Die Heilige Schrift des Neuen Bundes, ausgelegt, erläutert und entwickelt: Teil 1 Das Evangelium Johannis bis zur Leidensgeschichte 9783111621654, 9783111244600

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Die Heilige Schrift des Neuen Bundes, ausgelegt, erläutert und entwickelt: Teil 1 Das Evangelium Johannis bis zur Leidensgeschichte
 9783111621654, 9783111244600

Table of contents :
Vorrede
Einleitung
Kap. 1, 1 – 18. Des ewigen Mortes Gottes Menschwerdung in Jesu Christo
Kap. 1, 19 – 51. Zeugniß Johannes des Täufers von Christo
Kap. 2, 1 – 11. Die Hochzeit zu Kana
Kap. 2, 12 – 25. Jesus geht zur Osterfeier nach Jerusalem, und reinigt daselst den Tempel
Kap. 3, 1 – 21. Christi Gespräch mit Nikodemus über das Reich Gottes mit) die Wiedergeburt
Kap. 3, 22 – 36. Letztes Zeugniß des Täufers von Jesu
Kap. 4, 1 – 42. Jesus unter den Samaritern.
Kap. 4, 43 – 54. Jesu Aufnahme und zweites Wunderzeichen in Galiläa
Kap. V. Jesu Heilungswerk am Sabbath und Verantwortung deßhalb
Kap. 6, 1 – 21. Die Speisung der fünftausend Mann
Kap. 6, 22 – 71. Reden Jesu in Kapernaum auf Veranlassung -er Speisung
Kap.7 Jesu Reise nach Ierusalem zum Laubhüttenfest und seine Reden daselbst.
Kap. 8. Fernere Reden Jesu wahrend seines Aufenthaltes zu Jerusalem am Laubhüttenseste
Kap. 9 Heilung eines Blindgebornen.
Kap. 10, 1 – 21. Das Gleichniß von der Heerde und dem Hirten
Kap. 10, 22 – 42. Jesus erklärt sich für den Sohn Gottes
Kap. 11. Die Auferweckung des Lazarus
Kap. XII. Jesus erscheint wieder in Bethanien, und zieht in Jerusalem ein zur Feier des letzten Osterfestes
Kap. 13 – 17, Wie Jesus den letzten Abend mit seinen Jüngern zugebracht hat
Kap. 13, 1–17. Jesus wäscht seinen Jüngern die Füße
Kap. 13, 18 – 32. Jesus bezeichnet seinen Verräther
Kap. 13, 33 – 38. Von Jesu baldigem Abschied, dem Gebot der liebe und Petri Verleugnung
Kap. 14, 1 – 14. Jesus tröstet seine Jünger wegen seines Todes, und ermahnt sie zum Glauben
Kap. 14, 15 – 26. Die Verheißung des heiligen Geistes
Kap. 14, 27 – 31. Jesu Abschieds- und Friedensgruß
Kap. 15, 1 – 8. Das Gleichniß vom Weinstroch
Kap. 15, 9 – 17. Ermahnung zur Liebe
Kap. 15, 18 – Kap. 16, 4. Jesus sagt seinen Jüngern den Haß und die Verfolgung der Welt vorher
Kap. 16, 5 – 15. Nochmalige Verheißung des heil. Geistes
Kap. 16, 16 – 33. Trost des Wiedersehens Christi
Kap. 17. Christi Gebet für sich, seine Jünger und alle Gläubigen

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Die

Heilige Schrift des

Neuen

Bundes/

««sgelegt, erläutert und entwickelt.

Ein Andachtsbuch für die häusliche Erbauung und

ein Handbuch für Prediger und Schullehrer.

Erster Theil. Das Evangelium Johannis bis jur Leidensgeschichte.

Dir Worte, die ich rede, die sind Geist und Leben. Joh. 6, 63.

Berlin, 1825. Bey

G.

Reimer.

Vorrede. xJev Plan und Zweck dieses Blbelwerkes ist in der erschienenen Ankündigung und Probe ausführlich darge. legt worden; hier wiederholen wir daraus kürzlich das Wesentliche. Es soll ein biblisches Andachtsbuch seyn. Wenn eS zu den erfreulichen Erscheinungen unserer Zeit ge­ hört, dass durch einen regsamen Eifer die heilige Schrift in alten und neuen Uebersehungen unter das Volk ver­ breitet wird: so entsteht das dringende Bedürfniß, ungelehrten Lesern der Bibel eine Anleitung zum klaren und fruchtbaren Verständniß in die Hände zu geben. Ohne Auslrgung kann sehr Vieles in derselben nicht verstanden. Manches sogar gemißdeutet und gemiß­ braucht werden, und das Meiste, wenn auch verstan­ den, bleibt, ohne die gehörige Anleitung, todt und unfruchtbar. Faßt man auch den Sinn richtig auf, so fehlt doch die Anwendung und Entwickelung. Da­ durch ist die heilige Schrift das göttliche Buch und die Quelle des Heils, daß in ihr oft in wenigen Worten eine unendliche Fülle von Gedanken eingeschlossen, und daß selbst dasjenige, was ganz einzeln und besonderer Art zu seyn scheint, von allgemeiner Bedeutung ist. Um ste nun auf diese fruchtbare Weise zu lesen, be­ darf der Nichtgelehrte einer Anleitung und Anregung, welche er in diesem Bibelwerke finden soll. So gele­ sen aber ist die heilige Schrift unstreitig das beste An» dachtebuch; wenigstens ist es für den frommen Chri­ sten Bedürfniß, von andern erbaulichen Unterhaltun­ gen immer wieder zu dieser Quelle aller Wahrheit zu-

IV

rückzukehren. Die so allgemein geschätzten und vielge­ lesenen Stunden der Andacht und andere gute Andachtsbücher sollen durch das unsrige nicht verdrängt, aber das, was sie leisten, ergänzt und vervollstän­ digt werden, indem es zur Bibel zurücklenken, und die Bekanntschaft und Beschäftigung mit derselben be­ fördern soll. Zu gleicher Zeit soll es ein Handbuch für Schullehrer und Prediger seyn. Die ersteren sind selten durch das Studium der Gottesgelahrheit in Stand gesetzt, der ihnen anvertrauten Jugend die Bi­ bel zweckmäßig zu erläutern, und bedürfen daher noch mehr als diejenigen, welche bloß für die eigene Er­ bauung sorgen, einer Anleitung. Die Prediger haben zwar auf Universitäten exegetische Vorlesungen gehört; aber diese sind, oder waren es wenigstens in dem zu­ nächst verflossenen Zeitraum, zu oft bloß gelehrt, phi­ lologisch und historisch, und ermangeln der praktischen Fruchtbarkeit; ja, nicht selten besteht zwischen der ge­ lehrten und der praktischen Auslegung ein Zwiespalt, während doch die erstem zur zweiten führen sollte. Der Verfasser dieses Bibelwerks ist der Meinung, daß es nur Eine Auslegung der Schrift gibt, und daß selbst die praktische Anwendung des exegetischen Sinnes nichts als die folgerichtige Entwickelung desselben seyn muß, und. er gedenkt in seiner Arbeit die reine Ausbeute der gelehrten Auslegung im natürlichen Zusammenhang mit der erbaulichen Betrachtung darzulegen. Und so hofft er selbst solchen Predigern, welche der gelehrten Aus­ legung mächtig sind, wesentliche Dienste zu leisten, in­ dem er ihnen Winke gibt zur fruchtbaren Behandlung des Bibeltextes, und einen Vorrath von Gedanken und Entwürfen für sie niederlegt. Das Werk würde an solchen praktischen Materialien noch reicher seyn kön­ nen, wenn der Verfasser es nicht für nöthig hielte, Alles an den Faden einer fortgehenden Betrachtung zu reihen.

Diese Auslegung und Anwendung nun soll nichtander- als christlich seyn, und alle- Parteiische und Sectorische verleugnen; der Verfasser will nicht das System seiner Kirche, sondern die reine seligmachende Wahrheit Christi au- der Bibel entwickeln. In der That scheinen auch zu unserer Zeit die Frommen aller verschiedenen Kirchen und Confesstonen sich in dieser seligmachenden Wahrheit zusammenzufinden, und sich gern über da-, was die Christen von verschiedenen Namen trennt, hinwegzusehen. Diesem Geist der friedlichen Vereinigung will der Verfasser durch dieses Bibelwerk Nahrung zuführen, und er bietet allen frommen Bekennem Christi, welchen Unterscheidungsnamen sie auch sonst führen mögen, freundlich die Bruderhand zum Bunde der gemeinschaftlichen Andacht und Herzenserhebung. So wenig der Vf. als Bibelausleger irgend einer kirchlichen Parthei angehört, eben so wenig soll man ihn als den Anhänger einer theologischen Schule erkennen. Alledle Einseitigkeiten des Rationalismus und Super­ naturaliemus, der Orthodoxie und Heterodoxie, des Dogmatismus und Moralismus, liegen außer dem Mittelpunkte des wahren biblischen Christenthum-, und sind nur da- Werk der Selbstsucht, welche, das Ganze verschmähend, sich nur an «inen Theil hält, oder dem Einen und Allgemeinen da- Selbstische und Besondere beimischt, die sich der ewigen Wahrheit nicht unterwer­ fen kann, sondern sich selbst auf irgend eine Weise gelten macht. Alles was zu einer gesunden Welt» und Lebens-Ansicht, zu einer reinen Gefühlöstimmung und Gesinnung gehört, was dem Menschen den Frie­ den mit sich selbst, mit der Welt und mit Gott bringt, was ihn «eise, fromm, tugendhaft und selig macht, ist im Christenthum vereinigt; und zwar bietet es alles dieses auf diejenige Art und Weise dar, welche der Eigenthümlichkeit eines Jeden entspricht. Es enthalt die klaren Erkenntnisse des Verstandes und die tiefen

VI

Geheimnisse des Gefühls, «s erweckt und nährt den Glauben und die 4ie6e; und alles dieses will der Vf. sich bemühen in diesem Bibelwerke darzulegen. In dieser Gesinnung der Unpartheilichkeit, und in der Absicht, die evangelische Wahrheit allein für sich selbst reden zu lassen, mag man auch den Grund suchen, warum der Df. seinen Namen verschweigt. An jeden literarischen Namen, zumal wenn er einiges Rufes ge« yießt, knüpfen sich günstige oder ungünstige Vorurtheile, welche der reinen Auffassung der Wahrheit hin­ derlich sind. Der Vf. will weder durch seinen Namen bestechen, noch auch solche, welche vielleicht ein ungünstigeö Vorurtheil gegen ihn hegen, von dem Gebrauch dieses Buches, welches die reinen, fruchtbaren Ergeb­ nisse seiner Bibelforschungen enthält, abschrecken. In gegenwärtigem Band ist das Evangelium Johannis bis auf die Leidensgeschichte enthalten; d)e beiden folgenden Bände sollen die Berichte der anbetn Evangelisten und die Leidensgeschichte in einer vereini­ genden oder vergleichenden Zusammenstellung, und die übrigen die Apostelgeschichte und Briefe enthalten. DaS Ganz« ist ungefähr auf acht Bände berechnet, und soll, so Gott will, in 4 bis 5 Jahren erscheinen. Eine günstige Aufnahme wird den Vf. ermuntern; er wird mit um so größerer Freudigkeit arbeiten, als er sieht, daß er für die Beförderung wahrer christlicher Andacht wirksam ist. Möge Gott mir Kraft und Gesundheit verleihen, und. bei der Arbeit meinen Geist erleuchten, daß ich die Wahrheit erkenne und in lichtvoller Klar­ heit vorzutragen wisse. Geschrieben im September 1825.

Der Verfasser.

Einleitung. SD»# Evangelium, welche- in der Bibelsammlung die vierte Stelle einnimmt, durch seine Wichtigkeit aber den er­ sten Rang behauptet, ist verfaßt von Johannes, Zebcdäi Sohn, einem Apostel Jesu Christi. Dieß bezeugt das christ­ liche Alterthum, und deutet das Evangelium selber an (Kap. 31, 34. vgl. ai. ao. Kap. 1Z, 30.). Dieser Apostel, der Begleiter des Herrn, berichtete von dessen Leben, kehre und Tod au- eigener Erfahrung «nd Anschauung. Er selber sagt (i Joh. i, i.)r Da­ da von Anfang an war, da- wir gehöret ha­ ben, da- wir gesehen haben mit unsern Augen, da- wir beschauet haben und unsre Hände betastet haben vomWortdes Lebens------- was wir gesehen und gehöret haben, das verkün­ digen wir euch. Und im Evangelium, als er berichtet von dem Durchstoßen der Seite des Gekreuzigten, giebt er folgende Versicherungr Und der da- gesehen hat, der hat es bezeuget und seinZeugniß ist wahr; und derfelbige weiß, daß er die Wahrheit saget, auf daß auch ihr glaubet. (Kap. rg, 35.). 3» der That prägt sich auch die Anschaulichkeit und Zuver« läßigkeit der Erkenntniß, welche der Apostel von seinem Herrn gewonnrn hatte, in seinem ganzen Berichte ab; es ist Alles darin au- lebendiger Erfahrung und unmittelbarer Erkenntniß geschöpft; Alles tragt da- Merkmal der Gewiß­ heit und Glaubwürdigkeit an sich. Der Apostel schrieb die Kund« von dem Heiland der Welt nieder, um den Glauben an denselben zu verbreiten. So sagt er selbst Kap. ao, 31: Diese (Zeichen) sind Bibl. Erbauungsb. I.

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geschrieben, damit ihr glaubet Jesus fei der Christ, der Sohn Gottes, und daß ihr durch den Glauben daö Leben habt in seinem Namen. Möge diese wohlthätige Absicht des Apostels an mir, der ich dieses lese, in Erfüllung gehen! Möge ich glauben an den, den die Liebe des DaterS herab auf die Erde gesendet hat, damit die so an ihn glauben, nicht verlorengehen, sondern das ewi^c Leben haben lJoh. 3, 16.)! Möge aber auch mein Glaube diese unmittelbare, lebendige Anschaulich« feit und Gewißheit erhalten, welche der Bericht des Apostels an sich trägt. Zwar die fleischliche Erfahrung, welche der Lebensgenosse Jesu von seiner fleischlichen Erscheinung auf Erden hatte, können wir nicht mit ihm theilen, die wir Ihn nicht mit eigenen Augen sehen können, sondern bloß die Kunde von ihm lesen. Aber das Leben Jesu trägt in sich eine Wahrheit, die wir (n uns selbst erfahren und erleben können, ohne dazu der SinnrS « Anschauung ju bedürfen, wenn wir nur unser Her; ganz hingeben und unsern innern Einn ausschließen wollen; dieser innern Wahrheit können wir unmittelbar gewiß werden, wenn wir nur wollen, wenn wir nur Hinneigung und Vertrauen haben zu dem, was das Merkmal der Wahrheit an sich träge, und deren wohlthätige Kraft äusscrt. Es ist eine ewige Wahrheit, die jedeS Her; anspricht, das nicht ganz verunreinigt und verhärtet ist, eine Wahrheit, die zu eines jeden Menschen Heil nothwen« big und unentbehrlich ist, eine Wahrheit, welche zu ihrer Beglaubigung nicht der äussern Zeugnisse und Erfahrungen bedarf, sondern ihre Gewähr in sich selbst trägt. Es ist die Wahrheit, daß die Erligkeit des Menschen nur in der Einheit mit Gott ist, daß aber alle Menschen, so viel an ihnen ist, auS dieser Einheit herausgefallen sind und daher in Unfeligkeit und Finsterniß leben, und daß die Bessern höchstens die Sehnsucht und das Bedürfniß fühlen, zu die­ ser Einheit zurückzukehren, daß aber Keiner im Stande ist, aus eigener Kraft dieses Ziel zu erreichen, weßwegen uns Gott einen Erretter tmb Führer, Jesum Christum, sen­ den mußte, einen Menschen, wie wir sind, brr aber an

3 Weisheit unb Gerechtigkeit unendlich erhaben über alle Men« schen war, der die Menschheit mit einer unendlichen, über­ menschlichen Liebe liebte und für fit in den Tod ging, einen Menschen, in welchem Gott selbst mit aller seiner Weisheit und Gnade war, mit einem Worte seinen eingebornen Sohn. Dieser ergriff uns hülfreich bei der Hand, um uns zum Vater j« führen, dieser trat mit uns in die Gemeinschaft der Liebe, um uns in die Gemeinschaft mit dem Vater ju bringen, auf daß wir mit dem Sohne und dem Vater und unter unS in Liebe eins wären. Wenn wir nun recht innig vom Gefühl unserer geistigen Hülfsbedürftigkeit durchdrun­ gen find, unsere Schwachheit und Fehlerhaftigkeit erkennen, und uns sehnsuchtsvoll der uns von Christo dargebotenen Hülfe entgegen neigen; wenn wir erkennen und fühlen, daß in ihm das wahre Leben, das Himmelslicht erschienen ist, wenn wir unser Herj der geistigen Kraft, die uns aus ihm entgegen strömt, aufthun und uns von derselben durchdringen lassen; wenn diese Kraft in uns ein neues, reines Le­ ben schafft, alles Unlautere in uns tödtrt, und daS in uns schlummernde Bessere erweckt, stärket und gestaltet, so daß wir von nun an der Wahrheit, der Liebe, der Gerechtigkeit, mit einem Worte» Gott leben: dann wird die hrilsvolle Erscheinung Christi auf Erden in uns unmittelbare, leben­ dige Thatsache und unsere Erkenntniß von ihm eben so ge­ wiß, als die deS Apostels ist, obgleich dieser die äussere Erfahrung vor unS voraus hat. Um uns zu dieser innern, festen Gewißheit des Glau­ ben- t» führen, dazu ist dieses Evangelium am meisten vor den übrigen allen geeignet. DaS Alterthum nannte es daS geistige Evangelium, weil es uns den Erlöser in sei­ ner geistigen Wirksamkeit, in seiner innern Herrlichkeit mehr als die andern schauen lässet, welche uns mehr von seinem leiblichen Leben, von seinen Wunderthaten und Schicksalen erjählen (Eusebius Kirch. Gesch. VI. B. i4. Kap.). Jo­ hannes stellt uns Jesum dar, als bas ewige Wort der Wahr­ heit, als daS Licht der Welt, als den, in welchem keine Sünde war, als das Vorbild der Liebe, als den Sohn deA 2

4 himmlischen Vaters, der uns zur Gemeinschaft der Selig, feit führt, der zu unserer Erlösung herabgestiegen, und uns vorangegangen, um uns bei'm Vater eine Statte zu bereiten. Um ihn als solchen zu erkennen, brauchen wir nur die Au­ gen des Geistes aufzuthun; wir brauchen nur die geist. und lebensvolle Schrift deS Apostels mit lebendigem Geist, mit empfänglichem Herjen zu lesen, um gan; von der beseligen, den Erkenntniß der in Christo rrschienenen Wahrheit durch­ drungen zu werden. Andere Apostel hatten auch die Erscheinung Jesu mit Augen gesehen und mit Händen betastet; aber sie schauten ihn nicht, so wie Johannes, in seiner geistigen Herrlichkeit. Er drang am tiefsten in den Geist Jesu ein, weil er ihn am meisten liebte und seine Liebe am meisten verdiente. Er war der Schooßjünger des Herrn, und pflegte bei Tische an seiner Brust zu liegen (Joh. iS, 33.). Große AuSzeichnung der Geliebtcste desjenigen zu seyn, welcher die Fälle aller Liebe im Herzen trug, und alle Menschen, selbst die Verlorenen und Sünder, mit Liebe umfaßte! Wie liebenswürdig muß der gewesen seyn, den Er als Busenfreund an sein Herz schloß? Aber diese Liebenswürdigkeit war gewiß nicht die der anssern, leiblichen Anmuth und Wohlgestalt; denn kein edler Mensch liebt bloß wegen äußerer Vorzüge, geschweige Christus, der die göttliche Liebe selber war. Auch war es nicht die Liebenswürdigkeit geistiger Vorzüge und Annehmlichkeiten, solcher Eigenschaften, welche die Menschen im Umgang und in der Unterhaltung anziehend machen; denn um deswillen hätte ihn Christus nicht so aus­ zeichnen können, ohne sich einer menschlichen Schwachheit schuldig zu machen. Derjenige ist am liebenswürdigsten, der am meisten und reinsten zu lieben weiß, der sich dem Guten, dem Schönen, dem Erhabenen, dem Göttlichen mit dem reinsten Herzen, mit der wärmsten Begeisterung hingiebt; und so erschien Johannes seinem Meister am lie­ benswürdigsten, weil er Ihm , in dem alle Fülle der Gott­ heit war, mit der meisten Liebe entgegen kam, weil er sich mit Innigkeit und Ergebenheit zu Ihm hinneigte, weil ihn

5 eine göttliche Regung, ein göttlicher Zug zu dem hinzog, in welchem er dir Befriedigung aller seiner Sehnsucht zu finden gewiß war. Und so schloß ihn der göttliche Menschen­ freund vor Allen an sein liebevolles Herz, und schenkte ihm sein innigstes Vertrauen; er gewahrte ihm das einzige Glücks am Busen des Welterlösers zu ruhen, der Geliebteste unter den Millionen, zu seyn , die Er als seine Brüder liebte. Diese Liebe , diese innige, vertrauliche Gemeinschaft der Liebe, war es, die dem Apostel die Erkenntniß Christi in seiner innern göttlichen Herrlichkeit ausschloß. Wah­ rend die andern Apostel, die ihn nicht so liebten, wie Jo­ hannes, mit staunender Bewunderung an ihm hangend, seine äussere Herrlicksteit ins Auge faßten, und in ihm den künftigen Herrscher des von ihnen gehofften mächtigen Weltreiches sahen, hing dieser liebendste und geliebteste Jünger mit dem Auge des Geistes an der geistigen Lichtge­ stalt beß Erlösers, und sonnete sich an dem Himmelslicht, das in ihm leuchtete. So ist es immer die Liebe, welche den Menschen veredelt, erhebt, der Begeisterung fähig macht, zu höherem Streben erweckt, für das Höhere einpfanglich macht. Die Liebe ist von Gott; und wer lieb hat der ist von Gott geboren und kennet Gott (1 Joh. 4, 7.). Die Liebe ist die Him­ melskraft, welche das Herz ausschließt, erwärmt, reinigt; sie, von Gott entsprungen, erhebt die Menschen zu Gott, und führt sie seinem Ebenbild und Stellvertreter auf Erden, Christo entgegen. Wer Ihn recht liebt, der hat ihn recht erkannt, und in seinem geistigen Wesen erkannt; der sucht in Ihm nichts, was seinen Sinnen und seiner Eigensucht schmeichelt, sondern unterwirft sich seinem göttlich reinen Willen, der von ihm Entsagung, Selbstverleugnung, Läu­ terung fodert, der giebt sich ganz der aus Ihm strömenden, alles Irdische auflösenden und verklärenden Kraft hin, der läßt sich von ihm neu schaffen und verjüngen. So will ich denn Ihn lieben mit aller Kraft meines Herzens, will mit kindlichem Vertrauen mich zu ihm neigen,

6 daß er mir feine Arme öffne und mich an seine Brust schließe: dann wird mir auch sein geistiges verklärte- Bild erscheinen» das feilt geliebtester Junger in diesem Evangelium mit de« sanften Farben reiner Himmelsliebe gezeichnet hat. O Lie­ be, Himmelskraft, Licht von oben, komm und erfülle mein Herz, mache es würdig und fähig, Christum so julieben, daß er sich mir in seiner ganzen göttlichen Herrlichkeit offen­ bare, ziehe mich hin an feine liebequellende Brust, daß mich die Schöpferkraft, die au- ihm strömt, durchdringe, mich von allem Unlautern reinige und meinen Geist erleuchte, seine seligmachende Wahrheit zu fassen. Niemand, sagt Christus, kann zu mir kommen, e- sei denn daß ihn ziehe der Vater, der mich gesandt hat (Joh. 6., 44.). O Vater, Urquell der Liebe, Quell aller geistigen Regung, der in unS wirket beides da- Wollen und das Vollbringen, o laß die Gewalt deines Geistes, die Kraft der reinen Liebe mein Herz ergreifen und zu dei­ nem Sohne ziehen, daß ich ihn liebe, ihn erkenne, an ihn glaube, und durch ihn das ewige Leben habe! Amen.

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Cap. 1, i — 18.

Des ewigen Mortes Gottes Menschwer­ dung in Jesu Christo. Erster Abschnitt. (D.1-S.)

durchdrungen von der Wahrheit, daß Jesus von Nazareth der eingeborne Sohn GotteS sey, der, wie kein Gottgesandter vor ihm, die göttliche Wahrheit und Gnade geof­ fenbart, und gleichsam hingerissen von der begeisterten An­ schauung der göttlichen Herrlichkeit desselben, erhebt sich der Apostel, ehe er seine Leser durch Zeugnisse und Thatsa­ chen von der göttlichen Sendung und Würde seines Herrn und Meisters zu überzeugen beginnt, zudem höchsten Ge­ danken, der ihn bei seinem ganzen evangelischen Bericht leitet; die heilige Begeisterung nimmt ihn, wie rin Adler, auf ihre Fittige, und trägt ihn empor der ewigen Sonne entgegen, hin zu dem Urquell aller Wahrheit, alles Lichtes und alles Lebens. Erhaben über dem Lauf der Zeiten und der Geschichte der Welt, schaut er mit enthülltem Seher« -Blick Ihn, in welchem sich dem Menschengeschlechte die Gnade und Wahrheit Gottes, ja Gott selbst geoffenbart hat; er ficht ihn in der Ewigkeit bei Gott thronen, die Schö­ pfung der Welt vollbringen und von Anfang an, Leben und Licht entzündend in allem Geschaffenen, das göttliche We« sen durch göttliche Wirksamkeit offenbaren. Alles, wodurch sich Gott von Ewigkeit her der Welt kund gethan, gehört Ihm eben so, wie die letzte und höchste Offenbarung; es ist

a nur Eine Offenbarung von Anbeginn bis jur letzte» Zeit, so wie «S nur Eine Wahrheit und Ein Licht giebt, welche den Menschen zwar in verschiedenen Graden der Klarheit er. schienen, aber immer dieselben find. Der Jünger, der a» Jesu Busen lag, und die menschliche Erscheinung des Soh­ nes Gotte- menschlich fühlend mit zärtlicher Liebe umfing, er hat, nachdem der Gottmensch in dem für die Menschheit -ollbrachten Opfer die menschliche Hülle abgelegt und fich zur sittlichen Herrlichkeit verklärt, und er selbst auch das Opfer der menschlichen Persönlichkeit seine- geliebten Freun­ des in seinem Herzen vollbracht hat, da- ewige Wesen» die reine Göttlichkeit, die fich in ihm geoffenbart hatte, mit der Kraft des Geistes in sich zur verklärten Erkenntniß ge­ bracht; feilt Erlöser ist zum Himmel aufgestiegen und thront zur Rechten Hand Gottes, und er folgt ihm mit aufstreben­ dem Geiste; der ewige Christus, das inihmgevffenbarte ewige Wort ist nun der Gegenstand seines Glaubens und feiner Liebe, Ihn umfängt er, wie einst de« irdischen» mit aller Kraft des liebenden Herzens, und auf Ihn weist er alle diejenigen hin, welche durch den Glauben an ihn wol. len selig werden. So schwinge dich denn, mein Geist, mit dem begeister­ ten Seher auf zu der erhabenen Betrachtung! folge ihm zur Anschauung des ewigen Christus in der Herrlichkeit, die er von Anbeginn bei Gott gehabt! Wer an Christum glaubt, muß ihn als den Ewigen, als den Offenbarer der reinen ewi­ gen Wahrheit erkannt haben, in welcher kein Wandel noch Wechsel ist, welche nicht milden rollenden Zeiten entsteht und vergeht, sondern von Ewigkeit her ist, und in alle Ewigkeiten dauert. Wie könnte Er sonst der wankenden Seele Stütze, der irrenden Führer seyn, wenn er selbst in den Wechsel des Vergänglichen verschlungen wäre? Woher nähme die Hoff­ nung im Sturme der Prüfung den festen Anker, der in den ewigen Grund hinabrricht, wenn der» aufweichenste hinge­ richtet ist, selbst mit von den Wogen fortgerissen, wenn er eines der vorübergehenden Geschöpfe dieser Erde wäre, deren Erscheinung, wie glänzend sie seyn mag, wieder spurlos ver-

9 schwindet? Christus ist in der Fülle der Zeiten im Fleische erschienen; aber das ist nur seine irdische Erscheinung; er selbst ist von Ewigkeit her , sein Geist erfüllet schaffend unb regierend die Welt, dir Wahrheit, die er geoffenbart hat, ist das Gesetz, durch welches die Welt ist und besteht. Und wer an ihn glaubt, der glaubt an den, der die Welt geschaffen hat und sie mit unwandelbarer Weisheit regiert; wer sich feiner Lehre unterwirft, der unterwirft sich dem ewigen Ge-, fetze Gottes. Im Anfang war bas Wort, unb das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort (V. i.). Das Wort Gottes ist die ganze Thätigkeit desselben, durch welche er sich offenbart und kund thut, durch welche er wir­ ket unb schaffet. Wenn die Schrift Gottes Wirksamkeit be­ zeichnen will, so sagt sie, daß er spreche. Er sprach: es werde Licht, und eS ward Licht (i. Mos. i, 5.). Er spricht, und es geschieht; er gebeut, und es steht da (Pf: 53, 9.). Der Himmel ist durch das Wort des Herrn gemacht, unb alles seinHeer durch d e n G eist seine# Mundes (Ps. 33, 6.). Nur selten steigen die heiligen Schriftsteller so sehr zur merischlichen Vor­ stellungsart herab, daß sie Gott mit den Handen wirken las­ sen , und so auch die Welt se in e r Hä n d e We r k nennen. Durch die Rede offenbart sich der Geist und Wille eines Menschen am reinsten, und so nähern wir uns am meisten der reinen Geistigkeit Gottes, wenn wir ihn durch das Wort wirkend denken. Vorzüglich aber wird auch mit dem Worte Gottes dessen Wirksamkeit als des Lehrers der Mensch­ heit bezeichnet. Alles Licht der Erkenntniß kommt von ihm, dem Vater des Lichts; vorzüglich aber kann die Erkenntniß seiner selbst, die heilige Wahrheit nur von ihm selbst aus­ gehen. Er hat den Geist, den unsterblichen, der des Ewi­ gen empfänglich ist, in unsere Seele gehaucht, und das Licht der Vernunft in uns entzündet; er hat alle diejenigen er­ weckt und begeistert, welche durch ihre hohem Gaben und Einsichten Lehrer unb Führer der Menschen geworden sind. Wenn die heilige Schrift uns die Lehren und. Thaten solcher

IO

gottbrgeistertrn Menschen berichtet, so pflegt fle gewöhnlich ju sagen: Gott habe zu ihnen dieses und jenes gesprochen, ihnen diesen und jenen Befehl ertheilt. So sprach Gott z« de« ersten Menschen, welche mit ihm in einem nähern Um­ gang standen, als die spätern; so sprach er ju Abraham, welcher in einer götzendienerische« Zeit allein die Erkenntniß -es wahren Gottes bewahrte; f» st»rach er zu Mose, «el» cher den Dienst deffilben im Volke Israel befestigte; so sprach er zu den Propheten, welche die göttliche Wahrheit immer mehr enthüllten; und so wird fast alles, was dir Schriften des alten Bundes von Gottes Erkenntniß enthalten, als Wort Gottes «itgttheilt» ja die heilige Schrift selbst nen­ nen wir Wort Gottes. Indem nun Gott den Menschen die Erkenntniß feines Wesens und feines Willens mittheilt, so offenbart er sich ihnen selbst; sein Wort ist seine Offenbarung, und feine Thätigkeit, durch welche er auf dir Erkenntniß der Menschen wirkt, ist eine selbstoffenbarende. Gott aber offen, bart sich nicht nur durch die in Menschen. Geistern erweckte Erkenntniß, sondern auch schon durch die Werte, welche er der menschlichen Vernunft zur Betrachtung hinstellt, und in welchen sie ihn erkennen kann. Sehen wir den Himmel, den Mond und die Sterne, so erkennen wir, daß das Gottes Werk ist, daß nur seine allmächtige Hand solches bereitet ha. ben kann. Gottes unsichtbares Wesen, das ist, seine ewige Kraft und Gottheit, wird ersehen, so man deß wahrnimmt, an den Werken, nam. lich an der Schöpfung der Welt (Röm. i, 20.). Mithin kann man unter dem Worte GotteS alles dasjenige begreifen, wodurch sich Gott den Menschen offenbart, seyen es Werke der Schöpfung und Weltregierung, seyen es Wor. te derer, die von seinem Geiste erfüllt sind. Und in diesem weiten Umfange nimmt der Apostel hier das Wort Gottes. Aber es bezeichnet in feiner Sprache nicht nur das von Gott Geoffenbarte, sondern dessen offenbarende Thätig, teil selbst, die Richtung seines unendlichen Wesens nach der Welt und feinen Geschöpfen in ihr hin, gleichsam das ihm entstrahlende Licht, den Geist, der sich von Gott aus in

fnttt Schöpfung ergießt, sie schafft, erhalt, belebt und titfr täubet, und dadurch sein ewiges, unsichtbares Wesen kund thut. In diesem Sinne nimmt der Apostel eigentlich das Wort Gottes. Ja, es kann seyn, daß er unter demselben noch mehr versteht. Das griechische Wort, welches er im Erundte-t gebraucht, und welche- Logos lautet, bezeichnet nicht nur Wort und Rede, sondern auch Verstand und Weis­ heit, indem sich der Verstand des Menschen vorjäglich durch seine Rede kund thut, und die Rede eia äußerlich gewordener Verstand und der Verstand rin inneres Wort ist. Beides, Wort und Verstand, trifft nun auch in dem zusam­ men , was der Apostel Gottes Wort oder Gottes Offenba­ rung nennt: das Wort ist die geoffenbarte Weisheit Got­ tes, und seine Weisheit wohnt in ihm als ein inneres Wort. Wie sich des Menschen Geist und Verstand durch seine Reden offenbart» so offenbart Gott seine unendliche Weisheit gleichsam sprechend, indem er in seinen Schö­ pfungen, Fügungen und Wirkungen für den betrachtenden Geist der Menschen immer deutlicher hervortritt, und in der wunderbaren Ordnung und Schönheit der Welt fein inneres Wesen abspiegelt. O es ist ein großer- jugleich erhebender und tröstli­ cher Gedanke, daß Gott sich den Menschen selbst offenbart, daß er liebend heraustritt au- seiner Ueberschwenglichkeit und Selbstgenügsamkeit, aus dem Lichte, welchem kein er­ schaffenes Wesen nahen kann, und sich in seinen Werken, gleichsam wie in Abbildern seines Wesens, wie in Ausstrah­ lungen feine- Lichtes, kenntlich macht; daß er, nachdem er die Welt geschaffen, und Wesen hervorgerufen, in die er einen Funken seine- Geistes warf, denen er einen leben­ digen Athem einhauchte, mit diesen gleichsam in Umgang getreten ist, zu ihnen gesprochen und ihnen höhere Gedan­ ken eingegeben, sie als Lehrer ihrer Brüder au-gesandt und durch sie feine Erkenntniß verbreitet hat; daß er, eine weise Stufenfolge beobachtend, die Erkenntniß seiner selbst nur nach und nach enthüllt, und die blöden Augen der Men«

sitzen an das ewige Acht gewöhnt, indem er es mildernd in einem unendlich mannichfaltigen Fardenreichthnm über das Menschengeschlecht ausgießt, diS er es späterhin gleichsam wieder in den Brennpunkt faßt und die reine Wahrheit end« lich in Christo schauen lässet. Sein Wort geht durch die ganze Schöpfung zugleich mit dem rauschenden Strome der Zeit, und ihm lauschen alle Geschöpfe, denen er die Fähig­ keit eS zu vernehmen verliehen hat. Von der ersten Bewe­ gung der Materie, durch welche sich das Licht in die Welt ergoß, von dem ersten Lobgesang, welchen die kreisende« Sonnen und Erden im wohlgeordneten Reigentanj anstimm­ ten, von der ersten Regung im Reiche der Geister, als ei» Geist zum Bewußtseyn seiner selbst und seines Schöpfers er­ wachte, bis auf unsire Zeiten, wo sich daS Licht der Got» trserkenntniß über die Völker des Erdbodens gleich dem hellen Lichte des Tages verbreitet hat, und Millionen in Erkenntniß und That zu einem Reiche GotteS und zu feinem heiligen Dienste vereinigt sind, ist daS Wort Gottes fort und fort erschallt, und hat feine Weisheit und Güte fort und fort fu uns geredet im Rollen des DonncrS, im Draufen des Sturmes, im Säuseln sanfter Frühlingslüfte, in der Pracht und Herrlichkeit der Sonne und des gestirnten Himmels, im Glanze der jungen Frühlingsschöpfung, im Se­ gen der Früchte bet Erde, in den Bewegungen des Völkerlebcns, in den Fügungen der Geschichte, in den Gesetzt» und Lehren weiser Männer, in den Reden und Gesänge» gottbegeisterter Seher und Dichter, vor allem aber in den Aussprüchen und Schriften der Propheten desjenigen Vol­ kes, welchem Gott die wahre Gottrserkenntniß und den rei­ nen Gottesdienst anvertraut hatte, und zuletzt in der Erscheiaung dessen, auf welchem der Abglanz GotteS rührte und in welchem Gott selbst war. So erscheint dem erwachendtn Auge des neugebornrn Kindes die Welt anftmgS als ei» buntes Licht - und Farbenspiel, cs staunt die fich ihm darstellenden Dinge an, ohne sie zu verstehen, es vernimmt Töne und Schälle, ohne einen bestimmten Sinn damit zu ver­ binden, bis sich ihm endlich die menschliche Stimme kund

girbt» und so feint Vernunft erwacht; die Mutter, der Va­ ter reden zu ihm, und erwecken in ihm vernünftige Gedan­ ken und Gefühle; und die verehrte Gestalt de- Vaters erscheint ihm endlich als daS lebendige Bild der Vernunft und Weisheit und als der Wegweiser zu Gott und dessen heil­ bringender Erkenntniß. Das Wort, sagt der Apostel, war im Anfang; es war bei Gott. Die Offenbarung Gottes und seines WesenS, die sich durch die Natur und Geschichte fort und fort entwickelt hat, hat ihren Ursprung im Uranfang der Dinge, ist nicht erst ein Erzrugniß der Dinge, sondern de­ ren Grund und Anfang selbst, ist nicht daS Werk einer end­ lichen Kraft, sondern der Thätigkeit Gottes selbst. Es ist aber auch nicht bloß ein Werk von ihm, oder gleichsam ein abgerissener Theil seines Wesens, so wie die Erbe und die Sonne ein Werk von ihm sind, in denen wir etwas von fei­ nem Wesen, aber dieses nicht selbst ahnen: sondern er ist es selbst, er ist selbst das Wort. Und Gott war das Wort, sagt der Apostel; Gott hat sich in seinem Wort, in seiner Offenbarung ganz selbst geoffrnbaret > in dem allen, waS Gott geschaffen und gewirkt, was er von seiner Erkennt­ niß den Menschen mitgetheilt, ist er ganj erkennbar, weil er ganj darin wirksam ist, nicht nur an sich selbst in seinem verborgenen und überschwenglichen Wesen, sondern auch in der Schöpfung und Regierung der Welt und in feiner gan­ zen Selbstoffenbarung: und so ist er auch ganz erkennbar und wirksam in Christo gewesen, persönlich in ihm mit sei­ nem Wesen erschienen; er und der Vater sind eins. Cs liegt rin tiefer Sinn in den Worten: Gott war das Wort: laßt uns in denselben einzudringen suchen. Es ist kein Mensch, kein Volk, dem nicht irgend ein Wort, eine Offenbarung Gottes zugekommen wäre; aber nicht jede Offenbarung Gottes ist Gott selbst, und seinem Wesen ganj angemessen. Selbst die Heiden hatten, wenn auch verunreinigte, Begriffe von Gott, und ihre Götterbilder stellten irgend eine Kraft oder Eigenschaft Gottes dar; aber sie verehrten das Geschöpf anstatt des Schöpfers, und ver-

i4 wandelten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes in Bilder vergänglicher Menschen und Thiere (Röm. i,a3)> ihnen war das Wort nicht Gott. Zu den Israeli­ ten hatte Gott auf mancherlei Weise geredet durch die Pro­ pheten, und sie hatten reinere Erkenntnisse vom höchsten Wesen. Aber auch diese nicht erkannten in dem Worte und der Offenbarung Gottes Gott ganj, wie er ist. Die alttestamentliche Offenbarung war reiner und vollkommener, als die der Heiden, und doch war in ihr noch nicht Gott selbst, sondern nur in Gesetzen, Verfassungen und Bildern abge­ bildet. Erst Christus war das Wort GotteS, daS Gott selbst war; wer ihn sah, der sah den Vater. Aber unter denen selbst wieder, die an ihn glauben, sind viele, welche ihn nicht so erkennen, wie er mit dem Vater eins ist, für die das Wort nicht Gott selbst ist. Wir wollen nicht diejenigen nennen, welche mit Arius in den Fehler verfiele», Christus als ein geschaffenes, zwar über alle Geschöpfe erhabenes, aber doch nicht Gott gleiches und mit ihm eins seyendes Wesen zu denken; denn dieser Irrthum ist langst aus der christlichen Kirche ausgerottet. Auch nicht diejenigen wollen wir hier anführen, welche die Gottheit Christi leugnen, und ihn für einen bloßen Menschen halten; denn ihr Irrthum liegt ju weit von dem Sinne unserer Stelle ab. Wir wollen hier gerade von solchen reden, welch« die Gottheit Christi annehmen, aber nicht so von ihm denken, daß ihnen sein Wort Gott selbst ist, daß sie darin Gott unmittelbar erkennen und verehren. Und dieses thun solche Christen, welche der christlichen Offenbarung nicht darum glauben, weil in ihr die göttliche Wahrheit selbst erschienen ist, sondern andere Beweise für sie fordern, als die in ihr selbst liegen; welche nicht durch rein geistige Erregung ju ihr hingtjogen werden, den Geist Christi nicht in sich aufnehmen, und nicht in der verklärten Gestalt desselben Gott selbst erkennen, sondern sich götzendienerisch an den Buch­ stabe» seiner Lehre, an das Acußerliche seiner Erscheinung hängen, und durch seine Person, die sie abgöttisch verehren, sich von Gott eher abjichen als ju ihm hinjiehrn lassen.

i5 Da- Persönliche in Christo ist für den Glauben unendlich wichtig, aber nur in sofern darin Gott geoffenbaret ist; wer es aus andern Gründen liebt und hochhält, dem ist das Wort nicht Gott. DaS Fleisch ist tu nichts nütze, nur der Geist macht lebendig. (Joh 6, 63.). — Stets will ich mich daher bestreben, daß mein Glaube au Christum rein von allem Fleischlichen und Götzendienerische» sey, daß er meinem Geiste immer nur als Gott erscheine, als der Bote, Sprecher und Verkündiger Gottes, daß mir seine menschliche, irdische Erscheinung gleichsam die durch­ schimmernde Hülle der in ihm wohnenden Gottheit, und jedes seiner Worte der Hall des ewigen Wortes Gottes sey. Dasselbige war im Anfang beiGott. Alle Dinge sind durch dasselbige gemacht, und oh. ne dasselbige ist nichts gemacht, was gemacht ist (D. a. 3.). Nochmals sagt der Apostel, daß das Wort im Anfang bei Gott war, und dann geht er zu dem neuen Gedanken über, daß dasselbe die weltschaffende Thätig­ keit Gottes ist. Wir haben diesen Gedanken schon voraus» genommen, indem wir uns einen umfassenden Begriff des Wortes tu verschaffen suchten. Gott hat sein Wort ausge. sprechen, und sich dadurch geoffenbart, indem er die Welt geschaffen hat: das ist dir erste Offenbarung Gottes. Hier sagt der Apostel eigentlich nur, durch das ewigeWort Got­ tes sey die Welt geschaffen: anderwärts wird dieses von Christo selbst oder dem im Fleisch erschienenen Worte ge­ sagt. Durch ihn ist alles geschaffen, das im Himmel und aufErden ist, das Sichtbare und Unsichtbarer es ist alles durch ihn und ju ihm geschaffen (Col. i, 16.). Aber auch so ist es nur vo» dein ewigen Christus zu verstehen, ober von dem in ihm wohnenden Gott. Es wäre sinnlos zu sagen, daß der Mensch Jesus, ein Geschöpf wie andere Geschöpfe, die Welt geschaffen habe; dagegen ist es von hoher Wichtigkeit, in ihm und seiner Erscheinung die Offenbarung des ewigen Wclischöpfcrs zu glauben. Hat er uns die göttliche, ewige Wahrheit, den heiligen Willen Gottes, ge-

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offenbart, so hat er uns eben dadurch die Weisheit des Welt« schipferS und die Gesetze, nach welchen die Welt entstanden ist und besteht, kund gethan. Wir meinen damit zunächst nicht die phyfischen Gesetze, die Gesetze der Bewegung und Wechselwirkung der Körper r diese mögen die Weltweisen er« forschen, und fit stnd nicht einmal die oberste« Grundgesetze der Weltordnung. Wir meinen die geistigen Gesetze der Einheit, Nothwendigkeit und Zweckmäßigkeit, denen alles, «aS im Himmel und auf Erden ist, unterworfen ist. Alles ist zur Ehrr GvtttS und zur Verherrlichung feiner Weisheit und Güte geschaffen; alles waS ist, ist da, um den Willen GotteS zuerfülle«; Winde macht er zu seinenBoten und Feuerflammen zu seinen Dienern (Ps. »o4, 4.). Der Stern, der stine ihm vorgeschriebene Bahn wandelt, und der Menschengeist, der nach den Gesetzen der Tugend lebt, beide vollziehen den göttlichen Willen auf ihre Weife. Heilig leben heißt dem Willen Gottes gemäß und im Ein« klang mit dem von ihm vorgeschriebenen Gesetze desWeltgan« zen leben, und dem von seiner Weisheit gesteckten Ziel alles SeynS und Leben- mit Gestnnung und That entgegen streben. Daß aber in Christo der Weltschöpfer sich geoffenbart hat, gilt besonder- noch in Ansehung der Kraft, die in ihm wirksam war, und welche eins ist mit der weltschaffen» den Thätigkeit GotteS. Mit Recht nennt die heil. Schrift die geistige Umwandlung oder Wiedergeburt, welche Christus in den Menschen bewirkt hat, eine neue Schöpfung. Es ist die Kraft der Freiheit, die reine Kraft des von der Sinnlichkeit befreiten Geistes, welche durch Christus in den Gläubigen wirksam geworden ist, und den alten verdorbe« nen Menschen nach dem Ebenbilde Gottes umgestaltet hat. Wo der Geist de- Herrn ist, da ist Freiheit (a. Kor. 3, 17.). Ihr werdet die Wahrheit er­ kennen, sagt Jesus zu seinen Jüngern, und die Wahr« heit wird euch frei machen. Wer Sünde thut, der ist der Sünde Knecht; der Knecht aber bleibet nicht ewiglich im Haufe; der Sohn bleibet ewiglich: so euch nun der Sohn frei

*7 machet, so seyd ihr recht frei (Ioh. 8,3» — 36.). Nun aber ist diese freie, reine Geisteskraft, welche in ihrer größten Reinheit nur in Gott, dem Geiste aller Geister, ist, und welche immer nur in ihm, nicht aber in der irdischen Materie, ihre Quelle hat, diejenige Kraft, durch welche er die Welt geschaffen hat. Sie entstand nicht durch den Zu« sammenstoß körperlicher Stoffe, nicht durch Kräfte und Triebe derselben, sondern durch bas Gebot seines heiligen Willens, sie ging hervor auS dem Hauche feines allmächti­ ge» Geistes. Er wollte, daß sie wäre; ihr Seyn war rin heiliger ewiger Zweck, den feine Weisheit faßte; er gab ihr solche Gesetze, durch welche dieser Zweck erfüllt wird. So wie der gläubige Bekenner Christi nicht aus den Regun« gen des Fleisches oder Blutes, sondern aus den heiligen Trieben des reinen göttlichen Geistes, aus der Erkenntniß des göttlichen Gesetzes handelt: so schuf auch Gott die Welt nicht durch Anstoß und Trieb körperlicher Kräfte, sondern durch reine, freie Geisteskraft; und so wie Christus den Seinigen die reine, freie Geisteskraft mitgetheilt hat, so ist er eS auch, so ist es der in ihm Fleisch gewordene Geist, welcher die Welt geschaffen hat. Ueberhaupt sind alle Of« fenbarungen GotteS, welche den Menschen von Anbeginn der Welt ju Theil geworden, jede Erkenntniß der Wahrheit und der Gesetze der geistigen Welt, aus der Kraft der Frei­ heit hervorgegangen. Nicht Fleisch und Blut hat die Men­ schen höhere Gedanken gelehrt und zu heiligen Thaten be­ geistert, sondern allein die Kraft des göttlichen Geistes, wel­ cher alles, waS ist und lebt, hervorgerufen hat. Es war eine fortgehende Schöpfung, durch welche das Menschen, geschlecht nach und nach zu immer reinerer Gotteserkenntniß erhoben und so immer mehr veredelt und geheiligt wurde; es war der göttliche Schöpferrufr es werde Licht! welcher fort und fort wirkte in der Menschengeschichte, und die gei­ stige Welt immer mehr erhellte, indem er die Finsterniß des Aberglaubens und der Sünde vertrieb. O wie muß mich der Gedanke erheben, daß, wenn ich dem Gebote Christi, treu von seinem Geiste erfüllt, lebe und Bibl. Erbauungsb. I. B

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handle, der weltschaffende Geist Gottes in mir wirket, daß dann die göttliche Kraft, welche schaffend und erhaltend durch die Welt gehet, auch meine Brust entzündend und er­ regend durchzuckt, daß ich in meinem Leben das heilige Gesetz Gottes, nach welchem Alles geordnet und gestaltet ist, ab­ präge, und meinem Schöpfer in demüthigem Gehorsam, in kindlich treuem Sinne nachschaffe! Dieser Gedanke muß alles Unheilige und Unreine aus meinem Herzen bannen, mich erheben von dem niedern Treiben dieser Erde, und mich tmporjithtn zu den Sternen, die mit reinem Lichte zu mir hernieder strahlen, und in ihrem wohlgeordneten, einstimmi­ gen kaufe, durch keine Störung unterbrochen, den Einklang des Weltalls bilden helfen. Lebe dem Gesetze des Schö­ pfers gemäß, dem Gesetze, dem alle Geschöpfe gehorchen müssen, wenn sie sich nicht von der Einheit des Ganzen los. reißen und in den Abgrund des Verderbens stürzen wollen, erfülle an deinem Theile, in dem dir angewiesenen Kreise, die Bestimmung alles Lebendigen: welches Gebot kann er­ habener und heiliger seyn, als dieses? Welches kann ein reines Herz mehr begeistern? Und wie ist der Christ dadurch so hoch gestellt, daß ihm durch seinen Heiland die Einsicht in das göttliche Weltgesetz verliehen, daß seine Vernunft in Stand gesetzt ist, die ewige Wahrheit, den Inbegriff aller göttlichen Gesetze zu fassen! So erhebe dich denn, mein Geist, zu dieser höchsten Weisheit, und du, mein Herz, du schwaches nur zu oft von irdischen Trieben verunreinigtes und beun­ ruhigtes Herz, sey immer stark und rein und fest, um die erkannte Wahrheit als ewige Richtschnur festzuhalten, bleibe deinem Gott und Schöpfer getreu, so wird mit feiner Kraft auch sein Friede und seine Seligkeit dich erfüllen! — In ihm war das Leben, und daS Leben war das Licht der Menschen (V. 4.). Das Schöpfrrwort Gottes ist die Quelle des Lebens; schaffen heißt beleben. Belebend war das Wort Gottes: Es werde Licht! Belebend sein Wort, durch welches er die Himmelslichter hervorrief, und in ihre Bahnen wies; belebend das Wort, durch welches er Pflanzen und Thiere auf der Erde entstehen

»9 ließt Leben, geistiges Leben entzündend war der Hauch, durch welchen er dem Menschen eine lebendige Seele einblieS. Leben erhaltend und fort und fort entwickelnd wirkt der Geist TotteS in der Natur noch heute; eine fortgesetzte Schöpfung und Belebung ist die Erhaltung alles Geschaffe­ nen. Belebend waren die Einwirkungen Gottes auf die geistige Welt, durch welche er sich immer mehr für die Er­ kenntniß der Menschen offenbarte; immer freier entwickelten sich dadurch die geistigen Kräfte, immer thätiger ward der Verstand und Wille, immer mehr ward die Trägheit deS Fleisches überwunden. Ein Strom neues Lebens ergoß sich in das israelitische Volk mit dem Gesetz Moses und dem von ihm gestifteten Gottesdienst; dieser Strom wuchs und ward mächtiger in der Begeisterung der Propheten, welche reinere und erhabenere Erkenntnisse von Gott und seinem Willen verbreiteten, bis sich endlich der Quell des göttlichen Lebens selber in Christo aufthat, und sich befruchtend in die Gemüther der Gläubigen ergoß. Das lebendigste Leben ist in einem Geiste,, welcher Gott erkennt, und dessen heiligen Willen volljieht; Lebensquell ist daher das Wort GotteS, durch welches die Menschen diese Erkenntniß empfingen; in Christo ist das Leben, weil in ihm die Wahrheit ist. Der Apostel seht hinzu: und das Leben war das Licht der Menschen. Licht ist Bewegung und Leben, Finsterniß ist Trägheit und Tod. Das Leben der Körperwelt begann mit dem Lichte, welches sich über den Himmel und die Erde ergoß; das Leben des Geistes mit dem Bewußt­ seyn, zu welchem die erste Menschenseele erwachte; denn das Bewußtseyn, die Erkenntniß, ist das innere Licht. Je le­ bendiger ein Geist, desto lichter ist er in sich selbst, desto mehr Bewußtseyn und Erkenntniß hat er. Je mehr Thätig­ keit in der geistigen Welt, je mehr Aufschwung und Spann­ kraft, desto mehr Erkenntniß Gottes und seines Willens, desto mehr Bewußtseyn über die Bestimmung des Menschen und die Gesetze seines Daseyns. Wo hingegen die Träg­ heit herrscht, da ist Finsterniß, Aberglaube und thierisches Hinstarren. DaS Wort Gottes war zugleich belebend und B 2

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erleuchtend, erregte die Kräfte des Geiste-, «ob erhöhete dessen Bewußtseyn. Die Begeisterung der Propheten warf Funken neues Lebens in das Volk Israel, und strahlt« das Licht höherer Erkenntniß von sich, bis endlich das Licht der Welt in Christo erschien. O Christ! öffne dein Her; der belebenden Kraft, die aus dem Worte Gottes kommt, und nimm die Strahlen seines Lichtes auf, damit in dir Leben und Licht entzündet werde'. Eiche, wie in Gottes Schöpfung Alles sich hin nach dem Lichte wendet, und von ihm Leben saugt; siehe wie im Le­ ben der Menschheit der Geist nach immer höherer Erkenntniß ringt, und sich in ihm eines erhöheten Lebens freut! O ergieb dich nie der Trägheit und Finsterniß, scheue nie den Kampf für die Wahrheit, mißtraue nie ihrer heilsamen Kraft! Die Ruhe der Unwissenheit ist ertödtend und lähmt die Schwingen des Geisteö; die Finsterniß ist fein Grab. Glaube nicht den Einflüsterungen der Finsterlinge, welche dir die Erkenntniß verdächtig machen wollen, scheuche sie von dir, die Geister der Nacht! Deine Heimath ist düs Licht, im Reiche des Lichtes waltet Christus, in ihm ist das Leben und das Leben ist das Licht der Menschen. Und das Licht scheinet in der Finsterniß, und die Finsterniß hat es nicht begriffen (D. 5.). Das Licht der göttlichen Offenbarung hat von Anfang geschienen, zuerst in der Natur, und dann in den Be« lehrungen begeisterter Gottgcsandten; aber das Menschenle­ ben glich noch einer Finsterniß, über welche das Licht nicht siegen konnte. Die Finsterniß begriff die göttlichen Beleh« rungen nicht. Anstatt des Schöpfers betete man die Ge­ schöpfe an, und anstatt das heilige Gesetz der Welt zur Lebensrcgel zu machen, ergab man sich den Wollüsten und Leidenschaften. Eben so wenig begriff man die Lehren der Weisen und Propheten. Es gab zwar immer Einige, welche sie verstanden und ihnen folgten; aber der große Haufe verfolgte sie entweder, oder betete sie mit abergläubigem Staunen an, und hängte sich an die Worte und Hüllen ih­ rer Lehren und Stiftungen, ohne den Geist zu fassen, «nd

ohne in ihnen die Herolde des göttlichen Wortes, und in ihren Wie sehr ist Lehren die göttliche Wahrheit ju erkennen. Mose mißverstanden worden! Wie wenig hat man feinen Geist gefaßt! Eine Decke lag, wie der Apostel sagt (a. Kor. 3, >4.), auf dem mosaischen Gesetz, und der Sinn des Volkes war verstockt. Beobachtete man auch die von ihm gegebenen Gesetze und Gebrauche, so war eS doch nur bei den Meisten ein äußerliches Werk, und man verkannte die große Wahrheit, daß Gott Barmherzigkeit will und nicht Opfer (Matth. ia, 7.). Dagegen gab eS fast immer eine große Anzahl Israeliten, welche, den Dienst deS einen wahren Gottes verschmähend, dem Götzendienst anhingen, welchen also das Licht vergeblich schien, weil ste es nicht begriffen. Wie wenig Glauben fanden die Prophe­ ten! Wer glaubt unserer Predigt, klagten sie, und wem wird der Arm des Herrn geoffenbaret? (Jes. 53, 1.) Manche wurden getödtet, manche mußten, wie Elia, vor dem Schwerte fliehen, manche litten Miß­ handlung, wie Jeremia. Vergeblich schien das Licht in der Finsterniß; fie begriff es nicht.

Zweiter Abschnitt. (SB. 6.-18.)

V. 6 — 8. spricht der Evangelist vorläufig von dem nachher angeführten Zeugniß Johannes des Täufers, wel­ cher der Welt zuerst das fleischgewordene Wort Gottes ver­ kündigte. Er ging, wie die Morgenröthe, vor dem Lichte her, er war aber noch nicht das Licht selbst (58. 8.). Es scheint, daß zur Zeit des Apostels eine Parthci war, welche nur noch an Johannes glaubte, aber von Jesu nichts wußte, zu welcher wohl auch jene Christen in Ephesus gehörten, welche nur auf die Taufe Johannes getauft waren, und «id)t einmal gehört hatten, ob ein heiliger Geist sey. (Ap. Gesch. 19, 1 —5.). Gegen diese richtet vielleicht der Apostel diese Worte, und weist sie hier auf den hin, dessen bloßer Vorläufer Johannes gewesen war.

Es sollte das wahrhaftige Licht, welches alle Menschen erleuchtet, in die Welt kommen (V-9-). Luther übersetzt nach einer andern Erklärung: DaS war das wahrhaftige Licht, welches alle Men­ schen erleuchtet, die in diese Welt kommen. Die Ankunft desselben zu verkündigen, war die Bestimmung des Johannes, und als er auftrat, war die Erscheinung desselben schon nahe. Das wahrhaftige Licht sollte kommen, das Licht, in welchem kein Trug und keine Unlauterkeit ist, das alles andere Licht überstrahlt, ja die Quelle alles Lichtes ist. Johannes verkündigte freilich göttliche Wahrheit, aber sie gründete sich nur auf das kommende Wort; er verbreitete auch ein Licht unter den Menschen, aber dieses war nur von dem wahrhaftigen Lichte entlehnt. Er sollte seine nächsten Umgebungen erhellen, und diejenigen, die sich um ihn ver­ sammelten, auf den Kommenden hin weisen; dieser aber, das wahrhaftige Licht, das Licht der Welt, sollte alle Men­ schen erleuchten, seine göttliche Klarheit sich auf alle Ge­ schlechter der Menschen verbreiten; wie die Sonne sollte es sich über die Erde erheben, und auf ihr ein höheres, ein gött­ liches Leben erwecken. Es war in der Welt, und die Welt ist durch dasselbige gemacht, und die Welt kann­ te es nicht. Er kam in sein Eigenthum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf (23. 10. n.). Nun erschien wirklich das Licht, indem Jesus sein Lehramt antrat; es enthüllte seinen göttlichen Glanj vor der Welt, aber die Welt erkannte es nicht. Wie die Finsterniß der frühern Jahrhunderte es nicht begriffen hatte, so erkannte es auch jetzt nicht der große Haufe der Menschen. Huldi­ gend hatten Alle der Sonne der geistigen Welt entgegen ge, hen sollen, aber sie erkannten sie nicht. Es war der Schöpfer der Welt, der in Christo erschien; seine belebende Kraft, seine Weisheit, sein heiliger Wille, durch welche er die Welt geschaffen, erschien im weisesten und gerechtesten der Menschen; aber sie erkannten ihn nicht. Sie hätten Gott selber, dem Urheber ihres Daseyns, dem heiligen Gesetzge«

brr und Herrscher der Welt, in ihm gehorchen sollen; aber sie erkannten ihn nicht. Er kam in sein Eigenthum; er trat in dem Volke auf, dem er schon seit Abraham sich geoffenbart, dem er durch Mosen und die Propheten die gött­ liche Wahrheit kund gethan; er selbst war nur der vollendete Inbegriff aller alten Offenbarungen; in ihm hatten die Is­ raeliten das ihnen langst Eigene, die Erkenntniß des wah­ ren GottrS, in der vollkommenen Verklärung anerkennen, und ihm als die Seinen entgegenkommen sollen; aber sie nahmen ihn nicht auf» Sie verkannten in ihm eben so den Gott, der bisher unter ihnen gewohnt, sie nach heiligen Gesetzen regiert, und mit seiner Kraft erfüllt hatte, wir sie den Herrn der Schöpfung und dessen ewiges Gesetz verkann­ ten. Und warum nahmen sie ihn nicht auf, und verkannten ihn? Weil sie von der allen Offenbarung abgewichen, der längst erkannten Wahrheit untreu geworden waren, weil sie sich dem Aberglauben, der todten Werkheiligkeit und falscheu Hoffnungen ergeben hatten, weil ihnen die niedrige Gestakt anstößig war, in welcher er erschien, weil er ihre Irrthümer, Vorurtheile und Laster bekämpfte. Ach! wenn er wieder käme in sein Eigenthum, in seine Kirche, die er gegründet, wenn der ewige Geist der göttlichen Weisheit wieder einen sterblichen Leib um sich legte, und, in Gestalt und Grberden uns gleich, unter uns aufträte; wenn er die ewige Wahrheit in neuen Worten verkündigte, und unsere Irrthümer und unsern Aberglauben antastete r würden wir, die wir uns die Seinen $u seyn rühmen, ihn wohl aufneh­ men, würden wir seine Stimme verstehen und seinen Gebo­ ten gehorchen? Würden wir nicht vielleicht an ihm irre wer­ den, weil er etwa uns nicht in der Gestalt erschiene, in der wir ihn erwarteten, weil er nicht unsere Wundcrsucht be­ friedigte, weil er unsere Lehrmeinungen als irrig darstellte, und unsere Fehler bestrafte? — Prüf« dich, Christ, ob du auch wirklich der. Seine hist, wie du wähnest, ob du ihn in jeder Gestalt erkennen und aufnehmen würdest! — Er selbst wird nie mehr auf Erden erscheinen, als

am

jüngsten Tage; aber er sendet Boten ju

uns, Männer von seinem Geiste erfüllt, welche die Phari­ säer und Heuchler unserer Tage bestreiten, das Buchstabenund Werkheiligkeits-Wesen, das auch bei uns häufig als wahres Christenthum gilt, durch den lebendigen Geist der Erkenntniß und Gesinnung zu jerstören suchen. Erkennst du sie als die Seinen? Nimmst du sie auf, wie ihn selbst? Wer euch aufnimmt, sagt Jesus zu den Aposteln, der nimmt mich auf (Matth. 10, 4o.). von Allen, die feine Wahrheit verkünden.

Aber daS gilt Ach! nur zu

oft werden sie als Jrrlehrer verschrieen und verfolgt. Man glaubt die christliche Wahrheit zu kennen und zu behaupten; aber sobald sie in lebendiger Anwendung, in freier, vom Buchstaben unabhängiger Erkenntnißweise vorgetragen wird, so nimmt man an ihr Anstoß und verschmäht sie. Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werde«, die an seinen Namen glauben, welche nicht von dem Geblüt, noch von dem Willen des Flei­ sches, noch von dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind (D. 12. i3.). Denen, die das ewige Wort Gottes in Christo erkannten, der von ihm verkündigten Wahrheit huldigten, ihn als den Gesandten Gottes gläubig aufnahmen, gab er die Macht und Fähigkeit, Kinder Gottes zu werden. Kinder Gottes, des Schöpfers und Vaters Aller, sind die Menschen von Natur; sie sind seines Geschlechts, in ihm le­ ben, weben und sind sie (Ap. Gesch. 17, 28.); sie sind nach dem Bilde Gottes geschaffen (i.Mos. 1, 27.). Aber diese Kindschaft, wenn sie bloß im Geblüt, im Willen und in der Lust des Fleisches, d. h. in der natür­ lichen Zeugung, ihren Ursprung hat, ist noch nicht die wah­ re. Man kann den von Gott empfangenen Lebensgeist, den göttlichen Funken unterdrücken, und das Ebenbild ver­ dunkeln durch ein fleischliches, sündhaftes Leben; und alle Menschen waren ja von Gott abgewichen, und hatten durch Adams Fall die erste Unschuld verloren. Kinder Gottes waren die Israeliten, in sofern sie Gott aus der sündigen Masse aus-

25 gesondert, $u seinem Dienst geweihet und gehe,'liget(5. Mos.

i.

,

i4, 2.), und gleichsam erzogen hatte (5. Mos. 32 •>— i2.), in sofern er sie vor andern Völkern liebte (Mal. l, 2.). Aber sie hatten diese Kindschaft nicht im geistlichen Sinne bewahrt; sie waren Söhne Abrahamaus Geblüt und Fleisches-Willen, und wähnten als solche schon Sühne Gottes und des göttlichen Wohlgefallens theilhastig ju seyn (Matth. 3, 9.). Die Verwandtschaft und Gemeinschaft mit Gott läßt sich nicht durch fleischliche Abstammung fortsetzen; denn Gott ist ein Geist, und geistig Lst das Verhältniß, in welches wir ju ihm treten sollen. Uns ju Kindern Gottes im Geiste umjufchaffrn, erschien daS Wort in der Welt; nicht bloß auS Fleisch geboren, fleisch, liche Geschöpfe GotteS, sondern auS Gott geboren sollten wir seyn, d. h. durch die Kraft seines Geistes, der fich in unsern Geist ergießen sollte, durch die Kraft der Freiheit, des Glaubens und der Liebe sollten wir nach dem Ebenbild« Gottes neu geschaffen und ihm ähnlich werden, ähnlich an jo

Weisheit und Gerechtigkeit, ihm gehorsam, wie gutgeartete Kinder, mit ihm vereinigt und befreundet, wie Kinder mit ihrem Vater seyn sollen. DaS ist eben die neue Schöpfung, welche das Schöpferwort Gottes in der Menschheit vollbrin­ gen, das ist das höhere Leben, welches der Urheber alles Le­ bens in der geistigen Welt entjänden sollte. — O «S ist eine große herrliche Bestimmung, ein Kind Gottes, demZnbegriff aller Vollkommenheit immer ähnlicher ju werden, immer höher hinanjustrebcn jum Ziele der Vollendung! Welch eia seliges Gefühl, mit seinem Gott versöhnt, seiner Liebe wib seines Wohlgefallens gewiß ju seyn, sicher in den Ar­ men der ewigen Liebe ju ruhen! — Auch mir ist von Christo die Macht verliehen, ein Kind Gottes ju werden: habe ich aber davon Gebrauch gemacht? Habe ich mein Herj der neuschaffenden Kraft des göttlichen Geistes geöffnet, daß die heilbringende Umwandlung in mir vorgehen konnte? Bin ich wirklich meinem innern Menschen nach aus Gott geboren? Ich stamme von christlichen Eltern, habe eine christliche Erjiehung genossen, nehme Theil an christlichen Anstalten und

a6 Gebrauch««,, genieße die christlichen Heil-mittel, und bin also äußerlich ein Christ. Aber wohnt nicht, vielleicht mir selbst unbewußt, der Wahn in meinem Herzen, als sey di«, ses äußerliche Christenthum genug, um mir das Wohlge. fallen GotteS zu erwerben? Stütze ich mich nicht, wie die Juden auf ihre Abstammung von Abraham, auf die äußern Vorzüge, welche mir meine Geburt verschafft hat? Ach! dann stände ich nicht in der innern, seligen Verbindung mit Gott, ich wäre rin starres, todtes Glied seiner geistigen Schöpfung, der wahre Friede könnte nicht in meinem Her. zen wohnen, ich könnte nicht dem Tode ruhig entgegen sehen, der mich zum Gerichte führen wird. Und das Wort ward Fleisch, und wohnete unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit (D. i4.). O großes Geheimniß! das ewige Wort Gottes, der Geist des Lebens, des Lichtes, der Weisheit, der Hei« ligkeit, durch welchen die Welt geschaffen ist, der alles Wahre, Gute, Heilige in der Menschheit gewirkt, alle Weisen, Gesetzgeber und Propheten begeistert hat, Gott selbst, wie er sich in seiner Einwirkung auf die Welt und in seiner Selbsioffenbarung kund gethan, Er wird Fleisch, er. scheint in lebhafter Menschengestalt. Alles Leben und Licht, alle Weisheit und Güte und Heiligkeit drängte sich in einer reinen, gottgrweihrten Menschenseelr zusammen, Gott selbst verband sich mit ihr; ihr reiner Funke fiel in den Schooß der Maria, sie gebar ein Kind, welches die Klarheit des Himmels umleuchtete; es wuchs heran und nahm zu an Weisheit und an Gnade bei Gott und den Menschen ; und dann trat der vollendete Menfchrnsohn hervor aus stiller Einsamkeit in der hohen, milden Majestät göttlicher Größe und Herrlichkeit, den Abglanz des Höchsten an sich tragend, das Ebenbild Gottes selber. Mit dem Worte Herrlich, feit oder Klarheit bezeichnet die Schrift das Höchste und Unnennbare geistiger Erhabenheit und selbst den Jnbe» griff der göttlichen Eigenschaften. Die Herrlichkeit Christi

37 war die des eingebornen Sohnes vom Vater, dessen, wel­ cher dem Vater, wie kein Anderer, gleich war. Alle Men­ schen sollen Söhne Gottes oder ihm ähnlich werden; Chri­ stus aber war der eingeborne, einzige Sohn, erhaben über alle andern Söhne, oder, wie es auch sonst heißt, der Erstgeborne aller Schöpfung (Cok. 1, 15.); in ihm waren die göttlichen Eigenschaften, wie in keinem Men­ schen, vereinigt. Johannes sagt uns selbst, worin die göttliche Herrlichkeit Jesu bestanden, und welche göttliche Eigenschaften er vorjüglich in stch vereinigt habe. Er war voller Gnade und Wahrheit. Die göttliche Wahr­ heit war in ihm; er lehrte Gott erkennen, wie kein Anderer vor ihm, er wußte alle Dinge, und fern von ihm war aller Irrthum. Er war voller Gnade; dir höchste reinste Liebe war in ihm, er liebte die Menschen wie seine Brüder, Liebe war die Seele aller seiner Handlungen, aus Liebe ging er in den Tod, und erwarb und verflcherte uns die göttlich« Liebe; indem er, der gerechteste der Menschen, der Sohn Gottes, für uns starb, um uns zu erlösen, erkannten wir, daß Gott den Tod des Sünders nicht will; feine unendliche Liebe war uns das Pfand der göttlichen Gnade; er ver­ söhnte uns mit Gott, und verlieh uns den Geist des lieben­ den Vertrauens, in welchem wir «nö als Kinder Gotte­ fühlen. O selig der Apostel, welcher schreiben konnte: W i» sahen seine Herrlichkeit! Selig alle, die ihn sahen» die st,ne göttliche Gestatt und seine herrlichen Thaten schau­ ten, die feine herzergreifende Stimme hörten, die feines er­ weckenden Umgangs genossen! Er selber sagte zu seinen Jün­ gern: Selig sind die Augen, die da sehen, daihr sehet! Denn ich sage euch: Diele Prophe­ ten und Könige wollten sehen, das ihr sehet, und haben es nicht gesehen, und hören, daS ihr höret, und haben es nicht gehöret(Luk. 10, a 3.). Wer von uns möchte nicht in diesen Wunsch mit Sehnsucht einstimmen? Aber die Frommen des alten Bundes standen noch fern von der Herrlichkeit, die sich in Ihm tnU

hüllt hat; sie sahen das Licht erst am fernsten Gesichtskreis aufdämmern, das Cr uns gebracht hat. Wir aber stehen mitten in dessen Glanze; in unendlicher Fülle hat fich die göttliche Gnade und Wahrheit in unser Leben ergossen; wan­ delt Er auch nicht mehr leibhaftig unter uns, so begegnen uns doch überall seine Segensspuren, und sein Geist ist wirk­ sam unter uns. Darum befriedige dich, mein Herz, und anstatt mit vergeblicher Sehnsucht nach dem, was der Strom der Zeit mit sich fortgerissen, dich hinzurichten, erfasse daS Gegenwärtige, das, wenn du willst, dir ganz genügen, dich ganz beseligen kann. Don seiner Fülle haben wir alle genom­ men Gnade um Gnade (V. 16.). Dieß sagt der Apostel nicht bloß von sich und seinen gläubigen Zeitgenossen, sondern von Allen, die an ihn glauben, also auch von uns. Auch wir genießen die Früchte seiner Liebe, auch wir sind durch ihn mit Gott versöhnt, und haben die Kindschaft Got­ tes gewonnen. Denn das Gesetz ist durch Mosen gegeben: die Gnade und Wahrheit ist durch Jesum Chri­ stum geworden (V. 17.). Im Gesetz Moses war die Gnade nicht, sondern die strenge Zucht; es gebot und strafte die Uebertretung der Gebote, aber es erzog nicht mit vaterlicher Liebe; es gewährte Tilgung der Sünde durch Strafe und blutige Sühne, nicht aber durch den Geist der Liebe und deS Vertrauens. In ihm war auch die volle, reine Wahrheit nicht. Zwar lehrte es den einigen Gott und sei­ nen heiligen Willen erkennen, aber doch in menschlichen Bil­ dern und jumThekl in unreinen Vorstellungen; denn es stell­ te ihn bloß als den Gott der Juden dar und nicht auch als den Gott der Heiden, nicht als den Allvater der Menschen. Und es verlieh nicht den Geist der Wahrheit, so daß die Menschen selbstthätig erkannt hätten, was wahr und gut ist; noch war der Geist nicht auf alles Fleisch ausgegossen, noch saß das Volk in Finsterniß und Todesschatten, und nur we­ nige Erleuchtete schauten das Licht der Wahrheit, obgleich auch diese nicht rein und ungetrübt.

-9 Niemand hat Gott je gesehen. Der ein» geborne Sohn, der in deS Vaters Schooß ist, der hat es uns verkündigt (V. 18.). Niemand, außer Christo, hat Gott ganz erkannt, wie er ist; alle Got­ tes »Erkenntniß vor ihm war noch unvollkommen undun­ rein; nur Er, der in des Vaters Schooß ist, hat uns die vollkommene Wahrheit verkündiget. Er ist in des Da­ te r s S ch o o ß: wie ein Sohn am liebeklopfenden Herzen des Vaters liegend, nicht nur sein Antlitz schaut und feine Stimme hiret, sondern mit ihm durch das innigste Band der Liebe verknüpft, mit seinem Sinn und Geist vertraut und gleichsam dessen zweites Ich ist: so erkennt Christus Gott, dessen eingeborner, geliebter Sohn er ist, dessen Wesen er theilt, dessen Geist er in sich trägt; er und der Vater sind eins, er lebt in Gott und Gott in ihm. Und diese innigste, vertrauteste Gottes »Erkenntniß hat er uns verkündigt, da­ mit auch wir zum Vater hingezogen würden, seine väterliche Stimme hörten, und ihm gehorsam nährten, und in die offe­ nen Arme der unendlichen Liebe uns würfen. Denn er hat ihn uns zuerst als den Vater kennen gelehrt, als den uner­ gründlichen Brunnquell der Liebe. Nur wer Gott nicht kennt, verkennt seine Liebe, und fürchtet ihn als den Zornigen und Schrecklichen; nur wer fern von ihm steht sieht in ihm daWahnbild der Furcht, den Götzen einer knechtischenVerehrung. Wie nun das fleischgewordrne Wort, der zur Erde her» abgestiegene Sohn Gottes sich den Menschen kund gethan und seine Herrlichkeit enthüllt hat, die Geschichte der letzten und höchsten Offenbarung Gottes, lesen wir in dem folgenden evangelischen Bericht des Johannes, den er mit dem vom Täufer abgelegten Zeugnisse eröffnet.

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Cap. i, 19 — 5i.

Zeugniß Johannes des Täufers von Christo. Erstes Zeugniß vor der Gesandtschaft deö hohen Rathes der Juden abgelegt. (B. 19 — 28.) Juden, d. h. die Obern der Juden, sandten Prie­ ster und Leviten an den Täufer, und fragten ihn, wer er wäre. Seine Predigt von dem herannahenden Reiche Got­ tes , und daß man Buße thun, und sich taufen lassen sollte (Matth. 3. Mark. 1. Luk. 3.), machte Aufsehen unter dem Volke, und erregte die besorgliche Aufmerksamkeit des hohen Rathes der Juden. Diele meinten, Johannes sey der Christ selber (Luk. 5, iS.) und auch die Gesandten scheinen ihm diese Frage vorgelegt ju haben. Er aber bekannte, und leugnete nicht, und bekannter Ich bin nicht Christus (D. 20.). Eine andere Meinung war, er sey Elias, oder ein anderer Prophet; denn die Juden erwarteten die Rückkehr des Elias und Jeremias vor der Ankunft des Messias oder Chn'stuS. Aber auch auf diese Frage ant­ wortete er mit Nein (V. 21.). Als nun die Gesandten in ihn drangen, daß er sagen sollte, wer er wäre, antwortete er: Ich bin die Stimme eines Predigers in der Wüste: Richtet den Weg des Herrn, wie der Prophet Esaia gesagt hat (33. 23.). Diese Erklärung des Johannes von sich selber ist ein Muster auf­ richtiger Bescheidenheit. Daß er sich nicht für Christus aus­ gab, der er nicht war, wollen wir ihm nicht hoch anrechnen; damit gab er nur Gott und der Wahreit die Ehre. Aber ein Prophet im Geiste des Elias war er wirklich; denn von ihm sagte Jesus: Es ist Elias schon gekommen, und

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sie haben ihn nicht erkannt, sondern haben an ihm gethan was sie wollten (Matth. 17,12.). Demungeachtet gab er sich nicht für den Elias, noch für ir­ gend einen Propheten aus, er wollte sich kein persönliches Ansehen anmaßen, keinen, ehrenvollen Namen führen, nichts um fein selbst willen gelten, nicht auf sich die Aufmerksam­ keit lenken. Ich bin, sagte er, die Stimme eines Predigers: er wollte nur der Mund, das Werkzeug seyn, dessen sich Gott bediente, um das Volk auf die Ankunft sei­ nes Gesalbten vorzubereiten; er gab sich ganz mit seiner Persönlichkeit dem Berufe hin, der ihm geworden war; er wollte nichts, die Wahrheit, die er verkündigte, sollte alles seyn. Sein Ruf war: Richtet den Weg de S Herrn, öffnet ihm die Herzen, daß er in dieselben einziehe, rottet in ihnen aus alle unreinen Lüste, welche der göttlichen Wahr­ heit den Weg versperren, ändert den Sinn, thut Buße, da­ mit ein neues Leben beginne, ein Leben, das dem Herrn geweihet sey! Er war ein Prediger in der Wüste, in der wil­ den, unwegsamen Einöde, wo dem Herrn noch kein Weg bereitet war, wo Thäler und Berge und Hügel, Abgründe und Felsen erst noch zu ebenen waren, ehe der Herr einziehen konnte. Er ging als Herold vor ihm her, um ihm Aufnahme zu bereiten. Johannes zeichnet hiermit allen Predigern des Evan­ geliums ihre Bestimmung vor. Sie sollen nichts für sich selbst, sondern allein durch das Wort, das sie verkündigen, gelten wollen; sie sollen nichts mit ihrer Weisheit dazu oder davon thun; es soll nicht ihre eigene Erfindung seyn, was sie verkündigen, sondern die Lehre dessen, der sie gesandt hat; sie sollen auch keine Ehre für sich selbst suchen, sondern sich allein der Ehre freuen, die sie dem Herrn und seiner Wahr­ heit bereiten. Dieß ist aber nicht so zu verstehen, als wenn sie sich auf das geschriebene Wort Gottes beschränken, und gleich­ sam als ein todtes Sprachwerkzeug dasselbe wiederholen soll­ ten. Johannes führte wohl auch Schriftstcllen des alten Bundes an; aber nirgends steht dort ausdrücklich gefchrie«

3a den, was der eigentliche Inhalt und Zweck seiner Predigt war, die Buße für das Reich Gottes und die Taufe. Von der Taufe kommt im alten Bunde kaum eine Andeutung vor, und nirgends wird deutlich gesagt, daß um diese Zeit das Reich Gottes anheben sollte, wie es Johannes verkündigte. Seine Predigt und seine Taufe war mithin ganj neu, daher er auch so viel Aufsehen erregte. Nicht an alte heilige Worte band er sich, sondern aus dem Geiste Gottes sprach er: und so soll auch ein evangelischer Prediger nicht bloß die Worte Christi und der Apostel wiederholen, sondern in seinem Gei­ ste lehren. Sein eigener Geist soll mit dem Geiste Christi gleichsam verwachsen seyn; alle Selbstsucht und Eigenliebe soll von der reinen Liebe Christi und seiner göttlichen Wahr­ heit verschlungen, und er selbst ein in Christo wiedergeborner Mensch seyn. Aber gilt dieses nicht von allen Christen, auch von de­ nen, die nicht das Wort zu verkündigen haben? Sie sollen, in allem was sie thun, nichts für sich selbst, sondern nur die Sache Christi, die Sache der Wahrheit und der Tugend, suchen, und sich stets nur als Werkzeug Gottes betrachten. Wenn ich meine Kinder erziehe, so sey cs nicht meine und meiner Familie Ehre, auch nicht die meiner Kinder, was ich bezwecke, sondern allein die Beförderung des Reiches Got­ tes. Auch ich soll dem Herrn den Weg bereiten, daß er in die Herzen der Menschen einziehe, in die Herzen meiner Kinder soll er einziehen, und in ihnen das neue Leben der Wahrheit und Gerechtigkeit schaffen. Und wirke ich für das gemeine Wesen, für öffentliche Gerechtigkeit und Wohlfahrt: so soll mir auch hier das Reich Gottes das höchste Ziel seyn. Der Staat ist der Vorhof des Reiches Gottes; wenn in jenem Gerechtigkeit und Ordnung waltet, so ist diesem der Weg ge­ bahnt, sind die Hügel und Abgründe des Ucbermuthes, der unmäßigen Begierde, der verderblichen Leidenschaft geebnet, so ist der Gerechtigkeit der Spielraum eröffnet: ist das Un­ kraut und Gestrüpp des Raubes, der Unterdrückung, der Gewaltthätigkeit ausgerottet, dann können die edleren Pflan­ zen der Liebe wachsen und gedeihen.

33 Da Johannes die Ehre, Christus oder Elias oder et» Prophet ju seyn, von sich abgelehnt hatte, so fragten ihn die Gesandten, warum er denn taufe (D. 25.). Sie waren von der Sekte der Pharisäer (V. 24,), von jener Sekte, welche in Allem streng am Worte deS Gesetzes hielt, und keine Wahrheit, kein Recht und keine Pflicht anerkannte, als die sich auf wörtliche Aussprüche der Schrift und auf dapersönliche Ansehen gründen ließen. Die Anführung r der oder jener berühmte Rabbi habe es gesagt, galt ihnen mehr, als die Stimme der Wahrheit in der Brust. Da nun Johan­ nes sich kein persönliches Ansehen beilegte, wodurch er den neuen Gebrauch der Taufe hätte rechtfertigen können, so drangen sie in ihn, sich deßwegen zu vertheidigen. Ich taufe mit Wässer, antwortete er; aber er ist mit» ten unter euch getreten, den ihr nicht kennt (D. 26.). Ich taufe mit Wasser, sagte er, und nicht mit dem Geiste, wie Christus (V. 33.) r ich bin nichts, als dessen Diener und Vorläufer, und trage nur das äußere Zei­ chen und Sinnbild der geistigen Schöpfung, die er vollbringen wird, vor ihm her. Er gründete also seine Lehre und Wirksamkeit auf das persönliche Ansehen Christi; aber die­ ses Ansehen war ein unsichtbares, eia neues, noch nicht anerkanntes, dergleichen das eines alten Propheten oder Rabbi war. Er ist mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennt. Die Pharisäer waren gewohnt. Alles nur nach dem Sichtbaren und Handgreifiichen zu mes­ sen und ju beurtheilen, nichts anjuerkenncn, als was sich aus dem Alten und Hergebrachten ableiten ließ, Alles nur auf altes Ansehen ju gründen. Er aber verwies sie auf den Urheber eines neuen, bessern Lebens, auf einen Geist, der unsichtbar unter sie getreten war, und bald seine große Wirk­ samkeit entfalten sollte. Ach! daß die pharisäische Sinnesart noch immer so herrschend unter den Menschen ist! Der große Haufe, und selbst die Mehrzahl der Gebildeten, der Lehrer und Herrscher hängt immer an dem Alten, an den bestehenden Formen; die Meisten sehen immer nur auf das, was mit Händen zu greiBibl. Erbauungsb. L

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ftit ist, waS sich durch das äußere Gewicht deS alten Be­ stehens , durch eingewurjelte Vorurthcile, durch Macht und Ansehen geltend macht. Eie wollen, daß das Leben sich im­ mer nur in der alten Bahn fortschleppe. Ihre blöden Au­ gen sehen es nicht, daß ein neuer Geist unter sie getreten ist, und eine neue Bewegung begonnen hat; und diejenigen, welche dieser neuen Bewegung folgen, und das Werk noth­ wendiger Umgestaltung beginnen, fragen sie, auS welchem alten Rechte sie solches thun. Der ists, der nach mir kommen wird, wel­ cher vor mir gewesen ist (V. 27.). Ja, auch in Christo, dem Schöpfer eines neuen Lebens, erkannte Johan­ nes etwas Altes, das längst vor ihm gewesen war. Nichts ist alter, als die Wahrheit, denn sie ist ewig, und von Ewig­ keit bei Gott gewesen; nur der Irrthum ist neu, denn er ist erst in der Zeit, durch die Entartung des Menschen entstan­ den. Christus war das ewige Wort, aus welchem alle Weisheit der alten Propheten und selbst der Rabbinen, wenn sie etwas Wahres erkannt hatten, geflossen war. Er kam, um den ewigen Willen Gottes auf Erden zu vollziehen, daß die Menschen gerecht und heilig leben sollten; noch ehe er auftrat, erkannte ihn, mit dem Seherblicke des Propheten, Johannes, und folgte dem Beruf, ihm den Weg zu berei­ ten. Es war neu was beide begannen, und doch alt; neu für die in menschlichen Formen und Banden Befangenen, alt für diejenigen, welche die Sehnsucht nach der Wahrheit und Gerechtigkeit längst im Herzen getragen, den Blick ihres Geistes nach dem ewigen Urquell alles Wahren und Guten gerichtet hatten. — Um aber im Neuen das Alte und Ewige, welchem al­ lein Ehrfurcht und Gehorsam gebührt, zu erkennen, bedarf es nicht bloß eines hellen Geistes, wie Johannes hatte, sondern auch der Demuth und Hingebung, damit man sich nicht durch stolze Einbildung auf eigene Einsicht und Wich­ tigkeit abhalten lasse, demjenigen zu dienen, was sich «ns als alteö, ewiges Gesetz offenbart. Johannes erkannte in Christo, dem ewigen Worte, einen solchen, deß er

35 nicht werth sey, daß er seine Schuhriemen auf« löse (D. 27.). Er stellte ihn unendlich hoch über sich selbst/ kaum hielt er sich würdig/ fein Knecht zu seyn; den Schöpfer selbst erkannte er in ihm/ den heiligen Gesetzgeber der Welt. Nur durch diese Demuth gelingt es, sich an ein großes Werk anzuschließen, einer großen Sache zu die« nett. Hingeben sollen wir uns dem Antriebe göttlicher Be« geisterung, Glück, Ehre, Freiheit, Leben dem geworbe« neu Berufe zum Opfer bringen, uns selbst verlieren in dem, was Gottes, was der Wahrheit und der Gerechtigkeit ist. Es war kein leeres Wort der Demuth, was Johannes sprach; er verbarg nicht dahinter, wie so viele Andere, welche die Demuth im Munde führen, die selbstsüchtige Be« rechnung des eigenen Vortheils, ersuchte nicht Glück, Ehre, Herrschaft im Dienste seines Meisters: er bot sein Haupt dem Beile des Henkers, unbeugsam in der Verkündigung der Wahrheit, unerschüttert durch die Drohungen des Ty« rannen.

Zweites Zeugniß. (D. 29- 34.) DeS andern Tages siehet Johannes Je« sum ju ihm kommen, und spricht: Siehe, daS ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt (D. 29.). Johannes bezeichnet Christum als jeneLamm, als jenen Dulder, von welchem der Prophet geweif« sagt: Da er gestraft und gemartert ward, that er seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scheerer, und seinen Mund nicht aufthut (Jes. 53, 7.). Er war das reine, Gott geweihete Lamm, das sich zum Gott wohlgefälligen Opfer darbot; er war cs, der unsere Krankheit trug, und auf sich lud unsere Schmerzen, der um unserer Missethat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen wurde, auf welchem die Strafe lag, auf daß wir Frieden hatten, durch dessen Wunden wir geheilt C 2

56 wurden; der sein Leben zum Schulbopfer gab, der durch seine Erkenntniß Diele gerecht machte, der sein Leben in den Tod gab, der den Ucbelthatcrn gleich gerechnet wurde und Vieler Sünde trug (Jes. 53, 4. 5. io — 12.). Chri­ stus trug die Sunde der Welt, indem er aus Liebe jum ge­ fallenen Menschengeschlecht, um es mit Gott ju versöhnen, um es von der Macht der Sünde zu erlösen, den Tod am Kreuze litt, indem er, der Unschuldige und Reine, die Strafe der Sünde, den Schmerz des Todes litt, damit wir frei von Sünden würden, und die Seligkeit der Kinder Gottes erlangten: indem er, der Sohn Gottes, an welchem Gott Wohlgefallen hatte, für uns ward wie einer, den der Fluch der Sünde, der Zorn Gottes getroffen; indem er anö dem Himmel der Seligkeit herabstieg in die sündige Welt, und sich dem Strome der Sünde entgegen warf, um dessen Gewalt zu brechen, so daß sein Leib erlag, sein ewiger Geist aber sich siegreich erhob, die Herrschaft der Sünde zerstörte und das neue Leben der Gerechtigkeit, der Liebe, und Versöhnung gründete. — So hatten schon die From­ men des A. 2.,. die Propheten, für ihr Volk gelitten, un­ ter Leiden und Verfolgung die Wahrheit verkündigt, zur Gerechtigkeit und Gottesfurcht ermahnt, und die Predigt des Heils mit ihrem Blute versiegelt, so daß Diele durch ihre Erkenntniss gerecht, und durch ihre Wunden geheilt wurden. Auch sie trugen die Sünde der Welt, zogen auf sich den Haß und die Wuth der Gottlosen, und gaben sich für die Besseren, welche ihrer Stimme gehorchten, als gottgefällige Opfer hin. Von den Propheten und ihrer frommen Hinge­ bung spricht auch zunächst jene prophetische Stelle. Aber was sie versucht, sollte Christus vollende». Sic hatten der Wahrheit und Gerechtigkeit nicht den ewigen Sieg zu erkämpfen, nicht die ewige Erlösung zu finden vermocht: ihre Wunden hatten die Krankheit der Menschheit nicht aus dem Grunde geheilt; sie waren nur die Vorläufer des Hei­ landes der Welt, welchen der Prophet ahnend im Geiste schaute, und der jetzt erst auftrat, zuerst von Johannes er­ kannt und der Welt kund gethan.

37 Was ist hier anziehender, das Bild dessen, der mit sanfter Liebe und Hingebung in der Welc auftritt, um ihre Sünden auf sich zu nehmen und ju dulden, der mit wchrloscr Milde in eine Welt voll Haß und Bosheit tritt, um im Kampfe für die Wahrheit ju unterliegen, aber eben dadurch den Sieg davon ju tragen, und die Kraft des Bösen zu brechen? oder der reine Sinn dessen, der in dem sanften Dul­ der, in dem unscheinbaren Menschcnsohn, den Erlöser der Welt, den Sohn Gottes, den Herrn der Herrlichkeit er­ kannte. Der Wandel des sanften Lammes durch Kampf und Leiden hin zur siegreichen Vollendung wird uns im Laufe des Evangeliums vollständig vor Augen gestellt werden; wir werden verstehen, was es heißt, Christus sey das Lamm Gottes und habe der Welt Sünde getragen, wenn wir ihn in den Tod gehen sehen werden aus reiner Liebe zur Mensch­ heit , aus treuen Gehorsam gegen seinen himmlischen Vater. Jetzt verweilen wir bei dem Ausspruche des Täufers, in sofern sich darin sein reiner Glaube an den Erlöser offenbart. Ware Christus im Glanz und in den Herrlichkeit weltlicher Größe aufgetreten, und hätte mit der Erkenntniß der Wahr­ heit jugleich die Macht, dieselbe geltend zu machen, verbun­ den; wäre er erschienen als ein weiser, gerechter, Fröm­ migkeit und Tugend beschützender und befördernder König: so hätte nur wenig dazu gehört, ihm zu huldigen; auch ein fleischlicher Sinn hätte sich vor ihm gebeugt, denn Macht und Glanz gebieten einem Jeden Achtung und Unterwerfung. Aber um in dem sanften Dulder, in dem Menschcnsohn, der nicht hatte, wo er sein Haupt hinlegte, der nicht gekommen war, daß er sich dienen ließe, sondern daß er diente und sein Leben zum Lö« scgeld für Viele gäbe, den Sohn Gottes zuerkennen, dazu gehörte nicht nur ein heller Geist, der durch die un­ scheinbare Hülle ins Innere drang und den Geist erkannte, sondern auch ein reiner, demuthvollcr Sinn, der nicht in äußerer Herrlichkeit das Heil suchte, und nicht mit Christo herrschen, sondern mit ihm leiden wollte. Wer eS nicht er­ kannte, daß Christus durch Leiden zur Herrlichkeit eingehen

38 mußte > der wollte selbstsüchtig durch ihn weltliche Herrlich­ keit erlangen, wie jene verblendeten Jünger, welche ihm zur Rechten und zur Linken sitzen wollten, und sich selbst den Leiden entziehen. Einen leidenden Heiland anerkennen, heißt für sich selbst auch die Nothwendigkeit des Leidens an­ erkennen; und wer an den Gekreuzigten glaubt, nimmt eben dadurch sein Kreuz auf sich, und folgt ihm nach. Und so bewahrte Johannes seinen Glauben an das Lamm GotteS, indem er im Kerker starb für die verkündigte Wahrheit. Auch er nahm seinen Theil an der Sünde der Welt, und half dem Heiland der Welt tragen. O blicke, Christ, stets hin auf das Lamm Gottes und auf den, der es mit reinem, demüthigem Sinne zuerst er­ kannte, und ihm huldigend sich beugte, um dein Herz von der Liebe irdischer Herrlichkeit zu reinigen, und deinen Blick von der Verehrung und Bewunderung dessen, was groß ist vor den Augen der Welt, abzuziehen und dahin zu wenden, wo die stille, innere Größe im milden Lichte göttlicher Ver­ klarung leuchtet, wo die Kraft aus Gott mit der Macht der Welt ringet, und von ihrer Last erdrückt nur desto sicherer siegt; wo die Stimme der Wahrheit vom Toben ihrer Derfolger überschrieen wird, die Gerechtigkeit in Banden liegt, und das Blut der Unschuld fließt. Nicht in weltlicher Macht und Herrlichkeit, sondern in Kampf und Leiden offenbart sich Christi Geist; seine Kirche ist hienieden eine kampfende, und erst in der Ewigkeit wird sie ihren Triumph feiern. Heil der Seele, welche die Hoheit des Geistes auch in unschein­ barer Hülle, in der Erniedrigung des äußern Menschen die Erhabenheit des innern erkennt, und dem von äußerem Glanze entblößten göttlichen Lichte, das in reinem Herzen wohnt, die Huldigung der Liebe entgegenbringt! Diesen sanften Dulder erkennt der Täufer für den, der vor ihm gewesen, der eher war als er (93. 3o.), für den ewigen Sohn Gottes, für den Geist, der von Anfang die Welt erleuchtet hat. Ach! auch in die­ ser Hinsicht, daß Christus leiden mußte, bewährte sich rin altes, ewiges Gesetz.

Don jeher hatten die Boten deS

39 göttlichen Wortes leiden müssen, und im ganzen alten Bunde drückt sich das Gesetz ab, daß die Wahrheit und Gerechtig­ keit nur durch Kampf und Leiden in die Welt eingeführt werden kann. Es war eine Zeit, wo der Täufer Christum nicht kannte; aber fein Beruf, mit Wasser zu taufen, gab Veranlas­ sung ihn kennen ju lernen, und ihn ganz Israel offenbar zu machen (V. 31.). Nämlich ihm hatte eine göttliche Stimme gesagt, an welchem Merkmal er den Gesalbten des Herrn zu erkennen habe (SB. 33.): und dieses Merkmal zeigte sich anJesu. Johannes sah, daß der Geist herabfuhr, wie eine Taube, und auf ihm blieb (SB. 52.). Der Geist von oben sollte sich auf Christum herablassen, die Kraft des Höchsten ihn erfüllen; und nicht bloß eine solche Begeisterung sollte sich in ihm offenbaren, wie in den Pro­ pheten des alten Bundes, aus welchen Funken des göttli­ chen Geistes hervortzrüheten, aber wieder erloschen, welche eine Gewalt jetzt ergriff, aber dann wieder losließ: nein! der göttliche Geist in seinem ganzen Wesen sollte sich auf ihn herablassen und stets auf ihm bleiben, der menschliche und der göttliche Geist sollte in ihm ein und dasselbe Wesen bilden. Und dieser Geist sollte sich in seiner Verbindung mit Christo so sichtbar und unzweifelhaft offenbaren, gleich einer vom Himmel herabschwebcnden Taube. Derjenige, von welchem alle Begeisterung ausgehen sollte, durfte keinen Zweifel darüber lassen, daß er im Besitz des Geistes sey; er mußte Vertrauen erwecken bei dem, der ihn ankündigen, bei Allen, die an ihn glauben sollten. Wirklich sah Johan­ nes mit dem Seherblick den Geist, wie er sich auf den Auserwählten herabließ. Aber es war nicht eine zerstörende Flamme, nicht ein gewaltiger Sturmwind, worin sich der Geist offenbarte; es war eine sanfte, reine, weiße Taube, eines der sanftesten, reinsten und unschuldigsten Thiere der Schöpfung, ähnlich dem Lamme. Der Geist Christi ist der Geist der sanften, reinen Liebe. Ein Elias mochte Feuer vom Himmel fallen lassen, das seine Verfolger verzehrte; Christus aber war nicht gekommen, der Menschen Seelen zu

verderben, sondern zn erhalten (Luk. 9, 56.). Wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel versammelt, so wollte er die verirrten Kinder seines Vaters versammeln. (Matth. 2Z, 37.). Kommt her zu miralle, die ihr müh» selig und beladen seyd, rief er, ich will euch er» quicken. Nehmt auf euch mein Joch, und ler» net von mir; denn ich bin sanftmüthig und von Herzen demüthig: so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen (Matth. 11, 28. 29.'. Und rein war der Geist Christi, rein, wie jene weiße Taube» die vom blauen Himmel herabfuhr, rein, wie der Sonnen­ strahl, der vom Acther zur Erde herniederleuchtct. Sein Geist entzündete keine unreine Lust, sondern trieb alle Be­ gierde und Leidenschaften aus, und erweckte die reine Liebe Gottes, der Wahrheit, der Gerechtigkeit. Rein von aller irdischen Lust ging Christus über die Erde. Seine Speise war, den Willen dessen, der ihn gesandt hatte, thun und sein Werk zu vollenden (Ioh.4, 54.). Kein Reiz der Ehre, der Herrschaft lockte sein Herz; kein Haß und keine Bitterkeit verdrängte je die Liebe, und noch am Kreuze bat er um Vergebung für seine Feinde. O Geist der Sanftmuth, der Reinheit, der Liebe, Geist aus der Höhe, komm herab in mein Herz! Nimm cs ein, durchdring cs mit der sanften Gewalt, durchwärme, durch­ leuchte cs, daß alle unreine Lust, alle irdische Begierde, al­ ler Zorn und Haß daraus weiche! Will unlautere Begierde mein Herz erfüllen, will mich die Liebe der irdischen Güter herab zur Erde ziehen, will das Feuer des Zornes in mir auf­ lodern : dann will ich an die reine, sanfte Himmelstaube den­ ken, die sich zum reinsten Herzen herab ließ, das je auf die­ ser Erde schlug, dem ich angehöre, dem ich ähnlich seyn soll. Johannes sah cs, und zeugte, daß dieser Gottes Sohn ist (V. 34.). Wer diesen Geist der Sanftmuth und Rein­ heit hat, der ist Gott ähnlich, denn Gott ist die Liebe: wer ihn in unendlichem Maaß hat, wie Christus» der ist der eingeborne Sohn Gottes; wer an ihm Theil hat, der ist ein Kind Gottes, und dieses soll auch ich seyn.

4i Drittes Z eugniß des Täufers, vor

seinen

Jüngern abgelegt, und wie diese zu Christo kommen. (B. SS — 51.) Er wiederholte des andern Tages in Gegenwart jweeu feiner Jünger das Zeugniß, daß Jesus das Lamm GotteS sey, und jene falzen diesem in sein« Herberge, und bleiben denselben Tag bei ihm. Der eine war Andreas, der andere wahrscheinlich der Evangelist selbst. Kaum hatte Johannes zum Lamm Gottes hingewiesen, so fühlten sie sich unwider« stehlich von ihm angezogen. Sie liebten und ehrten ihren bis» herigcn Meister, aber der höher» Gewalt, die sie nach sich zog, konnten sie nicht wiederstehen. Und sie folgten Jesu nicht vergebens: sie gewannen alsbald den Glauben, daß er der Messias sey. Als Andreas seinen Bruder Simon fin­ det, spricht er zu ihm: wir haben de« Gesalbten ge­ funden (SB. 4i.), und führt ihn zu Jesu, der ihn mit ei­ nem neuen Namen Petrus, d. h. Fels, begrüßt, und in ihm den festen, starken Mann erkennt, welcher eine Grund­ säule seiner Kirche werden soll. So waren drei Jünger des Täufers mit Jesu in Ge­ meinschaft getreten, und hatten den Erlöser der Welt in ihm erkannt. Und sie fanden den Weg zu ihm theils durch die Empfänglichkeit, mit welcher sie dem Winke ihres Meisters folgten, theils durch die liebevolle, herzliche Geselligkeit und Mittheilung, welche zwischen ihnen bestand. Sie waren un­ ter einander Freunde und Brüder, pflegten eines vertraulichen Verkehrs, und zwar nicht zum Debufeitler Ergöhung und Zer­ streuung, sondern mit dem ernsten Zwecke des Strebens nach dem ewigenHcil. So sey auch unsere Geselligkeit durch ernste Zwecke geheiligt, und mit der Freundes - und Bruderliebe ver­ binde sich die sehnsuchtsvolle Liebe zu unserm Heilande: so werden wir dafür belohnt werden durch manche lichtvolle Er« kenntniß, durch manche begeisternde Anregung, die wir im Umgang mit den Freunden empfangen.

4a Jesus benutzt die geselligen Verhältnisse, in welchen diese Männer standen, weiter, um Anhänger und Bekenner ju gewinnen. Am andern Tage findet er einen Landsmann deS Petrus und Andreas, Philippus mit Namen, und fordert ihn auf, ihm zu folgen. Dieser verkündigt hierauf dem Nathanael, daß sie den verheißenen Messias in Jesu von Nazareth ge­ funden hätten (D. 4 5.). Nathanael aber zweifelt, daß aus dem verachteten Nazareth etwas Gutes kommen könne (D. 46.), geht jedoch mit Philippus zu Jesu, um ihn kennen zu lernen. Als nun Jesus Nathanael kommen sah, sprach er von ihm: Siehe ein rechter Israelite, in wel­ chem kein Falsch ist (58. 47.). Jene Aeußerung Nathanaels über Jesum zeugt von einer großen Aufrichtigkeit, welche Jesus, der schnell beurtheilende Menschenkenner, mit durchdringendem Scharfblick in ihm erkennt, und lobt. In der That ist ein aufrichtiges Gemüth alles Guten fähig, und wenn es auch Dorurtheile hegt, so wird cs dieselben bald ablegen. ES laßt die Wahrheit in sich Eingang finden; ohne Hinterhalt und Verstecktheit bietet es jede auch die ge­ heimste Falte des Innern ihrem Lichte dar, und so wird bald alle Finsterniß vertrieben. Hatte Nathanael sein Vorur« theil nicht geäußert, sondern bei sich behalten, so würde cs nicht von seinen Freunden bestritten, und er nicht von Jesu göttlicher Sendung überzeugt worden seyn. Aber allerdings muß man mit der Aufrichtigkeit auch Empfänglichkeit und Willfährigkeit sich zu unterrichten verbinden. Wäre Natha­ nael nicht zu Jesu gekommen, so würde er ihn wenigstens nicht so bald erkannt haben. Die Kenntniß, welche JesuS von Nathanael beurkun­ det, überrascht diesen, und er fragt: Woher kennst du mich? JesuS antwortet: Ehe denn dich Philippus rief, sah ich dich, da du unter dem Feigenbaum wärest (V. 48.). Jesus hatte ihn schon früher» ihm selbst unbemerkt, beobachtet: unter welchen Umständen, und auf welche Weise, ist nicht gesagt; Jesus giebt nur ein einzi-es Merkmal an, welches für Nathanael zur Erinnerung

43 hinreichend war, das Sitzen unter einem Feigenbaum. Aber so viel erhellet aus der Rede Jesu, daß er in Nathanaels Betragen, ob er sich gleich unbemerkt glaubte, nichts Unlauteres und Tadelnswerthes gefunden hatte. Er war ohne Falsch in der Einsamkeit und im Umgang mit Andern; er verhehlte weder Andern, noch sich selbst, was in ihm vorging; er betrog weder Andere noch sich selbst. Diese Aufrichtig» keit, diese Lauterkeit ist das Erbtheil eines reinen Herzen-, und ein solches Herz fordert Christus von denen, die ihm nahen «ollen. — Nathanael ist noch mehr über diese ihm unbegreifliche Wissenschaft Jesu erstaunt, erkennt in ihm den überlegenen Geist, und spricht zu ihm: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel (93. 4g.). Nathanael ist von schneller Regsamkeit und Em­ pfänglichkeit des Gemüths, und zur Bewunderung des Außer­ ordentlichen geneigt. Wohl gehörte Mcnschenkenntniß, schnelle Beurtheilungsgabe, höhere Wissenschaft auch von irdischen Dingen zu den Eigenschaften dessen, der durch seine -Weisheit die Welt vom Irrthum erlösen sollte; aber das rcd)te Merkmal war eö noch nicht, an welchem er den Sohn Gottes hätte erkennen sollen. Jene Wissenschaft Christi war, wie unbegreiflich und wunderbar sie seyn mochte, noch eine irdische, und bezog sich auf irdische Verhältnisse; aber nicht durch irdische Weisheit wollte und konnte Christus die Men­ schen selig machen. Du wirst noch größeres denn das sehen, sagte Jesus (93. So.). Er selbst also schätz­ te jene von ihm bewiesene Wissenschaft nicht als das Höchste, das er in sich trug. Von nun an, setzte er hinzu, wer­ det ihr den Himmel offen sehen und die En­ gel Gottes hinauf und hcrabfahren auf deS Menschen Sohn (93. 51.). Das war das Höchste, das seine Jünger von ihm zu erwarten hatten, daß er ihnen den Himmel öffnen würde: sie sollten, von ihm erleuchtet, das Auge des Geistes nach oben richten, den himmlischen Va­ ter in seiner väterlichen Liebe, und ihre Bestimmung, GotteKinder zu werden, erkennen; er wollte sie lehren trachten nach dem, was droben ist (Col. i, 3.); himmlische

44 Weisheit wollte er ihnen mittheilen, welche nicht bloß eine irdische Neu» und Wißbegierde befriedigen, sondern die Her­ zen reinigen, erheben, emporziehrn sollte. Aber nicht bloß durch die Erkenntniß und Lehre des Himmlischen konnte Chr,'stus Erlöser seyn; göttliche Kräfte mußten in ihm wirken, und was er lehrte, mußte er durch die That bewahren. Diese göttlichen Kräfte sind die Boten Gottes, welche auf ihn niedersteigen sollen: die göttliche Allmacht, die Kraft des heiligen Geistes, welche die Kräfte der Natur und die Herzen der Menschen beherrscht, wird sich in Christi Thun und Wir­ ken, in seinen Wundern, in seiner Gewalt über die Herzen der Menschen, in seinem sündlosen Wandel, in seinem Ge. horsam gegen den Willen seines himmlischen Vaters, und zu­ letzt in seiner Verklarung durch den Kreuzestod und die Auf­ erstehung offenbaren. Laßt uns in Jesu Alles bewundern, denn cs ist in ihm Alles der höchsten Bewunderung würdig; ein Herz, das der Bewunderung des Großen und Erhabenen fähig ist, ist ein reines, demüthigeS, liebendes Herz und somit auch des Glaubens an das Höchste fähig. Aber laßt uns in Ihm Vorzuglieh das Höchste bewundern, und nicht bloß bewundern, son­ dern mit Glauben und Liebe erfassen, dasjenige, wodurch er unser Heiland ist, das reine Göttliche und Himmlische, seine reine Gottescrkcnntniß, seine zum Himmel führende Weis­ heit, seine göttliche Geisteskraft, welche die Herzen durch, dringt und neu schaffet. Laßt uns mit ihm den Himmel of­ fen sehn, so werden auch die göttlichen Kräfte auf uns her­ nieder steigen, und uns zu einem göttlichen, heiligen Leben und Wirken mit Geist und Kraft ausrüsten, Gottes Engel werden uns leiten und schützen, und sein Segen wird auf uns hrrniederströmen.

45

Kap. 2, i — li.

Die Hochzeit zu Kana. 23atb nach den vorigen Geschichten und Jesu Rückkehr nach Galiläa (vgl. Kap. i, 43.) besuchte Jesus mit seiner Mutter und seinen Jüngern eine Hochzeit zu Kana in Gali­ laa. Er war kein düsterer Freudenhasser; er freute sich mit den Fröhlichen und weinte mit den Wei­ nenden (Röm. i2, i5.); er ging in das Haus der Trauer, um zu helfen und Thränen zu trocknen; verachtete aber auch nicht die Gelegenheit, unter frohen und Glückli­ chen zu seyn, um ihre Freude zu erhöhen und zu heiligen. Wie wenig hatten Jene Christi Geist gefaßt, welche verbo­ ten sich zu verehelichen, und die Speise zu meiden, die Gott geschaffen hat, zu nehmen mit Danksagung (i Tim. 4, 3.): das waren in der That Lehren des Teufels und Lügenreden der Gleißnerei (cbcnd. 2, 1. 2.). Wahrscheinlich waren die Neuvermählten der Maria und Jesu Blutsverwandte; und indem er ihre Hochzeit besucht, zeigt er, daß er die Ver­ hältnisse der Verwandschaft achtet und ehrt. Der eingebor« ne Sohn Gottes ist nicht nur Sohn und Bruder, sondern erkennt auch entferntere Verwandte an. Ihm war nichts so gering, nichts so irdisch, was er nicht seinem Werthe nach geschätzt, woran er nicht, wenn es seine irdischen Verhältnisse foderten, Theil genommen hätte. Aber Alles, woran er Theil nimmt, veredelt und verklärt er: so hier die Hochzeitfreude. Er verklärt fit durch seine höhere wun­ derbare Geisteskraft, die er aber aus Liebe in Wirksam­ keit treten laßt. Die Liebe veredelt und verklärt Alles. Laßt uns überall mit einem Herzen voll Liebe handeln; so

46 werden wir auch nach Maßgabe unserer Geisteskräfte alles, woran wir Theil nehmen, was wir beginnen, veredeln und verklären. Es gebrach auf der Hochzeit an Wein, und Jesu Mutter, gewohnt ihn hülfreich zu sehen, sprach zu ihm: Sie haben nicht Wein (V. 3.), und fodcrte ihn mit­ hin auf, dem Mangel abzuhelfen. Jesus sprach zu ihr: Weib, was habe ich mit dir zu schaffen? Mei­ ne Stunde ist noch nicht gekommen (33. 4.). Diese Antwort scheint unö, die wir allzusehr an Höflichkeit und Feierlichkeit im Umgang gewöhnt sind, hart und unehrerbietig zu seyn; aber fit ist es nicht, nach den Sitten jener Zeit betrachtet. Als Jesus mit kindlicher Zärtlichkeit vom Kreuze herab seine Mutter der Fürsorge seines geliebtesten Jüngers empfahl, sagte er: Weib, siehe, das ist dein Sohn. (Joh. 19, 26.). Die einfache Anrede: Weib! verträgt sich also mit der größten kindlichen Ehrerbietung. Die Frage aber: Was habe ich mit dir zu schaf­ fen? klingt theils durch unsere Unbekanntschaft mit der he­ bräischen oder vielmehr chaldäischcn Sprache, deren sich Je­ sus bediente, theils durch die große Kürze, deren sich unser Evangelist befleißigt, hart und abstoßend. Der Sinn ist: Laß mich nur machen, ich werde schon thun, was zu thun ist, aber jetzt ist noch keine Zeit dazu. Wir sehen nicht ein, warum es für die zu schaffende Hülfe noch nicht Zeit war; aber so viel lehrt uns Jesu Rede, daß die schickliche Zeit zu handeln für ihn damals noch nicht gekommen war, und lernen daraus, daß er sich überall nach,Zeit und Umständen richtete. Wenn Er aber, dem diese ausserordentliche Kraft zu Gebote stand, auf Zeit und Stunde Rücksicht nahm: wie viel mehr sind wir verpflichtet, mit Klugheit die Zeit deS Handelns abzuwarten. Christus wollte ein Werk der Wohlthätigkeit thun, er wollte seine Freunde durch ein über­ raschendes Geschenk erfreuen; klüglich aber wartete er die schickliche Stunde ab. Dieß lehrt uns, daß wir nicht mit unsern Wohlthaten vorschnell und ungeduldig zufahren, sondern den schicklichen Zeitpunkt wählen sollen. Alles ge-

scheht zur rechten Zeit! Jede- Wort werde geredet zu seiner Zeit (Epr. Sal. 20, 11.); die Wohlthat werde nicht dem» jenigen entzogen, dem sie gebührt (Epr. Sal. 3, 27.), aber immer im rechten Augenblick. Maria handelte aus guter Meinung, indem sie den Hochjeitleuten geholfen wis­ sen wollte; aber sie fehlte darin, daß sie sich in etwa-, was sie nicht anging mischte» und ihrem Sohne Vorgriff. Ihr Betragen lehrt uns, daß wir da, wo wir uns zu han­ deln angeregt fühlen, aber uns außer Stande sehen, selbst zu handeln, Andern, denen wir e6 überlassen müssen, nicht durch anmaßliche Ungeduld lästig und störend werden sollen. Uebcrhaupt sehen wir, daß das Christenthum keinesweges die Klugheit entbehrlich macht, und daß der Christ nur da­ durch seine gute Gesinnung beweisen kann, daß er sich un­ ter den gegebenen Verhältnissen vorsichtig, bedachtsam und gewandt bewegt. Jesus erscheint auf dieser Hochzeit eben so heiter, als klar; seine Hochzeit fügt sich ganz in irdische Verhältnisse, und ist auf keine Weise drückend, störend oder gewaltsam. Die Mutter spricht ju den Dienern: Was er euch saget, das thut (V. 5.). Hier erscheint sie nun ganz wieder im vortheilhaften Lichte, und macht ihren vorigen Fehler gut. Es hat sie keinesweges verletzt, daß sie Jesus zur Geduld verwiesen hat; auch hat sie gar nicht bas Ver­ trauen und die Hoffnung aufgegeben, daß er helfen werde. So laßt uns auch» wenn unsere Freunde und Wohlthäter mit ihrer Hülfe zögern, nicht ungeduldig werden, und ih­ nen vielmehr einstweilen still Gelegenheit und Mittel vor­ bereiten. Wollen sie nicht gleich an ein Werk Hand anle­ gen, wozu wir ihre Kräfte bedürfen: so laßt uns nicht mißmuthig werden, sondern einstweilen thun, was uns mög­ lich ist, bis sie mit ihrer Mitwirkung eingreifen. Laßt uns, wenn Gott uns nicht gleich helfen will, es eben so machen, und uns einstweilen im stillen Vertrarren nach dem umsehen, was wir thun können, um seiner Hülfe wirksam entgegen zu kommen. Laßt uns thun, was er uns gebietet zu thun, nicht die Hände müßig in den Schooß legen, nicht jammern

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und klagt», sondern unsere Pflicht erfüllen, mit unserer Einsicht Rath und Hülfe suchen, und auch das kleinste Mit­ tel nicht verschmähen: gewiß wird es dann an seinem Segen nicht fehlen. Nun kam die Stunde Jesu. Er hatte mit seiner Hülfe gezögert, aber nicht ju lange; er half gerade noch zur rechten Zeit, als der Mangel an Wein weder den Ga­ sten (außer der Maria) noch selbst dem Speisemeister be­ kannt, und die Hochzeitleute dadurch noch nicht in beschä­ mende Verlegenheit gerathen waren. So laßt uns auch mit unsern Wohlthaten nicht so lange zögern, bis die Noth der Hülfsbedürftigen den drückendsten Grad erreicht hat; laßt uns immer das Ehrgefühl derselben schonen! JesuS schaffte Wein auf eine wunderbare, überra­ schende Weise. Aus den Krügen, welche eben erst mit Was­ ser waren gefüllt worden, schöpfte man Wein, und einen Wein, den der Speisemeister färben besten erklärte. Die Anwesenden erkannten in dieser Handlung ein Zeichen oder eine Offenbarung der Herrlichkeit Jesu, und glaubten deßwegen an ihn (V. >».), d. h. sic erkannten ihn daran als den Gesandten und Sohn Gottes, als den mit dem Geist und der Kraft Gottes Ausgerüsteten. Denn Herrlichkeit ist Erhabenheit, Hoheit, und diejenige, welche JesuS besaß, war eben die Herrlichkeit des Geistes. Auch unS gelte diese Handlung als ein Zeichen des Geistes Jesu; und sie ist so bedeutsam, daß man sie von je­ der Seite mit Erweckung und Bewunderung betrachten kann. Sie ist wunderbar und gehcimnißvoll: JesuS macht aus Wasser Wein durch eine ihm verliehene Herrschaft über die Natur, die uns ganz unbegreiflich ist. Eo wie in ihm die göttliche Willenskraft der Freiheit und die untrügliche Erkenntnißkraft wohnte, so daß er ohne Sünde und Irr­ thum war: so brach auch von Zeit zu Zeit die in ihm verbor­ gen liegende göttliche Allmacht hervor, und wirkte Außer­ ordentliches in der Natur; so wie er eine neue schöpferische Regung in der geistigen Welt bewirkte, so griff er auch in die äußere körperliche Natur ein, und diese fühlte jene Re-

gung gleichsam sympathetisch mit. Diese außerordentliche Herrschaft Jesu über die Natur ist uns ein Zeichen seiner göttlichen Sendung, ein Beweis, daß ein höherer Geist in ihm wohnte; und wir betrachten sie mit demüthiger Be­ wunderung , weil sie unsere Einsicht und Kraft weit über­ steigt. Hinwiederum liegt aber auch etwas Ermuthigendes für uns darin. Der Geist der Weisheit und Heiligkeit, der in Christo war, kann, wenn wir an ihn glauben, unS zu Theil werden, wenn auch nur im geringerem Maße; durch Weisheit aber und festes, starkes Wollen können wir «ns auch die äußere Natur in einem gewissen Grade unter­ werfen, und darin ist uns Christus ebenfalls Vorbild. Wirken wir auch nicht so wunderbar, wie Christus, müssen wir auch Mittelursachen und Werkzeuge gebrauchen, um uns dir Natur dienstbar zu machen: so ist es doch immer der Geist, dessen Freiheit und Kraft, was wir geltend machen, und wir beweisen uns als Herren der Natur. Diese hohe Geisteskraft, diese Herrschaft über die Na­ tur, benutzte aber JcsuS nicht etwa» um große, gewaltsa­ me Umwandlungen und Zerstörungen anzurichten, und Er­ staunen und Schrecken um sich her zu verbreiten. Still und unscheinbar tritt er auf unter den Gästen einer Hochzeit; sie merken es nicht, daß sie den Außerordentlichen und Ein­ zigen in ihrer Mitte haben; sie dürfen sich ruhig ihrer Freude überlassen, ja, er theilt sie mit ihnen. Jesubrauchte nie feine Wundrrkraft, um zu zerstören» sondern immer nur, um zu heilen und zu beleben; nie um Staunen zu erwecken, sondern nur, um Liebe und Barmherzigkeit zu erzeigen. Auch hier thut er Wunder, um zu helfen, um das Fehlende zu schaffen, und zwar zum Behuf der Hochzeitfreude. Dieser Zweck ist ihm nicht zu gering: er ist weder so streng und düster, noch so stolz und erhaben, daß er nicht die ihm zu Gebot stehende Kraft zu dem Ende anwendet, baß das Fest glücklich vollbracht werde. Er schaffet Wein, woran es gebrach; er schafft ihn im Augen­ blicke, als man dessen schon genug getrunken hatte, als nur der Ueberfluß abging. Bibi. Erbauungsb. 1. D

So Dieß «ollen wir unS zur Lehre nehmen. Wie groß die Gaben und Kräfte seyen, welche uns Gott verliehen hat, so wollen wir sie doch nie dazu gebrauchen, Andere in ih­ rer Ruhe und Freude $u stören, sondern vielmehr daju, ih­ nen das Glück und die Freude des Lebens j« erhöhen. Keine Angelegenheit sey uns zu gering, wenn sie auf das Wohl unserer Brüder Einfluß hat» keine Gelegenheit, ihnen Freude zu machen, wollen wir verächtlich von uns weisen. Jesus verwandelt mittelst seiner Wunderkraft das Wasser in Wein, veredelt, verbessert mithin einen einfachen, geringen Stoff der Natur. So strebt Alles in der Natur durch die göttliche Lebenskraft zur Veredlung hin; beson­ ders aber hat Gott dem Menschen den Trieb eingepflanzt, sich selbst und was um ihn her ist zu vcrvollkommen. Chri« stus verwandelt daS Geringe in das Edlere aus Liebe, auS Wohlthätigkeit. Mose verwandelte einst in Aegypten daS Wasser in Blut, um zu strafen. Der Zorn und Haß verderbt und vergiftet Alles, die Liebe aber veredelt und verschönert Al­ les. Eo scy denn unsere Wirksamkeit stets von Liebe und Wohl­ wollen beseelt, damit sie veredelnd und vervollkommnend sey! Wunderbar ist Jesu Wirkungsart und erregt als solche allerdings unser Staunen; aber es liegt auch darin eine stille Größe und Ruhe, die unser Gemüth mit sanfter Ge­ walt ergreift. Ec macht keine Anstrengung, keinen Auf«and von Kraft; er bedarf keiner großen Zurüstungen. Er sagt: Füllet die Wasserkrüge mit Wasser; und als sie gefüllt waren, spricht er: Schöpfet nun und bringet rS dem Speisemeister. Was kann einfa­ cher seyn? Die Diener füllen Gefäße, welche ohnehin da­ stehen, mit Wasser; sie schöpfen dann und bringen es dem Sptiscmeister. Es ist ein ruhiges Schaffen und Wal­ ten, eine stille Bewegung, kaum bemerkbar, und doch ist das Ergebniß so segensreich und erfreulich. So saugt die Rebe aus Luft und Boden Thau und Regen, still wir­ ken in ihr die Kräfte, und bald schwillt die Traube an ihr vom köstlichen Saft. So schöpft der menschliche Geist die ihm zufließende Erkenntniß, faßt bald diese, bald jene Ein-

5i ficht und Erfahrung, und verarbeitet alles still in flch, bis endlich die Wahrheit in ihm gereift ist, und zum Heil der Welt hervortritt. Der Schöpfer wirkt still, aber sicher; die menschliche Ohnmacht hingegen macht geräuschvolle Zu« rüstungen, welche nur zu oft fruchtlos find, und die ge« spannte Erwartung tauschen. Je sicherer ein Meister seiner Kunst ist, desto ruhiger und einfacher ist sein Verfahren. Mir sey es aber nicht bloß angelegen, in meiner äußern Wirksamkeit, in Fertigkeiten und Geschicklichkeiten diese ruhige einfache Sicherheit zu erlangen; sondern auch in meinem sittlichen Handeln will ich mich derselben befleißigen. Was mir der bessere Trieb meines HerzenS sagt, das will ich thun, ohne lange zu schwanken und mich hin und her zu neigen, ohne viel Mühe und Anstrengung zum Entschluß zu gebrauchen; ich will nicht anfangen und wieder ablassen, nicht bald diesen, bald jenen Weg einschlagen, sondern das Gebot des Gewissens mit festem Willen befolgen. Aber möchte auch immer aus der innern» sicheren Bewegung und Entschließung der köstliche Wein hervorgehen, der Andere erfreut und erfrischt; möchte Gott mein redliches Handeln mit seiner heilsamen Kraft segnen! Es war eine Wohlthat, welche Jesus den Neuver­ mählten erwies, und ihr Werth wurde erhöhet durch diese stille einfache Art, mit welcher er Wein schaffte. Erzeigt man die Wohlthaten mit zu viel Geräusch und Umständlich­ keit, läßt man zu sehr die Mühe, die Anstrengung und den Aufwand sehen, die sie uns kosten: so verlieren sie sehr an ihrem Werth, weil man dadurch desto mehr Anspruch auf Erkenntlichkeit und Dqnk zu machen scheint. Ja, Jesus ließ den Wein, den er hervorgebracht, gar nicht als sein Geschenk zum Speisemeister bringen, son­ dern gleichsam als etwas, das sich zufällig dargeboten, als ein Geschenk des Schöpfers. So sollen wir auch unsere Wolthaten reichen, nicht unS und unser Verdienst dabei gel­ tend machen, sondern uns nur als die Darbringer der Ga­ ben , welche uns der Herr zur Verwaltung und Benutzung verlirhen, und wobei wir kein Verdienst haben, betrachten. D 2

5a Jesus benutzte die dastehenden Krüge und di« vorhan­ denen Diener, um hervor zu bringen, was er auch wohl auf andere Weise und durch andere Mittel hatte hervorbrin­ gen linnen. Dieß lehrt uns, daß wir bei jedem Unterneh­ men klüglich die sich zunächst darbietenden Mittel benutzen sollen, wenn sich durch dieselben der beabsichtigte Zweck er» reichen laßt. Es wird dann gewöhnlich alles viel sicherer und ruhiger von Statten gehen, als wenn man die Mittel aus der Ferne herbeischaffen muß. Hatte Jesus fremde Diener gebraucht, und durch sie dieses oder jenes anders woher herbeischaffen lassen, so würde er Unruhe und Auf­ sehen veranlaßt haben. Daß aber Jesus die Gerüche und Diener derer, denen er wohlthun wollte, gebrauchte, erhöhete den Werth der gereichten Gabe, weil ihr dadurch alles drückende genommen wurde, indem der Schein entstand, als sey es ihr Eigenthum, und komme auS ihren eigenen Mitteln. Jede Wohlthat hat für die Empfänger, auch wenn sie von allem falschen Stolz frei sind, etwas Drücken­ des, weil sie dadurch ihrer Abhängigkeit inne werden. Der Mensch aber soll selbstständig und unabhängig seyn, und sein eigenes Brod essen (a Thess. 3, ia.\ Das ist daher die beste Wohlthätigkeit, welche die Bedürftigen in Stand setzt, aus eigenen Mitteln und durch eigene Kräfte ihr« Bedürfnisse zu befriedigen. Selten, daß ein solcher von allen Mitteln und Kräften entblößt, und ganz außer Stand ist, etwas zu seiner Selbstbehauptung in der Welt zu thun. Man setze ihn nur in die Lage, wo er seine Glieder regen, seine Gaben entwickeln kann: so wird er bald sich einer ehreuvollen Unabhängigkeit erfreuen, indem er zu dem Wein, den er genießt, wenigstens bas Wasser und die Gefäße hergegeben hat. Christus handelt, wie edle Wohlthäter thun»

ja wie Gott selbst thut.

Nur selten schenkt uns das Glück seine Güter durch die Gunst des Zufalls ohne unser Zuthun,

und solche Gaben erfreuen auch nicht so sehr, wie der Segen, der unsern Anstrengungen und Bemühungen wird, wie dasjenige, was wir unS mit Gottes Hülfe selbst erwerben. Unsere Kräfte sind die Gefäße und das Wasser, durch welche

53 Gott Wem schaffet. Und durch kleine, schwache Kräfte wirkt er oft Großes; denn er ist in den Schwachen mächtig. Darum aber lasset uns auch ihm gehorchen, wenn er uns gebietet, diese Kräfte zu gebrauchen, lasset und ihm mit stillem Vertrauen gehorchen, wie die Diener Jesu gehorchten, und des segensreichen Erfolgs gewiß seyn. Das Wunder, das Jesus hier thut, ist, wie jedes Echöpfungswerk Gottes und wie jede ächt sittliche Handlung, die aus wahrer Gesinnung hervor gegangen ist, ein Abdruck des göttlichen Geistes, und tragt das Gepräge der Weis­ heit, der Zweckmäßigkeit, der Zusammenstimmung und Voll­ kommenheit. Wie man es auch betrachten mag, so ist es ein Vorbild alles Handelns, es füllt nicht nur die Stelle aus, die es einnimmt, sondern es drückt sich darin ein allge­ meines Gesetz aus. So laßt und immer handeln! Lasset unser Licht leuchten vor den Leuten, auf daß sie unsere guten Werke sehen, und unsern Va­ ter im Himmel preisen (Matth. 5, 16.). Endlich bietet sich uns noch eine beruhigende und trö­ stende Betrachtung dar. Der Mangel war die Veranlassung, daß Jesus an dieser Hochzeit seine Herrlichkeit offenbarte. Wäre diese Verlegenheit nicht eingetreten, so hätte er nicht helfen können. Wenn die Menschen nicht einander bedürf­ ten, so würde sich manches Gute nicht entwickeln können, manche schöne That nicht verrichtet, mancher Beweis der Liebe nicht gegeben werden. Dieß tröste uns, wenn wir und manchmal im Leben bedrängt und behindert fühlen, wenn wir den Beistand und dir Hülfe Anderer suchen müssen. Wer weiß, welche geistige Wohlthat und auf diesem Wege wird, welchen Freund wir gewinnen, welches schöne Herz wir da­ durch kennen lernen? Die Noth ist auch das Mittel, durch welches sich Gott in seiner väterlichen Liebe und Fürsorge of­ fenbart; wären wir nie in Noth und Bcdrängniß, so würde sich unser Herz übermüthig von ihm abwenden. So laßt uns also nicht mit Gott hadern, wenn er uns in die bisweilen drückenden und hemmenden Verhältnisse der Abhängigkeit

und Dürftigkeit oder inDcdrängniß und Noth gerathen laßt, und mit Vertrauen erwarten, daß er uns dadurch segne« wird.

Cap. 2, 12 — 2 5.

Jesus geht zur Osterfeier nach Jerusalem, und reinigt daselst den Tempel. 9?ach einem kurzen Aufenthalt in Kapernaum zog Je­ sus nach Jerusalem, um daselbst das Osterfest zu feiern. Er beobachtete alle jüdischen Gebräuche und Gesetze, vbschon er das Ende des mosaischen Gesetzes brachte. Er brachte eS aber nicht durch gewaltsame Neuerung und Umsturz, sondern dadurch, daß er es vollkommen erfüllte, daß er die vollkom­ mene Gerechtigkeit und Liebe ins Leben einführte, und an­ statt der todten Satzung den lebendigen Geist brachte. I ch bin nicht gekommen das Gesetz oder die Pro­ pheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen (Matth. 5, 17.). Auch hier beweißt er sich als denjenigen, der bas Gesetz voll­ kommen, nämlich dem Geiste nach, erfüllt, und auf eine solche Erfüllung dringt. Er fand im Tempel sitzen, die daOchsen, Schafe undTauben feil hatten, und die Wechsler (D. i4.). Man bedurfte nämlich zum Behuf der im Tempel zu bringenden Opfer allerlei Thiere, welche man bequemer in der Nahe kaufte, als von Hause mitbrachte; eben so bedurfte man zur Entrichtung der Trmpelsteuer einer gewissen Münze: es fanden sich daher Viehhändler und Wechsler in der Umgebung des Tempels ein, und das war nicht zu tadeln. Aber damals scheinen sie tiefer in die Vorhöfc und Hallen des Heiligthums einge­ drungen zu seyn, wodurch dasselbe entweihet wurde: und dieses konnte Jesus vermöge seines reinen Eifers nicht dul­ den , obschon die Priester und Schriftgelehrten der Juden, die sonst so sehr auf die Beobachtung des Gesetzes drangen,

55 diesen Mißbrauch hingehen ließen.

Der wahre Freund der

Gesetze kann keine Mißbrauche und Uebertrerungen ungerügt lassen, wogegen oft diejenigen, die sich als die Gesetzlichen und Gerechten grberden, gar gern die Augen verschließen, auS Furcht, die Uebertreter ju beleidigen und sich ;u Feinde« ju machen. Freilich ist eine solche Nachsicht bequem, der strafende Eifer hingegen lästig und gefährlich, wie auch die Jünger bei dieser Handlung Jesu jener Worte des heiligen Dichters gedachten: Der Eifer um dein HauS hat mich gefressen (V. 17. vgl. Pf. 69, io.) d. h. der heilige Eifer für Gottesfurcht und Wahrheit bringt Schmer;, Kampf und Leiden. Der Fromme kann das Heilige nicht ent. weihet, daS Recht nicht verletzt sehen, ohne daß es ihm wehe thut, und er sich darüber betrübt; und indem er seinen Eifer in Worten und Thaten äußert, und sich des Entweiheten und Verletzte« annimmt, jieht er sich Haß und Verfolgung ;u, wie es hier mit Jesu der Fall war.

Aber obschon wir dieses

eben so sehr aus eigener Erfahrung als aus Jesi» Beispiel wissen, so «ollen wir doch nie das Gefühl des Unwillens und die Aufwallung des heiligen Eifers in unserm Herzen unterdrücken, wenn wir Ungebühr und Unrecht üben sehen. Mag auch der Eifer uns fressen, unsere Ruhe und unser Glück stören, unS in gefahrvollen Kampf ziehen; wenn nur unser Gewissen rein bleibt, wenn wir nur den inneren Frieden dewahren.

Ja, mag der Leib vom Eifer verzehrt, vom Haß

getvdtet werden; wenn nur die Seele lebt, und ihr ewiges Heil bewahrt. Was war es aber eigentlich, waS Jesu Eifer und Un­ willen erregte, worin bestand die Entweihung des Heiligthums, die er rügte? Er sagt es in den Worte«, bk er an die Verkäufer

richtete:

und

nicht

machet

Traget daS von dannen meines

Vaters Haus zum

Kaufhaus. (V. 16.). Sie hatten in den Tempel gebrachte was nicht hinein gehörte, was dem Dienst Gottes fremd war und denselben e»tweihele. Schon der Handel und das Wech« selgeschäst an sich gehörte nicht in daS Hriligthum; aber noch viel weniger der Betrug und die Ungerechtigtrit, welche

56 dabei mochten geübt worden seyn.

Ach! wie viele bringen

auch bei uns in das Gotteshaus und zur Andachtsübung, was nicht dahin gehört, was fremd und störend ist. Sie bringen weltliche Gedanken und Zerstreuung mit; sie fern» men in der Absicht, etwas zur Befriedigung der Neugierde und zur Unterhaltung zu hören, anstatt sich ermahnen und erbauen zu lassen; sic bringen in ihrem Herzen unreine Be« gicrden mit, und erscheinen vor dem Angesichte Gottes ohne Prüfung und Läuterung ihres Inneren. Ihnen gelte das Wort Christi: Traget das von dannen! Jesus setzte hinzu: Machet nicht meines Vaters Haus zum Kaufhaus. Worte von tiefem, weit anwendbarem Sinne! Der Tempel war des himmlischen Vaters Haus, ihm und seinem Dienste gewcihet; der Zweck, zu welchem man in den­ selben treten sollte, war, den Geist von der Erde nach oben hinzurichten, sich selbst und alle irdischen Angelegenheiten zu vergessen und sich ganz dem Gedanken an Gott hinzugeben. Aber diese Handelsleute verkannten und vergaßen nicht nur diesen Zweck, sondern sie machten auch den Tempel und Got­ tesdienst zum Mittel ihrer gewinn - und selbstsüchtigen Absich­ ten; sie machten das Haus Gottes zum Kaufhause; sie zogen beim Eintritt in dasselbe nicht nur ihren Geist nicht ab vom Irdischen, sondern dieses war sogar der Gegenstand, welchen sie daselbst mit unreinem Sinne verfolgten, welchem sie allein dienten. Gewiß war dieß die größte Entweihung des Heiligthums und darum rügte sie auch Jesus mit solchem Nachdrucke. Es scheint, als wenn wir heut zu Tage eine solche Tempelentwcihung nicht mehr begehen könnten. Bei uns wird in der Nahe des Gottesdienstes kein Markt gehalten, weil wir keiner Opferthicre und keiner heiligen Münzen be­ dürfen. Aber auf ähnliche Weise können wir doch das Heiligthum entweihen. Dieß thun zum Beispiel diejenigen Kir­ chendiener, welche ihr Amt nur um deS Lohnes oder der äußern Ehre und Herrlichkeit willen suchen und treiben, auf Kosten der Kirche ein bequemes, üppiges Leben führen, die ihnen anvertraute Kirchengewalt zur Befriedigung schnöder

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Herrschsucht mißbrauchen, und überhaupt Alles in der Kirche nur als Mittel zur Erreichung irdischer Absichten ansehen und benutzen. Aber wenn wir auch nicht gerade diese oder eine ähnliche Entweihung des Tempels oder der Kirche und des Gottesdienstes begehen können; so kommt es ja hier, wie überall, nicht auf die äußere Gestalt der Handlung, sondern auf die Gesinnung an, in welcher man handelt; und die strafwürdige Gesinnung, deren sich jene Tempelentweiher schuldig machten, kommt auch bei uns noch häufig vor. All­ gemein gefaßt, besteht sie darin, daß man den Gottesdienst, welcher einen Zweck in sich selbst trägt, jum Mittel eines anderweitigen, außer demselben liegenden Zweckes herab­ würdigt. Ist dieser Zweck unedel oder gar verwerflich, so ist die Entweihung des Heiligen um so gröber; aber auch einem guten Zwecke, der außer ihm selbst liegt, darf der Gottesdienst nicht dienen, und das Gotteshaus wird auch dadurch jum Kaufhause gemacht. Geht man in die Kirche bloß der Unterhaltung wegen» um Menschen |u sehen, um einen beliebten Prediger ju hören, oder in noch schlimmeren Absichten der Eitelkeit; besucht man den Gottesdienst aus Heuchelei, um sich den Schein der Frömmigkeit ju geben: so sind dieses grobe Entweihungen des Heiligen. Aber wer auch nur aus Gewohnheit und au6 Liebe jur guten Ordnung den Gottesdienst besucht, legt in denselben einen fremden, irdischen Zweck. Diele, welche keinen Sinn für die Andacht haben, und sich über das Be­ dürfniß derselben erhaben glauben, die Religion aber für rin nothwendiges Erziehungsmittel des Volkes halten, achten es für eine Pflicht, des Beispiels «egen in die Kirche ju gehen, um nicht schwachen Gemüthern ein Aergerniß ju ge­ ben. Aber wenn auch dieser Zweck gut gemeint ist, so ent­ würdigen sie doch den Gottesdienst ju einem bloßen Mittel, und begehen eine feinere Art von Tempelentweihung; es ist eine Art von Heuchelei, welche sie treiben. Man hat vor­ geschlagen, daß da, wo der Gottesdienst vernachlässigt ist, um ihn ju heben, die Staatsdiener gesetzlich jur Besuchung des­ selben gezwungen werden sollten, und hat nicht bedacht, daß

58 man ihn eben dadurch ganz herabwürdigen würde.

Nein!

wen das Herj nicht in das Gotteshaus zieht, wer darin nichts Höheres sucht, der bleibe fern davon. Wir aber wollen unser Herz, sowohl in der Kirche, als außer derselben nach dem Himmlischen richten, in der Geisteserhcbung und Andacht Trost, Stärkung und Seelenfrieden suchen, und wenn wir unsere Gedanken zu Gott erheben, alles Irdische tief unter uns halten. Uns ziehe ein inneres Bedürfniß in die Kirche, das Haus des himmlischen Vaters sey uns ein Ort der Weihe, wo wir unS von allen irdischen Gedanken und Absichten reinigen; unser Herz gehöre dann Gott an, und fühle sich frei und selig in seinem heiligen Dienste. Jesus trieb die Entweihet des Tempels auf der Stelle hinaus (D. i5.). Uns scheint dieses Verfahren gewaltsam und ein Eingriff in die Rechte der Obrigkeit zu seyn; aber nach den Sitten der Zeit war es dieses nicht. Jeder Jude hatte das Recht, den Eiferer zu machen, d. h. Mißbräuche auf der Stelle zu ahnden und abzuschaffen. Nur mußte ein solcher sich durch seine Gesinnung und Lebensweise die allge­ meine Achtung erworben haben, damit das, was er that, die allgemeine Billigung erhielte. Wir, nach unsern Sitten, müßen uns allerdings enthalten, selbst Hand anzulegen, wenn eS die Ausrottung eines Mißbrauchs gilt, und die Macht der Obrigkeit zu Hülfe nehmen. Aber unser Eifer soll im­ mer so thatkräftig und entschlossen seyn, wie der unsers Heilandes war; wir sollen unS nicht mit dem bloßen Unwil­ len oder der Aeußerung desselben begnügen, sondern ihn im­ mer in die That übergehen lassen; so werden die Mißbräu­ che wirklich abgestellt und daS öffentliche Leben immer mehr verbessert und vervollkommnet werden. Dagegen laßt unS aber auch durch ein unbescholtenes und musterhaftes Leben die allgemeine Achtung und das Recht verdienen, die Feh­ ler Anderer zu rügen, damit uns die Stimme der Wohlgesinnten in unserm Verbesserungseifer unterstütze. Jesus trieb die Käufer und Verkäufer mit der Geißel hinaus, und der sonst so Sanftmüthige bedient sich hier der Strenge, weil hier die Milde nicht an ihrem Orte gewesen

59 wart.

Dieß lehrt uns, daß wir uns auch zur rechten Zeit

der Strenge bedienen dürfen, um das Böse ausjurottrn; nur geschehe es mit der Gerechtigkeit und Mäßigung, welche hier JefuS beweist. Die Juden verlangten von Jesu ein Zeichen ju sehen, zur Rechtfertigung dessen, was er gethan. (23. 18.). Als Eiferer und Verbesserer brauchte er eigentlich kein Zeichen seiner Beglaubigung (n geben, nur die Propheten pflegten solches zu thun (5 Mos. 13, a.). Die Anerkenntniß, daß er recht that, und das Gesetz handhabte, hätte eigentlich hinreichen sollen, um allgemeine Billigung zu finden. Allein den Juden schien er gegen die Ueberlieferung ihrer Gesetzes« lehrer zu handeln., weil er einen eingewurzelten Mißbrauch angriff. In den Augen derer, welche sich bloß an die Ge« wohnheit halten, wird oft das Unrecht jum Recht, und der Verbesserer von Mißbräuchen erscheint als unberufener Neuerer. Selten beurtheilen die Menschen das Bestehende und Gebräuchliche aus einem lebendigen Gefühl des RechtS und Unrechts» daß etwas besteht, scheint ihnen schon ein Be« weis des Rechts zu seyn. Jesus befriedigte nie die Wunbersucht der Neugierde und des Unglaubens, und so auch hier nicht. Hätte er irgend ein Zeichen gegeben, so würde der Unglaube dennoch Gründe gefunden haben, daran zu zweifeln. Ein Wunder ist nie ein vollgültiger überzeugender Beweis der Wahrheit. Mag es auch noch so sehr das Staunen erregen, so erweckt es dadurch noch nicht den Glauben, sondern macht höch. stens nur dazu geneigt. WaS man glaubt, das glaubt man um sein selbst willen, «eil sich daS Herz davon gerührt und durchdrungen fühlt, nicht aber um eines Andern willen, das damit in keiner nothwendigen Verbindung steht. Je« sus gab alS Merkmal seiner göttlichen Beglaubigung ein Zeichen, welches selbst wieder Glauben foderte. Er sagte r Brechet diesen Tempel, und am dritten Tage will ich ihn aufrichten. (23. 19.). Man kann diese Rede verschieden deuten. Die Juden nahmen sie im gröbsten und ganz falschen Sinne, indem

6o sie unter dem Tempel den mit Handen gemachten Tempel, das Tempelgebäude, verstanden. Das wäre ein Zeichen in ihrem Sinne gewesen, wenn Jesus ein Pracht, und Nie« sengebaude, an welchem man langer als vierzig Jahr ge« bauet hatte, in drei Tagen gleichsam wie durch Zauberei, wieder aufgerichtet hatte. Daran dachte Jesus nicht. Ohne den vom Evangelisten gegebenen Wink wurde man, der Be­ ziehung folgend, in welcher die Rede Jesu gesagt war, nämlich auf das Werk der Tempelrcinigung, den Sinn so fassen: Ich habe die Macht diesen Tempcldienst, wenn er ein Ende nimmt, durch einen neuen und bessern Gottesdienst zu ersetzen; ich bin der Mittler eines neuen Bundes zwi­ schen Gott und Menschen: mithin habe ich auch die Macht, den Tempcldienst, so lange er besteht, vor Mißbräuchen zu bewahren. Wer das Höhere kann, der kann auch dag Niedere, der Schöpfer ist auch der Erhalter. Nach dieser Deutung hätte also Jesus seine Beglaubigung und Vollmacht nicht in ein äußeres Zeichen, sondern in die Kraft und Fülle des göttlichen Geistes gesetzt, der in ihm war; und nur eine solche Beglaubigung ist die wahre. Die Apostel aber bezogen die Rede Jesu, obschon erst nach etlichen Jahren, auf seine am dritten Tage erfolgende Auferstehung, und verstanden den Tempel vom Tempel seines Leibes. Aber auch dieser Erklärung nach wies Jesus die Juden nicht auf ein äußeres, in die Sinne fallendes Zeichen hin; denn gerade den Juden, den Ungläubigen ist er nach seiner Aufcrstehung nicht erschienen, und hat nicht durch seine wunder­ bare Erscheinung ihr Staunen erregt. Es ist ebenfalls nur die innere, unsichtbare, mit dem Glauben zu fassende Kraft Gottes, welche in und an ihm wirksam war, und ihn von den Todten auferweckte. So wie Christus durch die Kraft des in ihm wohnenden Geistes Gottes die Macht hatte, sein Leben zu lassen, und es wieder zu nehmen (Joh. io, 18.), wie er im Tode das Fleisch und den Schmerz und den Tod selbst überwand, und Leben und Unsterblichkeit ans Licht brachte: so hatte er auch durch eben diesen Geist die Macht, den fleischlichen Gottesdienst der Juden aufzu-

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heben und einen geistliche« an dessen Stelle zu setzen, und alle die Mißbräuche, welche sich in denselben eingeschlichen hatten, }u rügen und abzustellen. Alle Macht ist nur die wahre, wenn sie auf der Kraft des Geistes beruht; und darum ist Gott der Allmächtige, weil sein Geist die Welt erfüllet, und Alles schafft und wieder zerstört, und wieder zum neuen Daseyn hervorruft. Daraus wollen wir unS zwei Lehren ziehen. Erstens wollen wir die Beglaubigung unseres Heilandes immer mehr im Innern seines göttlichen Geistes suchen, und alle Wun­ der und Thaten nur als die Offenbarungen dieses Geistes ansehen. Der Geist ist es, der lebendig macht. Nur die Anerkennung seines mächtig wirkenden und beleben­ den Geistes giebt eine feste, unerschütterliche Ueberzeugung, und macht zugleich daS Herz für seine belebenden Wirkun­ gen empfänglich. Zweitens, alles, was wir beginnen und vollbringen, gehe auch in uns aus dem Geiste und dessen Kraft hervor. Rügen und stellen wir Mißbräuche ab, verbessern wir irgend eine Anstalt und Einrichtung: so seyen wir dazu dadurch berechtigt, daß wir den Sinn und Geist dessen, waS besteht, lebendig auffassen, daß wir wissen, was nach der ursprünglichen Stiftung und Bestimmung da­ zu gehört, und waS daran Mißbrauch und Derderbniß ist. Eine Verbesserung, welche man unternimmt, ohne einen solchen lebendigen Geist, der in das Innere und Wesentliche des zu Verbessernden eindringt, bleibt an der Oberfläche haften und ist ohne Wirkung und Segen. In der prote­ stantischen Kirche ist heut zu Tage viel die Rede von Verbesserung des öffentlichen Gottesdienstes und Einführung neuer Formen und Gebräuche; aber die gemachten Vor­ schläge und Versuche scheinen nicht aus dem lebendigen Geiste, sondern aus klügelnder Berechnung hervorgegangen zu seyn, weßwegen sie auch keine allgemeine Billigung fin­ den. Der lebendige Geist der Verbesserung dringt am Ende immer durch, und findet allgemeine Anerkennung, weil er in die Gemüther eindringt und lebendige Ueberzeu­ gung bewirket. So schuf Christus die Gestalt des Gottes-

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dienstes ganz um, und so gelang es den Reformatoren eine durchgreifende Verbesserung der Kirche ju bewirken, und so wird auch eine neue Verbesserung nur dann eintreten, wenn sich ein neuer Geist in der Kirche lebendig regt. Wahrend JesuS sich in Jerusalem aufhielt, und Zei­ chen that, glaubten Diele an ihn um dieser Zeichen willen (V. 23.). Aber Jesus vertraute sich ihnen nicht, denn er kannte sie Alle, und bedurfte nicht, daß Jemand Zeugniß gäbe von einem Menschen; denn er wußte wohl was im Men­ schen war (D. a4.25.). Er hielt diejenigen, die bloß der Zeichen wegen an ihn glaubten, nicht für wahrhaft Gläubige; mit dem Scharfblicke des untrüglichen Menschen­ kenners sah er in ihrem Gemüth die Kalte und Leere, die unlautere, irdische Gesinnung» den Mangel an Glauben und Liebe; er sah, daß ihr Glaube nichts, als eine flüchtige, sinnliche Regung, keine wahre Umwandlung des Innern war: und so schenkte er ihnen sein Vertrauen nicht, nahm sie nicht ju seinen Jüngern an. Er bestätigte mithin die Wahrheit, daß das Staunen über Wunder und Zeichen noch nicht unmittelbar den Glauben mit sich bringt: und dir Erfahrung, die er an diesen Menschen machte, recht­ fertigte sein Betragen im Tempel, als er die Beglaubigung durch ein Wunderjeichen verweigerte. Die untrügliche Menschenkenntniß, welche Jesu eigen war, der das Innere der Menschen durchschauende Blick deS Geistes, war freilich nur ihm in diesem Grade eigen, und hing mit seiner göttlichen, unerreichbaren Weisheit zusammen. Aber so wie wir dieser wenigstens nachstreben sollen, so auch jener. Wir bedürfen sie nothwendig zu der Klugheit, welche ja auch für das Wirken im Reiche Gottes unentbehrlich ist. Hatte sich Jesus diesen scheinbar Gläubigen hingegeben und sich von ihnen täuschen lassen: so wäre durch Aufnahme un­ würdiger Glieder gleich der erste Grund seiner zu erbauenden Kirche schlecht gelegt worden. Eben dadurch, daß spätere Bekehrer die wahrhaft Gläubigen von denen, die nur den äußerlichen Schein des Glaubens zeigten, nicht genug unter«

63 schieden, und alle ungeprüft zuließen, ist die Kirche verderbt, und mit heidnischem und jüdischem Aberglauben verunreinigt worden. Diese Menschenkrnntniß bedarf noch heut zu Tage der christlichen Lehrer und Seelsorger, der auf das Innere wirken, und es mithin kennen und beurtheilen «Nuß. Ohne sie wird er sich oft tauschen und Heuchler und Selbstbetrogene für fromme Christen nehmen. Der Wunderglaube kommt jetzt gerade nicht mehr in dieser Gestalt, wie hier vor, aber mit einiger Abänderung ist er leider nur noch allzu herrschend. Diejenigen alle, welche Christi Stimme nicht hören, und ihn nicht als Sohn Gottes erkennen würden, wenn nicht von ihm diese wunderbaren Thaten und Ereignisse, diese wunder­ bare Geburt und Auferstehung erzählt wären; welche der Bibel nicht glauben würden, wenn sie sich nicht von ihrer Entstehung wunderbare Vorstellungen machten r allen diesen sollten die christlichen Lehrer sich nicht vertrauen, so wie sich Christus nicht ihnen vertraut haben würde. Aber durch wie viele andere falsche Beweggründe und Vorstellungen wird noch der christliche Glaube verunreinigt, welche mannichfaltigenArten von frommer Unlauterkeit undSelbsttäuschung giebt es! O hätten unsere Lehrer und Seelsorger die­ sen Scharfblick Christi, und ließen sich nicht allzu oft von der blendenden Außenseite einnehmen; so würde des ScheinChristenthums viel weniger, und die Frömmigkeit nicht in den Augen vieler geradsinniger Menschen halb verdächtig seyn! Die Kinder des Lichts wären dann geschieden von den Kindern der Finsterniß, und nicht so viele Nebelbilder und Truggestalten christlicher Frömmigkeit verwirrten den Blick des Beobachters. — Aber auch jeder Christ kann durch Menschenkenntniß zur Entlarvung der Heuchelei und des Selbst­ betrugs beitragen, und sollte hierin seinem Erlöser nachah­ men. Der wahrhaft Gläubige schließe sich nur an Gleichge­ sinnte an, öffne nur solchen sein Herz, vereinige sich nur mit ihnen zum Austausche der Gedanken und zum Wirken für das Reich Gottes: so werden die Heuchler und Scheinglaubigen bald allein stehen und in ihrer Unlauterkeit erkannt werden. Der wahre Christ mit achter Menschenkenntniß kann

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auch manchrn Christen dieser Art durch ein Wort der Mähnung aus dem Selbstbetrug und der inneren Verworrenheit herausreißen, und mit feinem prüfenden Scharfblicke einen Strahl des Lichts in die Dämmerung seines Gemüths werfea, so daß er sich selbst klar wird, und in sich erwacht. Wie aber erlangen wir diese Menschenkcnntniß, wie lernen wir erkennen, waS im Menschen ist, wie können wir den wahren Glauben und die wahre Gesinnung von der er­ heuchelten oder doch unlauter» unterscheiden? Der einzige Weg ist die Selbsterkenntniß und die Lauterkeit des Herzens. Wer sich nicht selbst, über seine eigenen Gesinnungen und Absichten, täuscht, wird auch nicht von Anderen so leicht ge­ tauscht werden. Christus wußte was zum wahren Glauben gehört, und welche Gesinnung für das Reich Gottes geschickt macht, und wollte nichts, als diesen Glauben und diese Ge­ sinnung in den Menschen erwecken: er war rein von aller Eitelkeit und Selbstsucht, und tauschte sich nicht selbst über seine Absichten und die Mittel, sie zu erreichen; er wollte nicht Ruhm und Ansehen gewinnen, nicht seinem Namen Anhän­ ger verschaffen, nicht für sich eine Parthei werben: und so konnte ihm ein Glaube, der nichts, als eine unlautere Be­ wunderung seiner Person war, nicht genügen. Wir neh­ men gern den äußeren Schein des Glaubens und der guten Gesinnung für diese selbst, weil wir in uns selbst nicht fest genug gegründet sind; der Dammerschein gilt uns schon für Licht, weil wir in uns selbst nicht die rechte Klarheit haben; die scheinbare Uebereinstimmung Anderer mit uns schmeichelt unserer Eitelkeit und Selbstsucht, und daher glauben wir oft schon, den ganzen Menschen gewonnen zu haben, wenn sich nur seine Aussenseite freundlich zu uns neigt. — O möchten wir recht klar und lauter in uns selbst werden, möchte aller Betrug und alle Unreinheit aus unse­ rem Herzen weichen! Wir werden uns aber innerlich aufklä­ ren und läutern, wenn wir in strenger Selbstprüfung unser Herz dem durchdringenden Scharfblicke Christi, dem Him­ melsstrahle seiner Wahrheit öffnen, uns im Geiste ihm darstellen und ihn fragen, was er in uns findet und ob er sich

65 unS vertrauet.

Cr ist uns im Geiste gegenwärtig,

und

feine Klarheit umlcuchtel uns, wenn wir ihn nur finden und erkennen wollen. O möchte das Ergebniß dieser Prä» fung seyn, daß er fich uns vertrauet und uns als die Sei» neu annimmt!

Cap. 3, i — 2i.

Christi Gespräch mit Nikodemus über das Reich Gottes mit) die Wiedergeburt. Erster Abschnitt. (V. 1 -13.) jpicr sehen wir ebenfalls einen Mann zu Jesu kommen, der nur durch den Wunderglauben zu ihm hingezogen ist. Ni« kodcmus erkennt Jesum für einen Lehrer, der von Gott gekommen sei, weil niemand die Zeichen thun könne, die er thue, es sei denn Gott mit ihm. (D. a.). Aber obschon sein Glaube nur erst durch die De» wunderung der Thaten Jesu angeregt war, so verdiente ec doch das Vertrauen Jesu, welcher sich mit ihm in eine Un» terredung einlaßt, und ihn auf dasjenige hinweist, was zum wahren Glauben erfoderlich sei. Auch ficht man schon aus seiner Anrede, daß in ihm der Wunderglaube nicht ein leeres Erstaunen, nicht eine bloß sinnliche Errc» gung war; denn er erkennt aus den von Jesu gethanen Zeichen, daß Gott mit ihm sei, er ahnet in ihm die höhere, göttliche Geisteskraft. Wir sehen also hieraus, daß der Wunderglaube nicht immer zu verachten, sondern als die Anbahnung zum wahren Glauben zu schätzen und zu benutzen ist, und wollen daher diejenigen, welche einer solchen Anregung bedürfen, mit Nachsicht behandeln. Aber immer gelte der Wunderglaube nur als das, was zum Bibl. Erbauungsb. I.

E

66 wahren Glauben hinführt, wie ihn auch Jesu- hier nur als Anknüpfungspunkt für die höhere Erkenntniß benutzt. Er antwortete dem Nikodemus und sprach: Wahr« lich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn daß Jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes n i d? t sehen (V. 3.). Er nimmt seinen durch Wunder geweckten Glauben freundlich an, so» dert aber einen höheren von ihm, wenn er das Reich Eot« tes sehen wolle. Das Reich Gottes ist ein Leben, der Er« kenntniß und Erfüllung des Willens Gottes geweihct, heilig und gottselig, in welchem durch Glauben und Liebe die Menschen unter einander und mit Gott verbunden sind, in welchem der Wille Gottes herrscl)t und sein heiliger Geist schafft und waltet, und welches über Sünde und Tod crha« den, in sich ewig, unsterblich und selig ist und zur ewigen Seligkeit führt. Das Reich Gottes sehen, heißt nicht bloß es erkennen, sondern in dasselbe kommen (welchen Ausdruck Jesus nachher als glcichgcltend braucht), daran mit der That Theil nehmen; es besteht nicht bloß in Worten, auch nicht bloß in der Erkenntniß, sondern in der Kraft. Die heilige Schrift braucht den Ausdruck: den Tod sehen, in der Bedeutung den Tod erfahren oder leiden: mithin ist das Reich Gottes sehen so viel, als es an sich erfahren, in sid) erleben» lebendig daran Theil nehmen. Dazu verlangt nun Jesus, daß der Mensch von neuem geboren werde. Nikodemus versteht dieses im leiblichen Sinne, und findet es unmöglich, wie es auch ist. Kann ein Mensch auch wiederum in feiner Mutter Leib gehen und geboren werden? (D. 4.). Er hangt noch gar sehr an leiblichen, sinnlichen Begriffen, und kann sich nicht sogleich jum Geistlichen erheben. Jesus erklärt sich naher, indem er die verlangte Wiedergeburt als eine Geburt aus Wasser und Geist bezeichnet(V.5.). Die Geburt aus dem Geist ist m'd)ts anders als die Umwandlung des innern Menschen bttrd) den heiligen Geist, den Geist der Wahrheit und der Liebe, welcher in der Seele allen Irrthum, alle Selbstsucht,

Fleischeslust und Sünde

aus«

6?

rottet, und sie mit der reinen Kraft der Wahrheit und der Liebe durchdringt, so daß sie gleichsam neu geschaffen, er. leuchtet, gereinigt, gekräftigt und verjüngt wird. Und diese Umwandlung beginnt mit dem Glauben an Christum, als die Wahrheit, daS Licht und das Leben, mit der lebendigen Ueberzeugung, daß in ihm der Geist der Wahrheit und Liebe in unendlicher Fülle ist, und mit der vertrauensvollen Hin» Neigung zu ihm, als demjenigen, der uns jur Wahrheit leitet, unS mit dem. Vorbilde der Liebe vorleuchtet, und uns die Kraft deS heil. Geistes verleihet. Indem also Christus von Nikodemus die Wiedergeburt auS dem Geiste verlangte, machte er zugleich an ihn den Anspruch, an ihn nicht bloß der verrichteten Wunder wegen, sondern um deS in ihm wohnenden Geistes willen zu glauben, in ihm den Schöpfer eine- neuen Lebens zu erkennen und an diesem neuen Leben Theil zu nehmen. Die Geburt aus dem Wasser ist die Taufe, durch wel. che der Gläubige feinen Glauben an Christus öffentlich be« kannte, und mit entschlossener, unbedingter Hingebung, mit Hintansetzung aller Scheu vor der Welt und ihrem Haß, in den Verein derer trat, welche sich um Jesu Person fern« melken, um das Reich Gottes thätig zu beginnen. Dadurch wurde der Mensch nicht nur äußerlich rin Anderer, trat in neue Verhältnisse, verließ die Gemeinschaft der Ungläubi. gen und Unsittlichen, und schloß sich an die Frommen an r sondern bewährte auch eben dadurch seine innere Umwand, lung, daß er Alles an seine Ueberzeugung setzte, und dafür Haß und Feindschaft auf sich lud. Die Abwaschung mit Wasser war nur ein äußeres Sinnbild, und konnte den Menschen nicht umgestalten; aber der äußere wichtige Schritt, der damit verbunden war, die Erklärung, welche vor der Welt abgelegt wurde, konnte nicht ohne feste und lebendige Ueberzeugung, nicht ohne eine innere Umwandlung gesche. hcn. Diese feste, lebendige Ueberzeugung fehlte dem Riko» dcmus, welcher zu Jesu bei Nacht kam, aus Furcht vor den Menschen, und noch nicht den Muth hatte, Alles an das Bekenntniß der Wahrheit zu setzen. Bei uns ist die E 2

68 Tauft, wcil sie an den Kindern geschieht, etwas Anderes, und tritt erst recht in Kraft, wenn wir in reiferen Jahren das Bekenntniß unseres Glaubens durch die That bewähren, uns von aller unreinen Gemeinschaft lossagen, mit den Frommen und Tugendhaften den festen Bund der Treue schließen, in den Kampf mit der Welt treten, und der Wahrheit und Gerechtigkeit mit Blut und Leben dienen. ES ist ein großes Wort, daß niemand das Reich Got­ tes sehen kann, ohne durch Wasser und Geist neu geboren zu werden. Wie viele fassen und bcherjigcn den wichtigen Sinn desselben, wie viele sind durch das Christenthum neu geboren? Gar manche sind nur leiblich als Christen geboren, indem sie von christlichen Eltern abstammen, und in der Jugend getauft sind. — Man könnte sagen: wie kann ein von christlichen Eltern Gezeugter durch das Christenthum neu geboren werden? wie kann mit ihm eine solche Um­ wandlung vorgehen, wie diejenigen erfahren müssen, welche aus dem Judenthum oder Heidenthum in die christliche Kir­ che übertreten? Unmerklich nimmt er nach und nach den Geist des Christenthums in fid) auf und wird allmahlig ein neuer Mensch. Allerdings erfolgt die Wiedergeburt bei einem Menschen. der als Christ geboren ist und sich nid)t in ein Leben des Unglaubens und Lasters gestürzt hat, aus welchem er dann den Rücksd)ritt thun muß, nicht augcnblicklid) oder plötzlich, sondern allmahlig und fortwährend; sie ist eher das, was man Heiligung oder Erneuung ober die Fortsetzung der Wiedergeburt genannt hat; aber in der That ist es dod) derselbe Hergang, bei welchem dieselbe Kraft des guten Geistes wirksam ist; und die Anfoderung an uns, auf diese Weise nach und nach umgewandelt zu wer­ den , ist nicht minder wichtig. Ohnehin ist die Wiedergeburt aus dem Geist auf keinen bestimmten Zeitpunkt, auf feine einzelne Entschließung ober Handlung einzuschränken, son­ dern etwas stets Fortgehendes, Bewegliches, nie zu Vol­ lendendes, in unzahlichcn Handlungen und Entschließungen sid) Entwickelndes. Der Geist ist in sich ewig und stets thätig,

ja die Thätigkeit selbst: mithin ist das nur eine

69 wahrhaft geistige Umwandlung, welche stets fortschreitend im Zunehmen begriffen ist. Der Mensch soll sich täglich vervollkommnen und gleichsam immer von neuem verjüngen. Es bleiben ihm immer gewisse Fehler, die abzulegen, ge­ wisse Mangel und Lücken, die zu ergänzen sind; immer hat er gewisse Tugenden sich noch vollkoinnincr anzueignen, und nie kann er sagen» daß er am Ziele stehe. Aber eben so nothwendig ist die Wiedergeburt aus dem Wasser oder das äußere Bekenntniß, die Bewährung des Glaubens durch die That, und auch diese muß fort­ während seyn, und sich in jedem bedeutenden Augenblicke des Lebens wiederholen. Wer nicht für seinen Glauben Alles wagen, Glück und Ruhe, ja selbst das Leben dafür opfern kann, der wird das Reich Gottes nicht sehen. Was vom Fleische geboren wird, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren wird, das ist Geist (33. 6.). Mit diesen Worten will Christus dem Nikodemus die Nothwendigkeit der Wiedergeburt aus dem Geist ans Herz legen. Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht ererben (i Kor. 15, 5o.) Nicht ein sterblicher Leib kann in die ewige Seligkeit einge­ hen; nicht eine fleischliche Gesinnung macht zur Theilnahme am Leben im Glauben und in der Liebe fähig: das Fleisch tragt immer nur die Früchte des Fleisches. Wer nur aus Fleisch geboren ist, in wem nur die thierische Lebenskraft treibt, die auf Besitz und Genuß, auf Irdisches und Ver­ gängliches hinrichtet: der wird in Handlung und Gesinnung keine andern als irdische Zwecke verfolgen, keine Wahrheit, als die gemeine Erfahrung anerkennen und des Glaubens an das Ewige unfähig seyn, nichts aus Liebe, sondern Alles nur aus Selbstsucht und Eigennutz thun, und so stets außer der Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe stehen. Ent­ weder wird er nun, vom Zwange der Gewohnheit und des äußeren Gesetzes in den Schranken der Ordnung gehalten, ein roher, gemeiner Mensch, ein Sklave des Bedürfnisses und der Arbeit seyn, oder wenn ihn Leidenschaft und Ver­ führung aus der Dahn der Ordnung reißen, wird er die

7° Werke des Fleisches vollbringen, welche der Apostel Gal.

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5 19. ff. aufzahlt, als da sind Ehebruch, Hurerei, Unreinigkeit, Unzucht, Zwietracht, Haß, Mord, u. f. w., und wird entweder ein grober Sünder seyn, oder wenigstens die giftigen Leidenschaften der Wollust, des Neides, des Hasses u. s. w. im Herzen tragen. In wem hin­ gegen die Kraft des Geistes ist, so daß er sich stets vom Ir­ dischen und Fleischlichen loszumachen und zu reinigen strebt, der wird die Früchte des Geistes tragen, als da sind Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gü­ tigkeit, Glaube, Sanftmuth, Keuschheit (Gal.

5, 22.); der ist im Glauben auf das Ewige hingerichtet, und dessen Glaube wird in Liebe thätig seyn. Das aber heißt am Reiche Gottes Theil nehmen; denn das Reich Gottes ist Gerechtigkeit und Friede und Freude im heiligen Geist (Röm. i4, 17.). Nikodemus mochte Jesum verwundernd ansehen, indem auf seinen Lippen die Frage schwebte, die er auch nachher wirklich aussprach: Wie mag solches zugehen? (V. 9). Darum setzt Jesus hinzu: Laß dichs nicht wundern, daß ich dir gesagt habe: Ihr müsset von neuem geboren werden. Der Wind bläset, wo er will, und du hörest sein Sausen wohl; aber du weißt nicht von wannen er kommt, und wohin er fahrt. Also ist ein Jeglicher, der aus dem Geist geboren ist (V. 7. 8.). Geist und Wind wird in der Sprache des Grundtcxtes und derjenigen, deren sich Jesus bediente, mit demselben Worte bezeichnet, und darum entlehnt er vom Winde ein Gleichniß, um die Natur des Geistes und der geistigen Geburt damit anzudeu­ ten. So wie man wohl die Wirkung des Windes vernimmt, aber weder dessen Ursache noch Weg erkennen kann: eben so wenig laßt sich erkennen und nachweisen, wie und auf welchem Wege der Geist im Menschen wirket. Diese un­ sichtbare, an keine sinnlichen Gesetze gebundene, mit schein­ barer Willkühr wirkende Kraft des Geistes nennen wir die Freiheit: Jesus will demnach sagen, die Wiedergeburt

71 de-Menschen sei ein Werk der Freiheit. Sie laßt sich nicht durch äußern Zwang, nicht durch Reiz und Lockung, nicht durch ein nach Regeln des klügelnden Verstandes abgemes­ senes Verfahren hervorbringen, sondern eine unsichtbare, höhere Kraft, gleich dem daher strömenden Winde, erfüllt den Menschen, wirkt in ihm neue Entschlüsse und Gedanken und treibt die irdischen Lüste und Begierden aus. ES kommt uns, wir wissen oft nicht woher, ein Reiz, eine Anregung zum Bessern, unser Herz wird unwillkürlich von einer Rüh­ rung ergriffen, cs fällt ein Lichtstrahl in unsern Geist, und zeigt uns unsern innern Zustand, so daß wir vor der dun­ keln Verworrenheit desselben erschrecken. Bisweilen wird uns eine solche Anregung der Anfang der Besserung; bis­ weilen geht sie auch vorüber, ohne, wie es scheint, eine Spur zurück zu lassen; aber sie wiederholt sich immer star­ ker und stärker, und endlich geben wir nach, und die heil­ same Unwandlung kommt zu Stande. Allerdings hangt die Wiedergeburt nicht allein vom Willen des Menschen ab, indem er sich die Anregung nicht selbst geben kann; der Wind bläset, wo er will, und nur der Schöpfer weist ihm seine Bahn an: aber der Mensch soll sich den Anregungen nicht, widersetzen, sein Herz nicht dagegen verschließen, son­ dern es öffnen und hingeben. Ucbcrall umgibt uns die Luft, in welcher wir athmen; überall berührt uns der Geist mit seinen Wirkungen, denn in ihm leben, weben und sind wir: wenn wir daher nur wollen, |(b wird er in unser Herz ein­ ziehen und seine Schöpferkraft daran ausüben» Daß die Wiedergeburt ein Werk der Freiheit ist, soll unsern Muth und unser Vertrauen erhöhen: wir sollen nicht mit klügeln­ dem, berechnendem Verstände an der Möglichkeit desselben zweifeln, sondern der göttlichen Allmacht vertrauen, wel­ cher kein Ding unmöglich, die auch in den Schwachen mäch­ tig ist. Wie tief auch der Mensch in die Sünde versun­ ken seyn mag, der Geist Gottes kann ihn doch daraus emporreißen; wie verfinstert das Gemüth sei, sein Licht kann es erhellen, und di« Erkenntniß der Wahrheit darin entzünden.

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Nikodemus kann sich noch immer nicht in den ihm neuen Gedanken finden, und fragt: Wie mag solches zugehen? Jesus antwortet ihm: Bist du ein Mei­ ster in Israel, und weißt das nicht? (V. io.). Nikodemus war ein Schriftgelehrter, und kannte alle Weis­ heit seines Volkes; dcmungeachtet verstand er nicht, was die Wiedergeburt sei, und sah nicht ein, daß man sie für möglich und nothwendig halten müsse, ohne gerade zu be­ greifen, wie sie zu Stande komme. So geht es oft mit der menschlichen Weisheit, daß sie von dem, was das allerwichtigste für desMenschen Heil und Seligkeit ist, abführt, anstatt hinzuführen, und daß sie sogar die Empfänglichkeit des Geistes dafür raubt. Was der einfältige Christ glaubt und wobei er seine Ruhe findet, das will der eingebildete Weise klar verstehen und begreifen, und da er es nicht kann, so be­ zweifelt er eS. Gerade in den wichtigsten Dingen wird die menschliche Weisheit zu Schanden, wenn sie alles mit dem Verstände beherrschen will, und nicht anerkennt, daß man nicht alles erklären und ergründen kann. Auf den Glauben weist Jesus den Nikodemus hin mit den Worten: wir reden was wir wissen, und zeugen das wir gesehen haben: und ihr nehm et unser Zeugniß nicht an. (V. 11.). Jesus sprach, was er von der Wiedergeburt sagte, aus unmittel­ barer, lebendiger Erkenntniß, was er gleichsam mit Augen gesehen und mit Ohren gehört hatte; nicht vom Hörensagen, nicht von menschlichem, trügerischem Unterricht hatte er die Erkenntniß von der Wiedergeburt, sondern von einer höhe­ ren, innern, untrüglichen Erfahrung: der Geist hatte es ihn gelehrt, der Geist Gottes, der in ihm war. Nun gilt uns in menschlichen Dingen derjenige, der etwas selbst ge­ sehen und gehört hat, als Zeuge, und fodert als solcher (wenn er nicht durch Unwahrhaftigkeit alles Zutrauen ver­ loren hat) Glauben: mithin sollen wir auch in höheren Din­ gen Christo glauben und fein Zeugniß annehmen, weil er sie aus unmittelbarer Erkenntniß weiß. Freilich soll auch der Glaube, den wir ihm beweisen, uns wieder zur Ersah-

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rung und unmittelbaren Gewißheit führen, so daß wir das Geglaubte in uns selbst erleben. Glauben wir, wovon hier die Rede ist, an die Kraft des göttlichen Geistes im Men. sehen und die durch denselben mögliche Wiedergeburt, und geben wir mittelst dieses Glaubens unser Her; der Wirksamkeit desselben hin: so werden wir sie bald an unö selbst er. fahren und erleben, und bann ebenfalls als von einer Sache, die wir wissen und gesehen haben, jcugen können. Jesus fodert für das, was er von der Wiedergeburt gesagt hat, um so mehr Glauben, weil dieses noch lange nicht so sehr die menschliche Fassungskraft übersteige, als anderes was er auch zu verkündigen habe. Glaubet ihr nicht, wenn scheuch von irdischenDingen sage: wie würdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sagen würde? (D. 13.). Zu den irdischen Dingen zahlt Jesus die Wiedergeburt, weil sie auf Erden, im Menschen geschieht, weil sich in ihr gleich, sam Himmlisches mit Irdischem, der Geist Gottes mit dem Geiste des Menschen, verbindet und dieser thätig daran Theil nehmen muß. Zum Himmlischen hingegen zahlt er Alles, was sich auf das Verhältniß des Menschen zu Gott und Got­ tes zu der Welt bezieht, und wobei sich der Mensch nur glaubig verhält. Namentlich gehört dahin die Lehre von Gottes Vaterliebe und dessen Rathschlüssen zur Erlösung und Ver« söhnung der Welt durch Christi Leiden und Sterben. Um dieses zu glauben, muß man sich ganz nach oben richten, und alle irdischen Vorstellungen hinter sich lassen. Aber auch diese himmlischen Dinge weiß Christus, und verdient darin Glau, den. Niemand fahrt gen Himmel, erforscht und erkennt was im Himmel ist und geschieht, denn der vom Himmel hernieder gekommen ist, nämlich des Menschen Sohn, der im Himmel ist, dessen Heimath und Ursprung im Himmel ist, der von Ewigkeit bei Gott gewesen ist. (D. i3.?. Eins bedingt das Andere; weil Christus das Himmlische erkennt, so ist er selbst himmlischcr Abkunft; und weil er himmlischer Abkunft ist, so er« kennt er das Himmlische. Auch hiemit ist seine unmittelbare,

74 untrügliche Erkenntniß bezeichnet.

Will man etwas unmit­

telbar erkennen, so muß man an Ort und Stelle gewesen seyn und es mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehöret haben. Aber obgleich Christi himmlische Abkunft der Grund seiner Erkenntniß von himmlischen Dingen ist: so haben wir uns doch zunächst an die letztere zu halten und darauf unsern Glauben zu richten. Durch die Offenbarung der himmlischen Dinge, die wir ihm verdanken, erkennen wir ihn als denjenigen, der vom Himmel hcrabgekommen ist, und ohne jene wüßten wir nichts von ihm. Auch begreifen wir es nie, wie Gott in einen Menschen hcrabstcigcn konnte, und fallen leicht, wenn wir darüber nachdenken, in leere, un­ fruchtbare Grübeleien > hingegen wenn wir uns an dasjenige halten, was er uns geoffenbart hat, so werden wir unmittel­ bar der Wahrheit desselben inne, und fühlen es, daß, wer solches verkündigen konnte, mit Gott eins seyn müsse.

Zweiter Abschnitt. (V. 14—21.) Wie Moses in der Wüste eine Schlange erhöhet hat, also muß des Menschen Sohn er­ höh e t w e r d e n, a u f d a ß a l l e, d i e a n i h n g l a u b c n, nicht verloren werden, sondern das ewige Lebcn haben (D. i4.). Mit diesem Worte fangt Jesus an, die Erkenntniß jener himmlischen Dinge zu enthül­ len. Er spricht von seinem Kreuzestod und dessen heilsamer Wirkung. Es war der Rathschluß Gottes, daß der Menschensohn zum Kreuz erhöhet werden mußte, damit die, so an ihn glauben, selig würden. Er vergleicht sich, als den ge­ kreuzigten Heiland der Welt, mit jener Schlange, welche Mose in der Wüste aufrichtete. So wie die vom Schlangen­ biß Kranken mit gläubigem Vertrauen nach der an einer Stange aufgerichteten ehernen Schlange hinblickten und da­ durch heil wurden: so sollten die von der Sünde Kranken ihr gläubiges Vertrauen auf Christum richten, der aus Liebe zu ihnen am Kreuze starb.

Die Vergleichung bezieht sich

einmal auf bas Erhöhet und Aufgerichtet seyn, welches so wohl bei der Schlange als bei Christo Statt fand, und wo­ durch beide ein Gegenstand der Betrachtung wurden, zwei­ tens und vornehmlich auf das gläubige Vertrauen, welches die Heilbcdürftigen dort und hier beweisen mußten, und drit­ tens auf die erlangte Heilung, welche dort die leibliche, hier die geistliche war. Inwiefern aber verschafft das gläubige auf Christi Kreuzestod gesetzte Vertrauen das ewige Leben? Dadurch daß der Gläubige in ihm der göttlichen heilenden, begnadigenden Liebe versichert wird, zu Gott selbst Vertrauen faßt, und von der Furcht der Strafe befreit, mit frohem Muth erfüllt, den Weg des Heils betritt, den ihm Christus gezeigt hat. Also hat Gott die Welt geliebt, daß er feinen eingebornen Sohn gab, auf daß alle die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. (D. 16.). Der eingcborne Sohn Gottes, der Weiseste und Gerechteste, er, in welchem Gott selbst war, gab sich aus Liebe für uns hin in den Tod; so wie er nun in Allem für uns Gottes Eben­ bild und sichtbare Erscheinung ist, wie er un6 Gottes Weis­ heit und Gerechtigkeit nicht nur gelehrt, sondern auch sichtbar dargestellt hat: so ist unS auch sein Liebes - und Aufopfer­ ungstod Offenbarung, Gewähr und Pfand der göttlichen Liebe. Was der Sohn thut» zeugt für die Gesinnung deS Vaters. Stirbt der Sohn für die Menschheit, und hält sie der größten Liebe nicht unwerth: so muß auch der Vater sie lieben und ihr Heil mit väterlicher Sorge beabsichtigen. Ec war es, der den Sohn in die Welt sandte und ihm das Werk der Erlösung auftrug; sein Wille war es, daß ersterben sollte für das Heil der Welt. Wie tröstlich aber für die vom Gefühl der Schuld und Ohnmacht niedergedrückten, sünd­ haften Menschen, nicht nur vom Erhabensten ihrer Brüder, vom Sohne Gottes selbst, bis in den Tod geliebt zu seyn, sondern auch dadurch der göttlichen Vatcrliebe selbst gewiß zu werden! Schon die Liebe eines Menschen hat für den, der

76 fit empfangt, etwas Erhebendes und Tröstliches: wieviel mehr aber die Liebe des Sohnes Gottes und Gottes selbst ! Durch diesen Glauben wird erst das Werk der Wieder­ geburt vollendet, weil dadurch die Kraft des Guten im Men­ schen mächtig wird. Der Sünder, der Schwache, der Zwei­ felnde, der aus Mißtrauen in sich selbst mitNikodemus fragt: wie mag solches zugehen? empfangt durch diesen Glauben Kraft und Muth. Auch für den schlimmsten Sünder ist Chri­ stus gestorben, auch das entartetste seiner Kinder will Gott durch Christum zu sich zurückführen; er glaube nur an die Liebe Gottes, welcher seinen eingcborncn Sohn dahin gegcben hat: so wird der gute Geist in ihm mächtig werden und Sünde und Schwachheit überwinden. Die Liebe und das Bewußtsein geliebt zu werden, übt überall einen heilsamen Einfluß aus. Drücken wir einen Menschen der gefehlt hat, durch allzugroße Strenge oder wohl gar durch Verachtung nieder: so wird er sich schwerlich cmporraffen, sondern nur tiefer sinken: beweist man ihm hin­ gegen Liebe und Zutrauen, so wird er sich dadurch erhoben und angeregt fühlen, diese Liebe und dieses Zutrauen zu ver­ dienen. Eben so ist es mit unsern Kindern, welche die allzugroße Strenge einschüchtert, eine milde und liebevolle Be­ handlung hingegen folgsam macht und zur Besserung ermuthigt. Uns sei daher die Liebe Christi und Gottes gegen das Menschengeschlecht Vorbild unseres Verhaltens gegen schwache und fehlende Brüder und gegen unsere Kinder und Zöglinge; wie wir durch Liebe gerettet worden, so wollen wir auch Andere durch Liebe aufrichten und erheben; wie Gott mit uns Erbarmen und Nachsicht gehabt hat, so wollen wir auch der Schwachheit Anderer mit Milde begegnen. Denn Gott hat seinenSohn nicht gesandt in die Welt, daß er die Welt richte; sondern daß die Welt durch ihn selig werde (V. 17.). Die Lehre von der Errettung der Welt durch den Liebestod des Messias war den Huden ganz neu und unerwartet. Sie dachten sich ihn als einen mächtigen, siegreichen König, wel­ cher die Feinde seines Volkes, die gottlosen Heiden, mit der

77 Strenge eines Rächers strafen und richten würde; sie glaub» ten, daß Gott seinen Sohn senden würde, zurichten, und nicht selig zu machen. Je tiefer der Mensch in sittlicher und religiöser Bildung steht, desto strenger ist er gegen diejenigen, welche er mit Recht oder Unrecht für unsittlich und gottlos hält; je höher er aber steht, desto duldsamer und nachsichti­ ger ist er gegen Andersdenkende und Irrende. Denn je hö­ her der Mensch steht, je vollkommener er ist, desto ähnlicher ist er Gott und Christo, desto mehr erfüllt ihn die Liebe. Wenn manchenMenschen das Schicksal der Welt anvertraut würde, mit welcher Strenge, mit welchem Zorne würden sie alles, was ihnen mißfällig ist, richten undausrotten! Viele Chri» sten,und sogar Gottrsgelehrte, scheinen die als Warnung ausgesprochene Drohung: daß die, welche nicht glau­ ben, verdammt werben (Mark. >6, »6.), am liebsten ins Auge zu fassen und mit Wohlgefallen zu betrachten, um darauf eine DerdammungSlehre zu gründen, mit welcher sie die Gemüther schrecken und beunruhigen. Solche haben den Geist Christi nicht gefaßt; ihnen ist er gekommen zu richten, und nicht selig zu machen. Furcht vor Gott als dem zorni­ gen Richter, Gewissensangst, wollte Christus den Menschen nicht bringen; jene hingegen glauben ihm zu dienen, indem sie die Schwachen schrecken und niederdrücken. Wer aber so zum Richten und Verdammen geneigt und der milden Lehre von der göttlichen Erbarmung unfähig ist: der kann auch schwerlich in sich selbst die beseligende Wirkung derselben er­ fahren haben. Wer selig ist im Glauben an Gottes Vater­ güte und den seligmachendcn Zweck der Menschwerdung Christi, der kann nicht richten und verdammen, sondern Alle nur selig wünschen. Es ist nur die Unseligkeit, die Unruhe und Zerrüttung des eigenen Gemüths, was die Verdam­ mungssüchtigen in ihren Urtheilen und Handlungen ausspre­ chen. Wie ein Vulkan Flammen ausspeit und Alles um sich her zerstört: so bricht aus den Gemüthern der Unfriede her­ vor, welcher sie innerlich selbst verzehrt; sie tragen die Hölle in ihrem Herzen, darum wollen sie Andere in dieselbe hinab­ stoßen.

78 Christi Menschwerdung hatte nicht den Zweck, die Welt ju richten, sondern er brachte den Glauben, durch wel­ chen die Menschen selig werden sollen. Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet (93. 18.). Aber freilich wer dieses Mittel deS Heils verschmähte, und dem Retter und Eeligmacher den Glauben versagte, der konnte von ihm nicht die Seligkeit empfangen. Wer aber nicht glaubet, der ist schon gerichtet, denn er glaubet nicht an den Namen des eingeborncn Sohnes Gottes. Es versteht sich von selbst, daß von denen die Rede ist, welchen Christus bekannt, denen das Evangelium verkündigt worden ist und die es verschmäht haben. An diejenigen, welche fern von ihm im Schatten der Finster­ niß und des Aberglaubens sitzen, und ju denen kein Strahl des neuen Lichtes dringt, denkt Jesus nicht. Diejenigen aber, welche aus Verstocktheit und Bosheit nicht glauben, richtet Christus nicht, sondern sie sich selbst» er will, daß sie selig werden, aber sie selbst wollen nicht. Dieses zu verhindern steht nicht in seiner Macht, wenn er nicht die Freiheit des Menschen aufheben soll; ein unfreier Glaube aber ist kein Glaube. Wer nicht glaubt, der ist schon ge­ richtet, der tragt schon die Unseligkeit in sich, darum weil er den Glauben nicht hat, welcher durch sich selbst selig macht. Daraus fließt die wichtige Lehre, daß ein Glaube, der nicht selig macht, nicht der wahre ist. Wer glaubt, ist mit Gott, mit der Welt und sich selbst im Frieden; Ruhe, Freude und Seligkeit erfüllt sein Her;, er fürchtet nichtmehr, und haßt nicht- mehr. Aber Viele, die sich rühmen den Glauben zu haben, tragen keineswegs diesen Frieden Gottes in sich, sie hassen und verachten ihre Brüder, ihr Herz ist voll Bitterkeit und Saure: sie tauschen sich mithin über ihren Glauben. Gar häufig ist auch das Vorurtheil, daß man meint, durch den Glauben werde man erst dereinst in der Ewigkeit selig werden. Allerdings wird dort unsere Seligkeit erst vollkommen seyn; aber beginnt sie nicht schon hier, so kann sie dort nicht vollendet werden. O großer, tröstlicher Gedanke: wer glaubt, ist eben dadurch selig,

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daß er glaubt! Was bedürfen wir also mehr zu unserm Heil alS zu glauben? Liegt nicht das, was unsere Sehn« sucht stillt, ganz nahe? Warum richten wir unsere Blicke ja die unendliche Ferne? Glaube, so bist du selig, und du hast alles, was du ersehnest! Wie ist dagegen der andere Gedanke so warnend: Wer nicht glaubt, der ist schon gerietet! €in ungläubiges Herz ist eben dadurch unselig, und tragt die Derdammniß in stch. Vergebendenkest du dir, Ungläubiger, das Gericht noch fern, es hat dich schon getroffen: die Furcht, welche dich quält, der Unfriede, der dich hin und her treibt, das Feuer der Be­ gierden , welches dein Inneres verzehrt und dich mit uner« sättlichem Durst erfüllt, ist schon ein Dorschmack der Hille; und obschon du in den Freuden dieser Erde schwelgest, so wird dir doch der Genuß derselben verbittert, und mitten im Glücke bist du elend, und leidest die Strafen der Der­ dammniß. DaS ist aber das Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen ilst, und die Menschen die Finsterniß mehr liebten denn das Licht; denn ihre Werke waren böse. (D. 19.). DasGericht, Grund und Folge desselben ist innerlich in den Men­ schen, und unmittelbar eins mit ihrer GefinnungS - und Handlungsweise. Sie werden gerichtet, wenn fie die Fin­ sterniß mehr als das in die Welt gekommene Licht lieben. Wer das Licht nicht liebt, kann nicht selig werden; wer die Finsterniß mehr als daS Licht liebt, kann nur unselig seyn. Christus ist das Licht und das Leben; wer ihn nicht liebt, der liebt daS nicht, waö die Quelle aller Seligkeit, das wahre, reine, ewige Leben ist; wer aber die Seligkeit nicht liebt, der ist derselben auch nicht theilhaftig, denn die wahre Liebe bringt zugleich Hinneigung, Hingabe und An­ eignung mit stch. In Christo ist alles Licht und Leben zu­ sammengedrängt, was sonst zerstreut vorkommt, er ist der Gegenstand der höchsten Liebe; was wir aber sonst noch mit reiner, geistiger Liebe umfangen, jede geistige Schön­ heit und Vollkommenheit, jeder geistige Werth, ist ein AuS-

8o fluß des Lichtes und Lebens, das in ihm ist, und jede Regung wahrer, reiner Liebe, die wir in uns fühlen, ist ein Strahl der Liebe, die wir ihm im höchsten Grade zuwen­ den. Jede Wahrheit, die wir lieben, gehört ihm naher oder entfernter an; jede Tugend, die wir an Andern schä­ tzen oder selbst erstreben, ist ein Theil der christlichen Dollkommenheit; jedes Band reiner Freundschaft und geistiger Gemeinschaft, das uns mit Gleichgesinnten verknüpft, hangt mit der christlichen Gemeinschaft zusammen. Was wir nun von all diesem lieben, das tragt auch zu unserer Ee» ligkeit bei, und wer viel und rein liebt, der ist selig. Diese Wahrheit fühlt jedes liebende Her;; in der Fülle der Liebe ist ihm die Quelle der reinsten seligsten Freuden. Wer hin. gegen das Licht und das Leben in Christo nicht liebt, wer auch sonst nichts liebt, was dem reinen, geistigen Leben an­ gehört: wer im Gegentheil dasjenige liebt, was Christo fremd und feindlich ist, was das Leben verunreinigt, zer­ stört, ertödtet, die Wollust, den Geiz, die Ehre dieser Welt, wer die verderblichen Leidenschaften in sich nährt, der ist in sich selbst unselig, und führt entweder ein kaltes, todtes Leben, oder ist von bösen Geistern getrieben und geplagt, welche ihm keine Ruhe lassen. Als den Grund, warum die Menschen die Finsterniß mehr liebten als das Licht, gibt Christus ihre Werke, d. h. ihre ganze Lebensrichtung an: denn ihr eWerke waren böse; und setzt bann noch hinzu: Wer Arges thut, der hasset das Licht, auf daß seine Werke nicht gestraft werden. Wer aber die Wahrheit thut, der kommt an das Licht, daß seine Werke offenbar werden; denn sie sind in Gott ge­ than. (33. 20. 3i.). Das Licht, das Christus in die Welt brachte, machte zunächst den Unterschied des Guten und Bösen, der Wahrheit und der Lüge, der Tugend und des Lasters, recht erkennbar, so wohl im Innern jedes ein­ zelnen Menschen, als auch vor den Augen der Menschen im Ganzen und Großen. Es warf den Strahl eines hellere» Bewußtseyns in die Gemüther, so daß ein Jeder innr

8. wurde, auf welchem Wege er wandelte, und erkannte, ob er gut oder böse sei. Der Mensch ist oft nur böse auS in­ nerer Unklarheit und Verworrenheit, weil er sich über seine Richtung selber täuscht; sobald er hingegen seines Irrthumgewahr wird, so kehrt er um, und schlagt einen bessern Weg ein. Die Unklarheit der Eintelnen hangt aber auch mit der Unklarheit in der herrschenden Ansicht eines Volkes und Zeitalters zusammen; und wenn im Ganzen das Licht sich verbreitet und überhand nimmt, so muß es auch in den Einzelnen Licht werden; wen» im Ganzen die falsche LebenSrichtung als Falsch erkannt ist, so kann sich der Einzelne nicht mehr in der verderblichen Täuschung behaupten. Nun aber kommt es darauf an, ob der Mensch nur aus Unklarheit bist ist, oder aus böser Lust, ob er die Finsterniß, das Arge, das Laster, wirklich liebt.

Ein solcher wird dann,

wenn das Licht aufgeht, sich scheu davon wegwenden, auf daß feine Werke nicht gestraft werden; er wird eben so sehr das Urtheil feines Gewissens scheuen, und es sich vor sich festst verbergen, als das Licht des öffentlichen Urtheils flie­ hen, indem er sich von der Gemeinschaft der vom Licht Erleuch« tcten fern hält, und an die der Verfinsterten anschließt, um dadurch gleichsam vor sich selbst gerechtfertigt zu werden. So machten es die ungläubigen Juden, die Pharisäer und Schriftgelehrtrn, welche sich dem Lichte der göttlichen Wahr­ heit widersetzten. Sie fühlten wohl, daß dadurch ihre Le­ bensrichtung und Handlungsweise als falsch dargestellt wurde, daß das öffentliche Urtheil sie als Irrende und Irrführcr zu bezeichnen anfing, und das Vertrauen des VolS sich von ihnen abwandte; ihr eigenes Gewissen erwachte auch wohl, wenigstens kämpfte in ihnen das Licht mit der Finster­ niß: aber sie fürchteten, daß ihre Werke gestraft würden, sie wollten weder vor sich selbst, noch vor Anderen alS Ir­ rende und Sünder erscheinen, sie haßten das Licht, und so verschlossen sie ihre Augen dagegen, und verstockten sich in ihrem Irrthum und ihrer Sünde. Wer hingegen nur aus Mangel an Erkenntniß geirrt hat, oder so glücklich ge­ wesen ist, bei der Wahrheit geblieben zu sein, der kommt Bibl. Erbauung-b I.

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8a an das Licht und geht ihm freudig entgegen, wenn eS sich ihm zeigt. Er hat sich längst darnach gesehnt, und eS nur sich nicht selbst geben können: nun cs ihm aber erscheint, so nimmt er es als das seiner Natur Entsprechende in sich auf. Er kommt an das Licht, daß seine Werk« offen­ bar werden» d. h. er will theils dadurch in sich selbst klarer werden, und seine Werke und sein ganzes bisheriges Leben prüfen, theils auch sucht er die Prüfung und Billi­ gung dessen, der ihm das Licht bringt, und Anderer, die mit ihm zugleich das Licht suchen, nicht aus Eitelkeit und Ruhmsucht, sondern um dadurch in der Wahrheit fester zu werden. Seine Werke sind in Gott gethan; er hat bisher mit mehr oder weniger Klarheit dem Willen Got­ tes nachgelebt: nun will er diesen heiligen Willen, die Re­ gel seines Lebens, noch klarer kennen lernen. Er schließt sich mit reiner Liebe des LichteS an die Masse derer an, welche im Lichte wandeln und dem Willen Gottes gemäß leben; er flieht die Finsterniß und diejenigen, welche darin leben: und so kommt im Ganzen der Menschheit eine Schei­ dung des Lichtes und der Finsterniß zu Stande, ähnlich derjenigen, welche Gott bei der Schöpfung machte. Wer die Wahrheit thut, der kommt an das Licht, daß seine Werke offenbar werden. Dieß gilt noch immer, und nicht nur im Gebiet des from­ men, kirchlichen Lebens, sondern in allen übrigen Lebcnsgebitten. Wer das Rechte will und thut, der scheut das Licht nicht nur nicht, sondern sucht es, der sucht sich nicht der besseren Erkenntniß, die ihm dargeboten wird, und der Prüfung Anderer zu entziehen, sondern benutzt mit Freu­ den jede Gelegenheit sich zu belehren, und von Anderen be­ lehrt und zurecht gewiesen zu werden. Wenn Kirchenlehrer und Obere das Licht scheuen und es da» wo eS sich entzün­ den will, zu unterdrücken suchen: so erregen sie den Derdacht, baß sie nicht mit der Wahrheit umgehen, und daß sie fürchten, ihre Werke ans Licht gezogen zu sehen. Lieb­ ten sie die Wahrheit, und wollten nichts als deren Derbreitung und Herrschaft: so würden sie nicht dem entgegen

83 fein, was die Forschung, Prüfung und Beurtheilung be­ fördert. Sie beschönigen zwar ihr Verfahren damit, daß sie vorgeben, sie wollen nicht die Wahrheit, sondern nur den Irrthum und die falsche Lehre unterdrücken; aber wa­ rum lassen sie diese nicht ans Licht ziehen und öffentlich prü­ fen? Vor dem Lichte der Wahrheit kann keine Lüge bestehen, und wer die Wahrheit liebt, vertraut auch ihrer siegreichen Kraft. Nicht weniger laden diejenigen, welche die Ange­ legenheiten des gemeinen Wesens der öffentlichen Beleuch­ tung und Prüfung entziehen möchten, den Verdacht auf sich, daß sie nicht mit der Wahrheit umgehen. Sind ihre Werke gut und in Gott gethan r warum wollen sie dieselben nicht ans Licht kommen lassen? — Mir diene es stets zur Warnung, wenn ich in mir die Scheu fühle, anS Licht zu kommen und meine Werke offenbar werden zu lassen r dann gehe ich sicherlich nicht mit der Wahrheit um, und hege Ar­ ges in mir. Wie ich aber auch diese Scheu vor mir selbst beschönigen, welche Scheingründe ich dafür anführen mag; ich will sie überwinden und mich mit meinen Gesinnungen und Handlungen dem Lichte darbieten; ich will mich selbst prüfen und von Andern prüfen lassen.

Cap. 3, aa— 36.

Letztes Zeugniß des Täufers von Jesu. Äls Jesus im Jüdischen Lande nahe bei dem Orte, wo Jo­ hannes taufte, selbst auch taufte, oder vielmehr durch seine Jünger in seinem Namen taufen ließ, und zwar unter gro­ ßem Zulauf des Volkes; da erhob sich unter den Jüngern des Johannes und den Juden ein Streit über die Reinigung ober die Taufe, indem, wie cs scheint, Manche die Taufe

84 Jesu für vorzüglicher hielten, alS die de-Johanne-, «aS aber die Jünger des Täufers aus Liebe zu ihrem Meister nicht zugeben wollten. Darum kamen fie zu ihm und sag­ ten, gleichsam Jesum anklagend; Meister, der bei dir war jenseit des Jordans, von dem du zeuge« lest, siche! der tauft, und Jedermann kommt zu ihm (23. 26.). Ihre Eifersucht auf Jesum, welcher die Aufmerksamkeit des Volkes mehr als Johannes auf sich zog, und ihm Abbruch zu thun schien, spricht deutlich auS diesen Worten. Diese Jünger waren eifrige Anhänger ih­ res Meisters, und meinten es wohl recht gut; aber von Selbst- und Parthcisucht können wir sie nicht ganz frei sprechen. Sie betrachteten die prophetische Wirksamkeit des Täufers als eine Art von Gewerbe und den Erfolg, dessen er sich bisher erfreut hatte, als einen ihm gebührenden Ge­ winn, den ihm ein Anderer nicht rauben dürfe. Daß IoHannes nicht für sich, sondern nur für das Reich Gottes gearbeitet hatte, und cs ihm gleich seyn müßte, ob er oder ein Anderer dafür wirkte, wenn nur dafür gewirkt würde, ja daß eS ihn freuen mußte, wenn ein Anderer mehr dafür wirkte, als ihm selbst bisher möglich gewesen war: dieses kam diesen befangenen Menschen nicht in Sinn. Wie groß­ müthig und voll erhabener Selbstverleugnung ist dagegen Johannes, und es bestätigt sich auch hier die oft gemachte Bemerkung, daß das größte Verdienst immer mit der größ­ ten Bescheidenheit verbunden ist, und daß hingegen die Aufgeblasenheit ein Beweis der innern Leerheit ist. Zugleich verrathen die Jünger des Johannes, daß sie daS von ihm für Jesum abgelegte Zeugniß nicht verstanden haben; denn hatten sie seine Meinung richtig gefaßt, so hatten sie Jesum für den Messias halten müssen, und sich nicht darüber ent­ rüsten können, daß er taufte und mit größerem Erfolg alS ihr Meister taufte. Gar oft sind es die ihren Meister miß­ verstehenden Jünger, welche Streit und Partheiung verur­ sachen, ja man kann mit vollem Recht behaupten, daß aller Streit in der christlichen Kirche von denen erregt worden ist, welche Christi Geist nicht gefaßt hatten.

85 Johannes autwortete,

und sprach:

Ein Mensch

kann nichts nehmen, eS werde ihm denn ge. gebenvom Himmel (D. 27.). Jede Gabe und jeder Erfolg ist ein Geschenk des Himmels, und der Mensch muß zufrieden sei« mit dem, was ihm zugetheilt wird. Dcm Einen wird viel, dem Anderen wenig ju Theil, aber dieser darf deßwegen nicht Jenen beneiden, noch über Gott murren. Kaan er Ansprüche auf mehr machen? ist er berechtigt zu fodern, was nur ein Geschenk der Gnade ist? darf er sich gegen den Allmächtigen auflehnen? Aller­ dings hat der Schöpfer dem Menschen Ttieb und Lust jur Wirksamkeit eingepflanzt, und ein Jeder will seine Kräfte üben; aber es gibt gar keinen Maßstab, nach welchem die einem Jeden zukommende Wirksamkeit gemessen werden könnte, vielmehr muß hierin die größte Verschiedenheit der Maßverhältniffe Statt finden, damit eines in das an­ dere eingreife» und dem Herrn und Regierer des Ganzen müssen wir es überlassen, wie er die Verhältnisse bestim­ men will. In einer andern Beziehung gefaßt, welche aber nicht unmittelbar in unserm Texte liegt, lehren uns diese Worte Ergebung und stillen, geduldigen Glauben, wenn uns der Uebermuth und die Anmaßung der Gewaltigen dieser Erde bedrängt und bedrückt. Die Macht, welche die großen Eroberer, rin Alexander, ein Napoleon, erlangt haben, war ihnen vom Himmel gegeben; sie selbst konnten sie nicht nehmen, ohne den Willen Gottes, all ihr Bemühen wäre vergeblich gewesen, wenn sie Gott nicht durch seine Fügun­ gen unterstützt hätte. Stiften nun solche Menschen Böses, so ist das freilich Gottes Wille nicht, von welchem nichts als Gutes kommt; aber die Mittel Böses zu thun, hat er ihnen doch in die Hand gegeben. Und ist uns auferlegt von ihrer Tirannei zu leiden, so laßt uns immer denken, daß es ihnen vom Himmel gegeben ist, und uns dadurch zur Geduld ermahnen; denn wer weiß, wozu es gut ist, daß wir leiden, oh es nicht zu unsern« oder jum Besten der Welt gereicht?

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Auch in Heineren Verhältnissen ist eS manchen Men« fchen gegeben, eine drückende, schädliche Gewalt zu üben, und Mancher von uns, die wir dieses lesen, seufzet viel« leicht in der Stille über das Unrecht, das ihm ein mächti­ ger Feind zufügt. Er denke auch von ihm: es ist ihm gege­ ben vom Himmel, leide still, und überlasse dem himmlischen Richter, das Böse, wodurch er leidet, zu strafen, ohne sich mit vergeblicher Ungeduld oder gar mit strafbarer Rach­ sucht die innere Ruhe zu stören. In jeder Lage des Lebens, wenn uns die Unzufrie­ denheit übermannen will, lehren uns diese reichhaltigen Worte Ergebung und Geduld. Will uns gar nichts ge­ lingen im Leben, so denken wir: der Himmel will es uns nicht geben, und es geschehe sein allmächtiger Wille! Die Ergebung ist der einzige Trost für uns ohnmächtige, in so vieler Hinsicht abhängige Menschen» mürrisches Auflehnen gegen die göttliche Allmacht ist eben so sündlich als thöricht; denn wir gewinnen nichts damit, sondern machen uns nur die unS aufgelegte Last drückender. Hierauf erinnert der Täufer feine Jünger an die frü­ her gegebene Erklärung, daß er nicht Christus, sondern nur vor ihm her gesandt sei (93. a8.), und daß es ihm mithin nicht gegeben sei, die große Umwandlung zu bewirken, welche das Reich Gottes herbeiführen sollte. Die Taufe, die er bisher verrichtet hatte, sollte nur auf de» Kommenden hinweisen r und wenn dieser auftrat, so war jene vorbereitende Thätigkeit ihrer Endfchaft nahe. —> Alles klebri­ ge, was nun noch der Täufer sagt, bezieht sich auf Jesum, und bezeichnet die Unterordnung, in welche er sich zu ihm als dem Messias stellt. Er nennt 93. ag. Christum den Bräutigam, der die Braut heimführt, sich selbst aber den Freund oder Die­ ner des Bräutigams, welcher selbst auf den Besitz der Braut keinen Anspruch macht, und sich uneigennützig über das Glück des Bräutigams freut, und dessen frohlockende Stimme hört. Johannes hatte als ein treuer, sich selbst vergessender Freund auf den Zeitpunkt geharret, wo

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der Bräutigam die Braut heimführen sollte; und nun war seine Freude erfüllt. Christus, der längst Ersehnte, war erschienen, Johannes konnte auf ihn hinweisen, und ihm die weitere, entscheidende Wirksamkeit überlassen. Johan­ nes übt seine Selbstverleugnung mit Freuden aus, nicht mit innerem Widerstreben und Verdruß; es ist ihm eine Hochzeit-Freude, eine festliche Lust, daß der Größere, von Gott Ausgezeichnete und Erwählte erschienen ist, und dessen Licht seines auslöscht. Nur di« freudige Selbstverleugnung ist die wahre, weil in einer solchen alle Selbstsucht ausge­ tilgt und der eigene Wille in den Willen Gottes aufgelöst ist. Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen (V. 3o.). JefuS mußte nun die volle, entscheidende Wirk­ samkeit zur Stiftung des Reiches Gottes entfalten, während die vorbereitende Thätigkeit des Täufers sich ihrem Ende «ahcte; Jesus mußte als Messias anerkannt, im vollen Glanze der Göttlichkeit erscheinen, und Johannes dessen Vor­ läufer in den Schatten treten. Das war ein Gesetz der Nothwendigkeit; aber daß Johannes es anerkannte und mit solcher Freudigkeit aussprach, das ist der Bewunderung werth. Dieses Gesetz herrscht in der ganzen Natur: ein Stern geht auf, und ein anderer geht unter, eine Blume blüht auf, und eine andere verwelkt. Auch im menschlichen Leben herrscht dieses Gesetz, aber die Menschen unterwerfen sich demselben mit Widerstreben. Für einen Jeden unter uns kommt der Zeitpunkt, wo er abnehmen, und ein Anderer zu­ nehmen muß; aber erkennen wir dieses mit Selbstverleugnung an? Die Alten müssen abnehmen, und die Jungen wachsen, jene müssen also diesen Platz machen: aber wie Diele thun dieses so gern, wie Johannes der Täufer? ES hat Jemand bisher für den Ersten in seinem Fache gegolten; nun tritt ein neues Talent auf, und überstrahlt das Verdienst des alten: so muß eS seyn, damit die menschlichen Dinge vorwärts schreiten; aber wie stlten ist es» daß der Verdunkelte sein Schicksal ohne Neid erträgt ! Den Meisten ist es nicht um die Förderung der Sache, welcher sie dienen, sondern um die Behauptung und Geltendmachung ihres Ich zu thun» sie

88 »erkennen, daß sie sterblich und vergänglich sind, «nd mich, ten eine ewige Geltung behaupten. Nun spricht der Täufer unumwunden die Anerken­ nung aus, daß Jesus weit über ihn erhaben sei (D. 3i.). Wer von oben herkommt, ist über alle, sagt er: und Er ist von oben, ist Gottes Sohn, mithin ist er über alle, und also auch über mich. Wer von der Erde ist, der ist von der Erde, und redet von der Erde» ich bin nur ein Mensch, wie alle anderen, und habe nicht, wie Christus, Gott selbst geschaut, nicht, wie er, die Offen­ barung der höchsten Wahrheit empfangen. Johannes ord­ net sich Jesu unter, nicht aus knechtischer Menschenfurcht oder Menschengefalligkeit, oder aus irgend einem falschen Beweggrund, sondern so, daß er Gott selbst gehorcht, des­ sen Geist und Kraft er in Ihm anerkennt. Wir sollen uns nie einer menschlichen Person um ihrer selbst willen unterordnen, sondern immer nur um der Sache, um der Wahrheit, der Gerechtigkeit und jedes Guten willen, dessen Förderung durch sie besser, als durch uns gelingt. Wer durch seine Geistesgaben und Kräfte uns überlegen ist, wem das Schicksal die Mittel der Wirksamkeit in die Hände gegeben hat: dem sol­ len wir uns dienend unterordnen, um unter seiner Leitung das zu befördern, was uns am Herzen liegt. Der vom Himmel kommt, der ist über alle, und zeuget, was er gesehen und gehöret hat (V. 52?, d. h. Christus hat die Erkenntniß der himmlischen Dinge durch unmittelbare Offenbarung, nicht aus menschli­ chem Unterricht empfangen (vgl. V. 11.), und darum müs­ sen ihm alle andern Lehrer weichen. Aber sein Zeugniß nimmt niemand an. Johannes sagt diese Worte mit dem Tone der warnenden Mißbilligung; er klagt seine Zeit­ genossen wegen ihres Unglaubens an; und diese Aeußerung gereicht ihm fast noch mehr zur.Ehre als jener Ausdruck der Freude über die größere Wirksamkeit Jesu. Wie leicht hätte können eine gewisse Schadenfreude in seiner Seele aufsteigen bei der Beobachtung, daß so sehr Viele dem Messias mit Unglauben entgegenkamen; aber er empfindet nur Schmerz

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und Unwillen darüber, er fühlt fich stlbst verkannt und der« warfen, indem Christus verkannt und verworfen wird. Wer es aber annimmt, der versiegelt, be­ kräftigt es, daß Gott wahrhaftig sei (D. 33.). Wer Christi Zeugniß annimmt, der erkennt ihn für wahrhaf­ tig; weil aber Gott selbst aus ihm zeuget und redet, so er­ kennt derjenige, der Christum für wahrhaftig halt, Gott selbst für wahrhaftig, und gehorchet ihm in seinem Gesandten. Denn welchenGott gesandt hat, der redet Got­ tes Wort (D. z4.). Christus, als Gesandter Gotte-, re­ det nichts, als was er vom Vater empfangen hat. Denn Gott giebt den Geist nicht nach dem Maß. Er hat Christum nicht, wie die Propheten und wie Johannes, mit einem endlichen Maß feines Geistes ausgerüstet, so daß sich in seiner Lehre noch menschliche Schwachheit und Irr­ thum einmischen könnte; sondern er hat ihm seinen Geist ohne Maß und Schranken verliehen, so daß er gar nicht ir­ ren kann; das göttliche Licht ist in ihm durch keinen irdischen Schatten getrübt. Das ist die reinste Anerkennung der Gottheit Christi, in ihm die Fülle des göttlichen Geistes, die Schätze der göttlichen Weisheit anzuerkennen. Bei den Worten: Gottes Sohn, Gottheit Christi, kann man leicht einen falschen Nebenbegriff hegen, oder fich in die Tiefen der Forschung über das Verhältniß der göttlichen und menschli­ chen Natur zu versenken versucht werden; hingegen wenn man, durchdrungen von der Weisheit und Heiligkeit Christi, den Geist Gottes in ihm erkennt, so hat man unmittelbar ergriffen, worauf alles ankommt. Der Vater hat den Sohn lieb, und hat ihm alles in seine Hand gegeben (V. 35.). Gott liebt das, waS feines Wesens und Geistes ist, seinen Willen erkennt und vollzieht: und so liebt er Christum als seinen Sohn, der seinen Geist in sich trägt und den rein erkannten Willen Gottes rein vollzieht, er liebt ihn als sein Ebenbild. Diese Liebe beweist er durch den Beifall, den er ihm schenkt, und die Zufriedenheit, die er ihm bezeugt; und diese Zufrie­ denheit beweist er ihm dadurch, daß er ihm Alles inseine

9° Hand gibt» daß er sein Thun mit göttlicher Allmacht unterstützt, daß er ihm die Macht gibt, das Reich Gottes auf Erden zu stiften» die Erlösung der Menschen zu vollbringen, ihnen das ewige Leben ju geben. Die Wirksamkeit durch die reine Kraft des göttlichen Geistes ist siegreich und kann nicht anders alS siegreich fein. Es ist immer unsere Schuld, die Schuld unserer Schwachheit undFehlbarkeit, wenn das, was wir lehren und thun, nicht Eingang findet und ohne Erfolg bleibt. Hätten wir die Wahrheit mit reiner Geisteskraft er­ kannt und gelehrt, so müßte sie früher oder spater anerkannt werden. Hätten wir das Rechte mit reiner Willenskraft ge­ than, so müßte es, wenn auch später, Früchte tragen. Wir selber können im Kampfe untergehen, aber unsere Sache muß siegen, wenn sie vollkommen gut ist. Aber nur den Sohn, den vollkommenen Weisen und Heiligen, liebte Gott so, daß er ihn mit seiner Allmacht unterstützte; nur ihm übergab er die Herrschaft der Welt, weil er sein Ebenbild und Stellvertreter war. Darum beugen wir uns im Gefühl un­ serer Unvollkommenheit, wenn wir uns bei unsern Bestre­ bungen von dem erwünschten Erfolg verlassen sehen. Gott liebt und befördert alles Gute und unterstützt diejenigen, welche dafür arbeiten; aber ihre Bemühungen müssen rein und ihm ganz wohlgefällig sein, wenn sie auf den Segen Gottes rechnen sollen. Wer an den Sohn glaubt, der hat daS ewige Leben. Wer dem Sohne nicht glaubet, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm (V. 36.). In diesen Worten fasset Johannes Alles jusammcn, was er jur Ermahnung und Warnung sagen kann, um die Menschen jum Glauben an den Sohn Gottes auftufodern. Es ist seine letzte Stimme, die auö der Ferne der Zeiten zu uns herüber, schallt. Nachher ward er bald gefangen gesetzt, und konnte nicht mehr für Christum Zeugniß ablegen. Erwägen wir daher seine hochwichtigen Worte! Für Johannes Zeitgenos­ se« , welche erst an Christum glauben sollten, gelten sie, wie sie hier stehen, und enthalten so eine Auffodrrung jum

9» Glauben: Wer glaubt, der hat daS Leben, «er aber nicht glaubt, der hat .), und schließt so: Wenn in Juda der Ursprung des Heils der Welt, der neuen Offenbarung, der einst alle Völker erleuchtenden Wahrheit, des über die Welt auSjudehnenden Reiches Gottes ist: so muß es auch in Ansehung der alten Offenbarung und deS alten Gottesdienstes im Besitz der Wahrheit seyn; denn nur aus der Wahrheit entwickelt sich die Wahrheit. Jesu Vrrfahrrn in Behandlung dieser Stteitfrage ist für «nS ein Muster, wie wir uns in ähnlichen Streitig­ keiten zu verhalten haben. Wir sollen immer einen höheren Standpunkt |tt gewinnen suchen, als die befangenen Strei­ ter i« behaupten pflegen; dadurch werden wir unS vor Parthrilichkeit bewahren. Aber von diesem höheren Stand­ punkt aus sollen wir den Streit nicht etwa als gleichgültig ansehen, sondern in denselben eintreten, und denjenigen Recht geben, welche wirklich Recht haben, wie hier Jesus den Juden Recht gibt. Ueberall soll daS Wahre anerkannnt werden, und wenn es auch nur auf einer niederen Stufe gilt; und so soll auch jeder Irrthum als solcher anerkannt werden, wenn auch eine Zeit kommt, wo er in sich selbst jusammenfällt. Aber nicht lange verweilt Jesus bei der Widerlegung der samaritischen Behauptung, worauf er offenbar keinen großen Werth legt; mit besonderem Nachdruck hingegen spricht er die Weissagung von der vorhin schon angedrutetea vollkommneren Gottesverehrung auS. Es kommt die Zeit, und ist schon jetzt, daß die wahrhaftigen G 3

lOO Anbeter «erden den Vater anbeten im Geist und in der Wahrheit: denn der Vater will solche Anbeter haben. (D. 2Z.). Mit diesen Wortcn hat Christus den Geist der von ihm selbst eingeführte« GotteSverehrung bezeichnet; mit ihm begann die Zeit schon, welche die Anbetung im Geist und in der Wahrheit bringen sollte. Nun ist es aber höchst wichtig, diese Erklärung, welche Jesus selbst über den ächt christlichen Gottesdienst gegeben hat, in ihrem wahren Sinne zu fassen. Was heißt Gott im Geist und in der Wahrheit anbeten? Hieße dieß bloß ihn mit wahrhaftem, aufrichtigem Gemüth anbeten, wie es Manche erklären: fo hätte Je­ sus etwas höchst Unbedeutendes und längst Bekanntes ge­ sagt ; denn daß man Gott nicht mit Heuchelei und Scheinheiligkeit, auch nicht bloß mit äußerlichen Gebräuchen, son­ dern mit gottesfürchtigem, redlichem Herzen anbeten solle, dieß hatten sowohl Juden als Heiden eingesehen; daß der äußere Gottesdienst ohne den inneren nichts sei, darüber waren alle Frommen schon vor Christo einig. Da Christus diesen AuSspruch in Beziehung auf den jüdischen Gottes­ dienst thut, welcher aus lauter Gebräuchen und Sinnbil­ dern bestand: so haben Diele dessen Sinn so gefaßt, als habe er einen Gottesdienst ohne alle Gebräuche und Sinn­ bilder einführen wollen. Aber dürfte man auch von der Taufe und dem Abendmahl absehen, welche doch nicht we­ niger, als die Befchneidung und die Opfer deS mosaischen Gottesdienstes, Gebräuche und Sinnbilder sind und welche Christus selbst eingesetzt hat: fo mußte er wenigstens vor­ aussehen, daß seine Verehrer nicht aller äußern Hülfsmit­ tel der Andachtsübung würden entbehren können, wie sich denn auch solche von mancherlei Art im Verlauf der Zeit in der christlichen Kirche gebildet haben; er hätte also mit der Einführung eines von aller äußern Form entkleideten Gottesdienstes etwas Unmögliches beabsichtigt, und sich zugleich in dieser Vorhersagung getäuscht, welche wenig­ stens bis jetzt noch nicht in jenem Sinne in Erfüllung ge­ gangen ist.

Den richtigen Sinn «erden wir finden ,' wenn wir er. stens den Gegensatz gegen den mosaischen Gottesdienst, welchenJefuS bei seiner Rebe allerdings im Auge hat, und dann den Zweck, welchem der von ihm verkündigte wahre EotteS. dienst angemessen seyn soll, wohl fassen und verstehen. Die. fen Zweck gibt Christus mit den Worten an: Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten (98.24.). Ein Geist ist über Zeit und Raum erhaben, ewig und un­ sterblich: soll nun der Gottesdienst der geistigen Natur Gottes angemessen seyn» so muß er erstens von Zeit und Ort unabhängig seyn. Dieß war der mosaische nicht, weil er an die heilige Stadt Jerusalem oder, nach der Behaup. hing der Samariter, an den Berg Garijim gebunden war. Daß man jur gemeinschaftlichen Andachtsübung einen Ort der Zusammenkunft wählt, ist die nothwendige Bedingung der frommen Gemeinschaft; aber diese Bedingung darf nicht alS so wichtig und wesentlich angesehen werden, daß man glaubt, ohne dieselbe könne man Gott nicht würdig genug verehren; auch muß man fich an dieselbe nicht so binden» daß dadurch die Gottesverehrung erschwert wird. Beides aber war der Fall bei dem mosaischen Gottesdienst, indem auf den Tempel eine sdlche Wichtigkeit gelegt war, daß man ihn für die Wohnung Gottes selbst hielt, «ad daß man au« ßer demselben nicht opfern durfte, eben dtßwegen aber die Ausübung des Gottesdienste-für diejenigen, welche nicht in Jerusalem wohnten, auf daS äußerste erschwert war, fb daß diese im Jahr nur etliche Mal die Befriedigung einer vollständigen Andachtsübung haben konnten. Gott ist all­ gegenwärtig, und so fei eS auch dem frommen Gemüth al­ ler Orten vergönnet, fich zu Gott zu erheben. Diejenigen, welche das gleiche Bedürfniß der Andacht haben, mögen fich an einem Ort versammeln und dieser mag als heilig gel­ ten, weil er einem heiligen Zwecke gewidmet ist; aber solcher Orte sollen so viele seyn, als das Bedürfniß fodert, und ein jeder gelte als dazu geeignet, welcher dem Zwecke ent­ spricht, und entlehne nur von diesem die Heiligkeit, ohne

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selbst für heilig ju gelten. Kann der Einzelne, durch die Umstande verhindert, nicht an den gemeinschaftlichen Der» sammlungen Theil nehmen; so lasse er sich dadurch nicht in der Uebung der Andacht stören und entmuthigen, sondern fei verfichrrt, daß fein Gebet überall gleich angenehm ist, wenn es nur ernstlich ist: unter dem Himmelsgewölbe, im grünen Schatten des Hains, im stillen Kämmerlein, über» all kann er Gott finden, wenn er ihn ernstlich sucht. In der That ist diese Ansicht von der Gottesverehrung in der christlichen Kirche, zumal in den letzten Zeiten, Herr, fchrnd geworden, und Christi Dorhersagung mithin in Er« füllung gegangen. Nur die schwachen Christen schreiben abergläubiger Weise den öffentlichen Gotteshäusern eine wesentliche, gleichsam inwohnende oder anhangende Heilig, keit zu, ohne doch so weit zu gehen, daß sie Gott selbst da. rin eingeschlossen denken. Ein so unseliger Streit, wie der zwischen den Juden und Samaritern, kann bei uns gar nicht mehr Statt finden; über Lehrsätze und Gebräuche können wir unS streiten, aber nicht über heilige Oerter. Zweitens soll der christliche Gottesdienst der göttlichen Natur insofern angemessen seyn, daß er, wie dies«, ein unsterbliches, ewiges Leben in sich habe. Er soll lebendig seyn, und eine belebende Kraft in sich tragen; die Andachts« mittel, deren er sich bedient, sollen das Gemüth zur Selbst, thätigkeit aufregen, daß eS sich zu Gott erhebe, widrigen, falls sie keine Bedeutung und keinen Zweck haben. Um aber diese Wirkung hervorzubringen, müssen sie nicht allzu sinnlich und fleischlich seyn, weil das Fleisch tödtet, und der Geist allein lebendig macht. Die jüdischen Gebräuche waren allzu sinnlich, und konnten das Gemüth nicht genug auf­ regen; man dachte und fühlte nicht genug dabei; es waren bloße Schattenbilder des zukünftigen geistigen Goktesdien. stes. Eben darum aber, weil der Geist nicht genug dabei beschäftigt wurde, schlich sich so leicht der Wahn ein, als wenn die Uebung der Gebräuche an sich schon einen Werth habe, und Gott wohlgefällig sei, wogegen die Propheten so oft eifern. Die AnbachtSmittel der christlichen Kirche

sind dagegen fast ganz geistiger Art, Nämlich Lehre, Ermah. nung, Gebet, Gesang; und nur wenige sind äußerliche, in die Sinne fallende Gebrauche. Leider sind aber auch bei uns die Gebräuche zum Theil ins Fleischliche ausgeartet, und entweder leere Gepränge oder gar götzendienerische Miß­ bräuche geworden. Dieß ist der Fall mit jedem Gebrauch, dessen äußere Form oder Gestalt so betrachtet wird, als ob sie für sich die hcilsvolle Kraft einschließe und der Ge­ meinschaft mit Gott theilhaftig mache. Aber im christlichen Gottesdienst liegt eine geistige Lebenskraft, welche das Heil­ mittel für alle solche Entartungen und Verderbnisse ist: sie macht nämlich, daß sich die äußere Form von Zeit zu Zeit verjüngt und nach dem Bedürfniß der Zeit umgestaltet, während hingegen im Judenthum die Form des Gottesdien­ stes starr und unveränderlich war. Der Geist der Wahr­ heit, der in der Kirche Christi lebt, veraltet und stirbt nicht, wohl aber die äußere Form des Gottesdienstes: und so belebt und verjüngt er von Zeit zu Zeit das Erstorbene und Veraltete, und zerstört das Unverbesserliche. Wirklich zeigt die Geschichte der christlichen Kirche den fast ununterbroche­ nen Hergang einer Umbildung der kirchlichen Gebräuche; besonders aber ist die evangelische Kirche nicht nur in be­ ständiger Bewegung, sondern zeigt auch die größte Mannichfaltigkeit der Formen, so daß schon dadurch die Le­ bendigkeit des christlichen Geistes offenbar wird« Diese Freiheit, diese innerliche, geistige Lebendigkeit macht nun diejenige Beschaffenheit der Anbetung Gottes aus, welche Christus Wahrheit nennt. Wahrheit nämlich ist das dem leeren Schein Entgegengesetzte, das Gehalt­ volle, Angemessene, Wirksame; eine Anbetung im Geist und in der Wahrheit ist eine solche, durch welche Gott so angebetet wird, wie er seinem Wesen nach angebetet wer­ den soll, nicht wie es der Wahn und Aberglaube des Men­ schen erdichtet oder die geistlose Gewohnheit mit sich bringt ; durch welche Gott selbst, und nicht ein Trugbild des Aber­ glaubens, ein Götze, angebetet und das Gemüth zu ihm erhoben und mit ihm in Gemeinschaft gebracht wird.

io4 Jesu- spricht von der Beschaffenheit des Gottesdien­ stes im Ganzen» aber sein« Rede leidet auch eine Anwen­ dung auf die Art, wie jeder Einzelne Gott anbetet. Ein Jeder soll sich der Anbetung im Geist und in der Wahrheit befleißigen und sich nicht nur von aller Heuchelei rein erhal­ ten» sondern auch nie in todte, geistlose Gewohnheit ver­ fallen ; die außer» Hülfsmittel der Andacht soll er mit leben­ digem, selbstthätigem Geist benutzen, so daß sie ihm als Stü­ tzen und Hebel dienen, sich zu Gott emporzuschwingen. Wie auch der öffentliche Gottesdienst beschaffen sey» mag, es ist dem Einzelnen immer möglich, denselben so zu benutzen, daß er Gott im Geist und in der Wahrheit anbetet. Lebt er im Geist, denkt und fühlt er lebendig, so wird er sich über jede Schranke erheben und durch jede Hülle durchdrin­ gen. Um aber solches zu können, um Gott im Geistund in der Wahrheit auzubrten, muß man ihn wahrhaftig erken­ nen in seinem geistigen Wesen, und daher ist es eines jeden Christen Pflicht, immer weiter und höher zu streben in der Erkenntniß GotteS, immer mehr die sinnlichen, irdischen Vorstellungen von ihm abzulegen, und ihn mit dem Auge des Geistes alö den Geist aller Geister, als den Schöpfer und Urquell alles geistigen Lebens zu schauen. Um mich zu prüfen, ob ich Gott int Geist und in der Wahrheit anbete, habe ich nur auf die Wirkung zu sehen, welche die Andachtsübung auf mein Gemüth macht. Ist sie eine Anbetung im Geist und in der Wahrheit, so werde ich dadurch immer geistiger werden, mich immer mehr vom Irdischen reinigen und in immer nähere Gemeinschaft mit Gott treten; und weil nur derjenige den wahren Frieden hat, der sein Herz zu Gott zu erheben und bei ihm Trost und Stärke zu finden weiß r so werde ich auch durch eine solche Anbetung immer ruhiger, freudiger und seliger wer­ den. Hat meine Andachtsübung diese Wirkung nicht, so soll dieß mir ein Zeichen der Warnung seyn, daß ich mich auf ei'nLm falschen Wege befinde. Das Weib findet die Belehrungen, welche ihr Jesus gibt, so neu und wichtig, und fühlt sich so sehr dadurch

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überrascht, daß sie dieselben noch einstweilen auf sich beru. hen lassen will, und die Entscheidung darüber auf die Zeit hinausschiebt, wo der Messtas oder Christus erscheinen werde (D. a5.). So ist der Mensch! Er schiebt das gern auf» waS Mühe, Nachdenken, Entschloß erfodert. Die Samariterin hätte müssen ihre ganze Denkweise und Anficht von den wichtigsten Angelegeahritra des Lebens ändern, auf einen ganz ander« Standpunkt der Betrachtung treten, eine ganz andere Richtung nehmen; dazu hätte viel Willenskraft und Entschlossenheit gehört, und darum schiebt sie es auf. Ja, sie lehnt es überhaupt von sich ab, darüber bei sich selbst tut Entscheidung zu kommen r sie hofft, daß es ihr der Messias verkündigen werde. Sein Ansehen» meint sie, solle sie bestim­ men. über diese Angelegenheit daS Rechtet« glauben. Denn es ist bequemer, auf Anderer Worte zu schwören, als selbst zu urtheilen und sich selbst zu entscheiden. In dieser Berufung auf das Ansehen des Messias zeigt sich aber noch der Fehler, daß daS Weib Jesu, der ihr ohne alle- Ansehen, bloß mit der Kraft des Geistes ausgerüstet, die Wahrheit verkündigt, nicht um dessen willen, was er ihr sagt, glauben will, fondem daß sie erst auf einen Anderen wartet, auf dessen Ansehen sie baut. Dieser Ansehens»Glaube ist überall und zu allen Zei­ ten der Erkenntniß und Verbreitung der Wahrheit hinderlich. Es ist eigentlich kein Glaube, sondern ein träges sich verlas­ sen auf «inen Andem; denn der Glaube entspringt aus der lebendigen Erregung deSHerzrns, dieser Ansehens - Glaube hingegen hat mit dem Herzen nichts zu schaffen. Nein! laßt unsder Wahrheit und Jedem, der sie uns verkündigt, nur um ihrer selbst willen glauben! Sie bedarf keiner andern Stütze als ihrer eigenen Kraft, keines andern Lichtes, als daS auS ihr selbst strömt. Christo selbst, dem Sohne Gottes, glau­ ben wir nur darum, weil er die Wahrheit geoffenbart hat» ja, darum gilt er uns als Sohn Gottes. Ware in ihm nicht das Licht und die Wahrheit und das Leben, so würden wir ihm nicht glauben; und hatte er in seinen Wun­ derwerken alle göttliche Allmacht entwickelt, so könnten diese nur ei» dumpfes, knechtisches Staunen erwecken.

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Jesus spricht ju dem Weibe: Ich bin eS, der mit dir redet (D. 26.). Was sie erst in ferner Zukunft er. wartete, stand gegenwärtig vor ihr. Vergebens, daß sie die Annahme der verkündigten Wahrheit verschieben wollte; sie drang sich ihr mit aller Macht der Gegenwart» des frischen, lebendigen Eindruckes auf; der erwartete Messias stand selbst vor ihr. So geht es den Menschen oft, daß sie dasjenige, was sich ihnen mit unmittelbarer Nothwendigkeit auf» dringt, in die Zukunft verschieben möchten. Sie entschuld,, gen sich, wenn eine Wahrheit anzuerkennen und zu befolgen, wenn eine Federung der Gerechtigkeit zu erfüllen ist, damit, daß es noch nicht an der Zeit sei, daß die Verhältnisse noch nicht erlaubten, der Wahrheit und Gerechtigkeit ganz zu gehorchen. Und doch lebt der Trieb derselben in Aller Herzen, und ihre Mahnung macht sich Allen fühlbar. Die guten Zeiten, wo die Wahrheit und Gerechtigkeit herrschen soll, und aufweiche Alle hoffen, könnten sogleich eintreten, wenn nur Alle wollten. Ueberdcm kamen die Jünger, und es nahm sie wunder, daß Jesus mit dem Weibe redete (V. 27.). Es scheint, sie hielten eS unter seiner Würde, daß er mit ihr redete. Eie waren gewohnt, die Rabbinen und Schriftgelehrten sich mit steifer Förmlichkeit und Vornehmheit betragen zu sehen; sie wußten noch nicht, daß die wahre Größe herablassend ist. Sir hegten noch das Dorurtheil, daß die Weisheit in die Grenzen der Schule und in den Kreis der Gelehrten eingeschlossen bleiben müsse, und wußten nicht, daß die Weisheit, die von Gott kommt, für Hohe und Niedere ist, ja, daß Gott, waS thöricht ist vor der Welt, erwählet hatte, um die Weisen zu Schanden zu machen (1 Kor. 1, 27.x Jedoch waren die Jünger nicht so vor» witzig oder anmaßend, daß sie Jesum mit Fragen oderAeußer. ungen ihrer Verwunderung gestört hätten: sie sagten nicht: was fragst du? oder was redest du mit ihr? Die Samariterin, nachdem sie jene Erklärung Jesu vernommen, ließ ihren Krug stehen, und ging in die Stadt, und sprach -u den Leuten: Kommt, sehet einen Men«

scheu, bet mit gesagt hat, alle-, was ich ge» than habe, ob er nicht Christus fei? (V. 28. 29.). Hierin handelt da- Weib nicht nur einem natür­ lichen Triebe gemäß, sondern auch wie es die Pflicht gebie­ tet. Der Mensch bedarf in Allem, zumal in geistigen und sittlichen Angelegenheiten der Gemeinschaft; eS ist ein Trieb in ihm, sich Andern mitzutheilen, wenn ihm etwa-Wichti­ ges begegnet ist, wenn er eine wichtige Erfahrung oder Ent­ deckung gemacht hat, theils und zunächst um fein selbst willen, um sich Raths zu erholen, sich durch fremdes Urtheil zu be. lehren und in der gefaßten Ueberzeugung zu bestärken, oder der Freude über das Gefundene verdoppelt zu genießen, theils um der Andern willen, um sie an dem neuen Gewinn Theil nehmen zu lassen. Ja, laßt uns alles, waS uns begegnet, zumal jede neue, geistige Anregung und Einsicht, unsern Freunden und Genossen mittheilen, und in ihrer Gemeinschaft Festigkeit und Zuversicht suchen! Der auf baS Ansehen ge­ stützte Glaube ist wankender Art r wohl aber kann und soll die Ueberzeugung in der Theilnahme Anderer eine Stütze finden. Wir glauben fester, wenn diejenigen, die wir ach­ ten und lieben, denen wir vertrauen, mit «ns glauben; wie stehen dann auf einem festen, breiten Boden, auf dem wie nicht wanken. Dritter Abschnitt. (B. 81-42.)

Während die Samariter aus der Stadt gingen und zu Jesu kamen, ermahnten ihn die Jünger, und spra­ chen: Rabbi iß (95. 3i.). Sie hatten nämlich aus der Stadt Speise gebracht. Er aber sprach: Ich habe eine Speise zu essen, davon ihr nicht wisset (95. 32.). Sie meinten nun, es habe ihm Jemand zu es­ sen gebracht (95. 33.). Er aber erklärte sich ihnen deutli­ cher, indem er sprach: Meine Speise ist die» daß ich thue den Willen deß der mich gesandt hat, und vollende fein Werk (95. 34.). Ogroßes, Herr-

io8 liches Wort! Der Sohn Gottes war in das fleischliche Le« ben herabgestiegen, welches zur Nahrung und Erfrischung Er fühlte auch und defriedigte das Be. der Speise bedarf. dürfniß des Fleisches» ja er verschmähte nicht den erfrischenden Reij, welchen der Genuß der Speise mit sich dringt. Aber das fleischliche Leben war nur die Hülle und Vermittelung der Erscheinung des ewigen Geistes der Wahrheit in ihm; er lebte nur im Fleische, um die Offenbarung und Erlösung tu vollbringen, und aller fleischliche Reij und Genuß war in ihm der höheren, geistigen Freude am Sieg der Wahr­ heit und am Gelingen seines Werkes untergeordnet. Jetzt da sein Geist auf die Verkündigung der Wahrheit unter den Samaritern gerichtet und von der Hoffnung eines glücklichen Erfolgs erfüllt war, vergaß er das leibliche Bedürfniß, und war für den Genuß der Befriedigung desselben unempfäng­ lich. So sollte auch uns die Freude an geistiger Thätigkeit und an dem Gelingen alles Guten die Speise und Lust des Lebens, und alles, was dem Fleische angehört, dem Geiste untergeordnet seyn. Es geschieht wohl, daß wir im Eifer für ein begonnenes Werk, in dem Drange der Arbeit Speise und Trank vergessen, aber dann sind wir gewöhnlich in einer leidenschaftlichen, aufgeregten Stimmung» und es fehlt uns die Ruhe und Besonnenheit. Die Lust und Freude am Höheren soll aber, wie sie in Christo war, ein ruhiges, sich gleichbleibendes Gefühl sein. Andere versagen sich alle Lust und Freude, weil sie darin etwas Sündhaftes finden, ohne doch gerade eine frische, freudige Thätigkeit für die höheren Zwecke des Lebens ju beweisen. Solche stehen noch weiter von Christi Muster ab, welcher kein düsterer Freudenveräch. ter war, sondern nur die irdische Freude der höheren unter, ordnete. Hierauf deutet Jesus seinen Jüngern bildlich an, daß er einer gesegneten Ernte im Reiche Gottes entgegenseht. Sagt ihr nicht selbst: es sind noch vier Mo. nate, so kommt dieErnte? Siehe ich sage euch: Hebet eure Augen auf, und sehet in das Feld, denn es ist schon weiß jut Ernte (D. 35.). Er

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hat die Bekehrung der Einwohner von Sichem im Sinne. Noch waren vier Monate bis zur Ernte hin; bas Feld aber, in welches Er so eben den ersten Samen des Wortes GotteS gestreut hatte, zeigte ihm schon Saaten, die zur Ernte weiß waren. Er selbst erlebte jedoch die Ernte nicht; kurz war sein Wandel auf der Erde, und ihm war nur vergönnt, den Samen auszustreuen. Hier war der Spruch wahr r Dieser säet, der Andere schneidet (D. Zf.). Seine Jün­ ger waren dazu bestimmt, diese Saaten zuschneiden, und die Früchte der Arbeit Jesu einzuernten, indem fie die Be­ kehrung der Samariter späterhin vollenden sollten, «aS auch wirklich geschah, wie wir in der Ap. Gesch. Kap. 8. le­ sen. Ich habe euch gesandt zu schneiden, was ihr nicht habt gearbeitet; andere haben gear­ beitet, und ihr seid in ihre Arbeit gekommen (D. 38.). Ohne daß Jesus den Samen ausgestreut, hätten die Jünger weder in Samarien noch anderswo Jünger ge­ winnen und Gemeinden stiften können. Das Ernten ist ein belohnendes Geschäft, zumal wenn man Früchte zum ewigen Leben sammelt, Menschen - Seelen für das Reich GotteS ge­ winnt. Diesen Lohn verheißt er ihnen mit den Worten; Und wer da schneidet, der empfänget Lohn, und sammelt Frucht zum ewigen Leben (93. 36.). In der That ist diese Art von Ernte die aller belohnendste. Welche Seligkeit eine Seele zu retten, einen Menschen zum Heil zu führen! O herrlicher Beruf der Prediger des Evan­ geliums, der Seelsorger, der Erzieher! Sie empfangen Lohn in der Ewigkeit, und schon hier in der Zeit: Der Erfolg ih­ rer Bemühungen ist ihr seliger Lohn. Aber obgleich Christus den Erfolg seiner Arbeit nicht erlebte und diesen schönen Lohn seinen Jüngern überlasse» mußte; so beneidete er sie doch darum nicht, sondern freute sich mit ihnen im Geiste: so daß sich mit einander freuten, der da säete und der da schnitt (V. 36.). Welch eine rührende Uneigennützigkrit und Selbstver­ gessenheit! Er sah seinen nahen Tod voraus, er wußte, daß

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er dann nicht mehr auf brr (Erbe sein würde, wenn die Jün­ ger die Früchte seiner Arbeit einsammeln würden; und doch freyte er fich mit ihnen. Aber wer, wie Christus, für daS Reich Gottes arbeitet, muß, wie er, gefinnet seyn. Wer irdischen Samen säet, mag darauf rechnen, die Früchte zu ernten, wiewohl auch der wohldenkende Landwirth manchen Baum pflantt, der erst für feine Söhne oder Enkel Früchte tragt» aber im Reiche des Geistes sprossen die Saaten lang, sam auf, und oft erst im folgenden Geschlecht zeigen sich die Früchte, welche Andere sammeln, wahrend der Samann langst nicht mehr unter den Lebendigen ist. Wer nur das säen wollte, was er ernten sann, würde wenig säen» wer aber so eigennützig dachte, würde gar nicht zum Samann im Reiche Gottes taugen. Hier ist Wirksamkeit und Erfolg die Sache Aller und, welchem Alle dienen, Gottes» nicht darauf kommt es an, wer etwas wirket, sondern daß es ge« wirkt werde; nicht, wer sich des Erfolgs freut, sondern daß das Gute gelinge. Laßt uns also unermüdet arbeiten und wo wir einen empfänglichen Boden finden, den Samen des Guten ausstreuen, zufrieden wenn fich nur ein schwacher Keim zeigt, reichlich belohnt, wenn der Keim zur Saat auf. sproßt. Und wenn uns bann, wenn sich die Aehren ent. wickeln, der Herr über Leben und Tod abruft, so laßt uns ohne Murren von hinnen scheiden, und im Geiste die Freude mit denen im Voraus theilen, welche die Früchte unserer Arbeit sammeln werden, auf daß sich mit einander freuen, der da säet, und der da schneidet (D. 36.). ES glaubten nun Diele der Samariter aus derselbigen Stabt an Jesum ', um der Rede des Weibes willen, wel. ches da zeugete: Er hat mir gesagt alles, was ich gethan habe (93. 3g.). Aber viel mehrere glaubten um seines Wortes mitten (93. 4o.), und deren Glaube war der bessere, weil der selbstständigere. Sie sprachen zum Weibe: Wir haben selbst gehöret und erkannt, daß dieser ist wahrlich Christus der Welt Heiland (93. 4a.), und gaben mithin zu erkennen, daß sie au6 ei.

gemr Ueberzeugung an Christum glaubten, wie man glauben muß. Wir müssen selbst erkenne», waS zu unserem Heile dient, und nicht auf Anderer Zeugniß bauen. Unser Herz muß fich der Wahrheit öffnen; wir müssen fühlen, daß wir dadurch besser werden und unserer Bestimmung näher kommen; sie muß in uns }u That und Leben werden. Konn­ ten die Samariter dadurch, daß sie auf das Zeugniß des WeibeS hin Jesum wegen jenes Beweises von höherer Wis­ senschaft anstaunten, der göttlichen Wahrheit, die in ihm war, inne «erden? Nein! sie mußten ihn selbst hören, und selbst erkennen, daß er der Menschheit das ewige Heil bringe. Und so wollen auch wir in der so unendlichen wichtigen An­ gelegenheit unseres Seelenheiles unS immer mehr von frem­ der Meinung unabhängig zu machen suchen, und selbst er­ kennen, daß und warum Christus unser und der Welt Hei­ land sei.

Kap. 4, 43 — 54.

Jesu Aufnahme und zweites Wunderzeichen in Galiläa. 3)ach zween Tagen setzte JefuS die durch seinen Aufenthalt in Sichem unterbrochene Reise nach Galiläa fort. Daselbst fand er bei denen, die mit ihm in Jerusalem gewesen waren und gesehen hatten, waS er gethan, eine ehrenvolle Auf­ nahme (93. 45.). Doher aber scheinen seine LandSleute ihn nicht geachtet zu haben; denn JefuS selbst zeugte, daß ein Prophet daheim nichts gilt (93. 44.). Für die Galiläer erhielt Jesus erst dann Ansehen und Gewicht, alS er in der Haupstadt Jerusalem fich bemerklich gemacht

hatte. So geht eS noch jetzt. Ein großer Mann gilt daheim nichts, weil die Menschen selten das Große nach sei­ nem eigenen Maßstabe, sondern nach einem fremden messen, «eil fie es nicht durch steh selbst, sondern durch ein Anderes erkennen. Fremde erkennen eS leichter, weil fie der Reiz der Neuheit darauf hinlenkt; die Einheimischen aber, in de­ ren Mitte «S nach und nach unmerklich aufgetreten ist, ermangeln dieses ReizeS. Sie kennen ihren Mitbürger von Jugend auf; weil er nun mit ihnen alle äußeren Verhältnisse des Lebens theilt, so halten fie ihn für ihres Gleichen auch im Uebrigen, und trauen ihm nichts Außerordentliches ju. Erst wenn fie sehen, daß er in der Fremde etwas gilt, wer­ den fie auch auf ihn aufmerksam r aber dann ehren sie ihn gewöhnlich nicht aus wahrer Achtung, sondern machen ihn zum Götzen ihrer Eitelkeit; sie ehren ihn, weil er ihr Lands­ mann ist, und ein Theil seines Ruhmes auf sie zurückfällt. In dieser Beziehung erscheint Jesus recht in feiner Er­ niedrigung. Seine göttliche Herrlichkeit trat unscheinbar in unwürdiger Umgebung auf, und mußte sich erst nach und nach Anerkennung erkämpfen. Manchmal brach ein Strahl seines Lichtes durch die dunkele Nacht, und ward von den Empfänglicheren erkannt; manchmal ward er auch vom gro­ ßen Haufen angestaunt, aber der flüchtige Eindruck war bald wieder verschwunden. Erst nachdem er das kleine Häuflein der Gläubigen um sich gesammelt, und sich ihnen ganz in seiner Herrlichkeit geoffenbart, und diese ihren Glauben mit Begeisterung allen Völkern verkündigt und die Zahl seiner Bekenner vermehrt hatten: erschien er vor den Augen der Welt im Glanze der göttlichen Verklarung, und so staunt ihn auch jetzt der große Haufe der Christen als den wunder­ baren Sohn Gottes an. Aber dieselben, die ihn jetzt so an­ staunen, würden ihn, wären sie seine Landsleute gewesen, eben so verkannt haben, wie diese Galiläer. Seine wahre Herrlichkeit ist und bleibt immer nur die innere seines Geistes, welche nur mit den Augen des Geistes geschaut werden kann, und wer nicht an ihn im Zustande seiner Erniedrigung ge­ glaubt hätte, der hat den wahren Glauben nicht.

n3 Jesus kam abermal nach Kana, wo er da- Wasser zu Wein gemacht (23. 4 6.), und hier suchte ihn ein königlicher Diener, der zu Kapernaum wohnte, auf, und bat ihn hin« abzukommen, um seinen todkranken Sohn zu heilen (V. 4 7.). Da sprach Jesus zu ihm: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder sehet, so glaubet ihr nicht (23. 48.). So gern Jesus den Leidenden half, so fühlte er sich doch zuweilen schmerzlich durch die überall an ihn gemachte Slnfoderung zu heilen und zu helfen in seiner höheren, eigent­ lichen Wirksamkeit gestört. Er war gekommen den geistlich Kranken Arzt zu sein, nicht den leiblich Kranken; und wenn er auch diesen half, so that er es nur theils aus Mitleiden, theils um dadurch Glauben zu erwecken. Aber in der letz­ ten Absicht verrichtete er, wie man aus dieser Aeußerung steht, nur ungern Wunder. Er wollte, daß man ohne Wunder an ihn glaubte. Der Königische von Kapernaum kam nun freilich aus Drang der Noth zu ihm, und wollte nichts als Hülfe; cs war nicht seine Absicht, daß Christus vor ihm durch Heilung feines Sohnes einen Beweis seiner göttlichen Sendung ablegte, um dann an ihn zu glauben: insofern trifft ihn also die tadelnde Rede Jesu nicht. Aber daß er zu ihm als einem wunderthätigen Arzte kam, um Hülfe zu suchen, war eine Folge des in Galiläa verbreiteten Wunderglaubens an Jesum; die Galiläer glaubten an ihn bloß, weil sie Zeichen und Wunder sahen, und sie sind es eigentlich, gegen welche Jesu Rede gerichtet ist. Weil aber der Königische, von der herrschenden Meinung bestimmt, zu ihm als einem Wundcrthater kommt, so trifft ihn die tadelnde Rede ebenfalls, insofern er nämlich den Wunderglauben der Galiläer theilt. Aus geistlichem Bedürfniß wäre er viel­ leicht nicht zu ihm gekommen, sondern die irdische Noth trieb ihn zu ihm; und erst als diese durch Jesu Wundcrkraft ge­ hoben war, glaubte er mit seinem ganzen Hause (33. 53.): bei ihm herrschte also, wie bei den Galiläern, der fleischliche Sinn vor. Bestimmter und deutlicher als durch diese Rede hätte Jesus die Wundersucht seiner Zeitgenossen nicht mißbilligen

Bibl. Erbauungsb. I.

H

können; und doch theilen wir Christen, die durch ihn erleuchtet sind und ihn in seinen geistigen Eigenschaften crkcn« tun, noch diesen Fehler mit ihnen. Sehr Viele würden nicht an ihn glauben, wenn sic nicht Zeichen und Wunder von ihm erzählt lasen; sie würden ihn nicht für den Sohn Gottes halten, wenn er nicht Staunen erregende Thaten ver» richtet hatte. Die im Verborgenen wirkende Kraft seines Geistes findet mir in reine, empfängliche Herzen Eingang, welche keines andern Beweises, als dieser beseligenden Kraft bedürfen. O öffne dich, mein Herz, dieser Kraft! schließe dich auf, Auge meines Geistes, daß ich Ihn in sei« ncr inneren Herrlichkeit, von allem unwesentlichen Glanz entkleidet, als den, in welchem die Fülle der Gnade und Wahrheit ist, erkenne! Der Königische verharrte bei seiner Bitte, ohne sich durch Jesu Rede irre machen zu lassen. Herr, sagte er, komm hinab, ehe denn mein Kind stirbt (V. 4g.). Er verstand vielleicht gar nicht den Tadel Jesu, oder die Sorge um sein Kind verdrängte in seiner Seele jede andere Vorstellung. Der Mann erscheint noch ganz int Irdischen befangen; jedoch war seine Sorge durch die Liebe veredelt, und er bewies in dem, was ihm am Herzen lag, Beharrlich» keil und Treue. Er hielt es als Vater für seine Pflicht, Jesu Hülfe zu suchen, und ließ daher nicht von seiner Bitte ab. Darum verschmähte sie auch Jesus nicht, und hatte Mitleid mit seiner Lage. Er half seiner Noth, um ihm dann auch geistig aufzuhelfen, wenn er an ihn als seinen Heiland glauben würde. So sollen auch wir unsern Mit« brüdern, selbst wenn sic tief unter unS stehen, und für das Höhere noch nicht empfänglich sind, freundlich begegnen, zu ihnen herabsteigen, und ihrer leiblichen Sorge uns anneh­ men, um dann erst auf ihren Geist zu wirken, und sie zu uns heraufzuziehen. Ist nur in ihnen ein Funke wahrer Liebe, find sie nur treu und redlich: so wird sich auch nach und nach das Höhere in ihnen entwickeln. Aber in dem Königischen war neben der Liebe zu seinem Kinde zugleich ein großes Vertrauen zu Jesu. Jesus spricht

zu ihm: Gehe hin: dein Sohn lebet. Der Mensch glaubte dem Worte» das Jesus zu ihm sagte, und ging hin. (93. 5o.) Er war in derMej. nung zu Jesu gekommen, daß er sich persönlich nach Kapernaum begeben mufft» wenn er seinen Sohn heilen wolle; und nun sagte er ihm das überraschende Wort: Gehe hin, dein Sohnlebet! Wie natürlich wäre es gewesen, wenn er diese Rede für nichts als eine Verweigerung der Hülfe gehalten, und sich entweder von Jesu abgewendet, oder feine erste Bitte wiederholt hätte; aber erglaubte dem Worte und ging hin. Wir können dieses Vertrauen zu Jesu noch nicht für den wahren Glauben an den Heiland der Welt halten, denn diesen erkannte er jetzt noch nicht in ihm: es war das Vertrauen zu einem Menschen, der für ausgezeichnet galt wegen seines Geistes und seiner Wunder» kraft (denn dafür galt JcsuS dem Königischen allerdings)) aber daraus entwickelte sich der Glaube an ihn als den Hei« land. Hätte er feinem Worte nicht geglaubt, das er nach­ her bewährt fand: so wäre er nicht zum Glauben an ihn gelangt. Cr glaubte ihm, weil er überzeugt war, daß rk von Gott mit einer außerordentlichen Geisteskraft ausgerüstet fei, und so erhob er sich nachher zu dem Glauben, daß er Gottes Sohn sei, dem Gott den Geist nicht nach dem Maß verliehen habe. Wie sich bei dem Königischen der Glaube an den Hei­ land auS dem menschlichen Vertrauen entwickelte, so muß derselbe sich bei uns in dem Vertrauen bewähren, das wie guten und ausgezeichneten Menschen beweisen, dadurch näm­ lich, daß wir dem in ihnen wohnenden Geiste Gottes und Christi und seiner guten Kraft vertrauen. Dieser Geist kann sich uns jetzt nicht anders als durch Menschen kund thun, welche gleichsam seine Boten und Werkzeuge sind i wenn wir nun diesen nicht vertrauen, so ist unser Glaube an jenen ein leeres Wort. Von dem Vertrauen zu Menschen in Beziehung auf Wunderthatcn kann bei uns nicht die Rede sein r denn solche dürfen wir nicht mehr erwarten. Aber oft bietet uns Gott durch einen Menschen Rettung an, wenn wir nur demH 3

selben, seinem guten Willen und seiner Kraft, vertrauen wollen. Ohne daß wir dem Arzte vertrauen, wird ihm unsere Heilung nicht gelingen. In einer Gefahr müssen wir dem Freunde vertrauen, der uns Schutz und Rettung ver. heißt, und mit fester Hand die Stütze ergreifen, die er uns reicht; zweifeln und wanken wir, so ist vielleicht bald der Augenblick der Rettung verloren. Am meisten aber sollen wir guten Menschen in sittlicher und religiöser Hinsicht ver« tränen. Ist ein gutes Werk zu unternehmen, wozu wir des Beistandes eines guten Menschen bedürfen: so sollen wir demjenigen, der uns dazu die Hand bietet, zwar nicht ohne Prüfung blindlings vertrauen, aber auch kein ungerechtes Mißtrauen beweisen, und das Werk mit ihm mit freudigem Muth beginnen. Wanken wir in unserer Ueberzeugung, und «in frommer, wahrhcitliebender Mensch bestärkt uns: so sollen wir ihm vertrauen und unS an ihm befestigen. Be­ darf unser Herz des Trostes, und Gott sendet uns in einem Freunde, dem wir als einem frommen, gläubigen Christen vertrauen dürfen, einen Tröster: so sollen wir seinen Zu­ spruch mit Glauben empfangen. Besonders aber sollen wir denen als Boten Gottes und Christi vertrauen, welche durch Gabe, Würdigkeit und Amt die Diener des göttlichen Wor­ tes und unsere Lehrer sind. Das Vertrauen halt die menschliche Gesellschaft und die christliche Gemeinschaft zu­ sammen; es ist die geistige Anziehungskraft, das Band der Liebe und der Eintracht. Das Vertrauen des Königischrn zu Jesu war nicht bloß eine flüchtige Erregung, sondern bewahrte sich als fester Glaube, und verband sich zugleich mit dankbarer Er­ kenntlichkeit. Als ihm seine Knechte begegneten und ihm verkündigten, daß sein Kind lebe, forschte er, in welcher Stunde es besser mit ihm geworden wäre; und da es die­ selbe Stunde war, in welcher ihm Jesus jenes Wort gesagt hatte: so schrieb er ihm die Heilung zu, und glaubte mit seinem ganzen Hause (D. s>—53.). Ein Anderer hätte vielleicht jenem Worte für den Augenblick geglaubt, nachher aber mit wankendem, undankbarem Herzen die erfolgte

Heilung für ein Werk des Zufalls oder der guten Natur des Kindes erklärt; denn der Mensch entjieht sich gern, sobald er der Noth enthoben ist, dem Gefühl, einen Höheren über sich zu erkennen und ihm Verehrung und Dankbarkeit schulbig ju seyn. Wie oft sucht man bei dem Nebenmenschen Hülfe, und nachdem man sie erhalten und sich gerettet sieht: so verkleinert man den Werth derselben, und schreibt sich selbst oder dem Zufall das Meiste ju. In der Noth ist der Mensch gewöhnlich besser gesinnt, als im Glück; dort fühlt er seine Abhängigkeit und Schwäche, hier meint er auf sich selbst stehen zu können. Der Königische betrachtete aber Jesum nicht bloß als den, welcher seinen Sohn gesundgemacht: er glaubte auch an ihn als den Sohn Gottes. Sein Geist erhob sich vom Irdischen jum Himmlischen, er ergriff das ihm in der leib. lichen Wohlthat dargebotene ewige Heil, und fand dadurch den Weg tut ewigen Seligkeit. Und nicht bloß er glaubte, sondern sein ganzes HauS; er theilte allen den Seinigen feilten Glauben mit, als ein guter Hausvater, der nicht bloß für das leibliche Wohl der Seinigen sorgt, sondern ihnen Führer und Vorbild für das Höhere ist. Dieß leitet uns auf eine wichtige Lehre, welche uns diese Geschichte darbietet, daß die Noth uns oft zu Gott und Christo führt. Wäre der Königische nicht durch die Krankheit seines Sohnes veranlaßt worben, bei Christo Hülfe tu suchen r so hatte er ihn nicht als Heiland erkannt. In der Noth lernen wir der göttlichen Allmacht, der Kraft der Wahrheit und Gerechtigkeit vertrauen, und das Herz nach oben richten. In der Noth lernen wir auch unsere Nebenmenschen erkennen und lieben, und das unschätzbare Gut der Freundschaft wird uns zum reichlichen Ersatz für Leiden und Verlust. — H err, wenn Trübsal da ist, so suchet man dich (Jes. 26. ,6.). Ein Freund kommt zum Anderen in der Noth (Sir.

4,, 23.).

Cap. V.

Jesu Heilungswerk am Sabbath und Verantwortung deßhalb. Erster Abschnitt. (83. 1-17.) Hier wird uns von einer wunderbaren Heilungs-Anstalt |u Jerusalem erzählt (V. a. 3. 4.).

Ein Teich, Bethesda ge­

nannt, hatte die Kraft, wenn das Wasser in ihm bewegt war, diejenigen, welche jucrst hineinstiegen, von jeder Krank­ heit $u heilen. Wie und wodurch das Wasser bewegt wurde, konnte man nicht sehen. Der fromme Glaube schrieb die Bewegung einem herabfahrenden Engelzu; wir dürfen uns aber nicht vorstellen, daß dieser Engel in sichtbarer, etwa in Menschen-Gestalt, herabgefahren sei. Man sah wahrscheinlich nur die Bewegung des Wassers, und bemerkte die Wirkung; die Ursache aber war verborgen, und der fromme Glaube leitete sie von oben ab, von wannen alles Gute kommt. Ein Engel oder Bote Gottes ist jede Kraft, durch welche Gott wirket; Winde sind seine Engel und Feuerflammen seine Diener. (Pf. io4, 4.). Zwar erzählt die heil. Schrift von sichtbaren Engelserscheinungen; aber solche zeigten sich gewöhnlich nur den Augen der Geweiheten, den frommen Erzvatern, den Aposteln und andern Männern Gottes. Am Teiche Bethesda aber lagen Kranke von so verschiedener Würdigkeit, Fromme und Gottlose, daß man schwerlich annehmen kann, daß der Engel Allen sichtbar war. Ein Engel Gottes war es wohl, der das Wasser be­ wegte ; aber ihn erkannten und schauten im Geiste nur die Frommen. O schöner, wohlthätiger, trostvvller Glaube,

»'S welcher alles Heilsame, bas unS die Natur bietet, von Gott ableitet, und in jeder wohlthätigen Kraft, in jeder glücklichen Fügung einen Engel Gottes siehet! Warum sind wir von diesem Glauben abgewichen? Auch uns bietet Gott in der Natur so manche heilsame, segensvolle Gabe; auch für uns sprudeln Heilquellen, in welchen wir uns von Krankheiten und Gebrechen rein waschen. Aber wir sehe» darin mit kaltem Herzen nichts als Kräfte der Narur, und dünken uns klug, wenn wir bis auf einen gewissen Punkt ihren Ursprung nachweisen, ohne doch mit unserer Forschung bis auf den letzten Grund durchzudringen, welcher im Der« borgenen liegt. Beides Naturkenntniß und frommer Glaube, die Einsicht in den Zusammenhang der Naturerscheinungen und die Ucberjeugung, daß die letzte und höchste Ursache von Allem in Gott ist, laßt sich wohl zusammen vereinigen. Die­ ser Glaubt schließt nicht nur die höchste Wahrheit in sich, sondern macht uns auch frömmer, gottergebener und dankbarer und dadurch in uns selbst ruhiger und freudiger. Wir fühlen uns durch die Natur mit Gott in Berührung, fügen uns in seinen Willen, wenn uns das Erwünschte nicht be­ gegnet und die Heilkräfte der Natur an uns ihre Wirkung nicht beweisen, sind aber auch ihm dankbar, wenn wir ge­ nesen. Alles Unglück wird erträglicher, alles Glück erhöhet sich durch den Gedanken an Gott, von welchem Alles kommt. Die Kranken, welche am Teiche Dethesda lagen und der Bewegung des Wassers harreten, sind ein Bild der lei­ denden Menschheit überhaupt. Allen, die an körperlichen, irdischen Uebeln leiden, allen, die vom Elend der Sünde und des Irrthums darnieder gedrückt sind, kann das Heil nur von oben kommen, von einer göttlichen Kraft, welche hcrabfährt und Leben bringt. DaS bewegte Wasser war heilend; denn Leben ist Bewegung, Tod ist Ruhe. Jede heilsame Kraft erregt Thätigkeit, und überwindet durch solche die krankhafte Stockung im Körper; besonders aber ist alles geistige Heil nur in der Bewegung zu suchen, denn der Geist ist das Bewegende und Erregende. Die Besserung des Menschen kommt dadurch zu Stande, daß in ihm die

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Thätigkeit des Geistes rege wird und die Trägheit des Flei­ sches überwindet. Aber so wichtig für die Kranken am Teiche Bethesda der Augenblick war, wo das Wasser bewegt wurde: so wich­ tig und oft unersetzlich ist für uns der Augenblick in unserm geistigen Leben, wo die höhere Kraft ju unS hernieder fahrt, um uns zu heilen. Lassen wir ihn vorübergehen, so kehrt er oft nie wieder. Wir hören eine Warnung, eine Beleh­ rung, welche, wie ein Blitz vom Himmel, unsern dunkeln Gesichtskreis erhellet: schließen wir nun dagegen die Augen, so bleiben wir im Finstern, wie vorher, und das Licht kehrt vielleicht nicht wieder. Freilich geht es manchem Geistigkranken, wie jenem am Teiche Bethesda, welcher Niemanden hatte, der ihn in das Wasser hinabließ. Der Mensch bedarf der Hülfe seiner Nächsten, um die von oben kommende Kraft ju benutzen; er bedarf des Unterrichts, der Anleitung, der Ermahnung. Was wäre der Mensch ohne die Pflege und Erziehung, die er von seinen Eltern empfangt, ohne die geistige Hülfe mancherlei Art, welche ihm Lehrer und Freunde leisten? Die Kraft von oben kann sich nicht unmittelbar in uns er­ gießen (das geschieht nur wenigen Ausgezeichneten, und auch diese bedürfen wenigstens in ihrer Jugend menschlicher Hülfe): es bedarf dazu noch einer Anstalt als Mittels der Auffassung, wie dort der Teich Bethesda war. Dieses von göttlicher Kraft bewegte Wasser ist für uns Alle die menschlicht Gemeinschaft in Familie, Staat und Kirche, welches der Inbegriff aller geistigen Hülfsmittel ist, alles dessen, was Tugend, Frömmigkeit, Geistesbildung befördert. In diese Masse ergießt sich von oben, zu gewissen Zeiten, eine neue erregende Kraft, um sie in Bewegung zu fetzen und gleichsam zu befruchten; und mit Hülfe der Eltern und Lehrer benutzen wir sie, um uns immer mehr von der Krankheit des Irrthums und der Sünde zu reinigen. Bcklagenswcrthe Menschen, welchen diese Hülfe fehlt, welche ohne Erziehung, Unterricht und Anleitung heranwachsen, für welche der Engel vergeb­ lich herabfährt und göttliche Hülfe bringt.

Dem Kranken bei Bethesba, welcher acht und dreißig Jahre daselbst krank gelegen, erschien Christus als Retter; und nicht bloß um ihn in daS Wasser hinab zu lassen, fon« dern um ihm unmittelbar die Gesundheit wieder ju geben. Stehe auf, sprach er zu ihm, nimm dein Bette und gehe hin (D. 8.). Solches vermochte wohl Jesu-, in welchem alle göttliche Geisteskraft vereinigt war; er be­ durfte der Mittel nicht, erwirkte unmittelbar. Aber wir sollen eint solche unmittelbare Hülfe nicht erwarten, sondern alle Mit­ tel benutzen, welche unS die Gemeinschaft der Menschen und be­ sonders die christliche Kirche darbietet. ES gibt viele Chri­ sten, welche glauben, außer ihrem eigenen Geist, nichts ju bedürfen, um ju Christo zu gelangen und von ihm erleuchtet und erweckt ju werden, welche alle Hülfe der Gemeinschaft, allen Unterricht, alle Mittheilung verschmähen und sich ganj auf sich allein jurückjiehen. Solche versuchen eS auf­ zustehen und hinjugehen; aber es wird ihnen nicht gelingen, ihr Hochmuth wird sie bestrafen. Wer aber demüthig und seiner Hülfsbedürftigkeit eingedenk sich an die christliche Ge­ meinschaft anschließt, dem wird Christus, auch da wo er ihn nicht erwartet, hülfreich erscheinen, und ihn starken und aufrichten. Es war aber desselbigen Tages der Sabbath (D. g.), als Jesus den Kranken gesund machte, und ihm gebot, sein Bette tragend nach Hause ju gehen. Daran nahmen die Juden Anstoß, und sagten; Es ist heute Sabbath, es jiemt dir nicht das Bette ju tragen (V-10.). Die Juden nämlich trieben die Gewissenhaftigkeit in der Feier des Sabbaths bis jur ängstlichen, knechtischen Klein­ lichkeit, und vergaßen ganz den Zweck, ju welchem derselbe eingesetzt worden war. Dieser Zweck war kein anderer, als daß die Uebung der gottesdienstlichen Gebräuche und die fromme Betrachtung durch die Enthaltung von aller Arbeit befördert, und jugleich den Knechten und dem Vieh eine Erholung gestattet werden sollte. Was schadete es nun in dieser Hinsicht, wenn der Genesene, froh, endlich von seiner

122

Krankheit erlöst ju seyn, sein Dctte nach Haufe trug? Ware

«S nicht unnatürlich und für ihn peinlich gewesen, wenn er hätte bis |u Ende des Sabbaths am Orte seines Leidens verweilen sollen? Ja, wäre es nicht undankbar gegen Gott gewesen, den Gebrauch der ihm wicdergeschenkten gesunden Kraft seiner Glieder $u verschieben? War es für ihn nicht die beste Sabbathsfeier mit frohem, dankbarem Herzen nach Haufe zu gehen, und seinen Bekannten zu verkündigen, welches Heil ihm «irdcrfahren sei? Der Mensch entschuldigte sich damit, daß ihm der, der ihn gesund gemacht, gesagt habe, er solle sein Bette nehmen und hingehen (23. n.). Ohne noch zu wissen, wer er sei, gehorchte er ihm als einem Höheren, der die Macht habe, ihm eine solche Erlaubniß zu geben. Er war sein größter Wohlthäter, und ihm gab er sich ganz im Gefühl der Dankbarkeit hin, und gehorchte ihm. Darin beweist er einen sehr gutartigen, kindlichen Sinn. So durch Wohlthaten und heilsamen Einfluß werden die Kinder an die Eltern gekettet, und lernen Gehorsam und Unterwerfung; so ent­ wickelt sich auch sonst oft aus dem Verhältniß der Wohlthat und Dankbarkeit das Höhere des geistigen Einflusses und Vertrauens. Die Juden wollten nun wissen, wer der Mensch sei, der solches zu ihm gesagt habe (23. i a.). Aber der Genesene wußte es nicht zu sagen; denn Jesus war mit eben so viel Klugheit als Bescheidenheit schnell entwichen, weil so viel Volkes an dem Orte war, und hatte ihm keine Zeit ge­ lassen, sich nach dem Namen seines Wohlthäters zu erkun­ digen (23. i3.). Er hatte diese Heilung nicht vollbracht, um Aufsehen zu erregen und Ruhm einzuernten» sondern aus reiner Menschenliebe. Diese war auch der Beweggründ, daß er sich ihm späterhin verrieth. Als er ihn näm­ lich nachher im Tempel fand» sprach er zu ihm: Siehe zu, du bist gesund geworden; sündige hinfort nicht mehr, daß dir nicht etwas Aergeres wi­ derfahre (23. i4.). Die Krankheit des Menschen hatte

ihre Quelle in

seinem sündhaften, ausschweifenden Leben ge-

habt. Nun begnügte sich Jesus nicht, ihn von den Folgen der Sünde zu befreien und ihn körperlich zu heilen; er wollte auch die Quelle des Elends verstopfen und ihn geistlich ge­ sund machen. Das sei uns eine wichtige Lehre. Es sei uns nie genug, uns und Andere von den äußeren Folgen der begange­ nen Fehler zu befreien, und bloß das äußere Betragen zu bessern, sondern wir sollen die Fehler iunerlich in der Ge­ sinnung ausrotten. Wir sollen nicht glauben genug gethan zu haben, wenn wir ein Laster als äußere Uebung, insofern «6 uns krank undunglücklich machen kann, vermeiden oder aufgeben; auch die bösen Begierden sollen wir in unS aus­ rotten, und uns innerlich wie äußerlich reinigen. Auf das Innere, die Gesinnung und Beschaffenheit des Geistes kommt alles an. AlleS leibliche Wohlseyn, Gesundheit, Wohlstand, Reichthum, hat keinen Werth ohne das innere Heil, ohne Weisheit, Tugend und Gottesfurcht. Ein Mensch mag mit allen Mitteln zu einem glücklichen Leben ausgerüstet seyn; wenn er sich dessen nicht durch seinen inneren Werth würdig macht, so wird er doch nicht zum wahren Heil ge­ langen. Ein Volk mag noch so an Wohlstand blühen; wenn nicht durch Erziehung, Geistesbildung, Sittlichkeit und Frömmigkeit das geistige Leben in demselben gehoben ist, so wird es bald in Rohheit und Lasterhaftigkeit versinken, und dann auch sein äußeres Glück verlieren. Eltern und Macht­ haber sollen daher vor allen Dingen für eine gute Erziehung ihrer Kinder und Schutzbefohlenen besorgt seyn, und alles Uebrige zwar nicht vernachlässigen, aber als untergeordnet betrachten. Nun erfuhr der Mensch, daß es Jesus sei, der ihn gesund gemacht, und ging hin, und sagte es den Juden (D. i5.). Er that dieß wohl nicht in böser Absicht, um Jesum ins Verderben zu bringen, sondern wahrscheinlich um dessen Ruhm zu verkündigen. Aber vorsichtiger hatte er wohl sein sollen. Darum verfolgten die Juden Je­ sum, und suchten ihn zu todten, daß er sol­

ches

gethan hatte auf den Sabbath.

(V. »6,)>

Aus mißverstandenem Eifer für das Heilige

wollten sie

«inen Menschen tödten, welcher nichts verbrochen, alS daß er am Sabbath ein Werk der Wohlthätigkeit verrichtet hatte. Wie oft ist die Religion dazu gemißbraucht worden, die Leidenschaften eines bösen Herzens zu befriedigen. Es ist Entweihung derselben, auch nur in einem Punkt die Liebe zu vergessen, die wir unsern Nebenmenschen schuldig sind. Aller Glaube soll in Liebe thätig werden, und ein solcher, der iura Haß antreibt, ist gewiß falsch und unlauter. Dieser Verfolgungseifcr der Juden floß aus einem Mißverstandniß; sie begriffen nicht, was es mit der Sabbathsfeier auf sich habe. Gott hatte den siebenten Tag geheiligt, indem er an demselben vom Schöpfungswerke, das er in sechs Tagen vollbracht, geruhet hatte (1 Mos. s, 3.). Sein Werk war vollkommen. Er sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe da es war sehr gut (r Mos. 1, Zi.). Er konnte in der Betrachtung dessen, was er ge­ schaffen hatte, mit Zufriedenheit ausruhen, weil es vollkom­ men war. So sollten auch die Menschen nach sechs Tagen der Arbeit und des Strebens einen Tag der Betrachtung pflegen, und ruhend den Blick von dem, was noch zu thun ist, abkehren, und auf das Vollendete, Ewige, hinrichten. Der Mensch soll immer zugleich thätig eingreifen und gleichsam Gott mit schaffen helfen, und ruhend das vollendete Werk Gottes, die Weisheit und Güte, die er in der Welt offenbart, die Gesetze seines heiligen Willens, durchweiche sie besteht, betrachten. Im Glauben, in der Frömmigkeit, sind wir betrachtend, in der Liebe sind wir thätig. Der heilige Ruhetag ist nun vorzüglich der Betrachtung, die Werkeltage aber der thätigen Liebe geweihetr dort sollen wir den Blick nach oben richten, hier auf der Stelle, die unS Gott angewiesen, schaffen und wirken. Nun aber ist es eine falsche Vorstellung zu denken, daß Gott seit der Vollendung des Schöpfungswerkcs geruhet habe. 17.).

Mein Vater wirket bisher, sagt JesuS (D. Gott erhält, waS er geschaffen, indem er es aber

erhält, schafft er es von neuem. Seine erhaltende Thätig« feit ist eins mit der schaffenden. In Gott ist Ruhe und Thätigkeit durch und mit einander; er hat stets vollendet und wirket stets neues. So soll auch im Menschen Ruhe und Thätigkeit, Betrachtung und Wirken mit einander ver­ bunden seyn. In jedem Augenblick soll er deS Ewigen eingedenk und zugleich im Zeitlichen thätig sein. Nicht bloß am Ruhetag soll er steh der frommen Betrachtung wei­ hen, sondern beständig in derselben leben: hinwiederum soll aber auch die fromme Ruhe an dem Gott geweihrtrn Tage nicht der thätigen Liebe Eintrag thun, sondern wenn sich eine Gelegenheit darbietet, dem Nächsten ju helfen, soll man thätig zugreifen. Und ich wirke auch, sagt Je­ sus. Wie Gott mitten in der Ruhe wirksam ist und uns fort und fort die Gaben seiner Liebe, Leben, Kraft, Gesund­ heit, zufließen läßt: so ist auch derjenige, der ihm ähnlich ist, mitten in der frommen Feier und Betrachtung voll Liebe thätig für das Wohl des Nächsten. Es ist ein todter Glaube und zeugt von Mangel an Beweglichkeit deS Geistes, sich vorzustellen, daß Gott seit dem Echöpfungswcrke ruhe und nicht mehr wirke. Cs ist eine todte Uebung des Gottesdienstes und zugleich Mangel an Liebe, sich so sehr an eine äußere Form, wie der Sab­ bath war, zu binden, daß man dadurch verhindert zu sein glaubt, Werke der Liebe zu vollbringen. Ein todter Glaube ist immer mit Lieblosigkeit verbunden. Indem nun JesuS die lebendigere Ansicht von der Wirksamkeit Gottes geltend macht, lehrt und übt er zugleich die lebendige Liebe, in wel­ cher sich der wahre Glaube wirksam beweiset.

Zweiter Abschnitt. (D. 18 - 30.) Vor ungerechten Richtern wird die Vertheidigung des Unschuldigen zur neuen Anklage. So erging es Jesu. Darum trachteten ihm die Juden nun viel-

126 mehr nach, daß sie ihn tödteten, daß er nicht allein denSabbath brach, sondernsagte auch, Gott sei sein Vater, und machte sich selbst Gott gleich (D. 18.). Christus hatte sich wegen der angeblichen Sabbathsverletzung damit entschuldigt, daß er gleich seinem Vater unausgesetzt wirke; dieß aber fanden die Juden anstößig. Eie nahmen eS für eine Gotteslästerung» daß er Gott seinen Vater nannte, und ihm gleich zu sein behauptete. Eie legten es, wie Ucbelwollende zu thun pflegen, auf die schlimmste Seite auS, als wolle er sich gött­ liche Ehre beilegen; und doch wollte er für sich nichts, son­ dern Alles nur für Andere. Er wollte, daß die Menschen in ihm den Gesandten und bas Ebenbild Gottes anerkennten, durch ihn Gott kennen lernten, und das ewige Leben hätten. Aber eben darum konnte er die mögliche Mißdeutung nicht umgehen, er mußte vielmehr die Behauptung, daß seine Wirksamkeit der des Vaters gleich sei, weiter ausführen und begründen; er mußte die Wahrheit frei heraussagen» selbst auf die Gefahr, daß dadurch seine Geg­ ner nur noch mehr erbittert würden. Wenn sie ihn mißverstanden, so lag die Schuld an ihnen; dagegen verstanden ihn die Wohlgesinnten, und wurden für den Glauben an ihn gewonnen: und so schieden sich die Kinder der Finster­ niß von den Kindern des Lichtö, und die Gesinnungen der Herzen wurden offenbar. Jesus wiederholt also die Behauptung» daß er ganz im Geiste seines himmlischen Vaters wirke. Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich selbst thun, als was er siehet den Vater thun; denn was dcrsclbige thut, das thut gleich auch der Sohn (V. 19 ). Hier und in andern Stellen macht Jesus den wichtigen Unterschied zwi­ schen von sich selbst thun oder reden und aus göttlicher Offenbarung thun oder reden, den wir wohl fassen müssen. Der von Gott abgewandte, irdi­ sche, selbstsüchtige Mensch thut alles von sich selbst, ans eigener Willkühr und Selbstsucht, zur Befriedigung feiner

»27

Lust, so daß er seinen Willen zum Gesetz erbebt; ein solcheHandeln aber kann nicht anders alS sündhaft und Gott miß« fällig seyn, denn nur Gottes Wille ist Gesetz der Welt, und was demselben zuwider läuft, ist Empörung gegen ihn. Allein es ist kein Mensch, der nicht wenigstens Manches von sich selbst, aus Selbstsucht thue; denn es wohnt in eines Jeden Brust die falsche Liebe zu sich selbst und zur Lust die­ ser Welt, und unser Wille geht nie ganz in den göttlichen Willen auf; sogar in das Gute, das wir thun, mischt sich etwas von Selbstsucht und Eigenliebe, und in der Richtung auf das Ziel des göttlichen Willens ist immer eine wenn auch kleine Abweichung. Christus hingegen that nichts von sich selbst, sondern nur waS er den Vater thun sah. Es ist hier von keinem Gehen mit dem leiblichen Auge, sondern von innerer, geistiger Anschauung die Rede; denn wie kann man Gott leiblich sehen? Es ist ein Bild, eine Vergleichung. Ein gutgearteter, gehorsamer Sohn wird sich den Vater zuin Muster nehmen, und handeln, wie er ihn handeln siehet: so auch auf geistige Weise Christus. Er thut alleö dem Willen Gottes gemäß, handelt und wirket auS seinem Geiste, und zwar so, daß alle menschliche Willkür ausgeschlossen bleibt, daß sein und des VaterS Wille ganj in einander aufgehen. Was hier Jesus von sich sagt, scheint wenig ju be­ deuten, und doch ist damit, wenn man es recht ergründet, seine ganze göttliche Herrlichkeit ausgedrückt. Sein und des Vaters Wille eins — welche übermenschliche Reinheit und Erhabenheit! Welcher Mensch kann dieß von sich be­ haupten? Wer hat die Kraft, in jedem Fall des Lebendie Eigensucht zu überwinden, und seinen Willen mit nie wankender Festigkeit in der fehllosen Richtung auf das gött­ liche Gesetz hin zu erhalten? Die Sündlosigkeit, die Heilig­ keit ist in Christo das Hauptstäck seiner Göttlichkeit, obgleich für sinnliche Menschen dasjenige, was am wenigsten Ein­ druck macht, weil cs die Sinne nicht besticht. Cs ist das in sich selbst Grißcste und Erhabenste, was im reinsten Lichte leuchtet. Es ist auch dasjenige, was Christo sowohl im

Stande der Erniedrigung als Erhöhung eigen ist, was er in äußerer Verkennung, in unscheinbarer Verborgenheit, ja in der Schmach am Kreuj in sich trug, wessen er sich nie entäußern konnte. Die göttliche Allmacht und alle Eigen­ schaften der göttlichen Unendlichkeit hat er in seiner Erniedri­ gung, wenn auch nicht abgelegt, so doch gleichsam in sich verborgen und sich des Gebrauchs derselben enthalten, indem er sich aller menschlichen Schwachheit unterwarf» aber die göttliche Reinheit und Sündlosigkeit behauptete er stets, be­ währte sie eben in der Erniedrigung durch den vollkommen­ sten Gehorsam gegen seinen himmlischen Vater und ließ ihr Licht leuchten vor Allen, welche ein Auge dafür hatten. Diese heilige Einheit des Willens mit dem göttlichen Willen und die Bewährung derselben in der schwersten Prü­ fung des Gehorsams ist zugleich die Stufe, auf welcher sich Christus wieder in den Stand der Erhöhung aufschwingt. Erwarb gehorsam biszumTode, jazumTode am Kreuz: darum hat ihn auch Gott erhöhet (Phil. 2, 8. 9.). Aehnliches sagt Jesus hier mit den Wor­ ten: Der Vater hat den Sohn lieb, und zei­ get ihm alles, was er thut; und wird ihm noch größere Werke zeigen, daß ihr euch ver­ wundern werdet (33. 20.). Cs ist eine solche innige Vertrautheit und Uebereinstimmung zwischen Gott und Christo, dem Vater und dem Sohne, daß jener diesem keine Art der Wirksamkeit vorenthält; er zeiget ihm alles, was er thut, er theilt ihm die Fähigkeit mit, alles das zu wirken, was er selbst wirket, indem er ihm gleichsam als Muster und Vorbild vorangeht. Und diese Uebereinstim­ mung in der Wirksamkeit erstreckt sich nicht bloß auf solche Werke, in denen sich die Reinheit und Heiligkeit des Willens, die Fülle der Liebe offenbart, wie in dieser Heilung des Kranken am Sabbath, er wird ihm noch größere Werke zeigen, daß ihr euch verwundern wer­ det; auch Werke der Allmacht, der göttlichen Schöpfer­ kraft, welche selbst die Ungläubigen mit Bewunderung schauen werden, wird er ihn vollbringen lassen, (denn von solchen

139

ist im Folgenden die Rede).

Nachdem sich Jesus in der Er­

niedrigung bewährt hat, wird ihn der Vater eine solche Wirk­ samkeit entfalten lassen, daß Alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren (B. 23.), oder wie der Apo­ stel Paulus sagt, daß sich in feinem Namen beu­ gen sollen alle derer Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erden sind (Phil. 2, 10.), daß ihn alle als den Stellvertreter Gottes und in sei­ ner Wirksamkeit selbst anerkennen. Auch von uns gilt es, daß die Reinheit und Heilig­ keit des Willens und die wahre Liebe in unseren Handlungen die Bedingung einer großen, ausgebreiteten Wirksamkeit ist, einer solchen wenigstens, welche allgemeine, freudige, dankbare Anerkennung findet. Der Gewaltige kann mit verderb­ licher Leidenschaft Unheil und Zerstörung um sich her verbrei­ ten, so daß Alle vor ihm zittern; aber wahrhaft ehren wird ihn Niemand. Der Gute wird aber auch, ohne mit großer, äußerer Macht ausgerüstet zu fein, zu großer Wirksamkeit gelangen, indem sich alle Guten an ihn anschließen und ihm Beistand leisten; seine Geisteskraft wird sich in allereinen Herzen ergießen, sich mit der in ihnen wohnenden Kraft ver­ binden und dann mächtig die Welt durchströmen. Unsere erste Bemühung sei daher, Gott und seinem heiligen Willen zu gehorchen, unser Herz von aller Selbstsucht zu reinigen und mit heiliger, himmlischer Liebe zu erfüllen: dann werden uns auch unter Gottes allmächtigem Beistand unsere Bemüh­ ungen gelingen und unsere Wirksamkeit sich mehren und aus­ breiten. Wie der Vater die Todten auferwecket und macht sie lebendig: also auch der Sohn macht lebendig, welche er will (D. 21.). Gott ist Herr über Leben und Tod. Der Herr tobtet und machet lebendig, führet in die Hölle und wie­ der heraus (1 Sam. 2, 6.). Und zwar ist er Herr über das zeitliche und ewige Leben; er kann nicht bloß für diese Erde tödten und wieder erwecken, sondern auch Leib und Seele verderben in die Hölle (Matth. 10, 28.) und der Bibl. Erbauungsb. I.

I

i3o Stelle lad ewige Leben geben.

Co macht auch der Sohn

lebendig, welche er will; er gibt denen, die an ihn glauben, das ewige Leben. Auch daS leibliche Leben hat er einigen Tod­ ten wiedergegeben, wie dem Jüngling zu Nain, der Tochter deSJairus; selbst die Heilung eines lebenslänglichen Kran« len ist eine Art von Belebung vom Tode, indem die Krank­ heit den Keim und Anfang des Todes in fich schließt. Al­ lein alles dieß waren nur einjelne, gleichsam zufällige Aeuscrungen der in ihm wohnenden göttlichen Lebenskraft, und seine belebende Wirksamkeit war eigentlich auf die Seelen und deren ewiges Leben gerichtet. Er schuf sie um zu einer neuen, gottgefälligen Schöpfung, erweckte in ihnen ein rei­ nes geistiges Leben, reinigte sie von allem Krankhaften und Tödtlichen der Sünde und des Irrthums und rief in ihnen das durch die Sünde verdunkelte göttliche Ebenbild wieder hervor. Gr gab ihnen aber auch ein seliges Leben, befreite sie von der Furcht des TodeS und der Derdammniß, erfüllte sie mit Hoffnung und Vertrauen, und führte sie zur Vereini­ gung mit Gott. Diese belebende, beseligende Wirksamkeit Christi erstreckt sich auf dieses und das zukünftige Leben: schon hier macht er selig, aber die von ihm verliehene Se­ ligkeit wird erst vollendet in der Ewigkeit durch die ewige Vereinigung mit Gott und das selige Anschauen seines Ange­ sichts. Aber sowie die Sonne nicht leuchtet, ohne daß sich neben ihr Licht der Schatten stellt» wie die Erkenntniß der Wahrheit m'cht verbreitet werden kann, ohne daß neben ihr die Finsterniß des Irrthums nur desto greller erscheint: so kann auch Christus seine belebende, beseligende Wirksamkeit nicht entfalten, ohne daß er zugleich das Todte, das dem Leben Widerstrebende, dem Tode, der Derdammniß übergibt. Denn der Vater richtet niemand, sondern al­ les Gericht hat er dem Sohne gegeben (93. aa.). Richter ist dem lebendig machen entgegengesetzt und so viel als dem Tode (dem geistlichen nämlich) oder der Unseligkeit Preis geben; denn Leben ist Seligkeit, und das Gegentheil desselben Unseligkeit. Im weiteren Sinne ist Richten so viel als einem Jeden zuerkennen, was ihm gebührt, dem Gläu-

Ligen daS Leben, dem Ungläubigen den Tod; hier aber wird vorzüglich an das letztere gedacht. Der Vater richtet nicht, er ist nur die Quelle des Lebens; seine Daterlicbe will nicht, daß ein Mensch verloren gehe, sondern daß alle daS Leben haben. Auch seinen Sohn hat er nicht gesandt in die Welt, daß er die Welt richte; sondern daß dieWeltdurchihn selig werde (Kap. 3,17.); aber durch die Schuld der Menschen selbst geschieht es, daß fie gerichtet werden, wenn sie nämlich nicht an ihn glauben; denn wer nicht glaubt, der ist schon gerichtet (Kap. 3, 18.). Und den Unterschied der Gläubigen und Ungläubigen, der Kinder des Lichts und der Kinder der Fin­ sterniß, in der Welt hervortretend und sichtbar zu machen, gehört zu den Werken des Sohnes, welcher das Licht in die Welt bringet, und Alle erleuchtet, die sich demselben nicht entziehen, welcher den Kampf desselben mit der Finsterniß beginnet und den Sieg desselben herbeiführt. Wenn er dann als Sieger dastehet, und als mächtiger Herrscher des Reiches der Wahrheit sich kund gibt, dann eh­ ren ihn alle als den Sohn, so wie sie den Va­ ter ehren (V. a3.), dann beugen vor ihm Alle die Kniee, als vor dem, welchem Gott die Macht über die Seelen ver­ liehe«, und verehren in ihm den Gottgleichen, den Gesand­ ten Gottes, den menschgewordenen Gott; das vom Himmel herabgestiegene ewige Wort GotteS» Gott selber, in seiner Weisheit und Heiligkeit, die göttliche Weisheit und Heilig, keil selber. Wer ihn ehret, der ehret den Vater; und wer ihn nicht ehret, der ehret den Vater nicht, der ihn gesandt hat (V. a3.). Die Lebenskraft, welche JesuS auf die Seelen der Menschen äußert, liegt in seinem Worte und dem Glauben an ihn. Wer mein Wort höret, und glaubet dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben, und kommt nicht in das Gericht» sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen (D. a4.). Das Wort Christi ist die Lehre vom wahren» se­ ligen Leben, von der Erkenntniß und Uebung des göttlichen

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i3a Willems, wodurch der Mensch in die selige Gemeinschaft mit Gott kommt. Wer es nur hört, und was zugleich mit da­ runter' verstanden ist, in sein Herz aufnimmt, es als wahr anerkennt und ihm gehorcht; wer mithin Christo und in ihm Gott, der ihn gesandt hat, glaubt, der nimmt die belebende, beseligende Kraft, welche darin liegt, in sich auf, der hat daS ewige Leben. Ein solcher kommt nicht in daS Gericht, oder das Gegentheil des Lebens, den Tod, son« dem er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrun­ gen, er hat durch die auS Christo geschöpfte Kraft des Le­ bens alles dasjmige überwunden, was seine Seligkeit ver­ hindern , was ihn von Gott entfernen kann. Im Glauben an Christum liegt unmittelbar die Seligkeit; wer durch den Irrthum und die Sünde zu ihm, dem Quell der Wahrheit und Gerechtigkeit, hindurchgedrungen, der ist vom Tode zum Leben, von dem Elend und der Derdammniß zur Seligkeit hindurchgedrungen (vgl. Kap. 3,18). Diese belebende Thätigkeit des Sohnes sollte nun bald btgimen, ja sse begann schon mit seiner Erscheinung auf Erden. Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, daß dir Todten werden die Stimme des Soh­ nes Gottes hören; und die sie hören werden, diewrrden leben (D. 25.). Die Todten sind die, welche in der Finsterniß und dem Elend des Irrthums und der Sünde leben, deren Leben so gut als der Tod ist. Auch sonst nennt die Schrift bas Leben der Lasterhaften, Ungläubigen, Elenden Tod und sie selbst Todte (Röm. 7, 9. f. Matth. 8, 22. Eph. 5, i4. u. a. St.). Die Stimme des Soh­ nes Gottes ist der belebende Ruf: Wachet auf die ihr schlafet, und stehet auf von den Tobten (Eph.

5, i4.), die Zeit ist erfüllet und das Reich Gottes herbeigekommen, thut Buße und glau­ bet an das Evangelium (Mark. 1, iS.). Und die diesie Stininw hören, sich von ihr wecken und ermuntern las­ sen^ die gelangen zu einem neuen, freien, heiligen und se­ ligem Leben, sind vom Tode auferstanden und über alleElemd und alle Furcht hinweggehoben.

i33 Denn wie der Vater das Leben hat in ihm selbst, also hat er dem Sohne gegeben, das Leben zu haben in ihm selbst (V. 26.). Die Kraft, durch welche Christus zum Leben erweckt, ist ihm nicht fremd und wo andersher entlehnt, wie etwa Aerzte Menschen das Leben retten durch Mittel, welche die Natur darbietet; sondern sie wohnt in ihm selbst, weil er daö ewige Wort Got­ tes ist, in welchem das Leben und das Licht ist (Kap. i, 4.). Wohnte sie nicht in ihm selbst, so wäre er nicht Gottes Sohn, nicht Eines Wesens und Einer Würde mit dem Vater, und wir könnten ihm nicht glauben als dem Cbenbilde Gottes. Aber er hat ihm auch Macht gegeben das Gericht zu halten (D. 27.), weil die beseligende und richtende Wirksamkeit mit und neben einander ist (vgl. V. 22.); und zwar hat er ihm darum das Gericht übergeben, daß er der Menschenfohn ist. Gott selbst richtet niemand (V. 22.), aber der als Menschenfohn in der Welt erschienene Gott richtet: nicht als wäre er in der Absicht er­ schienen zu richten, sondern weil ihn die Menschen nicht an­ erkennen, ihm nicht glauben und so sich selbst richten. Seine Erscheinung ist Mittel der Rettung für die Verlornen und Ekcin des Anstoßes für die Unverbesserlichen. Er ist ge­ setzt zu einem Fall und Auferstehen Vieler (Luk. 2, 34.). Diese Belebung und dieses Gericht beginnt in der Zeit und vollendet sich in der Ewigkeit: dann ist die göttliche Wirksamkeit Christi in ihrer ganzen göttlichen Größe entfaltet, und umfaßt nicht nur alle Zeiten und Völker, sondern die Ewigkeit selbst. Von der ewigen Auferstehung und dem ewi­ gen Gericht am Ende der Tage spricht nun Christus, wenn er sagt: Es kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, werden seine Stimme höre»; und werden hervorgehen, die da Gu­ tes gethan haben, zur Auferstehung des Le­ bens, die aber Uebels gethan haben zur Auf­ erstehung des Gerichts tD. 28, 29.). Das ist die große letzte Entscheidung über das Schicksal der Seelen, ob

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fit in das ewige Leben bei Gott eingehen, oder aus Gottes Nahe verstoßen, in die ewige Finsterniß hinabstürjen. Die­ ses Schicksal hängt ab von dem, waS ein Jeglicher gethan bei Leibes Leben, ob er die Stimme Christi gehört und an ihn geglaubt und ihm gehorcht, oder ob er sich verstockt und verblendet und den Ruf zur Besserung verschmäht hat. Mag der Ungläubige sich noch so lange gesträubt haben, Christum als den Sohn Gottes und seine Lehre als göttliche Wahrheit anjucrkenncn» es kommt die Stunde, wo er dessen göttliche Allmacht in unwiderstehlicher Wirkung an sich erfährt, aber nicht zum Heil, sondern zum Verderben, weil es dann zu spat ist zur Besserung, und weil die Seele nur für die Ver­ zweiflung empfänglich, aber keiner Hoffnung mehr fähig ist. Dielen kommt diese Stunde schon auf dem Todbette: da geht ihrer von dem Gedanken an die Ewigkeit erweckten Seele das Licht der Wahrheit auf, aber nur um ihr von Finsterniß umnachtetes, vergangenes Leben in seiner Gräßlichkeit zu erhellen, und sie mit dem Schrecken der Verzweiflung zu er­ füllen. Sie erstehen aus dem Grabe der Sünde, aber nicht zum Leben, sondern zum Gericht. Andere gehen in der Fin­ sterniß und Verstockung hinüber: aber welches mag jenseits ihr Erwachen seyn! Sie sehen sich umstrahlt vom Lichte der Ewigkeit, ihr ganzes Inneres, das sich im Leben ihnen selbst und Andern verbarg, liegt offen vor ihnen selbst und dem ewigen Richter da, aber in seiner gräßlichen Finsterniß und Unreinigkeit, sie erschrecken vor sich selbst, das Reich Gottes kann sie nicht aufnehmen, weil sie demselben entfrem­ det sind, sie werden ausgestoßen, ja sie fliehen selbst vor dem Anblicke des reinen Lichtes, den sie nicht ertragen können und stürzen in die ewige Nacht.------- O schrecklicher Ge­ danke, durchschaudernde Ahnung! Wie, sollte den Verlo­ renen kein Rückweg der Rettung offen stehn, sollte die un­ endliche Vaterliebe Gottes für sie ein Ende haben? Ich will nicht forschen, das ewige Geheimniß nicht zu enthüllen wagen. Mir diene das schreckliche Bild der Auferstehung des Gerichts zur Warnung und Erweckung. Die große letzte Entscheidung ist durch mein jetziges Leben bedingt. Wer hier glaubt und

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da- wahr« Leben findet, der kommt nicht ins Gericht; wer aber nicht glaubet, Licht und Leben verschmäht und im Grabe der geistlichen Finsterniß verharret; der wird einst zum Ge­ richt auferstehen. O bedenke eS, meine Seele, und richte dich dahin, wo du Licht und Leben findest, höre auf die erweckende Stimme deines Heilandes, damit du nicht einst ih­ ren schreckenden Donnerruf vernehmest, womit er dich vor das ewige Gericht ladet! Gewiß sagte Jesus die sinnschweren, Schrecken erregen­ den Worte: Auferstehung deS Gericht- mit tiefem Schmerzgefühl, und schauderte selbst vor der Vollziehung dcs Richteramts; denn seine von heiliger Liebe erfüllte Seele konnte nicht wollen, daß auch nur Ein Mensch verloren gehe. Darum setzt er hinzu: Ich kann nichts von mir selbst thun. Wie ich höre, so richte ich, und mein Gericht ist recht; denn ich suche nicht meinen Willen, sondern deS VaterS Willen, der mich gesandt hat (V. 3oj. Das Gericht, daS ihm aufgetra­ gen ist, übt er nicht aus menschlicher Leidenschaft und Will­ kür » es ist nicht das Werk persönlicher Rachsucht wegen er­ littener Verkennung und Verstoßung; es ist die Vollziehung des göttlichen Richterspruchs, welchen er gleichsam auS dem Munde des Vaters vernimmt. Die ewige von Gott gegrün­ dete Nothwendigkeit bringt es mit fich, daß der Glaube zur Seligkeit, der Unglaube zur Unseligkeit und Derdamnmiß führt; daß» wenn das Böse mit dem Guten in Kampf tritt, es unterliegen und sich seinen eigenen Untergang bereiten muß. Und so wie Christus auf dieser Erde wußte, was in einem jeden Menschen war, so weiß er auch als ewiger Rich­ ter der Seelen mit göttlicher Allwissenheit, was ein Jegli­ cher gethan und wie er gelebt hat: da geht kein Betrug noch Irrthum vor, vor der Sonne der ewigen Wahrheit kann sich nichts verbergen noch entstellen; das göttliche Gericht ist stets gerecht. Der Gedanke an die göttliche Gerechtigkeit beruhige und tröste uns, wenn unsere Seele von dem Hinblick auf jene letzte, große Entscheidung erschüttert wird. Sic ist un-

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trüglich, und richtet immer gerecht, auch wenn ihr Urtheil schwere Strafe verhängt. Sie ist aber auch mit der gött­ lichen Barmherjigkeit so eng verbunden, daß die eine nicht ohne die andere zu denken ist. Wir dürfen glauben, daß, wo die Gerechtigkeit waltet, auch die Barmherjigkeit mit wirksam ist, und daß das Strafurtheil der erstem zugleich «in Werk der zweiten ist. Wenn wir daher den Gedanken einer ewigen Verdammniß unerträglich finden, so laßt uns dagegen Trost in dem Gedanken an die göttliche Barmher­ zigkeit suchen; der Allliebcnde wird auch gegen diejenigen, welche das Urtheil der Verdammniß trifft, die Barmherzig­ keit nicht vergessen, wenn wir auch nicht begreifen, wie er dieselbe an ihnen beweisen wird. Ueber das ewige Schicksal der Menschen haben wir nicht zu richten, sondern alles Urtheil darüber Gott und Christo anheim zu stellen. Fern sei von uns die lieblose Anmaßung, Andern, sie mögen uns noch so böse und un­ gläubig erscheinen, die ewige Verdammniß zuzusprechen. Aber Manche von uns haben in menschlichen Angelegenhei­ ten zu richten und zu strafen, und diesen gelte cs als Grund­ satz, daß sie richten, wie sie hören, wie ihnen die göttliche Stimme der Wahrheit im Inneren sagt, u n d d a ß sie nicht ihren Willen, sondern den Willen des himmlischen Vaters suchen, nichts als der Gerechtigkeit dienen und ihre Geltung im menschlichen Leben behaupten, alle selbstsüchtigen Absichten aber, alle Leiden­ schaft und Rachsucht von.sich fern halten sollen. Dann wenn sie ein hartes Urtheil fallen und vollziehen müssen, das ihrem mitleidigen Herzen wehe thut, werden sie in dem Bewußtsein, daß ihr Gericht recht ist, Trost und Beruhigung finden, und niemand wird sie deßwegen tadeln oder ihnen zürnen.

Dritter Abschnitt. (V. 31—40.)

Jesus las in den Gesichtszügen seiner Gegner, daß sie ihm wegen den vorigen über sich selbst ausgesprochenen Br-

hauptungrn Ruhmredigkeit Schuld gaben. Ueberall und zu allen Zeiten gilt Eigenlob als sehr zweideutig, und zieht den Verdacht der Eitelkeit und Großsprecherei auf sich. Daher sagt Jesus: So ich von mir selbst zeuge, so ist mein Zeugniß nicht wahr (D. 31.), das heißt, wenn ich aus eitler Einbildüng und Ruhmsucht, und ich allein ohne fremde Bestätigung, von mir zeuge, so verdiene ich keinen Glauben. Lin Anderer ist es, der von mir zeuget, und ich weiß, daß das Zeugniß wahr ist, das er von mir zeuget (V. 3 a.): nämlich Jo­ hannes der Täufer, welcher, wie wir wissen, das Zeugniß abgelegt hatte, daß Jesus der Christ sei. Ihr schicktet zuJohannes und er zeugete von der Wahrheit (V. 33.). Johannes stand nicht nur in großem Ansehen bei dem Volke, sondern war auch ein von Gott gesandter, heilig begeisterter Prophet, welcher die höchste Glaubwürdig­ keit verdienter auf dessen Zeugniß konnte sich also Jesus wohl berufen. Die Juden hatten ja selber eine Gesandt­ schaft an ihn abgeordnet, und aus seinem Munde das Zeug­ niß vernommen. Aber selbst diese Berufung auf ein frem­ des Zeugniß konnte man Jesu mißdeuten, und vielleicht merkte er, daß man auch dazu geneigt war. Darum setzt er hinzu: Ich hasche nicht nachZeugniß von Men­ schen; sondern solches sage ich, auf daß ihr selig werdet (D. 34.), b. h. ich berufe mich nicht auf Johannes Zeugniß aus Eitelkeit und Ehrsucht, um mich dadurch vor den Augen der Menschen groß ju machen, son­ dern um euch dadurch zum Glauben an mich zu bewegen, euch von meiner göttlichen Sendung und der Wahrheit mei­ ner Lehren zu überzeugen, damit ihr durch den Glauben selig werdet. Alles, was Jesus redete und that, hatte das Heil der Menschen zum Zweck; nie war es ihm um seinen persönlichen Vortheil oder Ruhm zu thun. Wir kommen allerdings bisweilen in den Fall, uns gegen Verleumdung oder Herabsetzung durch eigenes oder fremdes Zeugniß gel­ tend zu machen; allein dieß geschehe immer nur, um unsere Wirksamkeit zu erhöhen, und diese habe nur das Beste An-

derer zum Zwecke. Kann es geschehen, daß wir Gutes wirken, ohne persönlich anerkannt und geachtet ju sein, so «ollen wir gern im Dunkeln bleiben, und nicht nach Zeug­ niß von Menschen Haschen. Die Berufung auf Johannes den Täufer war vergeb­ lich im Angesicht von Menschen, welche das Zeugniß dieses Mannes, wie seine ganze Predigt, ohne Aufmerksamkeit und Ernst angehört hatten. Er war ein brennendes und scheinendes Lichtrihr aberwolltet eine kleine Weile fröhlich sein von seinem Licht (23. 35.). Johannes war als Zeuge von der Ankunft Christi, als Pre­ diger der Buße, als Herold der göttlichen Wahrheit, ein brennendes und scheinendes Licht in der Finsterniß der Zei­ ten; er war nicht das wahre, ewige Licht selbst, sondern er jcugte von dem Licht (Cap. >, 8.); aber indem er von diesem zeugte, war er selbst ein Verbreiter des Lichts. Dabei hatte die Art, wie er predigte und wirkte, viel Ausgezeich­ netes und Auffallendes; er trat in der Wüste auf, wo er ein einsiedlerisches, enthaltsames Leben führte; er trug die Kleidung eines alten Propheten: er taufte, was ganz un­ gewöhnlich war; er sprach in starken, bildlichen Ausdrücken, welche die Hörer erschütterten und rührten; in dieser Hin­ sicht vergleicht ihn Jesus treffend mit einem brennenden Licht, welches in der Finsterniß die 2lugcn mehr auf sich zieht, als das helle Tageslicht oder das sanfte strahlende Licht eines Sternes. Welchen Eindruck aber machte diese Er­ scheinung auf die Menschen? Sie benutzten sie als ein Mittel, fröhlich zu sein, sich zu unterhalten und zu ergötzen; sie hörten und sahen ihn gern, aber ohne ernstlichen Zweck und ohne wahren Nutzen; der empfangene Eindruck ver­ schwand bald wieder, ohne eine Spur zu hinterlassen. — Die bedeutendsten Erscheinungen in der geistigen Welt wer­ den vom großen Haufen der Menschen, und selbst von Viclen, die sich für gebildet halten, nur dazu benutzt, fröhlich zu sein von ihrem Lichte. Man hört und liest gern ausge­ zeichnete Prediger und Schriftsteller, und beschäftigt sich viel mit ihnen, so daß man von der Theilnahme, welche sie

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erregen, bedeutende Folgen rrwartrn sollte. Aber es fehlt den Meisten der Ernst, sie betrachten Alles nur als Spiel, als Tagsgespräch, als Modrsache, und ihr Herz weiß nichts davon. Ach! daß selbst das Christenthum, daS reine Himmelslicht, von Dielen nur als ein Mittel, fröhlich zu sein, sich damit zu unterhalten, die Geistesleere auszufüllen, oder wohl gar ihrer Sinnlichkeit durch den Reiz lebhafter Bilder und frommer Gefühle zu schmeicheln, gemißbraucht wird, denn alles ist ein leeres Spiel, was keine tiefe, ent­ scheidende Wirkung auf die Gesinnung macht, und keine gute Früchte für das Leben trägt. Das Zeugniß des Johannes war wohl nicht ohne Wichtigkeit, indem es die Menschen auf Jesum hinwies; aber ein fremdes Zeugniß ist immer nur mittelbar und mithin nicht entscheidend. Ich habe ein größeres Zeug­ niß, dennJoHannes Zeugniß; denn dieWerke, die mir der Vater gegeben hat, daß ich sie vollende, dieselbigtn Werke, die ichthue, zeu­ gen von mir, daß mich der Vater gesandt habe (D. 36.). Das unmittelbare und untrügliche Zeugniß, das für einen Menschen spricht, ist seine Handlungsweise und Wirksamkeit: darin tritt das, was er in sich tragt, sichtbar und vernehmbar hervor, sein inneres Licht wirft seinen Abglanz in die Außenwelt. Er ist es selbst, der von sich zeugt, aber nicht durch die Behauptungen seines Mundes, sondern durch das, was er ist, als was er sich in der Welt geltend macht. Unter den Werken, welche von Jesu zeugten, haben wir nicht allein seine Wunderthaten, sondern seine ganze Wirksamkeit zur Erlösung der Menschen zu verstehen, alles was er that um sie zu erwecken, zu bes­ sern , zu erleuchten, zu Gott zurückzuführen. So gehörte es zur Vollendung des Werkes Gottes, daß er die Siche« miten für daS Reich GotteSgewann (Kap. 4, 34.). Diese Wirksamkeit Jesu dauert auch noch unter uns fort, während wir seine Wunder nicht schauen können; sein Geist ist unter uns noch wirksam in Erweckung und Erleuchtung der Men­ schen ; das Werk der Erlösung vollendet sich fort und fort

1-40 on allen, die an ihn glauben. Und diese Wirksamkeit ist auch für uns das unmittelbarste Zeugniß von Jesu, daß ihn der Vater gesandt habe» denn es spricht in unserm Herzen selbst, welches Christi Kraft an sich erfahrt»- wir brauchen dann kein anderes, äußeres Zeugniß, und sind in uns selbst fest und gewiß. Auch wir sollen so leben und wirken, daß die Werke, die wir thun, von uns zeugen, daß wir mit der Wahrheit und Gerechtigkeit umgehen, daß wir Gott dienen und seinen Willen vollbringen. Lasset euer Licht leuchten vor den Leuten, daß sic eure guten Werke sehen, und-euren Vater im Himmel preisen (Matth. 5, iti.). Wir sollen unser Inneres darstelle» vor den Augen der Welt, unsern Geist, unsere Gesinnung in unsern Hand­ lungenabspiegeln: dann bedürfen wir keiner fremden Empfeh­ lungen und Zeugnisse. O wohl dem, der sich mit solcher Zuversicht, wie Jesus, auf seine Werke berufen kann, wer sich nicht nur des Guten, der reinen Gesinnung bewußt ist, sondern auch in seiner Handlungs« und Wirkungsart einen festen, starken, reinen Willen beweist, so daß er sich selbst in Allem gleich bleibt, und das Aeußere dem Inneren ent« spricht! Und der Vater, der mich gesandt hat, der« selbige hat von mir gezeugt tj8. 07.;. Gott, der in Jesu war, hat durch ihn selbst von ihm gezeugt, näm­ lich durch seine Werke und die ganze Erscheinung seiner Per­ son, in welcher sich die Fülle der Gnade und Wahrheit offen­ barte. Wer Jesum sah, der sah den VaterlKap. 12, 45.). Jesus zeugte durch das, was er war und that, nicht nur für seine göttliche Sendung, sondern auch für seine gänzliche Einheit mit dem Vater. Durch seinen Mund sprach Gott» durch seine Hand wirkte Gott, seinen Geist erfüllte ganz der göttliche Geist. Wie durch den reinen Krystall das Licht der Sonne ungetrübt hindurchsirahlt: so erschien in der reinen, heiligen Persönlichkeit Christi, in seiner fchlund sündlosen Lehre und Wirksamkeit, ungetrübt Gott selbst und seine heilige Wahrheit.

Aber freilich, wer Gott in seinen Offenbarungen erken­ nen soll, der muß einen brS Göttlichen empfänglichen Sinn, ein reines, geweihetes Auge und Ohr haben; und das alle­ fehlte den Juden, mit denen JesuS sprach: Ihr, sagt er zu ihnen im Tone des schmerzlichen Unwillens, ihr habt nie weder seine Stimme gehört, noch seine Gestalt gesehen; und seinWort habt ihr nicht in euch wohnend (93. 37. 38.). Man kann Gott nicht mit leiblichen Augen sehen, noch mit leiblichen Ohren hören» Jesus spricht von geistlicher, innerer Anschauung und inne­ rer Vernehmung, was er deutlicher durch den letzten Aus­ druck fagl: Ihr habt fein Wort nicht in euch wohnend. Das Wort Gottes in fich wohnend haben, heißt nichts anders, als in fich selbst ein Gefühl, ein Ver­ ständniß für göttliche Offenbarung, für göttliche Wahrheit haben, durch daS Herz und den Geist vernehmen, was Gott wohlgefällig, seinem Wesen und Willen gemäß ist. Daß aber die Juden diese Empfänglichkeit für das Göttliche nicht hatten, das bewiesen sie durch ihren Unglauben gegen Jesus. Denn ihr glaubet dem nicht, den er gesandt hat (93. 38.). Wer den Willen, die Gesinnung eines Königs kennt, der wird demjenigen glauben, den er gesandt hat, der dessen Willensmeinung verkündigt. Wer die göttliche Wahrheit hat, oder wenigstens für dieselbe empfänglich ist, der glaubt demjenigen als Gottgesandten, der diese Wahrheit verkündigt; wer ihm hingegen nicht glaubt, der beweist dadurch, daß er keinen Sinn für das Eöttliche hat. Es gehört, wie wir aus dieser Rede Jesu lernen, eine gewisse Empfänglichkeit für das Göttliche dazu, um an Chri­ stum zu glauben. Man muß außer ihm göttliche Offen­ barung zu vernehmen im Stande sein, wenn man sie in ihm recht erkennen soll. Damit wir nun im Glauben an ihn recht lebendig und fest werden, so laßt uns diesen Sinn für das Göttliche in uns pflegen und bilden! Wir schauen di« Gestalt Gottes, außer der Person Christi, in Gottes wun­ derbarer Schöpfung und in seiner weisen Vorsehung; wir

hören seine Stimme in der Stimme unseres Gewissens und eines jeden guten, wahrheitliebenden Menschen. Laßt uns diese natürliche, allverbreitete Offenbarung Gottes mit offenem Sinn und reinem Herjen vernehmen, dann werden wir die christliche Offenbarung desto besser verstehen und würd,', gen. Nur wer Gott überall siehet und höret in seinen manaichfaltigen Erweisungen, wird ihn in der Person Christi lebendig erkennen. Und wie selig ist der, der Gott überall erkennt, der sein allverbreitctes Licht mit den Augen des Geistes schaut, der das Wehen seines allmächtigen Geistes in sich aufnimmt, und so stets in Gottes Nähe lebt und mit ihm in Gemeinschaft steht! Da Jesu Gegner keinen Sinn für die göttliche Offen­ barung in der Natur hatten, so verwies er sie auf di« Schrift. Suchet in der Schrift, denn ihr meinet, ihr habt das ewige Leben darinnen; und sie ists, die von mir zeuget (D. 3g.). Die Juden hielten viel auf die heil. Schrift, welche ihnen von den Vätern überliefert war; sie glaubten darin alles Heil ju finden, wie denn auch darin der Wille Gottes geoffenbart war. Darin sollten sie nun forschend die Hinweisung auf Christum suchen, indem sie von ihm jruge. Welche Zeugnisse meint wohl Jesus? Schwerlich bloß einjrlne Stellen, Weissagungen auf den Messias, welche dessen Werke und Schicksale andeu­ ten. Solche Weissagungen erkannten die Inden und schlos­ sen j. B. aus der einen, daß er ju Bethlehem geboren wer. den müsse (Matth, a, 5.); aber dieß hinderte nicht, daß sie den wahren Messias, welches Jesus war, verkannten und verachteten. Einjrlne Stellen können überhaupt kein Zeug­ niß geben, welches überzeugt und jur rechten Erkenntniß führt. JesuS will sagen, daß die ganze heilige Schrift deS alten Bundes, die ganze alte Offenbarung ihrem Geiste und ihrer Richtung nach, auf ihn hinführe; und so ist eS in der That. Alles in der alttestamentlichen Offenbarung, Gesetz, Gottesdienst, Geschichte, Weissagung, strebt und deu­ tet auf Christum hin, als denjenigen, der Alles vollenden soll; wir im Keime die Knospe und Blume vorbereitet und

iko

angedeutet liegt , so finden fich im alten Bunde die Anlagen jum vollkommener», christlichen Leben; es zieht fich durch die heiligen Bücher bald deutlicher, bald dunkler ein Därnmerungslicht, das den Aufgang des Sonnenlichts in Chri­ stus ankündigt; alle frommen Herzen schlagen ihm sehnsuchts­ voll entgegen. Diese Hindeutungen auf Christum aufzu­ suchen und zu verstehen, ist ein fruchtbares, erweckliches Geschäft, auch für uns, indem wir dadurch unserer eigenen Sehnsucht nach ihm und unseres Bedürfnisses feiner Hälfe bewußt werden. Aber auch dazu gehört Empfänglichkeit und offener Sinn, welcher den Juden fehlte. Sie hatten den rechten Willen nicht, bas zu finden, was zu ihrem Heil diente. Und ihr wollt nichtzu mir kommen, daß ihr daS Leben haben möchtet (D. 4o.). Eg liegt eigentlich immer am Willen des Menschen, wenn er nicht glaubt und nicht selig wird. Nicht als ob er nicht d«S göttlichen Beistandes bedürfte; aber wenn er nur einen rechten Trieb und eine aufrichtige Begierde nach der Selig­ keit hat, und sein Hersfür die beseligende Kraft des göttlichen Geistes ausschließt; (b wird ihm daS Heil gewiß kommen, er wird glauben und selig werden. Vierter Abschnitt. (SB. 41 — *7.)

Uebtlwollende konnten Jesu verwerfen, er geb« fich gar zu viel Mühe, die Juden für fich zu gewinnen; er thue das gewiß aus Eitelkeit und Ehrsucht. Darum sagt Jesus; Ich hasche nicht nach Ehre von Menschen (D. 4i.). Ihm lag es nicht daran, von den Menschen geehrt, durch ihren Beifall, ihren Anhang gehoben und verherrlicht zu werden. Sein Reich war nicht von dieser Welt, seine Absichten gingen nicht auf weltliche Macht und Herrschaft; sondern er wollte nur das Werk vollbringen, das ihm der Vater aufgetragen; und da er dieses nur dadurch vollbrin­ gen konnte, daß die Menschen an ihn glaubten, so suchte er sie für diesen Glauben zu gewinnen. Aber ich kenne

i44 euch, daß ihr nicht Gottes Liebe in euch habt (V. 42.). Bei ihnen war dieses sein Bestreben fruchtlos. Das Werk Gottes war ihnen fremd, weil fie Gottes Liebe nicht in sich hatten, weil ihnen nicht am Herzen lag, was Gott wohlgefällig ist: und darum glaubten sie dem nicht, der nichts als das Werk Gottes vollbringen wollte. Sie liebten nicht die Wahrheit, Gerechtigkeit, Frömmigkeit, und so fand derjenige bei ihnen keinen Beifall, der nur für Wahrheit, Gerechtigkeit und Frömmigkeit lebte und wirkte. Ich bin gekommen in meines Vaters Na­ men, und ihr nehmet mich nicht an. So ein Anderer wird in seinem eigenen Namen kom­ men, den werdet ihr annehmen (V. 4z>). In Je­ mandes Namen kommen heißt an seiner Stelle und in dessen Auftrag handeln und wirken: in Gottes Namen kommen also, an Gottes Stelle und aus Gottes Auftrag handeln und wirken. Jesus wollte nichts für sich, und unternahm nichts von sich selbst, aus selbstsüchtigem Triebe oder aus eigenmächtiger Willkür; sondern er wollte nur Alles für Gott und Gottes Sache, für Wahrheit, Gerechtigkeit und Frömmigkeit, und handelte nur aus göttlichem Auftrag, aus reinem heiligen Triebe; er war frei von allen selbstsüchtigen Absichten der Ehr- und Herrschsucht. Eben darum konnte er auch die Selbstsucht Anderer nicht locken und befriedigen; er konnte ihnen nicht weltliche Ehre und Herrlichkeit ver­ heißen, sondern mußte ihnen vielmehr auflegen, für Gottes Sache Alles zu leiden. Aber dieß war der Grund, daß er bei so wenig Menschen Glauben fand; denn die Meisten wollen nur sich selbst und ihren Vortheil. Kommt hingegeil Jemand in seinem eigenen Namen mit selbstsüchtigen Absich­ ten, so begünstigt er auch die Selbstsucht der Anderen, und wird von ihnen angenommen. Als einige Zeit nachher ein falscher Messias, der sich Barchochaboder Sohn des Sternes nannte, unter den Juden auftrat, hingen sie ihm haufenweise an; denn er kam in seinem eigenen Namen, er wollte aus weltlicher Ehrund Herrschbegierde ein weltliches Reich aufrichten, und

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schmeichelte dadurch der Selbstsucht, der Herrsch, und Rach, sucht seiner Volksgenossen. Wie könnet ihr glauben, die ihr nach Ehre von einander haschet? Und die Ehre, die von Gott allein ist, suchet ihr nicht (V. 44.). Die Juden, wie alle irdisch gesinnten Menschen, suchten nicht, was Gott wohlgefällig ist, nicht «aS seinem Willen gemäß ist und seinen Beifall verdient — Ehre von Gott ist Beifall von Gott—r denn dann hätten sie müssen ihrer Selbst, sucht und ihrer Liebe zu den irdischen Gütern entsagen, indem nur der Wahrhafte, Gerechte und Fromme Ehre oder Bei» fall von Gott hoffen kann. Sie suchten und haschten nach menschlicher Ehre und Beifall, sie suchten durch Befriedigung fremder Lust und Selbstsucht die Befriedigung ihrer eigenen; indem sie der Ehr« und Herrschsucht Anderer dienten, such« len sie dadurch für sich selbst Ansehen, Geltung und Einfluß zu gewinnen. Eben deßwegen aber konnten sie nicht an Jesus glauben, welcher selbst nur Ehre vor Gott suchte, und auch von Andern verlangte, daß sie nichts als diese suchen sollten. Es ist eine gar wichtige Wahrheit, daß die Menschen bei den Selbstsüchtigen um so mehr Beifall und Anhang finden, als sie der eigenen Selbstsucht dienen, sobald sie nur nicht gerade feindlich gegen sie auftreten, sondern einen gemeinsamen Zweck der Selbstsucht verfolgen. Der Habsüch. tige kann auf die Unterstützung der Habsüchtigen rechnen, wenn er ihnen einen Antheil an dem zu machenden Gewinn verspricht, wogegen der Uneigennützige alle diejenigen gegen sich hat, denen er durch seine Strenge hinderlich und lästig wird. Der Herrschsüchtige gewinnt eine Menge Helfer und Werkzeuge, wenn er sie nur an seiner Herrschaft Theil neh. men laßt, oder ihnen die Knechtschaft durch Reichthum und Wollust vergütet. Ein Lehrer, der ohne wahre Liebe zur Wahrheit sich selbst, seinen Eigensinn und seine Willkür, in dem, was er lehrt, geltend macht, wird zwar bei den achten Wahrheitsfrrundcn keinen Beifall finden, dagegen werden ihm alle diejenigen anhangen, welche mehr von der Sonder« Bibi. Erbauungsb. 1.

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barfeit, dem Auffallenden und Neuen, als der Gediegenheit angezogen werden: und noch mehr wird er Beifall finden, wenn er dem Hang zur Trägheit, zur Sinnlichkeit, jum ler« reit Spiel mit Bildern und Formeln Vorschub thut. Daraus erklärt sich, daß es Jrrlchrcrn fast immer gelungen ist, «inen Anhang zu finden und eine eigene Schule zu bilden, und daß die Erforschung der Wahrheit sich immer von einem Arußersten zum Andern, von einer Uebertreibung zur andern, hin und her bewegt hat, während immer nur Wenige in der rechten Mitte geblieben sind, welche aber gewöhnlich vom großen Haufen der Nachtreter verlassen waren. Das reine Licht der Wahrheit zieht nur Wenige an, aber das bunte Gaukelspiel des Irrthums lockt die Menge herbei. Jesus hatte seinen Gegnern unumwunden die Wahrheit gesagt, und ihnen ihr Inneres aufgedeckt. Der ernste, strenge Ton, in welchem er sprach, konnte die Mißdeutung veranlassen, als werfe er sich zum Richter über sie auf. Ein Richter aber, der von dem Verklagten und Verurtheiltrn nicht anerkannt wird, ist, selbst wenn er gerecht richtet, im« mer dem Verdacht ausgesetzt, als handle er aus Selbst« und Partheisucht. Diesen Schein will Jesus vermeiden. Ihr sollt nicht meinen, daß ich euch vor dem Vater verklagen werde (V. 45.). Indem sie ihn, den Gesandten und das Ebenbild des Vaters, verwarfen, so verwarfen sie den Vater selbst, und sündigten gegen ihn, und Jesus konnte sie deßwegen anklagen, d. h. er konnte sie des Ungehorsams und der Sünde gegen Gott zeihen. Beim Vater verklagen, heißt so viel als die göttliche Strafgerech« tigkeit in Anspruch nehmen, und Jesus hatte auch den Aus­ druck: richten, sich zum Richter auswerfen, gebrauchen kön« nen. Aber da die Juden ihn nicht als Gesandten des Vaters anerkannten, so hätte dieses Verklagen oder Richten den Schein der Eigenmächtigkeit und Parthcilichkeit auf sich ge­ laden, und darum wollte es Jesus nicht thun. Es ist Einer, dereuch verklagt, dcrMoses, auf wel« chen ihr hoffet (V. 45.). Moses und dessen Gesetz erkannten die Juden an, an ihn glaubten, auf ihn hofften sie:

ihn durften sie daher als Richter oder Ankläger nicht vcrwerfen. Nun aber enthielt das mosaische Gesetz und das ganze alte Testament den Maßstab, nach welchem gemessen daS Betragen der Juden als straffällig erschien. Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben. So ihr aber sei» nen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinem Worten glauben? (V. 46. 47.). Die Offenbarung durch Mose deutete, wie wir vorhin gesehen, auf Christum hin, theils in ausdrücklicher Weissagung (1 Mos. 4g, 10.), theils in Vorbild und Vorgang, und überhaupt im ganzen Geist und in der ganjen Richtung. Hatten nun die Juden an Moses wahrhaft geglaubt und seinen Geist aufgefaßt, so hätten sie auch an Christum glau­ ben müssen. Darum richtete sie Mose wegen ihres Unglau­ bens ; sein Gesetz, seine Schriften enthielten die von ihnen nicht zu verwerfende Regel, nach welcher sie vor Gott straf­ bar waren. Hieraus können wir zwei wichtige Wahrheiten ju un­ serer Beherzigung ziehen. Erstens, jede neue Wahrheit ist in der alten wenigstens als Keim und Andeutung enthalten. Es ist überhaupt keine Wahrheit abgerissen und ohne allen Zusammenhang; der Strom der Wahrheit ist nur Einer, und in demselben hängt Alles, wie ein Tropfen am andern, zusummen. Eine Neuerung, eine Verbesserung in Lehre und Leben ist gewiß nicht die rechte, wenn sic sich nicht an daS Alte anschließt, und nicht gelingen kann, ohne daß dieses ganz zerstört und über den Haufen geworfen werde. Ein neuer Lehrer, welcher alle früheren Lehrer verachtet, und ihnen in allem widerspricht, geht gewiß nicht mit der Wahr­ heit um. Wie kann man dem Neuen glauben, wenn man sich in seinem alten Glauben ganz betrogen sieht? Man wird dann an sich selbst und der Wahrheit irre. Zweitens, haben wir neue Wahrheiten vorzutragen, so sollen wir sie an die alten anknüpfen, und die Menschen dadurch von densel­ ben überzeugen, daß wir ihnen die Uebereinstimmung des Alten und Neuen ins Licht setzen. Wollen sie uns nicht K 2

i48 glauben, so sollen wir nicht über Verkennung und Verach­ tung klagen, und uns nicht ju Richtern über sie auswerfen, sondern unS auf ihr eigenes Gewissen, auf die von ihnen selbst anerkannte Wahrheit berufen, und sie so über sich selbst richten lassen. In dieser ganzen Rede Jesu erscheint seine göttliche Reinheit und seine Einheit mit dem Vater im hellsten Lichte. Er wirket wie der Vater, er belebt mit dessen Kraft, er richtet nach dessen Urtheil; er zeuget nicht von sich selbst, sondern der Vater zeuget von ihn,» durch das, was er durch ihn wirket; er suchet nicht Menschen-Beifall und Gunst, sondern allein den Beifall Gottes, indem er nur für die Voll­ ziehung seines Willens lebt und wirket. Und in dieser Rein­ heit und Gotteseinheit spricht er mit einer Einfachheit und Anspruchlosigkeit, mit einer Ruhe und Leidenschaftlofigkeit, welche unser Herz mit sanfter, aber unwiderstehlicher Ge­ walt an sich zieht. Es ist eine Majestät, welche nicht schreckt, noch in Erstaunen versetzt, welche aber ein unnennbares, tie­ fes Gefühl der Demuth, der Hingebung, der Anbetung in unserm Herzen erweckt. O Jesus, Gottes Sohn, Erhabener, Heiliger! ich beuge meine Kniee vor deiner Größe, ich strecke meine Hönde nach dir aus, ich bringe dir mein Herz voll Ergebenheit darr nimm mich an, daß ich dein eigen sei und bleibe! —.

Kap. 6, i — 3i.

Die Speisung der fünftausend Mann. Darnach fuhr Jesus weg über daS Meer an der Stadt Tiberias in Galiläa (D. i.). Und es zog ihm viel Volks nach, darum daß fit die Zeichen sahen, die er an den Kranken that (D a.).

Jesvs aber wollte sich gerade dem Andränge des Volks ent­ liehen, welche- nichts als Wunder von ihm verlangte, imb für nichts Anderes Sinn hatte. Auch fühlte er, wie cs scheint, das Bedürfniß der Einsamkeit und Stillt. Er ging hinauf auf einen Berg, und setzte sich daselbst mit feinen Jüngern (SB. 3.). Er liebte besonders die Einsamkeit in der freien Natur, auf den Ber­ gen; und wo fühlt man sich auch der Gottheit näher, wo ist man mehr aufgelegt zu frommen Betrachtungen? Man ist da vom Geräusch der Welt entfernt, da schweigen die An­ sprüche und Sorgen des alltäglichen Lebens; da liegen tief unter unS die irdischen Angelegenheiten; die Ruhe der Na­ tur flößt auch dem Herzen Ruhe ein, und in dieser Stim­ mung erhebt man sich leichter zu dem Gedanken an das Ewige. — Es war aber nahe die Ostern, der Juden Fest (V- 4.). Darin lag die Veranlassung, daß so viel Volks Jesu nachzog. Es waren solche, welche das Fest besuchen wollten, und auf dem Wege die Gelegenheit benutzten, diesen großen Wunderthäter zu sehen. D a h o b Jesus seine Augen auf, und siehet, daß viel Volks zu ihm kommt, und spricht zuPhilippo: Wo kaufen wir Brod, daß diese essen? (SB. 5.). Es war eine entlegene Wüste, in welche das SBolf Jesu nach­ zog, wo man keine Lebensmittel haben konnte; und es war vorauszusehen, daß das Volk in Mangel gerathen konnte. Jesus war durch die fromme, betrachtende Zurückgezogen­ heit den menschlichen Angelegenheiten und der Sorge für das Wohl seiner Brüder nicht so entfremdet, daß er nicht gleich an das dachte, was die Menschenliebe foberte. Macht die fromme Betrachtung diese Wirkung, daß man dadurch gleichgültig für Mcnschenwohl und Mrnschenweh wird: so ist sie gewiß nicht die rechte. Dann erst nähert man sich Gott recht, wenn man sich dem Nächsten mit reiner Bruder­ liebe nähert, wenn Herz an Herz mitfühlend schlägt. Dieses liebevolle, vorsorgende Hinblicken Jcs» auf das herannahende Volk mitten in seiner stillen Betrachtung und in feiner den heiligste« Dingen gewidmeten Unterredung mit den Jüngern

sei uns Vorbild in jeder Lage des Lebens. Nie wollen wir das Auge von den Brüdern abwenden, nie uns in uns selbst verschließen! Die Rede Jesu aber: Wo kaufen wir Brod, daß diese essen? war nicht etwa der Ausdruck der ängstlichen Sorge, oder der Ratlosigkeit.

Das sagte er,

ihn

zu versuchen; denn er wußte wohl was erthun wollte lV. 6.). Seine Absicht war, den Philippus zu prüfen, ob er sich auch der Sorge für das Volk annehmen, und wie er überhaupt diesen Fall ansehen werde. Er wollte die Handlung der Mildthätigkeit, die er zu verrichten im Begriff war, zu einer gemeinschaftlichen machen, und seine Jünger daran Theil nehmen lassen. Er wollte auch die etwa vorhandenen Mittel kennen lernen. Denn auch hier, wie auf der Hochzeit zu Kana, bediente er sich dessen, was ihm die Umstände darboten. Nie verachtete er, seiner höhe­ ren Kraft sich überhebend, die natürlichen Mittel, welche vorhanden waren. So war seine Handlung nicht allein wohlthätig für die Hungrigen, sondern zugleich sittlich bil­ dend und erhebend für seine Jünger. Er lehrte sie wohl­ thätig sein, sich des Vorhandenen zum Besten der Nebenmenschen bedienen, und verschaffte ihnen das belohnende Ge­ fühl, etwas Nützliches geleistet zu haben. Hierin ist Chri­ stus Muster für Eltern und Erzieher, welche ihre Zöglinge auf ähnliche Weise zu wohlthätiger, nützlicher Wirksamkeit anleiten sollen; ja für uns alle ist er Muster, denn auch wir sollen wo möglich alles, was wir vornehmen, in Gemein­ schaft verrichten, und von dem, was wir allein vollbringen könnten, die Freude und den Ruhm mit unsern Brüdern theilen. Philippus antwortete ihm: ZweihundertDrachmen werth Brodes ist nicht genug unter sie, daß ein jeglicher unter ihnen ein wenig nehme (V. 7.). Philippus betrachtet die Sache als sehr schwierig (und in der That mochte der Aufwand von zweihundert Drachmen zu stark für die Kasse Jesu sein; auch hätte man selbst mit dem vorräthigen Gelde nicht so viel Brod zu kaufen bekommen), Philippuö sieht bloß die Schwierigkeit, ohne

einen Rath dafür zu wissen.

Vielleicht kannte ihn JesuS

schon von sonst her als bedenklich und kleinmüthig, nnd wollte ihm bei dieser Gelegenheit eine kehre geben. Spricht zu ihm einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder Simonis Petri: Es ist ein Knabe hier, der hat fünf Gerstenbrode und jween Fische; aber was ist das unter so Viele? Dieser Jünger weiß schon etwas Rath. So pflegt cs zu geschehen: wenn wir eine Sache gemeinschaftlich betreiben, so bietet Einer dem Anderen mit Rath und That die Hand, und was der Eine nicht weiß oder vermag, das weiß oder vermag der Andere. Jesus laßt sich durch den geringen Vorrath von Le» bensmitteln nicht abschrecken. Wie wenig er die Vorhände, neu Mittel verachtete oder bei Seite liegen ließ, eben so wenig ließ er sich durch ihre Unjufriedenheit von dem wohl, thätigen Unternehmen abhalten. Er schritt ohne weiteres zur Speisung. Er vertraute der ihm inwohnenden Kraft und dem göttlichen Segen. So sollen wir auch stets sowohl auf die von Gott in uns gelegten Kräfte als auf den göttlichcn Beistand und Segen vertrauen, und in diesem Der» trauen handeln, selbst wenn uns nur geringe Mittel zu Ge« böte stehen. Gott wird das Geringe mehren, das Schwache stärken. Haben wir auch nur wenig mitzutheilen, so sollen wir es doch mit Vertrauen darreichen. Wer weiß, ob nicht unser geringer Beitrag der Anfang und das Mittel größerer Hülfe wird? Und immer wird unsere Gabt, als rin Be« weis unserer Bereitwilligkeit zu helfen, den Bedürftigen wohlthun und sie erfreuen. Oft haben schon wohlthätige Menschen große Werke zur Unterstützung der Armuth, der verwaisten und verwilderten Jugend, mit wenigen Mitteln unternommen, und der Herr hat sie wunderbar gesegnet, in­ dem dadurch andere mitleidige Herzen erweckt wurden. Vcrtrauen und Liebe können Wunder wirken, und alle klein» wüthige menschliche Berechnung zu Schanden machen. Jesus sprach: Schaffet» daß sich das Volk lagere.

Es war aber viel Gras an dem

Ort.

Da lagerten sich bei fünftausend Mann

(23. 10.). Beim Evangelisten Markus lesen wir (Kap. 6, 3g.), daß Jesus das Volk Gesellschaftsweise lagern ließ je hundert und je fünfzig. Dieß wollte er wohl nicht bloß der Ordnung wegen, sondern zur Beförderung der Gesellig­ keit und Eintracht. Er wollte durch diese Handlung der Wohlthätigkeit nicht nur zwischen sich und dem Volke das Band der Liebe knüpfen, sondern auch das Volk unter sich befreunden, die Einzelnen und die verschiedenen Reisegesell­ schaften einander nähern und einen allgemeinen Geist der Liebe verbreiten. Ein geselliges Mahl befördert die allgcmeine Heiterkeit und durch diese das Wohlwollen. Deßwegen ist eS keine überflüßige Bemerkung des Evangelisten, daß an dem Orte viel Gras gewesen sei, welches die Bequemlich­ keit des Lagcrns, und so ebenfalls die Heiterkeit erhöhete. Zugleich wollte Jesus die Menschen lehren, wie sie mitthei­ lend und gastfrei gegen einander sein sollten; denn sie muß­ ten einander die von Jesu und den Jüngern empfangene Speise reichen, und so wenigstens von fremder Gabe ein­ ander mittheilen; die fünftausend Mann sollten eine Familie bilden, deren Hausvater er war. Die Gemeinschaft, die Eintracht ist zu allem Guten nothwendig. Dem Einzelnen kann nichts gelingen, den Verbundenen alles. Durch die Gemeinschaft vereinigen sich die zerstreuten Kräfte und wer­ den dadurch zum gewaltigen Strome. So lehrt uns Jesus, wie wir Allem, auch der geringsten Angelegenheit, eine sitt­ liche Bedeutung und Beziehung geben, und mit dem leib­ lichen Wohle des Nächsten zugleich sein geistliches bezwecken sollen. Nicht darauf bloß kommt es an, daß dem Noth« leidenden der Hunger und andere Bedürfnisse gestillt werden, sondern daß man ihm Liebe beweise, und daß er Dankbarkeit und Liebe lerne. Jesus nahm die Brode und dankte (V. n ). Er weihcte die Speise durch das Gebet, durch das dankbare Andenken an Gott, den Geber aller guten Gaben, und lehrt uns dadurch, daß was wir thun, zugleich auf das Wohl des Nächsten und auf Gottes Ehre abzwecken, daß jede un-

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fertr Handlungen nicht nur eine sittliche, sondern auch eine fromme Beziehung haben soll. Ihr esset oder trin» fet, oder was ihr thut, so thut es alles zu GotteS Ehre (1 Cor. 10, 3i.) Jesus gab daS Brod und die Fische, die er vertheilte, seinen Jüngern, und die Jünger denen, die sich gelagert hatten (D. 4.); und so machte er jene ju Mittelspersonen zwischen sich und dem Volke, damit sie einen thätigen Antheil an dem Werke der Wohlthätigkeit hätten. Sie erscheinen hier in derselben Stellung, wie in ihrem apostolischen Geschäft, in welchem sie auch zwischen Christo und dem Volke mitten inne stehen. Die ganze Speisung hat überhaupt eine große Ähnlichkeit mit dem Offenbarungs» und Erlösungsgeschäft Christi, wel­ ches die Speisung mit dem geistlichen Brode des Lebens ist. Die Lehre der Wahrheit, die Kraft des heiligen Geistes hat Christus zunächst seinen Jüngern, und diese haben sie dann dem Volke mitgetheilt. Und so ist das gelagerte Volk ein Bild der christlichen Kirche, welche mittelst der Apostel von Christo die geistliche Speise empfängt, und, in sich selbst mit dem Bande der Liebe umschlungen, durch die Apostel mit Christo in der Gemeinschaft und Einheit des Geistes steht. Eine noch nähere Vergleichung bietet das Abendmahl dar, in welchem unter dem Zeichen oder Mittel der irdischen Speise die geistliche LebenSnahrung gereicht wird, und wobei die christliche Gemeinde in brüderlicher Liebe vereinigt sein soll.— Jesus gab von den Broden und den Fischen Allen, so viel sie wollten (B. n.). So wie er dieß mit der irdischen Speise that, so und noch vielmehr thut er eS mit der geistlichen Speise. Er hält mit nichts zurück, läßt keinen Hunger und Durst unbefriedigt, und stillt jedes Verlangen nach Belehrung, Erweckung und Bei» stand. Wenn wir nur wollen, und recht empfänglich und begierig sind, so werden wir von ihm alles empfangen, was zu unserm Heil nothwendig ist, er wird unS sättigen und erquicken. Da sie aber satt waren, sprach er zu fei­ nen Jüngern: Sammelt die übrigen Brocken,

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daß nichts umkomme. Da sammelten sie, und fülleten zwölf Körbe, mit Brocken von den fünf Gerstenbroden, die überblieben denen, die gespeiset worden (V. n. 13.). So reichlich war die Speisung, daß noch Vieles übrig blieb, was für andere Zeit und andere Gelegenheit aufgespart werden konnte. So sehr hatte sich durch Gottes Segen der kleine Vorrath von Lebensmitteln gemehrt» so sehr belohnte sich das Ver­ trauen, mit welchem Jesus die Speisung unternommen hatte. In diesem reichlichen Ueberfluß finden wir zugleich ein Bild der geistlichen Fülle Jesu, welche nicht nur für die Gegen­ wart, sondern auch für alle Folgezeit hinreichte; das dama­ lige Geschlecht und alle folgenden Geschlechter wurden von ihm gespeist und gesättigt. Aber er sorgte auch für die Zu­ kunft, und lehrte seine Jünger sorgsam und sparsam sein» indem er ihnen befahl, das Uebrige zu sammeln, um auch noch andere Hungrige zu speisen. Die Gemeinschaft der Speisung mit dem Lebensbrode sollte sich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzen, der Strom der Fülle sich durch alle Zeiten ergießen. Da nun die Menschen bas Zeichen sahen, das JesuS that, sprachen sie: das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll (23. 14.). Die Speisung war dem Volke ein Zeichen, rin Beweis, daß er der erwartete Messias sei. Aber worin fanden sie diesen Beweis? Jesus sagt es uns selbst V. ati; Darin, daß sie von dem Brod gegessen hatten und satt geworden waren. Eie sahen mit bewundernder, aber eigennütziger Dankbarkeit in Jesu einen Versorger und Er­ nährer in Mangel und Noth, der in Verlegenheit Rath zu schaffen wußte. Manche mochten auch die überraschende Art bewundern, wie er mit so wenigen Broden so viele Menschen gespeist hatte; allein immer nahmen sie doch die Sache sinnlich, und faßten nicht das Geistige darin auf; sie sahen in der wunderbaren Speisung nicht ein Zeichen des Geistes der Liebe, durch welchen Jesus Welterlöser wurde, sondern einen Beweis, daß er zu ihrem weltlichen Herrscher

i55 tauge. Denn Jesus merkte, daß sie kommen würden und ihn Haschen, daß sie ihn jum Könige machten (D. >5.). NichtS war der Gesinnung Jesu mehr zuwider; weltliche Herrschsucht war seiner nur nach dem Himmlischen gerichteten Seele fern. Wie wenig entsprach dieser auf das Volk gemachte Eindruck seinen Ab­ sichten! Es hing ihm an, aber nicht um das ewige Heil von ihm ju erlangen, sondern um mit seiner Hülfe den Zustand des bürgerlichen Lebens ju verbessern, und weltliche Herrlichkeit zu erlangen. Hier konnte Jesus nichts besseres thun, als daß er sich der ungestümen, gefährlichen Volksgunst entzog. Er entwich abermal auf den Berg, er selbst allein (D. i5.). Er, der sonst so gern sich unter die Menschen mischet, an ihren Freuden und Leiden Theil nimmt, wenn er helfen, zumal wenn er für das Reich Gottes wirken kann: er entweichet jetzt der Welt, da sie ihn zur Sünde, zur Untreue gegen seinen himmlischen Vater verführen will. Das ist die wahre Zurückgezogenheit von der Welt, worin wir ihm nachahmen sollen. Will uns der Strudel der weltlichen Lüste mit sich fortreißen, will böse Gesellschaft uns verführen, so laßt uns in die Einsamkeit fliehen, um im Umgänge mit Gott und mit unserm bessern Selbst die Kraft der wankenden Tugend wieder herzustellen. Mit der stillen, fromm betrachtenden Einsamkeit beginnt dieser Abschnitt, auS ihr tritt Jesus hervor ins thätige Le­ ben, und mit derselben endigt die Geschichte; in sie zieht er sich zurück, nachdem er vollendet hat, was er hatte thun wollen und können. So sei auch uns die fromme Betrachtung Anfang und Ende; mit Gott laßt uns beginnen und schlie­ ßen, bei ihm Kraft zum Beginn unserer Werke und Festig­ keit, wenn wir im Verfolg derselben wankend werden, suchen! Am Abend schifften sich die Jünger ein, um ans jensei­ tige Ufer nach Kapernaum zurückzukehren (was sie auf Jesu Befehl thaten, wie man aus Matth. i4, aa. Mark.

6, 45. sieht). Und es war schon finster gewor­ den, und Jesus war nicht zu ihnen gekommen (V.

17.).

Er wollte sie allein vorausgehen lassen, um die

i56 Aufmerksamkeit deS Volkes abzulenken. Denn wäre er mit ittS Schiff gestiegen, so hatten sie ihn zurückhalten, und ihren gewaltthatigen Plan ausführen können, was er wenig­ sten- für diesen Augenblick vermeiden wollte. Und daMeer erhob sich von einem großen Winde (23. 18.). Die Fahrt der Jünger war schwierig und gefahr. voll. Da sie nun gerudert hatten bei fünfund zwanzig oder dreißig Feld Weges, sahen sie Jesum auf dem Meer dahergehen und nahe bei das Schiff kommen (23. 19.). Um dem Volke zu entgehen, schlug Jesus den Weg über den See ein, der nur für ihn durch die in ihm wohnende Wunderkraft gang­ bar war. Er wollte auf diese Weise vielleicht einen Umweg abschneiden, der ihn in die Nahe des Volkes geführt hätte,^odcr überhaupt sich in brr kürzesten Zeit aufdas andere Ufer begeben. Genug er bediente sich eines außerordentlichen Mittels und wunderbarer Kräfte, welche unsere Fassungskraft übersteigen. Aber zu welchem Ende? nicht etwa um damit zu glanzen, und einen Zweck der Eitelkeit und Selbstsucht zu erreichen. Eines der größten Wunder, die er verrichtet hat, verbirgt er mit dem Dunkel der Nacht, und braucht es gerade, um sich vor verfälschen Bewunderung des Volkes zu verbergen. Aber um so erhabener ist seine Größe. Er hielt es nicht für einen Raub Gott gleich zu sein (Phil. 2, 6.), er prunkte nicht mit seiner Wunderkraft. Das Wunder selbst, daß er auf dem Wasser wandelt, mag uns weniger ein Gegenstand des unfruchtbaren Erstaunens sein, als ein erweckliches Bild. Jesus wandelte auf dem Wasser, in welches andere menschliche Leiber einsinken wegen ihrer irdischen Schwere, so wie die Menschen so oft mit ihrer von irdischen Lüsten be­ schwerten Seele in den Abgrund der Wollust sinken. Er aber schwebte über das Wasser, wie über die irdischen Lüste hin; wie sein Körper, so spottete seine Seele der irdischen Schwer, kraft, und konnte ungehindert ihren Weg verfolgen. Das Wasser war vom Sturme bewegt, so daß das Schiff wohl selbst Mühe hakte, die Wogen zu durchschneiden; aber Chri­

stus

wandelte darüber hin, so wie seine Seele über den

Sturm bet Leidenschaften erhaben war. O wer wünsch: sich nicht diese himmlische Schwebekraft der Seele, diese Erhabenheit über irdische Begierden und Leidenschaften? Gleich schweren Gewichten hangen sie an unserm Geist, hin« bertt ihn am Aufschwung, und hemmen ihn im Streben nach den höher» Gütern. Die Jünger fürchteten sich, da sie Jesum kommen sahen (93. 9.); denn sie meinten, es sei ein Ge­ spenst (Mark. 6, 4g.). In der That wäre Jesus ein Ge­ genstand der Furcht gewesen, wenn er mehr dergleichen Be­ weise von seiner Erhabenheit über die gewöhnlichen Gesetze der Natur gegeben hatte; er hatte sich weniger wie ein Mensch, als wie ein Gespenst oder eine Geistererscheinung dargestellt. Um Zutrauen einzuflößen, mußte er ganz wie ein Mensch erscheinen, menschliche Schwachheiten und Ge­ brechen an sich tragen, den Menschen als ein Bruder gleich werden. Dieses Wandeln auf dem Wasser war nur eine vorübergehende Ausnahme von der Regel. Der Evange­ list ist auch in dieser Erzählung so auffallend kurz, daß man annehmen darf, er habe auf dieses Wunder keinen hohen Werth gelegt, und unsere Aufmerksamkeit nicht besonders darauf lenken wollen. Alles was wir vom 16.93. an le­ sen, dient nur zum Uebergang von der Speisung zu den darauf sich beziehenden Reden Jesu, und diese sind die Hauptsache, diese sind Geist und Leben; ein Wun­ der aber, wie dieses Wandeln auf dem Wasser, gehört dem Fleische und den fleischlichen, körperlichen Verhältnissen an, und das Fleisch ist kein Nütze (93. 63.). — Jesus sprach zu den Jüngern die sich fürchteten: Ich bin es, fürchtet euch nicht (D. 20.). Er gab sich mit seiner liebevollen Stimme zu erkennen als ihren Freund und Bru­ der, der sonst mit ihnen alö ihres Gleichen das menschliche Leben theilte, und erst dann kehrte ihr Zutrauen zurück. Da wollten sie ihn in das Schiff nehmen; und also bald war das Schiff am Lande, an welches sie anfuhren ( V. 2,.). Jesus scheint hier­ nach nicht über die Mitte des Sees gewandelt zu sein, son-

i58 dern sich nahe am Ufer gehalten, und mithin das Unge. wohnliche nur so weit angewendet zu haben, als es noth. wendig war.

Kap. 6, 22 — 71.

Reden Jesu in Kapernaum auf Veranlas­ sung -er Speisung. Erster Abschnitt. (B. 22 —40.) ©td andern Tages wußte das Volk nicht, was es denken sollte. Die Jünger waren allein weggcfahren, und Jesus nicht mit in ihr Schiff gestiegen; es war auch kein anderes da, in welchem er hätte abfahren können: und doch sahen sic ihn nicht mehr. Sie traten daher in die Schiffe, welche von Liberias an den Ort der Speisung gekommen waren, und fuhren nach Kapernaum, um Jesum zu suchen (95.22 — 2 4.). Da sie ihn nun daselbst fanden, sprachen sie zu ihm: Rabbi, wann bist du hergekommen? (93. 26.). Er antwortete ihnen aber nicht etwa mit der Erzählung sei­ nes wunderbaren Ganges über den See hinüber, worüber sic erstaunt sein würden, ohne doch vielleicht sich aller Zwei« fel an der Möglichkeit enthalten zu können, wie cs noch jetzt vielen Christen geht. Er übergeht dieses ganz mit Still­ schweigen, lenkt die Aufmerksamkeit der Fragenden davon ab, und knüpft die Rede an etwas Anderes an. Er sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich ich sage euch: ihr suchet mich nicht darum, daß ihr Zeichen ge­ sehen habt, sondern daß ihr von dem Brod ge­ gessen habt und seid satt geworden (93. 26.). Der Beweggrund, aus welchem sie ihn suchten, war eigen-

i5g nätzig, so wie eS auch die Abficht war, ihn zum Könige zu machen (vgl. D. 15j. Sie sahen in der Speisung nicht ein Zeichen seines Geistes und seiner Gefinnung, sondern etwas was ihrer Eigensucht schmeichelte; fie hofften bei ihm immer Sättigung, Wohlsein, Glückseligkeit zu finden. Da6 war aber nicht die rechte Art ihn zu suchen; er wollte, daß man aus geistigem Triebe und Streben zu ihm time. Schaf­ fet Speise, nicht die vergänglich ist, sondern die da bleibet in das ewige Leben, welche euch der Menschensohn geben wird; denn denselbigen hat Gott der Vater besiegelt (V. 27.'. Gei­ stige Nahrung, Sättigung, Erquickung, die Kraft des Gei­ stes der Wahrheit, der Liebe, der Gerechtigkeit, welche das innere Leben erweckt und ernährt und unvergänglich fortwir­ ket bis ins ewige Leben: das sollten fie erstreben und sich zu verschaffen suchen, und das allein war der Menschensohn zu ge­ ben gekommen. Ihn hatte Gott besiegelt, ihm das Siegel der Bestätigung aufgedrückt, daß er der sei, welcher die unvergängliche Speise für das Leben geben könne. Etliche aus dem Volke verstanden halb und halb den gei­ stigen Sinn dieser Rede und sprachen: Was sollen wir thun, daß wir Gottes Werke schaffen? (V.28.). Sic meinten, Jesus rede von der Beobachtung des göttlichen Gesetzes, von sittlich guten Handlungen, wodurch man das ewige Leben verdienen könne. Eie waren noch ganz in der Wcrkhciligkeit befangen, und wußten nicht, daß die Quelle aller wahren Sittlichkeit der Glaube, die Gesinnung, die Beschaffenheit des Gemüths ist. Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Das ist Gottes We rk, daß ihr an den glaubet, den er gesandt hat (V- 29.). Nur derje­ nige, der in Christo die Wahrheit und das Leben, die Quelle und Vollendung alles Guten, fand, und sich ihm mit ganzer Seele, vertrauend, gehorsam hingab, nur der konnte thun, was Gott wohlgefällig war; das war die Bedingung und der Anfang jedes Gotteswerkes, eines durch und durch ge­ heiligten, von Gottes Geist durchdrungenen Lebens. Im Glauben an Christum ist alles Cittlichgute mit eingeschlossen;

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denn der Glaube wird in Liebe thätig und bringt gute Früchte, ohne den Glauben aber ist das sittliche Handeln kraftlos und bloß äußerlich. Wie weit aber die Juden noch vom Glauben entfernt waren, zeigen sie durch die Frage, die sie an Jesum richten: WaS thust du für ein Zeichen, auf daß wir sehen und dir glauben? Was wirkest du? (23. 3o.). So eben hatte Jesus ein Zeichen gethan, und gleich fodcrn sie wieder ein neues. Viele Ausleger sagen, dieje. nigcn welche hier ein Zeichen von Jesu federn, seien nicht mit bei der Speisung gewesen, und hatten also dieses Zeichen nicht mit angesehen. Allein wo liegt im Text irgend ein Wink, daß diejenigen, welche diese Frage thun, von jenen verschieden seien, welchen Jesus vorwarf, sie suchten ihn, nicht, weil sie Zeichen gesehen, sondern weil sie gesättigt worden (23. 26.). Auch bezieht sich die Federung, die sie thun, offenbar auf das Wunder der Speisung, indem sie sagen: Unsere Väter haben Manna gegessen in der Wüste, wie geschrieben stehet: Er gab ihnen Brod vom Himmel zu essen (23. 3i.). Sie wollen damit sagen: gib uns das Zeichen einer noch wunderbareren Speisung, als die gestrige gewesen ist: laß Brod vom Him. mel regnen. So ist die Wundersucht unersättlich; kaum ist sie befriedigt worden, so verlangt sie neue und stärkere Nah­ rung. Wollen wir aber auch die Möglichkeit zugeben, daß die Fragenden das Epeisewunder nicht selbst mit angesehen; so zeigt doch ihre Rede, daß sie davon gehört hatten, und es gilt auch dann die Bemerkung, daß der Wunderglaube schwankend und unersättlich ist. An der Wahrheit des Wun­ ders der Speisung konnten diejenigen, welche davon gehört hatten, nicht zweifeln, weil ihnen die Augenzeugen davon er­ zählt hatten; und doch genügte es ihnen nicht, und sie wün­ schen ein größeres zu sehen. Da sprach Jesus zu ihnen: Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Moses hat euch nicht Brod vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch bas rechte Brod vom Himmel. Denn dieß

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Ist das Brod Gottes, das vom Himmel kommt, und gibt der Welt daS Leben (D. 3 s. 33.). Das Manna war, nach der alten Ueberlieferung, als ein Thau oder Regen vom Himmel gefallen; waS aber zur Sättigung des Leibes dient und irdischer Natur ist, kann nicht auS dem wahren Himmel, der Wohnung Gottes, dem Reiche der Geister, kommen; und insofern leugnete JefuS, daß Mose Brod vom Himmel gegeben. ES war wohl Himmelsbrod, aber Brod vom irdischen Himmel und selbst irdischer Beschaf­ fenheit. DaS wahre Himmelsbrod, welches der Vater gibt, ist baS Wort GottrS, welches vom Himmel kommt, welches in Jesu Fleisch geworden ist, die Offenbarung der ewigen Wahrheit und Weisheit GotteS, der Geist Gottes, der sich mit dem Menschengeiste vereinigt hat. Diese- Brod GotteS gibt der Welt daS Leben, daS wahre, geistige, ewige Leben, indem eS die Seele nährt, reinigt, kräftigt und be­ seligt. Die Juden merken eS noch nicht, daß JefuS von fich selber spricht, und sagen ju ihmr Herr, gib unS alle­ wege solche- Brod (D. 34.).- JefuS aber sprach |is ihnen: Ich bin daS Brod deS Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und «er an mich glaubt, den wird nimmermehr dürste« (18. 35.). Jesus ist das Brod, wie daS Wasser, deS Lebens: er stillet den Hunger und Durst, indem er die Seele mit dem Geiste der Wahrheit speiset und tränket. Aber zu ihm muß man kommen, und nicht bloß äußerlich wie eS jene Juden thaten, auch nicht bloß mit Neugierde, Wunbersucht und weltlicher Begierde, sondern mit Glauben, Vertrauen, Hin­ gebung; eine innere Gemeinschaft muß man mit ihm stiften, im Geiste mit ihm eins «erden, die Kraft des Geistes, die in ihm ist, in sich aufnehmen, iwb sich innerlich dadurch nach seinem Bilde umgestalten. Allein wie wenig fähig waren die Juden, in diese Ge­ meinschaft mit Jesu zu treten! Ich habe es euch ge­ sagt, sprach Jesus im schmerzlichen Tone des warnenden VorwurfS zu ihnen, daß ihr mich gesehen habt,

Bibi. Erbauung-b. I.

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i6a und glaubet doch nicht (V. 36.). Man ist ungewiß, auf welche frühere Rede sich Jesus bejiehr. Nicht in den­ selben Worten, aber dem Sinne nach ist dieser Vorwurf im D. 26. enthalten. Sie hatten ihn gesehen oder kennen gelernt, indem sie die Speisung gesehen» und in ihr ein Zeichen feiner göttlichen Sendung hatten finden können; aber sie hatten das Zeichen nicht gefunden oder nicht recht gedeutet und glaubten nicht. Ach! so Manche haben ihn gesehen, haben Kunde von ihm empfangen und glauben doch nicht! Sie wissen von dem äußeren Christus, seinem Leben und Tod, aber der innere ist ihnen nicht erschienen; fie haben den geschichtlichen Glauben, aber nicht den wahren, seligmachenden; sie stehen mit ihm in äußerer, kirchlicher Gemeinschaft, aber nicht in der inneren, geistlichen des Glau« bens und der Liebe. Davon, daß die Juden nicht glaubten, lag der Grund in ihrer Gemüthsbeschaffenheit, in ihrer Unfähigkeit und Verstockung. Alles was mir mein Vater gibt, das kommt zu mir (95. 3/.). Hiermit will Jesu- sa­ gen: Ihr würdet zu mir kommen und an mich glauben, wenn euch mir der Vater gegeben hätte; der Vater aber gibt Christo diejenigen, die er zu ihm zieht (93. 44.), oder die von Gott gelehrt sind (93. 45.), die er innerlich erregt und befähiget dadurch, daß er eine Sehnsucht nach der Wahr­ heit und eine Empfänglichkeit für dieselbe in ihrem Gemüth entstehen läßt. Nur das Gleichartige wird vom Gleicharti­ gen angezogen; es muß ein göttlicher Funke im Menschen sein, wenn er sich zum Sohne Gottes hingezogen fühlen soll. Menschlicher Entschluß und Trieb, fleischliche Begierde und Bewegung führt nicht zu Christo hin, sondern der Antrieb deS göttlichen Geistes. Darin aber liegt nicht etwa eine Entschuldigung des Unglaubens. Der Ungläubige darf nicht sagen: ich kann darum nicht glauben, weil mich Gott nicht erweckt hat. Denn die göttliche Erweckung kommt allen Menschen, und in jedem menschlichen Gemüthe liegt ein gött­ licher Funke; aber der Ungläubige verschmäht die Erweckung, und unterdrückt den Funken, es ist seine Schuld, daß er

i63 nicht j« Christo kommt. — Wer aber von Gott gezogen, zu Christo kommt, wie gern nimmt er den auf! Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen (D. 37.). Auch das glimmende Docht wird Christus nicht aus­ löschen, auch den schwächsten Glauben wird er starken, wie «in guter Hirte wird er die schwachen Lämmer in seine Arme nehmen und tragen. O es liegt eine tief rührende Kraft in den Worten: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen! Es ist die sanft lockende Stimme dessen, der gekommen war, das Verlorene zu retten, der di« Arme ausbreitet und Alle an sein Herz schließen möchte. — Denn ich bin #j»m Himmel gekommen, nicht daß ich meinen Willen thue, sondern deß der mich gesandt hat (V. 38.). 2ßid)t mit menschlicher Willkür und Eigenmacht nimmt er den Einen auf und stößt er den Andern von sich; er, der vom Himmel gekommen, der mit dem Vater eins ist, kann nichts als dessen Willen thun» er nimmt denjenigen auf, den der Vater zu ihm zieht» seine Wirksamkeit ist in dem vollkommensten Einklang mit der gött­ lichen Wirkung auf die Gemüther der Menschen» wen er an sich zieht, der ist vom Vater gezogen. DaS aber ist der Wille des Vaters, der mich gesandt hat, daß ich nichts verliert von allem, das er mir ge­ geben hat, sondern daß ich es auferwecke am jüngsten Tage (D. 3g.). Gott will, daß Christus Alle rette, welche sich mit dem Bedürfniß der Erlösung zu ihm wenden, und so will es auch das von göttlicher Menschen­ liebe erfüllte Herz Christi. Wie Gott sich der verlorenen, aber nach dem Heile verlangenden Menschen erbarmt, so auch Christus. Er will sie auferwecke« amjüngstenTage, sie durch den Glauben dem Gericht und der Derdammniß ent­ ziehen, aus dem Reiche der Finsterniß in daS des Lichtes hinüberretten, sie zu Gott und der seligen Gemeinschaft mit ihm ziehen. Das aber ist der Wille deß der mich gesandt hat, daß wer den Sohn siehet, und an ihn glaubet, das ewige Leben habe, und ich «erde ihn auferweckcn am jüngsten Tage L a

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(D. 4o.). 0 die ihr den Sohn gesehen, die ihr von ihm gehört habt, o glaubet an ihn, damit ihr da- ewige Leben habet, und volljiehet an euch selbst den heiligen, liebevollen Willen des Vaters! Er, den er gesandt hat, euer Heiland, hat alles gethan, um den Willen eures Vaters ju erfüllen, hat euch jum Heil gerufen und rufet euch noch, sein Geist mahnt und erweckt euch in jedem Augenblick: o höret seine Stimme und glaubet an ihn, daß er euch auferwecke amjüngsie» Tage und euch das unsterbliche, ewige, selige Leben verleihe! — Zweiter Abschnitt. (B. 41 — 59.)

OieJudenmurreten darüb er, baß er sagte: Ich bin das Brod, das vom Himmel gekom­ men ist (D. 4i.). Sie nahmen Anstoß daran, daß er, der Sohn Josephs, dessen Vater und Mutter fit kannten, be­ hauptete, vom Himmel gekommen ju sein (D. 4 a.). Sie verstanden nämlich seine Behauptung auf eine wunderliche Weise so, als fei er leibhaftig, so wie er vor ihnen stand, »hne menschliche Geburt vom Himmel gekommen, da doch Jesus nur von seinem höheren Selbst, von dem göttlichen Worte in ihm, sprach. Der irdische Sinn leugnet alles, was er nicht irdisch erkennt; er leugnet, obschon vielleicht im Widerspruch mit den gewohnheitsmäßig anerkannten Lehren, daß ein geistiges Leben, ja daß ein Gott ist; er leug­ net es durch die That, durch das Urtheil, indem er im Le­ ben nichts anerkennt, was aus dem Geiste und auS Gott stammt. Die Juden glaubten angeblich an Gott; allein sie leugneten ihn, indem sie nicht verstehen wollten, daß derje­ nige, der die göttliche Wahrheit in sich hatte, von Gott ge­ kommen sei, obschon er dem Fleische nach vom Weibe gebo­ ren war. Eie leugneten Gott, indem sie von dem inneren, »nflchtbaren Zusammenhang mit ihm nichts wissen wollten. Jesus ruft ihnen mit sanfter Stimme ju: Murret nicht untereinander! (S. 43.). Sie sollen nicht An«

i65 stoß nehmen an einer Rede, die fie nicht verstehen, nochversiehenwollcn, für welche sie keine Empfänglichkeit haben. Wie oben (B. Sy.), wirft er ihnen wiederum' den Mangel der Empfänglichkeit, des Sinnes für das Göttliche vor. Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn daß ihn ziehe der Vater der mich gesandt hat (V. 44.). Ihr fühlt nicht, will er sagen, den göttlichen Zug, den man fühlen muß, um zu mir zu kommen und an mich zu glauben. Es steht geschrieben in den Prophe­ ten (Jes. 54, 13. Jer. 31, 54.); S i e werden alle von Gott gelehrt sein. Von Gott muß gekehrt sein, wer zu mir kommen soll. Wer es höret vom Vater, und lernet es, der kommt zu mir (V. 45.). Ihr seid nicht von Gott gelehrt, habt nicht die innere Stimme seines erweckenden Rufes vernommen, noch ihm gehorcht; darum könnt ihr nicht zu mir kommen. Hier beugt Jesus einem Mißverständniß vor, welches nahe lag. Er verlangte von einem jeden Menschen, daß er eine göttliche Stimme oder Offenbarung in sich vernehme. Dieß aber konnte selbstgenügsame, auf ihre eigene Einsicht stolze Menschen veranlassen zu denken, sie bedürften keiner andern Offenbarung, als der natürlichen in ihrer Brust und in der Natur, und seien von sich selbst im Stande, Gott zu erkennen. Nicht daß Jemand den Vater habe gesehen, ohne der vom Vater ist, der hat den Vater gesehen (V. 46.) d. h. nicht als ob Jemand ohne die Hülfe des Sohnes Gottes, der in des Vaters Schooß ist, der vom Himmel herabgekommen ist, die vollkommene, untrügliche Gottes - Erkenntniß erlangen könnte» nur der Sohn hat den Vater gesehen, ihn unmittelbar erkannt, und er allein ist der untrügliche Lehrer der Gottes - Erkenntniß. Vor ihm wußte man auch schon von Gott, und Mose hatte eine göttliche Offenbarung empfangen ; aber die vollkommene Erkenntniß ist uns erst durch Christus geworden. Zu unseren Zeiten hat man oft die Behauptung gehört, daß die menschliche Vernunft für sich im Besitz aller GottesErkenntniß sei, und daß man sich ihr mit Zuversicht überlas-

i66 ftn könn». Dafür daß in ihr eine Gottes - Offenbarung sei, spricht auch unsere Stelle; allein die untrügliche Erkenntniß gibt sie nicht, weil sie in allen Menschen dem Irrthum und der Willkür unterworfen ist, und die Menschheit bedarf noch einer andern Offenbarung, welche Gott durch seine Gesandten und zuletzt auf das Vollkommenste durch seinen Sohn gegeben hat. Obgleich den Juden die Empfänglichkeit fehlt, so versucht es doch Jesus, ihnen seine vorige Behauptung, daß er daS vo« Himmel gekommene Brod sei, klar zu machen, indem er besonders auf den Gedanken, daß er das Brod des Lebens sei, den Nachdruck legt (D. 48.), und da­ mit sie nicht an etwas leibliches denken sollen, den Satz vorausschickt: Wer an mich glaubt, der hat daS ewige Leben (V. 47.). Es ist also etwas Geistiges, was das Leben gibt, weil eS mit dem Glauben aufgenommen werden muß; es ist das in Jesu erschienene Wort Gottes, das wahre Licht, die ewige Wahrheit. Und dieses Leben ist ein unsterbliches. Das Mosaische Himmrlsbrod diente zwar jur Erhaltung des leiblichen Lebens» die es aber genossen, starben, wie alle Menschen (D. 4 g.). Das wahre Him­ melsbrod hingegen, welches Christus gibt, macht, daß wer davon isset, nicht sterbe CD. 5o.); nicht dem Leibe nach macht es unsterblich, wie es denn auch der Leib nicht genießt, sondern der Seele ertheilt es ein unsterbliches, ewiges Leben. Wer von diesem Brod essen wird, der wird leben in Ewigkeit (V. 5i.). Christus jieht die Seele von den vergänglichen irdischen Gütern, von der Lust dieser Welt ab, und richtet sie hin auf die ewigen Güter; wer nur daS Vergängliche liebt, der gibt sich selbst der Vergänglichkeit hin, und unterwirft sich dem Wechsel derselben, indem er jeden Tod und jeden Verlust mit erfährt, und mit dem, was er liebt, mit stirbt; wer hingegen daS Unvergängliche liebt, ist über allen Tod und allen Verlust erhaben und unsterblich. Christus verleiht der Seele die unversiegbare Kraft des Geistes, die aus sich selbst quillet, durch welche sie ein selbstständiges, unvergängliches Leben lebt;

167 derjenige hingegen, der die Lust dieser Welt liebt, und für die Befriedigung derselben lebt, schwächet die Kraft der Seele, macht sie von der Außenwelt abhängig, unterwirft sie dem beständigen Wechsel von Bedürfniß und Genuß, und gibt sie der Vergänglichkeit Preis. Christus führt die Seele ihrer ewigen Bestimmung, dem Reiche Gottes, der ewigen Selig­ keit, zu, während derjenige, der in dieser Welt seine Bestimmung findet, sich dem ewigen Tode, der Unseligkeit, der Verdammniß Preis gibt. Jesus gibt nun naher, aber in einer schweren, bildli­ chen Rede, zu verstehen, was das Brod sei, das er gibt. Und dasBrod, das ich geben werde, ist mcinFleisch, welches ich geben werde für das Leben der Welt (93. 51.). Christi Fleisch ist das Wort, welches Fleisch geworden, seine menschliche Persönlichkeit, seine Er­ scheinung und Wirksamkeit auf Erden zur Vollendung des göttlichen Werkes der Erlösung. Wäre das Wort nicht Fleisch geworden, so wäre das Lebensbrod nicht vom Him­ mel gekommen, und die Menschheit nicht gespeist worden; die Menschen hätten Jesu Lehre nicht vernommen, sein erha­ benes Muster nicht geschaut, die belebende Einwirkung sei­ nes Geistes nicht erfahren. Die Wirksamkeit Jesu wurde aber durch seinen Tod vollendet: durch diesen wurde seine Lehre bestätigt, der Sieg des Geistes über das Fleisch und der erhabene Gehorsam gegen den Vater vollbracht, die Menschheit mit Gott versöhnt und überhaupt das ganze Er­ lösungswerk vollzogen; derselbe war das Ende des irdischen Lebens und Wirkens Christi und zugleich dessen Vollendung, in ihm gab Christus sein Fleisch für das Leben der Welt. Man erschöpft Jesu Gedanken keineswegs, ja man verfehlt den wahren Sinn, wenn man unter dem Brode nur seinen Opfer - und Versöhnungstod versteht. Die­ ser ist nie ohne sein ganzes übriges Leben zu denken, und hat ohne dieses keine Kraft. Wäre Christus nicht in seinem ganzen Leben die Wahrheit, die Liebe, die Gerechtigkeit, mit Einem Worte das Himmelsbrod gewesen, so wäre er es auch nicht in seinem Tode geworden. Wer sich nur an seinen Tod

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halt, und sich nicht tugleich fein ganzes Leben aneignet, der wirb nicht durch ihn das wahre Leben haben. Wir sollen mit Christo sterben, der Welt und dem Fleische entsagen, aber auch mit ihm auferstehen, und in einem neuen Leben wandeln: und dieses neue Leben soll dem Leben gleich sein, daS er auf dieser Erde geführt, worin er uns ein Vorbild gelassen, daS wir nachahmen sollen. Dann essen wir das wahr« HimmelSbrod, wenn wir uns den ganzen Christus, wie er lebte, lehrte, wirkte» und wie er litt und starb, aneignen, wenn seine ganze göttlich menschliche Persönlichkeit in unser Wesen nährend, schaffend, bildend eingeht. Die Juden zankten untereinander und sprachen: Wie kann dieser unS fein Fleisch zu essen geben? (93. 5a.). Sie konnten oder wollten die bildliche Rede nicht verstehen. Jesus aber hielt es für zweck« mäßig, dieselbe nicht nur zu wiederholen, sondern noch stärker und auffallender auszuprägen. Wahrlich, wahr« lich, ich sage euch: Werdet ihr nicht essen daS Fleisch des Menschenfohnes und trinken sein Blut: so habt ihr kein Leben in euch (V. 53.). Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der hat daS ewige Leben und ich werbe ihnam jüngsten Tage auferwecken (93. 54.). Denn mein Fleisch ist die rechte Speise, und mein Blut ist der rechte Trank (93. 55.). Zur vollkom­ menen Nahrung gehört nicht nur Speise, sondern auch Trank: um nun zu sagen, daß er die wahre vollkommene See­ len« Nahrung sei, braucht er das doppelte Bild des Flei­ sches und Blutes» und fodert» daß man beides genieße. Das Fleisch und Blut Christi bezeichnet ebenfalls, wie vorher (V. 5>.) das Fleisch allein, seine persönliche Erschei­ nung im Leben und Tode, nicht bloß im letzteren, wie Manche wollen, auch nicht im Abendmahl, auf welches Manche diese Rede beziehen, denn daran hätte damals Niemand denken können. Für uns, für welche der Genuß des Abendmahls ein Hauptmittel der Theilnahme an der Gemeinschaft Christi ist, liegt diese Beziehung freilich sehr nahe, und man kann

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Jesu Rede darauf anwenden, ohne in der Such« selbst eine» Irrthum zu begehen» allein diese Anwendung ijst keine Aus« legungjunenuen. Jesu Fleisch und Blut, feine per­ sönlich« Erscheinung, die Fleischwerdung des Wortes, die Offenbarung der ewigen Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe in ihm, ist die rechte Speise und der rechte Trank, die wahre Nahrung der Seele; alles, was dir Seele ju« Leben, jum Heil, zur gefunden freudigen Kraft, zur Ruhe und Zufriedenheit bedarf, die wahre Erkenntniß, die wahre, reine Liebe, die Ruhe deS Gemüths, das Vertrauen in Noth und Tod, die Hoffnung eineS ewigen Lebens, schöpft fle auS Christi Lehre und Leben, auS feinem Wirken, Leiben und Sterben; er ist der Weg, die Wahrheit und daS Leben. Wer fein Fleisch iffet, und fein Blut trinket, deu wird er auferwecken am jüngsten Tage; der hat daS rechte ewige Leben in fich, der überwindet den Tod, so­ wohl de» leiblichen alS den geistlichen; erhaben über die Vergänglichkeit, die Lust der Welt und dir Sünde, dringt er durch den Tod jum Leben hindurch, und ist selig in der ewigen Gemeinschaft GotteS, Christi und aller Kinder GotteS. Wer Christi Fleisch iffet, und sein Blut trinket, wer seine persön­ liche Erscheinung, die Offeubarung der Gnade und Wahrheit, sich gläubig aneignet, verbleibet in ihm, und er in ihm (D. 56.), der tritt mit ihm in innige Geistesgemeinschaft, wird ihm ähnlich und verwandt. Wie nun Christus lebt, lebendige und belebende Kraft in sich hat, durch den Vater,') wie ihm der Vater verliehen hat das Leben in sich zu haben (vgl. Kap. 5, 26.): also: wer ihn isset und mit ihm in innerlicher Gemeinschaft und Geistesverwandtschaft steht, derselbige wird auch le­ ben durch ihn (D. 67.). Die Lebenskraft kommt zwar aus Christo, als dem Quell, in die Seele des Gläubigen, aber sie wird in ihr selbstständig, schlagt in ihr Wurzel, und wachst und grünt und tragt Früchte. Der Christ hängt an *) Luther übersetzt falsch: um bet Vaterö wil lerr und so auch nachher: um meinet willen.

Christo «icht ft'ie eine tobte Rebe, sondern als eine leben­ dige, welche die Kraft des Lebens selbst auch in sich hat.— DaS ist eine gar wichtige Wahrheit, daß der Geist ein selbst­ ständiges Leben in sich haben soll durch Christum. Er soll nicht knechtisch glauben, was Christus und die Apostel ge­ lehrt haben, sondern es mit freiem Geiste aufnehmen; er soll nicht knechtisch das Gesetz erfüllen, welches er unS vor­ geschrieben, sondern auch dieses mit freiem Geiste, nach Maßgabe der Umstände, anwenden und befolgen. Nochmals nennt Jesus sein Fleisch und Blut das wahre vom Himmel gekommene Brod, welches nicht, wie daS mosaische Manna, sterben lasse, sondern ein ewiges Leben verleihe (58. 58.) und schließt so diese Rede, welche er in der Synagoge ;u Kapernaum hielt (58. 5 g.). Für die Juden, unter denen Jesus leibhaftig mit sei­ nem Fleische und Blut stand, halte diese Rede, wie schwer verstündlich sie sein mochte, eine unmittelbare Bejiehung und so­ mit eine stark eindringende Kraft der Mahnung. „Benutzet meine Erscheinung, meine Gegenwart, durch die sich euch das wahre Heil anbietet." So kann ein Jeder |u seinen Zeitge­ nossen sprechen, der sich bewußt ist, für ihr Bestes wirksam ju sein. Aber gilt diese Rede Jesu auch für unS, die wir feine persönliche Erscheinung nicht mehr schauen, nicht un­ mittelbar seine Wirksamkeit erfahren können? Allerdings! Die Thatsache, daß in ihm das Wort Gottes Fleisch gewor­ den, daß seine Kraft wirksam in das menschliche Leben ein­ gegriffen hat, gilt auch für unS. Nicht nur haben wir von ihm eine hinreichende Kunde in den evangelischen Schriften, und können aus den in ihnen enthaltenen Zügen uns ein Bild feiner vollkommenen Menschheit jusammenstellen; auch seine Wirksamkeit dauert noch fort, sein Geist wohnt unter unS in menschlicher Wirklichkeit, und wir erfahren besten er­ weckende und bildende Kraft. Können wir nicht Jesu Per­ son selbst schauen, verehren und lieben, wie es seine Zeitge­ nossen konnten: so sind wir dafür hinreichend entschädigt dadurch, daß seine irdische Erscheinung sich uns in einem rei­ neren und höheren Lichte darstellt, daß wir in ihm nicht so-

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wohl den besonderen Menschen, den Sohn btt Maria aus Najareth, als den Lehrer der Wahrheit, de» Stifter her Kirche erblicken, und gleich von Jugend auf mit Drrehrung und Liebe gegen ihn erfüllt werden, «ährend seine Zeit, genossen mit allerlei Vorurteilen ju kämpfen hatten. Auch uns also gilt der Satz: Wer mein Fleisch isset und mein Blut trinket, der hat daS ewige Leben. Besonders haben dies« Wahrheit diejenigen ju beherjigen, wel­ che zwar nicht gottlos noch ungläubig sind, aber im Christen­ thum nur das Ewige und Allgemeingültige, was unS Gott und feinen Willen lehrt, achten und für wesentlich halten, «ad die Verehrung, welche Ihm gewidmet wird, anstößig finden. Eie bedenken nicht, daß wir von jenen ewigen, allgemeinen Wahrheiten nicht eine so richtige Erkenntniß ha­ ben würden, wenn sic uns Christus nicht geoffenbaret hätte, und daß wenn auch diese Erkenntniß möglich wäre, ste doch nicht diese Kraft auf unser Gemüth ausüben würde, welche sie mittelst der Verwirklichung und lebendigen Darstellung durch Christi Leben und Tod ausübt. Werdet ihr nicht essen daS Fleisch des Measchenfohnes, und trinken sein Blut: so habt ihr kein Leben in euch. Diese Worte geben wir solchen Christen als hoch­ wichtig ju btherjigen.

Dritter Abschnitt. (B. 60—71.)

Viele der Jünger Jesu, welche ihm jugehört. hatten, sprachen: DaS ist eine harte Rede, «er kann sie hören? (D.6o.) Siefanden es hart, daß Jesus sein Fleisch für das Heil der Welt opfern, und die Erwar­ tungen seiner Anhänger von einem glücklichen Reich auf Er­ den nicht befriedigen wollte. Einen leidenden und sterben­ den Heiland wollten sie nicht, sondern einen triumphirenden und herrschenden; und sie mochten es nicht hören, es war ihnen unerträglich, daß ste aus dem Tode Jesu Heil und Leben schöpfen sollten. Andere mochten die Rede Jesu aus Liebe ju seiner Person hart und unerträglich finden, wie

dort PetrvS, als Jesus von seinem Tode redete, ihn anfuhr, und sprach: Herr, schone deiner selbst, daS wiverfahre dir nur nicht (Matth. »6, aa.). Es war eine starke, fleischliche Liebe, die sie ju ihm hegten, und die sie vor seinem Tode zittern machte. Da aber Jesus bei sich selbst merkte, daß seine Jünger da. rüber murreten, sprach er zu ihnen: Aergert euch das? ist das euch anstößig, macht rS euch irrt am Glauben an mich, in der Hoffnung, die ihr auf mich fetzt? (V.6>.). Wie, wenn ihr denn sehen werdet den Menschensohn auffahren dahin, da er zu« vor war? (V. 6a.). Schon der bloße Gedanke an sei« neu Tod machte sie irre; wie wenn nun dieser selbst erfolgte, wenn ihr geliebter Meister ihnen entrissen wurde? Wie muß. ten sie das erst hart und unerträglich finden! Jesus tröstete fic mit den Worten: Der Geist ist es, der da lebenbig macht: daS Fleisch ist kein nütze. Die Worte die ich rede die sind Geist und Leben. (V. 63.) Diese Worte scheinen ganz mit den obigen: Wer mein Fleisch isset, der hat das ewige Le. bcn, in Widerspruch zu stehen. Hier heißt es: daö Fleisch ist kein nütze, und dort wird das Fleisch als Lebcnsdrod bezeichnet. Allein Jesus spricht hier gegen die fleischliche Liebe des Fleisches, gegen eine Liebe zu seiner Person, welche den Werth derselben überschätzt, sich an das Aeußerliche hängt, nicht zum Geiste durchdringt, und keines Opfers fähig ist. Dort hingegen spricht er vom Genuß des Fleisches als des Mittels der geistigen Gemeinschaft, von der Benutzung seiner persönlichen Erscheinung als der Erscheinung drS Wortes GotteS. Beides verträgt sich also wohl miteinander. Das Fleisch ohne den Geist, daS todte, leibliche Fleisch, ist freilich nichts nütze» nur der im Fleische erschienene Geist macht lebendig. Dieser Geist erschien nun allerdings am reinsten in den Worten, welche Jesus redete; das Wort Gottes, das in ihm Fleisch geworden war, offen­ barte sich in seiner Lehre in der angemessensten Gestalt: und darum verweist er die über den Verlust seiner Person ban«

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getiten Jünger auf seine Worte; an diese sollen sie sich hal­ ten, diese sollen sie sich aneignen, denn die sind, sagt er, Geist und Leben. Ist auch das Fleisch dahin, so bleibt doch der in den Worten ausgesprochene Geist der Wahrheit zurück; wer diesen zu fassen weiß, der kann sich über den Verlust des Fleisches trösten, er bleibt mit dem Hingeschie­ denen in geistiger Gemeinschaft, und empfangt von ihm mit­ telst seiner Worte Lebensnahrung für seinen Geist. Diese merkwürdigen Worte Jesu haben für uns in ihrer ursprünglichen Beziehung keine Anwendbarkeit; wir haben ihn nicht in seiner leiblichen Erscheinung gesehen, und ihn nur als den, der für uns gelitten hat und gestorben ist, kennen gelernt: mithin können wir nicht aus fleischlicher Liebe zu seiner Person seinen Verlust betrauern; vielmehr sind wir gewohnt, seinen Tod als das Mittel unseres Heils zu betrachten. Auch halten wir uns an seine Worte, achten sie für höchst wichtig, und suchen in ihnen unsere Seligkeit. Wir scheinen sonach über die fleischliche Rich­ tung der Zeitgenossen Jesu erhaben zu sein. Allein in einer etwas anderen Beziehung leiden diese Worte auch auf uns Anwendung, und dienen dazu, uns vor einer fleischlichen Richtung ähnlicher Art zu warnen. Wir überschätzen die Person Christi, und treiben mit ihr einen Götzendienst, in­ dem wir nicht sowohl in dem Ewigen und Allgemeingültigen, das er uns geoffenbarct hat, in seinem Geiste, unser Hei! suchen, als in demjenigen, wodurch er uns jenes gevffen» baret hat, in seinem Leben, in seiner Menschwerdung, in seinem Thun und Leiden auf Erden. Viele, und gerade die eifrigsten Christen, unter uns fehlen, im Gegensatze mit je­ nen, welche sm Christenthume nur das Allgemeine suchen, im anderen Aeußcrsten, indem sie gerade das Besondere, die Art und Weise der Offenbarung und Verwirklichung, für das Wesentliche halten. Es ist ihnen nicht genug in Jesu das fleischgewordcne Gotteswort zu schauen; ihnen scheint die Art seiner Zeugung und Geburt, und was sich dabei zu­ getragen, von besonderer wichtiger Bedeutung zusein; die Wunder sind ihnen fast wichtiger als sein übriges Thun und

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Wirken; seine Verklarung im irdischen Licht auf dem Berge bemerken sie mehr, als seine Verklarung durch den Tod am Kreuj; seine Auferstehung würden sie mit Thomas nicht glauben, wenn sie nicht die vielen Zeugnisse davon läsen und sie gleichsam mit Augen schauten. Sein Tod ist ihnen die Quelle alles Heils» und sie sind weit entfernt, mit den Jün­ gern sich daran ju ärgern; aber das Fleischliche darin, das getödtete Fleisch, das vergossene Blut, ist es, worin sie das Heil finden, wenigstens vergessen sie über dem sinnlichen Spiel mit den Bildern der Dornenkrone, des Blutes, der Nägelmale und Seitenwunde, den Geist, in welchem sich Christus geopfert, und sie halten das Blut für versöhnend und reinigend, während es doch der Glaube an Christum und die geistige Gemeinschaft mit ihm ist. Sie würden die Behauptung anstößig finden, daß Gott mit dem Menschen schon allein durch die Liebe, welche in Christo war, versöhnt worden, daß das ganje Leben Jesu versöhnend gewesen, ja, daß Gott nie eines Versöhners bedurft habe, sondern daß durch Christi Leiden und Sterben nur die Menschen von Gottes Vaterliebe überzeugt werden mußten; sie würden der. gleichen anstößig finden, weil sie in Jesu Tod nicht den Geist und die geistige Bedeutung auffassen, weil ihnen das Fleisch Christi nicht ein lebendiges, vom Geist durchdrungenes ist. Was aber das schlimmste ist, auch in Jesu Worten finden sie nicht Geist und Leben. Sie werfen sich eben auf die Worte und Buchstaben, fassen die darin enthaltene Wahr, heit nicht mit freiem Geiste auf, und ärgern sich, oder ver. stehen es nicht, wenn Andere, eben um die Buchstäblich, krit zu vermeiden, andere Worte gebrauchen, oder die bekannten in freier Verbindungsweise miteinander verknüpfen. UnS fei daher die in Jesu Worte» enthaltene Warnung vor dem fleischlichen Sinn im Glauben an ihn und in der Liebe an ihn um so wichtiger, als wir ihrer fast noch mehr, denn seine Zeitgenossen, bedürfen. Der Geist ist rS, der lebendig macht. Im Geiste laßt uns Christum rrken. nen und lieben, in geistige, innere Verbindung mit ihm treten, den Geist seines Lebens, seines Leidens und Ster«

»75 bcns auffassen und unS aneigneu, und feine Worte durch freies Verständniß in unserm Geist in Geist und keben »er« wandeln. Sein Geist ist daS wahre Himmelsbrod, denn dieser ist vom Himmel aus dem Schooße des Vaters gekom­ men ; sein Fleisch ist von der Erde und kann ohne den Geist unsere Seele nicht speisen. Setzen wir uns in die Lage der Zeitgenossen Jesu, welche fich mit fleischlicher Liebe an seine Person hängten: so bietet sich noch eine fruchtbare Anwendung der Worte Jesu dar. Wir sollen nichts, was uns theuer ist, um des Fleisches willen in seiner äußerlichen, vergänglichen Er­ scheinung, sondern den Geist, daS Unsterbliche, das Bele­ bende darin lieben und schätzen. Die Liebe zu den Unsrigen, ju unsern Eltern, Geschwistern, Gatten, Kindern, Ver­ wandten, Freunden, hat besonders mit dem fleischlichen Sinne, mit Begierde und Leidenschaft ju kämpfen; und wenn der Herr über Leben und Tod ein Opfer fodert, so murren wir, oder wenn wir auch nur an den Tod der Ge­ liebten denken, so jagen und zittern wir. Wir sollen io ihnen nichts als ihren Geist, ihr Herj, ihren Charakter lieben; und wenn wir nur dieses liebten, so würde uns ihr Tod zwar Thränen kosten, aber die Lebenskraft der geistigen Liebe würde unser Herz tristen und erheben; ihr Geist, das Bild ihres geistigen Lebens, würde uns gegenwärtig bleiben und unS ihre entrissene Gegenwart ersetzen. Der Geist ist es, der lebendig macht; der Geist ist unsterblich und verleiht allem, was ihm eigen ist, Unsterblichkeit und ewiges Leben. Aber es sind etliche unter euch, die glau­ ben nicht (D. 64.). Mit diesen Worten gab Jesus den Grund an, warum Manche an seinem Tode Anstoß nahmen. Sie erkannten ihn nicht für ihren geistigen Heiland, nicht für das ewige Wort Gottes, nicht für den Stifter eines geistigen Reiches Gottes auf Erden, und darum hingen sie an seinem Fleisch, und setzten auf dieses und nicht auf seinen Geist ihr Vertrauen und ihre Hoffnung. Auch diejenigen glauben nicht, welche die Gründe ihres Glaubens in der

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äußerlichen Erscheinung und den kebensumständen Jesu fin. den, und einen $u hohe« Werth auf seine Wunder legen; sie erkennen Jesum und seine Erlösung nicht dem Geiste nach, sie glauben nicht ohne zu sehen, ohne durch äußere, sinnliche Beweise überführt ju werden. Auch diejenigen glauben nicht, welche ihre Geliebten fleischlich lieben und über ihren Tod untröstlich sind. Eie glauben nicht an das geistige Lebe«, und setzen nicht darauf, sondern auf daS Fleisch ihre Zuversicht; sie glauben nicht wahrhaft an die Unsterblichkeit des Geistes, weil sie der Tod so schmerjlich berührt, der doch nur das Fleisch in Staub verwandelt. Der Evangelist bemerkt hierbei, daß Jesus von An. fang wohl gewußt habe, welche nicht geglaubt hätten und welcher ihn verrathen würde (V. 64.). Denn Er wußte ja alles, was im Menschen war (Kap. 2, 25.). Ihn täuschte also eine bloß fleischliche Liebe und Anhänglichkeit nicht. Ach! aber uns täuschen oft die Freunde mit der Vorspiegelung wahrer, reiner, geistiger Liebe, während sie doch nur unser Fleisch, unsere Gestalt, unsere Umgebungen und Besitz und die fleischlichen Vortheile, welche ihnen unsere Freundschaft gewährt, lirben. Falsche Freunde, die uns nur fleischlich lieben, werden oft an uns ju Verräthern, wie es Judas an Christo ward: sie verlassen unS im Unglück, wenn wir ihnen keinen Vortheil mehr gewähren können, oder sie geben uns gar dem Feinde Preis. Noch öfter werden sie unsere Der. führet, indem sie uns mit ihrer fleischlichen Liebe ebenfalls fleischliche Begierden einflößen, und uns zum Laster fort« reißen. O wüßten wir immer, wer wahre Liebe zu uns hat, damit wir nur solchen unser Herz aufschlössen, vor Andern aber auf unserer Hut wären! D. 65. Macht Jesus wieder den schon V. 3y. 44. angegebenen Grund bemerklich, warum Manche keinen Glau« bcn haben: nämlich es fehle ihnen die Empfänglichkeit der Natur, sie seien nicht von göttlichen Antrieben erregt, e S fei ihnen nicht von Gott gegeben. Aber diese offene Erklärung scheint dazu beigetragen zu haben, daß diejenigen, welche sich an den vorigen Reden geärgert hat«

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fett, und Mißtrauen und Abneigung gegen ihn fühlten, zum Abfall bestimmt wurden. Von dem an gingen viele seiner Jünger von ihm ab, und wandelten nicht mehr mit ihm (V. 66.). Wäre in ihnen eine gewisse Empfänglichkeit und somit Hoffnung vorhanden ge­ wesen, daß fie noch an ihn glauben würden; so hätte fie Jesus gewiß geschont, und ihnen nicht allen Glauben und alle Fähigkeit dazu abgesprochen; aber da es ihnen einmal nicht von Gott gegeben war, zu ihm zu kommen und in Ge­ meinschaft mit ihm zu treten t so war es besser, baß eS zwi­ schen ihm und ihnen zum Bruch kam. Ein unlauteres, un­ klares und schwankendes Verhältniß bringt keinen Segen, und man thut wohl, es bald abzubrechen; Menschen, die sich nicht einander verstehen, noch anziehen, sollen in keine Verbindung mit einander treten, und wenn sie eine solche geschlossen, sie nicht fortsetzen, cs sei denn, daß sie sich klar mit einander verständigt haben. — Da sprach Jesus zu den Zwölfen: Wollt ihr auch weggehen? (V. 67.). So nothwendig Jesu die Scheidung von jenen falschen Jüngern schien, so sehr schmerzte sie ihn. Ach! sie gingen ja in ihrem fleischlichen Sinn dem Verderben ent­ gegen, sie wandten sich wieder vom Lichte zur Finsterniß; und hätte ihn das nicht schmerzen sollen, der gekommen war das Verlorne zu retten? Auch uns schmerzt jeder Bruch und jeder Riß, wenn wir uns auch von der Nothwendigkeit desselben überzeugt haben; nur die Eintracht und Ueberein­ stimmung thut einem guten Herzen wohl. Mit diesem schmerzlichen Gefühl fragte Jesus die Eilfe, ob auch fie, seine nächsten Freunde, ihn verlassen wollten; er hielt sich gleichsam an sie als an seine letzte Stütze. Tr wußte wohl, daß sie nicht von ihm gehen würden, aber er wollte die Ver­ sicherung ihrer Treue auS ihrem Munde vernehmen. Wie sehr mußte ihm daher die Antwort des Simon Petrus erfreulich sein! Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens; und wir haben geglaubt und erkannt, daß du bist Christus, der Sohn des lebendigen G 0 t« Bibl. Erbauungsb. I.

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tes (25. 68. 69.). (Birnen hatte Jesu Worte erkannt als Geist und Leben, in ihnen die ewige Wahrheit und das ewige Heil gefunden, und ihre Kraft in der befeligcnden Wirkung auf sein Herz erfahren; er fühlte sich angezogen, angekettet, festgehalten, hier fand er alles, was er gesucht, wornach er sich gesehnt hatte: wohin hatte er sich sonst wenden sollen, was hatte ihn von Jesu Seite wegzureißen vermocht? Er hatte mit seinen Mitjüngern die feste Ueberzeugung gewonnen, daß Jesus der Christ, der Gesalbte Gottes, der Stifter deS Reiches Gottes auf Erden, und der Sohn des lebendigen Gottes, das Ebenbild und der Stellvertreter deS Schöpfers und Erhalters aller Dinge, der Urquell alles Lebens sei. Nur durch das lebendige Verständniß der Worte Christi, als die da Geist und Leben sind, kann man zu dieser Ueberzeugung gelangen; das Fleisch und dessen Liebe kann sie uns nicht geben. Mit Petrus glaubten noch zehn der Jünger, und diese stimmten mit Wort und Blick in das freudige Bekenntniß desselben ein. Nur Judas Jscharioth glaubte nicht mit ihnen, und obschon er wohl auch so sich stellen mochte, als glaube er, und sich vielleicht selbst davon überredete: so wohnte doch der Unglaube in seinem Herzen, welcher auch späterhin hervorbrach. Jesus durchschaute ihn, und mit schmerzlichem Tone sprach er: Habe ich nicht euch zwölfe erwählt? Und Einer ist ein Teufel (Ver rather)! 23. 70. Er sah die schwarze That dieses Menschen voraus, als unausweichliches Derhangniß, und doch suchte er ihn durch diese Rede entweder zur Besserung oder zum Austritt aus dem Kreise der Jünger zu bewegen, damit er ihn der schweren Verschuldung überheben möchte. Aber vergebens. Noch schied sich in der Seele des Verräthers das Licht nicht von der Finsterniß, eine trübe Däm­ merung verhüllte seine Seele, und in dieser ging er seinen Weg fort, bis er endlich in den Abgrund des Derber, bens sank.

»79 Ich blicke zurück auf den Weg, den ich in der Betrach­ tung zurückgelegt habe. Irdisches Brod war eS, was ich in der Wüste Jesum austheilen sah; aber durch den Geist, die Kraft und die Gesinnung, mit welchen er es austheilte, war es das Zeichen seiner göttlichen Sendung. Von die­ sem Brode wies mich JesuS hin auf das geistige Lebensbrod, welches er der Menschheit mittheilt, welches er kn feiner ganzen irdischen Erscheinung, in seinem Leben und Sterben ist. Wie er dort das Brod unter die Fünftausend aus­ theilte, so gab er seinen Leib hin zum Heil der Welt. Aber auch dieses Brod ist nur belebend, wenn es im Geiste genos­ sen wird, wie er es im Geiste der ewigen Wahrheit und Liebe gegeben hat. Der Geist ist es, der lebendig macht, und in ihm ist der Geist des Vaters, er ist der Sohn deS lebendigen Gottes. O herrlicher Stufengang vom Irdischen zum Geistigen und Himmlischen, den mich Christus führt! Wun­ derbare Vereinigung des Irdischen und Himmlischen in ihm! Er theilt irdisches und himmlisches Brod aus; er ist Fleisch und Geist, Mensch und Gott; mit irdischen und geistigen Banden zieht er mich zu sich hin, auch darin feinem Vater ähnlich, welcher sich uns in der körperlichen und geistigen Welt, in leiblichem und geistigem Segen, in allem, waS uns umgibt und berührt, alS den liebenden Versorger, Lehrer, Führer, Erzieher offenbart. Ja, Alles, Leibliches und Geistiges, will ich zu meinem Heil benutzen, Alles im Geiste, mit freier, reiner Liebe, mit gläubigem Hinblick auf den Vater und seinen Sohn Jesus Christus aufnehmen, und in mir in Geist und Leben verwandeln!

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Jesu Reise nach Ierusalem zum Laubhüttenfest und seine Reden daselbst. Erster Abschnitt. (SS. 1-14.)

Darnach

zog Jesus umher in Galilaa,

das

Reich Gottes verkündigend, lehrend, wohlthuend, heilend: denn dadurch, daß er von einem Orte zum andern zog, machte er seine Wirksamkeit allgemeiner, als wenn er immer an demselben Orte gepredigt hatte. Er wollte aber nicht in Judaa umherziehen darum, daß ihm die Juden nach dem Leben stelleten. (33. i.). Er entging den Nachstellungen seiner Feinde auS Klugheit, nicht aus Furcht. Es war aber nahe der Juden Fest derLaubrüst oder der Laubhütten, in welchen sie zum Andenken an den Zug durch die Wüste wohnten (33. 2.). Dieses Fest besuchten nun gewöhnlich, dem Gesetz gemäß, die meisten Juden auch aus den entfernten Landschaften, und darum fodern Jesum seine Brüder auf, dahin zu gehen, aber nicht etwa, damit er das Gesetz erfüllte oder damit er in Jerusalem das Evangelium predigte, sondern damitsei ne Jünger daselbst die Werke sehen sollten, die er that (D. 3.). Niemand, setzen sie hinzu, thut etwaS im Verborgenen, und will doch frei offenbar sein. Thust du solches, so offenbare dich vor der Welt (23. 4.). Aus ihnen sprach die ge« meine Wcltklugheit; denn sie glaubten nicht an ihn (33. 5.). Höchstens hegten sie von ihm die Erwartung, daß! er sich zum weltlichen Messias auswerfen werde; eS kannj

aber auch sein, daß sie ihn für nichts als einen Rabbi hiel­ ten , der nur Wunder zu verrichten im Stande sei, und dadurch Aufsehen erregen, Bewunderung einernten und sich einen großen Anhang erwerben wolle. Sie trauten ihm weltliche, eitle Absichten zu, und gaben ihm daher Rath­ schläge weltlicher Klugheit. Sie schlossen so: seine Absicht sei doch, frei offenbar zu sein, die Augen der Welt auf sich zu ziehen: wie reime sich nun damit, daß er seine Wunderthaten in dem Winkel des entlegenen Galiläa verrichte, und sie nicht vielmehr in Jerusalem zur Schau stelle? Sie ver­ riethen damit recht deutlich, daß sie nicht an ihn glaubten, daß sie ihm keinen göttlichen Zweck zutrauten, in ihm nichts Höheres anerkannten, sondern ihn und sein Thun ganz nach gemeiner, menschlicher Klugheit beurtheilten. An Jesum glaub«, heißt nicht blos ihn für den Messias oder einen Wunderthäter halten, sondern in ihm die höchste Wahrheit und Reinheit finden, auf ihn bloß himmlische Hoffnungen gründen, und ihm nichts als reine, heilige Absichten zutrauen. Glaube und Gesinnung sind unzertrennlich verbunden. Der Christ, der in Christi Geist wirket, will allerdings frei offenbar werden; er will, daß die Wahrheit und Gerech­ tigkeit, für welche er wirket, allgemein anerkannt und das Reich Gattes immer mehr verbreitet werde. Und doch thut er, waS er thut, nicht zur Schau, drangt sich nicht mit sei« urn Thaten hervor, sondern wirket da, wo es ihm der Geist gebietet, und wo es das Bedürfniß federt, und wie es sich trifft, in der Stille und öffentlich, wie auch Jesus manch­ mal öffentlich wirkte. Er überlaßt eS der inneren Kraft der Sache, für welche er wirket, nach und nach durchzudringrn, und die Herzen für sich zu gewinnen; und er ist gewiß, daß solches geschehen wird. Wer ungeduldig darauf hinarbei­ tet, öffentlich anerkannt zu werden, wird nichts als eitlen Ruhm einernten, weil er dann nicht auf den inneren Zweck, sondern bloß auf den äußerlichen Erfolg gerichtet ist. Er wird nicht die Herzen gewinnen, sich keine wahre Achtung und Liebe erwerben, und der Sache, welcher er dient, nicht den Sieg verschaffen.

Jesus antwortet seinen Brüdern: meine Zeit, nach Jerusalem zu gehen,

ist noch nicht da, eure Zeit

aber ist allewege (93. 6.). Wer gemeine Zwecke ver­ folgt, hat auch nur eine gemeine Klugheit nöthig; der Weg jum Ziel steht ihm immer offen. Wer hingegen höhere Zwecke verfolgt, muß Zeit und Stunde sorgfältig wählen. Die Welt kann euch nicht hassen, mich aber hasset sie denn; ich jeuge von ihr, daß ihre Werke böse sind (V. 7.). Wer die höheren Zwecke der Wahrheit und Gerechtigkeit verfolgt, der tritt mit der Welt in Kampf, klagt sie durch Wort und That ihrer ver­ kehrten Richtung an, und zieht sich ihren Haß zu: mithin muß er eine höhere Klugheit beobachten, als derjenige, der mit dem Strome des großen Haufens fortschwimmt. Indem man diesem Strome in den Weg tritt, wie man immer thut, wenn man für das Höhere wirket, auch ohne daß man, wie JesuS, den Sittenrichter macht, muß man sich in Acht nehmen, daß man nicht von ihm in den Abgrund gezogen werde. Auch hier lehrt uns Christus/ daß die Klugheit zum Wirken für daS Reich Gottes unumgänglich nothwendig ist. Er gibt sich nicht zu früh und unfruchtbarer Weise der Gewalt seiner Feinde Preis; er vermeidet die Gefahr so lange, bis die Stunde seines Todes gekommen ist. Und so erklärt er seinen Brüdern, daß sie immerhin nach Jerusalem ziehe» möchten, er selbst aber wolle noch nicht hingehen, denn feine Zeit sei noch nicht erfüllet, d. h. noch nicht vorhanden (95. 7.). Er blieb eine Zeitlang in Galiläa zu­ rück, und erst als seine Brüder abgereist waren, folgte er nach, jedoch nicht öffentlich, sondern heimlich (93. 8—10.). Er verschmähte nicht die Vorsichtsmaßregel, heimlich zu reisen; er verbirgt sich, wie es Verfolgte zuthun pflegen. Er bedient sich keineswegs einer höheren Kraft, um sich etwa unsichtbar zu machen oder sonstwie den Nachstellungen feiner Feinde zu entgehen. Er braucht seine Wunderkraft nur, um Andern wohl zu thun oder höchstens um der ge­

fährlichen Bewunderung des Volks aus dem Wege zu gehen,

i83 nicht aber ju seinem Vortheil, nicht ju seinem Schutz, nicht zu seiner Verherrlichung. Die Juden vermißten ihn nun am Fest, und sprachen: wo ist der? (D. r>.). Und es gaben sich in stillem Ge. murmel die verschiedenen Meinungen von ihm kund. Die Einen sagten: er ist gut, er hat gute Absichten und geht mit der Wahrheit um; die Andern aber hielten ihn für einen DolkSverführer, womit sie wahrscheinlich auf feine dem alten Aberglauben und dem Gefetzeswesen entgegengesetzte Lehre deuteten (D. ia.). Denn wer von dem Gewöhnlichen abweicht, «er mit dem Geiste der Freiheit die Wahrheit er« forscht und mit Freimuth verkündigt, wird immer von den Gewohnheits-Menschen der Irrlehre angeklagt. Niemand aber redete frei von ihm aus Furcht vor den Juden (V. i3.). Das ist ein gemeiner Fehler der Men­ schen, daß wenn sie gut von Jemanden denken, welcher den Mächtigen verhaßt ist, sie nicht frei zu reden wagen. Und doch ist es das Geringste, was sie für den Verfolgten thun können. Sie sollten nicht bloß für ihn reden, sondern auch für ihn handeln. Aber mitten im Fest ging Jesus hinauf in den Tempel und lehrete (V. i4.). Vorsichtig, und die Oeffentlichkeit vermeidend, wo es die Klugheit rrfodert, tritt Jesus da, wo es gilt, mit Muth und Entschlossenheit auf, und schaut seinen Feinden ins Angesicht. Seine Vorsicht war nicht eine Frucht der Feigheit, sondern der wahren Klugheit, welche Zeit, Ort und Mittel sorgfältig wählte.

Zweiter Abschnitt. (58. 15 — 24.) Die Juden verwunderten sich über die Lehre Jesu, welche von einer so tiefen Kenntniß der Schrift jeugte, da man doch wußte, daß er sic nicht gelernt, daß er bei keinem Schriftgclehrten in die Schule gegangen war (V. i5.). Der gemeine Mensch hat von keiner andern Kenntniß einen Begriff, als von einer erlernten; auch hält er nichts für

i84 wahr, was nicht durch bas Ansehen eines berühmten Lehrers oder anerkannten Buches bestätigt ist. Nach den inneren Merkmalen der Wahrheit fragt er eben so wenig, als er von einem innern Ursprung der Erkenntniß etwas wissen will. Der Geist ist in ihm nichts Inneres und Selbstständiges, waS bloß aus Gott entspringt und auf Gott gegründet ist; son­ dern er hält ihn für einen Sohn der Erfahrung und des Unterrichts. Hat man doch selbst in neuerer Zeit annehmen zu müssen geglaubt, Jesus habe seine Bildung in irgend einer. Schule ober in einem Orden empfangen, weil man nicht begreifen konnte, wie er solche Weisheit ohne mensch­ lichen Unterricht erlangt haben könne. Aber gerade das Höchste laßt sich nicht erlernen, sondern ist die Gabe der Natur, wie man zu sagen pflegt, richtiger, die Gabe Got­ tes. Die menschliche Wissenschaft, die Schulgelehrsamkcit ist freilich nothwendig, um das Einbrechen der Finsterniß und Barbarei zu verhüten und gewisse Ergebnisse, der Er­ fahrung und Forschung zu behaupten und fortzupflanzen; aber wenn ihr nicht von Zeit zu Zeit durch ausgezeichnete Geister, welche Gott sendet, ein höherer Schwung gegeben und ein neues Leben eingehaucht wird: so wird sie leicht eine niedere Richtung nehmen und in Seichtigkeit und Geistlosig­ keit verfallen. Die heilige Wissenschaft, zumal die Erkennt­ niß Gottes, ist nichts ohne die höhere Erleuchtung, welche von Gott kommt; und menschliches Nachdenken und Forschen allem, ohne ein frommes, reines Herz, ohne Andacht und Begeisterung, führt nicht zum Ziel. Jesus hat gewiß eini­ gen Unterricht gehabt; denn obschon Gott in ihm war, so hatte er doch eine menschliche Seele, welche von der Er­ fahrung abhängig war, und wie der Leib an Größe und Starke wuchs und zunahm an Weisheit (Luk. 2, 5a.): mithin war er der Anregung und Anleitung bedürftig. Na­ mentlich mußte er die Sprache der heil. Schrift (die althebräische), welche nicht mehr im gemeinen Leben üblich war, auf künstlichem Wege lernen. Das tiefe Verständniß der Schrift hingegen hat ihm gewiß kein Lehrmeister geöff­ net, sondern dieses fand er durch den in ihm wohnenden

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höheren Geist. Dieses höhere Wissen Jesu, bas Licht, wel« ches er ausstrahlte, bedurfte eben so wenig des menschlichen Ansehens und der Bestätigung durch menschliches Beispiel und Zeugniß, alS eS seinen Ursprung in menschlicher Ueber, liefrrung und Lehre hatte. Die Wahrheit, zumal die höchste, welche das ewige Heil des Menschen betrifft, bedarf keines äußeren Bestätigungsmittels, sondern bewährt sich unmittel, bar durch ihre Wirkung auf daS Herz. Aber «ine solche äußere Bestätigung vermißten die Juden an Jesu Lehre, und in der Frage, woher er diese Wissenschaft habt, da er keinen bekannten, berühmten Lehrmeister gehabt, liegt zugleich der Vorwurf, daß er alles Ansehens ermangele, und daß man ihm nicht glauben könne. Jesus antwortete ihnen und sprachr Meine Lehre ist nicht mein, sondern deß, der mich gesandt hat (V. 16.). Er antwortet eigentlich auf den Vorwurf, daß er, von allem Ansehen eines menschlichen Lehrmeisters entblößt, auf sich allein stehe, und deßwegen keinen Glauben verdiene. Ihr sollt mir, will er sagen, eben so wenig um mein selbstwillen, als um des Namens eines berühmten Lehrmeisters willen glauben; meine Lehre ist nicht wahr, weil ich sie für wahr halte, weil ich sie durch mein Nachdenken gefunden, weil ich sie euch vortrage, sondern weil sie von Gott, dem Urquell aller Wahrheit, stammt und in sich selbst das Merkmal der göttlichen Wahrheit trägt. Meine Lehre ist nicht das Werk menschlichen Forschcns und Nachdenken-, tragt nicht das Gepräge menschlicher Willkür und Eigenheit, sondern ist die ewige Wahrheit selbst in sich lauter und zu. verlässig. Diese Worte Jesu, welche geradezu allem Ansehensund Ueberlieferung-«Glauben entgegengesetzt sind und auf den inneren Gehalt seiner Lehre verweisen, sind gleichwohl mißverstanden worden. Man hat darin wieder eine gewisse Nahrung für den Ansehens - Glauben gefunden, indem man meint, Jesus wolle dem menschlichen Ansehen das göttliche Ansehen entgegensetzen. Man hat eine verworrene, aber immer halb sinnliche Vorstellung von der Verbindung GotteS

.86 mit Jesu Seele; man scheint — denn wer mag das in sich selbst schwankende genau bestimmen? — diese Verbindung sich so ju denken, als habe Gott in Jesu Seele auf die Weise seinen Sitz gehabt, wie man sich die Seele im Leibe (etwa im Gehirn) eingeschlossen denkt, und habe ihm seine Offen­ barungen gleichsam eingeflüstert. Wenn nun Jesus sagt, er rede nicht von sich selber, sondern aus göttlicher Offen­ barung: so versteht man das so, als wenn ein Schüler sagt, er lehre nur das, was ihm sein Lehrer gesagt habe; und so stellt man wieder ein gewisses Ansehen auf, auf welches sich der christliche Glauben stützen soll. Wie Christus mit Gott verbunden gewesen, wie Gottes Geist auf seinen menschlichen Geist eingewirkt habe, ist für uns schlechterdings unbegreiflich, und in keiner Vorstellung darüber, von welcher Art sie fein mag, kann die Gewahr seiner Lehre liegen. Gott ist der Urquell aller Weisheit, seine Weisheit ist die vollkom­ menste: wenn daher Christus sagt, seine Lehre sei göttlich, so heißt das weiter nichts, als sie sei kein Menschenwerk sowohl dem Ursprung als der Beschaffenheit nach, sie sei nicht vom menschlichen Verstände, der ja immer irret, erfun­ den , und schließe keinen Irrthum in sich. Damit aber ist unendlich viel gesagt, und alles das, was jur Befestigung unseres Glaubens gehört. Von allem, was nicht in der Lehre selbst liegt, von allem, was irgend ein Vorurtheil und ein Ansehen begrün­ den könnte, lenkt uns Jesus mit den merkwürdigen Worten ab: So Jemand will deß Willen thun, der wird inne werden, ob diese Lehre von Gott sei» oder ob ich von mir selbst rede (35. 17.). GotteS Willen thun, heißt der Wahrheit Gehör geben und Gehor­ sam leisten, sich mit treuem Herzen ihr zu eigen geben und in ihr leben. Wer die Wahrheit aber zur Richtschnur seines Han­ delns macht, besitzt sie schon, wenigstens im Gefühl und in der Gesinnung. Ein solcher nun wird inne werden, daß Jesu Lehre von Gott sei, indem er die innere Uebereinstim­ mung derselben mit dem Willen Gottes erkennt. Mit an­ dern Worte» hatte Jesus auch sagen können: Wer die

Wahrheit liebt und Sinn für sie hat, der wird inne werden, daß meine Lehre Wahrheit sek. Cs ist ein ähnlicher Ge. danke, wie jener: Wer zu Christo kommen und an ihn glauben soll, der muß von Gott gezogen und belehrt sein, der muß eine innere göttliche Erregung haben (Kap. 6,44 f.). Wo ist nun da ein äußeres Merkmal der Göttlichkeit der Lehre Jesu, das nicht in ihr selbst läge? Wodurch kann man inne werden, daß sie von Gott sei, als durch ihre innere Beschaffenheit und ihre Wirkung auf das reine, gotterge. bene Herz? Ja, mein Heiland, ich glaube dir und deiner Lehre, weil ich unmittelbar mit fester Gewißheit fühle, daß in dem, was du mich lehrest und was du durch dein Leben und deinen Tod bestätiget hast, die allgenügende, beseligende Wahrheit ist. Ich glaube dir, weil du in allem, was du lehrtest und thatest, mit Gott eins wärest; ich kann dir nicht als bloßem Menschen glauben, nur Gott verdient meinen ganzen, vollen Glauben, die ganze Hingabe meiner Seele; aber in dir war Gott, in deinem Geist, in deinem Herzen war die ungetrübte Wahrheit, die reinste Liebe, das Licht aus Gott. Indem ich dir glaube, so glaube ich dem Vater; indem ich meine Seele vertrauend und liebend an dich kette, so trete ich mit Gott selber in Gemeinschaft. Nichts soll sich zwischen dich und mein Herz drängen; ich will und bedarf keinen Beweis der Göttlichkeit deiner Lehre, der irgend anders woher ent­ lehnt ist; keine Vorstellung meines Verstandes soll erst mein Herz überzeugen; es ist schon überzeugt, noch ehe ich eine anderweitige Vorstellung fassen kann, die Kraft deiner Wahr­ heit hat es schon durchdrungen, und es hängt an dir mit unauflöslichen Banden, Wer von ihm selbst redet, der suchet seine eigene Ehre; wer aber sucht die Ehre deß dev ihn gesandt hat, der ist wahrhaftig und ist keine Ungerechtigkeit an ihm (V. 18.)» Wer von sich selbst redet, aus eigener, willkürlicher Erfindung, wer das Gesetz der Wahrheit nur in sich, nicht kn den von Gott gegründeten Gesetzen

der

Vernunft und in Gvtt selbst findet,

188

mithin nicht das Allgemeingültige , ewig Wahre und Noth­ wendige vorträgt, der sucht seine eigene Ehre, der will sich, seine Geistesgaben, seine Wissenschaft geltend machen und sich Ruhm und Ansehen erwerben ; der will nicht, daß man der Wahrheit, sondern daß man ihm gehorche. Die falsche Eigenheit, die Willkür, der Irrthum in der Erkenntniß und Verkündigung der Wahrheit hängt auf das innigste mit der Selbstsucht zusammen. Der menschliche Verstand ist darum dem Irrthum unterworfen, weil er,vom Willen des Men­ schen abhängig ist und auf diesen die Selbstsucht Einfluß hat. Indem wir über etwas nachdenken, richten wir unsere Aufmerksamkeit darauf; diese ist aber eine Aeußerung des Willens. Wer nicht den Gegenstand des Nachdenkens vor der Seele festhält, und dasjenige, was ihn ablenken und zerstreuen kann, mittelst der Aufmerksamkeit bei Seite schiebt, der wird nicht nachdenken. Wer nicht das Wahre festhält und den Blick des Geistes vom trügerischen Schein des Falschen abkehrt, der wird die Wahrheit nicht finden. Wer einen neuen Gedanken darum lieb gewinnt, weil er neu ist, und er sich durch dessen Bekanntmachung bemerklich machen und Bewunderung gewinnen kann, der wird densel­ ben nicht genau prüfen, und den Geist daran heften, ob­ schon er nicht wahr ist. Wer einen Gedanken darum lieb gewinnt, weil er seinen sinnlichen Neigungen schmeichelt, wird ihn als wahr erkennen und Andern anpreisen, vbschon er falsch ist. Nur wer mit reinem Willen und reinem Her­ zen die Wahrheit sucht, wird sie finden; nur wer sie finden will, wird sie finden. Derjenige aber will sie finden, der­ jenige hat den reinen Willen und das reine Herz, der bei Erforschung und Verkündigung der Wahrheit nichts als Gottes Ehre sucht, nichts will, als daß man Gott gehorche und dessen Willen thue; und darum ist er wahrhaftig und keine Ungerechtigkeit ist in ihm. Auch hier ist auf nichts, was nicht in Jesu Geist und Gesinnung selber läge, hingewiesen; auch hier wird die Gül­ tigkeit seiner Lehre in ihre Beschaffenheit selbst gefetzt. Sie ist nicht wahr, weil dieses oder jenes für sic spricht, sondern

ivtil sich in ihr die Herzensreinheit und Gottergebenheit Christi kund thut. Allerdings ist er allein der Reine, in welchem keine Ungerechtigkeit ist; alle andern Menschen ge« hen mehr oder weniger mit Ungerechtigkeit um, und suchen auf irgend eine Weise, vielleicht sich selbst unbewußt, ihre eigene Ehre: und somit ist in diesem Ausspruch Jesu über sich selbst seine erhabene Einzigkeit, seine Göttlichkeit und Gleichheit mit dem Vater behauptet, allein immer nur auS innern.Gründen. Wäre er nicht der Reine, so wäre er nicht wahrhaftig und glaubwürdig; und nur weil er alledieses ist, so ist er GotteS Sohn. Man darf den Schluß nicht umkehren: «eil er Gottes Sohn ist, so ist er glaub« würdig; denn das heißt mit andern Worten; «eil er glaub« würdig ist, so ist er glaubwürdig, womit man stch im Cirkel herumdreht. Die Reinheit, Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit und somit auch diese Göttlichkeit ist zwar Niemanden in die» fern Grade eigen, noch erreichbar; allein so wie wir alle Gottes Kinder und Jesu, des Erstgebornen GotteS, Brüder werden sollen, so sollen wir ihm auch in dieser reinen Wahr­ heitsliebe und Wahrhaftigkeit ähnlich werden; und in einem gewissen Grade können wir es. Der Ausspruch Christi gilt daher ganz allgemein, wie er auch allgemein ausgedrückt ist. Jesus sagt nicht: ich suche nicht meine, sondern Gottes Ehre, und darum bin ich wahrhaftig, was er auch wohl hätte sagen können; sondern er stellt sich selbst nebst allen sei­ nen Brüdern unter ein allgemeines Gesetz, so wie er dem Willen Gottes Unterthan ist, gleich wie wir demselben Un­ terthan sein sollen. Aber darin besteht eben seine Hoheit, daß er, nach den allgemeinen Gesetzen der Wahrheit und des Guten gemessen, der Vollkommene und Fehllose ist; er will keine andere Ehre, als daß er am reinsten die Ehre Gottes sucht. O wie verschwindet gegen diese Größe alle irdische Herrlichkeit, welche sich mit eitelm Stolze nach ihrem eigenen Maßstabe messen und mit nichts Anderm verglichen sein will! Wie verschwindet dagegen sogar die Wunderherrlichkeit Jesu, das grheimnißvolle Dunkel, welches seine

Person umgibt, und worin wir uns gar nicht mit ihm messen können! Nein, mein Heiland! nur in meinem Herzen, nicht in meiner Einbildungskraft und Wundersucht, will ich dir einen Altar bauen; das Gefühl des Wahren und Guten soll der Maßstab sein, womit ich deine Größe messe. Nicht bloß darum, weil du Wunder gethan, welche ich nicht be­ greife und kein Anderer dir nachthut, nicht, weil Gottes Allmacht sich in deinem Leben verherrlicht hat, nicht, weil deine Gestalt vor Meiner Einbildungskraft wunderbar und geheimnißvoll erscheint, will ich dich als Sohn Gottes ver­ ehren, sondern weil ich in dir alles das vollkommen, rein und wahrhaft finde, wofür mein Herz in den besten Augen­ blicken meines Lebens schlagt, worin ich mein Heil und meine Seligkeit finde, was ich als das Gesetz der Welt und Got­ tes heiligen Willen erkenne. Gottes Wunderkraft und Allmacht tritt mir überall in der Natur entgegen, aber seine Wahrheit, Heiligkeit und Gnade ist nur in dir, dem Sohne Gottes, erschienen; du bist mir das Ebenbild des Vaters, das ich überall in der ganzen Natur vergeblich suche; du bist der Leitstern meines nach Wahrheit suchenden Geistes, du das Vorbild alles Guten, du der Tröster meines nach Frie­ den sich sehnenden Herzens! Hat euch nicht Moses das Gesetz gege. ben? Und Niemand unter euch thut das Ge­ setz. (V. 19.). Die Juden waren unfähig, jene Probe mit Jesu Lehre anzustellen, sie mit der schon anerkannten und befolgten Wahrheit zu vergleichen (V. 16.). Sie woll­ ten nicht Gottes Willen thun, sie gingen nicht mit dem Gu­ ten um; darum konnten sie auch kn Jesu Lehre nicht Gottes Lehre, und ihn nicht wahrhaft finden. Daß sie nun nicht Gottes Willen thaten, bewiesen sie dadurch, daß sie das Ge­ setz Moses nicht thaten. Jesus deutet mit diesem Vorwurf auf die allgemeine Si'ttenlostgkeit und Gesetzes-Uebertretung unter den Juden. Zwar herrschte viel scheinbare Gesetzlich­ keit und selbst Aengstlichkeit in Beobachtung des Gesetzes: dem Geiste nach aber, in der Gesinnung, wurde es nicht beobachtet, und wahrend man Dill und Kümmel verzehrte,

»9* vergaß man die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, und ver. schlang die Häuser der Wittwen (Matth. 23, 11, 23.). Jesus erfuhr es aber auch zunächst an sich selbst, daß die Juden, und jwar gerade die Oberen, das Gesetz nicht beob. achteten, indem sie ihm, dem Unschuldigen, nach dem Leben trachteten. Darum setzt er hinju: Warum sucht ihr mich zu tödten? (D. 20.). Ihrer Nachstellungen wegen hatte er auf geheimen Wegen nach Jerusalem reisen müssen, und nun entschleierte er vor den Augen alles Vol­ kes ihre boshaften Anschläge. Der Muth, mit welchem er trotz jenen Nachstellungen öffentlich im Tempel auftrat, wird erhöhet durch die unerschrockene Art, mit welcher er sie ihres Verbrechens zeihet. So handelt der Gerechte. Geht er auch mit kluger Vorsicht den Schlingen aus dem Wege, welche ihm die Bösen legen r so ergreift er doch bald die Ge­ legenheit, sie dafür zu strafen, und unter dem Schutze des Lichtes die Werke der Finsterniß ju entlarven. Das Volk wußte von diesen Mordanschlägen nichts, und antwortete: Du hast den Teufel, du bist nicht bei Sinnen, (denn die Juden schrieben den Wahnsinn der Wirkungböser Geister ju): wer sucht dich ju tödten? (D. 20.) Aber Jesus wußte, daß Andere wohl verstanden, worauf er zielte, und darum läßt er sich in kei­ ne Erläuterungen ein, sondern, die Thatsache als bekannt voraussetzend, vertheidigt er sich gegen die Beschuldigung, die man ihm machte, und wodurch man die Mordanschläge gegen ihn beschönigte. Man machte ihm nämlich in Jeru­ salem jene Heilung am Sabbath jum Verbrechen (Kap. 5, 16.), und deßwegen rechtfertigte er sich von neuem. Ein einiges Werk habe ich gethan, ich haberin einziges Mal den Sabbath gebrochen, indem ich den Kranken am Teiche Bethesda gesund gemacht, und es wundert euch alle deßhalb,*) ihr seid darüber un­ gehalten und erzürnt (V. 21.). Mose hat euch die *) Deßhalb oder darum gehirt noch zum 21. D. und muß nicht, wir Luther gethan hat, zum 22. V- gezogen werden-

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Beschneidung gegeben; nicht daß sie von Mo­ se kommt, sondern von den Vatern (sie hatte ihren Ursprung von Abraham, gehörte aber zum mosaischen Gesetz): dennoch beschneidet ihr den Menschen am Sabbath. So nun ein Mensch die Be­ sch neidung empfangt am Sabbath, ohne daß das Gesetz Moses gebrochen wird: zürnet ihr denn über mich, daß ich den ganzen Menschen gesund gemacht am Sabbath? (V. 22. 23.). Daraus daß man am Sabbath die Beschneidung vorzuneh­ men pflegte (ein Kind mußte nämlich am achten Tage be­ schnitten werden, wenn es auch ein Sabbath war), beweist Jesus, daß das Sabbathsgesetz nicht ganz unverbrüchlich war, und einem höheren weichen mußte. Nun aber war die Heilung eines Menschen viel wichtiger in Jesu und ge­ wiß in jedes Menschenfreundes Augen, als die Beschnei­ dung; durch diese wurde nur ein Glied gleichsam geheilt, Jesus aber hatte den ganzen Menschen gesund gemacht: mithin war die Aufhebung der Sabbathsruhe um einer so wichtigen Wohlthat willen noch viel mehr erlaubt als um der Beschneidung willen. Aber um dieses einzusehen, mußte man unbefangen und gerecht urtheilen. Richtet nicht, setzte Jesus hinzu, nach dem Schein, oberflächlich, ohne Nachdenken; verdammt mich nicht, weil ich den Sab­ bath gebrochen, ohne den Grund meiner Handlung zu er­ wägen; sondern richtet ein gerechtes Gericht (V. 24.). Gerecht ist eben ein Gericht, wobei man auf die Gründe der Handlung sieht. Jesus gibt hier eine Vor­ schrift für alle Beurtheilung fremder Handlungen, nicht nur im Gerichtshof, sondern überhaupt. Eine Handlung kann ungesetzlich und verwerflich scheinen, weil sie äußerlich angesehen einem Gesetz zuwider lauft; wenn man hingegen auf den Beweggrund und die Absicht des Handelnden sieht, so kann sie Billigung und Lob verdienen. Ach! wie schnell fahren die Menschen oft mit ihrem Urtheil zu, und versündigen sich dadurch an ihren Nebenmenschen. Schein

zu

Nach dem

urtheilen ist so leicht, und cs thut der Eigenliebe

wohl sich zum Richter Anderer auswerfen zu sinnen. Aber hüten wir uns vor dieser Leichtfertigkeit und Eitelkeit, wo« durch wir oft mehr Böses stiften, als die Andern vielleicht durch ihre Handlungen gestiftet haben.

Dritter Abschnitt. (B. 25 — 29.)

Der Freimuth, mit welchem Jesus von den Mordan« schlügen seiner Feinde spricht und sic deßwegen öffentlich straft, ohne darum von ihnen in Anspruch genommen zu werden, macht auf das Volk einen starken Eindruck. Etliche sagen: Ist das nicht der, den sie suchten zu tödten? Und siehe er redet frei, und sie sa« gen ihm nichts (V. 35. 26.). Die unerschrockene Freimüthigkeit gibt dem Guten ein vortheilhaftes Uebergewicht auch in den Augen der Menge, welche bloß nach dem äußeren Ansehen urtheilt. Er erscheint alS siegreich, mäch­ tig und herrschend, und mancher Wohldenkende wird viel­ leicht dadurch auf seine Seite gebracht. Wer sich scheu und feig ins Verborgene verkriecht, der verräth die Sache der Wahrheit und Gerechtigkeit, und entzieht ihr die Würde und Hoheit, welche sie in den Augen der Welt behaupten soll. Das Böse, daS Falsche muß sich in da- Dunkel verkrie­ chen, und es sucht seine Kraft in der Tücke und Hinterlist, wie es jetzt die Obern der Juden machen, welche inS Geheim Jesu Netze stellen, um sich an ihm wegen der muthigen Rüge zu rächen, welche er sich gegen sie erlaubt hat. — Die ungestörte Freimüthigkeit, mit welcher JesuS auftrat, brachte Etliche im Volke sogar auf den Gedanken, daß die Obersten von seiner messianischcn Würde überzeugt seien. Erkennen unsere Obersten nun gewiß, sagen fle, daß er gewiß Christus sei? So muß der feige Wi­ dersacher des Guten oft wider seinen Willen und mit ver­ bissenem Zorne den Schein auf sich laden, als billige er das Guter oft auch muß er dieses heucheln, wenn der Recht­ schaffene mit Muth und Kraft den Schutz der öffentlichen Bibl. (Lrbauungöb. L

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Meinung benutzt, um für das Gute zu reden und zu wirken. Jedoch stiegen eben diesen Leuten, welche nur nach dem äußeren Ansehen urtheilten, Zweifel auf, ob Jesus der Christ sei. Doch wir wissen, von wannen dieser ist; wenn aber Christus kommen wird, so wird Niemand wissen, von wannen er ist (V. 27.). Es scheint, daß manche alte Lehrer der Juden von der Ankunft des MesfiaS behauptet hatten, fie werde unvorbereitet und plötzlich eintreten; er werde mit einem Male, wie aus dem Verborgenen, hervorgehen und seinem Volke das Heil brin­ gen. Sie hatten damit vielleicht andeuten wollen, daß die Hülfe nicht aus menschlichen Vorbereitungen und Veranstaltungrn, sondern aus der Kraft des göttlichen Geistes und aus den gnädigen Fügungen Gottes kommen werde. Sic hatten damit den Blick derer, die da hofften, nach oben rich­ ten, und ihre Hoffnungen von eitler, fleischlicher Ungeduld reinigen wollen. In einem ähnlichen Sinne sagte Jesus; daöReichGottcs komme nicht mit äußerlichen Gebehrden, oder wie der Grundtext lautet, so daß e S beobachtet werden könne (Luk. 17, 20.). Aber diese, wie es wirklich scheint, richtige Behauptung verstanden die spätern Juden falsch so: man dürfe vom Messias nicht wis­ sen, von wannen er sei, von seiner Person weder Herkunft noch Abstammung nachweisen können; er müsse unmittelbar vom Himmel kommen, etwa wie ein Engel, der auf den Fit­ tigen des Lichtes vom Himmel tue Erde niedcrfahrt. Nun kannte man Jesu Vater (Joseph galt überall dafür), seine Mutter und übrigen Verwandten; man wußte auch, daß er von Nazareth kam: und so meinte man, daß er nicht der Christ seyn könne. O welche Befangenheit des Urtheils, welch ein fleischlicher Sinn! Gerade daß der Heiland der Welt auS dem verachteten Nazareth kam» von wannen nach der gewöhnlichen Meinung nichts Gutes kommen konnte, daß er der Sohn armer Eltern war, entblößt von aller irdischen Macht, Herrlichkeit und Weisheit, war die Bewährung jener Meinung, daß das Herl daher kommen werbe, woher man

es nicht erwarte, daß es Gott durch seine Allmacht und Weis. heit» nicht aber die Welt durch ihre Macht und Klugheit schaffen werde. Da rief IesuS

im Tempel, lehret« und

sprach: Ja, ihr kennet mich, und wisset, von wannen ich bin (V. 28.). Ihr kennet meine Abkunft, meinen Geburts- und Wohnort und meine Aeltern r ihr wissrt von wannen ich bin, äußerlich und fleischlich. Er leug­ net nicht, daß er der Sohn des Josephs und der Maria sei; er prunket nicht mit seiner Erzeugung durch die Kraft deS Geistes ohne Zuthun eines Mannes, wie auch der Evangelist keine Erwähnung davon thut, noch der Apostel PauluS je darauf hindeutet. Konnte nicht der Unglaube über ein solches Vorgeben spotten? Es ist keine Thatsache, die fich m der Erfahrung bewährt, nichts, was in die Sinne fällt und dem stnnlichen Menschen bewiesen werden kann. Darum läßt Jesus die Juden bei der Meinung, er sei Josephs Sohn, legt sich aber in geistiger Hinsicht eine höhere Herkunft bei. Aber von mir selbst bin ich nicht gekommen, sondern es ist einer, der mich wahrhaft ge­ sandt hat, welchen ihr nicht kennet (V. 28.). Ob­ gleich Jesus dem Fleische nach einen menschlichen Ursprung hatte, so war dieß doch nicht seine wahre Herkunft, und seine Sendung alS Heilandes der Welt beruhete nicht auf seiner menschlichen Persönlichkeit; nicht er selbst hatte sich geftttdet, noch irgend ein Mensch r seine menschliche Herkunft, welche freilich ohnehin für die Menschen nichts Bestehendes und Ge­ winnendes hatte, war nicht der Berechtigungsgrund seines Auftretens als Messias. Alles das war ja nur äußerlich, und gehörte dem irdischen Scheine, nicht dem wahrhaften Wesen an. Die wahrhafte Herkunft Jesu, seine wahr­ hafte Sendung war die himmlische. Derjenige, der ihn wahrhaft gesandt hatte, war der himmlische Vater. Aber diesen kannten dir Juden nicht; denn sie hingen am Scheine, und konnten sich nicht zu dem Wahrhaften, was übersinnlich ist, erheben. Sie konnten in dem Sohne armer, niedriger Eltern nicht den Göttlichen, den Hochbegab. N

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ten, den Einzigen erkennen. Weil seine Person nicht von irdischem Glanze umgeben war, so blieb ihnen das Himmels« licht verborgen, das er in sich trug. So denken die meisten Menschen. Nicht nur hat die Niedrigkeit Christi beinahe zu allen Zeiten Anstoß gegeben, und ist der Gegenstand des Spottes gewesen; auch im ge­ meinen Leben bei Dcurtheilung ausgezeichneter Menschen von großen Geistesgabcn und hohemBeruf lassen sich die Meisten von der Rücksicht auf die Herkunft und die äußern Verhält­ nisse derselben leiten. Ist jemand niedrig geboren, arm und ohne mächtige Verbindung, so begründet das immer in den Augen der Menge ein Vorurtbeil, welches seiner Wirksam­ keit im Wege steht. Erst muß der Geist durch seine mächt,'gen Wirkungen sich gleichsam gewaltsam Bahn machen und durch sein hervorbrechendes Licht die Augen der Menschen blenden, ehe man ihn anerkennt; in seinen stillen Wirkungen, in seinem reinen Lichte erkennt man ihn nicht. Ach! wie viel edle, fromme Menschen werden verkannt, weil ihren innern Werth eine unscheinbare, prunklose Hülle deckt; wie Diele werden mißverstanden und verspottet, weil die Wahrheit, die sie sagen ohne alle andere Stütze, als ihre eigene Kraft, ist! Jchkenneihnabendennichbinvonihm, und er hat mich gesandt (D. 29.). Jesus kennt den Vater, der ihn gesandt hat, ist mit ihm vertraut, seines Wesens und Geistes und von ihm hergesandt. Er fühlt, was er ist, was er in sich trägt» welch ein hoher Beruf ihm geworden ist. In diesen Worten spricht sich sein hohes Selbstbewußtseyn aus, das ihn über alle Verkennung erhebt. Mögen Alle an ihm irre werden, weil sie sich an dem Mangel einer hohen Herkunft stoßen, oder an ihm das Wunderbare und das Geheimnißvolle vermissen, was nach ihrer Meinung den Messias umgeben soll; er weiß von wannen er ist, und hoch erhaben steht er über der niedrig denkenden Menge. So tröste auch euch, ihr verkannten Edlen, bas Selbst­ gefühl eures Werthes. Ihr kennet die höhere Welt, wel­ cher ihr angehört, worin eure Heimath ist; ihr kennet eure

i97 Geistesverwandten, und seid von ihnen gekannt und geliebt. Dieses Selbstgefühl, dieser Beifall der Gleichgesinnten gilt euch mehr, als das Jauchzen der nach dem Scheine haschen, den Menge. Und steht ihr auch in dunkler Umgebung, ent. blößt von allem Glanz und Schimmer; in euch ist es hell und heiter: euer Gemüth strahlt von seinem eigenen Lichte.

Vierter Abschnitt. (58.30—36.)

Jesu Feinde suchten ihn zugreifen und gefangen zu nehmen, aber es gelang ihnen noch nicht, da Nie« mand Hand an ihn legte, d. h. den Muth hatte, Hand an ihn zu legen (V. 3o.), wie denn wirklich nachher die ausge« sandten Knechte des hohen Raths unverrichteter Sache zurückkchren-svgl.V. 45. f.). Den Eindruck, den Jesu Reden und Thaten auf das Volk machten, lahmten jede Hand, welche Gewalt an ihm üben wollte. Späterhin freilich fanden sich frevelhafte Hände, welche sich an ihm vergriffen, und es waltete über ihm eine höhere Leitung, in deren Absicht es lag, daß er jetzt noch nicht in die Gewalt seiner Feinde fal­ len sollte. Daher seht der Evangelist hinzu: Denn seine Stunde war noch nicht gekommen (D. zo.). Gott bedient sich bei Lenkung der Schicksale immer der menschlichen Handlungen, Gesinnungen und Triebfedern. Es war mensch« sicher Weise jetzt noch nicht die Zeit gekommen, wo Jesus seinen Feinden unterliegen sollte, und zugleich war cs noch nicht Gottes Wille. Beide Ansichten, die einer natürlichen Nothwendigkeit und die einer höheren Fügung, deutet der Apostel zugleich an, und beide müssen in der That auch immer mit einander verbunden werden. Alles ist zugleich durch na­ türliche Verknüpfung und durch den göttlichen Willen noth­ wendig. Viele vom Volke glaubten an Jesum, und hielten ihn für den Messias» aber ihr Glaube stand auf einer sehr niedrigen Stufe, da sie bloß nach der Menge der von ihm verrichteten Wunder urtheilten, und diese gleichsam

abzählten. Wenn Christus kommen wird, sagten fie: wird er auch mehr Zeichen thun, als dieser thut? (V. 3i.), Der Evangelist will auch keinesweges ihren Glauben rühmen und als einen Gewinn für die Sache Christi rechnen» er führt dieß nur an, weil die Pharisäer, welche davon hörten, daß dergleichen Aeusserungen im Volke umliefen, dadurch veranlaßt wurden, die Hohenpriester zu bewegen» daß sie Gerichtsdicner gegen ihn aussandten, ihn gefangen zu nehmen (V. 32.). Jesus merkte ihre Anschlage; und ob er gleich wußte, daß sie jetzt noch vereitelt werden würden; so sah er doch seinen nahen Tod voraus, und äußerte sich mit Wehmuth darüber. Nicht als ob er sich davor gefürchtet oder eine falsche Liebe zum Leben gehegt hätte; sondern ihn schmerzte allein der Gedanke, daß seine ungläubigen Zeitgenossen seine Gegenwart ungenützt vorbeigehen ließen, und in ihren Sün> den verharrten. Er sprach zu ihnen, dem Volke nämlich: Ichbi»noch eine kleine Zeit bei euch, und dann gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat (V. 33.). Nicht lange mehr, will er sagen, wandle ich unter den Lebendigen; bald werde ich in die Ewigkeit zu mei« nem himmlischen Vater zurückgehen: benutzet also meine kurze Gegenwart, empfanget das dargebotene Heil, ehe es denn zu spät ist. Ihr werdet mich suchen und nicht finden; und wo ich bin könnet ihr nicht hinkommen (V. 34.). Die Juden suchten allerdings das Heil, aber nicht das rechte; sie erwarteten den Messias, aber nicht den wahren; und so konnten sie ihn nicht finden, und können ihn jetzt noch nicht finden. Wo Jesus ist, da konnten und können sie nicht hinkommen, denn er ist beim Vater und wandelt nicht mehr aus der Erde. Sie suchen einen irdischen Heiland, und der wahre ist im Himmel beim Vater. Dieser wehmüthig warnende Zuruf, die Zeit des Heils nicht zu verscherzen, gilt auch uns noch, nur in etwas anderer Weise. So lang« wir auf dieser Erde wandeln, haben wir noch unser Schicksal in Händen, und können für unser ewiges

-99 Heil sorgen. Wie kurz aber dauert unser Leben! CS ist nur eine kleine Zeit, welche uns hier vergönnt ist. Laßt uns sie also benutzen, und unsern Heiland suchen, der sich uns in den Heilsmitteln seiner Kirche bietet, und nicht müde wird, unS an das, was noth ist, zu mahnen. Es möchte eine Zeit kommen, wo wir ihn suchen und nicht sinden! Im Angesicht des Todes treibt uns vielleicht die Angst zu ihm; aber er läßt sich nur von denen finden, welche Glaube« und Liebe zu ihm haben. Jesu warnende Worte gelten uns aber auch in Beziehung auf diejenigen Menschen, denen wir Liebe schuldig sind. Sir, wie wir, wandeln auf leicht zugedeckten Gräbern, und vielleicht verschlingt sie der nächste Augenblick; sie sind nur eine kleine Zeit bei uns. Ach! benutzen wir diese Zeit, um unsere Schuld gegen sie abzutragen, oder unser Unrecht gegen sie wieder gut zu machen. Es kommt eine Zeit, wo wir sie suchen und nicht finden werden, wenn sie heimgegangen sind ins ewige Vaterland, und uns hier mit uns selbst und unsern Gewissensbissen allein gelassen haben. Dann ist alle Reue vergeblich, wir können den verstorbenen Geliebten nicht die Thränen mehr trocknen, die wir ihnen hier ausgepreßt, die Wunden nicht heilen, die wir ihnen ge­ schlagen haben. Zwar sie werden uns verzeihen; aber uns bleibt doch der Vorwurf, und wohl dem, der an seine ge­ liebten Todten mit reinem Herzen zurückdenkt! Die Juden wollten oder konnten Jesu Rede nicht ver­ stehen und meinten spöttischer Weise, er wollte zu den unter den Griechen zerstreut lebenden Juden gehen, und die Grie­ chen lehren, weil er bei seinen Landsleuten kein Gehör fände (23. 35. 36.). So weisen die irdisch gesinnten Menschen halb unwillkürlich, halb willkürlich den Gedanken an den Tod von sich ab. Sie finden immer Gründe aufzuschieben, was die Pflicht fodert, indem sie meinen, sie hätten noch Zeit genug dazu. Sie spotten der Todcsgedankcn derer, welche sie kränken, und denen der Kummer am Leben nagt, und beschuldigen sie, daß sie mit solchen Aeußerungen nur Mitleid erwecken oder gar drohen wollen. Nichts ist noth«

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wendiger und gewisser, als der Tod, und doch denkt der Mensch so wenig ernstlich daran; die Spanne Zeit, welche noch jwischen ihm und dem Grabe liegt, dehnt sich in seinen Augen zur unendlichen Ferne aus. O laßt uns, sowohl in Beziehung auf uns selbst, als auf Andere, die kleine Zeit recht erwägen, welche uns noch übrig ist! Laßt uns den flüchtigen Augenblick erhaschen, und stets so leben, als gingen wir mit dem nächsten Schritte dem Grabe entgegen! Laßt uns stets unserer ewigen Be­ stimmung eingedenk sein, und den, von welchem uns allein das Heil kommen kann, suchen, dieweil es noch Zeit ist! Laßt uns in jedem Augenblick mit den Unsrigen die Rechnung abschließen, ihnen die ganze Fülle der Liebe, die wir ihnen schuldig sind, beweisen, damit, wenn uns der Tod von ih­ nen trennt, wir für sie genug gelebt haben, und wenn er sie uns raubt, wir nur ihren Verlust, nicht aber die leicht­ sinnig verlorne Zeit unsers Lebens zu betrauern haben!

Fünfter Abschnitt. (SS. 37—53.)

Am letzten, feierlichsten Tage des Laubhüttenfcstcs trat Jesus auf, rief und sprach: Wen da durstet, der komme zu mir und trinke! (V. 07.). Es war nämlich an allen acht Tagen des Festes, und so auch am letzten, üblich, Wasser aus der Quelle Siloah zu schöpfen, und es, mit Opferwcin vermischt, unter Lobgesängen auf den Altar ausjugießen. Von diesem Gebrauche nimmt nun Jesus Gelegenheit, in einer schon sonst gebrauchten bildlichen Rede (vgl. Kap. 4, 10 f. f.) das Heil, welches er der Welt brachte, denen, die es bedurften, anzubieten. Er hat das Wasser des Lebens, die Kraft der Erquickung, der Stärkung und Belebung für die Seele, die geistige Lebens­ kraft, und will sie allen, welche darnach verlangen, spen­ den. Aber Durst, Verlangen, Bedürfniß muß man füh­ len, wenn man den Labe - uud Erquickungs-Trank empfan­ gen will. Empfänglichkeit, Erregbarkeit fodcrt JesuS

aoi stets als nothwendige Bedingung des Heils; wo feine Fa« higkcit ist, da ist kein Empfangen möglich. Nur der lockere, durstige Boden saugt den Thau und Regen des Himmels auf; über den harten fließt die Fülle vergeblich hin. Rur der Wißbegierige und Aufmerksame empfangt Belehrung; derjenige, der stch für gelehrt genug halt, oder zerstreut ist wird nichts lernen. O göttlicher Durst nach Wahrheit, heilsames Verlangen nach geistiger Speise, seliger Zug nach den himmlischen Gütern! Mit solchem Durst ist auch die Erquickung gegeben, ein solches Verlangen bleibt nicht un­ gestillt, ein solcher Zug führt zur Fülle des Besitzes. Chri« stus ist erschienen, die Wahrheit geoffenbaret, der Geist aus« gegossen, der Schatz der göttlichen Gnade aufgethan, und nur von ung hängt es ab, drSHeiles theilhaftig zu werden. Wer an mich glaubt, von deß Leibe wer­ ben Ströme des lebendigen Wassers fließen (D. 38.). Wen da dürstet, der kommt zu Jesu und glaubt an ihn. Wie das durstige Thier durch innern Trieb die Quelle wittert, wo es Erquickung findet: so sagt es dem, welcher nach dem Heile begierig ist, die Stimme des Gei­ stes, daß er dasselbe bei Christo findet; er glaubt ihm, daß er der sei, dessen er bedarf, er traut ihm die Kraft zu, ihn zu erquicken und zu beleben, er findet in ihm seinen Heiland und Erlöser. Wer aber an ihn glaubt, der hat schon eben dadurch daö Heil gewonnen; er hat sich Christo zu eigen ge­ geben, und von ihm alles empfangen, was in ihm ist, die ganze Fülle seiner geistigen Lebenskraft. Der Geist ist in sich selbstständig und vom Aeußern unabhängig, und ist durch sich selbst, was er ist; wer daher Christi Geist hat, der braucht nicht immer von aussen her neue Nahrung zu em­ pfangen, sondern trägt die Quelle des Lebens in sich selbst: aus ihm fließen, wie aus immer reichen, unversieglichcn Brunnen, Ströme des lebendigen Wassers, (vgl. Kap. 4, i4.). Jesus beruft sich bei dieser Rede auf die Schrift des alten Bundes, auch da schon wird die Verheißung gegeben, daß der göttliche Geist gleich Wasscrströmen auf die Durst,'-

aoa gen ausgegossen werden soll (Jes. 44, 5.

Joel 3, ,.).

Aber JesuS bejirht sich mehr auf den Sinn, als die Worte dieser Stellen; denn ausdrücklich isi es daselbst nicht gesagt, daß der Geist au- den Menschen selbst hervorquellen soll, sondern es ist nur von der Ausgießung desselben die Rede. Aber dem Sinne nach hat Jesus Recht.

Der Strom des

Geistes ist in sich selbst unversiegbar, und quillt auS dem Innern; auf wen er ausgegossen wird, indem entspringt seine Quelle.

Dieser Gebrauch,

den unser Herr von der

Schrift macht, lehre mich, baß auch ich sie stets ihrem Gei­ ste nach verstehen, und mich nie an ihre Worte und Buch­ staben hängen soll. Der Apostel bemerkt hierbei: von dem

Geist,

welchen

Das sagte Jesus

empfangen

sollten,

die an ihn gl an beten (23.3 g.). Allerdings ist es vom Geiste und dessen erweckender,

befruchtender,

beseligender

Kraft ;u verstehen: allein warum sagt er: welchen cmpfangen sollten? Wir haben cs so verstanden, als empfange der Gläubige unmittelbar, indem er

glaubt,

Noch auffallender ist, was wir weiter lesen:

den Geist. denn der

heilige Geist war noch nicht da, denn Jesus war noch nicht verkläret (93. 3g.). Der Apostel will sagen, damals sei der heil. Geist noch nicht ausgegossen gewesen, das sei erst nach dem Tode Jesu und seiner Ver­ klärung und durch denselben geschehen.

Wir werden weiter

unten lernen, warum der Geist nicht eher als nach Jesu Tode konnte ausgegossen werden (vgl. Kap. 16, 7.), auch einsehen , inwiefern JesuS durch seinen Tod verklärt wurde (vgl. Kap. i2, 33.): hier genüge es, zu bemerken, daß allerdings ju der Zeit, alS Jesus »wch auf Erden wandelte, diejenigen, welche an ihn glaubten, den Geist noch nicht in der Lauterkeit und Stärke empfingen, wie nach seinem Tode, und selbst die Apostel einer solchen Begeisterung noch ermangelten.

Diese vollkommene Begeisterung wurde erst am

Pfingstfest über die versammelten Christen ausgegossen, und inwiefern der Apostel diese im Sinne hat, sagt er mit Recht, damals sei der heiligt Geist noch nicht dagewesen.

Versteht

man aber unter dem heiki'gen Geist die göttliche Kraft, welche in den Gemüthern den Glauben wirket: so war er damals freilich schon da» denn es glaubten ja Viele an Jesum, ob­ schon noch nicht so rein, wie er es verlangte, da sich in ihren Glauben noch irdische Vorstellungen und Wünsche mischten. Ja, schon vor Christo war der Geist da; denn er begeisterte die Propheten des alten Bundes, und wirkte in den Frommen die Hoffnung auf den künftigen Heiland. Ueberhaupt ist der heilige Geist kein Erzeugniß der Zeit, daS einmal geworben und vorher nicht gewesen wäre, er ist von Ewigkeit, und hat von Anfang an in den Seelen der Men­ schen jede Erkenntniß brr Wahrheit und jeden Antrieb zum Guten gewirkt. So wie man einen ewigen Christus und ei­ nen menschgcwordenen zu unterscheiden hat, so auch einen ewigen heiligen Geist, der in Gott von Ewigkeit ist, und einen, der in der Menschheit, nämlich in der christlichen Gemeinschaft, auf eine besondere Weise, gleichsam auch durch eine Menschwerdung, fich wirksam zeigt, indem er sich der menschlichen Gemüther auf eine bestimmte Weise be­ mächtigt hat. So wie aber der ewige und der menschgewordene Christus ein und derselbe ist, so auch der Geist, der in der ganzen Welt, und der in der christlichen Kirche wirket; denn eben darum ist unser Glaube der wahre, weil der Anfänger desselben mit Gott eins ist, und weil der Geist, der ihn wirket, der göttliche Geist ist, der alle Dinge erfüllt, in dem wir leben, «eben und sind. Diele nun vom Volke, die diese Rede hi. reten, sprachen: Dieser ist ein rechter Prophet, oder richtiger: Dieser ist in der That der Prophet, nämlich EliaS oder Jeremias, welche vor dem Messias hergehen sollten. (23. 4o.). Man darf annehmen» daß der Evangelist von der Rede Jesu nur einen kurzen Auszug ober den Hauptgedanken geliefert, und daß die Rede in ihrer lebendigen Ausführung, mit Kraft und Geist ge­ sprochen, einen bedeutenden Eindruck auf das Volk gemacht hat > und daraus erklärt es sich, warum ihn viele für einen , rechten Propheten oder gar für einen zweiten EliaS oder Je«

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remias halten. Sie wollen damit sagen, er sei ein hochbegeisterter Mann, der selbst im Befitze deS Geistes sei, und auch Andere begeistere. Denn das ist die eigentliche Beden, tung des Wortes Prophet, daß es einen begeisterten Red. ner, der aus göttlicher Eingebung spricht, bezeichnet. An« dere gingen sogar so weit, daß sie ihn für Christum selbst hielten. (V. 4».). Etliche aber machten dagegen eine Ein­ wendung : Soll Christus aus Galiläa ko in« men? Spricht nicht die Schrift von dem Sa« men Davids und aus dem Flecken Bethlehem, da David war, sollte Christus kommen? Das ist nun wieder eine ganz andere Meinung von der Herkunft des Messias, als die vorige (V. 27.) und ihr ganz entgegen gesetzt. Nach jener soll Christi Herkunft unbekannt, nach dieser gerade recht bekannt und genau bestimmt sein. Es scheint, daß die jüdischen Lehrer in dieser . Sache nicht mit einander übereinstimmten. Von einer jeden dieser Meinungen entlehnte nun der Unglaube einen Beschönigungsgründ. So ist es mit den Meinungen, welche der klügelnde Verstand ersinnt, oder daraus Gründe entlehnt: sie bringen keine lebendige Ueberjeugung hervor, wenn nicht das Her; dabei ist, und das lebendige Gefühl des Vertrauens und der Liebe dazu wirket. Allerdings ist diese Meinung von der davidischen Abkunft des Messias in der Schrift des alten Bundes gegründet: er sollte nach alten Weissagungen aus Davids Samen entspringen, und in Bethlehem, dem Stammort der Familie Jsai, geboren werden (Jer. 23, 5. Mich. 5, 1.). Es war die Meinung der Propheten, daß der Retter ihres Vaterlandes rin Nachkommen Davids sein sollte, weil sie ihre Hoffnungen auf dieses erlauchte Haus gründeten» hingegen die Vorstellung, daß er in Bethlehem geboren werden sollte, ist nach der bildlichen Sprache der Propheten nicht eigentlich ju verstehen, und der Sinn ist bloß, daß er aus davidischem Stamm entsprossen fein sollte. Diese Zweifler machen demnach nicht den ganz richtige« Ge­ brauch von diesen Weissagungen, wie sich denn der Derstand, wenn er vom Gefühl des Herzens verlasse«, sich

ao5 dem Zweifel ergibt, gar leicht an den du (fern Schein hangt. Aber hatten diese Zweifler nur auch untersuchen wollen, ob sich nicht jene Merkmale, selbst nach ihrem wörtlichen Sinne genommen, an Jesu nachweisen ließen. Er war wirklich aus dem Geschlecht Davids entsprossen, und durch eine scheinbar zufällige, aber ohne Zweifel von Gott geordtute Fügung selbst in Bethlehem geboren. Aber darnach sich zu erkundigen, fallt ihnen nicht ein; sie hören, er sei ein Galiläer und aus Nazareth gebürtig, und gleich sind sie mit dem Einwurf bei der Hand, mit welchem sie das gün­ stige Urtheil Anderer bestreiten. Der zweifelnde, klügelnde Verstand ist aber nicht allein dem Glauben hinderlich, und unterdrückt die erwachenden Keime desselben; er ist auch ein Feind des Friedens und der Eintracht. Diese Zweifler waren Ursache, daß eine Zwietracht unter dem Vol­ ke über ihn ward (V. 4z.). Wären sie nicht gewe­ sen, so hätte sich das Volk vielleicht in der Meinung »ereinigt, Jesus sei der Christ; diejenigen, welche ihn bloß für einen Propheten hielten, hätten sich vielleicht zu der andern, höhern Meinung hinauf ziehen lassen, und so wäre eine heilsame Einhelligkeit zu Stande gekommen. Da traten aber die Zweifler störend dazwischen, und stifteten Zwietracht. So ist es immer der zweifelnde, klügelnde Verstand gewe­ sen , welcher Streit und Feindschaft in Glaubenssachen er­ weckt hat; der Glaube vereinigt und versöhnt, Lehrmeinun« gen aber trennen und erbittern. So laßt uns denn auf unserer Hut fein vor den Zwei­ feln und Klügeleien des Verstandes, und nicht einen allzu hohen Werth auf Lehrmeinungrn legen! Unser Glaube an Christum gründe sich auf die lebendige Ueberzeugung deS Herzens, und schließe sich stets an die Ueberzeugung anderer warm begeisterter Herzen an, damit eine selige, freudige Eintracht entstehe und aller Streit und Haß schweige. Wenn Andere geschäftig sind, ihren Scharfsinn, in Einwürfen und Zweifeln zu beweisen, so wollen wir immer mehr unserm Herzen, und dem Herzen derer, die mit uns in demselben

ao6 Erfühl übereinstimmen, Glauben bri'wrffen.

Der Verstand

soll uns daju dienen, unsern Glauben ju erleuchten und zu reinigen, nicht ihn zu erschüttern und zu verwirren. Mer auch für die Beurtheilung unserer Nebenmenschen enthält diese Stelle eine wichtige Regel, und lehrt uns, daß wir nicht mit Einwürfen und Zweifeln schnell zufahren sol. len, wenn es darauf ankommt, eine gute Meinung von An­ dern zu fassen. Man sei billig in den Anfoderungen, die man an sie macht, und lasse sich nicht von Vorurtheilen blenden, so daß man das Gute in ihnen erkenne; man sei gerecht in der Würdigung ihrer Eigenschaften und Verdienste, und lasse sich nicht vom Scheine verführen, ihnen abzusprechen, was ihnen wirklich eigen ist, oder ihnen den Mangel dessen, was sie füglich entbehren können, zum Nachtheil anzurechnen. Etliche, nämlich die Gerichtsdiener des SynedriumS, wollten Jesum greifen, aber Niemand wagte die Hand an ihn zu legen (V. 4».). Und so kamen diese Diener unverrichtetet Sache zu den Hohenpriestern und Pharisäern, welche sie mit den Worten empfingenr Warum habt ihr ihn nicht gebracht? (D. 45.). Die Knechte gaben ihnen die kühne Antwort: Es hat nie kein Mensch also geredet, wie dieser Mensch (D. 46.). Einen solchen Eindruck hatte Jesu Rede auf diese rohen Menschen gemacht, daß sie der Wahrheit die Ehre geben selbst im Angesicht ihrer erzürnten Obern. Diese erklären sie für Ver­ führte (D. 47.), und verweisen sie stolz auf ihr eigenes Beispiel: Glaubt auch irgend ein Oberster oder Pharisäer an ihn? (V. 48.). Sie meinen, nur sie allein seien im Besitz der Wahrheit und fähig zu urtheilen. Das Volk, das nichts vom Gesetz weiß, ist ver­ flucht (D. 49.). Der Hochmuth der jüdischen Obern und Schriftgelehrten und die Verachtung, welche sie gegen das gemeine Volk hegen, ist ihrer Herrschsucht gleich. Nur sie meinen weise zu seyn, nur sie wollen herrschen, und Alle sollen ihnen unbedingt gehorchen. Sie halten sich für allein berechtigt zu herrschen,

zu

urtheilen und zu gebieten, weil

307 daS Volk so unwissend sei; sie herrschen aber nicht etwa, um das Volk zur Erkenntniß ju führen, sondern sie erhalten «S absichtlich in der Unwissenheit, damit ihre Herrschaft da. durch gesichert werde. Sie haben sich den Schlüs. scl der Erkenntniß angemaßt, aber sie kommen nicht hinein und wehren auch denen, so hinein wollen (Luk. 11, 5a.). So machen es alle Herrschfüch. tigen in Kirche und Staat. Ohne Liebe für das Volk, ohne Eifer für dessen Wohl, voll Verachtung gegen dasselbe, bat sie tief unter sich sehen, weil sie es absichtlich in der Ernie­ drigung erhalten, betrachten sie die Herrschaft, die sie in Handen haben, als ein ihnen von Gott und Rechts wegen justehendtS Vorrecht, und halten sich für Auserwählte, Begünstigte, Menschen einer bessern Art. DaS Volk ist ihnen verflucht; sie meinen, «eil sie es verachten und mit Füßen treten, so verachte es auch Gott, und habe einen Fluch auf rS gelegt. O abscheulicher Hochmuth, der nur aus einem aller Liebe erstorbenen, von Selbstsucht durch­ drungenen Herzen entspringen kann! Schändlicher Verrath an der Menschheit, wenn diejenigen, denen das Zeitliche und ewige Wohl de6 Volkes anvertraut ist, es mit solcher Verachtung behandeln, und es nur als ein Spirlwerk ihrer Herrschsucht betrachten! — Das Volk ist tfter, selbst wenn es in Rohheit und Unwissenheit versunken ist, für das Bessere empfänglicher als die Obern. CS bleibt ihm auch in der Entartung ein Gefühl seines Bedürfnisses, und durch die Nacht, die es umgibt, dringt ein Schimmer des Lichtes, Wie sehr daS jüdische Volk von dem Ansehen seiner Schriftgelehrten geblendet, wie sehr eS an die Zwingherrfchaft feiner Obern gewöhnt fein mochte; die Gewalt, mit welcher JesuS sprach, die Klarheit und Wärme seiner Rede machte selbst auf die Rohesten einen tiefen Eindruck, und erweckte manche heilsame Regungen in den Gemüthern, während da­ gegen die Obern und Pharisäer verhärtet und verblendet blieben. O ihr Herrscher und Führer, verachtet das Volk nicht, dessen Leitung euch anvertraut ist, merket auf die Be­ dürfnisse desselben, und sucht sie zu befriedigen, achtetauf

ao8 die bessern Regungen, die sich im geistigen Leben desselben teige«, und kommt ihnen mit väterlicher Pflege und Leitung entgegen! Eure Sorge sei, das Volk ju erziehen, sein Leben zu verbessern, es zu veredle« und zu beglücken, und euer Lohn die Liebe und Dankbarkeit desselben. Nikodemus, einer der Mitglieder des hohen Rathes, der einst des NachtS zu Jesu gekommen war, um sich über das Reich Gottes belehren zu lassen, war nicht, wie sie, ge. sinnt. Sein Herz war offen für die Wahrheit, das bewies er schon dadurch» daß er zu Jesu kam; und durch diese Un» terredung war es noch mehr geöffnet worden, wenn er auch vielleicht noch nicht ganz an Jesum glaubte. Es erregte feinen Unwillen» daß seine Amlsgenossen so leidenschaftlich gegen Jesum verfuhren, und ihn nicht nur ganz verkannten und falsch beurtheilten, sondern auch ohne Urtheil und Recht seinen Tod beschlossen. Er erinnert sie daher auf eine be­ scheidene Weise an das Gesetzlose, ja Gesetzwidrige ihres Derfahrens, indem er sagt: Richtet unser Gesetz auch einen Menschen, ehe man ihn verhört und erkennet, waS er thut? (D. 5i.). Das war das Geringste, was Nikodemus thun konnte, daß er zu Gunsten Jesu das Gesetz in Anspruch nahm. Er mußte dieses thun, und hätte es seiner guten Gesinnung nach auch wohl ge» than, wenn er Jesu in seinem Herzen gar nicht gewogen, ja ihm abgeneigt gewesen wäre. Gerecht soll man auch gegen den Feind seyn, ja gegen den, welcher uns auch ein gemein gefährlicher Feind zu seyn scheint. Denn wozu ist das Gesetz da, alS um den Leidenschaften Schranken zu setzen? Und Herrscher sollen sich nicht frei von Leidenschaften und nicht über das Gesetz erhaben glauben; sie sollen dieses als eine wohlthätige Schranke ansehen, welche sie hindert Unrecht zu thun. Aber die jüdischen Obern waren so sehr von der Leidenschaft besessen, daß sie selbst die Warnung des Niko­ demus, nicht partheiisch gegen Jesum zu sein, als ein Zei­ chen seiner Partheilichkeit ansahen. Sie antworteten, und sprachen zu ihm: Bist Du auch ein Galiläer? (93. 5 a.). Sie beschuldigen ihn, auch ein Anhänger Jesu zu

stya, weil er nickt in ihre wüthende Partheisucht einstimmt. In Zeiten großer Bewegung, wo AlteS und Neues mit einander in Kampf tritt, und fich ein neues Leben aufthun will, pflegt immer eine so/che Leidenschaftlichkeit die Gemüther zu beherrschen. Alles theilt flch dann in zwei gegen einander erhitzte Partheien; und wer mit kühler Besonnenheit und Billigkeit in die Mitte tritt, und der verfolgten Unschuld das Wort redet, wird gleich für einen verborgenen Anhänger der feindlichen Parthei angesehen. Die Amtsgenossen des Nikodemus beschuldigen ihn nicht nur ohne Grund der Partheilichkeit für Jesum, sie «ollen ihn auch in der Hitze der Leidenschaft sogleich wegen seiner vermutheten Anhänglichkeit an ihn deS Irrthums zei­ hen, und ein einziger Grund scheint ihnen hinreichend, ihn zu schlagen. Forscht, und siehe, sagen sie, auS Galiläa stehet kein Prophet auf (58. 5a.). Sie wollen es in der heiligen Schrift begründet finden, daß Galiläa, die verachtete Landschaft, keinen Propheten hervor­ bringen könne. So wie sie das gemeine Volk überhaupt verachteten, so trieben sie ihren Hochmuth besonder- «eit gegen die von der Hauptstadt entfernten, in der Nähe der Heiden lebenden Galiläer; und in dieser Verachtung scheint sie der Haß gegen Jesum noch mehr bestärkt zu haben. Al­ lein die Behauptung, welche ihnen ihr Hochmuth eingab, war nichts weniger als in der Schrift begründet, vielmehr ihr geradezu entgegen, da sie uns mehrere Propheten nennt, welche aus Galiläa gebürtig waren (Elia, Jona, Nahum). So verblendet die Leidenschaft die Menschen gegen die offen­ bare Wahrheit, und bringt sie in Widerspruch mit fich selbst! Diese Pharisäer sind sonst sd ängstlich in der Schrifter­ klärung, daß sie alle-wörtlich, za buchstäblich verstehen; jetzt aber wo es darauf ankommt, eine ihnen verhaßte Mei­ nung zu widerlegen, übersehen sic ganz deutliche Thatsachen. O möge Gott diejenigen, denen das Wohl der Völker und die Pflege der Wahrheit und Gerechtigkeit anvertraut ist, vor solcher leidenschaftlichen Verblendung bewahren, durch welche sie selbst und ihre Völker ins Verderben stürzen! Bibl. Erbauung--. I.

£)

Sind die Verwalter der Gerechtigkeit taub gegen die beschei­ dene Stimme der parteilosen Billigkeit» urtheile» fie die wichtigsten Angelegenheiten ab ohne Prüfung und mit Hint­ ansetzung klarer Gesetze: dann wehe dem gemeinen Wesen! Ein Staat» wie der jüdische, der von solchen Machthabern regiert wurde, mußte untergehen, wie denn auch der Untergang desselben schnell erfolgte. Mögst du aber auch mich selbst, Gott der Gerechtigkeit und Wahrheit, vor solcher Verblendung und Verstockung bewahren! Erhalte in mir das bessere Gefühl lebendig, laß mich die Stimme der Ver­ nunft auch im Sturme der Leidenschaft vernehmen, und er­ halte mein Ohr offen für jede Mahnung und Warnung, welch« mir die Freunde der Wahrheit zurufe«! —

Kap. 8.

Fernere Reden Jesu wahrend seines Aufent­ haltes zu Jerusalem am Laubhüttenfefte. .Erster Abschnitt. Don der Ehebrecherinn. (8. i—ii.)

Äls Jesus am andern Tage im Tempel lehrrte» brachten die Schriftgelehrten und Pharisäer ein Weib zu ihm, daS im Ehebruch begriffen war, und stellet«» sie vor ihn und legten ihm die Frage vor» Dieß Weib fei auf frischer That im Ehebruch begriffen, Mose aber habe im Gesetz geboten, solche zu steinigen: was er dazu sage? (V. a— 5.). Das sprachen sie aber, ihn zu versuchen, auf daß sie eine Klage wider ihn hätten (B. 6.). ES ist nicht ganz klar, worin daS Verfängliche der Frage liegen sollte. Es scheint, daß

die Schriftgekehrten und Pharisäer irriger Welse meinten, Jesu- wollte da- Mofai/che Gesetz aufheben» weil er bet jener Heilung gegen die ängstliche Strenge der Sabbathfeier gehandelt, und kürzlich sogar dagegen gesprochen hatte. Sie erwarteten nun, er werde sich auch jetzt gegen die Strenge des Gesetzes erklären, und hofften ihn dann als Irrlehrer förmlich vor Gericht verklagen zu können. Nach dieser An« nähme hätten sie Jesu Sinn und Geist gröblich mißverstan­ den. Er war nicht gekommen das Gesetz auf« zuheben, sondern zu erfüllen (Matth. 5, 17.)$ und wenn er jenen Kranken am Sabbath geheilt, und ihm erlaubt hatte, sein Bette wegzutragen, so war das dem Geiste de- Gesetzes nach keineswtgeS eine Verletzung des Sabbaths. Diese Menschen waren so sehr in der buchstäb« lichen Auslegung deS Gesetzes befangen, daß wer es darin nicht mit ihnen hielt, in ihren Augen alS ein Feind deS Ge« fetzeS und der guten Sitten erschien. Den Geist des Ge« setzes fassen und eS darnach mit Strenge halten, hiugegen es mit unwesentlichen Kleinigkeiten oder willkürlichen Zu­ sätzen nicht genau nehmen; das war über die Fassungskraft dieser Stuft. Die Verfänglichkeit der vorgelegten Frage wird er­ höht, wenn man sie auf die Art der Straf« bezieht. DaS Mosaische Gesetz oder vielmehr, wie eS scheint, die damalige Uebung hatte auf den Ehebruch die Strafe der Steinigung gefetzt. (Im Mosaischen Gesetz ist nur von Todesstrafe über« Haupt die Rede, (3 Moses ao, 10.) Vielleicht hatten di« Rö­ mer, welche damals daökand innehatten, der jüdischen Obrig« feit überhaupt daS Recht der Todesstrafe genommen (vgl. Kap. 18, 3i.), oder doch di« Vollziehung der barbarischen, den Volksauflauf begünstigenden Steinigungsstrafe verbo« ten. Wenn sich nun Jesus gegen die Anwendung dieser Strafe erklärte, so konnte man ihn bei dem jüdischen hohen Rathe als einen Feind des väterlichen Gesetze- verklagen r erklärte er sich hingegen für die Anwendung dieser Strafe, so verdarb er es mit den Römern, nnd konnte bei diesen als ein Ruhestörer und Nvlksanfwiegler angeklagt werden.

O 2

Worin nun auch die Versuchung bestanden haben mag, immer war es Jesu klar, daß sie ihn nicht in der Absicht, Belehrung Jt» empfangen, fragten» auch daß sie daS Der« brechen des Weibes nicht aus Eifer für das Gesetz und die guten Sitten gestraft wissen wollten: mithin hielt er es für unzweckmäßig, in ihre Fragen einjugehen. Demjenigen di« Wahrheit mitzutheilen, der sie nicht jtt schätzen weiß oder sie gar mißbraucht, ist Entweihung derselben; das heißt die Perlen vor die Säue werfen (Matth. 7, 6.). Uebrigens war Jesus nicht gekommen, bürgerliche Gesetze zu geben, oder über Rechtsfragen zu entscheiden r es war dieß eben so wenig sein Beruf, als den Richter oder Erb» vertheiler zu machen (Luk. 11, i4.). Sein Reich war nicht von dieser Welt; und bürgerliche Gesetze und Rechtsstreite gehören zu den weltlichen Angelegenheiten. Daher that Jesus, als ob er sie nicht hörte. Cr bückte sich nie» der, und schrieb mit dem Finger auf dieErde 08. 6.), gleich als wenn er in Gedanken wäre. Denn wenn man in Gedanken vertieft ist, oder auf etwas Vor» gehendes nicht Acht geben will, so pflegt man wohl eine Grberde der Art zu machen, oder sich mit einem leeren Spiele der Hände zu beschäftigen. Oft pflegt man wohl auch seine

Verlegenheit dadurch zu verbergen; allein in Verlegenheit war Jesus nicht; niemals hat ihn eine Frage seiner Feinde in Verlegenheit gesetzt, da er sie stets durch die treffendsten Antworten abzuweisen versteht. Als sie nun anhielten ihn zu fragen, rich. tete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie (D. 7.), Um diese Antwort zu verstehen muß man sich auf den rein sittlichen Standpunkt stellen, von welchem Jesus die Sache ansieht. Eine rechtliche Entscheidung, wie sie ein Gesetzgeber dieser Welt geben konnte, wollte er nicht geben; da man aber durchaus «ine Antwort haben wollte, so gab er eine solche, die dem Geiste des Reiches Gottes, das er zu stiften gekommen, angemessen war. Im Reiche Gottes, wo die Liebe herrschen soll, wird

das Schwert nicht geführt, und die Sünde nicht gestraft, sondern vergeben und versöhnt. DaS Gesetz mit asten, Zwang und aller Strafe ist abgethan r wie Gott nicht mehr den Sündern jürnet, sondern ihnen als liebender Vater verjeihet, so sollen auch die Menschen einander ihre Fehler ver­ zeihen , und gegen einander Nachsicht tragen. Wir sagen im Reiche Gottes soll es also seyn, nicht in der christ­ lichen Kirche, welche noch nicht das vollkommene Reich Got­ tes ist, und daher noch für die Rohen und Sünder der Furcht und der Strafe deS Gesetzes bedarf, auch nothwendiger Weise mit dem Staate verbunden ist, dessen Obrigkeit daS Schwert trügt und Rücherinist zur Strafe über den, der D/feS thut (Röm. >3, 4.). Wollte man die Verbrechen nicht strafen, so würde das Böse bald überhand nehmen und das Gute unterdrücken. Jesus aber konnte und durfte wohl als Versöhner der Menschen das Gesetz der Liebe rein geltend machen, und zur Nachsicht und Milde gegen die gefallenen Brüder ermahnen. Zur Nach­ sicht und Milde muß uns aber das Gefühl unserer eigenen Sündhaftigkeit verpflichten. Sehe ich meinen Bruder fal­ len, so darf ich mich nicht für frei von jedem Fehltritt hal­ ten ; wenn ich auch nicht gerade dieselbe Sünde begehe, so bin ich doch vielleicht einer andern schuldig, und in jedem Falle trage ich die Anlage und den Hang zur Sünde in mir. So wie ich nun selbst gern auf Nachsicht und Milde An­ spruch mache, so soll ich solche auch Andern beweisen. R t eh­ ret nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. (Matth. 7, 1.). Und so sagte Jesus zu den Anklägern des Weibes: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Er wollte damit nicht sagen: Niemand, der sich nicht sündlos fühle, dürfe als Richter des Staates ein Verbrechen strafen, womit er alle Etrafgcrechtigkeit im bürgerlichen Leben aufgehoben hätte; sondern er wollte damit die lieblose Gesinnung dieser Menschen rügen, welche ohne wahren Eifer für die Gerech­ tigkeit, und ohne als ordentlich bestellte Richter Beruf dazu zu haben, und noch dazu in der Absicht, ihm eine Schlinge

|u legen, das gefallene Weib der Strafe überliefern wollten. Sie, die sich zu Anklägern und Volljiehern der gesetzlichen Strafe auswarfen, sollten erst in ihren eigenen Busen grei. fen, und mit dem Gefühl, baß auch sie nicht ohne Sünde seien, Nachsicht und Erbarmen gegen die gefallene Schwe­ ster lernen, zugleich aber auch von der boshaften hämischen Gesinnung gegen Jesum selbst zurückkommen. Das Gefühl der Unwürdigkeit, die Demuth, entwaffnet den Zorn und Haß des Menschen gegen seinen Nächsten» wer sich selbst strenge beurtheilt, ist mild gegen Andere. Auf eine bewun­ dernswürdige Weise verbindet Jesus in dieser Antwort die Klugheit, welche ihm verbot, in die Entscheidung der vorge­ legten Frage einzugehen, mit der Weisheit des Sittenlehrers, welcher die Menschen da zu treffen wußte, wo sie noch rährbar waren, und so das sittliche Gefühl in ihnen rege machte. Nach dieser Antwort bückte er sich wieder nieder, und schrieb auf die Erde (93. 8.). Er wollte ihnen die Beschämung ersparen, und that daher, als gäbe er nicht auf sie Acht. Sie benutzten aber diese Ge­ legenheit sich unbemerkt aus dem Handel zu ziehen, und ent­ fernten sich einer nach dem andern (D. 9.). Ihr Gewissen war erwacht, auch sprach vielleicht die öffentliche Meinung wider sie, indem sie wahrscheinlich nicht alle daS musterhaf­ teste Leben mochten geführt haben r sie konnten daher nicht im Angesicht des Volks die Miene annehmen, als fühlten ste sich rein von aller Sünde. Außerdem hatte sie die Ant­ wort Jesu überrascht und außer Fassung gebracht, so daß ste nicht wußten, wie sie sich benehmen sollten; die Schlinge, die sie ihm gelegt hatten, hatte sich über ihrem eigenen Haupte zusammengezogen. Sollten sie dem Weibe die Strafe erlassen, und sich für geschlagen erklären, oder sie vor die Richter führen und sich dem Hasse deS Volkes aussetzen und demungrachtet Jesu den Sieg lassen, dem sie mit ihrer Frage nichts hatten anhaben können? Aus dieser Verlegenheit zogen sie sich durch stille Entfernung, und sie mußten es Jesu noch Dank wissen, daß er ihnen den Rückzug auf diese

Weist erleichterte.

Ja, wir dürfen annehmen, daß man»

cher Bessere unter ihnen durch die Art, wie sie JesuS beha«. delte, für ihn gewonnen, und dafür gestimmt worden ist, in stiller Gelbstbetrachtung in sich ju gehen, die Stimme des erwachten Gewissens ju vernehmen, und feinLeben zu bessern. JefiiS ward mit dem Weibe allein gelassen. Und da er sah, daß ihre Ankläger fie nicht ju verdammen gewagt hatten, so sprach er; nicht, gehe hin

So verdamme ich dich auch und fündige hinfort nicht

mehr (V. »».). Er selbst, welcher sich ohne Sünde wußte, verdammte fie nicht. Er war nicht gekommen, ju strafen und ju verderben, sondern fu erretten und selig zu machen. Aber er begünstigte die Sünde nicht durch Gleich­ gültigkeit oder zu weit getriebene Milde, und verleitete da­ durch die Sünderin nicht, in ihrem Laster zu verharren, sondern strafte fie ernstlich und ermahnte fie, nicht mehr hinfort zu fündigen. Schon diese wenigen Worte konnten, mit der Gewalt, die ihm eigen war, gesprochen, einen so tiefen Eindruck auf sie machen, daß fie von nun an ihr Leben ernstlich besserte. Aber wir dürfen vermnthen, daß JesuS noch mehr als diese Worte zu ihr gesagt habe, wie denn die Evangelisten oft nur kurze Andeutungen seiner Reden -eben. Genug, Jefies entzog das Weib der Strafe nur in der Absicht, siez» bessern, und ergriff die sich darbietende Gelegenheit, eine Seele vom Verderben zu retten. Hier sehen wir ganz klar ein, in welchem Sinne JesuS handelte, und alle etwa noch zurückgebliebene Dunkelheit wird sich jetzt zerstreuen. Der Staat kann durch die Todes­ strafen, di« er verhängt, nichts erreichen, als daß er die Verbrecher unschädlich macht, die Rohen schreckt und künf. tige Verbrechen verhütet r die Sträflinge kann er wohl augen­ blicklich von ihrer Schuld überführen, aber nicht sittlich bessern, indem der auf ihr Herz gemachte Eindruck mehr der deS Schreckens, als der Liebe ist, und ihnen keine Zeit ge­ lassen wird, die Reue im Leben durch die That zu bewahren. Andere Strafen, welche Leib und Ehre angehen, lassen zwar die Zeit zur Besserung, rauben aber alle Mittel und Auf«

muntemng dazu, indem fie den Menschen niederdrücken, an­ statt ju erheben.

Ganz anders ist die Behandlungsart der

Sünder im Reiche Gottes, im Geiste der christlichen Liebe. Diese will sie wahrhaft bessern, und anstatt der Gewalt und des Schreckens, wendet sie Milde und Nachsicht an, um ihr Herj ju rühren und für das Gute ju gewinnen; sie laßt ih­ nen Zeit sich ju bessern, und gibt ihnen Ermunterung und An­ leitung;

sie wirkt erziehend, sie handelt nicht als zorniger

Richter, sondern als liebende Mutter.

Je mehr sich der

Staat vervollkommnet, desto mehr wird er sein Strafamt in die erziehende Wirksamkeit übergehen lassen; es

und schon gibt

christliche Staaten, welche sich diesem Ziele genähert

haben. Diese Geschichte ist für uns in mehr als einer Hinsicht lehrreich.

Zuerst lernen wir daraus, daß wir auch gegen

unsere Widersacher mild und sanft verfahren, und wenn wir sie widerlegen und verwirren müssen, ihnen die Beschämung so viel als möglich ersparen sollen.

Das ist ein schlechtes

Herj, das sich seines Sieges so bedient, daß der Besiegte da­ durch niedergedrückt oder erbittert wird. Bei Allem, was wir thun, sollen wir das Gute zum Zweck haben, und die Menschen dafür zu gewinnen suchen; aber wenn wir sie er­ bittern, so reizen wir sic nur zu größcrm Widerstände, und pflanzen Böses anstatt des Guten. Zweitens lehrt uns Je­ sus nachsichtig gegen Fehlende zu seyn, und anstatt sie der Härte der Strafe zu überliefern, liebevoll an ihrer Besserung zu arbeiten, indem Keiner so tiefgefallen ist, der nicht wieder durch brüderlichen Beistand aufgerichtet werden könnte. Da aber un­ sere Gesetzgebung noch sehr streng gegen Verbrechen ist, und un­ sere Bürgerpflicht nicht erlaubt, dieselben der öffentlichen Strafgercchtigkcit zu entziehen;

so sollen wir dahin zu wirken su­

chen, daß die Gesetze immer mehr verbessert, und die öffent­ liche Gerechtigkeit im Geiste Christi verwaltet werde, so daß sich der Zwiespalt zwischen dem Staate und dem sittlichen Reiche und nach ausgleiche, und der Geist der Liebe Alles durchdringe.

Zweiter Abschnitt. (53. 12-20.)

Jesus redete abermal zu ihnen, Md sprach: Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolget, der wird nicht wandeln in Finsterniß, sondern wird das Licht des Lebens haben (D. 12.). So wie Jesus sich und seine Lehre mit dem Wasser und Brod des Lebens, mit dem, was erquickt und nährt, verglichen hat: so nennt er sich nun bas Licht der Welt, von welchem Alle das Licht deö Lebens haben können; denn das Licht ist das Allbelcbende und Allerregender wo Leben ist, da ist Licht, und wo Licht, da ist Leben (vgl. Kap. 1, 4.). Un­ ter dem Lichte versteht die Schrift alles Gute und Reine. Gott ist Licht; und in ihm ist keine Finsterniß (1 Joh. 1, 5.), d. h. er ist der Urquell aller Heiligkeit und Wahrheit, und fern von ihm ist alles Böse und alle Lüge. Christus ist das Licht der Welt, indem er die Wahrheit, die reinste Erkenntniß Gottes und seines Willens, verkündigt, und den Menschen den Weg der Gerechtigkeit und Gottseligkeit zeigt, und sie von dem dunkeln Wege des Aberglaubens, Irrthums und Lasters ablenkt. Wer ihm nun nachfolgt, d. h. an ihn glaubt, ihm gehorcht und seine Gebote erfüllt, der wird nicht wandeln in der Finsterniß der Unwahrheit und des Bösen, sondern wird das Licht des Lebens haben; er wird die Wahrheit lebendig in sich haben, ein reines, urkräftiges, lebendiges, seliges Leben führen, und dadurch der ewigen Seligkeit theilhaftig werden. Wie das Wasser des Lebens im Gläubigen zur unvcrsicgiichcn Quelle wird, so entlehnt er auch nicht das Licht von Christo äußerlich, sondern hat cs durch den Glauben an ihn, selbst in sich. Er erkennt und fühlt selbst, was wahr und gut ist, und findet den Weg selbst, auf welchem Christus ihm vorangewandclt ist. Es war das Stärkste, was Jesus von sich aussagen konnte, indem er sich das Licht der Welt nannte. Das Licht der Heiden hatte der Prophet (Jes. 42, 6.), den Messias genannt, und die Juden verstanden es wohl, daß sich Jesus mit diesen Worten für den Messias erklärte.

Wie kann auch die erhabene Bestimmung deS Heilandes der Welt würdiger bejeichnet werden als mit diesen Worten? das Licht der Welt, die Quellt alles Heils, aller Wahrheit und Heiligkeit für die Menschen, ist niemand als der geoffenbarte Gott selbst, der Abglanz, die Ausstrahlung dessen, welcher Licht und in dem keine Finsterniß ist. Wie wahr ist eS aber auch, was Jesus in diesen Worten von fich aussagte! Er hat die Welt erleuchtet, die vorher von Finsterniß bedeckt war; er hat den Götzendienst, den heidnischen Aberglauben, die Laster der Rohheit und Ueppigkeit, welche die Menschheit schändeten, ausgerottet, und die Erkenntniß und den Dienst Gottes im Geist und tu der Wahrheit eingeführt. Wie nach Ausrottung dunkler Wälder und Austrocknung giftiger Mo« rüste das Land durch fleißige Urbarmachung unter dem wohl­ thätigen Einfluß der Sonne eine fröhlichere Gestalt gewinnt: so hat das Christenthum unter den Völkern eine neut, bessere Schöpfung hervorgerufen, über welcher die Sonne der Wahr­ heit leuchtet. Aber auch an dir selbst fühlst du es, Christ, daß er das Licht der Welt ist, und daß du durch ihn das Licht deS Lebens hast. In deinem Geist ist es Licht und klar: du erkennst in hellem Selbstbewußtseyn deine Bestimmung und den Zweck der Welt, wie sie Gottes Wille vorgezeichnet hat; du irrst nicht hin und her, wie die, welche im dunkeln tap­ pen; dich schrecken nicht die Schatten der Nacht, dich ver­ locken nicht die Gaukelbilder der Dämmerung; sicher und freu­ dig wandelst du deinen Weg jum Ziele, und mit jedem Schritte wachst deine freudige Zuversicht: du hebst frei deinen Blick zum Himmel, wo deine Heimath ist und wo dein Vater wohnt: dort findest du, wornach dein Her; sich sehnt, die Ruhe, den Frieden, die Seligkeit. Ja, Christus ist das Licht der Welt, das Licht aller reinen Herzen, die sich in seinem Glanze son­ nen ; wohl dem, der ihm nachfolgt! Die Juden machen ihm den Einwurf, den er sich früher selbst gemacht hatte (vgl. Kap. 5, 31.), indem sie sagen: Du zeugest von dir selbst, dein Zeugniß ist nicht wahr (D. 13.). Jesus aber antwortete: Wenn ich auch von mir selber zeuge, so istmeinZeug-

219 «iß dennoch wahr; denn ich weiß von wannen ich gekommen bin und wohin ich gehe (D. 14.). Die gewöhnliche Regel, daß das Zeugniß von sich selbst nicht gelte, findet auf Christum keine Anwendung. Warum gilt sonst eigenes Zeugniß nicht? Weil keinMensch über sich selbst ein klares und sicheres Urtheil hat, und Jeder immer mehr oder weniger von Eitelkeit und Leidenschaft verblendet ist. Der Mensch kann nur vermöge seines Selbstbewußtseyns über sich urtheilen; aber dieses ist immer befangen; man sieht sich mit dem innern Auge nie selbst, sondern nur in vorübergehende« Zuständen, Bewegungen, Vorstellungen, Empfindungen, Entschlüssen gleichsam abgespiegelt, und lernt sich also selbst nie ganz dem Wesen nach kennen. Der Mensch weiß nicht, von wannen tr gekommen ist, noch wohin er geht. Um etwas recht zu kennen, muß man wissen, wo es anfängt und wo eS aufhört, welchen Ursprung es hat und welches sei« Ziel ist. Unser Bewußtsenn aber ist später, als unser Ursprung, und es liegt auf diestm, wie auf unserm Ende, ein geheimnißvolles Dunkel. Wir wissen nicht, «aS wir wollen und sollen; das göttliche Gesetz ist uns zwar ins Herj geschrieben, aber wir lesen es nicht klar und unseö Wille ist oft mit Gottes Willen im Streit. Wir haben «ns auch nicht in unserer Gewalt und sind unser nie ganz mächtig, eben weil wir uns nicht recht kennen; denn es lauern in unserm Innern, uns selbst verborgen, Feinde, Begierden und Lei­ denschaften, welche uns plötzlich überraschen und mit sich fort­ reißen. Aus diesen Gründen aber können wir von uns selbst kein wahrhaftes Zeugniß ablegen; denn über nichts täuschen wir uns so leicht, wie über uns selbst. Wir trauen uns im­ mer mehr zu, als wir leisten können; wir halten uns immer für besser, als wir sind.Christus aber hat von sich selbst ein so umfassendes und untrügliches Bewußtseyn, daß er von sich selbst wahrhaft zeugt, er weiß von wannen er ge­ kommen ist und wohin er geht, daß er vom Vater gekommen ist und wieder zu ihm geht, daß seine Heimath der Himmel und sein Wesen mit Gott eins ist, daß ihn die gött­ liche Weisheit und Liebe zur Erde hcrabgcführt hat, ihm sei«

aao tun Weg verzeichnet und ihn Zum Ziele seiner Sendung, zur Vollziehung des göttlichen Willens, führen wird. Aus die­ sem vollendeten Selbstbewußtseyn erklärt sich allein die fehllose Sicherheit, mit welcher Jesus auf Erden handelt, sein Ziel stets erkennt, und es, ohne rechts oder links auszubeugen, verfolgt, die ruhige Klarheit, die auf seinem ganzen Wesen liegt, die Leidenschaftlosigkeit und Gleichmuth seiner Stimmung. Wer sich aber so selbst kennt und beherrscht, der darf auch von sich zeugen, und sein Zeugniß ist wahrhaftig. Ein alter Ausleger sagt richtig: Das Licht ist sein eigener Zeuge, cs macht sich selbst und anderes offenbar. Darum ist Christus das Licht der Welt, weil er in sich selbst das Licht trägt; er weiß Alles, weil er von sich selbst das reinste und umfassendste Bewußtseyn hat; er ist der Wegweiser für Alle, weil er seinen eigenen Weg kennt, und weiß, von wannen er kommt und wohin er geht.

Die Erkenntniß der Wahrheit

und die Selbstrrkenntniß bedingen einander, so wie auch die Reinheit des Willens nicht ohne die Selbsterkenntniß seyn kann. Wer von Christo erleuchtet wird, der nimmt auch Theil an diesem Selbstbewußtseyn;

der lernt es erkennen, von

wannen er ist und wohin er geht, daß sein Ursprung und Ziel in Gott ist.

Er weiß es, daß er von Gott geschaf­

fen und dazu bestimmt ist, seinen heiligen Willen zu vollziehen und dadurch sein Kind zu werden; daß Alles, was er ist, Gott angehört, und er sich daher ganz dessen heiligem Dienste wei­ hen soll; er weiß aber auch, daß wenn er dieser seiner Be­ stimmung treu ist, Gott ihn in sein seliges Reich aufnehmen wird. Und so liegt auch die ganze Welt klar vor ihm mit den ihr von Gott vorgeschriebenen Gesetzen und Zwecken ihres Daseyns; er weiß, daß Alles von Gott ist und zur Ehre sei­ nes heiligen Namens dienen soll. Diese Klarheit des Selbst­ bewußtseyns wird durch keine Leidenschaft getrübt;

nie ver­

liert der von Christo Erleuchtete seinen Ursprung und seine Be­ stimmung aus dem Auge; stets behauptet er durch die ihn von Christo verliehene Kraft die Herrschaft über sich selbst und den Gleichmuth der Seele.

Er wanket nie, und beugt nie

22 l

aus dem Wege, den er wandelt, sondern geht fest und ruhig seinem Ziel entgegen. Der Christ darf auch vermöge dieses seines Bewußt­ seyns Zeugniß von sich selbst ablegen, zwar nicht, daß er etwas von sich selbst, und durch sich selbst gelte, aber wohl darf und soll er sein sicheres, seliges Gefühl aussprechen, daß das, was er denkt und thut, von Christo komme, und daß die Kraft, aus welcher er wirket, ihm von Christo mit­ getheilt fei. Er darf und soll für die erkannte Wahrheit mit Freimuth zeugen, und besonders für Christum zeugen, daß er Gottes Sohn und der Welt Heiland sei. Demüthig und bescheiden, wenn cs auf ihn selbst und seinen eigenen Werth ankommt, soll er für Alles, was von Gott kommt und zu Gott geht, mit Muth und Znvcrsicht zeugen, und, wenn es gilt, dafür kämpfen, leiden und sterben. Jesus wirft den Juden vor, daß ob schon sie nicht wüßten, von wannen er komme und wohin er gehe, sie ihn doch verwürfen, indem sie nach dem Fleische richteten (23. i4. 15.). Dieß thaten sie vorhin, als sie an seiner messianischcn Würde darum zwei­ felten, weil sie wußten, von wannen er sei, daß er nämlich von Nazareth sei (vgl. Kap. 7, 28.). Sic urtheilten nach dem ausser» Schein, nach dem äußern, niedrigen Ursprung, und waren schnell bereit, über ihn zum Nachtheil abzuspre­ chen. Leider sind die Menschen alle geneigt, nach dem aus­ sern Schein über Andere abzusprechen. Keiner weiß von dem Andern, von wannen er ist und wohin er geht, Keiner kann in sein Inneres schauen und seinen Werth ermessen; und doch ist man so schnell fertig mit ungünstigen Urtheilen. Es liegt im Menschen die Neigung, die Andern für geringer anzusehen, als er ist; man freut sich, wenn man nicht zu achten und zu bewundern braucht, wenn man verachten kann. Denn dann braucht man sich nicht selbst unterzuordnen, und fühlt sich geschmeichelt. Hatten die Juden Jesum für den Messias an­ erkannt, so hatten sie ihm gehorchen und ihr Leben bessern müssen; so aber konnten sie sich dieser Pflicht entbinden, und in ihrer Verstockung verharren.

Ich richte Niemand, sagt Jesus (V. 15.). Er will nicht sagen, daß er nicht das ihm vom Vater aufgetragene Richteramt volljiehen werde, womit er sich selbst wider­ sprechen würde, da er sich sonst dieses Amt ausdrücklich bei­ gelegt hat (Kap. 5, 22.), und gleich hernach sagt, daß er al­ lerdings richte (93.16.); sondern seine Meinung ist: er richte nicht mit menschlicher Verdammungssucht, aus Dorurtheil und Willkür, er suche im Richten keine sträfliche Lust, dränge sich nicht daju, sondern halte eher mit seinem Urtheil zurück, wo es nicht die Nothwendigkeit und die Pflicht erfodern zu richten. Cr übt selbst das aus, was er sonst gelehrt hat: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. — So ich aber richte, so ist mein Gericht recht; denn ich bin nicht allein, sondern ich und der Vater, der mich gesandt hat (D. 16.). Wohl muß Christus richten, sowohl in dieser Zeit als in der Ewigkeit; er muß das Bise von dem Guten scheiben, die Sünder entlarven und verdammen, die Ungerechten und Gott­ losen aus seiner und seiner Gläubigen Gemeinschaft weisen, und sie dem Verderben welches ihrer wartet, Preis geben. Wer die Wahrheit verkündigt, der richtet und straft immer diejenigen, welche derselben widerstreben. Aber Christus rich­ tet n i ch t a l l e i n, als Mensch und aus eigenem Triebe und um sein selbst willen, sondern Gott richtet durch ihn und er um Gottes willen, aus Pflicht, um der Wahrheit willen; in seinem Richterschluß vollzieht er nur das göttliche Gesetz der Gerechtigkeit. Und darum ist sein Gericht auch recht; denn nur darum richten die Menschen ungerecht, weil sie aus Verdammungssucht, aus Dorurtheil und Willkür richten, weil sie nicht Gottes, sondern ihren eigenen Willen volljiehen. O laßt uns diese wichtige Lehre recht zu Herzen neh­ men! Keiner, auch nicht der Beste, ist ganz frei von der Sucht nach dem Fleische zu richten, und Andere zu verklei­ nern und zu verwerfen. Wie sehr man auch auf seiner Hut seyn mag, immer hat man mit dieser Sucht, und sei es auch in der feinsten Gestalt, zu kämpfen; immer ist man träg, gründlich zu untersuchen, und schnell bereit, oberflächlich

223 abzuurtheilen. Oft verkleidet sich die Verdammungssucht in die Gestalt der Wahrheitsliebe, des Eifers für das Gute, und man überredet sich, dem Guten zu dienen, indem man Andere als angebliche Feinde desselben verdammt, da sie es doch nicht sind. Wenn Christus, der Unfehlbare, nicht richtet, wie viel weniger sind wir dazu berechtigt. Nein! Gott allein soll richten; und können wir das Richteramt nicht von uns weifen, so sei Er es, der es durch uns ver­ richtet.' Jesus kommt auf den Einwurf seiner Gegner zurück, daß er von sich selber Zeuge und sein Zeugniß mithin nicht wahr sei; und setzt der von ihnen geltend gemachten Regel, eine andere entgegen, die er aus dem Gesetz entlehnt. In diesem stehet geschrieben daß zweier Menschen Zeug­ niß wahr sei (5 Mos. 17, 6.); nun aber zeuge er selbst von sich und auch sein Vater zeuge von ihm: mithin sei der gültige Beweis der Wahrheit geliefert (V. 17. 18.). Es bedarf kaum der Bemerkung, daß die Wendung, deren sich hier Jesus bedient, eben nur eine Wen­ dung sei. Er will eigentlich nur sagen ; sein Zeugniß von sich selbst, werde durch das Zeugniß seines himmlischen Va­ ters bestätigt, es trage die Gewahr der göttlichen Beglau­ bigung in sich. Auf eine ähnliche Weise hüt er sich früher auf Gottes Zeugniß berufen (Kap. 5, 36. 37.). Aber aus eben dieser Stelle sahen wir zugleich, welches Zeugniß Got­ tes er meint; es ist das Zeugniß der Werke, die ihm der Vater gegeben, seiner Wirksamkeit zur Erlösung der Men­ schen, des Geistes, der aus ihm spricht und wirket. Das­ selbe sagt er auch hier. Als die Juden ihn fragten, wo sein Vater sei, antwortete er: Ihr kennt weder mich noch meinen Vater; wenn ihr mich kennetet, so kennetet ihr auch meinen Vater (V. 19.). Er weist sie also nicht auf etwas Acußeres hin, sondern auf sich selbst und was in ihm ist. Wenn sie ihn, seinen Geist, seine Lehre, seine Wirksamkeit verstanden, so würden sie das aus ihm sprechende Zeugniß Gottes vernehmen; sie würden

224 aus dem, was er ist, erkennen, was er sek; sie würden ihn darum, weil er göttlicher Art und göttlichen Wesens ist, für den Gesandten Gottes erkennen. Alles Gute und Wahre tragt den Beweis und die Be­ glaubigung seiner selbst in sich selbst, und kann durch nichts Fremdes erwiesen werden. Es ist was es ist, und kündigt sich durch sich selbst an, als das was es ist. Es kann nur mit sich selbst verglichen und nach sich selbst gemessen werden; alles aber, was man aus einem Andern beweißt, muß mit diesem verglichen und nach diesem gemessen werden. Eine einzelne Wahrheit, eine einjelne gute Handlung kann wohl als wahr und gut bewiesen werden, nicht aber das Wahre und Gute überhaupt. Christus war der leibhafte Inbegriff alles Wahren und Guten, welches Zeugniß, welchen Beweis hätte er für sich anfuhren können? Er beruft sich auf das Zeugniß des Vaters. Aber Gott, der Urquell alles Wah­ ren und Guten, kann nur mit dem ahnenden Geist erkannt, sein Bild nur mit dem Auge des Glaubens geschaut werden; und wer ihn zu schaue« vermag, der kann ihn auch in Christo erkennen. Christus steht also auf sich selbst allein, indem er auf Gott steht; und der Glaube an ihn hat keinen andern Grund als den Glauben an Gott, die Anerkennung alles Wahren und Guten. Wer Gott kennt der kennt auch Chri-stum. Der Glaube an ihn entspringt aus einem für das Göttliche empfänglichen, Gott jugcwandten Herzen; und einem verschlossenem, verstockten Herzen wird man denselben nicht einreden können. Jesus sprach solches öffentlich im Tempel an dem Got­ teskasten, wo so viele Menschen sich zudrängten, um ihre Gabe für den Tempel einzulegen; und doch griff ihn Nie­ mand, denn seine Stunde war noch nicht ge­ kommen (V. 20.). Der Diener Gottes kann unter sei­ nem mächtigen Schutze die Wahrheit sagen, ohne etwas zu fürchten; der heilige Muth selbst, mit welchem er spricht, schützt ihn und halt die Bosheit im Zaum. '

Dritter Abschnitt. (». 21-80.)

Abermals verkündigt Jesus warnend seine» nahen Tod. Ich gehe hinweg, und ihr werdet mich suchen, und in eurer Sünde sterben; wo ich hingehe, da könnet ihr nicht hinkommen (D. 21.). Die Warnung ist deutlicher und nachdrücklicher als vorher (Kap. 7, 34.). Er sagt nicht bloß: ihr werdet mich suchen und nicht finden; sondern: ihr werdet mich (verge­ bens) suchen, und in eurer Sünde sterben. Ver­ gebens vernahmen sie den Ruf: Thut Buße! aus seinem Munde, sie besserten sich nicht; vergebens bot er ihnen das Wasser, daS Drod des Lebens, sie nahmen es nicht an; ver­ gebens kündigte er sich ihnen als das Licht an, sie blieben in der Finsterniß. So ließen sie die Zeit der Besserung tm< genützt vorübergehen, verharrten in ihrer Sündhaftigkeit, ihrer Ungerechtigkeit und ihrem gottlosen Wesen, und gingen ungebessert dem Tode entgegen, der sie vor den ewigen Rich« ter rief. — O es ist etwa- Schreckliches in seiner Sünde sterben, kn der Trunkenheit der Leidenschaften hinzutaumeln in die ewige Nacht, aus dem Schlafe der geistlichen Bewußt­ losigkeit , der fleischlichen Sicherheit in den Schlaf des To­ des zu sinken! Welch ein Morgen, welch ein Erwachen erwartet den unbußfertigenSünder! •— Ihr werdet in eurer Sünde sterben! dieses Wort ist einem Jeglichen gesagt, auch demjenigen, der sich im Glauben zu Christo ge­ wendet hat, und bemüht ist, sein Leben zu bessern. Ein Jeder lebt in unerkannten Sünden, die er noch zu erkennen und abzulegen hat; ein Jeder hat mit Schwachheiten und üblen Gewohnheiten zu kämpfen, die er noch ganz besiegen sollte, ehe ihn der Tod abruft. Die Juden können dießmal die Andeutung des Todes Jesu nicht mißverstehen; aber sie wollen es nicht erkennen, daß ihr Unglaube, ihre Verstockung seinen Tod herbeiführt, daß er für ihre Sünden leiden und sterben muß, und verfal­ len daher auf den Gedanken, er wolle sich vielleicht selbst Bibl. Erbauung-b. I.

P

tobten,

aus Verzweiflung etwa, daß man ihn nicht aner

kennen wolle.

Vielleicht war es auch nur Spott, dann aber

war es der bitterste Spott, der Ausdruck des verderbtesten, unempfindlichsten Herzens, das selbst bei dem Gedanken an den Tod und das ewige Gericht Bosheit und Hohn brütete. Sie legen Jesu die Absicht des Selbstmordes unter, eines Verbrechens, das von den Juden, wenigstens von den Pha­ risäern , sehr verabscheut wurde, und vergelten so seine War­ nung mit dem schwärzesten Verdacht. O bewahre mich Gott vor solchem Leichtsinn,

daß ich mit dem Gedanken an den

Tod scherzen könnte, und vor solcher Bosheit, daß ich beit« jenigen, den ich auf dem Wege zum Tode sehe, verspotten, daß ich seiner Wehmuth bittern Scherz entgegen setzen, und seine gutgemeinte Warnung schnöde verachten könnte! Wen das Andenken an den Tod nicht rührt, wer in das offne Grab schauen kann,

ohne zu beben, ohne in sich zu gehen,

ohne den Haß gegen den Bruder aufzugeben, der ist unver­ besserlich, der ist rettungslos verloren. Jesus antwortet nicht auf diesen Hohn, »nd begnügt sich den Grund des Unglaubens aufzudecken, in welchem sie gegen ihn verharren, und die vorige Warnung nochmals ausjusprechen. Co setzt der Weise immer der Bosheit Sanftmuth,

dem Hasse Liebe, dem Hohn und Spott milde War

nung entgegen; so sollen auch wir uns nicht durch den Spott unserer Feinde reizen lassen, sondern schweigen oder die Sprache der Mässigung führen. — Ihr seid von un­ ten her,

ich bin von oben herab; ihr seid von

dieser Welt, ich (D. 23.).

bin

nicht

von

dieser

Welt.

Die Juden konnten Jesum nicht verstehen, noch

an ihn glauben, weil sie von ganz verschiedener,

ja entge­

gengesetzter Sinnesart waren. Sie waren nur auf das, was unten ist, auf die Welt und deren Güter gerichtet; die Lust des Fleisches,

die Selbstsucht beherrschte sie; ihr Geist war

von der Sinnlichkeit befangen, von der irdischen Finsterniß umnach'tet. Christus hingegen war auf das, was oben ist, auf das Himmlische gerichtet, so wie er vom Himmel stammte und auis dem Cchooße des Vaters kam; er suchte nicht, was

das Fleisch und die Selbstsucht fodert, und verhieß cs auch den Menschen nicht; er richtete sie nach oben hin, bot ihnen das ewige Heil, welches allein in der Erkenntniß Gottes und seines Willens und in der Erfüllung seines heiligen Ge­ setzes besteht, und suchte sie von der Erde zum Himmel em­ por zu ziehen. Ja, er trat mit der Welt und ihrem Streben in Kampf; er strafte ihre Ungerechtigkeit und ihren Unglau­ ben, reizte ihre Wuth und bot sich als schuldloses Schlachtopfer darr und so foderte er auch von den Seinen, daß sie den Haß der Welt willig auf sich laden, und ihm auf dem Wege zum Kreuze folgen sollten. Seine Richtung und die Richtung der Welt waren gänzlich entgegengesetzt, so wie Licht und Finsterniß, Wahrheit und Lüge: und so konnten freilich die Kinder der Welt nicht an ihn glauben; nichts zog sie zu ihm hin. Alles stieß sie von ihm ab. Wer zu Jesu kommen sollte, mußte von Gott gezogen und getrieben seyn, in ihm mußte ein Funke des Glaubens schon glimmen; wer aber der Welt angehörte und ihrer eitlen Liebe sich ergeben hatte: wie konnte sich in dem ein göttlicher Trieb regen? Weil nun aber die Juden an Jesum nicht glauben konn­ ten, so war voraus zu sehen, daß sic in ihren Sünden sterben würden; denn, sagte Jesus, so ihr nicht glaubet, daß ich cs sei, so werdet ihr sterben in euer« Sünden (V. 24.). Der Glaube, daß Jesus cs sei, näm­ lich der Messias, war die nothwendige Bedingung der Bes­ serung für die Juden: nur indem sie in ihm den erwarteten Heiland erkannten, rissen sie sich los von ihren falschen, weltlichen Hoffnungen, von ihrer Herrschsucht, Eitelkeit und Hoffarth, von ihrer Heuchelei und Werkheiligkeit, von ihren Lastern und Vorurtheilen; und indem sie ihre Irrthü­ mer und Verderbnisse erkannten, mußten sie auch ihn, den Verkündiger der Wahrheit, den Gerechten und Reinen, mit gläubigem Herzen anerkennen. Jesus hatte nur gesagt: daß ich eS sei, und ein Jeder verstand was er damit wollte; man dachte gleich an den Einzigen, den man erwartete, an den Heiland der Welt. Wenn aller Augen auf Einen, der da kommen soll, gerichtet P 2

228 sind, und Jemand sagt: Ich

bin

esr so verstehen ihn

Alle.

Der Heiland der Welt kann

überhaupt nur Einer

seyn,

und nach Einem hin ist die Sehnsucht aller gerichtet,

welche bas Heil suchen; Alle wenigstens erwarten von dem Ersehnten dasselbe, dieselbe Hülfe, dieselbe Erlösung. Die Juden aber wollen Jesum nicht verstehen, und fragen ihn: Wer bist

du

denn? (V. 25.) Jesus antwortet ihnen

auf diese Frage nicht so bestimmt, wie sie es etwa erwarten mochten. Er sagte nicht: ich bin Christus der Sohn Gottes, oder etwas ähnliches. Denn was hatte eine solche bestimmte Erklärung gefruchtet? Eie hätten sie doch nur mit Spott und Verachtung aufgenommen.

Wer überhaupt nicht selbst

erkennt, wer Jesus sei, wer es sich erst muß vorsagen las­ sen, um cs dann nachzusprechen, der erkennt ihn nicht. Je­ sus sprach zu ihnen: Erstlich (bin ich) der, der ich mit euch rede (58. 25.). *)

Haltet euch vor allen Dingen an

meine Reden, suchet aus ihnen zu erkennen, wer ich sei; lasset euch von mir zuerst warnen, rühren, bessern: dann werdet ihr euch jene Frage selbst beantworten können.

Je­

sus will nicht, daß man zu ihm sage: Herr, Herr, ihm aber nicht gehorche; er verlangt keine eitle Ehre, keine Aner­ kennung seiner bloßen Person ohne den Glauben an das, was er sagt und thut und wozu ihn Gott in die Welt gesandt hat.

Wenn er auch von sich selbst zeuget, so sagt er doch

seltener, daß er der Christus oder der Sohn Gottes, als daß er das Wasser,

das Brod des Lebens, das Licht der

Welt fei; er bezeichnet seltener seine Person, als seine Wirk­ samkeit. — Ueberhaupt sollte man Niemanden fragen: Wer bist du? sondern nur prüfen, was ein Jeder sagt und thut; auch sollte man nichts von sich selbst aussagen, sondern allein auf das Hinweisen, was man leistet und wirkt.

♦) Diese Erklärung scheint in der That die beste zu seyn, und namentlich vor der jetzt am meisten angenommenen: Allerdings das, was ich euch sage, den Vorzug zu verdienen. Dieser Sinn ist ganz inctt und nichts sagend, indem sich nämlich Jesus bloß auf das berufen würde, was er schon von sich gesagt hatte.

229

Aber freilich was Jesus j« den Juden redete, hatte ihren Beifall nicht, weil es ihnen nicht schmeichelte. Ich habe viel von euch ju reden und ju richten (V. 26.). Jesus mußte sie strafen und. warnen, und das behagt der Eigenliebe nicht. Hätte er ihren sinnlichen Er­ wartungen und Begierden geschmeichelt, und nicht ihre Gott­ losigkeit und Werkheiligkeit gerügt: so hätten sie ihn wohl für ihren Messias erkannt; aber dann wäre er der falsche Messias gewesen. Jesus mußte reden, wie er redete, weil es die Wahrhaftigkeit, weil es Gott gebot. Aber der mich gesandt hat, ist wahrhaftig, und was ich von ihm gehöret habe, das rede ich vor der W c l t (35.26.). Jesus spricht nur aus göttlicher Anregung und Offenbarung, frei von menschlicher Willkür und Leiden­ schaft; und was er sagt, ist Wahrheit, weil es von Gott kommt; daher kann und will er sich nicht irre machen lassen, wenn er durch seine Reden den Haß der Menschen auf sich ladet. Ist es doch heilsam, was er sagt, und erfüllt er doch damit seine göttliche Sendung. — Auch für uns liege rin Trost für den Haß, den wir uns durch Freimüthigkeit juji'ehen, darin, daß wir die Wahrheit sagen, und nicht aus Leidenschaft, son­ dern aus Pflichtgefühl handeln, daß wir den Menschen, die wir tadeln, nicht wehe, sondern wohl thun wollen. Haben wir aber dieses Bewußtseyn nicht, so werden wir bei dem Haß und der Verfolgung, welche wir erfahren, die Ruhe des Ge­ müths nicht behaupten, und uns selber wehe thun, indem wir Andern wehe thun. Die Juden vernahmen es nicht, daß er ihnen von dem Vater sagte (V. 27.). Kaum scheinet es möglich, daß sie dieses nicht sollten verstanden haben. Wa­ ren sie so sehr von Vorurtheikcn und Leidenschaft verblendet, daß sie die klarsten Aussprüche Jesu nicht faßten? Vielleicht meinten sie in ihrem irdischen Sinne, er berufe sich auf irgend einen Menschen, von dem er gesendet sei; sie verfielen gar nicht auf den Gedanken, daß er vom Vater im Himmel rede. Sic sahen ihn mit starrenDlickcn an, gleich als wollten sie ihn

fragen: was redest du für Räthsel? wir wissen nicht, was du sagst! Tief mochte Jesum ihre Verstocktheit schmerzen, und mit Wehmuth erinnert er wieder an seinen Tod. Wenn ihr des MenschenSohn erhöhen werdet, dann wer­ det ihr erkennen, daß ich es sei (D. 28.). Er­ höhen heißt so viel als an das Kreuz schlagen (vgl. Kap. 3, 14.). Ans Kreuz schlugen Jesum unmittelbar die römischen Kriegsknechte; zu diesem Tode verdammte ihn der römische Landpfleger; und die erbitterten Ankläger Jesu, die Hohen­ priester und Pharisäer mit dem verblendeten Haufen, welcher schrie: Kreuzige ihn! brachten jenen dahin, daß er den unge­ rechten Richterspruch fallete. Aber auch alle Andern, welche an Jesum nicht glaubten, waren entfernter Weise mit Ursache, daß er gekreuzigt wurde, und die Sünde der Menschheit überHaupt war die tiefere Ursache seines Leidens und Sterbens. Zu solchen nun, welche nicht ganz und gar verstockt waren, und nicht zunächst zu seinem Tode beitrugen, sagt er, daß sie ihn nach seiner Kreuzigung für den erkennen würden, der er sei. Schwerlich sind die Obern der Juden jemals von ihrer Erbitterung gegen Jesum zurückgekommen, wie sic denn auch nach seinem Tode die Jünger und die Gläubigen verfolgen: sie meint er also in dieser Rede schwerlich, von ihnen hoffte er nicht, daß sie ihn einst erkennen würden. Er redet zu de­ nen, von welchen er noch nicht alle Hoffnung aufgegeben hatte, die ihm noch nicht ganz verstockt zu seyn schienen. Aus welchen Gründen aber konnte er hoffen, daß ihn Solche nach seinem Tode erkennen würden? Erstlich hat der Tod an sich eine erweckende und ver­ söhnende Kraft. Er trifft das Her; mit einer wunderbaren Gewalt, in ihm ertönt uns ein Ruf aus der Ewigkeit. Wenn ein Mensch, den wir im Leben nicht bemerkt und geschätzt haben, stirbt, so thut es uns leid, daß wir ihn nicht gekannt haben; denn er ist ja für uns auf ewig verloren. So lange er lebt, sind wir nachlässig und gleichgültig; ist er aber todt, so fühlen wir, was wir durch unsere Gleichgültigkeit ver­ scherzt haben.

Waren wir mit dem Lebenden unzufrieden,

hatten wir dieses oder jenes an ihm zu tadeln, so ließen wir uns wohl leicht dadurch gegen das Gute in ihm verblenden; nach seinem Tode aber, mit welchem sein Leben abgeschlossen ist, tritt uns seine ganze Erscheinung vor die Seele, und die ein­ zelnen Flecken an derselben verschwinden. Wir erkennen dann mit Wehmuth, daß wir ihm Unrecht gethan haben.

War

uns der Lebende in unsern Absichten hinderlich, und verschloß der Eigennutz unserHcrz gegen ihn: so erinnert uns der Tod an das, was über den kleinen Angelegenheiten des Lebens liegt; wir klagen uns der Selbstsucht an, und fühlen mit Schmerz unsere Verirrung. Noch schmerzlicher ist die Reue, wenn wir dem Verstorbenen im Leben wehe gethan, und am schmerzlichsten, wenn wir durch unser feindseliges Bemühen zur Verkürzung seines Lebens beigetragen haben. Hat die trübe Leidenschaft ihr Ziel erreicht, ist der Gegenstand ihres Hasses vertilgt: dann kehrt das Gefühl der Wahrheit und Gerechtigkeit mit der innern Klarheit zurück; dann erkennen wir, daß wir dem Gehaßten zu viel gethan haben, und ver­ gebens wünschen wir ihn ins Leben zurück. So mochte Man­ cher, der mit in jenes: Kreuzige ihn! eingestimmt hatte, als er den Verfolgten am Kreuze bluten sah, schmerzlich be­ reuen, und hie edle Jammergestalt betrauern. Zweitens aber hatte der Tod Jesu die Folge, daß der Glaube an ihn durch die in den Seinigen hervortretende Be­ geisterung sich siegreich verbreitete , und die Masse derer, welche vorher ihn nicht zu erkennen vermocht hatte«, durch­ drang. Als die Jünger ihren Meister am Kreuze sahen, da gaben sie alle irdischen Vorstellungen und Hoffnungen auf, welche bisher ihren Glauben getrübt hatten; und als ihnen der Auferstandene erschien, da erfüllte ein heiliger Siegesmuth ihr Her;, und sie erkannten ihn als den mächtig erwiesenen Sohn Gottes. Nunmehr verkündigten sie ihn laut vor aller Welt, thaten Wunder in seinem Namen, und das kleine Häuf­ lein seiner Bekenner wuchs und erfüllte bald die Erde. Nun erkannten ihn auch diejenigen, die vorher geschwankt und ge­ zweifelt hatten, und glaubten und ließen sich taufen. Aus allen diesen Gründen konnte Jesus sagen: dann

werdet ihr erkennen, daß ich es sei, und nichts von mir selbst thue, sondern wie mich mein Vater gelehret hat, so rede ich (D. 28.). Sein Tod hatte nicht nur die Wirkung, daß Diele, vom Strome der Begeisterung fortgerissen, zum christlichen Glauben über­ traten, ohne vielleicht recht überzeugt zu seyn; er -ffnete auch den Bessern die Augen, und ließ sie die Wahrheit der christli­ chen Lehre erkennen. Jesus blutete für diese Wahrheit am Kreuze, bewies den höchsten Gehorsam gegen den göttlichen Willen, und bewahrte dadurch seine Lehre als göttliche Offen­ barung und den Zweck seines Lebens als den Willen Gottes selber. Sehen wir denjenigen, den wir bisher verkannt ha­ ben, für seine Ueberzeugung in den Tod gehen r dann müssen wir sehr verstocktseyn, wenn wir nicht wenigstens die Festig­ keit seines Willens anerkennen, und dasjenige, wofür er stirbt, einer ernstlichen Prüfung unterwerfen. Der Tod, den Je­ mand für seine Ueberzeugung leidet, ist noch kein vollgültiger Beweis, daß diese Ueberzeugung wahr sei; aber immer zeigt er doch dadurch, daß er für etwas, das ihm höher als das Leben gilt, gelebt und gewirkt hat, und verdient unsere Ach­ tung. Und der mich gesandt hat, ist mit mir. Der Vater läßt mich nicht allein; denn ich thue alle Zeit, was ihm gefällt (V. 29.). So wie Chri­ stus nur aus göttlicher Offenbarung redet und aus göttlichem Befehl handelt, und allezeit thut, was Gott wohlgcfallt: so unterstützt ihn auch die Kraft und der Beistand Gottes; und nachdem er während seines irdischen Lebens verfolgt und ge­ drückt gewesen, belohnte und verherrlichte ihn der siegreichste Erfolg, der ihn als den darstellte, an welchem Gott Wohl­ gefallen hatte (vgl. Kap. 3, 35.). Diese Kraft aus Gott, welche in Christo und den Seinigen mächtig war, erfuhren und erkannten nach seinem Tode Alle, welche noch nicht ganz verblendet und verhärtet waren. Daß Christi Sache aus Gott war, erhellte daraus, daß man sie nicht dämpfen konnte (vgl. Ap. Gesch. 5, 39.)» der unüberwindliche Geist, der in den

a33 Aposteln und übrigen Gläubigen wirkte, war nicht der Geist der Welt, es war der heilige Geist Gottes. Da er solches redete, glaubten Diele an ihn (D. 30.). Diele waren noch so rährbar, daß die weh­ müthige Erinnerung an den Tod sie erweichte, und daß sie wenigstens eine flüchtige Anregung jum Glauben fühlten; denn ihr Glaube scheint, nach der folgenden Ermahnung Jeste (D. 31.) zu urtheilen, noch nicht ganj fest gewesen ju seyn. Wir, die wir an den Gekreujigte» und Auferstandenen glauben, sollen uns hier billig frage«, ob wir ihn vor seinem Lode erkannt, ob wir bei dieser Hindeutung auf seinen Tod an ihn geglaubt haben würden? Wohl uns, wenn wir so gesinnet sind, daß wir ihn als den, der aus Gott redete und wirkte, schon durch das, was er redete und that, erkannt hatten, daß wir ihm schon während seines Lebens mit Glau­ ben und Liebe entgegengekommen wären! In Beziehung auf ihn selbst können wir nie die Probe ablegen, aber wohl mit Andern, denen wir Vertrauen und Liebe schuldig sind. £> möchten wir die Anerkennung deS Guten in Andern und die Erfüllung unserer Pflicht gegen sie nie bis nach ihrem Tode verschieben, möchte uns nie erst die Thräne der Trauer daS harte Her; erweichen, nie erst der Schmerz des Verlustes, der erschütternde Gedanke des Todes unser Gewissen wecken! Za, möchten wir nie Jemand durch Verkennung und Kränkung veranlassen, uns durch die wehmüthige Hindeutung auf seinen Tod zu warnen! Und fern sei vollends von uns jede Härte und Bosheit, wodurch wir den Tod des Nächsten, ober wohl gar eines Angehörigen beschleunigen, und den Stachel tödtli« chcr Kränkung in sein Herz brücken könnten!

Vierter Abschnitt. (B. 31—50.)

Zu den Juden, welche eine gläubige Erregung fühlten, sprach nun Jesus; So ihr bleiben werdet an mei­ ner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger (D. 31.). Der große Menschenkenner, welcher wußte, was im

a34 Menschen war, erkannte wohl, daß ihr Glaube nur noch in einer flüchtigen Erregung, bestand, und so fodert er von ihnen Beständigkeit. Sie sollen bei seiner Rede und der Ueberzeugung, die fie bewirkte, verharren, und fich dadurch als rechte Jünger bewähren. Glaube ohne Festigkeit ist nichts; der Glaube, wie die Hoffnung, muß sich wider alle Zweifel und in jedem Kampfe behaupten, sonst kann er das Her; nicht be­ ruhigen und keine Früchte tragen. Die erste Frucht des Glaubens ist die Erkenntniß. Wie das Kind erst dem Vater und Lehrer glaubt, und dann zur selbstständigen Erkenntniß gelangt: so empfangt auch der Christ von Christo mit gläubigem Herzen die anregende und erweckende Kraft des Lichtes, welches in ihm dann die Er­ kenntniß bewirkt. Darum setzt Jesus hinzu: Und ihr wer­ det die Wahrheit erkennen (V. 32.). Es ist falsch, wenn Manche behaupten, der Christ dürfe nur glauben, nicht selbstständig erkennen und urtheilen. Gerade darin bewährt sich der feste und tiefe Glaube, daß er sich mit der selbststän­ digen Erkenntniß verbindet. Freilich darf diese nie mit dem Glauben in Widerstreit treten, oder ihn gar üb'er den Haufen werfen. Der Glaube sei der feste Grund, auf welchem sich die Erkenntniß frei bewegt. Eine wichtige Verheißung fügt Jesus hinzu in den Wor­ ten: Und die Wahrheitwird euch frei machen (V. 32.). Die Juden waren sehr stolz auf ihre Freiheit. Schon als Nachkommen Sems konnten sie sich für gcborne Herren halten, denen andere Völker dienen mußten. (1 Mos. 9, 26.). Dem Jakob war von seinem Vater im Segen verhei­ ßen, daß seine Brüder ihm dienen sollten (1 Mos. 27, 29.): und so sahen die Israeliten, als Jakobs Nachkommen, stolz auf das Geschlecht Edoms, als eine zur Knechtschaft gcborne Mcnschenart, herab. Ihre bürgerliche Freiheit vertheidig­ ten sie mit Hartnäckigkeit gegen die Römer, und gingen lie­ ber im blutigen Kampfe unter, als daß sie sich unterwarfen. Diesen leidenschaftlichen Vertheidigern der ererbten bürgerli­ chen Freiheit verspricht nun Jesus eine bessere Freiheit, näm­ lich die Freiheit des Geistes. Wirklich ist die äußere Frei-

a35 heit nicht- ohne die innere, und man kann jene sogar nicht behaupten ohne diese. Die Juden (wahrscheinlich andere, als die gläubig gewordenen, denn so schnell konnten diese doch wohl nicht vom Glauben zum bittern Widerspruch umspringen) finden fich durch diese Verheißung beleidigt, indem fit unter der Freiheit die bürgerliche verstehen, und in Jesu Rede einen Zweifel an ihrer freien Abstammung zu finden glauben. Wir sind Abraham-Same, sagenfie, und sind niemals JemandesKnechte gewesen: wie sprichst du denn: Ihr sollt frei werden? (D. 33.). Jesüs sagt ihnen nun deutlicher, daß er die geistige, sittliche Freiheit gemeint habe. Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer Sünde thut, der ist der Sünde Knecht (D.34.). Eine große wichtige Wahrheit! Sie findet ihre Erleuterung in der Stelle des Apostels Paulus Röm. 7, 14. f. f. Ich bin fleischlich, unter die Sünde verkauft. Denn ich weiß nicht, was ich thue; denn ich thue nicht, was ich will, sondern was ich hasse, das thue ich. So ich aber das thue, was ich nicht will, so gestehe ich dem Gesetze zu, daß cs gut sei. So thue ich nun dasselbige nicht, sondern die Sünde die in mir wohnet. Wenn der Mensch sündigt, so handelt er immer gegen sein besseres Gefühl, gegen das seinem Geist von Gott eingepflanzte Ge­ setz des Guten; und es ist eine fremde Gewalt, wenn er thut was gegen bas Gesetz ist. Nun aber ist der nicht frei, der einer fremden Gewalt unterworfen ist und gegen seinen Wil­ len handelt: der Sünder ist mithin der Knecht der Sünde. Alle Sünde besteht im Hang zur Sinnlichkeit und Gewohnheit, oder zu dem, was die Schrift das Fleisch nennt; im Fleisch aber besteht das Wesen des Menschen nicht, sondern im Geist: dient er nun dem Fleische, und folgt dessen Antrieben, so ver­ kauft er sich einer äußern Gewalt, und ist unfrei. Man muß dieses aber nicht so verstehen, als wenn der Sünder unwill­ kürlich handelte, und die Sünde keiner Zurechnung unterwor­ fen wäre; das Sündigen ist eine freiwillige Knechtschaft, die

a36 Gewalt des Fleisches ist ein Joch, das man freiwillig auf sich nimmt. In solcher Knechtschaft befindet sich anerkannter Maßen jeder Lasterhafte, der sich durch lange Gewohnheit der Befriedigung einer bösen Lust hingegeben hat, jeder Lei­ denschaftliche, der einen Hang hat übermächtig werden lassen, den er wohl hätte besiegen und unterdrücken können. Die Knechtschaft ist um so schimpflicher und erniedrigender, wenn sie freiwillig ist; denn sie zeugt von innerer Schwäche und Erniedrigung, von Mangel an edlem Stolz und Gefühl der Würde. — Ohne die innere, sittliche Freiheit, sagten wir, ist die äußere politische nichts, und läßt sich in die Länge nicht behaupten, wie sie denn auch die Juden eigentlich schon ver­ loren hatten (denn sie dienten schon damals den Römern) und bald gänzlich verloren. Denn ein Volk, das sich nicht frei von Leidenschaft, Laster und Ungerechtigkeit hält, wird in sich selbst nicht die Eintracht und Stärke behaupten, welche

eS allein vor den äußern Feinden sichern kann: und so war das jüdische Gemeinwesen durch Zwietracht geschwächt, eine Beute der römischen Eroberungslust geworden. Wer nicht Alles, Gut und Blut, für die Freiheit hinzugeben den Muth hat, wer nicht für dieselbe jeden Kampf zu bestehen weiß: wie kann der den Feinden, die gegen ihn andringen und ihn unterjochen wollen, widerstehen? Aber ein Knecht der Sünde, der Leidenschaft, der trägen Ruhe, des Genusses, hat die­ sen Muth nicht; er wird mit den Feinden feige unterhandeln, und sie werden ihn bald, halb mit List, halb mit Gewalt unterjochen. Zwar gingen die Juden zuletzt mit dem Muthe der Verzweiflung in dcnKampffür ihre Unabhängigkeit; aber dann war es zu spät; früher, zur rechten Zeit hätte ihr Kampf allein glücklich seyn können. Die Tugend, die Gerechtigkeit sind die besten Schutzwehren der bürgerlichen Freiheit; sie sind aber eins mit der sittlichen Freiheit. Der Knecht aber bleibet nicht ewiglich im Hause; der Sohn bleibet ewiglich: so euchnun der Sohn frei machet, so seid ihr recht frei (D. 35. 36.). Den Knecht kann der Herr verkaufen, oder, wie dort, Abraham Ismacl, den Sohn der Magd(1 Mos. 21,

10.), austreiben; der Knecht bleibt nicht ewiglich im Haust, ist kein Glied der Familie und beerbet den Vater nicht, wie der Sohn, der e«i-lich im Hause bleibt, und selbst Herr deS Hauses wird. Jesuö spricht hier vom Hause und Erbe Got­ tes oder vom Reiche Gottes, und will den Juden zu verstehen geben: wenn sie sich nicht durch sittliche Freiheit des Reiches Gottes würdig machten, so würde es ihnen genommen und Andern gegeben werden, wie er anderwärts (Matth. 21, 43.) ausdrücklich sagt. Er beugt damit ihren Stolz auf die Ab­ kunft von Abraham, durch welche allein sie sich schon des Reiches Gottes würdig glaubten (vgl. Matth. 3, 9.). Als Söhne Abrahams können sie immer unfrei und des Reiches Gottes unwürdig seyn. tzrei nun sollen sie durch den Sohn werden r das ist Christus, der Erbe de6 Hauses Gottes, dem der Vater alle Macht verliehen hat, und der allein den Zu­ tritt zum Reiche Gottes gibt. Diejenigen, die er ftei und würdig macht, die er von der Knechtschaft der Sünde erlöst, nimmt er auf ins Reich seines Vaters, und macht sie zu Er­ ben der himmlischen Güter; er erlöst und befreit aber diejeni­ gen, welche an ihn glauben und mit ihm in geistige Gemein­ schaft treten. Nun bestreitet Jesus ausdrücklich das Dorurthekl der Abkunft von Abraham. Ich weiß wohl, daß ihr A b r a h a m s S a m e fe i d, daß ihr dem Fleische nach von ihm abstammt; aber dem Geiste nach seid ihr seine Söhne nicht, ihr sucht mich zu tödten, was Abraham nicht gethan haben würde, ihr habt die gerechte, edle Gesinnung eures Stammvaters nicht (V. 37.). Auf diese Weise kann jeder Ahnenstolz widerlegt werden; denn diejenigen, die sich ihrer edlen Vorväter mit anmaßlichem Stolze rühmen, haben die Tugenden derselben nicht, sonst würden sic sich dessen nicht rühmen, was an sich keinen Werth verleihet, was höchstens eine vortheilhafte Erwartung begründet. Denn meine Rede, setzt Jesus hinzu, findet keine Statt in euch; ihr seid für die Wahrheit, die von Gott kommt, nicht em­ pfänglich, mithin ungöttlicher Art und Abstammung. Ich rede, was ich von meinem Vater gehört habe,

aus göttlicher Offenbarung; so thut ihr was ihr von euerm Vater gesehen habt, ihr handelt nach dem Vorbilde eines andern Vaters, eure Handlungsweise verrath eine ganz andere Sinnesart und Abkunft (V. 38.). Die Ju­ den fühlen die Stärke deS Vorwurfs, und lehnen denselben ab, indem sie sich auf ihre Abstammung von Abraham beru­ fen. Abraham, sagen sie, ist unser Vater: welchen andern Vater willstdu uns zuschreiben? Jesus sagt ihnen nun deutlicher, daß und warum sie Abrahams Söhne nicht seien, weil sie nämlich ihn tödten wollen, ihn, der ihnen göttliche Wahrheit verkündet habe; das habe Abraham nicht gethan (93. 39. 40.); und hierauf gibt er ihnen nochmals ju ver­ stehen, daß sie einen andern Vater hätten; ihrthutcures Vaters Werke (V. 41.). So wie Jesu Vorwurf deut­ licher ausgesprochen ist, so geht auch die vertheidigende Ant­ wort der Juden tiefer in den geistigen Sinn ein. Sic ver­ stehen cs, daß er ihnen die Kindschaft Gottes abspricht, und verantworten sich dagegen. Wir sind nicht unehelich, aus Ehebruch, geboren, sind nicht durch Abgötterei (welche oft mit Ehebruch und Unjucht verglichen wird, (Hosea 2, 4. 16, 15. u. a. St.) von Gott abgefallen und ein entar­ tetes Geschlecht; wir haben Einen Vater, Gott (V. 41.). Sie werfen sich von einem Stolz auf den andern, vom Ahnenstolj auf den geistlichen. Weil die Juden seit der Rück­ kehr aus dem Exil sich keines Götzendienstes schuldig gemacht, so meinen sie, sie seien die treuen, ächten Söhne Gottes ge­ blieben; als wenn nicht auch der Dienst des ewigen, wahren Gottes durch Buchstäblichkeit und Heuchelei zum Götzendienst ausarten könnte. Deßwegen, weil sie dem Gesetz treu ge­ blieben waren, verdienten sic noch nicht Kinder GotteS zu heißen, da ihre Gesinnung ungöttlich war. Ware Gott euer Vater, sprach Jesus zu ihnen, so liebtet ihr m i ch (93.42.). Schon als einen Menschen, ihren Bruder, hätten sic ihn lieben müssen; denn haben wir nicht Alle Einen Vater, hat uns nicht Alle Ein Gott geschaffen? (Mal. 2, 10.). Wenn wir nun Gott als treue Kinder erkennen und lieben, so müssen wir auch unsere

Mitmensthen liebt«. Aber Jesum hätten sie noch aus einem andern Grunde lieben müssen, und noch viel mehr, als an­ dere Menschen. Denn ich bin ausgegangen, und komme von Gott; denn ich bin nicht von mir selbst gekommen, sondern er hat mich gesandt (23. 42.). Jesus war Gottes Gesandter, Sohn, Ebenbild: cs war die göttliche Wahrheit, die er verkündigte, der gött­ liche Wille, den er vollzog; keine menschliche Willkür noch Selbstsucht trübte das reine Gotteswerk, das er auf Erden vollbrachte. Wäre nun in den Menschen, mit denen er hier redet, ein für das Göttliche empfänglicher Sinn gewesen, so hätten sie ihn lieben müssen, welcher Gott leibhaftig vergegen­ wärtigte. Warum kennet ihr denn meine Sprache nicht? Denn ihr verstehet mein Wort nicht (D. 43.). Verwandte, Brüder, Volksgenossen erkennen einan­ der schon an der Rede, am Ton, an der Mundart, weil Zwi­ schen ihnen eine geistige Verwandtschaft Statt findet. Aber eben weil die verstockten Gegner Jesu seinem Geiste und We­ sen fremd sind, und nicht mit ihm zu Gott im Verhältniß kindlicher Gemeinschaft stehen, ist ihnen feine Rede fremd und unkenntlich: und so verstehen sie sein Wort, den Inhalt sei­ ner Rede, nicht, und können die Wahrheit, die er verkün­ digt, nicht fassen. Auch hier fetzt Jesus voraus, daß zum Glauben an ihn eine gewisse Empfänglichkeit, eine göttliche Erregung, eine geistige Verwandtschaft mit ihm, nothwendig ist (vgl. Kap. 6, 37. 44. 45.). Daß seine Gegner mit ihm im cntscheidensten, feindlich­ sten Gegensatz stehen, sagt nun Jesus mit den starken Wor­ ten: Ihr seid vom Vater, dem Teufel, cuerVater ist der Teufel; und nach eucrs Vaters Lust wol­ let ihr thun (D. 44.). Gottes und alles Guten Feind ist der Teufel, und dieser ist derer Urbild, welche Gott und allem Guten feind sind, wie es diese verstockten Gegner Jesu waren. Der Sinn ist nicht, als wenn sie vom Teufel, und nicht von Gott geschaffen seien; das wäre eine Lästerung Got­ tes, eine Schmälerung seiner unendlichen Schöpfcrmacht, von welcher alles, was ist, seine Entstehung hat: der Ausdruck:

a4o den Teufel {um Vater haben, bezieht sich bloß auf die Gleich, heit der Gesinnung und des Geistes, wie auch die hinzugesetz­ ten Worte anzeigen: nach euers Vaters Lust wollet ihr thun, aus seinen bösen Trieben, aus Haß und Bos­ heit, handelt ihr, und zwar mit Willen, mit freier Hin­ neigung, nicht aus Schwäche und Uebereilung. Darin liegt eben das Teufelische, das Böse, wenn man mit Willen sün­ digt, wenn man aus böser Lust handeln will. Jesus zielt mit diesen Worten auf die Mordanschläge, die man gegen ihn gefaßt hatte (vgl. V. 40.). Derselbige ist ein Mörder von Anfang (V. 44.). Der Teufel, indes­ sen Sinne diese Menschen handelten, hat von Anfang an Mord gestiftet, indem er den Kain zum Brudermorde gereizt hat; er ist der Urheber alles Mordes und Menschenhasses, denn wer seinen Bruder hasset, der ist ein Todtschläger (t Joh. 3, 15.). Die Gegner Jesu waren aber auch insofern Kin­ der des Teufels, als sie die Wahrheit haßten. Er be­ stehet nicht in der Wahrheit; denn die Wahr­ heit ist nicht i n j () m. Er ist beständig im Abfall von der Wahrheit, in ihrer Verleugnung begriffen, sein ganzes Thun und Treiben ist eine fortgehende Abtrünnigkeit von der­ selben, weil sie in ihm keine Wurzel hat, weil er keine Liebe zu ihr in sich trägt. Wer in der Wahrheit bestehen, in ihr leben und nach ihr handeln will, der muß sie in sich haben, ihr innerlich ergeben seyn. Aber der Teufel hat das Wider­ spiel der Wahrheit, die Lüge und die Liebe zu ihr, in sich. Wenn er Lügen redet, so redet er von seinem Eigenen; die Lüge ist seine Natur, ihm innerlich eingepstanjt, mit seinem Wesen verwachsen; er ist ein Lüg­ ner und der Vater derselbigen (D. 44.). Indem Jesus das Bild des Teufels mit so schwarzen Farben zeichnet, daß den, der es betrachtet, in der innersten Seele schaudern muß, will er seinen Gegnern den Abgrund vor Augen stellen, in welchen sie zu sinken bereit sind. Wenn sie so fortfahren sich gegen die Wahrheit zu verhärten, so werden sie bald al­ len Sinn dafür in sich ersticken, und sich ganz der Lüge er­ geben, so daß sie in der Verleugnung und Verfolgung der

2-äi Wahrheit ihre Lust und ihren Lebenszweck finden. Ich aber weil ich die Wahrheit sage, so glaubt ihr mir nicht (D. 45.). Vermöge dieser Abneigung gegen alle Wahrheit und dieser Hinneigung zur Lüge, t>tr* möge dieser teuflischen Lost, die Wahrheit zu verneinen, verträchtig zu machen und zu verfolgen, konnten Jesu Gegner ihm nicht glauben, weil er das lehrte, was sie haßten, was ihrer Natur zuwider war. Es bestand ein Grundge­ gensatz zwischen ihnen und Jesu, er stieß sie gleichsam alS feindliche Kräfte ab, und sie flohen ihn, wie giftige Thiere das Licht und die gesunde Luft fliehen. Jesus will keineSweges sagen, daß in seinen Gegnern alles Gute gänzlich erstorben, daß kein Funke mehr von der göttlichen Natur, woran alle Menschen Theil haben, in ihnen übrig sey; denn es ist kein Mensch so böse, daß er nicht noch irgend einen Trieb und eine Fähigkeit des Guten in sich trüge, daß er nicht, nach irgend einer Seite hin, mensch­ liches Gefühl, Liebe, Achtung, Theilnahme bewiese. Er spricht im Tone der Warnung und will die Verstockten er­ schüttern: darum bedient er sich deS starken Ausdrucks: ihr Vater sey der Teufel; damit will er die Gesinnung und Handlungsweise, die sie gegen ihn und seine Sache bewie­ sen, in ihrer Verwerflichkeit darstellen. In dieser Hinsicht handelten sie nach teuflischer Art. —• So wie ein jeder Mensch Gottes Geschöpf ist und am göttlichen Wesen Theil hat: so tragt auch ein Jeder etwas von der teuflischen Na­ tur in sich, und in einem Jeden hat daS Böse seine Wurzel. Wir stehen gleichsam mitten innc zwischen dem Reiche des LichtS und dem der Finsterniß; und sind wir auch mit Got­ tes Hülfe dem erstern näher gerückt, so wirft das zweite doch immer noch seinen Schatten in unsere Seele. Es schlummert in der Tiefe des Gemüths irgend eine böse Lust, und wohl dem, in welchem sie bloß schlummert! Es gibt für einen Jeden irgend eine Seite, von der ihm das Licht der Wahrheit verhaßt und die Lüge lieber ist; cs ist in seiner Seele irgend eine Schattenseite, wohin er nicht gern das Licht dringen läßt. Ein Jeder lebt mehr oder weniger Blbl. Erbauungsb. I.

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in Selbstbetrug und Unlauterkeit; auch der Beste scheut über das Eine und Andere die Selbstprüfung. Dieser schwarze Punkt in der Seele kann sich, wie ein kleiner Rostfleck über die helle Stahlflache, über das ganze innere Leben verbrei­ ten, wenn wir nicht das Licht immer Heller anzufachen und auf Alles zu verbreiten suchen; die schlummernde böse Lust kann erwachen, und uns zu einer Sünde verleiten, aus welcher wieder eine andere entspringt, wenn wir nicht stets dagegen auf unserer Hut sind. O helfe uns Gott und sein guter Geist, daß das Licht in uns immer mächtiger werde, und die Wurzeln des Bösen immer mehr absterben! — Nach den starken Vorwürfen, welche Jesus gegen feine Feinde ausgesprochen, stimmt er einen mildern Ton an. Welcher unter euch kann mich einer Sünde zeihen? (V 46.). Er fodert sie zur Prüfung seines Lebens und Wandels auf, damit sie ihn entweder des Dösen zeihen oder ihm glauben sollen. Seine Gesinnung, seine Hand­ lungsweise soll der Prüfstein seiner Lehre seyn: können sie ihm eine Sünde nachweisen, so will er Unrecht haben, und keinen Anspruch mehr auf Glaubwürdigkeit machen. Das Wort Sünde erklären Manche in dieser Stelle von der Unwahrheit, so daß der Sinn wäre: Wer kann mir einen Fehler, einen Irrthum, eine Falschheit in meiner Lehre nachweisen? Allein obgleich der Urtext diese Erklä­ rung vertragt, so ist sie doch schwerlich die richtige. Wie kann Jesus diejenigen, welche ihm gar nicht glauben und eine gänzliche Unempfanglichkeit gegen seine Lehre beweisen, zur Prüfung derselben auffodern? Man kann nur dasjenige prüfen, wofür man einen gewissen Sinn und gewisse Em­ pfänglichkeit hat, was man im Ganzen, wenigstens den Grundsätzen und dem Zwecke nach, für wahr oder doch für wohlgemeint hält, worin man ein gutes Streben erkennt. Aber die Juden, mit welchen hier Jesus spricht, verwerfen seine Lehre ganz, und wollen gar nichts von ihr hören: sie sind mithin unfähig, sie zu prüfen. In ihrer Verstocktheit und Eingenommenheit gegen Jesu Lehre, würde es ihnen auch nicht schwer gefallen seyn, ihm Unwahrheiten und Irr»

a43

thümer Schuld zu geben, sie würden ihn zum Beispiel -re Irrlehre in Ansehung des Sabbaths angeklagt haben. Könn« ten sie auch ihre Beschuldigungen nicht erweisen, und ihn nicht eigentlich überführen: so war doch auch kein Richter da, der zwischen ihnen und Jesu den Streit geschlichtet hätte. Hingegen waren die Thatsachen feines Lebens Allen vor Augen und kein Gegenstand des Streites; wollten sie ihm Böses Schuld geben, so konnten Andere sie Lägen stra­ fen. Sodann wenn JesuS seine Gegner aufgefodert hatte, ihm eine Unwahrheit nachzuweisen, so hatte er sich nicht aus dem Kreise dessen, was streitig war, entfernt; eS war ja eben die Frage, ob er die Wahrheit lehre, und dieses leug­ neten seine Gegner. Besser that er, wenn er fich auf Et­ was Anderes berief, und einen Beweis in einem andern Kreise suchte. Endlich ist der Beweis auS der Gesinnung und Handlungsweise dazu geeignet, auch diejenigen zu rüh­ ren und zu überzeugen, deren Verstand verblendet und irre geführt ist. Dieser Beweis richtet sich an das Herz und an das Gefühl des Menschen, und in der Regel ist dieses besser und empfänglicher, als der Verstand. Vielleicht konnte diese Hinweisung Jesu auf sein untadelhaftes Leben selbst die Herzen dieser Verstockten rühren und ihre Dorurtheile über­ winden. ES ist sonach viel wahrscheinlicher, daß JesuS das Wort Sünde in seiner eigentlichen Bedeutung an­ nimmt. ES ist aber ein tiefer undnothwendigerZusammenhang zwischen der Gesinnung und Lehre, zwischen der Er­ kenntniß und dem Willen (vgl. Kap. 7 , 18.)» Nur einem reinen Herzen offenbaret sich die Wahrheit rein ohne alle Beimischung, und nur von dem, welcher die Wahrheit ganz rein durch die That ausübt, kann man sagen, daß er sie ganz rein erkannt habe. Dieß war der Fall bei Jesu. Er war ohne Sünde, und darum sagte er auch die Wahrheit. Die Juden blieben auf diese Frage Jesu die Antwort schuldig. Eie schlugen beschämt die Augen nieder, und sagten kein Wort. Niemand konnte ihn einer Sünde zei­ hen: und hätten sie es versuchen wollen, so entwaffnete sie die heilige Zuversicht der Unschuld, mit welcher Jesus sie Q 2

a4* ausscherte, ihn einer Sünde zu zeihen.

Diese Sprache

kann nur die frechste Heuchelei und die eitelste Selbstgefällig, (eit, oder die reinste Unschuld führen» kein anderer Mensch kann so fragen, wenn er redlich ist, weil stch ein Jeder sei. ntr Fehler bewußt ist. Aber sehr verschieden ist die Sprache der Heuchelei und der Eitelkeit von der Sprache der Unschuld, und ein Jeder fühlt es, wie sich ein gutes Gewissen aus­ spricht. Mit welcher wunderbaren Kraft aber mag Jesus diese Worte ausgesprochen haben, er der sich ganz rein von aller Sünde wußte? Mit welchem festen und doch ruhigen und milden Blicke mag er seine Gegner dabei angesehen haben? Wunderbar muß der Eindruck gewesen seyn, den er auf sie machte, weil sie ganz schwiegen. O heilige Macht der Unschuld, mögest du mir beiste« hen, wenn ich, von Allen verkannt, des Bösen beschuldigt werde, oder wenn mich der Schein verklagt, und selbst das Urtheil derer, die mich kennen, verwirrt und zweifelhaft macht! Möge ich stets, wenigstens in wichtigen Dingen, ein gutes Gewissen bewahren, und mir keine andere Fehler, als Schwachheiten und Uebereilungen, vorzuwerfen haben, damit ich stets einem Jeden frei ins Angesicht sehen und mich dem öffentlichen Urtheil bloß stellen könne! Da die Juden auf Jesu Frage nicht antworten, so fahrt er fort: So ich euch aber die Wahrheit sage, warum glaubet ihr mich nicht? (D-46.). War er ohne Sünde, so war auch seine Lehre wahrhaft, und gestanden sie jenes zu, so mußten sie auch dieses zuge. ben. Der Grund, warum sie nicht glaubten, lag in ihrer Unempfanglichkeit für die Wahrheit, in ihrer Entfremdung von Gott, in ihrem ungöttlichen Sinne (vgl. V. 4a.). Wer von Gott ist, der höret GotteS Wort: Darum höret ihr nicht, denn ihr seid nicht von Gott. (SS. 47.). Da antworteten die Juden und sprachen zu ihm: Sa­ gen wir nicht recht, daß du ein Samariter bist, und hast den Teufel? (23. 48.). Sie hatten 3cf« früherhin, wie man vermuthen muß, den Vorwurf

a45 gemacht, er sey ein Samariter, «eil sie gehört, daß er sich in der Mitte dieses Volkes aufgehalten hatte, (vgl. Kap. 4.). Es ist aber bekannt, daß die Samariter bei den Juden als Irrgläubige und Abtrünnige oder Ketzer galten, und es war mithin ein sehr gehässiger Vorwurf, der Jesu von seinen Feinden gemacht wurde. Eie wiederholen ihn jetzt, weil sie, ins Gedränge gebracht, nichts zu antworten wissen, so wie gemeine Menschen immer statt der Gcgcngründe gern Vorwürfe und Schimpfreden brauchen. Zugleich schelten sie ihn als wahnsinnig, denn das will der Ausdruck: Du hast den Teufel, sagen (vgl. Kap. 7, 20.). Jesus antwortete: Ich habe keinen Teufel; sondern ich ehre meinen Vater, und ihr unehret mich (V. 49.). Jesus ehrte seinen Vater, indem er dessen Wort verkündigte und dessen Willen ausrichtete; aber weil ec da­ durch über die Linie des Gewöhnlichen hinausging und mit den herrschenden Vorurtheilen in Gegensatz trat, so hielten ihn die Menschen für wahnsinnig und besessen. Besonderschien es, daß die Pharisäer, deren Ansehen litt, wenn Je­ sus Zutrauen beim Volke fand, geschäftig gewesen sind, diese Meinung von ihm zu verbreiten. So geht es oft den Menschen, welche sich in ihren Ansichten und Bestrebungen über das Gemeine erheben; man hält sie, wo nicht für wahn­ sinnig, doch für überspannt und schwärmerisch. Besonders benutzen die Uebelgesinnten, die Selbstsüchtigen, die Heuch­ ler, deren Eigennutz durch jene angetastet wird, oder die sich fürchten durch sie entlarvt ju werden, diesen Vorwurf, um Mißtrauen gegen sie zu verbreiten. Es mußte Jesum schmerjrn, daß die Juden ihn so verkannten und unchrten, daß sie ihn, den Verkündiger göttlicher Weisheit, nicht nur für unvernünftig und thöricht, sondern sogar für ra­ send erklärten; aber es schmerzte ihn nicht auS selbstischem Ehrgefühl. Ich suche nicht meine Ehre, setzte er hinzu (V. 5o.); es liegt mir nicht daran, was man von meiner Person denkt, oberes ist Gottes Sache, die ich ver­ trete: Es ist Einer der sie suchet und richtet; Gott behauptet meine Ehre, weil ich seine Wahrheit vcr-

a46 künde und sein Werk vollziehe; er macht, daß ich Auer, kennung und Glauben finde, und richtet zwischen mir und euch, indem er euch als Feinde der Wahrheit straft. — So soll jeder Gekrankte denken. Er braucht nicht feine Ehre zu suchen, Gott wird sie schon suchen und richten. Nicht, als ob wir uns nicht sollten rechtfertigen und unsere gerechte Sache vertheidigen; denn dieß thut ja Jesus eben« falls, wie das ganze Kapitel zeigt; sondern wir sollen we« niger um unsere persönliche Ehre, als um unser Recht be­ sorgt sepn, weniger auf das sehen, was man von unserer Person denkt, als wie man dasjenige aufnimmt, was wir für Wahrheit und Recht wirken.

FünfterAbschnitt. (V. 51-59.)

Jesus war des Streitens müde; denn einem liebevol« len Gemüth thut jeder Streit wehe, und wird er auch für die allgemeinen Angelegenheiten der Wahrheit und Gerech­ tigkeit geführt: noch schmerzlicher mußte es aber für Je­ sum seyn, daß der Streit in Bitterkeit und Leidenschaft en­ digte. Er suchte den Mißklang zu heben, wenigstens zu mildern, indem er, auf alle eigene Ehre Verzicht leistend, Gott die Vertheidigung feiner Sache überließ (V. 5o.), und dann bricht er die Unterredung mit den Uebelgesinnten ab, und wendet sich wieder an die Gläubigen. Wahrlich, wahrlich ichsageeuch: SoJemand meinWort wird halten, der wird den Tod nicht sehen ewiglich (D. 5i.). Er fordert sie wiederum zur treuen Be­ ständigkeit auf, wie er vorhin gethan (V. Zi.); denn zur Be­ ständigkeit gehört auch die treue Bewahrung durch die That. Wer beim Worte Jesu bleibt, der wird es auch halten und befol­ gen; werfest ist in feiner Ueberzeugung, der wird auch darnach leben und handeln. Denen aber, die fein Wort halten, verheißt Jesus, daß sie den Tod nicht sehen sollen ewig­ lich: was nichts anders sagen will, als daß sie das ewige Leben haben, ober vom Tode zum Leben hindurch bringen

sollen, (vgl. Kap. s, a4.). Jesus spricht natürlich vom geistlichen Tode, vom Verderben der Seele, von der Un. fcligkeit und Derdammniß. Seine Gegner aber nehmen, wie immer, seine Rede im buchstäblichen Sinne; und ob. gleich er an sie die Rede nicht gerichtet hatte, nehmen sie wieder das Wort, und äuffern sich im bittern Tone: Nun erkennen wir, daß du den Teufel hast, daß du rasest und Unsinn redest. Abraham ist gestorben und die Propheten, und du sprichst: So Je. mand mein Wort hält, der wird den Tod nicht schmecken ewiglich. Bist du mehr denn unser Vater Abraham, welcher gestorben ist? und die Propheten find gestorben. Was machest du aus dir selbst? (23. 5a. 53.) Jesus hält es nicht der Mühe werth, seine Rede gegen diese grobe Mißdeutung ju rechtfertigen, da der böse Wille in diesem Einwurf so sichtbar war. Aber auf den Vorwurf der Anmaßung, der in der letzten Frage lag, antwortete er. Er will es nicht leugnen, daß er mehr als Abraham und die Propheten sey; es ist seine Pflicht dieses zu behaup­ ten; damit man ihn erkenne und die höhere Offenbarung, die er brachte, und durch welche die des alten Bundes weit übertroffcn wurde, gläubig aufnehme. Aber wenn er sich selbst so hoch ehret, so ist es nicht selbstische Ehrsucht und eitle Anmaßung; Gott selbst weist ihm die Stelle an, die er annimmt. So ich mich selbst ehre, so ist meine Ehre nichts. Es ist aber mein Vater, der mich ehret, von welchem ihr sprechet, er sei euer Gott, und kennet ihn nicht (23. 54. 55.). Gott selbst ehret Jesum und jeugrt für ihn (vgl. Kap. 5, 3i. ff. 8, 18. 5o.); und wenn die Juden Sinn hätten für dieses göttliche Zeugniß, so würden sie Jesum ehren und anerkennen (vgl. Kap. 5, 37. ff.); aber sie kennen Gott nicht, den sie zu verehren wahnen (vgl. Kap. 7, 28.), und so können sic auch Jesum nicht erkennen. Ich aber kenne ihn; und so ich würde sagen: ich kenne ihn nicht: so würde ich ein Lügner, gleich wie ihr,

fein. Aber ich kenne ihn und halte sein Wort. (D. 55.). Jesus spricht auch hier wieder jenes hohe Be. wußtseyn seiner innigen Vertrautheit mit Gott aus, mit welchem er sich wegen der erfahrnen Verkennung tröstet (vgl. Kap. 7, 29.), und welches ihm den Muth gibt, trotz dem höhnenden Unglauben der Menschen sich als göttlichen Gesandten darzustellen. Ja, cs dringt ihn dazu, sich als den zu bekennen, der er ist; er würde gegen die Wahrhaf­ tigkeit sündigen, wenn er verhehlen wollte, in welchem Verhältniß er ju Gott stehet; er würde gegen Gott unge­ horsam werden und sein Wort nicht halten, wenn er nicht als sein Gesandter redete und handelte. Jesu Verhältniß jnm Vater ist einzig; Niemand hat je in solcher innigen Vertrautheit ju Gott gestanden, wie er. Aber alle begeisterten Männer haben eine solche innere Nö« thigung gefühlt, im Namen Gottes ju reden, trotz dem Un­ glauben der Welt. Redet der Herr, sagt Ainos (Kap.

3, g.), gibt er eine Offenbarung, einen Befehl, haucht er der Seele eine Erkenntniß, einen Antrieb eine Wer wollte nicht prophezeien? Wer könnte der gött­ lichen Eingebung widerstehen? Du hast mich über­ wältigt und Übermacht, sagt Jeremia (20, 7.) zu Jehova klagend, indem das Wort der Offenbarung, das er verkündigte, ihm Spott und Hohn jujog; und doch konnte er der göttlichen Gewalt nicht widerstehen, welche ihn trieb ju reden. Wir begreifen cs in unserm ruhigen, kalten Gemüthszustande nicht, wie große Männer so han­ deln können, wie sie handeln, wie sie sich in solche Unter­ nehmungen einlassen, in solche Gefahren stürzen können; aber ein innerer Trieb nöthigt sie so zu handeln, und wohl ihnen, wenn es ein Trieb auö Gott ist. Nichts Großes gelingt ohne einen solchen Trieb; menschliche Ucberlegung und Berechnung reicht nur für das Alltägliche hin; daS Große hingegen wirket Gott durch die Menschen mittelst höherer Begeisterung. Im Hochgefühl des Eottesbewußtseyns spricht es nun Jesus aus, daß er erhabener als Abraham und mithin, da

die Juden diesen Erzvater so hoch hielten, als alle Menschen sey. Abraham euerDater, ward froh, daß er meinen Tag sehen sollte; und er sah ihn und freuete sich (D. 56.). Der Tag Christi ist dessen Erscheinung auf Erben und das durch ihn vollbrachte Werk der Erlösung, die Erfül­ lung aller Verheißungen und Hoffnungen. Nun freute sich Abraham diesen Tag ju sehen; denn ihm war die Verheißung gegeben, daß durch seinen Samen sollten alle Völker auf Erden gesegnet werden (r Mos. 22, ig.), und diese Ver­ heißung sollte durch Christi Erscheinung auf Erden in Er­ füllung gehen: mithin freuete er sich hoffnungsvoll auf diese Erscheinung. Auch in der Ewigkeit nahm er noch Theil an dem Schicksal seines Volkes und der Menschheit; und als nun die Zeit erfüllet war, und Gott seinen Sohn auf diese Erde sandte, als er den längst ersehnten Tag sah, da freuete er sich. Daß nun Abraham auf Christum hoffte, und sich der Erfüllung feiner Hoffnung freuete, ist ein Beweis, daß er sich selbst ihm unterordnete, und ihn für größer als sich selbst hielt. Er erkannte damit an, daß er die Erlösung der Welt nicht selbst vollbringen konnte, daß das Schicksal der Welt nicht durch ihn und in ihm vollendet wurde; sondern daß da­ zu ein Anderer und Größerer erforderlich war. Abraham war ein schwacher, sündhafter Mensch, wie wir alle, ob­ schon er mit Gott im vertrauten Verhältniß stand; aber nur ein sündloser, reiner Mensch konnte die letzte, vollkommene Offenbarung bringen, nur der Sohn Gottes konnte den voll­ kommenen Bund der Versöhnung zwischen Gott und Men­ schen stiften. Cs lag aber Jesu nicht daran, seine Person über die des Erzvaters Abraham zu erheben; sondern es handelt sich eigentlich um seine Lehre und sein Werk. Den alten Bund, das geistige Leben, das sich auf Abraham und die Propheten gründete, sollten die Menschen als unzureichend anerkennen, als ein solches, in welchem neue Hoffnungen, aber keine Er­ füllung derselben gewesen war, und sollten sich jetzt gläubig

a5o |u Jesu wenden, der diefeligmachenbe Erfüllung dieserHoffnungen brachte. Sie sollten ihn als denjenigen erkennen, der durch die Ertheilung der ewigen Güter über alles Zeit« liche hinweghebt und selbst den Tod überwindet, indem er das ewige Leben gibt, wahrend die Frommen des alten Bun­ des noch vor dem Tode gejittert hatten, und aus dem Leben geschieden waren, ohne den höchsten Seelenfrieden und die Stillung ihrer tiefsten Sehnsucht gefunden ju haben. Durch eine boshafte Verdrehung verstehen die Juden Jesu Rede so, als behaupte er, daß er Abraham gesehen habe, und sagen ju ihm: Du bist noch nicht funfjig Jahr alt, und hast Abraham gesehen? (V. 57.). Jesus hatte antworten können: er meine nicht seine mensch­ liche Person, wenn er behauptete, daß Abraham sich auf seinen Tag gefreut habe; man müsse seine Rede im geistigen, übernatürlichen Sinne fassen. Aber was hatte eine solche Erklärung gefruchtet; sie hatten sie vielleicht doch mit Spott aufgenommen. Eher konnte ihr hartes Gemüth getroffen, wenigstens mancher Empfängliche unter den Umstehenden angeregt werden, wenn er die Verdrehung und den Spott nicht nur als Wahrheit bekräftigte, sondern sogar steigerte, und so eine schlagend auffallende Behauptung von sich selbst ausfprach. Wahrlich, wahrlich ich sage euch, er­ wiederte er, ehe denn Abraham ward, bin ich (V. 58.). Hiermit hotte Jesus alles» was er bisher von sich ausgesagt, gleichsam auf die Spitze gestellt; aber eben diese Steigerung mußte die Verständigen erinnern, daß er nur im geistlichen, übernatürlichen Sinne redete. Von sei­ ner menschlichen Seele konnte er nicht sprechen; denn da diese jeder andern Mcnschenseele gleich ist, ausgenommen die Sünde, so kann ihr hinsichtlich ihres Daseyns kein Vorjug jugcstanden werden, und sie kann nicht früher gewesen seyn, als die Seele Abrahams. Offenbar spricht Christus von dem ewigen Worte Gottes, welches in ihm Fleisch ge­ worden, oder von der ewigen Wahrheit, die in ihm geoffcnbart und dem göttlichen Weltplan, der durch ihn verwirklicht

worden.

Was Jesus als Erlöser

und

Gesandter Gottes

ist, als was er sich unter den Menschen geltend macht und von ihnen anerkannt seyn will: daS ist er von Ewigkeit und lange vor Abraham gewesen, daS fällt gar nicht in den Wechsel der Vergänglichkeit: das ist weder alt noch neu, sondern ewig. Darum sagte auch Jesus nicht, ehe denn Abraham ward, war ich, sondern bin ich, um an­ zudeuten, daß dieses Seyn über den Wechsel von Vergan­ genheit und Zukunft erhaben und stets gegenwärtig und un­ veränderlich sey: JesuS Christus gestern und heute und derselbe in Ewigkeit (Ebrä. i3, 8.). Die Juden waren über diesen Ausspruch Jesu so er­ bittert, daß sie Steine aufhoben, um ihn zu werfen (D. 5g.). Die Rohen! so weit konnten sie sich verhärten und verstocken! Wenden wir uns ab von diesem jedes gefühlvolle Herz verwundenden Schlüsse eines Abschnittes, der so viel Herrliches enthält, und Überblicken wir nochmals den In­ halt desselben. Nachdem Jesus eine Versuchung seiner Feinde mit eben so viel Klugheit als Milde und Duldsamkeit bestanden hat, erklärt er sich für das Licht der Welt, und verspricht, alle die ihm nachfolgen zu erleuchten; er ruft alle, die in der Finsterniß sitzen, ins freie, selige Reich des Lichtes. Als man sein Zeugniß nicht anerkennen will, beruft er sich, im hohen Bewußtseyn seines innigen Zusammenhangs mit Gott, auf dessen Zeugniß, auf die Beglaubigung, die in seiner Wirksamkeit selbst liegt. Wehmüthig deutet er sodann auf seinen nahen Tod hin, und warnt seine Feinde, die köstliche Zeit nicht zu verabsäumen. Nach seinem Tode würden ihn die Bessern wohl erkennen als den vom Vater Gesandten und von ihm mächtig Unterstützten; aber er möchte, daß man ihn schon jetzt erkennte, damit keine Seele verloren ginge. Denen, die eine Regung zum Glauben empfinden, verheißt er, wenn sie ihm treu bleiben, das köstliche Geschenk der geistigen Freiheit, der Freiheit der Kinder Gottes, welche diejenigen nicht besitzen, die sich der äußern Freiheit und ihrer Abstammung von Abraham hochmüthig rühmen, aber nach Geist und Sinnesart eher des Teufels, als Gottes Kiu-

der, heißen können, indem sie ihn, den Wahrhaften, verwerfen und verfolgen. Sie glauben ihm nicht, obgleich sie seinem sittlichen Charakter Gerechtigkeit widerfahren lassen müssen > sie glauben ihm nicht, weil ihre innere Natur wider, strebt. Zuletzt wendet sich Jesus wieder an die Gläubigen, und verheißt ihnen Befreiung vom Tode; und als man ihm dieß als Anmaßung auslegt, so sagt er frei heraus, daß er höher als der Erzvater Abraham und die Propheten, daß er von Ewigkeit ist. — Immer erhebt der Heiland der Welt die Stimme der freundlichen Einladung zum Heil, und wird durch die Gegenreden des Widerspruchs, des Hohnes und Spottes unterbrochen, gerade so wie die Stimme der Wahr, heit immer in der Welt von dem Geschrei der Dorurtheile und Leidenschaften verwirrt oder unterdrückt wird, oder wie der Sünder die Stimme des Gewissens im Toben der Be« gierden nicht vernimmt. Die Wahrheit laßt sich herab jum Streite mit der Lüge, Christus antwortet seinen Gegnern, und sucht sie zu überzeugen; aber am liebsten spricht er zu den Empfänglichen und Gläubigen, ladet lieber ein, als daß er warnt, verheißt lieber, als daß er drohet. Dieser sein Ruf zum Heil schwebt über dem Streite, wie die Har­ monie über den Mißklangen, und das reine Herz vernimmt ihn mitten durch die Verworrenheit. —■ O möchte auch mein Herz sich dahin wenden, und über alle Zweifel hinauf, gestiegen seyn zur reinen Erkenntniß der Wahrheit! Möge mein Geist das rcinstrahlende Licht dessen, der vom Throne des Vaters herabgestiegen ist, über allem irdischen Dunkel anschauen, und sich an ihm erwärmen und erleuchten! Möge überhaupt in meiner Seele die Wahrheit über die Lüge, das Licht über die Finsterniß, die Harmonie über die Mißhellig­ keit siegen, und ich in mir selbst fest, licht und einig werden!

Heilung eines Blindgebornen. Erster Abschnitt.

(D. 1 - 7.) Äls Jesus im Vorübergehen einen, der blind geboren war, sah, fragten ihn seine Jünger: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, baß er ist blind geboren? (V. 1. a.). Die Juden waren ge« wohnt, jedes Unglück als eine Strafe anjusehen. Sie be­ urtheilten die sittliche Welt nach den Regeln, die im bürger­ lichen Leben und in den natürlichen Verhältnissen gelten, denen jufolge der Verbrecher Strafe leidet, der Unfleißige, der Verschwender in Armuth und Elend gerath, und der Wollüstling seine Gesundheit ju Grunde richtet. Das kam daher, daß sie sich eigentlich noch garnicht jum sittlichen Leben erhoben halten, sondern noch am Gesetz hingen, daß sie jede Handlung vorjüglich nur darauf ansahen, ob sie mit dem Gesetze übereinstimmte, nicht aber, ob sie aus der Ge­ sinnung hervorging; die Sittlichkeit galt ihnen als etwas Aeußerliches, und so sahen sie auch auf die äußerlichen Fol­ gen derselben mehr, als man soll, und erwarteten mit sicherer Berechnung theils Glück, theils Unglück. Ist aber die Sittlichkeit etwas Innerliches, und kommt es nicht vorjüg­ lich auf die äußere Gestalt einer Handlung an, so kann man auch nicht immer mit Sicherheit auf die äußern Folgen rech. nen. Am wenigsten soll man Erscheinungen, deren Quelle im Verborgenen liegt, wie angeborne körperliche Uebel, als Folgen sittlicher Handlungen betrachten: denn wer mag in das Geheimniß der schaffenden Thätigkeit Gottes eindringen?

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Außerdem, daß der Grundsatz falsch war, nach wclchem dir Jünger urtheilten, so war auch die Gesinnung lieb­ los, die sie dadurch offenbarten, daß sie das Unglück des Nächsten als die Folge einer Sünde ansahen. Wenn der Unglückliche selbst zu seiner Selbstprüfung sein Gewissen befragt, ob er nicht sein Leiden selbst verschuldet habe: so ist bas für ihn heilsam, wenn er sich nur nicht quakt und niederdrückt. Ein Anderer aber enthalte sich alles Richtens, selbst wenn das Unglück, welches er den Nächsten leiden siehet, augenscheinlich die Folge einer Sünde ist. Jesus antwortete: ES hat weder dieser ge­ sündigt, noch seine Eltern; sondern daß die Werke Gottes offenbar würden an ihm (V. 5.). Er lenkt die Jünger ganz von dieser Art der Beurtheilung fremder Schicksale ab; indem er leugnet, daß hier jene Regel eine Anwendung leide, gibt er zugleich zu verstehen, daß ihre Anwendung höchst unsicher ftp. Aber er befaßt sich nicht mit der Widerlegung dieser Bcurtheilungsweise; der Verstand der Jünger war noch nicht erleuchtet genug, um das Ungegründete derselben im Allgemeinen einzusehen. Da­ gegen nimmt er ihr Herz für ein ganz anderes Gefühl in Anspruch, als dasjenige war, daS sich in ihrer lieblosen Frage ausgedrückt hatte. Sie sollten, sagte er, diese Blind­ heit als einen Anlaß ansehen, daß die Werke Gottes offen­ bar würden, baß sich die göttliche Liebe und Erbarmung kund thäte. Damit meint er aber seine eigene, heilende Wirk­ samkeit, die er an dem Blinden erproben will. Jesu Mei­ nung ist nicht, daß Gott diesen Menschen in der Absicht habe blind geboren werden lassen, damit er selbst ein Hei­ lungswunder an ihm verrichten sollte; denn so würde Gott das Lebensglück des armen Menschen einem Zwecke aufge­ opfert haben, der sich wohl auch auf einem andern Wege hatte erreichen lassen, Gott hatte ein Uebel angeordnet, um dadurch etwas Gutes zu erreichen, und auf diese Weise nicht mit väterlicher Güte und Weisheit gehandelt. Sondern Jesus will nur sagen, man solle fremdes Leiden, anstatt es übelwollend zu beurtheilen, ohne in dessen verborgenen

a55 Grund eindringen zu wollen, mit dem Wunsche und der Hoff, nung, daß sich Gottes Erbarmen hülfreich beweisen möge, betrachten und wo möglich selbst helfen. Dieß letztere that Jesus; er fühlte die Kraft in sich, das Werk der göttlichen Barmherzigkeit zu vollbringen, dem Blinden das Gesicht wieder zu geben: und so ergriff er die sich darbietende Ge« lcgenheit, heilsam zu wirken, er folgte dem gegebenen göttlichen Winke, auS dem Uebel Gutes hervorgehen zu lassen zur Verherrlichung Gottes. Die Jünger freilich trugen diese Kraft nicht in sich, welche hier zur Hülfe erfoderlich war; aber ein andermal sahen sie sich vielleicht im Stande, dem Unglücklichen zu helfen: und dann sollten sie, anstatt zu richten, handeln und wirken; anstatt dem Argwohn und der Verachtung Raum zugeben, sollten sie die Liebe und Barmherzigkeit walten lassen. Wenn auch bei uns jenes jüdische Dorurtheil nicht in solcher Bestimmtheit herrschend ist, so sind wir doch nur allzu­ sehr geneigt, Unglückliche hart zu beurtheilen und ihnen ihr Schicksal als selbst verschuldet zuzurechnen. Jesu Antwort lehrt uns, daß wir dieser Sucht, zu richten und zu verdammen, uns entwöhnen und jeden Unglücklichen als den Gegenstand liebevoller, hülfreicher Theilnahme betrachten sollen. Der Anblick jedes Leidenden erwecke in uns das Gefühl der Barm­ herzigkeit, und dieses unterdrücke jedes andere Gefühl, das uns hart gegen ihn stimmen, und uns von ihm abwenden könnte. Ich muß wirken, die Werke deß der mich gesandt hat, so lange es Tag ist; es kommt die Nacht, da Niemand wirken kann (D- 4.). Je­ sus ging seinem nahe bevorstehenden Tode entgegen; die Tage, die er noch zu leben hatte, waren gezahlt, der Raum seiner Wirksamkeit genau abgemessen: er mußte daher jeden Anlaß, wirksam zu seyn, benutzen. Die Nacht stand bevor, da er nicht mehr wirken konnte; das Gestirn seines Lebens neigte sich zum Untergänge, und die Finsterniß sollte bald der Welt dessen wohlthätige Strahlen entziehen. Dieweil ich bin in der Welt, bin ich das Licht der Welt

256 (V. 5.). Jesu Bestimmung auf Erden war zu erleuchten, zu beseligen, die Finsterniß des Un * und Aberglaubens, der Sünde, der Unseligkeit zu vertreiben, und selbst auch, wo sich die Gelegenheit darbot, körperliche Leiden zu heben und zu lindern. In seiner erweckenden, belebenden Nahe sollte Alles Leben, Heil, Wohlseyn, Seligkeit empfangen; wo er wandelte, sollte sich die göttliche Liebe und Barmherzigkeit offenbaren, seine Spuren sollten die Barmherzigkeit Gottes verkündigen. Wir alle sollen die Werke Gottes wirken, der uns in der Welt eine Stelle und Bestimmung angewiesen hat. Alles, was zum Wohl des Nächsten dient, was Wahrheit und Ge­ rechtigkeit fördert, und Gott zur Ehre gereicht, das ist ein Werk Gottes. Auch unsere Tage sind gezahlt; und wer weiß wie bald die Nacht einbricht, die unserer Wirksamkeit ein Ziel setzt? Wirken wir daher, so lange uns noch das Licht des Le. bens scheint, benutzen wir jeden Augenblick, hülfreich, wohl, thätig, nützlich zu seyn, Wohlseyn um uns her zu verbreiten, Wahrheit und Gerechtigkeit zu fördern und den Namen Got­ tes zu verherrlichen! O wer am Rande des Grabes, bei dein Rückblick auf sein Leben sagen könnte, daß er, dieweil er gelebt, ein Licht der Welt gewesen sey, daß er so wohlthätig, so beglückend gewirkt habe, wie die Sonne, daß er das er­ leuchtende und erwärmende Licht eines reinen Geistes, eines liebevollen Herzens um sich her verbreitet habe, daß es Al­ len wohlgcwordcn in seiner Nahe, daß nie die Kalte des Hasses, nie die Finsterniß des Argwohns, nie das verwir­ rende Dunkel der Lüge und Heuchelei von ihm ausgegangen, daß er in sich selbst klar und rein geblieben, und auch Andern stets so erschienen sey! Die Erde würde zum Himmel werden, wenn alle Menschen, die sie bewohnen, ein Licht der Welt waren, leuchteten sie auch nicht alle im reinen Lichte der Sonne, wäre auch ihr Licht so oder so gefärbt und ihre Kraft zu erwärmen verschieden. Die Sonne der Welt konnte nur Christus seyn; aber ein Maß des himmlischen Lichtes ist ei­ nem Jeden zu Theil geworden, wir sind alle aus Licht gebo­ ren, und nur durch unsere Schuld hat sich das Licht in uns

verdunkelt, und ist die himmlische Wärme in unserm Herzen erloschen. Nachdem Jesus solches gesagt, schritt er zur Heilung desBlindgebornen, die er nicht, wie andere Heilungen, durch ein Wort oder durch die Berührung mit der Hand, sondern durch Anwendung von Heilmitteln bewirkte, vielleicht um uns zu lehren, daß zwischen seiner Wirksamkeit und derjenigen, die uns möglich ist, kein solcher Unterschied bestehe, daß uns nicht wenigstens eine Annäherung möglich sey. Er bediente sich seines Speichels, den er mit Erde vermischte und einen Koth daraus machte, womit er die Augen des Blinden de« schmierte. Daß der menschliche Speichel eine heilende Kraft, besonders auch für die Augen, habe, ist bekannt; aber frei­ lich würde es Niemanden, ohne die höhere Kraft Jesu, ge­ lingen, eine angebornc Blindheit damit ju heilen. Hierauf befahl er dem Blinden, jum Teich Siloah ju gehen, um sich darin zu waschen. Dieser that es, und kam sehend zurück (D. 6. 7.).

Zweiter Abschnitt. (V. 8—34.) Die Heilung des Blindgebornen machte nun viel Auf­ sehen, zuerst unter den Nachbarn, welche, anfangs ungewiß, ob der jetzt Sehende der ehemals Blindgcborne sey, ihn frag­ ten, wie es mit seiner Heilung zugegangen sey, und ihn dann zu den Pharisäern führten (D. 8 — 13.). Diese fragten ihn nun ebenfalls» und als sie hörten, wie Jesus ihn geheilt hatte (es war aber am Sabbath geschehen); so meinten die Einen, Jesus sey nicht von Gott, weil er den Sabbath nicht halte, die Andern aber sagten, ein sündiger, Gott mißfälliger Mensch könne nicht solche Zeichen thun (V. 14 —16.). Sie fragten hierauf den Blinden, was er von Jesu halte, und er er­ klärte ihn gerade zu für einen Propheten, einen Mann Gottes, einen Begeisterten und Wunderthäter (D. 17.). Da nun die Pharisäer gegen den Schluß, daß derjenige, der eine solche Heilung verrichtet, ein Prophet seyn müsse, nichts einzuwenBibl. 9?, und feine Lehre war nicht sein, sondern deß, der ihn gesandt hatte (Kap. 7, 16.). Und wer mich siehet, der sic het den, der mich gesandt hat (23. 44.). Denn Christus und der Vater find eins (Kap. 10, 3o.); er wirkt und lehrt nur, was er vom Vater siehet und höret (Kap. 5, 19. 8, 4o.), aus ihm wirkt und spricht Gott selbst, auf ihm ruhet der Abglanz Gottes. Ich bin gekommen in die Welt ein Licht, auf daß wer an mich glaubet, nicht in Finsterniß bleibe (25. 46.). Christus ist das Licht der Welt; wer ihm nachfolgt, der wird nicht wan­ deln in Finsterniß, sondern wird das Licht des Lebens haben (Kap. 8, i a.). Er will, wie die Sonne, Alles erleuchten, erwärmen, beleben, befruchten; er strömt die Fülle des Heils auf Alle aus, die es aufnehmen wollen. Und wer meine Worte höret und nicht glaubet, den werde ich nicht richten» denn ich bin nicht ge­ kommen, daß ich die Welt richte, sondern daß ich die Welt selig mache (D. 47.). Die Fülle der Liebe, die in ihm ist, beseelt den Heiland der Welt nur mit dem Wunsche, Alle selig zu machen; Richten, Verdammen fällt seinem Herzen schwer; er weiß nichts von Rachsucht. Aber die Ungläubigen richten sich selbst. Wer mich ver­ achtet und nimmt meine Worte nicht auf, der hat schon, der ihn richtet: das Wort, welches ich geredet habe, das wird ihn richtenam jüng-

336 flut Tage (V. 48.).

Wer nicht glaubt, der ist schon

eben dadurch gerichtet, weil er nicht glaubet an den Namen des eiagebornen Sohnes Gottes (Kap. 3, 18.). Wer die Fin­ sterniß mehr liebt als das Licht, der gibt sich ihr und dem unseligen Zustand, der mit ihr verbunden ist, freiwillig hin; das Böse führt seine eigene Strafe mit sich. Denn ich habe nicht von mir selber geredet, sondern der Vater, der mich gesandt hat, der hat mir rin Gebot gegeben, was ich thun und reden soll. Und ich weiß, daß seinGebot istda-ewige Leben. Darum was ich rede, das rede ichalso, wie mir der Vater gesagt hat (D. 4g. So.). Das Wort, welches Christus geredet hat, verdammt diejenigen, welche nicht daran glauben, weil es göttliche Wahrheit ist und zum ewigen Leben führt; wer das, was Leben bringt, verwirft, ergibt sich selbst dem Tode, der Verdammniß, der Unseligkcit; wer das, was Gottes ist verwirft, wendet sich vom Quell der Seligkeit ab, und stürzt sich selbst ins Ver­ derben. So groß der Schmerz des Apostels über den Unglau­ ben seines Volkes ist, so mild ist der Sinn, in welchem er diese Betrachtung schließt. Er will noch zuletzt den Gedan­ ken entfernen, als ob in Christo und in seiner Lehre Merdammungs-und Dcrfolgungssucht liege, mit sanfter Wehmuth beklagt er das Schicksal der Ungläubigen als rin selbstver­ schuldetes, und den Zwiespalt, der durch ihre Verstockung in die geistige Welt gebracht ist, als etwas, das Jesus nicht nur nicht herbeigeführt, sondern gerade aufzuheben beflissen sey. O möchte dieser Geist der Sanftmuth von jeher alle Diener Christi beherrscht haben, möchte er nie dem unseligen, finstern Eifer der Verdammung und Verfolgung gewichen seyn! — Mich soll die ernste Betrachtung des Evangelisten war­ nend zur Prüfung meines Glaubens auffordern, so daß ich mich selbst streng beurtheile; aber fern sey von mir jeder ver­ dammende Seitenblick auf die, welche mir noch im Unglau­ ben

zu

verharren scheinen.

O

Geist der Sanftmuth und

33; Milde, erfülle ganz mein Herz, löse jede Bitterkeit und Härte darin auf, und entbinde ganz das reine Gefühl der Liebe, daß es fich in alle meine Empfindungen und Gesinnun­ gen ergieße und mein ganzes inneres Leben durchdringe!

Kap. i3 —17,

Wie Jesus den letzten Abend mit seinen Jüngern zugebracht hak. Evangelist hat uns bisher erzählt, wie Christus, nach­ dem ihn Johannes verkündigt hatte, unter seinem Volke ge­ wirkt und gelehrt, wie er sich Jünger gesammelt, durch wohl­ thätige und wunderbare Handlungen Aufmerksamkeit erweckt, das Wort Gottes gepredigt, sich als Gesandten Gottes dar­ gestellt und zum Glauben an sich aufgcfodert hat; wie er bald den Empfänglichen durch sinnreiche, erweckliche Reden das Herz geöffnet und das Licht der Wahrheit in sie gegossen, bald die Verstockten und Widerspenstigen durch sanfte War­ nung und herablassende Verantwortung zu rühren und zu ge­ winnen bemüht gewesen; wie er, das Licht der Welt, der vom Himmel gesandte Bote des Heils, durch eine Welt voll Finsterniß, Verdacht, Verstocktheit und Bosheit gewandelt, bei Wenigen Anerkenntniß und Aufnahme, bei den Meisten Unempfänglichkeit und Widerspruch gefunden, bis er endlich der unvermeidlichen Entscheidung seines Todes für das Heil der Welt nahe getreten ist. Er hat uns bisher die Mischung und den Kampf des Lichtes mit der Finsterniß, den Abglanz, den das Licht der Welt auf eine trübe Umgebung warf, ge­ schildert. Jetzt führt er uns in die Mitte der Gemeinschaft Jesu mit seinen Jüngern, von der er uns bisher Nur die An­ fangspunkte gezeigt hat. Hier ist alle Finsterniß, aller Kampf and alle Feindschaft ausgeschieden; nur Anfangs stört und betrübt uns noch der düstere Schatten, den die unglückselige Verirrung des Verräthers in das lichtvolle Gemälde wirft;

Bibl. ErbauungSb. I.

A

338 bald aber verläßt dieser die Gemeinschaft, welcher er nie an­ gehört hatte : und dann ergießt sich das Licht aus Christo ungetrübt in den Kreis derer, deren Herj zwar noch schwach und deren Verständniß jum Theil befangen ist, die sich aber doch mit offener, liebender Empfänglichkeit hingeben, sich treu an ihren Meister anschließen und aus seinen letzten Re­ den Licht, Trost und Kraft schöpfen. Hier ist nichts als Eintracht, Zusammenstimmung, Vertrauen, Glaube, Liebe; hier ist die Aufgabe Christi gelöst, die Menschen durch sich in Einheit mit Gott und untereinander ju bringen; hier steht er als Mittler des neuen Bundes des Glaubens und der Liebe, sein Werk vollbringend, da; um ihn her die Jünger in dem­ selben Geist vereinigt, an ihn geknüpft durch die Bande des Vertrauens und der Liebe, und er, in innigster Einheit mit Gott stehend, und seine Gotteserkemüniß, sein Gottgefühl, seinen heiligen Muth, seine himmlische Liebe auf fit ausströ­ mend. Hier erwartet den Leser kein störender Eindruck, kein Gefühl des Schmerzes oder des Unwillens; hier sonnet sich der Geist im reinsten Lichte; hier labt sich das Gemüth am reinsten Wohlklang; hier ist Alles wohlthuend, erfreuend, erhebend, tröstend und stärkend. Aber bereite dich, mein Herz, würdig in dieses Heiligthum zu treten, laß hinter dir alle Unlauterkeit, weltliche Liebe und Bestrebung! Du nahest dich hier Gott; den nirgends hat der, der ihn am reinsten ver­ kündigt, der ihn selbst in seiner Person sichtbar dargestellt, sich so klar in seinem Wesen enthüllt, so tief sein Herj aufgeschlossen, so rein seinen göttlichen Geist abgespiegelt: indem wir ihn hören, hören wir Gott. Aber jage nicht, mein Herz, in dieses Heikigthum ju treten; jage nicht, der Gottheit ju nahen! Es ist ein mildes Licht, das dir entgegenstrahlt, eine sanfte Majestät, in welcher sich Gott offenbart; die Liebe em­ pfangt dich mit offenen Armen, die Liebe, die vom Himmel herabstieg und in den Tod ging, um die Menschen selig ju machen; es ist Gottes Sohn, der zu dir redet, aber der dein Bruder seyn will, der so wenig knechtische Anbetung fodert, daß er vielmehr dir dienen und nur deine Liebe und Dankbar­ keit erwerben will.

339

Kap. i3, i—17.

Jesus wäscht seinen Jüngern die Füße. Vor dem Fest der Ostern (V.

1.),

am Abend

vor seiner Gefangennehmung, saß Jesus zu Tische. Wäh­ rend nun das Abendmahl bereitet (V. 2.) und schon begon­ nen war*), stand er auf, legte sein Oberkleid ab, und nahm einen Schurz und umgürtete sich (23. 4.), um seinen Jüngern die Füße zu waschen. Wenige Stunden spater sollte er von der Wache des hohen Rathes gefangen genommen werden, und er wußte es; ererkannte, daß seine Zeit gekommen war, daß er aus die­ ser Welt ginge zum Vater (V. 1.); er sah seinen Tod vor Augen, aber nicht mit banger Furcht, welche den Geist niederdrückt, und das Herz mit selbstsüchtigem Schmerz oder gar mit Haß erfüllt, sondern mit einer erhabenen Gei­ stes-Freiheit, welche den edlern Gefühlen der Liebe Raum gab; sein Tod war ihm nur der Hingang zum Vater. Da­ rum weil er dem Tode so entgegen ging, liebte er die Seinen, die in der Welt waren bis ans Ende, so wie er sie immer geliebt hatte (23. 1.). Er liebte sie und bewies ihnen seine Liebe selbst in dem Augenblick, da schon der Teufel hatte dem Judas Jschariot, Simons Sohn, ins Herz gegeben, daß er ihn verriethe (23. 2.). Er bewies selbst diesem seine Liebe; indem sein Herz von allem Haß frei war, und die Aussicht auf seinen nahen Tod seine Liebe wo möglich nur noch erhöhete und läuterte. Der Gedanke, daß er von Gott gekommen war und zu Gott ging (23. 3.), das Bewußtseyn seiner Einheit mit Gott, und daß er dessen Werk auf Erden zu vollbringen gekommen war, und der Vollen­ dung desselben und feiner Verherrlichung entgegen ging, in­ dem er in den Tod ging, verband sich in seinem Gemüth mit *) Lulhcr falsch: Nach dem Abendmahl.

N 2

34o dem hohen Bewußtseyn, daß ihm der Vater habe Alles ihm die er Allen Heiland

in seine Hände gegeben (V. 3.), daß er Herrschaft verliehen über die Menschheit, auf daß das ewige Leben gäbe (Kap. 17, 2.), daß er der der Welt, der König des Gottesreiches, der Mit-

hcrrscher Gottes sey, daß alle Kniee sich vor ihm beugen wür­ den. Dieß hohe Siegsgefühl bewahrte ihm die Geistesfreiheit, und erhob ihn über alle Todesfurcht; aber cs erfüllte seine Seele nicht etwa mit Stolz und Kälte, so daß er ver­ achtend oder gleichgültig auf die Seinen herabgesehen hatte. Rein! er liebte sie bis ans Ende; voll Liebe und brüderlicher Zärtlichkeit neigte er sich zu ihnen hin ; das er­ habenste Gottes «Bewußtseyn und Siegsgefühl verband sich in seinem Herzen mit den sanftesten, zartesten Regungen der Liebe. Selten lieben die Menschen bis ans Ende, ihr wandel­ bares Herz lvendet sich von einem Gegenstand zum andern; die Liebe ist in ihnen nur zu oft die Frucht eines flüchtigen Reizes, und vergeht mit diesem. Die wahre Liebe aber dau­ ert bis ans Ende, ja über das Grab hinaus; denn sie ent­ springt auö der heiligen Mitte des Gemüthts, aus dem un­ sterblichen Wesen der Seele. Wenige Menschen wissen mit Ruhe und Gtistesklarheit dem Tode entgegen zu gehen, und da­ rum erstarren in ihrem Gemüth vor dem Anblick desselben alle edleren Gefühle; siegen auch Manche über die Todesfurcht, so gelingt es ihnen nur durch eine gewisse kalte Erhebung über das Leben, durch die Unterdrückung aller sanften Gefühle, und sie wissen nicht die Begeisterung für die hohen Zwecke, für die sie sterben, mit der warmen, treuen Liebe gegen die Ihrigen zu verbinden. So sey uns denn Jesus in dieser Er­ habenheit und Klarheit des Geistes, welche er im Angesicht des Todes behauptete, und in dieser Fülle'sanfter, treuer Liebe, mitten in der erhabensten Stimmung des Gemüths, ein, wenn auch unerreichbares, doch stets anzustrebendes Vorbild. Größe und Erhabenheit der Seele, mit einem war­ men, treuen Herzen zu verbinden, sey uns Ziel der Vollkom­ menheit. — —-

In diesem

Zeitpunkt nun,

in dieser Stini-

mutig, im erhabenen Hinblick auf die Verherrlichung durch seinen Tod, in dieser liebevollen Hinneigung zu den Seinen nahm Jesus die Handlung des Fußwaschens vor. Es war üblich, daß den Gasten, welche auf dem Wege ihre nur mit Sandalen bekleideten Füße, mit Staub besudelt hatten, nachdem sie jene vor dem Zimmer abgelegt, ehe sie sich zu Tische setzten, Knechte Fußwasser reichten, auch wohl die Füße wuschen und abtrockneten. Die Jünger hatten die­ ses nicht nöthig gehabt, weil sie nicht weit hergekommen wa­ ren, und hatten sich ungewaschen zu Tische gesetzt. Jesus aber, um ihnen einen Beweis seiner liebevollen Hingebung und Demuth zu geben, holte das Versäumte nach. Er wollte Knechtsdienste verrichten, und legte einen Schurz an, derglei­ chen Knechte zu tragen pflegten. Darnach goß er Wasser in ein Becken, hob an den Jüngern die Füsse zu waschen, und trocknete sie mit dem Schurz, damit er umgür­ tet war (V. 5.). Natürlich mußte diese Handlung den Jüngern befrem­ dend erscheinen. Ihr Meister verrichtete an ihnen Knechtsdienste'. Bei den Juden waren die Schüler gewohnt, ihren Meistern solche Dienste zu leisten, die Sandalen abzunehmen und nachzutragen u. dgl. m.; Jesus aber kehrte das Ver­ hältniß um, und bediente seine Jünger. Ja, noch mehr! Die Apostel verehrten ihren Meister als Gottes Sohn, als den Heiland der Welt, und dieser Erhabene erniedrigte sich vor ihnen als ein Knecht. Wohl hatten sie daher Grund, über Jesu Betragen zu erstaunen. Denken wir uns aber vol­ lends die Gemüthsstimmung Jesu, jenes hohe Gottesbewußt­ seyn, jenes erhabene Siegesgefühl, das er in sich trug; schauen wir in ihm den verherrlichten Sieger der Welt, der bald zur rechten Hand Gottes aufsteigen sollte; erheben wir uns so zum Höchsten, und blicken dann herab auf die nie­ drige Handlung, welche er verrichtet: welches Staunen muß uns dann ergreifen'. Können wir eine solche Demuth, eine solche Hingebung fassen? Was ist anbetungswürdiger, jene

34a Größe oder diese Selbsterniedrigung? was überwindet un­ ser Herz mehr?---------Die übrigen Jünger alle scheinen in dcmüthiger, lei­ dender Scheu ihr Befremden unterdrückt zu haben, und lie­ ßen Jesum, obschon mit Staunen, an sich die Handlung ver­ richten. Petrus aber, der lebhafte, entschlossene, selbst­ ständige Mann, weigert sich, und spricht: Herr, solltest du mir meine Füße waschen? (23. 6.). Jesus ver­ weist ihn auf die Erklärung, die er nachher von dieser Hand­ lung geben werde, wodurch sein Befremden werde geho­ ben werden. Was ich thue, daß weißt du setzt nicht; du wirst es aber hernach erfahren (23. 7.). Petrus Weigerung war gut gemeint, aber doch nicht von aller Anmaßlichkeit frei; mit allzu raschem, sebstständi' gem Urtheil, folgte er seiner Einsicht, nach welcher es ihm widersinnig schien, daß Jesus, der Erhabene, ihm dienen sollte; wäre er in der Stimmung der kindlichen, hingebenden Folgsamkeit gewesen, so hätte er nicht gezweifelt und sich nicht geweigert. Ach! gar oft müssen wir diese Worte auf uns anwenden, wenn wir mit anmaßlichem, beschränktem Ver­ stände die Wege, welche uns Christus führt, nicht einsehen und gut heißen wollen. Mögen wir dann seine Stimme ver­ nehmen. Was ich thue, das weißt du jetzt nicht; du wirst es aber hernach erfahren! Mögen wir ihm dann folgen, wohin er uns führt, und ihn in seinem Thun gewähren lassen! Gewiß kommt für denjenigen, der ihm so kindlich folgt, die Zeit wo er ihn versteht, wo es ganz Licht in seiner Seele wird. Petrus beharrt bei seiner Weigerung und ruft mit sei­ ner gewohnten Lebhaftigkeit aus: Nimmermehr sollst du mir die Füße waschen! (V. 8.). Da sagt Jesus: Werde ich dich nicht waschen, so hast du kein Theil mit mir (23.8.). Damit traf er das Herz desPetrus; die Drohung, von der Gemeinschaft mit seinem geliebten, verehrten Meister ausgeschlossen zu werden, überwand alle seine Bedenklichkeit, und er antwortete: Herr, nichtdicFüße

allein, sondern auch die

Hände und das Haupt!

(V. g.>

Ist, will er sagen, das von dir gewaschen wer­

den das Mittel, mit dir in Gemeinschaft zu treten, o so wasche mich ganz ; denn ganz, innig möchte ich mit dir in Gemein­ schaft stehen, ganz dein eigen seyn ! Er versteht Jesu Sinn noch nicht, er ahnt ihn bloß dunkel; aber was er ahnet ist genug, ihn zur gänzlichen Hingabe zu bestimmen. So sol­ len wir auch Jesu folgen, wenn wir gleich nur noch dunkel ahnen, was er mit uns vorhat; dem Triebe des Herzens, der kindlichen, hingebenden Liebe sollen wir folgen, dann wer­ den wir nicht irre gehen. Aber inwiefern war das Fußwaschcn die Bedingung, Theil mit Jesu zu haben, mit ihm in Gemeinschaft zu treten? Jesus gab seinen Jüngern damit ein Beispiel, das sie nach­ ahmen sollten; die Gesinnung der dienenden, hingebenden Liebe, die er ihnen dadurch bewies, sollten sie untereinander beweisen, und ihm dadurch gleich werden ; und wenn sie das thaten, so hatten sie Theil und Gemeinschaft mit ihm. Wer aber, der ihn liebt, möchte ihm nicht gleich werden, und nicht mit ihm in die innigste Gemeinschaft des Geistes treten? Wer möchte daher nicht mit Petrus ausrufen; Herr, nicht die Füße allein, sondern auch die Hände und das Haupt! Jesus antwortete ihm:

Wer gewaschen ist, der

darf nicht, denn die Füße waschen, sondern er ist ganz rein (V. io.). Er will sagen: da du dich schon vor der Mahlzeit gewaschen hast (man pflegte sich vor dem Essen zu baden, oder wenigstens Hände und Gesicht zu waschen): so hast du jetzt nicht nöthig, von mir auch noch an den Händen und am Haupt gewaschen zu werden; wenn ich dir die Füße wasche, so bist du dann ganz rein. Und ihr seid rein, setzt Jesus hinzu, aber nicht alle (V. io.), was er im doppelten Sinne nimmt. Ihr habt euch, will er sagen, schon vorher Hände und Haupt ge­ waschen, nun habe ich euch noch die Füße gewaschen, und so seyd ihr ganz rein; ihr seyd rein am Leibe und an der Seele; letzteres aber seyd ihr nicht alle, Einer unter euch ist unrein, denn cr brütet schändlichen Verrath gegen mich (wo-

344 mit er auf Judas Jfcharioth deutete, wie der Apostel selbst sagtV. i i.). Es fragt sich aber, ob Jesus die Jünger rein an Seele und Leib nennt überhaupt, insofern sie ihm treu und von Verrath und Bosheit frei waren, oder ob er damit auf die Wirkung der Handlung des Fußwaschens deutet, wodurch der Doppelsinn offenbar mehr Angemessen­ heit gewinnt. Er will sagen: durch mein Fußwaschen seyd ihr nicht nur leiblich, sondern auch geistig rein gewaschen. Der Eindruck, den dieses euch gegebene Sinnbild auf eure Seelen macht, wird sie reinigen, mit Ausnahme des Verräehers, dessen schwarze Seele nicht dafür empfänglich ist. Wie aber konnte das Fußwaschen reinigend auf die Seele wirken? Die hingebende Liebe, die es versinnbildete, ist der Selbstsucht entgegengesetzt, welche die Seele verunrei­ nigt und die Quelle aller unreinen Begierden und Entschlüsse ist, und auch die Quelle des Verrathes des Judas war. Wer nur den Brüdern, nicht sich selbst dienen will, wer alles nur aus Liebe thut, der ist von aller unreinen Lust frei, der ist auch zu aller Aufopferung fähig, der ist Christo dem Rei­ nen gleich, der aus Liebe zu den Brüdern in den Tod ging. Nachdem nun Jesus den Jüngern die Füße gewaschen, legte er wieder seine Kleider an, setzte sich zu Tische und sprach; Wisset ihr, was ich euch gethan habe? (V. i2.). Ihr heißet mich Meister und Herr, und sagt recht daran, denn ich bin es auch (B. i z.); ihr behandelt mich mit Ehrfurcht und Untergebenheit. So ich nun euer Herr und Meister, den ihr verehrt, dem ihr gehorchet, euch die Füße ge­ waschen, einen Dienst der hingebenden Liebe geleistet habe: so sollt ihr auch euch unter einanderdie Füße waschen, euch stets und in jeder Hinsicht Liebe, Hin­ gebung, Aufopferung beweisen (V. i4.). Ein Beispiel habe ich euch gegeben, daß ihr thut wie ich euch gethan habe (V. iS.). Es war ein Sinn- oder Vorbild, welches die ganze, demüthige Hingebung der Liebe, die ganze Reinheit von Selbstsucht, die ganze Unterordnung des eigenen Wohls unter das Wohl der Brüder, bezeichnen

345

sollte; Jesus empfahl damit seine» Jüngern nicht nnt die Dienstfcrtigkeit und Gefälligkeit in den kleinen Angelegen« Heiken de- Leben-, sondern auch die Aufopferung in wichti­ gen Dingen, ja den Liebe-tod selbst r und in Beziehung auf sich selbst, bildete er in dieser Handlung nicht nur sein gan« zes dem Wohl der Menschen geweihete- Leben, sondern auch seinen Opfertod ab; er drängte in diese- Sinnbild die ganze Gesinnung und Handlung-weise zusammen, welche er selbst bewiesen hatte, und welche im Reich Gotte- auf Erden herrschend werben sollte. Das Vorbild, da- er seinen Iün« gern gibt, soll sie um so mehr zur Nachahmung auffodern als er, brr über sie erhaben ist, sich so gegen sie erniedrigt hat, und sie, die Untergeordneten und untereinander Gleichen, noch vielmehr gegen einander allem Stolz und aller Selbst, sucht entsagen, und einander dienen sollen. Dieß führt er ihnen noch einmal zu Gemüthe: Wahrlich, wahrlich, ichsage euch: der Knecht ist nicht größer, denn fein Herr, noch der Apostel größer, denn der ihn gesandt hat (D. 16.). Die Jünger warep in Verhältniß zu Jesu Knechte: nicht al- ob er sie knechtisch behandelt hatte, sondern weil sie ihm Ehrfurcht und Gehör, sam schuldig waren, und al- seine Boten, seinen Auftrag auszurichten hatten. Wenn nun er solche Hingebung 6t« wies, wie vielmehr mußten sie solche beweisen. Jesus schließt die Ermahnung mit den Worten: S o ihr solche- wisset, selig seid ihr, so ihr es thut (D. 17.). Wenn man feine Pflicht kennt und sie übt, so ist man selig durch da- gute Gewissen; übt man sie hingegen nicht, so ist man unselig durch die Vorwürfe deGewissen-. Die Ausübung der Pflichten der Liebe macht aber vorzüglich selig, weil die Liebe eine beseligende Kraft in sich hat, weil sie ein freier Trieb ist und sich des Guten freuet» das sie übt, und im fremden Glück ihre Wonne findet. Was kann seliger seyn, als für das Wohl der Geliebten zu wirken und sich eines glücklichen Erfolgs zu erfreuen? Kein schönerer Dank und Lohn, al- die Zufriedenheit derer, die uns theuer sind! Ja, der Tod selbst, den man für die

546 Geliebten leibet, ist süß, und sein Schmerz verwandelt sich in Seligkeit. Selig seid ihr, so ihr es thut! Die Liede aber thut, was sie thut, nicht um selig zu werden, fon« bern um Anbere selig zu machen; in edler Selbstvergessenheit denkt sie an nichts, als an das fremde Heil; aber in­ dem sie Andere beseligt, wird sie selbst selig, denn nur im fremden Wohl findet sie das Ziel ihres Strebens. Sie thut, was sie thut, aus innern; Drange; weil sie die Liebe ist, so ist auch die Hingebung und Aufopferung, Aber in­ dem sie dem innern göttlichen Triebe folgt, sich wcrkthätig zeigt und ihr Ziel erreicht: so ist Seligkeit ihr Lohn; denn Seligkeit ist da, wo innere Befriedigung und Einklang ist. Ja, ich will dem Beispiel Jesu folgen, nnd meinen Brüdern thun, nie ec den Seinen gethan hat! Die Liebe, die reine Liebe um Gottes und Christi willen, soll aus mei­ nem Herzen alle Selbstsucht tilgen, daß ich nicht mir, sondern den Brüdern, der brüderlichen Gemeinschaft, lebe, und im Wohl des Ganzen mein eigenes, mein Glück und meine Freude finde. Ich will meinen Brüdern dienen, mich um ihretwillen erniedrigen, verleugnen, in Gefahr und Verlust begeben, und wenn eS seyn muß, selbst den Tod für sie leiden. Und in dieser hingebenden Liebe will ich meine Seligkeit finden; ihr warmes, göttliches Gefühl soll meine Seele mit Wonne durchdringen, das Bewußtseyn, Andere beglückt zu haben, soll mich erheben; ihr Dank, ihre Liebe soll mein Lohn seyn. O welch ein seliges Leben, welch ein Himmel auf Erden, wenn diese hingebende Liebe unter den Menschen herrschte, wenn Einer dem Andern mit Dienstfer­ tigkeit und Hingebung entgegen käme, die helfende Rechte reichte, die schützenden Arme der Liebe böte! Das größte Uebel bereiten sich einander die Menschen selbst durch Haß, Feindschaft, Eigensucht und Mangel an Theilnahme: wie sehr würde sich die Summe dieses Uebels vermindern, wenn die theilnehmende, helfende Liebe den zerstörenden Leiden­ schaften entgegen arbeitete, und durch ihre sanfte Gewalt dem Grundsätze im öffentlichen Leben Anerkennung und Gel­ tung verschaffte, daß des Einzelnen Wohl nur mit und in

347 dem Wohl Aller besteht, und daß die Selbstsucht, auch wenn sic für den Augenblick ihren Zweck erreicht, das eigene Wohl nicht erbaut, sondern zerstört.

Kap. i3, 18 — 32. Jesus bezeichnet seinen Verrather. Nicht auf alle seine Jünger machte die Handlung des Fußwaschens den erwünschten Eindruck; nicht alle wurden dadurch rein (V. 11.); nicht alle waren fähig, Jesu Vor­ bild nachzuahmen; nicht alle konnten durch die Befolgung desselben die Seligkeit erlangen, welche Jesus verhieß: un­ ter ihnen war der Verrather. Darum setzte Jesus hinzu: Nicht rede ich von euch allen; ich weiß,welche ich erwählet habe (V. 18.). Er kannte die Seinen, und wußte, was in ihnen war, wie er dieß überhaupt von allen Menschen wußte (Kap. 2, 25.); er kannte die Reinen und Treuen, und den einzigen Abtrünnigen unter ihnen hatte er schon langst auf seinem Irrwege beobachtet. Tief schmerzte ihn dieser Treubruch, dieser Riß in den Bund der Liebe, den er mit den Zwölfen geschlossen hatte. Aber er tröstete sich mit der von Gott geordneten Nothwendigkeit, vermöge deren er in seinem Busen die Schlange hegen mußte, die ihn stechen sollte. Aber (dieß geschah,) daß die Schrift erfüllet werde (Ps. 4t, 10.): der mein Brod isset, der tritt mich mit Füßen (V. 18.). Jesus fand in vielen Ereignissen und Aussprüchen frommer, begeisterter Männer seine eigenen Schicksale und deren von Gott bestimmte Nothwendigkeit, vorgebildet. Wie immer die Gerechten hatten Vieles leiden müssen, wie die Ver­ kündigung der Wahrheit von jeher mit Verfolgung belohnt, die Unschuld verkannt und unterdrückt worden war, und die­ ses alles sich in Jesu Schicksal im höchsten Grade bewahrte, so hatte auch insonderheit jener fromme Sänger in dem schmerzlichen Verrath eines vertrauten Freundes, der mit ihm das brüderliche Mahl theilte, vorbildlich das erfahren,

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was Jesus im vollsten Maße erfahren sollte; kn feinem Schicksal hatte die menschliche Bosheit, welche den Reinsten der Menschen um schnöden Lohn verkaufen und dadurch ihren ti'efsten Abgrund enthüllen sollte, sich im voraus andeutend kund gethan. Nichts kann mehr jur frommen Ergebung in den göttlichen Willen stimmen, als die Betrachtung der Ge­ schichte, besonders der Schicksale derer, in deren Weg wir wandeln, mit welchen wir das gleiche Ziel verfolgen. Haben sie Verkennung, Undank, Verrath, Verfolgung leiden muf­ fn»: warum erwarten wir ein anderes Schicksal? Sind wir besser als sie? und sind wir nicht ihrer unwürdig, wenn wir über dasjenige klagen und murren, was sie mit demüthiger, freudiger Ergebung erduldeten? Jetzt,sage ich es euch, ehe denn es geschiehet, auf daß, wenn es geschehen ist, ihr glaubet, daß ich es bin (D. 19.). Der mit Bewußtsein und klarer Umsicht seinen Weg wandelnde Diener der Wahrheit und Gerechtigkeit darf sich nicht mit titeln Hoffnungen taufchen, nicht hoffen, daß an ihm die Gesetze des menschlichen Lebens eine Au-nahme erleiden, daß die Macht des Bösen nur ihn nicht treffen werde: mit dieser Täuschung würde er nur seine Vermessenheit und Unbesonnenheit an den Tag legen. So mußte auch Jesus den Verrath des Judas voraussehen und sich darauf gefaßt halten. Hätte er dieß nicht gethan, so hätten seine Jünger nicht nur an feiner Weisheit; sondern auch an seiner Gottergebenheit jweifeln, und an ihm irre werden können. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer aufnimmt, so ich Jemand senden werde, der nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat (93. 20.). JesuS erinnert seine Apostel an ihren hohen Beruf, vermöge dessen sie seine Stellvertreter seyn werden, so wie er Gottes Stellvertreter ist, so daß die Ihnen widerfahrene Aufnahme ihm selber, ja Gott gilt. Er erinnert sie daran, theils um den Abfall des Verräthers, der ju demselben hohen Beruf erwählt war, in seinem gräßlichen Gegensatz dartustrllen,

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34g

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theils um die andern, die ihm noch treu waren, vor dem möglichen Unglauben zu warnen, wodurch sie ihren Beruf verscherzen könnten. Wie konnte in die Seele dessen, der das Reich Gottes verkündigen und der Bote des Sohnes Gottes werden sollte, eine solche Treulosigkeit Eingang fin­ den? Wie konnte er die hohe Bestimmung, in Jesu und Gottes Namen aufgenommen zu werden, mit dem allcrschwarzestcn Verbrechen vertauschen? Wie konnte , er von jener glanzenden Höhe in den finstersten Abgrund hinabstür. j.cn ? Und wer einmal von Jesu erwählt und mit seinem besten Vertrauen geehrt war: wie konnte der je an ihm wie­ der irre werden? So mag der hohe Beruf, der auch man­ chem von uns geworden ist, der Beruf als Lehrer, Führer, Richter, uns vor entwürdigenden Fehltritten warnen und behüten. Fassen wir immer das hohe Ziel ins Auge, das uns gesteckt ist, so werden wir nicht zum Bösen hinabsinken. Aber ist nicht einem Jeglichen ein hohes Ziel gesteckt? Sind wir nicht alle Nachfolger Christi, Herolde seiner Wahrheit, Werkzeuge seines Geistes? So laßt uns denn nach oben blicken, und stets unserer hohen Bestimmung eingedenk seyn, damit uns nie eine Leidenschaft oder Schwachheit hinablocke in den Abgrund des Verderbens! Da Jesus solches gesagt hatte, 'ward er betrübt im Geiste (V. 21.), Ihn schmerzte und er­ schütterte tief der Fall des Verrathers. Cr dachte nicht an sich und die Folgen des Verraths, die er tragen sollte; ihn schmerzte nur die Untreue, der Verrath an sich. Cr bezeugete hierauf und sprach? Wahrlich, wahr­ lich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verrathen (V. 21.). Ihn drängte es, das Un­ heil, welches bevorstand, laut und bestimmt zu verkündigen, vielleicht um den letzten Versuch zu Machen, ob der Verirrte nicht noch gerührt und zurückgebracht werden könnte, in jedem Fall, um das verborgene Böse ans Licht zu ziehen, und wäre es auch nur, um dessen Ausbruch zu befördern. Wie mußte dieser Ausspruch die Jünger beunruhigen! Sie sahen sich untereinander an, und ward

35o ihnen bange, von welchem er redete (V. 22.). Aus dieser quälenden Ungewißheit wußte sich der entschlossene Petrus zu reißen. Er winkte dem Johannes , der als Jesu geliebtester Jünger, an dessen Seite zu Tische saß oder vielmehr nach damaliger Sitte lag *), daß er forschen solle, wer es Ware, von dem er sagte. Johannes fragte nun auch insgeheim Jesum, und dieser antwortete: Der ist es, dem ich so eben den Bissen eintauche und gebe. Jesus namllch machte den Hausvater unter seinen Jüngern, und legte ihnen die Speisen vor. In diesem Augenblick war vielleicht gerade Judas an der Reihe, daß ihm Jesus eine Portion vorzulegen hatte, und diesen Umstand benutzte er, um ihn als Verrather kenntlich zu machen. Er tauchte den Bissen ein (in die Brühe) und gab ihn Judä Jscharioth (V. 23 — 26.). Diese Andeutung verstanden bloß Johannes und Petrus, dem jener wahrscheinlich zu­ winkte, als Jesus dem Judas den Bissen reichte. Allein dieser mochte wohl, im Bewußtseyn seines bösen Vorsatzes und nach der vorhergegangenen bestimmten Erklärung Jesu, däß Einer ihn verrathen würde, das Geflüster zwischen Jesu und Johannes und dessen dem Petrus gegebenen Wink be­ merkt und verstanden haben; vielleicht hatte ihm auch Jesus den Bissen mit einem bedeutenden, strafenden Blicke gereicht: genug, erfühlte, daß er durchschaut war. Nun hätte er noch bereuen und zurücktreten können ; aber dafür war er zu weit vorgeschritten und zu sehr in seinen Vorsatz verstockt. Schon hatte er mit den Hohenpriestern den Bluthandel ge­ schlossen (Matth. 26, 14 f.), und vielleicht hielt ihn nur eine falsche Scham ab zurückzutreten (denn oft handeln die Bösen nur aus Eigensinn und aus einem falschen Ehrgefühl, nicht unbeständig und schwach erscheinen zu wollen); viel­ leicht auch erbitterte ihn die Andeutung Christi, welche ihm

*) Man lag auf Polster gelehnt zu Tische, und Johannes lag Jesu zunächst an dessen Brust oder doch so, daß er sich näher rückend daran legen konnte.

hatte zur Warnung dienen sollen: genug, er befestigte stch nur noch mehr in dem schwarzen Vorsatz des Verraths. Dieß bezeichnet der Evangelist mit den Worten: Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn (V. 27.). Schon vorher sagt er, der Teufel habe ihm ins Herz gegeben, daß er Jesum verriethe (V. 2.). Der Fürst des Bösen, der Geist der Hölle, der Vater der Lüge, hatte ihm jenen schwarzen Entschluß eingegeben, hatte ihn durch böse Lüste gelockt, das größte Verbrechen zu begehen, und er hatte stch dieser Anreizung hingegeben. Jetzt aber, da er sich in seinem Vorsatz bestärkte, gewann der Böse eine gänzliche Gewalt über seine Seele, und nahm mit aller sei» ner Bosheit von ihr Besitz. Man muß diese Vorstellung nicht so verstehen, als wenn der Teufel eine solche Macht über die Seelen hatte, daß er sie wider ihren Willen zum Bösen fortrisse, als wenn sie dem göttlichen Einflüsse ganz entzogen und in die Gewalt der Hölle gegeben waren. Nein! es ist immer die eigene Schwachheit und böse Lust der Menschen, wodurch sie sündi­ gen, und der Teufel hat keine Macht über sie, so lange sie sich fest an Gott und seinen heiligen Willen halten. Daher fürchte dich, mein Herz, nicht sowohl vor den Nachstellungen des Satans, als vor den Anreizungen der sinnlichen Natur und den Einflüssen des bösen Beispiels, denen du ausgesetzt bist! Sey immer auf deiner Hut, aber suche die Gefahren nicht außer dir, sondern in dir selbst; die sinnlichen Begier­ den, die in dir aufsteigen, die Regungen der Wollust, des Zornes, der Selbstsucht find die gefährlichsten Feinde der Tugend. Jesus, der den Verräther stets durchfchauete, las auch auf seinem Gesicht die endliche, unwiderrufliche Entschei­ dung seines bösen Willens. Jetzt war nur noch die Aus­ führung übrig, und jedes Band zwischen dem Meister und Jünger zerrissen; jetzt konnte Judas nicht länger in der Mitte der Jünger weilen, denen Jesus noch so viel aus dem innersten Herzen mitzutheilen hatte; ohnehin verlangte das von Gott über Jesum verhängte Geschick die Ausführung

35a des verratherischen Anschlags; es war von Gott beschlos­ sen, daß er in Zeit von wenigen Stunden in die Hände sei­ ner Feinde geliefert würde: und so trieb er den Derräthrr fort, indem er }u ihm sprach: Was du thun willst, das thue bqld (D. 27.). Dieser verstand auch, was Niemand am Tische verstand, daß Jesus ihm an die Aus­ führung seines Vcrraths mahnte, und ging daher bald hin­ aus (D. 28 — So.). Er ging hinaus! licher Gang jum schrecklichsten Verbrechen!

£) schreck­ Es war

Nacht, setzt der Evangelist hinzu. Draußen empfing ihn die Finsterniß der Nacht, um seine Verbrechen mit ihrem schwarten Mantel zu verhüllen, das im Angesicht des Tages nicht hätte können verübt werden, vor welchem die Sonne sich entsetzend, ihren Schein verloren haben würde. Es war Nacht in seiner Seele; die ganze Finsterniß des Dösen, die Nacht der schwärzesten Leidenschaft, das Grausen der Hölle, umfing seine Seele, welcher jeder Lichtfunke der Liebe erloschen tour.. O erbebe, meine Seele, vor diesem grauenvollen Bilde der Nacht,., vor diesem Abgrund der Finsterniß, in welche ein lichtfitbornes Wesen durch eigene Schuld sinken kann! Erbebe, aber verzage nicht! Die Macht des Lichtss ist stärker, denn alle Finsterniß, sie ist stärker, wenn du dich ihr hingibst, ihr treu bleibest, und stets jeden Schatten des Dösen fliehest. Und so wende dich hin, um dich wieder zu erheben, zu dem Bilde drS Lichtes, das im Kreise Jesu und seiner Jünger im himmlischen Glanze dir entgegenschimmert, mitten durch die Nacht des für den Augenblick siegenden Bösen. Kaum ist der Derräther hinausgegangen und somit der betrübende Anblick deS Bösen Jesu Augen entschwunden, so kehrt ihm ganz die Ruhe, der Friede, die Klarheit der Seele zurück; sein Tod erscheint ihm nicht mehr als ein be­ unruhigendes, betrübendes Ereigniß, sondern als ein sol­ ches, durch welches GotteS Name und Gottes Sohn, wel­ cher sein heiliges Werk vollendet, verherrlicht wird; er schaut sich als den über alles Böse triumphirenden Sieger in der Klarheit göttlicher Würde; und so ruft er aus r Nun ist de.s

Menschen Sohn

verkläret,

und

Sott

355 ist verkläret in ihm. Ast Gott verkläret in ihm, so wird ihn Gott anch verklären in sich selbst, und wird ihn halb verklären (V. 3i. 32. vgl. Kap. ia, 23. 28.). Das ist die selige Gewalt des Guten, daS die Wirkung des Bewußtseyns, für Gott zu handeln» zu leiden und zu sterben, des Gefühls der Ein« stimmung mit seinem heiligen Willen, daß wenn auch die Außenwelt von finsterer Nacht bedeckt und der Sieg deS Bösen für den Augenblick entschieden ist, das Gemüth deS Guten dennoch heiter,, lichtvoll, ruhig, selig ist. Das ist der Friede Gottes, den die Welt weder geben, noch nehmen kann, das die Seligkeit, die schon hienieden für den From> men beginnt als Vorschmack der ewigen Seligkeit im An­ schauen Gottes. Kap. i3, 33 — 38.

Von Jesu baldigem Abschied,

dem Gebot der liebe

und Petri Verleugnung. Die kostbaren Augenblicke, welche Jesu noch übrig bleiben, benutzt er nun nach der Entfernung des Derrathers, um seinen Jüngern wichtige Worte des Abschieds zu sagen. Für diese Augenblicke hat er Manches aufgespart, was jetzt erst in ihr Herz, in ihren Verstand Eingang finden, was jetzt erst einen bleibenden Eindruck machen sann. Die Worte eines Sterbenden haben eine große Kraft, wie der letzte Wille eines solchen unverbrüchlich ist und als Gesetz gilt, so gelten seine Worte gleichsam als Göttcrsprüche; fie klingen wie Stimmen aus der Ewigkeit, welcher er schon halb angehört. Kinder, sagt Jesus zu den Jüngern im Tone weh­ müthiger Liebe, ich bin noch eine kleine Weile bei euch.

Ihr werdet mich suchen- und wie ich zu

den Juden sagte (vgl. Kap. 7, 34.), w» ich hin­ gehe, da könnt ihr nicht hinkommen. Und ich sage euch nun: Ein neu Gebot gebe ich euch,

Bibl. Erbauungsb. I.

£

354 daß ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebet habe, auf daß auch ihr einander lieb habet. Dabei wird Jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seyd, so ihr Liebe unterein» ander habt (93. 33 — 35.). Das ist also der letzte Wille des scheidenden Freundes und Meisters, das Gebot der Liebe. Nichts war des letzten Augenblickes, des Ueber« trittes in die Ewigkeit, würdiger als dieses Gebot, welches selbst ewigen Ursprungs und ewiger Gültigkeit ist. Denn alles wird aufhören, selbst die Weissagung und Erkenntniß, nur die Liebe höret nimmer auf (i Kor i3, 8.). Die Stimmung eines Sterbenden, der dem Tode würdig entge­ gen geht, ist liebevoll, versöhnlich und versöhnend. Wehe dem, der noch auf dem Todkenbette den Haß in seiner Seele bewahrt! Jesus hat kaum erst den Schmerz über Judas Verrath gefühlt; aber schon ist er ganz wieder vom sanf« ten Gefühl der Liebe durchdrungen, und verkündigt ihr Ge­ bot. Die Liebe laßt sich nicht gebieten noch lehren, denn sie ist ein lebendiges Gefühl; nur der, welcher sie selbst in sich trägt und übt, der sie mit ihrer eigenen Kraft verkün­ digt, und daS Beispiel derselben gibt, kann Lehrer derselben seyn. Und so gibt Jesus das Gebot der Liebe im sanftesten herzlichsten Tone, indem er seine Jünger, wie ein Vater seine Kinder, anredet; und er kann sich darauf berufen, daß er selbst sie geliebt habe, und sich zum Beispiel darstel­ len. Das diene Eltern und Erziehern zur Lehre. Eie werden ihre Zöglinge nicht anders zur Liebe erziehen, als dadurch, daß sie selbst in Ton- und Handlungsweise sie ver­ kündigen und darstellen. Jesus nennt das Gebot der Liebe rin n e u e S: warum nennt er es so, da es doch schon langst im alten Testament gegeben war (3 Mos. 19, 18.), und er selbst es für die Grundlage des ganzen Gesetzes erklärt hatte (Matth. 22, 4o.)? Er meint eine höhere, innigere Liebe, als jene im Gesetz befohlene, vermöge deren man den Nächsten, wie sich selber, lieben, und, von Selbstsucht, Haß und Rachsucht frei, ihm sein schuldiges Recht zugestehen sollte» er meint

355 die Bruderliebe, welche die Christen untereinander verbinden soll, die hingebende, aufopfernde Lebe, vermöge deren man den Nächsten mehr als sich selbst liebt und fich für ihn opfert, die Lebe, die er selbst ihnen bewiesen und so eben im Sinn, bild des Fußwaschens empfohlen hat (vgl. Kap. z5, ia f.). Ein ganz anderes Leben sollte in der Gemeinschaft der Chri­ sten beginnen, als bisher unter dem mosaischen Gesetze bcstanden hatte, ein Leben, das der schöpferische Hauch der Lebe durchdriugen, in welchem sich Herj ju Herz neigen, und Ein Band der Eintracht und Glrichstimmung Alle ver. knüpfen sollte. Dieses Gebot gab er ihnen erst setzt, weil sie erst von nun an einen solchen Bruder«Verein schließen sollten. Bis jetzt waren sie um ihn als ihren Meister ver. einigt gewesen, und hatten von ihm gelernt, von ihm Er« wcckung und Bildung empfangen, noch aber nicht selbststanbig den Geist seiner Lehre ins Leben eingeführt. Nun mußte er sie verlassen, und eS trat der Zeitpunkt ein, wo sie für sich allein stehen und gleichsam mit eigenen Händen das Reich Gottes pflanzen sollten; und dieses konnten sie nur, ausser dem Geist der Wahrheit, den er ihnen mittheilen wollte (vgl. Kap. i4, 16.), durch die Gesinnung der Liebe; ja diese war die Grundbedingung. Nur wenn die Liebe mit ihrer belebenden, läuternden Warme ihre Herzen durchdrang und an einander knüpfte; nur wenn sie in Liebe sich fest aneinander schlossen, in inniger Vereinigung zusammenstandtn, in Noth und Tod, in vereintem Streben für daS Reich Gottes wirkten r konnte auch der Geist der Wahrheit unter ihnen bleiben. Denn die Liebe ist Grund und Ziel des Glaubens, sie ist größer, als Glaube und Hoff­ nung (i Kor. 13, 13.). Darum gibt auch Jesus alS das Merkmal eines wahren Jüngers nur die Liebe an. D a. bei wird Jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seyd, so ihr Liebe zu einander habt. Höret es, ihr Eiferer für Glaubenssätze, ihr Verfolger und Verleumder Andersdenkender! Das Merkmal eines wah­ ren Christen ist die Liebe, nicht die nach diesen oder jenen Sätzen gemessene Rechtsgläubigkeit, bei welcher man Haß

356 und Dtrfolgungssucht nähren kann.

Hört es, ihr herrsch-

süchtigen Priester, die ihr euch über andere Christen erhaben dünket, weil ihr im Besitz äußerer Würde und Gewalt seyd! Wolltet ihr besser seyn als andere, und eure Stelle als Füh­ rer und Häupter verdienen: so müßt ihr fie in der Liebe» in der felbstverleugnrnden,

hingebenden,

aufopfernden Liebe

übertreffen. Simon Petrus ist von der Rede Jesu, daß er wegge­ hen wolle, betroffen, und fragt: Herr, wo gehest du hin? Und da Jesus ju ihm sagt, er könne ihm jetzt nicht folgen, einst aber werde er ihm folgen (womit er auf dessen künftigen Märtyrer-Tod deutet): spricht er zu ihm: Herr warum kann ich dir dießmal nicht folgen? Ich will mein Leben für dich lassen! (D. 36. Sy.). Edel ist diese Aufwallung des LiebeS-Eifers in dem feuri­ gen Jünger; er will seinen Meister nicht lassen, und lieber mit ihm in den Tob gehen. Aber es war eben nur eine Auf­ wallung. JesuS antwortete ihm: Solltest du dein Le­ ben für mich lassen? Er bezweifelt die Festigkeit die. seS Entschlusses, und sagt ihm voraus, daß ehe die Zeit d^es Hahnenrufs, die dritte Nachtwache, eingetreten, er ihn dreimal verleugnet haben werde (93. 38.), was auch der Erfolg bestätigte. — Mancher hat solche edle Aufwallun­ gen, und tauscht sich selbst über das, was er leisten und voll­ bringen werde. Das Herz, das Gefühl» ist in den meisten Menschen besser, als der Wille; der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach (Matth. 26, 4i.). Um für das Gute, das Liebenswerthr, warm zu fühlen, bedarf es keines Kampfes, keiner Aufopferung; ja es liegt etwas Angenehmes in den Gefühlen der Liebe und Begei­ sterung: sollen sie sich hingegen in der That bewähren, so tritt die Selbstsucht mit ihnen in Kampf und fie erliegen. Spiegeln wir uns daher an Petri Beispiel! Trauen wir uns nicht zuviel zu, prüfen wir uns, was wir wirklich lei­ sten werden, bereiten wir uns auf die Falle der Bewährung vor, üben wir uns im Voraus! Und richten wir Keinen, der so fällt, wie Petrus, bedenkend, daß wir auch so fallen

könnten! Es ist leicht ju sagen, so hatte er handeln sollen, so würde ich gehandelt haben; in einem solchen Urtheil schmeichelt sich unsere Selbstliebe; aber eben diese Selbst» liebe würde im vorkommenden Falle unsern schwachen Willen besiegen. Kap. i4; i —,,4. Jesus tröstet seine Jünger wegen seines Todes,

und

ermahnt sie zum Glauben. Petrus verstummte km Gefühl seiner Schwäche und in der ihm deutlich gewordenen Gewißheit des Todes Jesu. Die andern Jünger waren erschrocken über diese traurige Kunde, und saßen ebenfalls stumm um ihn her. Da sprach er j« ihnen: Euer Herz erschrecke nicht! (P. i.). Sie sollen Muth fassen, das Schreckliche zu tragen. Dieser Muth aber kann ihnen nicht aus dem irdischen, auf die irdi­ schen Güter gerichteten Sinne kommen; denn sie sollten ja das für sie höchste irdische Gut, die Gegenwart ihres ge­ liebten Meisters, verlieren ; der Tod, der Räuber aller irdi­ schen Güter, trat ihnen in seiner schreckenden Gestalt entge­ gen« und vor ihm zagten sie eben. Der wahre Muth, die wahre Festigkeit kann nur aus einem nach oben gerichteten Sinne kommen, aus dem Vertrauen auf Gott und der Hoff­ nung der ewigen Güter. Darum ermahnt sie Christus zum Glauben. Glaubet an Gott, und glaubet an mich*) (D. i.). Cr meint nicht den Glauben überhaupt, das Fürwahrhalten, daß rin Gott sey und daß Jesus sein Sohn sey, denn dessen bedurften sie nicht, so ungläubig waren sie nicht mehr; sondern er meint das Vertrauen, wel­ ches aus dem Glauben fließt, die frohe Hoffnung, welche er erzeugt, die Kraft des Glaubens, welche das Gemüth

*) Luther falsch: Glaubet ihr an Gott, so glaubet ihr auch an mich.

358 Sie sollen stärkt und über Furcht und Sorge erhebt. Gott vertrauen, welcher den Gläubigen durch Leiden Tod zur ewigen Seligkeit führt, welcher den Geprüften Erprobten einst mit den Arme« der Liebe empfängt; fie

auf unb unb sol­

len ihm, Christo, glauben, als dem, der sie zur Seligkeit, zur Gemeinschaft mit Gott, führt, der ihnen durch Leiden und Tod vorangeht in die ewige Herrlichkeit, und ihnen den Weg zeigt. Und so weist er sie hin auf die ewige Ruhe im Hause des Vaters, wo ihnen der Lohn für die Leiden dieser Erde werden wird. In meines Vaters Hause find viele Woh­ nungen (V. a.). Es ist seines Vaters Haus, wohin Christus geht; es ist das Haus des liebenden Vaters, auch unseres Vater-, wohin wir ihm folgen, wenn wir ihm glauben. O tröstlicher Gedankt, der alle Schrecken und Schmerzen des Todes überwindet! Schaudern wir beim Herannahen der letzten Stunde vor der Trennung von un­ sern Lieben, von unsern Eltern, Gatten, Kindern, Geschwi­ stern, Freunden: so beruhige uns der Glaube, daß wir nicht in eine dunkle, kalte Fremde, sondern in das Haudes Vaters versetzt werden, wo uns die Arme der ewigen Liebe empfangen, einer Liebe, welche alle irdische Liebe er­ setzt und alle Sehnsucht stillt. Weinet nicht um mich, ihr Geliebten, die ihr vergebens die Arme nach dem Scheiden­ den ausstreckt! Mein harret das schönste Loos; ich komme in des Vaters Haus, deS Vaters Christi, eure- Vaters, meines Vaters; dort bin ich nicht verwaist, ich gehe euch nur voran in die ewige Heimath. In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Der Himmel hat Raum alle aufzunehmen, welche den Weg der gläubigen Prüfung wandeln, und die Rückkehr zu dem ewigen Vater suchen. Unendlich reich ist die Liebe Gottes, Allen zu ver­ gelten, Allen die Seligkeit der ewigen Ruhe zu gewahren; unerschöpflich ist der Schatz der ewigen Güter, und aus ihm spendet Gott Allen, die darnach streben und mit Entsagung und Aufopferung der irdischen darnach ringen. O tröstli­ cher, erhebender Gedanke: in meines Vater- Hause

359 sind viele Wohnungen! Hier wird es uns oft zu eng io dem Gedränge des Strebens nach irdischem Glück, da können wir oft die unfern Neigungen und Wünschen ange­ messene Stelle in der menschlichen Gesellschaft, die erwünsch­ te Statte der Ruhe und des Friedens nicht finden; hier steht uns bald dieser, bald jener feindlich im Wege, und wehrt uns die Erreichung des ungeduldig erstrebten Zieles: dort hingegen, in den vielen Wohnungen des Vaters, fehlt es für Keinen an dem Ort der Ruhe und des Friedens, da können Millionen Brüder neben einander wohnen, ohne daß einer den andern stößt und drängt; da findet ein Jeder die Stelle, in welcher er feine Thätigkeit entfalten, dem reinen Triebe des geläuterten Herzens folgen, seine Sehnsucht be­ friedigen kann; da stellt sich ihm Keiner feindlich in den Weg zum erwünschten Ziele, da raubt ihm Niemand die Früchte feines Strebens; Alle sind als Brüder um den gemeinschaft­ lichen Vater versammelt, der ihnen Alle» mit reicher Hand Wonne und Seligkeit zumißt.— In meines Vaters Hause find viele Wohnungen. O darf ich den An­ deutungen folgen, welche in diesen Worten liegen und mir die seligsten Ahnungen erwecken? In unseres Vaters Hause sind viele Wohnungen eine verschieden von der andern, eine herrlicher als die anderer dort sind nicht Alle, wie hier auf Erden, an denselben Ort gebannt und von den Schranken des irdischen Raumes umschlossen und gehindert; da nimmt ein Jeder die Stelle ein, die ihm ge­ bührt ; dort ist nicht der Tugendhafte und Fromme neben den Lasterhaften und Gottlosen gebannt, nicht die Seele, die nach dem Höheren trachtet, an die gekettet, welche der Sinn zu Niederem und Gemeinem zieht; dort verseufzet nicht die liebende, sehnsuchtsvolle Seele ihr Leben in roher, kalter Umgebung; dort, wo wir von den schweren Banden des irdischen Körpers befreit, über die Schranken des engen Raumes erhaben sind, wo uns die unendlichen Räume des ewigen Vaterhauses offen stehen: da sucht und findet sich das Gleichartige und Gleichgestimmte, da stiegen einander die verwandten Seelen, die hier getrennt waren, entgegen,

36o und genießen mit einander der ewigen Wonne. So duldet denn und harret, ihr Seelen» welche die Sehnsucht tu ein­ ander zieht, und der irdische Raum und die Schranken der Verhältnisse von einander trennen! Bald nahet euch der Tod als Befreier, und reißt die Schranken nieder, welche euch von einander halten, und thut euch die vielen Wohnun­ gen des Vaters auf, wo ihr zusammen eure Heimath finbet. — Die Erde ist eine enge Wohnung, wo Einer den Andern vom Platze verdrängt und ein ewiger trauriger Wech­ sel Statt findet. Das unerbittliche Gesetz der Natur so» dert Einen nach dem Andern ab, damit ein Jeder seine flüch­ tige Stelle im Leben finde; der Greis muß dem Jüngling, der Vater dem Sohne, die Mutter der Tochter weichen und Raum machen; und kaum haben wir uns gefunden, so müs­ sen wir uns auch schon wieder trennen. Dort aber in den vielen Wohnungen des Friedens haben Alle, die zu einan­ der gehören, neben einander Raum; dort werden sie sich wieder finden, die hier mit der Sehnsucht ewig bei einander zu seyn, eine kurze Spanne Zeit theilten, sie werden sich wieder finden um sich nie wieder zu verlassen, und die ewige Wonne des Himmels mit einander theilen. Drum weinet nicht, ihr Liebenden, wenn die kalte Hand des Todes eure Bande trennt! Der Abscheidende geht nur wenige Au­ genblicke voraus, dahin, wo ihr euch wiederfinden werdet; dort sucht er sich die Stelle, die auch seine ihm folgenden Lieben suchen werden, und nichts wird euch dann wieder auseinander drangen. Wenn es nicht so wäre, so würde ich eS euch sagen*) CD. 2.). Jesus versichert den Jüngern die Wahrheit der Verheißung; er verschweigt ihnen nichts, sie können seiner Rede glauben. Und er weiß ja, wir es im Himmel und bei Gott ist, da er von daher gekommen ist; er kennt die Seligkeit des ewigen Lebens; er trägt die Fülle derselben in seinem Busen; er lebt schon hier in der unstör-

*) Luther falsch: so wollte ich ju euch sagen: ich gehe hin rc.

36i baren Ruhe, welche oben herrscht. Darum sollen sie ihm glauben, und kn diesem Glauben Vertrauen fassen. Aber noch mehr! Cr verheißt ihnen nicht nur die ewige Ruhe, er führt sie auch zu ihr, wenn sie ihm nur vertrauen und folgen wollen. Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten und wenn ich werde hingegangen seyn*) und euch die Statte bereitet haben, so werde ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, auf daß ihr seid, wo ich bin (23. 2.5.). Wie der eine Bruder früher zum Vater zurückkehrt, und die an­ dern Brüder anmeldet, ihnen Raum im väterlichen Hause be­ reitet zur gastlichen Aufnahme, und ihnen dann entgegen geht, um sie einzuführen, damit dann Alle beim Vater ver­ einigt seyen r so geht Christus den Seinigen voran in die Wohnung des himmlischen Vaters, bereitet ihnen Aufnahme, nnd kommt dann wieder, um sie zu sich zu nehmen. Ein lieb­ liches, herzrührendes Bild! Jesus ist als Vorläufer, als ewiger Hoherpriester, uns vorangegangen in das Inwendige des Vorhangs des Allerheiligsten (Hebr. 6, 20.): ein ande­ res auch bedeutsames, aber nicht so herzliches Bild! Ohne Bild will Jesus sagen: der Weg, den er wandle, der Weg des Gehorsams durch Leiden und Tod, der Weg der Vol­ lendung und Verherrlichung, führe zur seligen Vereinigung mit Gott; und wenn sie ihm gläubig auf diesem Wege folg­ ten, so würden sie eben dahin gelangen, wohin er gehe. Er will wieder kommen und sie zu sich nehmen: das ist nicht seine Wiederkunft am Ende der Tage zum Ge, richt der Lebendigen und Todten, sondern seine geistige Ein­ kehr in ihre Herzen, feine geistige Gemeinschaft mit ihnen, die Wirksamkeit seines Geistes, seiner Kraft in ihren Gemü­ thern, so wie er gesagt hat: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende (Matth. 27, 20.), was aber nur an denen in Erfüllung geht, welche im Glau­ ben fest und innig an ihm hangen. Er will, wenn sie im Kampfe stehen mit der Welt, wenn sie leiden und sterben für

*) Luther falsch: und ob ich hinginge.

36, da- Evangelium, ihnen bcistehen mit seiner Kraft, ihren Geist nach oben richten, daß sie nicht im Glauben wanken, sondem die Krone der Treue verdienen nnd von Gott aufgenommen werden in die ewige Ruhe. Und wo ich hingehe, das wisset ihr, und den Weg wisset ihr auch (33. 4.). Jesu- glaubte, daß den Jüngern die über seinen Tod gegebenen Andeutun­ gen klar genug seyen: und PetruS hatte sich wirklich darüber so geäußert (Kap. i3, 37.), daß wohl Alle verstanden haben mußten, wovon die Rede sey. Aber Thomas will noch mehr Deutlichkeit und Gewißheit besonders über den Weg, auf welchem sie Jesu folgen sollten. Herr, sagt er, wir wissen nicht, wo du hingehest: und wie können wir den Weg wissen? (V. 5.). Jesus ant­ wortet nicht auf die erste Frage, wohin er gehe, und setzt dieß als bekannt voraus; auch scheint dem Thomas an der zweiten Frage am meisten gelegen zu haben. Jesus spricht daher zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und da- Leben: Niemand kommt zum Vater, denn durch mich (93. 6.). Jesus gehet jum Vater zurück, in die ewige Ruhe und Herrlichkeit; seine Jünger sollen ihm folgen, um zu seyn, wo er ist, und seine Herrlichkeit mit ihm zu theilen: dafür ist er der Weg; durch ihn, mit ihm kann man allein in die Gemeinschaft des Vaters kommen; die Gemeinschaft mit ihm ist die Bedin­ gung der Gemeinschaft mit dem Vater; er ist Mittler zwischen Gott und den Menschen. Denn er ist die Wahr­ heit, die Quelle, der Verkündiger, der Lehrer der höchsten, reinsten, untrüglichen Gottes - Wahrheit; und wer an ihn glaubt, der eignet sich dieselbe an, und tritt mit ihm in Geistes «Gemeinschaft, der wandelt durch ihn den Weg zu Gott. Er ist das Leben, die Quelle des reinen, geistigen, seligen Lebens, des Leben- in der Wahrheit, in der Liebe Gottes, in der Erfüllung seiner Gebote, des Lebens, welches zur Gemeinschaft mit Gott und zur Seligkeit führt: die Kraft dieses Lebens gießt Er auf diejenigen aus, welche sich an ihn schließen, und seiner Einwirkung ihr Herz öffnen;

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und wer es von ihm empfängt, der wandelt den Weg zur ewigen Seligkeit, der kommt zum Vater. Der Sinn der Antwort Jesu ist also: Wollt ihr mir jum Vater folgen, so haltet fest an meiner Gemeinschaft, wandelt den Weg, den ich wandle. Das also ist die Bedingung, unter welcher allein unsere Hoffnung, in das Haus des Vaters zu gelangen, erfüllt werden kann: treues Festhalten an der Gemeinschaft mit seinem Sohne Jesu Christo, fromme Nachfolge auf dem Wege, auf dem er uns vorangegangen ist. Die Gemein­ schaft mit ihm ist die des Glaubens und der Liebe, und der Weg, den er uns zeigt, ist der des Gehorsams gegen den Vater, der strengen Pflichterfüllung, welcher durch Leiden zur Herrlichkeit führt. Wollenwir also in das Haus des Va­ ters gelangen, so müssen wir unverrückt das Auge desGlaubens nach oben wenden, und in einem reinen, festen Herzen die Liebe zu ihm und den Gehorsam gegen seinen heiligen Wil­ len bewahren. Wollen wir dort die Erfüllung der Sehn­ sucht unseres liebenden Herzens finden, uns dort mit den Geliebten und Gleichgestimmten vereinigen und mit ihnen im ewigen Bunde die Seligkeit des Himmels genießen: so muß unsere Liebe rein und durch die Liebe Gottes gelautert und geheiligt seyn. Wollen wir das Ziel unserer seligen Hoffnungen erreichen, so müssen wir den Weg, den uns Gott vorgezeichnet, mit gläubigem Vertrauen, mit freudi­ gem Muth und nie wankender Standhaftigkeit wandeln, wenn er auch durch Entsagung, Schmerz und Leiden, durch Kampf und Widerwärtigkeit führt. Ihr, die ihr euch fremd und einsam fühlt an der Stelle, die euch Gott ange­ wiesen hat, harret aus, bezwinget das sehnende Herz, und erfüllet die Pflichten, die euch darin vorgeschrieben sind! Ihr, die ihr zu kämpfen habt mit einer feindlichen Welt, die euch nicht versteht und euch haßt, haltet aus und jaget nicht, kämpfet den Kampf durch, schreitet fort auf der Lauf­ bahn, welche gewiß zum Siege führt! Und ihr, welchen Gott den Schmerz auflegt, die Geliebten zu verlieren, von ihnen getrennt, einsam das Leben zu durchtrauern, murret

364 nicht und richtet eure thränenden Augen empor zu den Woh. nungen des Vaters, wo ihr gewiß einkehren und eure Lieden wiederfinden werdet, wenn ihr den Weg der Prüfung treu gewandelt seyd! Laßt uns alle auf den Anfänger und Vollender unseres Glaubens sehen, und den Weg wandeln» auf dem er uns vorangegangen! Wenn ihr mich kennetet, so kennetet ihr auch meinen Vater. Und von nun an kennt ihr ihn, und habt ihn gesehen (V. 7.). Christus ist nicht nur der Weg zum Vater, sondern der Vater ist in ihm, und hat sich in ihm der Welt geoffenbart» und wer Christum siehet, der siehet den Vater (Kap. 12, 45.). Wie könnte er auch ;um Vater führen, wenn er nicht Gott selbst in sich trüge; und wie könnte Jemand durch ihn jum Vater kommen, der ihn nicht in ihm selbst fände? Gott ist nichts Aenßerliches und Räumliches, wozu man, einen Zwischen­ raum durchmeffend, gelangen könnte; nur der ist bei ihm angelangt, der ihn in sich aufgenommen, ihn innerlich er« kannt, zu ihm fein Herj gerichtet hat; nur der kann Andere ju ihm führen, der ihn in sich selbst darstellt. Wer nun Christum erkennt als den, der er ist, der erkennt auch den Vater, und kommt ju ihm: und so haben ihn die Jünger erkannt, und gleichsam gesehen, weil sie Christum erkannt haben. Die Wahrheit, bas Leben, die in Christo sind, und die der Gläubige von ihm empfängt, sind nur in der Einheit mit Gott: wer also jene empfangt, der erlangt auch diese. Philippus, den geistigen Sinn der Rede Jesu nicht fassend, spricht ju ihm: Herr, zeige uns den Vater, so genüget uns (D. 8.). Er hoffte und wünschte eine sichtbare Gotteserscheinung und Offenbarung feiner Herr­ lichkeit, durch welche daö Heil der Welt, die Bestrafung der Bösen und die Belohnung der Guten kommen sollte, etwa eine solche wie die Propheten Jes. 4o, 5. Mal. 3, 1. geweiffagt hatten, oder wie man auch eine herrliche, gewaltige Erscheinung des Messias selbst erwartete. Laß, will ec sagen, unS eine solche Erscheinung sehen, so sind alle unsere Wünsche erfüllt und unsere Sehnsucht ist gestillt. Unwillig

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über diesen irdischen Sin» tmb diese geistige Unempfänglich» krit des Jüngers, antwortet Jesus: So lange bin ich bei euch, und du kennest mich nicht? Phi­ lippus, «er mich siehet, der siehet den Daterr wie sprichst du denn: zeige uns den Vater? (V. 9.). Mit irdischem Sinn auf das Trugbild einer fleisch­ lichen Hoffnung, einer sichtbaren fleischlichen Erscheinung Gottes, eines durch eine solche zu gründenden Heils, hingerichtet, war dieser Jünger noch nicht davon überzeugt, daß Gott in Jesu erschienen sey, um das Heil der Welt zu grün­ den, und nicht anders erscheinen werde, daß dieses Heil nur in der Wahrheit und dem Leben zu ftnbm sey, das Jesus in sich trug. O wie weit war er noch von jener Seligkeit, von jenem Ziel der Ruhe entfernt, zu welchem Christus der Weg war! Er suchte noch in der Außenwelt, in einem Ereigniß, einer sichtbaren Umwandlung der Dinge, das Heil, das nur im Geiste, im Geiste Jesu und der ihm zugewandten, durch Glauben und Liebe mit ihm verbundenen Diener Got­ tes gefunden werden konnte. Ach! so sind die Menschen noch immer! Das Heil wollen sie außer sich finden, und gleichsam mit Händen greifen; es soll ihnen wie ein Geschenk des Schicksals entgegenkommen, damit, sie es nicht mit der Kraft des ringenden und strebenden Geistes suchen müssen» sie möchten es in träger Ruhe genießen, wie man sich des äußern Glückes und Friedens in ruhiger Behaglichkeit freuet. Mancher, der sich in dieser Welt fremd, verlassen, beengt, befeindet und auf irgend eine Weise unglücklich fühlt, möchte, daß ihm das Heil, das ersehnte Glück, die Rettung und Befreiung wie durch ein Wunder erschiene, und seine Seuf­ zer sprechen die Bitte des Philippus aus: Zeigeunsden Vater! Ach! wir bedenken nicht, daß uns Gott, sein Heil und fein Trost hier auf Erden nur in Christo erscheint, in dem Glauben an ihn, in der höheren, himmlischen Liebe, die er uns lehrt, in dem treuen Gehorsam gegen Gott und feinen heiligen Willen, in dem gläubigen Ausharren an der Stelle, die er uns angewiesen hat. Für den Frommen gibt es kein wahres Glück als in seinem von Glauben und Lieb« erfüllten

366 Herzen, in der Geistes-Gemeinschaft mit seinem Erlöser; und alles Glück, das uns die Erde gewährt, findet nur im Glauben und in der Liebe seine Bedeutung und Sicherheit. Was wir lieben ist nur wahrhaft unser eigen, wenn wir e6 in Gott und um Gottes willen lieben; was wir besitzen, ist unS nur dann wahrhaft unverlierbar; wenn wir es als seine Gabe betrachten und genießen; die Erde ist uns nur dann ein Himmel des Friedens und der Seligkeit, wenn unser Wandel im Himmel ist und wir uns Schätze im Himmel sammeln. Glaubst du nicht, fährt Jesus, zu dem Jünger gewendet, fort, daß ich im Vater, und der Vater in mir ist? Die Worte, die ich zu euch rede, die rede ich nicht von mir selbst; und der Va­ ter, der in mir wohnet, dersclbige thut die Werke (V. io.). Wohl hatte sich in dem Jünger öfters das Gefühl geregt, daß die erwartete Erscheinung des gött­ lichen Heils in Christi Lehre und Wirken gekommen sey; die geistige Kraft Jesu in Wort und That hatte sein Herz er­ griffen, erhoben, befriedigt und beseligt, und alle Sehnsucht desselben gestillt; er glaubte an ihn als den Sohn Gottes: und daran erinnert ihn Jesus jetzt. Aber noch konnte er sich nicht immer auf dieser geistigen Höhe erhalten, und oft zog ihn der irdische Sinn wieder herab, zumal wenn die Furcht vor der Welt, ihren Gefahren und Kämpfen, sein Herz erschütterte, wie jetzt, da sein geliebter Meister ihm sollte entrissen werden. — Ach! so geht eS noch Allen, auch den Besten und Frömmsten! Eie glauben» daß der Vater in Christo, alle Seligkeit nur im Leben mit ihm und in ihm ist; aber immer wieder zieht sie die Erde zu sich herab, und auf ihr, in ihren Gätern, in dem was in den Kreis der irdischen Erscheinungen fallt, möchten sie ihr Heil und ihre Ruhe finden; sie jagen vor den Kämpfen und Lei­ den, die ihrer warten, und ihrem getrübten Blicke verhüllt sich das herrliche Ziel, das ihnen jenseit des Wegs der Prü­ fung winket. Wie Philippus, mochte noch mancher unter den Jün«

367 gern in stinem Glauben «anten: deßwegen richtet Jesu« an alle die Ermahnung: Glaubet mir, daß ich im Vater, und der Vater in mir ist» wo nicht, so glaubet mir doch um der Werke willen (D. 11.). So wies er alle, die noch an feiner göttlichen Würde und an der Wahrheit seiner Lehre zweifelten, auf sein Wirken hin, in welchem sich der Geist und die Kraft Gottes offen« barte (vgl. Kap. 10, 38.). Für die Jünger mußte dieser Beweis um so übrrjrugender seyn, da sie beständig um Je» sus waren, sein Wirken beständig beobachteten und dessen Einfluß an sich selbst erfuhren. Sie sahen nicht nur, wie er Kranke heilte, Todte erweckte, und die Augen der Blinden aufthat, wie er die Sünder von der Krankheit der Seele heilte, die vom Geistes.Tode Befangenen ins Leben rief und in die verfinsterten Seelen daS Licht der Wahrheit warf; son­ dern sie fühlten auch, daß eine wunderbareKraft deSGristes von ihm auf sie überfloß, wie sie Macht erhielten über die bisen Geister, und alle Gewalt des Feindes, und zu treten auf Schlangen und Skorpionen (Luk. io, 17. eg.), wie sie die Kraft gewannen, die Seelen der Menschen mit dem Wort der Wahrheit zu rühren, sie jum Glauben und zur Hoffnung zu erwecken, Licht und Leben in ihnen zu entzünden, sie für das Reich GottcS zu gewinnen. Wer so das Göttliche auf sich einwirken fühlt, wer gleichsam in dem Strahlenkreise desselben steht: wie kann der an dessen wahrhafter Erschei­ nung zweifeln? An diese Ermahnung knüpft nun der Heiland eine Ver­ heißung, mit welcher er die jagenden Jünger aufrichten will. So, aufrichtend, ermuthigend, hatte seine Rede begonnen (V. 1 — 4.); Thomas hatte ihn durch eine Frage abge­ lenkt, und Philippus ihn noch weiter abgeführt, aber nur scheinbar. Indem er jum Glauben an sich ermunterte, tröstete er zugleich; denn nur im Glauben liegt die wahre Quelle des Trostes. Auch die Verheißung, die er nun gibt, hangt eben sowohl mit der vorhergehenden Ermahnung zu­ sammen, als sie dem gleich beabsichtigten Zwecke der Trö­ stung dient. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch:

368 Wer an mich glaubet, der wird die Werke auch thun, die ich thue, und wird noch größere, denn diese thun» denn ich gehe tum Vater (V. 12.). Der gläubige Jünger Christi wird, wie sein Meister, nicht nur Kranke heilen. Lobte erwecken, Blinde sehend machen und allerlei wohlthätige, heilende Wunder verrichten, sondern auch ein Arjt für geistige^Krankheit und Blindheit und ein Erwecker vom Tode der Sünde seyn, wird überall ein neues Leben des Geistes erwecken, Licht entzünden,Wahrheit verbreiten, Seelen für daS Reich Gottes gewinnen; und er wird noch größere Werke, als Christus selbst, thun, in der Ausbreitung des Reiches, in der Pflanzung der Ge­ meinden, eine viel größere Wirksamkeit entfalten; die Lehre vom Reiche wird viel schnellere Fortschritte machen, viel mehr Seelen werden für den Glauben gewonnen werden. Jesus gibt den Grund an: Denn ich gehe zum Va­ ter. Der verklärte Gottessohn wird vom Himmel herab eine viel größere Macht über das geistige Leben der Menschen ausüben, als der in Verkennung auf Erden wandelnde Menschensohn; ist er einmal erhöhet, dann wird er Alle zu sich ziehen, und Alle «erden erkennen, daß er es ist (Kap.

ia, 32. 8, 280Und was ihr bitten werdet, in meinem Namen, das will ich thun, auf daß der Vater geehret werde in dem Sohne. Was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich thun (D. iS. i4.> Auch dieses gehört noch zu der Verheißung der künftigen erfreulichen Wirksamkeit. Wer wirken will, muß Eifer haben, streben, ringen und kämpfen, muß sich immer neue Ziele seines Strcbens suchen, und jedem Hinder­ niß, jeder Gefahr muthig entgegengehen; er wird stets dich­ ten und trachten, wie er wirken könne, alle seine Gedanken und Wünsche werden auf seine Wirksamkeit gerichtet seyn. Da drängt es ihn denn, zumal wenn die Welt ihm hinderlich und feindlich entgegentritt, seine Anliegen, seine Vorsätze und Wünsche im Gebet Gott vorzutragen, und ihn um Bei­ stand und Segen anzuflehen; denn er fühlt, daß ohne seine

369 Gnade all seht Bemühen eitel ist. Wer nun allein für das Reich Gottes und Christi wirksam ist, und in seinem BestreLen nicht sich selbst, sondern nur der Sache Gottes dient, wer auch nur in dieser Hinsicht um Gotte- Gnade bittet: der bittet im Namen Christi, und einem solchen will Christus seine Bitten gewähren, und ihm Gedeihen zu seinem Wirken geben. Zn demjenigen, der für Christum bittet, strebet und wirket, wird die Macht des Geistes Christi wirksam seyn und durch ihn Herrliches vollbringen, aufdaß der Va­ ter in dem Sohne und dessen Reiche auf Erden geehre t, verherrlichet, anerkannt und sein heiliger Will voll­ zogen werde. Dom Gebete der Christen für ihre besondern, zumal irdischen Angelegenheiten, für ihr und der Zhrigen Glück und Wohlseyn, ist hier nicht die Rede. Dergleichen Bitten müssen stets mit demüthiger Selbstverleugnung und Hingabe in den Willen Gottes gestellt werden, und der Beter muß sich bescheiden, daß Gott sie ihm nach seiner Weisheit auch nicht gewahren könne. Hingegen die Bitten für das Gedeihen und Wachsthum des Reiches GotteS dürfen mit freudiger Zuversicht der Erhörung gethan werden; denn Christus sagt ohne alle Bedingung und Einschränkung: WaS ihr bit­ ten werdet in meinem Namen, das will ich thun. Welche hohe Ermuthigung liegt in dieser Zusage! Wer mit diesem Vertrauen ausgerüstet ist, der ist mit der ganzen Macht GotteS ausgerüstet, fühlt sich durch das Be­ wußtseyn mit Gott zu wirken, weit über die Schranken der Menschheit hinausgehoben, und geht mit einer Freudigkeit ans Werk, welche alle menschlichen Zweifel und Bedenklich­ keiten gering achtet und überwindet. Diese Aussicht aber, welche Jesus seinen Jüngern auf eine große, segensreiche Wirksamkeit eröffnete, mußte sie un­ gemein trösten wegen seines Verlustes. Jeder Schmerz der Seele erträgt sich leichter in der Thätigkeit, und in der Freude, welche damit verbunden ist; denn die Seele erliegt ihm nur, wenn sie sich leidend hingibt, und ist dann schon genesen, wenn sie sich zur Thätigkeit ermannet. Was kann Bibl. Erbauungsb. I.

Aa

370 aber vollends tröstlicher seyn bei dem bevorstehenden Der. luste eines Geliebten und Verehrten als die Aussicht, sein Werk fortzusetzen? Wir gewinnen dadurch den Verlorenen wieder, er ist uns in feinem Werke gegenwärtig, er lebt und wirkt in und durch uns, wir sind mit ihm inniger verbunden, als da er noch persönlich bei uns weilte. Wirklich haben auch die Apostel mit ihrem Herrn nach seinem Tode in innigerer Gemeinschaft gestanden, als während seines LebenS, wo sich immer noch Mißverständnisse und falsche Erwartungen zwi­ schen ihn und sie drängten. Und so wollen auch wir für das Leiben und den Schmer; der Erde Trost suchen in der Christo und seinem Reiche, der Sache der Wahrheit und Gerechtigkeit gewidmeten Thätig­ keit. Ermuthige dich, trauernde, sehnsüchtige Seele, wirf von dir die Bürde des Schmerzes, zersprenge die Fesseln, welche deine Kräfte lähmen, und rege frei deine Glieder im Dienste Gottes und Christi! Welket um dich her die Pflan­ zung deines Glückes, so erfreue sich dein Blick an der trei­ benden und sprossenden Saat des Reiches Gottes. Und ihr, die ihr den Verlust derer betrauert, welche euch die liebsten auf dieser Welt waren, suchet euren Trost darin, daß ihr die Thätigkeit eures Lebens dem widmet, wofür sie begeistert waren, daß ihr in die Fußtapfen ihres Strebens tretet, und das von ihnen begonnene Werk fortsetzt und vollendet! Dann bleibt ihr mit ihnen vereinigt, ihr verklärter Geist schaut beifällig auf euch herab und haucht euch Muth und Kraft in die ermattende Seele; ihr bleibt mit ihnen vereinigt, und steht mit ihnen in noch innigerer, reinerer GeisiesGemeinschaft, als da sie mit euch daS irdische Leben theilten. Kap. i4, iS—-a6.

Die Verheißung des heiligen Geistes. Die Bedingung der verheißenen Gebet--Erhörung ist Glambe (23.12?, der Glaube aber bewährt sich in der Treue, in dem standhaften Festhalten an dem Worte der Wahrheit.

37» Darum ermahnt Jesus seine Jünger, seine Gebote zu hat, ten, und beschwört sie bei der Liebe, die sie ju ihm tragen: Liebet ihr mich, so haltet meine Gebote (V. i5.). Die Gebote Jesu sind nicht bloß die von ihm gegebenen Regeln des Verhalten- (Kap. »3, 34.), sondern seine ganje Lehre, das Wort der Wahrheit, alles, was er ihnen aufgetragen, den Menschen ju verkündigen (vgl. Kap. »a, 49.'. Die Treue im Festhalten der Wahrheit aber wird immer auch mit Wachsthum und Fortschritt in derselben verbunden seyn j ist die Liebe Christi lebendig, so wird sie auch ein lebendiges Erkennen der Wahrheit bewir­ ken. Darum fügt Christus ju jener Ermahnung folgende wichtige Verheißung. Und ich will den Vater bitten, und er soll euch einen andern Beistand*) geben, daß er bei euch bleibe ewiglich, der Geist der Wahrheit, welchen die Welt nicht kann em­ pfangen, denn sie siehet ihn nicht und ken­ net ihn nicht. Ihr aber kennet ihn: denn er bleibet bei euch, und wird in euch seyn. (D. »6. 17.) Die Jünger jagten bei der Aussicht, ihren Meister ju verlieren, weil sie dann fürchteten, ohne Beistand, Be­ rather, Führer und Beschützer ju seyn. Bisher halten sie sich an ihn gehalten und auf ihn gestützt, wie Kinder auf ihren Vater. Wie sollten sie nun ohne seinen Beistand den Kampf mit der Welt bestehen, den Kampf mit der Lüge, dem Irrthum der Sünde? Wie sollten sie ohne seine Leitung den Weg der Wahrheit durch dir Jrrgange des Lebens sinden? Wie eigene und fremde Zweifel überwinden, in jeder Lage des Lebens das Rechte treffen? Wie für das Reich Gottes wirken, ohne ju fehlen, ohne durch menschliche Will­ kür und Täuschung der Sache der Wahrheit ju schaden? Natürlich, daß sie sich verwaist fühlten (V. 18.), wie Kinder sich fühlen, wenn sie ihren Vater verloren haben.

*) Luther: Tröster, welches nicht gerade falsch, aber zu eng ist, und namentlich nicht zu 1 Joh. % 1. paßtAa 2

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Aber Christus will sie nicht Waisen, nicht ohne Beistand lassen. Der Vater, zu dem er gehet, der nach seiner Erhihung sein Werk auf Erden allmächtig fördert, wird ihm zu Liebe, Kraft der Einheit, die zwischen dem Vater und Sohn besteht, auf sein Bitten, ihnen einen andern Bei­ stand geben, der seine Stelle vertreten und sie nie wieder verlassen wird; eS ist der Geist der Wahrheit, der Geist Gottes, der alles Leben, alles Licht, alle Kraft er­ weckt, und in den Seelen der Menschen jede gute Erkennt­ niß, jeden guten Trieb und Entschluß wirket. Dieser Geist soll in den Jüngern auf eine besondere Weise wirksam seyn (denn er ist allgegenwärtig und allwirksam), und in ihnen eine höhere, reinere und heiligere Erkenntniß, als in andern Menschen, wirken. Es ist der Geist, den die Welt nicht kann empfangen, dessen die Weltmenschen, die Irdischgesinnten, die Ungläubigen nicht fähig sind, weil sie ihr Herz vor ihm verschließen, und ihre Augen verblenden. Die Welt siehet ihn nicht und kennet ihn nicht, so wenig als der Blinde bas Tageslicht, der Taube den Geistesruf der menschlichen Stimme kennt. Die Jün­ ger aber kennen ihn, werden seine Wirkungen, seine Erleuchtung, seine Stärkung, erfahren; denn er bleibet bei ihnen, und wird in ihnen seyn. Dieser Geist wird sie auf den Weg der Wahrheit leiten; seine innere Stimme wird sie lehren, wenn Jesu Stimme verstummt ist; selbstständig werden sie in jedem Falle erkennen, was recht und dem Sinne Jesu gemäß ist; sie werden aus unmündi­ gen Waisen selbstständige, mündige, erwachsene Söhne werden. Wenn sie also auch Jesus verlaßt, so sind sie doch nicht allein; Christi Geist ist bei ihnen. Ja, noch mehr! Christus selbst wird bei ihnen seyn. Ich will euch nicht Waisen lassen; ich komme zu euch (V. 18.). Seine geistige, ewige, unsterbliche Persönlichkeit wird mit Licht, Kraft, Rath, Hülfe, Segen bei ihnen seyn. Es ist noch um ein Kleines, so wird mich die Welt nicht mehr sehen. Ihr aber sollt mich sehen; denn ich lebe und ihr sollt auch

373 leben. (D. 19.) Bald wird Jesu irdische Gestalt der Erde und dem irdischen Blicke der Weltmenschen entzogen seyn; er wird sterben, und zwar wieder auferstehen, aber bann bald die Erde »erlassen, und nicht mehr gesehen werden. Aber die Jünger werden ihn sehen mit den Augen des Gei­ stes, geistig unter ihnen wandelnd und wirkend; denn er lebt, lebt nach Besiegung des Todes beim Vater in der die Welt verjüngenden Kraft seines Geistes, lebendig ein­ wirkend auf die Seinen; und diese sollen auch leben, den Tod und dessen Schmer; besiegen, sich trösten über den Ver­ lust ihres Meisters» lebendig, freudig sich regen in der Wirksamkeit für das Reich Gottes. An die Stelle der leib­ lichen Gemeinschaft, welche bisher jwischen Jesu und seinen Jüngern bestand, soll eine geistige treten; seine geistige, verklärte Persönlichkeit soll in ihrem Herzen, in ihrem ge­ meinsamen geistigen Leben, in ihrer Wirksamkeit gegenwär­ tig und wirksam seyn. An demselbigen Tage (zur selbigen Zeit) teer« det ihr erkennen, daß ich in meinemVaterbin und ihr in mir und ich in euch (V- 20.). Dann, wenn sie Jesum geistig unter sich fühlen und sehen, und mit ihm in geistiger Gemeinschaft leben: dann werden alle Vor« urtheile und Irrthümer schwinden, dann wird ihnen klar wer­ den, daß er mit betn Vater eins ist, und indem sie mit ihm eins werden, werden sie auch mit dem Vater eins werden» Christi Sache wird ihnen als Gottes Sache, sein Wille als Gottes Wille, was er ihm vom Vater geoffenbart hat, als lebendige Wahrheit erscheinen; ihr Geist wird sich mit Christi Geist verschmeljen, und sie werden inne werden, daß es Got­ tes Geist ist, der sie beseelt; Christi Kraft wird sie erfüllen, und dadurch werden sie sich als Gottes Werkjeuge fühlen. Alles Menschliche, Irdische, Unlautere, alle Selbstsucht, Schwachheit, Trägheit, alle Furcht und alle falsche Hoffnung, alles was bisher die innige Gemeinschaft mit dem Erlöser und den Jüngern gestört hat, wird durch die Kraft des Geistes aufgehoben und verdrängt seyn, und ihr Geist wird sich innig an den seinen schließen.

Wer meine Gebote hat (bewahrt), und hält sie, der ist es, der mich liebet, wer mich aber liebet, der wird von meinem Vater geliebet werden, und ich werde ihn lieben, undmichihm offenba re n (V. 21.). Nochmals ermahnt sie Jesus zur Bewahrung der Liebe gegen ihn durch Haltung seiner Gebote und Bewahrung seiner Lehre (vgl. V. 15.), und verheißt >hum als Lohn dafür seine und des Vaters Liebe. Die Gemein­ schaft des Geistes wird die innige Wechselwirkung der Liebe zwischen den Jüngern, Christo und Gott mit sich führen, und die eine die andere erhöhen, und befestigen. Der liebende Heiland wird sich dann den liebenden Jüngern offenbaren, sich ihnen in seiner verklärten Gestalt zeigen, ihnen unmittel­ bar gegenwärtig seyn. Die Juden erwarteten, daß sich der Messias als sie­ gender, richtender König der Welt offenbaren, und Lohn und Strafe austheilen werde; das hofften auch noch manche Jünger, und darum findet einer (es war JudaS, nicht Jfcharioth, sondern Lebbäus oder Thaddäus) Anstoß an der Rebe Jesu, daß er sich nur den Jüngern offenbaren wolle. Die Befangenen konnten sich noch immer nicht von ihren irdischen Begriffen loSmachen! Herr, sagte er, was ist es, daß du uns willst dich offenbaren, und nicht der Welt? (V. 22.). Cr möchte das zweite eben so gern sehen, als daS erste, damit die Feinde des Reiches Gottes bestraft würden. JesuS antwortete und ft>rach zu ihm: Wer mich liebet, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zuihm kommen und Wohnung bei ihmmachen(V. 25.). Jesus wiedcrlegt den Irrthum deS JudaS nicht ausdrücklich, sondern widerholt nur die vorige Rebe, verstärkt sie und be­ stimmt sie näher. Nur denen, die ihn lieben, den würdigen, fähigen Seelen will er sich offenbaren in Liebe, und er nicht allein, sondern auch der Vater; beide werden zu ihnen kom­ men und in ihnen wohnen. Wie Gott dem Volke Israel verheißcen hatte, bei ihm Wohnung zu machen» unter ihm gegenwcärtig

zu seyn

mit seinem Schutz und Seegen

(3

Mos.

26, ii. 12. Ezech. 3y, 27.): so wird tr in bm Seelen der Gläubigen wohnen, und sie mit seinem Licht und seinem Friedcn erfüllen. Die ganze Gottheit wird in ihnen wohnen, Vater, Sohn und Geist: alles Licht, alle Kraft, aller Er. gen, aller Friede, alle Seligkeit Gottes wird sich in die ge. lauterten Seelen ergießen: in Erkenntniß, Trieb, Gefühl, Begeisterung, Streben und Thun werden sie mit Gott ver. eint und nach Gott hin gerichtet seyn; in der Welt, im Leben, in allen Erscheinungen, Verhältnissen, Einwirkungen und Anregungen, wird ihnen nur Gott erscheinen, Alles wird sie zu ihm hinführen und mit ihm verknüpfen. Wer aber mich nicht liebet, der halt meine Worte nicht. Einem solchen wird sich weder Christus, noch der Vater offenbaren» denn er verwirft in Christo den Vater. Und das Wort, das ihr höret (gehört habt), ist nicht mein,

sondern des Vaters, der mich

gesandt hat (D. 24.). Solches habe ich zu euch geredet, weil ich bei euch gewesen bin. Aber der Beistand, der heilige Geist, welchen mein Vater senden wird in meinem Namen» derselbige wird es euch alles lehren, und euch erinnern allesdeß,Wa­ ich euch gesagt habe (D- 25. 26.). WaS in diesen ermahnenden und verheißenden Reden den Jüngern noch dun« krl war, das wird ihnen der Geist der Wahrheit, der sie einst erfüllen wird, aufklaren und zu Gemüthe führen r er wird sich ihnen selbst in seinem erleuchtenden, tröstenden, er« muthigenden Wirkungen zu erkennen geben, und was von ihm verheißen ist, durch sich selbst erfüllen. Jetzt, da sie den Geist noch nicht besaßen, faßten sie nicht, was er sey, und was er ihnen leisten werde; in ihrer Niedergeschlagenheit war ihnen der hohe Muth, der sie einst erfüllen sollte, noch ver« borgen; das Licht, das sie erleuchten sollte, konnte ihren ver« schlvssenencn Augen noch nicht erscheinen. Sie standen noch unten in der Tiefe des irdischen Dunkels: wie hatten sie sol« len den Blick zu der sonnenhelle Höhe emporrichten, zu weleher sie einst der Geist erheben sollte?

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376

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Kap. i4, 37 — 31.

Jesu Abschieds- und Friedensgruß. Noch immer saßen die Jünger niedergeschlagen und traurig da» noch hatten sie nicht Trost, Ruhe, Frieden für ihre erschütterten Seelen finden können. Da sprach Jesus zu ihnen: Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich ihn euch, wie die Welt ihn gibt. Euer Herz erschrecke nicht, und fürchte sich nicht! (V. 27.). Er laßt ihnen den Frieden, die Ruhe der Seele, als Abschiedsgabt, zurück» wenn sie auch jetzt noch nicht ruhig und freudig sind, so werden sie es werden; die Kraft, das Licht des Geistes hat er in ihre Seelen ausgegossen, und wenn dieser in ihnen mäch­ tig wird, so wird ihnen auch der Friede und die Ruhe kom­ men. Meinen Frieden gebe ich euch. Es ist sein Friede, der unstörbare, unwandelbare Friede, der in Gott ruhet, nicht der Friede der Welt, der auf vergänglichen Be­ sitz und Genuß gegründet ist. Und es ist nicht ein bloßer ohn­ mächtiger Wunsch, wie die Welt ihn auszusprechen pflegt; es ist wirkliche Gabe und thatkräftige Mittheilung, Einwir­ kung auf ihre Gemüther. Ihr habt gehöret, daß ich euch gesagt habe, Ich gehe hin, und komme wieder zu euch. Hat­ tet ihr mich lieb, so würbet ihr euch freuen, daß ich euch gesagt habe: Ich gehe zum Va­ ter; denn der Vater ist größer denn ich (V. 28.). Sie sollen nicht trauern, denn er kommt ja wieder zu ihnen; sie sollen sich vielmehr freuen, denn er gehet zum Vater. Sein Werk, das Werk der Erlösung und Bescligung der Menschen, dqs er auf Erden als Menschensohn, als Mittler zwischen Gott und den Menschen, angefangen, daS wird er, als verherrlichter Gottes Sohn zur Rechten des Vaters sitzend und mit ihm vereinigt, unter dem Beistände der Allmacht desselben, vollbringen» denn der Vater ist größer, als er. Der auf der Erde wandelnde Gottessohn

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wurde verkannt r der verherrlichte, zum Himmel erhobene wird mit göttlicher Gewalt die Welt beherrschen. Und nun habe ich es euch gesagt (daß ich zum Vater gehe), ehe denn es geschiehet, auf daß wenn es nun geschehen wird, ihr glaubet (daß ich es bin) (D. 29.). Ein unerwarteter Schlag trifft har­ ter, als ein solcher, auf den man vorbereitet ist. Hätte aber der Tod Jesu die Jünger unvorbereitet getroffen, so halten sie vom Schmerz niedergedrückt, wohl gar an seiner göttlichen Sendung zweifeln können. Ich werde hinfort nicht mehr viel mit euch reden; denn cs kommt der Fürst dieser Welt, aber er hat mir nichts an (V. 3o.). Die Augenblicke waren gezahlt, die Treu, nung stand nahe bevor. Der Fürst dieser Welt, der Geist des Dösen, welcher in den jüdischen Gewalthabern wirkte, näherte sich, um den langst beabsichtigten Schlag gegen Je­ sum zu führen, um ihn und fein Werk zu verderben. Aber er hat ihm nichts an, hat keine Gewalt über ihn; sein Sieg ist nur scheinbar. Es wird ihm gelingen, seinen Leib ans Kreuz zu schlagen; aber selbst dieser wird sich wieder dem Grabe entwinden» und der Dulder wird als Sieger aus dem Kampfe hervorgehen. Aber auf daß die Welt erkenne, daß ich den Vater liebe, und ich also thue, wie mir der Vater geboten hat, stehet auf und lasset uns von hinnen gehen (V. 3i.). Der Kampf muß bestanden werden, das fordert der Gehorsam des liebenden Sohnes gegen den himmlischen Vater; ohne Kampf ist kein Sieg. Die Welt bedarf der erhebenden, entscheidenden That eines vollkommenen Gehorsams gegen Gott, eines Ge­ horsams bis zum Tode am Kreuz; nur dadurch kann sie von der Sünde erlöst und zu Gott zurückgeführt werden. Und so will denn Jesus voll heiligen Muthes aufbrechen, um seinen Feinden entgegenzugehen. Er reißt sich los aus dem trauten Kreise seiner Jünger, aus den Armen der Liebe, um dem Leiden und Tode freiwillig entgegenzugehen, um den Tod der Liebe zu sterben. Welch ein rührender Ton

der Stimme: Stehet auf und lasset uns von hinnen gehen! Wie sanft und fest zugleich, wie lieb­ reich und heldenmüthig, wie ruhig und entschlossen!

Obgleich die bisherigen Abschkedsreden Jesu zunächst den Jüngern gelten, und Trostgründe und Verheißungen enthalten, welche sich nur an ihnen ganz bewahrten und er­ füllten: so ist doch nicht nur der ganze Geist, der darin wehet, und die Stimmung, die darin herrscht, für uns trö­ stend und erhebend, sondern auch das Einzelne für uns an­ wendbar. Diese heilige Ruhe, dieser Gottcsfriede, diese Erhabenheit über das Irdische und diese sanfte Warme der treuen Liebe — das ist der himmlische Sinn, der in jedem christlichen Gemüth leben sollte, der in Kampf und Leiden selig macht: das ist die Taube des Friedens, welche über der Kirche Christi schwebt. O könnte ich mich zu dieser Stimmung erheben und stets darin behaupten. Möchte meine Seele von diesem seligen Frieden erfüllt seyn, könnte ich so warm und treu und zugleich so ruhig und sanft lieben! Bin ich in Furcht und Sorge, und ist mein Herz erschrocken: so möge mich der Glaube an Gott und Christum aufrichten; ich will aufblicken zu den Wohnungen der Seligkeit und des Friedens, in welche mir Christus, eine Statte bereitend, vor­ angegangen; ich will mich zu Ihm erheben mit der Sehn­ sucht der Liebe und des Augenblicks gedenken, wo er kom­ men und mich zu sich nehmen und mich trösten und erquicken wird. Ich will, wie auch die Wege der irdischen Bestre­ bungen sich verschlingen und durchkreuzen mögen, unver­ rückt fortwandeln auf dem Wege, den Er mir gezeigt hat, und nie von seiner Wahrheit weichen, damit ich durch ihn zum Vater komme; und führt dieser Weg auch durch Leiden und Tod, so will ich ihn muthig wandeln. Im Kampf und Gedrang des irdischen Lebens soll mich die Freude am Ge­ lingen des Werkes Christi trösten und erheben. Wie ge­ ring auch das Maß der Wirksamkeit sey, welches mir zuge­ theilt ist, immer will ich daran Freude haben; denn auch

379 durch Weniges wird Christi Sache gefördert, wenn es nur in seinem Sinne und im Verein mit den Brüdern geschieht; viele Tropfen, wenn sie zusammenfließen, bilden einen Strom. Finde ich Hindernisse in meinem Wirken für das Gute, so will ich mit festem Vertrauen beten, und der Erhörung gewiß seyn. Was ich beginne in Christi Namen, das wird der Vater gelingen lassen, wenn ich auch selbst die Vollendung nicht erlebe; und mitten in der Vereitelung mei­ nes Bestrebens soll mich freudiges Vertrauen emporhalten. An Christi Geboten und Lehren will ich mit treuer Liebe fest­ halten , und sie in meinem ganzen Leben befolgen und erfüllen. Dann wird mir feine Wahrheit immer klarer aufge­ hen, meine Einsicht immer fester und sicherer werden, mein Wille sich immer mehr stärken. Auch mir wird sein Geist in Zweifel und Bedrängniß Tröster und Beistand seyn, und in Augenblicken, wo ich mich verwaist fühle, mir Rath, Ent­ schluß und Kraft in die Seele geben. Ja, wenn ich Christum recht liebe, und mit ganzer Treue seine Gebote halte: so wird er sich mir selbst offenbaren; ich werde ihn in mei­ nem Geiste schauen als den verklärten Gottessohn in seiner Lichtgestalt, und nach seinem Bilde mich selbst umwandeln und verklären, mich immer mehr reinigen von menschlicher Unlauterkeit und Schwächt, und in immer innigere Gemein­ schaft mit ihm treten. Ach! und möchte ich dahin kom­ men, daß auch der Vater mit Christo bei mir einkehrte, und beide bei mir Wohnung machten, daß ich durch alle Bande mit der Gottheit verknüpft würde, und alles was mich von ihr trennt, aus meiner Seele wiche, daß jeder Gedanke, jede Gemüthsbewegung, jeder Entschluß mit Gottes heiligem Wesen in Einklang wäre! — Dann würde auch der Friede Gottes meine Seele erfüllen, der Friede, der durch keine irdische Furcht, durch keinen falschen Wunsch, durch keine unreine Begierde getrübt wird, die Ruhe des Gemüths, in welcher jeder Streit und jeder Mißton schweigt. O Gott! wie sehne ich mich nach diesem Frieden und nach dieser Ruhe! Ich bin müde des Kampfes, der zu keinem Siege führt, des glühenden Verlangens, das keine Stellung findet und nur

38o das Herz verzehrt, der titeln Sehnsucht nach einem Glück, das auf dieser Erde nicht zu finden ist, der Sorge vor dem Verlust von Gütern, die ich doch am Ende der Erde lassen muß. O Vater! nimm das irrende, umhergetriebene Kind in der Heimath deines Friedens auf, beruhige daS allzuleb» haft schlagende Herz, kühle und lautere die irdische Gluth» die eS verzehrt zurHimmclswarme der reinen Liebe, und gieße dein Licht in die noch mit dem Erdendunkel kampfende Seele aus! O hebe mich empor dahin, wo die Welt keine Gewalt mehr an mir hat, wo ich triumphircnd über ihr siehe, auch wenn sie mir Alles» Glück, Gesundheit Leben raubt, und gib mir den Muth und die Kraft der Selbstverleugnung, mit meinem Erlöser festen Schrittes dem Kampfe mit der Welt, dem Verluste alles zeitlichen Glückes, dem Tode, entgegen zu gehen!---------Kap. iS, i — 8.

Das Gleichniß vom Weinsiock. Jesus war aufgestanden von der Mahlzeit und wollte aufbrechen, um sich nach Gethsemane zu begeben. Aber sein Herz war zu voll, um sich so leicht von seinen Jüngern zu trennen; er hatte ihnen noch so viel zu sagen, sie bedurf­ ten noch mancher Belehrung und Ermahnung! Wie der Freund, der sich von dem Geliebten auf lange Zeit oder auf ewig trennt, den Abschied verlängert, ihm noch alles, was er auf dem Herzen hat, mittheilt, und kein Ende finden kann; wie er, nachdem er schon das schmerzliche Lebewohl gesagt, wieder zurückkehrt, und sich von neuem an daS ge» liebte Herz wirft: so auch Jesus. O wie warm, wie so ganz menschlich fühlte der göttliche Erlöser, wie war er so ganz Freund! — An die Stelle der leiblichen, menschlichen Gemein­ schaft, in welcher er mit den Seinen im Leben gestanden, soll eine rein geistige treten» und darin liegt der Trost für den Schmerz der Trennung. Diese geistige Gemeinschaft soll

38i aber nicht allein daS liebende Herj befriedigen und trösten, sondern auch das Mittel seyn, das Werk Jesu nach seinem Tode auf Erden ju vollenden. Die Jünger sollen in dem Geiste, der sie mit Christo verbindet, wirksam seyn für das Reich Gottes. Darum will er ihnen den Gedanken dieser geistigen Gemeinschaft recht einprägen und zum lebendigen Verständniß bringen; und dazu wählt er das Gleichniß deS Weinstockes und der Reben. Laßt unS nicht fragen, wo­ durch Jesus veranlaßt worden sey, dieses Gleichniß ju wäh­ len : ob der Anblick der noch auf dem Tischt stehenden Weinbecher oder eines an die Fenster des Gemachs, wo sie sich befanden, hinaufrankenden Weinstocks ihn darauf geleitet habe. JrsuS wählte mit wunderbarer Weisheit immer die treffendsten, angemessensten Gleichnisse; und für das, «aS er hier sagen wollte, hätte er kein passenderes finden können; in ihm durchdringt sich vollkommen Gedanke und Einklei­ dung, Stoff und Form, es hat eine innere Nothwendigkeit. Uebrigens ist das Gleichniß des Weinstocks und Weinbergs in der heiligen Schrift alten Testaments so gewöhnlich, daß die Wahl desselben schon dadurch erklärlich wird. Jesaia vergleicht das Volk Gottes mit einem Weinberg, an wel­ chem Gott alle Pflege gewandt, der aber keine guten Früchte trägt (Jes. 5.); auch Jesus hatte anderwärts dieses Gleich­ niß, obschon mit veränderter Beziehung und zum Theil mit andern Nebenumstanden, gebraucht (Matth. 20, 1 ff. 31, 33 ff. Luk. iS, 6 ff.): und so konnte er leicht auf die eigenthümliche Fassung desselben kommen, in welcher er es hier vorträgt. Ich bin der rechte Weinstock, und mein Vater ist der Wcingärtner (V. 1.). Das Reich Gottes ist der Weinberg, und Gott der Herr desselben (Matth. 30, l ff. 21, 33 ff.); nun sind zwar in einem Weinberge viele Weinstöcke, so wie das Reich Gottes viele Bürger hat; allein diese sollen nicht, wie jene, vereinzelt neben einander stehen, sondern durch die innige Gemeinschaft mit Christo, ihrem Haupt, und mit ihren Brüdern verbunden seyn; und so vereinigt Jesus im Gleichniß alle Weinstöcke in einen ein«

38a jigrn, welches Cr ist, an welchem sich die übrigen als Reben befinden. Cr ist der rechte, der wahre Weinstock, Stamm, Urbild, Muster jedes andern, so wie er, ohne Gleichniß, daS Urbild deS Menschen, der rechte, vollkommene Mensch, der Menschensohn schlechthin ist, oder wie er der erstgeborne Gottessohn und die andern Christen die nachgebornen Kin­ der Gottes sind. Wer da will ein guter, vollkommncr Mensch, ein Kind Gottes werden, der muß sich nach seinem Bilde gestalten, an ihn sich halten, mit ihm in Gemeinschaft treten: und so kann Niemand im Weinberge des Herrn ein Weinstock für sich seyn, sondern muß sich als Rebe an den Ur- und Hauptweinstock anschließen, welches Christus ist. Ich bin der Weinstock, ihr seyd die Reben (D. 5.). Der Weinstock ziehet die Kraft auS dem Erdbo­ den, und die Reben ziehen sie aus dem Weinstock. So hat Christus vom Vater das Licht der Wahrheit, die Kraft des Lebens empfangen, und steht mit ihm in nächster Gemein­ schaft; die Christen aber kommen erst durch ihn zum Vater, und empfangen von ihm Licht und Leben. Wie die Reben mittelst des Weinstocks mit dem nährenden Boden zusam­ menhangen : so sind die Christen mittelst Christi ein- mit dem Vater; und so wie jene durch den Weinstock unter einander verbunden sind so sind, auch die Christen durch den Glauben und die Liebe an Christum unter einander Brüder. Bleibet in mir, und ich in euch (D. 4.). Diese Gemeinschaft mit seinem Erlöser ist dem Christen Grund und Bedingung deS Heils; außer demselben ist für ihn kein Heil: er halte also daran fest, und schließe sich immer inniger an ihn an. Gleichwie der Rebe kann keine Frucht bringen von ihm selber, er bleibe denn am Weinstock: also auch ihr nicht, ihr bleibet denn in mir (D. 4.). Außer Christo ist für den Christen kein Leben, kein Licht, keine Kraft: mithin kan« er auch ohne ihn keine Frucht bringen, kein an Werken der Liebe fruchtbares Leben entwickeln. Wer in mir blei­ bet, und ich in ihm, der bringet viele Frucht; denn ohne mich könnet ihr nichts thun (V. 5.).

383 Wie die Rebe durch den au- dem Wrinsiock gezogenen 8t» btnssaft die Frucht hervorbringt, und ohne denselben abster­ ben und unfruchtbar bleiben würde r so ist auch da- Leben des Christen nur fruchtbar durch die aus Christo gezogene Geiste-. Nahrung. Dieses Verhältniß deS Christen zu Christo ist nicht genug zu beherzigen. Gar zu häufig denkt man sich es blos äußerlich. Man meint, der Christ empfange von Christo die Erkenntniß der Wahrheit, wie eine Ueberlieferung, wie einen Unterricht, wie Worte, die man Hirt und bewahrt, ohne sie vielleicht recht zu verstehen. Nein! der Geist der Wahr­ heit must innerlich auf verborgenen Wegen des Geistes von Christo aus in die Seele des Christen überfließen, so wie der Saft vom Weinstock in die Rebe übergeht, und so wie diese den Saft nicht bloß leidend empfängt, sondern mit ihren Saugröhrrn in sich herüberzieht, so muß auch der Christ die Lehre Christi selbstthätig verarbeiten und fich an­ eignen. Viele meinen wohl auch, der Christ müsse in seinem Leben das Beispiel Christi nachahmen, so wie man etwa ein Bild nach dem andern gestaltet, und seine Worte befolgen, so wie man ein geschriebenes Gesetz erfüllt. Nein! der Geist Christi muß im Christen treiben und schaffen, daß die Werke als lebendige Früchte hervorgehen; sie dürfen nicht bloß den Werken Christi äußerlich ähnlich, sondern müssen ihnen innerlich verwandt und gleichartig seyn. Ueberhaupt muß unser ganzes Verhältniß zu Christo innerlich seyn; wir müssen in ihm leben, Eines Geistes und Einer Gesinnung mit ihm seyn. Ohne mich könnet ihr nicht- thun. Ohne den Geist Christi, ohne die Anregung und Erleuchtung, die uns von ihm kommt, können wir keine würdigen Früchte bringen. Niemand wähne, allein stehen und aus sich selbst, aus eigener Vernunft und Kraft, wirken zu können. Unsere Vernunft wird irre gehen, wenn sie sich selbst überlassen ist, unsere Kraft wird, ohne Nahrung und Beistand, ermatten, und in unsere Gesinnung und Bestrebung wird sich Selbst-

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sucht und Unlauterkeit mischen, wenn wir nicht stets Chr,', (tum und seinen Dienst vor Augen haben. Wer nicht in mir bleibt, der wird weg­ geworfen, wie eine Rebe, und verdorret, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und muß verbrennen (23. 6.). Eine Rebe, die nicht am Weinstock bleibt und nicht von ihm Nahrung zieht, ist unfrucht­ bar und unnütz, und der Weingartner schneidet sie weg. Einen jeglichen Reben an mir, der nicht Frucht brin­ get, wird er wegnehmen (23. 2.). Ein Wort ern­ ster Mahnung! Wer nicht in lebendigem, innigem Verhältniß zu Christo bleibet, der ist nicht nur ein unfruchtbares Glied seiner Gemeinde, sondern wird auch ausgeschieden durch das strenge Gericht Gottes. Lange mag er vielleicht als unnütze Rebe am Weinstock hangen, bis endlich der Tag der Prüfung kommt, der ihn in seiner Untauglichkeit darstellt, wo die schlechte Gesinnung seines Herzens sich verräth, und alle guten, treuen Christen sich von ihm trennen und ihn seinem Schicksale überlassen, wo ihn die verdiente Strafe seines unlautern, bösen Lebens erreicht, und er in daS Verderben stürzt, daS er sich bereitet hat. Die wahre Gemeinde Christi, der wahre Weinstock, an welchem die Reben hangen, ist nicht die äußere Kirche, welche durch die äußern Bande des Lehr­ begriffs und Gottesdienstes zusammengehalten ist; an dieser hangen viele untaugliche, todte Glieder, welche selten oder spät weggenommen werden r die wahre Gemeinde ist die im Geist und in der Wahrheit verbundene, unsichtbare Kirche, und von dieser werden alle todten Glieder weggeschnitten mit dem scharfen Schwerte der göttlichen Wahrheit, des Wor­ tes Gottes, das durchdringet, bis daß es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedan­ ken und Sinne des Herzens (Hebr. 4, 12.). Es ist nichts tröstlicheres und erhebenderes, als sich in der lebendigen Ge­ meinschaft Christi und der Eeinigen zu fühlen; aber eS gibt auch kein vernichtenderes Gefühl, als aus dieser Gemein­ schaft ausgeschieden zu seyn, wie ein abgestorbenes Glied vom lebendigen Leibe, für sich allein zu seyn in einem selbst-

385 süchtigen, sinnlichen, aNf irdische Lüste gerichteten, bunttln, kalten Daseyn. O hätt dich, meine Seele, vor diesem schrecklichen Gericht! halte fest am Glauben und an der Liebe, schließe dich immer inniger an Christum, und suche deine Freude und deine Lust nur in dem, was sein ist, in der Wahrheit, Gerechtigkeit, Gottseligkeit! Auch diejenigen, welche daS Gute wollen, aber meinen, sie könnten es auS eigener Kraft erreichen, und sich aus alljugroßem Selbstgefühl, auS übermüthiger Zuversicht auf die Einsichten ihres Verstandes und die edlen Gefühle ihres Herjens, von der christlichen Gemeinschaft trennen, und ihren eigenen Weg gehen, mögen sich dieses Wort zur Warnung gesagt seyn lassen. Werden fit auch nicht un­ fruchtbar , so sind doch ihre Früchte nicht ganj gesund und rein; dorren sie auch nicht ab, so wird doch ihr Leben ohne freudige Kraft und Fülle seyn, und sie werden sich in ihrer Abgctrenntheit selbst verlassen und verworfen fühlen. Einen jeglichen, der da Frucht bringet, wird er reinigen, daß er mehr Frucht bringe (V. a.). Wie der Winjer die geilen Wassrrfchößlinge, welche die gute Kraft nutzlos verjehren, abschneidet, damit die fruchtbaren Zweige desto mehr Nahrung gewinnen: so rottet Gott durch seinen heiligen Geist, den er in den Herjen der Gläubigen wirken lässet, alle Selbstsucht aus, welche vom fruchtbaren Wirken für das Reich Gottes abführt und die Kräfte der Seele auf falsche irdische Zwecke richtet, und reinigt die Herjen durch die reine Liebe und Begeisterung, die er in sie ausgießt. Der heilige Geist rottet in der Seele des Gläubigen allen Dünkel und Wahn der selbstvertrauen» den Vernunft aus, und erfüllt sie mit dem Lichte der gött­ lichen Wahrheit, in welcher kein Wandel und kein Irrthum ist. In wem nun die reine Liebe und Wahrheit ist, der bringt immer mehr und bessere Früchte, Früchte ohne alleHerbe und Bittere der Selbstsucht, Fruchte voll des reinen, himmlischen Feuers der wahren Liebe. Ihr seid jetzt rein um des Worts willen, daS ich zu euch geredet habe (V. 3.). Christus Bibi. ErbauungSb. I. B6

386 hat feint Jünger durch das ihnen verkündigte Wort der Wahrheit von Irrthum und Sünde gereinigt, und ihnen das reine Licht und die reine Kraft eingegeben: sie bedürfen daher nur der fortwährenden göttlichen Einwirkung zu ihrer immer bessern Reinigung und Vollendung, damit sie immer fruchtbarer werden. Sie sind auf die Bahn der Wahrheit geleitet, und bedürfen nur des Beistandes des heiligen Gei­ stes, um darauf fortjuwandeln. Darum ermahnt er sie eben: Bleibet in mir und ich in euch! Nur in der Gemeinschaft mit ihm können sie sich immer mehr reini­ gen und vollenden, und immer fruchtbarer werden. So ihr in mir bleibet, und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch wiederfahren (D. 7.). Er ermuntert sie zum fruchtbaren Wirken für das Reich Gottes durch die schon vorher (i4, i3.) gegebene Ver­ heißung der Erhörung ihres Gebets» sie sollen muthig und vertrauensvoll streben und ringen, denn Gott wird ihnen Heistehen r nur müssen sie Alles in der Einheit mit ihm und seinem Worte, im Geiste der Wahrheit und Liebe, beginnen und vollenden; nicht was sie wollen nach menschlicher Willkür und Lust, sondern was ihr mit Christo gereinigter Wille fodert, sollen sie bitten und empfangen: ebendieser Einklang mit ihm wird ihnen das freudige Vertrauen der Erhörung einflößen. Darinnen wird mein Vater geehret, daß ihr viele Frucht bringet, und werdet meine Jünger (93. 8.). Wenn die Jünger sich als Christi rechte, treue Jünger beweisen dadurch, daß sie für daS Reich Gottes mit allem Eifer und aller Kraft wirken, so wird durch sie der himmlische Vater geehret und verherrlicht, feine Wahrheit verbreitet, sein heiliger Wille kund gethan und vollzogen, und sein Reich auf Erden erbaut und beför­ dert. Ihre und jedes wahren Christen hohe Bestimmung ist, zur Ehre Gottes zu wirken; und nichts kann erhebender und begeisternder seyn, als dieser Gedanke, nichts kann auch mehr daS Gemüth reinigen. Hinweg von mir, ihr engen,

387 bang«« Sorgen für mein irdische- Wohl, ihr unreine« Begierden und irdischen Lüste! ihr sollt nicht da- reine Gefäß des --etlichen Geiste-, das reine Werkzeug des göttlichen Willens, da- zur Verherrlichung des Vaters wirket, vir. unreinigen und verderben! O erfülle mich gant, begeistern« der Gedanke an die Ehre de- göttlichen Namens, heiliger Eifer für die Vollziehung seines Willen-! hebt mich empor über mich selbst und mein schwaches Herz, ihr Schwingen der reinen christlichen Begeisterung! Alles, was ich denke und sinne, was ich will und vermag, sey Gott und feiner Verherrlichung geweiht! — Kap. i5, 9 —17. Ermahnung zur Liebe. Die innere, lebendige Gemeinschaft zwischen dem Hei­ land und den Jüngern, welche im Gleichniß des Weinstocks abgebildet ist, besteht in der Liebe. Diese Gemeinschaft aber umschlingt nicht nur Christum und die Seinigen, son« dern besteht auch iwischen ihm und dem Vater, und soll auch die Christen unter einander verbinden, auf daß Alle einseyen. Dieser selige Bund der Liebe hat seinen Anknüpfung-« und Haltpunkt in Gott, wie von ihm Alle- ausgeht, und in ihn zurückgeht. Gleichwie mich mein Vater lir« bet, also liebe ich euch auch (V. 9.). Gott hat die Bewegung der Liebe begonnen r er liebt den Sohn, an wel­ chem er Wohlgefallen hat, der sein Werk auf Erden aus­ richtet» und der Cohn, die Bewegung der Liebe fortkeitend, liebt diejenigen, welche er zur Fortsetzung des begonnenen Werke- erwählt, die er würdig gefunden, das Evangelium zu verkündigen. Nun soll aber die Bewegung der Liebe wie­ der zurückkehren, damit sich der selige Kreis schließe: die Jünger, die Christus liebt, sollen ihn wiedrr lieben und treu in der Liebe zu ihm verharren; Bleibet in meiner Liebe! diese Treue aber werden sie dann beweisen, wenn sie seine Gebote halten (vgl. i4, »3.), so wie er Bb a

388 seine Liebe jjtmt Vater dadurch bewährt, daß er dessen Gebote hält, dessen Willen erfüllt (V. io.). Die Liebe zu Gott und Christo ist keine muffiflc Liebe, fein Schwelgen in Gefühlen, sondern thatkräftige Erfüllung ihrer Gebote, so wie auch die wahre Lieb« ;u einem Menschen sich darin beweist, daß man seinen Wünschen nachlebt, und seinen Beifall zu verdienen sucht. Das sey mir immer das sichere Merkmal der achten Liebe ju Christo, wenn Jemand dessen Gebot« hält, wenn er nicht nur glaubt und lehrt, was Er gelehrt, sondern auch die von ihm gebotene Liebe gegen alle Menschen und besonders gegen die Brüder übt. Solches rede ich ju euch, diese Ermahnungen und Verheißungen gebe ich euch, aufdaß meineFreude in euch bleibe, daß ich stets meine Freude an euch habe, und eure Freude vollkommen werde, auch ihr euch meiner und meines Werkes immer vollkommner freuen möget (V. n.). Wenn Freunde sich gegenseitig lieben und einander treu sind, so freuen sie sich gegenseitig ihrer Liebe und des ermunternden, beglückenden Einflusses derselben auf ihr Leben. Der Eine freut sich, daß der An­ der« mit Kraft und Eifer dem Ziele entgegenstrebt, wohin auch sein Streben gerichtet ist. Der Lehrer freut sich über die Fortschritte und die Wirksamkeit seines Schülers, und dieser freut sich dankbar dessen, was er von jenem empfan­ gen hat, indem er es in der Ausübung und Anwendung er­ probt. So ist auch die Gemeinschaft des Christen mit feinem Erlöser eine freudige, eine Wechselwirkung freudigen Beifalls und freudigen Dankes. Das ist mein Gebot, daß ihr euch unter­ einander liebet, gleich wie ich euch liebe (D. 12.). Die Bewegung der Liebe, welche, von Gott aus­ gehend, durch Christum zur Menschheit herni'edersteigt, soll nun in dieser fortgeleitet werden, die Christen sollen sich untereinander lieben» und dadurch werden sie jugleich die gefoderte Gegenliebe gegen Ihn beweisen (58. io.)> denn Er hat ja das Gebot der Lieb« gegeben (vgl. i3, 34.). Niemand hat größere Liebe, denn die, daß er

fein tefren lässet fär feine Freunde (D. r3.). Die Liebe der Christen unter einander soll nicht muffig und unfruchtbar seyn, sondern fich in Thaten der liebenden Sorge und Hingebung für das Wohl der Geliebten beweisen, fich in Selbstverleugnung und Kampf und, wenn es die Noth fodert, selbst im Tode bewähren (vgl. »2, »4. i3, i4.). Ihr seyd meine Freunde, so ihr thut «aS ich euch gebiete (D. i4.). Ihr liebt mich und werdet von mir geliebt, wenn ihr meine Gebote erfüllt; ihr tretet mit mir in das Verhältniß der gegenseitigen Liebe und Wech­ selwirkung, in welchem Freunde zu einander stehen. Ich sage hinfort nicht, daß ihr Knechte seyd; denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr thut. Euch aber habe ich gesagt, daß ihr Freunde seyd» denn alles, w»S ich von meinem Vater gehöret, habe ich euch kund gethan (V. 15.).' Christus hat feine Jünger nicht auf der Linie deS leidenden Gehorsams, der knechtischen Furcht gelassen, sondern sie zur Freiheit erhoben; er hat ihnen nicht geboten, was sie nicht verstanden, sie nicht zur Befolgung seines Beispiels verpflichtet, ohne ihnen die Gründe mitjutheilen r er hat sie ju feinen Freunden erwählt, denen er liebend alles kund ge­ than, was ihm der Vater geoffenbart, denen er seinen Geist mitgetheilt, auf die er erweckend, bildend eingewirkt, um sie zur Gleichheit der Gesinnung, zur Geistesverwandtschaft mit ihm emporzuziehen. Furcht ist nicht in der Liebe, und eben so wenig herrischer Stolz. Er hätte sie nicht geliebt, wenn er sie nicht zur Freiheit erhoben; und sie hätten ihn nicht geliebt, wenn sie nicht feinen Geist frei in sich aufgenommen hätten. Ihr habt mich nicht erwählet: sondern ich habe euch erwählet und bestimmt *), daß ihr hingehet und Frucht bringet, und eureFrucht bleibe; auf daß, so ihr den Vater bittet in meinem Namen, daß er es euch gebe (V. 16.). *) Luther wörtlich: -esetzt.

Cs war bei bcn Juden gew-hnlich, daß die Jünger ihren Meister wählten, und sich ju demjenigen wandten, ju dem sie Vertrauen hatten. Anders Jesus. Er war eS, der seine Jünger wählte; von ihm ging die in Gott entsprin» gende Bewegung der Liebe auf sic über, er liebte sie juerst, und schloß mit ihnen die Gemeinschaft, welche die Grund­ lage des Reiches Gottes auf Erden werden sollte. Diese seine Liebe sollten sie erkennen und erwiedern. Es war aber keine müsstge Freundschaft, die er mit ihnen schloß, sondern ein Bund des Wirkens für das Reich Gottes; sie sollten hingehen und Frucht bringen» streben, ringen und wirken, uncrmüdet dem Ziele entgegeneilen, und beständig seyn in ihrem Eifer, daß ihre Frucht bliebe und bleibendes Heil brächte; und in ihrem Streben sollte sie der Beistand Got­ tes, wenn sie vertrauensvoll ju ihm beteten, unterstützen. Aber Liebe unter einander ist die Bedingung von Allem; denn wer den Bruder liebt, der liebt auch Gott und Christum; und wer liebt, der ist auch eifrig und wirksam. Das gebiete ich euch, daß ihr euch unter einander liebet (D. 17.). Liebe und wieder Liebe und abermals Liebe, Liebe Got­

tes

zu Christo, Christi ju den Jüngern, der Jünger unter einander und zu Christo und zu Gott, ist der Inhalt dieser Rede Jesu. O welch eine selige Verkettung und WechselWirkung der Liebe, durch welche Himmel und Erde vereinigt werden! In ihr stehe auch ich: auch mich hat Gott durch Christum geliebt, auch mich hat er mit dem Bande der Liebe an sich gezogen: 0 neige dich hin, mein Herz, mit dankbarer Gegenliebe, und umfasse deine Brüder mit Liebe, denn in ihnen liebest du Gott und Christum! Laß den Kreislauf der himmlischen Liebeswarme von Gott und Christo durch dich ju den Brüdern, und von ihnen wieder durch dich zu denen gehen, die dich zuerst geliebct haben, aus welchen der Ur­ sprung der Liebe quillt. Gib dich hin der schaffenden Be­ wegung, welche Himmel und Erde durchströmt! Dann werden herrliche Früchte aus dir hervorgehen; die gelau­ terten Triebe

werden sich in

gute Werke ergießen, durch

welche Gotte» Ehre verherrlicht und da- Wohl der Brüder befördert wird. Kap. i5, 18 — Kap. »6, 4.

Jesus sagt seinen Jüngern den Haß und die Verfol­ gung der Welt vorher. Die freudige Einheit der Gläubigen mit Christo und dem Vater und unter einander bringt den düstern Zwiespalt mit der Welt mit sich; das Licht des Himmels steht im Gegen­ satz mit der Finsterniß der von Gott abgewandten Erde. Ja diesen Zwiespalt traten besonder- die Jünger, welche den Glauben an Christum nicht bloß bekennen, sondern auch ver­ kündigen, welche mit der herrschenden Unwahrheit und Sünde in Kampf treten sollten. Darauf mußte sie Jesus vorberei­ ten, damit sie nicht einst davon überrascht würden. So euch die Welt hasset: so wisset, daß sie mich vor euch gehasset hat (93. 18.) Wie eden Jüngern ergehen wird, so ist eS Jesu selbst ergangen, dessen Werk sie betreiben. Es liegt in der Natur der Sache, daß sie von der Welt gehastet werden. Wäret ihr von der Welt, so hätte die Welt das Ihre lieb (93. 19.). Wenn die Jünger lehrten und wirkten, waS der Welt, ihren Lüsten und Begierden, entspräche; wenn sie die Selbstsucht, die Eitelkeit, die Wollust, die Herrschsucht und alles, waS die Gottlosen suchen und treiben, empföhlen und begünstigten: so würde die Welt sie als Gleichgesinnte lieben und freundlich aufnehmen. Dieweil ihr aber nicht von derWelt seyd, sondern ich euch von der Welt auserwählet habe, darum hasset euch die Welt (93. 19.). Die Jünger sollten mit der Welt, ihrer Gesinnung und Richtung, in Gegensatz und Kampf treten; Jesus hatte sie durch seine Wahl von der Welt ab­ gesondert und ju einem Beruf bestimmt, der sie mit der Welt in Kampf brachte; sie sollten die Finsterniß, welche die Welt

liebt«, durch das Licht des Evangeliums vertreibe«, und die Menschen von der Sünde und dem Laster jur Gerechtigkeit rufen: natürlich, daß die Welt sie haßte. Gedenket an mein Wort, daS ich euch gesagt habe: Der Knecht ist nicht größer denn sein Herr (ihm geht es nicht besser als dem Herrn, und so darf auch der Jünger kein besseres Loos, als sein Meister erwarten). Haben sie mich verfolget, so werden sirauch euch derfolgen» haben siemeinWort gehalten, so rot r» den sie eures auch halten (23. 20.). Böses und Gutes, Verfolgung und Anerkennung, werden die Jünger mit dem Meister theilen; und darin muß der Trost für fit liegen. Ist der Sohn Gottes verkannt und verfolgt worden, warum sollte der Jünger murren, wenn ihm das Gleiche wider­ fährt? Aber das alles werden sie euch thun um meines Namens willen; denn sie kennen den nicht, der mich gesandt hat (93. 21.). Die Jünger werden verfolgt werden, weil sie die kehre Christi verkündigen, welche die Ungläubigen nicht als göttliche Wahrheit anerkennen können, weil sie Gott nicht kennen, dessen Gesandter er ist, weil ihr Her; verstockt, ihre Augen verblendet sind: und bas muß die Verfolgten trösten. Es tröstet ju wissen, daß wir für das Gute, für etwasHöheres, als wir selbst sind, leiden, daß der Haß, den wir erfahren, nicht uns selbst, sondern die gute Sache trifft, und wir geben uns gern in der Begeisterung für sie dem Leiden hin. Es ist eine ewig sich wiederholende Erfahrung, daß wer mit dem herrschenden Bösen in Kampf tritt, Haß und Verfolgung zu erwarten hat. Eine Sache, die keinen Widerspruch und Widerstand erfahrt, die von der Menge mit Deifalljauchjen aufgenommen wird, indem sie ihren Wünschen und Absichten entspricht, ist schwerlich die Sache Gottes und Christi. Die Wahrheit und Gerechtigkeit kön­ nen nur durch Kampf siegen, und wer für sie wirket, muß kämpfen und leiden. Selbst mitten in der christlichen Kirche bestehet der Unterschied der Kinder der Welt und der Kinder des LichtS r nicht alle, welche Christum mit dem Munde be-

kennen, lieben seine Wahrheit von Herzen; ja die Schein» christen mißbrauchen selbst seine Worte und sein Ansehen, um die Wahrheit ju unterdrücken. Sey also auf Haß und Streit gefaßt, du Diener der Wahrheit und Gerechtigkeit, und sey getrost, wenn dich die Streiche deS Hasses treffen! Murre nicht, denn du theilest mit Christo und seinen Apostel« dasselbe Loos; dulde freudig, denn du leidest in seinem Na­ men, und nicht dich hassen und verfolgen sic, sondern ihn, den sie nicht erkennen! — Groß ist die Schuld der ungläubigen, widerspenstigen Welt. Wenn ich nicht gekommen wäre, und hätte es ihnen gesagt, so hätten sie keine Sünde, so wären sie durch ihre Unwissenheit entschuldigt» nun aber können sie nichts vorwenden, ihre Sünde ju entschuldigen (V. 22.). Der Unglaube ist Sünde, wenn man die empfangene Erkenntniß mit bösem Willen unterdrückt; rin Irrthum hingegen, welcher unbe» wußt und unwillkürlich ist, verdient Entschuldigung. Die Juden konnten Christum als den von Gott gesandten Heiland erkennen, da er sich ihnen kund gab» aber sie wollten nicht, weil sie ihre irdischen, selbstsüchtigen Hoffnungew nicht auf­ geben wollten, weil sie das Ihre und nicht, was GotteS ist, suchten. — Nach dieser Regel laßt uns den Unglauben und Irrthum Anderer beurtheilen, und sie nur dann tadeln, wenn sich deutlich «in böser Wille offenbart. — Wer mich hasset, der hasset auch meinen Dater(V. 23.) Das war die Schuld der Ungläubigen, daß sie nicht bloß Jesum, sondern in ihm Gott verwarfen, daß sie in seinen Worten und Werken die Offenbarung Gottes verschmaheten. Besonders gereichte es ihnen zur Schuld, daß sie die Werke, die er unter ihnen gethan, und die kein Anderer gethan hatte, gesehen, und doch beide ihn und seinen Vater haßten (33. 24.). Ueber seine Lehre konnte noch Zweifel Stattfinden, man konnte sic mißverstehen und nicht fassen; aber seine Werke, seine wunderbaren Thaten, die Zeichen einer höheren Kraft und eiueS höheren Geistes, und alle seine Handlungen, durch die

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tr sich als Gesandter Gottes darstellte, lagen zu klar vor Mer Augen da, als daß ein guter Wille sich dagegen hätte verstecken können (vgl. io, 38.). Doch daß erfüllet würde der Spruch in ihrem Gesetz geschrieben (Ps. z5, 19. 69, 5.); Sie hassen mich ohne Urfach (93. afi.). Jesus tröstet sich mit der Erfahrung, welche die Frommen und Gerechten aller Zeiten gemacht ha­ ben, daß sie von der Welt unschuldig gehaßt wurden, mit dem Gesetz der Nothwendigkeit, das schon die begeisterten Seher der Vorwelt verkündigt haben, und das auch an ihm wahr werden muß, daß die Bosheit der Welt sich im Haß gegen die Diener Gottes offenbart, und diese ihr Werk durch Leiden und Kampf vollbringen müssen. Diese Erfahrung, dieses Gesetz der Nothwendigkeit, durch das Schicksal unftes Heilandes bestätigt, tröste auch uns, wenn wir für daS Gute, wenn wir ohne Urfach leiden. Der Knecht ist nicht größer, denn fein Herr: lasset uns nicht murren, wenn uns trifft, was Ihn und alle Frommen und Gerechten getroffen hat; beugen wir uns unter die gewal­ tige Hand Gottes, und dulden wir still und freudig, was er uns auferlegt! Wenn aber

der Beistand kommen wird,

welchen ich euch senden werde vom Vater, der Geist der Wahrheit, der vom Vaterausgehet, der wird zeugen von mir. Und ihr werdet jeugen, denn ihr seid von Anfang bei mir gewe­ sen (93. 26. 27.). Die Jünger sollen trotz dieser vorauszusehenden Verfolgung muthig das Werk der Verkündigung deS Evangeliums beginnen; der Geist der Wahrheit, der über sie ausgrgossrn werden wird, wird sie unterstützen, ih­ nen Einsicht und Muth verleihen, und durch sie» als seine Wrrzeuge» von Christo Zeugniß ablegen; und sie selbst schon können als glaubwürdige Zeugen auftreten, da sie von Anfang an Jesu Lehre und Leben beobachtet haben. Begeisterte Ue­ berzeugung von der Wahrheit drangt zur Verkündigung trotz aller Gefahren; und wer sich von ihnen abschrecken läßt, und sie «erläugnet, ist nicht von ihrer lebendigen Kraft erfüllt

5g5 worden. — Auch durch uns soll der Geist Christi, der Geist seiner Wahrheit, zeugen, auch wir sollen unsern Glauben furchtlos vor der Welt bekennen. O möge dieser Geist rein in uns wohnen, und lebendig durch uns wirken, möge unser ganzes Leben, unser Reden und Thun, ein treues Zeugniß der Wahrheit Christi seyn, und die Welt von ihr überzeugen! Solches habe ich zu euch geredet, daß ihr euch nicht ärgert (16, >.). Eie sollen darauf gefaßt seyn, um nicht irre gemacht zu werden, oder gar abzufallen. Sie werden euch in den Bann thun, von der Ge­ meinschaft des Gottesdienstes ausschließen. Ja, sie werden noch weiter gehen. Es kommt die Zeit, daß, wer euch tödtet, wird meinen, er thue Gott einen Dienst daran (D. a.). Das ist der unselige Derfolgungseifcr derer, die so verblendet sind, daß sie das, waS Gott rin Abscheu ist, Brüder wegen ihres Glaubens unschuldig zu tödtrn, für einen ihm wohlgefälligen Dienst halten, daß sie gänzlich des Gebotes der Liebe vergessen und sich mit Unge­ stüm und Eigensinn auf den Glauben werfen, ohne daß es doch der rechte Glaube ist, der immer mit der Liebe Hand in Hand gehet. O welche Verblendung, zu meinen, man könne Gott, der die Liebe und Gerechtigkeit ist, mit Haß und Ungerechtigkeit dienen! Heut zu Tage wüthet zwar der blu­ tige Verfolgungseifer nicht mehr, aber doch hassen die Glau­ benseiferer ihre andersdenkenden Brüder, und dieses ist nicht viel besser; denn wer feinen Bruder hasset der ist ein Todtschlager (1 Joh. 3, i5.). O Geist der Liebe, bewahre mich vor allem Haß und aller Verfolgungssucht! Lieber will ich unter den Verfolgten, als unter den Verfolgern seyn; lieber will ich mein irdisches Glück getrübt und meine Ruhe gestört sehen, als mein Herz von den Ge­ fühlen des Hasses verunreinigen und meinen Geist von dem Wahne verblenden lassen, Gott geschehe ein Dienst daran, wenn ich Andersdenkende verfolge. Und solches wer­ den sie darum thu», daß sie weder me inenVater noch mich erkennen (V. 3.). Wer wegen Glau-

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bensverschiedenheit seine Brüder haßt und verfolgt, der er­ kennt Gott nicht, welcher die Liebe ist, noch auch Christum, der uns das Gebot der Liebe gelehrt, und uns bis in den Tod geliebt hat; er hat den wahren Glauben nicht, obschon er sich der rechten Lehre rühmen mag. Den Buchstaben mag er bekennen, aber der Geist ist von seiner düstern, lieblosen Seele fern. Diese Wahrheit möge warnen, wenn mich rin Gefühl des Hasses übrrschleichen und $ur Verfolgung reizen will. Dann bin ich noch von der Erkenntniß Gottes fern, und der wahre in Liebe thätige Glaube wohnt nicht in mir. Aber Christi Geist wird mich schützen vor der Verblendung deHaffes, und mich erleuchten mit der wahren Erkenntniß seines Vaters; in der Liebe wird er mich immer mehr wachsen las­ sen, und dadurch meine Erkenntniß reinigen und befruchten. Aber solches habe ich ;u euch geredet, auf daß, wenn die Zeit kommen wird, ihr daran gedenket, daß ich es euch gesagt habe und nicht etwa irrt werdet (vgl. V. 1.). Solches aber habe ich euch von Anfang nicht gesagt; denn ichwar bei euch, und aller Haß und alle Feindschaft der Welt traf nur mich allein (D. 4.). Damals waren die Jünger noch nicht im Fall zu leiden, und die Dorhersagung wäre unzeitig und unzweckmäßig gewesen. Jesus beobachtete in Allem eine weife Stufenfolge, und führte seine Jünger nur nach und nach zur Vollendung. So wirst du auch mich, mein Heiland, von Stufe zu Stufe führen, und das Leide«, das meiner wartet, mich nicht unvorbereitet treffen lassen. Soll ich für deine heilige Sache, für die Wahrheit und Gerechtigkeit lei­ den, o so schenke mir vorher die klare, feste Einsicht, daß solches nothwendig ist, und befreie mich von der selbstsüch­ tigen Täuschung, daß ich allein von dieser Nothwendigkeit ausgenommen werden könnte. Erfülle mich mit dem leben­ digen Gefühl deiner Gemeinschaft, vermöge deren mich tref­ fen muß» was Dich und die Deinigen stets getroffen hat, und mit dem freudigen Muth, durch die Theilnahme an dei­ nem Leiden, mich der Theilnahme an deiner Herrlichkeit wür­ dig zu machen! —

Kap. »6, 5—15.

Nochmalige Verheißung des heil. Geistes. Nun aber gehe ich hin ju dem, der mich gesandt hat, und Niemand unter euch fragt mich: Wo gehest du hin? Sondern dieweil ich solches ju euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauerns geworden (V. 5. 6.). Stumm und in sich gekehrt standen die Jünger da, als sie diese Rede Iesie vernahmen, und fragten nicht, wie sonst Freunde den Freund bei der Trennung ju fragen pflegen: wohin gehest du? wa« rum verlässest du uns? Zwar hatte Petrus so gefragt (i3,

36.), auch Thomas (iü, 5.); aber noch war den Jüngern nicht klar geworden, wie und auf welchem Wege Jesus in den Tod gehen werde; und waren sie nicht so niedrrgeschlagen und betroffen gewesen, so würden sie mehr dergleichen Fragen an ihn gerichtet haben. Aber ich sage euch die Wahrheit: Es i.st euch gut, daß ich hingehe. Denn so ich nicht hingehe, so kommt der Trö­ ster nicht ju euch; so ich aber hingehe, will ich ihn zu euch senden (23. 7.). Ware Christus nicht ge­ storben, so hatten die Jünger nicht klar und entschieden er­ kannt, daß sein Reich nicht von der Welt sey, und daß er durch Leiden ju seiner Verherrlichung eingehen müsse. Ohne diese höhere und reinere Erkenntniß würden sie aber über­ haupt des Geistes der Wahrheit unfähig geblieben seyn, in­ dem die Erkenntniß der geistigen Beschaffenheit des Reiches Christi und der Nothwendigkeit, daß das Fleisch dem Geiste geopfert «erden müsse, die Grundlage aller christlichen Wahr­ heit ist. Zugleich hatte ihnen mit dieser Erkenntniß der freu­ dige Muth, Christum ju verkündigen und für ihn ju leiden, gefehlt, und sie würden nicht als seine Apostel in die Welt aus­ gegangen seyn. Nun aber war es eben die Wirkung des heil. Geistes, der nach Jesu Tode über sie kam, daß sie die Wahr­ heit reiner erkannten, und den Muth faßten, als die Der-

398 käadiger derselben aufzutreten. Solches wirkt« der Tob Jesu, brr ihn und sein Werk verklärte und verherrlichte. Aber auch schon seine Entfernung von ihnen machte sie des Geistes fä­ higer. Bisher hatten sie nur von Jesu empfangen, aber noch nicht selbstthätig das Empfangene verarbeitet; die Gewalt seinrs Geistes erweckte sie, hielt sie aber zugleich in Abhängig­ keit. So ist es mit allen Schülern, somit den Kindern. So lange sie noch unter dem Einflüsse des Lehrers, des Vaters, stehen, kann sich die Selbstständigkeit in ihnen nicht entwickeln; es muß aber die Zeit eintreten, wo sie auf ihren eigenen Fü­ ßen stehen, und die Kraft ihres Geistes, ihres Willens selbst­ ständig gebrauchen lernen: und dann erst vollendet sich ihre Bildung. Christus wollte seine Jünger in keiner geistigen Knechtschaft halten; sondem beabsichtigte ihre freie Bildung und Entwickelung. Darum gab er ihnen in nichts bestimmte, feste Vorschriften und Gesetze, und deutete Manches nur an, anstatt es genau zu entwickeln und vollständig darzulegen; er goß das Licht des Geistes in sie aus, band sie aber nicht an Buchstaben und Formen: und dann ging er von ihnen weg, in der Erwartung, daß sein Geist sich in ihnen frei ent­ falten werde. Sein Geist ist der Geist der Freiheit (2 Kor.

3, 17.), und in der Wahrheit ist eben so wenig Furcht als in der Liebe. Und er betrog sich nicht. Eigenthümlich, mannigfaltig, durch Gegensatz und Streit, aber eben dadurch frei und lebendig, entwickelte sich der Geist in den Aposteln, anders in einem Jakobus, anders in einem Paulus, aber in dem Wesentlichen übereinstimmend. O wäre doch diese Wahrheit erst recht erkannt, daß das Christenthum die Freiheit nicht nur erlaubt, sondern fodert, ja daß eS nichts ist, als das Leben im freien, lebendigen Geiste! So lange man nicht die Freiheit der Meinungen dul­ det, und die Wahrheit in bestimmte Lehrsätze und Regeln einzwängt, von welchen abzuweichen für Frevel und Treu­ losigkeit gilt, so lange leben wir noch nicht im Geiste Christi, so lange beherrscht uns noch der Geist der Knechtschaft, in welchem auch keine wahre Liebe ist. Und wenn derselbige kommt, der wird die

Welt überführe«*) von der Sünde und der Gerechtigkeit und dem Gericht (D. 8.). Der Geist der Wahrheit, welcher die Jünger jur Verkündigung der Lehre Christi mit Licht und Kraft ausstatten wird, wird nicht nur für Christum zeugen (i5, 26.), sondern auch Ueberzeugung bewirken; er wird selbst die Welt, die Ungläubigen, übertrugen, wenn auch nicht ju ihrem Heil, so daß sie den Glauben ergreifen, so doch wenigstens zur Anerkennung ih. rcS Unrechts, jum Gefühl ihrer Schuld; er wird sie über« führen, beschämen, ihres ohnmächtigen Widerspruchs, ih» res Unterliegens inne werden lassen. Dieses UeberführungSund Strafamt übt der heil. Geist zugleich mit seiner siegrei­ chen Wirksamkeit für die Ausbreitung des Evangeliums. Wo er das Licht hinträgt, da bringt er auch das Gefühl der Der» dammniß für diejenigen, welche in der Finsterniß bleiben. Er wird die Ungläubigen überführn von der Sün­ de, weil sie nicht an mich glauben (SB. 9.). Er wird sie fühlen lassen, daß sie mit bösem Willen der Wahrheit widerstreben, daß sie aus eigener Schuld verstockt sind; und sie werden dieß fühlen, wenn sie sehen, wie so Viele den Glauben freudig annehmen, und dadurch gebessert und bestligt werden. Und wohl denen, welche durch diese Ueberführung auch übcrjeugt und zum Glauben erweckt werden, in deren bisher dunkles Gemüth der Lichtstrahl der Wahrheit fallt, nicht bloß um sie zu erschrecken, sondern sie zu erleuchten und den Tag eines neuen, gebesserten Lebens in ihnen zu wecken! Er wird sie ferner überführen von der Gerechtigkeit, «eil ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht mehr sehet (V. 10.). Die Gerechtigkeit, von welcher sie überführt werden sollen zugleich mit der Sünde ihres Un­ glaubens, ist die Gerechtigkeit Christi, seine gerechte Sache, feint Würde als des Sohnes Gottes, welche sie verkannten, indem sie ihn alS einen Ungerechten, als einen Volksverfüh« rer und Aufrührer, ans Kreuz schlugen; diese Gerechtigkeit aber wird dadurch erkannt, daß er in seinem Tode verherr*) Luther: strafen t. h. eben überführen, tadeln, rügen.

4oo licht und zur Rechten des Vaters erhöhet wird, und mit göttlicher Allmacht daS Bise besiegt und die Welt beherrscht (vgl. i4, 28.). Er wird sie endlich überführen vom Ge­ richt, weil der Fürst dieser Welt gerichtet ist. (93. 11.). Derjenige, welcher Christum als einen Ungerech­ ten verlaumdcte, anklagte und verdammte, der Geist des Bösen, der Teufel, wird nun durch den Sieg und die Ver­ herrlichung Christi selbst gerichtet, seiner Macht beraubt und der Vernichtung Preis gegeben; die Gewalt des Bösen wird gebrochen, die Finsterniß vom Lichte verdrängt. — Alles das ist die Wirkung des die Jünger beseelenden Geistes der Wahrheit, das Ergebniß der Verkündigung des Evangeli­ ums vom Gekreuzigten. So Großes hatte menschliche Kraft, menschlicher Muth nicht vollbringen können; solches gelang nur mit Hülfe des göttlichen Beistandes. Das Ucberführungs - und Strafamt des heiligen Gei­ stes geht auch unter uns fort zugleich mit der durch ihn be­ reiteten Durchbildung und Läuterung unseres christlichen Glaubens. So wie damals das Evangelium neu verkün­ digt wurde, so soll bei uns die Wahrheit desselben immer reiner erkannt und bekannt werden; wie damals die Finster­ niß des Juden - und Heidenthums vom Lichte des Evange­ liums verdrängt wurde, so gilt cs jetzt den Kampf mit dem im Schooße der Kirche selbst wieder entstandenen Aber - und Buchstaben-Glauben; wie damals der Unglaube überführt und überwunden wurde, so haben wir jetzt mit dem Unglau­ ben der Zweifler, Spötter und Gleichgültigen zu kämpfen. In jeder dieserHi'nsichten überführt der heilige Geist von der Sünde', der Gerechtigkeit und dem Gericht: er verleiht der Wahrheit Christi den Sieg über den Unglauben, den Aberglauben und die Trägheit, macht den Feinden derselben ihre Schuld fühlbar, läßt Christum erscheinen im Lichtglanze seiner Gerechtigkeit, und bricht die Macht des herrschenden Bösen, Niemand ist, der nicht die überführende Wirksamkeit des Geistes der Wahrheit an sich zu erfahren hätte: denn Niemand ist schon vollkommen in der Wahrheit. Nehmen wir seine Warnungen und Mäh-

nungen mit demüthigen» und gelehrigem Herzen an, und versiocken wir «ns nicht! Weder die Einbildung, daß wir schon weise genug seyen, noch das beschämende Gefühl, im Irr­ thum zu seyn, verschließe und verhärte unser Herz. Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener der Geist der Wahrheit kommen wird, der wird euch kn alle Wahrheit leiten (23. 12. i3.). Jesus hatte zwar seinen Jüngern alle Grundwahr­ heiten mitgetheilt, aber sie hatten sie noch nicht alle ganz gefaßt, und cs fehlte noch die Entwickelung und Anwendung derselben. Dahin gehörte die Wahrheit, daß sein Reich nicht von dieser Welt, und nicht in den Umfang einer Na­ tion (der jüdischen) eingeschlossen sey, wovon die Folge war, daß das mosaische Gesetz namentlich die Beschneidung, für die Christen nicht verpflichtend sey. Hätte er ihnen die­ ses und Aehnlichcs schon jetzt mittheilen wollen, so hätten sie es nicht tragen, noch fassen können, und wären vielleicht an seiner ganzen Lehre irre geworden. Im günstigsten Falle waren ihnen solche Eröffnungen unnütz gewesen; sie hätten sie als etwas Fremdes aufgefaßt, aber sich nicht angeeignet. Besser war es, sie erkannten dergleichen Wahrheiten selbst, lernten die vorkommenden Fälle des Lebens selbstthätig be­ urtheilen, und die Grundsätze des Evangeliums darauf an­ wenden. Und dieses gelang ihnen durch den selbstständigen Geist der Wahrheit, der in ihnen erwachte, durch das Licht, das in ihrem Geiste aufging; er leitete sie in alle Wahrheit, schloß ihnen die ganze Tiefe und den ganzen Umfang derselben auf, führte sie in der Anwendung dersel­ ben den rechten Weg, und bewahrte sie vor Irrthümern und Mißgriffen. Denn er wird nicht von ihm selbst reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen (23. i3.). Es wird keine menschliche, auS menschlicher Erfindung stammende Belehrung seyn, die er ihnen ertheilen wird, sondern reine, untrügliche, göttliche Offenbarung: und darum wird er sie nicht irre Brbl. Erbauungsb. I. Cc

führen,

son-

4oa dern in alle Wahrheit leiten.

Co «i« Christus nur verküg«

digt hat, waS ihm der Dater geoffenbart, was er vom Da« ter gehört hat (8, 26.): so auch der Geist; beide reden aus Gott. Besonders aber wird der Geist den Jüngern den Blick in die Zukunft öffnen, daß fie die Schicksale des Rei« cheS Gottes, dessen Entwickelungsgang, dessen Kämpfe und Siege ahnend voraussehen und weissagen werden. Wie man in weltlichen Dingen, um glücklich zu wirken, mit dem Blicke der Klugheit die Dinge überschauen und die Erfolge vorhersehcn muß: so auch in den Angelegenheiten des Reiches Gotteö. Die Jünger mußten den Untergang deS Judenthums vorhersehen, wenn fie nicht in der De« kämpfung desselben verzagen, wenn fle sich nicht von dem Wahne einer ewigen Herrschaft desselben irre führen lassen sollten» sie mußten den Sieg des Christenthums über das Heidenthum vorhersehen, um ihren Muth in Kampf und Verfolgung zu stahlen. Derselbige wird mich verherrlichen (ver« klaren); denn von dem $0?einigen wird er es nehmen und euch verkündigen (V. i4.). Er wird, indem er die Lehre Jesu entwickelt und fortbildet, die Vorstellungen der Jünger reinigt und ihnen die rechten An­ wendungen lehrt, ihn verherrlichen, seine Anerkennung als des Wegs zur Wahrheit, als des ewigen Wortes Gottes, befördern und erhöhen. Es wird nur die Lehre Jesu seyn, die er verkündigt und geltend macht. Wie mannichfaltig auch die Erweiterungen, Entwickelungen und Anwendungen seyn mögen, die er bringt; alles wird aus der Wahrheit Christi fließen und dahin zurückführen; die Einheit des Glauben- an Ihn wird bei aller lebendigen Mannichfaltig« keil bestehen. Alles, «aS der Vater hat, das ist mein; die Wahrheit die in ihm ist, dieselbe ist auch in mir; Darum habe ich gesagt: Er wird es von de« Meinen nehmen, und euch verkündigen (V.rS.). Indem der Geist göttliche Offenbarung verkündigt, wieder« holt und entwickelt er nur die von Christo geoffenbarte Wahr-

4o3 heit; beim Er «mb der Vater find ein-, da ist kein Zwiespalt und Widerspruch, es gibt nur Eine Wahrheit. Auch das Lehramt des Geistes geht unter uns fort; immer neue Entwickelungen und Anwendungen der christlichen Wahrheit wirkt er unter uns. So wie jeder Mensch die Offenbarung Christi sich aneignen und in sich verarbeiten muß, damit sie in ihm zur lebendigen Erkenntniß werde und lebendige Früchte träger so auch jedes Zeitalter und jedes Volk. Ein jeder Mensch hat seine eigenen falschen Neigun­ gen und Richtungen, die er der Wahrheit Christi ju unter, .werfen und nach seiner ewigen Regel zu ordnen hat; ein jeder hat seine eigene Art zu sehen und zu fühlen, und nach dieser die ewige Wahrheit zu erkennen und zu fassen; ein jeder steht in besondern Verhältnissen, die er durch den Geist Christi beherrschen und gestalten soll. Ein jedes Zeitalter und Volk hat mit neuen Gestalten des Un- und Aberglaubens zu kämpfen, ein jedes hat die Fortschritte der menschlichen Bildung mit der christlichen Offenbarung in Einklang ju bringen, diese gleichsam in seine Sprache zu übersetzen, und die Grundregeln derselben auf die von der Zeit gebrach­ ten Verhältnisse anzuwenden. Wie daS ewige Wort in Christo Mensch geworden, so wiedergebiert es sich fort und fort im menschlichen Leben durch die schaffende, verjüngende Kraft deS Geistes. Aber jede Entwickelung und Anwcndüng muß im Einklang.mit der Offenbarung Christi stehen; von ihr dürfen wir uns nie entfernen, sie muß unser Leit­ stern auf dem Wege zur Wahrheit seyn. Wer da weiß, wie Grundsätze verschieden entwickelt und Regeln verschieden an­ gewendet werden können, ohne daß man daS Wesentliche verändert und entstellt, wie man im Geiste und in der Ge­ sinnung einS seyn, und doch verschieden denken und leben kann, der wird auch verstehen, wie die fortgehende Beleh­ rung durch den Geist mit der Lehre Christi einstimmig und doch mannichfaltig verschieden und eigenthümlich seyn kann. O laßt uns Gott bitten daß er unS durch seinen Geist eine lebendige und eigenthümliche Erkenntniß seiner Wahrheit gebt, und stets weiter vorwärts auf der Bahn der WahrCc a

4o4 heit und Vollkommenheit führe, neue- Lehen in uns ent. zünde und neue Früchte hervortreibe, aber daß er uns auch in der Einheit der ewigen, unwandelbaren Wahrheit erhalte und immer fester an Christum knüpfe! —

Kap. 16,

16 — 33.

Trost des Wiedersehens Christi. Ueber ein Kleines, so werdet ihr mich nicht mehr sehen, sagt JesuS zu den von bangen Zwei­ feln über feinen Tod bewegten Jüngern (D. 16.), und kün­ digt ihnen nvchmalS seinen baldigen Abschied an; in kurzer Zeit, will er sagen, werde ich der Erde und euern Augen ent­ rissen werden» das Dunkel deS Grabes wird mich aufneh­ men, und dann werde ich in die unsichtbare Welt zum Vater gehen. Aber zum Troste fügte er hinzu r Und abermals über ein Kleines, so werdet ihr mich sehen; denn ich gehe zum Vater (V. i6.). Diese Rede verstanden di« Jünger nicht, wie sie noch heutzutage Diele nicht verstehen, und äußerten untereinander ihr Befremden darüber (V. 17. 18.). Da nun Jesus werkte, daß sie darüber «ine Erklärung fodern wollten (D. 19.), so sprach err Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet (über meinen Tod) «einen und wehklagen, aber die Welt (die Parthei mei­ ner Widersacher) wird sich freuen; ihr werdet traurig seyn, doch eure Traurigkeit soll in Freude verkehrt werden (V. 20.). Der Schmerz über den Verlust Jesu soll sich in Freude verwandeln; die trauernden Jünger sollen nicht nur Trost finden, sondern auch den Tod des Betrauerten als ein Heil und Freude brin­ gendes Ereigniß betrachten lernen. Diesen Durchgang durch den Schmerz zur Freude vergleicht Jesus mit den Geburtswehen des Weibes. Ein Weib wenn sie gebiert, so hat sie Traurigkeit, Angst, Schmerz; denn

4o5 ihre Stunde, die bange Stunde der Entscheidung, ist gekommen: wenn sie aber das jh’nb geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst, um der Freude willen, daß der Mensch geboren ist (D. 2».). Wie wahr ist dieses Gleichniß aufgefaßt. Rach vollbrachter Geburt durchströmt ein wonnevolles Ge. fühl die Gebärerin; vergessen ist allerSchmerz, und mit seli­ ger Freude drückt sie das Kind an ihre Brust. Wie treffend ist aber auch daS Gleichniß, wie passend auf die Lage und Stimmung der Jünger. Und ihr habt auch nun Traurigkeit (D. 2 2.): bange Furcht bewegte die Brust der Jünger, als die Stunde der Entscheidung herannahete; ein schneidender Schwert durchdrang ihr Herj, als sie ihren geliebten Meister der Gewalt feiner Feinde preisgegeben und anS Kreuz geheftet fahrn, als sie sich von ihrer irdischen Liebe zu ihm und von ihren irdischen Hoffnungen mit bluten­ dem Herjen losreißen mußten. Aber ich will euch wieder sehe«, und euer Herz soll sich freuen (V. 2».)r aus der zerbrochenen Gestalt des Geliebten, an welcher der irdische Blick thränend hing, entwickelte sich die geistig«, verklärte Gestalt des unsterblichen Gottessohnes, des verherrlichten Siegers, und brachte den Trauernden, wie eia wiederkehrender Freund, den man für verloren ge« achtet, den Trost der höheren Freude an dem durch feinen Tod gewonnenen Siege über das Böse; wie die Gebärerin unter Angst und Weh ringt und kämpft, bis sich daS neue Leben ihrem Schooße entwindet: so rangen und kämpfte» auch die Jünger, bis sich in ihnen die geistige Geburt deS Glaubens an den durch Leiden und Tod Verherrlichte« ent­ wickelte. Ich will euch wiedersehen: damit ist jenes geistig« Wiederkommen im Geleit des heiligen Geistes gemeint, welches JesuS schon früher (i 4, »9.) verheiße» hat. Wäre stine leibliche Wiederkunft nach der Auferste, hung gemeint, so hätte er nicht hinjusetze» können: Und eure Freud« solt Niemand von euch nehmen (D. 22.)» denn bk Freude der Jünger über den Wiederer­ standene» war immer nur die einer staunenden Uebrrrafchung,

4o6

und von Zweifel getrübt, und in jedem Fall noch nicht dir unwandelbare, welche nicht konnte von ihnen genommen werden. Diese ward ihnen erst als die heilige Begeisterung sie mit Licht und Kraft erfüllte, daß sie den Gekreuzigten als den Heiland der Welt verkündigten. Diese Geburtswehen der geistigen unverlierbaren Freu­ de haben wir nicht zu bestehen in Beziehung auf die Person Christi, welche wir nicht dem Fleische nach gekannt und ge­ liebt haben; mittelst der Apostel ist uns gleich seine geistige, verklärte Gestalt bekannt geworden. Aber wir müssen sie bestehen in jedem Leiden, das uns um seinetwillen aufgelegt wird, in jedem Verlust irdischer Güter, die wir um seinet­ willen hingeben müssen, in jeder Entsagung irdischer Hoff­ nungen, deren Erfüllung uns die göttliche Weisheit ver­ wehrt, oder welche uns die erkannte Pflicht aufzugeben ge­ bietet. Das arme, schwache Herz trauert und ringt mit dem Schmerz; aber der Geist schaffet und kämpfet, und ge­ biert die Freude der siegenden Erhebung über den Schmerz, der freudigen Selbstverleugnung. Anstatt der verlornen Güter und Hoffnungen, welche doch nur sterblich waren, wird uns der unsterbliche Besitz des geistigen Gutes, das wir im Dienste des Herrn gewinnen; aus dem erstorbenen Saatkorn unsers Glückes entsprießt die Frucht der sie­ genden Wahrheit und Gerechtigkeit, das Wachsthum des Reiches Gottes, das Heil unserer Brüder, das ewige Heil unserer unsterblichen Seele. Dieselben Geburtswehen müs­ sen wir bestehen beim Verlust unserer Geliebten. Ach! welch ein schwerer Kampf, bis sich aus dem Schmerze der Trost siegend emporgewunden, bis wir anstatt der ins Grab hinabgesunkenen geliebten irdischen Gestalt die verklärte, un­ sterbliche uns entgegen kommen sehen! Aber auch welche selige, unverlierbare Freude, wenn die schwere Geburt voll­ bracht, und der Todte in u,ns für die Ewigkeit wieder gebo­ ren ist! Ach! ist nicht unser ganzes irdisches Leben ein fort­ gehender, schmerzhafter Geburtskampf, durch den sich das geistige, ewige Leben in uns entwickeln soll? Sollen wir nicht ein Gut nach dem andern, eine Hoffnung nach der an-

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btrn zum Opfer bringen, uns nicht immer mehr und mehr vom Irdischen entkleiden, bis daß wir gelautert und ver­ klärt dastehen, würdig in die Ewigkeit zu treten? — Ach! siche mir bei, Geist, Beistand, Tröster, in einem jeden die­ ser Kampfe! starke das in mir keimende, geistige Leben, daß es siegreich durchbreche und bald zur Welt geboren werde! Ohne deine Hülfe muß ich erliegen, ohne deinen erquicken­ den, belebenden Schöpferhauch ersticken die Krampfe des Schmerzes das schwache, junge Leben: o verlaß mich nicht in der bangen Stunde der Entscheidung. Und ist es dein Wille, o himmlischerVater! so lege mir nicht mehr auf, als ich tragen kann, erleichtere und kürze den schmerzlichen Kampf, und laß mich nicht leiden, ohne daß die Freude des Sieges mich tröste! ■— Und an demselbigen Tage (zu selbiger Zeit) werdet ihr mich nichts fragen (V. 23.). Geistig vereint mit ihrem Meister und im Besitz aller Einsicht, wer­ den sie nicht das Bedürfniß fühlen, sich durch Fragen zu belehren. Das war noch nicht der Fall, als sie ihn nach seiner Auferstehung wiedersahen; da fragten sie ihn (Ap. Gesch. i, 6.), da mußte er ihnen das Verständniß der Schrift öffnen (Luk. a4, 45.): erst als der Geist über sie kam, wurden sie selbstständig. Und nun wiederholt Jesus noch die Verheißung der Gebetserhörung (D. 2 3. vgl. i4,. i3, i5, 7.), und setzt hinzu; Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen (V. 24.). Bis­ her hatten sie noch nicht den Trieb gefühlt, für das Reich Gottes zu wirken, auch nicht die Einsicht gehabt, wie und wodurch es befördert werden müsse, und daher nichts für dasselbe, nichts im Namen Christi, gebeten. Von nun aber sollten sie es thun. Bittet, so werdet ihr em­ pfangen, daß eure Freude (am Erfolg eurer Wirk­ samkeit, am Gedeihen des Reiches Gottes) vollkommen sey (V. 24.). Solches habe ich zu euch gleichnißweisc*) *) Luther, durch Sprüchwort, es ist aber kein Sprüchwort, sondern eine bildliche Rede gewesen.

4o8 geredet (D. a5.); so hatte er sek» Wiedersehen (D. >6.) angedeutet/ so den Trost/ den die Jünger für ihre Trauer gewinnen würben (93. a 1.). Deutlicher konnte er jetzt noch nicht ju ihnen reden/ weil sie noch an sinnlichen Vorstellun­ gen und Hoffnungen festhielten. Es kommt aber die Zeit, wo ich nicht mehr gleichnißweise miteuch reden werde, sondern euch frei heraus ver­ kündigen von meinem Vater (V. a5.). Wenn er ihnen geistig erscheinen wird, dann werden alle Räthsel ge­ löst seyn, und die Stimme der Wahrheit in ihrer Brust, die Stimme des heil. Geistes, vereint mit der Stimme Christi, wird ihnen frei und deutlich alles verkündigen, was Gottes Wille ist. Für die Schwachen, die erst noch ju Christo geführt werden sollen, kann die Belehrung in der göttlichen Wahr­ heit immer nur mehr oder weniger bildlich, andeutend, er­ weckend seyn. Wo die innere Srlbstthätigkeit, die innere Ge­ meinschaft mit Christo noch fehlt, da fehlt die Fähigkeit, die heilige Wahrheit unmittelbar zu fassen; denn diese läßt sich äusserlich in Worten oder Lehrsätzen nicht darstellen, aller Ausdruck ist nur annähernd und andeutend. Dieß ist selbst noch der Fall in unserer großen Kirchengemcinschaft, welche ja großentheils nur aus solchen besteht, welche erst jur in­ nern Gemeinschaft mit Christo geführt werden sollen. Da muß sich die Mittheilung auf erweckliche Bilder, Andeutun­ gen, Ermahnungen beschränken, und man muß dabei Derjicht leisten auf eine vollkommene Darstellung der christlichen Wahrheit, in welcher Inhalt und Ausdruck in vollständigem Ebenmaß zu einander steht (wenn eine solche nicht überall unmöglich ist). Ueberhaupt bleiben Alle mehr oder weni­ ger in der Erkenntniß der göttlichen Wahrheit an Bilder und Gleichnisse gebunden, und unser Wissen bleibt Stückwerk, bis das Vollkommene in der Ewigkeit kommt (1 Kor. i3,

9- Jo.). Nur der ahnende Geist nähert sich in unaussprech­ lichen Gefühlen dem Unendlichen; was sich ihm in den Au­ genblicken der Erhebung offenbart, kann er kaum sich selbst auSsprechen, geschweige Andern; das. innere Wort, die

Vorstellung, der Begriff, find unfähig es ju fassen, wie viel mehr daS äussere Wort, welches das Ohr des Uneingeweiheten vernimmt. Aber die höchste Erleuchtung und Beruhigung empfangen wir nur in solchen Augenblicken, wo Christus unS frei verkündigt von feinem Vater. In solchen Augenblicken gelingt auch nur bas wahre Gebet, in welchem wir in Christi Namen Gutes, wahr­ haft Gutes, vom Vater erflehen. An dem selb,'gen Tage werdet ihr bitten in meinen Namen (V. 26.). Und diese Bitten werden gewiß erhört, wir dürfen der Erhörung gewiß seyn im Vertrauen auf die Daterliebe Gottes, deren wir uns in solchen Augenblicken der Weihe bewußt werden. Und ich sage euch nicht, daß ich den Vater für euch bitten will; denn er selbst der Vater hat euch lieb, darum daß ihr mich liebet, und glaubet, daß ich von Gott ausge­ gangen bin. Ich bin vom Vater ausgegangen, und gekommen in die Welt: wiederum verlasse ich die Welt, undgehe zum Vater(D. 26 — 28.). Vorher (i4, i3.) hat er ihnen die Gebetserhörung von sich aus verheißen, als dem Mittler zwischen Gott und Menschen, aber er will uns dahin führen, daß wir unmittelbar mit dem Vater in Gemeinschaft stehen und zu ihm mit Vertrauen be­ ten, denn er ist ja mit dem Vater eins, und das Ziel seines ErlösungS«Geschäfts ist, daß Gott sey Alles in Allen (1 Kor. iS, 28.). Diese Höhe der Vollendung verheißt er nun seinen Jüngern auf die Zeit, wo fle, über den Ver­ lust seiner irdischen Persönlichkeit erhaben, sich geistig mit ihm werben vereinigt und ihn alS den Gesandten und Sohn Gottes erkannt haben, wo er mit dem Vater und dem Geist in ihre Seelen wird eingekehrt seyn (i4, 2 3.). — Es gibt Christen, denen Christus Alles in Allem ist, die nur zu ihm beten, alles ihr Gottesvertrauen auf ihn stützen, und den Vater fast vergessen zu haben scheinen. Ihnen möge das zur Lehre dienen, daß die höchste Vollendung des Christen die unmittelbare Vereinigung mit dem Vater ist, und baß der vollkommen Erlöste und Versöhnte unmittelbar zum Vater

4io betet: nicht als ob tr Christum undankbar vergessen und sich von ihm losgerissen hatte, sondern weil er in die vollkom« mene Einheit des SohneS mit dem Vater ei«, gedrungen, und alles Vermittelnde zwischen ihm und dem Vater geschwunden und von der reinen Unmittelbarkeit ver. schlangen ist. Die Jünger meinen nun Christum schon besser verstan­ den zu haben, und seine Rede scheint ihnen frei von Gleich. Nissen ju seyn: Siehe, nun redest du frei heraus, und sagest kein Gleichniß (D. 29.). Es scheint, daß ihnen die letzte Rede von seinem Hingehen jum Vater klarer, als die früheren ähnlichen, geworden ist. Aber sie sind vor. schnell in dieser Meinung. DaS Reden ohne Gleichniß hatt« ihnen Jesus offenbar erst für die Zukunft verheißen, für die Zeit ihrer Begeisterung, und sie meinen, er beginne damit schon jetzt; sie wußten nicht, was sie sagten. Ja, vielleicht hatten sie gerade die Rede, die sie so gut verstanden zu ha. den meinten, mißverstanden, und sein Hingehen zum Vater so gefaßt, als gehr er nur hin, um bald wieder zu kommen und das von ihnen erwartete Reich zu stiften (vgl. Ap.Gefch. 1, 6.). In diesem Falle sind viele Christen. Vorschnell, ihrer Fassungskraft zu viel zutrauend, meinen sie die Rede Jesu und der Apostel verstanden zu haben, und fassen sie doch nur in einem fleischlichen Sinne. Ja, viele unserer Gottesgclehrten sind in diesem Falle. Sie reihen Buchst«, den an Buchstaben, Bild an Bild, und erbauen so einen christlichen Lehrbegriff, den sie als den allgemeingültigen aufstellen, und alle verdammen, welche ihn nicht annehmen wollen, sondern ein höheres Verständniß suchen. Die Jün« ger meinen auch schon an die göttliche Sendung und Abkunft Jesu zu glauben, obgleich er ihnen die Vollendung ihres Glaubens erst für die Zeit der Mittheilung des Geistes ver« heißen hatte (D. 27.). Aber worauf gründen sie diesen ihren so vorschnell bekannten, so anmaßlich gerühmten Glauben? Auf den Beweis eines höheren Wissens, den Jesus gegeben hatte, als er merkte, daß sie ihn fragen wollten (D. 19.). R u n wissen wir, daß du alle Dinge weißt, und 6t«

darfst nicht, daß dich Jemand frage. Darum glanden wir, daß du von Gott ausgegangen bist (SB. So.). Also sie stehen noch auf demselben nieder» Standpunkte, auf welchen früher Nathanael stand 5g. ff.) Ihr Glaube ist noch immer Wunderglaube, Gefühl des Staunens und der Bewunderung, nicht die reine leben» dige Erkenntniß, daß er und der Vater eins ist» daß in ihm die göttliche Wahrheit, alle Schätze der Weisheit und alle Fülle der Gnade, ist. Wohl erkannten Manche, wie Pe» trug, baß er Worte des Lebens habe (6, 68.), aber die Mehrzahl war noch nicht ganz zum wahren Glauben durchgedrungtn. So ist auch der Glaube derer, welche die Lehre Jesu buchstäblich fassen, und da keine Gleichnisse finden» wo sie doch offenbar noch verbanden sind, nur Wunderglaube, und die Gottesgelehrten der Art haben es auch kein Hehl, daß sie ihr Lehrgebäude auf dem Beweis auS den Wundern und Weissagungen Christi stützen. Wie richtig wußte Jesus einen solchen Glauben ju schätzen! Er sah daS schwache Gr« rüst, auf welchtm das lose Gebäude desselben rührte, und daß es jeder Windstoß der Prüfung und Verfolgung über den Haufen werfen würde. Jesus antwortete ihnen: Jetjtglaubet ihr? (SB. 3..). Jetzt meint ihr und rühmt euch zu glauben? Habt ihr auch erwogen, was ihr damit bekennt und versprechet? Welch einen schwachen Grund hat euer vermeintlicher Glau» be! '). Siehe es kommt die Stunde und ist schon gekommen, daß ihr zerstreuet «erdetein jeglicher an seinen Ort, und mich allein las­ set» aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir (SB. Za.). Diese Stunde trat ein in Gethse» niane, wo die Jünger auf ihre Rettung bedacht, flohen, und Christum verließen (Matth. a6, 56.), was sie nicht gethan hätten, wenn sie recht an ihn geglaubt hatten. Nur Petrus ♦) Auch ohne Frage gelesen: Jetzt glaubet ihr, enthält die Rede den Zweifel an der Wahrheit lhrcs Glaubens: „Jetzt freilich glau­ bet ihr, aber es ist kein standhafter, sestbegründeter Glaube."

nnb Johannes folgten ihm zum Hohenpriester, aber jener verläugnete ihn und handelte noch schlimmer als die übrigen. Aber fich selber tröstend, setzt JesuS hinzu, er werde nicht allein seyn, sondern des Beistandes vom Vater genießen. Er selber wollte, daß seine Jünger nicht mit gefangen geuomwürden (»8,8.); sie waren dieser Prüfung noch nicht ge­ wachsen, und es lag auch nicht im Plane GotteS, baßste schon jetzt mit ihm leiden sollten. Er tadelt nur ihre Schwäche und Selbstsucht, durch welche es so kommen mußte, daß sie ihn verlassend sich retteten. — Jesus hat uns in dieser Ant­ wort das Merkmal des wahren Glaubens gegeben, es ist die von Selbstsucht freie Liebt zu ihm. Wer einen nur sinnlichen, buchstäblichen Glauben an ihn hat, ist unfähig, mit ihm zu leiden oder für die Brüder sich aufzuopfern (denn was wir den Brüdern thun, das thun wir ihm (Matth. a5, 4o.); die Selbstsucht macht, daß er in der Zeit der Prüfung daS Seine sucht, auf seine Rettung bedacht ist, und Christum, dessen Sache, und daS Wohl der Brüder verlässet. So er­ scheint also auch hier wieder die Liebe als erhaben über den Glauben, als Grundlage und Kern desselben. Strafend kann JesuS die Abschieds-Rede an seine Jünger nicht schließen; dieser Mißton soll nicht verhallen, sondern sich in den Einklang auflösen, damit die Geliebten einen reinen Eindruck mit hinweg nehmen, und der Friede und Trost in ihren schwachen, geängstigtcn Seelen vorherr­ sche. Daher weist er sie auf die Ermunterungen und Ver­ heißungen zurück, die er ihnen gegeben hat. Solches habe ich mit euch geredet, daß ihr in mir Frie­ den habet. In der Welt habt ihr Angst» aber seyd getrost, ich habe die Welt überwunden (D. 33.). In ihm, im Glauben an ihn, im Vertrauen auf die siegende GotteSkraft in ihm, sollen sie Frieden haden, ruhig und getrost seyn» die Sache der Wahrheit, deS Reiches Gottes, wird siegen trotz aller Bedrängnisse, welche ihnen die Welt bereiten wird; er hat die Welt und ihren Widerstand überwunden, schon jetzt hat er sie überwunden in fich selbst und seinem ewigen Geiste, obgleich äußerlich

4i3

dieser Sieg erst in seinem Tobe vollendet werden maßte. Schon jetzt sah er den Satan ju seinen Füßen und die Macht deS Düsen gebrochen, obschon er eben seinem scheinbaren Untergange entgegen ging, und seinen Feinden bald unter, liegen sollte. So sollte eS auch den Jüngern späterhin noch ergehen, daß eS ihnen schiene, alS würden sie und die Kirche erliegen im Kampfe mit der Welt: dann sollten sie in Christo, im Vertrauen auf den von ihm errungenen ewigen Sieg des Guten, Frieden haben und getrost seyn. So sol« len auch wir jeden Sieg, den das Böse über das Gute feiert, nur alS scheinbar und vorübergehend ansehen, und fest an den ewigen Sieg des Reiches GotteS glauben. Go wie Jesus im ewigen Geiste lebte und wirkte, so sollen auch wir unS über die Zeit, und deren Wechsel erheben, und im Ewigen Festigkeit und Trost suchen. Aber diese Betrach, hing der Dinge vom ewigen Standpunkt aus soll uns nur ruhig, nicht gleichgültig und trüg machen, so daß wir Alles gehen lassen, wie eS gehet, in der Hoffnung, daß es besser werden wird. Nein! in der Welt sollen wir ringen und kämpfen, wie Christus kämpfte und feinen Feinden muthig entgegen ging, und nur in Christo, im Glauben, ruhig und getrost seyn. Beides soll und kann mit einander verbunden seyn, äußerer Kampf und innerer Friede. — Wie groß, wie bewundernswürdig aber ist die zuversichtliche Ruhe, mit welcher Jesus sagt: Ich habe die Welt überwun. den! Cr hatte nicht nur den Muth, mit ihr in den Kampf zugehen, nicht nur die Hoffnung des Sieges, sondern die vollkommene Gewißheit desselben, welche nur durch seine vollkommene Einheit mit dem Vater möglich war. Hätte er sich nirgends als den Sohn Gottes bekannt, so bewiese diese Rede, daß er es war. O laßt uns nach derselben Z«. verficht streben, und ihm im Kampf und Leiden nachfolgend, eben so des Sieges stets gewiß seyn! Laßt uns aber auch, um dahin zu gelangen, uns immer mehr zu Gott erheben, unser Herz von aller irdischen Liebe und Furcht reinigen und der Sache Gottes weihen. Wer nur Gott und das Gött­ liche liebt, der kann getrost mit der Welt kämpfen; er hat

fie schon durch die reine Liebe, die er in sich trägt, fiBeiemn« den. Denn wo die Welt mit ihren Reihen und Schrecknis, ft# nichts ausrichtet, da ist fie schon überwunden; der Käm» pfer GotteS steht erhaben über fie, unerreichbar ihren Pfeklcn, und mitten im Streite feiert er schon seinen Sieg. Kap. 17. Christi Gebet für sich, seine Jünger und alle Gläubigen. Solches redete Jesus, und hub feine Au. gen auf gen Himwel, und sprach (D. 1.). Die Unterredung mit seinen Jüngern, worin er ihnen sein ganzeHerz aufgethan, seine ganze Liebe gezeigt und die innigsten Gefühle mit ihnen getauscht hat, schließt er mit einem Gebet zu Gott, mit der höchsten und heiligsten Erhebung des Ge« müthS. Er hat mit ihnen gleichsam den Bund der Gemeinschaft für die Ewigkeit geschlossen, und brückt nun darauf daS Siegel heiliger Weihe. Nachdem er, der Mittler zwischeu Gott und Menschen, die Geliebten, die ihm Gott ge» geben, durch Trost, Ermahnung und Verheißung empor zu Gott gewiesen, und ihnen den Weg gezeigt hat, auf welchem er selbst zum Vater geht, enthüllt er in diesem Gebet, zur Befestigung ihres Glaubens, seine ganze Einheit mit Gott; auf den Fittigen der Andacht erhebt er sich vorauseilend znm Vater, legt Rechenschaft vor ihm ab, und empfiehlt, die er verlassen soll, seinem heiligen, väterlichen Schutze. DaS himmlische Feuer der Liebe, deS Glaubens, der Hoffnung, daS er auS feinem Herzen in den Kreis bet Jünger auSgeströmt hat, bricht jetzt im letzten, heiligsten Augenblick in die Opferflamme deS Gebets auS, und erhebt fich lodernd gen Himmel. ES ist daS erhabenste Gebet, welches je gesprachen ist, und welchem kein anderes nachfliegen kann. Nur der Gottmensch, der mit dem Vater einS war, konnte

4i5 f$ htttn. Wohl uns, wenn wir es nur verstehen, ja u«r ahnend, mitfühlend ihm folgen können! Dater, die Stunde ist hier, daß du deinen Sohn verklärest, auf daß dich deinSohn auch verkläre, wie du ihm denn Macht gegeben über alles Fleisch, auf daß er daS ewige Le­ ben gebe allen, die du ihm gegeben hast. DaS ist aber das ewige Leben, daß sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen (93. 1—3.). Die Stunde ist da, welche Jesum zum Leiden, zur Gefangennehmung führt: für ihn, der das Siegsgefühl in sich trägt, die Stunde der Verherrlichung seiner und des Vaters (vgl. la, 98. iZ, Zi. Za.). Mit Ergebung in den göttlichen Willen, mit freudigem Muth und Siegesjubel geht er der Stunde der Entscheidung entgegen; denn er verherrlicht da­ durch Gott, und erlangt die Macht, allen, welche ihm Gott gegeben, welche durch göttlichen Trieb ju ihm hingezogen sind (vgl. 6, 3y. 44.), das ewige Leben ju verleihen, welchrs in der Erkenntniß deS allein wahren Gottes und dessen, der ju ihm führt, besteht. Dir Liebe zum Dater, dessen Namen er verherrlicht, und zu den Brüdern, die er selig macht, gibt ihm diesen freudigen Muth; und welches Herz, das von dieser Doppelliebe erfüllt ist, wäre nicht willig, Alles zu leiden? Nur wer sich selbst mehr, als Gott und die Brüder, liebt, entzieht sich den Opfern, welche die Pflicht auferlegt. Ich habe dich verkläret auf Erden, und vollendet das Werk, das du mir gegeben hast, daß ich eS thunsollte. Undnun verkläre mich, du Vater» bei dir selbst, mit der Klarheit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war (V. 4. 5.). Christus hat Gottes Namen auf Erde« verherrlicht, den Menschen seinen heiligen Willen kund gethan, und sie zu ihm und seinem Dienst zurückge­ führt: er hat das ihm aufgetragene Werk der Offenbarung und Erlösung vollendet: und so hat er sich selbst bewährt als das ewige Wort, das von Anfang bei Gott selbst war,

4i6 und vom Himmel herabstieg, und Mensch ward, um Gott zu offenbaren. Nach vollendetem Werk geht er nun dahin zurück, woher er gekommen, und nimmt die Stelle wieder eia, die er von Ewigkeit bei Gott behauptet hat. Um diese Wiedererhöhung bittet er den Vater jetzt, indem er die Welt verlaßt; er soll ihm die Herrlichkeit wieder verleihen, die er von Anfang an gehabt: nicht aus Ehr, oder Lohnsucht, sondern auS kindlichem Eifer für Gottes Ehre thut er diese Bitte. Das ewige Wort, welches Gott selbst ist, braucht nichts von Gott zu erbitten, und haschet nicht nach gött­ licher Ehre, welche ihm als Eigenthum angehört. Jesus, der Mensch, thut diese Bitte, aber nicht für sich selbst — das wäre ehrsüchtig — sondern für den Gott in ihm bittet er um die Ehre, die diesem gebührt; er bittet für die gött­ liche Wahrheit, die er verkündigt, für das Reich GotteS, das er auf Erden gestiftet hat, um Verherrlichung und göttliche Anerkennung. Dadurch wurde sein Werk erst recht vollendet, daß er als daS menschgewordene Wort, das zur rechten Hand Gottes thront, anerkannt und angebetet wurde, daß seine menschliche Persönlichkeit, indem sie der Erde entschwand, in die göttliche Herrlichkeit des ewigen Wortes siegend und verklärt einging. — Es ist ein tiefeS, nicht genug zu ergründendes, leicht aber mißverstandenes Geheimniß in dem Verhältniß der Menschheit und Gottheit in Christo. Beide vereinigten sich in ihm auf unauflösliche Weise, auf daß dadurch die Menschen mit Gott vereinigt und versöhnt würden; so lange er aber noch auf Erden wan­ delt« , wurde die Gottheit in ihm noch nicht so anerkannt, und trat noch nicht so deutlich hervor, wie eS zum Heil der Menschen nothwendig war; sie fand sich in ihm gleichsam erniedrigt oder verhüllt: und darum sahen die Ungläubigen in ihm nur den Menschen, und auch die Gläubigen hatten noch einen mit fleischlichen Vorstellungen und Gesinnungen verunreinigten Glauben an ihn. Erst als er sein Werk auf Erden vollendet und den Willen Gottes vollkommen geoffenhart hatte, und seine menschliche Erscheinung brr Erde ent­ rückt wurde: erst da trat das Göttliche in ihm für die Glau-

tigto klar, in himmlischem Glanje, hervor, da erschien ihre« gen Himmel gerichteten Blicke der Gottessohn, wie er in göttlicher Verklärung jur rechten Hand Gottes thronte, da erkannten sie im Gesandten Gottes Gott selbst, im Lehrer deS Worte- Gottes baS ewige Wort selbst: und erst da war das Offenbarungs- und ErlösUngSwerk ganj vollendet, die Menschheit von den Fesseln der Erde entbunden und mit Gott versöhnt. Und daS ist es, was hier Christus von Gott er« bittet. Wenn nun schon in dieser Bitte di« liebevolle Sorge für die Gläubigen lag, denen er die Vollendung deS Glau« benS und der Erlösung wünscht: so wendet sich jetzt die Rich­ tung des GebetS ganz nach ihnen hin. Ich habe deinen Namen -eoffenbaret den Menschen, die du mir von der Welt ausge­ wählt und gegeben hast. Sie waren dein und du hast sie mir gegeben und sie haben dein Wort behalten (D. 6.). Gott hatte die für das Gött­ liche empfänglichen, ihm jugthirigen Jünger, die schon die Seinen waren, durch Anlage und Fähigkeit, Christo juge« führt, damit er fit ganz in die Gemeinschaft Gottes führen sollte; und er hatte sie belehrt, und sie hatten sein und Got­ tes Wort gläubig aufgenommen und bewahrt. Welche Liebe spricht sich in diesem Zeugniß aus, das er von den Jüngern ablegt! S» even hatte er ihnen noch die Schwäche ihres Glaubens vorgeworfen (16, 3i. 3a.): hier aber läßt er daS Unvollkommene für vollkommen gelten, und nimmt die Anlage und Richtung jum Glauben für den Glau­ ben selbst. Nun wissen sie, daß alles, was du mir gegeben (geoffenbart) hast, von dir (göttliche Wahrheit) sey. Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie aufgenommen, und wahrhaftig er­ kannt, daß ich von dir ausgegangen bin, und glauben, daß du mich gesandt hast (V. 7. 8.). Weil sie nun glauben und in die Gemeinschaft mit ihm und Gott getreten sind, so bittet er, daß sie Gott im Glauben er­ halten möge. Ich bitte für sie, und nicht für die Bibl. Erbauungsb. I. Dd

4i8 Wrlt, sondern für die, die du mir gegeben hast; denn sie sind dein. Und alles» was mein ist, das ist dein, und was dein ist, da- ist mein: und ich bin in ihnen verklagt (D. 9. 10,). Er bittet nicht für die Welt, b. i. für die Ungläubigen, weil er für diese nicht um Erhaltung in der göttlichen Gemeinschaft bitten konnte, in der sie noch gar nicht standen; nicht aber weil ihm ihr Heil nicht am Herjen gelegen hatte. Daß in seiner libevollen, göttlichen Seele kein Haß noch Kalte ge­ gen sie war, zeigt das Folgende, wo er die Belehrung der­ selben zum Glauben als die Folge der Einheit der Gläubi­ ger hoffet und erbittet (SS. 21.) Indem er für die Gläu­ big«» bittet, bittet er auch für die Welt, weil diese nur durch jene zum Glauben konnte geführt werden. Aber natürlich war sein Herz vornehmlich von liebevoller Sorge für jene erfüllt, welche ihm Gott schon jetzt gegeben hatte, weil sie sein (Gottes) waren, und Trieb und Empfänglichkeit für das Göttliche hatten, welche daher auch sein (Christi) wa­ ren , und sich ihm ergeben hatten; die ihn anerkannten, und bereit waren, ihren Glauben der Welt zu verkündigen, und ihn mithin verklärten und verherrlichten. Sie waren die ersten, welche er für das Reich Gottes gewonnen hatte, und auf sie bauctc er die Grundlage seiner Gemeinde: es war also nicht persönliche, unlautere Borlitk», für sic, waS ihm birst Bitte eingab, sondern die Sorge für sein Werk, und die Vollendung desselben. Und ich bin nicht mehr in der Welt; sie aber sind in der Welt undich komme zu dir (V. 11.). Er ließ die Seinen, deren Glaube noch wankend war, in der Welt zurück, indem er zum Vater ging; er ließ sie allen Gefahren, allen Reizen der Verführung preisgegeben. Sie, die er bisher geleitet und geschützt, sollten nun allein ihren Weg gehen und den Kampf mit der Welt allein bestehen; sie waren Waisen, welche die väterliche Leitung schmerzlich vermißten: daher empfiehlt er sie seinem und ihrem Vater im Himmel. Hei­ liger Vater,

erhalte

sie in deinem Namen,

den *) b» mir gegeben hast, baß sie eins seyen, gleich wie wir (D.u.). Cr nennt bett Vater heilig, als ben Urquell ber Wahrheit und Liebe, indem er ihn btt« tet, die Jünger auf dem Wege der Wahrheit zu erhalten r Gott soll sie im Bekenntniß seines Namens, des Glaubens an den allein wahren Gott, erhalten, dessen Offenbarung ihm brr Vater gegeben **), und er den Jüngern mitgetheilt hat, damit sie eins seyen, eins mit Christo und Gott, in inniger Gemeinschaft mit beiden verharren, welche Gemein­ schaft nur in ber Treue des Glaubens und des Bekennt­ nisses bestehen kann. Nun da sie Jesus verlaßt, kann sie nur Gott durch seinen Geist in der Einheit mit sich und Chri­ sto erhalten. Die weil ich bei ihnen war, erhielt ich sie in deinem Namen: die du mir gegeben hast, die habe ich bewahret, und istkeinervon ihnen verloren, ohne den Sohn des Berber« bens***), auf daß die Schrift erfüllet würde 08. i a.). Jesus hat sein Schutzamt treu und mit Glück verwaltet; keiner der Jünger ist abtrünnig geworden, außer dem Derräther Judas, dessen Fall durch höhere, in der Schrift (Pf. 4i, 10. vgl. Kap. iZ, ig ) angedeutete Fü­ gung nothwendig war. 0 welcher ander« Seekrnhirt kann solches von sich rühmen, daß er fcmen von denen verloren habe, die ihm anvertraue worden, außer den Unheilbaren, deren Untergang unvermeidlich schien? Solches konnte nur ber gute Hirt von sich jeugrn, der fein Leben ließ für die Schafe! Run aber komme ich ju dir, und rede solches in der Welt, auf baß sie in sich meine Freude vollkommen haben (23. i3.). Da er sie nun verlassen muß, indem er zum Vater gehet, so bittet er. *> Luther nach der gew. aber unrichtigen Lesart: die (nimlich die Jünger. ♦♦) Gott hat Christo seinen Namen gegeben heißt:

er hat sich,

sein Wesen, ihm geoffenbart, er hat ihm die Worte gegeben, di- er ge* redet. (». 8.) Luther: daö verlorne Kind.

Dd 2

430

noch im letzten ruhigen Augenblick, den er in der Welt zu» bringt, für sie um Gottes väterliche Obhut, damit sie, tret» dem Glauben an ihn und dem Werke, das er ihnen auf-e» tragen, mit Kraft und Vertrauen wirkend, sich des Wachs« thums des göttlichen Reiches und des Sieges der Wahrheit freuen, daß sie die selige Freude an Christo in sich haben mögen, welche die Frucht der innigen Gemeinschaft mit ihm ist (vgl. i5, iJa, bas ist die höchste Freude, welche er ihnen wünschen kann, die Freude an ihm und seinem Werke, eine Freude, welche durch kein irdisches Leid getrübt wird. Das ist die Freude, die auch wir, wenn wir die Welt verlassen, unseren Lieben wünschen sollten; denn dadurch bleiben die Scheidenden und die Zurückbleibenden mit ein« ander innig verbunden; diese Freude verknüpfet Himmel und Erde. Aber eS drohet den Verlassenen Feindschaft und Der» folgung von der Welt. Ich habe ihnen dein Wort gegeben, und die Welt hasset sie; sie hasset sie eben darum, weil sie mein Wort angenommen haben; denn sie find nicht von der Welt, wie denn auchich nicht von der Welt bin; denn die Welt hasset diejeaigen, so nicht ihrer Art und Sinnes sind (D. i4. vgl. i5,18 f.). Das ist di« Sorge, welche sein liebendes Herz bewegt, daß die Geliebten durch b«n Haß und die Verfol­ gung der Welt nicht nur bedränget, sondern auch in ihrer Treue wankend gemacht werden mögen. Aber er will sie nicht der Prüfung überhoben wissen, wie es wohl eine weich­ liche, fleischliche Liebe wünschen könnte. I ch b i t t e n i ch t, daß du sie von der Welt nehmest, sonderndaß du sie bewahrest vor dem Bösen (93. i5.). Hätte sie Gott den Bedrängnissen, die sie erwarteten, dadurch ent­ nommen, daß er sie von der Welt rief, ehe sie ihren Lauf vollendet hatten: so wären sie freilich rein geblieben, aber nicht durch Kampf und Prüfung erprobt worden, und sie hätten nicht für die Sache Christi wirken und als Muster der Treue ihren Brüdern vorleuchten können. Darum also bittet Christus nicht, sondern nur darum, daß ihnen Gott

421 in der Prüfung beistehen, und sie vor Befleckung behüten möge. Wie durch den Tod hatte sie Gott auch dadurch der Prüfung entziehen können, daß er sie vor der Gelegenheit derselben, vor der Berührung mit der Welt, behütet hatte» aber auch so waren sie nicht durch Kampf und Leiden vollen, dct worden, und für das Evangelium nicht thätig gewesen. Diesen falschen Weg, sich rein zu bewahren, schlugen die Einsiedler und Mönche ein; sie flohen vor der Prüfung in die Einsamkeit, wo sie sich nur mit sich selbst beschäftigten, nur sich selber lebten, und eine matte, unwirksame, lieblose Tugend übten. So wünscht auch bei uns noch oft die weichliche Liebe der Eltern ihren Kindern ein ruhiges, ge. sahrloses Leben, damit sie unbefleckt bleiben sollen. Aber die ungeprüfte Unschuld ist nicht das Ziel der christlichen Vollendung. Zwar sollen wir jede Versuchung meiden, zu welcher uns der Vorwitz der Lust führen kann; wir sollen keinem Reize folgen, der uns wohlthut, in der titeln, selbst, gefälligen Zuversicht, baß wir, sobald cs zur Sünde selbst kommen könnte, umkehren werden; denn schon dieses dem Reize nachgeben ist Sünde und führt leicht zur Sünde. Aber wenn uns die Pflicht, der Eifer für ein gutes Werk, in Versuchung führt, so sollen wir muthig folgen, und nur Gott bitten, daß er uns mit seiner beistchen möge. — Sic sind nicht von t Welt, gleichwie auch ich nicht so« ver Welt 6in (25. 16.). Sie sind des göttlichen Schutzes eben so bedürftig als würdig, weil sie im Kampf und Gegensatz mit der gottlosen Welt stehen (vgl. V. i4.): und so empfiehlt sie Jesus nochmals diesem Schutze. Heiligt sie in deiner Wahrheit; dein Wort ist die Wahrheit (V. 17.). Gott soll sie in der Erkenntniß der Wahrheit, seines durch Christum ver­ kündigten Wortes, bewahren (V. 11.) und dadurch heiligen und geschickt machen zu dem ihnen anvertrauten Apostelamt. Gleichwie du mich gesandt in die Welt, so sende ich sie auch in die Welt (V. 18.). Nach Jesu Hin­ gang sollen sie das Evangelium verkündigen und das Reich Gottes pflanzen; dazu bedurften sie aber der reinen Er-

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kenntniß der Wahrheit und eines heiligen Sinnes. Ich heilige mich selbst für sie, auf daß sie auch ge­ heiligt seyn in der Wahrheit (V. 19.). Jesus weihcte sich dem Tode, brachte sich als ein heiliges, reines Opfer der Wahrheit dar, und besiegelte sie, die er verkündigt hatte, mit seinem Bluter solches that er zum Besten seiner Jünger, weil ihnen dadurch der Geist der Wahrheit mitge­ theilt, daß Verständniß des Reiches Gottes geöffnet, und ihre Gesinnung und Ansicht gereinigt wurde (16, 7.); ec heiligte sie selbst, indem er den heiligen Willen Gottes durch vollkommenen Gehorsam vollzog, er befestigte sie in der Wahrheit, indem er für die Wahrheit starb. Für die Er­ füllung der Bitte, die er zu Gott für die Jünger thut, daß er sie in der Wahrheit heilige, thut er selbst an seinem Theile, was ihm obliegt, er geht für sie in den Tod. Wirken und Gebet ist bei ihm eins; dieses ist kein müssiges und thatloses Wünschen und Sehnen, es ist nur auf die Vollendung dessen, was er wirket, gerichtet. So sollten auch wir beten. Alles was in unsern Kräften steht, sollten wir thun für das, was uns am Herzen liegt; unser Blut sollten wir dafür hinge­ ben: dann erst wird unser Gebet ernstlich und Gott wohl­ gefällig seyn und von ihm erhört werden. Ich bitte abt« nicht allein für sie, son­ dern auch für die, so bun$> ,ßr Wort an mich glauben werden (V. 20.). Jesu großes, ti-d-reiches Herz umfaßte nicht bloß seine Jünger, die ihm am nächsten standen, zuerst an ihn glaubten und ihn liebten; cs [umfaßt die Gläubigen aller Zeiten und aller Völker, für alle schlagt es mit der Warme reiner, heiliger Liebe, und ist von der Sorge für ihr Heil bewegt. Er betet für alle, die früher oder spater durch die Apostel und ihre Nachfolger zum Glau­ ben werden bekehrt werden; er hat auch für mich gebetet, auch mein Heil hat er dem Vater empfohlen. Er bittet für Alle um Heiligung, Befestigung und Vollendung in der Wahrheit: Auf daß sie alle eins seyen, gleich wie du Vater in mir und ich in dir, daß auch sie in uns eins seyen (V. 21.). Das Ziel, dem

Christus die Seinen entgegen führte, zu welchem wir all« gelangen sollen, ist Einheit, innige Gemeinschaft mit ihm und durch ihn mit dem Vater. Wie er mit dem Vater eins ist, wie der Vater ihn liebet und ihm seinen Willen offen­ bart, und er den Vater liebet und seinen Willen kennt und thut, so sollen wir in ihm, dem Sohne und Ebenbild Gottes, den Vater erkennen, an ihn glauben, ihn lieben und durch kindliches Vertrauen und Liebe mit dem Vater verbunden werden als seine treuen, geliebten Kinder. Christus steht mitten inne zwischen Gott und Menschen; er reicht uns die Hand, um uns zu Gott zu führen, und wir sollen uns an ihn schließen und durch ihn dem Vater nahen: auf daß der gött­ liche Geist und die göttliche Liebe vom Vater aus durch den Sohn sich in die Menschheit ergieße und Alles eins sey (vgl. i5, 9.). Indem aber Jesus für seine Gläubigen bittet; schließt er auch die Ungläubigen mit in sein Gebet ein: auf daß die Welt glaube, du habest mich gesandt (V. 21.); denn wenn die Gläubigen sich mehren und im Glauben wachsen, so werden sie auch den Unglauben der Welt überwinden, und diese von der göttlichen Sendung Jesu überzeugen. Bisher hat Jesus für die Jünger und alle Gläubigen um Gottes Obhut gebeten, daß fte in der Wahrheit er­ halte und heilige. 9?»« bittet er auch, daß ste das Ziel der Bestimmung erreichen sollen, dem er sie entgegenführt, daß die Treuen, Bewährten den Lohn ihrer Treue und Stand­ haftigkeit empfangen. Und ich habe ihnen dieHerrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast daß sie mit uns eins seyen, gleichwie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, auf daß sie voll­ kommen eins seyen, und die Welt erkenne, daß du mich gesandt hast, und liebest sie, gleich wie du mich liebest (V. 22. 2 3.). Christus will die Seinen an der ihm vom Vater verliehenen Herrlichkeit Theil nehmen lassen: das ist das Ziel, zu welchem er ihnen durch sein Leiden die Bahn eröffnet. Diese Herrlichkeit ist die Ein­ heit mit dem Vater, die Theilnahme an seiner siegreichen

4a4 Herrschaft und die damit verbundene Seligkeit. Christus empfangt die ihm gebührende göttliche Herrlichkeit, indem er als das ewige Wort Gottes in feiner Einheit mit Gott anerkannt ist und die Welt beherrscht (vgl. V. 5.) Die Christen nehmen an dieser Herrlichkeit Theil, indem sie in die innigste Gemeinschaft mit Gott und Christo treten, Gottes Willen vollkommen erkennen und vollziehen und an der.sieg­ reichen Herrschaft der Wahrheit und Gerechtigkeit durch Be­ förderung des Reiches Gottes Theil nehmen und gleichsam mit Christo herrschen (vgl. 2 Tim. 2, 11.). Die Herr­ lichkeit Christi ist die des Sohnes Gottes; alle Christen aber sollen Gottes Kinder und Christi Bilde gleich wer­ den, vom Geist der Kindschaft durchdrungen und von Gott geliebt seyn, und wie Er Gottxs Erbe ist, Theil nehmen an dem Erbe des Reiches Gottes (vgl. Röm. 8, 15—17, '3i. 29.). Daß mit dieser Herrlichkeit der Kinder Gottes die Seligkeit verbunden ist, folgt aus dem Begriffe der einen und andern. Ist unser Wille mit dem göttlichen eins, so gibt es für uns keine Störung des Friedens, keine Unzufrie­ denheit, keine Unruhe mehr, sondern alles in uns ist Ein­ klang, Freude und Seligkeit, so wie wir mit Gott und Christo und allen Gläutz^en im seligen Einklang der Liebe stehen. Denn die Unseligkeit fttrge nur aus der Selbstsucht und der Sünde und dem Zwiespalt, der dadurch in den Menschen kommt. Diese Herrlichkeit ist auf dieser