Die Geschichte des christlichen Gottesdienstes unter dem Gesichtspunkt der liturgischen Erbfolge: Eine Grundlegung der Liturgik [Reprint 2019 ed.] 9783111601519, 9783111226385

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Die Geschichte des christlichen Gottesdienstes unter dem Gesichtspunkt der liturgischen Erbfolge: Eine Grundlegung der Liturgik [Reprint 2019 ed.]
 9783111601519, 9783111226385

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1. Die Hufgaben der Liturgik
2. Die Ablehnung des liturgischen Erbes
3. Die Gleichgültigkeit liturgischer Form
4. Das liturgische Erbfolgegesetz
5. Das Erbe der Vergangenheit im evangelischen Gottesdienst

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Studien zur praktischen Theologie in Verbindung mit

D. Dr. Carl deinen

D. Zran; Rendtorsf

D. Dr. Martin Schien

ao. Prof. a. d. Universität Bonn

o. Prof. a. d. Universität Leipzig

o. Prof. a. d. Universität Gießen

herausgegeben von

7. Banb

D. Karl Eger o. Prof, an der Universität Halle

W 1

Die Geschichte der christlichen Gottesdienstes unter dem Gesichtspunkt der liturgischen Erbfolge Eine Grundlegung der Liturgik von

D. Franz Rendtorss ord. Professor der Theologie, zweitem Universitätsprediger und Direktor des Predigerkollegiums zu Leipzig

Gießen 1914 Verlag von Alfred Töpelmann (oormals I. Ricker)

Vorwort Vie nachstehende Abhandlung ist ein erweiterter Abdruck der im herbst v. 3- als Dekanatsprogramm der Universität Leipzig von mir herausgegebenen Schrift „Liturgisches Erbrecht". Dem mir von Fach­ genossen wiederholt ausgesprochenen Wunsch, ihren Inhalt einem weiteren Ureise, als den ein akademisches Programm erreicht, zugänglich zu machen, habe ich um so lieber Folge gegeben, als ich auf diesem Wege die Möglichkeit fand, die grundsätzlichen Ausführungen des Programms durch reichliche Anmerkungen zu belegen und vielfach eingehender zu begründen, als es im Text selbst geschehen konnte. Dagegen habe ich dem mir von zuständiger Seite ausgesprochenen Wunsch, ich möchte der Abhandlung einen zweiten aktuellen Teil anfügen und dem Ganzen die Überschrift geben: „Zur Reform der preußischen Agende. Handreichung für ein methodisch richtigeres Wertschätzen der Liturgie" nicht nachge­ geben. Richt nur, weil zu einem Eingreifen in die liturgischen Ver­ handlungen gerade innerhalb der preußischen Landeskirche ich keinen Beruf habe. Sondern vor allem deshalb, weil liturgische Reformschriften alsbald zu Parteischriften gestempelt und parteigemäß abgeurteilt zu werden pflegen. Ich wünsche mit dem, was ich zu sagen habe, zu allen, die an der rechten Wertung und Gestaltung evangelischer Gottesdienste mitzuarbeiten haben, mir die Wege offen zu halten, vielleicht gelingt es einer Schrift, die das liturgische Problem unter Absehen von un­ mittelbaren praktischen Zielen rein grundsätzlich erörtert, eher als einer liturgischen Streitschrift, ruhiges Gehör zu finden. Ich hoffe das um so zuversichtlicher, als ich, wie die Leser bald merken werden, aus der Geschichte der Liturgie die Überzeugung geschöpft habe, daß mehr als das Drängen auf Einführung neuer Formen der Entschluß zu ernster evangelischer Handhabung der überkommenen Form uns nottut. Leipzig, Pfingsten 1914.

Nendlorff.

Inhaltsverzeichnis. Seite

1. Vie Aufgabe der Liturgik........................................................................................ 1 2. Die Ablehnung des liturgischen Erbes............................................................... 6

3. Die Gleichgültigkeit liturgischer Formen......................................................... 15 4. Das liturgische Erbfolgegesetz.............................................................................. 24

5. Das Erbe der Vergangenheit im evangelischen Gottesdienst....................... 47

1. Die Hufgaben der Liturgik.

1

1.

von zwei Seiten ist in neuerer Zeit den liturgiegeschichtlichen Studien der Theologie eine Mitarbeit erwachsen, die sie auf neue Ziele und Wege gewiesen und ihrem Betrieb über seine nächsten praktisch­ kirchlichen Zwecke und über sein fachwissenschaftliches Interesse hinaus Bedeutung verliehen hat. Einerseits hat die Erkenntnis sich Bahn ge­ brochen, daß die Eigenart einer religiösen Bewegung am exaktesten an dem Kultus, den sie sich schafft, studiert werden kann. In der Liturgie schlagen nicht nur „die Lebenspulse der katholischen Kirche und alles katholischen Lebens", wie kürzlich ein katholischer Forscher1 mit Recht schrieb. Huch der Protestantismus, wenigstens in seiner lutherischen Husprägung, obwohl man ihn katholischerseits als „die antiliturgische Häresie" ? zu bezeichnen pflegt, hat seine Eigenart in seiner Kultusge­

schichte ausgeprägt. Eine Frucht dieser Erkenntnis ist nicht nur das neuerdings zu beobachtende landeskirchengeschichtliche Interesse an der Erforschung der liturgischen Geschichte einzelner Territorien, sondern auch die Tatsache, daß die Liturgiegeschichte als ein wichtiges Stück innerer Kirchengeschichte auch von den Historikern gewürdigt zu werden beginnt? wo es darauf ankommt, die religiöse Eigenart einer Zeit scharf zu erfassen und anschaulich darzustellen, greifen sie vielfach zu einer Schilderung der gottesdienstlichen Ordnungen und Gebräuche dieser Zeit. Richt minder hängt mit dieser Erkenntnis die Tatsache zusammen,

*) Thalhofer-Eisenhofer, Handbuch der katholischen Liturgik I2 3(1912) 4 60 (in folgendem zitiert als Thalhofer I2). 2) Der Husdruck stammt von Gueranger, Institutions liturgiques (1840), vgl. Thalhofer I2137. 3) Hls hervorragendste Beispiele sind zu nennen das ausgezeichnete katho­ lische Werk von hoeynck, Geschichte der kirchlichen Liturgie des Bistums Hugsburg 1889 und die treffliche, leider nicht in die vorreformatorische Zeit hinab­ reichende Hrbeit von Kolb, die Geschichte des Gottesdienstes in der evangelischen Kirche Württembergs 1913. 4) So hat besonders h. v. Schubert in seiner Neubearbeitung von Möllers Lehrbuch der Kirchengeschichte I (1902) der Darstellung der liturgischen Entwicke­ lung am Husgang der alten Kirche einen breiten Raum (50 Seiten) gegönnt; auf die Weiterführung dieser Darstellung im 2. Bande darf man um so mehr gespannt sein, als uns eine zusammenhängende Darstellung der Geschichte des Gottesdienstes im deutschen Mittelalter noch fehlt. Renbtorff, Die Geschichte des christlichen Gottesdienstes.

1

2

Rendtorff, Die Geschichte der christlichen Gottesdienstes.

daß die historische Disziplin der Konfessionskunde (Symbolik), seit sie die Aufgabe erfaßt hat, die Lebenseigentümlichkeit der verschiedenen Religionsgesellschaften umfassend darzustellen, alsbald dazu übergegangen

ist, ihre früher fast ausschließlich aus den Dogmen und offiziellen Lehr­ schriften der Rirchen schöpfende Arbeit durch quellenmäßige Verwertung ihrer Rultusordnungen zu bereichern? Es ist kein Zufall, sondern ent­

spricht dem gegenwärtigen Betrieb der historischen Wissenschaft, daß die wertvollsten Beiträge zur Kultusgeschichte des deutschen Mittelalters sich in Haucks Rirchengeschichte Deutschlands finden, und daß die lichtvollste Darstellung des Kultus der orthodox-anatolischen Kirche in Kattenbusch' Lehrbuch der vergleichenden Konfessionskunde zu lesen ist. So hat die historische Wissenschaft die Geschichte der Liturgie als eines Spiegels und Gradmessers des religiösen Lebens in ihr Arbeitsprogramm aus­ genommen, während andrerseits die selbständigen Fachleute der liturgie­ geschichtlichen Forschung — unter den protestantischen Gelehrten in erster Linie der seiner Wissenschaft allzu früh entrissene Paul Dreros*2 — von

den zünftigen Historikern als vollwertige und unentbehrliche Arbeits­ genossen bereitwillig anerkannt werden. Ist somit die liturgisch-historische Forschung durch ihre Einbeziehung in das große Ganze des kirchenhistorischen und damit des allgemein historischen Arbeitsgebiets aus ihrer früheren isolierten Lage erlöst und zugleich vor neue lohnende Aufgaben gestellt - jede Geschichte des Gottesdienstes muß fortan versuchen, durch einen Längsschnitt ein wich­ tiges Stück des inneren Entwickelungsganges der Kirche und des religiösen Volkslebens bloßzulegenb- so sind ihr nicht minder bedeutsame An­

regungen daraus erwachsen, daß neuerdings die religionsgeschichtliche und religionsvergleichende Forschung sich mit aller Energie auf die Fest*) So zuerst Rattenbusch (Lehrbuch der vergleichenden Konfessionskunde I 1892), dem Müller (Symbolik 1896) und vor allem Loofs (Symbolik oder christliche Konfessionskunde I 1902) sich angeschlossen haben. 2) vgl. besonders seine Studien zur Geschichte des Gottesdienstes und des gottesdienstlichen Lebens 1—V 1902—1910, sowie seine zahlreichen, wertvollen Beiträge in Haucks Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche 3. 3) Den bisher einzigen versuch einer Lösung dieser Aufgabe hat h. A. Koestlin in seiner — von ihm selbst gelegentlich als erster Durchhau bezeich­ neten — „Geschichte des christlichen Gottesdienstes" (1887) unternommen. „Der Verfasser hat sich redlich bemüht, die geschichtliche Entwickelung objektiv und mit liebevoller Versenkung in den Geist der einzelnen Epochen und Kirchen zu er­ fassen" sagt er in der Vorrede, und in der Einleitung: „Die Geschichte des christlichen Gottesdienstes ist nur ein Ausschnitt der allgemeinen Kirchengeschichte. 3m Kultus prägt sich ab und verfestigt sich die geistige Physiognomie, welche der kirchlichen Entwickelung und dem kirchlichen Bewußtsein bestimmter Epochen und Völkergruppen eignet. Zum voraus läßt sich daher annehmen, daß die Hauptformen, in welchen die jeweilige liturgische Entwickelung zu einem gewissen

1. Die Aufgaben der Liturgik.

stellung der Einflusses geworfen hat, der von

autzerchristlicher Religionen

3

dem Kultus vor- und

auf die Gestaltung des Gottesdienstes der

altkirchlichen Seit ausgegangen ist?

urchristlichen

und

geschilderten

Aufgabe,

die

einzelnen liturgischen

3u der eben

Entwickelungsstadien

als selbständige Objekte für ein exaktes Studium der Eigenart der ent­ sprechenden religiösen Perioden zu verwerten, ist damit die andere Auf­

gabe getreten, jene Erzeugnisse des christlichen Kultuslebens selbst als Wellen in dem unübersehbaren Strom der allgemeinen Kultusgeschichte,

als

abhängige Glieder

einer

weit über

die Grenzen

Kultus hinüberreichenden Entwickelung zu würdigen.

des christlichen

Es hat auf kirch­

licher und theologischer Seite nicht an Widerspruch gegen diese Sumutung gefehlt. Bis tief in die Kreise der kritischen Theologie? ist man geneigt gewesen, gegen jede Ableitung christlicher Kultusformen von außerchrist­

lichen Vorbildern protestieren.

im Interesse

Originalität

der

des Christentums zu

Und die überkühnen versuche einzelner Bahnbrecher der

religionsgeschichtlichen Methode, wesentliche Stücke des altchristlichen Kultus

nach Form und Inhalt restlos aus unterchristlichen Kulten abzuleiten

oder

doch

ihren

authentischen

Sinn

aus

Kulthandlungen primitiver

Religionen zu erklären, haben nicht wenig dazu beigetragen, das ver­

trauen zu dieser Methode zu erschüttern. religionsgeschichtliche

Forschung

die

Inzwischen hat eine besonnene

anfänglich in der

Entdeckerfreude

über den Analogien übersehenen Abstände zwischen christlichen und außer­ christlichen Gedanken und Formen zu betonen gelernt^ - „geschichtlich Abschluß kommt, im wesentlichen den großen Kirchenbildungen entsprechen, in welchen das Leben der Gesamtkirche verläuft und sich darstellt." - wie wenig die mit diesen Worten ausgegebene Losung bisher zur Anerkennung gelangt ist, beweist nicht nur die Behandlung, die der Geschichte des Gottesdienstes in Achelis' Lehrbuch und Grundriß der praktischen Theologie widerfahren ist, - bei übermäßig gehäuftem geschichtlichen Material nicht einmal ein versuch, den inneren Werdegang des christlichen Gottesdienstes verständlich zu machen, sondern auch das treffliche Lehrbuch der Liturgik von Rietschel (Bö. I, 1900), das zwar die Geschichte des Gemeindegottesdienstes auf 250 Seiten mit lehrreichen Anmerkungen begleitet, eine zusammenhängende Entwickelungsgeschichte des Gottesdienstes aber so wenig bietet, daß z. B. vom Sacramentarium Greg-orianum (8. Jahrhundert) ohne ein verbindendes Wort auf das Tridentiner Konzil über­ gesprungen wird. (S. 347.) x) vgl. besonders Anrich, Das antike Mysterienwesen in seinem Einfluß auf das Christentum 1895. Cumont (1899), Die Mysterien des Mithra, ein Beitrag zur Religionsgeschichte der römischen Kaiserzeit, deutsch von Gehrich 21911. Dieterich, Eine Mithrarliturgie 1903, 2. Auflage 1910. Reitzenstein, poimandres 1904, Die hellenistischen Mysterienreligionen, ihre Grundgedanken und Wir­ kungen 1910. 2) vgl. Holsten, Das Evangelium des Paulus I (1880) $. 243. 3) Lehrreich ist in dieser Hinsicht ein vergleich zwischen Heitmüllers Schrift Taufe und Abendmahl bei Paulus 1903 und seiner 1911 erschienenen Schrift Taufe und Abendmahl im Urchristentum (Religionsgeschichtl. Volksbücher I 22/23). 1*

4

Rendtorff, Die Geschichte des christlichen Gottesdienstes.

denken heißt Abstände erkennen". Aber einerseits wird sich jene For­ schung die Tatsache nicht mehr bestreiten lassen, daß zwischen den alt­

kirchlichen Kultusformen und denen autzerchristlicher Kulte eine weit­ gehende Verwandtschaft besteht, die nicht anders als durch eine Ent­ lehnung seitens des Lhristentums erklärt werden kann; andrerseits wird die christliche Liturgik nicht umhin können, im Interesse einer wahr­ heitsgemäßen Darstellung der liturgischen Entwickelungsgeschichte jene außerchristlichen Formen in viel erheblicherem Maße, als es bisher ge­ schehen, heranzuziehen. Der christliche Kultus ist nicht „ohne Vater, ohne Mutter, ohne Stammbaum" ins Leben getreten. Sein Eintritt ins Leben war vielmehr zugleich der Eintritt in eine Erbfolge. Als ein in der Geschichte erwachsenes Gebilde hat er aus dem Mutterboden, in dem die Kirche erwuchs, aus der Umwelt, aus der sie sich heraus­ hob, eine Fülle keimkräftiger Triebe mitbekommen, eine Fülle wirksamer Anregungen fort und fort auf sich ergehen lassen, die mit den originalen Kräften, die ihn ins Leben riefen, zusammengewirkt haben, ihm die Gestalt zu geben, die er gewonnen hat. Vie liturgischen „Reliquien der synkretistischen Zeit", in deren Atmosphäre das Christentum und die Kirche erwachsen sind, die Spuren des jüdischen Kultus, dessen nach­ haltige Einwirkung auf die Gestaltung des christlichen Gottesdienstes erst im Zeitalter der Religionsvergleichung zu deutlicher Erkenntnis zu gelangen beginnt, in der christlichen Kultusgeschichte aufzudecken, wird in Zukunft eine wesentliche Aufgabe der liturgischen Wissenschaft sein. In Weiterführung dieser Aufgabe wird die protestantische Liturgik die wurzelhafte und bis in die Gegenwart fortwirkende Abhängigkeit des evangelischen Kultus besonders in seiner lutherischen Ausprägung von dem der römischen Kirche in neue, religionsgeschichtliche Beleuchtung zu stellen haben; handelt es sich doch auch hier um die Einwirkung einer der neuen Religion fremden, von ihr grundsätzlich überwundenen Kultus­ auffassung und Kultusgestaltung auf einen aus neuen Motiven sich ge­ staltenden Gottesdienst. Eine so unter durchgängiger Beobachtung des religionsgeschichtlichen Gesichtspunkts erarbeitete Darstellung der Entwicke­ lungsgeschichte des christlichen Gottesdienstes wird nicht nur ein ar­ chäologisches Interesse befriedigen, indem sie die uralte und fremdartige Herkunft mancher Bestandteile der heute gangbaren Liturgie aufweist und an ihnen unter der modernisierten Gestalt und unter dem umge­ deuteten Sinn, in dem sie uns geläufig sind, das ursprüngliche, alter­ tümliche Gepräge erkennen läßt. Sie wird vielmehr einen wichtigen, für das geschichtliche Verständnis des Lhristentums bedeutsamen Beitrag zu der Frage liefern, inwieweit das Lhristentum jeweilig willens und im­ stande gewesen ist, sich seine kultischen Ausdrucksformen in schöpferischer Originalität zu schaffen, inwieweit es mit oder ohne seinen Willen auf

1. Vie Aufgaben der Liturgik.

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Kosten seiner Originalität dem Gesetz der liturgischen Erbfolge unter­ legen ist, und inwieweit es vermocht hat, die überkommenen und zum

Teil fremdartigen formen, in deren Rinden und Schalen sein Gottes­ dienst erwachsen ist, zu einem vollwertigen Darstellungsmittel seiner Frömmigkeit auszugestalten. Jedes geschichtlich überkommene Erbe kann zu einer Last werden, an der die Erben sich totschleppen. Nichts drückt kraftvoll aufstrebendes Leben so darnieder wie das Epigonentum rückwärts gewendeter Menschen, die „nur Enkel, nur Erben sind, kraftlose Untertanen einer Vergangenheit"? Und doch gibt es nicht nur Erblasten sondern auch Erbgüter. Neben der berechtigten Furcht vor d«!r Belastung der Gegenwart durch das geschichtliche Erbe steht die ebenso berechttgte Freude daran, die Gegenwart als Glied einer organischen Entwickelung zu verstehen. Und geschichtlicher Sinn wird sich die Freiheit wahren, die Mitgift der Vergangenheit nicht ohne weiteres geringschätzig als ein „herediolum sterile“*2 3oder mit Verdruß als „hereditas damnosa“8 zu empfinden, sondern über wertvollem

Erbgut, auch wenn der Erblasser der Gegenwart sonst ftemd geworden ist, mit stolzer lveitherzigkeit zu bekennen: „herediolum — majorum regna meorum“?

Die vorliegende Skizze will für eine zusammenfassende Darstellung des Entwickelungsganges, in dem sich der christliche bezw. der evangelische Kultus in Auseinandersetzung mit dem überkommenen liturgischen Erbe gestaltet hat, insofern eine Vorarbeit sein, als sie der in den bisherigen Darstellungen der Liturgik zumeist kaum gestreiften8 Frage nachgeht,

wie das Linströmen vor- und außerchristlicher bezw. vor- und außer­ reformatorischer Einflüsse in das gottesdienstliche Leben einer so eigen­ ständigen Größe, wie es die christliche, wie es die evangelische Kirche ist, geschichtlich zu erklären und wie dieser ihr Eintritt in die liturgische Erbfolge grundsätzlich zu werten ist.8 Ein Beitrag zur Frage der litur­ gischen Erbfolge darf sie sich deshalb nennen, weil sie es nicht auf eine Berichterstattung über den Hergang dieser Erbübernahme, sondern *) Jmmisch, Das (Erbe der Alten. Sein Wert und seine Wirkung in der Gegenwart. Vortrag gehalten in der Versammlung der Freunde des huma­ nistischen Gymnasiums in Berlin und der Provinz Brandenburg 1911 S. 7. 2) Apulejus florida 2 no. 11. Seneca spricht von einem hereditarium onus. 3) So nennt das römische Recht eine Erbschaft, bei der die Schulden die Aktiva übersteigen. 4)* 6 Ausonius * edyll 3,1. 6) Was Rietschel I. c. S. 268 ff. in engem Anschluß an Anrich bietet, be­ zieht sich wesentlich nur auf die Arkandisziplin und den (formellen) IRysteriencharakter des Abendmahls seit dem 4. Jahrhundert. 6) Wertvolle Gesichtspunkte bietet die Abhandlung von E. von der Goltz: Über Lebensgesetze liturgischer Entwickelung, in der Paul Kleinert gewidmeten Philotesia, Berlin 1907.

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Rendtorfs, Die Geschichte des christlichen Gottesdienstes.

auf Herausstellung wesentlicher die Erbfolge bedingender Voraussetzungen und sie regelnder Gesetze abgesehen hat. 2. Ein reiches liturgisches Erbe hielt sowohl das seiner nationalen und kultischen Einheit beraubte Judentum wie das absterbende Heiden­ tum der hellenistischen Welt mit der Fülle seiner Mysterienkulte und genossenschaftlichen Religionsgebräuche dem aufstrebenden Christentum

bereit. Vas Christentum aber hat seinen weg in die Welt dem Juden­ tum wie dem Heidentum gegenüber mit einer entschlossenen Ablehnung des liturgischen Erbes angetreten. Jesus selbst hat das antike Kultus­ ideal umgestürzt und ein völlig neues an seine Stelle gesetzt. Der antike Kultus - und der jüdische Tempelkult, wie er zu Jesu Zeit ge­ übt wurde, ist darin vom heidnischen der Art nach nicht unterschieden -

beruht auf der Vorstellung, daß, wie man einen Acker durch Bearbeitung nötigt, eine Frucht zu liefern, die er von sich aus nicht hervorbringen würde, so die Gottheit durch religiöse Leistungen bearbeitet und genötigt werden könne und müsse, in ein Verhältnis zu dem Darbringer solcher Kultusleistungen einzutreten und ein Verhalten gegen ihn zu eröffnen, das ohne diese Leistungen nicht von ihr zu erwarten wäre. Das colere deum ist ganz nach Art des colere agrum gedacht. Man kultiviert Gott, wie man das Feld kultiviert. Dieser operativen, theurgischen Auffassung des Kultus stellt Jesus den Grundsatz entgegen, den wir im 4. Evangelium (Joh. 4, 21 ff.) formuliert, aber dem Sinne nach genau ebenso in den älteren Evangelien bezeugt und durchgeführt finden: daß der wahre Gottesdienst nicht im verdienstlichen Vollzug ritueller Leistungen an bestimmten geweihten Gpferstätten bestehe, sondern sich ev nvetijicm Kai äXySkiyl, d. h. in der Sphäre * gottgeweihter Innerlichkeit und auf dem Grunde der im Vaternamen (npocTKuvelv t(u narpi) enthüllten Wirklichkeit Gottes (ev Tapieiw, in einsamem Verkehr mit Gott, dem narfip ßAemuv ev rtp Kpunru) Matth. 6, 6) vollzieht. Die rechten, der Idee der Gottesverehrung entsprechenden Kultusträger (oi äXnOivoi

npoffKuvriTai) sind Menschen, die an Gott als ihren Vater glauben und in freudigem Zutrauen zu seiner väterlichen Gesinnung ihm kindlich nahen. Anbetung, nicht Bearbeitung Gottes, kindlicher Verkehr mit Gott, nicht verdienstliche Leistung an Gott ist der wahre Kultus?

') Das ist in dieser Verbindung (ü. 23) genau so lokal zu fassen, wie in der Verbindung oute dv tlu dpei toutuj oirre £v ‘lepoooXOnov; (ü. 21);'irve0pa ist hier wie Überall im IT. T., wo es nicht den Geist Gottes, sondern den Geist des Menschen bezeichnet, nicht rein psychologisch (— xapbict, „das unsichtbare Innenleben, das alle Menschen haben"), sondern psychotheologisch (das vom Geist Gottes bestimmte Innenleben) zu verstehen. 2) Mit Recht betont Spitta (das Johannes-Evangelium als (Quelle der

2. Die Ablehnung der liturgischen (Erbes.

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Die ältesten christlichen Gemeinden haben diesen befreienden Grund­ satz Jesu und seine durchgreifende Absage an die herkömmliche Kulturvorstellung verstanden. Ein Zeugnis dafür ist die Tatsache, daß sie mit offenbarer Geflissentlichkeit alle in der jüdischen Kultussprache üblichen Bezeichnungen auf ihr gottesdienstliches handeln anzuwenden vermieden haben. Nicht FHiM, aus Zwang und um Lohnes willen geleisteter

Knechtsdienst, sondern dankbare, zutrauliche Anbetungsfeier war ihr Gottesdienst. Nicht ein ein mittlerischer Priester, diente bei ihren Zusammenkünften, sondern Brüder vertraten die Brüder in der Verwal­ tung und Darreichung gemeinsamen religiösen Besitzes. Reine XeiToupyia am OuaiaaTripiov fand mehr statt — der einzige priesterliche „Liturg", den die alte Rirche kennt, ist der Christus, der sich selbst geopfert hat, und der einzige Altar, von dem seine Gemeinde etwas wissen will, sein Kreuz? In voller Rlarheit hat diesen Gedanken Paulus, auch hierin der authentische Interpret seines Meisters, ausgeprägt und ihn zugleich im Zinne Jesu auf das Gemeinschafts- und Berufsleben angewendet. Am liebsten charakterisiert er den christlichen Gottesdienst durch den Ausdruck TTpoaeuxn, die 'auf Gott gerichtete Andacht, ein Wort, das ganz in die Stille vor Gott führt. Gott mit dem vertrauten Vater­

namen anzurufen ist der wahre Kultus. Der Zweck aber dieses Kultus ist oiKoöojuri, Erbauung der Seele dessen, der da feiert, und durch ihn der Gemeinde, mit der er feiert. Sich selbst und sie immer fester hinein­ zubauen in die Gemeinschaft Gottes wie in einen heiligen Tempel, dazu hält der Christ Gottesdienst. Und dieser Gottesdienst vollzieht sich nicht nur in spezifisch religiösen Verrichtungen, sondern jede ernstliche BetätiGeschichte Jesu 1910, $.119), daß Joh. 4, 21 ff. „Gedanken der alttestamentlichen Prophetentumr, dar einem veräußerlichten Kulturleben gegenüber die Reinheit der Herzenr und Wandels durch Erfüllung mit heiligem Geist betont (z. B. Jes.l, 11 ff. Am. 5, 21 ff., Pf. 50, 7ff., 51,18ff.), in höchster Vollendung" zum Ausdruck kommen. Aber eben in jener höchsten Vollendung, zu der dar Prophetenwort überall durch Jesus, nicht aus analytischem, sondern aus synthetischem Wege, gebracht ist. So wie Jesus selbst sich im A. T. ganz wiederfindet und doch zu­ gleich dem A. T. gegenüber sich als Bringer einer durchaus neuen Botschaft weiß. Spittar Erklärung, Jesu Rede „verlasse hier in keiner Wendung dar Gebiet der Judentums, sondern zeige nur den Gedanken der alttestamentlichen Prophetentiuns" bedarf hiernach der Einschränkung. x) hebr. 8,2. 13,10. Jüdische parallelen zu dem 8,2 vorliegenden ver­ gleich der Werker Christi im Himmel mit dem Kulturwerk der Hohenpriesters am großen versöhnungrtage (im test. Levi wird der gen Himmel gefahrene Levi als uiöde iroranoi XiOot Kai noranai oiKoöopai) oft mit seinen Jüngern sich an der Herrlichkeit des Tempels ergötzt und sie auf die Schönheit des ihm so teuren Baus aufmerksam gemacht, wobei er auch für die mit dem Tempelkult verbundenen Kunstbetätigungen Empfänglichkeit bewies. Wie brennend ihm die Erhaltung des Tempelgebäudes am Herzen lag (Joh. 4, 7 6 LfiXog tou oikou r]T€Oouaa gottesdienstliche Funktionen der Wortverkündigung und zwar im Gemeindegottesdienst bezeichnen, ist nicht zu bezweifeln. Die christlichen Frauen in Uorinth waren also wirkliche „Tkklesiazusen" und wurden als solche von Paulus anerkannt. (’ExxXpoidZiu — in der Volksversammlung sprechen, vgl. die Ekklesiazusae des Aristophanes.) Die scheinbar dem widersprechende Vorschrift al yuvaixe: arsdTiuuav £v xat? ^KKÄnaiat?" aiaxpöv ydp £