen von Gott gepflanzten Keim, aus welchem sich Herrliches hätte entwickeln können;

232

Matth. 1&

er versündigt sich am welche Gottes, an Christo, an Gott. Es ist eine große Sünde sein eigenes Heil jy verscherzen, aber man tragt die Folgen allein: hingegen wenn man einen andern ins Verderben stößt, ladet man sich doppelte Schuld auf, macht sich selbst und einen Andern des Heiles verlustig. Hört es ihr Leichtsinnigen, ihr Frevler, ihr Wollüstlinge, die ihr ein verderbliches Spiel mit den noch schwachen Seelen der Jugend treibt,und laßt euch warnen! WehederWelt der Aergerniß halben! Es muß zu Aergerniß kommen? doch wehe dem Menschen, durch welchen Aergerniß kommt! (Matth. 7.) Dieser WeheRuf möge doch ja in aller Ohren und Herzen dringen, wel­ che bisher leichtsinnig frevelten! Verführungen, Reizungen zum Bösen, können freilich nicht vermieden werden, ja, sie sind ein nothwendiges Uebel, weil ohne sie es keinen Kampf der Tugend und keine Wahl der Freiheit gäbe > aber dadurch werden die Verführer nicht entschuldigt. Daß man die Rei­ zungen, die man in sich selbst, in den Sinnen findet, und wo­ mit die Verführer sich gern entschuldigen, bekämpfen uud unterdrücket soll, sagt Jesus in einem Spruche (Matth. 8.9. Mk. 43 — 48.), welcher schon früher (Matth. 5, 29 f.) da­ gewesen ist. Markus fügt dazu zwei Sprüche, von denen der eine (V. 50.) schon anderwärts vorgekommen (Matth. 5, 13.) und hier bloß auf den vorliegenden Fall angewendct ist. Die Jünger, die das Salz der Erde sind, sollen es durch ihre Friedfertigkeit beweisen. Der andere, V. 49: Ein jeder muß mit Feuer gesalzen werden, und jedes Opfer wird mit Salz gesalzen, ist ungewisser Auslegung. Der wahrscheinliche Sinn ist: Jeder, der seinen Leidenschaf­ ten dient, den Reizungen der Sinne nicht widersteht, wird erst im Feuer der Strafe klug: der sich mäßigende Tugend­ hafte aber ist schon hier weise. Nun legt Jesus scincy Jüngern den Werth der Kinder" ans Herz. Die Verführer beschwichtigen ihr Gewissen mit dem eitel» Vorwande, es sey ja an den Kindern nicht viel gelegen, wie sie denn überhaupt von Verachtung gegen die Menschheit erfüllt sind. Sehet.zu, daß ihr nicht ei-

Matth. 18. nes dieser Kleinen

233

verachtet! Denn ich sage

euch, ihre Engel imHimmel sehen allezeit das Angesicht meinesVaters imHimmel(Matth. 10.). Ein jedes Kind hat seinen Schutzengel, steht unter Gottes Schutz und Leitung; und zwar stehn die Schutzengel der Kinder Gott am nächsten, so wie Vertraute, besonders geehrte Diener; die Sorge für die Kinder ist Gott besonders ange­ legen. Nicht als wenn Gott partheiisch gegen irgend eine Art seiner Geschöpfe wäre, er theilt seine Vaterliebe auf alle «ach gerechtem Maße aus; aber je edler und des Schutzes bedürftiger ein Wesen ist, desto mehr sollen wir es als unter Gottes Obhut stehend denken, und so handeln, als wäre es unsrer Pflege anvertraut. Und so sollen wir die Schutzengel der Kinder seyn, und es als eine uns von Gott aufgelegte Pflicht ansehen, sie vor Bösem und Schaden zu behüten. So ließ sich Jesus das Wohl der Kinder angelegen seyn, er, der gekommen war, selig zu machen, was verloren ist (Matth. 11.). Wie ein Hirt, der hundert Schafe hat, wenn stch eins derselben verirrt, die neun und neunzig auf den Bergen läs­ set, und hingehet, um das verlorene zu suchen, und wenn er cs wieder gefunden, sich mehr darüber freuet als über die neun und neunzig, die nicht verirrt sind; wie ein Weib, die zehn Groschen hat, wenn sie davon einen verlieret, ein Licht anzündet und das Haus kehret und suchet mit Fleiß, bis daß sie ihn finde, und wenn sie ihn gefunden hat, ihre Freundin­ nen und Nachbarinnen ruft, und ihnen mit Freuden das Wie­ derfinden verkündigt: also ist es der Wille eures Vaters im Himmel, daß nicht eins von diesen Kleinen verloren gehe; also istFreude vor den Engeln Gottes im Himmel über einen Sünder der Buße thut(Matth. 12—14.Lk.15, 4—10.).Nicht als wenn Gott diejenigen, welche nicht auf Irrwege gera­ then sind, verachtete und weniger, als das Verirrte und Wiedergcfundene, liebte; aber die Sorge für dieses ist seinem Vaterherzen angelegen, ist Christo, der wie Gott gesinnt ist,

angelegen, und soll auch uns angelegen seyn.

Das Gleich-

234

Matth. 18.

ruß soll nur so viel sagen, daß Gott vermöge seiner Liebe die Verlorenen gerettet wissen will. Nun kommt Jesus auf die Versöhnlichkeit zu reden, wahrscheinlich weil bei jenem Rangsireite Beleidigungen un« ter den Jüngern vorgcfallen waren. Sündiget dein Bruder an dir: so gehe hin und strafe ihn, setze ihn jur Rede, zwischen dir und ihm allein. Höret er dich, gibt er deiner Beschwerde Gehör und macht seinen Fehler wieder gut: so hast du deinen Bruder gewonnen (Matth. 15.). Zuerst muß man diesen Weg als den glimpflichsten versuchen; setzt man den Beleidiger unter vier Augen zur Rede, so be­ weist man ihm dadurch Vertrauen, und beschämt ihn nicht; die Sache kann abgethan werden, ohne daß jemand etwas da­ von erfahrt. Höret er dich nicht, so nimm noch einen oder zween zu dir, auf daß alle Sache auf zweier oder dreier Mund bestehe (wie es nämlich das Gesetz sagt 5 Mos. 19, 15.) (Matth. 16.). Man soll nach dem vereitelten ersten Versöhnungsversuche nicht gleich zur Strenge schreiten, sondern noch einen Versuch durch Schiedsrichter machen. Ein oder zwei Freunde, welche die Streitfrage kennen, sollen entscheiden, wer Unrecht hat, und den Beleidiger zur Abbitte und Wiedergutmachung seines Fehlers ermahnen. Höret er die nicht, so sage es der Gemeinde (Matth. 17.). Die christliche Gemeinde übte in der ersten Zeit eine Art von Gerichtsbarkeit; wenig­ stens sollte sie cs nach Jesu hier ausgesprochenem Willen und nach der Vorschrift des Apostels (1 Cor. 6,1.). Vor den Heiden sollten die Christen nicht rechten, sondern als Brüder unter einander sich vertragen und ihre Streitigkeiten schlich­ ten. Christus ertheilt auch der Gemeinde das Recht Strei­ tigkeiten zu schlichten in den Worten: Was ihr auf Er­

den binden werdet rc. (Matth. 18. vergl. 16, 19.). Ihre Aussprüche über Recht und Unrecht werden dem göttli­ chen Willen gemäß seyn. Ja, schon der Versammlung von zween oder drei wahren Christen ertheilt er dieses Recht. Wo

Matth. 18.

235

zween ober hrei in meinemNamen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen(Matth.2O.). Wenn auch nur wenige, in der Absicht, Gerechtigkeit und Frie-' den zu handhaben, versammelt sind, so will sie Christus mit seinem Geist und seiner Kraft erfüllen, und mit seiner Weis« heit leiten. Wo zween unter euch eins werden auf Erden über irgend etwas, um das sie bit­ ten wollen; so soll es ihnen wiederfahren von meinemVater im Himmel (Matth. 19.). Wennschon das Gebet deS einzelnen Gläubigen mächtig ist (vergl. Mtth. 7, 7 ff.) r wie viel mehr das vereinte Gebet mehrerer. Die Kraft der Gemeinschaft ist groß, und alles Gute, Weisheit, Gerechtigkeit, Friedensliebe, wächst und verstärkt sich durch dieselbe. Höret er die Gemeinde nicht, so halte ihn als einen Heiden und Zöllner (Mtth. 17.). Schlägt dieser letzte Versuch fehl, ihn zur Erkenntniß und Bcreuung seines Fehlers zu bringen: so soll der Christ erst dann sein Recht suchen bei dem weltlichen Richter, indem er den Beleidiger als einen Fremden und seinen Feind betrach­ tet. So heilig soll uns der Friede mit unsern Mitchristen seyn, so viel Geduld sollen wir haben und nicht gleich im Ei­ fer der Rechthaberei und Rachfucht zur Klage schreiten. Da trat Petrus zu ihm, und sprach: Herr, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir sündiget, vergeben? Zsts genug siebenmal? (Matth. 21.) Petrus will allerdings, durch die Rede Jesu belehrt, versöhnlich seyn gegen seinen Mitmenschen und ihm oft verzeihen (siebenmal soll so viel als recht oft heißen); aber er glaubt doch, daß es dafür eine Grenze geben müsse, und daß die Friedfertigkeit endlich dem Zorne und Hasse wei» chen dürfe. Er will die gute Gesinnung, die Milde und Liebe, messen, und ihre Aeußerungen zählen. Aber unerschöpflich ist die wahre Liebe und unermüdlich die Geduld, die aus ihr fließet. Jesus sprach zu ihmr Ich sage dir, nicht sie­ benmal, sondern siebenzigmal siebenmal, d. h. unzählig oft (Matth. 22.). Und nun empfiehlt er die Ver­ söhnlichkeit, die Geneigtheit, dem Nebenmenschen zu vergeben.

236

Matth. 18.

als die Bedingung, unter welcher der Mensch von Gott alleirr Vergebung seiner Sünden erlangen könne (Matth. 35.), eine Wahrheit, die er schon früher vorgctragen (Matth. 6, 14. 15.), durch ein Lehrgleichniß (Matth. 23 — 34.).

Gott wird verglichen mit einem Könige, der mit seinem Knechten rechnen wollte. Es waren Einnehmer und Ver­ walter, die für ihn Geld eingenommen, oder solches von ihm erhalten hatten, um damit zu wuchern. Nun ward einer vor ihn gebracht, der ihm eine sehr große Summe, zehen­ tausend Pfund, schuldig war, und nicht bezahlen konnte. Da befahl der Herr, nach damaligem Rechtsgebrauch, den bö­ sen Schuldner niit seinem Weibe und seinen Kindern als Skla­ ven zu verkaufen, auch alles, was er hatte, zu Geld zu ma­ chen , und davon die Schuld zu bezahlen. So verdienten wir durch unsre Sünden, wenn Gott allein seine Gerechtigkeit walten ließe, die strengste Strafe. Als Knechte der Sünde würden wir dem ganzen Verderben, daS sie mit sich führt, hingegeben. Der Knecht aber bat fußfällig um Gnade und sagte: Herr, habe Geduld mit mir, ich will dir alles bezah­ len! Da jammerte seiner den Herrn, und er ließ ihn, und erließ ihm auch die Schuld. So barmherzig ist Gott! Wenn wir nur unsre Sünden bekennen und bereuen, und um Gnade bitten, so verzeiht er uns als ein gütiger Vater. Aber die­ ser Knecht war der göttlichen Gnade unwürdig; denn er hatte keine Liebe und Nachsicht gegen seinen Mitknecht, der ihm eine ganz kleine Summe, hundert Groschen, schuldig war. Zn derselben Stunde, als er von seinem Herrn so gnädigen Erlaß erhalten hatte, hielt er ihn auf das unbarmherzigste zur Zahlung seiner Schuld an, und warf ihn ins Gefängniß, obgleich er auch um Nachsicht flchete. Das sahen seine Mit­ knechte, und aufgebracht über diese Härte, gingen sie hin und meldeten das Vorgefallcne ihrem Herrn. Dieser ließ den undankbaren Knecht vor sich fodcrn, und hielt ihm sein schändliches Betragen vor. Du Schalksknecht (dubö-

scrKnecht), alle diese Schuld habe ich dir erlas­ sen, dieweil du mich batest: solltest du denn

Mark. 9, 38 — 41.

237

dich nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmet habe? Liebe soll^Liebe, Erbarmen soll Erbarmen erwecken; und wer Nachsicht erfahren, dessen Herz soll erweicht und fähig seyn, ebenfalls Nachsicht zu üben. Die verzeihende Gnade Gottes soll in uns milde, versöhnliche Bruderliebe erwecken; ja, ohne diese Gesinnung können wir der göttlichen Gnade gar nicht theilhaftig werden, sie gar nicht fassen, fcsthalten und behaupten; nur in ein liebevolles, versöhnliches Herz kehrt sie ein. So verlor auch der umbarmherzige Knecht die Gnade seines Herrn wieder. Der Herr ward zornig und überantwortete ihn den Peinigern, bis daß er bezahlte alles, was er schuldig war.

Mark. 9, 38 — 41. Luk. 9, 49. 50.

Von einem, der in Jesu Namen Teufel aus­ trieb. Während Jesus feine Jünger zur Demuth und Anspruchlosigkeit ermahnte, hub Johannes an und sagte: Meister, wir sahen einen, der trieb die Teufel aus in deinem Namen; und wir wehreten ihm, denn er folgte dir nicht mit uns (Mark. 9, 38. Luk. 9,, 49.). Hierin zeigt sich eine ähnliche Unlauterkeit und Hof­ fart des Herzens, wie in jenem Rangstreite. Sie wehreten einem, der Gutes wirkte, noch dazu in Christi Namen, weil er nicht zu ihrer Gesellschaft gehörte, und sie glaubten, nur sie, die Jünger Christi, hätten das Recht, so zu wirken,

Sie waren unduldsam und ausschließend; immer aber liegt der Unduldsamkeit Hoffart zum Grunde. So sehen bei uns Viele mit Unduldsamkeit auf andere Religionspartheien und solche, die nicht mit ihnen in kirchlichen Lehren und Gebräu­ chen übereinstimmen, und möchten ihnen wehren, ihr Wesen zu treiben. Jesus aber sprach: Wehret ihm nicht! Denn wer nicht wider uns ist, der ist für uns. Es ist schon viel gewonnen, wenn die Menschen nur nicht dem Guten feindlich entgegenwirkcn, wenn sie es auch nicht

238

Luk. S, 51 — 57.

auf die rechte Weise anerkennen und befördern.

Wer dem

Guten und Wahren nur nicht widerstrebt, ist schon auf dem rechten Wege; denn wir alle können doch nichts mehr thun,

als uns dem Guten und Wahren hingeben, und alles Ver­ derben kommt daher, daß so Viele das Gute und Wahre in sich selbst und ausser sich unterdrücken und hindern.

Vierte Abtheilung. Luk. 9, 51 — 19, 28. Matth. 19, 1 — 20, 34. Mark.

10, 1 — 51.

Jesu Reise nach Jerusalem zum Passah. Luk. 9, 51 — 57. Jesus wird von den Samaritern nicht aus­

genommen.

Und es begab sich, da die Zeit erfüllet war, daß er sollte von hinnen genommen werden, daß er leiden und sterben sollte: wandte er sein An­ gesicht stracks gen Jerusalem zu wandeln (V. 51.). Mit Klarheit erkannte Jesus den Zeitpunkt seines Leidens, und mit Entschlossenheit ging er demselben entgegen. Und er sandte Boten vor sich her: die gingen hin, und kamen in einen Flecken der Samari­ ter, daß sie ihm Herberge bestelleten (V. 52.). Er war als Heiland aller Völker auf die Welt gekommen, und verschmahete nicht die verachteten Samaritaner; ober gleich wußte, und es schon früher erfahren hatte (Joh. 8, 48. vgl. 4, 40 ff.), daß er dadurch den Haß der Juden aufsich zog. Und sie nahmen ihn nicht an, dar-

238

Luk. S, 51 — 57.

auf die rechte Weise anerkennen und befördern.

Wer dem

Guten und Wahren nur nicht widerstrebt, ist schon auf dem rechten Wege; denn wir alle können doch nichts mehr thun,

als uns dem Guten und Wahren hingeben, und alles Ver­ derben kommt daher, daß so Viele das Gute und Wahre in sich selbst und ausser sich unterdrücken und hindern.

Vierte Abtheilung. Luk. 9, 51 — 19, 28. Matth. 19, 1 — 20, 34. Mark.

10, 1 — 51.

Jesu Reise nach Jerusalem zum Passah. Luk. 9, 51 — 57. Jesus wird von den Samaritern nicht aus­

genommen.

Und es begab sich, da die Zeit erfüllet war, daß er sollte von hinnen genommen werden, daß er leiden und sterben sollte: wandte er sein An­ gesicht stracks gen Jerusalem zu wandeln (V. 51.). Mit Klarheit erkannte Jesus den Zeitpunkt seines Leidens, und mit Entschlossenheit ging er demselben entgegen. Und er sandte Boten vor sich her: die gingen hin, und kamen in einen Flecken der Samari­ ter, daß sie ihm Herberge bestelleten (V. 52.). Er war als Heiland aller Völker auf die Welt gekommen, und verschmahete nicht die verachteten Samaritaner; ober gleich wußte, und es schon früher erfahren hatte (Joh. 8, 48. vgl. 4, 40 ff.), daß er dadurch den Haß der Juden aufsich zog. Und sie nahmen ihn nicht an, dar-

Luk. 9, 51 — 57-

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um, baß er sein Angesicht gewendet hatte z« wandeln gen Jerusalem (V. 53.). Die Verblende­ ten , sie sahen in ihm nur den Juden, nicht den Weltheiland, der auch für sie in den Lod der Liebe ging. Unselige Vor« urtheile, welche machen, daß wir oft die schönsten Herzen und ihre reinsten Absichten verkennen! Unter der uns ver­ dächtigen Gestalt des Mitgliedes einer fremden Religions« parthei ist oft das frömmste, liebevollcste Gemüth verborgen. Da aber das seine Jünger, Jacobus und Johannes, sahen, sprachen sie: Herr, willst du, so wollen wir sagen, daß Feuer vom Himmel falle, und verzehre sie, wie Elias that 08.54.). Diese Jünger sahen in dem Betragen der Samariter einen strafbaren Mangel an Ehrfurcht gegen ihren Meister, und, erfüllt vom Geiste des Zorneifcrs, wollten sie, nach Art des Elias, welcher einst Feuer vom Himmel fallen und die gegen ihn gesendeten Krieger verzehren ließ (2Kön. 1,10—12.), ein auffallendes Beispiel von Strafe geben. Jesus aber wandte sich, und bedrohete sie, und sprach: Wisset ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seyd? Der Menschensohn ist nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten (V. 55. 56.). Der Geist, in welchem Jesus wirkte, und den ec seinen Jüngern mittheilte, war nicht je­ ner alttestamentliche, in welchem Elias wirkte, der Geist dcS Strafeifers, den die Juden selbst ihrem Gott liehen, weil sie noch unter der Zuchtruthe des Gesetzes standen und von der Furcht beherrscht waren, sondern der Geist der Liebe und Sanftmuth, der Geist .liebevoller Erziehung, der Geist der Versöhnung. Nicht als ein strafender Richter wollte er auf Erden erscheinen, sondern als ein liebevoller Erretter, Hei­ land und Seligmacher. Und dieser Geist verließ ihn nie, auch jetzt nicht, da er für seine Liebe so schnöden Undank fand, da er seinem Tode entgegen ging, den ihm der Haß der ver­ blendeten Juden bereitete. Ein anderer hatte sich eben in dieser Stimmung eher erbittern lassen, und hatte vielleicht gedacht: Solltest du für dieses undankare Menschengeschlecht

240

Luk. 10, 1 — 24.

em solches Opfer bringen? Verdient es nicht vielmehr Züchti'gung und Strafe? Der Tod Zes« ist das Opfer der Ver­ söhnung zwischen Gott und Menschen; aber wenn Jesus nicht in seinem ganzen Leben durch Lehre und That die Versöhnung verkündigt und beflegelt hatte, so wäre sein Tod nicht ver­ söhnend: so wie diejenigen, die an diesen Tod glauben und darin die Versöhnung finden, wenn fie nicht in ihrer ganzen Gefinnung und Handlungsweise sich als versöhnt und ver­ söhnlich zeigen, in einer unseligen Täuschung begriffen sind. Und sie gingen in einen andernFlecken(V.57.). Jesus ließ sich nicht irre machen durch diese Unfreundlichkeit: er suchte anderswo Herberge, und brachte Andern die Him­ melsgabe seiner Gegenwart. Die Liebe laßt sich nicht erbit­ tern, und ist unermüdlich.

Luk. 9, 57 — 62. s. bei Matth. 8, 18 ff.

Luk. 10, 1—24. Aussendung der siebzig Jünger.

Ausser den Zwölfen sandte Jesus auch noch andere Jün­ ger, siebzig an der Zahl, aus, um zu predigen und zu hei­ len, und zu ihnen sagte er Aehnlichcs, wie zu den zwölfen, was wir größtentheils bei Matthaus 10. Lukas 9,1 ff. und sonst gehabt haben. V. 2. s. Matth. 9, 37. V.3.s.Mtth. 10, 16. V. 4. s. Luk. 9, 3. Matth. 10, 9. V. 5. 6. s. Matth. 10, 12. 13. V. 7. s. Matth. 10, 10. 11. V. 8 —15. s. Luk. 9, 5. Matth. 10, 14. 15. 11, 20 — 23. V. 16. s. Matth. 10, 40.

Die Siebzig aber kamen wieder mit Freu­ den, und sprachen: Herr, es sind uns auch die Teufel Unterthan in deinem Namen (V. 17.). Sie freuen sich der Erfolge ihrer Wirksamkeit, sie hatten nicht nur gewöhnliche Krankheiten geheilt, sondern auch solche, welche man der Wirkung böser Geister zuschrieb. Er aber

Luk. 10, 1 — 24.

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sprach zu ihnen: Ich sah wohl den Satan vom Himmel fallen, als einen Blitz (V. 18.). Er verkündigt ihnen den gänzlichen Sieg, den er über den Sakan davon tragen werde. Mit prophetischem Geiste steht er vollendet, was jetzt nur begonnen ist: der Satan, der jetzt noch gleichsam die Herrschaft mit Gott theilt und im Himmel thront, wird herabgestürzt werden, und so plötzlich, wie ein

Blitz vom Himmel herabfahrt. Der gute Geist wird durch das Evangelium siegen. Sehet, ich habe euch Macht gegeben, zu treten auf Schlangen und Skor­ pionen, und über alle Gewalt des Fein-esr

und nichts wird euch beschädigen (V. 19.). Er befestigt ihr Zutrauen und Kraftgefühl, indem er ihnen wie­ derholt, daß sie durch den Geist, den er ihnen ertheilt, im Stande seyen, alle Wirkung des Bösen zu besiegen und sieg­ reich durch alle Gefahren hindurch zu gehen. (Schlangen und Skorpionen sind die Bilder böser Kräfte in der körper­ lichen und geistigen Natur.) Doch darüber freuet euch nicht, daß euch die Geister Unterthan sind) freuet euch aber, daß eure Namen im Himmel geschrieben sind (V. 20.). Die Freude der Jünger war nicht rein genug, indem sie zu sehr auf den äusser­ lichen Erfolg ihrer Wirksamkeit sahen, und den innern Grund derselben nicht ins Auge faßten. Darauf weist sie Jesus hin. Sie wirkten so mächtig und erfolgreich, weil sie die Kraft des Geistes in sich trugen, und diese trugen sie in sich, weil sie an Christum, den Sohn Gottes, glaubten, sich für das Reich Gottes entschieden hatten, und Mitglieder dessel­

ben geworden waren. Das will Jesus mit dem bildlichen Ausdruck sagen, ihre Namen seyn im Himmel ge­ schrieben, eingetragen in das Register der Himmelsbürgcr. So sollen auch wir uns nicht so wohl über die Erfolge unsers Wirkens, als vielmehr darüber frcnen, daß wir im rechten Sinn und Geist wirken, indem wir den Erfolg in Got­ tes Hand legen. V. 21. 22. s. Matth. 11, 25 — 27. V. 23. 24. f. Matth. 13, 16. 17. Brbl. Erbauungsb. II

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Luk. 10, 25 -37.

Luk. 10, 25 — 37.

Vom barmherzigen Samariter. Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn, und sprach: Meister, was muß ich thun, daß ich das ewige Leben ererbe? (V. 25.) Diese Frage, hier in feindseliger Absicht gethan, ist die allgemeine, welche sich alle Menschen aufwerfcn müs­ sen, und die sie sich deutlicher oder dunkler im Innern ihres Gemüths aufwerfcn. Alle streben nach Seligkeit, Zufrieden­ heit, Seelenruhe, nur schlagen Viele einen falschen Weg ein. Der Schriftgelehrte hoffte, Jesus werde eine verfäng­ liche Antwort geben, und erwartete nicht, daß er auf die plancste, natürlichste Art antworten werde. Dem unlautern, ungeraden Sinne liegt das Einfachste immer am entferntesten. Er aber sprach: Wie stehet im Gesetz geschrie­ ben? Wie liesest du? (V. 26.) Jesus verwies ihn an das Gesetz, das er als Gesetzeslchrer am besten kannte, wahrend er erwartete, er werde einen neuen Weg zur Selig­ keit angeben, um deßwillen man ihn verketzern könnte. Er hatte ihn vielleicht im Verdachte, er wolle das Gesetz auf­ heben. Aber das Wahre und Gute ist nie neu, sondern alt, und es handelt sich nur darum, das Alte recht zu erkennen und auszuübcn. Er antwortete und sprach: Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzeitz von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüth, und deinen Näch­ sten als dich selbst (V. 27.). Die Liebe Gottes und des Nächsten ist der Hauptinhalt des mosaischen Gesetzes, wie der Schriftgelehrte wohl wußte; und darin liegt alles, was zum Heile führt. Christus that auch weiter nichts, als daß er diese doppelte Liebe recht geltend machte, ins Licht setzte und ins Leben einführte. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; thue das, so wirst du leben (V. 28.). So war der Versucher abgcführt und beschämt. Jesus aber gibt uns zugleich ein Beispiel achter Lehrklugheit. Der Lehrer soll immer suchen, die Fragenden

Luk. 10, 25 — 37.

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und Forschenden sich selbst antworten zu lassen. Was der Mensch in sich selbst findet und aus sich selbst schöpft, ist für ihn mehr überzeugend, als was ihm Andere versagen. Der Schriftgelehrte aber wollte sich selbst rechtfertigen, und sprach zu Jesu; Wer ist denn mein Nächster? (V. 29.) Beschämt durch die einfache Antwort, die er erhalten hatte, wollte er eine Schwierig­ keit aufwerfcn, und dadurch zeigen, daß die Antwort noch nicht genügend sey, und daß er guten Grund gehabt habe, seine Frage zu thun. Die Klügelei, mit der er in dem ein­ fachen, natürlichen Begriffe des Nächsten Undeutlichkeit und Schwierigkeit fand, hatte bei ihm ihren Grund in der Eitel­ keit , im Wortstreite nicht besiegt werden zu wollen. Aber Viele machen sich einer solchen Klügelei noch bei uns schul­ dig aus Selbstsucht, Unbarmherzigkeit und Lieblosigkeit. Fin­ den sie einen ihrer Ncbcnmenschen in Noth und Hülfsbedürftigkeit oder überhaupt in dem Falle, ihre Theilnahme anzu­ sprechen: so ist cs ihnen oft unbequem, ihn als Nächsten zn behandeln; und dann fragen sie, ähnlich, wie der Schrift­ gelehrter ist dieser auch mein Nächster? macht er nicht eine

Ausnahme von der Regel? kann ich mich nicht aus cintretcnden besondern Gründen von der Pflicht gegen ihn losspre­ chen? die Selbstsucht ist die gewandteste Sophistin, und weiß die Wahrheit trefflich zu verwirren. Der Frage des Schrift­ gelehrten und somit den Zweifeln aller Selbstsüchtigen setzt Jesus die mit Recht berühmte herrliche Gleichniß-Erzahlnng vom barmherzigen Samariter entgegen. Es war ein Mensch, der ging von Jerusa­ lem hinab gen Jericho — er war also ein Jude sei­ nes Volkes und Glaubens — und fiel unter die Räu­ ber: die zogen ihn aus, und schlugen ihn, und gingen davon, und ließen ihn liegen (D. 30.). Hier gerieth also ein Mensch in den Fall der dringendsten Hülfsbcdürftigkeit. Cs begab sich aber von unge­ fähr, daß eilt Priester diese lbige Straße hin­ ab zog; und da er ihn sahe, ging er vorüber (V. 31.). Er half dem Nothleidenden nicht, und warum? O 2

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Luk. 10, 25 — 37.

Aus Unbarmherzigkeit! Ja, aber er wird sich gewiß vor seinem Gewissen von diesem Vorwurfe freigesprochen haben; er fand gewiß Gründe, sich von der Pflicht der Menschen­ liebe in diesem Falle losznzahlen, Denn so verstockt war er gewiß nicht, seine Unbarmherzigkeit geradezu vor sich selbst zu bekennen Die Scheingründe, aus denen er sich von sei­ ner Pflicht lossprach, wissen wir nicht, können sie aber ver­

muthen. Er war Priester und als solcher von seiner hohen Würde eingenommen: mit dieser hielt er cs nun vielleicht für

unverträglich, einem Verwundeten bcijustchen, seine Hande mit dein Blute seiner Wunden zu besudeln u. s. w. Desselbigcn gleichen auch ein Levit, da er kam bei die Statte, und sah ihn, ging er vorüber (V. 32.). Auch dieser wird sich durch eine ähnliche Klügelei cingcrcdct haben, der Verwundete sey sein Nächster nicht, und er nicht verpflichtet, ihm bcijuspringen. Vielleicht glaubte er in ihm einen Heiden zu erkennen; und die Heiden galten den Juden nicht für ihre Ncbcnmenschen, sondern als Hunde. Ein Samariter aber reiste, und kam dahin; und da er ihn sah, jammerte ihn fein; ging zu ihm, verband ihm seine Wunden, und goß drein Oel und Wein; und hob ihn auf sein Thier, und führte ihn in die Herberge, und pflegte sein. Des andern Tages reifete er, und zog heraus zween Groschen (zwei Denare, das war so viel, als zwei Taglohne, mithin hinreichend zum Unterhalt für zwei Tage), und gab sie dem Wirth, undsprach zu ihm: Pflege sein; und so du was mehr wirst aufwenden, will ich dirs bezahlen, wenn ich wieder komme (V. 33 — 35.). Der Samariter hatte wohl am ersten sich von der Pflicht, dem Verwundeten beizuspringcn, lossprcchcn können; denn er lag im jüdischen Lande, war aus den ersten Anblick für einen Juden zu hal­ ten, wie er cs wohl auch war, und zwischen Juden und Samaritern bestand ein heftiger Rcligionshaß, vermöge dessen gewiß schon viele Juden sich feindlich gegen die Samariter bewiesen hatten, so daß unser Samariter sich für berechtigt

Luk. 10, 25 — 37.

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halten konnte, sich wenigstens theilnahmlos gegen einen Ju­ den zu verhalten. Aber er thats nicht, sein Herz überwand alle Vorurtheile, und er übte die Pflicht der Menschenliebe in ihrem ganzen Umfang. Er that nicht bloß, was eine flüchtige Aufwallung von Erbarmen bewies, sondern er nahm sich des Elenden ernstlich an, und sorgte für seine gänzliche Herstellung. Er war schwerlich reich, da er nur das Nothdürftigc zum Unterhalt hergab, theilte aber gern aus seiner Armuth niit.

Nun fragte Jesus den Schriftgelehrtcn: Welcher dünkt dich, der unter diesen dreien der Nächste sey gewesen dem, der unter die Räuber gefal­ len war? (V. 36.) Er sprach: Der die Barmher­ zigkeit an ihm that (V. 37.). Dieser bewies sich als dessen Nächster, hielt sich dafür, handelte als solcher, und war es daher auch. Da sprach Jesus zu ihm: So gehe hin, und thue deßgleichen (V. 37.). Er soll nicht mehr zweifeln, daß irgend ein Mensch sein Näch­ ster sey, sondern einen jeden dafür halten, und sich durch keinen Wahn, kein Vorurtheil, keinen Schcingrund blenden lassen, irgendeinen Menschen nicht für seinen Nächsten zn halten. Auch keinen Fall des Lebens soll er ausnehmcn, wo er nicht die Pflicht der Nächstenliebe ausznüben hatte; diese Liebe soll ihn stets und in allen Verhältnissen beherrschen. Das ist die göttliche Lehre des Christenthums von der allge­ meinen Menschenliebe, von welcher gänzlich keine Ausnahme gilt. Sie war damals neu; aber ist sie bei uns ganz herr­ schend geworden? Wird sie, wenn sie auch anerkannt ist, allgemein ausgeübt? Handeln nicht noch viele, wie der jüdische Priester und Levit? Ach! wir müssen gestehn, daß wir noch weit von der Vollkommenheit entfernt sind, welche Christus von uns fodert. Besonders stehen der allgemeinen Menschenliebe noch sehr die Vorurtheile der religiösen Un­ duldsamkeit entgegen, vermöge deren die Menschen sich als Feinde, anstatt als Brüder, betrachten. Uns beschämt der barmherzige Samariter.

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Luk. 10, 38 — 42.

Luk. 10, 38—42. Martha und Maria.

, Auf feiner Reise kam Jesus in einen Flecken (er hieß Be­ thanien). Da war ein Weib, mit Namen Martha (die Schwester des Lazarus, welchen Jesus späterhin vom Tode erweckte): die nahm ihn auf in ihr Haus (V. 38.). Da hier zuerst der Bekanntschaft Jesu mit dieser Fa­ milie Erwähnung geschieht, so dürfen wir annehmen, daß sie erst jetzt gestiftet wird, und Jesus das Haus der Martha zum ersten Mal betritt. Martha nahm ihn auf, entweder weil sie ihn durch den Ruf als einen großen Lehrer und Wun, derthäter kannte, oder weil er ihr durch einen Freund jur gastliche» Aufnahme empfohlen war. Sie hatte gewiß eine große Ehrfurcht vor ihm, aber wahrscheinlich kannte und er­ kannte sie ihn noch nicht als den Messias und Sohn Gottes, sondern stand nur noch in einem äusserlichen Verhältnisse zu ihm. Deßwegen machte sie sich viel j» schaffen, ihm zu dienen, ihn durch ein Gastmahl zu ehren und da­ durch zu zeige», daß sie einen so berühmten Meister und einen ihr so empfohlenen würdigen Mann gebührend zu behandeln wisse (V. 40.). Viele Menschen betrachten Andere meist nur nach äusserlichen Verhältnisse», nach ihrem Rufe, ihren öffentlich geltenden Verdiensten, und behandeln sie auch nach der bestehenden Sitte mit entsprechender Höflichkeit und Gast­ freundschaft, ohne sich in ein näheres, innigeres Verhältniß mit ihnen zu setzen, ohne sich mit ihnen in einen Austausch der Gedanken und Gefühle einzulassen: und so kommt es, daß sie oft Jahre lang bloß in dieser äusserlichen Stellung gegen sie bleiben, und ihnen vielleicht niemals naher treten. Von dieser Art scheint die Martha gewesen zu seyn. Hatte sie Jesum nicht nach der herrschenden Meinung und Sitte ange­ sehn und behandelt, so würde sie gleich auf den ersten Blick erkannt haben, daß ihm an einem reichlichen, glanzenden Gastmahle nichts gelegen sey, und würde sich nicht durch die allzu angelegentliche Bewirthung haben abhalten lassen, ihn yäher kenne» zu lernen. Ganz anders machte es ihre Schwe-

Lllk. 10, 38—>42.

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sterMariar die setzte sich zu Jesu Füßen und horte seinen Reden zu (V. 39.). Sie ließ sich nicht durch die herrschende Sitte bestimmen, in Jesu nichts als den Mann zu sehen, dem man mit gastlicher Aufmerksamkeit entgegen­ kommen müsse; sie sah in ihm nicht bloß den angesehenen, be­ rühmten Lehrer, sondern fühlte sich gleich von seinem innern Wesen angezogen, worin sic die Quelle des wahren Lebens erkannte: und so vergaß sie alle häuslichen Geschäfte, gab sich ganz der neuen, hohen Erscheinung hin, setzte sich zu Jesu Füßen, und hörte ihm zur wovon die Folge war, daß sie an ihn glaubte und ihn als den Weg zum Leben erkannte ; ja, sie wurde wahrscheinlich den Ihrigen die Führerin zum Glauben. Martha wäre vielleicht nie zum Glauben an ihn gekommen ohne ihre Schwester. Maria war ein inniges, ge­ müthliches, geistiges Wesen, und nahm Alles tiefer und in­ nerlicher auf; ihr genügte nicht ein äusserliches, kaltes Ver­ hältniß, sie suchte überall Nahrung und Anregung für ihren Geist und ihr Herz. Solche Menschen pflegen überall in die Mitte und Tiefe zu dringen, und Leben und Bedeutung in die Verhältnisse des Lebens zu bringen. Man stellt sich ge­ wöhnlich mit Unrecht vor, Maria sey sonst auch nicht fleißig und rührig im Haufe gewesen; was berechtigt uns aber zu dieser Annahme, womit wir ihr eine Pflichtwidrigkcit zur Last legen würden? Nur jetzt setzte sie die häuslichen Ge­ schäfte , als nicht zeitgemäß und als übcrflüßig, der höheren Sorge für das Heil ihrer Seele nach. Martha aber trat hinzu, und sprach: Herr fragst du nicht darnach, daß mich meine Schwester lässet allein dienen? Sage ihr doch, daß sie es auch angrekfe! (V. 40.) Menschen von der Sinnesart, wie Martha, sind nicht allein unempfänglich für das Höhere und die Beschäfti­ gung damit, sondern mißbilligen es auch, wenn sie Andere, mit Hintansetzung des Niederen, sich damit beschäftigen sehen, und empfinden eine Art von Neid und Mißgunst. Ja, sie sind so befangen, daß sie meinen, Männer von Weisheit und Tugend müßten ihre Ansicht billigen und unterstützen, wie Martha sich an Jesum wendet. Wie täuschte sich diese

248

Luk. 11, 1 — 13.

aber! Jesus antwortete und sprach zu fhrr Martha, du hast viel Sorge und Mühe; Eins aber ist noth. Maria hat das gute Theil er« wählet, das soll nicht von ihr genommen wer­ den (V. 41. 42.). Martha machte sich viel Sorge und Mühe um etwas, das gar nicht nöthig war, und vergaß darüber das Eine, was noth war, und stets für Alle noth ist. Sic suchte ihre Befriedigung in der Menge des Aeusserlichen, Zeitlichen und Leiblichen, wie alle Wcltmcnschcn, und vergaß ihren Geist zu sammeln und auf dasjenige zu richten, was allein Befriedigung gewahrt, indem es der innersten, edelsten Natur des Geistes angchört. Sie wählte das schlechte Theil, das Leibliche und Zeitliche, das nur eine vergäng­ liche Freude gewahrt, und nichts Bleibendes in sich hat, Maria aber das gute Theil, das ewigen Werth hat und das ihr ewig blieb. Die Geschichte lehrt uns also, daß wir überall und in allen Lebensverhältnisscn das Geistige und Ewige su­ chen und durch alle äusserlichen Hüllen und Erscheinungsfor­ men zu ihm hindurchzudringen uns bestreben, insbesondere, daß wir mit unsern Nebenmcnschen in einen geistigen Verkehr treten sollen.

Mil, 1 — 13.

Vom Gebete. Jesus lehrt feine Jünger beten, und gibt ihnen als Mu« fier das sogenannte Unser Va^er (V. 1—4.vgl.Matth. 6, 9 ff.). Dann ermahnt er sie mit Vertrauen zu beten, und der Erhörung gewiß zu seyn (V. 9 —13. vgl. Matth. 7, 7 ff.), und schickt ein Gleichniß voraus, um dieses klar zu machen (V. 5 — 8.). Ein Mensch, der spät in der Nacht einen East bekommen, und, kein Brod im Hause hat, geht zu einem Freunde, weckt ihn, und bittet ihn, ihm drei Brode zu leihen. Dieser weist ihn anfangs ab, und spricht: Mache mir keine Unruhe! Die Thüre ist schon zugeschlossen, und meine Kindlein sind bei mir in der Kammer; ich kann nicht aufstehen und

Luk. 11, 27. 28.

249

dir geben. Aber jener halt mit Bitten an, und erreicht endlich seinen Zweck. Die Anwendung ist: So wird auch ein anhaltendes, ernstliches Gebet endlich Crhörung finden. Doch gilt auch hier die Bemerkung, daß die Erreichung des ersehnten Zwecks allein bei Bitten um geistliche Güter mit Sicherheit gehofft werden darf, bei Bitten um leibliche hin­ gegen die Zuversicht durch demüthige Ergebung gemäßigt werden muß. Luk. 11,14—26. s. Matth. 12, 22—30,43—45. m 11, 27. 28.

Ausruf eines Weibes über Jesum. Wahrend Jesus zum Volke redete, erhob ein Weib die Stimme und sprach: Selig der Leib, der dich ge­ tragen, und die Brüste, die du gesogen hast! (V. 27.) Das Weib war von der Rede Jesu hingerissen wor­ den, und drückte ihre Bewunderung dadurch aus, daß sie die Mutter Jesu selig pries, einen solchen Sohn geboren und gesaugt zu haben. Eine acht mütterliche Aeußerung! Was wünscht sich eine gutgesinnte Mutter mehr, als wackere Söh­ ne zu haben; und lernt sie einen ausgezeichneten Mann ken­ nen, so denkt sie sich an die Stelle seiner Mutter, und nimmt an ihrer Freude Theil. In der That war Jesu Mutter selig zu preisen, den ersten des Menschengeschlechts, den Heiland der Welt, geboren und erzogen zu haben. Ein einziges Hoch­ gefühl mußte ihren mütterlichen Busen schwellen, wenn sie auf ihren Sohn hinsah. Selbst als das Schwert des Schmer­ zens ihre Brust durchdrang, war sie noch selig. Aber in je­ ner Ansicht und Aeußerung des Weibes liegt doch etwas Ir­ disches und Selbstsüchtiges. Sie wollte das Erhabene und Vollkommne, das sie in Jesu bewunderte, gleichsam besitzen, indem sie sich an die Stelle seincrMutter dachte; sie faßte es in einer irdisch-persönlichen Beziehung, wahrend wir es in seiner allgemeinen Göttlichkeit und in Beziehung auf die gan­ ze Menschheit fassen sollen. Jesu Mutter stand mit Jesu wohl in einer nähern leiblichen, aber in keiner näheren geisti»

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Luk. 11,37—54.

gen Gemeinschaft, als alle andere Christen; und nur die letz­ tere macht wahrhaft selig. Darum antwortete Jesus; Ja, seh' g sind, die Gottes Wort hören und bewah­ ren (V. 28.). Diese eignen sich das Herrliche und Göttliche in Jesu auf geistige Weise an, und dadurch werden sie wahr­ haft selig. — Diese Stelle lehrt uns, daß wir in Jesu nicht das Persönliche mit fleischlicher Liebe umfassen, sondern uns an seinen Geist halten, und überhaupt alles Gute und Schöne nicht in seiner sinnlichen Erscheinung, sondern in sei­ ner innern geistigen Bedeutung lieben sollen. Luk. 11, 27—36. s. Matth. 12, 38—42. 5, 15. 6, 22. 23, Luk. 11, 37—54. vergl. Matth. 23.

Tischreden Jesu gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten. Ein Pharisäer lud Jesum zu Tische, und wunderte sich, als er sah, daß er sich nicht vor dem Essen wusch (V. 37.38.). Der Herr aber sprach zu ihm: Ihr Pharisäer haltet die Becher und Schüsseln auswendig reinlich, aber euer Inwendiges ist voll Raubund Bos­ heit. Ihr Narren, der dasAuswendige gemacht hat, hat er nicht auch das Inwendige gemacht?*) Doch gebt Almosen von dem, was drinnen ist;") siehe, so ist euch alles rein (V. 39—41.). Die Pha­ risäer hielten auf die Reinlichkeit ihrer Trink-und Eßgeschirre, während ihr Gemüth von Raub und Bosheit verunreinigt war. (Bei Matthäus 23, 25. heißtesr Das Inwen­ dige der Geschirre sey voll Raub und Unge­ rechtigkeit; aus den reinlichen Geschirren genießen sieden Raub ihrer Ungerechtigkeit.)- Jesils führt ihnen zu Gemü­ the, daß sie auf diefe Weise Gott nicht täuschen könnten, der

♦) Luther falsch: meint ihr, daß innerlich rein sey, wenn es auswendig rein ist? “) Luther unbestimmt: was da ist.

Luk. 11, 37 — 54.

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ja der Schöpfer sowohl des Innern als des Aeußern sey, der

in das Verborgene sehe, und fodcrt sie auf, von dem Geraub­ ten (wenn sic' es nämlich dem rechtmäßigen Herrn nicht mehr zurückgeben könnten) Almosen zu geben, und so die Geschirre ganz und wahrhaft zu reinigen. (Der Matth. 23, 26. sagt er, sie sollten das Inwendige der Gefäße reinigen, d. h. kei­ nen Raub mehr genießen.) Aber wehe euch Pharisäern, daß ihr ver« zehntel die Münze undRaute und allerleiKohl, und übertretet die Gerechtigkeit undLiebeGottes. Dieß sollte man thun, und jenes nicht lassen (V. 42.). Die Pharisäer waren kleinlich gewissen­ haft in Beobachtung der äußerlichen Satzungen des Gesetzes, und entrichteten den Zehnten sogar von Gartcnkrautern, was eigentlich nicht vorgeschricben war; aber sie unterließen das Schwerere des Gesetzes (Matth. 23, 23.), den sittlichen Theil desselben, die Gebote der Gerechtigkeit und Liebe. Jenes war löblich, aber dieses war vor allen Din­ gen zu beobachten. Sie durchseigten Mücken, und verschlucktenKamele (Matth. 23,24.) d. h. achteten auf Kleinigkeiten, und ließen sich Wichtiges zu Schulden kommen, wie dieß so viele Menschen thun, die sich vor kleinen Verge­ hungen hüten, aber sich nicht scheuen, schwere Sünden zu

begehen. Wehe euch Pharisäern, baß ihr gern oben an sitzet in den Synagogen, und wollt gegrüßet seyn auf dem Markt (V. 43?. In solchen eiteln Auszeichnungen suchten diese Heuchler ihre Ehre, während

sie sie in wahrer Frömmigkeit hätten suchen sollen. Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, daß ihr seyd wie die verdeckten Gräber, darüber die Leute gehen und wissen es nicht (V- 44.). In verdeckte Gräber, welche inwendig hohl sind, kann man leicht stürzen und darin umkommen r so verbargen diese Heuchler unter dem Schein der Frömmigkeit

verderbliche Gesinnungen. (Bei Matth. 23, 27 f. werden sie mit übertünchten Gräbern verglichen, welche

252

Luk. 11, 37—54.

auswendig hübsch scheinen, inwendig übervol­

ler Todtengebein und alles Unflathes, voll der unreinsten, gottlosesten Gesinnungen, voll Heuchelei und Untugend sind.) Ein Schristgelchrter beschwerte sich über diese harte, auch seine Klasse treffende Rede: Meister, mit den Worten schmähest du auch uns (V. 45.). Da antwortete Jesus: Und wehe auch euch Schriftgelehrten! Denn ihr beladet die Menschen mit unerträglichen Lasten, und rühret sie nicht mit einem Finger an (V. 46. Matth. 23,4.). DieSchriftgelehrtcn erschwer­ ten die ohnehin drückende Last des Gesetzes durch verschärfen­ de und erweiterte Auslegungen; sie selbst aber entzogen sich der Erfüllung ihrer eigenen Vorschriften, so viel sie konnten und der Schein es erlaubte.

Weheeuch, ihr bauet der ProphetenGräber, errichtet ihnen Denk - und Grabmähler; eure Väter aber haben sie getödtetr sonach lobet und bil­ ligt ihr*) eurer Väter Thaten; denn sie tödteten sie, so bauet ihr ihre Gräber (V. 47. 48. Matth. 23, 29—33.). Zur Heuchelei der Pharisäer gehörte

auch, daß sie das Andenken der alten Propheten und Gerech­ ten ehrten, indem sie ihnen Denkmäler errichteten; aber sie hegten keine bessern Gesinnungen als ihre Vorfahren, welche jene Männer umgebracht hatten, obgleich sie wohl betheuern mochten (Matth.23, 30.): Wären wir zu unsrer Väter Zeite« gewesen, so wollten wir nicht theil­ haftig seyn mit ihnen an der Propheten Blut. Wären diese Männer zu dieser Zeit ausgetreten, so hatten sie dasselbe Schicksal erlitten; denn Johannes dem Täufer, Jesu

und seinen Aposteln ging es nicht anders. Und so betrachtet Jesus mit bitterm, aber gerechtem Spott die Errichtung von *) Luther: falsch und undeutsch: so bezeuget ihr zwar und bewilliget in.

Luk. 11, 37—54.

253

Denkmälern als eine Billigung dessen, was die Alten gethan hatten r die Nachkommen setzten gleichsam das Werk ihrer Vorfahren fort, indem sie den von diesen Gctödteten Grab­ mäler erbauten. Bei Matth. 23, 32. setzt er hinzu: Er­ füllet nur das Maß eurer Vater! drohet ihnen aber(V. 33.): Ihr Schlangen, ihr Otterngezüch­ te, wie wollt ihr der höllischen Verdammniß entrinnen? — Auch bei uns kommt cs wohl vor, daß man alte berühmte Manner lobt und preist, und ihnen Denk­ mäler errichtet, und dabei eine Gesinnung hegt, vermöge deren man sie, wenn sie jetzt lebten, nicht anerkennen, sondern wohl eher verfolgen würde. Cs ist leicht, das Gute in der Ver­ gangenheit zu ehren, weil es da nicht mit unsrer Selbstsucht in Widerstreit kommt und keine Opfer von uns fodert, wie wenn es uns im Leben entgegentritt. Viele unter uns wür­ den selbst Christum, den sie jetzt götzendienerisch verehren, nicht anerkennen, sondern mit einstimmen in das Kreuzige ihn. Durum spricht die Weisheit Gottes (Gott durch Christum): Ich will Propheten und Apostel zu ihnen senden, und von ihnen werden sie tödtenundverfolgen; auch die von Gott gesandten Propheten des neuen Bundes, die Jünger Jesu, werden sie tödten und

verfolgen: auf daß gerachet werde an*) diesem Geschlecht aller Propheten Blut, das vergos­ sen ist seit Schöpfung der Welt, von AbelS

Blut an bis auf das Blut Zacharia's, der um­ kam zwischen dem Tempel und Altar (2. Chron. 24, 20 ff.). Ja, ich sage euch, es wird gerächet werden an diesem Geschlecht 08. 49—51.Matth. 23,34—36.). Weil bie spätern Juden das Maß derSchuld ihrer Vorfahren voll machten durch Tödtung der christlichen Lehrer, so traf sie endlich der Untergang, und sie büßten alle Uebelthaten, die vom Anfang der alttcstamentlichen Geschichte

*) Luther wörtlich: gefordert werde von.

254

Luk. 11,37 — 54.

bis zu ihrem Ende an Frommen und Propheten waren ver­ übt worden. Und solches geschah in der Zerstörung Jerusa­

lems. Wenn ein Volk immerfort der Wahrheit widerstrebt und in Sünde verharret, so muß es endlich seinen Unter­ gang finden. Wehe euch Schrift gelehrten! denn ihr habt den Schlüssel der Erkenntniß an euch geris­ sen,*) (oder, wie Matthäus hat: ihr schließet das

H i m m e l r e i eh zu), ihr selber kommt nicht hinein, und wehret denen, so hinein wollen sV.52. Matth. 23, 14.). Sie hatten sich das Lehramt angemaßt und waren allerdings im Besitze der Mittel, die göttliche Wahrheit zu verstehen. Aber ihre schlechte Gesinnung hin­ derte sie in dieselbe einzudringcn, denn sie öffnet sich nur ei­ nem reinen Herzen; und zugleich wehrten sie auch Andern ein­ zudringen, weil sie sie irre führten, und als blinde Leiter der Blinden sie in den Abgrund des Verderbens führten. Durch diese Reden hatte Jesus seine Gegner sehr erbit­ tert, und sie setzten ihm mit allerlei Fragen zu,*) um ihn in Verlegenheit zu bringen und etwas aufzuhaschen weßwegen sie ihn verklagen könnten (V. 53. 54.). Die Men­ schen, besonders die Heuchler, können die Wahrheit nicht er­ tragen, wodurch ihr Inneres aufgedeckt wird, und es ist ge­ fährlich, sie ihnen zu sagen. Dennoch sind wir verpflichtet, mit unerschrockener Freimüthigkeit, jedoch zur rechten Zeit und Gelegenheit und mit gehöriger Vorsicht, das Böse zu tadeln. Jesus, der Untrügliche und Sündlose, konnte stärker auftretcn, als wir, und seinem Beispiele dürfen wir nicht blind folgen. Uns geziemt die Wahrheit mit Milde und Schonung zu sagen, und uns vor Härte und Uebertreibung zu hüten. Luk. 12, 1. 2. s. Matth. 16, 6. V. 2—9. s. Matth. 10, 26—33. V. 10. s. Matth. 12,31.32. V. 11.12. s. Mtth, 10,19. 20.

*) Luther bloß: ihr habt. *')Luther falsch: suchten ihm mit allerlei Fragen den Mund zu stopfen.

Luk. 12,13—34. Luk. 12,13—34.

Jesu Rede gegen die Habsucht und Nah» rungssorgen. Es sprach Einer aus dem Volke zu ihm: Meister, sage meinem Bruder, daß er mit mir das Erbe theile (V. 13.). Unter Anhörung der geist­ lichen Reden Jesu hatte dieser Mensch nichts als weltliche Gedanken. Die Achtung, die er für Jesum faßte, bestand darin, daß er ihn für tauglich zu einem Schiedsrichter hielt! Er aber sprach zu ihm: Mensch, wer hat mich zum Richter oder Erbschlichter (Crbtheiler) über euch gesetzt? (93. 14.) Jesus war eben so wenig da­ zu da, als ein weltlicher König zu seyn. Gerechtigkeit wollte

er in die Herzen pflanzen, nicht durch richterliche Aussprüche äußerlich aufrichten. Er nahm nun davon Gelegenheit, vor der Habsucht und der unrechtmäßigen Liebe zu den irdischen Gütern zu warnen. Sehet zu und hütet euch vor

dem Geiz! Denn niemand lebet davon, daß er viele Güter hat *) (V. 15.). Die allzugroße Liebe zu den irdischen Gütern ist schon darum thörigt, weil der Besitz derselben uns nicht das höchste irdische Gut, das Leben, sichern kann, ohne welche sie alle unnütz sind. Diese Wahrheit versinnbildet Jesus nun in einem Gleichnisse. Es war ein reicher Mensch, deß Feld hatte wohl getragen. Und er gedachte bei sich selbst, und sprach: Was soll ich thun? Ich habe keinenRaum, meine Früchte einzusammeln(V. 16.

17.). Schon in dieser Aeußerung zeigt sich der ganz im Ir­ dischen befangene Sinn des Reichen. Ein frommer Mensch würde den reichen Ertrag seiner Aecker mit Dank gegen Gott bemerkt und den Blick nach oben gerichtet haben; dieser Rei­ che aber laßt sein Gemüth ganz von der Sorge, wie er die Früchte unterbringcn solle, einnehmen, und richtet seinen Blick *) Luther wörtlicher: denn so jemand im Ueberfluß ist, so ist doch sein Leben nicht unter seinen Gütern.

256

Luk. 12,13 — 34.

herab auf t>fe Erde. So irdisch befangen sind nur allzu Viele, und nicht bloß durch die Liebe der groben Erden-Güter, sott« dern auch edlerer Güter, desFamilicnglückes, einer erfreuli­ chen Wirksamkeit, der Kunst und Wissenschaft, wozu sie den Trieb in sich fühlen; sie vergessen darüber die höheren Ange­ legenheiten, und halten ihren Blick auf das Irdische gerich­ tet. Der Reiche spricht; Das will ich thun: ich will meineScheuern abbrechen, und größere bauen, und will darein sammeln alles, was mir ge­ wachsen ist und meine Güter(V. 18.). Das sorg­ liche Nachdenken führet ihn zu dem Entschlüsse großer Bau­

unternehmungen, weit ausschender weltlicher Geschäfte; er will sich in eine geräuschvolle, zerstreuende Thätigkeit werfen. Nun wird er alle Hande voll zu thun haben, und noch weni­ ger an Gott und göttliche Dinge denken. So führt immer die Befangenheit des irdischen Sinnes in weltliche Zerstreu­ ung, nicht nur in Beziehung auf Bcsitzthümer, sondern auch auf andere Gegenstände einer befangenen Liebe, so edel sie seyn mag. Die befangene Elternliebe kann dazu führen, so wie der befangene Amtseifer und Trieb nach Ausbildung. Ge­ schäftigkeit und Thätigkeit ist nützlich und nothwendig, aber sie soll nicht ohne den Blick nach oben seyn. Welchen Zweck verfolgt nun der Reiche bei den weitlauftigen Geschäften, die er unternehmen will? Ich will dann sagen zu mei­ ner Seele: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrath auf viele Jahre: habe nun Ruhe, iß, trink und habe guten Muth! Selbstsüchtiger Genuß ist der Zweck seiner Thätigkeit, nicht gemeinnützige Wohlthä­ tigkeit. Er will genießen, nicht andere mit genießen lassen; seines Leibes will er pflegen, nicht seiner Seele, und nichts thun für die Verbreitung des Reiches Gottes. So selbst­ süchtig kann sogar die befangene Liebe zu den edlem irdischen Gütern seyn, die Liebe zu Verwandten und Freunden, die Liebe zur Wirksamkeit, die Liebe zur Kunst und Wissenschaft, wenn man nämlich nur sein Glück und seine Ruhe, nicht die Zwecke des Reiches Gottes im Auge hat. Aber welche Thor­ heit im Irdischen ein dauerndes Glück zu suchen! Gott

Luk. 13, 1-^9.

257

sprach zu hem Reichen: Du Narr, diese Nacht wird man deineSeele von dir fodern; und weß wird das seyn, das du bereitet hast? Alle irdischen Güter sind vergänglich r und wenn sie auch blieben, so kann unser Leben in jedem Augenblicke die Beute des Todes seyn. Ucberlassen wir uns daher nie der thörigtcn Sicherheit dieses Reichen! denken wir im frohen Genusse des Familicnglückes, km frischen Eifer des Wirkens, im freudigen Streben nach Ausbildung an die Vergänglichkeit alles Zeitlichen und an die Ewigkeit! Also gehet es, wer sich Schätze sammelt, und ist nicht reich in Gott (V. 21.). Nach Reich« thum in Gott, an ewigen Gütern, Wahrheit, Gerechtigkeit und Gottseligkeit sollen wir streben: dann fallen wir nicht in die Thorheit dieses Reichen, und brauchen den Verlust des Zeit« lichen nicht zu fürchten: denn wir sind auf die Ewigkeit ge­ rüstet. V. 22—34. s. Matth. 6, 19—34. vcrgl. 6, 20. 21. Luk. 12, 35—48. wollen wir bei Matth. 24, 42 ff. behandeln. Luk. 12, 48—53. f. Matth. 10, 34—36. Luk. 12, 54—56. s. Matth. 16, 3. Luk. 12, 57—59. s. Matth. 5> 25. 26-

Luk. 13, 1 — 9.

Warnendes Beispiel der umgebtachken Ga­ liläer. Cs kamen etliche herbei") zu derselben Zeit, die verkündigten ihm von denGalilaern, wel­ cher Blut Pilatus mit ihrem Opfer vermischt (die er wahrend ihres Opferns im Tempel umgebracht) hatte (vielleicht wegen angeblicher Empörungsvcrsuche) (V. 1.). Und cs scheint, daß diese Berichterstatter die Meinung ver­ riethen, diese Galiläer seyen durch diese gewaltsame Todes*) L.uther falsch: Es waren etliche dabei. Libl. Erbauungsb. II.

258

Luk. 13,1 — 9.

art für ihre Sünden gestraft worden. Denn die Juden wa­ ren gewohnt, in Unglück und Krankheit Strafen des Him­ mels zu sehen (vergl. Joh. 9, 2.). Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Meinet ihr, daß diese Galiläer vor allen Galiläern (mehr als alle G.) Sün­

der gewesen sind, dieweil sie das erlitten ha­ ben? Ich sage: Nein! sondern so ihr euch nicht bessert, werdet ihr alle auch also umkommen (D. 2. 3.). Man soll die Unfälle Anderer nicht mit lieblo­ ser Verdammungssucht als Strafen ihrer Sünden ansehen, sondern als Warnungsbeispiele für sich selbst benutzen, und sich selbst darin spiegeln. Wir alle sind Sünder, der eine in dieser Art, der Andere in jener, und verdienen alle Strafe. Besonders aber konnten die damaligen Juden alle sich an diesem Beispiele der Galiläer spiegeln; denn alle hatten Theil an dem Verderben, welches der ganzen Nation den Unter­ gang brachte. Jesus erinnert an ein ähnliches Warnungs­ Beispiel. Meinet ihr, daß die achtzehn, auf wel­ che der Thurm in Siloah fiel und sie erschlug, seyen schuldig gewesen vor allen Menschen, die zu Jerusalem wohnen? Ich sage: Nein! sondern so ihr euch nicht bessert, werdet ihr alle auch also umkommen'(V. 4. 5.).

Hierauf sagte er ihnen ein Gleichniß (V. 6 — 9.). Er verglich das jüdische Volk mit einem Feigenbaum, den jemand in seinem Weinberge hatte, - der aber keine Frucht trug. Er gab nun dem Weingärtner Befehl, ihn umzuhauen. Dieser aber bat noch um Schonung für ein Jahr, bis daß er ihn gedüngt haben werde, ob er vielleicht noch Früchte tragen möchte; wo nicht, so wolle er ihn dann umhauen. So hatte auch Gott noch mit dem jüdischen Volke Geduld, und ließ ihm Zeit, sich zu bessern; da es sich aber nicht bekehrte, so gab er es dem Verderben Preis. Ein Volk, das unfrucht­ bar und träge zum Guten ist, wird sicherlich feinen Untergang finden, oder wenigstens ein elendes, unglückliches Daseyn behaupten, in Knechtschaft und Unbedeutendheit herabsinken. Den Einzelnen erreicht die göttliche Strafe nicht immer schon

Luk. 13, 10 — 17.

259

in diesem Leben, aber für ein Volk ist die sittliche Entartung

immer verderblich, weil die Schuld der Vater auf die Söhne forterbt, und diefe für jene büßen müssen. Nichts aber rächt

sich mehr, als die Verachtung der Wahrheit und die Versto­ ckung, wie solches nicht nur das Beispiel der Juden, sondern auch mancher neueren Völker beweist.

Luk. 13, 10 — 17. Eine Sabbathsheilung»

Jesus heilete am Sabbath in einer Synagoge ein Weib, das seit achtzehn Jahren krumm gelegen war, (wie man glaubte) durch die Wirkung eines bösen Geistes. Darüber wurde der Oberste der Synagoge unwillig, und da er Jesum nicht geradezu zu tadeln wagte, sprach er zum Volke r E ö si n d sechs Tage, an denen man arbeiten soll: an denfelbigen kommt und laßt euch heilen, und nicht am Sabbathtage (V. 14.). Da rechtfertigte sich Je­ sus auf eine ähnliche Art, wie bei einer früheren Sabbaths­ heilung Matth. 12, 11. 12. Du Heuchler, löset nicht ein jeglicher unter euch seinen Ochsen oder Esel von der Krippe am Sabbath, und führet.ihn zur Tränke? Sollte aber diese, die doch Abrahams Tochter ist, welche der Satan gebunden hatte wohl achtzehn Jahre, nichtvon diesemBande gelöset werden am Sabbathtage? (V. 15. 16.) Darf man am Sabbath einem Thiere Er­ quickung verschaffen, so darf man noch viel mehr einen Men­ schen , der doch viel mehr werth ist (die menschliche Würde bezeichnet Jesus nach jüdischer Vorstellungsart durch die Ab­ stammung von Abraham, worin die Juden ihren Stolz setzten) von einer Krankheit befreien. Es wäre ein Verbrechen an der Menschheit, einen Kranken um des Sabbaths willen auch nur eine Stunde langer leiden zu lassen, wenk es in unstet Macht steht, ihm auf der Stelle zu helfen. Co machte Je­ sus das menschliche Gefühl geltend gegen die todte äusserliche Frömmigkeit. Und als er solches sagte, mußteri R 2

260

Luk. 13, 22 — 30.

sich schämest alle, die ihm zuwider gewesen wa­ ren; und alles Volk freute sich über alle herr­ lichen Thaten, die von ihm geschah» (V. 17.). Das natürliche Gefühl tragt bei den unverkünsteltcn, ein­ fachen Menschen immer den Sieg davon über die todte Förm­ lichkeit. Der christliche Lehrer wende sich daher immer an die Herzen der Menschen, und er wird der Wahrheit bei ihnen Eingang verschaffen. Und ein jeder Christ erhalte sich dieses Gefühl gesund und lebendig; es bewahrt ihn vor Heuchelei und todter Werkheiligkeit.

Luk. 13,18— 21. s. Matth. 13, LI ff. Luk. 13, 22—30.

Von der engen Pforte zur Seligkeit. Als er lehrend durch Städte und Dörfer zog auf dem Wege nach Jerusalem, fragte ihn Einer mit spöttischer Neu­ gierde: Es sind wohl wenige, die selig werden?*) (V. 22. 23.) Er stellte sich theilnehmend, und that, als wenn er Jesu sein Bedauern bezeugte, daß seine Bemühun­ gen, die Menschen selig zu machen, so schlechten Erfolg hatten. Bei uns werfen Manche wohl auch diese Frage auf, wenn auch nicht mit Spott, doch mit verdammungsfüchtigem Vorwitz, indem sie mit dem anmaßlichcn Gefühl ihrer eigenen Frömmigkeit um sich herblicken, und fast nichts als Verlorene zu sehen wähnen. Allen solchen, wie dem ihn Fragenden, antwortet Jesus: Ringet darnach, daß ihr durch die enge Pforte eingehet! (V. 24. vgl. Matth. 7, 13.) Ein Jeder kümmere sich um seine eigene Seligkeit, nicht um fremde, und strenge alle Kräfte an, sie zu erlangen; denn der Weg zu ihr ist schwer. Viele werden, sage ich euch, einzugehen trachten, und werden es nicht können (V. 24.), weil sie nicht den rechten Weg

betreten, nicht genug gerungen haben. Wenn der Haus­ herr aufgestanden ist und die Thüre verschloß«

*) Luther: Meinest du, daß Wenige selig werden?

Luk. 13, 31 — 35.

261

fett hat, urrd ihr draussen stehet, und an die Thüre klopfet und sagt; Herr, Herr, thue uns auf! Dann wird er antworten, und zu euch sagen: Ich kenne euch nicht, woher ihr seyd! Dann werdet ihr sagen: Wir haben vor dir ge­ gessen und getrunken, und aufunsern Gassen hast du gelehrt. Und er wird sagens Ich sage euch, ich kenne euch nicht, woher ihr seyd; wei­ chet alle von mir, ihr Uebelthäter! (V.25 — 27. vgl. Matth. 7, 22. 23.) Es wird eine Zeit kommen, wo es sich entscheidet, wer ins Himmelreich gehört, und wer

nicht, wo es für alle verschlossen seyn wird, die desselben unwürdig sind. Dann wird es vergeblich seyn, sich auf zeit­ liche und weltliche Verbindungen mit Christo zu berufen; auch die Juden, die Landsleute Jesu, werden,, wenn sie ungläu­ big sind, von ihm abgewicsen. So wird auch der christliche Name und die christliche Geburt und die Bekanntschaft mit Jesu Lehre uns das Himmelreich nicht offnen, wenn wir nicht gerungen haben, in die enge Pforte einzugchen, und den Wil­ len Gottes mitVerleugnung unser selbst und unsres Fleisches auszuüben uns bestrebt haben. Hierauf deutete er ihnen die Aufnahme der Heiden ins Reich Gottes an, wahrend viele Juden ausgeschlossen werden (V. 28. 29. s. Matth. 8,11. 12.), was auch der Sinn der Worte ist: Es sind letzte (die Heiden, die zuletzt berufen sind), die werden die ersten seyn (denJuden vorgczogcnwerden); und sind erste (die Juden, an welche der Ruf der Gnade zuerst er­ gangen), die werden die letzten seyn (den Heiden nachgesetzt werden). So sollen auch wir uns nicht auf unsre äussere Berufung zum Reiche Gottes verlassen, sondern uns bemühen, uns derselben wahrhaft würdig zu machen«

Luk. 13, 31—35. Heuchlerische Warnung der Pharisäer.

Es kamen etliche Pharisäer, und sprachen zu ihm: Gehe fort, und reise von hier weg; denn Herodes

262

Luk, 13, 31^35.

will dich tödten (D 3t.). JcsuS scheint sich km Ge­ biete des Herodes Antipas, kn Ealilaa oder jenseit des Jor­ dans, aufgchalten zu haben, wo er diesem argwöhnischen Fürsten lästig war r deßwegen gab er wahrscheinlich einigen Pharisäern den Auftrag, Jesum auf eine gute Weise zu ent­ fernen. Diese stellten sich nun, als meinten sie es gut mit ihm, und gaben ihm jene Warnung. Jesus aber durchschaute das Gewebe der List, und antwortete mit offener Geradheit: Gehet hin und saget diesem Fuchs: Siehe! ich treibe Teufel aus und mache gesund heute und morgen und am dritten Tage werde ich fertig seyn *). Doch muß ich heute und morgen und am folgenden Tage reisenrdenn es ziemt sich nicht**), daß ein Prophet umkomme ausser Je­ rusalem (V. 32. 33.). Der Sinn ist: ich brauchte nur wenige Zeit um das, weßwegen ich in dieser Gegend mich aufhalte - und es ist nichts, was Verdacht erwecken könnte, es sind unschuldige Heilungen — zu vollenden; aber ich muß wohl eurer Warnung zufolge diese Zeit zum Reisen anwen­ den, damit es nicht etwa geschehe, daß ich außerhalb Jeru­ salem umkomme, was gegen die Regel wäre. Er trifft hierniit die heuchlerischen Warner eben so gut, als den Herodes, und gibt ihnen zu erkennen, daß er sie und ihre Sekten-Ge­ nossen als seine Feinde erkennt, die ihm nach dem Leben trach­ ten; denn sie waren vermuthlich von Jerusalem, oder stan­ den doch mit den dortigen Pharisäern in Verbindung. Sie sollten sich nur beruhigen, will er sagen, ihre Beute werde ihnen nicht entgehen; er wisse wohl, daß er in Jerusalem um­ kommen müsse. — So durchschaut die arglose Unschuld die Arglist, und indem sie deren Nachstellungen aus dem Wege geht, macht sie ihr inneres Uebergcwicht geltend und beschämt sie, — Was nun V. 34. 35. scheint bei Matthäus 23, 37 — 39. eine richtigere Stelle zu haben. *) Luther: nach einer andern falschen Erklärung; nehme rr, Luther; thutS nicht.

ein Ende

Luk. 14, 1 — 24.

263

Luk. 14, 1 — 24.

Jesus

ist

bei

einem

Pharisäer zu

Tische;

heilt einen Wassersüchtigen, und lehrt. Es begab sich, daß er an einemSabbath ins Haus eines Obersten der Pharisäer kam, um zu speisen, und sie belauerten ihn *) (D. 1.). Jesus verachtet die Hinterlist seiner Feinde, im Bewußtseyn seiner gerechten Sache. Da sich nun ein Wassersüchtiger da­ selbst fand, so fragte er die anwesenden Schriftgclehrtcn und Pharisäer: JstA auch recht, am Sabbath, zu heilen? ( V. 2. 3.) Er wußte, daß sie solche Heilungen mißbilligten, und foderte sie auf, ihren Tadel auszusprechen. Aber sie schwiegen still; offene Erklärung war ihre Sache nicht; sie verleumdeten und verklagten ihn lieber hinter sei­ nem Rücken. Und er griff ihn an, und heilete ihn und ließ ihn gehen (93. 4.), Hierauf rechtfertigte er sich wegen dieser Heilung (V. 5. vgl. Matth. 12, 11. 12.), und sic konnten ihm darauf keine Antwort geben (23.6.). So wird durch die Offenheit und Entschiedenheit des Freundes der Wahrheit die Tücke und Heuchelei zum Schweigen ge­ bracht. Er sagte aber ein Gleichniß (oder vielmehr nur einenLchrspruch) zu den Gästen, da er merkte, wie sie die ersten Plätze erwählten **), und sprach zu ihnen: Wenn duvon jemanden geladen wirst zum Gastmahl ***), so setze dich nicht oben an, daß nicht etwa ein Geehrterer, denn du, von ihm geladen sey; und dann kommt der, der dich und ihn geladen hat, und spricht zu dir: Gib diesem denPlatz, und du mußt dann mitScham

♦) Luther: hielten auf ihn, ♦*) Luther: wie sie erwählten oben an zu sitzen.

♦♦♦) Luther: Hochzeit.

264

Luk. 14, 1—24.

unten an sitzen. Sondern wenn du geladen bist, so gehe hin, und setze dich unten an, auf daß wenn der kommt, der dich geladen hat, er zu dir spreche: Freund, rücke hinauf! Dann wirst du Ehre haben vor denen, die mit dir zuTische sitzen. Denn wer sich selbst erhöhet, der soll erniedrigt werden; und wer sich selbst ernie­ driget, der soll erhöhet werden (V. 7—11), Bescheidenheit und Demuth ziemt dem sittlichen Menschen auch im geselligen Umgänge, wie im sittlichen Handeln; in Allem soll sich sein innerer Mensch spiegeln. Bei uns ist freilich die Höflichkeit so weit gediehen, daß auch diejenigen, welche voll Hochmuth und Anmaßung sind, im geselligen Um­ gänge die Bescheidenen spielen, und sich eher darum streiten, wer den untersten, als wer den obersten Platz haben soll. Aber Jesus fand es nöthig, der unhöflichen Anmaßlichkeit diese Lehre zu geben. Er sprach auch zu dem, der ihn geladen hak­ te: Wenn du ein Mittags-oder Abendmahl ma­ chest, so lade nicht deine Freunde, noch deine Brüder, noch deine Verwandten, noch reiche Nachbarcn, auf daß sie dich nicht wieder laden, und dir vergolten werde; sondern wenn du ein Mahl machest, so lade die Armen, Krüppel, Lah­ men, Blinden: und wohl dir dann; denn sie können dir nicht vergelten, es wird dir aber vergolten werden in der Auferstehung der Ge­ rechten (V. 12 —14.). Schwerlich mißbilliget es Je­ sus schlechthin, Freunde, Verwandte und Andere, die uns wieder cmzuladen im Stande sind, zu Gaste zu laden; denn dadurch würde alle Geselligkeit aufgehoben. Seine Meinung ist wohl diese: man soll die Gastfreundschaft nicht aus Eigen­ nutz, sondern aus reinem Wohlwollen üben: also, wenn man solche einladet, die es vergelten können, es nicht in der Ab­ sicht, Vergeltung zu empfangen, sondern aus reinem Wohl­ wollen thun, und dann soll man seine Gastfreundschaft auch guf Arme und Bedürftige ausdchncn. Das reine Wohlwol-

Luk. 14, 1 — 24.

265

len findet einen höhern Lohn, als den diese Welt geben kann; zwar wird es durch Gegenliebe und Dankbarkeit oft schon hier und auf das schönste belohnt, aber es reicht bis in jene Welt, und findet dort erst seine volle Vergeltung. Ist die Geselligkeit von diesem Geiste reines Wohlwollens durchdrun­ gen, so wird fie veredelt und verschönt, und dient nicht mehr der Genußsucht und Ueppigkeit, sondern knüpft ein acht sitt­ liches Band. Da aber einer der Mitgäste solches hörete, sprach er zu ihm: Selig ist, der das Brod isset im Reiche Gottes! (V. 15.) Man dachte sich die Se­ ligkeit des Reiches Gottes unter dem Bilde eines Gastmahls, und dieser Gast, veranlaßt durch die von Jesu geschehene Er­ wähnung der ewigen Vergeltung, wollte sagen, er sehne sich nach der Theilnahme an dieser Seligkeit. Dadurch veran­ laßte er Jesum zu folgendem Gleichnisse (V. 16—24.). Es war ein Mensch, der machte ein großes Abendmahl und lud Viele dazu. DasAbendmahl ist das Reich Gottes, und die Eingeladencn sind die Israeli­ ten^ welche,Gott schon seit alten Zeiten durch Mose und die Propheten zu seinem Reiche eingcladen hatte, indem er ihnen sein Gesetz und die Verheißung des Messas gegeben hatte. Und er sandte seinen Knecht aus zur Stunde des Abendmahls, den Geladenen zu sagen: Kommt, denn es ist Alles bereit. Der Wirth ist so sorgfältig, baß er die Geladenen nochmals an die Ladung erinnert, wenn sic sie etwa vergessen hatten. So sandte Gott, als die Zeit erfüllet war, den verheißenen Messias, der sein Reich auf Erden eknrichten sollte. Und so ergeht auch an uns, die wir langst eingeladen sind, der besondere, unmit­ telbare Ruf zum Reiche Gottes oft und wiederholt, und Gott ist unermüdet, uns zu mahnen und zu wecken. Und sie fingen an alle nach einander sich zu entschul­ digen. Der erste sprach zu ihm: Ich habe einen Acker gekauft, und muß hinausgehen ihn zu be­ sehen: ich bitte dich, entschuldige mich. Und der andere sprach: Ich habe fünf Joch Ochsen

266

Luk. 14, 1^24.

gekauft, und gehe jetzt hin sie zu besehen: ich

bitte dich, entschuldige mich. Und der dritte sprach: Ich habe ein Weib genommen, darum kann ich nicht kommen. Ein jeder hatte eine andere Entschuldigung, aber keine war gültig; denn entweder konn­ ten jene Geschäfte noch warten, oder sie hätten sollen früher oder spater unternommen werden, da die Geladenen die Zeit des Gastmahls wußten. Und derjenige, der ein Weib ge­ kommen hatte, war durch nichts zu kommen verhindert, als durch seinen Mangel an gutem Willen. Er zog es vor sich mit seinem Weibe zu vergnügen, anstatt dem freundlichen Rufe des Wirths zu folgen. So weiß ein Jeder eine Entschuldi­ gung zu finden, warum er dem Rufe zum Reiche Gottes nicht folgen könne, und der Scharfsinn ist darin erfinderisch. Immer sind cs Gründe der irdischen Selbstsucht, aus welchen man den Gnadenruf ablehnt: man habe nicht Zeit, an das Ewige zu denken, da man zu sehr mit irdischen Angelegenhei­ ten, mit dem Erwerbe der Nothdurft u. dgl. zu thun habe; oder man fühlt sich im Irdischen so glücklich und zufrieden^ daß man, wie jener Neuvermählte, gar keinen Trieb fühlt, für das Heil seiner Seele zu sorgen. Und der Knecht kam, und sagte das seinem Herrn wieder. Da ward der Hausherr zornig und sprach zu seinem Knechte: Gehe alsbald auf die Straßen und Gassen der Stadt, und führe die Armen, Krüppel, Lahmen und Blin­ den herein. Und der Knecht sprach: Herr, es ist geschehen, was bit befohlen hast; es ist aber noch Raum da. Und der Herr sprach zu dem Knechte: Gehe aus auf die Landstraßen und an die Zäune (wo sich Wanderer und Bettler aufhalten) und nöthige sie herein zu kommen, auf daß mein Haus voll werde. Diese Armen, Kranken, Fremdlinge und Bettler sind die Heiden, welche früher nicht zum Reiche Gottes eingeladcn waren, die aber den Ruf erhielten, als die Jftaeliten Jesum verwarfen und dem Evangelium Wider­ stand leisteten. Hiermit wollte Jesus den Juden hie ihnen

Luk. 14, 25 — 35.

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so schwer eingängliche Wahrheit andeuten, daß an ihrer Statt die verworfene» Heiden ins Reich Gottes ausgenommen, sie aber verworfen werden würden. Denn er laßt den Haus­ vater hinzusctzen: Ich sage euch, daß der Männer keiner, die geladen sind, mein Abendmahl schmecken wird. Auch wir sollen nicht denken, daß wir als geborne Christen sichere Ansprüche auf das Reich Gottes haben, und stets auf unsrer Hut seyn, daß wir uns nicht des dazu erhaltenen Rufes unwürdig machen. Luk. 14, 25 — 35,

Was von denen gefodert wird, die Jesu nach­

folgen wollen. Da viel Volks mit Jesu ging, sprach er die Anfoderungen aus, die er an seine Jünger machte, und die er schon früher gegen die Apostel ausgesprochen, daß sie nämlich Alles verlassen und sein Kreuz auf sich nehmen müßten (V. 26. 27. vgl. Matth. 10, 37. 38.). Damit nun ein Jeder sich prüfen sollte, ob er zu solchen Aufopferun­ gen den Muth und die Fähigkeit habe, sagte er folgende Gleich­ nisse. Wer ist unter euch, der einenThurm bauen will, und setzt sich nicht zuvor hin, und über­ schlagt die Kosten, ob er es habe hinauszuführen? Auf daß nicht, wo er den Grund gelegt hat, und kann es nicht hinausführen, alle, die es sehen, anfangen seiner zu spotten und sa. gen: Dieser Mensch hob an zu bauen, und kann es nicht hinausführen. Oder welcher König will sich begeben in einen Streit wider einen andern König, und setzt sich nicht zuvor hin, und rathschlagt, ob er könne mit zehntausend

begegnen dem, der über ihn kommt mit zwan­ zigtausend? Wo nicht, so schickt er Botschaft, wenn jener noch ferne ist, und bittet um Frie­ den. Ehe man ein Unternehmen beginnt, muß man seine Kräfte berechnen, ob sie dazu hinreichen; wo nicht, so thut

268

Luk. 15, 1 — 32.

man besser, es zu unterlassen. Dasselbe gilt auch von dem Vorsatze, Nachfolgers Apostel Christi zu werden. Also auch ein jeglicher unter euch, der nicht absagt allem, was er hat, kann nicht mein Jünger seyn. Zum apostolischen Berufe gehörte in der damaligen gefahrvollen Zeit der Muth nöthigenfalls Alles, was man hatte, eheliches und bürgerliches Glück, ja das Leben, hin« zugeben; wer sich nun dazu nicht tüchtig fühlte, der that besser, er wählte diesen Beruf nicht. Christus war weit entfernt, diese Aufopferung allen Christen zur Pflicht zu ma­ chen, auch will er niemand zum apostolischen Berufe locken und überreden, vielmehr schreckte er diejenigen ab, welche dazu nicht die gehörige Kraft und Neigung hatten. Es gibt gewisse höhere Ziele des sittlichen Strebens, welche nicht ein jeder sich vorsetzen und verfolgen soll, sondern die denjenigen Vorbehalten bleiben, welche dazu berufen sind. Wer sich nun dafür entscheiden will, der prüfe sich, ob er der dazu erforderlichen Anstrengungen und Aufopferungen fähig ist. Zu den Opfern, welche die allgemeine Christenpflicht in ge­ wissen Fallen fodert, muß ein jeder sich verstehen; die Wahr­ heit und Gerechtigkeit darf niemand verleugnen, und sollte er darüber Gut und Blut aufopfern müssen. Aber niemand dränge sich zu Unternehmungen, welche ihm ausserordentliche Opfer auflegcn, die über seine Kräfte gehen, und prüfe sich vorher ernstlich. Ueberhaupt fodert der klare Geist des Chri­ stenthums in jeder Hinsicht Selbstkenntniß und Selbstprüfung. Ein christlicher Apostel, der zu dem erwählten Berufe ohne Sekbsiprüfung und die nöthige Willenskraft tritt, ver­ fehlt seine Bestimmung und ist dem Salze gleich, das fade geworden ist (V. 34. 35, vgl. Matth. 5, 13.),

Luk. 15, 1—32. Gottes Vaterliebe gegen die Verlorenen. Pharisäer und Schriftgekehrten machten es in ihrem lieb­ losen geistlichen Stolze Jesu, dem sich allerlei Zöllner und Sünder nährten, zum Vorwurfe, daß er die Sünder annehme

Luk. 15, 1 — 32.

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und mit ihnen esse (93.1. 2. Dgl. Matth. 9, 11 ff.). Da sagte er ihnen einige Gleichnisse, um sie zu lehren, daß der göttlichen Liebe die Rettung verlorener Seelen am Herzen liege. Die eigen V. 4—10. haben wir schon bei Matth.

18, 12 —14. betrachtet; aber neu und besonders der Be­ trachtung werth ist das Gleichniß vom verlorenen Soh­ ne, in welchem die ganze christliche Lehre von der göttlichen Vaterliebe gegen Gefallene und Verlorene und von der Ver­ söhnung mit Gott auf die menschlich ansprechendste Weise dar­ gestellt ist, so daß kein Mißverständniß und Mißbrauch mög­ lich ist. Und diese Belehrung ist um so wichtiger, da sie aus dem Munde Christi selbst kommt, und der unmittelbare Aus­ druck seines Liebe-erfüllten Herzens ist. Ein Mensch hatte zween Söhne, und der jüngste von ihnen sprach zum Vater: Gib mir, Vater, das Theil der Güter, das mir gehöret. Und er theilte ihnen das Gut (V. 11.12.). Wahr­ scheinlich hatte der Vater sich bereit erklärt, seinen Söhnen ihr Erbtheil voraus zu geben, damit sie einen eigenen Haushalt gründen sollten; aber nur der jüngste von ihnen fühlte in sich den Trieb dazu, wahrend der älteste es vorzog, beim Vater zu bleiben. Wie dem auch seyn mochte, so dürfen wir daö Begehren des jüngsten Sohnes nicht als ein schlechthin un­ gebührliches ansehcn, widrigenfalls der Vater ihm nicht würde gewillfahrt haben. Es war der Trieb der Freiheit und Selbst­ ständigkeit, der sich in ihm regte, und der Vater war so ver­ ständig, daß er diesem Triebe nicht widerstrebte. So mässen verständige Eltern ihre Kinder, welche ihren eigenen LebensWeg einschlagcn wollen, gewähren lassen, selbst auf die Ge­ fahr, daß sie sich irren und auf gefährliche Abwege gerathen können. Wollten sie sie beständig unter ihrer Leitung behal­ ten, so würden sie sie hindern, mündig und selbstständig zu werden. Gott hat den Trieb der Freiheit in den Menschen gelegt, obgleich dieser, gemißbraucht, zur Sünde führen kann und geführt hat. Da die ersten Eltern, was gut und böse sey selbst wissen und dazwischen wählen wollten, so sün­ digten sie, und begannen für die ganze Menschheit den Zu-

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Luk. 15, 1 — 32.

stand des Irrthums und der Sünde. Dadurch ist viel Böses und Unheil in die Menschheit gekommen, und die Sünde an sich war strafbar und verwerflich, aber der Trieb zur Frei­ heit mußte, nothwendig hcrvortretrn. Und nicht lange darnach sammelte derjüngsie Sohn alles zusammen, und zog ferne über Land; und daselbst brachte er sein Gut um mit Prassen (V. 13.). Wahrscheinlich trieb er zuerst im frem­ den Lande Handel, welches wohl der Zweck war, um deß­ willen er hingczogen war. Aber er gcrieth dabei auf denAb» weg der Verschwendung, und brachte so sein Vermögen durch. Neben dem Wege zum Guten, den wir mit Freiheit betreten sollen, liegen eine Menge verderblicher Abwege, welche wir nur gar zu leicht wählen. Da er nun alles das Seine verzehret hatte, ward eine große Theurung durch dafselbige ganze Land, und er fing an zu darben (V. 14.). Das Elend und die Noth ist im Ge­ folge der Sünde, und Gott hat dieß weise geordnet, damit der Mensch dadurch seines Fehlers inne werde. Könnte die Sünde glücklich machen, so würde niemand von ihr lassen wollen. Aber der verirrte Sohn wollte sich nicht gleich durch den ersten Andrang der Noth bessern lassen > er suchte sich so gut, als es möglich war, zu helfen. Auch das bewirkte

noch der Trieb der Selbstständigkeit. Er wollte, wenn auch in Noth und Elend, seinen Willen durchsetzen, wollte lieber das schlechte Brod eines Knechts genießen, als bekennen, daß er gefehlt habe, und den Rückweg der Reue antreten. Und er ging hin und hängete sich an einen Bür­ ger dessclbigen Landes: der schickte ihn auf seinen Acker, der Saue zu hüten (V. 15.). Aber auch so entging er der Hungersnoth nicht. Und er be­ gehrte seinen Bauch zu füllen mit Trabern, die die Säue aßen, und niemand gab sie ihm (V. 16.). Sein Herr war so geizig, daß er seine Saue besser nährte, als den Hirten derselben, der vor Hunger beinahe umkam. So weit mußte cs mit ihm kommen, damit er zur Reue getrieben würden Wenn wir daher die unsrigen durch

Luk. 15, 1-32.

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ihre Fehltritte in Noth und Clettd gerathen sehen, so segnen wir das Gericht Gottes, als eine heilsame Züchtigung und Arznei, wodurch der innere Mensch gerettet wird, wenn auch der äussere Schmerzen leidet. Da schlug er in sich und sprach: Wie viele Taglöhner hat mein Vater, die Brod dieFülle haben, und ich verderbe im Hunger (V. 17.). Jetzt ging er in sich und kam zum vollen Bewußtseyn seiner Lage und seiner Verirrung. Das Unglück macht, daß der Mensch in sich geht und ernstlich über sich nachdenkt, wah­ rend das Glück die Neigung zur Zerstreuung und den Leicht­ sinn begünstigt. Da der verlorne Sohn nun. so zur Besin­ nung kam, so ergriff ihn die Erinnerung an den Vater, den er verlassen hatte, um sein Glück zu verscherzen, und bei dem er auch jetzt noch einen bessern Zustand finden konnte, als der gegenwärtige war. Ich will mich aufmachen, und zu meinem Vater gehen. Er faßte den Muth und das Vertrauen, sich an denjenigen zu wenden, den er so sehr beleidigt hatte. Das war die erste gute Regung in ihm. Vertrauen zu der verzeihenden Liebe ist die Stütze, an wel­ cher sich der Gefallene aufrichtet. So ist auch eine der ersten Bedingungen unserer Besserung das Vertrauen zu Gottes Va­ tergüte, welche die rückkchrcndcn Sünder an - und aufnimmt. Aber mit diesem Vertrauen muß Reue und Demuth verbunden seyn; man muß seine begangenen Fehler erkennen und bekla­ gen, und vom Gefühle seiner Unwürdigkeit durchdrungen seyn. Es war das rechte Gefühl der Reue und Demuth, das sich in den Worten des verirrten Sohnes aussprach, wo­ mit er zum Vater treten wollte: Vater, ich habe ge­ sündigt gegen den Himmel und vor dir, und bin hinfort nicht mehr werth, daß ich dein Sohn heiße (V. 18. 19.). Er sieht sein Vergehen als eine Sünde gegen Gott und seine heiligen Gesetze, nicht bloß als Uebertretung menschlicher Ordnungen, an, urd ist mit­ hin tief ergriffen von dem begangenen Unrecht; denn nur das ist wahrhaft Sünde, was gegen das göttliche Gesetz streitet. Er fühlt, daß er die Pflichten eines Sohnes verletzt und mit-

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hin die Würde und das Recht eines solchen verscherzt hak» Und vermöge dieses Demuthsgefühls macht er auch, trotz dem Vertrauen, das er zum Vater gefaßt hat, keinen An­ spruch darauf, wieder als Eohn aufgenommen und in das Recht eines solchen eingefetzt zu werden; er sagt: Mache mich zu einem deiner Taglöhner. Oes ist etwas Rührendes in dieser Demuth! Das Herz, in welchem sie wohnt, ist zwar gebeugt durch das Gefühl der begangenen Sünde, aber es lebt in ihm das Gefühl der Achtung vor dem Gesetze Gottes und des Abscheus vor der Sünde; und indem es sich selbst erniedrigt und verwirft, erhebt es sich wieder zur sittlichen Würde, und gewinnt unsre Liebe und Achtung. Und er machte sich auf, und kam zu feinem Vater. Da er aber noch ferne von dannen war, sah ihn sein Vater, und erbarmte sich, lief und fiel ihm um seinen Hals, und küssete ihn (V. 20.). So handelt die Vaterliebe. Der rückkehrende, be­ reuende Sohn findet das liebende Herz des Vaters offen; diesen rührt sein Elend und Fall, er vergißt allen früheren Schmerz und Unwillen, und gibt sich ganz den Regungen des Erbarmens und der Liebe hin. So handelt die achte mensch­ liche Vatcrliebe, und so die göttliche. Gott verstößt keinen reumüthigen Sünder, sondern nimmt ihn zu Gnaden an, auf daß er sich bekehre und lebe. Diese Liebe mußte das Ver­ trauen des Sohnes sehr beleben; aber hatte sie seine reuevolle Demuth geschwächt, so wäre er ihrer unwerth gewesen. Dieß war nicht der Fall, und er thut vor dem Vater wirklich das Sündenbekenntniß, das er in seinem Elende sich vorgenom­ men hatte. Er bekennt, gegen den Himmel und gegen den Vater gesündigt zu haben, und unwerth zu seyn, daß er sein Sohn heiße (V. 21.). Aber durch dieses Bekenntniß wird er nur der Vaterliebe desto werther. Der Vater, in der Freude, nicht nur den Sohn wieder zu besitzen, sondern ihn auch von seiner Verirrung zurückgekommen zu wissen, befiehlt, ihn festlich zu kleiden und ihm zu Ehren ein Gastmahl anzu­ richten (V. 22. 23.)« Denn, sagt er voll Freuden, die-

Luk. 15, 1 — 32.

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ser mein Sohn war tobt, und ist wieder leberv big geworden; er war verloren, und ist wieder gefunden worden. Und sie fingen an fröhlich zu seyn (V. 24.). So bekleidet auch Gott die reumüthi« gen, gläubigen Sünder mit dem Rocke der Gerechtigkeit, und nimmt sie auf in das selige Leben seines Reiches. — Wie tröstlich ist diese Geschichte für diejenigen/ welche ihrer Sün­ den wegen bange sind, und sich für verstoßen und verworfen haltenl Sie sollen nur aufrichtig bereuen und ihre Sünden verabscheuen, dabei Vertrauen zu Gottes Gnade fassen r so dürfen sie versichert seyn, daß ihnen der Weg zur Seligkeit offen steht. Aber der älteste Sohn, der vom Felde zurückkommenb, den festliche Lermen hörte, und von einem Knechte vernahm, was es für eine Bewandtniß damit habe, ward zornig und wollte nicht hineingehen. Und als der Vater heraus kam und ihn bat, machte er ihm bittere Vorwürfe r Siehe, so viele Jahre diene ich dir, und habe dein Ge­ bot noch nie übertreten; und du hast mir nie einen Bock gegeben, daß ich mit meinen Freun­ den fröhlich wäre. Nun aber dieser dein Sohn gekommen ist, der sein Gut mit Huren ver­ schlungen hat, hast du ihm ein gemästetes Kalb geschlachtet (V. 25 — 30.). Die mißgünstige Verach­ tung, welche dieser Sohn gegen seinen Bruder äußert, ent­ spricht dem Stolze der Pharisäer, mit welchem sie auf die Sünder herabsahen; jedoch ist dieser Sohn wirklich als gutge­ artet, treu und gehorsam bezeichnet, und der Vater ist mit ihm zufrieden, wahrend die Pharisäer oft nur den Schein von Gerechtigkeit hatten. Es gibt in der That gute, unbeschol­ tene Menschen, denen man keine Vergehungen vorzuwerfen hat, die aber zu viel Selbstgefühl haben und zu streng über ihre gefallenen Brüder richten, weil es ihnen an der wahren Liebe fehlt, und weil sie ohne Prüfung geblieben sind, und daher die Gefahren nicht kennen, mit welchen die Tugend des Menschen zu kämpfen hat. Dieser älteste Sohn war frei­ lich schuldlos geblieben, aber er hatte auch nicht den Reiz Bibl. Erbauungsb. II. S

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Luk. 16, 1 — 15.

-er Verführung erfahren; mithin hatte seine Tugend kein großes Verdienst, und er hatte nicht so streng über seinen Bruder richten sollen. — Der Vater suchte ihn ju begüti­ gen. Mein Sohn, sagte er in liebreichem Tone, denn er ist ihm trotz seiner Strenge lieb und werth, so wie auch Gott solche anmaßliche Gerechte nicht verwirft, sondern väterliche Geduld mit ihnen hat — Mein Sohn, du bist alle­ zeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein (V. 31.). Dasjenige, dessen man sich in ruhigem Besitze freut, scheint man zuweilen zu vernachläjsigen; und so hatte auch der Vater diesen seinen ihm treu gebliebenen Sohne kein besonderes Zeichen seiner Liebe, kein Geschenk, womit er sich hatte einen guten Tag machen können, gemacht r aber deßwegen liebte er ihn nicht weniger, und das berechtigte den Sohn nicht zur Mißgunst gegen den so freudig empfan­ genen Bruder. Du solltest aber fröhlich und gu­ tes Muths seyn; denn dieser dein Bruder war todt,und istwieder lebendig geworden; erwar verloren, und istwieder gefunden (V.32.). Wäh­ rend der erste Theil des Gleichnisses den von ihren Sünden und Unvollkommenheiten gedrückten Gemüthern zum Troste gereicht; so mögen die, welche eine günstige Führung vor schweren Fehltritten bewahrt hat, sich den zweiten Theil zu Herzen nehmen, daß sie nicht mit stolzer Strenge auf ihre gefallenen Brüder herabblicken, und sie, wenn sie aufrich­ tige Reue zeigen, mit schonender Liebe behandeln. Luk. 16, 1 — 15.

Vom ungerechten Haushalter, und vom Ge­ brauch der irdischen Güter.

Jesus trug seinen Jüngern ein anderes Glekchniß vor,

um sie zu lehren, daß sie einen klugen Gebrauch von den ir­ dischen Gütern machen sollten. Zum Muster in diesem Ge­ brauche stellt er ihnen das sonst ungerechte und mithin ver-. werflkche, aber, davon abgesehen, kluge und zweckmäßige Betragen eines Haushalters vor.

Luk- 16, 1^-15.

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Der Haushaltev'eines reichen Mannes würd» Lek diesem angeklagt, daß er seine Güter schlecht verwalte und zu Grunde richte, und aufgefordert, Rechnung abzulegen und den Haus­ halt abzugeben. Nun ging er bei sich zu Rache, was er an­ fangen wolle, um zu leben, wenn er sein Amt Verlierer gra­ ben, arbeiten wollte nicht, und zu betteln schämte er sich» Er ergriff daher die Maßregel, einigen Schuldnern seines Herrn etwas Bedeutendes vom ihrer Schuld zu erlassen, damit sie ihn in ihre Häuser aufnehmen und er bei ihnen eine Zu» siucht und Unterhalt fände. Dieß that er, und benutzte die freilich ihm nicht gehörigen Güter auf eine ungerechte, aber doch kluge Weise dazu, sich Freunde zu machen, sich durch Wohlthaten Menschen zu verpflichten, von denen er dann Dank erwarten konnte. Dieses Beispiel sollen nun die Chri­ sten nachahmen. Denn die Kinder dieser Welk, diejenigen, die bloß aus Selbstsucht für ihren Nutzen han­ deln, find klüger, denn die Kinder des Lichts, welche nach Wahrheit und Gerechtigkeit streben, i n i h r e m Geschlecht, gegen ihres Gleichen, im Verhältniß zu an­ dern Weltmenschen (V. 8.). Die Frommen verachten oft den klugen Gebrauch der irdischen Mittel, weil sie unmittel­ bar die höheren Zwecke ins Auge fassen, weil sie mehr im Glauben und in der Betrachtung, als i» der That leben. Machet euchFreunde mit dem ungerechten Mam­ mon, auf daß, wenn ihr abfcheidet*), sie euch aufnehmen in die ewigen Hütten (V. 9.). Wie der Haushalter, sollen wir «ns Freunde mache», aber nicht bloß mit irdischer Selbstsucht für dieses Leben, damit sie uns in die irdischen Hütten aufnehmen, sondern mit dem Hinblick auf unsre ewige Bestimmung, damit wir eine gute Aufnahme in der Gemeinschaft der seligen Geister sinden > für die Be­ förderung des Reiches Gottes auf Erde» sollen wir mittelst der irdischen Güter wirken, damit wir km ewigen Reiche Got­ tes eine Stelle sinden. Christus nennt den Mammon un­ gerecht, weil er meistens mit Ungerechtigkeit erworben k) Luther unrichtig! darvet,

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Luk. 16, 1 — 15.

und genossen wird und zn Ungerechtigkeit verleitet, womit jedoch nicht gesagt wird, daß es nicht auch einen gerechten, gerecht erworbenen und edel benutzten Reichthum geben könne. Er setzt folgendes hinzu, um die Lehre des Gleichnisses noch mehr einzupragen. Wer im Geringsten treu ist, derist auch im Großentreu; undwcr imGeringsten ungerecht (ungetreu) ist,der ist auch im Großen ungerecht: so ihr nun im ungerechten Mammon nicht treu seyd, wer will euch das Wahrhaf­ tige vertrauen? Und so ihr in dem Fremden nicht treu seyd, wer will euch geben, was euer ist? (V. 10 —12.) Er bezeichnet die irdischen Güter als das Geringe, Ungerechte und Fremde, im Gegensatze des Großen, Wahrhaften und dessen, was den Kindern des Lichts eigen ist, welches die geistigen Güter, Wahrheit, Ge­ rechtigkeit und Gottseligkeit sind; und in der That sind jene von geringem Werth, weil sie eitel und vergänglich sind; sie sind ungerecht, weil sie der sinnlichen Natur angehören, oft gemißbraucht werden und zu Sünden reizen; sie sind dem geistigen Menschen fremd, weil sie nur für den Leib und dessen Bedürfnisse vorhanden sind: dagegen sind die geistigen Güter das Große und Wichtige, weil sie einen ewigen Werth ha­ ben; das Wahrhafte, weil in ihnen alle Wahrheit und alles Gute liegt; und das dem geistigen Menschen Eigene, weil sie geistiger Art sind. In Verwaltung beider nun soll der Christ treu seyn, so daß er so viel als möglich wirket; und wenn er cs im Gebrauche des Irdischen ist, so macht er sich dadurch der Verwaltung des Himmlischen würdig. Diejeni­ gen , die nicht im Irdischen für die Zwecke des Reiches Got­ tes zu wirken tut Stande sind, die von aller Klugheit und allem praktischen Sinn entblößt sind, werden auch im Ge­ biete der sittlichen, geistigen Welt wenig wirken. Sind sie

auch voll Eifer und Begeisterung, so werden sie doch nur Ver­ wirrung, Unklarheit und Halbheit stiften und ins Unbe­ stimmte und Unsichere hin wirken. Das Reich Gottes auf Erden bedarf auch irdischer Mittel- Der Mensch muß von unten hinauf zum Höchsten gehoben werden; sein irdifchet

Luk. 16, 1 — 15.

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Zustand muß mit Verstand und Fleiß gesichert und geordnet seyn, damit er sich frei im geistigen Gebiete regen könne; er muß dem thierischen Zustande enthoben seyn, damit er Mensch und Bürger des Reiches Gottes seyn könne- Ein Kind zum Beispiel kann nicht für das Reich Gottes gewonnen werden, ohne daß es leiblich gepflegt, in allem Nützlichen unterrichtet und zu einem brauchbaren Gliede der menschlichen Gesellschaft erzogen werde. Dazu aber bedarf es irdischer Mittel, und eines klugen Gebrauchs derselben. Wer nun die Mittel hat, eine bessere Erziehung der Jugend zu befördern, und sie nicht mit Klugheit anwendetr der ist im Kleinen nicht getreu, und kann es daher auch nicht im Großen seyn. Und dasselbe gilt in noch mehreren Beziehungen.

Aber dieser kluge und pflichtmäßige Gebrauch der irdi­ schen Güter schließt allen Geiz aus: daher Christus vor dem abgöttischen Dienste des Mammons warnt (V. 13. vergl. Matth. 6, 24.). Darüber spotteten die Pharisäer, welche geizig waren (V. 14.). Sie mochten vielleicht sagen: Je­ sus könne wohl leicht zum guten, pflichtmäßigen Gebrauche des Reichthums ermahnen, da er selbst nichts besitze; wenn er reich wäre, so würde er.wohl anders reden. So pflegen oft die Reichen die Ermahnungen der Frommen abzuweifcn. Jesus verachtet ihren Spott, und zeihet sie der Heuchelei. Ihr seyd es, die ihr euch selbst rechtfertiget vor den Menschen, aber Gott kennet eure Her­ zen; denn was hoch ist unter den Menschen, das ist ein Gräuel vor Gott (V. 15.). Erschütternde Worte für die Heuchler! Mögen sie sich noch so künstlich vor den Augen der Menschen mit dem Scheine der Tugend und Frömmigkeit umgeben; Gott durchschaut ihre Herzen, und sieht sie in ihrer innern Unlauterkeit und Verworfenheit. Ja, selbst der Scharfblick der Menschenkenner durchschaut sie, und ein schlechtes Herz läßt sich schwer verbergen.

V. 16. s. Matth. 11,12. V. 17. s. Matth. 5, 8. V. 8. s. Matth. 5, 31.

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Luk. 16,19—31t tut, 16, 19 —3 t«

Vom reichen und armen Manne. Um vor den Gefahren, welche der Reichthum mit sich führt zu warnen, trug Jesus folgendes Gleichniß vor. Ein reicher Mann lebte alle Tage herrlich und in Freu­ den, und kleidete sich mit Purpur und köstlicher Leinwand, ohne (wie man hinzu denken muß) einen vernünftigen Ge­ brauch von seinem Reichthum zu machen, und für das Heil seiner Seele zu sorgen. Ein Armer, mit Namen Lazarus, lag, mit Schwären bedeckt, vor seiner Thüre, um sich von den Brosamen feines Tisches zu sättigen; der Reiche scheint aber seiner nicht geachtet zu haben. Die Hunde erbarmten sich sein und leckten feine Schwüren; er hingegen blieb un­ empfindlich in stinem Wohlleben. Der Arme starb nun, und ward von den Engeln in Abrahams Schooß getragen, d. h. er kam an den Ort der Seligen. Der Reiche hingegen kam in die Hölle, den Ort der Qual. Sie empfingen beide den Lohn ihrer Thaten« Der Reiche, der nur für sinnliche Ge­ nüsse gelebt und sein ewiges Heil vernachlässigt hatte, wurde dafür gestraft; der Arme aber, der unschuldig gelitten unb sein Leiden zum Besten seiner Seele benutzt hatte, erntete die Früchte seiner Prüfung. Vergebens flehcte nun der Reiche, der im Leben so unbarmherzig gewesen war, um ein wenig Linderung seiner Pein. Er bat den Abraham, in dessen Schooß Lazarus lag, diesen zu ihm zu senden, damit ec mit der inS Wasser getauchten Fingerspitze feine Zunge kühlte. JesuS spricht hier ganz bildlich, und man muß nicht glauben, daß er den Zustand der Seligen und Verdammten in jener Welt so schildern wolle, wie er wirklich ist. Er will nur den Un­ terschied des Zustandes beider Verstorbenen recht lebhaft ma­ len, und zeigen,, wie sehr der Reiche gegen den von ihm im Leben verachteten Armen gedemüthigt worden sty. Abraham versagt ihm die erbetene Linderung, und gibt ihm zu beden­ ken, daß er gerecht leide. Gedenke, Sohn, daß du dein Gutes empfangen in deinem Leben, und für nichts als de» Genuß gelebt hast; und Lazarus da-

Luk, 16, 19—31,

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gegen hak Böses empfangen, Hat aber dafür seine Seele empor zu Gott gerichtet: nun aber wird er ge« tröstet und du wirst gepeinigt. Uebrigens ftp es unmöglich , daß Lazarus zu ihm hinüber kommen könne, in­ dem der Ort der Seligen vom Orte der Verdammten durch eine unübersteigliche Kluft geschieden sey. So weit lehrt das Glcichnkß, -aß oft das Schicksal der Menschen auf dieser Erde ganz verschieden ist von ihrem ewi­ gen, und diejenigen, die hier glücklich waren, dort unselig werden unh umgekehrt; daß die Reichen, wenn sie den Lüsten dieser Welt dienen, dort dafür ihre Strafe finden, wahrend der fromme Arme für seine irdischen Leiden getröstet wird; und daß die Entscheidung dieses Schicksals durch das Betra­ gen der Menschen in diesem Leben bedingt, und es zu spat ist, jenseits eine Aenderung bewirken zu wollen. Hier sollen wir uns auf die Ewigkeit horbereiten, hier ein solches Leben führen, daß wir uns der Gnade Gottes in jenem Leben nicht unwürdig machen. Das Glekchniß fahrt fort. Der Reiche bat nun Abra­ ham, er möchte den Lazarus in seines Vaters Haus senden, wo er noch fünf Brüder habe, daß er ihnen bezeugte, sie er­ mahne, damit sie nicht auch verdammt würden und an diesen Ort der Qual kamen. Abraham aber antwortete: Sie ha­ ben Mosen und hie Propheten« hie Schriften des Alten Testaments: die mögen sie hören, dadurch mö­ gen sie sich mahnen lassen. Jener erwiederter Nein, Va­ ter Abraham, sondern wenn einer von den Tod­ ten zu ihnen käme, so würden sie Buße thun, Abraham aber sprach: Hören sieMosen und die Pro­ pheten nicht, so werden sie auch nicht glauben, wenn einer von den Todten auferstünde. Eine wichtige Belehrung ! Gibt der Mensch der Wahrheit nicht um ihrer selbst willen Gehör, so glaubt er auch nicht, wenn Zeichen und Wunder geschahen. Solche würden ihn viel­ leicht, wenn er sie nicht etwa bezweifelte und für einen Trug seiner Sinne hielte, aufschrecken und erschüttern; aber er würde darum doch nicht sein Herz bessern, so daß er bas Gute

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Luk. 17, 7 — 10.

mit freier Liebe umfaßte; er würbe vielleicht aus Furcht das Döse meiden, aber nicht von Herzen das Gute thun. Darum laßt uns unsre Herzen der Wahrheit öffnen, und nicht, um sie zu erweisen und zu bestätigen, nach Zeichen und Wunder uns umschauen, welche doch keinen wahrhaften, sellgmachenden Glauben bewirken können!,

Luk. 17$ 1—4. s Matth. 18, & 7; 15—22. V. 5, 6. p Matth. 17, 20.

Lnk. 17, 7—10. Gegen die Lohnsucht. CS scheint, daß die Jünger oder Andere eine anmaßliche Zuversicht auf ihre frommen Verdienste geäußert, und An« spräche auf Belohnung gemacht hatten, wogegen Jesus die­ ses Gleichniß vortrug. Ein Hausherr, der einen Knecht hat, der von der Landwirthfchast heim kommt, wird ihn nicht sogleich ruhig sein Abendessen einnchmen lassen, sondern ihm befehlen, daß er zuvor ihm selbst ein solches zurichte und ihn bei Tische bediene, .und dann erst wird er ihm auch erlauben zu essen und zu trinken. Er wird aber dem Knechte für die Mühe, die er hat, nicht einmal danken; denn dieser hak nichts als seine Schuldigkeit gethan. Also auch ihr, wenn ihr alles gethan habt, was euch befohlen ist, so sprechet: wir sind unnütze Knechte; wir haben gethan, was wir zu thun schuldig waren. Nie soll der wahre Diener Gottes glauben, er habe genug gethan und auf Lohn und ruhigen Genuß desselben Ansprüche machen; es bleibt ihm immer noch genug zu thun übrig, und er wird nie fertig; was er gethan, ist doch nur unvollkom­ men, und er bleibt mit allem seinem angeblichen Verdienst ein unnützer Knecht. So beurtheilt sich die wahre gottgefällige Demuth und der unermüdliche Eifer, Gutes zu thun und auf der Bahn nie stille zu stehen. Wer dagegen sich ein Ver­ dienst bcimißt und Lohn begehrt, der gibt einen trägen Willen und die Neigung, da stehen zu bleiben, wo er steht, zu er­ kennen. Denn wie hoch auch einer stehe, immer bleibt noch

Lttk. 17, 11 — 19.

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eine unendliche Höhe zu ersteigen, bis er das Ziel der Voll­ kommenheit erreicht und seine ganze Pflicht erfüllt hat.

Luk. 17, 11 — 19.

Von den zehn Aussätzigen. Auf der Reise nach Jerusalem zog Jesus mitten durch Samaricn undEalilaa; und da er in einen Marktflecken kam, begegneten ihm zehn Aussätzige, die, nach der Sitte, von ferne stehend (damit sie niemanden ansteckten), Jesum um Er­ barmen anfleheten. Jesus sprach zu ihnenr Gehet hin, uyd zeiget euch den, Priestern. Und indem sie hin­ gingen, wurden sie rein. Jesus heilte sie durch sein Wort; er wollte sie aber dadurch nicht ihrer gesetzlichen Pflichten entbinden, und die hergebrachte Ordnung stören, sondern wicß sie an ihre Priester. Er bewies dadurch zugleich eine anspruchlose Bescheidenheit, welche ihr Verdienst eher ver­ hüllt, als zur Schau tragt, und eine schonungsvolle Achtung gegen die bestehende gottesdienstliche Ordnung, und zwar gegen die samaritische sowohl, als die jüdische. Denn unter den Aussätzigen war ein Samariter, den er ebenfalls zu sei­ nen Priestern wies. Daß er nun das jüdische Gesetz achtete, darf uns nicht auffallen; denn er war nicht gekommen, das Gesetz aufzuheben, sondern zu erfüllen (Matth. 5, 17.). Aber daß er eine solche Achtung gegen den samaritischen Got­ tesdienst beweist, den er doch nach einer anderweit gegebenen Erklärung dem jüdischen nachsetzte (Joh. 4, 22.), lehrt uns, daß selbst ein unvollkommner, mangelhafter Gottesdienst Ach­ tung verdient und pflichtinaßig beobachtet und benutzt wer­ den muß. Der Mensch bedarf der Erinnerungs- und Anre­ gungsmittel der äußeren Formen und Gebrauche zur Bele­ bung seiner Frömmigkeit, und die kirchliche Gemeinschaft stärkt und hebt ihn. Einer nun von den Aussätzigen, da er sah, daß er gesund geworden, kehrte um, pries Gott mit lauter Stimme, fiel zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter. Da sprach Jesus: Sind ihrer nicht zehn rein ge-

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Luk. 17, 20 — 2,1.

worden? wo find aber dieneune? Hat sichfonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, und gä­ be Gott die Ehre, denn dieser Fremdling? Die­ ser Dankbare beschrankte sein« Frömmigkeit nicht auf die Beobachtung der öffentlichen gottesdienstlichen Formen, son­

dern folgte seinem erregten Herjen, so daß er unmittelbar auf seine eigenthümliche Weise seinen frommen Dank aus­ sprach. Und Jesus billigte dieses nicht nur, sondern erwar­ tete es als eine nothwendige Pflicht: mithin fodert er zu der Beobachtung des öffentlichen Gottesdienstes noch eine leben­ dige, eigenthümliche Frömmigkeit hinzu, und will, daß wir, jeder frommen Erregung folgend, an jedem Ort und kn jeder Lage des Lebens Gott dienen, und ihm die Ehre geben. Da­ durch gewinnt der Samariter, der Diener des unvollkomme­ nen Gottesdienstes, den Juden, deren Gottesdienst besser war, den Vorzug ab: und so kann noch jetzt daö Mitglied einer kirchlichen Gesellschaft von weniger richtigem Lehrbegriff und unvollkommnern Gebräuchen, durch die lebendige, eigen­ thümliche Frömmigkeit, die ihm sein Herz lehrt, den Vorzug vor den Mitgliedern der bessern Kirche verdienen. Der öffentli­ che Gottesdienst ist nöthig und achtungswerth, aber das Herz muß dabei seyn, und stch auch stmst im lebendigen Ausdruck­ frommer Gefühl- kund geben.

Luk. 17, 20.21.

Wenn das Reich Gottes kommt? Die Pharisäer fragten Jesum: Wann kommt das Reich Gottes? Sie mögen diese Frage aus Spott gethan haben, wie jene: ob nur wenige selig würden (Luk. 13,23.); aber der Grundfehler, der dieser Frage zum Grunde liegt, ist der Wahn, daß das Reich Gottes etwas Sichtbares, Aeußcrliches, gleichsam mit Händen zu Greifendes sey. Sie dachten es sich als eine weltliche Anstalt, oder als etwas, das, wie durch einen Zauberruf, mit einem Male hervorge­ bracht werden könne, oder das, wie der Frühling plötzlich nach verändertem Winde eintritt, stch in kurzer Zeit entwickeln

Luk. 18, i—a.

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werde. Jesus antwortete ihnen; DaS Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden (ober wörtlich: mit Beobachtung, so daß es beobachtet werden könnte); man wird auch nicht sagen;

Siehe, hier ober da ist eSr denn siehe, daS Reich Gottes ist inwendig in euch. EsistSache des Herzens und der Gesinnung; nur derjenige ist Bürger desselben, der den Willen Gottes kennt und tfyit, dessen in­ nerer Mensch ganz der Sache Gottes geweihet ist. Bei uns herrscht nicht wehr jener Wahn, daß das Reich Gottes welt­ licher Art sey, und in einer sichtbaren Gestalt der Dinge er­ scheinen werde; aber Viele setzen es in Glaubenssätze, heilige Worte und Formeln, In fromme Gebräuche und Uebungen und ähnliche Dinge, die doch auch mehr oder weniger äußer­ lich sind, und nicht unmittelbar dem Herzen angehören; Viele verwechseln es mit der Kirche, welche bloß die äußere Vorbereitungsanstalt desselben ist. . Solche alle mögen sich das Wort Jesu merken; Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden. Luk, 17, 22—37, wollen wir bei Matth. 24, abhaadeln,

Luk. 18, 1—8. Daß man mit dem Gebete nicht nachlassen soll. Er sagte ihnen ein Elekchniß davon, daß man alle­ zeit beten und nicht laß werden sollte, ähnlich

jenem, das Luk. 11, 5 ff. dagewesen ist, und welches lehrt, daß ein ernstlich fortgesetztes Gebet endlich Erhörung findet. Es war ein Richter in einer Stadt, der weder Gott fürchtete noch einen Menschen scheuete, der also unempfindlich war gegen alle Gründe des Rechts und der Billigkeit. Zu die­ sem kam eincWittwe, und hat ihn, sie von ihrem Widersacher zu retten, ihr Recht und Hülfe zu schaffen. Er aber wollte lange nicht; die gerechte Sache der Wittwe konnte ihn nickt bewegen, sich ihrer anzunehmcn. Endlich aber, weil die

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Luk. 18, 0—14.

Wittwe ihm viele Mühe machte und ihm beständig mit Bit­

ten zusctzte, entschloß er sich, ihr zu helfen. That nun der ungerechte Richter solches, wie viel mehr Gott. Sollte Gott nicht auch retten seineAuserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, ob er gleich ge­ gen sie verziehet *), d- h. die Hülfe eine Zeit anstehcn lasset? Ich sage euch: er wird sie erretten in Kürze (V. 7, 8.). Es ist hier die Rede von der Hülfe, welche Gott den im Kampfe mit den Bösen begriffenen Mit­ gliedern des Reiches Gottes sende, von dem Siege, den die­ ses davon tragen werde, also von einer geistlichen Hälfe. Nur in demjenigen, was des Geistes ist, was zum Heil un­ srer Seele dient, sollen wir die volle Zuversicht auf die Er­ füllung unsrer Gott vorgetragcnen Wünsche haben (vcrgl. Luk.-I l, 13.); in weltlichen Angelegenheiten hingegen sollen wir eingedenk seyn, daß unsre Gedanken nicht immer Gottes Gedanken sind, und daß es sein heiliger Wille nicht gutfinden kann, unsre Wünsche zu erfüllen; in Hinsicht solcher Bitten soll unsre Zuversicht mit Selbstverleugnung und Entsagung verbunden seyn. — Jesus setzt hinzu: Doch wenn der Menschensohn kommen wird, wenn jene Hülfe Got­ tes, und der Sieg seines Reichesauf Erden eintreten wird, meinest du, daß er auch werde Glauben finden auf E.rhen? (V. 8.) Dafür hat ein jeder zu­ nächst zu sorgen, daß er den rechten Glauben bewahre, da­ mit er an dem Siege des Reiches Gottes mit Theil nehmen, daß er selbst an seinem Theile dazu beitragen könne. Waren alle gläubig, so wäre dieser Sieg entschieden und aller Kampf beendigt. Laßt uns also mit unserm Gebet um die Hülfe Gottes in Kampf und Noth das Streben verbindet», uns im Glauben zu lautern und zu befestigen! Luk.'18, 9 — 14,

Vom Pharisäer und Zöllner. Er sagte zu etlichen, die sich selbst verma-

*) Luther falsch: und sollte Geduld darüber haben.

Luk. 18, 9—14.

285

ßen fromm zn seyn, und die Andern verachte« ten, dieses Gleichniß (V. 9.). Es gingen zween Menschen hinauf in den Tempel, zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner

Matth. 22, 1—14. Glekchniß vom königlichen Gastmahl.

Ein ähnliches Gleichnkß hat Jesiis schon früher Luk. 14,

16 ff. vorgctragen. Ein König machte seinem Sohne Hoch­ zeit, und sandte seine Knechte aus, die Gäste zu rufen; aber sie wollten nicht kommen. Er sandte andere Knechte, aber die Gaste verschmähetcn auch diese zweite Einladung; ja, etliche ergriffen sogar die Knechte und mißhandelten und tob« teten sie. Hiermit deutet Jesus wiederum auf die Aufnahme und Behandlung, welche die Propheten bei den Israeliten

316

Matth- 23, 1—14.

gefunden (vgl. Kap. 21, 33 ff.); denn diese sind die Gaste,

und die Hochzeit ist das Reich Gottes, zu welchem das Volk Israel langst cingeladcn war. — Da das der König hörte, nahm er Rache, sandte seine Heere aus, und liest diese Mörder umbringcn und ihre Stadt anzünden. Damit ist wie­ derum der Untergang der jüdischen Nation angcdeutet. Nun laßt der König andere Gäste einladen, da die früheren der Einladung sich unwürdig gemacht hatten. Er sendet seine Knechte auf die Straßen, und heißt sie einladen, wen sie finden würden; und diese brachten zusammen Böse und Gute, Würdige und Unwürdige, so viel, daß alle Tische voll wur­ den. Damit sind die Heiden gemeint, an welche der Ruf der Gnade erging, nachdem die Juden ihn verschmäht hatten. Aber wenn auch allen der Zutritt offen stand, so konnten doch nur diejenigen bleiben, welche sich der Stelle würdig machten. Da der König hinein ging die Gaste zu besehen, fand er ei­ nen, der kein hochzeitliches Kleid anhatte, wie es die Würde deS Festes erfoderte, und sprach zu ihm: Freund, wie bist du herein gekommen und hastdo-ch kein hoch­ zeitliches Kleid an? Er aber verstummcte. Man sollte glauben, er hatte zu seiner Entschuldigung anführen können daß er aus Armuth kein solches Kleid habe anlcgcn können.

Aber wahrscheinlich erhielten die Gaste von der Freigebigkeit des königlichen Wirthes Feierkleider, und dieser East hatte nur aus Unachtsamkeit keinen Gebrauch davon gemacht, so daß es ganz seine Schuld war, daß er ohne anständige Be­ kleidung erschien. So hängt es nicht ganz von dem eigenen Vermögen der Menschen ab, welche zum Reiche Gottes ein­ geladen werden, desselben würdig zu erscheinen. Sie können und sollen zwar Buße thun und gleichsam das alte schmutzige Sündenkleid ablegen, aber das neue reine Kleid der Gerech­ tigkeit wird ihnen geliehen, und sie haben es nur anzulegen r ohne ihr .Verdienst wird ihnen die Gnade Gottes, die Anre­ gung und Kraft zur Besserung, die Erkenntniß der Wahrheit, der neue, bessere Geist, angebotcn und mitgetheilt, und bloß Empfänglichkeit und das Bestreben, sich die neuen Güter anzueignen, von ihnen gefodert. So war es, als der Ruf,

Matth. 22. 15—22.

317

das Reich Gottes auf Erden zu stiften zum ersten Mal an die Menschen erging; und so ist es, wenn an uns, die wir schon einen gewissen Antheil daran haben, die Mahnung ergeht, was von Zeit zu Zeit geschieht, das christliche Leben zu er­ neuern und zu vervollkommnen. Gerade unsre Zeit ist reich gewesen an solchen Mahnungen, Besseres zu schaffen, unser bürgerliches und kirchliches Leben dem Urbildc des Reiches Gottes naher zu bringen. Das Bessere wird uns ohne un­ ser Zuthun gebracht, wenn wir es nur annehmen wollen; das Licht der Wahrheit hat sich geoffenbart, ohne daß wir es ge­ rade selbst durch unser Forschen gefunden haben; es ergreift uns ein neuer besserer Geist, der sich von oben über unsere Zeit ausgcgossen hat: es ist daher nicht unser Verdienst, wenn wir besser werden, aber unsre Schuld, wenn wir es nicht wer­ den. So war cs also nicht ungerecht, daß jener König den, der kein hochzeitliches Kleid anhatte, als einen Unwürdigen, an Handen und Füßen gebunden, hinaus in die Finsterniß werfen ließ. Er hatte es selbst verschuldet, daß er der hoch­ zeitlichen Freude verlustig ging; er hatte das Licht nicht ge­ liebt, darum wurde er der Finsterniß preisgegeben. Jesus schließt das Gleichniß mit den wichtigen Worten: Denn Viele sind berufen, aber wenige sind auSerwählet (V. 14.). Gott will alle selig machen, und er ist fern von partheilicher Vorliebe, so daß er das Heil nur Et­ lichen bestimmt hatte; aber demungeachtet erwählt er nur Wenige zum wirklichen Genusse feiner Gnade, weil sich nur Wenige derselben würdig machen. Er verwirft niemand, aber Viele verwerfen sich selbst durch Unbußfcrtigkeit und Unglauben. Mtth. 22,15—22. Mk. 12,13—17. Lk. 20, 20—25.

Vom Zinsgroschen. Nach gehaltener Berathschlagung legten die Pharisäer und Jesu übrige Feinde ihm durch ihre Jünger und die Die­ ner des Herodes eine verfängliche Frage vor. Sie zogen letztere dazu, weil die Frage politischer Art war, und sie in

318

Matth. 22, 15—22.

der Erwartung standen, Jesus werde ste auf eine der Hero« Liam'schen Parthei mißfällige Art beantworten. Die Abgesandten eröffneten ihre Rede auf eine sehr schmeichelhafte Art: Meister, wir wissen, daß du wahrhaft bist, und lehrest den Weg Gottes recht, und fragst nach niemanden; denn du achtest nicht das Ansehen der Menschen (Mtth. 16. Mk. 14. Lk. 21.). Hiermit

gaben ste sich das Ansehen, als sey es ihnen um Wahrheit zu thyn, und wollten ihn zur Offenheit verleiten. Ihre Frage war: Ist es recht, daß man dem Kaiser Zins ge­ be oder nicht? (Matth. 17. Mk. 14. Lk. 22.), und der

Sinn derselben: ob es nicht den Grundsätzen der alten, von Gott gegründeten Verfassung, nach welcher Gott allein der wahre König Israels seyn sollte, und somit den Pflichten ge­ gen Gott zuwider laufe, einen fremden Herrscher dadurch anzuerkcnncn, daß man ihm Steuern bezahlte? Die strengen Vatcrlandsfreunde verneinten diese Frage, und es gab eine Parthei unter den Juden, welche sich der kaiserlichen Schaz« zung widersetzt und deßwegen Unruhen gestiftet hatte. Jesus merkte ihre Schalkheit, und sprachr Ihr Heuch­ ler, was versuchet ihr mich? (Mtth. 18. Mk. 15. Lk. 23. 24.). Er hätte nun sie geradezu mit ihrer Frage abweisen können, indem er der Wahrheit Kemäß geantwortet hätte: MeinReich ist nicht von dieser Welt, oder: Wer hat mich zum Richter oder Erbschichter über euch gesetzt? (Luk. 12,14.). Aber ihre Arglist verdiente nicht eine so offene Erklärung, sondern eine beschä­ mende Abfertigung. Er ließ sich die Münze zeigen, in wel­ cher die Steuer an den Kaiser entrichtet zu werden pflegte, und sie reichten ihm einen Denar, eine von den Kaisern ge­ prägte Münze, dar. Er fragte sie, weß das.Bild und die Ueberschrift sey, welche die Münze trug, und sie antworteten; des Kaisers. Nun war der Umlauf des römischen Geldes in Judäa ein Beweis, öaß dieses Land sich

in der Gewalt der Römer befand, daß die Juden mit ihnen in Verkehr standen, sich ihrer Herrschaft unterworfen und ihre Gesetze anerkannt hatten; und wenn sie an den römischen

Matth. 22, 15—22.

319

Kaiser Zins zahlten, so gaben sie gewissermaßen nur zurück,

was sie von ihm empfangen hatten, und ihm nach der Lage der Dinge schuldig waren. Und so gab ihnen Jesus die An!« wort: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist: die Münze gehört dem Kaiser, eurem Oberherrn, mithin müßt ihr ihm die darin zu entrichtende Steuer bezahlen. Da« mit sagte er ihnen nicht, daß es vom politischen Stand­ punkte aus, recht sey, dem Kaiser Steuer zu entrichten, und entschied die politische Streitfrage nicht, sondern er wies sie nur an die Lage der Dinge, welche es so mit sich brachte, daß sie dem Kaiser Unterthan und steuerpflichtig waren, und um­ ging die Streitfrage, als nicht in seinen Kreis gehörig. Je­

doch erklärte er noch, daß es nicht wider das Gewissen sey, diese Steuer zu entrichten, da die Pflicht gegen Gott von ganz anderer Art, als die politische Steuerpflichtigkeit, und das Reich Gottes vom weltlichen Staate verschieden sey, daß man also Gott dienen und doch einem fremden Herrn gehor­ chen könne: Und setzte er hinzu: gebet Gott, was Got­ tes ist: Dienet Gott in dem, was Gottes ist, in der Er­ füllung seiner heiligen Gesetze, durch Gottesfurcht und Men­ schenliebe (Matth. 21. Mk. 17. Lk. 25.). Damit gab aber Jesus nicht, wie man ihn oft mißverstanden hat, eine gänz­ liche Gleichgültigkeit gegen das Staatswesen zu erkennen. Gewiß hielt er es für gerechter vom politischen Standpunkte aus, daß ein Volk seiner Selbstständigkeit genießt und unter vaterländischen Gesetzen lebt; aber er sah auch die Nothwen­ digkeit ein, sich dec Gewalt der Umstände zu fügen, haßte Aufruhr und Krieg, und erkannte es klar für seinen Beruf, ohne Einmischung in politische Händel die Menschen rein auf das Reich Gottes hinzuweisen, welches über alle politi­ schen Formen erhaben ist. In dieser Antwort Jesu vereinigt sich die höchste Weisheit mit der höchsten, reinsten Klugheit und dem treffendsten Witze; sie ist, wie es der Apostel fodert, mit Salz gewürzt.

Lange Reden sage» nicht, was die wenigen Worte sagen: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und

320

Matth. 22, 22—33.

Gott waS Gottes ist, und ihr Sinn laßt sich leichter fühlen, als erläutern und aussprechen.

Matth. 22, 23—33. Mk. 12,18—27. Lk. 20, 27—40.

Von der Auferstehung. Auch die Sadducäer legten ihm eine Frage vor, und zwar über einen Punkt, über welchen sie mit den Pharisäern strei­ tig waren, nämlich über die Auferstehung, welche sie, als nicht in den Büchern des A. T. enthalten, leugneten, diese aber behaupteten. Vielleicht war es ihnen um Belehrung zu thun, vielleicht auch fragten sie bloß aus Streitsucht und Rechthaberei. Ihre Frage war so gestellt, daß sie eine im mosaischen Gesetze gegründete Schwierigkeit gegen die Lehre

von der Auferstehung aufwarf, welche Jesus heben, oder anerkennen sollte, daß jene Lehre sich nicht mit der göttlichen Offenbarung vertrage. Namentlich wollten sie zu verstehen geben, daß das von Mose gegebene oder vielmehr bestätigte Gesetz der sogenannten Leviratsehe, oder die Einrichtung, daß derjenige, dessen Bruder ohne Leibeserben ersterben, dessen hinterlassene Wittwe ehelichen und ihm mit ihr einen Erben zeugen mußte, damit sein Name in den Geschlechtsregistern nicht unterginge, sich nicht damit vertrage. Meister, Mose hat gesagt (5. Mose 25, 5.): So einer stirbt, und hat nicht Kinder, so soll sein Bruder sein Weib freien, und seinem Bruder Samen er­ wecken. Nun sind bei uns gewesen sieben Brü­ der. Der erste freite, und starb; und dieweil er keinen Samen hatte, ließ er sein Weib sei­ nem Bruder. Desselbigen gleichen der Andere, und der Dritte, bis an den Siebenten. Zu­ letzt nach allen starb auch das Weib. Nun in der Auferstehung, wessen Weib wird sie seyn unter den Sieben? Sie haben sie alle gehabt (Matth. 24—28. Mk. 19—23. Lk. 28—33.). Dieser Einwurf gegen die Auferstehung war unter der Voraussez« jung gemacht, daß in derselben der irdische Mensch wieder

Matth. 22, 22—33.

321

neu belebt werden und ein dem irdischen Leben ganz ähnliches Daseyn mit allen leiblichen Bedürfnissen und Trieben, mithin auch mit dem Triebe der Fortpflanzung und dem Bedürfnisse der Ehe, beginnen werde; und unter dieser Voraussetzung war der Einwurf sehr treffend. Mose konnte doch in der Leviratsehe nichts gestiftet haben, was mit dem zweiten Le­ ben in Widerspruch stehen und Verwirrung in dasselbe brin­ gen mußte. Jesus antwortete: Ihr irret und wisset die Schrift nicht, noch die Kraft Gottes (Mtth. 29. Mk. 24.). Ihr Jrthum entsprang aus einer doppelten Quelle, einmal aus Mangel an lebendigem, tiefem Verständ­ nisse der Schrift, weßwegen sie wähnten, die Lehre von der Auferstehung sei nicfyt in der Schrift enthalten, und dann aus einem eingeschränkten Begriffe von der schöpferischen Allmacht Gottes, vermöge dessen sie sich vorstellten, Gott könne im Le­ ben nach dem Tode nichts thun, als das alte, irdische wie­ derherstellen, nicht aber etwas Neues und Vollkommneres schaffen. Die Sadducacr dachten in dieser Hinsicht, wie so Viele bei uns, welche das Fortlebcn nach dem Tode für nichts weiter halten als eine Fortsetzung des irdischen Lebens, weil sic sich von den Gesetzen der irdischen Ratnr nicht losmachcn und ihre Gedanken nicht zu etwas Höherem erheben können. Dieser Glaube ist aber sinnlich nicht bloß in Ansehung der damit verknüpften Vorstellungen, sondern auch in Ansehung der Gesinnungen, welche dadurch genährt werden, und ganz selbstsüchtig sind. Man will nichts von dem verlieren, was man in diesem Leben liebt, und daher dort alles wieder­ finden, was man hier besitzt, und wie man es besitzt. Mau glaubt nicht recht an die Kraft Gottes, welche unendlich und unbegreiflich ist, sondern hält sich bloß an die uns bekannten Kräfte der irdischen Natur; und darum stellt man sich jenes Leben so irdisch vor; auch unterwirft man sich nicht demüthig genug seiner Allmacht, so daß man ihr gern alles Hingabe, was sie uns entreißt. In der Auferstehung werden sie weder freien noch sich freien lassen, können auch nicht sterben, sondern sie sind gleichwie die Engel Gottes im Himmel und Söhntz EotBibl. Erbauungsb. IL 3E

322

Matth. 22, 22—33.

t e s. (Matth. 30. Mk. 25. Lk. 35. 36.) Wer die Kraft Gottes kennt, der traut ihr zu, daß sie viel höhere Lebens­ bildungen, als diese irdischen sind, Hervorrufen kann, Lebens­ bildungen, welche über irdische Triebe und Bedürfnisse und über den Wechsel von Geburt und Tod erhaben sind, Lebens­ bildungen, welche wir uns mit unserm irdischen Verstände gar nicht bestimmt vorstellcn können. Jesus vergleicht die Auferstandenen mit den Engeln Gottes, und nennt sie Söhne Gottes, womit zwar keine bestimmte Vorstellung gegeben, aber der frommen Ahnung ein weiter Spielraum er­ öffnet ist; wir werden in der andern Welt ungleich edlere, himmlische und rein geistige Geschöpfe seyn, werden Gott besser und reiner dienen, und mit ihm in näherer Gemein, schäft stehn. Verlangt der Glaube mehr, kann etwas erhe­ bender und tröstender seyn, als diese Verheißung? Und zu­ gleich reinigt sie uns von aller Selbstsucht: dort werden wir Gott und seinem heiligen Willen leben, und ihm so innig angehören, wie gute Kinder ihrem Vater.— Nunmehr über­ führt Jesus die Sadducacr des Irrthums, daß in der Schrift dss A. T., namentlich in den mosaischen Schriften, nichts von der Auferstehung gelehrt sey. Habt ihr nicht ge­ lesen, das euch gesagt ist von Gott, da er spricht: Ich bin der Gott Abrahams, und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs (2.Mose 3, 6.)? Gott aber ist nicht ein Gott der Todten, sondern der Lebendigen (Matth. 31. 32. Mk. 26. 27. Lk. 37. 38.). Deutlich gelehrt hat Mose freilich die Unsterblichkeit nicht, sie aber vorausgesetzt als die Grundlage alles frommen Glaubens. Wenn Gott durch ihn sich den Israeliten als den Gott ihrer Vater zu erkennen gibt, so sagt er damit, daß diese noch immer leben und mit ihm in Gemeinschaft stehen, wie ehedem, und nicht zu Nichts gewor­ ben sind. Waren sie nach ihrem Tode nichts mehr, so wäre Gott ein Gott der Todten, nicht der Lebendigen; er hätte sich mit dem Nichtigen in Gemeinschaft gesetzt, und Nichtiges gewirkt, indem er jene Väter leitete und sich ihnen offenbarte; die Gemeinschaft mit ihnen hätte aufgchört, mithin hätte Gott

Matth. 22, 34 — 40.

323

sich auf etwas Nichtiges berufen, indem er sich auf dieselbe beruft. Gott aber ist ein Gott der Lebendigen und lebendig, ewig lebendig ist, was er schafft, worauf er wirkt und wo­ mit er in Gemeinschaft steht. So sollen wir immer die Schrift ihrem Geiste und nicht dem Buchstaben nach ver­ stehen.

Matth. 22, 34—40. Mark. 12, 28 — 34.

Vom größten Gebot.

Einer der Pharisäer legte Jesu, in der Absicht ihn zu ver­ suchen, die Frage vor, welches das vornehmste Ge­ setz sey? (Matth. 36, Mk. 28.). Jesus antwortete; Du sollst Gott deinen Herrn lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Ge­ müth: das ist das vornehmste und größte Ge­ bot; das andere aber ist dem gleich; Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst. J.n die­ sen zweien Geboten hanget das ganze Gesetz und die Propheten (Mtth. 37—40. Mk. 29—31.). Gottcslicbe und Nächstenliebe ist an sich eins; denn Gott ist die Liebe, und will, daß wir den Nächsten lieben; wer nur ihn liebt, der liebt auch den Nächsten. Freilich bilden sich Manche ein, sie lieben Gott, und lieben doch den Nächsten nicht; diese aber betrügen sich selbst. So jemand spricht: ich lie­ be Gott, und hasset seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinenBrüder nicht liebet,den er siehet, wie kann der Gott lieben, den er nicht siehet? (I.Joh.4, 20.). Darum setzt Jesus dem ersten Eeböte der Gottcslicbe das zweite der Nächstenliebe zur Seite, um' jenem dadurch einen bestimmten Gehalt zu geben, da man cs leicht mißverstehen und verfehlen kann. In beiden Geboten ist nun das ganze Gesetz und die Propheten, d. h. alles, was im A. T. von sittlichen Geboten vorkommt, enthalten r aus dieser Liebe fließt alles sittlich Gute, wie ans seiner Quelle, und wer sie im Herzen trägt, der wird in allen Fallen des Lebens thun, was gut und Gott wohlgefällig ist. Euchen X 2

324

Matth. 22,41—46.

wir daher unser Herz mit dieser Liebe zu erfüllen, so bedürfen wir keiner andern Gebote und Vorschriften» unser Herz lehrt uns selbst, was wir zu thun haben. Markus, welcher dem Fragenden keine hinterlistige Ab­

sicht zuzuschreiben scheint, führt an, daß er zu Jesu gesagt habe; Meister, du hast wahrlich recht geredet; denn es ist Ein Gott und ist kein anderer au­ ßer ihm, und denselbigen lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüth, von ganzer Seele und von allen Kräften ist mehr, denn Brand­ opfer und andere Opfer. Da nun Jesus sah, daß er vernünftiglich antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht ferne vom ReicheGottes (Mk. 32—34.). In der That war die Rede des Schrift­ gelehrten vernünftig und zeugte von Einsicht in das Wesen der Frömmigkeit, wie solches schon die Propheten des A. T. erkannt hatten (Hof. 6, 6.). Aber indem Jesus ihn mit dieser Gesinnung als dem Reiche Gottes nahe stehend erkannte, erklärte er, daß das Wesen des Reiches Gottes in der wah­ ren Gottes- und Menschenliebe bestehe, und Alles andere nur Weg und Mittel dazu sey. Er fodcrte nicht von ihm, daß er an ihn glauben sollte, weil es sich schon von selbst ver­ stand, daß wer so dachte, auch Jesum als den wahren Got­ tesgesandten erkannte, und zu ihm Zutrauen hatte. Man kann an Jesum glauben, d. h. wähnen an Hn zu glauben, ohne die wahre Gottes - und Nächstenliebe zu haben; man kann aber nicht von dieser lebendig erfüllt seyn, ohne den wahren Glauben an Christus zu haben. Matth. 22,41—46. Mk. 12, 35—37. Lk. 20,41—44; Jesus legt den Pharisäern eine Frage vor.

Da nun Jesus Alle zum Schweigen gebracht hatte, und niemand mehr ihn zu fragen wagte (Lk. 20, 40. Mk. 12, 54.) r so legte er seinen Gegnern selbst eine Frage vor; Was dünket euch von Christo? weß Sohn ist er? Sie sprachen: Davids. Er fragte nun weiter: Wie nen-

Matth. 23.

325

net ihn denn David im Geiste, in der prophetisch«

dichterischen Begeisterung, einen Herrn, da er sagt: Der Herr hat gesagt zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis daß ich lege deine Feinde zum Schemel deiner Füße! (Ps.110,1.) So nun David ihn einen Herrn nennt, wie ist er denn sein Sohn? (Matth. 42 — 45. Mark. 35—37. Lk. 41—44.). Man hielt allgemein den Messias für Davids Sohn r nun aber nennt David in einem der all« gemeinen Annahme nachsihm zugeschriebenen undvomMessias gedeuteten Psalme diesen seinen Herrn, da doch die Vater sonst ihre Söhne nicht als ihre Herren zu ehren pflegen, und solches gegen die Natur ist: mithin mußte in der gewöhnli­ chen Vorstellung vom Messias etwas Unrichtiges seyn. Nie­ mand konnte ihm diese Schwierigkeit lösen (Matth. 46.), und wir können auch nur vermuthen, was Jesus mit seiner Frage

gewollt habe. Die Vorstellung, daß der Messias Sohn Da« vids sey, hing mit der Hoffnung eines weltlichen Reiches zusammen; man dachte sich ihn als einen zweiten David. Nun wollte Jesus diese weltliche Hoffnung zerstören, und daher deutete er an, daß man vom Messias eine höhere Vor­ stellung fassen und ihn sich weit Über David erhaben denken müsse. Matth. 23. Mk. 12, 38—40. Lk. 20, 45—47. vgl. Luk.

11, 39 ff. Strafrede gegen die Pharisäer.

Jesus erklärt sich nun laut und öffentlich gegen die Pha« risaer und Schriftgelehrten, und warnt das Volk vor ihrer Heuchelei. Matthaus bringt hier dasjenige mit bei, was wir bei Lukas anderwärts Cap. 11, 39 ff. gelesen haben. Auf Moses Stuhl sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer, sind im Besitz des gesetzgeberischen An­ sehens, erklären und bestimmen die Gesetze: alles nun, was sie euch sagen, daß ihr halten sollt, das haltet und thut, aber nach ihren Werken sollt

326

Matth. 23.

ihr nicht thun. Sie sagen es wohl, thun es aber nicht (Matth. 2. 3.). Man soll der Wahrheit auch im Munde der Heuchler glauben, und das Amt ehren, wenn auch der Inhaber desselben keine Achtung verdient. Mtth. 4. s. Lk. 11, 46. Alle ihre Werke thun sie, um von den Leuten gesehen zu werden. Sie machen ihre Denkzettel (die Riemen, auf welchen gewisse Gesctzcssicllen geschrieben sind und die der Jude an Hand und Stirn tragen muß, 2. Mos. 6, 8.) breit, und die Saume an ihren Kleidern (die Troddeln oder Fran­ zen, welche die Juden nach 5 Mos. 15, 38 ff. an ihren Klei­ dern tragen müssen) groß: womit sie ihre pünktliche Gesetz­ lichkeit zur Schau trugen. Sie sitzen gern obenan zu Tische und in den Schulen (Synagogen), und haben es gerne, daß sie gegrüßet werden auf dem Markt und von den Menschen Rabbi (Mei­ ster) genannt werden (Mtth. 5—7. Mk. 38. 39. Lk. 46.). Lauter treffende Merkmale der Heuchelei und geistli­ chen Ehrsucht. Aber ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn Einer ist euer Meister, Christus, ihr aber seyd alle Brüder; und sollt niemand Vater heißen auf Erden; denn Einer ist euer Vater, der im Himmel ist: und sollt euch nicht lassen Meister nennen; denn Einer ist euer Meister Christus- Der Größte unter euch soll euer Dienerseyn. Denn wer sich selbst erhöhet, der wird erniedrigt; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöh et (Mtth.8—12.). Wie sihr ist in der christlichen Kirche gegen diese deutliche Vorschrift Christi gesündigt worden! Nicht, daß man die Titel: Lehrer (Doctor), Vater (Papst) und andere ähnliche, eingcführt hat, denn ohne solche kann die Achtung gegen ge­ lehrte und geistliche Aemter, die doch nothwendig ist, nicht wohl bestehen, und ihr Gebrauch kann unschuldig seyn; son­ dern daß die geistliche Herrschsucht wieder in die christliche Gemeinde Eingang gefunden, daß die Geistlichen sich für allein von Cott begeistert, heiliger und Gott naher stehend,

Matth. 23.

327

als andere Christen, ausgegeben haben; daß die Gleichheit

aller Christen vor Gott und die brüderliche Gemeinschaft auf­ gehoben worden ist; daß man vergessen hat, daß nur Demuth für die wahre Größe im Reiche Gottes gilt. Dem Rabbinenthum, dessen herrsüchtigcn Geist Jesus hier straft, ist die katho­ lische Priesterherrschaft nur allzuähnlich, ja noch schlimmer, als jenes; und auch in der evangelischen Kirche hat es nicht an Versuchen gefehlt, das Volk zu einem leidenden Gehorsam gegen die Geistlichen hinabzudrücken. Matth. 13. s. Luk. 11, 52. Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr der Witwen Häuser fres­ set, indem ihr zum Schein lange Gebete hal­ tet*): darum werdet ihr desto mehr Verdammniß empfangen (Matth. 14. Mark.40. Luk.47.). Diese Heuchler übten die schändlichsten Ungerechtigkeiten, und be­ raubten sogar die Witwen ihrer Habe; aber um so strafbarer waren sie, da sie das Gute wohl kannten, aber nicht aus­ übten. Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr zu Land und zu Wasser umherziehet, um einen Judengenossen zu ma­ chen; und wenn er es geworden ist, macht ihr aus ihm ein Kind der Hölle, zwicfältig mehr,

denn ihr seyd (Matth. 15.). Jesus tadelt die Prosely« tenmachcrei der Pharisäer, ihr Bemühen, Heiden für die christliche Religion zu gewinnen, da sie sie doch nicht auf den Weg des Heils führen konnten, indem sie selbst c uf dem Wege des Verderbens sandelten. Proselyten, von Heuchlern be­

lehrt, konnten entweder auch nur Heuchler werden oder sie waren bedauernswerthe Betrogene- Warum sie doppelt so strafbar, als ihre Lehrer, geworden seyn sollen, ist nicht wohl einzusehcn, und dieser Ausdruck schwerlich genau zu nehmen. Jesus will es nur auf eine starke Weise mißbilligen, daß diese Heuchler sich zu Führern und Lehrern Anderer auf-

*) Luther: und wendet lange Gebete vor.

328

Matth. 23.

werfen, da sie nichts thun können, als den Irrthum und die Sünde fortpflanzen und mehren. Wehe euch, verblendete Leiter, die ihr saget: Wer da schwöret beim Tempel, das ist nichts; wer aber schwöret beimGolde desTempels, der ist schuldig. Ihr Narren undBlinde! was ist größer, das Gold, oder der Tempel, der das Gold heiliget? Und: wer da schwöret beim Altar, das ist nichts; wer aber schwöret beim Opfer auf demselben, der ist schuldig. Ihr Narren und Blinde! was ist größer, dasOpfer oder der Altar, der das Opfer heiliget? Dar­ um wer da schwöret beim Altar, der schwöret bei demselben und bei allem, was darauf ist; und wer da schwöret beim Tempel, der schwö­ ret bei demselbigen und bei dem, der darin wohnet; und wer da schwöret beim Himmel, der schwöret beim Stuhle Gottes und bei dem, der darauf sitzet (Matth. 10 — 22.). Schon in der Berg­ predigt (Matth. 5, 33 ff.) hat Jesus die trüglichen Unter­ scheidungen, welche die Echriftgelchrten in Ansehung der Schwüre machten, verworfen. Sie hielten manche Schwüre für nicht verbindend, und thaten so dem Leichtsinn im Schwö­ ren Vorschub. Jesus lehrt dagegen, daß jede Bctheuerung bei etwas Heiligem und Göttlichem verbinde, wenn auch das eine für heiliger gehalten werde, als das andere; der Grund ist, weil der Schwörende durch die Berufung darauf seine Gedanken zu etwas Heiligem erhebt und sich mithin zur Wahr­ haftigkeit verpflichtet. Auch bei uns machen Manche noch einen Unterschied unter den Bcthcurungen, und halten die tiit.it für weniger verbindend, als die andern, geben aber damit zu erkennen, daß sie für das Heilige abgestumpft und an die Lüge gewöhnt sind. Wenn schon ein einfaches Ja oder Nein verpflichtet, so thut es noch mehr eine feierliche Bcthcurung, sie fcp, von welcher Art sie wolle.

Matth. 23.

329

Match. 23. 24. s. Luk. 11, 42. Matth. 25. 26.f. Luk.

11, 39. Matth. 27. 28. f. Luk. 11, 44. Matth. 29 — 36. f. Luk. 11, 47 — 51.

Jerusalem, Jerusalem, die du tödtest die Propheten, und steinigest, die zu dir gesandt sind! wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Kächlein unter ihre Flügel, und ihr habt nicht ge« wollt. Siehe, euer Haus (eure Hauptstadt und euer Land) soll euch wüste gelassen wer­ den. Denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprechet: Gelobt sey, der da kommt im Namen des Herrn (Mtth. 37 — 39. Luk. 13, 34, 35.). Die letzte und stärkste War­ nungsstimme Christi an das verstockte Volk Israel. Er hatte im Vorigen (V. 29 ff.) den Schriftgelehrten und Pharisäern den Vorwurf gemacht, daß sie ganz an der Schuld der Vater, welche die Propheten getobtes, Theil nahmen, indem sie die an sie gesendeten christlichen Lehrer und ihn selbst todten wür­ den; sein Leiden stand nun ganz nahe bevor, und sein Lehr­ amt war beschlossen: voll tiefer, schmerzlicher Wehmuth be­ zeugt er daher, daß er die Einwohner Jerusalems vergeblich mit der Stimme der Liebe, wie eine Henne ihre Küchlein, vor dem Verderben gewarnt und retten gewollt habe, daß aber nun das Schicksal unabwendbar sey, und die Zerstörung der Stadt erfolgen werde. Er selbst trete nun von seiner Wirk­ samkeit als warnender Lehrer und Heilsverkündiger ab, gehe in den Tod und werde nicht mehr von ihnen gesehen werden, bis er von ihnen werde als Messias, als der im Namen Gottes kommende, anerkannt und begrüßt werden. Hiermit deu­ tet er auf seine Wiederkehr als siegender Messias, auf den Triumph seines Reiches oder seiner Kirche. Als Mensch und irdische Person entzieht er sich nun ihrem Anblicke, und nur als verklarter, verherrlichter, die Welt beherrschender Messias wird er sich ihnen einst wieder offenbaren. Es wird eine Zeit kommen, wo sie oder doch ihre Nachkommen, durch

330

Mark. 12, 41—44.

ihre Strafe belehrt und von der siegenden Wahrheit überwun­ den an ihn als den Sohn Gottes werden glauben müssen. Mark. 12, 41—44. Luk. 21, 1 — 4.

D i e Scherflein der Witwe. Jesus setzte sich dem Gotteskasten gegen über, und sah, wie das Volk Geld einlcgte als Beitrag zur Erhaltung des Tempels und Gottesdienstes. Viele Reiche legten nun viel ein; und es kam auch eine arme Witwe, die legte zwei Scherf­ lein ein, die machen einen Heller, das Geringste, was man geben konnte. Da rief Jesus seine Jünger zu sich, und sprach zu ihnen: Wahrlich ich sage euch: diese Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt, denn alle, die eingelegt haben; denn sie haben alle von ihrem Ueberflusse eingelegt, und brach­ ten damit keine Opfer, die ihnen schwer fielen; diese aber hat von ihrer Armuth, alles was sie hat, ihre ganze NahruUg, (Habe) eingelegt, und mithin das schwerste Opfer der Entsagung dargebracht. Hiermit lehrt uns Jesus, daß nicht die Größe der Gabe ihren Werth be­ stimmt, sondern die Gesinnung der Liebe und Selbstverleug­ nung, mit welcher sie gebracht wird, und daß überhaupt nicht das äussere Werk, als solches, vor Gott gilt, sondern die Gesinnung des Herzens, aus welcher es hervorgeht. Brü­ stet euch also nicht, ihr Reichen, mit euren reichen Gaben, und verachtet nicht die Armen mit ihren ärmlichen! Gott siehet das Herz an; und wenn ihr nicht gebet soviel, als ihr konntet, und euer Herz nicht ganz voll Bereitwilligkeit und Hingebung war, so ist euer Opfer nicht wohlgefällig. Ihr Armen dagegen, tröstet euch, wenn ihr ausser Stand seyd zu geben und zu helfen und ihr euch oft mit der bloßen Willigkeit und Theilnahme begnügen müsset! Und wenn ihr auch nur eine Thräne des Mitleids steuert, so ist es ein Gott wohlgefälliges Opfer. Ach! daß so selten die Willigkeit mit dem Vermögen verbunden ist, und daß die Armen sich leichter ihrer kleinen Habe, als die Reichen ihres Ueberfiusses ent-

331

Matth. 24. 25.

schlagen!

Gabe ein Jeder so viel er kann, so schmachtete

kein Hungriger, und kein gutes Werk unterbliebe aus Man­

gel an Unterstützung.

Match. 24. 25. Mark. 13. Luk. 21, 5—38. Jesu

Vorhersagungen

von

der

Zerstörung

Jerusalems, seiner Zukunft und dem Ge­ richt.

Wir kommen hier zu einem wichtigen, aber schwer ver­

ständlichen Abschnitte.

Die Reden Jesu, welche er enthalt,

sind von der weissagenden Art, und Weissagungen sind leich­ ter mistzuverstehen, als andere Reden, welche Wahrheiten

des Glaubens und des Lebens enthalten. Propheten sprechen in Bildern, und auch Jesus bedient sich derselben; denn es

soll durch die Prophezeiung bloß die ahnende Hoffnung ge­ weckt, nicht aber die Zukunft in der Klarheit der Gegenwart enthüllt werden.

Auch haben die Jünger Jesu Reden zum

Theil nach ihren vorgefaßten Meinungen und verfchiedcn auf­ gefaßt und überliefert, wie es denn gerade mit solchen bild­

lichen Andeutungen am leichtesten zu geschehen pflegt, daß ein Jeder seine Gedanken hineintragt, und dann auch wohl

die Worte anders wiedergibt. Hüten wir uns daher, diese Aussprüche wörtlich zu nehmen, sonst könnten wir in die Ge­

fahr kommen, an der Wahrheit der Reden Jesu irre zu wer­ den, und die Erfüllung derselben zu bezweifeln. Jesus hatte im Vorigen (Matth. 23, 38.)

die Zerstö­

rung Jerusalems geweissagt: das kam den Jüngern unglaub­

lich vor, oder sie fanden es wenigstens höchst beklagenswcrth,

und konnten sich nicht dabei beruhigen,

deßwegen zeigten sie

ihm die Gebäude des Tempels (Matth. 24,1. Mark. 13,1. Luk. 21, 5.), wie prächtig sie seyn, indem sic ihn gleichsam

fragten: ist es möglich, daß alle diese Pracht untergehcn soll? Je schöner und herrlicher etwas ist, desto weniger

können wir den Gedanken seines Untergangs ertragen; wir meinen, cs müsse eine ewige Dauer haben. Jesus aber sprach

332

Matth. 24. 25.

zu ihnen: Sehet ihr nicht das alles? Es wird hier nicht ein Stein auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen werde (Matth. 2. Mark. 2. Luk. 6.). Trotz seiner Pracht und Schönheit wird das alles zerstört werden. Ach! dieß müssen wir bei'jeder irdischen Erscheinung denken, an welcher unser Auge mit Wohlgefallen hangt: es kommt eine Zeit, wo sie in Trümmer, Staub und

Asche zerfallt! Nachher als Jesus auf dem Oelberge, dem Tempel und der Stadt gegenüber, saß, traten seine Jünger zu ihm be­ sonders (nach Markus waren es die vier: Petrus, Jacobus, Johannes,Andreas),und fragten ihn; Sage uns, wann wird das geschehen? Und welches wird das Zeichen seyn deiner Zukunft und des Endes der Welt? (Matth. 3. Mark. 3. 4. Luk. 7.) Sie wollen wissen, wann dieses traurige Ereigniß Statt finden werde? Zugleich fragen sie (nach Matthaus Bericht) nach dem Zei­ chen seiner Zukunft, d. h. des Eintrittes seines Reiches mit> des Endes der bisher bestandenen Welt, des bisherigen Zu­ standes der Dinge: alles dieses, dachten sie sich als gleich­ zeitig, und Jesus hatte auch selbst in jener früheren Andeu­ tung Jerusalems Untergang und seine Zukunft zusammen ver­

bunden. Jesus geht in ihre Frage ein, nicht um ihre Neugierde zu befriedigen, sondern um ihnen das richtige Verhalten vor­ zuschreiben , und sie zu warnen, daß sie sich nicht.unnöthiger Furcht oder voreiligen Erwartungen und verführerischen Vor­ spiegelungen überlassen. Zuvörderst sagt er, es müsse noch Manches geschehen, ehe jene Umwandlung der Dinge cintre« ten könne, und dieß ist der Inhalt der Verse Matth. 4 —14. Mark. 5 — 13. Luk. 8—19. Sehet zu, daß euch nicht jemand verführe! Denn es werden Viele kommen unter meinem Namen, und sagen: Ich bin Christus, und wer­ den Viele verführen (Matth. 4. 5. Mark. 5. 6. Luk. 8.). Nach den messianischen Vorstellungen der Juden sollten vor der Ankunft des Messias mancherlei Betrüger auftreten,

Matth. 24. 25.

wie denn auch wirklich vor der Zerstörung Jerusalems einige

der Art sich aufgeworfen haben, von denen zwei selbst im N. T. Vorkommen (Ap. G. 5, 36. 21, 38.), obschon sich kei­ ner geradezu für den Mcstlas ausgegeben hat. Wahrschein­ lich hat Jesus dieses nicht so bestimmt vorhergefagt, wie es die Evangelisten überliefert haben. Dasselbe gilt von den Kriegen, Seuchen, Hungersnöthen und Erdbeben, welche Matth. 6 — 8. Mark. 7—9. Luk. 9—11. vorausgtfagt werden. Denn zwichen Jesu Tode und der Zerstörung Je­ rusalems weiß die Geschichte von keinen bedeutenden Kriegen. Jesus wollte nur seine Jünger warnen, nicht gleich vor jeder drohenden Bewegung zu erschrecken. Sehet zu, daß ihr nicht erschrecket! Noch ist nicht das Ende da. Dasalles ist nurderAnfang der Wehens. Hier­ auf sagt er ihnen Verfolgungen vorher (Matth. 9 —13. Mark. 9 —13. Luk. 12 —19.). Alsdann werden sie euch überantworten in Trübsal, und euch tödten; und ihr müsset gehasset werden um meines Namens willen von allen Völkern. Bei Markus und Lukas ist noch bestimmter die Rede von Gcfangennehmung und Ucberantwortung an jüdischen Synagogen und Spnedrien, an Könige und Fürsten. Das sind die Christenverfolgungcn, welche schon zum Theil vor der Zerstörung Jerusalems begannen, obschon die heftigsten erst spater ein­ traten; auch litten schon manche Apostel und andere Lehrer den Martyrertod. Dann werden Viele abtrünnig werden**), und man wird sich unter einander verrathen und hassen, wie;.B. Saul, der nachherige Apostel Paulus den Angeber und Verfolger der Christen machte. Bei Markus und Lukas heißt cs, daß selbst Ver­ wandte einander verrathen werden (vgl. Matth. 10, 21.). Und dieweil die Ungerechtigkeit wird überhand

nehmen, wird die Liebe in Vielen erkalten. In solchen Zeiten der Verfolgung und des Verraths erkaltet die

*) Luther: da wird sich allererst di« Noth anheben. *♦) Luther: sich ärgern.

334

Matth. 24.25.

Liebe; niemand kraut mehr dem Andern, Zeder stehet in sei­

nem Ncbenmenschen einen Feind. Dazu wird die Verfüh­ rung falscher Propheten kommen. Wer aber beharret bis ans Ende, der wird selig werden(vgl. Mtth. 10, 22.). Standhaftigkeit jicmt dem Christen in Verfol­ gungen, unerschütterliche Treue in Bekenntniß seines Glau­ bens und in Ausübung seiner Pflicht, Verachtung aller Ge­ fahren und Leiden, als des Vorübergehenden, und Festhalten des Ewigen und Unvergänglichen t nur dadurch wird er selig, würdig der Gemeinschaft Christi und Gottes und der Selig­ keit, welche in ihr gefunden wird. Jesus ermuntert aber zugleich die Seinigen, und spricht ihnen Trost zu. Das wird euch widerfahren zu einem Zeugniß (Luk. 13.), damit ihr Zeugniß ablegt von eurem Glauben (vergl. Matth. 10, 18.). So nehmet nun zu Herzen, daß ihr nicht sorget, wie ihr euch verantworten sollet. Denn ich will euch.Mund (Rede) und Weisheit geben, welcher nicht sollen widerspr echen noch widerstehen alle eure Widersa­ cher (Lk. 14. 15. vgl. Matth. 10, 19. 20.). Solche Rede verlieh Christus dem Petrus vor dem Synedrium, dem Paulus vor derselben Behörde und demLandpflcger. Und einHaar von euermHaupte soll nicht umkommen, nämlich ohne den Willen des himmlischen Vaters (Lk. 18. vgl. Mtth. 10, 30.). Noch sagt Jesus den Jüngern voraus, daß ehe das Ende, die Entscheidung, nämlich die Zerstörung Je­

rusalems, kommen werde, das Evangelium vom Reiche Got­ tes in der ganzen Welt, d. h. im römischen Reiche werde ver­ kündiget werden (Matth. 14. Mk. 10.). Auch ist dieses ge­ schehen, und ,es war wohl keine Landschaft des römischen Reichs, wohin nicht die Kunde des Evangeliums gedrungen war, ehe Jerusalem zerstört wurde. Nunmehr weissagt er die Zerstörung Jerusalems, und schreibt ihnen ihr Verhalten beim Eintritt dieses Ereignistcs vor (Matth. 15—28.Mk. 14-23.Lk.20—24.). Wenn ihr nun sehen werdet die Greuel der Verwü­ stung, davon gesagt ist durch den Propheten

Matth. 24. 25.

335

Daniel, stehen an heiliger Stätte (Matth. 15. Mk. 14.), d.h. wie Lukas V. 20. sagt: wenn ihr sehen werdet Jerusalem belagert mit einem Heere: so merket, daß herbeikommen ist ihre Verwü­ stung. Das römische Heer, welches die Verwüstung bringt,

vergleicht Jesus mit dem Greuel der Verwüstung beim Pro­ pheten Daniel (9, 26.27.), worunter das vom syrischen Könige im Tempel ausgestellte Götzenbild zu verstehen ist. Alsdann fliehe auf die Berge, wer im jüdi­ schen Lande ist, und zwar eilig, ohne viel Vorkehrungen zu treffen: wer auf dem Dache ist (wo man im Mor­ genland, weil es flach ist, umhergchen kann), der steige

nicht hernieder, etwas aus dem Hause zu ho­ len; und wer auf demFelde ist, der kehre nicht um, seine Kleider zu holen, womit bloß die Eilig­ keit der Flucht angczeigt werden soll (Mtth. 16—18. Mk. 14—16. Lk. 21. vgl. 17,31.). Gedenket an Lots

Weib (Lk. 17, 32.). Wie diese dadurch umkam, daß sie sich zurück wendete, als Sodom untcrging, so könnte auch die Rückkehr in die Stadt den Fliehenden verderblich werden. Wer da sucht seine Seele (fein Leben) zu, erhal­ ten, der wird sie verlieren, und wer sie verlie­ ren wird, der wird sie erhalten (Lk. 17,33.). Flie­ hen soll man und sein Leben zu erhalten suchen, aber doch nicht zu ängstlich. Der Aengstliche wird oft der Gefahr nicht entgehen, und derjenige, der sich mit Muth und Todes­ verachtung benimmt, gerettet werden. Jesus beklagt das Loos der Schwängern und Saugenden zu der Zeit (Mtth. 19. Mk. 17. Lk. 23.), für welche die Flucht mit mehr Schwie­ rigkeit verbunden ist. Man soll beten, daß die Flucht nicht geschehe im Winter, wo die Wege und Witterung das Rei­ sen beschwerlich machen, oder am Sabbath, wo die damals geltenden Satzungen dem Juden verboten, längere Reisen zu machen (Matth. 20. Mk. 18.). Groß und einzig werden die Trübsale seyn, die dann eintreten (Matth. 21. Mk. 19. Lk. 23); und wo triefe Tage nicht wstrden ver-

Matth. 24. 25.

kürzet, so würde kein Mensch gerettet*); aber um der Auserwählten, der Frommen, willen wer­ den die Tage verkürzet (Matth. 22. Mark. 20.). Durch Gottes Gnade werden diese Tage der Trübsal ein Ende finden, sonst waren sie Men verderblich. In der That war auch die Noth kn dem belagerten Jerusalem groß; der Hun­ ger und der Wahnsinn der erbitterten Partheien wütheten von innen, von aussen das Schwert des Feindes; und gräßlich war das Blutbad bei der Einnahme der Stadt. Und sie werden fallen durch des Schwertes Scharfe, und gefangen geführet werden unter alleVölker; undJerusalem wird zertreten werden von den Heiden, bis daß der Heiden Zeit (die von Gott bestimmte Zeit, wahrend welcher die Stadt in ihre Hande gegeben seyn wird) erfüllet wird (Luk. 24.). Es wird nun von neuem vor Betrügern gewarnt, welchegroße Zeichen und Wunder thun werden, so daß, wo es möglich wäre, auch die Auscrwählten zum Irrthum verführet werden (Matth.23. 24.Mark. 21. 22.). Denn Wunder können auch durch böse Geistes­ kräfte hervorgebracht werden, und sind kein sicheres Zeichen der Wahrheit. Man soll cs nicht glauben, wenn man sagt, hier oder dort sey Christus (Matth. 26. Mark. 22.). Früher schon hatte Jesus zu seinen Jüngern gesagt: Es werde die Zeit kommen, daß sie Einen Tag des Menschensohnes zu sehen, d. h. ihn nur Einen Tag wieder zu sehen begehrten, und würden ihn nicht sehen; sie sollten aber dann nicht den falschen Angaben derer folgen, welche sagen würden, hier oder dort sey er (Luk. 17.22.23.). Denn gleichwie der Blitz ausgehet vom Auf­ gang der Sonne, und scheinet bis zum Nieder­ gang, also wird auch seyn die Zukunft des Men­ schensohnes (Matth. 27. Luk. 17, 24.). Die Zukunft des Menschensohnes wird so sichtbar, wie ein Blitz, seyn, so daß es keiner Anzeige bedarf, um sie zu bemerken; die da-

r) Luther: selig, schwerlich richtig.

Matth. 24. 25.

337

durch herbeigeführte Umwandlung der Dinge wird nicht in einem Winkel, da oder dort, sondern offenbar und entschcidend geschehen. Wo aber ein Aas ist, da sammeln sich die Adler (Matth. 28. vgl. Luk. 17, 37.), d. h. wo das Verbrechen, da ist die Strafe: die Gegenwart Christi wird sich da erweisen, wo Gericht zu halten, Strafe zu üben ist, nämlich an dem ungläubigen, gottlosen Jerusalem.

Soweit lassen sich die Reden Jesu alle mit mehr oder weniger Bestimmtheit ans die Zerstörung Jerusalems beziehen; nun aber erweitert sich die Aussicht in die Zukunft vor seinem weissagenden Blicke, und seine Rede nimmt einen höher» Schwung, und wird bildlicher und rathsclhaster. Bald aber nach der Trübsal derselbigen Zeit werden Sonne und Mond den Schein verlieren, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und das Heer des Himmels erschüttert werden *) (Matth- 29. Mark. 24. 25.). Große Umwandlungen der Dinge, große Strafgerichte, pflegen die bcbrasschcn Pro. phcten dadurch zu bezeichnen, daß sie Zeichen am Himmel und auf der Erde dabei erfolgen lassen (Joel 2, 10. 3, 20. Zes. 13, 10. 34,4.), was nie eigentlich zu nehmen ist, und so auch hier nicht. Die Bilder sind übrigens nach der k-ndlichen Ansicht des Alterthums vom Himmel gefaßt, wornach man sich die Sterne nicht als Weltkörpcr, sondern als Lichter am Himmelsgewölbe dachte, welche, wie Sternschnuppen, herabfallen könnten- Bei Lukas (V- 25. 26.) heißt es in mehr eigentlicher Sprache: und auf Erden wird un­ ter den Völkern Angst scyn'und Verzweiflung bei den brausenden Wogen und Sturm (des Un­ glücks), indem die Menschen vor Furcht erstar­ ren und vor Erwartung der Dinge, die über die Welt kommen sollen-— Uud alsdann wird erscheinen das Zeichen des Menschensohnes

*) Luther falsch: die Kräfte deö Himmels sich bewege»;. Brbl. Erba-.U!-'.°Sb. lt. Z)

338

Matth. 24. 25.

am *) Himmel, ekn Zeichen seiner Ankunft, eine Erschei­ nung , welche seine Nahe verkündigt, wie etwa ein höherer

Lichtglanj oder Donner und Blitz. Und alsdann wer­ den wehklagen alle Geschlechter auf Erden, die Ungläubigen, welche im Messias den Richter fürchten, und werden den Meyschen-Sohn kommen sehen in den Wolken des Himmels mit großer Macht und Herrlichkeit (Matth. 30. Mark. 26. Luk. 27.). Nach einer bildlichen Stelle im Propheten Daniel 7, 13. dachte man sich die Zukunft des Messias gleich einer Gottes­ erscheinung in den Wolken, und auch Jesus bedient sich die­ ses Bildes, um den Eintritt des Sieges seines Reiches da­ mit zu bezeichnen. Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, so sehet auf und hebet eure Häup­ ter auf, darum daß sich eure Erlösung nahet (Luk. 28.). Die bisher verfolgten und gedrückten Jünger Christi werden dann befreit und gerettet werden. Und er wird seine Engel senden mit lautem PosaunenSchall, und sie werden sammeln seine Auser­ wählten von einem Ende des Himmels bis zum andern Ende (Matth. 31. Mark.27.). Die Gläubi­ gen, bisher unter den Ungläubigen zerstreut, und nur im Stillen mit einander Gemeinschaft pflegend, werden dann, wenn Christi Sache siegt, in eine offene Gemeinschaft mit ein­ ander treten und ein großes, herrschendes Reich bilden. Die Engel sind in der bildlich prophetischen Rede die Diener Got­ tes und des Messias, bereit Befehle sie ausrichtcn; und so wie die Diener und Herolde eines Fürsten oder Feldhern sich der Trompeten und Posaunen bedienen, um Zeichen zu geben und die Aufmerksamkeit der Hörer zu erwecken, so werden auch diese Engel die Gläubigen mit Posaunenschall zusammen rufen. Aber welches ist nun der Sinn dieser bildlichen Vorhersagung? Ist damit die letzte Zukunft Christi zum Gericht gemeint, in deren Erwartung wir noch stehen? Dagegen

*) Luther falschr km»

Matth. 24. 25.

339

spricht, daß diese Zukunft Christ, bald nach der Zerstörung Jerusalems erfolgen soll, wo sie doch nicht erfolgt ist. Daher verstehen Viele unsre Stelle bloß von dieser Zerstörung, wo­ für spricht, daß weiter unten Matth. 24, 34. Mark. 30. Lk. 32. die Versicherung gegeben wird, daß das damalige Geschlecht nicht vergehen werde, bis daß die­ ses alles geschehe. Auch erwarteten die Apostel, we­ nigstens der Apostel Paulus, die Zukunft Christi noch bei ihren Lebzeiten (1 Thess. 4, 17.). Beides ist richtig. Die Weissagung Jesu bezieht sich auf die Zerstörung Jerusalems, durch welche Begebenheit eine große Entscheidung für die Sache des Reiches Gottes auf Erden herbeigeführt.und der erste, erbittcrste Feind des Christenthums gestürzt wurde; sie bezieht sich aber auch auf andere spatere Siege des Chri­ stenthums über Heidenthum und Aberglauben, und zuletzt be­ zieht sie sich auf die große, endliche Entscheidung am Ende der Welt, wo das große Gericht gehalten wird. Der Sieg des Reiches Gottes und der strafende Untergang des Bösen und Eiteln oder das Gericht entwickelt sich in der Zeit theils allmählich, theils in großen, entscheidenden Begebenheiten, dergleichen die Zerstörung Jerusalems war, und vollendet sich in der Ewigkeit: alles dieses zusammen nun stellte sich Jesu in Einer weissagenden Aussicht dar, und seine Jünger verstgnden es so, als wenn Alles mit Einem Male und zwar bald nach der Zerstörung Jerusalems erfolgen sollte. Wir lesen diese Weissagung im rechten Sinne, wenn wir zwar dabei zunächst an den Untergang des Judcnthums und den Sieg der jungen christlichen Kirche, aber auch zugleich an das Gericht denken, das Gott stets in der Weltgeschichte und im Privatleben der Menschen über alles Verkehrte und Böse vollzieht, und das uns nach dem Tode bcvorsteht. Denn Er, der Gerechte und Heilige, läßt nichts Böses ungestraft und nichts Gutes unbclohnt; seine richterliche Gerechtigkeit ist stets wirksam, und wenn auch nur im Verborgenen; und dieses soll uns so wohl mahnen und warnen, als trösten und

ermuntern.

340

Wattb. 24. 25.

Nunmehr folgen Warnungen und Ermahnungen.

Dee

Jünger Christi soll stets gefaßt seyn auf die Zukunft seines Herrn und Richters. Er soll auf die Zeichen der Zeit mer­ ken. So wie man daran, daß der Zweig des Feigenbaums saftig wird und Blatter gewinnt, merkt, daß der Sommer nahe ist: so kann man an dem Eintritte jener Vorzeichen mer­ ken, daß die Zukunft des Herrn bevorsteht (Matth. 32. f. Mark. 28 f. Luk. 29—31.). Der Bürger des Reiches Gottes soll stets ein aufmerksames Auge auf den Lauf der Welt haben, und alles, was geschieht, daraufhin beurthei­ len, ob der Sieg des Guten Fortschritte macht und das Böse seinem verdienten Untergange entgegengeht. Dieß Ge­ schlecht wird nicht vergehen, bis daß dieses al­ les geschehe (Matth. 34. Mark. 30. Luk. 32.). Es vergeht kein Menschengeschlecht, ohne daß sich die belohnende und strafende Gerechtigkeit Gottes in seinem Reiche kund thut. Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen (Matth. 35. Mark. 31. Luk. 33.). Jesu Worte sind erfüllt worden, und wer­ den fort und fort erfüllt, bis sie endlich in der Ewigkeit ihre gänzliche Erfüllung finden. Von dem Tage aber und der Stunde weiß Niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater (Matth. 36. Mark. 32.). Die Zu­ kunft kann vom ahnenden Blicke des Menschen im Allgemei­ nen und unbestimmt erkannt werden; weiter tragt wohl der Blick höherer Wesen und des Sohnes Gottes: aber selbst die­ sem ist Tag und Stunde der großen Entscheidungen in seinem Reiche verborgen (freilich nur insofern er Mensch ist; denn die Gottheit in ihm ist allwissend); und nur der allmächtige und allwissende Vater im Himmel weiß Alles. Daher soll der kurzsichtige Mensch nicht grübelnd das bestimmen wollen, was ihm seine Natur nach zu wissen versagt ist. Er soll auf­ merksam seyn auf den Gang der Dinge, um sein Verhalten darnach einzurichten, um daraus Erwartungen und Warnun­ gen zu empfangen; aber er soll sich nicht anmaßen, Zeit und Stunde bestimmen zu wollen. Jesus ermahnt die Seinigen

341

Matth. 24. 25.

in einer stets würdigen Verfassung zu seyn.

Hütet euch,

daß eure Gemüther nicht belastet werden mit Rausch und Trunkenheit und Nahrnngsforgen, und plötzlich euch jener Tag überrasche. Denn wie ein Fallstrick, wird er kommmen über al­ le, die auf Erden wohnen. Wachet demnach zu jeglicher Zeit, und betet, daß ihr gewürdiget werdet zu entfliehen diesenr allen, das gesche­ hen soll, und zu bestehen vor hem Menschen­ sohne (Luk. 34 — 36.). Nüchternheit und Besonnenheit, erhöht durch das Gebet, ziemet dem Christen stets, beson­

ders aber in Zeiten großer Entscheidung und beim Hcrannahen der größten aller Entscheidungen, des Todes, vor welchem wir keinen Tag sicher sind, der uns in jedem Augenblicke, wie ein Fallstrick, überraschen kann. Wir alle wollen daher diese Warnung unsers Herrn zu Herzen nehmen, und uns nie einer unbußfcrtigcn Sicherheit überlassen. Aber der große Haufe der Menschen lebt immer in Ge­ dankenlosigkeit und Unbußfcrtigkeit hin, und achtet nicht auf die mahnenden und warnenden Zeichen der Zeit. Wie zur Zeit Noahs, also wird es auch bei der Zukunft des Mcnfchensohnes seyn. Wie sie in den Ta­ gen vor derFluth aßen und tranken, heurathcten und verheuratheten *), bis an den Tag, da Noah zu der Arche einging, und nicht zur Erkenntniß kamen**), bis die Fluth kam, und sie alle dahin raffte: also wird es auch seyn bei dek Zukunft des Menschensohnes (Matth. 37—39. Luk. 17,26-r—30. wo noch das Beispiel des Un­ tergangs von Sodom angeführt ist.). Sehr verschieden wird dann das Schicksal der Menschen seyn gemäß ihrem verschie­ denen Betragen und Gemüthsverfassung. Dann werden Zween auf dem Felde seyn: einer wird ange­ nommen werden zur Theilnahme am Reiche Gottes,

♦) Luther falsch: freieren und sich freien ließen. *♦) Luther falschr und sie achteten atf er solle, wenn er sich bekehrt haben werde, seine Brüder besiarken. Dasselbe fragt Jesus zum zweiten Male, und als Petrus dieselbe Antwort gibt, sagt er dasselbe nochmals zu ihm (V. 16.). Ja, er thut die Frage zum dritten Male: Simon Jona, hast du mich lieb? Da ward Pe­ trus traurig, daß er ihn zum dritten Male fragte, und sprach zu ihm: Herr, du weißt alle Dinge; du weißt, daß ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! (V. 17.) Jesus fragte den Petrus drei Mal, ob er ihn liebe, damit er sich recht prüfen sollte. Es ist bald gesagt, daß man Jesum liebe, aber man tauscht sich darin sehr leicht, und traut sich mehr Liebe zu, als sich in der Erfahrung bewahrt: daher ist wie­ derholte strenge, demüthige Prüfung nöthig, welche am be­ sten im Gedanken an den durchschauenden Geistesblick Jesu ge­ übt wird. Er, der Herzenskundige, weißes besser, als wir selbst, ob wir ihn lieben. Die Liebe zu ihm beweist man am meisten dadurch, daß man für das Heil der Mitbrüder bemüht ist, wozu auch die Liebe allein fähig macht. Die Liebe ist die Wurzel der evangelischen und apostolischen Wirksam­ keit; das Seelenheil der Brüder soll der Zweck seyn, nicht selbstsüchtige Herrschaft und Erhebung, welche die Pharisäer suchten, und alle Hicrarchen gesucht haben. Aus der Liebe fließt auch die Erkenntniß und jede Fertigkeit, welche zum

440

Joh. 21.

Beruf des Lehramts erfodert wird; wer Jesum liebt, der liebt auch die Wahrheit und sucht sich dieselbe zu eigen zu ma­ chen; die Liebe weckt und steigert jede Gabe. — Die Liebe iu Jesu aber und der Eifer im Lchramte soll treu seyn bis zum Tode: und so erinnert Jesus den Petrus an das Schick­ sal, das seiner wartet. Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Da du jünger wärest, gürtetest du dich selbst, und wandeltest, wohin du wolltest; wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hande aus­ strecken, und ein Anderer wird dich gürten, und dich führen, wohin du nicht willst (V. 18.). Hier­

mit deutete Jesus, wie der Evangelist (V. 19.) sagt, auf den Tod hin, mit welchem er Gott verherrlichen *) würde,

und welches nach der kirchlichen Ueberlieferung der Kreuzestod soll gewesen seyn, wobei das in Erfüllung ging, daß Petrus gegürtet, angcfessclt, und geführt wurde, wo er nicht hin wollte. Auch wir, auch unsre Religionslchrer, müssen eines ähnlichen Schicksals gewärtig und darauf gefaßt seyn: wer weiß, in welcher Prüfung wir die Festigkeit unsrer Liebe ge­ gen Christum zu beweisen bestimmt sind? Da er aber das gesagt, spricht er zu ihm: Folge mir (V. 19.). Erruft ihn bei Eckte, um ihm etwas insgeheim zu sagen. Petrus aber wandte sich um, und sah den Jün­ ger folgen, welchcnJcsus lieb hatte, der auch an seiner Brust beim Abendessen gelegen und gesagt hatte: Herr, wer ists, der dich verrath? (Joh. 13, 25.) Da Petrus diesen sah, spricht er zu Jesu: Herr, was soll «her dieser? (was soll mit diesem werden, welches Todes soll dieser sterben?) (V. 20. 21.) Diese Frage that Petrus aus müssiger Neugier. Jesus spricht zu ihm: So ich will, daß er (le­ ben) bleibe, bis ich komme, was gehet es dich an? Folge du mir nach! (V. 22.) Petrus soll sich nicht um das Schicksal seines Mitjüngers bekümmern, auch sich nicht irre machen lassen, wenn dieser dazu bestimmt wäre, ) Lu ther: preisen.

Joh. 21.

441

am Leben zu bleiben bis znm entferntesten Zeitpunkte, sondern soll unverrückt den Weg der Nachfolge seines Meisters zum Kreuzestode wandeln. Was die Worte: bis ich komme, bedeuten, ist zweifelhaft. Verstand Jesus darunter sein Kom­ men zur Zerstörung Jerusalems, oder zum Siege seiner Kir­ che, oder zum Weltgericht am Ende der Tage? Im letz­ tem Sinne scheinen es die damaligen Christen genommen zu haben, indem sie daraus schlossen, Johannes werde gar nicht sterben. Da ging eine Rede aus unter den Brü­ dern: Dieser Jünger stirbt nicht. Allein der Zweck dieses Berichtes ist, zu zeigen, daß Jesus dieß nicht gesagt habe. Und Jesus sprach nicht zu ihm: Er stirbt nicht; sondern, so ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was gehet es dich an? (V. 23.) Hier­ nach soll der Sinn der Rede Jesu seyn: Es stehe bei ihm, wie lange er den Johannes am Leben lassen wolle, und Pe­ trus habe sich darum schlechterdings nicht zu kümmern, oder ihm darüber Gesetze vorzuschreiben. Die Schicksale der Apo­ stel waren verschieden, wie es die der übrigen Menschen sind: ein Jeder soll nun dasjenige auf sich nxhmen, das ihm der Herr auferlegk, und weder rechts noch links schauen, nicht murrend und neidisch das leichtere und glücklichere Loos seiner Mitbrüder mit dem seinigen vergleichen, sondern sich still in den Willen des Herrn fügen.

Dieß ist der Jünger, der von diesen Dingen zeuget und dieß geschrieben hat. Und wir wis­ sen, daß sein Zeugniß wahrhaftig ist (V. 24.). Offenbar rühren diese Worte nicht vom Evangelisten selbst her, sondern sind von einer fremden Hand hinzugesrtzt. Viele achtungswerthe Gottesgelehrte halten sogar das ganze 21. Cap. für einen fremden Nachtrag, mit welcher Annahme aber immer die Glaubwürdigkeit der Erzählung bestehen würde, indem sie aus der urchristlichcn Ueberlieferung geschöpft wäre, Es sind auch viele andere Dinge, die Jesus ge­ than hat, welche so sie sollten eins nach dem andern geschrieben werden, achte ich, dieWelt

442

Luk. 24, 50 — 53.

würde die Bücher nicht fassen *), die zu schrei­ ben waren (V. 25.). Die Evangelien sind nur eine frucht­ bare Auswahl dessen, was Jesus gethan; auf die Menge der geschichtlichen Thatsachen aus Jesu Leben, wie überhaupt auf das ausführliche geschichtliche Wissen von ihm, kommt es nicht an, sondern auf das Wesentliche kn seinem irdischen Wirken, wie er gelehrt, wohlgethan, durch höhere Geistes­ kraft gewirkt, zum Besten der Menschheit gelitten hat und durch die Macht des Vaters auferstandcn ist zur Ermuthigung sei­ ner Jünger und zum Trost und zur Ermunterung für uns alle. Luk.24,50—53. Mk.16,19.2O.vgl.Ap.Eesch. 1,4—14.

Jesu Himmelfahrt. Er führete sie aber hinaus bis gen Betha­ nien (dem Orte in der Nahe von Jerusalem am Oelberg, vgl.A. G. 1, 12.), und hob die Hände auf, und segnete sie (Luk. 50.). Er gab ihnen den Abschiedsse­ gen, wobei er die gewöhnliche Gebärde des Handaufhcbens zur Bekräftigung machte, wünschte ihnen, ja theilte ihnen thatkräftig mit Frieden, Trost, Muth und Kraft, da sie nun allein stehen und wirken sollten. Nach A. G. 1, 4 ff., wo Lukas einen ausführlicher« Bericht von diesem Abschiede Jesu gibt, wiederholte er den Jüngern die Verheißung des ihnen zu ertheilenden heil. Geistes (vgl. Luk.24, 49.), mit wel­ chem ihnen alles jenes zu Theil wurde. Jesus schied von den Jüngern, aber nur mit seiner Person; seinen Geist und seine Kraft ließ er ihnen und allen den Seinigen zurück. So hinterläßt jeder gute, bedeutende Mensch gesegnete Spuren seiner Gegenwart in den Herzen der Seinigen, in dem Kreise, in welchem er gewirkt hat; und so sollen wir alle uns bestre­ ben, ein Denkmal unsres Lebens zu hinterlassen, nicht bloß in todten Werken, welche in die Sinne fallen, sondern in dem geistigen Leben, das wir angeregt und befruchtet haben. Und es geschah, da er sie segnete, schied er von

*) Luther falsch: begreifen.

Luk. 24, 50—53.

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ihnen, und fuhr auf genHimmel und sitzet zur rechten Hand.Gottes (Luk.51. Mark. 19.). IesuS schied von ihnen, da nunmehr sein Werk auf Erden vollbracht war, und kehrete zurück zu seinem himmlischen Vater, von wannen er gekommen war. Die Art und Weise, wie er die Jünger und die Erde verließ, ist ein Geheimniß. Nach dem

spätern Berichte A. G. 1, 9. entzog ihn eine Wolke ihren Blicken, aber damit ist die Sache nicht begreiflicher gemacht. Die Wolke zieht sich, wie ein Schleier, vor die geheimniß­ volle Begebenheit. Wir können uns die Sache nicht so vor­ stellen, als wenn die Wolke den Leib Jesu in den Himmel emporgehoben habe; denn irdische Wolken erheben sich nicht über den irdischen Dunstkreis, wo der Himmel nicht ist, der überhaupt weder im Aether, »och oben unter dm Sternen, noch irgend wo in der Körperwelt, sondern jenseit derselben, im Uebersinnlichen, zu suchen ist. Wie nun Jesus, der bis­ her mit seinem auferwecktcn Leibe noch halb der Erde ange­ hört hatte, den Rückweg in das übersinnliche Reich des Va« rers fand, können wir schlechterdings nicht begreifen. Einen zweiten Tod konnte er nicht leiden, da er den Tod besiegt hatte. Es ist genug, wenn wir glauben, daß er zum Vater zurückging, uns vorangehend und den Weg dahin bahnend, um die Herrlichkeit einzunehmen, welche ihm, als dem Sie­ ger über Tod und Sünde, dem verherrlichten Dulder, dem mächtigen Herrscher des Reiches Gottes, gebührte. Er sitzet zur Rechten Gottes, gleichsam wie der Mitre­ gent, welcher den ersten Platz am Throne einnimmt; ihm ist alle Gewalt verliehen im Himmel und auf Erden (Matth. 28,18.). Vom Himmel entsprungen', aus Liebe zum ge­ fallenen Menschengeschlecht zur Erde herabgestiegen, kehrt er, nachdem er herrlich vollendet hat, in den Himmel zurück. Er war auf Erden erschienen, um zu kämpfen und zu leiben; die fleischliche Hülle, die ihn umgab, die Theilnahme an menschlichen Schwachheiten,'der Kampf mit der Sünde, hatte das Göttliche in ihm nicht getrübt und verunreinigt, aber doch in irdisch mildem Glanze erscheinen lassen; jetzt, nach seiner Vollendung bricht nun das göttliche Licht strahlend hinBibl. Erbauungsb.

II.

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durch, und zeigt ihn in feiner ganzen göttlichen Herrlichkeit.

Hiermit ist der Gang vorgebildet, den Christi Kirche nehmen soll. Himmlischen Ursprungs, ein Abbild des ewigen Rei­ ches Gottes, aber kämpfend mit der Sünde und dem Unglau­ ben, soll sie nach siegreich vollbrachtem Kampf sich zu trium-' phirender Herrlichkeit erheben und in das vollkommene Reich Gottes übergehen. Das soll auch der Gang jedes mensch­ lichen Lebens seyn. Ein göttlicher Funke wohnt in jedem Menschen, ist aber durch die irdische Finsterniß verdunkelt: durch Christum entbunden, soll er nun sich immer mehr und mehr entwickeln, und endlich siegreich als Himmelslicht her­ vorbrechen; durch ein würdiges Leben zum Himmel vorberei­ tet, sollen wir nach vollbrachtem irdischem Laufe in die ewige Heimath zurückkehrcn. Unser Weg führt zum Tode, aber dessen Schrecken sind durch Christum besiegt; und wenn wir in seinem Geiste sterben, so dringen wir durch den Tod zum Leben hindurch, und der Tod wird uns zum Leben. Sie aber beteten ihn an; ergriffen von dem Ge­ fühle der göttlichen Vollendung und Herrlichkeit, in welcher

sie nun den abgeschiedenen Meister fchaueten, beteten sie vor ihm, der nun ganz mit dem Vater eins war, an, und keh« reten wieder genZerusalem mit großer Freude (gitf. 52?. Der Schmerz über das Hinscheiden ihres Freun­ des und Lehrers wurde überwogen von der Freude, ihn bei Gott in siegender Herrlichkeit zu wissen. So sollen auch wir über den Hinschied unsrer Lieben nicht trauern, sondern uns freuen, daß sie vollendet haben, und in einen unendlich herr­ lichern und seligern Zustand erhoben sind. Und waren allewege im Tempel, priesen und lobten Gott (Luk. 53.). Jene freudige, trostvolle Stimmung erhalten wir uns am besten durch Gebet und Andachtsübung, wodurch unser Gemüth emporgehoben und gekräftigt wird. Weltliche Zerstreuung schwächt den Geist und zieht ihn herab, so daß ihn der irdische Schmerz leichter wieder überwältigen kann.

Sie aber gingen aus, und predigten an allen Orten. Und der Herr wirkte mit ihnen, und bekräftigte das Wort durch mitfolgende Zei-

Luk. 24, 50 — 53. cf)en (Mark. 20.).

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Die Freude über die siegreiche Verklä«

rung ihres Meisters hatte jur Folge, daß sie des Geistes theilhaftig wurden, und in diesem Geiste begannen sie nun mit Kraft und Segen ihr apostolisches Lehramt. So soll und kann auch uns die freudige Erhebung des Geistes, die uns der mit Glauben und Hoffnung ertragene Verlust unsrer Lieben gewährt, den Muth und die Kraft, zu wirken, mehren. Je mehr das Gemüth über die Erde, ihre Sorgen und Freuden, hinweggehoben und gen Himmel gerichtet ist, desto tüchtiger sind wir, für das wahre Heil unsrer Brüder zu wirken. Die Trauer über den Verlust eines Geliebten, die «nS der Wirksamkeit entzieht, ist die trostlose, irdische, mür­ rische, welche die Kraft des Geistes lähmt. Der Hinblick auf die Himmelfahrt Christi mag uns in jedem Schmerze, in jeder niedergefchlagenen Stimmung erheben und stärken. Die Erde ist unsre Heimath nicht, und auf ihr ist kein dauerndes Glück zu finden: dort oben erwartet uns unsre ewige, selige Bestimmung; aber so lange wir hier wallen, sollen wir mit begeistertem Muthe wirken, und das Reich Christi zu erweitern

und zu vollenden streben. Und der Herr wird mit uns wir­ ken, und unser Thun durch die Kraft seines Geistes unter­ stützen; nur müssen wir in seinem Geiste und für sein Reich, für Wahrheit, Gerechtigkeit, Gottesfurcht zur wirken suchen. Amen«